Klaus-Dieter Altmeppen · Thomas Hanitzsch Carsten Schlüter (Hrsg.) Journalismustheorie: Next Generation
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Klaus-Dieter Altmeppen · Thomas Hanitzsch Carsten Schlüter (Hrsg.) Journalismustheorie: Next Generation
Klaus-Dieter Altmeppen Thomas Hanitzsch Carsten Schlüter (Hrsg.)
Journalismustheorie: Next Generation Soziologische Grundlegung und theoretische Innovation
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage Mai 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Barbara Emig-Roller Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-14213-5
Inhalt Thomas Hanitzsch, Klaus-Dieter Altmeppen & Carsten Schlüter Zur Einführung: Die Journalismustheorie und das Treffen der Generationen
HANDELN Hartmut Esser Der Handlungsbegriff in der modernen Soziologie Carsten Reinemann Subjektiv rationale Akteure: Das Potenzial handlungstheoretischer Erklärungen für die Journalismusforschung RATIONALITÄT Michael Jäckel „...dass man nichts zu wählen hat“: Die Kontroverse um den Homo Oeconomicus Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl Ökonomik als neue Perspektive für die Kommunikationswissenschaft
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AKTEURKONSTELLATIONEN Uwe Schimank Handeln in Konstellationen: Die reflexive Konstitution von handelndem Zusammenwirken und sozialen Strukturen Christoph Neuberger Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln via Öffentlichkeit: Journalismus und gesellschaftliche Strukturdynamik
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MILIEUS UND LEBENSSTILE Stefan Hradil Soziale Milieus und Lebensstile: Ein Angebot zur Erklärung von Medienarbeit und Medienwirkung Johannes Raabe Journalismus als kulturelle Praxis: Zum Nutzen von Milieu- und Lebensstilkonzepten in der Journalismusforschung
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Inhalt
KAPITAL-FELD-HABITUS Herbert Willems Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu Thomas Hanitzsch Die Struktur des journalistischen Felds
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ORGANISATION Michael Bruch & Klaus Türk Das Organisationsdispositiv moderner Gesellschaft Klaus-Dieter Altmeppen Das Organisationsdispositiv des Journalismus
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INTERAKTION Robert Hettlage Alle Rahmen krachen in den Fugen: Erkenntnistheoretische und soziologische Perspektiven bei Erving Goffman Carsten Schlüter Rollen und Rahmen der Interaktionsordnung: Journalismus aus der Perspektive seiner Interaktionen
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NETZWERKE Arnold Windeler Interorganisationale Netzwerke: Soziologische Perspektiven und Theorieansätze Thorsten Quandt Netzwerkansätze: Potenziale für die Journalismusforschung
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MACHT Peter Imbusch Macht: Dimensionen und Perspektiven eines Phänomens Klaus-Dieter Altmeppen Journalismus und Macht: Ein Systematisierungs- und Analyseentwurf
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Autorinnen und Autoren
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Zur Einführung: Die Journalismustheorie und das Treffen der Generationen Thomas Hanitzsch, Klaus-Dieter Altmeppen & Carsten Schlüter
Zugegeben, der Titel dieses Bandes ist recht erklärungsbedürftig. Beginnen könnte man vielleicht mit dem Hinweis auf die besondere Affinität vieler Kommunikations- und Medienwissenschaftler zu dem Science-Fiction-Genre. Eine Befragung dieser sehr spezifischen Bevölkerungsgruppe jedenfalls käme vermutlich zu dem Ergebnis, dass sich ein durchaus beachtliches Fachwissen versammelt hat über Jules Vernes physikalisch-unkorrekte, fantastische Abenteuer, Isaac Asimovs Roboter-Geschichten und das tumultige Zukunftsuniversum von Star Wars. Insbesondere die Welt von Raumschiff Enterprise und Star Trek hat seit Mitte der 1960er Jahre bereits ganze zwei Generationen von Kommunikations- und Medienwissenschaftlern geprägt. Dabei hatte man beim guten alten Raumschiff Enterprise noch den Eindruck, eine Handvoll bester Kumpels – unter der Ägide des hemdsärmeligen Captains James Tiberius Kirk – bei ihrer abenteuerlichen Entdeckungreise durch die „unendlichen Weiten“ des Weltalls zu beobachten. Mit der Nächsten Generation – und einem ziemlich schütteren und weise dreinblickenden Captain Jean-Luc Picard, der im wirklichen Leben übrigens Reporter werden wollte – hielten Ernsthaftigkeit und Disziplin Einzug ins Star-Trek-Universum. Gleichzeitig wurde das Weltall komplexer: Während sich Captain Kirk noch einen überschaubaren Kampf mit den barbarischen Kriegern der Klingonen lieferte, ist die Nächste Generation mit einer ungleich größeren Zahl von Akteuren konfrontiert. Die „nächste Generation“ der Journalismusforscher steht, zumindest im deutschsprachigen Raum, prinzipiell ähnlichen Problemen gegenüber. Die Bandbreite der Theorieangebote ist kaum noch zu überschauen, die wichtigsten unter ihnen sind in dem mittlerweile in der zweiten Ausgabe vorliegenden Band „Theorien des Journalismus“ (vgl. Löffelholz 2004b) dokumentiert. Bis in die 1980er Jahre hinein verliefen die Frontlinien der Journalismustheorie zwischen einer „Begabungsideologie“ und dem Professionalisierungsansatz sowie zwischen normativen und empirisch-analytischen Perspektiven. Die
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Abkehr vom methodologischen Individualismus hin zu gesellschaftstheoretischen Zugriffen erfolgte zu Beginn der 1990er Jahre (vgl. Merten, Schmidt und Weischenberg 1994). Auch diese „neue“ Generation an Journalismustheorien kam nicht aus den Tiefen des Weltalls, sondern entwickelte frühere Modelle und Theorien weiter, indem sie die systemtheoretische Grundlegung von Rühl (1979; 1980) mit der konstruktivistischen Erkenntnistheorie verband. Die zweite Generation der systemtheoretischen Journalismusforschung artikulierte sich gegen normative Zugriffe (vgl. Kohring 2004: 199), ihr folgten später die Cultural Studies, die sich wiederum an der Systemtheorie abarbeiteten (vgl. Klaus & Lünenborg 2000). Dazwischen positionieren sich seit einigen Jahren Arbeiten von Journalismusforschern, die – sozusagen im interstellaren Raum – nach verbindenden Theorielinien suchen (vgl. u.a. Altmeppen 2006; Neuberger 2000; Quandt 2005; Raabe 2005), mit weiter reichenden Folgen: Die Abgrenzungsbemühungen sind mittlerweile einem Theorieintegrationsbedürfnis gewichen, das den Mainstream der Journalismusforschung hierzulande kennzeichnet. Damit ist das Ringen um die Deutungshoheit freilich nicht beendet, und es sollte angesichts erforderlicher begrifflicher Schärfe in der Sache auch gar nicht beendet werden. An diesem Punkt setzt dieser Band ein, und so wollen wir auch den Titel verstanden wissen: Die nächste Generation hat keineswegs vor, mit der „alten“ zu brechen – so wie es ohne Captain Kirk auch keine „Next Generation“ gegeben hätte. Anstatt aber die offen liegenden Fäden eingefahrener Theorien aufzunehmen, liegt das Neue dieses Bandes schlicht darin, sich der Journalismusforschung über handverlesene Begriffe zu nähern. Dazu wurden Konzepte gewählt, die nicht oder noch nicht vollends in die Journalismusforschung Eingang gefunden haben (wie Feld, Habitus, Milieu), oder Begriffe, die verschüttet waren (wie Macht, Organisation, Handeln). Die meisten Journalismusforscher, die in diesem Band zu Wort kommen, knüpfen daher an bestehende Theoriefäden an und verweben sie mit neuem bzw. wiederentdecktem Ideengut. So ist die „nächste“ Generation ein Stück weit auch die alte. Damit handelt es sich bei den Beiträgen dieses Bandes vielmehr um ein „Treffen der Generationen“ – um eine weitere Star-Trek-Metapher zu zitieren. Nicht zuletzt ist der Titel dieses Bandes – „Journalismustheorie: Next Generation“ – auch ein leuchtendes Beispiel dafür, was passiert, wenn man einen Arbeitstitel definiert, den man schließlich nicht mehr los wird, trotz redlicher Bemühungen um alternative, wissenschaftlich möglicherweise angemessenere Formulierungen.
Zur Einführung
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Die Beiträge dieses Bandes im Spiegel zentraler Theorieverständnisse in der Journalismusforschung
Was die Beiträge in diesem Band sicher nicht auszeichnet sind einheitliche Theorieverständnisse. Das war mit dem gewählten Zugriff über Konzepte aber auch gar nicht so beabsichtigt. Die neuen oder verstaubten sozialwissenschaftlichen Begriffe (oder Konzepte), die der Gliederung des Bandes zugrunde liegen, stehen quer zu etablierten Ansätzen wie der Systemtheorie oder den Cultural Studies, für die eine breite Literaturbasis zur Verfügung steht. Quer stehen die Konzepte, weil sich nahezu alle Theorien mit diesen Denkfiguren mehr oder weniger abmühen müssen. So sind Handeln, soziales Feld oder Macht zentrale Kategorien jeder theoretischen Annäherung an Journalismus. Auf diesem Wege haben die vorhandenen Theorien des Journalismus den vorliegenden Band maßgeblich beeinflusst. Insbesondere die „gefühlte Dominanz“ des systemtheoretischen Denkens ist in der deutschsprachigen Journalismusforschung sehr stark, deshalb kamen die Autoren in diesem Buch nicht umhin, ihre Argumentationen durch systemtheoretische Anleihen zu stützen und zu schärfen bzw. sich an ihnen abzuarbeiten und von ihnen abzugrenzen. Ohne Zweifel hat sich das Denken in Systemen in unserem Fach seit den 1990er Jahren als ungemein fruchtbar erwiesen. Mit dem einheitlichen Begriffsinventar der Systemtheorie ist es gelungen, den Forschungsgegenstand Journalismus schärfer zu definieren und seine Strukturen gedanklich zu sortieren (vgl. Görke & Kohring 1996; Kohring 2004: 199). Dennoch ist die empirische Umsetzung (siehe Scholl & Weischenberg 1998) nicht zufriedenstellend und vor allem nicht ohne theoretische Brüche gelungen (vgl. Löffelholz 2004a: 52). Vielleicht war das auch der Grund, weshalb Weischenberg, Malik und Scholl (2006) bei der Darstellung der Befunde aus ihrer zweiten Münsteraner Journalistenbefragung auf eine Theorieklammer weitgehend verzichtet haben. Darüber hinaus ist sicherlich die systemtheoretische Binarisierung von forschungsleitenden Konzepten (z.B. autonom vs. nicht autonom, geschlossen vs. offen) nicht unbedingt gerade hilfreich für die empirische Forschung. Darin liegt in der Tat ein grundsätzliches Operationalisierungsproblem der Luhmannschen Systemtheorie. Häufig wirkt auch die Übersetzung traditioneller Konzepte der Journalismusforschung (z.B. berufliches Rollenverständnis, Berufszufriedenheit) in das begriffliche Arsenal der Systemtheorie nicht gerade zwingend. Nicht immer wird klar, welchen Mehrwert das Denken in Systemen für die empirische Analyse tatsächlich bietet. Insbesondere die international vergleichende Journalis-
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musforschung kommt auch ohne Systemtheorie zu vergleichbaren empirischen Ergebnissen (vgl. Lünenborg 2000: 405). Zudem geben einige der systemtheoretischen Postulate schlichtweg Anlass für Zweifel: So orientiert sich Journalismus – bei allen beobachtbaren Konvergenzerscheinungen – noch immer stark an territorialen Grenzen, d.h. nationalen und sprachlichen Räumen (vgl. Esser 2004: 154; Scholl & Weischenberg 1998: 207). Der kontinentaleuropäische und angelsächsische Journalismus sind in vielerlei Hinsicht (z.B. mit Blick auf redaktionelle Strukturen) noch immer zwei verschiedene „professionelle Welten“ (Donsbach 1995: 25). Zudem orientiert sich die Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdreferenz aus der Perspektive der Journalisten nicht an den Sinngrenzen eines Journalismussystems, sondern vielmehr an redaktionellen Grenzen der organisationalen Mitgliedschaft (vgl. Hanitzsch 2004: 189; Scholl & Weischenberg 1998 109ff.). Probleme hat die Systemtheorie darüber hinaus mit Prozessen der Heteropoietisierung, Fremdsteuerung und Entdifferenzierung im Journalismus (vgl. Weber 2000b: 9). Ziemliches Unbehagen hat nicht zuletzt die systemtheoretische Ausblendung der handelnden Akteure als „Rauschen“ (Scholl 2001: 389) provoziert. Ungeachtet einiger Versuche (vgl. Görke & Scholl 2006; Luhmann 2000; Scholl 1996), die Systemtheorie in der US-amerikanisch dominierten internationalen Forschungsliteratur zu etablieren, ist der Ansatz außerhalb des deutschund italienischsprachigen Raumes mehrheitlich auf ein kritisches Echo gestoßen und hat oft genug spontane Ablehnung provoziert. Luhmann (1990a: 255) selbst hat dies in deutlichen Worten beklagt: „Germans who accept systems theory as their research program meet astonished looks if they dare to enter the United States – as if they were not quite au courant with present sociology.“ Ein großer Teil dieses geradezu instinktiven Abwehrreflexes mag damit zu tun haben, dass viele angelsächsische Wissenschaftler die Wende vom Strukturfunktionalismus zum funktional-strukturellen Ansatz nicht mitvollzogen bzw. nicht wahrgenommen haben. Funktionalistische Ansätze und das Denken in Systemen werden dort noch immer hauptsächlich mit den Arbeiten Talcott Parsons und Alfred Radcliffe-Browns assoziiert. So wird eine multiperspektivische und theorieorientierte Debatte über die Leistungen und Strukturen des Journalismus derzeit vor allem im deutschen Sprachraum geführt (vgl. Löffelholz 2004a: 19). Die Suche nach einer Grande Théorie des Journalismus scheint aber ohnehin eher typisch für den kontinentaleuropäischen Raum zu sein, und hier insbesondere für Deutschland und Frankreich. Im angelsächsischen Kontext arbeiten Forscher vorzugsweise mit
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so genannten Theorien mittlerer Reichweise sowie der Grounded Theory, d.h. einer auf Basis empirischer Arbeiten konstruierten Theorie. Daher verwundert es nicht, dass Mehrebenenmodelle in der internationalen Forschungsliteratur zurzeit Konjunktur haben. Als einflussreich hat sich dabei insbesondere der Ansatz von Shoemaker und Reese (1996: 64; vgl. auch Reese 2001: 178ff.) erwiesen, der von einer „Hierarchie der Einflüsse“ ausgeht. Demnach wird die journalistische Berichterstattung durch insgesamt fünf sphärisch angeordnete Ebenen beeinflusst: die Individuen, Medienroutinen, Organisationen, außermediale Faktoren sowie die ideologische Ebene. Das 1991 in der ersten Ausgabe erschienene Buch von Shoemaker und Reese wurde nur acht Jahre später bereits als „Klassiker“ geadelt (vgl. Poindexter & Folkerts 1999: 629), und nach einer internationalen Kozitationsanalyse von Chang und Tai (2005: 681) zählt es zu den acht meistzitierten Werken im Feld der Journalismusforschung. Auch wenn Mehrebenenmodelle im engeren Sinne keine Theorien sind, scheinen sie sich aufgrund ihrer ordnenden Funktion und ihres heuristischen Potenzials zunehmender Beliebtheit zu erfreuen – vielleicht auch, weil sie auf einem relativ niedrigen Komplexitätsniveau operieren. Auch im deutschsprachigen Diskurs sind sie durchaus an prominenter Stelle vertreten, etwa in Donsbachs (2000: 80) Sphärenmodell, das in Subjektsphäre, ProfessionsSphäre (Berufsstand), Institutions-Sphäre (Medienorganisationen) und Gesellschafts-Sphäre unterscheidet. In ähnlicher Weise differenziert Weischenbergs (1995: 69ff.) bekanntes „Zwiebelmodell“ in die Ebenen der Mediensysteme (Normenkontext), Medieninstitutionen (Strukturkontext), Medienaussagen (Funktionskontext) und Medienakteure (Rollenkontext). Solange die allumfassende integrative Journalismustheorie noch nicht in Sicht ist (und zudem zweifelhaft bleibt, dass eine solche Theorie möglich und wünschenswert ist), empfehlen sich Mehrebenenmodelle als heuristische Denkfigur zur Strukturierung der Analysedimensionen. Wird die Mehrebenenstruktur der Analyseobjekte bzw. -subjekte empirisch konsequent zuende gedacht, dann lässt sich auch in methodischer Hinsicht Kapital daraus schlagen. Dies gilt insbesondere für die kulturvergleichende Journalismusforschung, die sich in aller Regel mit Journalisten (Ebene der Individuen), redaktionellen Strukturen (Ebene der Organisationen) und Nationen (Ebene der Systeme) beschäftigt. Bleibt diese Mehrebenenstruktur („nested design“: Journalisten in Organisationen, Organisationen in Nationen) bei der Analyse unberücksichtigt, werden nicht nur heuristische Potenziale verschenkt. Ein solches Vorgehen – realisiert z.B. über Anwendungen der linearen oder logistischen Regression – kann sogar
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zu gravierenden Schätzungsfehlern führen (vgl. Ditton 1998; Southwell 2005). Die Mehrebenenanalyse („multilevel modeling“) könnte der Journalismusforschung hier – ähnlich wie in anderen sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen (vgl. Bryk & Raudenbush 1992; Kreft & Leeuw 1998; Langer 2004) – zu einem Durchbruch verhelfen. Denn sie leistet nicht nur wertvolle Dienste bei der Integration von Mikro-, Meso- und Makro-Ebene, sondern bildet vor allem eine „quasi-natürliche“ Brücke zwischen Theorie und Empirie. In der Kommunikations- und Medienwissenschaft muss das Potenzial der Mehrebenenanalyse freilich erst noch ausgelotet werden. Erste Anstrengungen hierfür wurden bereits unternommen (vgl. Pan & McLeod 1991 und ein Themenheft von Human Communication Research 4/2006). Im deutschsprachigen Raum haben sich die Theorieanstrengungen in den vergangenen zehn Jahren auf die Suche nach dem „Mikro-Makro-Link“ konzentriert. Dabei wurden verschiedene Wege beschritten:
Schimanks (1988) Idee, wonach gesellschaftliche Systeme den beteiligten Akteuren als handlungsleitende Fiktion erscheinen, welche die zur Wahl stehenden Handlungsmöglichkeiten vorkonditioniert, wurde bereits sehr früh von Gerhards (1994: 81) aufgegriffen. Demnach wählen Akteure innerhalb der durch Systeme aufgespannten „constraints“ diejenigen Handlungen, die ihre Ziele mit dem geringsten Aufwand erreichbar machen. In ihrer weiterentwickelten Form wurden Schimanks (2000) „AkteurStruktur-Dynamiken“ zur Grundlage eines Theorieentwurfs von Neuberger (2000 und in diesem Band). Giddens’ (1995: 34) Strukturationstheorie mit ihrem zentralen Element der „Dualität von Struktur“, d.h. der rekursiven Hervorbringung von Handeln und Strukturen, berührt den Kern der Mikro-Makro-Integration. Sie erfreut sich auch in der Journalismusforschung steigender Beliebtheit, u.a. in den Arbeiten von Altmeppen (2000, 2006 und in diesem Band), Quandt (2000, 2002) und Wyss (2002, 2004). Stärker am systemtheoretischen Denken entlang argumentiert Weber (2000a, b), der sich einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn durch die Ergänzung einer non-dualistischen und distinktionstheoretischen Perspektive verspricht. Damit sollen binäre Unterscheidungen der Systemtheorie durch ihre Gradualisierung überwunden und eine Modellierung empirisch beobachtbarer Systemzustände ermöglicht werden. Quandt (2005) hat auf der Basis eines netzwerktheoretischen Ansatzes journalistisches Handeln in Online-Redaktionen beobachtet. Er konnte
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dabei zeigen, wie bestimmte Kombinationen von Handlungselementen bzw. Handlungsmuster zu Netzwerken tradiert werden. Den Journalisten als „Homo oeconomicus“ haben auf Basis der Ökonomik bzw. der Rational-Choice-Theorie Fengler und Ruß-Mohl (2005) sowie Reinemann (2005) in den Blick genommen. Dabei wird deutlich, dass Journalisten bei ihrer Tätigkeit auch und vor allem auf ihren Vorteil bedacht sind. Die Arbeiten Bourdieus inspirieren auch im deutschsprachigen Raum mittlerweile eine wachsende Zahl von Journalismusforschern. Insbesondere die zentralen Begriffe „Feld“ und „Habitus“ sind breit rezipiert worden. Niederschlag fanden sie u.a. in den Arbeiten von Hanitzsch (2004 und in diesem Band), Raabe (2003, 2004, 2005) und Schäfer (2004).
Keiner der genannten Ansätze hat sich bislang auf breiter Front durchgesetzt. Der „große Durchbruch“ ist der Journalismustheorie insgesamt nicht gelungen, und der „cultural turn“ der Journalismusforschung vollzieht sich nur sehr schleppend – vielleicht auch deshalb, weil die Cultural Studies nur wenig Interesse für Prozesse der Inhaltsproduktion und non-fiktionale Medieninhalte zeigen, wie Lünenborg (2005: 102) selbstkritisch bemerkt. Dennoch scheint eine graduelle Aufwertung des Kulturbegriffs stattzufinden, wovon u.a. die Beschäftigung mit journalistischen bzw. professionellen Kulturen profitiert (vgl. Donsbach 1995; Donsbach & Patterson 2003; Esser 2004; Hanitzsch 2007; Kopper 2003; Machill 1997). Darüber hinaus erfordert der rasante Aufschwung der komparativen Journalismusforschung – quasi „naturgemäß“ – eine Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff. Eine Untersuchung, die gezielt in diese Lücke stößt, ist das multinationale „Worlds of Journalisms“Projekt.1
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Die Grundideen dieses Bandes
Sowohl in inhaltlicher Hinsicht als auch im Hinblick auf sein Zustandekommen ist der vorliegende Band zuallererst als Experiment zu verstehen. Seine Mission besteht darin, bislang unzureichend berücksichtigte sozialwissenschaftliche Begriffe und Konzepte in die aktuelle Diskussion (wieder) einzubringen und deren Innovationspotenzial für die Journalismustheorie aufzuzeigen. Die Auswahl der Beiträge folgte einem iterativen Verfahren, bei dem aus einer viel 1
Vgl. http://www.worldsofjournalisms.org.
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größeren Zahl an möglichen Begriffen diejenigen gewählt wurden, die von gleichzeitig zentraler Relevanz und unterdurchschnittlicher Repräsentanz in der Journalismusforschung waren. Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass wie bei allen bewussten Auswahlverfahren auch bei diesem die Interessen der Herausgeber eine Rolle gespielt haben. Dieses inhaltliche Experiment wurde zudem mit einem didaktischen Experiment gekoppelt, denn: Die Annäherung an die ausgewählten Konzepte – Handeln, Akteurkonstellationen, Rationalität, Milieus und Lebensstile, KapitalFeld-Habitus, Organisation, Interaktion, Netzwerke und Macht – findet auf der Basis von jeweils zwei arbeitsteilig angelegten Beiträgen statt. Im ersten Schritt führen herausragende Vertreter der Soziologie in die maßgeblichen theoretischen Grundlagen der Begriffe ein. Im zweiten Schritt nehmen die Journalismusforscher diese Beiträge auf und beziehen sie auf den Gegenstand Journalismus. Die inhaltliche Verschränkung der jeweiligen Doppelkapitel ist dabei recht unterschiedlich ausgefallen. Während manche Autoren der Grundlagenbeiträge ihre Aufgabe ausschließlich in der Vermittlung von Basiswissen verstanden, haben sich die Verfasser anderer Grundlagenaufsätze stärker auf den Journalismus eingelassen. Und auch in die andere Richtung sind unterschiedlich starke Wechselwirkungen zwischen soziologischen Grundlagen und dem journalismustheoretischen Bezug erkennbar. Derartige Eigensinnlichkeiten sind die Inspirationsquellen von Autoren, die wir dadurch zu mindern suchten, dass jeder Soziologe vor der Beitragsproduktion einen Fragen- bzw. Thesenkatalog von seinem Journalismus-Pendant erhielt. Jeder der neun in diesem Buch behandelten Ansätze bildet einen eigenständigen „wissenschaftlichen Theoriescheinwerfer“ ganz im Sinne von Karl Popper. Gäbe es diesen Schweinwerfer nicht, so argumentiert Schimank (1995: 73f.), dann wäre alles gleichermaßen dunkel. Immerhin, ein geübter Beobachter könnte seine Augen allmählich und ein wenig an das Dunkel gewöhnen und so doch überall etwas erahnen, aber: Der gleißende Scheinwerferkegel hingegen begrenzt den Blick rigoros. Was im Licht liegt, ist um so deutlicher zu sehen, während das, was sich außerhalb befindet, dafür buchstäblich ausgeblendet wird. Auf wissenschaftliche Theorien bezogen: Wer die Welt gemäß einer Theorie betrachtet, tauscht damit eine theorielose Nacht, in der alle Katzen grau – aber eben nicht völlig unsichtbar – sind, gegen einen Zustand ein, in dem viele Katzen gänzlich unsichtbar, einige dafür aber sehr genau zu erkennen sind.
Mit anderen Worten: Je genauer eine Theorie auf einen bestimmten Aspekt fokussiert, um so blinder ist sie für den „Rest“. Schimank fordert daher einen
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„Theorie-Cocktail“, denn die Kombination von mehreren Theoriescheinwerfern könnte einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn versprechen. Allerdings bleiben alle Theoriescheinwerfer dieses Bandes auf ein eher „traditionelles“ Verständnis von Journalismus begrenzt. Journalismus wird in diesem Band einerseits als gesellschaftliche Institution verstanden, die spezifische Leistungen erbringt, die wiederum von der Gesellschaft eingefordert werden (können). Andererseits wird Journalismus als Prozess gedacht, der sich in professionellen und organisationalen Zusammenhängen vollzieht. Auch wenn Journalismus ohne Zweifel „an den Rändern immer mehr ausfranst“ (Weischenberg 1998: 11), so erscheint uns eine immer größere Inklusivität des Journalismusbegriffs wenig zielführend. Weblogs (die gerne auch als „Fortsetzung des Logbuchs auf der Raumschiff Enterprise mit netzspezifischen Mitteln“ beschrieben werden; Krempl 2004), „Bürgerjournalismus“ („citizen journalism“) sowie Formen des „partizipativen Journalismus“ und Laienjournalismus mögen durchaus in das Feld der öffentlichen Kommunikation fallen. Aber die Theorie tut gut daran, Grenzen zwischen Journalismus und anderen kommunikativen Betätigungsfeldern zu ziehen. Dies macht auch normativ und demokratietheoretisch Sinn: Wenn „jeder ein Journalist“ und „Journalismus überall“ ist (Hartley 2000: 45), dann ist es nicht legitim, an bestimmte Personen (Journalisten) und bestimmte Institutionen (Journalismus) spezifische Leistungserwartungen heranzutragen bzw. ein Ausbleiben dieser Leistungen zu kritisieren. Journalistische Fehlleistungen wären dann eine Kollektivschuld. Allerdings sind die ausgewählten Begriffe bzw. Konzepte auf einer abstrakten Ebene angesiedelt, sodass prinzipiell auch ausdifferenzierte oder entgrenzte Formen des Journalismus (z.B. Unterhaltungs- und Online-Journalismus) damit analysiert werden können.
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Die Beiträge dieses Bandes
Der vorliegende Band ist in insgesamt neun Abschnitte gegliedert, die jeweils zwei aufeinander bezogene Beiträge enthalten. Im ersten Abschnitt „Handeln“ macht Hartmut Esser deutlich, dass die Erklärung gesellschaftlicher Vorgänge immer drei Schritte erfordere: die Untersuchung der „Logik der Situation“, die Erklärung des Handelns angesichts dieser Umstände über eine „Logik der Selektion“ dieses Handelns, und die Ableitung der durch das Handeln erzeugten gesellschaftlichen Folgen über eine „Logik der Aggregation“. Auf dieser Basis entwickelt Carsten Reinemann ein strukturell-individualistisches Erklärungsmodell, das sein heuristisches Potenzial auf drei aufeinander aufbauenden
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Ebenen entfaltet: der Rekonstruktion subjektiver Situationsdefinitionen, der Konstruktion der dazu notwendigen Brückenannahmen sowie der Bestimmung von Aggregationsregeln und der damit verbundene Modellierung dynamischer Prozesse. Reinemann veranschaulicht dies am Beispiel von Boulevardisierungstendenzen in der Berichterstattung. Das Konzept der „Rationalität“ steht im Blickpunkt des zweiten Abschnitts. Michael Jäckel ist sich in seinem Grundlagenbeitrag mit Esser darüber einig, dass die Logik der Situation auch im Hinblick auf den Homo Oeconomicus mitgedacht werden muss. Ein situationsabhängiges Entscheidungsmodell müsse die Definition und Wahrnehmung der Situation und die Beurteilung der Folgekosten berücksichtigen. Vor allem aber gebe es keinen Grund, die ökonomische Erklärung auf den engen Bereich des Wirtschaftslebens zu beschränken. Hier setzen Susanne Fengler und Stephan Russ-Mohl an, die angesichts der systemtheoretischen Dominanz der Journalismusforschung fordern: „Bringing the journalists back in“. Da sich selbst in straff organisierten, „durchökonomisierten“ Medienkonzernen für Journalisten immer wieder Freiheitsgrade für professionelles Handeln ergeben, ist für sie die zentrale Frage, wie diese Spielräume (aus)genutzt werden. Im dritten Abschnitt, „Akteurkonstellationen“, erläutert Uwe Schimank seine als „Akteur-Struktur-Dynamiken“ bekannt gewordene akteurtheoretisch fundierte Theorieperspektive, die an differenzierungstheoretischen Arbeiten anschließt und auf diese Weise eine Brücke zur Luhmannschen Systemtheorie baut. Die von Schimank dargestellten drei Typen von Akteurkonstellationen – Beobachtungs-, Beeinflussungs- und Verhandlungskonstellationen – werden von Christoph Neuberger aufgegriffen und in den Kontext von Journalismus gestellt. Für Neuberger stehen Konstellationsstrukturen vor allem aufgrund ihrer gesellschaftlichen Relevanz im Zentrum der Betrachtung, da durch das Journalismus-vermittelte öffentliche Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln gesellschaftliche Strukturdynamiken ausgelöst werden. Um die „subjektive“ Seite der Gesellschaft geht es auch bei der Diskussion der Konzepte „Milieu“ und „Lebensstil“, die im Zentrum des vierten Abschnitts stehen. Für Stefan Hradil ist die Perspektive der Milieu- und Lebensstilforschung in einer pluralisierten und sich wandelnden Gesellschaft unerlässlich geworden, da Selbstdefinitionen, Zurechnungen und Verhaltensweisen der Menschen nicht mehr allein von verfügbaren Ressourcen, sondern auch von deren Verwendungsweise geprägt sind. In diesen Kontext ist Johannes Raabes Plädoyer für eine praxis- und kulturtheoretische Erweiterung der Journalismusforschung zu verorten. Nach Auffassung von Raabe bildet ein journalistisches
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Milieu nicht nur das soziale Umfeld journalistischer Handlungs- und Kommunikationspraxis, sondern auch das „Medium“, in dem sich diese Praxis ereignet und ereignen kann, indem spezifische Sinnstrukturen im Denken, Wahrnehmen, Deuten und Handeln der Akteure aktualisiert werden und dabei strukturierend, sinnstiftend und so handlungsanleitend auf die Praxis zurückwirken. Die Arbeiten Pierre Bourdieus sind dabei zentral für diesen wie auch den fünften Abschnitt des vorliegenden Bandes, in dem sich zwei Autoren der Begriffstriade von „Kapital“, „Feld“ und „Habitus“ widmen. Herbert Willems beschreibt in seinem Grundlagenbeitrag eine ambivalente Kultur- und Wirklichkeitsbedeutung journalistischer Medienerzeugnisse. Denn einerseits sind sie vermittelte Reproduktionen von habituellen Sinnstrukturen des Publikums, und andererseits stellen sie feldbestimmte Inszenierungen dar, die einen eigenen Sinn und eine eigene Wirklichkeit „haben“ und dadurch einen eigenen Sinn und eine eigene Wirklichkeit hervorbringen. Für die empirische Analyse von Journalismus gilt jedoch, so das Fazit von Thomas Hanitzsch, dass sich Felder nicht unmittelbar beobachten lassen. Daher kommt die Beobachtung von Journalismus an den objektiven Feldpositionen sowie den zwischen ihnen herrschenden Relationen nicht vorbei. Damit fällt den journalistischen Akteuren, die diese Feldpositionen besetzen, eine zentrale Rolle bei der Analyse zu. Journalismus wird demnach quasi „durch die Augen der Akteure“ beobachtet. Die Augen der Akteure sind allerdings „getrübt“ durch den organisationalen Blick. Organisation ist nach Michael Bruch und Klaus Türk eines der zentralen Strukturprinzipien von Gesellschaft, da sie alle gesellschaftlichen Kooperationsverhältnisse reguliert. Von Organisation als gesellschaftlichem Regulierungsprinzip unterscheiden sie die Einzelorganisationen. Eine solche ist der Journalismus, der, so Klaus-Dieter Altmeppen, von der Journalismusforschung in der Regel auch als Einzelorganisation untersucht wird. Allerdings ist die Struktur des Journalismus weder per se gegeben, noch wird sie schlicht angeordnet. Sie entwickelt und verändert sich rekursiv durch die Dualität von Handeln und Struktur, und zwar sowohl die Organisation selbst wie auch das Redaktionsmanagement. Die sozial konstituierten Ordnungsmuster des Journalismus sind insoweit ein Spiegelbild der Gesellschaft, wie sie deren Struktur reproduzieren. Sie sind dagegen nur soweit journalismustypisch, wie journalistische Organisationen zum Beispiel auch strukturell erkennen lassen, dass in besonderem Maße Wert gelegt wird auf publizistische Qualitätsansprüche. Mit Robert Hettlages Erörterung des symbolischen Interaktionismus knüpft der siebente Abschnitt zunächst an den individuellen Blick des Akteurs an. Aber auch dieser Blick benötigt eine „gesellschaftliche Sehhilfe“, einen Rah-
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men, der dafür sorgt, dass nicht jede Situation neu definiert werden muss. Wissensvorrat und gemeinsame Deutungsmuster sorgen für eine soziale Ordnung, in der viele Handlungen mechanisch ablaufen, also nicht hinterfragt werden (müssen). Auf diese Rollen – als eines der hervorstechenden Organisationsmuster – rekurriert Carsten Schlüter in seinem Beitrag. Rollen, insbesondere ihr Kern, diffundieren von der Organisation in die Interaktion und vice versa, werden bei diesem interaktiven Vorgang aber verändert, weil sie an Rollenerwartungen und situative Erfordernisse angepasst werden. Daher muss zwischen typischen Rollen, den normativen Aspekten der Rolle und dem tatsächlichen Rollenverhalten unterschieden werden. Eine besondere Form der Interaktion und des Handelns sind Netzwerke. Arnold Windeler stellt zwei bedeutsame Netzwerkansätze vor: den Strukturansatz, der die Strukturen der Beziehungsgeflechte untersucht, und den Governance-Ansatz, der sich mit der Regelung von Koordinationen zwischen Netzwerkteilnehmern befasst. Der Beitrag von Thorsten Quandt setzt an diesen Grundlagen an und kommt zu einer Matrix mit verschiedenen Netzwerktypen auf der Makro-, Meso-, Mikro- und der Nanoebene. Auf dieser Basis macht er sich auf die Suche nach Netzwerkansätzen in der Journalismusforschung. Fündig wird er bei den Unternehmensnetzwerken, die insbesondere in Form von Verflechtungen den Journalismus beeinflussen. Darüber hinaus legen journalismusbezogene Weblogs und Diskussionsforen eine Netzwerkanalyse nahe. Aber auch unterhalb dieser Ebenen lassen sich Netzwerkansätze fruchtbar nutzen, insbesondere bei der Analyse der Produktionsbedingungen des Journalismus, bei denen Handlungsnetzwerke bestehen, die eine wesentliche Rolle bei der Orientierung und Regulierung des journalistischen Handelns spielen. In das journalistische Handeln ist immer auch Macht eingewebt. Macht ist ein Phänomen mit vielfältigen Dimensionen und vieldeutigen Perspektiven, wie Peter Imbusch zu Beginn des neunten Abschnitts deutlich macht. Aufbauend auf Macht als Figuration, also einem komplexen Geflecht asymmetrischer und wechselseitiger Beziehungen, breitet er die Dimensionen, Effekte und Ebenen des Machtbegriffs aus. Seinen Ausblick auf Macht und Medien greift KlausDieter Altmeppen in seinem Beitrag auf und wendet ihn auf den Journalismus an. Dabei analysiert er – anhand der Elemente des „power to“ und „power over“ – Macht zunächst einmal danach, ob Journalisten, journalistische Organisationen oder Medienorganisationen Machthaber sind und worüber sie Macht ausüben können. In einem zweiten Schritt systematisiert er anhand dieser Unterteilung die verschiedenen Machttechniken (Machtquellen, Machtmittel, Formen der
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Machtausübung) sowie die Machtausdehnungen und zeigt auf diese Weise die Vielfältigkeit von Macht im Journalismus auf. Handeln und Struktur, Interaktion und Rahmen, Akteur und Konstellation, Macht und Organisation: Alle Beiträge vereint die Suche nach der Nahtstelle zwischen akteursorientierten Ansätzen und gesellschaftstheoretischen Perspektiven. Folgende generelle Tendenzen sind in der Diskussion um theoretische Entwürfe für die Journalismusforschung erkennbar: Einerseits ist eine (Wieder-)Belebung der Perspektive der handelnden Akteure festzustellen. Mittlerweile gilt als weithin anerkannt, dass eine Journalismustheorie ohne die Journalisten nicht auskommt. Zweitens ist die Dualität von Struktur, d.h. die rekursive Hervorbringung und Perpetuierung von Handeln und Strukturen, Bestandteil vieler Ansätze, und dies gilt nicht nur für jene, die sich an Giddens’ Strukturationstheorie orientieren. Drittens ist eine allmähliche Aufwertung des Kulturbegriffs in der Journalismusforschung zu beobachten, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Kultursoziologie eine Vielzahl von Ansätzen bereithält, die Beziehung von Individuum und Gesellschaft zu beschreiben (vgl. Reckwitz 2000). Und schließlich ist festzustellen, dass immer mehr Autoren mit dem substanzialistischen Denken brechen und den Relationen zwischen den Subjekten bzw. Objekten der Analyse mehr Beachtung schenken. Für die Journalismustheorie gilt jedenfalls, so das optimistische Fazit der Herausgeber, dass die Potenziale längst nicht erschöpfend ausgelotet sind. Zusätzliche Theoriescheinwerfer, so ist zu hoffen, bringen dazu bislang unbekannte Facetten des Gegenstands Journalismus in der Forschung zum Vorschein. ****** Das Gelingen ist bei einem sozialwissenschaftlichen Experiment (als das dieser Band auch zu verstehen ist) immer ambivalent, denn nicht nur die soziale Praxis ist komplex und kontingent, sondern auch ihre Bewertung durch die Beobachter. Gelungen ist aber auf jeden Fall das Erscheinen dieses Bandes. Dass sich Soziologen und Journalismusforscher auf das Experiment eingelassen haben, miteinander verknüpfte Beiträge zu schreiben, die Gedankengänge der jeweils anderen Seite aufzunehmen und fortzuführen, dafür gebührt ihnen ein ganz besonderer Dank der Herausgeber. Zu danken haben wir auch Barbara Emig-Roller vom VS Verlag, die wie die Autoren das Experiment von Anfang an engagiert unterstützt und die lange Produktionszeit klaglos ertragen hat.
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Thomas Hanitzsch, Klaus-Dieter Altmeppen & Carsten Schlüter
Julia Hehrlein und Ingmar Steinicke haben sich durch lange Korrekturfahnen gearbeitet und viele kleine Fehler behoben, deren Vorhandensein den Herausgebern schon gar nicht mehr aufgefallen ist. Vielen Dank dafür.
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HANDELN
Der Handlungsbegriff in der modernen Soziologie Hartmut Esser
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Die drei Schritte der Erklärung gesellschaftlicher Vorgänge
Alle gesellschaftlichen Prozesse drehen sich – letztlich – um die Reproduktion befriedigender Zustände des alltäglichen Lebens. Die dafür wichtigsten Vorgänge sind die Produktion von Gütern und deren Verteilung über Transaktionen. Bei allen Vorgängen der Produktion und der Transaktion ist das Handeln der Menschen der zentrale Vorgang. Es bildet den dynamischen Kern aller gesellschaftlichen Prozesse und Strukturen, auch wenn man das nicht auf den ersten Blick sieht. Das Handeln ist dabei einerseits stets in eine bestimmte, zuvor entstandene soziale Situation eingebettet, und es hat andererseits auch immer gewisse, über das Handeln hinausgehende Folgen, welche die dann entstehende neue Situation und das darauf folgende Handeln prägen. Die Erklärung gesellschaftlicher Vorgänge erfordert damit immer drei Schritte: die Untersuchung der „Logik der Situation“, der sich die Menschen jeweils gegenüber stehen, die Erklärung ihres Handelns angesichts dieser Umstände über eine „Logik der Selektion“ dieses Handelns, und die Ableitung der durch das Handeln der vielen Individuen erzeugten gesellschaftlichen Folgen über eine „Logik der Aggregation“. Die über das Handeln entstehenden Folgen sind meist (so) nicht beabsichtigt, und die Akteure können als Einzelne auch oft kaum etwas dagegen tun. Sie ergeben sich, scheinbar paradoxerweise, oft gerade daraus, dass sich die Menschen in ihrer jeweiligen Situation vollkommen verständlich und folgerichtig verhalten. Das wurde früher gerne als die „Dialektik“ der Gesellschaft bezeichnet. Die Aufgabe der (soziologischen bzw. sozialpsychologischen) Handlungstheorie ist es nun, in diesem allgemeinen Zusammenhang der drei Schritte einer soziologischen Erklärung anzugeben, nach welchen Regeln das Handeln der Menschen unter den variierenden Bedingungen von Situationen verläuft,
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Hartmut Esser
damit sowohl die Wirkung von Merkmalen sozialer Situationen erklärt werden kann, wie also auch die Entstehung neuer Situationen. Die Bestimmung und Nutzung einer geeigneten Handlungstheorie für die Logik der Selektion des Handelns ist somit ein unverzichtbarer – wenngleich nicht allein ausreichender – Teil der soziologischen Erklärung gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen.
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Was ist Handeln?
Das Handeln ist ein spezieller Fall des Verhaltens (vgl. zu den folgenden Einzelheiten der soziologischen Handlungstheorie Esser 1999). Unter Verhalten werden allgemein alle Arten einer Stellungnahme lebender Organismen zu ihren Umgebungen verstanden. Dazu zählen zunächst alle sichtbaren Reaktionen, aber auch innere Vorgänge der Stellungnahme, wie die Übernahme einer Information oder die Änderung einer Einstellung. Auch das Nicht-Handeln, das Unterlassen und das Dulden ist eine solche Stellungnahme. Drei Bezüge der Strukturierung des Verhaltens können unterschieden werden: genetische Programme, Lernen und Intentionen. Genetische Programme sind neuro-biologisch verankerte Reaktionen auf gewisse „signifikante“ Reize. Sie sind über lange Prozesse der biologischen Evolution entstanden, deshalb an die jeweilige Umgebung meist gut angepasst und (auch deshalb) nur sehr langsam über die Evolution der Art insgesamt veränderbar. Ihre Eignung für die Reproduktion ist an die Stabilität der jeweiligen Umgebung gebunden. Lernen ist die Fähigkeit von individuellen Organismen, sich auf neue Umgebungen durch eigene Erfahrungen einzustellen. Es geschieht über „Verstärkungen“: die Erfahrung der zeitlichen Verbindung von angenehmen oder unangenehmen Ereignissen mit gewissen Objekten und eigenen Reaktionen. Das Erlebnis der erfolgreichen Problemlösung ist dabei der wichtigste Mechanismus. Es gibt aber, gerade bei „intelligenten“ Organismen, auch das Lernen allein durch Beobachtung, durch beiläufig erworbenes Wissen und durch die Imitation des Verhaltens erfolgreicher Modelle. Intentionen schließlich sind Vorstellungen über zukünftige Zustände. Sie werden durch die (mehr oder weniger) bewusste „Imagination“ zukünftiger Zustände und die innere „Berechnung“ des Ertrages möglicher Folgen für ein bestimmtes Verhalten gebildet. Intentionen sind der Kern des, wie das Max Weber ausgedrückt hat, „subjektiven“ Sinns, den die Menschen ihrem Tun verleihen.
Der Handlungsbegriff in der modernen Soziologie
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Die drei Formen des Verhaltens unterscheiden sich systematisch nach dem Grad ihrer Unabhängigkeit von den durch eine Vergangenheit gegebenen Umständen, ihrem Bezug auf zukünftige Folgen, ihrer Flexibilität und dem Grad der jeweils nötigen Reflexion. Genetische Programme bilden den einen Pol einer vergangenheitsbezogenen, automatischen und relativ starren „Reaktion“, Intentionen und subjektiver Sinn den anderen Pol einer zukunftsbezogenen, verzögerten und für feinere Unterschiede auch flexiblen „Aktion“. Das Handeln ist dann jene Form des Verhaltens, die mit der Bildung von Intentionen und der Kalkulation zukünftiger Folgen verbunden ist. Menschliche Organismen sind im Prinzip zu allen drei Formen des Verhaltens in der Lage, und das empirische soziale Geschehen besteht immer aus einer Mischung aller drei Vorgänge. Die Erklärung des Verhaltens nach genetisch vererbten oder durch Lernen erworbenen Programmen ist ähnlich: Bestimmte, als Hinweissignale fungierende Objekte in einer Umgebung lösen die Reaktion mehr oder weniger spontan aus, wobei in Notsituationen die rascher reagierenden und mit den biologischen Funktionen enger verzahnten genetischen Programme die Führung übernehmen, meist verbunden mit typischen Emotionen, wie beim Anblick einer Schlange. Das Handeln nach Intentionen folgt einer anderen Logik. Es entspricht einer – mehr oder weniger „bewussten“ – Entscheidung zwischen verschiedenen Alternativen nach einer Phase der berechnenden Reflexion möglicher Folgen und deren Bewertung. Die Akteure haben mit dieser Reflexion bestimmte „gute Gründe“ für ihr Tun bedacht. Sie wissen, warum sie so handeln, wie sie es tun, und sie könnten ihr Handeln danach unter Hinweis darauf rechtfertigen. Die guten Gründe bilden den Kern des subjektiven Sinns, den die Akteure mit ihrem Handeln verbinden. Im Nachvollzug der guten Gründe durch andere Akteure wird dann auch ein „Verstehen“ des (intentionalen) Handelns möglich. Die Reaktionen auf der Grundlage genetischer oder gelernter Programme folgen dagegen keinem derartig reflektierten „subjektiven Sinn“, wenngleich sie damit im Einzelfall durchaus vereinbar sein können, sie meist mit möglichen guten Gründen durchaus vereinbar wären und man sie daher nachträglich damit in Verbindung bringen kann, etwa in Form von „Rationalisierungen“. Die Bildung von Intentionen, die Herausarbeitung guter Gründe und der Bezug auf einen subjektiven Sinn bezeichnen damit letztlich den gleichen Vorgang: Es stehen verschiedene Alternativen als mögliche Stellungnahmen zur Verfügung, und es wird jene schließlich ausgewählt, die den bewusst herausgearbeiteten Intentionen eines Akteurs am ehesten entspricht.
30 2.1
Hartmut Esser Gute Gründe und Verstehen
Die einfachste Form, die Selektion eines Handelns über die Bildung von Intentionen bzw. über den Bezug auf gute Gründe zu erklären, ist der so genannte praktische Syllogismus. Es ist eine spezielle Form des logischen Schemas einer Erklärung. Das Explanandum sei ein bestimmtes Handeln einer Person i (A(i)). Dieses Handeln wird, wie jedes andere Explanandum auch, über ein allgemeines Gesetz und über die Angabe der zur Anwendung des Gesetzes nötigen (Rand-)Bedingungen erklärt. Im praktischen Syllogismus lautet das Gesetz: „Wenn ein Akteur das Ziel Z hat, und wenn er glaubt, dass zur Erreichung von Z die Handlung A notwendig ist, dann handelt er nach A“. In der Prämisse des Gesetzes werden zwei (Rand-)Bedingungen genannt: das Ziel Z und der Glaube (ZÆA). Das Gesetz kann dann so ausgedrückt werden: (Z und (ZÆA))ÆA. Nun muss noch gezeigt werden, dass der Akteur i das Ziel Z und den Glauben (ZÆA) wirklich hatte: Z(i) und (ZÆA)(i). Das komplette logische Schema einer Erklärung des mit subjektivem Sinn, guten Gründen bzw. Intentionen versehenen Handelns sieht dann so aus: Gesetz
(Z und (Z Æ A)) Æ A
Randbedingung 1
Z(i)
Randbedingung 2
(Z Æ A)(i)
Explanandum
A(i)
Der praktische Syllogismus rekonstruiert das intentionale Handeln als eine spezielle Form der Rationalität bei der Selektion einer Alternative: Das Handeln folgt einerseits den Zielen, Wünschen oder Präferenzen des Akteurs, andererseits aber auch seinen (subjektiven) Vorstellungen, Annahmen oder Erwartungen darüber, wie die Präferenzen angesichts der eingeschätzten Möglichkeiten und alternativen Mittel am besten zu bedienen sind. Die Rekonstruktion der (subjektiven) Ziele der Akteure und deren (subjektiven) Erwartungen über die Eignung der alternativen Mittel zur Erreichung der Ziele und die Anwendung des Handlungsgesetzes, wonach die Akteure jene Handlung wählen, die den Bewertungen von Zielen und den Erwartungen über die Eignung von Mitteln (am besten) entsprechen, kann man auch als „Verstehen“ bezeichnen. Es zeigt sich in dieser Sicht, dass das Verstehen des Handelns und dessen Erklärung über den Bezug auf Ziele und Annahmen der Eignung von Mitteln identisch sind: Verstehen ist die Erklärung eines Handelns unter der Annahme der Rationalität der Akteure. Rationalität, Intentionalität, gute Gründe und subjektiver Sinn bezeichnen demnach den gleichen Sachverhalt.
Der Handlungsbegriff in der modernen Soziologie 2.2
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Doppelte Hermeneutik
Für die sozialwissenschaftliche Arbeit hat dieser Sachverhalt wichtige Folgen. Der wohl bedeutsamste Aspekt ist, dass man zur Erklärung des Handelns der Menschen und der daran anschließenden gesellschaftlichen Folgen immer den Bezug auf die subjektiven Ziele und die subjektiven Erwartungen herstellen muss. Das aber bedeutet zwingend, dass man zur Erklärung aller sozialen Prozesse (auch) zu einem Verstehen der beteiligten Akteure derart kommen muss, dass man ihre jeweilige Sicht der Dinge, den subjektiven Sinn ihres Tuns also, rekonstruiert. Die subjektiven Vorstellungen (Bewertungen und Erwartungen) der Akteure werden auch als Konstruktionen erster Ordnung bezeichnet. Sie sind die zentralen handlungstheoretischen Bestandteile der Theorien und Modelle der Sozialwissenschaftler, etwa für die Erklärung von sozialen Bewegungen oder dafür, dass die Menschen in unsicheren Zeiten risikoavers werden. Die sozialwissenschaftlichen Modelle und Theorien, die ja weit über das Handeln der einzelnen Menschen hinausgreifen, werden demgegenüber als Konstruktionen zweiter Ordnung bezeichnet. In diesen Konstruktionen zweiter Ordnung, über die sich die (Sozial-)Wissenschaftler untereinander verständigen, sind also die Konstruktionen erster Ordnung zwingend enthalten. Dieser Sachverhalt wird auch als doppelte Hermeneutik bezeichnet. Er kennzeichnet den wohl wichtigsten Unterschied der gesellschaftswissenschaftlichen Theorien von den naturwissenschaftlichen: Naturwissenschaftler müssen über die „Subjektivität“ ihrer Objekte (Intentionen, gute Gründe, subjektive Bewertungen und Erwartungen) nichts wissen (oder allenfalls in rudimentärer Form beim Umgang mit „intelligenten“ nicht-menschlichen Organismen). Sozialwissenschaftler sind auf eine valide und damit objektive Erfassung der Subjektivität der Akteure angewiesen. Sie müssen ihre „Objekte“ verstehen, um ihr Tun erklären zu können. Naturwissenschaftler müssen (und brauchen) das nicht. 2.3
Die Wert-Erwartungstheorie
Die wichtigste und nach formalen und inhaltlichen Gesichtspunkten geeignetste Art einer Handlungstheorie, die die genannten Gesichtspunkte der Subjektivität des Handelns der Menschen berücksichtigt und gleichzeitig eine korrekte Erklärung des Handelns zu liefern imstande ist, ist die so genannte WertErwartungstheorie. Sie besagt, dass Akteure genau jene Alternative wählen, bei der das Produkt aus der Bewertung gewisser Konsequenzen ihres Tuns und der Erwartung, dass die jeweilige Alternative zu den verschiedenen Konsequenzen führt, im Vergleich zu allen Alternativen und allen Konsequenzen maximal ist.
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Hartmut Esser
Jeder Alternative i wird dementsprechend ein Gewicht zugeordnet, die WertErwartung EU(i). Wenn U(j) die Bewertung einer Konsequenz j ist und p(ij) die (als subjektive Wahrscheinlichkeit gegebene) Erwartung, dass eine Alternative i zur Verwirklichung der Konsequenz j führt, dann ergibt sich das Gewicht EU(i) für jede Alternative i zu EU(A(i)=6p(ij)•U(j)). Der praktische Syllogismus ist ein Spezialfall dieser Konzeption. Die Formel der Wert-Erwartungstheorie sieht etwas kompliziert aus, ist es aber nicht. Sie besagt, die Sache etwas vereinfachend: Eine Alternative i bekommt nur dann ein bestimmtes Gewicht, wenn der Akteur mit ihr eine Folge j verbindet, die für ihn angenehm zu sein verspricht (U(j)), und wenn das Handeln nach i für das Eintreten der Folge j wirksam ist. Dahinter steckt eine tiefe Weisheit der Evolution des Lebens: Wähle die Alternative, bei der Du etwas für Dich möglichst Zuträgliches bekommst, die aber auch vergleichsweise leicht und wahrscheinlich zum Ziel führt! Oder anders gesagt: Strebe keine Dinge an, die Dir schaden, ebenso wie solche, die zwar interessant, aber unerreichbar sind! Es steckt das Gesetz der Knappheit darin, mit dem sich die Evolution des Lebens in einer meist unfreundlichen Umgebung immer hat auseinandersetzen müssen, ebenso wie die nahe liegende Bedingung, dass die Organismen, die sich nicht um ihre höchst eigene Reproduktion gekümmert haben, in der Evolution des Lebens keine guten Chancen hatten. Das gilt für alle Organismen, und der Mensch ist da keine Ausnahme. 2.4
(Zweck-)Rationalität
Die Wert-Erwartungstheorie bezieht sich auf eine besonders extreme Form der Intentionalität des Verhaltens: Die Akteure kennen alle Alternativen, haben eindeutig geordnete Präferenzen für die verschiedenen möglichen Konsequenzen, und sie sind über die Wirksamkeit der verschiedenen Alternativen (als Mittel zur Erreichung der Ziele) perfekt informiert. Dahinter steht das Modell des rational und nach dem Prinzip der Nutzenmaximierung funktionierenden Homo Oeconomicus. Max Weber hat diesen Typ des Handelns als zweckrationales Handeln bezeichnet. Weil dabei die Ziele und die Mittel explizit bedacht und gegeneinander gedanklich abgewogen werden, weil dadurch ferner die „guten Gründe“ für oder gegen eine Alternative besonders transparent herausgearbeitet werden und somit auch der von den Handelnden mit ihrem Tun verbundene subjektive Sinn besonders klar ist, sind der Homo Oeconomicus und die Wert-Erwartungstheorie besonders deutliche Fälle der Intentionalität, und jede Erklärung, die dem folgt, bedeutet entsprechend eine besonders ausgeprägte Form des Verstehens der Akteure.
Der Handlungsbegriff in der modernen Soziologie
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Typen des Handelns
Max Weber unterscheidet neben dem zweckrationalen Handeln allerdings drei weitere „Typen“ des Handelns, die in charakteristischer Weise vom Modell des zweckrationalen Handelns abweichen: das wertrationale, das affektuelle und das traditionale Handeln. Beim wertrationalen Handeln folgt der Akteur einem ihm unbedingt geltenden „Wert“, etwa der staatsbürgerlichen Pflicht des Wählens oder einer Bitte um Hilfe in der Not, auch dann, wenn die Kosten dafür hoch und andere Alternativen verlockend sind. „Rational“ ist das wertrationale Handeln jedoch weiterhin: Die Unbedingtheit des Wertes wird vom Akteur „bewusst“ durchdacht und mit rationalen Argumenten begründet, und bei der Wahl der Mittel geht es ohnehin wieder ganz und gar (zweck-)rational zu. Das affektuelle Handeln ist eines, das der Auslösung eines, genetisch verankerten oder gelernten, emotionalen Programms folgt, begleitet von entsprechenden Gefühlen. Es ist weiterhin auf die (vitalen) Ziele des Akteurs bezogen, insbesondere weil die emotionalen Programme ein zentraler Teil der neurobiologischen genetischen Programme sind, deren Hauptfunktion die rasche Reaktion auf bedrohliche und/oder sonst wie vital wichtige Situationen ist. Das traditionale Handeln ist ebenfalls eines, das gewissen Programmen folgt. Im Unterschied zum affektuellen Handeln ist es jedoch (vollkommen) emotionsfrei. Es folgt über Habitualisierungen erworbenen Programmen der automatischen Abwicklung von „Skripten“. Auch diese Handlungsprogramme werden durch Umgebungsreize ausgelöst. Meist sorgt jedoch schon die unbewusst immer mitlaufende Vergewisserung der Normalität des Ablaufs für die reibungs- und aufwandlose Abwicklung der damit verbundenen Routinen. Der wichtigste Mechanismus dieser Vergewisserung ist die (alltägliche) sprachliche Konversation. Sie bildet den latenten Rahmen der (unbewussten) Sicherheit, dass alles „im grünen Bereich“ ist, und dass daher für besondere „Berechnungen“ oder Emotionen kein Anlass besteht. Im Anschluss an die Typologie von Max Weber gibt es eine Vielzahl ähnlicher Vorschläge für die Unterscheidung verschiedener Typen des Handelns. Ihnen ist die Vorstellung gemeinsam, dass es sich um jeweils ganz verschiedene „Logiken“ der Selektion von Stellungnahmen handele: die rationale Kalkulation von in der Zukunft liegenden Konsequenzen unter perfekt informierter Beachtung möglichst aller denkbaren Alternativen und Ziele einerseits; und die auf Hinweisreize ausgelöste automatische, spontane und von emotionalen Festlegungen begleitete Anwendung von (extrem) einfachen Programmen der Reaktion. Jon Elster (1989) etwa unterscheidet so das „rationale“ vom „normativen“ Handeln: Das rationale Handeln ist an zukünftigen Konsequenzen orien-
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Hartmut Esser
tiert und dadurch „bedingt“, das normative Handeln ist unabhängig von zukünftigen Konsequenzen und wird „unbedingt“ ausgeführt. Ähnlich unterscheiden James S. March und Johan Olsen (1989) die „logic of calculativeness“ von der „logic of appropriateness“: die Berechnung von Folgen einerseits und die Beachtung von Regeln andererseits. 3.1
Begrenzte Rationalität
Der Hintergrund aller dieser Unterscheidungen ist ein bereits früh gegen die ökonomische Theorie des rationalen Handelns vorgebrachter Einwand: die (deutlich) begrenzte Rationalität der Menschen, die insbesondere in seiner mangelnden Fähigkeit zur Informationsverarbeitung und den oft hohen Kosten für die Beschaffung der eigentlich nötigen Informationen bestehe. Die Grenzen der Rationalität zeigen sich an einer ganzen Reihe von „Anomalien“: Menschen suchen keineswegs immer nach der „besten“ Alternative, sondern orientieren sich z.B. an „Modellen“ in ihrer Umgebung, oder sie halten an einfachen Mustern der Reaktion gerade dann fest, wenn die Möglichkeiten zunehmen. Der Ökonom Herbert Simon (1993, 1955) hat vor diesem Hintergrund dem Konzept des „maximizing“ – des perfekt informierten Homo Oeconomicus – das bescheidenere und der Realität menschlicher Entscheider besser entsprechende Konzept des „satisficing“ gegenüber gestellt: Menschen suchen nicht nach der jeweils objektiv „besten“ Alternative, sondern bescheiden sich mit Untergrenzen eines variablen Anspruchsniveaus. Simon weicht mit dieser Berücksichtigung der Begrenzungen der menschlichen Vernunft jedoch eigentlich nicht von der Logik der rationalen Berechnung von zukünftigen Konsequenzen ab. Er berücksichtigt dabei nur, dass es auch Kosten der Informationsbeschaffung und -verarbeitung gibt. In den diversen Typologien des Handelns ist aber meist gemeint, dass das nichtrationale Handeln auch einer ganz anderen „Logik“ folge als das rationale, einschließlich des – immer noch „rationalen“ – satisficing. Es gehe beim „normativen“ Handeln eben nicht um die Berücksichtigung von in der Zukunft liegenden Konsequenzen, sondern um die Anwendung von in der Vergangenheit erworbenen Regeln, bei denen alle Konsequenzen ausgeblendet sind. Simon hat diese Position später selbst übernommen: „Wirkliche“ Entscheidungen bestünden nicht aus irgendwelchen „Kalkulationen“, sondern folgten der – über Symbole gesteuerten – Wiedererkennung von zuvor gelernten typischen Mustern und der dadurch ausgelösten Aktivierung von Reaktionsprogrammen. Es gibt sogar Stimmen, die sagen, dass das rationale Handeln eigentlich auch
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nichts weiter sei als die Folge eines solchen „Programms“ (vgl. etwa Vanberg 2002). 3.2
Heuristiken
Die empirische Untersuchung des Verhaltens bzw. Handelns der Menschen hat in der Tat ergeben, dass es zahllose Abweichungen vom Modell des rationalen Handelns gibt, aber auch, dass Menschen unter bestimmten Umständen durchaus zu rationalen Berechnungen in der Lage sind – und das unter bestimmten Umständen auch tun. Es gibt also offensichtlich (mindestens) zwei verschiedene Arten der Selektion von Alternativen: eine, die stark der automatischspontanen Auslösung biologisch ererbter und/oder sozial gelernter Programme entspricht und über den Weg der Mustererkennung und Aktivierung eines Programms verläuft; und eine, die auf der reflektierend-kalkulierenden Bildung von Intentionen und des Vergleichs guter Gründe beruht, in ihrer deutlichsten Form nach den Regeln der Wert-Erwartungstheorie. Zwischen diesen beiden Extremformen gibt es eine Reihe von Zwischenstufen oder Heuristiken. Sie lassen sich auf zwei Dimensionen anordnen: der für die Selektion einer Alternative nötige Aufwand und die „objektive“ Richtigkeit der Reaktion in Bezug auf die Lösung des situational gegebenen Problems. Die beiden Dimensionen variieren bei den verschiedenen Heuristiken gegenläufig: Je „rationaler“ eine Heuristik ist, umso aufwändiger ist sie auch, sie liefert aber gleichzeitig die genaueren und „objektiv“ besseren Entscheidungen – und umgekehrt für die „automatischen“ Heuristiken. Leicht ist zu sehen, dass es sich um eine Art von Optimierungsproblem für die Selektion der Heuristiken handelt: Bei vielen Situationen lohnt sich eine rationale Durchdringung nicht, weil der erforderliche Mehraufwand an Informationsbeschaffung und -verarbeitung den zu erwartenden Mehrertrag an Verbesserung der Entscheidung nicht lohnt. Bei anderen aber schon. 3.3
Dual-Process-Theorie(n)
Vor diesem Hintergrund sind die so genannten dual-process-Theorien entstanden. Ihr Gegenstand ist die Erklärung der Selektion automatischer versus stärker elaborierter Heuristiken. Der Ausgangspunkt war die Unterscheidung zweier verschiedener Konzepte der so genannten Einstellungs- oder Attitüdentheorie in der (Sozial-)Psychologie. Die klassische Einstellungstheorie nach Allport (1985) hatte eine Einstellung als Einheit von Affekten, Kognitionen und Ver-
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halten aufgefasst und erklärte das Verhalten durch die (automatische) Auslösung dieser Einheit über situative Reize. Nachdem aber festgestellt worden war, dass die Verbindung zwischen Einstellungen und Verhalten alles andere als unmittelbar war, kam es zur Entwicklung eines alternativen Modells, der Theorie des „geplanten“ bzw. des „überlegten“ Handelns nach Ajzen und Fishbein (1980). Darin wird angenommen, dass jedem Verhalten die Bildung von Intentionen vorausgeht, wobei dieser Vorgang nichts anderes ist als die Bildung von EU-Gewichten nach den Vorgaben der Wert-Erwartungstheorie. Die klassische Einstellungstheorie entspricht damit dem Modell des normativen Handelns, die Theorien des geplanten bzw. des überlegten Handelns dem des rationalen Handelns. Zahllose empirische Untersuchungen haben inzwischen gezeigt, dass beide „Logiken“ vorkommen und dass es Bedingungen gibt, unter denen die Akteure von der einen auf die andere Logik wechseln. Das Ziel der dual-process-Theorien ist es, die Bedingungen zu spezifizieren und empirisch zu untermauern, unter denen die Akteure der einen oder der anderen Logik folgen: unmittelbare Auslösung einer kognitiv-emotionalen Reaktion, etwa eines rassischen Stereotyps, oder eine stärkere gedankliche Durchdringung und elaborierte Beurteilung der Situation und der jeweiligen Reaktion (vgl. dazu die Übersicht bei Chaiken und Trope 1999). In der am weitesten entwickelten Fassung der dual-process-Theorie(n) bei Russell H. Fazio (1990) folgt die Aktivierung eines (stereotypen) mentalen Modells dem Match zwischen typischen symbolischen Reizen in der Situation und bestimmten, damit assoziierten gedanklichen Vorstellungen. Aber erst bei einer unerwarteten Störung des Matchs besteht die Chance auf eine „rationale“ Beurteilung. Dazu kommt es aber erst unter drei weiteren Bedingungen: Es muss hierfür eine hinreichend starke Motivation gegeben sein, es müssen die für die entsprechenden Berechnungen nötigen Gelegenheiten vorhanden sein, speziell die Zeit für die erforderliche Informationsverarbeitung, und der dafür nötige Aufwand darf nicht zu hoch sein. Bindungen an gewisse gedanklich-emotionale Muster sind nach diesen Ansätzen, ganz ähnlich wie bei Simon, die Folge entweder eines (perfekten) Matchs zwischen einem „zugänglichen“ mentalen Modell (einer bestimmten stereotypisierten Einstellung) oder aber, wenn der Match gestört ist, des Mangels an Motivation und/oder Gelegenheiten bzw. zu hohem Aufwand für eine „rationale“ (und damit auf Situationsvariationen reagierende) Analyse der genauen Umstände und der möglichen Erträge. Inzwischen gibt es zahllose empirische Hinweise auf die Richtigkeit dieser Annahmen der dual-process-Theorie(n).
Der Handlungsbegriff in der modernen Soziologie 3.4
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Das Modell der Frame-Selektion
Das Problem der sozialpsychologischen dual-process-Theorie(n) ist, dass sie, anders als die Wert-Erwartungstheorie, nicht als explizit gemachte Kausaltheorie formuliert ist, sondern aus verbalen und graphischen Zusammenfassungen empirischer Beobachtungen besteht. Um ein Handeln aber logisch korrekt erklären zu können, benötigt man eine als Gesetz formulierte Handlungstheorie. Um zu der (einseitig „rationalen“) Wert-Erwartungstheorie in Konkurrenz treten zu können, müsste sie daher, ganz analog, als eine formal spezifizierte Funktion modelliert werden, wobei das Explanandum die (beiden) „Logiken“ des Handelns sind, und der Match (von Symbolen und mentalen Modellen), die Motivation, die Gelegenheiten und der Aufwand in ihrer kombinierten Wirkung darauf in der Prämisse eines Gesetzes der Selektion der betreffenden Heuristiken aufzuführen wären. Das so genannte Modell der Frame-Selektion ist eine derartig explizit gemachte und formale Fassung der Ideen der dual-process-Theorien (vgl. zu den formalen Einzelheiten Esser 2003, 2001). Es geht davon aus, dass vor jedem konkreten Verhalten oder Handeln sowohl ein bestimmtes gedankliches Modell der Orientierung aktiviert wird, wie auch der Modus der Selektion der Alternativen, der jeweils angewandte Grad der Informationsverarbeitung, die jeweils benutzte Heuristik also. Das gedankliche Modell der Orientierung wird als Frame bezeichnet. Der Frame „definiert“ die Situation als inhaltlich festgelegtes Muster eines Typs sozialer Abläufe oder Strukturen, etwa eine Karnevalssitzung gegenüber einer Fronleichnamsprozession. Das eigentliche Handeln folgt dann einer weiteren Selektion: der eines Modells des Handelns. Diese Modelle des Handelns werden auch als Skripte bezeichnet. Sie beziehen sich, wie die Frames, auf typische Muster von vorher erworbenen und habitualisierten (Routine-)Abläufen. Die Verzweigung in einen automatisch-spontanen Modus gegenüber einem reflektiert-kalkulierenden Modus erfolgt über den Match von bestimmten Anzeichen und den im Gedächtnis gespeicherten mentalen Modellen (der Frames und der Skripte). Bei einem perfekten Match kommt es zur automatischen Auslösung eines „normativen“ Programms. Im einfachsten Fall ist das die Auslösung eines bestimmten Frames mit einem wiederum bestimmten Skript gleichzeitig. Das entspricht dem Typ des „normativen“ Handelns. Die „rationale“ Heuristik wird aber nicht schon allein durch einen MisMatch angewandt. Es muss eine hinreichend hohe Motivation hinzukommen, es müssen ausreichende Gelegenheiten zur (aufwändigen) Berechnung der Folgen vorhanden sein und es dürfen die Kosten für die Beschaffung evtl. benötigter Informationen nicht zu hoch sein. Sind diese drei Bedingungen
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gegeben, kommt es zum Typ des „rationalen“ Handelns, im Extremfall also zur Entscheidung nach der Wert-Erwartungstheorie. Liegt nur eine der drei Bedingungen nicht vor, wird eine andere Heuristik gewählt, etwa eine emotionalisierte Suche nach einer raschen Lösung, etwa bei Zeitdruck, die Orientierung an vordergründigen Aspekten oder auch eine rein zufällige Reaktion. Man könnte diese (Not-)Lösungen, die ein Akteur versucht, wenn zwar der Match gestört, aber eine rationale Durchdringung nicht möglich ist oder nicht lohnend erscheint, zusammenfassend als „Interpretation“ bezeichnen. 3.5
Variable Rationalität
Die Besonderheit aller dieser Modelle ist, dass sie mit der besonderen Eigenart des menschlichen Handelns Ernst machen: Es ähnelt manchmal durchaus den instinktiven und offenbar unkontrollierten und emotionalen Reaktionen auch der nicht-menschlichen Organismen, aber nicht nur gelegentlich wird auch – mehr oder weniger intensiv – nachgedacht und verständig und auf Konsequenzen bezogen gehandelt. Und dazwischen gibt es zahllose Formen nicht sonderlich vernünftiger, gleichwohl aber von allerlei Unsicherheiten und Reflexionen begleiteter Reaktionen zwischen automatischen Programmen und rationalen Intentionen. Dahinter steckt eine interessante und durchaus faszinierende Fähigkeit des Menschen: die, so wollen wir sie nennen, Fähigkeit zur variablen Rationalität. Damit ist gemeint, dass menschliche Akteure zwar ohne Zweifel engen Grenzen ihrer Fähigkeit zur Informationsverarbeitung ausgesetzt sind, dass sie aber die ihnen zur Verfügung stehenden (begrenzten) Möglichkeiten dazu auf unbekannte und gleichzeitig als wichtig erscheinende Angelegenheiten lenken. Wenn man so will, ist es die Anwendung des Prinzips der Wert-Erwartungstheorie auf die „Wahl“ der „Logik“ des Handelns: Wähle die „Logik“, bei der es um einen nennenswerten Ertrag geht und die bei dem Problem behilflich zu sein verspricht. Bei der Lenkung der begrenzten Mittel der Informationsverarbeitung auf diese spezielle Situation – Unbekanntheit und Wichtigkeit – helfen vor allem die in jeder Situation vorhandenen symbolischen Hinweise und der Vorgang des (Mis-)Matchs. Bei einem perfekten Match ist signalisiert: Alles ist wie immer, und die Routine kann abgerufen werden. Das ist der Normalfall des Alltagshandelns, und die Folge ist offensichtlich: eine enorme Ersparnis an Kosten der Entscheidungsfindung und eine hohe subjektive Sicherheit beim Tun, die, weil sie alle erfasst, auch die vielen komplizierten Abstimmungen des sozialen Handelns (siehe dazu noch unten) leicht und problemlos gestaltet. Und weil so das Alltagshandeln einen stabilen Rahmen der Sicherheit be-
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kommt, können innerhalb dieser Sicherheit die dann verfügbaren Möglichkeiten der menschlichen Intelligenz genutzt werden: für Kreativität und das spielerische Ausprobieren neuer Möglichkeiten. Das ist beim angestrengt „rationalen“ Handeln, bei dem alle Energie auf die mühsame „Berechnung“ der Folgen verwandt werden muss, kaum möglich.
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Eine „General Theory of Action“?
Mit den sozialpsychologischen dual-process-Theorie(n) bzw. mit dem Modell der Frame-Selektion löst sich, wie man sieht, die Kontroverse über die Frage auf, ob es sich bei den verschiedenen Typen des Handelns tatsächlich um jeweils unterschiedliche Logiken handelt oder nicht. Zwar gibt es mit den verschiedenen Heuristiken auch unterschiedliche Logiken, aber es lässt sich mit der übergreifenden Logik des Modells der Frame-Selektion erklären, wann warum welche Logik zum Zuge kommt. Es ist ein Ansatz zur Überwindung der Streitigkeit zwischen den verschiedenen sozialwissenschaftlichen Paradigmen und Disziplinen über deren jeweilige handlungstheoretische Grundlagen. Eine wichtige Implikation daraus ist, dass die eher soziologische Sicht des normativen Handelns ebenso ein Spezialfall ist wie die eher ökonomische Sicht des rationalen Handelns. Es ist eine „general theory of action“. 4.1
Wertrationalität
Ein spezielles Problem aus wenigstens einigen der Typologien des Handelns ist damit jedoch noch nicht gelöst: die Einordnung der Wertrationalität als der „bewusst“ vorgenommenen Festlegung auf einen bestimmten, nicht mehr in Frage gestellten Bezugspunkt des Handelns. Diese Besonderheit einer sowohl rational begründeten wie dann gleichzeitig aber auch unbedingten Festlegung findet sich unter verschiedenen Bezeichnungen: March und Olsen (1989) verweisen auf die Übereinstimmung eines „angemessenen“ Handelns (auch) mit der „Identität“ des Akteurs; Boudon (1980) beschreibt die (scheinbar) nicht an Konsequenzen orientierte „cognitive rationality“ einer Bindung an „good reasons“; und Habermas (1981) schließlich macht die rational-argumentative Bindung an gewisse moralische Prinzipien zur Grundlage seines speziellen Typs des kommunikativen Handelns fest. Alle diese Festlegungen können im Rahmen des Modells der Frame-Selektion als die Fixierung einer bestimmten „Definition“ der Situation rekonstruiert werden, gerade dann, wenn empirisch die Zeichen dagegen sprechen und der Match zwischen dem erkennbaren „Modell der Wirklichkeit“ und den Vorstellungen eines gewünschten „Modells für die
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Wirklichkeit“ nicht gegeben ist. Da es sich um eine rational zu begründende Festlegung handelt, müssen zusätzlich zum Mis-Match die beobachtete Abweichung von einer für angemessen gehaltenen und normativ bewerteten Vorstellung, die Bedingungen der Anwendung der rationalen Heuristik, gegeben sein: Motivation, Gelegenheiten, nicht zu hohe (Entscheidungs-)Kosten. Die Logik der (rationalen) Begründung eines Wertes kann zunächst an die Logik des praktischen Syllogismus anschließen: Wenn ein Wert als „notwendig“ für die Erreichung bestimmter Ziele angesehen wird, dann legt sich ein Akteur auf den Wert dann fest, wenn er das betreffende Ziel hat und (sicher) glaubt, dass der Wert notwendig ist. Alles hängt dann freilich an dem Glauben an die Notwendigkeit des Wertes. Ob jemand sich auf einen Wert (unbedingt) festlegt oder nicht, ist demnach eine Frage, die mit den Regeln einer Theorie des Handelns allein nicht zu beantworten ist. Es ist eine Frage nach der Erklärung der Entstehung eines bestimmten Wissens: die Hypothese über die (vermutete) Notwendigkeit eines bestimmten Wertes zur Erreichung bestimmter Ziele. Diese Frage aber kann eine Theorie des Handelns (allein) nicht beantworten (vgl. dazu ausführlicher Esser 2003). 4.2
Soziale Situationen und soziales Handeln
Bis hierher haben wir das Handeln allein aus der Perspektive des einzelnen Akteurs betrachtet. Es ging ausschließlich um so genannte parametrische Situationen, in denen allein entweder die latenten Dispositionen, Frames und Skripte, oder die Ziele des Akteurs und seine Erwartungen über die Wirkung gewisser Mittel wichtig waren. Das gesellschaftliche Geschehen findet aber so gut wie ausschließlich in sozialen Situationen statt (vgl. zu den Einzelheiten des Konzeptes des sozialen Handelns und der damit verbundenen sozialen Prozesse Esser 2000). Das sind Situationen, in denen andere Akteure vorkommen, die sich wechselseitig als handlungsfähige, entscheidende und daher im Prinzip auch zu strategischen Überlegungen fähige und bereite „Subjekte“ wahrnehmen. Hier hängt das Ergebnis des Handelns nicht, wie bisher, nur von den Zielen und der Richtigkeit der Erwartungen über die Wirksamkeit der Mittel ab, sondern zusätzlich von den Entscheidungen der anderen Akteure. Es ist diese Besonderheit der doppelten Kontingenz, die das soziale Handeln von dem Handeln in parametrischen Situationen unterscheidet. Die grundlegenden Gesetze der Selektion von Verhalten oder Handeln (Programmauslösung versus rationale Wahl) ändern sich dabei freilich nicht. Aber zur Erklärung dessen, was die Akteure in den verschiedenen sozialen Situationen tun, wird es – zusätzlich – notwendig, die wechselseitige Beachtung
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des möglichen Handelns der jeweils anderen Akteure einzubeziehen. Nicht in allen sozialen Situationen wird dieser Gesichtspunkt der doppelten Kontingenz gleichermaßen bedeutsam. Drei Formen des sozialen Handelns können vor diesem Hintergrund unterschieden werden: das strategische Handeln, die Interaktion und soziale Beziehungen. 4.3
Strategisches Handeln, Interaktion und soziale Beziehung
Beim strategischen Handeln ist die doppelte Kontingenz am ausgeprägtesten. Die Akteure sind nur an ihren Interessen orientiert und durch keinerlei kulturelle Prägungen oder normative Vorgaben gebunden. Das wissen sie gegenseitig voneinander und stellen es in der Wahl ihrer Strategie in Rechnung. Drei grundlegende Typen von strategischen Situationen mit jeweils typischen Problemen des sozialen Handelns lassen sich unterscheiden: die Koordination, bei der es darum geht, eine Abstimmung in einer nicht vorab definierten Situation zu finden, wie bei fehlenden Verkehrsregeln; Dilemma-Situationen, bei denen die Akteure zwar an einer Kooperation interessiert sind, aber befürchten müssen, dass man ihre Gutmütigkeit ausbeutet, oder versucht sind, die Gutmütigkeit des anderen auszunutzen, wie bei Vorleistungen für Hilfestellungen; und Konflikte, bei denen die Interessen der Akteure diametral entgegengesetzt sind und wo die einzige Strategie darin besteht, dem anderen jeweils zuvorzukommen, wie bei der Besetzung von begehrten, aber knappen Positionen. Aus den drei Typen sozialer Situationen folgen jeweils drei typische Formen des sozialen Handelns: Koordinationsprobleme führen zu Versuchen der Abstimmung des Handelns, etwa durch Symbole. Dilemma-Situationen haben die Folge, dass an sich für alle nützliche Kooperationen unterbleiben (können), und sie ziehen daher einen Bedarf nach (z.B. moralischen) Bindungen nach sich, die die wechselseitigen Befürchtungen auf Ausbeutung ausschalten. Und die Konflikte treiben die Akteure in eine gnadenlose Konkurrenz gegeneinander und erzeugen, wenn die Konfliktkosten steigen, den Wunsch nach einer Beendigung des Wettbewerbs durch die Etablierung einer Herrschaft, die sicherstellt, dass es eine Ordnung in der Regelung des Konfliktes gibt. Die Interaktion ist ein soziales Handeln, das durch geteilte kulturelle Vorstellungen und wechselseitig vermittelte symbolische Hinweise gesteuert ist. Wieder können drei Typen unterschieden werden: Ko-Orientierung, symbolische Interaktion und Kommunikation. Ko-Orientierung ist die rein gedankliche Verschränkung der Perspektiven von Akteuren in einer Situation der (fehlenden) Koordination. Sie gelingt leicht über ein signifikantes Symbol, das als eindeutiger gedanklicher Bezugspunkt der gedanklichen Verschränkung dient, etwa der
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Kölner Dom als Treffpunkt eines Paares, das sich aus den Augen verloren hat. Symbolische Interaktion ist die wechselseitig sichtbare Abstimmung des Handelns über Zeichen, speziell über Gesten, etwa beim Tanz oder bei einem Orchester mit einem Dirigenten. Kommunikation schließlich ist eine symbolische Interaktion über Zeichen mit explizitem Inhalt, den so genannten Medien. Das wichtigste Medium der Kommunikation ist die Sprache. Jede Kommunikation ist damit auch symbolische Interaktion, und jede symbolische Interaktion beruht auch auf gedanklicher Ko-Orientierung, weil die verschiedenen Zeichen, wie die Medien auch, niemals ganz in ihrer Bedeutung festgelegt sind und auf einem – mehr oder weniger breiten – Satz an geteiltem Hintergrundwissen beruhen. Eine soziale Beziehung schließlich ist ein soziales Handeln, das ganz auf wechselseitig geteilten und als sicher unterstellten Orientierungen beruht, den „Frames“ etwa, die eine Situation fest „definieren“. Die sozialen Rollen, an gesellschaftlichen Positionen geknüpfte und sanktionierte Erwartungen an das Handeln der Akteure, die die Positionen besetzen, wären der wohl deutlichste Fall einer solchen sozialen Beziehung. Die drei Typen des sozialen Handelns – strategisches Handeln, Interaktion und soziale Beziehung – lassen sich nach dem Grad der jeweils vorhandenen doppelten Kontingenz ordnen. Er ist beim strategischen Handeln am größten und bei der sozialen Beziehung am geringsten. Soziale Beziehungen sind im Ergebnis den parametrischen Situationen nahezu gleich: Obwohl andere Akteure in der Situation vorhanden sind und handeln, muss das nicht weiter beachtet werden, weil deren Tun so gut wie vollständig vorhersagbar ist und den wechselseitig bekannten Regeln entspricht. Analog ist zu erwarten, dass das „rationale“ Handeln der bei den strategischen Situationen vorherrschende Typ des Handels ist, und das „normative“ der bei den sozialen Beziehungen. Das alltägliche (soziale) Handeln ist immer eine Mischung aus allen diesen Formen: Immer sind wohl strategische Elemente beteiligt, interaktive Vorgänge der gedanklichen, symbolischen und kommunikativen Abstimmung und soziale Beziehungen. Aber es ist auch davon auszugehen, dass es jeweils typische Gewichtungen dieser Komponenten gibt, etwa bei geschäftlichen Verhandlungen, beim Besuch einer Diskothek oder bei einem religiösen Ritus. 4.4
Kollektives Handeln
Gerade das soziale Handeln ist, wie jedes Handeln, letztlich um Vorgänge der Reproduktion des Lebens herum organisiert. Die beiden wichtigsten Beiträge zu dieser Reproduktion sind die Produktion von Gütern und Leistungen und
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deren gegenseitiger Tausch, die Transaktionen. Die meisten Produktionen finden über Formen des sozialen Handelns statt, als gesellschaftliche Produktion: Zusammenlegung von Ressourcen, die arbeitsteilige Organisation von Produktionen und die Abstimmung der Verteilung der Erträge aus der Produktion. Eine der wichtigsten Varianten des produktiven sozialen Handelns ist das so genannte kollektive Handeln: Alle sind daran interessiert, ein gewisses „kollektives“ Gut zu schaffen, wie die Sicherung einer intakten Umwelt oder eine dringend benötigte Reform. Alle wissen auch, dass es nötig ist, dass sich möglichst viele daran beteiligen. Aber es kommt nicht dazu: Niemand weiß, ob der jeweils andere auch mitmacht; der eigene Beitrag wird als nur gering eingeschätzt; und jeder weiß auch, dass er mit seiner Beteiligung mit Sicherheit bestimmte Kosten und Risiken trägt, die sich mitunter sogar auf das eigene Leben beziehen, etwa wenn es um den Sturz einer Diktatur geht. Bei vielen Arten der gesellschaftlichen Produktion und des kollektiven Handelns besteht dieses Problem. Es ist ein Spezialfall der Dilemma-Situationen, bei denen die Gefahr besteht, dass trotz aller Interessen an der gemeinsamen Produktion es nicht dazu kommt. Moralische Bindungen, Institutionen und die Einrichtung einer Herrschaftsstruktur sind die Lösungen des Problems. Nicht aus Zufall finden die meisten gesellschaftlichen Produktionen in der Form von Organisationen statt, die aus dem unsicheren strategischen und interaktiven Handeln der Akteure eine verlässliche soziale Beziehung machen. 4.5
Transaktionen und Verhandlungen
Die Vorgänge des Tausches bzw. die Transaktionen, bei denen die Verteilung der zuvor (kollektiv) produzierten Güter vollzogen wird, sind ohne Zweifel auch Formen des sozialen Handelns. Sie sind als Handlungen, die einen Ausgleich von Angebot und Nachfrage von Gütern und Leistungen bewirken, ebenfalls höchst produktiv, weil damit die arbeitsteilig hergestellten Güter und Leistungen an jene Stellen verteilt werden, wo sie besonders begehrt werden. Solche Transaktionen können bilateral und strategisch sein, wie beim ökonomischen Tausch, speziell auf Märkten. Es gibt sie aber auch als generalisierten Tausch über lange Zeiträume und Ketten von indirekten Beziehungen hinweg. Beim generalisierten Tausch ist immer ein Rahmen erforderlich, der die damit stets verbundenen Vorleistungen gegen einseitige Ausbeutung absichert. Die oben beschriebenen Vorgänge des „Framings“ von Situationen – als besondere Typen sozialer Beziehungen, etwa als eine Freundschaft oder als Kollegialität – bilden üblicherweise diesen Rahmen.
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Bei den Transaktionen mischen sich alle möglichen Aspekte des strategischen Handelns, der Interaktion und der sozialen Beziehungen, einschließlich gewisser Begleiterscheinungen wie Bluff, Schmeichelei und Austausch von Höflichkeitsfloskeln. Ein Spezialfall davon sind die Verhandlungen. Hier geht es darum, wer bei einem im Grunde für beide vorteilhaften Geschäft das bessere Ende für sich hat. Die Untergrenze der Konzessionsbereitschaft der Akteure ist dabei das, was sie hätten, wenn sie alleine wären. Das Grundproblem ist bei allen Transaktionen aber ganz ähnlich zu dem des kollektiven Handelns: Jeder möchte seinen Vorteil wahren, und nur, wenn es einen einigermaßen verlässlichen Rahmen gibt, der die strategischen Versuchungen und Befürchtungen ausschalten kann, ist der produktive Wert gesichert. 4.6
Kollektive Folgen und soziologische Erklärungen
Die Erklärung der Prozesse und Strukturen des sozialen Handelns erfordert, wie man leicht sehen kann, deutlich mehr als die Erklärung des Handelns einzelner Akteure. Das liegt allein schon daran, dass das soziale Handeln immer schon ein kollektives Phänomen ist, bei dem es notwendig ist, die Ergebnisse der individuellen Selektionen aufeinander zu beziehen. Das soziale Handeln ist, wenn man das so sagen will, ein emergentes Phänomen, und zu seiner Erklärung muss die Mikroebene des individuellen Handelns einzelner Akteure mit der Makroebene des sozialen Handelns mehrerer Akteure verbunden werden. Dazu aber braucht man in jedem Fall – auch, wenngleich nicht ausschließlich – die Erklärung dessen, was die individuellen Akteure tun. Die oben beschriebenen Theorien der Erklärung des Handelns bzw. der verschiedenen Typen des Handelns bilden die Grundlage auch für die Erklärung der Vorgänge bei den verschiedenen Konstellationen des sozialen Handelns. Sie enthalten als die wohl wichtigste allgemeine Botschaft: Das Handeln der Menschen ist Teil der immer wieder neu zu bewältigenden Reproduktion ihres Lebens, und man kann die gesellschaftlichen Vorgänge nur verstehen, wenn man sie auf diese Vorgänge des (sozialen) Handelns bezieht. Die Menschen verfügen, wie man gesehen hat, über sehr unterschiedliche Möglichkeiten ihrer Stellungnahme zu den wiederkehrenden und den neuen Problemen der Reproduktion, nicht zuletzt in der Hinsicht, dass sie als einzige Gattung der lebenden Organismen über die Fähigkeit zu einer variablen Rationalität verfügen: Sie haben die „Wahl“, auch die jeweils günstigste „Logik“ ihres Handelns zu bestimmen: vergangenheitsbezogene, spontane Reaktion bei Routineproblemen oder bei Notsituationen und Unsicherheiten, zukunftsorientierte und präzise Berechnung von Folgen bei neuen Problemen, bei denen
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es sich lohnt und ein Nachdenken über die Folgen möglich und nicht zu teuer ist. Diese Logiken sind jeweils auf ihre Weise optimal: Die rasche Reaktion auf der Grundlage mentaler Modelle der Orientierung und des Handelns lässt die in langen Erfahrungen gewonnenen Optimierungen für bekannte Situationen extrem kostengünstig zum Zuge kommen; die aufwändige Berechnung von Konsequenzen ist dagegen immer dann die optimale Lösung, wenn es keine bewährten Standards gibt, wenn sich die Investition einer rationalen Durchdringung lohnt und wenn der Aufwand dafür nicht zu groß ist. Wie es aussieht, folgt demnach selbst die Logik der Selektion dieser „Logiken“ der Logik der Optimierung, und zwar auch dann, wenn man anzuerkennen hat, dass diese übergreifende Logik nicht die einer rationalen Berechnung ist. Es ist eine besonders raffinierte Art der Rationalität. Sie kombiniert die zu Regeln geronnene Rationalität der Programme, mit denen speziell die nicht-menschlichen Organismen auf die Herausforderungen der Umgebung reagieren, mit der Rationalität der bewussten Vernunft und der Wahl von Alternativen auf der Grundlage guter Gründe und verstehbarem subjektivem Sinn, zu dem nur die Menschen in der Lage sind. Wenn es gleichwohl immer wieder zu suboptimalen oder gar desaströsen gesellschaftlichen Prozessen kommt, dann liegt das nicht an jener, durchaus wundersamen, Raffinesse der Gesetze, denen das Handeln der Menschen und darüber hinaus sogar die Selektion der „Logik“ des Handelns – einfachautomatisch versus reflektiert-elaboriert – folgt. Es liegt vielmehr daran, dass das in einer Situation durchaus vernünftige und angemessene Handeln Konsequenzen haben kann, die niemand beabsichtigte oder kontrollieren konnte. Um das erklären und verstehen zu können, braucht man mehr als eine Theorie des Handelns. Man braucht das komplette Modell der soziologischen Erklärung mit allen drei Schritten von Logik der Situation, Logik der Selektion und Logik der Aggregation, manchmal in ganzen Ketten von Sequenzen bestimmter Pfadabhängigkeiten verbunden. Hier nimmt die Theorie des Handelns einen zentralen und unverzichtbaren Platz ein. Aber sie ist für das Verständnis der oft ganz und gar unvernünftig und unbeeinflussbar erscheinenden gesellschaftlichen Prozesse eben auch nicht alles.
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Subjektiv rationale Akteure: Das Potenzial handlungstheoretischer Erklärungen für die Journalismusforschung Carsten Reinemann
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Einleitung
Hartmut Esser fächert in seinem Beitrag für diesen Band sein Konzept von „Handlung“ auf. Neben der von Esser skizzierten werden in den Sozialwissenschaften eine Reihe weiterer handlungstheoretischer Konzeptionen vertreten, die sich in ihrem Allgemeinheitsgrad, dem zu erklärenden Handlungstyp und ihren zentralen erklärenden Konstrukten deutlich unterscheiden (dazu z.B. Gabriel 2004; Schmid 2004; Schimank 2000). Diese Fülle an Handlungsbegriffen und -theorien auf ihre Eignung für die Journalismusforschung zu prüfen, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Den Ausgangspunkt dieses Beitrags bildet deshalb in erster Linie die Konzeption Essers sowie anderer ihm nahe stehender Autoren. Sein Ziel ist es, die Eignung einer solchen handlungstheoretischen Konzeption für die Journalismusforschung zu diskutieren und aufzuzeigen, welche Herausforderungen sich aus handlungstheoretischer Sicht für die Journalismusforschung ergeben. Das von Esser skizzierte Handlungskonzept ist Teil eines strukturellindividualistischen Ansatzes (Opp 2004). In seinem handlungstheoretischen Kern steht die Wert-Erwartungstheorie als Entscheidungsregel. Deshalb wird Essers Konzept von vielen Beobachtern als moderne Variante einer Theorie rationalen Handelns (= Rational Choice- oder RC-Theorie) bezeichnet – auch wenn Esser selbst dieser Einordnung kritisch gegenüber steht. Ausgangspunkt für die Anwendung von Rational Choice ist die Idee einer theoriegeleiteten, empirisch gehaltvollen, erklärenden Sozialwissenschaft (im Überblick Kunz 2004). Grundprinzip ist die Annahme, dass Akteure in Entscheidungssituationen versuchen, unter den jeweils gegebenen Restriktionen ihre Präferenzen (Ziele,
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Motive, Wünsche) möglichst gut zu realisieren. Ziel ist die Erklärung kollektiver Phänomene auf der Basis von Erklärungen individuellen Handelns, das in einen sozialen Kontext eingebettet ist (methodologischer Individualismus). Es geht also nicht allein um die Erklärung individuellen Handelns, sondern zumindest bei soziologischen Anwendungen letztlich immer um die Erklärung von Makrophänomenen. Dabei wird der Begriff der Rationalität heute oft in einem sehr allgemeinen Sinn verwendet. Diekmann und Voss beispielsweise definieren Rationalität als „Handeln in Übereinstimmung mit den Annahmen […] einer Entscheidungstheorie“ (2004: 13). Diese Entscheidungstheorie kann, muss aber nicht die Wert-Erwartungs- oder SEU-Theorie sein (ebd.: 16ff.). In seinem Beitrag vertritt Esser wie andere handlungs- bzw. akteurstheoretisch orientierte Autoren die Auffassung, dass eine befriedigende Erklärung menschlichen Handelns nur dann möglich ist, wenn man die subjektive Perspektive der Akteure einnimmt: Wenn man ihre Wahrnehmung der Situation versteht, ihre Präferenzen (Ziele, Wünsche, Motive), ihre Sicht möglicher Handlungsalternativen und relevanter Restriktionen, ihre Bewertungen möglicher Handlungsfolgen. Weiterhin beschreibt Esser die Wert-Erwartungstheorie als einfachste und zugleich umfassendste Möglichkeit zur Erklärung der Wahl zwischen verschiedenen Handlungsalternativen. Selbst die klassischen Weber’schen Handlungstypen lassen sich seiner Ansicht nach mit Hilfe der Wert-Erwartungstheorie rekonstruieren. Dabei stellen zweckrationales, wertrationales, affektuelles und traditionales Handeln seiner Ansicht nach sowohl ein spezielles Modell des Handelns als auch einen besonderen Modus der Informationsverarbeitung dar. Die Auswahl eines Modells und eines Modus wiederum erfolgt nach den Regeln der Wert-Erwartungstheorie. Akteure entscheiden also nach Nutzenerwägungen, welcher Typ des Handelns in einer bestimmten Situation angemessen ist und wie viel kognitiven Aufwand sie für Entscheidungen aufbringen wollen (dazu auch Esser 1999: 224ff.). Alltägliches soziales Handeln zeichnet sich durch den steten Wechsel zwischen verschiedenen Handlungstypen aus: Während in einem Moment die zweck- oder wertrationale Abwägung von Handlungsalternativen angemessen erscheinen mag, ist es im anderen das quasiautomatische Abspulen tradierter Handlungsmuster. Hinter dieser Konzeption steht das Menschenbild eines resourceful, restricted, expecting, evaluating, maximizing man (RREEMM-Modell). Von besonderer Bedeutung ist ein Hinweis, mit dem Esser seinen Beitrag beginnt und enden lässt: Für sozialwissenschaftliche Analysen, die nicht allein an der Erklärung individuellen Handelns interessiert sind, sondern zumindest auch an Makrophänomenen und sozialen Prozessen, ist eine Handlungstheorie
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allein nicht ausreichend. Denn menschliches Handeln ist in der Regel soziales Handeln. Will man Strukturen, Makroeffekte und dynamische soziale Prozesse erklären, dann braucht man für deren Erklärung zusätzlich zu einer Handlungstheorie Aggregationsregeln, welche die Effekte der Interaktionen von Akteuren erklären. Dieser Hinweis macht deutlich, dass der oftmals gegenüber Handlungstheorien geäußerte Vorwurf des Reduktionismus zumindest für modernde Varianten von Theorien rationalen Handelns nicht zutrifft. Allerdings werden Interaktionen und Aggregationen nicht im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen, da sie nicht den Kern der Handlungstheorie betreffen und zudem den zur Verfügung stehenden Rahmen sprengen würden.
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Handlungstheorien in der Kommunikationswissenschaft
Akteurszentrierte Handlungstheorien im Allgemeinen und Theorien rationalen Handelns im Besonderen haben in vielen Sozialwissenschaften und auf vielen Feldern der Kommunikationswissenschaft längst ihren Platz gefunden. Dies gilt für die Soziologie, für die Politikwissenschaft, die Psychologie und natürlich die Wirtschaftswissenschaften (im Überblick Diekmann & Voss 2004; Kunz 2004). In der Kommunikationswissenschaft sind Handlungstheorien und Rational Choice vor allem in der Nutzungsforschung (z.B. Bilandzic 2004; Jäckel 2003; Scherer 1997), der Wirkungsforschung (z.B. Vlasic 2004; Brosius 1995), der Medienökonomie (z.B. Siegert & Lobigs 2004; Heinrich 2002; Kiefer 2001) und der politischen Kommunikationsforschung präsent (z.B. Eilders et al. 2004; Jarren & Donges 2002). Auch das Problem des Mikro-Makro-Links bleibt nicht ausgespart und wird von manchen Autoren auf Basis der Konzeption Essers behandelt (Vlasic 2004; Jäckel 2001). Dabei spielen in der handlungstheoretisch ausgerichteten Medienökonomie und der politischen Kommunikationsforschung auch Journalisten und Medienorganisationen als handelnde Akteure eine zentrale Rolle. In der Journalismusforschung wird das Konzept der Handlung dagegen erst in letzter Zeit wieder häufiger in den Blick genommen (z.B. Raabe 2005; Reinemann 2003; Altmeppen 2000; Bucher 2000; Neuberger 2000). Den bislang umfassendsten Vorschlag für eine Integration von Ideen der Theorien rationalen Handelns in die Journalismusforschung haben im deutschsprachigen Raum vor kurzem Fengler und Ruß-Mohl vorgelegt (2005; vgl. auch ihren Beitrag in diesem Band). Sie rekurrieren vor allem auf wirtschaftswissenschaftlich geprägte Literatur. Beiträge aus der Soziologie werden dagegen kaum verarbeitet, psychologische und sozialpsychologische Konzepte sowie Fragen des Mikro-
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Meso-Makro-Links spielen keine herausragende Rolle. Daneben finden sich in letzter Zeit verstärkt Analysen journalismusbezogener Probleme, die auf der Spieltheorie oder der neuen Institutionenökonomik beruhen (z.B. Märkt 2005; Lobigs 2004). Während also makrotheoretisch fundierte und akteurs- bzw. handlungstheoretisch ausgerichtete Beiträge in der deutschen Journalismusforschung bislang Mangelware sind, ist ein großer Teil der empirischen Journalismusforschung zumindest implizit akteurstheoretisch ausgerichtet. Als Akteure werden hier sowohl individuelle Journalisten als auch Medienorganisationen betrachtet (z.B. Kepplinger 2000: 85). Dabei werden auch die Interaktionen journalistischer Akteure und strukturelle Effekte berücksichtigt, etwa in Studien zur redaktionellen Kontrolle und inneren Pressefreiheit (z.B. Donsbach 1995) sowie zu journalistischer Koorientierung bzw. intermedialen Prozessen (z.B. Reinemann 2003; Scheufele 2003). Auch psychologische und sozialpsychologische Konzepte spielen bereits in der Nachrichtenwert-Theorie eine Rolle (z.B. Schulz 1976) und werden heute im Rahmen des Framing-Konzepts genutzt (z.B. Scheufele 2003). Woran es bislang allerdings fehlt, ist eine umfassende handlungs- bzw. akteurstheoretische Fundierung der empirischen Journalismusforschung. Warum haben die Handlungstheorien allgemein und die strukturellindividualistische Theorie rationalen Handelns in der Journalismusforschung bislang so wenig Aufmerksamkeit gefunden? Es gibt dafür vermutlich eine ganze Reihe von Gründen. Einen Grund sieht Altmeppen darin, dass der Mikro-Makro-Link das „Analysedefizit“ der Handlungstheorien sei (Altmeppen 2000: 294). Auch andere Autoren teilen die Skepsis, dass handlungstheoretische bzw. strukturell-individualistische Ansätze nicht in der Lage seien, Makrophänomene zu erklären (z.B. Weßler 2002: 30ff.). Manche Autoren schlagen deshalb vor, Mikrophänomene handlungstheoretisch und Makrophänomene systemtheoretisch zu erklären (z.B. Esser & Weßler 1998: 211). Ob eine solche Verknüpfung allerdings ohne theoretische Brüche möglich ist, wird von anderen Autoren sehr skeptisch beurteilt (z.B. Schwinn 2004). Die angedeutete Kritik ist für moderne akteursorientierte Konzeptionen in mehrfacher Hinsicht unzutreffend. Erstens werden Makrophänomene durch oftmals nicht-intendierte, aggregierte Folgen des Handelns von individuellen Akteuren und die sich daraus ergebenden Interaktionen von Akteuren erklärt. Die dazu notwendigen Aggregationsregeln gehören – wie bereits angesprochen – zwar nicht mehr zum engeren Bereich der Handlungstheorie, sind aber integraler Bestandteil des strukturell-individualistischen Ansatzes. Zweitens kann
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man nicht nur einzelne Personen, sondern auch Organisationen als journalistische Akteure begreifen. Bei einer solchen Betrachtung wird die organisatorische Einbindung einzelner Journalisten bereits berücksichtigt. Drittens gehen Vertreter strukturell-individualistischer Ansätze auch ganz allgemein davon aus, dass die für das Handeln entscheidenden subjektiven Situationsdefinitionen nicht in einem „sozialen oder institutionellen Vakuum“ stattfinden, sondern meist durch soziale und institutionelle Strukturen (Organisationen) geprägt werden. Die individuellen Motive und Einstellungen der Journalisten allein – da hat Altmeppen Recht – erklären Makrophänomene im Journalismus nicht. Allerdings würde dies wohl kaum ein Vertreter einer modernen RC-Variante behaupten (dazu z.B. Kunz 2004; Opp 2004). Ein weiterer Grund für die Skepsis gegenüber Theorien rationalen Handelns im Speziellen dürfte darin liegen, dass mit ihnen noch immer die Einschränkung auf ökonomische Präferenzen und Eigennutz im engeren Sinne verbunden wird. Allerdings wird mittlerweile zwischen einer engen und einer weiten Version von Rational Choice differenziert, die sich im Hinblick auf ihre Zusatzannahmen deutlich unterscheiden (Opp 2004). Die Zusatzannahmen bestimmen, welche Arten von Präferenzen und Restriktionen in Erklärungen berücksichtigt werden. Die enge Version liegt vielen Anwendungen in den Wirtschaftswissenschaften zugrunde, die weite Version ist beispielsweise Basis sozialpsychologischer Analysen. Die weite Version stellt konsequent die „subjektive Rationalität“ von Akteuren in den Mittelpunkt: Subjektiv wahrgenommener Nutzen und subjektive Erwartungen treten an die Stelle „objektiv“ gegebener Wahrscheinlichkeiten, Informationskosten und Heuristiken menschlicher Informationsverarbeitung sowie die soziale Einbettung individuellen Handelns werden berücksichtigt (vgl. Tabelle 1). Dass die Anwendung einer weiten Version von Rational Choice keineswegs „zirkulär, ad hoc oder tautologisch ist“, zeigt überzeugend Opp (2004). Dass sich mit ihr zudem viele vermeintliche „Anomalien“ von Rational Choice im Rahmen der Theorie erklären lassen, belegt Esser (1999: 313ff.). Aufgrund ihrer Offenheit erscheint die weite Version von Rational Choice ein besonders geeigneter Rahmen für die Journalismusforschung zu sein. Eine letzte Ursache für die Skepsis gegenüber handlungstheoretischen Konzeptionen mag auch in unterschiedlichen Auffassungen darüber bestehen, was die wichtigen Fragen der Journalismusforschung sind. Denn welche Fragen man für wichtig hält, beeinflusst auch, welchen theoretischen Zugang man für sinnvoll hält, und der jeweilige theoretische Zugang präformiert wiederum die theoretische und empirische Analyse des Untersuchungsgegenstandes. Es
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ist deshalb im Rahmen einer theoretischen Diskussion sinnvoll klar zu machen, welche Fragen man für die wichtigen und interessanten hält. Meines Erachtens sind all jene Fragestellungen von herausragender Bedeutung, die sich mit der Erklärung der Entstehung von Medieninhalten sowie ihrer inhaltlichen Charakteristika beschäftigen. Denn die von Journalistinnen und Journalisten produzierten Inhalte sind es, die die gesellschaftliche Relevanz des Journalismus ausmachen, und der Einfluss journalistischer Akteure auf die Gestaltung von Medieninhalten ist der wichtigste Grund für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Journalismus (dazu auch Maurer & Reinemann 2006). Tabelle 1: Zusatzannahmen der engen und der weiten Version von Theorien rationalen Handelns Enge Version
Weite Version
Präferenzen
Nur egoistische
Alle Arten
(Ziele, Motive, Wünsche)
Präferenzen
von Präferenzen (z.B. auch altruistische Motive, Normen)
Restriktionen
Nur materielle
Alle Arten von Restriktio-
Restriktionen
nen (z.B. auch soziale
(z.B. finanzielle, Strafen)
Missbilligung)
Informationsniveau
Vollständige
Keine vollständige
Information
Information
Relevanz subjektiv
Nur objektive
Objektive und subjektiv
wahrgenommener
Restriktionen
wahrgenommene
Relevanz
Nur Restriktionen erklären
Restriktionen und Präfe-
von Präferenzen
Handeln
renzen erklären Handeln
Typisches
z.B. Neoklassische
z.B. Sozialpsychologie
Anwendungsfeld
Ökonomie
Restriktionen
Restriktionen
Quelle: Eigene Darstellung nach Opp (2004: 46).
Interessante Fragen der Journalismusforschung können deshalb beispielsweise lauten: Warum wählen Journalisten vor allem negative Nachrichten aus und vernachlässigen positive? Warum orientieren sie sich in so starkem Maße an anderen Medien? Warum wechselt die Bild-Zeitung innerhalb von acht Wochen zweimal ihre Position zu Hartz IV? Warum ahmen die öffentlich-rechtlichen Sender die erfolgreichen Formate der privaten Sendeanstalten nach? Warum gibt es einen medien- und formatübergreifenden Trend zur Boulevardisierung?
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Warum wechseln sich die Themen der Medienberichterstattung in immer schnellerer Reihenfolge ab? Hält man diese oder ähnliche Fragen für zentral, dann hängt die Eignung einer Theorie für die Journalismusforschung entscheidend davon ab, ob diese Fragen mit ihrer Hilfe überzeugend beantwortet werden können. Der strukturell-individualistische Ansatz hat dieses Potential. Natürlich geht es in der Journalismusforschung nicht nur um Publikationsentscheidungen im engeren Sinne. Doch auch jede andere Form des Handelns journalistischer Akteure sowie die sich daraus ergebenden strukturelle Effekte lassen sich strukturellindividualistisch und mit Hilfe einer Entscheidungstheorie rekonstruieren und erklären: Dies gilt z.B. für die Berufswahl oder den Berufswechsel, die Entscheidung über die Etablierung eines neuen Ressorts durch eine Chefredaktion, die routinemäßige oder situative Auswahl bestimmter Quellen oder Recherchemethoden etc. Auch Makrophänomene wie die Ausbreitung, Ausdifferenzierung und stetige Veränderung der Strukturen des Journalismus bzw. des Mediensystems können auf dieser theoretischen Basis erklärt werden.
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Herausforderungen für eine handlungstheoretische Journalismusforschung
Wendet man eine Handlungstheorie an, dann bilden Akteure die Basis aller Betrachtungen und Erklärungen. Die zentralen Akteure der Journalismusforschung sind einzelne Journalisten und Medienorganisationen. Beide sollen hier allgemein als journalistische Akteure bezeichnet werden. Zwischen die Mikroebene der einzelnen Journalisten und die Makroebene von Strukturen und Phänomenen im Journalismus bzw. den Medien allgemein tritt also in der Journalismusforschung oftmals die Mesoebene der Medienorganisationen bzw. Redaktionen. Allgemein kann man Organisationen dann als Akteure betrachten, wenn sie handlungsfähig sind. Diese Fähigkeit ist dann anzunehmen, wenn sie Interessen haben und Ziele verfolgen, wenn sie allgemeine Handlungsorientierungen haben (z.B. Werte), wenn sie über Ressourcen verfügen (z.B. Wissen, Einfluss, Mitarbeiter), diese Ressourcen zur Erreichung ihrer Ziele einsetzen, sich selbst als Akteur verstehen, und auch von anderen als solche betrachtet werden (z.B. Jarren & Donges 2002; Schimank 2000). All dies trifft in der Regel auch auf Medienorganisationen zu. Ihr Handeln sowie die aggregierten Effekte ihrer Interaktionen können deshalb auf einer handlungstheoretischen Basis erklärt werden. Man kann also je nach Erkenntnisinteresse entweder Heribert Prantl oder die Süddeutsche Zeitung oder beide als
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journalistische Akteure untersuchen und in die Erklärung eines journalismusbezogenen Phänomens einbeziehen. Daneben dürften für die Erklärung journalistischen Handelns oftmals auch Akteure im Umfeld der Redaktionen wie beispielsweise Verleger, Intendanten, Aufsichtsgremien, Quellen, PR-Akteure oder auch andere Journalisten bzw. Medienorganisationen von Bedeutung sein. Diese Akteure interagieren und kommunizieren mit journalistischen Akteuren, teils bestehen Beziehungen gegenseitiger Abhängigkeit oder Konkurrenz, weshalb das tatsächliche oder antizipierte Handeln dieser Akteure Einfluss auf journalistisches Handeln nimmt (Koorientierung). Aus einer handlungstheoretischen Betrachtungsweise ergeben sich eine ganze Reihe von Herausforderungen für die theoretische und empirische Analyse journalistischen Handelns bzw. der aus ihm resultierenden Makrophänomene. Dazu zählen insbesondere (1) die Rekonstruktion subjektiver Situationsdefinitionen, (2) die Konstruktion der dazu notwendigen Brückenannahmen sowie (3) die Bestimmung von Aggregationsregeln und die damit verbundene Modellierung dynamischer Prozesse. Die unter (3) genannten Aspekte fallen jedoch nicht mehr in den engeren Bereich der Handlungstheorie, weshalb der Fokus hier auf den ersten beiden Punkten liegen soll. 3.1
Die Rekonstruktion subjektiver Situationsdefinitionen
Der strukturell-individualistische Ansatz geht davon aus, dass Handeln durch die subjektive Definition einer Handlungssituation bestimmt wird. Will man das Handeln von Akteuren erklären, besteht der erste Schritt deshalb darin, die aus Sicht der Akteure gegebene Situation zu rekonstruieren und zu modellieren. Es geht darum, die Situation der Akteure zu verstehen (Esser 1999: 387ff.). Dementsprechend ist es für eine handlungstheoretisch ausgerichtete Journalismusforschung von entscheidender Bedeutung, die subjektiven Situationsdefinitionen journalistischer Akteure zu rekonstruieren. Die Definition einer Situation hängt einerseits von äußeren Bedingungen der sozialen Situation, andererseits von den inneren Bedingungen der Akteure ab. Die äußeren Bedingungen können in gesellschaftlichen oder institutionellen Strukturen, in zeitlichen und materiellen Ressourcen, im Handeln anderer Akteure sowie allgemein in allen Formen von akteurs-externen Ereignissen und Informationen bestehen (z.B. die „Nachrichtenlage“). Innere Bedingungen können auf der Mesoebene der Medienorganisationen z.B. verlegerische oder redaktionelle Vorgaben, redaktionelle Traditionen oder auch die Wettbewerbssituation sein. Auf der Mikroebene einzelner Journalisten können dies z.B. professionelle oder politische Einstellungen, Wissen oder Erfahrungen sein. Deren Genese
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kann man beispielsweise durch Lernprozesse in der allgemeinen und beruflichen Sozialisation erklären (dazu Esser 1999: 359ff.). Die Mesoebene der Medienorganisation hat dabei einen doppelten Charakter: Analysiert man das Handeln von Medienorganisationen, dann bilden allein die organisations-externen Bedingungen die äußeren Bedingungen der Situationsdefinition. Analysiert man auf der Mikro-Ebene das Handeln einzelner Journalisten, dann stellt die Mesoebene ihrerseits eine zentrale äußere Handlungsbedingung dar, die die Wahrnehmung und Interpretation der organisations-externen Bedingungen auf die einzelnen Journalisten prägt (vgl. Abbildung 1). Abbildung 1: Äußere und innere Bedingungen in strukturell-individualistischen Erklärungen des Handelns journalistischer Akteure G1
äußere Bedingungen der sozialen Situation
B1 G2
innere Bedingungen der Medienorganisation ņņņņņņņņņņņņņņ äußere Bedingungen für einzelne Journalisten
H1
Handeln von Medienorganisationen
B2 G3
innere Bedingungen einzelner Journalisten
H2
Handeln einzelner Journalisten
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Kunz (2004: 205) und Esser (1999: 166). Anmerkungen: G1, G2, G3: Genese der äußeren und inneren Bedingungen (Entstehungsgeschichte der sozialen und organisatorischen Strukturen sowie der organisatorischen und individuellen Präferenzen); B1, B2: Brückenannahmen, die die relevanten Aspekte der Situation sowie Bewertungen und Erwartungen bestimmen; H1, H2: Anwendung der Wert-Erwartungstheorie zur Evaluation und Auswahl der Handlungsalternativen.
Die äußeren Bedingungen einer Situation werden vor dem Hintergrund der inneren Bedingungen wahrgenommen und interpretiert. Die äußeren Bedingungen gehen deshalb als subjektiv wahrgenommene äußere Bedingungen in die Definition der Situation ein: Die situational relevanten Ziele werden aktualisiert, und es wird entschieden, welcher Handlungstyp am ehesten angemessen
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ist, ob also z.B. ein routinisiertes Handlungsmuster abgespult werden kann oder mehr kognitiver Aufwand betrieben werden muss. Aus der Definition der Situation leiten Akteure im nächsten Schritt die relevanten Handlungsalternativen, die möglichen Konsequenzen des Handelns, deren Bewertungen sowie die Erwartungen über deren Eintreten ab. Die Evaluation der Alternativen, die man mit der Wert-Erwartungstheorie modellieren kann, führt dann zur Auswahl einer Handlungsalternative und zum eigentlichen sichtbaren Handeln (vgl. Abbildung 2; Esser 1999: 161ff.). Abbildung 2: Die Definition der Situation und die Auswahl von Handlungsalternativen G1
äußere Bedingungen
Wahrnehmung Kognition/Heuristiken
Definition der Situation Aktualisierung relevanter Präferenzen/ Programme, etc.
G2
Alternative A: Konsequenzen (Bewertungen/Erwartungen)
H
offenes Handeln
Alternative B: Konsequenzen (Bewertungen/Erwartungen)
innere Bedingungen Präferenzen, etc.
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Kunz (2004: 205) und Esser (1999: 166). Anmerkungen: G1, G2: Genese der äußeren und inneren Bedingungen (Entstehungsgeschichte der sozialen und organisatorischen Strukturen sowie der organisatorischen und individuellen Präferenzen); H1: Anwendung der Wert-Erwartungstheorie zur Evaluation und Auswahl der Handlungsalternativen.
Für eine Rekonstruktion subjektiver Situationsdefinitionen spielen psychologische und sozialpsychologische Prozesse eine wichtige Rolle. Sie kommen sowohl bei der Wahrnehmung der äußeren Bedingungen einer Situation zum Tragen als auch im Rahmen der kognitiven Prozesse, mit denen Präferenzen und Situationswahrnehmungen in Beziehung gesetzt oder Handlungsalternativen abgewogen werden. Dies wirft die grundsätzliche Frage auf, ob und in welchem Maße psychologische und/oder sozialpsychologische Konzepte und
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Erkenntnisse für die Journalismusforschung nutzbar gemacht werden sollten. Traditionell stehen sich psychologische und soziologische Perspektiven bei Handlungserklärungen eher kritisch gegenüber. Selbst in akteurstheoretischen soziologischen Ansätzen spielen psychische und sozialpsychologische Prozesse als Untersuchungsgegenstand kaum eine Rolle. Sie werden zwar eventuell für die Handlungserklärung berücksichtigt, aber nur, wenn soziologische Erklärungen nicht ausreichen (vgl. dazu Vorderer & Valsiner 2004). Da aber die Kommunikationswissenschaft ohnehin interdisziplinär ausgerichtet ist, sollte sich auch die Journalismusforschung nicht scheuen, die Grenzen zwischen den Disziplinen zu überschreiten und psychologische und sozialpsychologische Konzepte zu nutzen – und zwar immer dann, wenn sie helfen, journalistisches Handeln besser zu erklären. 3.2
Die Konstruktion von Brückenannahmen
Die im Rahmen von Rational Choice verwendeten Entscheidungstheorien sind im Hinblick auf die Nutzenkomponente inhaltlich leer. Sie geben nur eine abstrakte Entscheidungsregel, ein Entscheidungsprinzip vor: Es wird stets die Handlungsalternative gewählt, von der sich ein Akteur subjektiv den größten Nutzen verspricht. Sie sagt aber nichts darüber, welche konkreten Entscheidungskriterien Akteure in bestimmten Situationen tatsächlich zu Grunde legen: Welche Präferenzen aktualisiert und welche Handlungsalternativen gesehen werden, wie deren Konsequenzen bewertet und mit welcher Sicherheit ihr Eintreten erwartet wird, bleibt völlig offen. Es muss also für die jeweils interessierenden Akteure und das jeweils zu erklärende Handeln erst spezifiziert werden, „worin denn in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation Nutzen und Verluste eines Akteurs bestehen“ (Schimank 2000: 101). Erst diese konkrete Bestimmung relevanter Ziele, Handlungsalternativen, wahrgenommener Konsequenzen, Bewertungen und Erwartungen liefert die inhaltliche Substanz zu einer konkreten Handlungserklärung. Diese Übersetzung typischer Situationen in die Randbedingungen einer Entscheidungstheorie erfolgt mittels so genannter Brücken- oder Kontextannahmen. Sie stellen die Logik der Situation aus Sicht der Akteure dar und schlagen damit die Brücke zwischen Makro-, Meso- und Mikro-Ebene: Brückenannahmen [beschreiben], welche Aspekte von den Akteuren in einer Handlungssituation als relevant eingeschätzt werden, ob sie diese Aspekte positiv oder negativ bewerten und welche Erwartungen sie über ihr Auftreten haben. (Kunz 2004: 104f.)
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Die Herleitung solcher Brückenannahmen ist eine der zentralen Herausforderungen für eine handlungstheoretisch orientierte Journalismusforschung. Für die Herleitung von Brückenannahmen stehen verschiedene Verfahren zur Verfügung. Dazu zählen u.a. die analytische Herleitung, das Konzept sozialer Produktionsfunktionen, die Orientierung an Common-Sense- bzw. Hintergrundwissen und die direkte empirische Konstruktion (vgl. Kunz 2004: 104ff.). Eine Orientierung an Common-Sense- bzw. Hintergrundwissen ermöglichen beispielsweise die zahlreich vorliegenden Erkenntnisse der Journalismusforschung. Ebenso kann man aber auch durch die Analyse einschlägiger Dokumente oder durch Befragungen direkt empirisch ermitteln, welche Handlungsoptionen journalistische Akteure in bestimmten Situationen sehen, welche Konsequenzen sie mit diesen Optionen verbinden, wie sie diese Konsequenzen bewerten und für wie wahrscheinlich sie deren Eintreten halten. Obwohl es hier nicht um eine Analyse journalistischen Handelns selbst, sondern um ihre theoretische Einordnung und Anleitung geht, soll an dieser Stelle ein kurzer Blick auf einige Elemente möglicher Brückenannahmen geworfen werden: Betrachten wir zunächst die Handlungsalternativen, die das Explanandum von Erklärungen journalistischen Handelns bilden können: Die wichtigsten Entscheidungen journalistischen Handelns fallen zwischen den Handlungsalternativen „publizieren“ und „nicht publizieren“ (wobei man aus dieser dichotomen auch eine Alternative mit mehreren Stufen machen kann). Allerdings wird vor und nach der eigentlichen Publikationsentscheidung eine Vielzahl weiterer Entscheidungen getroffen, die ebenfalls Gegenstand von Erklärungen sein können. Dazu zählen beispielsweise Entscheidungen über die Auswahl von Quellen, den Umfang und die Art einer Recherche, über Art und Umfang der Präsentation eines Sachverhalts, die Auswahl bestimmter Aspekte eines Geschehens oder Themas für die Publikation sowie die Bewertung eines Sachverhalts. Daneben sind natürlich eine Vielzahl anderer Handlungen journalistischer Akteure denkbar, die einen lohnenden Erklärungsgegenstand der Journalismusforschung darstellen können (siehe oben). Auch das Spektrum der Handlungskonsequenzen, die Journalisten bei ihren Entscheidungen ins Kalkül ziehen können, ist groß. Welche davon in welchem Umfang in Betracht gezogen werden, hängt zunächst davon ab, um welche Handlungsalternativen es geht. Im Fall einer Publikationsentscheidung könnten die relevanten Handlungskonsequenzen sich beispielsweise auf die Person des einzelnen Journalisten beziehen (z.B. seine Karriere), seine Redaktion bzw. sein Medium (z.B. dessen Publikumserfolg), das gesamte Mediensystem (z.B. die
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Entstehung einer Berichterstattungswelle) oder auch auf den Gegenstand der Berichterstattung (z.B. den möglichen Rücktritt eines Politikers). Die Bewertungen der jeweiligen Handlungskonsequenzen sind vor allem von den Präferenzen der Akteure abhängig. Im Fall journalistischer Akteure sind diese Präferenzen bisweilen sehr unterschiedlich ausgeprägt. So unterscheiden sich die wirtschaftlichen und publizistischen Präferenzen (Ziele) der Bild-Zeitung und Frankfurter Allgemeinen Zeitung deutlich, was zu unterschiedlichen journalistischen Selektionsregeln und damit zu unterschiedlicher Berichterstattung führt (Kepplinger 1998). Um die spezifische Präferenzstruktur journalistischer Akteure zu beschreiben und zu erklären, kann man Modelle heranziehen, in denen Einflussfaktoren auf journalistisches Handeln systematisiert werden (z.B. Shoemaker & Reese 1991; Donsbach 1987). Ausgehend von diesen Modellen kann man beispielsweise (1) zwischen den persönlichen Präferenzen einzelner Journalisten und den organisatorischen Präferenzen einer Medienorganisation unterscheiden. Diese müssen keineswegs kongruent sein, sondern können sich durchaus widersprechen. Daneben kann man (2) allgemeine Präferenzen, die generalisierten Handlungsorientierungen und -bedingungen entsprechen, und situationsspezifische Präferenzen unterscheiden. Generelle Handlungsorientierungen und -bedingungen spiegeln sich beispielsweise in Berufsmotiven, im Rollenselbstverständnis, in journalistischen und wirtschaftlichen Leitlinien einer Redaktion oder ihren finanziellen und technischen Ressourcen. Situationsspezifische Präferenzen sind dagegen an den jeweiligen Berichterstattungsgegenstand oder die jeweils in einem Arbeitsprozess anstehende Tätigkeit gebunden. Unterscheidet man zwischen generellen und situationsspezifischen Präferenzen, dann ist beispielsweise die Erklärung der Widersprüche zwischen allgemeinen Bekenntnissen zu journalistischen Qualitätsmaßstäben und dem Handeln in konkreten Situationen kein Problem mehr. Schließlich kann man in Bezug auf ihren Gegenstand (3) zwischen ökonomischen (z.B. Gewinnmaximierung, Maximierung der Auflage/Reichweite, Erreichen eines adäquaten Verhältnisses von Aufwand und Nutzen bei der Recherche), publizistischen (z.B. Streben nach Qualität, Erreichung politischer Ziele) und sozialen (z.B. Anerkennung, Prestige) Präferenzen journalistischer Akteure differenzieren. Zwischen unterschiedlichen Zielen journalistischer Akteure bestehen oftmals – teils hierarchische – Beziehungen. So kann man beispielsweise annehmen, dass Journalisten durch die Wahl einer bestimmten Handlungsalternative (z.B. die intensive Recherche zu einem Thema) kurzfristig nach Anerkennung streben, sich aber langfristig einen beruflichen Aufstieg und damit letztlich
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einen ökonomischen Nutzen erhoffen (Oberziel). Ebenso kann es sein, dass die publizistischen Ziele eines Mediums letztlich der Erlangung ökonomischen Gewinns dienen. So will manche Boulevardzeitung mit der Skandalisierung politischer Akteure vielleicht auch eine Watchdog-Funktion erfüllen, hat aber möglicherweise wirklich vor allem die Auflage im Blick. 3.3
Die Bestimmung von Aggregationsregeln
Bei der Analyse des Handelns journalistischer Akteure kann man kollektive Effekte bzw. Phänomene sowohl auf der Makroebene des Mediensystems bzw. des gesamten Journalismus, als auch auf der Mesoebene einzelner Medienorganisationen bzw. Redaktionen untersuchen. Kollektive Effekte bzw. Phänomene stellen sich dabei als aggregierte Merkmalverteilungen dar, die auf den beiden Ebenen empirisch mit Befragungen oder Inhaltsanalysen gemessen werden können. Wie diese aggregierten Merkmalverteilungen aus dem individuellen Handeln einzelner Journalisten und Medienorganisationen entstehen, dies wird mit Aggregationsregeln (auch Transformationsregeln genannt) beschrieben (dazu z.B. Jäckel 2001). Auf der Mesoebene kann man das Handeln einer Medienorganisation als das aggregierte Ergebnis der Interaktionen aller beteiligten Mitarbeiter betrachten. Aufgrund der während der Produktion ablaufenden Interaktions- und Kommunikationsprozesse und des unterschiedlichen Einflusses der einzelnen Mitarbeiter auf die redaktionellen Entscheidungen entspricht dieses Aggregat jedoch nicht der bloßen Aufsummierung des individuellen Handelns der einzelnen Journalisten. Eine einfache Aggregationsregel scheidet also bei Medienredaktionen häufig aus. Viel eher werden komplexere Aggregationsregeln notwendig sein, die beispielsweise die Bedeutung der jeweiligen Publikationsentscheidung (z.B. Aufmacher vs. kein Aufmacher), Art und Umfang der redaktionellen Kontrolle, das Ausmaß an Hierarchisierung redaktioneller Entscheidungen und die Bedeutung redaktioneller Leitlinien in politischer oder anderer Hinsicht in Betracht ziehen. Die Journalismusforschung ist dabei in der komfortablen Lage, dass die Endergebnisse des Handelns journalistischer Akteure in manifester Form vorliegen und der Analyse zugänglich sind: als Ausgabe einer Zeitung oder Zeitschrift, als Radio- oder TV-Sendung oder Online-Angebot. Wenn journalistisches Handeln erklärt werden soll, dann sollten die Medieninhalte als das aggregierte Ergebnis des Handelns von Journalisten nicht aus den Augen verloren werden. Rückschlüsse von Inhalten auf die Handlungsmotive oder Präferenzen von Medienorganisation und einzelnen Journalisten sind dabei zuweilen
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nicht unproblematisch und manchmal vielleicht gar nicht möglich. Allerdings gilt dies sicher nicht immer. So wird beispielsweise oft von der Struktur der vorkommenden Akteure, dem Themenhaushalt oder der Bewertung von Akteuren und Sachverhalten auf die politische Linie eines Mediums geschlossen (z.B. Eilders et al. 2004; zum diagnostischen Ansatz der Inhaltsanalyse allgemein Maurer & Reinemann 2006). Diese politische Linie stellt handlungstheoretisch betrachtet nichts anderes als die Präferenz für bestimmte politische Positionen dar, die die Wahrnehmung von Ereignissen und Situationen sowie die daraus resultierenden Publikationsentscheidungen prägt. Auch auf der Makroebene wird man oftmals nicht mit einfachen Aggregationsregeln auskommen. Dies gilt insbesondere für den Fall, dass man den Versuch unternimmt, dynamische Prozesse zu rekonstruieren. Ein kurzes Beispiel soll dies verdeutlichen: Explanandum sei eine Boulevardisierung der Berichterstattung, die auf Basis von Inhaltsanalysen für das gesamte Mediensystem, eine bestimmte Mediengattung oder ein einzelnes Medium konstatiert wird. Sie kann als das aggregierte Ergebnis einer systematischen Bevorzugung von sensationalistischen, emotionalisierten, personalisierten etc. Nachrichten in den Publikationsentscheidungen journalistischer Akteure betrachtet werden. Will man das Ausmaß der Boulevardisierung zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw. deren Genese erklären, dann reicht es nicht, ein anderes Makrophänomen bzw. die Veränderung einer externen Bedingung wie etwa die Dualisierung des Rundfunks heranzuziehen. Eine echte, tiefe Erklärung des Zusammenhangs müsste vielmehr deutlich machen, wie sich die Dualisierung des Rundfunks konkret auf die Handlungspräferenzen und/oder -restriktionen der betrachteten Medienorganisationen (Mesoebene) bzw. einzelnen Journalisten (Mikroebene) ausgewirkt hat. Denn nimmt man an, dass sich nicht die Ereignislage verändert hat, dann können nur Veränderungen von Präferenzen und/oder Restriktionen auf Seiten der Akteure zu einer systematischen Veränderung von Publikationsentscheidungen geführt haben, die dann in ihrer Summe als Boulevardisierung wahrgenommen werden. Abbildung 3 macht schematisch deutlich, wie ein auf der Makroebene angenommener Zusammenhang zwischen der Dualisierung des Rundfunks und der Boulevardisierung der Medienberichterstattung unter Zuhilfenahme von Brückenannahmen, Handlungstheorie und Aggregationsregeln erklärt werden würde. Dabei ist der Prozesscharakter, der Zeitverlauf also, noch nicht berücksichtigt. Dieser würde einer Verlängerung des Schaubilds mit den vorhandenen Elementen entsprechen, d.h. Interaktionen und soziale Prozesse würden als Handlungssequenzen mehrerer Akteure rekonstruiert, die jeweils eine äußere Be-
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dingung des Handelns der anderen Akteure darstellen und aufeinander reagieren. Die Handlungstheorie hat dabei ihren Platz jeweils dort, wo auf der Basis der Wahrnehmung der Situation sowie der relevanten Präferenzen eine bestimmte Handlungsalternative gewählt wird, also etwa eine Entscheidung für eine emotionale Meldung oder Darstellungsweise (die unteren beiden waagerechten Pfeile). Abbildung 3: Brückenannahmen, Handlungstheorie und Aggregationsregeln in einem strukturell-individualistischen Erklärungsmodell für die Boulevardisierung der Berichterstattung Dualisierung des Rundfunks
Ausmaß der Boulevardisierung
B1
A1
Situation der Medienunternehmen
H1
B2 Situation der Journalisten
Handeln von Medienunternehmen
A2 H2
Handeln einzelner Journalisten
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Kunz (2004: 205) und Esser (1999: 166). Anmerkungen: B1, B2: Brückenannahmen, die die relevanten Aspekte der Situation sowie Bewertungen und Erwartungen bestimmten; H1, H2: Anwendung der Wert-Erwartungstheorie zur Evaluation und Auswahl der Handlungsalternativen. A1, A2: Aggregationsregeln zur Erklärung kollektiver Effekte bzw. Phänomene.
4
Ausblick
Ziel dieses Beitrags war, die Bedeutung des Konzepts „Handlung“ für die Journalismusforschung zu diskutieren. Ausgangspunkt waren die Ausführungen Hartmut Essers (in diesem Band), die im Kontext des von ihm und anderen Autoren vertretenen strukturell-individualistischen Ansatzes gesehen werden müssen. In dessen Rahmen ist die Erklärung des Handelns von Akteuren
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nur ein Schritt in einer mehrstufigen Erklärung sozialer Phänomene. Wenn in der Folge von einer handlungstheoretischen Perspektive die Rede ist, dann sind diese weiteren Schritte der Erklärung stets mitgedacht. Handlungstheoretischer Kern von Essers Ansatz ist die Wert-Erwartungstheorie, weshalb man den Ansatz auch als eine weiche Variante einer Theorie rationalen Handelns bezeichnen kann. Neben den Merkmalen der Präzision, Kausalität, Allgemeinheit, Einfachheit, Modellierbarkeit und Bewährung, die der Wert-Erwartungstheorie allgemein zugeschrieben werden (dazu z.B. Diekmann & Voss 2004; Opp 2004; Esser 1999: 241ff.), eignet sich eine strukturell-individualistische Perspektive meiner Ansicht nach aus folgenden Gründen in besonderer Weise zur Beschreibung, Erklärung und Prognose journalistischen Handelns sowie der sich daraus ergebenden Makroeffekte: 1.
2.
Eine handlungstheoretische Perspektive stellt individuelle und korporative journalistische Akteure ins Zentrum der Journalismusforschung und begreift Journalismus als ein System interagierender Akteure. Grundlage ist die Überzeugung, dass letztlich nur Akteure handeln können und diese Akteure auch angesichts von Rollen und Programmen noch immer Entscheidungen treffen müssen, um handeln zu können. Diese akteurszentrierte Sichtweise entspricht nicht nur einem intuitiven Verständnis von Journalismus, sondern auch der Sichtweise vieler empirischer Studien, die allerdings oftmals auf eine Anbindung an eine Handlungstheorie verzichten. Erst eine solche Fokussierung auf die journalistischen Akteure macht die Erklärung konkreten journalistischen Handelns sowie der Unterschiede im Handeln verschiedener journalistischer Akteure möglich. Der Versuch, konkretes journalistisches Handeln allein über Rollen, Programme und Strukturen erklären zu wollen, ohne die spezifischen Präferenzen und Restriktionen verschiedener journalistischer Akteure ins Kalkül zu ziehen, kann meines Erachtens nicht zu befriedigenden Ergebnissen führen. Aus handlungstheoretischer Perspektive ist es von zentraler Bedeutung, die subjektive Rationalität des Handelns journalistischer Akteure zu rekonstruieren. Das bedeutet beispielsweise, dass ökonomische, publizistische und soziale, individuelle und organisatorische sowie allgemeine und situationsspezifische Präferenzen und Restriktionen identifiziert und auf ihren Einfluss auf konkretes journalistisches Handeln hin geprüft werden müssen. Dabei sollte die Frage von Zielkonflikten und die Art, wie diese in konkreten Entscheidungssituationen aufgelöst werden, eine zentrale Rolle in empirischen Untersuchungen spielen. Nur wenn sie die Perspektive der journalistischen Akteure ernst nimmt und die Präferenzen und Restriktio-
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5.
Carsten Reinemann nen versteht, die für konkrete Entscheidungen relevant sind, kann die Journalismusforschung einen praktischen Beitrag zur Verbesserung journalistischer Qualität und zur Korrektur von Fehlentwicklungen im Journalismus leisten. Eine handlungstheoretische Perspektive kann anders als andere theoretische Ansätze zur Erklärung aller Formen des Handelns journalistischer Akteure nutzbar gemacht werden. Dazu zählen nicht nur die klassischen Formen journalistischen Handelns wie das Treffen von Publikationsentscheidungen, die Auswahl von Informationsquellen oder journalistischen Darstellungsformen, sondern ebenso die Berufswahl, der Berufswechsel oder die Entscheidung für die Lektüre einer bestimmten Tageszeitung. Angesichts der überaus realen Konsequenzen journalistischen Handelns, muss sich eine für die Journalismusforschung geeignete Theorie an ihrer Fähigkeit messen lassen, konkretes Handeln journalistischer Akteure sowie die daraus entstehenden sozialen Prozesse befriedigend zu erklären. Sie muss also über die Definition von Begriffen und die Beschreibung von Strukturen und Einflussfaktoren hinausgehen, um zu erklären, wie sich diese Faktoren unter welchen Bedingungen konkret auswirken. Außerdem sollte ein geeigneter Ansatz auch in der Lage sein, dynamische Prozesse und sozialen Wandel darzustellen und zu erklären. Die beschriebene handlungstheoretische Perspektive ist dazu prinzipiell in der Lage. Allerdings sind dazu komplexe Analysen der Interaktionen von Akteuren und der Folgen dieser Interaktionen notwendig. Denn auch wenn die WertErwartungstheorie auf den ersten Blick nicht sonderlich komplex erscheinen mag: Sie ist eben nur ein Teil einer strukturell-individualistischen Erklärung, die mit dem Versuch, die Folgen der Interaktionen von Akteuren zu rekonstruieren, die Komplexität sozialer Prozesse wirklich ernst nimmt. Eine handlungstheoretische Perspektive macht die makrotheoretische Diskussion in der Journalismusforschung wieder anschlussfähig an die in der Journalismusforschung wichtigen theoretischen Ansätze mittlerer Reichweite sowie an zentrale Forschungsfelder der empirischen Journalismusforschung. Dazu zählen beispielsweise die Nachrichtenwert-Theorie, das Zwei-Komponenten-Modell der Nachrichtenauswahl, der FramingAnsatz, die Theorie der instrumentellen Aktualisierung und die gesamte Medieninhaltsforschung, bei der es um die wichtigsten Ergebnisse journalistischen Handelns geht. Aber auch das Knüpfen von Verbindungen zu anderen Feldern der Kommunikationswissenschaft, die sich ja teilweise ebenfalls mit den Bedingungen und Ergebnissen journalistischen Handelns
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beschäftigen, wird durch eine handlungstheoretische Perspektive erleichtert. Dies gilt beispielsweise für die Medienökonomie, aber auch für die Mediennutzungs- und Medienwirkungsforschung. Dabei sollte sich die Journalismusforschung bei ihren Erklärungen nicht auf eine soziologische, eine psychologische oder eine ökonomische Perspektive beschränken. Sie sollte sich vielmehr so weit öffnen, wie es für die Erklärung spezifischer Phänomene im Journalismus notwendig ist. Nur so lassen sich bessere Erklärungen für konkretes journalistisches Handeln und dessen Veränderungen finden, die wir tagtäglich erleben.
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RATIONALITÄT
„…dass man nichts zu wählen hat“: Die Kontroverse um den Homo Oeconomicus1 Michael Jäckel
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Entscheidungen und Restriktionen
Kontrastierung ist ein wirksames Mittel der Darstellung von Differenzen. Die heuristische Funktion einer solchen Vorgehensweise sollte dabei nicht in Vergessenheit geraten. Dies gilt in besonderer Weise für die hier zu behandelnde Thematik, die die Soziologie seit ihren Anfängen beschäftigt hat: das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, das Verhältnis von Intentionalität und normativem Handeln, das Verhältnis von Zweck- und Wertrationalität. Utilitaristische Erklärungen, so lautet ein verbreiteter Vorwurf, seien auf einen individuellen Steuerungsmodus fixiert, der die Umweltfaktoren zu sehr vernachlässige. In der aktuellen Individualisierungsdebatte kehrt diese Kontroverse wieder, wenn die Folgen eines institutionalisierten Individualismus als Desintegrationsphänomene diskutiert werden (vgl. Honneth 1994). Pointiert hat Schimank die Problematik wie folgt formuliert: „Immer mehr Gesellschaftsmitglieder schlagen sich mit immer beschränkteren „Tunnelblicken“ durchs Leben; und wer hat dann eigentlich noch den Überblick über die Ordnung des gesellschaftlichen Ganzen?“ (Schimank 2000: 11) Im Folgenden stehen Entscheidungen im Vordergrund. Dies bedeutet: Es geht um die Analyse von Zweck-Mittel-Relationen. Wenn von Mitteln und
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Der vorliegende Beitrag ist in Teilen bereits in dem allgemeinen Teil meines Buches „Wahlfreiheit in der Fernsehnutzung“ (1996) publiziert worden. Er wurde für den vorliegenden Zweck überarbeitet und um neue Aspekte aus der Rational Choice-Debatte (vgl. zusammenfassend Diekmann & Voss 2004 und Hill 2002) erweitert. Ich danke Thomas Grund für wertvolle Hinweise.
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Michael Jäckel
Zwecken gesprochen wird, bezieht sich die Entscheidungstheorie auf den Idealtypus des „homo oeconomicus“. Dieser lässt sich mit Esser (1993: 236) wie folgt definieren: „[..] daß er seinen individuellen Nutzen auf der Grundlage vollkommener Information und stabiler und geordneter Präferenzen im Rahmen gegebener Restriktionen maximier[t].“ Restriktionen können zeitlicher (Zeitbudget), ökonomischer (Kaufkraft), sozialer (Orientierung an bzw. Berücksichtigung der Interessen anderer) oder normativer Art (geltende Normen) sein. Die Restriktionen fangen also vieles von dem auf, was der so genannten Umwelt zugerechnet werden muss. Es ist daher auch zu diskutieren, was die Formulierung „im Rahmen gegebener Restriktionen“ alles umfasst und was als Kern der Erklärung bestehen bleibt. Zunächst wird das ökonomische Programm in der Soziologie skizziert, sodann Erweiterungen des Modells behandelt und schließlich eine Systematisierung der Einwände vorgenommen.
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Das ökonomische Programm in der Soziologie
Die Soziologie war bis in die jüngste Vergangenheit von einem Menschenbild dominiert, das die Determiniertheit des Handelns durch soziale und damit nicht-individuelle Faktoren betonte. Hierauf ist häufig hingewiesen worden, und selten kam eine Infragestellung dieser Sichtweise ohne polemische Argumentationen der beteiligten Parteien aus (vgl. hierzu beispielhaft Lindenberg 1985: 244ff. sowie Esser 1993: 231ff.). Es genügen einige Beispiele, um diese Kontroverse zu illustrieren. In seiner Ansprache als Präsident der American Sociological Association hatte George Caspar Homans 1964 harsche Kritik am soziologischen Funktionalismus geübt und seine Aufforderung an soziologische Erklärungen bereits im Titel seines Vortrags deutlich werden lassen: „Bringing Men Back In.“ Damit wandte er sich entschieden gegen die Auffassung, dass der Gegenstand der Soziologie die „sozialen Tatsachen“ seien, die nach Durkheim das Handeln der Menschen bestimmen. Durkheim hatte das Studium der sozialen Tatsachen zum Gegenstand der Soziologie erklärt und damit gleichzeitig das Ziel verbunden, Soziologie nicht als die Analyse individueller Bewusstseinslagen zu verstehen. Die unkritische Reproduktion subjektiver Primärerfahrungen führe zu einer „Spontansoziologie“, die wissenschaftlich unzureichend fundiert sei. Es fehle dieser Perspektive der notwendige Bruch mit vorwissenschaftlichen Begriffen, um zu objektiver Erkenntnis zu gelangen. Das Handeln der Menschen richte sich nicht nach individuellen Maßstäben, sondern sei orientiert an Regeln; diese Handlungsanweisungen haben nach Durkheim (1976: 114) die Fä-
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higkeit, „auf den einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben“ oder seien Tatsachen, die „ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben“ (Durkheim 1976: 114) besitzen. Bourdieu (1987: 127) hat die damit verbundenen erkenntnistheoretischen Konsequenzen sehr anschaulich zusammengefasst: „Weil die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Handeln mehr Sinn, als sie selber wissen. “ Lindenberg (1985: 247) hat für diesen Erklärungstypus von Handlungen das Akronym SRSM vorgeschlagen: „Socialized, Roleplaying, socially Sanctioned Man“. Homans schloss seine Rede mit polemischen Anspielungen auf jene soziologischen Theoretiker, die in Durkheim ihren Bezugs- und Ausgangspunkt sahen: Wenn ein ernsthafter Versuch gemacht wird, Theorien aufzustellen, die – und sei es nur im Ansatz – soziale Phänomene erklären, so stellt sich heraus, daß ihre allgemeinen Hypothesen sich nicht auf das Gleichgewicht von Gesellschaften, sondern auf das Verhalten von Menschen beziehen. Dies gilt sogar für einige gute Funktionalisten, obwohl sie es nicht zugeben werden. Sie verstecken die psychologischen Erklärungen unter dem Tisch und ziehen sie verstohlen wie eine Flasche Whisky hervor, um sie zu benutzen, wenn sie Hilfe brauchen. Ich erhebe die Forderung, daß wir das, was wir über Theorie sagen, in Übereinstimmung bringen mit dem, was wir tatsächlich tun, und so unserer intellektuellen Heuchelei ein Ende machen. (Homans 1972b: 57)
Ein elementares Phänomen, das Homans in einer Vielzahl von Erklärungen alltäglichen Verhaltens identifiziert, macht er zu einer wesentlichen Grundlage seiner Erklärungen. In seinem Hauptwerk „Elementarformen sozialen Verhaltens“ fasst er diesen Teil seines Programms in dem Satz zusammen: „Immer haben die Leute ihr Verhalten erklärt, indem sie darauf hinwiesen, was es ihnen bringt oder was es sie kostet.“ (Homans 1972a: 11) Obwohl Homans Ansatz wesentlich durch die Lerntheorie von Skinner beeinflusst war, sah er in der Vernachlässigung ökonomischen Denkens innerhalb soziologischer Theorien einen wesentlichen Mangel. Gleichwohl ist rationales Handeln für Homans kein Axiom, das das menschliche Handeln bestimmt, sondern vielmehr eine Folge psychologischer Handlungsstrategien. Ebenfalls nicht frei von Polemik ist eine Situationsbeschreibung der Soziologie, wie sie Lindenberg 1977 gab. Auch diese Darstellung wird dominiert von dem Gegensatz individuell vs. sozial. Wer versucht, „individuelle“ Regelmäßigkeiten bei der Erklärung sozialer Tatbestände heranzuziehen, ist soziologisch naiv und muß entsprechend aufgeklärt und bekämpft werden. Er ist naiv, weil „individuell“ genau das Gegenteil von „sozial“ ist, und weil er deshalb die Ursachen von sozialen Regelmäßigkeiten in
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Michael Jäckel nicht-sozialen Regelmäßigkeiten sucht. Die einfachste Art, so einen Naivling zu behandeln, ist, ihm deutlich zu machen, daß seine sog. individuellen Regelmäßigkeiten gar nicht individuell sind, sondern selbst sozialen Ursprungs und somit soziologisch erklärungsbedürftig. (Lindenberg 1977: 47)
Lindenberg setzt sich hier gegen den Vorwurf der Naivität zur Wehr. Eine vom Individuum ausgehende soziologische Erklärung sei nicht reduktionistisch. Sie behaupte nicht, dass kollektive Phänomene (z.B. Arbeitsteilung, Urbanisierung, Stabilität) einem Individuum zugeschrieben werden können, „sondern bestenfalls einer Bedingungskonstellation individueller Effekte“ (ebd.: 57).2 Versucht man aus diesen ersten Hinweisen auf soziologische Theorien ein Kernproblem herauszufiltern, so liegt es in einer Uneinigkeit über den oder die Bestimmungsgründe von Handlungen: Hier wird die Bedeutung von Werten, Normen und Rollen für das Handeln der Menschen in den Vordergrund gestellt, dort eine individualistische Sozialwissenschaft (vgl. Opp 1979) gefordert, die das individuelle Kalkül zur Ausgangsbasis auch soziologischer Erklärungen machen soll. In Dichotomien finden diese „Frontstellungen“ dann ihren Niederschlag: „Homo Oeconomicus und Homo Sociologicus. Die Schreckensmänner der Sozialwissenschaften“ (Weise 1989); „Die zwei Soziologien. Individualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie“ (Vanberg 1975) – die Liste ähnlich lautender Titel ließe sich noch verlängern. Immer wieder ist es die von Homans eingeklagte Fundierung individuellen Handelns (vornehmlich realisiert durch ökonomisches Denken), die die Trennlinie zwischen einer „sozialen“ und einer „nicht-sozialen“ Erklärung markiert. Wiesenthal hat einmal von einer platten Faustregel gesprochen, die wie folgt lautet: „In der Ökonomie lernt man, wie man wählen muß, und in der Soziologie, daß man gar nichts zu wählen hat.“ (Wiesenthal 1987: 13, Hervorhebung im Original) Um das handlungstheoretische Programm einer in ökonomischen Kategorien denkenden Soziologie angemessen beurteilen zu können, muss man sich zunächst mit dem theoretischen Anspruch, sodann mit Modifikationen und Erweiterungen dieser Theorie auseinandersetzen. Dies erfolgt nicht in der Absicht, alle hierzu vorliegenden Arbeiten zu referieren, sondern die Kerngedanken herauszuarbeiten.
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Anders dagegen Kappelhoff (1992: 222), der – wiederum bezogen auf Homans – von einem behavioristischen Reduktionismus spricht.
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Das handlungstheoretische Programm: Kernaussagen und Erweiterungen
Lange Zeit war es in den Sozialwissenschaften üblich, die Ökonomie als eine bereichsgebundene Disziplin zu betrachten (vgl. Albert 1984: 5). Probleme der Wirtschaft sollten der Forschungsgegenstand sein, nicht dagegen Fragen, die das Familienleben oder die Freizeitgestaltung betreffen. Vereinzelte Versuche, nicht-ökonomische Phänomene mit ökonomischen Kategorien zu analysieren, hat es bereits gegeben, bevor sich die Furcht vor einem ökonomischen Imperialismus (vgl. Engelhardt 1989) ausbreitete. Zu nennen ist hier beispielsweise der Versuch von Anthony Downs (1968), das politische Verhalten von Parteien und Wählern ökonomisch zu erklären. Mit dem Erscheinen des Lehrbuchs von McKenzie und Tullock (1984) sowie den Arbeiten von Gary S. Becker (1976) wurde die thematische Vielfalt verdeutlicht, die unter Zuhilfenahme ökonomischer Kategorien untersucht werden kann. Der Anspruch, der mit diesen Analysen verbunden ist, verdient das Beiwort „imperialistisch“ nicht. Es wird ein Modell präsentiert, das mit anderen Ansätzen konkurrieren will. In der Darstellung ihrer Hauptannahmen heißt es bei McKenzie und Tullock: „Wir sagen deshalb, daß, ehe wir überhaupt hoffen können, gesellschaftliche Phänomene zu verstehen, wir zunächst verstehen müssen, warum sich Leute so verhalten, wie sie es tatsächlich tun“ (McKenzie & Tullock 1984: 24). Dieser Satz könnte auch in einem Lehrbuch zur verhaltenstheoretischen Soziologie (Homans) stehen. Einige der Hauptannahmen bzw. Aussagen des Modells sind:
Das Individuum ist Ausgangspunkt der ökonomischen Analyse. Dem Handeln der Menschen liegt eine Absicht zugrunde. Handlungen sind keine unbewussten Vorgänge, sondern dienen der Veränderung eines gegebenen Zustands. Restriktionen sind Randbedingungen für das Handeln der Menschen. Sie determinieren nicht Handlungen, sondern geben Möglichkeiten vor. Individuen haben Präferenzen und Bedürfnisse. Sie sind in der Lage, diese in eine Werthierarchie zu bringen. Gegenstand der Bewertung können materielle und immaterielle Dinge sein. Man spricht von Gütern und meint damit alle Dinge, „die Leute positiv bewerten“ (McKenzie & Tullock 1984: 30). Jede Entscheidung(sfindung) ist mit Kosten verbunden. Wenn ich mich für A entscheide, verzichte ich gleichzeitig auf B, C oder D. Die Kosten
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Michael Jäckel einer Handlung sind „die Kosten der besten Alternative, auf die wir verzichten mussten, wenn wir die Wahl hatten“ (ebd.: 31). Wenn Individuen rational handeln, dann werden sie so lange ein bestimmtes Gut (im oben beschriebenen Sinne) konsumieren oder in einer bestimmten Art und Weise handeln, bis der Grenznutzen der zuletzt ausgeführten Handlung unter die Grenzkosten sinkt. Grenzkosten ergeben sich dabei immer aus dem Wert ausgeschlagener Optionen.
Diese Hauptannahmen des Modells von McKenzie und Tullock (1984: 32ff.) betonen die Rationalität von Handlungen. Gleichwohl merken die Autoren an: Niemand kann sich natürlich so präzise verhalten, wie wir es oben beschrieben haben. Vielleicht kann er es nicht, und vielleicht lohnt sich eine derartige Genauigkeit auch gar nicht. [...] Es kommt uns eigentlich auch nur darauf an, daß rationale Individuen sich ungefähr so wie beschrieben verhalten werden (ebd.: 35).
Die Parallelen zu Homans’ Programm für die Soziologie lassen sich leicht aufzeigen (vgl. Homans 1972c: 59ff. und Opp 1972: 31ff.). Auch er betrachtet die Handlungen der Menschen als eine Funktion ihres Ertrags. Dieser Ertrag ergibt sich aus der Differenz von Nutzen (= Belohnungen) und Kosten von Wahlhandlungen, wobei sich die Kosten aus dem Wert der besten, nicht wahrgenommenen Handlungsalternative ergeben. Wenngleich sich in Homans verhaltenstheoretischem Programm eine Vielzahl von Begriffen aus der Lerntheorie wiederfinden (z.B. Deprivation, Reiz, Stimulus, Belohnung), baut seine Argumentation sowohl auf dieser Tradition als auch auf der ökonomischen Verhaltenstheorie auf, die früher als Wahlhandlungstheorie bezeichnet wurde und heute mit dem Begriff „Rational Choice“ angesprochen wird.3 Seine Basishypothesen, die hier im Einzelnen nicht erläutert werden sollen, integrieren ökonomische und lerntheoretische Erklärungen und sind nach Homans in der Lage, nicht nur, wie die Theorie des rationalen Handelns, Werte und Präferenzen als gegeben hinzunehmen, sondern ihre Entstehung und Veränderung zu erklären (vgl. Homans 1972d: 116). Eine entscheidende heuristische Regel bzw. Arbeitshypothese der Rational Choice-Theorie lautet nach Diekmann und Voss wie folgt: „Verhaltensänderungen möglichst durch die Veränderung von Re-
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Homans’ Theorie kann nicht als Lerntheorie im Sinne des Behaviorismus eingestuft werden, sondern als eine auf den Erkenntnissen der Lerntheorie aufbauende Wahlhandlungstheorie, die die Reaktionen bzw. Folgen vorangegangener Verhaltensweisen in die zukünftige Handlungsplanung einfließen lässt. Vgl. zur Bedeutung Homans für die moderne Soziologie auch Coleman und Lindenberg (1990).
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striktionen und nicht durch die Veränderung von Präferenzen zu erklären“ (Diekmann & Voss 2004: 16). In den dargestellten Ansätzen geht es nicht nur um eine Individualtheorie zur Erklärung individuellen Verhaltens, sondern um eine Erklärung kollektiver Phänomene auf der Basis einer Theorie, die den individuellen Akteur in das Zentrum des Modells stellt. Auf die Leistungen, die dieser individuelle Akteur erbringen muss, wenn er rational handeln möchte, hat sich die Kritik häufig konzentriert. Dabei hatte bereits Gary S. Becker (1976: 6) deutlich darauf hingewiesen, dass der ökonomische Ansatz nicht von der Annahme ausgeht, „that all participants in any market necessarily have complete information or engage in costless transactions. Incomplete information or costly transactions should not, however, be confused with irrational or volatile behaviour.” Auch Opp, der ein Hauptvertreter des ökonomischen Ansatzes in Deutschland ist, hält die Behauptung, das Modell gehe von einem vollständig informierten Akteur aus, für unsinnig und nicht einer weiteren Diskussion wert (vgl. Opp 1989). Dennoch liegt in einer Präzisierung dessen, was eine Abweichung von der vollständigen Informiertheit impliziert, ein Schlüssel zur Integration scheinbar divergierender Auffassungen. Zunächst kann man das Kernmodell des ökonomischen Ansatzes in der Soziologie mit Opp (1989: 105) in drei Hypothesen zusammenfassen: (1) Die Motivationshypothese: Die Präferenzen (d.h. Ziele, Wünsche oder Motive) von Individuen sind Bedingungen für soziales Handeln, das – aus der Sicht der Individuen – zur Realisierung ihrer Ziele beiträgt. [...] (2) Die Hypothese der Handlungsbeschränkungen: Handlungsbeschränkungen, die Individuen auferlegt sind, sind Bedingungen für ihr Handeln. [...] (3) Die Hypothese der Nutzenmaximierung: Individuen führen solche Handlungen aus, die ihre Ziele in höchstem Maße realisieren – unter Berücksichtigung der Handlungsbeschränkungen, denen sie sich gegenübersehen.
In Ergänzung zu diesem Kernmodell, dessen Bestandteile auch bei McKenzie und Tullock vorliegen, führt Opp weitere Spezifikationsmöglichkeiten an: So erlaube eine Konkretisierung von Hypothese 2 die Veränderung des Handlungsspielraums, ohne dass sich Präferenzen verändern müssen. Wichtig ist aber vor allem die Erweiterung des Modells durch die Integration so genannter „weicher“ Motive. Nach Opp fühlen sich Ökonomen „nur dann wohl, wenn sich die Präferenzen der Akteure auf Sachverhalte beziehen, die man anfassen, schmecken, riechen oder sehen kann“ (ebd.: 106). Ökonomen bevorzugen eine „harte“ Spezifikation des Modells, insbesondere, wenn es um die Spezifizierung der Nutzenfunktion geht. Dass Menschen
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beispielsweise aus reinem Pflichtgefühl an einer politischen Wahl teilnehmen oder altruistische Motive handlungsleitend sein können, wird von vielen Ökonomen, so Opp, nicht als Spezifikation des Modells akzeptiert. Ebenso finden auch Gewohnheiten und Routinen kaum Beachtung. Harte, materielle Anreize werden als Motive bevorzugt. Die Hypothese von der Nutzenmaximierung kann aber auf viele soziale Sachverhalte nur dann sinnvoll angewandt werden, wenn man diese Einschränkung aufgibt. Die Rationalität des Handelns im Rahmen von Wahlhandlungen und die daran gekoppelte Nutzenorientierung (Hypothese 3) kann zudem Abweichungen von diesem Kalkül nicht nur mit dem Hinweis auf die Berücksichtigung von Handlungsbeschränkungen in das Modell integrieren. Es ist auch eine Präzisierung des Rationalitätsbegriffs erforderlich. Für Boudon (1980: 18) steht dabei außer Frage, „daß man zweifellos den Begriff der Rationalität nicht allgemein definieren kann, sondern lediglich innerhalb besonderer Handlungs(oder Interaktions-) Zusammenhänge.“ Auch Diekmann und Voss (2004: 13) schlagen vor, Rationalität weiter zu fassen und als „Handeln in Übereinstimmung mit den Annahmen (Axiomen) einer Entscheidungstheorie“ zu definieren. Aus der Tatsache, dass es mehrere Entscheidungstheorien gibt, folgt dann, dass auch Rationalität unterschiedlich bestimmt werden kann. Bevor man diesen Einwand weiterverfolgt, ist der Idealtypus einer zweckrationalen Handlung zu skizzieren (vgl. Simon 1993: 21f.):
Das Individuum muss über eine Möglichkeit verfügen, den Nettonutzen aus verschiedenen Handlungsalternativen zu bestimmen. Es muss im mathematischen Sinne über eine Nutzenfunktion verfügen. Das Individuum muss in der Lage sein, die relevanten Alternativen von den nicht relevanten Alternativen unterscheiden zu können. Das Individuum muss Informationen darüber haben, wie hoch die Eintrittswahrscheinlichkeit der ins Kalkül gefassten Alternativen ist. Das Individuum wird jene Handlung ausführen, die unter Zugrundelegung der zuvor erforderlichen Entscheidungen den höchsten Nutzen verspricht.
Perfekte Information würde in diesem Zusammenhang bedeuten, dass man über sichere Kenntnisse der Gegenwart und der Zukunft verfügt, man mit anderen Worten von Erwartungssicherheit sprechen kann. Simon (1993: 22f.) sieht darin eine große Theorie mit geringem Nutzen, da sie keine Anwendung findet und finden wird. Dem „Göttlichkeitsmodell der Theorie des subjektiv
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erwarteten Nutzens“ setzt er das Verhaltensmodell der begrenzten Rationalität entgegen (vgl. ebd.: 29). Die Grundzüge dieses Verhaltensmodells lassen sich wie folgt skizzieren (vgl. ebd.: 27 sowie Hindess 1988: 69ff.):
Die Entscheidungen, die Individuen im Alltag zu treffen haben, sind in der Regel keine weitreichenden, in die Zukunft gerichteten Entscheidungen. Entscheidungen im Alltag basieren nicht auf detaillierten Kalkulationen über die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens zukünftiger Ereignisse, sondern auf Vorstellungen davon, was man möchte und was man sich leisten kann. Nicht alle Alternativen werden in Erwägung gezogen. Es gibt nicht eine übergreifende Nutzenfunktion für alle Entscheidungen; die Aufmerksamkeit, die man einem Problem widmet, variiert mit dem Entscheidungsbereich. Eine Erhöhung des Nutzens aus Entscheidungen liegt bereits dann vor, wenn man aufgrund einer begrenzten Informationssammlung sich der eigenen Präferenzen hinsichtlich eines bestimmten Produkts bewusst wird.
An die Stelle eines „maximizing“ setzt Simon (1982: 332f.) ein „satisficing“. Erwartungen richten sich an dem Erreichbaren aus, Entscheidungsprozesse werden an bestimmten Stellen beendet, wenngleich es durchaus noch weitere Alternativen gibt, von denen man weiß, die man aber nicht in Anspruch nimmt. Collins (1993) hat für den hier beschriebenen Sachverhalt eine treffende Formulierung gefunden: „The Rationality of Avoiding Choice.“ Eine wichtige Fähigkeit besteht gerade darin, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Alternativen zu lenken. Häufig wird diese Fähigkeit bereits durch die Reihenfolge der wahrgenommenen Alternativen aktiviert (vgl. Simon 1993: 33). Die Art und Weise, wie Menschen Informationen verarbeiten, ist also für eine Beurteilung des Modells eines Homo Oeconomicus nicht unwichtig. Im Folgenden soll daher den angedeuteten Einschränkungen detaillierter nachgegangen werden. In Bezug auf die Entscheidungsfindung bedeutet dies: eine Einbindung von Regelwerken, die den Status „satisficing“ erhalten. Dazu ist aus soziologischer Sicht eine Betrachtung des Alltags hilfreich. Dies führt zu den Arbeiten von Alfred Schütz. In dem Beitrag „Das Problem der Rationalität in der sozialen Welt“ versucht Schütz (1972: 23) zu untersuchen, ob für das Alltagsleben der Menschen „die Kategorie der Rationalität [...] überhaupt entscheidend ist oder nicht.“ Für Schütz beruht das Handeln der Menschen nicht auf immer wiederkehrenden Reflexionen über Handlungsalternativen, sondern auf „Entwürfen“, die als das Resultat und Substrat zurück-
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liegender Erfahrungen verstanden werden müssen. Einen solchen Erfahrungszusammenhang bezeichnet er als Schema: Ein Schema unserer Erfahrung, ein Sinnzusammenhang unserer erfahrenden Erlebnisse, welcher zwar die in den erfahrenden Erlebnissen fertig konstituierten Erfahrungsgegenständlichkeiten erfaßt, nicht aber das Wie des Konstitutionsvorgangs, in welchem sich die erfahrenden Erlebnisse zu Erfahrungsgegenständlichkeiten konstituierten. Das Wie des Konstitutionsvorgangs und dieser selbst bleibt vielmehr unbeachtet, das Konstituierte ist fraglos gegeben. (Schütz 1981: 109)
Dieses „fraglos Gegebene“ zeigt sich im Alltagshandeln der Menschen in spezifischen Formen des Wissensvorrats: Rezepte, Routinen, Faustregeln, Prinzipien oder Gewohnheiten, die handlungsleitend werden (vgl. Schütz 1972: 32f.). Die Menschen verfügen über eine Art „Kochbuch-Wissen“ (ebd.: 33). Wenn man versucht, hieraus Hinweise auf eine Rationalität im Sinne einer effizienten Handlungsplanung abzuleiten, stößt man bei Schütz auf Widerspruch. Er schreibt: Zwar hat es den Anschein, daß es eine Art von Organisation durch Gewohnheiten, Regeln und Prinzipien gibt, die wir regelmäßig und mit Erfolg anwenden, aber der Ursprung unserer Gewohnheiten liegt fast außerhalb unserer Kontrolle, und die Regeln, die wir anwenden, sind Faustregeln, und ihre Gültigkeit wurde niemals verifiziert. (ebd.: 32)
Aber wenig später findet man eine Aussage, die zumindest einen Hinweis auf die Verifikation durch Bewährung enthält. Denn dort heißt es: Da wir normalerweise handeln müssen und nicht reflektieren können, um den Forderungen des Augenblicks zu genügen, kümmern wir uns nicht um die „Forderung nach Gewißheit“. Wir sind zufrieden, wenn wir eine faire Chance der Realisierung unserer Absichten haben und diese Chance haben wir, so denken wir jedenfalls, wenn wir den Mechanismus der Gewohnheiten, Regeln und Prinzipien in Bewegung setzen, der sich früher einmal bewährt hat und sich hoffentlich auch jetzt bewähren wird. (ebd.: 32)
Mit anderen Worten: Ein erfolgreiches Schema findet erneute Anwendung, wenn es sich bewährt hat (Zweck-Mittel-Relation). Man könnte auch eine verhaltenstheoretische Hypothese von Homans (1972c: 62) anführen, die besagt: „Je häufiger die Aktivität einer Person belohnt wird, mit um so größerer Wahrscheinlichkeit wird diese Person die Aktivität ausführen.“ Esser (1991a, b) hat den Versuch unternommen, auf Parallelen der Rational Choice-Theorie und der Phänomenologischen Soziologie hinzuweisen. Er verfolgt sowohl die Zielsetzung, die Handlungstheorie von Schütz mit Begriffen der Rational Choice-Theorie zu rekonstruieren, als auch den in den Sozial-
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wissenschaften nach wie vor bestehenden Methodendualismus zwischen einer erklärenden und einer verstehenden Vorgehensweise zu überwinden. Wenn Esser (1991b: 430) von Rational Choice-Theorien spricht, meint er nicht „das enge Konzept des neoklassischen homo oeconomicus“, sondern davon abgrenzbare Varianten, die im Sinne des Verhaltensmodells von Simon nicht in wahrscheinlichkeitstheoretisch bestimmte Nutzenfunktionen münden. Esser (1993: 246) unterscheidet im Rahmen einer soziologischen Erklärung drei Schritte:
Logik der Situation: Welche Handlungsbedingungen liegen vor, wie ist die Situation strukturiert? Logik der Selektion: Nach welchen Kriterien werden Handlungsalternativen ausgewählt? Logik der Aggregation: Welche kollektiven Phänomene resultieren aus der Wahl von Handlungsalternativen?
Damit sind auch im Wesentlichen die Bestandteile der von Esser herangezogenen Rational Choice-Theorie genannt. In Anlehnung an Riker und Ordeshook sowie Lindenberg nennt er folgende Erklärungskomponenten: Situationsumstände, Handlungsbedingungen, Restriktionen, verfügbare und mögliche Handlungsalternativen, subjektive Erwartungen über den Handlungserfolg, subjektive Bewertung des Handlungserfolgs. Lindenberg (1985: 250ff.) hat für das Menschenbild, das dieser Theorie zugrunde liegt, das Akronym RREEMM vorgeschlagen: Resourceful, Restricted, Evaluating, Expecting, Maximizing Man. Die Maximierungsregel bedarf der Spezifikation. Die Situationsdefinition muss mit dem Modell der rationalen Wahl verknüpft werden. Da es nicht um individuelle Erklärungen für individuelles Handeln gehen soll, ist in dieser Theorie die Mikro-MakroDifferenzierung mitgedacht. Daraus folgt (siehe hierzu insbesondere auch Jäckel & Reinhardt 2001): Zuordnung von „resourceful“, „evaluating“ und „maximizing“ zur Mikroebene, Zuordnung von „restricted“ und „expecting“ zur Makroebene. Restriktionen beschreiben die Randbedingungen, Erwartungen den „Horizont möglicher Ereignisse [...], auf die hin maximierend ausgewählt wird.“ (Hennen & Rein 1994: 221). Individualität und Subjektivität bedürfen somit der Stützung durch Strukturen und der Verfestigung in überdauernden Kulturmustern, und Strukturen oder Institutionen sind ohne Akteure nicht vorstellbar, die diese reproduzieren oder verändern. Wenn sich diese Maximierungsstrategien aber bereits an bestehenden Angeboten, Programmen oder Kulturmustern orientieren, ist eine Ergänzung dieses Akronyms sinnvoll,
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das das beschriebene Interesse „mit sozial-kulturellen Regeln verbindet.” (Hennen & Springer 1996: 35). Hierfür wird die Integration des Begriffs „enabling“ vorgeschlagen (RREE[E]MM) (vgl. Hennen & Springer 1996: 35). Diese Integration berührt zugleich erneut das Grundproblem der Unterscheidung individuell-sozial. Man kann im Zuge einer Wahlhandlung das handlungsleitende Programm nicht vergessen und infolgedessen auch nicht ausklammern. Rechtfertigen lässt sich die Trennung aber durch den Hinweis auf bestehende Lösungen für konkrete Entscheidungen. Gemeint sind Handlungsprogramme oder Entscheidungsroutinen, die nicht im Zuge jeder bevorstehenden Wahlhandlung neu geschaffen werden müssen (ebd.: 12ff.). Der Prozess der Handlungswahl kann in drei Schritte zerlegt werden: 1. Kognition der Situation, 2. Evaluation von Handlungsfolgen, 3. Selektion einer Handlung (vgl. Esser 1991b: 432). Im Anschluss an diesen Kriterienkatalog werden Parallelen zur Argumentation bei Schütz aufgezeigt. Nur wenige Hinweise sollen hier genügen (ebd.: 433f.):
Handeln beruht bei Schütz auf vorgefassten Entwürfen. Zwischen Entwürfen aber muss man wählen. Voraussetzung ist, dass sie in der Reichweite des Handelnden liegen. Der Wissensvorrat des Handelnden dient dazu, vorliegende Situationen zu bewerten, etwa darauf hin, ob sie früheren Situationen ähneln. Handlungsalternativen durchlaufen das Bewusstsein, bis eine Entscheidung fällt. Die Handelnden müssen im Idealfall in der Lage sein, wie ein Buchhalter zu kalkulieren und zu bilanzieren.4
Für Schütz wird das Handeln nach bewährten Entwürfen dann zum Problem, wenn die Bewährung ausbleibt bzw. die Situation Routinehandeln nicht zulässt. Routinen reduzieren damit Kosten der Handlungsplanung (vgl. Esser 1991b: 437). Alltagshandeln bleibt bei Schütz ein Handeln nach Rezepten und Faustregeln, insbesondere dann, wenn man mit dem erforderlichen Wissen vertraut ist und eine unmittelbare Relevanz („Welt aktueller Reichweite“) gegeben ist. Nach Esser erfüllen die Routinen und Rezepte bei Schütz die Funktion von Schemata und Skripten. Er schlägt vor, für diese Bündel von Handlungssequenzen den Begriff „habits“ einzuführen. „Habits vereinfachen die Mittel4
Dieser Hinweis – diese Einschränkung ist notwendig – bezieht sich auf eine Darstellung von Leibniz’ Theorie des Wollens und kann nicht ohne weiteres als eine Aussage, die Schütz in seine Theorie integriert, interpretiert werden (vgl. Schütz 1971: 102ff.).
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struktur des Handelns“ (ebd.: 440). Die Einordnung der Logik der Situation, die bei Schütz an den Begriff der Relevanz gekoppelt wird, erfolgt, so Esser, nach einem dominierenden Leitmotiv. Diesen Prozess der Situationsbestimmung bezeichnet er mit dem Begriff „frame“ (= Rahmen). „Frames vereinfachen die Zielstruktur des Handelns“ (ebd.: 440). Damit ergibt sich für die ersten beiden Analyseschritte das Bild laut Abbildung 1. Abbildung 1: Logik der Situation und Logik der Selektion Logik der Situation
Logik der Selektion
Frame
Habits Schemata
Vereinfachung der Zielstruktur
Skripts
Vereinfachung der Mittelstruktur
Quelle: Jäckel (1996: 77).
Vereinfachung der Zielstruktur heißt somit auch Reduktion von Komplexität, Vereinfachung der Mittelstruktur heißt Inkaufnahme nicht-optimaler Entscheidungen (satisficing statt maximizing) durch Zugriff auf bewährte Routinen. Diese Reduktion von Komplexität wird von Esser wiederum selbst durch das Abwägen von Werten und Erwartungen erklärt. Die Frage lautet also: Lohnt sich das Suchen nach weiteren Informationen und kann dadurch der Gesamtnutzen des Handelns gesteigert werden? Essers Rekonstruktions- und Syntheseversuch ist nicht ohne Widerspruch geblieben und hat eine theoretische Diskussion über die Rationalität des Alltagshandelns ausgelöst (siehe hierzu Collins 1993; Srubar 1994; Wippler 1994). Srubar bezweifelt, dass man bei Schütz eine „verschleierte […] Akzeptanz der RC-Prinzipien [RC = rational choice, Anm. d. Verf.] als des konstitutiven Mechanismus alltäglichen Handelns“ aufzeigen kann. Schütz gehe es um den „Nachweis der Typik als einer allgemeinen Struktur der alltäglichen Handlungsorientierung“ (Srubar 1992: 160). Der Begriff Typik verweist in diesem Zusammenhang auf den Prozess der Definition der Situation, den Schütz in
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Anlehnung an William Isaac Thomas verwandte (vgl. Preglau 1995: 73). Typisierungen von Situationen beruhen danach auf dem vorhandenen Wissensvorrat. Alltagshandeln sei, so Srubar, gerade nicht durch Selektionslogik gekennzeichnet. Schütz bestreite nicht „die Möglichkeit, ein Handlungsmodell, das auf Nutzenmaximierung aufbaut, aufzustellen [...]“. Und weiter heißt es: „Was er bestreitet, ist die universelle Geltung einer solchen Selektionslogik“ (Srubar 1992: 161). Insbesondere zieht Srubar in Zweifel, dass man die „unreflektierte ‚Wahl’ von Habits und die spontane Orientierung an bestimmten Frames“ (Esser 1991b: 442) noch als einen Unterfall des rationalen Handelns einordnen kann. Warum, so lautet sein Gegenvorschlag, kann man dann nicht von einem „Idealtypus des Routinehandelns“ ausgehen (Srubar 1992: 162)? Warum kann man nicht Abweichungen vom Routinehandeln als Spezialfälle betrachten, die dann einen rationalen Handlungstypus erfordern? Für ihn ist Routinehandeln kein Spezialfall rationalen Handelns, für Esser gilt das Gegenteil. Nach Collins (1993: 58) konstruiert Esser ein Modell „of a second order of rationality; more accurately, a prior order of rational choice as to whether it is advantageous to engage in calculations or to stick with an accepted routine.“ Srubar neigt dazu, das rationale Handeln auf den wirtschaftlichen Bereich zu konzentrieren (vgl. hierzu auch Srubar 1993: 39). Die entscheidende Frage aber ist, woher ein Akteur weiß, dass ihm Routinen in bestimmten Situationen weiterhelfen. Er muss auf Erfahrungen oder Vorbilder zurückgreifen, um ihre Angemessenheit beurteilen zu können. Die Adäquanz einer Typenbildung beruht auf dem Kriterium Erfolg/Misserfolg, Gelingen/Misslingen. Auch eine Theorie des Routinehandelns kommt ohne diese Kategorien nicht aus. Routinehandeln muss nicht zum Gegenstand einer eigenen Theorie gemacht werden, sondern kann als Spezialfall rationalen Handelns betrachtet werden. Selbst Gewohnheitshandeln (unreflektierte Wahl) kann über die Handlungsfolgen eine nachträgliche Bewertung erfahren. Einschränkend kann hinzugefügt werden, dass die unreflektierte Wahl selbst schon wieder einen Grenzfall der Handlungsplanung darstellt und einer starken Vereinfachung der Mittelstruktur (vgl. Abbildung 1) gleichkommt. Neben diesem Rekonstruktionsversuch einer Handlungstheorie, die das Kernstück des so genannten interpretativen Paradigmas ausmacht, ist auf einen weiteren theoretischen Vermittlungsversuch hinzuweisen. Gemeint ist der Versuch einer Synthese zwischen Homo Oeconomicus und Homo Sociologicus.
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Das Modell des Homo (Socio-)Oeconomicus
Es geht dabei nicht um die Frage, ob man das Modell des Homo Sociologicus (normative Regulierung sozialen Verhaltens) in ökonomische Kategorien überführen kann (vgl. hierzu Opp 1986). Sanktionen lassen sich als Kosten einer Handlung definieren, internalisierte Normen als Präferenzen für bestimmte Verhaltensweisen (vgl. Opp 1989: 119). Es geht hierbei vielmehr um eine konsequentere Einlösung der Forderung Boudons, die Situations- und Handlungsbedingungen bei der Erklärung des Auftretens bestimmter Verhaltensweisen zu berücksichtigen. In diese Richtung zielt auch die Unterscheidung von Hennen und Rein (1994: 215ff.), die für eine konsequentere analytische Trennung der Wahlkomponente und der Situationskomponente plädieren. Boudons Forderung lautet, dass der Rationalitätsbegriff nicht universell verwandt werden darf, sondern in Abhängigkeit von der Situation (vgl. Boudon & Bourricaud 1992: 415). Die Annahme einer situationsübergreifenden Handlungs- und Entscheidungslogik ignoriert die Variation des Entscheidungsaufwands in verschiedenen Situationen. Die Entscheidungen, die wir treffen (müssen), sind von unterschiedlicher Bedeutung und Tragweite. Sie unterscheiden sich in ihrer Komplexität und ihrer Relevanz für die Zukunft. Die Einrichtung eines Hauses benötigt mehr Zeit und bindet mehr Ressourcen als die Entscheidung, ob man schwimmen geht oder eine Theatervorführung besucht. Coleman erläutert diesen Aspekt an Entscheidungsfindungen, die sich in einem begrenzten Zeitraum abspielen und sich auf gleiche Alternativen beziehen (vgl. Coleman 1991: 307). Mit gleichen Alternativen meint er dabei Angebote, die der gleichen Produktgruppe oder dem gleichen Sortiment zugerechnet werden können. Wenn man sich in einem solchen System der Entscheidungsfindung bewegt, sind verschiedene Strategien denkbar. Eine Person kann sich auf eine umfassende Suche nach Informationen begeben, insbesondere, wenn die Entscheidung bedeutsame Folgen für die Person haben wird, weil es sich zum Beispiel um den Kauf eines langfristigen Konsumguts – beispielsweise eines Autos – handelt. Wenn die Entscheidung keine bedeutsamen Folgen nach sich zieht und es zum Beispiel darum geht, ob man einen Joghurt für 79 Pfennig oder 89 Pfennig kaufen soll, bzw. wenn es allgemeiner gesagt um den Kauf eines kurzfristigen Konsumgutes geht, bei dem man sich beim nächsten Mal für die andere Marke entscheiden kann, dann sollte man nicht erst lange Informationen einholen, weil dies Kosten macht und die kostenwirksamste Methode, sich zu informieren, darin besteht, den Artikel zu kaufen (oder vielleicht sogar beide) und aus der eigenen Erfahrung zu lernen. (ebd.: 308)
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Rationalität wird hier als eine Funktion der Situationsbestimmung betrachtet. Man kann diesen Vorgang auch mit dem Begriff „Framing“ kennzeichnen (vgl. Esser 2004), da damit die Klassifikation bzw. Festlegung des jeweiligen Handlungsrahmens gemeint ist. Was Coleman an einem praktischen Beispiel illustriert, entspricht dem, was Zintl (1989: 60f.) als das Menschenbild, das dem Homo Oeconomicus zugrunde liegt, auffasst: Die Figur des homo oeconomicus sollte nicht als Behauptung über die Eigenschaften von Menschen im allgemeinen wahrgenommen werden, sondern als Behauptung über ihre Handlungsweisen in bestimmten Situationen. Die Frage ist dann nicht, ob der Mensch so ist, sondern vielmehr, in welchen Situationen er sich verhält, als sei er so.
Der Konjunktiv am Ende des Zitats verdeutlicht zugleich, dass es den „perfekten Kalkulierer“ nicht geben kann. Man kann auch dann von Rationalität sprechen, wenn man nicht vollkommen informiert ist, sondern lediglich versucht, optimal informiert zu sein (ebd.: 53). Die Entscheidung wiederum, ob man auch eine nicht-optimale Entscheidungsfindung akzeptiert, hängt von der Wahrnehmung der Situation und der Antizipation der Folgekosten aus nichtoptimalen Entscheidungen ab. Die Reihenfolge lautet: vollkommen informiert, optimal informiert, nicht-optimal informiert. Wenn die Kosten aus einer falschen Entscheidung hoch veranschlagt werden, muss man versuchen, eine optimale Strategie zu finden. Erscheint die Situation weniger folgenreich, ist eine nicht-optimale Entscheidungsfindung eher tragbar (vgl. Jäckel 1992: 254f.). Nicht-optimal kann im Extremfall bedeuten, dass man weitgehend auf Vorab-Informationen verzichtet und damit nicht mehr von einer Handlungsplanung gesprochen werden kann. Der Entscheidungsablauf ist mehrstufig angelegt. In Anlehnung an die Bestimmung der Situationsbeschaffenheit unterscheidet Zintl dabei Niedrig- und Hochkostensituationen. In Hochkostensituationen können nicht-optimale Entscheidungen folgenreich sein, in Niedrigkostensituationen lassen sich die Folgen verschmerzen (vgl. Zintl 1989: 254). Kliemt (1987: 59), auf den sich Zintl hierbei beruft, hat die Unterscheidung zwischen „low“ und „high cost“Situationen diskutiert, um ein kombiniertes Verhaltensmodell vorzuschlagen. Solange mit bestimmten Handlungen nur geringe Kosten verbunden sind, sei es gerade nicht rational, sich „in every instance of choice“ als ein „rational decision maker“ zu verhalten. In diesem Zusammenhang taucht ein Begriff auf, auf den auch Esser in seinem Rekonstruktionsversuch der Theorie von Schütz Bezug genommen hat: Daumenregeln („rules of thumb“, Kliemt 1987: 60). Kliemts Vorschlag zielt auf eine Aufhebung der Dichotomie von „social“ und
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„economic man“ durch die Beachtung der Situation und der daran orientierten Einschätzung der Folgekosten. Sein Fazit lautet: „Obviously we should try to combine in one behavioral model two human faculties simultaneously: that of acting according to some rules and that of choosing according to the exigencies of the moment.“ (ebd.: 62). Nicht die Dichotomie, nicht der Gegensatz helfe theoretisch weiter, sondern: „Both men are combined in one person.“ (ebd.: 63), wie Abbildung 2 visualisiert. Abbildung 2: Homo Socio-Oeconomicus Social man Homo Sociologicus
Economic man Homo Oeconomicus
allgemeines, situationsübergreifendes Handlungsmodell
allgemeines, situationsübergreifendes Handlungsmodell
Socio-economic man Homo Socio-oeconomicus Situationsabhängiges Handlungsmodell Quelle: Jäckel (1996: 81).
Die rollentheoretische Verankerung des Homo Sociologicus repräsentiert in diesem Modell Prozesse sozialer Steuerung, die aber ohne zweiseitige Ausgestaltung (Ego-Alter) kaum vorstellbar sind. Anderenfalls wäre beispielsweise Sozialisation ein einseitiger Vorgang ohne Reflexion und Reziprozität. Daher liegt mit dem Modell des Homo Socio-Oeconomicus ein Vorschlag zur Verschränkung handlungs- und strukturtheoretischer Konzepte vor: Steuerungsund Motivationsprozesse überlagern sich, wie Abbildung 3 veranschaulicht. Programmorientierung meint hier: Der Rückgriff auf Verhaltensmuster, die ihre eigene Geschichte haben (soziale Evolution), gewährleistet deren Fortbestand und ermöglicht zugleich Variation. Ohne die Bereitschaft des Einlassens auf solche „Lösungswege“ werden Automatismen unterstellt, die Soziologie gleichsam auf eine Benennung von Determinanten reduziert. Programme werden aber individuell eingesetzt.
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Abbildung 3: Die Programmorientierung von motivierten Handlungen Handeln = motiviertes Verhalten vorsozial
sozial
Motive = fundamentale Bedürfnisse, anthropologische Universalien
Konkretisierung auf sozial anerkannten Wegen, Orientierung an Kulturformen
suchen Anschluss an
Motivation = Verschmelzung von Motiv und Programm
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Hennen und Springer (1996: 14).
Mit dem Versuch, verschiedene Formen nicht-optimaler Rationalität in eine soziologische Handlungstheorie zu integrieren, verbindet sich der Anspruch, idealistische und damit auch unrealistische Annahmen in angemessene Modellvorstellungen zu überführen. Zusammenfassend sind daher folgende Aspekte noch einmal hervorzuheben:
Eine ökonomische Erklärung menschlichen Verhaltens muss sich nicht auf den engen Bereich des Wirtschaftslebens beschränken. Die dem Modell des Homo Oeconomicus zugrunde liegenden idealtypischen Annahmen (siehe die Theorie des subjektiv erwarteten Nutzens in der Darstellung von Simon) sind realitätsfern, da sie eine universelle Geltung beanspruchen. Die das Alltagshandeln dominierenden Formen rationalen Verhaltens müssen in eine handlungstheoretische Erklärung integriert werden. Routi-
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nen, Rezepte und Gewohnheiten reduzieren Informationskosten. Schemata der Erfahrung strukturieren Situationen. Häufig findet eine Vereinfachung der Mittelstruktur und der Zielstruktur statt. Dennoch liegt intentionales Handeln vor. An die Stelle einer universellen Rationalitätstheorie muss eine Theorie treten, die die Logik der Situation als wichtige Randbedingung berücksichtigt. Ein situationsabhängiges Entscheidungsmodell muss die Definition und Wahrnehmung der Situation, die Beurteilung der Folgekosten (Niedrig- versus Hochkostensituation) berücksichtigen. Die Logik der Situation ist in diesem methodologisch-individualistischen Konzept wesentliche Entscheidungsgrundlage für konkretes Handeln bzw. Nicht-Handeln: die Logik der Selektion.
Einwände gegen das Erklärungskonzept
Es wurde einleitend bereits darauf hingewiesen, dass Restriktionen Teil der Kalkulationen des Homo Oeconomicus sind. Die Konzentration auf Entscheidungsfindung (Logik der Selektion) könnte somit als Verengung des Erklärungsspektrums erscheinen. Entsprechend argumentiert beispielsweise Schülein (1994: 13): Generell wird die weitgehende Konzentration auf individuelles Handeln bzw. Entscheiden als weitgehendes Ausblenden der (Eigenständigkeit der) Sozialstruktur von Gesellschaften, als mangelnde Berücksichtigung der Bedingtheit und Abhängigkeit individuellen Handelns von sozialen Verhältnissen interpretiert. Die kategoriale Fassung als Randbedingungen verkennt deren strukturelle Bedeutung und unterstellt ein weder empirisch noch logisch angemessenes Niveau an Unabhängigkeit (Schülein 1994: 13, Hervorhebungen im Original)
Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass der Idealtypus der Zweckrationalität, der im Falle des Homo Oeconomicus Pate steht, nur einer von mehreren Bestimmungsgründen sozialen Handelns gewesen ist, die Max Weber in seiner Handlungslehre genannt hat. Neben das zweckrationale Handeln treten dort das wertrationale Handeln (z.B. Orientierung an moralischen Wertmaßstäben, die es unbedingt einzuhalten gilt), traditionales Handeln (Bezugnahme auf seit langem gültige Handlungsprogramme) und affektuelles Handeln, also die emotionale, häufig auch spontan erfolgende Reaktion. Das tatsächliche Handeln ist daher im Sinne eines Mischungsverhältnisses dieser vier Idealtypen zu verstehen. Mit der Betonung des subjektiv gemeinten Sinns (Max Weber) ist die
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Brücke zum methodologischen Individualismus geschlagen: die Einbeziehung der Mikroebene zur Erklärung von Makrophänomenen (vgl. Coleman 1991). Eine erneute Auseinandersetzung mit dem Begriff „Wertrationalität“ führt Esser zu dem Ergebnis, dass gerade die Betonung einer kontrafaktischen Einstellung, die Betonung des Wunsches, dass die Dinge anders sein sollen, als sie sind, die „Wert“-Komponente dieses Rationalitätstypus ausmacht. Das wertrationale Handeln sei eben nicht, wie auch Weber betont, unreflektiert und „dumpf“, sondern eine systematische, bewusste Stellungnahme (vgl. Esser 2004: 103). Die Besonderheit dieses Bestimmungsgrunds von Handlungen rührt in erster Linie daher, dass an übergeordnete, nicht-individuelle Ziele gedacht wird: Man sieht die soziale Ordnung bedroht, man denkt an gesamtgesellschaftliche Konsequenzen. In Anlehnung an Boudon spricht Esser auch von den „guten Gründen“ (reasons). Seine Schlussfolgerung lautet: So gesehen schrumpft der Unterschied des zweckrationalen zum wertrationalen Handeln also darauf, dass es jetzt um „gesellschaftliche“ Konsequenzen geht und dass der betreffende Wert als eine nicht substituierbare „notwendige“ Bedingung dafür angesehen wird, an der alles Weitere hängt, und dass daher das betreffende Tun „unbedingt“ erfolgen muss. (Esser 2004: 106, Hervorhebung im Original)
Eine daraus abgeleitete Forderung ist für eine Handlungslehre bedeutsam: „Die ‚Logik der Selektion’ muss um den Vorgang der Selektion von Typen des Handelns, und das heißt: von besonderen Orientierungen und/oder von Graden der Informationsverarbeitung, erweitert werden.“ (Esser 2004: 97) Auf diese Erweiterung hat Esser bereits 1990 hingewiesen: „[…] dass die – unbezweifelbare Existenz – verschiedener Typen des Handelns – z.B. zweckrational, wertrational, traditionell, affektuell – keineswegs heißt, dass man Handeln und soziale Prozesse nicht aus einer einheitlichen Handlungstheorie heraus erklären könnte.“ (ebd.: 244) Abbildung 4 fasst diese Überlegungen zusammen. Auch Talcott Parsons lehnt eine rein utilitaristische Erklärung von Handlungen ab. Nach seiner Auffassung müssen Menschen erst zur Erkenntnis der sozialen Realität kommen, um ihre (langfristigen) Interessen umsetzen zu können. Daher sind Bezugspunkte erforderlich, die sich beispielsweise in Normen und Werten bereits konkretisiert haben. Auf diese Art und Weise wird eine normative Einbindung individueller Handlungen angestrebt. Parsons unterscheidet dabei vier strukturelle Komponenten: die subjektiven Ziele (ends), die Mittel des Handelns als eine Komponente der Situation eines Akteurs (means), die Bedingungen der jeweiligen Situation (conditions) und die Normen (norms) als regulierender Faktor (vgl. Parsons 1967).
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Abbildung 4: Die drei Logiken von Esser und Typen des Handelns Soziale Situation
Kollektive Folgen
Logik der Situation
Logik der Aggregation
Typen des Handelns Individuelle Situation
zweckrational
Logik der Selektion
wertrational
Individuelles Handeln
traditional affektuell Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Esser (1999) und Esser (2004).
Sowohl Weber als auch Parsons betonen also ein Mischungsverhältnis verschiedener Komponenten. Das wird auch im Homo Oeconomicus-Modell mitgedacht, dort aber – zumindest von Seiten der Kritiker – als zu pauschale Randerscheinung thematisiert. Das Mischungsverhältnis kann aber auch noch auf eine andere Art und Weise thematisiert werden, nämlich über die Berücksichtigung der Einbindung in konkrete Interaktionen. Die Relativierung rein utilitaristischer Konzepte findet man in der Soziologie vielfach beschrieben, insbesondere in den Theorien von Bourdieu und Giddens. Giddens betont in seiner Theorie der Strukturierung, dass Menschen sich in ihrem praktischen Handeln auf vorgelagerte Strukturen beziehen, wobei sie mit diesem Handeln wiederum Strukturen schaffen. Diese Formel der Dualität von Struktur impliziert, dass die jeweiligen Strukturen sowohl Voraussetzung als auch Produkt von Handeln sind, und diese wiederum nicht als Zwang wahrgenommen werden, sondern als Voraussetzung zur Ermöglichung bestimmter Handlungen (vgl. Giddens 1988). Ebenso kündigt Bourdieu (1994) konsequent den Gegensatz von Individuum und Gesellschaft auf, in dem er für ein Denken in Relationen plädiert (vgl. die Beiträge von Willems und Hanitzsch in diesem Band). Die soziale Praxis lässt sich nach seiner Auffassung nicht auf eine Widerspiegelung von Kulturmustern und Regeln reduzieren. Es handelt sich hierbei nicht um Tatsa-
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chen. Alle Regeln enthalten ein Moment von Unbestimmtheit, und gerade an dieser Stelle setzt die Logik der Praxis an. Dort kommen die Strategien der Akteure ins Spiel, die versuchen, diese Unbestimmtheit der Praxis auszunutzen. Die Partitur ist zwar vorgegeben, aber es gibt Unterschiede in der Art und Weise, wie sie gespielt wird. Diese Art und Weise des Spielens wiederum kann nicht dem voluntaristischen Belieben der Akteure überlassen werden, sondern ist wiederum Resultat eines über Sozialisation erworbenen Lehrplans. Hierfür steht bei Bourdieu der Habitus-Begriff. Dieser Begriff steht für sedimentierte Erfahrungen, für eine Art zweite Natur des Individuums, die dennoch nicht gleichzusetzen ist mit einer vorgeschriebenen Rolle. Der Habitus ist „als nicht gewähltes Prinzip aller Wahlen“ (Bohn & Hahn 2000: 258) der Rahmen der Möglichkeiten. Damit wird hier eine Erklärung für das gegeben, was im Rahmen der einleitend gegebenen Definition des Homo Oeconomicus unter die Kategorie „Restriktionen“ gefallen ist. Wer über den Homo Oeconomicus spricht, muss also die jeweilige Logik der Situation mitdenken und in Erklärungsmodellen berücksichtigen. Von zentraler Bedeutung ist daher das Arbeiten mit Brückenannahmen oder -hypothesen, die Strukturvariablen mit den Variablen der Individualtheorie (beispielsweise wahrgenommene Nutzungsalternativen, Interessen und Ziele der Akteure) verbinden müssen. Brückenhypothesen sind gewissermaßen der Input für eine verhältnismäßig „inhaltsleere“ Handlungstheorie von großer Allgemeinheit.
Literatur Albert, Hans (1984): Geleitwort. In: Richard B. McKenzie & Gordon Tullock: Homo oeconomicus. Ökonomische Dimensionen des Alltags (Aus d. Amerik.). Frankfurt am Main & New York: Campus. 5-7. Becker, Gary S. (1976): The Economic Approach to Human Behavior. Chicago: University of Chicago Press. Bohn, Cornelia & Alois Hahn (2000): Pierre Bourdieu. In: Dirk Kaesler (Hrsg.): Klassiker der Soziologie. Band 2: Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu. 2. Auflage. München: C. H. Beck. 252-271. Boudon, Raymond (1980): Die Logik des gesellschaftlichen Handelns. Eine Einführung in die soziologische Denk- und Arbeitsweise. Neuwied & Darmstadt: Luchterhand. Boudon, Raymond & Francois Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch (Aus d. Franz.). Opladen: Westdeutscher Verlag. Bourdieu, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Ökonomik als neue Perspektive für die Kommunikationswissenschaft Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl
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Einleitung
Michael Jäckel hat sich in seinem Beitrag umfassend mit dem Modell des rationalen Akteurs1 aus der Perspektive des Soziologen auseinandergesetzt und die Meilensteine einer ökonomischen Perspektive in der Soziologie umrissen. Seine „Zeitreise“ durch die Geschichte ökonomisch inspirierten Denkens in der Soziologie beginnt er mit George C. Homans, der Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts – gegen den damaligen Mainstream in den Gesellschaftswissenschaften – für eine stärkere Berücksichtigung des Individuums plädierte: Nicht allein die Strukturen, sondern auch die Individuen sollten das Interesse der Soziologen wecken – denn das Handeln der Menschen wird nicht nur durch gesellschaftliche Normen und Regeln bestimmt, sondern auch durch die ureigenen und durchaus eigennützigen Ziele der Akteure. Jäckel schreibt die Renaissance individualistischen bzw. ökonomischen Denkens in der Soziologie fort, wenn er auf die wichtigen Impulse hinweist, die, wiederum Homans zufolge, von Anthony Downs, Gary S. Becker, Richard B. McKenzie und Gordon Tullock sowie von Herbert A. Simon ausgingen: Diesen Autoren sei es zu verdanken, dass die ökonomische Perspektive in den Sozialwissenschaften zugleich Erweiterungen als auch Einschränkungen erfahren habe. Insbesondere Downs und Becker haben der Ökonomik neue An-
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Als ausführliche Darstellung der akteurstheoretischen Grundlagen vgl. Schimank (2000). Interessierte Leser seien für eine vertiefte Lektüre zur Ökonomik ferner auf die gelungenen und sehr ansprechend geschriebenen Darstellungen von Homann und Suchanek (2000), Braun (1999) und Kirchgässner (1991) sowie auf die medienökonomischen Arbeiten von Heinrich (2001) und Kiefer (2001) verwiesen. Der vorliegende Beitrag basiert auf Auszügen aus unserem Buch „Der Journalist als Homo oeconomicus“ (Konstanz: UVK 2005).
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wendungsbereiche erschlossen, indem sie nachweisen konnten, dass nicht nur Kaufleute – oder eben, wie Jäckel Esser (1991) zitiert, „Buchhalter“ – bemüht sind, Gewinne und Verluste einer Handlung möglichst schon im Vorhinein abzuschätzen, sondern auch Politiker und Wähler, Angehörige einer Familie, Literaten und Kriminelle: Wobei eben nicht nur „materielle“ Dinge wie Geld, Dienstleistungen, Immobilien und andere Ressourcen der „Stoff“ sind, mit dem rationale Akteure Handel treiben, sondern sich auch „Immaterielles“ wie z.B. Information gegen Aufmerksamkeit tauschen lässt. Heute wird der ökonomische Ansatz deshalb längst nicht mehr nur in der Wirtschaftswissenschaft sowie von Soziologen und Politologen diskutiert. Vielmehr arbeiten inzwischen Forscher in so unterschiedlichen wissenschaftlichen Bereichen wie der Religion, der Kunst oder dem Gesundheitswesen mit der Theorie rationalen Handelns – und gewinnen auf diese Weise aufschlussreiche Perspektiven auf ihr Forschungsfeld.2 Zugleich ist, wie Jäckel herausstreicht, Herbert A. Simon eine zentrale Einschränkung für die Weiterentwicklung der ökonomischen Perspektive in den Sozialwissenschaften zu verdanken – nicht zuletzt auch mit Blick auf die „Informations-“ oder „Mediengesellschaft“, mit der sich auch Soziologen zu befassen haben: Simon stellte in seiner wegweisenden Arbeit klar, dass der rationale Akteur eben nicht der vollständig informierte „Olympier“ ist, der als Zerrbild von anderen Denkschulen lange und zu Recht verspottet wurde. Der „Homo oeconomicus“ kann laut Simon niemals vollständig, sondern allenfalls hinreichend informiert sein, bevor er handelt oder entscheidet. Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, an dieser Stelle weiter auf die von Jäckel diskutierten SRSM- bzw. RREEMM-Modelle des rationalen Akteurs in der Soziologie, auf die Frage nach der Rationalität von Routine- und Alltagshandeln sowie der Kompatibilität des Rational-Choice-Modells mit anderen Modellen und Theorien der Soziologie einzugehen. Wichtiger erscheint uns Jäckels Resümee, dass sich das ökonomische Modell individuellen Handelns eben nicht nur zur Erklärung wirtschaftlicher Zusammenhänge eignet, 2
Die Analysen von Ökonomikern beschäftigen sich mit so unterschiedlichen Gebieten wie der Politik (z.B. Arrow 1951; Buchanan 1962, 1987, 1988; Downs 1957/1968; als aktueller Überblick: Braun 1999), dem Recht (z.B. Posner 1993; Schäfer-Ott 1986), der Bürokratie (z.B. Niskanen 1974; Downs 1967), der Kunst (z.B. Frey & Pommerehne 1989), der Literatur (z.B. English 2005), dem Hochschulsektor (z.B. Helmstädter 2004; Albert 2004) dem Gesundheitswesen (z.B. Herder-Dorneich 1980), Kriminalität und Drogenkonsum (z.B. Becker & Becker 1998; Becker 1982), Umweltschutz (z.B. Bonus 1984), Familien- und Geschlechterbeziehungen (z.B. Becker 1982; Boulding 1973) und religiösen Bindungen (z.B. Graf 2004; Moore 1994).
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sondern auch zu fruchtbaren Antworten auf sozialwissenschaftliche Fragestellungen führt. Dies gilt insbesondere auch, wie wir im Folgenden argumentieren werden, für die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Es nimmt Wunder, dass ausgerechnet diese verhältnismäßig „junge“ Disziplin sich lange Zeit gegen die ökonomische Methode geradezu immunisiert zu haben schien, deren Renaissance in der Soziologie Jäckel so plausibel beschreibt. „Bringing the journalists back in“ – so möchte man Homans Diktum abwandeln angesichts einer langen Phase der Dominanz systemtheoretischer Konzepte in der Journalismusforschung, in der Journalisten, zugespitzt formuliert, zu Rollenträgern degradiert wurden, die den Zwängen des Mediensystems unterworfen sind, ohne dieses aktiv mitzugestalten. Im Folgenden möchten wir aufzeigen, wie fruchtbar es auch für Kommunikationswissenschaftler sein kann, mit Jäckel auf dem Pfad ökonomischen Denkens zu wandeln.
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„Imperialismus der Ökonomik“? Mythen und Missverständnisse
Ein Grund für die skeptische Haltung mögen auch in unserem Fach Missverständnisse über das Erkenntnisinteresse der Ökonomik gewesen sein – ist doch die Rede vom „Imperialismus der Ökonomie“ in Teilen der Sozialwissenschaft längst zum geflügelten Wort geworden. Nicht selten wird auch der umgangssprachliche Begriff des „Egoisten“ unbedacht mit dem ökonomischen Modell des „eigennutzmaximierenden“ Akteurs gleichgesetzt. Ein Egoist wirkt in der Tat unsympathisch, schreibt der Zürcher Ökonom Bruno S. Frey (1990: 6f.) – und stellt klar: Diese Bewertung ist jedoch nicht richtig. Eigennütziges Handeln bedeutet [in der Ökonomik, Anm. d. Verf.], dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass jeder Mensch dauernd Gutes für seine Mitmenschen tut – das wäre sicher unrealistisch – es bedeutet aber auch nicht, dass jeder Mensch nur danach trachtet, den anderen Böses zuzufügen. [...] Eigennütziges Verhalten zu unterstellen ist verlässlich; dass die Menschen ihren eigenen Vorteil wahrnehmen, ist in aller Regel zu erwarten. Eigennutz kann unter wechselnden Umweltbedingungen eine unterschiedliche Form annehmen. Im Kreise der Familie oder von Freunden etwa bedeutet Eigennutz auch, dass man sich – aus eigenem Vorteil – um das Wohlergehen der anderen Mitglieder kümmert. Auf den Nutzen anderer Menschen achtet man auch bei regelmäßig wiederkehrenden Beziehungen, etwa zwischen Stammkunden und Verkäufern.
Und so ist es womöglich kein Zufall, dass just in einer Zeit, in der das Erklärungspotenzial der das Fach bislang dominierenden Systemtheorie zunehmend
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kritisch hinterfragt wird (vgl. z.B. Löffelholz 2004), ein neues Interesse an der Theorie rationalen Handelns aufkeimt (vgl. Hamilton 2004; Hosp 2005; Reinemann 2005; Vowe & Wolling 2000). Noch allerdings beklagt Marie-Luise Kiefer (2001: 193) zu Recht, dass das „Konzept des Akteurs als zielorientierte Handlungseinheit, als Mikro- und Makroprozesse intendiert oder unintendiert steuerndes Individuum, [...] so gut wie keine systematische Rolle” in der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft spiele, vereinzelte Ansätze in der politischen Kommunikation einmal ausgenommen.3 Allerdings gilt auch für die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft Dietmar Brauns (1999: 180) auf die Politikwissenschaft gemünztes Diktum: Dass nämlich implizit oder explizit immer schon auf Annahmen über das Akteurshandeln zurückgegriffen wird, die dann aber selten klar offen gelegt werden. Häufig erweist sich dabei, dass man von ganz ähnlichen Annahmen über die Intentionen der Akteure ausgeht wie die Rational Choice Theorie (nämlich z.B. Maximierung von Macht), ohne dies aber konsequent weiterzuverfolgen.
Beispiele für die implizite Annahme rationalen Handelns finden sich an ganz unterschiedlichen Stellen unseres Fachs:
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Der Uses-and-Gratifications-Ansatz basiert auf der Annahme rationaler, nutzenmaximierender Rezipienten. „Interessen, Motive und Präferenzen des Publikums (werden) zum Ausgangspunkt der Erklärung medienbezogenen Handelns”, fasst Jäckel (2002: 80) zusammen.4 Die Theorie der Nachrichtenfaktoren (Schulz 1976) enthält ebenfalls starke ökonomische Bezüge – allein schon dadurch, dass sie Nachrichten, wie Gütern, einen „Wert” zuspricht. Dieser Wert wiederum bezieht sich eng auf das vermutete Publikumsinteresse und den unterstellten Publikumsnutzen; er dient also der Aufmerksamkeits-Maximierung und damit letztlich der Steigerung der Verkaufsauflagen bzw. Einschaltquoten. Auch viel diskutierte Medienwirkungen wie Agenda-Setting, Priming und Framing lassen sich ökonomisch erklären, wenn man mit Römmele (2002:
In der sind es bislang insbesondere Forscher im Bereich der politischen Kommunikation, die Aufmerksamkeit als „Handelsgut” von Journalisten, Politikern und deren PR-Leuten beschreiben (vgl. z.B. Jarren & Donges 2002: 153ff.; Pfetsch & Wehmeier 2002: 39; Tenscher 2002: 121, 139; vgl. zum Stichwort „Aufmerksamkeit“ auch Theis-Berglmair 2000). Jäckel (1996: 63ff.) hat zudem die aus der Ökonomik bekannte Annahme des beschränkt rationalen Verhaltens handelnder Individuen auf die Fernsehnutzung angewandt und Hinweise für eingeschränkt rationales Nutzungsverhalten gefunden. Auch Ohr und Schrott (2001) stützen sich auf die Ökonomik, um Mediennutzungsentscheidungen zu erklären.
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20, 32) deren Beitrag zur Senkung der individuellen Informationskosten rationaler Mediennutzer anspricht: „Die theoretisch unendliche Menge an Informationen wird von den Medien auf eine aktuelle Agenda reduziert; komplizierte Sachverhalte werden oftmals vereinfacht dargestellt. [...] Ferner handelt es sich um strukturierte Information, in der eine bevorzugte Interpretation der Realität angeboten wird.“ In der PR-Forschung werden laufend neue Methoden entwickelt, um Kommunikationsleistungen angemessen zu bewerten und so das Wertschöpfungs-Potenzial insbesondere von Corporate Communication besser zu erfassen (vgl. Pfannenberg & Zerfass 2005). Ökonomisch betrachtet, geht es hier um die Frage nach Kosten und Nutzen des „Rent-Seeking“, des Strebens nach einer Aufmerksamkeitsrente für die PR-treibenden Organisationen und Individuen (vgl. Hosp 2005). Die Theorie der Schweigespirale (Noelle-Neumann 1982; van Aaken 1992: 79ff.) basiert ebenfalls auf Annahmen der Ökonomik: Menschen suchen nicht nur auf rationale Weise Information, sondern verwerten diese auch rational im Blick auf ihre Umwelt weiter: Wer mit seinen Ansichten auf positive Verstärkung (= Belohnung) im Umfeld hoffen darf, geht aus der Deckung. Wer dagegen mit Druck und Ablehnung (= Sanktionen) im Bekannten- und Freundeskreis rechnen muss, behält seine Meinung für sich und schweigt in der Öffentlichkeit. So verstärken die Medien einerseits Stimmungen in der Bevölkerung, andererseits bleiben womöglich „schweigende Mehrheiten” unter der Wahrnehmungsschwelle in der Öffentlichkeit.
Gerade in der Journalismusforschung sind lange Zeit anstelle von Interessen (-konstellationen) die Rollen thematisiert worden, die Journalisten insbesondere in demokratischen Gesellschaften übernehmen wollen – und übernehmen sollen. „Neutraler Informationsvermittler“, „Analytiker komplexer Sachverhalte“ oder „Anwalt der Schwachen“ lauten die auch in der internationalen Journalismusforschung oft genannten Rollenselbstbilder (vgl. Weaver et al. 2006; Marr et al. 2001; Weischenberg, Scholl & Malik 2006). Andererseits wird gerade in unserem Fach seit einigen Jahren immer öfter die „Ökonomisierung“ des Journalismus in seinen (negativen) Auswirkungen auf die Qualität der massenmedial vermittelten Informationen beschrieben. Höchste Zeit also für eine ökonomische Analyse nicht nur der Medienunternehmen, sondern auch der Medienmacher! Denn für diese ergeben sich selbst in straff organisierten, „durchökonomisierten“ Medienkonzernen immer wieder Handlungsspielräume (vgl. Hamilton 2004: 25), und diese sind in der redak-
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tionellen Praxis – allen Routinen und „Systemzwängen“ zum Trotz – beträchtlich: Die Auswahl, Auswertung, Verarbeitung und Weitergabe von Informationen eröffnet Journalisten die Möglichkeit, Einfluss auf den Inhalt ihrer Berichterstattung zu nehmen. Bei der Erstellung von Berichten können Fakten – bewusst oder unbewusst – entstellt wiedergegeben werden, unberücksichtigt bleiben oder erfunden werden. (von Rosen & Gerke 2001: 62)
Wie aber nutzen Journalisten ihre Entscheidungsfreiheit? Die Ökonomik geht davon aus, dass rationale Akteure Handlungsspielräume auf der Basis individueller Vorteils-/Nachteils-Kalkulationen ausfüllen (vgl. Homann & Suchanek 2000: 439). Inwiefern haben folglich auch die Journalisten ihren Anteil am Prozess der Ökonomisierung – weil sie als rationale Akteure und damit ebenfalls ökonomisch handeln? Zu selten wurde diese Frage bislang gestellt, zu oft der Beruf des Journalismus von Mythen umgeben, und die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft wirkte mitunter tatkräftig an der Idealisierung eines Berufsstands mit, obwohl es doch ihre Aufgabe wäre – frei nach Max Weber – durch nüchterne Analyse den Gegenstand ihrer Beobachtung zu entzaubern. Mythen und Missverständnisse können also erklären helfen, warum das Paradigma des rationalen Akteurs erst jetzt Einzug in das Fach hält. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist jedoch, dass es in der Tat einen „missing link“ zwischen Ökonomik und Kommunikationswissenschaft gab – denn wie sollte man Journalisten in getreuer Auslegung der Ökonomik als „profitmaximierende“ Akteure beschreiben, wenn doch die Mehrzahl der Journalisten im Vergleich zu akademischen Berufen nachweislich schlecht bezahlt wird? Hier hat Georg Franck eine entscheidende Debatte erneut angestoßen: Er hat in seiner „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ dargelegt, dass in der Informationsgesellschaft Aufmerksamkeit – neben Zeit und Geld – zur knappen Ressource geworden ist (Franck 1998: 50).5 Gehandelt werden in der „Mediengesellschaft” also nicht nur Waren oder Dienstleistungen gegen Geld, sondern auch – beispielsweise bei der Interaktion von Journalist und Quelle – Informationen gegen Aufmerksam-
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In den USA diskutieren Ökonomiker schon seit einiger Zeit über Aufmerksamkeit als knappe Ressource (vgl. Simon 1983; Olson 1982, 1985; Downs 1957, 1968). Auch in der Politikwissenschaft ist der Tauschcharakter von Aufmerksamkeit thematisiert worden.
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keit6. Und so lässt sich der Journalist in der Tat als „Homo oeconomicus“ beschreiben: Wenn wir ihm unterstellen, dass er nicht an erster Stelle nach höherem Einkommen strebt. Viel wichtigere Anreize als Geld sind für Journalisten offenbar öffentliche Aufmerksamkeit – und damit einhergehend Selbstverwirklichung, Prestigegewinn, soziales Ansehen, leichterer Zugang zu exklusiven Quellen und auch Macht. Erst mittelbar kann ein hohes Aufmerksamkeitseinkommen möglicherweise auch zur Einkommenssteigerung führen.7 Ein Gehaltsbestandteil bei Journalisten ist schließlich die „Aufmerksamkeitsdividende”: Der privilegierte Zugang zu Eliten, zu gesellschaftlichen Ereignissen von Rang und zur Öffentlichkeit, die Chance, sich gedruckt zu sehen, und die damit einhergehende Selbstverwirklichung werden von den Verlegern als „geldwerte” Vorteile eingestuft. Journalisten müssen sie meist mit Gehaltsverzicht „erkaufen”. Da Journalisten beim Berufseinstieg in der Regel bereits wissen, dass mit einer akademischen Ausbildung anderswo höhere Einkommen zu erzielen sind, dürften materielle Interessen in ihrem Kalkül also keine herausragende Rolle spielen. Der Beruf wird – zumindest anfangs – oft als Berufung gesehen. Erst im Verlauf eines journalistischen Berufslebens verschieben sich die Präferenzen: Das Einkommen wird wichtiger – sei es wegen familiärer Verpflichtungen und gestiegener Ansprüche, sei es, weil der Beruf weniger idealistisch und damit nicht mehr als „Berufung” eingeschätzt wird; viele Journalisten wechseln in die Öffentlichkeitsarbeit über (vgl. z.B. Marr et al. 2001: 97).
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Selbstverständlich ist Günther Bentele Recht zu geben, wenn dieser moniert, Kommunikationsprozesse würden verkürzt dargestellt, reduzierte man sie auf „Tauschakte” (vgl. Diskussion im Rahmen eines Vortrags bei der DGPuK-Jahrestagung 2004 in Erfurt). Gleichwohl halten wir diese bewusste Reduktion für eine ökonomische Analyse journalistischer Interaktionen für sinnvoll. Warum Journalisten sich mit vergleichsweise niedrigen Einkommen zufrieden geben müssen, haben Becker et al. (1996) – implizit erkennbar ökonomisch – mit dem Überangebot an Arbeitskräften erklärt: Die jährliche Zahl der Absolventen kommunikationswissenschaftlicher Studiengänge bzw. Journalism Schools übersteigt in Amerika bei weitem die Einstiegsmöglichkeiten in den Beruf. Besonders viele Nachwuchs-Journalisten drängten dort zudem in den Fernsehbereich, wo infolgedessen – auch im Vergleich zu den Zeitungen – noch niedrigere Gehälter gezahlt würden. Eine ähnliche Situation ergibt sich für den europäischen Raum, wo das Überangebot an journalistischen Arbeitskräften seit der Medienkrise 2001/2002 noch zugenommen hat und die Preise weiter drückt. Umgekehrt konnte man andererseits beobachten, wie die Gehälter für Wirtschaftsjournalisten im Gefolge des Börsenbooms zeitweilig explodierten, da die vielen neu gegründeten Wirtschaftstitel kaum qualifizierte Finanzjournalisten finden konnten (vgl. Klusmann 2002).
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Abbildung 1: Homo Oeconomicus und Rahmenbedingungen Knappe Ressourcen (Zeit, Geld, Information, …)
Homo oeconomicus
Präferenzen
Ziel: EigennutzMaximierung (materiell/immateriell)
Restriktionen (Normen, Regeln, …)
Unter der Maßgabe, dass Journalisten primär an der Maximierung von Aufmerksamkeit interessiert sind, können wir nun auch auf den Journalismus das Forschungsprogramm der Ökonomik anwenden, welches Braun (1999: 39f.) wie folgt beschreibt: „Jeder Mensch, egal in welchem Bereich er handelt, wird in Analogie zum Wirtschaftssubjekt konstruiert. Bei jedem (materiellen oder immateriellen) Gut, was man also anstrebt, wird die Kalkulation wie eine Preisberechnung behandelt, die der Akteur in seinem Inneren vornimmt.“
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Mikroebene: Der Journalist als „Homo oeconomicus“ im Laborversuch
Lassen wir nun den Worten Taten folgen – und die heuristische Kraft der Ökonomik für die Journalismusforschung auf der Mikroebene erproben. Michael Jäckel hat die Kernaussagen des handlungstheoretischen Paradigmas bereits dargelegt.8 Daran anknüpfend, spielen wir im Folgenden beispielhaft 8
In aller Kürze seien sie noch einmal zusammengefasst: Der rationale Akteur („Homo oeconomicus“) sucht in Interaktionen seinen eigenen Vorteil zu maximieren. Dabei handelt er unter Bedingungen der Ressourcenknappheit. Er wird von Präferenzen geleitet, wenn er eine Entscheidung trifft. Zugleich begrenzen Restriktionen die Handlungsmöglichkeiten des
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einige alltägliche Situationen durch, in die Journalisten bei ihrer Arbeit geraten könnten – und verweisen dabei auf die Eckpfeiler des ökonomischen Analyseansatzes. Abbildung 2: Homo oeconomicus und Anreize Soziale Anreize
Materielle Anreize
Homo oeconomicus
Sonstige zweckbestimmte Anreize
Der „eigennützige” Akteur, von dem die Ökonomik ausgeht, befindet sich stets „in einer Situation der Knappheit, so dass er nicht alle Bedürfnisse (gleichzeitig) befriedigen kann, sondern sich jeweils zwischen mehreren Möglichkeiten entscheiden muss.” (Kirchgässner 1991: 12f.) Stellen wir uns also vor, dass ein Journalist für eine Tageszeitung eine aufwendige Reportage über Korruption in Deutschland recherchieren möchte. Gleichzeitig ist er jedoch in das Tagesgeschäft seines Blatts eingebunden, bei dem er als Redakteur die InnenpolitikSeiten betreut: Er muss an Redaktionskonferenzen zur Planung der Seiten teilnehmen, Agenturmaterial sichten, Kollegen auf Termine schicken und Manuskripte bearbeiten. Der Journalist befindet sich damit in einer Situation der Knappheit, was seine Zeit und Arbeitskraft angeht. Er muss sich also gut überlegen, wie er seine Ressourcen am besten zu seinem Vorteil – und zum Nutzen der Redaktion – einsetzen kann. Zwei Handlungsalternativen muss der rationale Journalist folglich gegeneinander abwägen:
Akteurs. Aufgrund beschränkter Fähigkeiten zur Aufnahme und Verarbeitung von Informationen kann der rationale Akteur jedoch stets allenfalls hinreichend informiert sind („bounded rationality“) und in seinen Interaktionen zudem allenfalls befriedigende, jedoch keine optimalen Verhandlungsergebnisse erzielen („satisficing“ statt „optimizing“).
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Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl Option A: Er verzichtet auf die Recherche und erfüllt seine Pflichtaufgaben gut. Option B: Er wagt sich als Kür an die Reportage und vernachlässigt seine Hauptaufgaben.
Angesichts seiner begrenzten Ressourcen macht sich der Journalist bewusst: Es wäre ein Kraftakt, neben der täglichen Redaktionsarbeit eine große Recherche über Korruption zu beginnen. Dennoch entscheidet er sich, die aufwendige Reportage in Angriff zu nehmen – und notfalls in nächster Zeit etwas weniger Sorgfalt auf die redaktionelle Gestaltung „seiner” Seiten zu verwenden. Warum? Ein Blick auf die Rahmenbedingungen in der Redaktion klärt diese Frage: An der Spitze der Zeitung hat gerade ein Wechsel stattgefunden, und der Journalist möchte sich gern beim neuen Chefredakteur einen Namen machen – zumal dieser angeblich schon bald den lange vakanten Posten des Chefreporters neu besetzen will. Der Journalist hat sich also bei der Auswahl zwischen den beiden Alternativen für die Option entschieden, „die seinen Präferenzen am ehesten entspricht” und „von der er sich den höchsten ‚Netto-Nutzen’” erhofft (Kirchgässner 1991: 14). Menschliches Verhalten wird somit in diesem Modell als rationale Auswahl aus den dem Individuum zur Verfügung stehenden Alternativen oder auch, um in der Sprache der Ökonomie zu reden, als „Nutzenmaximierung unter Nebenbedingungen der Unsicherheit“ interpretiert. (ebd.)
Doch hat der Journalist überhaupt eine Chance auf diesen begehrten Posten? Soll die Stelle des Chefreporters noch in diesem oder erst im nächsten Jahr besetzt werden? Ist an der Korruptionsgeschichte wirklich so viel „dran”, dass der Aufwand lohnt? Und schätzt der neue Chefredakteur es am Ende überhaupt, wenn Routineaufgaben vernachlässigt werden, um prestigeträchtige Einzelprojekte zu verwirklichen? All diese Fragen stellt sich der Journalist – und muss sich daher vor dem Schleier der Ungewissheit entscheiden, ohne die Antworten zu kennen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird der Journalist bei seiner Abwägung von Handlungsalternativen nur eingeschränkt rational vorgehen können: Wie bereits erwähnt, nehmen Ökonomiker an, dass Akteure sich bei meist unvollständiger Information nur begrenzt rational verhalten können (vgl. Simon 1983; Downs 1968: 202). Für alle rationalen Akteure besteht in Entscheidungssituationen nämlich insofern ein „Informationsproblem”, als die Beschaffung und Verarbeitung vollständiger Information zu einer Entscheidungssituation in der Regel mit unverhältnismäßig hohen „Kosten” verbunden ist. Statt nach der optimalen Tauschmöglichkeit weiterzusuchen, wird der ein-
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geschränkt rationale Akteur also die Suche abbrechen, sobald ein Tausch ein zufriedenstellendes Ergebnis verheißt. Rationales Handeln wird aus ökonomischer Sicht weiterhin durch die Präferenzen der Akteure gesteuert. Damit gemeint sind die Interessen, Motive und Ziele der Akteure, die ihr Verhalten bestimmen. Der Journalist in unserem Beispiel hat gleich mehrere Beweggründe, die Reportage über Korruption zu beginnen: Er wird von sozialen Anreizen geleitet – denn er möchte sich mit seinem Beitrag in der eigenen Redaktion als hartnäckiger Rechercheur profilieren, der für die demnächst freiwerdende Stelle des Chefreporters der richtige Mann ist. Er wird von materiellen Motiven getrieben – denn der begehrenswerte Job wäre mit einem Gehaltszuwachs verbunden. Und er wird von „zweckbestimmten”, also sich aus den Zielen der Organisation ergebenden Anreizen geleitet – weil er zum Renommee der Zeitung beitragen und sich zugleich im Kampf gegen Korruption engagieren möchte: Je nach Wertorientierung können es also sehr komplexe Zielsysteme sein, an denen der einzelne sein Handeln ausrichtet. „Die Nutzenfunktion des [modernen] Homo oeconomicus [ist] prinzipiell offen”, so Kirchgässner (1997: 24). Rationales Handeln zielt auf Effektivität und Effizienz des Mitteleinsatzes, jedoch nicht zwingend auf enge Zielvorgaben wie den größtmöglichen Gewinn oder den persönlichen finanziellen Vorteil. In der ökonomischen Analyse wird der Begriff rational niemals auf die Ziele, sondern stets nur auf die Mittel eines Handlungsträgers angewendet (Downs 1968: 5). Der geringstmögliche Aufwand, den der Journalist in diesem Beispiel betreiben muss, um auf der Karriereleiter ein Stück voranzukommen, wäre eine große Korruptionsreportage bei gleichzeitiger Vernachlässigung seiner Routineaufgaben. Das hat er gleich erkannt, als er den Jahresbericht des Netzwerks gegen Korruption „Transparency International” in die Hände bekam. Ergo hat er den ebenfalls auf seinem Schreibtisch liegenden Tätigkeitsbericht des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit beiseite gelegt, denn ein Beitrag über die deutsche Entwicklungshilfe im Ausland verspräche vergleichsweise wenig Aussicht auf Aufmerksamkeit. Der Journalist handelt also bei der Sichtung des eingehenden Materials „nicht zufällig”, sondern er reagiert „in systematischer und damit vorhersehbarer Weise” (Frey 1990: 4). Er verhält sich rational, indem er das Thema Korruption aufnimmt und das Thema Entwicklungshilfe liegen lässt, weil ihm die eine Handlungsmöglichkeit „vorteilhafter” und die andere „ungünstiger” erscheint. Der Journalist geht also mit der Absicht in die nächste Redaktionskonferenz, die Reportage über Korruption in Deutschland vorzuschlagen. Doch dort
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stellt sich heraus: Er ist nicht der Einzige, der der neuen Führung auffallen möchte. Unerwartet schlägt seine Kollegin im Politikressort in der Redaktionskonferenz eine große Geschichte über Misswirtschaft im Verteidigungsministerium vor. Offenbar befindet sich der Journalist bereits in einem Wettbewerb um die Gunst des Chefredakteurs und die Stelle des Chefreporters. In der Ökonomik wird Wettbewerb als Konstellation mit mindestens drei Akteuren bezeichnet (vgl. Homann & Suchanek 2000: 168, 249). Im hier behandelten Fall wären das der Chefredakteur, der demnächst die Stelle des Chefreporters besetzt, sowie der Journalist und seine Kollegin, die um die Stelle konkurrieren. Doch nicht genug, dass bereits eine Konkurrenz um die Aufmerksamkeit des neuen Chefs entbrannt ist: Kaum, dass der Journalist für sein Thema Korruption geworben hat, macht der Sportchef das Platzproblem geltend: Demnächst beginnen die Olympischen Spiele, für die längst tägliche Extra-Seiten eingeplant sind. Der Chef vom Dienst spricht die Kostenfrage an, denn das Redaktionsbudget ist für dieses Quartal so gut wie ausgeschöpft, und es gibt kaum noch Mittel für Reisekosten und Vertretungslösungen. Der Journalist kann also keine Vertretung beantragen und auch nicht sicher mit redaktionellem Platz für seine Reportage rechnen. Ein Ökonomiker würde konstatieren: Die Möglichkeiten des Journalisten, seine Recherche zu realisieren, sind durch eine Reihe von Restriktionen eingeschränkt, welche die EntscheidungsOptionen des Individuums begrenzen. „[I]nnerhalb dieses Handlungsspielraums liegen die einzelnen Handlungsmöglichkeiten, die ihm zur Verfügung stehen und aus denen es auswählen muss.” (Kirchgässner 1991: 13) Während der Journalist nach der unerfreulichen Redaktionskonferenz noch über weitere Handlungsoptionen nachdenkt, tritt seine Kollegin an den Schreibtisch und bietet ihm einen „Deal” an: Wenn er sie nächste Woche beim „Seitenbauen” vertritt, so dass sie in Ruhe ihre Ministeriums-Geschichte recherchieren kann, wird sie übernächste Woche für ihn einspringen, damit er Zeit für seine Korruptions-Reportage hat. Eine gute Idee, denkt der Journalist – und hält dann doch inne: Was, wenn die Kollegin eine Woche eher mit ihrer Geschichte herauskommt und damit schon eine „Duftmarke” bei der neuen Chefredaktion setzt, während er noch an seiner Reportage arbeitet? Und was, wenn sie ihm zwar dieses Angebot macht, ihre Zusage auf Vertretung aber zurückzieht, sobald ihr eigenes Stück geschrieben ist? Unser Redakteur befindet sich angesichts des Kooperations-Angebots in einer verzwickten Situation, die Ökonomiker als Dilemma beschreiben würden. Dilemmata sind dadurch gekennzeichnet, dass sowohl gemeinsame als auch konfligierende Interessen von mindestens zwei Akteuren im Spiel sind und das
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Resultat der Interaktion davon abhängt, wie die Beteiligten zusammenwirken (Interdependenz). Soziale Interaktionen werden in der Ökonomik als Tauschhandel zwischen zwei oder mehr Akteuren interpretiert (vgl. Kirchgässner 1991: 8): Tausch ermöglicht eine Ausweitung von Handlungsmöglichkeiten. Ressourcen, über die ein anderer verfügt, können von einem selbst genutzt werden unter der Bedingung, dass man den anderen – durch einen Tausch – dafür kompensiert. [...] Der Tausch setzt keine gemeinsamen Ziele der Tauschpartner voraus. Gemeinsam ist nur das Interesse, das Tauschgeschäft zustande kommen zu lassen [...]. (Homann & Suchanek 2000: 145, 150)
Bei jedem Tausch, also bei jeder Interaktion, liegen zugleich gemeinsame und konfligierende Interessen vor, führen Homann & Suchanek (2000: 8) weiter aus. Die gemeinsamen Interessen bestehen demnach in den Vorteilen, die jeder der am Tauschhandel beteiligten Akteure aus der Interaktion zieht – Ökonomiker bezeichnen diese als „Kooperations-“ oder „Tauschgewinne“ („gains from trade“). „Die konfligierenden Interessen betreffen die Aufteilung der Kooperationsgewinne.” (ebd.) Gebräuchlichstes Tauschmittel ist Geld, doch gerade im Fall des Journalismus werden häufig immaterielle Güter wie „Informationen” gegen „Aufmerksamkeit” getauscht. Sowohl der Journalist als auch seine Kollegin haben ein Interesse an gegenseitiger Entlastung von Routineaufgaben. Ihre Interessen konfligieren aber insoweit, als beide um den Posten des Chefreporters konkurrieren. Zudem kennt der Journalist die Kollegin nicht gut genug, um halbwegs verlässliche Annahmen über ihr zu erwartendes Verhalten bilden zu können. Ökonomiker warnen: Interaktionen können aufgrund von Anreiz- oder Informationsproblemen scheitern (vgl. Homann & Suchanek 2000: 8). Der Journalist sucht daher Rat und bespricht sich beim Mittagessen mit einem älteren Redakteur, der schon mehrfach mit der betreffenden Kollegin zusammengearbeitet hat. Dieser ist der Ansicht, sie sei nicht sehr verlässlich. Beispielsweise habe sie letztes Jahr zugesagt, ihm am Wahltag für seine Reportage O-Töne aus den Parteizentralen zu besorgen. Dann aber habe sie aus den Zitaten, die sie gesammelt hatte, kurzerhand selbst eine witzige Glosse gemacht und dem Chefredakteur angeboten – der gleich zugegriffen habe, während er selbst nun mit einem nur halbfertigen Beitrag dastand. Offenbar war es der Kollegin also wichtiger, bei der Redaktionsleitung zu glänzen, als die Abmachung einzuhalten: Ihr Interesse, auf sich aufmerksam zu machen, war größer als der Wunsch, sich die Kooperationsbereitschaft des Kollegen zu erhalten und gemeinsam eine gelungene Reportage über den Wahltag zu erstellen.
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Die Zweifel des Journalisten sind durch das Gespräch mit dem älteren Kollegen gewachsen: Was geschieht, wenn er seinen Teil der Abmachung erfüllt und die Kollegin entlastet – sie aber in der Folgewoche „unvorhersehbare neue Termine” vorschützt und ihn auf seinen redaktionellen Pflichten sitzen lässt, statt ihn, wie vereinbart, für seine Korruptions-Reportage zu entlasten? Ökonomiker würden sagen, dass in der hier gegebenen Situation die Gefahr des Defektierens besteht, d.h. der Interaktionspartner bricht eine Verabredung, um seinen eigenen Vorteil zu realisieren.9 Denn zum einen kann der einzelne Akteur die Befürchtung haben, dass er übervorteilt wird; zum anderen kann es – spiegelbildlich dazu – sein, dass er selbst einen Anreiz hat, einen oder mehrere Interaktionspartner „auszubeuten.” Zu beachten ist hier insbesondere der für Interaktionssituationen charakteristische Umstand, dass das erwartete Verhalten des anderen für das eigene Verhalten eine zentrale Rolle spielt: Bereits die Vermutung, man könnte vom anderen übervorteilt werden, wenn man sich kooperativ verhält, kann dazu führen, dass der eigene Beitrag zur Realisierung des gemeinsamen Projekts nicht geleistet wird; ein solches Verhalten wird auch als „präventive Gegenausbeutung” bezeichnet (vgl. Homann & Suchanek 2000: 35f.). Tatsächlich scheint dem Journalisten diese Gefahr nach dem Gespräch mit dem Redakteur in der Mittagspause noch größer. Nach einigem Überlegen schlägt er das Angebot seiner Kollegin aus. „Von der lasse ich mich doch nicht über den Tisch ziehen”, denkt er, als er sich auf den Weg zu ihr macht, um den „Deal” abzusagen. In die Sprache der Ökonomik übersetzt würde man seine Sorge so formulieren: „Wer im Sinne des gemeinsamen Interesses vorleistet, setzt sich der Ausbeutung aus.” Doch die Folge ist: Nun haben weder er noch seine Kollegin genug Zeit, ihre Reportagen zu machen – keiner der beiden realisiert mögliche „Kooperationsgewinne”. Aufgrund der unterschiedlichen Anreiz- und Informationslage, und da der Akteur sich niemals vollständig sicher sein kann, wie sein Interaktionspartner handeln wird, hat dies zur Folge, das mögliche Kooperationsgewinne nicht erzielt werden – weil Akteure präventiv defektieren, um sich vor Ausbeutung zu schützen. (Homann & Suchanek 2000: 39f., Hervorhebung im Original)
Wir haben diese Überlegungen an anderer Stelle (Fengler & Ruß-Mohl 2005) weiter ausgeführt. Bereits jetzt sollte jedoch modellhaft deutlich geworden sein:
9
Wobei der „Vertragsbruch” für den Akteur mit hohen „psychischen Kosten” der kognitiven Dissonanzen verbunden ist, „die entstehen, wenn der Spieler einem freundlichintendierten Akt unfreundlich entgegnet.” (Ockenfels 1999: 21)
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Das ökonomische Forschungsprogramm „funktioniert“ auch dann, wenn man es auf journalistische Fragestellungen bzw. redaktionelle Entscheidungsprozesse anwendet.
4
Makroebene: „Rudeljournalismus“ als Beispiel für negative externe Effekte
„Im Zentrum steht der Mensch”, beschreibt Frey (1990: 2) programmatisch das Gedankengebäude der Ökonomik, das wir nun am Beispiel eines Politikredakteurs in wichtigen Grundzügen durchgespielt haben.10 „Sein Handeln wird durch seine Wünsche und die ihm gesetzten Einschränkungen bestimmt.“ Doch die Ökonomik will mehr als nur individuelles Verhalten erklären. „Das auf der Ebene der Gesellschaft beobachtbare Geschehen wird auf das Handeln von Personen zurückgeführt (methodologischer Individualismus),“ führt Frey weiter aus (ebd.: 4). Zu Recht hat Michael Jäckel in seinem Beitrag darauf aufmerksam gemacht, dass das Erkenntnisinteresse des methodologischen Individualismus letztlich auf der Makro-Ebene liegt. Und so muss auch die zentrale Frage einer Ökonomik des Journalismus lauten: Wie wirkt sich nutzenmaximierendes Verhalten vieler einzelner Journalisten in seiner Aggregation auf der Makroebene auf den Journalismus aus? Denn erst aus vielen eigeninteressiert-intentionalen Entscheidungen einzelner Akteure ergeben sich auf Ebene der Gesellschaft eben jene oftmals nicht-intendierten Resultate (so genannte „externe Effekte“), die für (Kommunikations-)Wissenschaftler von Interesse sind. Genau damit, also mit den aggregierten Folgen individuellen Handelns auf der Makro-Ebene, befasst sich die Ökonomik (vgl. Becker 1993: 403). Wenn der methodologische Individualismus auch in der Journalismusforschung den einzelnen Akteur als Entscheidungsträger in den Mittelpunkt rückt, darf dies jedoch nicht mit normativen Ansätzen wie beispielsweise dem Emil Dovifats zur „Publizistischen Persönlichkeit” oder Herrmann Boventers zur „Individualethik” verwechselt werden: Die Ökonomik interessiert sich letztlich
10
Homann & Suchanek (2000: 22) ergänzen: „Dabei werden unter ‚Akteuren’ [...] letztlich immer natürliche Personen verstanden. Im übertragenen Sinn kann man für ganz bestimmte Fragestellungen unter ‚Akteuren’ aber auch kollektive Akteure wie Haushalte, Unternehmen und sogar Staaten verstehen. Die Theorie fokussiert hier immer wieder auf einen ‚Akteur’, der seine Interessen verfolgt, und sein Verhalten wird analog dem Verhalten einer natürlichen Person modelliert.”
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nicht für das Handeln einzelner Journalisten, sondern für das aggregierte Ergebnis des Verhaltens vieler, die zu ihrem eigenen Vorteil rational handeln. Ein gutes Beispiel ist der von Beobachtern zunehmend kritisierte „Rudeljournalismus” (Theo Sommer, Die Zeit) oder „Herdentrieb” (Hartmann von der Tann, ARD). Rudelverhalten im Journalismus lässt sich ökonomisch erklären und ist ein weiterer Beleg für das rationale Kalkül, das sich hinter vielen redaktionellen Entscheidungen verbirgt. Nehmen wir den vielfach diskutierten CDU-Spendenskandal 1999/2000 als Beispiel. Auf die Medienagenda gebracht wurde das Thema insbesondere von Hans Leyendecker von der Süddeutschen Zeitung: Er recherchierte investigativ – mit einem hohen Einsatz an Ressourcen wie Zeit und Arbeitskraft und mit Hilfe seines Netzwerks gut informierter Quellen (vgl. Ludwig 2002: 144). Für seine Redaktion war der Einsatz risikobehaftet – denn eine gründliche und ergebnisoffene Recherche hätte ja auch zu dem Schluss kommen können, dass Leyendecker auf der falschen Fährte war und dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl und den CDU-Funktionären kein Fehlverhalten nachzuweisen sein würde. Als Leyendecker dann schließlich seine Rechercheergebnisse publizierte, profitierten umgehend auch andere Journalisten und Medien „kostenlos” von Leyendeckers Vorleistung – indem sie die Recherche-Ergebnisse des „Frontrunners” zitierten. Ihre Eigenleistung bestand allenfalls darin, die Geschichte weiter zu drehen. Leyendeckers Exklusiv-Nachricht wurde zum öffentlichen Gut: Offensichtlich hat der CDU-Spendenskandal unzähligen Berufskollegen die Möglichkeit geboten, sich als „free-rider” zu verhalten und von den Vorleistungen des SZ-Kollegen zu profitieren. Ob der Journalist als „Homo oeconomicus” eher seine eigenen individuellen Interessen, die Interessen der Redaktion oder sogar seines Berufsstands insgesamt vertritt, hängt nach Mancur Olsons „Theorie des kollektiven Handelns” (1968) entscheidend von der jeweiligen Gruppengröße in der konkreten Handlungssituation ab. Zum „Trittbrettfahrer”, der von den Vorleistungen anderer profitiert, werden auch Journalisten mit zunehmender Wahrscheinlichkeit, je größer die Gruppe ist, der sie angehören und je weniger der eigene Beitrag zum Wohl der Gruppe – oder aber die eigene Bereicherung auf Kosten der Gruppe – den anderen Gruppenmitgliedern auffallen dürfte (vgl. auch Braun 1999: 51). In Kleingruppen werden sich auch Journalisten eher für das Gruppeninteresse einsetzen, weil dort ihr Handeln für das Erreichen des Gruppeninteresses wahrnehmbar und wichtig ist.
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Hans Mathias Kepplinger (2001: 47) hat übrigens empirisch nachweisen können, dass sich die eigentlichen journalistischen Rechercheleistungen bei der Aufdeckung von Skandalen regelmäßig auf eine kleine Gruppe von Journalisten beschränken, die meist für Elite-Medien, also national verbreitete Printmedien oder die politischen Fernsehmagazine insbesondere der öffentlichrechtlichen Anstalten arbeiten. Die Mehrheit der Journalisten hingegen verhält sich „ressourcensparend” – aus Eigennutz und/oder aus Mangel an Zeit, Arbeitskraft und Informanten. Sie überlassen den Leitmedien investigative Recherchen und damit auch die Aufdeckung von Skandalen. Anschließend profitieren sie jedoch von deren Arbeit und publizieren groß aufgemacht die fremden Rechercheergebnisse. Die negative Folge dieses Kalküls, also die bereits angesprochenen „externen Effekte“, beschreibt Hamilton (2004: 27, 23): The fixed cost of learning also tips the balance in story selection toward continuing coverage of a given event rather than undertaking new investigations. This prolongs the life of stories, since journalists may find it cheaper to write a ›reaction‹ story that follows up on a topic they understand from prior reporting. [...] In addition, journalists may face greater penalties within their news organizations for going against a perceived wisdom in coverage the greater the consensus is among journalists covering a story. [...] Herding can also lead to errors of fact and interpretation, however. If the early reporters investigating a story get it wrong, herding by later reporters can magnify the problem.
Aus diesem „free-riding” resultieren auch die bekannten Exzesse der Medienberichterstattung, wie etwa in der Clinton-Lewinsky-Affäre, aber auch bei der Berichterstattung über Themen wie BSE, Anthrax und SARS: Weil bestimmte Informationen zu öffentlichen Gütern geworden sind und damit nichts oder – infolge von Zusatzrecherchen – nur wenig „kosten”, stürzen sich alle Medien auf dasselbe Thema und „lutschen es aus”. Es kommt zur Übernutzung – ein Phänomen, das Ökonomiker wiederum seit langem als „die Tragik der Allmende” kennen (Matzner 1982; Sutter 2001).11
11
Unter der „Tragik der Allmende” versteht man in der Volkswirtschaftslehre die Beobachtung, dass Menschen weniger leisten, wenn sie kollektiv tätig sind, der individuelle Ertrag jedoch nicht kontrolliert wird. Dieses Problem tritt in Allmenden auf. Die Allmende (auch: Allmande, wahrscheinlich von mittelhochdeutsch „was allen gemein ist”) ist ein im Besitz einer Dorfgemeinschaft befindliches Grundeigentum. Weil es allen Bauern zur Verfügung steht, besteht die Gefahr, dass auch alle ihr Vieh dorthin treiben und so die Fläche übernutzt wird – mit dem Endergebnis, dass dort kein Futter mehr wächst und somit die Allmende niemandem mehr nützt. Die Allmende ist jener Teil des Gemeindevermögens, der nicht unmittelbar im Interesse der ganzen Gemeinde zur Bestreitung von Ausgaben verwandt wird, sondern an dem alle Gemeindemitglieder das Recht zur Nutzung haben. In
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Für den Journalismus prognostiziert Hamilton als Konsequenz des „Trittbrettfahrertums” eine weitere Abnahme des investigativen Journalismus: Competitors’ ability to confirm and appropriate a story once an idea is circulated reduces the incentives for journalists to spend large amounts of time on original, investigative reporting. [...] The difficulties of translating the public benefits from excellent news coverage into private incentives for owners or reporters can leave stories about government undone. (Hamilton 2004: 2)
Als „Homo oeconomicus” umgeht der rationale Journalist durch „Rudelverhalten” das Risiko, das „falsche” Thema zu recherchieren, das am Ende wenig Aufmerksamkeit einbringt – oder zu dem kein Gesprächspartner öffentlich Stellung beziehen will.12 Was wir als „Rudeljournalismus“ beklagen, ist also letztlich ein „externer Effekt“ der Entscheidungen vieler einzelner Journalisten, die innerhalb der ihnen gegebenen Rahmenbedingungen und Restriktionen rational handeln. Das Ergebnis und damit die gesellschaftliche Folgewirkung solchen Rudelverhaltens kann jedoch in hohem Masse unerwünscht sein, zumal bestimmte Akteure – wie Politiker, aber beispielsweise auch Terroristen – mit genau diesem Verhalten kalkulieren: Ganze Gesellschaften werden mitunter in kollektive Angstzustände (z.B. vor BSE, Vogelgrippe oder neuen Terroranschlägen) versetzt, und so werden letztlich auch massiv Ressourcen von einem Bereich in einen anderen verschoben (Ruß-Mohl 1980). Ein einziges Thema (z.B. der ClintonLewinsky-Skandal, der Parteispenden-Skandal der CDU oder das ElbeHochwasser vor der Bundestagswahl 2002) verdrängt wochen- oder monatelang alle anderen Themen aus der öffentlichen Wahrnehmung und damit auch von der politischen Agenda.
5
Fazit
Aus unserer Sicht besitzt die Ökonomik als Theorieentwurf auch im Bereich der Kommunikationswissenschaft die folgenden fünf Vorzüge:
12
Allmenden werden also Ressourcen stärker ausgebeutet, als dies ökonomisch sinnvoll ist. Gegenmaßnahmen sind Kontrolle oder Besitz. Seine Machtstellung gewinnt der Spiegel umgekehrt nicht allein aus seiner Millionenauflage, sondern auch aus den Multiplikatoreffekten, die er daraus erzielt, dass andere Medien seine Themen aufgreifen – rund 180.000 Mal im Jahr, wie ein früherer Leiter der Abteilung Information beim Hamburger Nachrichtenmagazin bereits vor ein paar Jahren verkündete (Lohfeldt 2000).
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Sie rechnet realistischerweise mit dem Eigennutz als Triebkraft menschlichen Handelns – allerdings ohne Aussagen über die jeweils konkreten Handlungs-Motive der Akteure zu machen. Die Ökonomik basiert auf einfachen und verständlichen Annahmen. Ein Anschluss an andere, für die Kommunikationswissenschaft relevante theoretische Bezugsrahmen, wie eben die Systemtheorie, ist möglich. Insofern mag es durchaus sein, dass wir in einem fortgeschrittenen Stadium der Theorieentwicklung, wie von Jäckel vorgeschlagen, beim „Homo SocioOeconomicus“ landen. Derzeit gibt es in der Kommunikationswissenschaft – im Vergleich zu anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen – nach jahrzehntelanger Dominanz des systemtheoretischen Paradigmas jedoch erst einmal Nachholbedarf in puncto Ökonomik: Viele Aspekte der Medienentwicklung und des Journalismus werden verständlicher und nachvollziehbarer, wenn wir sie mit Hilfe der Ökonomik analysieren (zur Vertiefung: Fengler & Ruß-Mohl 2005). Die Ökonomik ist vielseitig, denn ihre Anwendbarkeit beschränkt sich keinesfalls nur auf Tauschakte, bei denen Geld im Spiel ist. Die Ökonomik eröffnet als Theorieansatz interdisziplinär, also in ganz unterschiedlichen Disziplinen und Wissensbereichen, Chancen des Erkenntnisgewinns. Die Ökonomik ist eine positive Wissenschaft, die – ohne moralische Wertung – erklärt, was unter bestimmten Bedingungen geschieht – und nicht, was geschehen soll. Policy-Entwürfe, die auf diesem Ansatz basieren und damit rechnen, dass Menschen Regulierungen, die ihren Eigennutz beeinträchtigen, auf kreative Weise zu umgehen suchen, statt sie einfach zu akzeptieren und „gehorsam“ zu implementieren, wirken nachhaltiger als bloße Appelle – beispielsweise an den Goodwill der Journalisten, wie sie Medienkritiker und Politiker gerne äußern, so etwa Johannes Rau in seiner Abschiedsrede als Bundespräsident. Ökonomiker wie Bruno S. Frey (1990: 38) sind fraglos nüchterner als ehemalige Pastoren: Fordert man Menschen auf, sich „moralisch” zu verhalten, erwartet man von ihnen, dass sie auf persönliche Vorteile verzichten. Dies ist jedoch illusionär. Der Realität der Medien – vom Rudeljournalismus politischer Affären seit Watergate bis hin zu den jüngsten Skandalen in verschiedenen Sportredaktionen der ARD – beweist in den unterschiedlichsten Ausprägungen: Auch der Journalist handelt als „Homo oeconomicus“.
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AKTEURKONSTELLATIONEN
Handeln in Konstellationen: Die reflexive Konstitution von handelndem Zusammenwirken und sozialen Strukturen Uwe Schimank
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Einleitung
Ich stelle im vorliegenden Beitrag eine soziologische Theorieperspektive vor, die akteurtheoretisch fundiert ist und gesellschaftliche Phänomene wie etwa den hier interessierenden Journalismus differenzierungstheoretisch erfasst. Diese Perspektive unterscheidet sich von einer durch Talcott Parsons und Niklas Luhmann geprägten systemtheoretischen Herangehensweise an gesellschaftliche Differenzierung, auch wenn wichtige Einsichten dieser Herangehensweise aufgegriffen und akteurtheoretisch reformuliert werden. Ohne hier ins Detail gehen zu können, präsentiere ich meine Perspektive in einer Serie von Leitsätzen, die vor allem deutlich machen sollen, worin die Fragerichtung dieser Art von Soziologie besteht und wie der Bezugsrahmen aussieht, in dem sich die theoretischen Werkzeuge zur Beantwortung der gestellten Fragen befinden.1
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Handelndes Zusammenwirken und soziale Strukturen
Am Anfang der Darlegung einer Theorieperspektive sollte man benennen, welche Art von Fragen man mit ihr in den Blick bekommt: Analysegegenstand 1
Für eine ausführliche Darstellung der akteurtheoretischen Grundlagen vgl. Schimank (2000). Die soziologischen Differenzierungstheorien sind in Schimank (1996) aufgearbeitet; vgl. ferner Schimank und Volkmann (1999).
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Uwe Schimank
ist die wechselseitige Konstitution von handelndem Zusammenwirken und sozialen Strukturen. Eine akteur- oder handlungstheoretische Perspektive wird oft so missverstanden, als ginge es im Kern um die Erklärung von Handeln. Doch das einzelne Handeln ist in dieser Perspektive nur insoweit von Interesse, wie es in handelndes Zusammenwirken eingeht. Die Frage, warum ein bestimmter Akteur in einer bestimmten Situation so und nicht anders gehandelt hat, ist keineswegs der zentrale Bezugspunkt der Analyse, sondern lediglich eine Vorfrage. Für sich genommen interessiert also beispielsweise nicht, warum ein Sportjournalist einen Dopingfall aufgreift und auf bestimmte Weise in einem Zeitungsartikel darstellt – oder warum er es unterlässt. Interessant ist vielmehr, wie dieser Artikel im Spektrum anderer die öffentliche Meinung mitprägt und daraus vielleicht über etliche Zwischenschritte bestimmte Entscheidungen der Sportverbände hervorgehen – oder warum das nicht passiert. Auch das Ausbleiben eines handelnden Zusammenwirkens, das man hätte erwarten können, kann interessant im Sinne von erklärungsbedürftig sein: Warum können Sportverbände Dopingvorwürfe der Journalisten oftmals ignorieren? Dass die Erklärung des einzelnen Handelns nicht das eigentliche Interesse darstellt, hat eine wichtige methodologische Konsequenz. Die stets knappe Aufmerksamkeit, die man einem Erklärungsgegenstand zu widmen vermag, sollte so wenig wie möglich vom Einzelhandeln beansprucht werden, damit umso mehr Aufmerksamkeit für das handelnde Zusammenwirken und die Dynamiken sozialer Strukturen bleibt. Auch wenn man als methodologischer Individualist davon ausgeht, dass einzelne Handlungen individueller Akteure die Grundelemente jeglichen sozialen Geschehens darstellen, gewinnen diese doch ihren sozialen Stellenwert und damit auch ihre Erklärungskraft in der Relationierung mit anderen Elementen dieser Art. Diese Relationen des handelnden Zusammenwirkens haben daher im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, nicht die einzelnen Elemente. Wo immer man die Erklärung der einzelnen Handlungen also abkürzen oder sogar ganz weglassen und sich mit einer bloßen Beschreibung der faktisch stattfindenden Handlungen begnügen kann, sollte man das tun. Wenn etwa empirisch evident ist, dass bestimmte Ereignisse wie z.B. Fußballländerspiele eine Menge Sportjournalisten auf engstem Raum zusammenbringen, verspricht die Erklärung dieser offenkundigen Tatsache wenig soziologisch Neues; aber was an wechselseitiger Überbietung oder Angleichung der Berichterstattung aus dieser temporären hohen sozialen Dichte hervorgeht, verdient eine genauere Betrachtung und größere Erklärungsanstrengungen.
Handeln in Konstellationen
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Akteurtheorie ist also eine „relational sociology“ (Emirbayer 1997). Allerdings geschieht das handelnde Zusammenwirken nicht im luftleeren Raum, sondern ist eingebettet in soziale Strukturen, von denen es – über das einzelne Handeln vermittelt – geprägt wird und die es umgekehrt prägt. Selbst ein Handeln, das bestimmte Strukturen gezielt missachtet, ist durch diese geprägt. Wenn ein Journalist etwa Äußerungen eines Gesprächspartners unter Nennung von dessen Namen veröffentlicht, obwohl zuvor Vertraulichkeit vereinbart worden war, verletzt er eine Norm; und weil ihm dies bewusst ist, wird er bestimmte Vorsorgen treffen und auf bestimmte Reaktionen gefasst sein. Soziale Strukturen schränken oftmals Handlungsmöglichkeiten und den Möglichkeitsraum der Effekte handelnden Zusammenwirkens ein; in anderen Fällen eröffnen Strukturen aber auch sonst nicht gegebene Möglichkeiten. Beispielsweise ermöglicht erst ein Gesetz, das bestimmte Arten des Doping unter Strafe stellt, dessen Strafverfolgung durch Polizei und Gerichte; und in dem Maße, in dem dies wirksam Doping verhinderte, brauchen Athleten nicht mehr zu überlegen, ob sie, wenn sie erfolgreich sein wollen, überhaupt die Handlungsoption haben, sich nicht zu dopen. Dieses Beispiel illustriert auch die beiden grundsätzlichen Arten, wie umgekehrt handelndes Zusammenwirken soziale Strukturen prägt. Wenn das Parlament ein Gesetz verabschiedet, gestaltet das handelnde Zusammenwirken der Abgeordneten eine normative Regel, die dann wiederum anderes Handeln prägt. Damit liegt die intentionale Prägung einer sozialen Struktur vor. Weitaus häufiger sind aber transintentionale Struktureffekte des handelnden Zusammenwirkens: Intentionales Handeln geht, früher oder später, in transintentionales handelndes Zusammenwirken und in entsprechende Dynamiken des Aufbaus, der Erhaltung oder der Veränderung sozialer Strukturen über. Jedes Handeln ist intentional in dem Sinne, dass der betreffende Akteur damit einen „subjektiven Sinn“ (Weber 1972 [1922]: 2) verbindet. Fehlte dieser, läge nur Verhalten vor. Intentionalität bedeutet allerdings nur in den seltensten Fällen, dass ein Akteur ein genaues Ziel vor Augen hat und anspruchsvolle Abwägungen anstellt, um sich dann nach einer differenzierten Bilanz für eine bestimmte Alternative der Zielverfolgung zu entscheiden. Auch wer einer eingeübten Routine folgt, geht davon aus, dass etwas Bestimmtes dabei herauskommt. Wie üblich schlage ich z.B. morgens einen bestimmten Weg ein, um zur Bushaltestelle zu gelangen, und rechne damit, dass dies wie jeden Morgen zum Erfolg führt – bis dann eines Morgens eine Baustelle ein Hindernis darstellt, das mich zu Überlegungen und einem längeren Umweg nötigt. In anderen Fällen beschränkt sich Intentionalität fast ganz auf ein eigenes inneres Be-
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Uwe Schimank
finden – wenn sich jemand nicht etwa deshalb an eine Norm hält, weil er sich die negativen Effekte allseitiger Normverletzungen vor Augen führt oder das Risiko, erwischt und bestraft zu werden, kalkuliert, sondern nur, weil er erfahrungsgemäß Gewissensbisse bekäme. Wer eine Handlung in die Welt setzt und mit ihr eine bestimmte Intention verfolgt, darf sich nicht darüber wundern, wenn am Ende etwas ganz anderes daraus resultiert. Erstaunlich ist vielmehr erfolgreiche und auch noch nebenwirkungsfreie Intentionalität. Der Regelfall ist Transintentionalität. Dies kann schon beim monologischen, nicht-sozialen Handeln passieren: Ich betätige eine bestimmte Tastenkombination an meinem PC, und es geschieht etwas ganz anderes als erwartet. Erst recht und eigentlich soziologisch interessant tritt Transintentionalität im handelnden Zusammenwirken ein. Das Handeln anderer kommt meinem auf die eine oder andere Weise in die Quere – und meines ihrem. Die eine grundlegende Art von Transintentionalität ist gescheiterte Intentionalität. Ein Akteur bezweckt etwas Bestimmtes und muss dann feststellen, dass er dies aufgrund von Interferenzen mit dem Handeln anderer nicht erreicht oder nur unter gravierenden, seine Zielverfolgung überschattenden negativen Nebenwirkungen, und auf jeden Fall nur für eine begrenzte Zeit. Jeder Kompromiss, den man in irgendeiner Situation macht, ist bereits ein Fall gescheiterter Intentionalität, auch wenn der Akteur im Nachhinein noch ganz zufrieden ist oder sogar von vornherein realistisch damit gerechnet hat. Doch eigentlich wollte er etwas anderes. Die zweite grundlegende Art von Transintentionalität besteht in von den betreffenden Akteuren dauerhaft unbeachteten oder zunächst unbeachteten und sich dann aber ihrer Aufmerksamkeit aufdrängenden Wirkungen. Die Akteure realisieren ihre Intentionen oder scheitern damit; doch nebenher resultiert aus ihrem handelnden Zusammenwirken noch etwas, was sie entweder überhaupt nicht registrieren oder zwar beiläufig bemerken, aber nicht weiter wichtig nehmen. Solche Nebenwirkungen sind oft unerwünscht, fallen dann sicher auch eher auf, können aber auch positiver Art sein – wenn etwa die Anwesenheit vieler Journalisten bei einer Demonstration dafür sorgt, dass die Polizei weniger brutal vorgeht, weil sie die schlechte Presse fürchtet. Die Journalisten wollen nicht als Beschützer der Demonstranten auftreten, sondern sind auf der Jagd nach einer guten Story. Die zweifellos titelseitenträchtige Schlagzeile vom Tod friedlicher Demonstranten durch polizeilichen Schusswaffengebrauch wird so vielleicht gar zur sich selbst widerlegenden Prophezeiung, womit auch wieder gescheiterte Intentionalität im Spiel wäre.
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Dass handelndes Zusammenwirken überwiegend transintentionale Effekte zeitigt, gilt nicht nur hinsichtlich der Ergebnisse für einzelne Akteure, sondern auch für die Effekte auf soziale Strukturen. Bemühungen einer gezielten Gestaltung sozialer Strukturen durch Handeln kommen durchaus vor – etwa als politische Entscheidungen oder im Management von Organisationen. Auch handelndes Zusammenwirken wird immer wieder auf eine gemeinsame Gestaltungsintention hin koordiniert. Doch zumeist treten ausschließlich, überwiegend oder zumindest in nennenswertem Maße auch beide Arten transintentionaler Effekte ein – längerfristig ist dies immer der Fall. Warum nimmt ein soziologischer Beobachter angesichts dessen die Intentionen des Handelns überhaupt noch zur Kenntnis? Dass man zwar, wie oben angesprochen, nicht immer wissen muss, warum jemand so handelt, wie er handelt, aber sehr wohl Letzteres, begründet sich daraus, dass die Intention einen Handlungsimpuls markiert, der sich dann mit den Impulsen der anderen involvierten Akteure gleichsam wie bei der Vektoraddition verbindet. Selbst wenn der Summenvektor, also das Ergebnis des handelnden Zusammenwirkens, weit von jedem in ihn eingehenden Einzelvektor abweicht, ergibt er sich doch in seiner Richtung und Stärke nur aus ihnen. Soziale Strukturdynamiken werden also stets intentional vorangetrieben, entgleiten aber den Akteuren früher oder später unweigerlich mal weniger, mal mehr ins Transintentionale. Unabhängig von Intentionalität und Transintentionalität gilt: Soziale Strukturen werden durch handelndes Zusammenwirken erschaffen, erhalten und um- oder abgebaut. Soziale Strukturen sind ja keine Entitäten wie Steine oder Gießkannen, die als physikalische Strukturen eine vom Handeln unabhängige Existenz besitzen. Eine Gießkanne steht herum, auch wenn wir sie gerade nicht benutzen oder nicht einmal bemerken. Eine Norm beispielsweise materialisiert sich hingegen immer erst und immer nur dann, wenn sie Handeln prägt. Prägendes und Geprägtes sind genau besehen eines: „structure exists [...] only in its instantiations in such practices“ (Giddens 1984: 17). Ein genauerer Blick zeigt: Drei Arten sozialer Strukturen sind zu unterscheiden: Erwartungs-, Deutungs- und Konstellationsstrukturen. Es gibt erstens die schon mehrfach angesprochenen institutionalisierten normativen Erwartungen. Solche Erwartungsstrukturen können sowohl formeller als auch informeller Natur sein. Ersteres gilt für alle rechtlichen Regelungen sowie für die formalen Verhaltenserwartungen in Organisationen, z.B. Zeitungen oder Rundfunkanstalten. Informelle normative Erwartungen sind u.a. die in einem Land geltenden Sitten und Umgangsformen, der Moralkodex eines
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Uwe Schimank
bestimmten sozialen Milieus oder einer Berufsgruppe wie der Journalisten2 oder auch die manchmal sehr idiosynkratischen wechselseitigen Verpflichtungen zwischen Ehepartnern. Rollen und Skripte stellen generalisierte Bündelungen einer Mehrzahl aufeinander bezogener normativer Erwartungen dar. Dabei gelten Rollen für bestimmte Positionen in einer Akteurkonstellation – z.B. der Journalist in der Konstellation mit Verleger, Chefredakteur, Kollegen, Politikern und Zeitungslesern – und Skripte für bestimmte soziale Prozessabläufe wie etwa eine Redaktionssitzung oder ein Politikerinterview (Esser 2000: 141236). Neben normativen Erwartungsstrukturen existieren zweitens solche sozialen Strukturen, die evaluative und diesen zugeordnete kognitive Orientierungen fixieren. Diese Deutungsstrukturen sind um kulturelle Leitideen gruppiert. Evaluative Orientierungen bestehen aus allen Arten von Werten, die teils sehr allgemeiner Art sind, etwa die Selbstverwirklichung der Persönlichkeit propagieren oder Naturzerstörung verdammen, teils aber auch viel spezifischere und weniger langlebige Sachverhalte betreffen, z.B. Vorlieben oder Abneigungen bestimmter „Szenen“. Mit diesen Bewertungsstrukturen verknüpfen sich kognitive Wissensstrukturen, in denen sich etablierte Sichtweisen dessen, was der Fall ist, niederschlagen. Alle Arten von wissenschaftlichen Theorien zählen dazu; zu den kognitiven Deutungsstrukturen gehört aber auch das berufsspezifische oder alltägliche Rezeptwissen darüber, wie bestimmte Dinge beschaffen sind und miteinander zusammenhängen und wie bestimmte Effekte erzielt werden können – z.B. ein Wissen darüber, wie man einen guten Leitartikel schreibt, oder das Wissen darüber, in welchen Kneipen in der Innenstadt auch nach Mitternacht noch was los ist. Die in der modernen Gesellschaft wichtigsten Deutungsstrukturen sind die Orientierungshorizonte, die durch die binären Codes der verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme abgesteckt werden. Hierauf werde ich weiter unten noch gesondert zu sprechen kommen. Schließlich gibt es noch eine dritte Art von sozialen Strukturen: eingespielte Gleichgewichte von Akteurkonstellationen. Solche Konstellationsstrukturen liegen immer dann vor, wenn sich ein bestimmtes Muster handelnden Zusammenwirkens in dem Sinne verfestigt, dass keiner der Beteiligten allein von sich aus so
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Der Pressekodex des Deutschen Presserats beispielsweise ist verschriftlicht, aber gleichwohl nicht formalisiert, weil er lediglich Apellcharakter hat. Formalisierung bedeutet, dass eine normative Erwartung mit Hilfe von Sanktionen – die mehr sind als Rügen – durchgesetzt werden kann.
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einfach seine Handlungsweise ändern kann, ohne sich gravierende Nachteile der einen oder anderen Art einzuhandeln. Konstellationsstrukturen können positiv bewertete Gleichgewichte in dem Sinne sein, dass sie den beteiligten Akteuren erlauben, ihre Intentionen zu realisieren. Freundschaften oder funktionierende Arbeitsbeziehungen wären Beispiele dafür. Es kann sich aber auch um negativ bewertete Gleichgewichte handeln, etwa eingefahrene Konkurrenzoder Feindschaftsverhältnisse. Eine sich über Generationen hinziehende Blutrache zwischen zwei Familien illustriert Letzteres. Man könnte meinen, dass den Akteuren in so einem Fall nichts näher läge, als dieses Gleichgewicht zu verlassen. Aber bekanntlich ist kaum etwas schwieriger, als aus einer solchen Konstellation auszubrechen. Man redet nicht miteinander, traut einander nicht über den Weg und kann so keine beiderseitige Beendigung der Fehde verabreden; und eine einseitige Beendigung bedeutet einen so gravierenden Ehrverlust, wie man ihn kaum auf sich nehmen will. Die drei Strukturarten tragen Unterschiedliches zur Prägung des Handelns bei: Deutungsstrukturen prägen das Wollen, Erwartungsstrukturen das Sollen und Konstellationsstrukturen das Können der Akteure. Handlungen konstituieren sich im Zusammenspiel von Wollen, Sollen und Können.
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Akteure in Konstellationen
Der bisher skizzierte Bezugsrahmen geht auf das Verhältnis von handelndem Zusammenwirken und sozialen Strukturen ein und konzentriert sich dabei auf Letztere in ihrer Handlungsprägung und Geprägtheit durch handelndes Zusammenwirken. Nun soll der Blick geschwenkt werden und das handelnde Zusammenwirken fokussieren: Handelndes Zusammenwirken ergibt sich aus dem Aufeinandertreffen von Akteuren in Konstellationen. Sobald es Interferenzen zwischen den Intentionen von mindestens zwei Akteuren gibt, besteht eine Akteurkonstellation. Jemand handelt und bemerkt früher oder später, schon bei der Planung seines Tuns oder erst im Vollzug, dass er zur Erreichung seiner Absichten die Unterstützung anderer benötigt; und diese Unterstützung kann auch ausbleiben, weil ein entsprechendes Handeln nicht ohne Weiteres in den Intentionen der betreffenden anderen liegt. Oder ein Akteur wird gewahr, dass es bei der Realisierung seiner Intentionen davon abhängt, dass andere ihn nicht stören; und auch das ist nicht selbstverständlich, weil sich solche Störungen daraus ergeben können, was die anderen mit ihrem jeweiligen Handeln intendieren. Ein Handelnder kann derartige Intentionsinterferenzen, wie sie sich aus dem Aktiv- oder dem Unterlassungs-
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Uwe Schimank
handeln anderer ergeben können, natürlich fatalistisch hinnehmen. Damit dürfte er sich aber wohl nur dann zufrieden geben, wenn ihm entweder seine eigene Intention nicht besonders wichtig ist oder wenn er die Situation so einschätzt, dass der Widerstand, den das Handeln der anderen seiner Intention entgegensetzt, für ihn unüberwindlich ist und er zugleich auch nicht sieht, wie er diesen Widerstand durch eine Änderung seines Handelns umgehen könnte. Oftmals können Akteure hingegen mehr erreichen. Dann sind Intentionsinterferenzen nichts Definitives, sondern Ausgangspunkt von Anstrengungen, den Widerstand der jeweiligen anderen zu umgehen oder zu überwinden. Konstellationen handelnden Zusammenwirkens bestehen somit aus dem Gewahrwerden und Abarbeiten tatsächlicher oder vorweggenommener Intentionsinterferenzen. Das kann darin enden, dass die Konstellation sich auflöst, die Akteure einander fortan aus dem Wege gehen. Bleibt die Konstellation bestehen, kann es zwischen den Akteuren auf Dauer hin und her gehen, ohne dass sich stabile Muster des Umgangs mit den Intentionsinterferenzen einspielen. In vielen Fällen bringen aber die Bemühungen der Akteure, ihre Intentionsinterferenzen zu bewältigen, soziale Strukturen als relativ dauerhafte Ordnungsmuster hervor. Als Akteure sind bisher nur Individuen angesprochen worden. Daneben gibt es aber auch kollektive und korporative Akteure. Zwar können letztlich nur Individuen Handlungen ausführen, aber wenn diese Individuen im Namen einer größeren sozialen Einheit handeln, z.B. als Vorsitzender eines Vereins oder Aktivist der Friedensbewegung, handelt durch sie eben dieser Kollektivakteur. Entscheidend ist, dass Handlungen ihm – und nicht bloß den ihm zugehörigen Individuen – zugerechnet werden. Dies ist insbesondere dann offenkundig, wenn eine Organisation ihr Handeln nicht ändert, obwohl ihr Personal ausgetauscht wird. So bleibt z.B. Der Spiegel als Zeitschrift derselbe, auch wenn keiner der ursprünglichen Redakteure mehr schreibt. Vor allem die „corporate identity“ und die intern hierarchisierten Entscheidungsbefugnisse einer Organisation verbürgen den Status als überindividueller Akteur. Gerade weil das einzelne Handeln, wie dargestellt, für sich genommen soziologisch wenig erheblich ist, braucht man erklärungsökonomische theoretische Werkzeuge, die bei diesem Erklärungsschritt möglichst kurzen Prozess machen. Die dargestellte Theorieperspektive konstatiert: Akteure unterliegen je unterschiedlichen Mischungsverhältnissen von vier grundlegenden Handlungsantrieben: Normbefolgung, Nutzenverfolgung, emotionales Sich-Ausleben und Identitätsbehauptung. Diese vier Akteurmodelle bündeln analytisch jeweils bestimmte Strukturprägungen des Handelns.
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Ein erstes Modell, das bis heute den soziologischen Mainstream repräsentiert, ist der Homo Sociologicus. Dies ist ein Akteur, der sein Handeln primär an institutionalisierten Normen ausrichtet. Erwartungsstrukturen sagen ihm, worum es ihm in einer bestimmten Situation zu gehen und wie er entsprechend zu handeln hat. So muss sich z.B. ein Redakteur an der politischen Linie seiner Zeitung orientieren, ob diese nun formell als Redaktionsstatut oder informell durch kollegialen Austausch vermittelt wird. Dem Homo Sociologicus steht als zweites Akteurmodell der Homo Oeconomicus gegenüber. Er handelt so, dass er seinen eigenen erwarteten Nutzen unter geringstmöglichem Aufwand maximiert. Damit wird der Homo Oeconomicus primär durch solche sozialen Strukturen geprägt, die den Nutzen und die Aufwändigkeit bestimmter Handlungen bestimmen. Der Medienrezipient, der als Konsument auszuwählen hat, ob er sich das Abonnement einer Tageszeitung oder einen Pay-TV-Anschluss leistet, wäre ein Beispiel – das im Übrigen auch gleich verdeutlicht, wie wenig rational solche Nutzenerwägungen zumeist angestellt werden. Immer wieder handeln Akteure auch aufgrund von Emotionen wie Neid, Wut, Liebe oder Freude. Ein drittes Akteurmodell ist daher der „emotional man“ (Flam 1990). Emotionale Handlungsantriebe werden durch andere sozialstrukturelle Determinanten ausgelöst als norm- oder nutzenorientiertes Handeln. So erwächst z.B. Neid aus sozialen Verteilungsstrukturen, die von dem Betreffenden als ungerechtfertigt erlebt werden: Warum verdienen die Chefs so viel Geld, und ich muss mich für einen Hungerlohn krummlegen? Ein viertes Akteurmodell ist schließlich der Identitätsbehaupter. Die Identität einer Person ist ihr Selbstbild; und es gibt Handlungen, die wir nur oder hauptsächlich deshalb ausführen, weil wir nach außen und uns selbst dokumentieren wollen, wie wir uns selbst sehen und gesehen werden wollen. Das gilt z.B. für alle Arten von Gesinnungstätern, die sogar gegen Normen verstoßen und teilweise hohe persönliche Kosten auf sich nehmen. Dieses Akteurmodell hebt zum einen solche sozialen Strukturen hervor, die – vor allem durch Sozialisation vermittelt – den Charakter eines Akteurs formen; zum anderen geht es um soziale Strukturen, die in ihrer Diskrepanz zum Selbstbild identitätsbedrohend wirken. Man gelangt somit zu einem Nebeneinander von vier analytischen Akteurmodellen, mittels derer sich Handlungswahlen auf je andere sozialstrukturelle Handlungsbedingungen zurückführen lassen. Für die Analyse realer Akteure kann man immer wieder auch Kombinationen von zwei oder mehr Akteurmodellen heranziehen – sollte aber stets bedenken, dass dieser analytische Auf-
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wand angesichts dessen, dass hier nur eine Vorfrage behandelt wird, vertretbar bleibt. Ins Zentrum dessen, womit sich Soziologen entsprechend der hier vorgeschlagenen Theorieperspektive zu beschäftigen haben, stößt man vor, wenn man sich den Akteurkonstellationen zuwendet. Drei Arten von Akteurkonstellationen lassen sich unterscheiden: Beobachtungs-, Beeinflussungs- und Verhandlungskonstellationen. Beobachtungskonstellationen sind der elementarste Typ. Sie entstehen, sobald mindestens zwei Akteure einander wahrnehmen und ihr Handeln durch die Wahrnehmung des jeweils anderen mitbestimmen lassen. Jeder beobachtet, was die Gegenüber tun, und passt sich dadurch der Konstellation an. Eine ganz einfache alltägliche Situation, in der dies geschieht, ist z.B. das gegenseitige einander Ausweichen von Passanten auf einem engen Bürgersteig. Aber auch die massenhafte Ausbreitung von Moden beispielsweise erfolgt über wechselseitige Beobachtung. Beobachtungskonstellationen schließen den Austausch von Zeichen ein; denn die Beteiligten wissen oft, dass sie beobachtet werden, und können dies nutzen. Diese gegenseitigen Signale können nichtsprachlich, aber auch sprachlich erfolgen. Das wechselseitig beobachtete Tun der Akteure kann also durchaus auch im Reden oder Schreiben bestehen. So nehmen etwa Journalisten aufmerksam zur Kenntnis, was ihre Kollegen zu einem bestimmten Thema publizieren, und richten ihre je eigenen Artikel oder Kommentare daran aus – sei es, dass sie sich dem gängigen Meinungsspektrum einfügen, sei es, dass sie sich ganz bewusst dagegen profilieren. Ein Journalist, der weiß, dass seine Artikel von vielen Kollegen gelesen werden, die etwas darauf geben, was er schreibt, kann diesen Tatbestand zur Kenntnis nehmen, sich über die Beachtung durch die Kollegen freuen – und es dabei belassen. Er kann aber auch versuchen, auf der Basis dieser Wertschätzung seiner Arbeit gezielte Meinungsbildung bei den Kollegen zu betreiben – und darüber bei der Leserschaft. Sobald so etwas auftritt, handelt es sich schon um keine Beobachtungskonstellation mehr, sondern bereits um eine Beeinflussungskonstellation. Diese beruht auf wechselseitiger Beobachtung, geht aber darüber hinaus. Wechselseitige Beeinflussung kann auf vielerlei Weisen geschehen: durch Androhung von Prügel, durch moralische Appelle, durch wissenschaftliche Wahrheiten, am besten aus Expertenmund, durch Loben oder Schmeicheleien oder durch persönliches Charisma. Diesen und weiteren Einflussarten gemeinsam ist die intentionale aktive Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten des Gegenübers. Auf der einen Seite kann dies mittels angedrohter negativer Konsequenzen, auf der anderen Seite durch in Aussicht gestellte positive
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Konsequenzen geschehen. Auch Letztere verengen das Spektrum dessen, was der andere tun wird, indem bestimmte Handlungen besonders prämiert werden. Journalisten z.B. beeinflussen ihre Rezipienten zum einen u.a. teils durch explizite Warnungen, teils durch die implizite „Moral“ einer bestimmten Story; zum anderen versprechen Journalisten wiederum sowohl explizit als auch implizit, dass es allen besser gehen wird, wenn beispielsweise eine bestimmte Regierung endlich vom Wähler in die Wüste geschickt wird. Weder in Beobachtungs- noch in Beeinflussungskonstellationen sind bindende Vereinbarungen ein Mechanismus der Handlungsabstimmung. Sie finden sich vielmehr erst in Verhandlungskonstellationen. So beobachten beispielsweise Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände einander bei Arbeitskämpfen sehr genau – im Hinblick darauf, einander durch Streiks und Aussperrungen gegenseitig zu beeinflussen. Doch genau besehen handelt es sich hier schon um Verhandlungskonstellationen. Denn am Ende eines Arbeitskampfes steht eine bindende Vereinbarung darüber, dass die Arbeitgeber bestimmte Lohnerhöhungen zahlen und die Gewerkschaften im Gegenzug für einen bestimmten Zeitraum auf weitere Lohnerhöhungen verzichten. Verhandlungskonstellationen sind demnach immer auch Beobachtungs- und Beeinflussungskonstellationen; aber die Akteure haben zusätzlich die Möglichkeit, bindende Vereinbarungen miteinander zu schließen. Jeder Arbeitsvertrag – z.B. eines Journalisten mit einer Zeitung oder Rundfunkanstalt – ist Ergebnis einer Verhandlungskonstellation. Verhandlung heißt nicht, dass beide Seiten gleich stark sind, einander also in Bezug auf Einflusspotentiale Pari bieten können. Es gibt auch sehr asymmetrische Verhandlungskonstellationen – etwa zwischen einem militärisch überlegenen und einem unterlegenen Staat oder zwischen einem Zeitungsverlag und einem Redakteur, der schnell durch viele andere ersetzbar wäre. Ist das handelnde Zusammenwirken nur auf der Basis von Beobachtung möglich, oder von Beobachtung und Beeinflussung, oder von Beobachtung und Beeinflussung und Verhandlung? Entsprechend diesen unterschiedlichen Gegebenheiten finden in den drei Konstellationstypen unterschiedliche Arten von handelndem Zusammenwirken mit entsprechend unterschiedlichen Strukturdynamiken statt.
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Funktionale Differenzierung
Damit sind die basalen Komponenten des analytischen Bezugsrahmens erläutert (vgl. Abbildung 1). Dass jede von ihnen sehr viel mehr vertieft werden
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Uwe Schimank
könnte und müsste, versteht sich von selbst. Ich will aber hier nur eine Komponente herausgreifen, die von besonderer Bedeutung ist, wenn man als Anwendungsbereich des Bezugsrahmens die Gesellschaftsebene – genauer: die moderne Gesellschaft – wählt.3 Abbildung: Akteur-Struktur-Dynamiken Akteure x x x x
homo sociologicus homo oeconomicus „emotional man“ Identitätsbehaupter
Handeln
Intentionalität
Konstellationen x Beobachtung x Beeinflussung x Verhandlung
handelndes Zusammenwirken
Transintentionalität
Soziale Strukturen x Deutungsstrukturen x Erwartungsstrukturen x Konstellationsstrukturen
Strukturdynamiken x Aufbau x Erhaltung x Veränderung
Die moderne Gesellschaft ist funktional differenziert, gliedert sich also in ein Nebeneinander von Teilsystemen, die alle je besondere „Wertsphären“ (Weber 1967 [1919]) darstellen: Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Kunst, Sport und auch die Massenmedien sind einige davon. In der hier gewählten, an Weber und Luhmann anknüpfenden differenzierungstheoretischen Perspektive konstituieren sich gesellschaftliche Teilsysteme also auf der Ebene kultureller Deutungsstrukturen durch je spezifische, alles teilsystemische Geschehen anleitende evaluative Orientierungen: Gesellschaftliche Teilsysteme wie die Massenmedien differenzieren sich auf einen als binären Code konstruierten Leitwert hin
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Akteure in Konstellationen und die wechselseitige Konstitution von handelndem Zusammenwirken und sozialen Strukturen lassen sich ja auch auf der Interaktions- und der Organisationsebene ausmachen – etwa als Themenstrukturen von Partykonversationen oder als Kleinkriege zwischen Organisationsabteilungen.
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aus. Bei den Massenmedien ist dies der Code „informativ/nicht informativ“ (Blöbaum 1994: 272ff.).4 Die Teilsysteme sind also die obersten „Weichensteller“ (Weber 1978 [1920]: 252) der modernen Gesellschaft, präformieren über Ideen die grundlegenden Richtungen, in die Akteurinteressen und auch normative Erwartungen angelegt werden. Die je teilsystemspezifischen Leistungsrollen wie die Rolle des Journalisten in den Massenmedien und die teilsystemspezifischen Organisationen – Zeitungen und Fernsehsender – sind in all ihrem Tun und Lassen letztlich darauf fixiert, Informatives zu entdecken und zu verbreiten. Dieser Code „informativ/nicht informativ“ wird durch entsprechende Programme, die teils kognitiver, teils normativer und teils evaluativer Art sind, operationalisiert, etwa die Nachrichtenfaktoren oder das professionelle Ethos des Journalismus. Als selbstreferentieller, sich aus nichts anderem begründender Leitwert steht der des Informativen neben altehrwürdigeren wie dem Schönen, dem Wahren oder dem Rechtmäßigen. Jeder dieser Werte konstituiert die Autonomie des betreffenden Teilsystems in dem Sinne, dass er intern über alles geht – und extern nichts gilt, weil dort anderes über alles geht. Dass Journalisten auf nichts so sehr schielen wie darauf, was andere Journalisten tun, und letztlich daraus ableiten, was sie selbst tun, stellt nicht etwa eine professionelle Pathologie dieses Berufsstands dar, sondern ist bei den zentralen Leistungsrollen anderer Teilsysteme – ob Ärzte oder Lehrer, Politiker oder Manager, Priester oder Künstler – nicht anders. Diese Autonomie auf der Ebene des Leitwerts heißt nicht, dass ein Teilsystem wie die Massenmedien autark wäre. Ganz im Gegenteil: Gerade die hochgradige funktionale Spezialisierung auf den Leitwert bringt eine ebenso hochgradige Abhängigkeit von vielerlei Leistungen anderer Teilsysteme mit sich. Keine funktionierenden Massenmedien ohne Rechtssicherheit, eine gebildete Bevölkerung, an Kunst und Sport Interessierte, wirtschaftliche Gewinne, politische Förderung sowie militärisch gewährleistete Sicherheit! Diese Abhängigkeiten mögen sehr groß sein: Sie werden unter Autonomiegesichtspunkten erst dann problematisch, wenn sie strategisch genutzt werden, also etwa Großunternehmen Werbeanzeigen daran binden, dass bestimmte politische Kommentare nicht veröffentlicht werden, und dieses Ansinnen auch erfolgreich ist. Schon Ersteres dürfte nicht allzu häufig passieren – Letzteres noch weniger.
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Man spricht auch von „aktuell/nicht aktuell“ (Scholl & Weischenberg 1998: 63ff.), womit dasselbe gemeint ist: ein sachlicher Informationsgehalt, der zeitlich gegenwartsnah und sozial für die jeweilige Rezipientenschaft relevant ist.
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Uwe Schimank
Dieses Beispiel zeigt, auch wenn es so drastisch selten vorkommt, was Luhmann übergeht: Ein gesellschaftliches Teilsystem ist keine freischwebende Deutungsstruktur; es besteht nicht nur aus dem Code und selbst generierten Programmen. Dazu gehören vielmehr auch die fremdreferentiellen Programmstrukturen, die teilsystemspezifischen Akteure – Rollen und Organisationen – sowie die Konstellationsstrukturen dieser Akteure untereinander und mit externen Akteuren. Nicht nur die Analyse von Autonomiegefährdungen, auch eine Erklärung anderer Differenzierungsdynamiken – vor allem: der Ausdifferenzierung bestimmter Teilsysteme – muss Akteurkonstellationen insbesondere bezüglich Interessenlagen sowie wechselseitiger Beobachtung und Beeinflussung in den Blick nehmen (Schimank 1985). Die Ausdifferenzierung der Massenmedien erfolgte zwar interessengeleitet, aber hochgradig transintentional. Das System der Massenmedien differenzierte sich in einer bereits im 17. Jahrhundert ansetzenden Strukturdynamik im 19. Jahrhundert als Zeitungswesen aus. Dem lag anfangs eine Akteurkonstellation zugrunde, die sich als Kombination aus neuen technischen Gelegenheitsstrukturen, die einen „supply push“ nahe legten, und neuen Wissensbedürfnissen, die sich als „demand pull“ artikulierten, darstellte (Blöbaum 1994: 93ff.). Sehr grob vereinfacht, nur zur Demonstration der akteurtheoretischen Analyseperspektive, lässt sich die Strukturdynamik so skizzieren, dass sich mit der Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern und der weiteren Entwicklung der Druckmaschinen Druckereien und Buchverlage als Wirtschaftsunternehmen verbreiteten, die nach weiterer Expansion strebten und ihre Maschinen auslasten wollten. Flugschriften und Anzeigen boten sich als Zusatzgeschäft an. Die Inhalte wurden zunächst von Akteuren dreier gesellschaftlicher Teilsysteme beigesteuert: Aus der Politik kamen staatliche Verlautbarungen und Artikulationen verschiedenster Interessengruppen; aus der Wirtschaft kamen Reklameanzeigen von Geschäftsleuten; und aus den Intimbeziehungen kamen Familienanzeigen. Eine Redaktion der Beiträge fand nicht statt. Die Voraussetzungen dafür, dass solche Presseerzeugnisse ein Publikum fanden, bestanden zum einen in einer zunehmenden Alphabetisierung, zum anderen in einem wachsenden Bedürfnis vieler, Wissen über überlokale Geschehnisse, die im Zuge der „Ausweitung der Interdependenzketten“ (Elias 1976 [1939]: 317) nicht nur durch den Fernhandel immer mehr Bedeutsamkeit gewannen und entsprechende Aufmerksamkeit auf sich zogen, sowie dann auch über die unüberschaubarer werdenden lokalen Bezüge zu erhalten. Das Wissensbedürfnis rangierte von Klatsch und Sensationsgier auf der einen bis zu geschäftlichem Informationsbedarf auf der anderen Seite. Da die so gespeiste Nachfrage schnell
Handeln in Konstellationen
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anwuchs und vor allem auf regelmäßige Befriedigung Wert legte, entwuchsen die Zeitungen rasch dem ursprünglichen Status der produktionstechnischen Lückenbüßer. Eine eigendynamische Eskalation setzte ein: Weil die den Zeitungen bereitgestellten Informationen nicht mehr ausreichten, um den Wissensdurst des Publikums zu bedienen, bildete sich allmählich die Rolle des Journalisten heraus, der selbst Informationen recherchiert und aufbereitet; und wie für jeden anderen Beruf auch kristallisierten sich Standards, die in Programmen und vor allem im binären Code „informativ/nicht informativ“ ihren Ausdruck fanden. Die weitere Binnendifferenzierung der Massenmedien in Radio, Fernsehen und mittlerweile Internet ist dann vor allem technikinduziert gewesen – auf der Basis eines mit dem Zeitungswesen gefestigten Codes und der ihn umgebenden Programme. Ebenso kam es zu einer sachlichen Differenzierung in Sparten und Ressorts, in der sich die teilsystemische Differenzierung der Gesellschaft teilweise widerspiegelt. Schon dieses holzschnittartige Bild lässt erkennen, dass die Strukturdynamik hochgradig transintentional verlief. Keiner der im 17. Jahrhundert initiativ werdenden Drucker hatte das vorausgesehen, geschweige denn beabsichtigt, was dann 150 Jahre später als Fernwirkung dessen, was er mit angestoßen hatte, eingetreten war; keiner ahnte den binären Code voraus. Dass mit Blick auf die Politik etwas Drittes neben staatlichen Verlautbarungen und den Meinungsäußerungen von Interessengruppen entstand, nämlich ein zum einen auf sachliche Berichterstattung über Ereignisse und die dazugehörige Meinungsvielfalt, zum anderen auf eigenständige Kommentierung setzender Journalismus, war ebenso wenig das Resultat eines erfolgreichen strategischen Masterplans der Professionalisierung, den irgendjemand implementiert hätte. Doch man muss und sollte deswegen nicht einfach – wie Luhmann es tut – zur Verlegenheitsformel „Evolution“ greifen, in der letztlich zufällige, also auch nicht erklärungskräftige Variationen den Ton angeben. Man kann vielmehr, wie angedeutet, die typischen Interessenlagen der involvierten Akteure herausarbeiten, woraus sich die Intentionen ihres jeweiligen Handelns ergeben; und das Ineinandergreifen dieser Intentionen, gepaart mit wechselseitiger Beobachtung und gegebenenfalls auch Beeinflussung, im handelnden Zusammenwirken lässt sich als klares Muster rekonstruieren.5 Es ist sicherlich vereinfacht, die Ausdifferenzierung der Massenmedien analytisch so zu fassen, dass keiner der involvierten Akteure – auch in der Spät-
5
Auch darin muss natürlich Raum für diverse „Cournot-Effekte“ (Boudon 1984: 173ff.), also koinzidentielle Einwirkungen auf die jeweilige Strukturdynamik, vorgesehen werden.
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Uwe Schimank
phase dieses Vorgangs – beabsichtigte, ein eigenes Teilsystem zu etablieren, sondern jeder nur im Horizont des je eigenen Aktionsraums dachte. Die Vereinfachung ist aber dadurch gerechtfertigt, dass diese Strukturdynamik ohne einen Akteur, der sie als Ganze steuernd in den Griff nehmen wollte, nicht wesentlich anders verlaufen wäre. Dies gilt für viele spätere Strukturdynamiken der dann ausdifferenzierten Massenmedien nicht mehr. Vielmehr ist dieses Teilsystem zu einem der Hauptaktionsfelder politischer Gesellschaftssteuerung geworden; und diese Steuerungsaktivitäten haben immer wieder auch aus „Differenzierungspolitiken“ in dem Sinne bestanden, dass staatliche Akteure das Teilsystem als Ganzes oder seine durch weitere eigene Binnendifferenzierung entstandenen Teilsysteme zweiter Ordnung – Zeitungen, Rundfunk, Internet – umgestaltet haben. Manchmal spielten zwar auch Partikularinteressen einzelner politischer Parteien oder der Parteien insgesamt hinein; doch die Intentionalität der staatlichen Akteure zielte primär auf teilsystemische Belange oder auf Abstimmungserfordernisse zwischen den Massenmedien und anderen Teilsystemen. Patrick Donges (2002) Untersuchung der Rundfunkpolitiken verschiedener Länder ist eine Studie, die solche Vorgänge mit dem hier explizierten Bezugsrahmen analysiert und dabei das Wechselspiel zwischen medienpolitischen Akteuren und Medienakteuren ins Zentrum der Analyse rückt. Politische Gesellschaftssteuerung ist sicherlich die ambitionierteste Intentionalität, die gesellschaftlich vorkommt, und unterliegt deshalb am stärksten der „Logik des Misslingens“ (Dörner 1989), also dem Eintreten unerwünschter Nebeneffekte und dem Nichterreichen der angestrebten Ziele. Diese Transintentionalitäten sind aufgrund der immensen Komplexität einer funktional differenzierten Gesellschaft und jedes ihrer Teilsysteme gleichsam vorprogrammiert. Eine akteurtheoretische Betrachtung von „Differenzierungspolitiken“ kann jedoch auch davor bewahren, einem völligen Steuerungsdefätismus zu verfallen. Sie deckt auf, wo genau und warum das handelnde Zusammenwirken dem einzelnen Akteur und dann auch der Konstellation als Ganzes entgleitet; sie ermöglicht so eine differenzierte Einschätzung, welche Gestaltungsspielräume die Akteure haben; und sie kann dementsprechend je nach Situation – seien es bescheidenere, seien es anspruchsvollere – Steuerungsziele und -strategien nahe legen. Denn so wichtig es einerseits ist, dass sich eine akteurtheoretisch fundierte Soziologie über die unaufhebbare Transintentionalität alles handelnden Zusammenwirkens im Klaren ist: Weil die Menschen – und dies erst recht in der Moderne! – gar nicht anders können, als immer wieder zu versuchen, die Verhältnisse, unter denen sie leben, mit zu gestalten, ist anderer-
Handeln in Konstellationen
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seits eine „soziologische Aufklärung“ gefragt, die zumindest eine „Intentionalität in Grenzen“ unterstützt.
Literatur Blöbaum, Bernd (1994): Journalismus als soziales System. Geschichte, Ausdifferenzierung und Verselbständigung. Opladen: Westdeutscher Verlag. Boudon, Raymond (1984): Theories of Social Change: a critical appraisal. Cambridge: Polity Press. Dörner, Dietrich (1989): Die Logik des Mißlingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Donges, Patrick (2002): Rundfunkpolitik zwischen Sollen, Wollen und Können. Eine theoretische und komparative Analyse der politischen Steuerung des Rundfunks. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Elias, Norbert (1976 [1939]): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Band 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Emirbayer, Mustafa (1997): Manifesto for a Relational Sociology. In: American Journal of Sociology 103: 281-317. Esser, Hartmut (2000): Soziologie: Spezielle Grundlagen. Band 5: Institutionen. Frankfurt am Main: Campus. Flam, Helena (1990): Emotional Man I: the emotional man and the problem of collective action. In: International Sociology 5: 39-56. Giddens, Anthony (1984): The Constitution of Society. Cambridge: Polity Press. Schimank, Uwe (1985): Der mangelnde Akteurbezug systemtheoretischer Erklärungen gesellschaftlicher Differenzierung. In: Zeitschrift für Soziologie 14: 421-434. Schimank, Uwe (1996): Theorien gesellschaftlicher Differenzierung. Opladen: Leske + Budrich. Schimank, Uwe (2000): Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurtheoretische Soziologie. München: Juventa. Schimank, Uwe & Ute Volkmann (1999): Gesellschaftliche Differenzierung. Bielefeld: transcript. Scholl, Armin & Siegfried Weischenberg (1998): Journalismus in der Gesellschaft. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Weber, Max (1967 [1919]): Wissenschaft als Beruf. Berlin: Duncker & Humblot. Weber, Max (1978 [1920]): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen: Mohr. Weber, Max (1972 [1922]): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr.
Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln via Öffentlichkeit: Journalismus und gesellschaftliche Strukturdynamik Christoph Neuberger
1
Einführung
Nachdem lange Zeit die Systemtheorie die Journalismusforschung dominiert hat, werden zunehmend andere soziologische Theorien entdeckt. Dazu zählen Giddens Strukturationstheorie, Akteurtheorien, der „Cultural studies“-Ansatz und das Bourdieu’sche Konzept des sozialen Feldes (vgl. den Theorieüberblick in Löffelholz 2004). So belebend die Pluralisierung ist: Zu dieser Aufholbewegung gehört es auch, dass Grundsatzdebatten noch einmal geführt und Frontstellungen wiederholt werden, die in der Soziologie mittlerweile als überwunden oder zumindest entschärft gelten (Mikro- und Makroanalyse, Erklären und Verstehen, System und Akteur, „homo oeconomicus“ und andere Akteurmodelle). Diese Umwege erspart ein integrativer Ansatz, wie ihn Uwe Schimank ausgearbeitet hat. Schimank stellt in seinem Beitrag in diesem Band die basalen Komponenten seines Bezugsrahmens vor, die er vor allem in seinem Buch „Handeln und Strukturen“ (vgl. Schimank 2000) vertieft1:
Eine Akteurkonstellation entsteht, sobald „die Intentionen von mindestens zwei Akteuren interferieren“ (ebd.: 173) und sie durch handelndes Zusammenwirken versuchen, ihre Intentionen zu realisieren.
1
Vgl. zur Diskussion integrativer Ansätze in der Soziologie: Greshoff & Schimank (2006).
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Christoph Neuberger Strukturen sind relativ dauerhafte Bewältigungsmuster für solche Intentionsinterferenzen (vgl. ebd.: 176). Handeln und Strukturen sind rekursiv verbunden: Strukturen werden durch das Handeln von Akteuren – gewollt oder ungewollt, in vorgesehener oder unvorhergesehener Weise – aufgebaut, verändert oder erhalten. Handeln (re-)produziert also Strukturen, die ihrerseits künftiges Handeln prägen, ohne es zu determinieren. Je inkompatibler die Intentionen der beteiligten Akteure, je geringer die Einflussdifferenzen, desto weniger vorhersehbar sind die transintentionalen Struktureffekte ihres Handelns (vgl. ebd.: 187). Schimank unterscheidet Strukturdynamiken nach den Typen handelnden Zusammenwirkens, durch die sie in Gang gesetzt werden: durch Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln (vgl. ebd.: 207ff.).
Das rekursive Verhältnis zwischen Handeln und Strukturen kann in zwei Richtungen beobachtet werden – je nachdem, welche Seite man als unabhängige oder abhängige Variable fixiert. Im Fall der Strukturdynamiken, die hier im Mittelpunkt stehen, lautet die Frage: Wie bestimmt das Handeln (als unabhängige Variable) Strukturen (als abhängige Variable)? Schimank kritisiert, dass sich die allgemeine soziologische Theorie um Strukturdynamiken „von den Klassikern bis heute niemals systematisch [...] gekümmert“ (ebd.: 190) hat. Auch der Wandel im Journalismus und die Bedeutung des Journalismus für den gesellschaftlichen Wandel haben erst in jüngster Zeit größere Aufmerksamkeit erhalten (vgl. Behmer et al. 2005). In diesem Beitrag wird angenommen, dass der Journalismus wesentlich zur gesellschaftlichen Dynamik beiträgt, indem er öffentlich ablaufende Prozesse des Beobachtens, Beeinflussens und Verhandelns vermittelt (vgl. Abschnitt 7). Zunächst aber werden die wesentlichen Strukturen des Journalismus (vgl. Abschnitte 2-5) und die Handlungsantriebe der Akteure (vgl. Abschnitt 6) beschrieben. Dabei soll gezeigt werden, wie unterschiedliche Ansätze der Kommunikationswissenschaft in Schimanks Bezugsrahmen eingeordnet werden können, in dem er drei Strukturbereiche unterscheidet. Schimank (in diesem Band) betont, dass – im Unterschied zur Auffassung Luhmanns – ein gesellschaftliches Teilsystem nicht nur durch eine Deutungsstruktur, also eine Funktion und einen binären Code, gekennzeichnet ist, son-
Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln via Öffentlichkeit
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dern darüber hinaus durch eine spezifische Erwartungs- und Konstellationsstruktur (vgl. Schimank 2000: 176ff.)2:
2 2.1
Die Deutungsstrukturen („Wollen“) eines gesellschaftlichen Teilsystems sind evaluativ (kulturelle Werte, teilsystemische Codes) und kognitiv (Rezeptwissen, wissenschaftliche Theorien) ausgerichtet. Die Erwartungsstrukturen („Sollen“) umfassen institutionalisierte, normative Erwartungen, die als (in-)formelle Regeln durch Sanktionen durchgesetzt werden (Recht, Organisationen, Programme, Rollen etc.). Die Konstellationsstrukturen („Können“) sind stabile Akteurkonstellationen, die oft auf einer bestimmten Verteilung von Einflusspotenzialen beruhen.
Deutungsstrukturen im Journalismus Evaluative Deutungsstrukturen
Der Journalismus ist ein Leistungssystem innerhalb des funktional ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilsystems Öffentlichkeit, dessen Sinngrenzen durch eine Funktion und einen binären Code markiert sind. Als Funktion des Journalismus gilt die gesellschaftliche Selbstbeobachtung, als binärer Code „aktuell“ – „nicht-aktuell“ (vgl. Neuberger 2004: 298f.; Scholl & Weischenberg 1998: 63ff.). Der Leitwert „Aktualität“ definiert sozial und zeitlich, was journalistisch relevant ist: Die Zeitung setze ihre Leser über alles in Kenntnis, so Groth (1960: 189), „was deren Lebensinteressen in der Gegenwart berührt.“ Sachlich bleibt das Themenspektrum offen: Themen können aus allen gesellschaftlichen Teilsystemen aufgegriffen werden, sofern sie gegenwärtig (= zeitlich) weitgehend einheitlich (= sozial) relevant sind. Nachrichtenfaktoren (wie Negativismus, Eliteperson und Nähe) als Selektionskriterien sind kognitiv-berufliche Deutungsstrukturen, die Aktualität operationalisieren. Der Journalismus stellt innerhalb anderer Teilsysteme Öffentlichkeit her und vermittelt zwischen Leistungserbringern und -empfängern, etwa zwischen Staat, Parteien und Bürgern, zwischen Produzenten und Konsumenten. Darin besteht seine Vermittlungsleistung für andere gesellschaftliche Teilsysteme (vgl.
2
In früheren Darstellungen bezeichnete Schimank (1996: 243-248; vgl. Schimank 1992: 166173) diese Strukturbereiche als „teilsystemischer Orientierungshorizont“, „institutionelle Ordnung“ und „Akteurkonstellation“.
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Christoph Neuberger
Neuberger 2004: 299ff.). Allerdings unterwirft er sich dabei nicht gänzlich der jeweiligen teilsystemischen Rationalität, sondern behauptet sich als eigenständiges System (vgl. Abschnitt 4). Der auf die öffentliche Verbreitung allgemein relevanter Neuigkeiten spezialisierte Journalismus ist ein Unruheherd der Gesellschaft, der oft Ausgangspunkt von Strukturdynamiken ist. Er dient der Erzeugung und Verarbeitung von Irritation. [...] Massenmedien halten, könnte man deshalb auch sagen, die Gesellschaft wach. Sie erzeugen eine ständig erneuerte Bereitschaft, mit Überraschungen, ja mit Störungen zu rechnen. (Luhmann 1996: 46-48)
2.2
Kognitive Deutungsstrukturen
Im Öffentlichkeitssystem herrschen „schlechte Sichtverhältnisse“. Das Publikum kann zwar die publizierten Mitteilungen beobachten, weiß aber wenig über deren Urheber. Massenkommunikation verläuft nicht nur indirekt (raumzeitliche Distanz), sondern in der Regel auch einseitig von der Redaktion zum Publikum. Das Verhältnis zwischen den Leistungserbringern und -empfängern ist distanziert und anonym, die Beobachtungsmöglichkeiten sind beschränkt: Das Journalistenbild des Publikums ist ebenso vage wie das Publikumsbild der Journalisten. Auch untereinander können sich die Glieder des „dispersen“ (= zerstreuten) Publikums nur in einem engen Radius wahrnehmen. Zudem ist die dargestellte Realität der Überprüfung durch eigene Beobachtungen weitgehend entzogen. Schlüsse, die Rezipienten auf andere Rezipienten (vgl. Hartmann & Dohle 2005), die Realität oder die Journalisten ziehen, sind irrtumsanfällig (vgl. Schimank 2000: 228f.). In mehreren Wirkungsansätzen wird der Frage nachgegangen, inwiefern Rezipienten mediale Darstellungen als Beobachtungsdaten verwenden, um auf die Realität zu schließen, z.B. auf die Häufigkeit und die Eigenschaften bestimmter Ereignistypen (vgl. Daschmann 2001), Gewaltrisiken („Kultivierungsanalyse“) und die Meinungsverteilung („Theorie der Schweigespirale“). Merten (1978: 578; Hervorhebung im Original) bezeichnet Massenkommunikation deshalb als „virtuelles Sozialsystem“, in dem nicht geprüfte, sondern unterstellte Annahmen wirksam sind. Im Verhältnis zwischen Journalismus und Publikum sind ein hohes Maß an Vertrauen (vgl. Kohring 2004) und vorhergehender Abstimmung notwendig, weil diese nicht – wie in der Kommunikation unter Anwesenden und/oder bei wenigen Beteiligten – ad hoc über Rückkanäle stattfinden kann. Kognitive Deutungsstrukturen, die dieses leisten, sind „Medienhandlungsschemata“
Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln via Öffentlichkeit
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(vgl. Schmidt 1994: 164ff.). Im Journalismus lassen sich Deutungsschemata auf mehreren Ebenen unterscheiden (Berichterstattungsmuster, Sparten, Darstellungsformen, Marken) (vgl. Neuberger 2005: 73ff.). Sie besitzen eine kognitive und eine kommunikative Seite: Akteure verfügen über Schemawissen, das sie im Laufe der Sozialisation erwerben; in der Kommunikation werden Schemabezeichnungen verwendet (wie „Nachricht“, „Talkshow“ oder „Spielfilm“). Sie signalisieren den Rezipienten metakommunikativ, welches Schemawissen er aktivieren muss, um ein Medienangebot „richtig“, d.h. im Sinne des Kommunikators zu interpretieren. Schematisierung erleichtert die Koorientierung zwischen Journalismus und Publikum. Journalisten können ihre Arbeit routinisieren und ihren Erfolg besser kalkulieren.
3
Erwartungsstrukturen im Journalismus
Erwartungsstrukturen setzen die teilsystemische Handlungslogik in konkrete Anweisungen um und machen sie durchsetzungsfähig. Die Erwartungsstrukturen im Journalismus kann man in einen Arbeits- und einen Berufskontext unterteilen (vgl. Rühl 1989: 254f.):
Arbeit: Arbeitsorganisationen (Redaktionen), Arbeitsrollen (Redakteur, Reporter etc.) und redaktionelle Entscheidungsprogramme für das Darstellen, Ordnen, Selektieren, Sammeln und Prüfen von Informationen (vgl. Altmeppen 2004: 425ff.; Blöbaum 1994: 220ff.) sind unmittelbar leistungserbringend. Sie dienen als Vorgaben für die Produktion bestimmter Medienangebote. Beruf: Berufsorganisationen (Journalistenverbände), Berufsrollen („neutraler Berichterstatter‘, „Kritiker an Missständen“, „Anwalt der Benachteiligten“ etc.) (vgl. Scholl & Weischenberg 1998: 157ff.) und Berufsnormen als allgemeine journalistische Standards (Vielfalt, Trennung von Nachricht und Meinung etc.) regulieren und orientieren. Sie operationalisieren den binären Code des Systems Journalismus. Berufliche Erwartungsstrukturen sind in Berufskodizes und Gesetzen formalisiert.3
Die beruflichen Strukturen werden nicht unverändert in die redaktionellen Strukturen übernommen. Organisationen können den Handlungslogiken meh3
Die konkrete Abgrenzung zwischen Deutungs- und Erwartungsstrukturen fällt nicht immer leicht, da auch Regeln, die mit Sanktionen bewehrt sind, kognitive und evaluative Deutungen enthalten.
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Christoph Neuberger
rerer Teilsysteme folgen (vgl. Schimank 1996: 250f.). Für Medienunternehmen ist eine Orientierung an journalistischen und ökonomischen Zwecken typisch, was häufig zu Spannungen führt (vgl. Abschnitte 5 und 6). Den Journalisten als Leistungserbringern im Öffentlichkeitssystem stehen Leistungsempfänger gegenüber, die über Publikumsrollen am System beteiligt sind (vgl. Stichweh 1988: 262). Im Journalismus lassen sich drei Typen von Leistungsempfängern unterscheiden:
Rezipienten fragen bestimmte Gratifikationen nach. Ihre Erwartungen sind auch durch die Rollen geprägt, die sie in anderen gesellschaftlichen Teilsystemen übernehmen. An diesen sind sie zumeist ebenfalls als Leistungsempfänger beteiligt (Verbraucher, Bürger, Sportfan etc.). Nach der Aufmerksamkeit, die Rezipienten journalistischen Angeboten schenken, streben Öffentlichkeitsarbeit und Werbung. Akteure, die Öffentlichkeitsarbeit („Public Relations“) betreiben, haben eine bestimmte Wirkungsintention: Im Unterschied zur journalistischen Fremddarstellung der gesellschaftlichen Umwelt betreiben sie Selbstdarstellung und bemühen sich langfristig um Bekanntheit und ein positives Image ihrer Organisation. Die Werbung will einen kurzfristigen Kaufimpuls auslösen. Ihre Produktbotschaften sollen separat vom redaktionellen Teil präsentiert werden. Über die Quersubventionierung des Journalismus durch Werbeerlöse können jedoch Werbetreibende Einfluss auf seine Entscheidungen nehmen.
In den beruflichen Erwartungsstrukturen des Journalismus gibt es eine klare Hierarchie: Die Publikumsbedürfnisse haben Vorrang vor den Wirkungsintentionen von Öffentlichkeitsarbeit und Werbung. Durch die Trennungsnorm und andere Normen soll vor allem ausgeschlossen werden, dass Interessen der Werbetreibenden Eingang in den Journalismus finden (vgl. Baerns 2004). Barrieren gibt es auch gegen einen zu starken und einseitigen Einfluss von „Public Relations“ (PR). Doch auch der Publikumsorientierung sind im Journalismus Grenzen gesetzt: Journalistische Angebote sind „meritorische Güter“, für die keine ausreichend große Publikumsnachfrage herrscht. Um die für das Gemeinwohl, die Erfüllung der „öffentlichen Aufgabe“ erforderliche Qualität und Menge zu produzieren, gelten Eingriffe in die Konsumentensouveränität als gerechtfertigt (etwa durch das Erheben von Gebühren, mit denen alle Besitzer von Empfangsgeräten den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gemeinsam finanzieren müssen) (vgl. Neuberger 1997a: 172).
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Fragt man Journalisten nach ihrem Berufsverständnis, dann dominieren die Publikums- und die Gemeinwohlorientierung (vgl. Schneider, Schönbach & Stürzebecher 1993: 23f.; Weischenberg, Malik & Scholl 2006: 356). Die Durchsetzungskraft beruflicher Erwartungsstrukturen im Journalismus ist allerdings relativ schwach. Die Grundrechtsnorm der Medienfreiheit setzt sowohl der Selbst- als auch der rechtlichen Fremdregulierung Schranken.
4
Konstellationsstrukturen im Journalismus
Akteure besitzen drei basale Merkmale: Sie verfolgen bestimmte Interessen, verfügen über Einflusspotenziale, um ihre Interessen in Akteurkonstellationen durchzusetzen, und haben dafür eine Handlungsstrategie. Konstellationsstrukturen sind stabile Akteurkonstellationen, die oft auf der (gleichen oder ungleichen, positiv oder negativ bewerteten) Verteilung von Einflusspotenzialen beruhen. Journalisten sind „Vermittlungsakteure“ (Schimank 2000: 271) innerhalb einer längeren Einflusskette: Auf der Inputseite geht es um die Beziehung zwischen dem Journalismus zu seinen Quellen, zur Öffentlichkeitsarbeit und zur Werbung, auf der Outputseite um die Beziehung zu seinem Publikum. Die weiteren Ausführungen konzentrieren sich auf das Verhältnis zwischen Öffentlichkeitsarbeit, Journalismus und Publikum. Über das Öffentlichkeitssystem werden Einflussbeziehungen für alle Teilsysteme der Gesellschaft vermittelt. Das öffentliche Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln bestimmt in wachsendem Maße die Gesellschaft (These der „Medialisierung“; Imhof 2006). Der Journalismus, der die Einflüsse als Subjekt kanalisiert, ist (gerade deshalb) selbst Objekt vielfältiger Einflussversuche aus seiner Umwelt. Sozialer Einfluss besteht darin, die Handlungsalternativen des Gegenübers einzuschränken. Die Möglichkeiten dafür sind vielfältig (vgl. Schimank 2000: 249ff.); Luhmann beschreibt z.B. Einflusspotenziale als symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien (Geld, Macht, Wahrheit, Moral etc.). Im Öffentlichkeitssystem lassen sich spezifische Einflusspotenziale des Journalismus für Publikum und Öffentlichkeitsarbeit unterscheiden. Im Verhältnis zu den Rezipienten ist in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften das Überzeugen der zentrale, aber nicht der einzige Mechanismus, um zur Annahme von Kommunikationsofferten zu bewegen (vgl. Abschnitt 7). Akteure, die Öffentlichkeitsarbeit betreiben, streben nach Aufmerksamkeit (= Quantität) und Zustimmung (= Qualität). Massenmedien, die diese verleihen, können Anpassungsbereitschaft einfordern: Die Öffentlichkeitsarbeit, die versucht,
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Christoph Neuberger
eigene Akteure, Themen und Meinungen in den Medien zu platzieren, will erreichen, dass als neutrale Beobachtung (Fremddarstellung) erscheint, was als Beeinflussung (Selbstdarstellung) intendiert ist, um so die Chance auf Aufmerksamkeit und Zustimmung zu erhöhen. Dafür muss sie sich den „Spielregeln“ des Journalismus anpassen und vermeiden, dass ein erkennbar großer Einfluss die Glaubwürdigkeit des Journalismus untergräbt. Die Werbung hingegen spielt normalerweise mit „offenen Karten“ und gibt ihre persuasive Absicht bekannt. Verdeckte Werbung im redaktionellen Teil eines Medienangebots täuscht darüber, indem sie falsche metakommunikative Hinweise gibt, die sie als „Journalismus“ etikettieren (vgl. ebd.: 230; Baerns 2004). Öffentlich gewonnene Aufmerksamkeit und Zustimmung sind akkumulierbar: Die Prominenz eines Akteurs resultiert aus einem hohen Maß an Aufmerksamkeit, seine Reputation aus einer hohen Wertschätzung (vgl. Neidhardt 1994: 322ff.). Franck (1998) hat die Parallelen zwischen Geld- und Aufmerksamkeitsökonomie herausgearbeitet (vgl. auch Neuberger 2001: 218ff.): Wer einen hohen Bekanntheitsgrad besitzt, findet schon alleine deshalb Beachtung. Prominenz wird zum Kapital, das Zinsen trägt. Ein Massenmedium ist, so definiert Franck (1998: 150), sowohl die „Großbank, die die Millionenkredite an Beachtlichkeit vergibt“, als auch die Börse, da die mediale Präsenz einer Person auch Ausdruck ist für ihren „Erwartungswert“ bei der Aufmerksamkeitsgewinnung. Das heißt: Ein Fernsehauftritt ist sowohl Investition (= Herstellung von Prominenz) als auch Gradmesser (= Einstufung des Bekanntheitsgrads). Diese Selbstverstärkung ist auch im Fall der Reputation zu beobachten, wo der – aus der Wissenschaft bekannte – „Matthäus-Effekt“ dazu führt, dass jene, die bereits große Zustimmung genießen, in überproportional hohem Maße weitere Zustimmung erhalten (vgl. Merton 1973: 446). Dieser Mechanismus der Selbstverstärkung zeigt sich nicht nur bei Akteuren.4 Der „Agenda setting“-Ansatz und die „Theorie der Schweigespirale“ legen nahe, dass die in den Medien hervorgehobenen Themen und Meinungen dem Publikum als Indikator für die Relevanz von Themen und für die Mehrheitsmeinung dienen. Das Publikum reagiert mit der Übernahme der Agenda und – aus Isolationsfurcht – mit der Anpassung an die veröffentlichte Meinung. Die journalistische Selektion löst sich von ihrer ursprünglichen Begründung ab: Prominente werden aufgrund ihres Prominentseins (und nicht ihrer
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Nach Luhmann (1996: 43) informieren Massenmedien nicht nur, sondern teilen zugleich mit, worüber andere informiert sind und man deshalb selbst informiert sein muss, will man keinen Ansehensverlust erleiden.
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Leistungen) (vgl. Franck 1998: 131; vgl. auch Peters 1996), Themen aufgrund ihrer Thematisierung (und nicht ihrer Relevanz) und Meinungen aufgrund ihrer Artikulation (und nicht aus Überzeugung) akzeptiert. Die Relevanzzuschreibung anderer Funktionssysteme wird also durch eine eigenständige Einschätzung im Öffentlichkeitssystem abgelöst, an die Stelle von Fremd- tritt Selbstreferenz. So treten nicht jene Wissenschaftler in Talkshows auf, die wissenschaftsintern über hohe Reputation verfügen, sondern jene, die prominent sind und sich medienkonform präsentieren (vgl. Weingart 2001: 262ff.). Imhof (2006: 199ff.) sieht darin Hinweise auf eine „Medialisierung“ der Gesellschaft und die Ausdifferenzierung eines Funktionssystems der Medien.5 Die auf Neuigkeit und Aufmerksamkeitsgewinnung in einem breiten Publikum ausgerichtete Eigenlogik des Journalismus wird aus der Perspektive anderer Funktionssysteme oft als negative Externalität wahrgenommen. Umweltstörungen (ein Skandal beschädigt die Reputation eines Politikers etc.) und der systeminterne Neuigkeitsdrang (der durch „frische“ Themen, die alte verdrängen, oder durch die Umbewertung von „positiv“ nach „negativ“ gestillt wird) stoppen diesen Prozess der Selbstverstärkung. Prominente erwerben durch ihre Bekanntheit auch die Fähigkeit, Unbekannte(s) im Öffentlichkeitssystem ins Rampenlicht zu rücken (vgl. Franck 1998: 127). Solche „Abstrahlungseffekte“ lassen sich bei Auftritten von Prominenten in der Werbung oder in Fernsehshows beobachten. Prominenz und Reputation können in Einflusspotenziale anderer Teilsysteme konvertiert werden: Politiker können die im Wahlkampf erworbene Bekanntheit und Beliebtheit am Wahltag in politische Macht umwandeln, Unternehmen die Zuwendung und Zustimmung für sich und ihre Produkte in Geldeinnahmen ummünzen.
5
Struktureller Widerspruch im Journalismus
Die Hierarchie der beruflichen Erwartungsstrukturen (Gesellschaft – Publikum – Öffentlichkeitsarbeit – Werbung) ist tendenziell umgekehrt zur Verteilung der ökonomischen Einflusspotenziale: Massenmedien finanzieren sich in beträchtli-
5
Ähnliche „Abkopplungsphänomene“ (Schmidt & Spieß 1996: 25) werden in der Werbung registriert, die zunehmend vom Produkt- auf den Kommunikationswettbewerb umstellt und so ihren ursprünglichen Zweck aus den Augen verliert. Daneben gibt es Funktionssysteme (wie Sport und Kunst), welche die Reputationszuschreibung weitgehend an das Öffentlichkeitssystem abgetreten haben.
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chem Maße durch Werbeerlöse. Die Öffentlichkeitsarbeit trägt dazu bei, dass in Redaktionen die Kosten reduziert werden können. Sie beeinflusst durch (nicht-)monetäre Zuwendungen an Journalisten. Vergleichsweise gering sind dagegen die Zahlungsfähigkeit und -bereitschaft des Publikums. Der Medienökonom Heinrich (1996: 166) kommt zum Ergebnis, dass auf dem Publikumsmarkt „der Qualitätswettbewerb eher schlecht funktioniert und dass vor allem ein Kostenwettbewerb mit negativen Auswirkungen auf die publizistische Qualität zu beobachten ist“. Dies liegt zum einen an der geringen Qualitätstransparenz („Erfahrungs-“ und „Vertrauensgüter“, die Rezipienten ex ante oder selbst a posteriori nicht beurteilen können, sowie hohe Kosten für die Informationsgewinnung bei relativ geringem Nutzen). Zum anderen lassen sich journalistische Angebote als „öffentliches Gut“ schlecht vermarkten (Nicht-Ausschließbarkeit von Nichtzahlern und Nicht-Rivalität im Konsum). Aus diesen Gründen herrscht unter den Rezipienten eine Art „rationale Ignoranz“: Sie sind nicht bereit, ein Qualitätsangebot durch die Bezahlung eines hohen Preises zu honorieren. So besteht für die Produzenten kaum ein Anreiz, bessere Qualität zu liefern. Deshalb herrscht auf journalistischen Märkten eher ein Kosten- als ein Qualitätswettbewerb (vgl. ebd.: 167ff.). Diese Vermarktungsprobleme besitzt die Werbung nicht, weshalb Medienunternehmen dazu neigen, sich stärker an den Interessen der Werbetreibenden zu orientieren. Zwischen den beruflichen Deutungs- und Erwartungsstrukturen einerseits und den Konstellationsstrukturen andererseits herrscht im Journalismus also ein Spannungsverhältnis, das durch die Ökonomisierung zunimmt (vgl. Heinrich 2001). Zwar sollen Berufsnormen den Einfluss der Öffentlichkeitsarbeit und der Werbung auf den redaktionellen Teil der Massenmedien eindämmen, doch dass sie akzeptiert und eingehalten werden, ist zweifelhaft.
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Handlungsantriebe im Journalismus
Wie verhalten sich Journalisten im Spannungsverhältnis zwischen beruflichen Erwartungen und ökonomischen Einflüssen? Was motiviert Journalisten? Darüber geben die Ergebnisse einer repräsentativen Journalistenbefragung Aufschluss, die Schneider, Schönbach & Stürzebecher (1993: 20) im Jahr 1992 in den alten Bundesländern durchgeführt haben (N=983). Dabei sollten Journalisten angeben, welche Punkte sie „persönlich heute an Ihrem Beruf besonders anziehend finden“. Extrinsische Motive, bei denen der Beruf als Mittel zum Zweck betrachtet wird, wurden eher selten genannt. Dies galt sowohl für das ökonomische Einkommen („gute Verdienstmöglichkeiten“: 43%, „gute Zu-
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kunftschancen“: 24%) als auch für das „Einkommen“ an Aufmerksamkeit („weil es irgendwie Spaß macht, seinen Namen und seine Arbeit gedruckt zu sehen“: 39%), das Ansehen („Ansehen der Journalisten“: 10%) und die Macht, die der Beruf verschafft („Möglichkeit, meine Überzeugungen vielen anderen mitzuteilen“: 34%, „Möglichkeit, politische Entscheidungen zu beeinflussen“: 30%). Wichtiger waren die intrinsischen Motive, die auf den Beruf als Selbstzweck gerichtet sind. Dabei geht es zum einen um die optimale Erfüllung der gesellschaftlichen Aufgaben („Möglichkeit, Mißstände aufzudecken und zu kritisieren“: 67%, „Möglichkeit, sich für Werte und Ideale einzusetzen“: 49%). Zum anderen wurden die spezifischen Bedingungen journalistischer Arbeit geschätzt, z.B., dass der Journalistenberuf abwechslungsreich und spannend ist (82%) und dass er viele Freiheiten bietet (68%). Diese Ergebnisse bestätigen die verbreitete Annahme, dass mit der Wahl des Journalistenberufs ein hohes Maß an Idealismus verbunden ist. Dies schwächt seine Position auf dem Arbeitsmarkt. Dass Journalisten nicht alleine auf den eigenen Vorteil bedacht sind, sondern ihr berufliches Selbstbild verwirklichen wollen, entspricht dem Akteurmodell des „Identitätsbehaupters“. Schimank (2000: 37ff.) unterscheidet vier Akteurmodelle: den rational kalkulierenden, egoistischen Nutzenmaximierer („homo oeconomicus“), den normgeleiteten „homo sociologicus“, den durch Gefühle gelenkten „emotional man“ und den „Identitätsbehaupter“. Zwischen einzelnen Handlungsantrieben und Strukturbereichen besteht eine Affinität: „Identitätsbehaupter“ orientieren sich primär an evaluativen Deutungsstrukturen. Der „homo sociologicus“ passt sich normativen Erwartungen an. In der systemtheoretisch orientierten Redaktionsforschung wird der Redakteur als „homo sociologicus“ aufgefasst, der sich nahtlos in redaktionelle Strukturen einfügt: „Redaktionelle Arbeit ist heutzutage entpersönlicht in dem Sinne, daß sie nicht von ganz bestimmten Personen geleistet wird, sondern durch journalistische Rollen.“ (Rühl 1979: 14) Diese Sichtweise stößt schon deshalb an Grenzen, weil journalistisches Handeln, das flexibel auf Überraschungen reagieren muss, nicht durch Entscheidungsprogramme vollständig festgelegt sein kann. Als „homo oeconomicus“, der vor allem Konstellationsstrukturen im Blick hat, ist der Journalist erst neuerdings wahrgenommen worden (vgl. Fengler & Ruß-Mohl 2005; Reinemann, in diesem Band). In einer Studie über den Medienjournalismus kam Fengler (2002: 300) zum Ergebnis, dass Journalisten rational handeln, wenn sie sich nicht am Publikum orientieren:
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Christoph Neuberger Die Gruppen mit dem größten Droh- und Sanktionspotenzial, die ihnen zugleich die größten extrinsischen Anreize bieten, also die Journalisten sowie die Medienunternehmer und -manager, werden von den Medienjournalisten bei ihren journalistischen Handlungsentscheidungen bevorzugt behandelt.
Für die starke Orientierung der Journalisten an Vorgesetzten und Berufskollegen gibt es zahlreiche Belege (vgl. Reinemann 2003: 33ff.; Weischenberg, Malik & Scholl 2006: 358). Ein Grund dafür ist, dass die Konsequenzen journalistischen Handelns auf der Publikumsseite, die über die Messung von Reichweiten hinausgehen, nur schwer beobachtbar und antizipierbar sind (vgl. Kepplinger & Vohl 1976: 334ff.). Darüber hinaus vermitteln vorgesetzte Umwelteinflüsse, z.B. dann, wenn sich Politiker beim Verleger oder Chefredakteur über deren Mitarbeiter beschweren. Die Rezeptionsforschung basiert in weiten Teilen auf dem Modell des „homo oeconomicus“ (vgl. Jäckel 1996: 63ff.). So folgt der Rezipient nach dem „Expectancy-Value Approach“ dem Prinzip der kalkulierenden Nutzenmaximierung (vgl. Palmgreen & Rayburn 1985): Er selektiert jenes Medienangebot, für welches das Produkt aus Erwartungssicherheit (als Wahrscheinlichkeitsschätzung über die Handlungsfolgen) und Bewertung (der Folgen in Nutzen- bzw. Kosteneinheiten) am höchsten ist. Allerdings ist die Rezeption von Massenmedien meistens eine „Niedrigkosten-Situation“ (vgl. Jäckel 1992). Ein Beispiel ist die Kanalwahl im Fernsehen, bei der eine „falsche“ Wahl nur zu einem geringen Schaden führt, weshalb Zuschauer oft durch die Programme „zappen“, anstatt vorher eine Programmzeitschrift zur Hand zu nehmen. Nicht nur die Selektion des Medienangebots, sondern auch die Informationsverarbeitung geschieht überwiegend routinehaft und unvollständig. Sie folgt einem Modell der „Alltagsrationalität“, wie Brosius (1997) empirisch belegt hat. Das Spektrum der Gratifikationen, nach denen Rezipienten streben können, ist weit. Grob kann man zwischen sofortiger und verzögerter Bedürfnisbefriedigung unterscheiden (vgl. Schramm 1949: 260f.): Unterhaltung löst unmittelbar Emotionen aus, Information wird bereitgestellt, um im Bedarfsfall Probleme bearbeiten zu können. Der Rezipient kann nicht nur als „homo oeconomicus“ oder „emotional man“ betrachtet werden, sein Handeln kann auch dem Modell des „Identitätsbehaupters“ folgen, etwa dann, wenn er dem Selbstbild des „gut informierten Bürgers“ (vgl. Schütz 1972) gerecht werden will, indem er eine Qualitätszeitung liest (oder diese zumindest abonniert hat) und aus moralischen Gründen auf die Nutzung bestimmter Angebote verzichtet (wie Gewaltdarstellungen und Pornografie), obwohl er – weil dies heimlich möglich wäre – nicht mit Sanktionen rechnen muss.
Intentionalität
Konstellationsstrukturen
Erwartungsstrukturen
Strukturtyp Deutungsstrukturen
Objektivität (Neutralität, Trennung von Nachricht und Meinung etc.)
Beobachtung Öffentlichkeit als „Spiegel“ (Liberalismus) / Selbstbeobachtung der Gesellschaft (Systemtheorie) Nachrichtenjournalismus („objective reporting“): Nachrichtenschema / -faktoren Theorien kognitiver Wirkungen / „schwache“ Wirkungen „neutraler Beobachter“
Einfluss der Öffent- stark lichkeitsarbeit auf den Journalismus schwach Einfluss des Journalismus auf das Publikum intentionslos
Berufsnormen
kognitivwissenschaftich Berufsrolle
kognitiv-beruflich
evaluativ
intentional
stark
schwach
stark
Beeinflussung Öffentlichkeit als Instrument: (1) journalistisches Eigeninteresse; (2) Fremdinteresse: Öffentlichkeitarbeit, Werbung, Propaganda persuasive Mittel: implizite Wertungen („instrumentelle Aktualisierung“; Kepplinger), explizite Wertungen (Kommentierung) etc. Theorien persuasiver Wirkungen / „starke“ Wirkungen Eigeninteresse Fremdinteresse „publizistische Persön- Werbe-, PR-Rollen, lichkeit“, „Missionar“ „Propagandist“ eigene Position sich für die „richtige“ beziehen Position einsetzen
stark bei der Organisation des Diskurses / schwach, da keine Interessenvertretung transintentional (Ausgleich der Interessen)
Diskursregeln (Bezugnahme, Begründung, Komplexität), Offenheit für Akteure und Themen schwach: „herrschaftsfreier Diskurs“
Theorie der Verständigung (Habermas) Moderator / „Anwalt“
„diskursiver Journalismus“ (Burkart)
Verhandlung Öffentlichkeit als Diskurs (Deliberation)
Abbildung 1: Journalistische Vermittlungsstrukturen der Akteurkonstellation Öffentlichkeitsarbeit – Journalismus – Publikum
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7
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Strukturdynamik durch den Journalismus
Gesellschaftliche Strukturdynamiken werden durch das öffentliche Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln ausgelöst, die der Journalismus vermittelt. In den beruflichen Strukturen des Journalismus lassen sich alle drei Auslöser für Strukturdynamiken nachweisen (vgl. Abbildung 1). 7.1
Beobachtung
Kann der Journalismus als „Spiegel“ der Umwelt fungieren, kann er ein unverzerrtes „Abbild“ liefern? Unter Journalisten ist dies eine verbreitete Vorstellung: Eine repräsentative Befragung ergab im Jahr 2006, dass rund drei Viertel der Journalisten (74%) der Aufgabe zustimmten, Journalisten sollten „die Realität genauso abbilden, wie sie ist“ (vgl. Weischenberg, Malik & Scholl 2006: 356). Erkenntnistheoretisch muss eine solche Aufgabe als unerfüllbar gelten, besonders aus der Sicht des „Radikalen Konstruktivismus“, der auch in der Journalismusforschung Anhänger gefunden hat. Auch dann, wenn man eine kritisch-rationale Position einnimmt, muss man von diesem Anspruch erhebliche Abstriche machen. Neben der prinzipiellen Fehlbarkeit von Erkenntnis ist bei der Abbildfunktion weiter zu berücksichtigen, dass jede Selektion mit einer subjektiv-wertenden Entscheidung verbunden ist, es also keine „objektiven“ Kriterien der Nachrichtenauswahl gibt, sondern höchstens Konventionen darüber existieren können (vgl. Neuberger 1997b; Seel 2002). Dass Journalisten bloße Beobachter gesellschaftlicher Vorgänge sein sollen, ist dennoch Teil der beruflichen Erwartungsstruktur. Für den heute dominanten Nachrichtenjournalismus ist Objektivität die Zentralnorm (vgl. Weischenberg 1983; Neuberger 1997b). Damit verbunden sind auch Erwartungen wie Unparteilichkeit, die standardisierte Nachrichtenform („W-Fragen“, Aufbau nach dem Prinzip der „umgekehrten Pyramide“), die Nennung von Quellen sowie die Trennung von Nachricht und Meinung, die über die Erkenntnisfrage hinausreichen. Die Norm der Trennung von Nachricht und Meinung soll eine für den Rezipienten erkennbare Grenze zwischen neutraler Beobachtung und intendierter Beeinflussung im Journalismus ziehen. Allerdings können metakommunikative Rahmenhinweise auch zur Täuschung der Rezipienten eingesetzt werden. Dies ist etwa dann der Fall, wenn in Nachrichten implizit bewertet wird, etwa durch die Synchronisation der Kommentarlinie mit der Nachrichtenauswahl (vgl.
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Schönbach 1977) oder durch die „instrumentelle Aktualisierung“ von Fakten, die eine Wertungstendenz besitzen (vgl. Kepplinger 1989). Seit den sechziger Jahren wird der Nachrichtenjournalismus in den USA als dysfunktional kritisiert (vgl. Schudson 1978). Durch das Streben nach reiner Beobachtung werde er zum Spielball der gesellschaftlichen Kräfte. Dieser „Verlautbarungsjournalismus“ bevorzuge offizielle Standpunkte und Ereignisse, die von einflussreichen Institutionen kontrolliert und inszeniert werden. Mit dieser Kritik gehen Forderungen nach weiterreichenden Eingriffen des Journalismus in den Vermittlungsprozess einher. Normative Öffentlichkeitsmodelle stellen unterschiedlich hohe Anforderungen (vgl. Weßler 1999: 29ff.): Das liberale Modell begnügt sich mit einer angemessenen Repräsentanz auf der Inputseite, die (wie im öffentlich-rechtlichen Rundfunk) über die Normen „Vielfalt“ und „Ausgewogenheit“ hergestellt werden soll. Nach dem deliberativen Modell sollen Öffentlichkeitsstrukturen darüber hinaus eine diskursive Bearbeitung des Input (Throughput) und eine überzeugende öffentliche Meinung als Output sicherstellen. Auch der Input soll reguliert werden, indem Journalisten als „Anwälte“ gesellschaftlicher Randgruppen auftreten, die artikulationsschwach sind. Medien, die dem Publikum als Beobachtungsinstrumente dienen, haben vielfältige Effekte. Sie verändern durch die Aufmerksamkeit, die sie Akteuren schenken, oder durch die Wiedergabe von Meinungen, die in der Gesellschaft kursieren, Konstellationsstrukturen. Sie können zur Abweichungsdämpfung oder -verstärkung von Erwartungsstrukturen beitragen: Einerseits kann der Journalismus Normen bekräftigen; so können Berichte über Bestrafungen eine Präventivwirkung haben. Andererseits können aber auch Nachahmungstaten angeregt werden, etwa durch Berichte über gewalttätige Demonstrationen oder Selbstmorde („Werther-Effekt“). 7.2
Beeinflussung
Ein wesentlicher Teil der Journalismusforschung ist Fragen der Beeinflussung gewidmet: Wollen Journalisten Einfluss nehmen? Welche Eigeninteressen verfolgen sie, welche Fremdinteressen wirken auf sie ein? Mit welchen Mitteln versuchen sie, diese durchzusetzen? Wie erfolgreich können sie ihre Intentionen realisieren? Lange Zeit wurden deutsche Journalisten für ihr angeblich „missionarisches Bewusstsein“ kritisiert. Ihnen wurde unterstellt, dass sie eigenständige politische Interessen verfolgen und über eine große, nicht demokratisch legitimierte Macht verfügen, um Wähler zu beeinflussen. Empirische Befunde haben diese
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Christoph Neuberger
Vorstellung weitgehend widerlegt: Weder ließ sich eine solche Intention nachweisen (vgl. Schönbach, Stürzebecher & Schneider 1994), noch erscheint es plausibel, dass sie eine solche Absicht umstandslos realisieren könnten (vgl. Weischenberg, von Bassewitz & Scholl 1989). Die früher verbreitete Vorstellung eines monokausalen und intentional steuerbaren Wirkungsverlaufs ist differenzierteren Modellen gewichen. Deshalb ist überwiegend mit transintentionalen Effekten zu rechnen.6 Öffentlichkeitsarbeit versucht, über eine Einflusskette (vgl. Schimank 2000: 271), in der Journalismus das Zwischenglied bildet, das Publikum zu erreichen. Auch die Beziehung zwischen Öffentlichkeitsarbeit und Journalismus wurde – wie jene zwischen Journalismus und Publikum – zunächst als einseitig dominierte Beeinflussungskonstellation interpretiert. Dieser Steuerungsoptimismus ist gleichfalls gewichen: Anstatt von einer „Determination“ des Journalismus durch PR auszugehen, werden mit Hilfe des „Intereffikationsmodells“ unterschiedliche Einflusskonstellationen empirisch analysiert (vgl. zuletzt Altmeppen, Röttger & Bentele 2004). Veränderungen der medialen Randbedingungen können die Einflusskonstellationen verschieben. Im Internet kommt es teilweise zu einer „Disintermediation“ (Shapiro 1999), d.h. der Journalismus kann als Zwischenglied der Einflusskette entfallen. Einerseits kann dadurch die Öffentlichkeitsarbeit in einen direkten Kontakt mit ihren Bezugsgruppen treten und muss nicht mehr den Umweg über die Redaktionen gehen. Andererseits können die Nutzer mit geringem Aufwand von der Rezipienten- in die Kommunikatorrolle wechseln (vgl. Neuberger 2006): Neben der „exit“-Option (= Abwanderung) verfügen sie so in höherem Maße auch über die „voice“-Option (= Widerspruch) als Sanktionsmittel (vgl. Hirschman 1974). Die Wirksamkeit von Beeinflussungsmitteln hängt vom Handlungsantrieb der Akteure ab. Dafür hat Schimank (2000: 250ff.) eine Systematik (vgl. Abbildung 2) entwickelt, die für die Medienwirkungsforschung und die Argumentationstheorie eine Reihe von Anschlussmöglichkeiten bietet. Der Einsatz von Einflusspotenzialen anderer Funktionssysteme (Macht, Geld etc.) kann als Versprechen oder Drohung angekündigt werden, um Rezipienten von ihrem eigenen Vor- oder Nachteil zu überzeugen (z.B. eine Steuersenkung als Wahl-
6
Mit dem Internet verliert der Journalismus das Monopol, als „Gatekeeper“ den Zugang zur aktuellen Öffentlichkeit zu kontrollieren. Da er in der Netzkommunikation nicht als dominanter Akteur auftreten kann, ist Transintentionalität noch wahrscheinlicher (vgl. Schimank 2000: 277).
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versprechen). Die trockene „Überzeugungsarbeit“ kann durch Unterhaltungselemente angereichert werden, die eine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung verschaffen. Auch der Appell an den eigenen (z.B. moralischen) Anspruch, die Missbilligung von Normverstößen und das Auslösen von Emotionen können wirksame Mittel sein (vgl. Weßler 1999: 34ff.; Gerhards 1993: 30ff.). Abbildung 2: Zusammenhang zwischen Handlungsantrieben und Einflusspotenzialen (vgl. Schimank 2000) Handlungsantrieb
Einflusspotenziale
Nutzenverfolgung („homo oeconomicus“)
Anreiz: Belohnung / Bestrafung: x unmittelbare Bedürfnisbefriedigung x verzögerte Bedürfnisbefriedigung (Geld, Reputation, Zusage künftiger Unterstützung etc.) Überzeugung, dass Handeln im eigenen (noch unerkannten, z.B. langfristigen) Interesse liegt = Verheißung (Selbstbelohnung) / Warnung (Selbstbestrafung)
Identitätsbehauptung
an evaluativen oder normativen Selbstanspruch erinnern
Normkonformität („homo sociologicus“)
Achtung vor Konformität oder Androhen von Achtungsentzug bei Abweichung
Ausleben von Emotionen („emotional man“)
treffsicheres Auslösen von Emotionen (Angst, Neid, Mitleid etc.)
7.3
Verhandlung
Die anspruchsvollste Variante, um Strukturen zu ändern, ist das Verhandeln. Das Verhandlungsziel, nämlich eine bindende Vereinbarung, mit der Erwartungssicherheit geschaffen wird, kann nicht in der Öffentlichkeit selbst erreicht werden, sondern nur außerhalb, z.B. in einem Parlament (vgl. Gerhards & Neidhardt 1993: 81). Bei den im Vorfeld geführten Verhandlungen legen die in einer Konstellation involvierten Akteure einander Vorschläge vor, die im idealen Fall schrittweise angenähert werden, bis Einigkeit erzielt ist. Dies setzt voraus, dass jeder Teilnehmer mit jedem anderen Teilnehmer kommunizieren kann. Wechselseitige Kommunikation ist aber nur unter wenigen Teilnehmern möglich. In der Massenkommunikation verhandeln deshalb zumeist nur die Sprecher großer Interessengruppen miteinander (vgl. Schimank 2000: 288f.). Diese Einschränkung der Partizipation ist aber nur ein Hindernis für Verhandlungen in einer massenmedial hergestellten Öffentlichkeit.
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Verständigungsorientierte Verhandlungen (als besonderer Typ von Verhandlungen) sollen zu einer „die Konsensbasis vergrößernden allseitigen Neubestimmung von Intentionen und Situationsdeutungen“ (ebd.: 295) führen, also nicht nur zu einem Kompromiss zwischen unveränderten Intentionen, bei dem beide Seiten lediglich Zugeständnisse machen. Das deliberative Öffentlichkeitsmodell formuliert die Anforderungen für Verständigung in der Öffentlichkeit: Es fordert Offenheit für Akteure und Themen sowie einen diskursiven Verlauf der Kommunikation (Bezugnahme, Begründung, Komplexität), an der die Teilnehmer gleichberechtigt mitwirken können (vgl. Weßler 1999: 31ff.; Gerhards 1997: 3ff., 12; Peters 1994: 46f.; Habermas 1990: 97f.). Ein deliberativer Journalismus soll die Erfüllung dieser Bedingungen sicherstellen (vgl. Burkart 1998). Peters (1994) hat die Beschränkungen der massenmedialen Öffentlichkeit für Verständigung systematisch dargestellt. Dazu gehören ungleiche Beteiligungschancen, Kapazitätsgrenzen, die zur Konzentration auf wenige Themen zwingen, die Diskontinuität der Berichterstattung und nichtdiskursive Kommunikationsstrategien. Die Akteurkonstellation in der Öffentlichkeit entspricht einer publikumsbezogenen Triade (vgl. Schimank 2000: 271), in der Sprecher um die Gunst des Publikums konkurrieren. Sie müssen ihre Mitteilungen mehrfach adressieren: nicht nur an andere Sprecher, mit denen sie verhandeln, sondern auch an das Publikum. Deshalb neigen sie dazu, „‚zum Fenster hinauszureden’ und nicht miteinander zu kommunizieren; [...] sie werden eher versuchen, für ihr Anliegen Mehrheiten beim Publikum zu gewinnen, als sich auf komplizierte Argumente des Gegners einzulassen [...]“ (Gerhards, Neidhardt & Rucht 1998: 45). Massenmedien sind, das bestätigen auch empirische Studien, „keine Diskursagenturen“ (Weßler 1999: 234; vgl. Gerhards 1997).
8
Schluss
In diesem Beitrag wurde ausgeführt, wie der Journalismus durch Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln seine gesellschaftliche Umwelt verändert. Der Journalismus wurde als Faktor betrachtet, der Wandel vorantreibt. Der Strukturwandel in Journalismus und Öffentlichkeit selbst wurde dabei ausgeklammert. Aber auch dieser Wandel lässt sich mit Hilfe des Bezugsrahmens von Schimank analysieren. Dazu gehören Fragen nach dem rekursiven Verhältnis zwischen Handeln und Strukturen in Redaktionen (vgl. Quandt 2005; Altmeppen 2004), nach dem Entstehen von Deutungsschemata im Kontext neuer
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Medien (vgl. Neuberger 2005), der Ökonomisierung (vgl. Heinrich 2001) und der „Entgrenzung“ des Journalismus (vgl. Loosen 2005). Ebenfalls noch nicht vertieft werden konnte die Frage nach den Erklärungsmöglichkeiten. Schimank (in diesem Band: 135) will – anders als Luhmann – nicht „zur Verlegenheitsformel ‚Evolution’ greifen, in der letztlich zufällige, also auch nicht erklärungskräftige Variationen den Ton angeben“. Er konzediert aber, dass Strukturdynamiken nur begrenzt theoretisierbar sind, nämlich nur, soweit sie geschlossen sind und sich nicht zufällig ereignen (vgl. Schimank 2000: 196-205). Den Versuchen, das Rezipientenhandeln zu erklären7, stehen noch kaum entsprechende Bemühungen für journalistisches Handeln gegenüber (vgl. die Beiträge von Esser und Reinemann in diesem Band).
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7
Etwa mithilfe des RREEMM-Modells (vgl. Esser 1996: 245-250; Emmer 2005).
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MILIEUS UND LEBENSSTILE
Soziale Milieus und Lebensstile: Ein Angebot zur Erklärung von Medienarbeit und Medienwirkung Stefan Hradil
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Entstehungskontext der Perspektive
Noch in den 1960er und 1970er Jahren gingen Sozialwissenschaftler üblicherweise davon aus, dass das Denken und Verhalten der Menschen von ihrer Klassen- bzw. Schichtzugehörigkeit geprägt ist. Zusammenhänge dieser Art wurden damals immer wieder untersucht. Alternativen ging man selten nach. In der Soziologie, Politikwissenschaft, Publizistik etc. war dies die Zeit der „schichtspezifischen“ Sozialisation, Sprache usw. Im Laufe der 1980er Jahre kamen dann, angestoßen von Praktikern aus Schule, Marketing und Politik, immer mehr Zweifel an dieser Vorstellung auf. Das Denken und Verhalten der Menschen schien nicht (mehr) so weitgehend vom jeweiligen Beruf, Einkommen und von der Qualifikation abhängig zu sein, wie das bislang unterstellt wurde. Damit schienen auch die gesellschaftlichen Unterschiede im Denken und Verhalten nicht (mehr) so vorrangig vertikal gegliedert zu sein, wie bisher angenommen. Zusammen mit der Zunahme von Wohlstand, Bildung und sozialer Sicherheit schienen die Freiheiten und die Unterschiede der Lebensgestaltung gewachsen zu sein. Vor dem Hintergrund dieser Eindrücke entwickelte sich ein Boom von Milieu- und Lebensstilstudien. Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich hierbei auf Freizeit und Konsum, d.h. auf die alltäglichen, der Erwerbsarbeit eher fern stehenden Alltagsmuster des Denkens und Verhaltens. „Entkoppelungsthesen“ (von Arbeit, Schicht und Klasse) wurden zum Teil so weit getrieben, dass Bildung, Beruf und Einkommen überhaupt keinen Einfluss auf Mentalität und Lebensführung der Einzelnen mehr zugesprochen wurde. Die sozialen Milieus und Lebensstilgruppierungen, denen die Menschen angehörten, wurden ihrerseits als erklärende Vari-
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Stefan Hradil
ablen für Konsum, Wahlentscheidungen, Jugendproteste, Sozialisation von Kindern, Mediennutzung etc. angesehen. Damit geriet in den 1980er Jahren eine Perspektive wieder in den Vordergrund der Aufmerksamkeit, die schon lange zuvor in Begriffe und Programme gefasst worden war. Das Milieukonzept hat eine Tradition, die bis weit vor die Etablierung der Soziologie als eigenständige Disziplin zurückreicht. Schon in der französischen Aufklärung, als man sich nach dem Vorbild der Naturwissenschaften bemühte, die wesentlichen Einwirkungskräfte auf die menschliche Existenz rational zu erfassen, gingen Überlegungen davon aus, dass nicht in ererbten Anlagen, sondern in äußeren Einflüssen die wesentlichen Prägekräfte des menschlichen Daseins zu suchen sind. Besonders häufig (so u.a. von Montesquieu) wurde in diesem Zusammenhang auf das Klima hingewiesen. Als eigentlicher Begründer des sozialwissenschaftlichen Milieubegriffs gilt Hippolyte Taine (1823-1893). Bei ihm findet sich zuerst die für den Milieubegriff bis heute charakteristische kontextuelle Verschmelzung zahlreicher heterogener, objektiver und subjektiver Umweltkomponenten, die als ursächlich für die alltäglichen Muster der Lebensweise angesehen werden. Die schon bei Taine und dann später bei Émile Durkheim (1858-1917) erkennbare Tendenz, unter den in „Milieus“ angesprochenen Umweltkomponenten auch die menschliche Subjektivität zu berücksichtigen, führte Max Scheler (1874-1928) in der Zwischenkriegszeit weiter. „Milieu“ stellt für ihn „das Insgesamt dessen dar, was vom Einzelwesen als auf es wirksam erlebt wird“ (Hitzler & Honer 1984: 61). Man wird nicht fehlgehen in der Vermutung, dass der reale Hintergrund dieser Soziologisierung und Subjektivierung des Milieukonzepts im Nebeneinander von sich entwickelnden industriegesellschaftlichen Strukturen einerseits und mehr oder minder traditionalen Kulturbeständen und Sinnstrukturen andererseits zu suchen ist, die das Erleben und das Umgehen mit der neuen Industriewelt auf durchaus unterschiedliche Weise prägten. Typisch hierfür ist der berühmte Aufsatz von M. Rainer Lepsius (1966). Er weist darauf hin, dass die Parteiorganisation und die parteipolitischen Konflikte in Deutschland noch bis in die 1920er Jahre hinein von vier „sozialmoralischen Milieus“ geprägt waren: Vom katholischen Milieu (Zentrum), vom protestantisch-liberalen Milieu, vom protestantisch-konservativen Milieu sowie vom Arbeitermilieu (Sozialdemokratie). Es war sicher kein Zufall, dass nach dem Zweiten Weltkrieg mit der vollen Durchsetzung der Industriegesellschaft der Milieubegriff in den Hintergrund geriet. Immer mehr unterstellte man, wie eingangs erwähnt, eine weitreichende
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Prägekraft von Klassen und Schichten und damit der Erwerbssphäre und der Arbeitswelt. Milieubegriffe „passten“ in die Realität und mehr noch in die Vorstellungen nicht allzu gut, die in den 1960er und 1970er Jahren eine ökonomisierte, standardisierte, materiell determinierte Industriegesellschaft zu erkennen glaubt. Denn das Milieukonzept lässt die Konstitution von Lebenswelten bewusst offen. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf die verschiedensten Entstehungshintergründe von Umwelten (auf berufliche, religiöse, regionale, lebensweisebedingte, politische, moralische etc.). So wurde der Milieubegriff von der Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre hinein wenig benutzt. Seit den 1980er Jahren spielt die Milieuperspektive in der sozialwissenschaftlichen Literatur wieder eine sehr viel bedeutendere Rolle. Sowohl als beiläufig verwendeter Hinweis auf diverse soziale Umwelten und Prägekräfte (vom Drogen- bis zum Bänkermilieu) als auch als sorgsam definierter, operationalisierter Zentralbegriff soziologischer Studien hat der Milieubegriff seither Konjunktur. Das Lebensstilkonzept boomt ebenfalls seit den 1980er Jahren. Auch damit geriet eine Sichtweise wieder in den Vordergrund der Aufmerksamkeit, die lange zuvor, schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ausgearbeitet worden war. Georg Simmel (1858-1918) erkannte, dass die Modernisierung dazu führt, dass die Einzelnen in immer mehr und immer unterschiedlicheren „sozialen Kreisen“ leben (1989 [1900], bes. Kap. 6). Ihnen gehören die Menschen, anders als in vormodernen Gesellschaften, jeweils nur in Teilen ihrer Persönlichkeit an. Mit der Loslösung aus angestammten sozialen Einbettungen wird es für die Menschen aber schwieriger, stabile Identitäten auszubilden. Individuelle Gestaltungen des Lebens werden möglich und nötig. Dabei drohen sich die heterogenen Außenwelten von der eigenen Lebensweise und Wahrnehmung zu entfremden. Mittels Stilbildung wird versucht, Brücken zu schlagen und anderen den eigenen Lebensstil zu vermitteln (vgl. Konietzka 1995: 19). Max Weber (1864-1920) führte den Begriff der „Lebensführung“ in die Soziologie ein. Vor allem die Konfessions- und Standeszugehörigkeit werden durch eine typische Art der Lebensführung symbolisiert (1976 [1921]: 534ff.). Allerdings hatten die genannten Klassiker der Lebensstilanalyse nur wenige direkte Auswirkungen auf die zeitgenössische Lebensstilforschung. Der Boom sozialwissenschaftlicher Milieu- und Lebensstilstudien seit den 1980er Jahren wurde eher durch praktische Erfordernisse und entsprechende Marketing- und Wahlkampfstudien angestoßen. Im Zuge dieses Aufschwungs der Lebensstilforschung wurde in den 1980er Jahren immer stärker die Selbstreflexivität, die aktive Gestaltung, die eigenstän-
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dige Stilisierung und die expressive Symbolisierung der individuellen Lebensweise betont. Gelegentlich (u.a. bei Hörning & Michailow 1988) hatte es den Anschein, dass Lebensstile nurmehr durch das Wollen der Einzelnen zustande kommen, und Lebensbedingungen, verfügbare Ressourcen, Reaktionen von Mitmenschen etc. unbedeutend seien. Mittlerweile ist man klüger. Ausgiebige empirische Untersuchungen (u.a. Georg 1998; Spellerberg 1996) deckten auf, dass Milieuzugehörigkeiten und Lebensstile der Menschen zwar keineswegs völlig von äußeren Bestimmungsgründen (wie z.B. von der Schichtzugehörigkeit) geprägt, aber auch keinesfalls davon unabhängig sind. Es wurde ermittelt, dass die jeweiligen Lebensstile in erster Linie von Alter, Bildung, Geschlecht und Lebensphase beeinflusst werden. Beruflicher Status, Schichtselbsteinstufung und Einkommen rangieren als Prägefaktoren dahinter, sind aber keinesfalls unwichtig. Die Einzelnen können also ihre Lebensstile nicht völlig frei wählen. Der Gedanke liegt nahe, dass der Aufschwung (und der Überschwang) der Milieu- und Lebensstilperspektive in den 1980er Jahren etwas mit der lange anhaltenden Wohlstandsmehrung in Deutschland und der weit verbreiteten Illusion „immerwährender Prosperität“ (Lutz 1989) zu tun hat. Die realistischere Einschätzung seit den 1990er Jahren ist wohl vor dem Hintergrund der ökonomischen Stagnation und der damit einhergehenden „Modernisierungspause“ (Hradil 1992b) zu sehen.
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Grundzüge
Der Milieu- und der Lebensstilbegriff weisen Gemeinsamkeiten auf. Deswegen werden sie (auch in diesem Beitrag) nicht selten gemeinsam dargestellt. Beide betonen die „subjektive“ Seite der Gesellschaft, d.h. soziale Strukturierungen und Gruppierungen, für die das Denken und Verhalten der Menschen konstitutiv sind. Weiterhin ist beiden Begriffen gemeinsam, dass sie das Denken und Verhalten der Menschen als teilweise unabhängig von äußeren Lebensbedingungen sehen. Schließlich sind beide Konzepte synthetisch angelegt. Milieu- und Lebensstilbegriffe bündeln jeweils zahlreiche Dimensionen und Aspekte. Dies führt in der empirischen Forschungspraxis zu erheblichem Aufwand. Sucht man in der Literatur nach den Unterschieden zwischen dem Milieuund dem Lebensstilbegriff, so wird man feststellen, dass die einschlägigen Definitionen sich nicht selten überschneiden und manchmal sogar fast deckungsgleich sind. Dennoch weist der Milieubegriff andere Schwerpunkte als der
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Lebensstilbegriff auf. Diese Kernbereiche dienen im Folgenden als Ausgangspunkte der Begriffsbestimmung. Unter einem „sozialen Milieu“ wird üblicherweise das typische (materielle, kulturelle, soziale) Umfeld einer sozialen Gruppierung sowie dessen typische Wahrnehmung, Interpretation und Gestaltung durch die Zugehörigen verstanden. Soziale Milieus stellen so Gruppen Gleichgesinnter dar, die jeweils ähnliche Werthaltungen, Prinzipien der Lebensgestaltung, Beziehungen zu Mitmenschen und Mentalitäten aufweisen (vgl. Hradil 2001a: 425; Schulze 1992: 746). Kleinere Milieus, z.B. Organisations-, Stadtviertel- oder Berufsmilieus (wie das Journalistenmilieu) weisen darüber hinaus häufig einen inneren Zusammenhang auf, der sich in einem gewissen Wir-Gefühl und in verstärkten Binnenkontakten äußert. Während der Milieubegriff hauptsächlich auf die relativ „tief“ verankerten und vergleichsweise beständigen Werthaltungen und Grundeinstellungen von Menschen abhebt, bezieht sich der Lebensstilbegriff vor allem auf die äußerlich beobachtbaren Verhaltensroutinen der Menschen. Unter „Lebensstil“ versteht man eine bestimmte Organisationsstruktur des individuellen Alltagslebens (Hradil 2003a; vgl. Lüdtke 1989: 40; Zapf et al. 1987: 14). Ein Lebensstil ist demnach ein regelmäßig wiederkehrender Gesamtzusammenhang von Verhaltensweisen, Interaktionen, Meinungen, Wissensbeständen und bewertenden Einstellungen eines Menschen. Nicht jeder Mensch hat einen anderen Lebensstil. Ähnlichkeiten ergeben sich u.a. deshalb, weil sich Menschen bei der Gestaltung ihres Lebens an Muster, Vorbilder und Mitmenschen anlehnen. Die oben angegebenen Definitionen implizieren, dass soziale Milieus strukturell stabiler sind und von den Einzelnen weniger leicht gewechselt werden können als Lebensstile. Verhaltensroutinen (z.B. der Mediennutzung, der Freizeitbetätigung, der Kleidung) und entsprechende Lebensstile können sich schon ändern, wenn neue Kontakte geknüpft werden, wenn eine Familie gegründet wird, wenn Menschen älter werden. Dagegen werden sich Grundwerte, Grundeinstellungen und diesbezügliche Milieueinbindungen nur im Falle massiver Lebenskrisen und völlig neuer Einflüsse wandeln. Der Begriff des Lebensstils unterstellt ein bestimmtes Maß an individueller Wahl- und Gestaltungsfreiheit der Lebensführung. Hingegen hebt der Milieubegriff zwar auch auf die Denk- und Verhaltensweisen der Milieuzugehörigen ab und impliziert, dass sich Milieucharakteristika in relativer Unabhängigkeit von äußeren Lebensbedingungen entwickeln können. Wie groß aber die per-
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sönlichen Freiheitsgrade der Lebensgestaltung im Rahmen eines Milieus sind, steht dahin. Wie schon aus ihrer Entstehungsgeschichte deutlich wurde, setzen die Begriffe des sozialen Milieus und des Lebensstils voraus, dass diese Phänomene nicht bloße Wirkungen (abhängige Variablen) darstellen, sondern auch Ursachen (unabhängige oder wenigstens intervenierende Variablen) sein können. Wie viel und was im Verhalten der Einzelnen durch ihre Milieu- und Lebensstilzugehörigkeit zu erklären ist, hängt u.a. auch davon ab, ob Makro-, Meso- oder Mikro-Milieus bzw. -Lebensstile gemeint sind. Milieu- und Lebensstilkonzepte können sich auf gesamtgesellschaftlich verbreitete MakroGruppierungen beziehen (z.B. auf das Konservative Milieu), auf institutionelle bzw. organisatorische (Meso-)Teilbereiche der Gesellschaft beschränken (z.B. auf das Gewerkschaftsmilieu oder auf politische Lebensstile) oder auf MikroSzenen, Cliquen etc. konzentrieren. Die vorliegenden Befunde zeigen, dass soziale Milieus und Lebensstile nicht einfach existieren, sondern so vieldimensionale und ineinander übergehende Phänomene darstellen, dass sie im Forschungsprozess auf sehr unterschiedliche Weise abgrenzbar sind. Soziale Milieus und Lebensstile stellen daher theoretische, begriffliche oder wenigstens methodische Konstrukte dar. Sie sind nur auf deren Grundlage erkenn- und unterscheidbar. Wieso entstehen und bestehen soziale Milieus und Lebensstile? Diese Frage lässt sich nur mit Hilfe geeigneter Theorien beantworten. Ganz grob lässt sich zwischen deterministischen, interaktiven und voluntaristischen Theorien unterscheiden. Deterministische Theorien sehen soziale Milieus und Lebensstile als reine Folgeerscheinung objektiver sozialstruktureller Bedingungen (Beruf, Einkommen etc.). Interaktive Theorien unterstellen Wechselwirkungen zwischen strukturellen Einflüssen und Handlungen. Voluntaristische Theorien konzipieren soziale Milieus und Lebensstile als Folgen zielgerichteten menschlichen Tuns. Aus der oben angegebenen Skizze der Geschichte der Milieu- und Lebensstilforschung geht hervor, dass rein deterministische und voluntaristische Theorien zwar in der Vergangenheit gelegentlich formuliert wurden, aber dem heutigen Forschungsstand nicht mehr entsprechen. Aber auch die interaktiven Theorien, die im Folgenden skizziert werden, decken ein weites Spektrum zwischen der Betonung der materiellen und kulturellen Bedingungen einerseits und der Hervorhebung des aktiven Handelns andererseits ab. Die Habitustheorie Pierre Bourdieus (1982) besagt im Kern, dass soziale Milieus und Lebensstile durch Anpassungsprozesse an die Lebensbedingungen sozialer Klassen zustande kommen. Die hieraus resultierenden Habitusformen
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bewirken, dass sich die Struktur sozialer Ungleichheit immer wieder neu herstellt. Bourdieu geht von der ungleichen Verteilung dreier Ressourcenarten aus: dem ökonomischen Kapital, dem Bildungskapital und dem „sozialen Kapital“ (soziale Beziehungen). Je nach Ausmaß ihres Kapitalbesitzes insgesamt gehören die Menschen der Arbeiterklasse, dem Kleinbürgertum oder der Bourgeoisie an (vertikaler Aspekt). Und je nach Zusammensetzung bzw. Zukunftsaussichten ihres Kapitalbesitzes werden sie den Klassenfraktionen des Besitzbürgertums, des Bildungsbürgertums sowie dem alten, dem neuen oder dem „exekutiven“ Kleinbürgertum zugerechnet (horizontaler Aspekt). Wenn Menschen innerhalb der jeweiligen Lebensbedingungen ihrer sozialen Klasse aufwachsen, entstehen nach Bourdieu weitgehend unbewusst klassenspezifische Habitusformen. Dies sind latente Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster, die einerseits Möglichkeiten alltäglichen Handelns begrenzen, andererseits Handlungen hervorbringen. So entsteht nach Bourdieu der Habitus der Arbeiterklasse in einer Lage harter Notwendigkeiten. Er zieht weitgehend Nützlichkeitsdenken und eine „Kultur des Mangels“ nach sich. So werden z.B. Käufe nach Preis, Haltbarkeit und nicht nach ästhetischen Gesichtspunkten vorgenommen. Während also der Habitus der Arbeiterklasse ein „Sich-Einrichten“ in gegebenen Verhältnissen nahe lege, sei der Habitus des Kleinbürgertums, seiner Mittellage entsprechend, auf sozialen Aufstieg, auf die ehrgeizige, teils ängstliche, teils plakative Erfüllung vorgegebener kultureller Normen ausgerichtet, auch in Fragen der Bildung und des Geschmacks. Der Habitus des Kleinbürgertums bedeute angestrengtes Bemühen, das „Richtige“ zu tun. Der Habitus der Bourgeoisie hingegen ermögliche es, sich in Kenntnis der „richtigen“ Standards über diese zu erheben, einen eigenen Stil zu entwickeln, diesen u.U. als gesellschaftliche Norm zu propagieren und durchzusetzen. Das Kleinbürgertum sei wiederum darauf angewiesen, dieser neuen „Orthodoxie“ gerecht zu werden. Die Arbeiterklasse verharre in ihrer Kultur des Mangels. Somit reproduziere sich die Herrschaft der Bourgeoisie auf kulturelle Weise. Die Konsequenzen dieser Habitusformen zeigen sich nach Bourdieu in unterschiedlichen alltäglichen Lebensstilen der Menschen. Zu diesen gehören die jeweils bevorzugten Wohnungseinrichtungen und Speisen, Sänger und Musikwerke, Maler, Museen und Komponisten. Hierbei stellt Bourdieu eine hohe Übereinstimmung von Klassen(fraktions)zugehörigkeit, Habitusform und praktischen Verhaltensweisen fest. Die Theorie der rationalen Wahl bezieht sich, anders als die Habitus-Theorie, auf das Handeln von Individuen und geht modellhaft davon aus, dass die Ein-
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zelnen danach streben, ihren Nutzen zu maximieren. Sie werden daher jene Wahl aus den zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen treffen, die die eigenen Zielvorstellungen weitmöglichst bzw. mit geringstem Aufwand erreicht. Aufbauend auf diesem Theoriemuster behauptet Hartmut Lüdtke (1989), dass Lebensstile deswegen zustande kommen, weil sie sich aus der Sicht der Individuen in Probierprozessen als die jeweils zweckmäßigste Organisationsform ihres Alltagslebens herausgestellt haben. Je nach dem Ausmaß vorhandener ökonomischer, kultureller und sozialer Ressourcen ist hierbei der Suchbereich von vornherein mehr oder minder eingeschränkt. Dabei werden Lebensstil-elemente, die sich zur Erreichung individueller Präferenzen bewährt haben, wiederholt und „automatisiert“. Im Laufe der Zeit ergibt sich so eine Selektion und „Verdichtung“ von Handlungsweisen und -ketten. Nach Alternativen wird immer weniger gesucht. So entstandene individuelle Lebensstile werden zu gemeinsamen Mustern gesellschaftlicher Lebensstilgruppierungen, indem wiederum aus Nützlichkeitsgründen, u.a. wegen Kommunikationserleichterung, Unterschiede zu relativ ähnlichen Lebensstilen minimiert und zu unähnlichen maximiert werden. Die Identitätstheorie betont, dass soziale Milieus und Lebensstile durch das Bemühen zustande kommen, die eigene soziale Identität zu entwickeln und zu dokumentieren. Mittels Stilisierung der eigenen Lebensweise werden einerseits Selbstzuordnung und Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppierungen möglich gemacht und andererseits Absetzung und Distanz zu anderen Gruppierungen sichergestellt (Hörning & Michailow 1990: 502). Identitätstheorien finden sich in unterschiedlichen Varianten. Von bestimmten Autoren (z.B. Hörning & Michailow 1990) wird die Entstehung von sozialen Milieus und Lebensstilgruppierungen primär aus Integrationsbemühungen von Menschen erklärt. Andere Varianten (z.B. Berking & Neckel 1990) sind eher auf Konflikte, die Herstellung von Differenzen und die Abgrenzungsprozesse von sozialen „Territorien“ ausgerichtet. Die Individualisierungstheorie geht davon aus, dass Modernisierung mit der Zunahme persönlicher Ressourcen, Freiheiten und Sicherheiten einhergeht. Damit verbunden ist eine Herauslösung der Einzelnen aus vielfältigen kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Bindungen. Dies bedeutet für die Menschen Verluste von Vertrautheit und Sicherheit in Gemeinschaften einerseits, Gewinne an individueller Handlungsfähigkeit und Entfaltungsmöglichkeit andererseits.
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Allerdings hatte sich, Ulrich Beck (1986) zufolge, bis zum Beginn der 1960er Jahre in Deutschland die Modernisierung und Individualisierung erst unvollkommen durchgesetzt. Zwar waren traditionale Bindungen, z.B. der Dorfgemeinschaft und Religion, schwächer geworden, aber in der emotionalisierten Kleinfamilie verstärkten sich gemeinschaftliche Bindungen noch, vor allem für Frauen. Und in die industriegesellschaftlichen Schichten waren Männer unvermindert eingebunden. Spätestens seit Beginn der 1960er Jahre vollzieht sich nach Ansicht Becks eine zweite Stufe gesellschaftlicher Modernisierung und Individualisierung. Sie steht vor allem im Zusammenhang mit verschärfter Arbeitsmarktkonkurrenz und Mobilität, aber auch mit gesteigertem Wohlstand, höherem Bildungsniveau auch für Frauen, besserer sozialer Absicherung, Ausweitung der Freizeit etc. Im Rahmen dieses erneuten Individualisierungsschubs lösen sich die Individuen aus ihrer Einbindung in Klassen und Schichten und aus „Familienbanden“. Dies gilt auch und gerade für Frauen. Die Menschen sind nun in der Lage, aber auch darauf angewiesen, Zuschnitt und Verlauf ihres Lebens selbst zu entwickeln. Allgemeingültige Vorbilder hierfür gibt es immer weniger. Die Vielfalt der gefundenen Lösungen wächst, auch im Hinblick auf Lebensstile.
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Wichtige Ergebnisse
Besonders bekannt geworden sind jene Befunde, die die gesamtgesellschaftliche Struktur sozialer Milieus und Lebensstile in Deutschland wiedergeben. Das Gefüge sozialer Milieus in Deutschland ist bis zu einem gewissen Grade von der Schichtstruktur abhängig (siehe Abbildung 1). Es gibt typische Unterschicht-, Mittelschicht- und Oberschicht-Milieus. Welche Werthaltungen und Mentalitäten ein Mensch aufweist, ist also auch eine Frage seiner Einkommenshöhe, seines Bildungsgrades und seiner beruflichen Stellung. Milieuzugehörigkeiten können Trennlinien zwischen sozialen Schichten schaffen. „Die Grenze der Distinktion trennt die oberen von den mittleren Milieus. Die Grenze der Respektabilität trennt die mittleren von den unteren.“ (Vester et al. 2001: 26) Aber die Schichtzugehörigkeit gibt keineswegs zureichend über die Milieuzugehörigkeit Auskunft. In der Regel finden sich innerhalb der einzelnen Schichten mehrere Milieus „nebeneinander“. Bestimmte soziale Milieus erstrecken sich auch „senkrecht“ über Schichtgrenzen hinweg (siehe Abbildung 1).
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Abbildung 1: Soziale Milieus in Deutschland 2004
Quelle: Sinus Sociovision (2004).
Neben der Schichtzugehörigkeit lenkt auch die Kohortenzugehörigkeit die Menschen in bestimmte Milieus:1 Ältere Menschen, die in Zeiten des materiellen Mangels und autoritärer Ordnung aufgewachsen sind, haben sich meist andere Mentalitäten bewahrt als Menschen im mittleren Alter, die im Wohlstand und in der 1968er-Zeit ihre wichtigsten Prägungen erfahren haben (Schulze 1992). „Horizontal“ unterscheiden sich soziale Milieus vor allem nach dem Grade ihrer Traditionsverhaftung bzw. ihrer Modernität. Denn die einzelnen Milieus 1
Unter einer Kohorte werden die Menschen verstanden, die im selben Zeitraum zur Welt kamen.
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sind in unterschiedlichem Maß vom Wertewandel (weg von „alten“ Pflicht-, hin zu „neuen“ Selbstentfaltungswerten) sowie von der Individualisierung erfasst. So weisen die Angehörigen des „Traditionsverwurzelten“, des „DDRNostalgischen“ und des „Konservativen“ Milieus Mentalitäten auf, die dem Bewahren, den Pflichten der Menschen und ihrer Eingebundenheit in Regeln großes Gewicht geben. Auf der anderen Seite stehen die „modernen“ Milieus der „Hedonisten“, der „Experimentalisten“ und der „modernen Performer“, in denen die Menschen dem jeweils Neuen nachstreben und sich als Einzelne relativ losgelöst von Bindungen und Zugehörigkeiten empfinden. In diesen Milieus finden sich zwar Gemeinsamkeiten des individuellen Bewusstseins und Verhaltens, aber kaum das Bewusstsein der Gemeinsamkeit mit anderen Milieuzugehörigen und schon gar nicht Gefühle des Zusammengehörens. In der Wirklichkeit sind die Grenzen zwischen den dargestellten Milieus fließend. Viele Menschen stehen am Rand eines Milieus, zwischen Milieus bzw. sind zwei oder mehr Milieus zugleich zuzuordnen. Denn soziale Milieus stellen keine „natürlichen“ gesellschaftlichen Gruppen mit allgemein bekannten Namen und symbolisch verdeutlichten Grenzen dar. Es sind vielmehr von Sozialwissenschaftlern „künstlich“ geordnete Gruppierungen aufgrund ähnlicher Mentalität. Soziale Milieus verändern sich im Laufe der Zeit. Sie werden unter Umständen größer oder kleiner. Neue Milieus bilden sich heraus, alte verschwinden oder teilen sich. Ganz deutlich wurde das seit den 1980er Jahren. So hat sich der Bevölkerungsanteil traditioneller Milieus fast halbiert (Hradil 2001a: 434; Vester et al. 2001: 48f.). Dies geschah wohl seltener, weil Menschen ihre Milieuzugehörigkeit wechselten. Vielmehr sind die Menschen in den genannten Milieus häufig schon alt. Diese Milieus sterben langsam aus. Die Menschen, die einem bestimmten sozialen Milieu angehören, verhalten sich in der Praxis ähnlich, und zwar in recht unterschiedlichen Bereichen: Sie kaufen ähnliche Konsumgüter, wählen ähnliche Parteien, erziehen ihre Kinder in ähnlicher Weise etc. Milieugliederungen sind daher wichtige Hilfsmittel für Marketinganalysten, Wahlkampfstrategen, Sozialisationsforscher etc.
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Abbildung 2: Die historische Entwicklung sozialer Milieus in Deutschland 1900 bis 2000 Positiv privilegierte Schichten Adel, Bürokratie
Gehobenes Bürgertum
moderne kapitalistische Bourgeoisie, vornehme und exklusive Lebensführung, statusbewusst, Interesse an Legitimation der privilegierten Lage
konservativ, preußisch geprägt, karitatives Verantwortungsbewusstsein, patriarchalisch, traditionelle Orientierung, „Dienen“, Diakonie
Intellektuelle („versorgte Bürgerschichten“)
Der (vereinsamte) Intellektuelle
individuelle Sinnsuche („der Welt entrückt“), Erlösung von innerer Not, metaphysische Orientierung, Distanz zu „Materialismus“
Neigung zu pessimistischen Diagnosen, Kontaktschwäche, liberale Vorstellung der Aufklärung, Sehnsucht nach Bruderschaft, Erlösung aus der individualistisch gehetzten Existenz
Kleinbürgertum, Handwerker aufstrebende Gruppen, Neigung zu ethisch-rationaler Lebensführung, gemeinschaftsorientiert, Lebensführung kann Religiosität begründen, aber auch „ideelle Surrogate“, Laienintellektualismus (plebejisch/ kleinbürgerlich), praktische Religiosität (der „fassbare Heiland“)
Abstiegsbedrohtes Kleinbürgertum unterste Schicht des modernen Proletariats, Tagelöhner, Sklaven, deklassiert, kaum Aussicht auf Verbesserung der Lage durch ethisch-rationale Lebensführung, häufig unstete Lebensweise, z.T. radikales Erlösungsbedürfnis
Kleinbürgertum konservativ, Streben nach materieller Sicherheit, traditionell, vornehmlich moralisch (Gesetz vor Evangelium)
Der selbstbewusste Arbeiter Gruppenbewusst, Streben nach materieller Sicherheit,, Sehnsucht nach menschlicher Wärme, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit, Frage nach dem Wesen des Evangeliums, Interesse an der religiösen Erziehung der Kinder
Desintegrierte
Interesse an Erlangung von Selbstgeltung, zwischen „Ohne-mich“ und Hang zur Radikalität, Interesse an kirchlicher Gemeinschaft, Sehnsucht nach „ehrlicher“ Aussage und Echtheit der Träger kirchlicher Botschaft
KonservativTechnokratisches Milieu exklusiver Lebensstil, machtbewusst, Distinktion, Interesse an Wertevermittlung, z.T. karitatives Engagement, Humanität „von oben“ (Typus: partiell Humanisten)
Liberal-Intellektuelles Milieu kulturelle und politische Führerschaft, idealistisch-postmaterielle Wertorientierung, Selbstverwirklichung, Toleranz, Sinnfrage, Fragen der Ethik, Humanismus (Typus: Humanisten, Idealisten)
Kleinbürgerliches und modern bürgerliches Milieu traditionelle moralische Werte, (Pflicht, Dienst, Disziplin, Sicherheit, Fleiß…), Status- und hierarchieorientiert, extrinsisch motiviert, Alltagsorientierung und -stabilisierung durch die Kirche (Typus: Traditionelle/Moderne Kirchenchristen)
Traditionelles Arbeitermilieu, Leistungsorientiertes und modernes Arbeitermilieu Nationales Leistungsethos, Balance Realismus-Hedonismus-Gemeinschaft, moderner Laienintellektualismus, intrinsisch motiviert, verinnerlichte (protestantische) Ethik, selbstbestimmt autoritätskritisch (Typus: Alltagschristen, Nüchterne Pragmatiker, Anspruchsvolle)
Traditionsloses Arbeitermilieu weniger innengeleitete Selbstdisziplin, gelegenheitsorientiert, Sorge um gesellschaftliche Anerkennung, „underdog“-Bewusstsein, z.T. prekäre Verhältnisse
Negativ privilegierte Schichten Quellen: Vester et al. (2001); v. Bismarck (1957); Weber (1976); Zusammenstellung: Vögele et al. (2002: 130).
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Vieles spricht dafür, dass sich die Mitglieder moderner Dienstleistungsgesellschaften nicht mehr so vorrangig wie die Menschen in typischen Industriegesellschaften nach ihrer Berufs- und Schichtzugehörigkeit definieren, sondern ihre gesellschaftliche Ortsbestimmung auch im Hinblick auf ihre Milieuzugehörigkeit und ihren Lebensstil ausbilden. Oft symbolisieren sie diese Identität in Kleidung, Musikgeschmack etc. und tragen so ihre Zugehörigkeit nach außen. Abbildung 3: Lebensstile in Westdeutschland 1996 Kulturelle Vorlieben Etablierte Kultur
Hochkulturell Interessierte, sozial Engagierte (11%) Sachlichpragmatische Qualitätsbewusste (12%)
Moderne Kultur
Einfach Lebende, arbeitsorientierte Häusliche Häusliche mit Interesse an (13%) leichter Unterhaltung und Mode (10%)
Populär, volkstümlich
Traditionelle, zurückgezogen Lebende (16%)
Sicherheitsorientierte, sozial Eingebundene mit Vorlieben für volkstümliche Kultur und Mode (11%)
Arbeits- und Erlebnisorientierte, vielseitig Aktive (9%) Expressiv Vielseitige (12%) Hedonistische Freizeitorientierte (6%)
Aktionsradius häuslich
außerhäuslich
Quelle: Schneider und Spellerberg (1999: 10).
Beschreibt man die Lebensstile der Menschen aufgrund des jeweiligen Freizeitverhaltens und Musikgeschmacks, der Lektüregewohnheiten, Fernsehinteressen, des Kleidungsstils, der Lebensziele und der Wahrnehmung des persönlichen Alltags (Schneider & Spellerberg 1999: 101) und ordnet die Personen je
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nach ihrer Ausprägung der genannten Merkmale in einander ähnliche Gruppierungen, so ließen sich 1996 in Westdeutschland neun Lebensstile erkennen (vgl. Abbildung 3). Sie lassen sich zum einen „horizontal“ nach ihrem Aktionsradius von häuslichen bis hin zu weniger häuslichen Lebensstilen ordnen. Zum andern kann man sie nach ihrem „kulturellen Status“ „vertikal“ gliedern: „Oben“ stehen jene mit Vorlieben für etablierte Hochkultur, „in der Mitte“ rangieren Lebensstile, die moderne Unterhaltung bevorzugen, und „unten“ sind die Lebensstile mit Präferenzen für volkstümliche Kulturformen angeordnet. Wie soziale Milieus so gibt es auch Lebensstile, die typisch für die Ober-, für die Mittel- oder für die Unterschicht sind. Freilich finden sich innerhalb jeder Schicht mehrere unterschiedliche Lebensstile. Wie für soziale Milieus so gilt auch für Lebensstile, dass den Menschen in der Regel weder die dargestellten Gruppierungen noch deren Namen noch eine evtl. Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppierungen bekannt bzw. bewusst sind. Denn es handelt sich um rein statistisch ermittelte Gruppierungen von Menschen mit relativ ähnlichen Merkmalskombinationen des Denkens und Verhaltens mit fließenden Übergängen und Überlappungen. Ähnlich wie Milieuklassifikationen dienen auch Lebensstiltypologien nicht nur der Beschreibung und Verortung homogener Gruppierungen. Da Menschen gleichen Lebensstils ähnliche Dinge kaufen, ähnliche Parteien wählen und ähnliche Medien nutzen, werden Lebensstiltypologien von der Marketingforschung, von Wahlforschern etc. auch zur Erklärung von Verhaltensweisen eingesetzt. Die beiden dargestellten Typologien stellen nur Beispiele aus einer Fülle von Milieu- und Lebensstil-Befunden dar. Anke Wahl stellte in ihrer Synopse vier von ihnen einander gegenüber (vgl. Abbildung 4). Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Ergebnisse in Zahl und Art so sehr, dass man den Eindruck gewinnen kann, sie seien nach Belieben zustande gekommen. Bei näherem Hinsehen wird aber sichtbar, dass sich am oberen Ende der Typologien mindestens ein Milieu bzw. eine Lebensstilgruppierung mit gehobener Lebensführung herauskristallisiert. Am unteren Ende der Hierarchie finden sich in allen vier Studien Gruppierungen, die auf zurückhaltend-traditionelle Weise leben. Auch im mittleren Bereich finden sich manche Ähnlichkeiten. Identische Befunde kann es schon deshalb nicht geben, weil exakt abgegrenzte Gruppen in modernen Gesellschaften kaum mehr existieren. Daher werden in Milieu- und Lebensstiluntersuchungen Menschen mit „ähnlichen“ Merkmalskombinationen ermittelt und „künstlich“ gegeneinander abgegrenzt.
Soziale Milieus und Lebensstile
179
Je nachdem, welche Merkmale hierbei zu Grunde gelegt werden, kommen jeweils andere Lebensstile zum Vorschein, oder, je nachdem, wie hoch der Differenzierungsgrad der Abgrenzungen ist, entstehen mehr oder weniger Lebensstile. Abbildung 4: Lebensstil- bzw. Milieutypologien in Westdeutschland Schulze 1992
Spellerberg 1996
Georg 1998
Wahl 2003
Niveaumilieu
Etablierte beruflich Engagierte
Selbstdarstellung, Genuss und Avantgardismus
Anspruchsorientierte
Kulturbezogenasketischer Lebensstil Hedonistisch expressiver Lebensstil (z.T.)
Selbstverwirklichungsorientierte Unterhaltungsorientierte
Ganzheitlich kulturell Interessierte Selbstverwirklichungsmilieu Unterhaltungsmilieu
Postmaterielle, aktive Vielseitige Freizeitorientierte Gesellige Expressive Vielseitige Pragmatisch Berufs-orientierte
Integrationsmilieu
Häusliche Unterhaltungssuchende Traditionelle, freizeitaktive Ortsgebundene
Harmoniemilieu Traditionelle, zurückgezogen Lebende
Quelle: Wahl (2004: 7).
Prestigebezogene Selbstdarstellung Hedonistisch expressiver Lebensstil (z.T.) Familien-zentrierter Lebensstil
Integrationsorientierte
Zurückhaltendkonventioneller Lebensstil
Versorgungsorientierte
Zurückhaltendpassiver Lebensstil
Zurückgezogene
180
4
Stefan Hradil
Die Diskussion um die Milieu- und Lebensstilforschung
Schon bald nachdem die Milieu- und Lebensstilforschung in den 1980er Jahren ihren Aufschwung erlebte, wurde Kritik laut und rief Gegenkritik hervor. Seither riss die Diskussion um die Milieu- und Lebensstilforschung nicht ab. Auf viele Kritikpunkte hat die Forschung im Laufe der 1980er und 1990er Jahre reagiert. Insgesamt hat die Diskussion so zweifellos zur Weiterentwicklung der Milieu- und Lebensstilforschung beigetragen.2 Theorielosigkeit, Begriffslosigkeit, Empirismus, Deskriptivismus lauteten schon bald die Vorwürfe, nachdem die ersten Milieu- und Lebensstilstudien in den 1980er Jahren vorlagen. Es wurde moniert, dass im Zuge dieser Forschungen auf eine weitgehend beliebige, begriffslose und theoretisch orientierungslose Weise Phänomene des Denkens und Verhaltens mit Hilfe unterschiedlicher empirischer Verfahren lediglich sortiert werden. Entsprechend beliebig und widersprüchlich, da abhängig von den jeweils gewählten Variablen, Erhebungs- und Auswertungsverfahren, seien denn auch die Ergebnisse. Damit im Zusammenhang wurde der Realitätsgehalt der Ergebnisse von Milieu- und Lebensstilstudien immer wieder in Frage gestellt. Die Befunde stellten offenkundig sehr unterschiedlich geratene Kompromisse zwischen differenzierten Darstellungen pluraler Strukturen einerseits und dem Bemühen um Übersicht und Einfachheit andererseits dar. Das weckte Zweifel, inwieweit es sich überhaupt um die Wiedergabe realer Gegebenheiten handelt. Die vorgelegten Resultate schienen vielen Kritikern abhängig von den jeweils gewählten Forschungsverfahren und damit methodische Artefakte zu sein. Daneben sorgte auch die Namensgebung immer wieder für Bedenken bezüglich des Realitätsgehalts der ermittelten sozialen Milieus bzw. Lebensstilgruppierungen. Ihnen werden in der Regel Namen gegeben, die meist zentrale Merkmale hervorheben. Dies führt immer wieder zu Enttäuschungen, weil der Inhalt der ermittelten typischen Lebensstile mit ihren Namen nicht deckungsgleich ist. Die Milieu- und Lebensstilforschung hat auf diese Einwände auf zweierlei Weise reagiert. Zum einen wurden in der beschreibenden Forschung mit Hilfe bewusst unterschiedlicher Definitionen und empirischer Verfahren diverse Typologien von sozialen Milieus und Lebensstilen ermittelt. Sie fielen erwartungsgemäß unterschiedlich aus, und die einzelnen Milieus bzw. Lebensstile wurden denn auch mit unterschiedlichen Namen belegt. Bei näherem Hinsehen
2
Eine Kontroverse zwischen Thomas Meyer, Gerhard Schulze und Stefan Hradil, die den Stand der Kritik und Gegenkritik zusammenfasst, findet sich in Hradil (2001b).
Soziale Milieus und Lebensstile
181
zeigten sich aber gleichwohl Übereinstimmungen, die auf reale und vergleichsweise beständige Strukturen schließen lassen. Daher kann gerade die Vielfalt der Herangehensweisen, mit deren Hilfe man immer wieder auf im Kern ähnliche Strukturen gestoßen ist, als Hinweis auf den Realitätsgehalt der Forschungsergebnisse gelten. Zum anderen wurde die anfänglich vielleicht zwangsläufige und sogar hilfreiche Theorielosigkeit der Milieu- und Lebensstilforschung im Laufe der Zeit immer mehr durch theoriegeleitete Forschungen ersetzt. Für die neueren Beiträge kann der Vorwurf der Theorielosigkeit kaum mehr gelten. Insbesondere ist der neueren Forschung daran gelegen, theoretische Brücken zwischen den „objektiven“ Lebensbedingungen und den „subjektiven“ Lebensweisen der Menschen zu schlagen (vgl. z.B. Wieland 2004). Nicht selten wurde die Milieu- und Lebensstilforschung – vor allem in der Anfangszeit ihrer Renaissance in den 1980er Jahren – als alleinige Nachfolgerin der Klassen- und Schichtungsforschung angesehen. Zahlreiche Forscher monierten, dass eine so interpretierte Milieu- und Lebensstilforschung ideologische Funktionen ausübe. An die Stelle von Ungleichheitsforschung und Erforschung materieller Lebensbedingungen sei soziokulturelle Vielfaltsforschung (Geißler 1996) getreten. Es werde der Eindruck erzeugt, Bildungs-, Einkommens- und Vermögensungleichheiten seien unwichtig, die Lebensgestaltung sei ein buntes Reich individueller Freiheiten geworden. Diese Gefahren haben vor allem im Überschwang der Renaissance der Milieu- und Lebensstilforschungen der 1980er Jahre durchaus bestanden. Aber seither hat die empirische Forschung ermittelt, dass neben Alter, Lebensform und Geschlecht auch die Schichtzugehörigkeit die Freiheit der Lebensgestaltung einschränkt. Auf der anderen Seite hat sich die Klassen- und Schichtungsforschung von der Unterstellung verabschieden müssen, nach denen die äußere Lebenslage zwangsläufig bestimmte Lebensweisen nach sich zieht. Mittlerweile existiert, bei anhaltender Diskussion, eine fruchtbare Koexistenz zwischen der Ungleichheits- und der Milieu- bzw. Lebensstilforschung. Schließlich sollen noch drei Einwände genannt werden, die sich weniger gegen die Milieu- und Lebensstilforschung schlechthin als gegen den derzeitigen Forschungsstand bzw. gegen häufig geübte Vorgehensweisen richten: 1.
Lebensstile werden vorwiegend, soziale Milieus teilweise mit Hilfe von Verhaltensindikatoren erfasst. Mit Hilfe der so ermittelten Lebensstile und sozialen Milieus werden wiederum Verhaltensweisen (Konsum, politische Wahlen, Gesundheitsverhalten etc.) erklärt. Dies weckte den Verdacht der Tautologie. Es wurde kritisiert, dass Verhalten mit Verhalten begründet werde, was dergleichen „Erklärungen“ logisch wertlos mache.
182
2.
3.
Stefan Hradil Gegen diesen Vorwurf wurde argumentiert, dass soziale Milieus und Lebensstile (strukturell und individuell) relativ geschlossene und stabile Muster der Lebensweise darstellen. Sie sind auf anderer logischer Ebene als die einzelnen Verhaltensakte einzuordnen und können so durchaus als Erklärung für Konsumverhalten, Medienverhalten etc. dienen. Um soziale Milieus oder Lebensstile zu erforschen, wird jeweils eine Fülle von Indikatoren bzw. Variablen verwendet. Teilweise werden mehr als 50 Fragen eingesetzt. Dies ist sehr zeitaufwändig und teuer. Kritiker wandten ein, dass dieser Aufwand oft in keinem Verhältnis zum Erkenntnisgewinn gegenüber „sparsameren“ Konzepten, z.B. der Berufs- oder Schichtstruktur, stehe. Tatsächlich stellt der hohe Aufwand bis heute ein Hemmnis für die weitere Verbreitung der Milieu- und Lebensstilforschung dar. An zahlreichen Stellen wird deshalb an einfacheren Operationalisierungen gearbeitet. Schließlich wurde kritisiert, dass die Forschung blind sei für Veränderungen von sozialen Milieus und Lebensstilen sowie für den persönlichen Wechsel von Milieu- bzw. Lebensstilzugehörigkeiten.
In der Tat erbringen fast alle vorliegenden Milieu- und Lebensstilstudien bloße Momentaufnahmen. Sie beschreiben die derzeitige Mentalität bzw. Lebensgestaltung von Menschen und versuchen, hieraus Erklärungen abzuleiten. Es wird hieraus weder deutlich, wie lange soziale Milieus und Lebensstile bestehen, noch, wie lange die Einzelnen einem bestimmten sozialen Milieu bzw. Lebensstil angehören und welche „Milieu- bzw. Lebensstilbiographie“ sie durchlaufen. Dies zu wissen, wäre u.a. wichtig, um Erklärungen historischer Prozesse und individuellen Verhaltens fundierter vornehmen zu können. Wer z.B. aus dem konservativen Milieu ins liberale geraten ist, wird sich anders verhalten als diejenigen, die aus dem „68er-Milieu“ dorthin kamen. Auch hier gilt, dass der Vorwurf heute weniger trifft als gestern. Insbesondere über den Wandel der oben beschriebenen „Sinus-Milieus“ wissen wir seit Mitte der 1980er Jahre durch Zeitreihendaten relativ gut Bescheid. Auch Studien zur Mobilität über Milieu- und Lebensstilgrenzen hinweg liegen seit einigen Jahren vor (Vester et al. 2001; Wahl 2004, 2003, 1997).
5
Der Gewinn der Perspektive für die Journalismusforschung
Die Beschreibungs- und Erklärungsleistungen der Milieu- und Lebensstilforschung werden mittlerweile in zahlreichen Praxisfeldern eingesetzt. Im Bereich
Soziale Milieus und Lebensstile
183
der Journalismusforschung lassen sich zwei Forschungsrichtungen unterscheiden: (a) Der Milieu- und Lebensstilzugehörigkeit von Journalisten wurde nachgegangen, um Aufschlüsse im Hinblick auf ihre Sozialisation, Werthaltungen und soziale Verortung zu gewinnen. (b) In zahlreichen Erhebungen wurde die Milieu- und Lebensstilzugehörigkeit von Mediennutzern erforscht, um Kenntnisse über die Präferenzen, Motive und Interessen von Lesern, Fernsehzuschauern, Hörfunkhörern etc. zu erlangen. (a) Aufgrund einer bayerischen Repräsentativbefragung aus dem Jahr 1999 (Raabe 2000, vgl. Abbildung 5) wissen wir, welchen sozialen Milieus Journalisten angehören: Sie konzentrieren sich in drei der insgesamt zehn sozialen Milieus, auf die sich zu dieser Zeit die gesamte Bevölkerung verteilte: Beträgt der Bevölkerungsanteil am Modernen Arbeitnehmermilieu, dem Liberalintellektuellen und dem Postmodernen Milieu gerade mal etwas mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung, während sich rund 78 Prozent auf die übrigen Milieus verteilen, so ist es bei den Journalisten genau umgekehrt: Knapp 79 Prozent der Journalisten lassen sich diesen drei Milieus […] zuordnen. (Raabe 2000: 234)
Journalisten aus dem Modernen Arbeitnehmermilieu sind nicht ganz so jung und im Durchschnitt etwas höher gebildet als jene aus dem Aufstiegsorientierten Milieu. Entsprechend verdienen sie oft gut bis sehr gut. Die vielen Journalisten, die dem Liberal-intellektuellen Milieu zuzurechnen sind, sind etwas älter als der Durchschnitt ihrer Kollegen und sind in allen Einkommens- und Herkunftsstufen vertreten. Dagegen sind Journalisten aus dem Postmodernen Milieu im Allgemeinen jünger. Ihrer geringen Berufspraxis entsprechend verdienen sie oft eher wenig bis mittelmäßig viel (ebd.: 236). Diese Milieuverteilung ist bei Print- und Rundfunkjournalisten ähnlich, nur Journalisten im Privatfunkbereich sind oft jünger und gehören besonders häufig dem Postmodernen Milieu an. Dass die Zugehörigkeit zu diesen Milieus Auswirkungen auf die Tätigkeit hat, geht schon daraus hervor, dass zwei Drittel aller Journalisten aus dem Ressort Kultur/Gesellschaft dem Liberal-intellektuellen Milieu angehören (ebd.: 239). (b) Befunde der Lebensstilsoziologie werden vor allem von Marketingexperten immer wieder herangezogen, um die Nutzung von Medien zu klären, um Zielgruppenanalysen zu erstellen usw. Unter anderem wurden in der Medienforschung eingesetzt: die Lifestyle-Typologie von Michael Conrad und Leo Burnett, die Euro-Socio-Styles der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) Nürnberg, die Eurotrends des International Research Institute on
184
Stefan Hradil Social Change (RISC), die MedienNutzerTypologie von ZDF und ARD (Hartmann & Neuwöhner 1999: 531ff.; Jakob 1998: 72ff.; Hradil 1992a: 35f.).
Lebensstilstudien „erklären“ das Lesen bestimmter Zeitschriften, das Sehen bestimmter Fernsehsendungen etc. als Verhaltensweisen, die zum jeweiligen Lebensstil einer Person insgesamt „passen“. Bei Kenntnis des Lebensstils einer Person lässt sich so voraussagen, wer was lesen, sehen oder hören wird. Umgekehrt lässt sich dann auch sagen, wie Zeitschriften oder Sendungen gestaltet werden müssen, um in die Lebensgestaltung bestimmter Lebensstilgruppierungen zu „passen“. Milieustudien erklären die Mediennutzung grundsätzlicher. Denn die Milieuzugehörigkeit von Menschen bestimmt sich nach deren Bedürfnissen, Werthaltungen, Lebenszielen und -prinzipien. Ist die Milieuzugehörigkeit eines Menschen bekannt, so weiß man viel darüber, welche Sehnsüchte, welche gesellschaftlichen und politischen Grundeinstellungen, welche Interpretationen, Motive und Nutzenerwartungen er aufweisen wird. So lässt sich gut voraussagen, warum wer was lesen, sehen oder hören wird. Und umgekehrt lässt sich kausal erkennen, warum Zeitschriftenartikel und Rundfunksendungen diese Prinzipien und jene Inhalte aufweisen müssen, um den Motiven und Interessen bestimmter Menschen zu entsprechen. Besonders häufig werden die o.a. „Sinus-Milieus“ zur Erklärung der Mediennutzung herangezogen (z.B. Burda Advertising Center 2003). In einer Analyse der Zeitschriften „SuperIllu“, „Stern“, „Playboy“ und „Bunte“ wurde z.B. nachgewiesen, dass die Menschen je nach ihrer Milieuzugehörigkeit deutlich unterschiedliche Präferenzen im Hinblick auf diese Zeitschriften und ihre Themen haben (Klein 2004). Sie entscheiden sich hierbei für jene Zeitschriften, mit denen sie am besten ihre milieuspezifischen Bedürfnisse stillen können und die möglichst ihren milieuspezifischen Werten entsprechen. Mediennutzer streben insoweit nach Gratifikation, Konsistenz und Nutzenmaximierung (vgl. Renckstorf 1989). So finden sich die Stammleser des „Playboy“ vor allem in den Milieus der Konsum-Materialisten, der Experimentalisten, der Hedonisten und der Modernen Performer (Sinus-Milieus 2002). Der „Playboy“ wird der Unternehmungslust und dem Distinktionsbedürfnis der Experimentalisten ebenso gerecht wie der Neugier der Hedonisten. Er befriedigt die Genussfähigkeit der Modernen Performer und er entspricht den Werten des äußerlich Sichtbaren der Konsum-Materialisten, die auf den Schein im Zweifelsfalle mehr als auf das Sein geben (Klein 2004).
Soziale Milieus und Lebensstile
185
Abbildung 5: Milieuverteilung von Bevölkerung und Journalisten, Bayern 1999, in Prozent
Quelle: Raabe (2000: 234), leicht geändert durch den Verfasser
6
Fazit
Die Erforschung von Milieus und Lebensstilen ist aus dem Bereich der gewerblichen Marketing- und Wahlforschung herausgetreten und von einer Modeerscheinung zu einem etablierten Bestandteil der sozialwissenschaftlichen Forschung geworden. Manche Übertreibungen aus der Anfangszeit der akademischen Renaissance der 1980er Jahre sind überwunden. In einer wohlhabenden, pluralisierten und sich wandelnden Gesellschaft, in der Selbstdefinitionen, Zurechnungen und Verhaltensweisen der Menschen nicht mehr allein von verfügbaren Ressourcen, sondern auch von deren Verwendungsweise geprägt sind, ist die Perspektive der Milieu- und Lebensstilforschung unerlässlich geworden. Sie ersetzt herkömmliche Sozialstrukturanalysen nicht, sondern ergänzt sie. Nicht zuletzt zeigt sich der Gewinn dieser Forschungsrichtung in der Journalismusforschung. Sie hilft, den sozialen Standort, die Einstellungen und die Motive von Journalisten zu verstehen. Milieu- und Lebensstilstudien geben vor
186
Stefan Hradil
allem aber Aufschluss über Nutzungsstrukturen, Präferenzen und die Gründe der Bevorzugung bestimmter journalistischer Produkte. Milieu- und Lebensstilstudien tragen daher dazu bei, dass journalistische Produkte im Hinblick auf ihre Wirkungen ausgerichtet werden können.
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Soziale Milieus und Lebensstile
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KAPITAL – FELD – HABITUS
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu Herbert Willems
1
Einführung
Der vorliegende Aufsatz verfolgt das Ziel, bestimmte Schlüsselelemente der soziologischen Theorie als Ansätze der Untersuchung journalistischer Praxis vorzuführen. Im Vordergrund stehen die zentralen Konzepte Pierre Bourdieus, dessen Werk in diesem Zusammenhang als besonders vielversprechend erscheint. Meine diesbezüglichen Überlegungen gehen davon aus, dass die theoretische Bedeutung Bourdieus weniger in einem eigenständigen „Theoriesystem“ als in der Arbeit an Konzepten besteht, die in der Soziologie bereits vor Bourdieu Tradition hatten. Gleichzeitig (und deswegen) gehe ich davon aus, dass diese Konzepte zu den relevantesten Ansätzen einer integrativen sozialwissenschaftlichen bzw. soziologischen Theoriebildung zu zählen sind, die ein aktuelles Optimum an deskriptiver und analytischer Aussagekraft versprechen. An drei Begriffe Bourdieus ist hier vor allem zu denken: Feld, Habitus und Kapital. Ihr Status im Bourdieu’schen Werk ist mittlerweile vielfach reflektiert worden, ohne zu übersehen, dass Bourdieu damit auf den Schultern von Riesen wie Marx, Durkheim oder Weber steht. Allein dies ist jedoch viel weniger bedeutsam als die besondere perspektivische und theoretische Parallelität und Anschlussfähigkeit zwischen den Arbeiten von Bourdieu und Norbert Elias. Dies gilt gerade im Hinblick auf die genannte Begrifflichkeit. Die Gedankenund Denkfigur, für die sie steht, ist schon bei und für Elias grundlegend und werkzentral. In dem vorliegenden Aufsatz werde ich daher des Öfteren auf die Verwandtschaft und auch Komplementarität zwischen Elias und Bourdieu zu
216
Herbert Willems
sprechen kommen.1 Auch andere Vergleiche und Anschlüsse sind nützlich, aber vergleichsweise nachrangig. Die Aufgabe, die diesem Aufsatz gestellt ist, liegt jedoch nicht primär auf einer theoretisch-systematischen Ebene. Vielmehr soll es hauptsächlich darauf ankommen, die genannten Begriffsmittel im Hinblick auf den spezifisch interessierenden Gegenstandsbereich des Journalismus bzw. der Journalisten zu entfalten und zu transferieren. Mit diesem Bereich müssen auch allgemeiner die Massenmedien und ihre Publika in den Blick kommen. Ich werde daher zunächst versuchen, einen einführenden Überblick über die besagte Begriffstriade zu geben, um dann auf Medienrealitäten bzw. den Journalismus und die Journalisten zu sprechen zu kommen. Aus noch zu entfaltenden theoretischen und argumentationslogischen Gründen beginne ich mit dem Begriff des Feldes und ende mit dem des Kapitals. Ein besonderer Akzent liegt aus Relevanzgründen auf dem Begriff des Habitus.
2 2.1
Die Konfiguration der Konzepte: Feld/Figuration, Habitus und Kapital Feld
Mit dem Konzept des Feldes befindet sich Bourdieu in einer sehr weit gehenden perspektivischen Nähe zu Elias’ Soziologie der „Figurationen”.2 Mit Bezug auf Elias’ berühmte Studie über die „höfische Gesellschaft”, die Elias als Figuration fasst und analysiert, gibt Bourdieu selbst den deutlichsten Hinweis auf die enge Verwandtschaft von Feld- und Figurationskonzept: Der Fürstenhof, so wie ihn Elias beschreibt, stellt ein eindrucksvolles Beispiel für das dar, was ich Feld nenne, innerhalb dessen die Akteure – wie in einem Gravitationsfeld – durch unüberwindliche Kräfte in eine fortwährende, notwen-
1
2
Eine Komplementärbeziehung zwischen Elias’ und Bourdieus Ansätzen besteht vor allem insofern, als Elias (im Gegensatz zu Bourdieu) seinem Ansatz einen entschieden historischen und differenzierungstheoretischen Rahmen gegeben hat. Darüber hinaus ist Elias Begrifflichkeit offener und daher umfassender. Dies gilt insbesondere für den Begriff der „Figuration“, der die verschiedensten sozialen Beziehungsgebilde umfasst – auch Konstellationen innerhalb von Feldern. Gewisse Parallelen drängen sich von hier aus auch zu anderen Konzepten und Theorien auf. Zu nennen wäre insbesondere die Luhmann’sche Systemtheorie mit ihrem Konzept des (funktionalen) „Subsystems“ und die Foucault’sche Diskurstheorie mit ihren Konzepten „Dispositiv“ und „Spezialdiskurs“. Hier ist allerdings nicht der Ort, diese Parallelen genauer zu bestimmen.
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu
217
dige Bewegung gezogen werden, um den Rang, den Abstand, die Kluft gegenüber den anderen aufrechtzuhalten (Bourdieu 1989: 35, Hervorhebung im Original).
Die Begriffe Feld und Figuration meinen, anders und genauer gesagt, spannungsvolle und dynamische Beziehungsordnungen von Akteuren, die als soziale Subjekte und Objekte in immer auch symbolischen Ungleichheits-, Macht- und Konkurrenzverhältnissen stehen und entsprechende Kämpfe um Überlegenheit – und d.h. Distinktion – führen. Menschen und Menschengruppen erscheinen im Elias’schen wie im Bourdieu’schen Modellrahmen also einerseits nie isoliert, sondern immer nur in sozialen Relationen, die sie ebenso „bilden“ wie sie von ihnen „gebildet“ werden. Ganz wie Elias, nur ohne dessen historische Ausrichtung, betont Bourdieu (1989: 71), „dass die Wirklichkeit relational ist”. Vor diesem Hintergrund fokussieren Elias wie Bourdieu die psychischen und körperlichen Seiten der menschlichen Wirklichkeit als Momente, Effekte und Voraussetzungen jener sozialen „Zusammenhänge“, für die die Begriffe Figuration und Feld stehen.3 Sie bezeichnen eine soziale Realität, die dem Handeln und dem Handelnden objektive Grenzen setzt und zugleich mit diesen und durch diese Grenzen bestimmte Spielräume eröffnet. Elias und Bourdieu bringen diese Bivalenz des Sozialen in Relationen zwischen Objektivität und Subjektivität, Zwang und Freiheit auf den metaphorischen Begriff des Spiels, den beide gleichermaßen weitreichend, ja radikal ausbuchstabieren (vgl. Bourdieu: 1998; 1989; Elias 1981: 75ff.). Für Elias wie für Bourdieu erschließt sich die Realität der Felder/Figurationen gleichsam als eine Realität von feldspezifischen Spielen mit Spielregeln, Spielern, Einsätzen, Trümpfen, Gewinnen und Verlusten, Spielzügen, Endergebnissen. Das „Ich” (Elias) muss entsprechend als eine Tatsache „im Spiel“ betrachtet werden – in einem Spiel, in dem sich Spieler aufgrund unterschiedlicher Positionen im (Spiel-)Feld in einem dynamischen „Spannungsgefüge” (Elias) und einer mehr oder weniger labilen Macht-
3
Indem Bourdieu und Elias die theoretische und analytische Aufmerksamkeit auf allen Ebenen primär auf die „Interdependenzen der Menschen“ (Elias 1981: 144) lenken, wenden sie sich gegen herkömmliche disziplinär und „philosophisch“ ausgemachte Trennungen. Vor allem soll, wie Elias formuliert, der „Zwang gelockert werden, so zu sprechen, als ob ‚Individuum’ und ‚Gesellschaft’ zwei verschiedene und überdies auch noch antagonistische Figuren seien [...]“ (ebd.: 140). Elias wendet sich besonders entschieden dagegen, das von ihm als historisches Resultat erklärte „Selbstbild vom ‚Ich im verschlossenen Gehäuse’, das Bild vom Menschen als ‚homo clausus’“ (ebd.: 141), soziologisch zu verdoppeln. Im Blick hat er dabei vor allem die Systemtheorie Parsons’scher Prägung.
218
Herbert Willems
balance befinden.4 „Im Zentrum der wechselnden Figurationen” steht für Elias (1981: 142f.) „das Hin und Her einer Machtbalance, die sich bald mehr der einen und bald mehr der anderen Seite zuneigt“. Genau in diesem Sinne entwirft Bourdieu die Ordnung der Felder: „Ein Feld ist ein strukturierter gesellschaftlicher Raum, ein Kräftefeld – es gibt Herrscher und Beherrschte, es gibt konstante, ständige Ungleichheitsbeziehungen in diesem Raum, und es ist auch eine Arena, in der um Veränderung oder Erhaltung dieses Kräftefeldes gekämpft wird. In diesem Universum bringt jeder die (relative) Kraft, über die er verfügt und die seine Position im Feld und folglich seine Strategien bestimmt, in die Konkurrenz mit den anderen ein“ (Bourdieu 1998: 57). Dass Felder/Figurationen gleichsam Arenen sind, in denen mit „passenden“ (Kapital-)Mitteln strategisch gekämpft wird, bedeutet aber weder für Bourdieu noch für Elias, Akteure primär als bewusst kalkulierende und rational wählende Individuen zu verstehen. Im Gegenteil: Strategien erscheinen zunächst und hauptsächlich als etwas Produziertes und „Gerahmtes“: durch Habitus. 2.2
Habitus
Der Feldbegriff, der ja auf Räume zielt, „in denen objektive Beziehungen herrschen und die ihre je eigene Logik und Notwendigkeit aufweisen” (Bourdieu 1989: 72), ist durch den Habitusbegriff komplementiert, der die entsprechenden personalen und kollektiven Verhaltensdispositionen entwirft. Der Begriff des Habitus ist nun nicht nur bei und für Bourdieu zentral, sondern überhaupt ein – vor Bourdieu allerdings vielfach verkanntes Kernelement der soziologischen Begriffsgeschichte, dessen Flexibilität und Entwicklungsfähigkeit gerade aus seiner Tradition ersichtlich wird. Einen dem Bourdieu’schen Konzept im kompetenztheoretischen Grundansatz (jenseits von Gesellschafts- und Klassentheorie) verwandten Habitusbegriff haben (vor Bourdieu) Gehlen und – im Anschluss an ihn – Berger und Luckmann (1969) entwickelt. Nach Gehlen (1986: 19), der von „Systemen stereotypisierter und stabilisierter Gewohnheiten” spricht, handeln wir sehr oft „in habituell gewordenen, eingeschliffenen Verhaltensfiguren, die ‚von selbst’ ablaufen. Dies aber versteht sich nicht nur von dem im engeren Sinne prakti-
4
Die Labilität der Machtbalance konstituiert erst das Spiel als offenes Spiel, d.h. den Spielraum des Spielers und der „Partei“, für die er spielt.
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schen, äußeren Handeln, sondern vor allem auch von dessen inneren Bestandsstücken: Gedanken- und Urteilsgängen, Wertgefühlen und Entscheidungsakten; auch sie sind meist weitgehend automatisiert” (Gehlen 1957: 104). Berger und Luckmann sprechen in diesem Zusammenhang von einem „alles menschliche Tun” umfassenden „Gesetz der Gewöhnung [...]. Jede Handlung, die man häufig wiederholt, verfestigt sich zu einem Modell, welches [...] reproduziert werden kann und dabei vom Handelnden als Modell aufgefaßt wird” (1969: 56). Habitualisierung in diesem Sinne bedeutet für Gehlen sowie Berger und Luckmann wie auch für Bourdieu zunächst einen Gewinn an Handlungsfähigkeit und (weil) eine „Einsparung von Kraft” (Berger & Luckmann 1969: 56). Gehlen betont die mit Potenzialsteigerungen – etwa im beruflichen Handeln – verbundene ungemeine Entlastungsleistung eines solchen sozial orientierten Automatismus [...]. Es sind nämlich auch die zur Arbeit notwendigen Bewusstseinsfunktionen habitualisiert, einschließlich der Aufmerksamkeit, die unter diesen Bedingungen selbst habituell wird und ihre Eigenschaft, rasch zu ermüden, in hohem Grade verliert (Gehlen 1957: 104f.; Berger & Luckmann 1969: 26f., 43f.).
Habitualisierung bringt darüber hinaus, so Berger und Luckmann (1969: 57) wie Gehlen (vgl. 1974), „den psychologischen Gewinn” der relativen „Weltgeschlossenheit” und „Entschiedenheit”. Außerdem setzt sie „Energien für gewisse Gelegenheiten frei, bei denen Entscheidungen nun einmal unumgänglich sind. Mit anderen Worten: Vor dem Hintergrund habitualisierten Handelns öffnet sich ein Vordergrund für Einfall und Innovation” (Berger & Luckmann 1969: 57). Durchaus im Sinne des Gehlenschen „Entlastungsgesetzes” (1974), dessen „anthropologische Voraussetzung der ungerichtete Instinktapparat des Menschen ist” (Berger & Luckmann 1969: 57), geht auch Bourdieu vom Habitus als sozialem „Instinkt“ aus, der die natürliche Instinktarmut des Menschen kompensiert und gewissermaßen überkompensiert. Nah an den Vorstellungen Gehlens und Berger & Luckmanns (und sogar in weitgehender Übereinstimmung mit deren Formulierungen) zielt auch Bourdieu, sich auf die Leibnitz’sche Automaten-Metapher berufend, zunächst auf die Analyse jener Automatismen, die sich von selbst vollziehen. Es geht ihm primär um spontane und vorreflexive Reaktionen und Orientierungen, die sich allenfalls ex post in rationale Begründungen übersetzen lassen. Genau auf dieser Ebene ist bei Elias, wie auch bei Michel Foucault (1977b), von Gewohnheiten bzw. einer „Automatik der Gewohnheiten” (Foucault 1977b: 173) die Rede. Elias’ Zivilisationstheorie und
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Foucaults Analysen der „Bio-Macht” (1977a), der Verankerung anonymer Sozialkontrollen in den menschlichen Körpern, implizieren eine Theorie der Funktion und der Genese von Habitus. Elias spricht in seinem (bereits in den dreißiger Jahren verfassten) Hauptwerk „Über den Prozess der Zivilisation” (1980, 2 Bde.) ausdrücklich von Habitus sowie – mehr oder weniger bedeutungsgleich – von „Automatismen” des Verhaltens, „automatisch arbeitenden Selbstkontrollapparaturen” und „Gewohnheitsapparaturen” (Elias 1980, Bd. 2: 320ff.) als Resultate des „individuellen Zivilisationsprozesses”. Die Habitus, die Elias meint und nennt (vgl. z.B. ebd.: 333, 336), äußern sich zum einen in spontanen, gewissermaßen symptomatischen Reaktionen und Selbstkontrollen bzw. Emotionen, in Moral- und Geschmacksempfindungen, in Scham, Peinlichkeit, Stolz, Abscheu, Ekel usw. (vgl. ebd.: 397ff.). Zum anderen beschreibt er Spielräume verarbeitende (bewältigende, nutzende) strategisch-kalkulatorische Akteure, deren Praxis vielfältig leistungsfähige Habitus „verlangt und züchtet” (ebd.: 370). Die Habitus des Höflings z.B. erzeugen nicht nur spontane, subjektiv unverfügbare und determinierende Ängste, Verachtungs- und Geschmackseffekte usw., sondern auch generelle Kompetenzen im Denken und Handeln. „Überlegung, Berechnung auf längere Sicht [...] Kenntnis der Menschen und des gesamten Terrains” (ebd.: 370), eine „Delikatesse” des Sprechens (ebd.: 410), eine „Kunst der Menschenbeobachtung” (ebd.: 375) und andere, ähnliche „Künste“ sind soziale (Mindest-)Erfolgsbedingungen und (damit) Habitusfaktoren des Höflings. Für Elias verkörpert dieser exemplarisch eine habituelle „Art des ‚Verstandes’“ oder des „Denkens“ (ebd.: 380), die insofern „vernünftig” ist, als sie der Logik einer Figuration, positionsspezifischen Handlungsbedingungen (z.B. Interessen) und situationsspezifischen Passungs- und Anpassungserfordernissen entspricht. Ganz analog ist die praktische Rationalität und Mentalität, der Stil des Verhaltens, Denkens, Fühlens von heutigen Akteurstypen wie z.B. Politikern, Klerikern oder Journalisten zu verstehen und zu rekonstruieren. Bourdieus Rede von Habitus ist also dem Begriff wie wesentlichen Sinngehalten nach alles andere als neu. Neu ist vor allem die besondere und zentrale Position, die Bourdieu dem Habituskonzept im Rahmen seiner Theorie zuweist, sowie die entsprechend komplexe definitorische Ausformulierung dieses Konzepts. In einer Anmerkung seines „Entwurfs einer Theorie der Praxis” liefert Bourdieu die vielleicht prägnanteste definitorische Bestimmung des Habitus. Die Bezeichnung „Disposition” erklärt er für „in besonderem Maß geeignet, das auszudrücken, was der (als System von Dispositionen definierte) Begriff des Habitus umfasst: Sie bringt zunächst das Resultat einer organisie-
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renden Aktion zum Ausdruck und führt damit einen solchen Worten wie „Struktur“ verwandten Sinn ein; sie benennt im Weiteren eine Seinsweise, einen habituellen Zustand (besonders des Körpers) und vor allem eine Prädisposition, eine Tendenz, einen Hang oder eine „Neigung” (Bourdieu 1976: 446). Habitus sind demnach keine Determinanten von Verhaltensweisen, sondern sozusagen generative Rahmen und damit Identitäten von Verhaltenswahrscheinlichkeiten, Kontingenzspielräumen und (An-)Passungsverhältnissen. Es geht nicht etwa um im Handeln kopierte „Drehbücher“ (wie die so genannten Skripttheorien unterstellen), sondern um „eine allgemeine Grundhaltung, eine Disposition gegenüber der Welt, die zu systematischen Stellungnahmen führt […] wie einer spricht, tanzt, lacht, liest, was er liest, was er mag, welche Bekannte und Freunde er hat usw. All das ist eng miteinander verknüpft” (Bourdieu 1989: 25). Bourdieu unterstreicht und spezifiziert dieses Verständnis (knapp zehn Jahre nach dem „Entwurf”), indem er den Habitus als Verhaltensgenerator mit nicht nur systematischem Charakter sondern auch gleichsam eingebauter Feinabstimmung vorführt: „Habitusformen” erscheinen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d.h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepaßt sein können, ohne jedoch bewußtes Anstreben von Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung erforderlichen Operationen vorauszusetzen (Bourdieu 1987: 98f.).
In einem prinzipiellen kompetenz- und handlungstheoretischen Sinne, der gerade auch die im Folgenden zu thematisierende Berufspraxis betrifft, ist in diesem Zusammenhang der Gedanke Bourdieus zentral, dass der Habitus nicht nur ein Schema zur Erzeugung immer neuer Handlungen ist, sondern auch einen Sinn für „feine Unterschiede“5 und eine „Urteilskraft im Handeln“ (vgl. Hahn 1986: 609) hervorbringt. Bourdieu spricht von einem „praktischen Sinn“: Genau mit diesem praktischen Sinn, der sich weder mit Regeln noch mit Grundsätzen belastet […], kann der Sinn der Situation auf der Stelle, mit einem Blick und in der Hitze des Gefechts, eingeschätzt und sogleich die passende
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Von feinen Unterschieden spricht nicht nur Bourdieu in seinem (in der deutschen Übersetzung) gleichnamigen Buch, sondern auch schon Gehlen (1957: 105). Ihm zufolge entwickelt sich „auf dieser Basis spezialisierter Gewohnheiten gesetzmäßig eine immer höhere Reizschwelle, ein sich verfeinernder optischer und taktiler Sinn für Qualitätsunterschiede, ein Plus an motorischen Feinreaktionen und eine differenzierte Skala verfügbarer Denkschemata; kurz, ein hohes gezüchtetes Können“ (Gehlen 1957: 105; vgl. auch 1986: 29f.).
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Herbert Willems Antwort gefunden werden. Nur diese Art erworbener Meisterschaft, die mit der automatischen Sicherheit eines Instinkts funktioniert, gestattet es, augenblicklich auf alle möglichen ungewissen Situationen und Mehrdeutigkeiten der Praxis zu reagieren (Bourdieu 1987: 190f.).
Die vielfältigen Varianten des praktischen Sinns und jene reflexartigen Reaktionsweisen, die wie die Schamangst einen Zwang und unter Umständen einen „unpraktischen Sinn“ bedeuten, führt Bourdieu auf bestimmte Klassen sozialer Existenzbedingungen zurück, die den jeweiligen Habitus gleichsam – einer Grammatik analog – programmieren. Da er ein erworbenes System von Erzeugungsschemata ist, können mit dem Habitus alle Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen, und nur diese, frei hervorgebracht werden, die innerhalb der Grenzen der besonderen Bedingungen seiner eigenen Hervorbringung liegen. Über den Habitus regiert die Struktur, die ihn erzeugt hat, die Praxis, und zwar nicht in den Gleisen eines mechanischen Determinismus, sondern über die Einschränkungen und Grenzen, die seinen Erfindungen von vornherein gesetzt sind (Bourdieu 1987: 102).
Die hier gemeinten Daseinsbedingungen, die die habituellen Dispositionen erzeugen, schließen durch das, was sie als Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, Freiheiten und Notwendigkeiten definieren, durch Erleichterungen und Verbote etc. bestimmte Vorstellungen und Praktiken von vornherein aus und legen andere nahe (vgl. Bourdieu 1987: 100ff.). Der Habitus „versucht“ entsprechend, die „‚vernünftigen’ Verhaltensweisen” zu erzeugen, die alle Aussicht auf Belohnung haben, weil sie den objektiven Daseinsbedingungen angepasst sind. „Zugleich trachtet” er, „alle Verhaltensweisen auszuschließen, die gemaßregelt werden müssen, weil sie mit den objektiven Bedingungen unvereinbar sind” (Bourdieu 1987: 104). In diesem Sinne können z.B. berufsspezifische Habitus (von Politikern, Journalisten usw.) als praktisch generierte Generatoren eines besonderen „Gespürs“, einer „Diplomatie“, einer „Geschicklichkeit“, einer „Intuition“ usw. verstanden werden. 2.3
Kapital und Kapitaltypen
Wie die Begriffe Feld und Habitus ist der Begriff des Kapitals von Bourdieu nicht erfunden sondern lediglich „moduliert“ worden. Und auch die Art, wie Bourdieu diesen Begriff inhaltlich fasst bzw. erweitert, ist nicht wirklich originell, sondern im Wesentlichen schon bei Elias vorgezeichnet. Bourdieus prinzipielles Kapitalverständnis und selbst seine Unterscheidung von Kapitaltypen hat Elias, wenn auch mit anderen Worten, vor allem in seiner Untersuchung der „höfischen Gesellschaft” (Elias 1983) vorweggenommen.
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Bourdieu greift den wirtschaftstheoretischen Kapitalbegriff auf und entwickelt ihn als ein Konzept, das auf alle gesellschaftlichen Felder übertragbar sein soll (vgl. Bourdieu 1983: 184f.). Dieses Konzept, das die Konzepte Feld und Habitus voraussetzt und sich teilweise mit ihnen überschneidet, übergreift sehr unterschiedliche sozial-positional, instrumentell und strategisch relevante Tatsachen bzw. Ressourcen wie z.B. Geld, Sprache, Körper, Titel und „Beziehungen“. Dabei geht Bourdieu von systematisch und hartnäckig ungleichen Verteilungsstrukturen aus (ebd.: 183). Die jeweilige historische Verteilungsstruktur der diversen Kapitalformen entspricht der „immanenten Struktur der gesellschaftlichen Welt, d.h. der Gesamtheit der ihr innewohnenden Zwänge, durch die das dauerhafte Funktionieren der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestimmt und über die Erfolgschancen der Praxis entschieden wird” (ebd.: 183). Bourdieu differenziert drei basale Kapitalsorten: das „kulturelle” (a), das „soziale” (b) und das „ökonomische” (c) Kapital. (a) Drei Varianten kulturellen Kapitals werden von Bourdieu unterschieden, nämlich „inkorporiertes”, „objektiviertes” und „institutionalisiertes”. Im Verständnis des Erstgenannten besteht dabei der eigentliche „Clou“ der einschlägigen Bourdieu’schen Überlegungen. Unter inkorporiertem Kulturkapital versteht Bourdieu – ganz in Übereinstimmung mit Elias – verinnerlichte und damit dauerhafte Dispositionen, die in mehr oder weniger langfristigen, d.h. zeitintensiven, Sozialisationsprozessen entstanden sind. Es geht also um ein Kapital in der Form (und mit den Implikationen) von Habitus. Dieses ist auch – so Bourdieu wie Elias – im Kontext objektivierten Kulturkapitals, wie z.B. Kunstwerken, Instrumenten, Büchern, Einrichtungsgegenständen usw., zentral – insofern nämlich, als die Aneignung dieser Objekte die Verfügung über kulturelle Kompetenzen, insbesondere Urteilsfähigkeiten, erfordert. Demgegenüber ist das institutionalisierte Kulturkapital, vor allem in der Form von Bildungstiteln, relativ unabhängig von dem kulturellen Kapital, das die Person seines Trägers „tatsächlich zu einem gegebenen Zeitpunkt besitzt” (1983: 190). Titel fungieren sozusagen als autarke Statussymbole, die „offiziell“ ausweisen. Sie sind zudem ebenso wie alle anderen kulturellen Kapitalvarianten von mehr oder weniger großer Bedeutung für den Handlungs- und Karriereerfolg auf den verschiedenen Feldern. (b) Soziales Kapital definiert Bourdieu als die „Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind” (1983: 190f.). Dieser „Besitz“ ist für
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Bourdieu das Produkt von Investitionsstrategien und einer „unaufhörlichen Beziehungsarbeit in Form von ständigen Austauschakten […], durch die sich die gegenseitige Anerkennung immer wieder neu bestätigt” (Bourdieu 1983: 193).6 Bei Elias wird die hier gemeinte Form von Arbeit und „Besitz“ zentral und ganz im Sinne von Bourdieus Sozialphilosophie thematisiert und analytisch gefasst. Das schließt die Aspekte der Wechselseitigkeit und Interdependenz mit ein: Ein Akteur (z.B. ein Journalist) kann demnach soziales Kapital (z.B. „brauchbare“ Beziehungen zu „führenden“ Politikern) haben und (z.B. für „führende“ Politiker) sein. (c) Ökonomisches Kapital, wie Bourdieu es definiert, ist, das überrascht wenig, „unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in der Form des Eigentumsrechts” (1983: 185). In der Tradition von Marx hält Bourdieu diesen Kapitaltyp und das ökonomische Feld überhaupt für gesellschaftlich primär und dominant. Dies gilt auch z.B. für seine Einschätzung der Ereignisse und Entwicklungen des journalistischen Feldes, das er letztlich von ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, Zwängen und „Kräften“ bestimmt sieht. Die „wahrgenommene und als legitim anerkannte Form” des ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals bezeichnet Bourdieu (1985: 11) als symbolisches Kapital.7 Gemeint sind „Definitionen“ der Anerkennung, Geltung und Achtung, die mit Begriffen wie Statussymbol, Ruf, Prestige, Reputation oder Image gefasst werden können. Dieses Kapital spielt offensichtlich in den verschiedensten Feldern eine – allerdings je besondere – Schlüsselrolle als etwas, das von den Akteuren angestrebt wird und mit dem und für das sie handeln.
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Natürlich versteht man nicht zuletzt im Feld der Wissenschaft sofort, was hier gemeint ist. Allerdings tritt auch sofort die Wesensdifferenz der Kapitaltypen zu Tage. Beziehungskapital ist eine recht diffuse, instabile und unzuverlässige Angelegenheit. Der Begriff des symbolischen Kapitals wird von Bourdieu mit und ohne Rückbezug auf die genannten Kapitaltypen nicht völlig klar und einheitlich verwendet. Es ist auch fraglich, ob nicht noch andere als die von Bourdieu fokussierten Grundlagen symbolischen Kapitals von größerer Bedeutung sind. Zu denken wäre etwa an „korporales Kapital“, von dem Bourdieu verschiedentlich spricht. Auch mit dem Körper können sich ja wie mit Beziehungen (und in Beziehungen) diverse Ressourcen verbinden.
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu
3 3.1
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Journalismus, Journalisten und andere Medienrealitäten Das journalistische Feld und seine „Polung“
Journalisten sind, wenn man sie mit den beschriebenen Deutungsmitteln betrachtet, eine Klasse von professionellen Medienakteuren, die auf einem besonderen (Medien-)Feld bzw. Feldsegment operieren, auf dem sie im Rahmen bestimmter Kapitalbedingungen und einer spezifischen „Polung“ mit anderen Akteuren bzw. Akteursklassen8 innerhalb und außerhalb ihres Feldes in Abhängigkeits-, Macht-, Kooperations- und Konkurrenzbeziehungen verflochten sind. Bourdieu definiert den von ihm eingeführten Begriff des journalistischen Feldes zunächst als eine besondere Sinn- und Sozialwelt: Die Welt des Journalismus ist ein Mikrokosmos mit eigenen Gesetzen. Dieser Mikrokosmos ist definiert durch seine Stellung in einem umfassenden Ganzen und durch die Anziehung und Abstoßung, die andere Mikrokosmen auf ihn ausüben. Er ist autonom, folgt seinem eigenen Gesetz, das heißt: Was in ihm vor sich geht, kann nicht direkt von äußeren Faktoren erschlossen werden (Bourdieu 1998: 55).9
Feld oder Feldsegment (im Falle des Journalismus z.B. Boulevardjournalismus) heißt auch, dass (unter bestimmten Bedingungen) ein bestimmtes „Spiel“ (mit bestimmten „Spielregeln“, „Einsätzen“, „Gewinnen“ und „Verlusten“ usw.) gespielt wird.10 Das „Spiel“ der Journalisten ist ein unter spezifischen Produktions- und Marktbedingungen stattfindendes und zunehmend Marktzwängen unterworfenes Informations- und damit Deutungsspiel um die Aufmerksamkeit, das Interesse, die Anerkennung und das (z.B. Kauf-)Handeln bestimmter Publika. Die Zuschauer, Zuhörer, Leser (Zahler, Käufer), aber auch die Fachkollegen, Vorgesetzten, (z.B. preisverleihenden) Kritiker usw. sind mehr oder weniger relevante Publika der Journalisten, deren Erfolge und Misserfolge sich letztlich in Karrieren und d.h. in den besagten Kapitalformen niederschlagen. Journalisten können also als „Spieler“ betrachtet werden, für die etwas auf dem Spiel steht und die um etwas spielen – als Spieler, die sich bei mehr oder weniger vorteilhafter Kapitalausstattung in Konkurrenzkämpfen befinden, z.B. um die (besonders „publikumswirksame“) Exklusivmeldung (vgl. Bourdieu 1998: 57f.).
8 9 10
Kollegen, Vorgesetzten, Objekten der Berichterstattung usw. Im Rahmen der Luhmann’schen Systemtheorie würde man dies wohl mit Begriffen wie Selbstreferenz, Geschlossenheit, System/Umwelt-Beziehung usw. formulieren. Bourdieu spricht gelegentlich auch von „Unterfeldern“.
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Bei aller prinzipiellen Gemeinsamkeit der journalistischen Praxen sind die „Lagen“ der einzelnen Journalisten sehr unterschiedlich, und zwar systematisch unterschiedlich, je nach dem Ort in der „Landschaft“ des Feldes. Was und wie im journalistischen Spiel im Einzelnen gespielt wird, hängt hauptsächlich von einer doppelten Positionierung ab, nämlich davon, in welchem und für welches „Feldsystem“ (z.B. Sender) der Journalist operiert und wie er in diesem im Feld spezifisch positionierten System selbst positioniert ist. Das heißt, Journalisten handeln als Elemente von oder im Auftrag von Organisationen bzw. Unternehmen oder Abteilungen, die ebenso wie ihre Medienerzeugnisse (Medienformate) eine bestimmte (Image-)Identität und (damit) Marktposition haben, die für die journalistischen Akteure kaum hintergehbar ist (vgl. Bourdieu 1998: 7, 69). Die Vorgaben für den einzelnen Journalisten werden zudem von dem aktuellen figurativen Platz bestimmt, den er in dem hierarchisierten und funktional spezialisierten Positionsgefüge des jeweiligen Systems einnimmt. Von diesen Bedingungen hängt zugleich eine weitere Vorgabe des Journalisten ab, nämlich die Gesamtheit der potentiellen und tatsächlichen „Abnehmer“, und d.h. das wichtigste Publikum seiner journalistischen (Text-)Erzeugnisse: die Zuschauer, Zuhörer, Leser. Als eine Entität „mit Stil“ bzw. Lebensstil ergibt sich und differenziert sich das journalistische Produkt-Publikum tendenziell durch den Stil des Medienformats, als dessen „Funktionär“ der Journalist tätig ist. Dessen Handeln muss sich also immer auch und wesentlich an stilistischen Dispositionen des Publikums orientieren. Ihm begegnet der Journalist wie andere Medienakteure primär im Medium seines feldspezifischen praktischen Sinns,11 der sich unter den Bedingungen von Knappheit (z.B. knapper Publikumsaufmerksamkeit) und Konkurrenz (auf allen Ebenen) zu entfalten hat. 3.2
Der Journalist als Akteur im Spannungsgefüge zwischen seinem Medienfeld und der Kultur seines Publikums
Journalisten sind – bei allem, was sie sonst noch sind – hauptsächlich Generatoren von bestimmten Informationstypen und Informationsinszenierungen. Die Aktion und Praxis des Journalisten besteht in spezifisch interessierten, nämlich sich an antizipierten Publikumsverständnissen und Publikumsinteressen ausrichtenden Beobachtungen, die in (sprachlichen) Beschreibungen und (bildlichen) Darstellungen dramaturgisch aufbereitet und interpretiert werden.
11
Oder, wie Bourdieu gelegentlich formuliert, „Spiel-Sinns“.
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In jedem journalistischen Erzeugnis stecken mit anderen Worten (feld-)generelle und spezielle Sinn- bzw. Relevanzstrukturen und (damit) explizite und implizite Interpretationen – (habituelle) Weltbilder und Ideologien eingeschlossen. Die systematische „Publikumsfixierung“ der journalistischen Produktion ist das zwangsläufige Resultat der Logik des journalistischen Feldes. Die Produkte des Journalisten sind also zwar immer die konkreten Leistungen einer Person und nie völlig von deren Besonderheiten (Individualität) zu trennen,12 sie sind aber auch nie nur das Werk eines (persönlichen) „Autors“ und durch diesen bedingt, sondern zuallererst dem Gesetz und Zwang des Feldes unterworfen, ein Publikum zu erreichen, ein Publikum zu interessieren und einem Publikum zu gefallen. Diesem Apriori wird im Rahmen bestimmter Produktionsbedingungen entsprochen, deren Strukturiertheit ebenso wie die der Publikumskultur zu Klassen von relativ homogenen journalistischen Erzeugnissen führt. Mit Gehlen mag man an dieser Stelle – ganz im Sinne von Bourdieu – von einer „Informationsindustrie” sprechen. Sie ist heute eine vielseitig expandierte und höchst komplexe Konfiguration von Institutionen, Organisationen und Strukturen, die der individuellen journalistischen Produktion und damit schließlich auch der aktuellen Wirklichkeitskonstruktion jedermanns sozusagen als Rahmen vorausgeht – darin sind sich so unterschiedlich ausgerichtete Beobachter wie Bourdieu, Luhmann und Gehlen einig. Die kulturelle „Realität der Massenmedien“ ist grundsätzlich sowohl von der „Erfahrung aus erster Hand“ als auch von der Realität, auf die sie sich bezieht oder zu beziehen vorgibt, zu unterscheiden. Die „informationsindustriellen“ Produkte sind, selbst wenn sie reale Ereignisse thematisieren, alles andere als Spiegelungen der (Ereignis-)Welt oder auch nur „Fenster“ zu dieser. Vielmehr (de-)konstruieren sie die unübersehbar komplexe Realität, auf die sie sich beziehen, höchstgradig selektiv, und zwar in besonderer Weise aufgrund von feldspezifischen Bedingungen wie „Betriebszwängen“, kommunikativen Gattungsgesetzen oder Einfluss nehmenden Akteuren (vgl. Gehlen 1957: 49). Journalisten sind dabei immer gebundene, angeforderte und interessierte Vermittler, Manager und Strategen, die sich primär an der Logik und Situation ihres Feldes zu orientieren haben, z.B. an der entsprechende Produkte nahelegenden Konkurrenz um Marktanteile (vgl. Bourdieu 1998: 78). Im Wesen der journalistischen Produktion liegt damit eine gewisse Theatralik, insbesondere eine Tendenz zur Dramatisierung. Journalisten müssen heute mehr denn je 12
Zum Beispiel ihrem individuellen Stil, der allerdings als Habituseffekt zu erklären ist.
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multimediale „Performancekünstler“ sein, um Aufmerksamkeits-, Relevanzund – vor allem – Unterhaltungswerte zu erzeugen bzw. zu steigern und im Konkurrenzkampf zu überbieten. Bourdieu sieht darüber hinaus eine systematische Bezogenheit der journalistischen „Wirklichkeitskonstrukteure“ und „Wirklichkeitskonstruktionen“ auf die Logiken und Situationen anderer, und zwar prinzipiell aller anderen Felder. Die journalistische Praxis ist, genauer gesagt, sowohl von anderen Feldern und entsprechenden Akteuren abhängig als auch eine diese Felder beeinflussende Größe.13 Am offensichtlichsten ist dies vielleicht im Kontext der Politik, deren Gegebenheiten und Ereignisse die Journalisten im Prinzip ebenso brauchen wie die Politiker die journalistische Nachricht und Berichterstattung. Allerdings zeigt sich, wie Bourdieu betont, dass die Eigenlogik und die Entwicklung des journalistischen Feldes von größerer Bedeutung für das politische Feld sind als umgekehrt. Medienvermittelte und mediengenerierte Images und Meinungen stellen heute mit das wichtigste (symbolische) Kapital oder aber eine Art Hypothek der politischen Subjekte dar. Als öffentliche Angelegenheit ist Politik mittlerweile wesentlich eine im „Medium“ des Journalismus ablaufende Imageund Werbeveranstaltung, die die Medien zu Bühnen und Arenen machen. Die inszenatorische Funktionalität bzw. Funktionalisierbarkeit der Medien, die den Journalismus direkt oder indirekt einschließt, bestimmt offenbar immer mehr, was auf den verschiedenen sozialen Feldern (der Politik, der Religion, der Wirtschaft, der Kunst usw.) „gespielt“ wird. Die bisherigen Überlegungen betonen die Kultur bzw. die informationelle Aktualität des Mediums und die Wirklichkeit des Publikums als Funktionen der medialen „Informationsindustrie“, die mitsamt ihrem Personal als ein relativ eigenständiges Gebilde erscheint. Für Bourdieu ist in diesem Zusammenhang das Feld und die Interdependenz der Felder auch insofern das Primäre, als es um Sozialisationseffekte geht. Vor allem im Fernsehen sieht Bourdieu eine „Bildungsinstanz“ ersten Ranges – für die „Massen“: „Das Fernsehen hat eine Art faktisches Monopol bei der Bildung der Hirne eines Großteils der Menschen” (Bourdieu 1998: 23). Es fungiert mit anderen Worten als eine Art Habitusgenerator. Dies ist aber – auch für Bourdieu – nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist das immer schon „gebildete“ Publikum, insbesondere dessen
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Historisch ist Letzteres zunehmend der Fall. Heute sind alle „Feldspieler“ – vom Kleriker bis zum Künstler – mehr oder weniger von Meinungen und Images abhängig, die Journalisten professionell gestalten und sozusagen verwalten.
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Ensemble von Habitus. Sie sind eine omnipräsente und permanent fungierende „Tiefenrealität“, die dem jeweils aktuellen informationellen „Realitätsverlust“ und „Realitätsloch“ des Publikums als eine für die medialen „Wirklichkeitskonstrukteure“ maßgebende und entscheidende Kraft gegenübersteht. Anders formuliert: So sehr die Medien, und damit der Journalismus, die aktuelle Informationswirklichkeit des Publikums bestimmen, so sehr bestimmt die Habitusausstattung des Publikums, seine innere „Realitätsgrammatik“, was und wie mit welchen Effekten und Erfolgsaussichten medial kommuniziert werden kann. Bourdieus Argumentation – gerade auch sein Kapitalbegriff – berührt und überschneidet sich in diesem Zusammenhang mit medienwissenschaftlichen Überlegungen, die unter dem Titel „kulturelles Forum“ laufen. Gemeint ist damit zunächst, dass die Massenmedien – mit dem Fernsehen als der alles überragenden Variante14 – Raum-, Zeit- und Sozialgrenzen übergreifende Foren im Sinne von Plattformen, Schau- und Marktplätzen von Kultur bilden, auf denen und hinter denen professionelle Akteure wie die Journalisten als Vermittler von Information und Sinn operieren. Marshall Sahlins (vgl. 1976: 217) und im Anschluss an ihn Newcomb und Hirsch (1986) sprechen von „Symbolverkäufern”, die (wie alle Verkäufer dieser Welt) in einem marktstrategischen Sinne publikumsorientiert sind. Damit rücken nicht die „systeminternen“, generativen und kreativen Dimensionen von – u.a. journalistischen – Medienerzeugnissen in den Vordergrund, sondern vielmehr wird ihre kulturellreflexive, sozusagen indikatorische Seite reflektiert. Sie ergibt sich aus der Beobachtungsrichtung und Beobachtungsleistung der medialen „Symbolverkäufer“. Das heißt: Vor dem Hintergrund ihrer Handlungsziele reagieren Medienakteure wie die Journalisten mit hoher Sensibilität z.B. auf „konkrete Ereignisse, auf den Wandel gesellschaftlicher Strukturen bzw. Organisationsformen oder auf Veränderungen in Einstellungen und Wertvorstellungen. Auch technologische Innovationen [...] sind für sie wichtige Anstöße” (Newcomb & Hirsch 1986: 180). Ob es hauptsächlich darum geht, berichtend oder „nachrichtend“ zu informieren oder aber zu werben oder „bloß“ zu unterhalten – die adressierten Publika und alles, was sie an Wissen und Sinn mitbringen, sind – so die Argumentation im Rahmen des kulturellen Forumskonzepts – die eigentliche „Autorität“ der „Symbolverkäufer“ (vgl. Fiske & Hartley 1978: 86). Diese müssen demnach buchstäblich und gleichsam die (Habitus-)Sprache des
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Für viele Beobachter, wie auch für Bourdieu, ist das Fernsehen das „Leitmedium“ und der Fernsehjournalismus sozusagen der Leitjournalismus.
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jeweiligen Publikums sprechen und sie zur (Er-)Findungs- und Formulierungsgrundlage ihrer Sinnangebote machen. Bourdieu zufolge hat sich dieses Prinzip zu einer generalisierten Diktatur des Gefallens und der Gefälligkeit gesteigert (vgl. 1998: 22), die alle am jeweiligen „Spiel“ beteiligten – durch Anziehung oder/und Druck – mehr oder weniger unterwirft. Bourdieu spricht von der „‚Einschaltquotenmentalität’. Überall ist der Maßstab der Verkaufserfolg” (Bourdieu 1998: 36). Für „pragmatische“ Textproduzenten wie die Journalisten (im Unterschied zu Produzenten gewisser Fiktionen) besteht damit sozusagen eine Kosmologiebindung, ein Zwang und Hang, den mehr oder weniger selbstverständlichen „Weltanschauungen“ des Publikums zu folgen und sich an ihnen zu orientieren. Journalistisch informierende Texte, „meinungsbildende“ Texte, also Tendenzliteratur jeder Art, aber auch Texte, die werben, belehren oder beraten wollen, können also zwar erhebliche Spielräume der Ideenproduktion und Gestaltung nutzen, sind aber ihrem Wesen nach alles andere als ein symbolisches „Niemandsland“ oder „Freiraum“, in dem mit Wirklichkeiten mehr oder weniger beliebig gespielt werden könnte. Sie tendieren vielmehr notwendigerweise zur Bestätigung, ja zur Zelebrierung der symbolischen (Grund-)Ordnungen des Publikums, die die Annahme-Voraussetzung dieser Texte sind, die Grundlage ihres „Ankommens“, Überzeugens und Beeindruckens. Bourdieu betont dies vor allem im Hinblick auf das Fernsehen, in dem er das kosmologische Kopier- und Stabilisiermedium sieht: „Es ist den mentalen Strukturen des Publikums vollendet angepasst”. (Bourdieu 1998: 64) Der Blick und die Anstrengung der Journalisten (und anderer Medienproduzenten) richten sich aber nicht nur direkt auf ihre „abnehmenden“ Publika am Markt der Medienerzeugnisse. Privilegierter Gegenstand der strategischen Beobachtung sind vielmehr auch die produktiven Marktkonkurrenten, die Bourdieu ähnlich vorstellt wie Elias die von ihm fokussierten höfischen Strategen. So verbrächten Journalisten in ihren Redaktionskonferenzen „beträchtlich viel Zeit damit, von anderen Zeitungen zu sprechen, besonders von dem, ‚was sie gemacht haben und wir nicht’ (‚das haben wir verschlafen’) und was man – selbstverständlich – hätte machen müssen, da die anderen es gemacht haben“ (Bourdieu 1998: 32). Die Konkurrenz verleite dazu, die Tätigkeit der Konkurrenten permanent zu überwachen (was bis zu gegenseitigem Ausspionieren gehen kann), um ihr Scheitern zu nutzen, ihre Fehler zu vermeiden, ihre Erfolge zu konterkarieren, wobei versucht wird, die Instrumente zu entlehnen, von denen angenommen wird, dass sie zum Erfolg führten (Bourdieu 1998: 111, Hervorhebung im Original).
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Die heutigen Journalisten erscheinen hier also ganz ähnlich wie bei Elias die Höflinge: als nutzen- und d.h. kapitalorientierte Beobachtungs- und Inszenierungsvirtuosen, die sich in einer systematisch reflexiven Distanz zu den Tätigkeiten und Erzeugnissen ihres Feldes befinden. 3.3
Habitus der Journalisten und ihrer Publika
Man kann mit Bourdieu und anderen Habitustheoretikern davon ausgehen, dass Journalisten als „normale“ Gesellschaftsmitglieder (als „jedermänner“ und „-frauen“) mit ihrem Publikum einen elementaren kosmologischen Habitus teilen, auf dessen Grundlage „passende“ journalistische Textproduktionen möglich sind. Die hier gemeinte habituelle Gemeinsamkeit ist von primärer und größter Bedeutung für jede journalistische Praxis; sie reicht als Sinngrundlage zwischen Produzenten und Rezipienten für die „einfachsten“ Journalismusvarianten aus. Andere journalistische Erzeugnisse sind auf produktiver und rezeptiver Ebene voraussetzungsvoller, nämlich an – insbesondere inkorporiertes – kulturelles Kapital gebunden. Die entsprechende journalistische Produktion spielt insofern ähnlich wie die literarisch-künstlerische Produktion eine gewisse Sonderrolle, die auf einen inneren Zusammenhang von Produktion und Rezeption verweist. Das heißt: Die Dispositionen, die die Wahrnehmung und Bewertung von als „qualitativ“ hoch stehend geltenden journalistischen Medienerzeugnissen anleiten, werden in hohem Maße durch das Bildungssystem vermittelt. Dagegen ist die Rezeption vieler anderer medialer Texte, z.B. des Boulevardjournalismus, des Unterhaltungsbereichs oder der Werbung, vom Bildungsstand der Rezipienten nahezu unabhängig (vgl. Bourdieu 2001: 237). Für die Produzenten von „Qualitätsjournalismus“ (wie auch z.B. von „hoher“ Literatur) gilt entsprechend, dass sie stark vom Bildungssystem abhängen. Ihm verdanken sie nicht nur ihre Rezipienten, sondern auch zum großen Teil die eigenen habituellen Dispositionen, die sie zu einem Erfolg versprechenden Produktivsein befähigen. Und eben diese habituellen Dispositionen sind es auch, die nach Bourdieu dazu führen, dass sich Medienerzeugnisse und Medienrezeptionen mit sozialen Distinktionsimplikationen in einen Lebensstil einfügen.15
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So kann die Lektüre eines Boulevardblatts für einen „gebildeten“ und als „gebildet“ auftretenden Leser geradezu als Stigma erscheinen. Umgekehrt sind bestimmte Presseerzeugnisse fast Statussymbole und indikatorische Elemente eines Lebensstils, in dem auch die Behauptung einer Lebensanschauung und einer Identität steckt.
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Herbert Willems
Der journalistische Akteur (als Idealtyp) kann in seinem „Kultursein“ und „Kulturschaffen“ also einerseits jenseits der speziellen Eigenlogik seines Feldes auf die Habitusformen der Gesellschaftskultur (Jedermanns Kultur) und des Bildungssystems zurückgeführt werden. Andererseits zeichnet sich der Journalist als gewordener und werdender „Spieler“ auf seinem (Spiel-)Feld, das ja ein strukturiertes Ensemble objektiver Existenz- und Erfolgsbedingungen darstellt, durch feldspezifische Genesen und Überformungen von Habitus aus. In diesem Zusammenhang spielen mehr oder weniger formalisierte „Ausbildungen“ ebenso eine Rolle wie die eher impliziten Lernprozesse der beruflichen Praxis und Karriere. Journalisten sind in dieser Hinsicht mit allen anderen feldspezifischen Akteuren zu vergleichen, die sich (als Idealtypen) soziologisch konstruieren lassen: Politiker, Therapeuten, Moderatoren, Auktionatoren, Professoren usw. Bourdieu konstatiert in diesem Sinne einen journalistischen Blick; er attestiert den Journalisten eine spezielle (habituelle) „Brille“, „mit der sie bestimmte Dinge sehen, andere nicht, und mit der sie die Dinge, die sie sehen, auf bestimmte Weise sehen. Sie treffen eine Auswahl, und aus dem, was sie ausgewählt haben, errichten sie ein Konstrukt” (Bourdieu 1998: 25). Gleichsinnig kann man auch von einer Mentalität, einem kognitiven Stil oder von habituellen Relevanzstrukturen der Journalisten sprechen, die sich aus der „Polung“ ihres Feldes ergeben. Journalisten sind, genauer gesagt, weltbezogene Beobachter und Beschreiber, in deren Arbeit insbesondere der Blick auf den Blick des zentralen Publikums immer schon eingebaut ist. Sie blicken auf die Welt durch den Blick dieses Publikums. Dieser „Perspektivenwechsel“ erfolgt auch in dem relativ rationalisierten und organisierten Feld des Journalismus in hohem Maße nicht nur spekulativ, sondern auch intuitiv, d.h. auf der Basis fungierender Habitus.16 Auf dieser Basis können und müssen sich Journalisten letztlich von den habituellen Dispositionen ihrer Publika leiten und bestimmen lassen. Denn (auch) die Rezeption des journalistischen Medienpublikums hängt primär von dessen habituellen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien [...] ab, so dass in einer hochdifferenzierten Gesellschaft eine enge Beziehung zwischen der Natur und
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Medienproduzenten aller Art aktivieren natürlich zudem und auf dieser Basis ein professionell-technisches „Lehrbuchwissen“, zum Beispiel über Formen der Textgestaltung (vgl. Rager, Hartwich-Reick & Pfeiffer 1998). Darüber hinaus kann man davon ausgehen, dass die verschiedensten Medienproduzenten – gerade auch Journalisten – sowohl in ihrer Ausbildung als auch in ihrer beruflichen Praxis permanent zu spezifisch kompetenzbildenden Selbstreflexionen und Selbstevaluationen veranlasst werden.
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu
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Qualität der ausgesandten Information und der Struktur des Publikums besteht. Ihre Lesbarkeit und Durchschlagskraft sind umso größer, je direkter sie auf implizite oder explizite Erwartungen antworten, die die Rezipienten prinzipiell ihrer Erziehung durch das Elternhaus und ihren sozialen Bindungen [...] verdanken (Bourdieu 1991: 169).
Journalisten müssen also, in und mit welchem Medium auch immer sie operieren, vor allem zwei habitusverdankte und habitusformierte „Künste“ beherrschen und verbinden: eine Kunst der Beobachtung und des Verstehens einerseits und eine – entsprechende – mindestens textuelle Inszenierungskunst andererseits. Der Journalist ist mit anderen Worten immer auch ein Stratege, ein „Empathievirtuose“ und ein dramaturgischer Gestaltungskünstler mit ausgeprägtem Bewusstsein für die (strategische) Erfolgsrelevanz der Form. Die entsprechenden Habitus bilden sich dabei wesentlich am Typ des Mediums, dessen Unterschiedlichkeit eine ist, die auch Unterschiede der Habitusanforderung macht. Anders als die Printmedien eröffnet das Fernsehen z.B. die habituell voraussetzungsvolle Dimension der korporalen „Performance“ des Journalisten. Und diese Dimension spielt offenbar in verschiedenen Rollen (als Moderator, Berichterstatter, Kommentator) eine immer größere Rolle. Vor allem Fernsehjournalisten sind heute im Rahmen entsprechender Formate (Interviews, TalkRunden usw.) mehr denn je „Performancekünstler“, deren erfolgsbestimmende Kunst habitusbestimmt ist. 3.4
Die Diktatur des Marktes
Journalisten bedienen und bewirken eine eigene Sphäre des medialen Programmangebots: den Bereich Nachrichten/Berichte/„Sachkommentare“ bzw. „Sachdiskussionen“, von dem die Sphären Unterhaltung und Werbung zu unterscheiden sind (vgl. Luhmann 1996: 51f.). Der Programmbereich Nachrichten/Berichte/„Sachkommentare“ hat eine relativ bestimmte Sinn- und Wirklichkeitsidentität; er ist, um mit Goffman (1977) zu sprechen, ein Ensemble von verwandten „Rahmen”,17 die für die journalistischen Akteure wie für ihre Beobachter bzw. Publika Definitionen dessen liefern, was „eigentlich vorgeht“ und vorgehen sollte. Das heißt vor allem:
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Unter Rahmen versteht Goffman (1977) verstehenanweisende Sinnkontexte. Als solche können zum Beispiel Nachrichtensendungen oder Werbespots angesehen werden. Rahmen haben sozusagen eine klar distinguierte und markierte Sinn-Identität und fungieren als praktische Sammelbegriffe. Zur genaueren Explikation des Rahmenbegriffs vgl. Willems (1997).
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Herbert Willems Bei Informationen, die im Modus der Nachrichten und Berichterstattung angeboten werden, wird vorausgesetzt und geglaubt, daß sie zutreffen, daß sie wahr sind. [...] anderenfalls würde die Besonderheit dieses Programmbereichs Nachrichten und Berichte zusammenbrechen (Luhmann 1996: 56).
Es geht hier also um einen identifizierenden Ankerpunkt der Medienwirklichkeit, der auch eine Variationsgrenze für die Art von Kommunikation bedeutet, die unter dem Titel Journalismus laufen kann. Er ist und bleibt – bei allem Wandel und aller Wandelbarkeit – an Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsansprüche und damit an Glaubwürdigkeits- und Seriositätseindrücke gebunden. Sie müssen seit jeher immer wieder neu produziert und reproduziert werden, was durch ein spezifisches Arsenal dramaturgischer Mittel, Zeichen und Praktiken geschieht.18 Sie reichen vom äußeren (z.B. Kleidungs-)Habitus des (Fernseh-) Journalisten bis hin zur Authentifikation des Textes durch Quellen. So offensichtlich notwendig es ist, dass die Bereiche der journalistischen Kommunikation eine Identität besitzen und behaupten, so unübersehbar sind Wandlungen des journalistischen Produktuniversums, hinter denen Wandlungen der journalistischen Produktionsbedingungen zu vermuten sind. Generell zu beobachten ist eine der Publikumserreichung, Publikumsgratifikation und Publikumsbindung dienende Theatralisierungstendenz, insbesondere eine Tendenz zur effektvollen „Aufmachung“ und zur – im „Medium“ von Inszenierungen versuchten – Unterhaltung, die alle journalistischen Bereiche von der allgemeinen Nachrichtensendung über die Sportberichterstattung19 bis zur Wetterberichterstattung umfasst. Bourdieu sieht speziell eine sich verallgemeinernde und verschärfende „Jagd nach dem Sensationellen, dem Spektakulären, dem Ungewöhnlichen“ (1998: 72). Als Generator solcher Entwicklungen identifiziert Bourdieu die Gesetzmäßigkeiten des Marktes, der Vermarktlichung und (damit) der Konkurrenz. Sie implizierten eine kategorische Orientierung der journalistischen Produktion am Ziel der Maximierung der Publikumsquantität, und d.h. in letzter Konsequenz: die Unterordnung unter den Geschmack und
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Journalisten stehen damit in einer Reihe mit anderen Berufen, die ihre besondere sachliche und moralische Geltung und Würde mit einem eigenen dramaturgischen Instrumentarium herstellen. Richter, Priester und Therapeuten gehören dazu. Luhmann, der die Programmangebote in dem besagten Sinne klassifiziert hat, weiß nicht recht, ob er sie eher zur Unterhaltung oder eher zu den Nachrichten und Berichten zählen soll (vgl. 1996: 96ff.).
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die „Erwartungen des anspruchslosesten Publikums“ (ebd.: 72).20 Bourdieu bringt diese Ausrichtung auf die Begriffe des „Marketings“ (ebd.: 113) und der „Einschaltquotenmentalität“ (ebd.: 74). Er behauptet damit eine geradezu habituelle Neigung von Journalisten, „das ‚Kriterium Einschaltquote’ in ihrer Produktion (‚einfach darstellen’, ‚sich kurz fassen’ usw.) oder in der Bewertung von Produkten und sogar Produzenten (‚kommt gut an’, ‚verkauft sich gut’ usw.)“ (ebd.: 109) zum wesentlichen oder ausschließlichen Maßstab zu machen. Für Bourdieu entsprechen die Journalisten damit nur der Logik bzw. Entwicklungslogik ihres Feldes, das wie kein anderes „Feld der Kulturproduktion […] der Sanktion durch den Markt, durch das Plebiszit“ unterliege (ebd.: 75). Dessen zentrale kulturelle Konsequenz sei eine Homogenisierung des journalistischen Produktuniversums. So habe „sich tendenziell ein bestimmtes Konzept von Nachricht, wie es bislang der dem Sport und Vermischten gewidmeten sogenannten Sensationspresse vorbehalten war, des gesamten journalistischen Feldes bemächtigt” (Bourdieu 1998: 72).21 Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich die Feststellung einer ambivalenten Kultur- und Wirklichkeitsbedeutung der journalistischen Medienerzeugnisse. Einerseits sind diese vermittelte Reproduktionen von insbesondere habituellen Sinnstrukturen des Publikums: von Kategorien, Klassifikationssystemen, Relevanzstrukturen, Normalitätsbegriffen, Ideal- und Wunschvorstellungen usw. Andererseits stellen die journalistischen Medienerzeugnisse feldbestimmte Inszenierungen dar, die einen eigenen Sinn und eine eigene Wirklichkeit „haben“ und dadurch sowie im „Medium“ des Sinns und der Wirklichkeit des Publikums einen eigenen Sinn und eine eigene Wirklichkeit hervorbringen, nämlich bestimmte Versionen von der „Welt“. Journalisten sind also eine besondere Klasse von Inszenierungssubjekten, die mit ihren auf besonderen Bühnen (für Publika) vorgestellten Bildern von der Welt „Weltbilder“ verbreiten. Die journalistische Fokussierung auf ungewöhnliche und abweichende Ereignisse z.B. indiziert Normalitätsverständnisse des Publikums und präsen-
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Johannes Weiß meint Ähnliches, wenn er von „Vergewöhnlichung“ spricht. Auch ihm geht es nur vordergründig um „Kulturkritik“. Der entscheidende analytische Fokus richtet sich vielmehr bei Weiß wie bei Bourdieu auf die generativen Mechanismen (und damit auf eine gewisse Zwangsläufigkeit) einer kulturellen Entwicklungstendenz. Nachrichten sind demnach in gewisser Weise zu einem Spezialfall von Unterhaltung geworden. Dessen Besonderheit (die Besonderheit der Nachrichtenunterhaltung) liegt zum einen in der Wahrheit der mitgeteilten Informationen und zum anderen in der Art dieser Informationen. In der generellen Erfolgslogik des „Infotainments“ sind potentiell (publikums-) unterhaltsame Informationen diejenigen, die einen „sachlich“ dramatischen Inhalt haben, d.h. im allgemeinsten Sinne mit Abweichungen von Normalität zu tun haben.
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tiert zugleich ein Bild von der Welt, das geglaubt werden kann. Mit Bourdieu formuliert: (Welt-)Geschichte als „eine Abfolge scheinbar absurder Geschichten, die sich schließlich alle ähneln […]” (1998: 138). Ebenso wie durch die Selektion und dramaturgische Aufbereitung von „news“ fungiert die journalistische Kommunikation durch die narrative, d.h. Kontexte herstellende, Enthüllung bzw. Entlarvung von „Hintergründen“ als Bildner von „Weltbildern“, die sich sozusagen an dem mentalen Apparat des Publikums festmachen, ihn aber auch überlagern, überformen und durchdringen. Als ein Beispiel für die hier gemeinte Sinn- und Wirklichkeitskonstruktion kann ein Auszug aus einem (typischen) Bericht des Spiegel dienen, der die ehemaligen Kanzlerkandidaten der SPD, Lafontaine und Schröder, auf ihrem Parteitag 1997 schildert: Die beiden präsentierten in Hannover grelle Bilder ihrer politischen Männerfreundschaft anstelle klarer Antworten. Und je länger und aufdringlicher sie ihre Eintracht in die Kameras und in die Mikrophone witzelten, desto deutlicher wurde aus ihrem Krampflächeln purer Hohn – nicht nur ihre Kandidaten-Show erschien absurd, sondern nicht minder die Erwartung, die Herren würden ihr „wahres Gesicht“ zeigen. Daß Politiker nicht nur zur Täuschung, sondern auch zum Schutz Rollen spielen, daß sie Masken und Kostüme benutzen, ist auch eine Wahrheit. [...] Immer schon hatte auf Parteitagen die Erwartung von Mitgliedern, Presse und Publikum den Reden der Hauptmatadore gegolten. Die Macht des Fernsehens erhebt diese Auftritte endgültig in den Rang von Herrschaftsritualen. [...] Die beiden wußten, daß ihre Auftritte Profilierungschance und Falle zugleich waren. [...] Zwar beklatschten seine Gefolgsleute noch tapfer die ersten Sätze, aber mit zunehmender Dauer wuchs die Distanz zwischen Redner und Auditorium. Schröder las ab. Brav trug er einen gewitzten und dramaturgisch ordentlich aufgebauten Text vor, dessen Gewicht ihn zu ermüden schien. Pflichtapplaus. [...] Und doch ist der Preis beträchtlich, den Lafontaine für seine Konzentration auf die Pflege der Parteiseele zahlt. Er verkürzt sein Image um eine Dimension von Intellektualität und Reflexion, über die er verfügt. [...] In Hannover hat Lafontaine sich präsentiert, aber nicht gezeigt. Wie Schröder hält er bewußt Teile seines Denkens und seines Wesens versteckt. [...] Undeutlichkeit statt Programm? Oder gar als Programm? Darin steckt auch Kalkül, um niemanden zu verschrecken (Leinemann 1997: 22ff.).
Das Bild von der Welt, das hier inszeniert wird, ist, wie schon die „dramatologische“ Metaphorik22 zeigt, ein ganz und gar und ganz besonders theatralisches. Es ist ein gemachter Blick auf eine Theater-Welt, ein „Blick auf eine Arena, in der Ehrgeizlinge ohne jede Überzeugung Manöver durchführen, bei denen sie sich von konkurrenzbedingten Interessen leiten lassen” (Bourdieu 1998: 134). 22
Show, Täuschung, Rolle, Maske, Kostüm, Auftritt, Ritual, Publikum, Dramaturgie, Image usw.
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Indem journalistische Diskurse – und d.h. aus der hier vertretenen Perspektive auch: Journalisten – derartige Sinnstrukturen, die offenbar auf fruchtbaren Boden fallen, in endlosen Variationen kontinuierlich reproduzieren, sind sie in besonderer Weise und systematisch kulturell positioniert, bedingt und wirksam. Sie stehen damit neben anderen medialen Diskursen, die, wie z.B. die Werbung, unter entsprechenden Voraussetzungen ihrerseits charakteristische „Weltbilder“ mit vergleichbarem Inhalt hervorbringen (vgl. Willems & Kautt 2003). Eine Analyse, die die Logik bzw. Entwicklungslogik solcher Medienkultur(en) verstehen und auf ihre Erzeugungsmechanismen zurückführen will, kann auf die dargelegten Konzepte nicht verzichten.
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Die Struktur des journalistischen Felds Thomas Hanitzsch
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Pierre Bourdieu und die Journalismustheorie
Nachdem systemtheoretische Beschreibungs- und Erklärungsversuche von Journalismus in der deutschen Theoriedebatte seit Mitte der 1990er Jahre zur Reife gelangt waren, schienen sich zwei soziologische Basisparadigmen zunächst unversöhnlich gegenüberzustehen. Der systemtheoretische Ansatz blendet die „Mikrostrukturen der individuellen Persönlichkeit als Rauschen“ aus, da diese (a) eher zufällig statt systematisch und (b) eher punktuell statt generell mit den Makrostrukturen von Journalismus interferieren (Scholl 2001: 389). Das Hauptproblem besteht demnach nicht in der Identifikation aller möglichen Einflüsse im Journalismus, sondern in der Auswahl der relevanten Variablen: Wie weit reichen das Geschlecht, die politische Einstellung usw. systematisch, d.h. überzufällig, in systemische Abläufe hinein? Auch wenn ein solcher theoretisch begründeter Reduktionismus grundlegende Strukturen des Journalismus ohne Zweifel hinreichend erhellen mag: Die Theorie stößt schnell an ihre Grenzen, wenn es um Fragen der Heteronomie (im Kontrast zu Autonomie) und Genese im Journalismus geht. Die systemtheoretische Journalismusforschung reduziert Akteure zu Merkmalsträgern und konkretes journalistisches Handeln zu strukturdeterminierten Wahrscheinlichkeiten. Demgegenüber stehen akteurs- und handlungstheoretische Versuche, die Genese sozialer Strukturen aus den Motivlagen der Akteure und/oder einer Folge von Einzelhandlungen heraus zu erklären. Die handlungstheoretische Perspektive ist zwar im Feld der Mediennutzungs- und Rezeptionsforschung weit verbreitet, in der Journalismusforschung konnte sie sich jedoch bislang kaum durchsetzen. Dies lässt sich möglicherweise damit erklären, dass der Schritt von der Beobachtung von Einzelhandlungen, der Verkettung zu Abläufen bis hin zur Erklärung sozialer Makrostrukturen letztlich nur über Brückenannahmen mög-
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Thomas Hanitzsch
lich ist, die für sich genommen nicht unproblematisch sind (vgl. Reinemann, in diesem Band). Aus diesen Gründen hat sich die Journalismustheorie im deutschsprachigen Raum in letzter Zeit stärker auf die integrativen Ansätze zubewegt, die mittlerweile in zunehmender Taktzahl vorgelegt werden (vgl. u.a. Quandt 2002; Neuberger 2000; Altmeppen 1999; Weischenberg 1998). Kultursoziologische Ansätze hingegen haben es weiterhin schwer, obwohl gerade hier ein beträchtliches Potenzial für die integrative Theoriekonstruktion brach liegt. Ein Grund hierfür mag die weitgehende Abstinenz der Cultural Studies gegenüber der Analyse von Prozessen der Produktion von Informationsangeboten sein. Journalismusforschung wird hier oft exklusiv im Gewand von Rezeptions- und Aneignungsforschung betrieben, und zuweilen verliert sie sich in schöngeistiger Polemik à la John Hartleys (2000: 45) „Everyone is a journalist, and journalism is everywhere.“ In diese Indifferenz der kultursoziologischen Theoriebildung stoßen nun Ansätze hinein, die auf den theoretischen Arbeiten des im Jahre 2002 verstorbenen französischen Soziologen Pierre Bourdieu aufbauen. Auch wenn Bourdieu selbst kaum dezidierte Journalismusforschung betrieben hat (vgl. Raabe 2003: 471), so hat der (französische) Journalismus bereits in Bourdieus frühen kultursoziologischen Analysen stets einen wichtigen Platz eingenommen (vgl. Bastin 2003: 263). Mit dem Einzug des Privatfernsehens in Frankreich zu Beginn der 1990er Jahre und der damit verbundenen gesellschaftlichen Transformation nimmt Bourdieus Auseinandersetzung mit Journalismus schließlich weiter an Intensität zu (vgl. Benson & Neveu 2005b: 1). Mit Spannung wurde daher Bourdieus Buch „Über das Fernsehen“ (1998c, Sur la télévision, ersch. 1996) aufgenommen. Doch die Enttäuschung unter vielen Forscherkollegen war groß: Die nicht einmal 140 Seiten umfassende Abhandlung war eine weitgehend polemische Abrechnung mit dem Journalismus und dem Mediensystem im Frankreich der 1990er Jahre. Anders als die wissenschaftliche Bewertung des Bandes muss eine historische Würdigung dieser Arbeit jedoch in Rechnung stellen, dass sich Pierre Bourdieu über seine forscherischen Aktivitäten hinaus mit zunehmendem Lebensalter immer stärker auch als politischer Intellektueller engagierte. Der schmale Band „Über das Fernsehen“ war vermutlich weniger als profunde wissenschaftliche Analyse gedacht, sondern vielmehr als Ausdruck von Bourdieus Positionierung im politischen Feld. Die Auseinandersetzung mit dem 1992 erstmals auf Französisch erschienenen Band „Die Regeln der Kunst“ (1999, Les règles de l’art), der in vielfacher Hinsicht eine Konsolidierung von Bourdieus früheren Arbeiten
Die Struktur des journalistischen Felds
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darstellt, wird Bourdieus wissenschaftlichem Beitrag zur Journalismustheorie (sowie der Kulturproduktion insgesamt) daher am ehesten gerecht (vgl. Hesmondhalgh 2006: 211). Die Fruchtbarkeit von Bourdieus relationaler Analyse für die empirische Journalismusforschung ist mittlerweile zahlreich dokumentiert worden, u.a. in den Arbeiten von Duval (2005) zum Wirtschaftsjournalismus sowie von Champagne und Marchetti (2005) zur Gesundheitskommunikation. Spätestens seit dem Ende der 1990er Jahre lassen sich auch Forscher außerhalb Frankreichs von Bourdieus Ideen inspirieren. So vermuten Schoenbach et al. (1999) aufbauend auf Bourdieus Klassentheorie, dass die Zeitungsnutzung in den USA u.a. dazu dient, die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen und Klassen zu signalisieren.1 Ein transatlantischer Ideenaustausch zwischen französischen und US-amerikanischen Forschern kulminierte schließlich in dem von Rodney Benson und Erik Neveu (2005a) herausgegebenen Sammelband „Bourdieu and the Journalistic Field“. Auf mehreren Jahrestagungen der International Communication Association haben sich Kommunikationswissenschaftler zudem in eigens dafür geschaffenen Panels dezidiert mit Bourdieu beschäftigt. Im Jahr 2004 mit Bourdieus kommunikationstheoretischem Potenzial („Communicating with Pierre Bourdieu: Discovering New Applications for Old Theories“), und zwei Jahre später mit der Applikation einer Bourdieu-inspirierten Journalismustheorie („Journalism Studies and the Sociology of Pierre Bourdieu: Case Studies from France, Norway and Denmark“). Auch für Deutschland kann Averbecks (2003: 253) Diagnose, wonach Bourdieu in der medien- und journalismusrelevanten Theoriebildung bislang kaum rezipiert wurde, als nicht mehr zutreffend gelten. Mittlerweile liegen zahlreiche Arbeiten vor, die aus dem theoretischen Arsenal Bourdieus geschöpft haben. Schäfer (2004) hat einen ersten Versuch vorgelegt, Journalismus als soziales Feld zu beschreiben, während Hanitzsch (2004: 64ff.) die Präsenz der Lebenswelt im journalistischen Alltag über Bourdieus Habituskonzept zu fassen sucht. Raabe (2000, 2003, 2004, 2005a, 2005b) hat in einer ganzen Reihe von Arbeiten das heuristische Potenzial von Bourdieus theoretischem Rüstzeug im Hinblick auf die Verortung journalistischer Akteure im sozialen Raum (Milieuanalyse), die Etablierung einer „empirisch-kritischen Journalismusfor-
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In ähnlicher Weise vermutet Willems (in diesem Band), dass „bestimmte Presseerzeugnisse fast Statussymbole und indikatorische Elemente eines Lebensstils“ sind.
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Thomas Hanitzsch
schung“ sowie die Begründung einer kultursoziologischen Handlungserklärung eindrucksvoll vorgeführt. Der vorliegende Beitrag will diese Arbeiten sowie das Einführungskapitel von Willems (in diesem Band) vertiefen und ergänzen. Die Begrifflichkeit Bourdieus soll in etablierte Konzepte der Journalismusforschung übersetzt werden, um die Fruchtbarkeit des Ansatzes zu demonstrieren. Insbesondere wird es dabei um drei fundamentale Theoriebausteine von Bourdieus Soziologie gehen: Kapital, Feld und Habitus.
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Journalismus und Kapital
Bourdieu (1983: 183ff.) unterscheidet drei Formen von Kapital (vgl. Willems, in diesem Band): Zum ökonomischen Kapital werden alle Ressourcen gezählt, die unter marktwirtschaftlichen Bedingungen mehr oder weniger „unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar“ sind und „sich besonders zur Institutionalisierung in Form des Eigentumsrechts“ eignen. Das soziale Kapital bezeichnet diejenigen Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu anderen Personen beruhen und „mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind“. Das kulturelle Kapital hingegen liegt in drei Formen vor, nämlich (a) als inkorporiertes Kulturkapital (Bildung im weiteren Sinne), (b) als objektiviertes Kulturkapital (Bücher, Kunst, Tonträger, u.a.) sowie (c) als institutionalisiertes Kulturkapital (z.B. staatlich anerkannte Abschlüsse und Titel). Transzendiert werden diese drei Kapitalformen durch eine weitere Form: Das symbolische Kapital ist die „wahrgenommene und als legitim anerkannte Form“ der drei vorgenannten Kapitalsorten („Prestige“, „Renommee“, usw.) und bestimmt innerhalb einer Gruppe darüber, was das jeweils akkumulierte Kapital im Einzelnen „wert“ ist (Bourdieu 1985: 11, 1993: 218). Als journalistische Akteure können sowohl Individuen und Gruppen von Personen als auch Organisationen gelten, d.h. im Rahmen der vorliegenden Analyse insbesondere Journalisten, Redaktionen und Medienbetriebe. Journalisten benötigen als „Eintrittskarte“ in das journalistische Feld zunächst inkorporiertes Kulturkapital in Form von einer professionellen Ausbildung (die jedoch nicht notwendigerweise journalismusspezifisch sein muss) sowie einer gewissen intellektuellen Kapazität, um den beruflichen Anforderungen gerecht zu werden. Darüber hinaus ist – auch wenn der Berufszugang im Journalismus nicht formalisiert ist – angesichts des Bedeutungszuwachses der hochschulgebundenen Journalistenausbildung anzunehmen, dass ein entsprechendes Abschluss-
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zeugnis (institutionalisiertes Kulturkapital) einer Aufnahme in das journalistische Feld durchaus zuträglich ist. Im Verlaufe einer erfolgreichen Karriere kann der Umfang des kulturellen Kapitals nun weiter vergrößert werden, etwa durch das kontinuierliche Anwachsen von Berufserfahrung sowie durch Preisverleihungen und Auszeichnungen (z.B. Deutscher Fernsehpreis, Egon-Erwin-Kisch-Preis, Grimme-Preis, Kölner Medienpreis, Theodor-Wolff-Preis). Im journalistischen Feld können die Akteure das auf diese Weise akkumulierte kulturelle Kapital in ökonomisches Kapital (Gehalt, Honorar) umwandeln. Die Anhäufung von kulturellem Kapital macht sich dabei in der Tendenz bezahlt: auf der Karriereleiter vom Volontär bzw. freien Journalisten über den angestellten Redakteur bis hin zum leitenden Redakteur steigt das Einkommen zum Teil beträchtlich. Der Zusammenhang zwischen kulturellem und ökonomischem Kapital ist allerdings keineswegs immer linear. Die spezifische symbolische Komponente des kulturellen Kapitals durchbricht in vielen Fällen eine einfache Transformationsregel, denn die ökonomische Motivation ist gerade in kreativen Berufen nicht das einzige – und oft nicht einmal das wichtigste – Kriterium bei der Wahl des Arbeitgebers. So vermag eine Tätigkeit für die tageszeitung oder den Freitag durchaus prestigeträchtig sein, aber in finanzieller Hinsicht lohnt sich dies kaum. Andererseits kann etwa Bild zwar höhere Gehälter bieten (insbesondere für leitende Redakteure), im Hinblick auf ihr gesellschaftliches Renommee müssen die Akteure jedoch Kompromisse schließen. Schäfer (2004: 324) weist zutreffend darauf hin, dass auch soziales Kapital (das Zurückgreifen auf nützliche „Beziehungen“ bei der Bewerbung auf eine Stelle) den Zugang zum journalistischen Feld erleichtern und in manchen Fällen gar eröffnen kann. Soziales Kapital können Journalisten freilich auch aus der Vernetzung mit Kollegen (z.B. in Journalistenverbänden) und einflussreichen Persönlichkeiten in Politik, Wirtschaft usw. schlagen. Allgemein ist soziales Kapital für Journalisten jedoch vor allem im Hinblick auf die Recherche von essenzieller Bedeutung. An exklusive Informationen gelangen erfahrene Reporter oft nur über den mühsamen Aufbau eines möglichst engmaschigen Netzes an Informanten. Der investigative Journalist und Pulitzer-Preisträger Seymour Hersh hätte ohne seine Kontakte zu Insidern im Pentagon das MyLai-Massaker (1969) und den Abu-Guraib-Folterskandal im Irak (2004) wahrscheinlich niemals aufdecken können. Zudem besteht häufig eine direkte Verbindung zwischen der symbolischen Komponente des kulturellen Kapitals und dem sozialen Kapital, da Informanten sich bevorzugt an solche Journalisten
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Thomas Hanitzsch
wenden, die sich zuvor durch ihr Renommee und ihre Vertrauenswürdigkeit ausgezeichnet haben. Journalistische Organisationen, also Redaktionen und Medienbetriebe, können wiederum das Renommee solch herausragender Journalisten dazu benutzen, das eigene Ansehen aufzupolieren. Allerdings ist dieses Phänomen in den USA stärker verbreitet, während es sich in Deutschland weitgehend auf exponierte Moderatoren (z.B. Sandra Maischberger, Ulrich Wickert) und Ikonen der Auslandsberichterstattung (z.B. Peter Scholl-Latour) beschränkt. Das objektivierte Kulturkapital im journalistischen Feld ist sehr spezifisch und kann zur Charakterisierung sowohl von Journalisten (anhand ihrer Praktiken) als auch von Redaktionen bzw. Medienangeboten (anhand der Inhalte) herangezogen werden. Idealtypisch lässt sich hier ein Kontinuum ausmachen, dass sich zwischen zwei Polen aufspannt. Auf der einen Seite steht ein reichweitenorientierter Journalismus, der über eine intensive Marktbeobachtung (Auflage, Quote, Zielgruppe, etc.) an die Notwendigkeiten und Spielregeln des ökonomischen Feldes angepasst ist. Am deutlichsten ist diese Form des objektivierten Kulturkapitals u.a. im Boulevardjournalismus, in der Prominenten-Berichterstattung und im Sportjournalismus. Demgegenüber steht ein angebotsorientierter „anspruchsvoller“ Journalismus, der sich stärker an der Eigenlogik des kulturellen Feldes orientiert und sich im spezifischen symbolischen Kapital des praktizierten Journalismus niederschlägt. Im Zentrum steht hierbei vor allem die publizistische Qualität von Journalismus, verkörpert u.a. in Genres wie dem Feuilleton und Praktiken wie dem investigativen Journalismus. Da sich in modernen Medienunternehmen die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass mit einem „Avantgarde-Journalismus“ dieser Couleur kaum Geld zu verdienen ist, lässt die weitere Kommerzialisierung von öffentlicher Kommunikation befürchten, dass sich ein solcher Journalismus weiter in die kulturellen Nischen eines intellektuellen Elite-Publikums zurückziehen wird. Mit einer „anspruchsvollen“ Berichterstattung lässt sich also vor allem im kulturellen Feld punkten, in dem das spezifische symbolische Kapital des Journalismus mehr „wert“ ist als im ökonomischen Feld. Hier regiert die „anti‚ökonomische’ Ökonomie der reinen Kunst“, die auf der „Verleugnung der ‚Ökonomie’ (des ‚Kommerziellen’) und des (kurzfristigen) ‚ökonomischen’ Profits“ basiert (Bourdieu 1999: 228). Einigen Medienbetrieben gelingt es dennoch, die Balance zwischen einem reichweitenorientierten und anspruchsvollen Journalismus zu halten, da sich kulturelles Prestige-Kapital durchaus in ökonomisches Kapital umwandeln lässt: So mögen Konsumenten bereit sein, für ein Premium-Produkt einen höheren Preis zu zahlen, und Anzeigenkunden
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werden ihre Werbung gerne in einem attraktiven Umfeld mit einem ebenso (ökonomisch) attraktiven Publikum der höheren Einkommensklassen platzieren (vgl. Schäfer 2004). Die Bedeutung des ökonomischen Kapitals für Redaktionen und Medienbetriebe lässt sich anhand einer neueren Publikation von Bourdieu (1998a: 174f.) differenzierter darstellen. Das finanzielle Kapital, verstanden als der direkte oder indirekte Zugriff auf monetäre Ressourcen, repräsentiert im Journalismus die Einnahmenseite in Form von Verkaufserlös, Werbeeinnahmen und Gebühren. Ein wichtiger Indikator für die symbolische Komponente des finanziellen Kapitals ist Profitabilität, während eine unmittelbare Konsequenz der zunehmenden Bedeutung dieser Kapitalie eine steigende Medienkonzentration ist (als concentration of ownership). Direkt damit im Zusammenhang – nämlich gekoppelt über den ökonomischen Wettbewerb – steht das kommerzielle Kapital (Verkaufskraft), das vor allem von Marketing und Vertrieb abhängig ist. Gemessen wird der Umfang des kommerziellen Kapitals in Form von Auflagen, Zuschauerbzw. Nutzerquoten und Marktanteilen. Diese Kapitalsorte ist für das in privaten und zunehmend auch öffentlich-rechtlichen Medienangeboten zu beobachtende „Mainstreaming“ der Inhalte verantwortlich, da Medienorganisationen ihren Erfolg über das Erreichen von möglichst hohen Marktanteilen definieren. Hierfür ist allerdings eine konsequente und permanente Wettbewerber- und Marktbeobachtung notwendig, die gesteuert wird von der Verfügbarkeit an technologischem Kapital, definiert als Bestand an wissenschaftlichen und/oder technischen Ressourcen für die Produktion von Gütern. Die wissenschaftlichen Ressourcen stehen in Form von Publikumsforschung zur Verfügung, wobei Medienunternehmen hierbei überwiegend auf externe Dienste zurückgreifen (Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern, Gesellschaft für Konsumforschung, AC Nielsen, etc.).
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Das journalistische Feld
Bourdieu (1987: 195f.) dekonstruiert seine Vorstellung vom sozialen Raum in drei Grunddimensionen. Es handelt sich dabei (a) um das Gesamtvolumen allen akkumulierten Kapitals, (b) die Struktur des Kapitals in Form der relativen Gewichtung von kulturellem und ökonomischem Kapital sowie (c) die zeitliche Entwicklung dieser beiden Größen (d.h. die jeweilige soziale Laufbahn). Diese drei Parameter bestimmen nun die objektive Lage der Akteure im sozialen Raum. Gleichzeitig aber entsteht dieser soziale Raum erst, da sich die verschiedenen sozialen Positionen in Relation zueinander befinden. Zur Veran-
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schaulichung dieser Idee hat Bourdieu immer wieder gern zweidimensionale Koordinatensysteme verwendet, wobei die y-Achse das Kapitalvolumen und die x-Achse die Kapitalstruktur darstellt. Auf die Abbildung der zeitlichen Entwicklung des Kapitalbesitzes hat Bourdieu verzichtet, vermutlich weil die grafische Darstellung dann zu komplex geworden wäre. Den einzelnen sozialen Akteuren – ob Individuen, Gruppen oder Organisationen – können nun empirische Parameterwerte zugewiesen werden, die als Koordinaten fungieren. Damit spannt sich ein Raum der Relationen auf, wobei sich die Position eines Akteurs im sozialen Raum erst aus der Nähe bzw. Distanz zu anderen Positionen ergibt. Damit bricht Bourdieu („Die Wirklichkeit ist relational“, in Bourdieu & Wacquant 1996: 126f.) bewusst mit der substanzialistischen Tradition der Soziologie: Was in der sozialen Welt existiert sind Relationen – nicht Interaktionen oder intersubjektive Beziehungen zwischen Akteuren, sondern objektive Relationen, die „unabhängig vom Bewußtsein und Willen der Individuen“ bestehen, wie Marx gesagt hat. (ebd.: 127)
Felder sind gleichzeitig aber auch ein Resultat fortschreitender gesellschaftlicher Differenzierung. Insofern sind Bourdieus feldtheoretische Überlegungen als eine besondere Spielart der Differenzierungstheorie zu sehen. Anders als Luhmann verzichtet Bourdieu jedoch auf geschlossene Konzepte wie „Autopoiesis“ und „Primärfunktion“ sowie die zweiwertige Logik von binären Codierungen. Bourdieu (1998b: 148ff.) stellt zwar in Rechnung, dass Gesellschaften im Laufe ihrer Entwicklung „soziale Universen“ (Felder) ausbilden, die eigene Gesetze haben und autonom sind. Allerdings fasst er Autonomie im Unterschied zu systemtheoretischen Modellierungen hier in relative Begriffe. Ähnlich der Luhmann’schen Vorstellung von selbstreferenziellen sozialen Systemen, die mit binären Codes und Programmen operieren, sorgt der spezifische nomos – das „Grundgesetz“, das jedes Feld von anderen unterscheidet – dafür, dass Felder das, was sich in ihnen abspielt, nach eigenen Prinzipien und Kriterien bewerten. Umwelteinflüsse wirken sich dabei nur über die spezifischen Kräfte und Strukturen des Feldes aus, wobei sie zunächst in einer Weise umstrukturiert wurden, die um so tiefer greift, je autonomer das Feld ist, d.h. je fähiger es ist, seine spezifische Logik zur Geltung zu bringen (vgl. Bourdieu 1999: 367). Der Umfang an Autonomie, über die ein Feld verfügt, ist also am „Übersetzungs- oder Brechungseffekt“ zu messen, den seine spezifische Logik externen Einflüssen oder Anforderungen zufügt (ebd.: 349).
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Abbildung 1: Das Feld der kulturellen Produktion + Kapitalvolumen
Feld der eingeschränkten Produktion + Autonomie – ökonomisches Kapital + spezifisches symbolisches Kapital
Feld der Massenproduktion
Macht-Feld
nichtprofessionelle Kulturproduzenten
– Autonomie + ökonomisches Kapital – spezifisches symbolisches Kapital JOURNALISMUS
(nationaler) sozialer Raum
– Kapitalvolumen Quelle: Bourdieu (1999: 203), leicht geänderte und vereinfachte Darstellung.
+ ökonomisches Kapital / – kulturelles Kapital
– ökonomisches Kapital / + kulturelles Kapital
Feld der kulturellen Produktion
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Journalismus verortet Bourdieu (1999: 187ff.) im Feld der kulturellen Produktion2, welches sich wiederum innerhalb der Grenzen des Feldes der Macht befindet (vgl. Abbildung 1). Ein wesentliches Merkmal dieses Feldes ist sein verhältnismäßig geringes Ausmaß an Kodifizierung sowie die hohe Durchlässigkeit der Feldgrenzen. Das Feld der kulturellen Produktion ist mithin ein „unsicherer Ort“ im sozialen Raum, da „es nur vage Positionen bietet, die eher zu ge-stalten als schon fertig ausgestaltet sind“ (Bourdieu 1999: 358). In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts vereinigte das Feld der kulturellen Produktion zwei Subfelder: Auf der einen Seite steht das Feld der eingeschränkten Produktion mit relativ hoher Autonomie (von der Logik des Marktes), einem geringen Umfang an ökonomischem Kapital (geringer Preis des Konsumptionsaktes, geringe Anzahl und Qualität der Konsumenten, langer Produktionszyklus) und einem vergleichsweise hohen Umfang an spezifischem symbolischem Kapital (Prestige des Produkts und der Produzenten). Dem stellt Bourdieu das Feld der Massenproduktion gegenüber, das sich durch eine niedrige Autonomie, einen hohen Umfang an ökonomischem Kapital und geringen Umfang an spezifischem symbolischem Kapital auszeichnet. Den Journalismus verortet Bourdieu als Genre im Feld der Massenproduktion, das Feld der eingeschränkten Produktion umfasst u.a. Positionen der Avantgarde-Kunst. Darüber hinaus schließt das Feld der kulturellen Produktion auch Formen der „nichtprofessionellen Kulturproduktion“ ein. Eine wichtige theoretische Konsequenz von Bourdieus Einordnung ist somit die Eingrenzung von Journalismus auf professionelle Kulturproduktion. Damit stellt sich Bourdieu gegen die von einigen, vorwiegend kulturkritischen Wissenschaftlern propagierte Ausweitung des Journalismusbegriffs auf Formen der Informationsvermittlung durch Laien, wie sie durch die Auflösung der klassischen Demarkationslinie zwischen Produzenten (Kommunikatoren) und Konsumenten (Rezipienten) vor allem im Internet stattfindet (die „Redaktionsgesellschaft“, vgl. Hartley 2000). An der Beschaffenheit des Feldes der kulturellen Produktion hat sich seither nicht viel Grundlegendes geändert, auch wenn sich mit Unterhaltung ein zusätzliches Genre im Feld der Massenproduktion herausgebildet hat. Darüber hinaus deutet einiges darauf hin, dass das Feld der Massenproduktion als Folge der zunehmenden Ökonomisierung langsam immer weiter zum kommerziellen Pol driftet (in Abbildung 1 nach rechts). In den
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Bourdieu verwendet diese Begriffe nicht immer konsistent, zuweilen spricht er vom „literarischen (und künstlerischen) Feld“ oder „intellektuellen Feld“, wenn er sich auf das Feld der kulturellen Produktion bezieht.
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frei werdenden Raum zwischen den Feldern der eingeschränkten Produktion und Massenproduktion könnte ein neues Subfeld treten, das sich zurzeit mithilfe der partizipativen Kommunikationsstrukturen im Internet (Weblogs, Diskussionsforen etc.) formiert. Die Verortung von Journalismus im Feld der kulturellen Produktion scheint insofern plausibel, als sie der historischen Entwicklung von Journalismus gerecht wird. So hat sich der moderne professionelle Journalismus aus der Literatur heraus entwickelt, über die Zwischenstufe eines „schriftstellernden Journalismus“, dessen vielleicht bekanntester Vertreter Theodor Fontane war. Bourdieu (1999: 232) hat Journalisten aufgrund ihrer Fokussierung auf aktuelle Themen auch schon mal als „Kurzzeit-Schriftsteller“ bezeichnet. Eine Besonderheit von Journalismus – oder vielmehr des journalistischen Feldes, von dem wir im Folgenden sprechen wollen – ist, dass es sich vermittelt über Publikumsforschung sowie Auflagen, Einschaltquoten und Nutzerzahlen zunehmend der Logik des ökonomischen Felds ausliefert. Dabei erzeugt der Wettbewerb durch die permanente Beobachtung der Konkurrenten Uniformität, statt automatisch Originalität und Vielfalt zu generieren. Aus diesem Grund, so Bourdieu (1998c: 111f.), ist die journalistische Kulturproduktion auf die Bewahrung von bestehenden Werten gerichtet. Das journalistische Feld verliert mehr und mehr an Autonomie, indem es sich von den heteronomen Kräften der Kommerzialisierung unter Druck setzen und von einer „Einschaltquotenmentalität“ regieren lässt (Bourdieu 1998c: 74, vgl. Willems, in diesem Band). Um der zeitlichen Dynamik und der internen Heterogenität des journalistischen Feldes hinreichend Rechnung zu tragen, erscheint es, Raabe (2005a: 197) zustimmend, deshalb konsequenter, die Autonomie im Journalismus in relative Kategorien zu fassen. Der nomos des journalistischen Feldes findet sich dabei in den traditionellen Werten des Journalismus, die tief in der professionellen Kultur verankert sind und die Kovach und Rosenstiel (2001) auch als „Elemente des Journalismus“ bezeichnet haben. Dazu zählen insbesondere Objektivität und Distanz (in der Berichterstattung), Unabhängigkeit (von Partikularinteressen), Aktualität (der berichteten Themen) sowie das Handeln im öffentlichen Interesse (vgl. u.a. Deuze 2005: 447). Dabei ist die Durchsetzungskraft des nomos in den verschiedenen Positionen innerhalb des journalistischen Feldes unterschiedlich ausgeprägt, was zum Aufweichen der Grenzen zu benachbarten Feldern beiträgt. So siedeln u.a. der neue/literarische Journalismus, das Feuilleton, die Glosse (z.B. das „Streiflicht“ in der Süddeutschen Zeitung) sowie viele Kulturzeitschriften in der Überlappungszone von Journalismus und dem Feld der eingeschränkten
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Produktion. Auf der anderen Seite positionieren sich z.B. der populäre Journalismus, die Prominenten-Berichterstattung, der Sportjournalismus sowie Jugend- und Musikzeitschriften im Grenzland zwischen Unterhaltung und dem journalistischen Feld. Zudem ist der Übergang von Journalismus zu nichtprofessioneller Kulturproduktion an den Rändern des journalistischen Feldes oft fließend. Die unterschiedlichen Positionen innerhalb des journalistischen Feldes lassen sich nun mittels eines zweidimensionalen Koordinatensystems beschreiben, wie es von Bourdieu vielfach verwendet wurde (vgl. Abbildung 2). Auch hier beschreibt die vertikale Achse das Kapitalvolumen und die horizontale Achse die Kapitalstruktur. Der linke Rand des Feldes repräsentiert den „intellektuellen Pol“ (Marchetti 2005: 71) mit hoher Autonomie, großem Umfang an spezifischem symbolischen (kulturellen) Kapital, aber geringem Ausmaß an ökonomischem Kapital. Der rechte Rand des Feldes bildet den „kommerziellen Pol“ mit geringer Autonomie, geringem spezifischen symbolischen (kulturellen) Kapital, aber hohem Umfang an ökonomischem Kapital. Die Grenzen des Feldes werden dabei von den jeweils am weitesten auseinander liegenden Positionen bestimmt, wobei einzelne Feldpositionen ihre Identität oft in Abgrenzung – oder gar Opposition – zu anderen Positionen artikulieren. So ist der an den trivialen Bedürfnissen der Konsumenten orientierte Service- und RatgeberJournalismus, der seinem Publikum konkrete Hilfestellungen im täglichen Leben geben will, u.a. auch als Reaktion auf die Vernachlässigung des Alltags durch den lange Zeit vor allem die Printmedien dominierenden elitären Politikjournalismus zu verstehen. Je näher Feldpositionen dem kommerziellen Pol stehen, umso mehr regiert die ökonomische Logik der Massenproduktion, die auf das Erreichen eines möglichst großen Publikums bzw. möglichst großer Marktanteile abzielt. Die journalistische Autonomie, d.h. die Durchsetzungskraft der spezifischen Logik (nomos) des journalistischen Feldes, wird den heteronomen Kräften von Auflagen, Quoten und Nutzerzahlen geopfert. Nicht zuletzt deshalb findet die Tabloidisierung der Medienlandschaft am kommerziellen Pol statt: Mit 3,6 Millionen verkauften Exemplaren ist mit Bild die auflagenstärkste Tageszeitung in der Bundesrepublik eine Boulevardzeitung (IVW, I/2006). Darüber hinaus ist auf dieser Seite des Feldes die Abhängigkeit von Werbeeinnahmen besonders stark ausgeprägt, wodurch die Fremdsteuerung durch das ökonomische Feld zusätzlich begünstigt wird.
– ökonomisches Kapital / + kulturelles Kapital
KULTUR- UND KUNSTZEITSCHRIFTEN DER BOHÈME
Dresdner Kulturmagazin
Spiegel
ÜBERREGIONALE TAGESZEITUNGEN
Süddeutsche Zeitung
INVESTIGATIVER JOURNALISMUS
GEO
WISSENSCHAFTSJOURNALISMUS
Spektrum der Wissenschaft
– Kapitalvolumen
Freies Wort
LOKALE/REGIONALE TAGESZEITUNGEN
Schwäbisches Tagblatt
tageszeitung Neues Deutschland
aspekte (ZDF)
FEUILLETON/ LITERARISCHER JOURNALISMUS
Die Zeit
art
KULTUR- UND KUNSTZEITSCHRIFTEN DER ARRIVIERTEN AVANTGARDE
+ Kapitalvolumen
Abbildung 2: Das deutsche Mediensystem und das journalistische Feld.
Bild
BOULEVARDJOURNALISMUS
InStyle
Bravo
JUGEND-/MUSIKZEITSCHRIFTEN
ANZEIGENBLÄTTER
TV Spielfilm
SERVICEJOURNALISMUS
Playboy
HOCHGLANZMÄNNERMAGAZINE
Glamour
Auto Bild
AUTOMOBILZEITSCHRIFTEN
Capital
WIRTSCHAFTSMAGAZINE
BrandEins
+ ökonomisches Kapital / – kulturelles Kapital
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Ebenfalls am kommerziellen Pol des Feldes siedeln Premium-Produkte wie Hochglanz-Männermagazine (z.B. Playboy), die sich u.a. durch einen hohen Preis des Konsumtionsaktes (Kaufpreis) sowie ein vergleichsweise einkommensstarkes Publikum auszeichnen. Auch die Eigentümerstruktur spielt im Hinblick auf die ökonomische Unabhängigkeit eine wesentliche Rolle: Medien, die zu einer Unternehmensgruppe gehören, bekommen die heteronomen Kräfte des ökonomischen Feldes stärker zu spüren als öffentlich-rechtliche Medienanstalten und Medienorganisationen mit einer kooperativen Eigentümerstruktur, wo sich das Management häufig (noch) in den Händen von ausgebildeten Journalisten befindet (vgl. Duval 2005: 140). Am intellektuellen Pol des journalistischen Feldes befinden sich journalistische Praktiken und Medien, die sich durch einen hohen Grad an Autonomie auszeichnen. Bourdieu (2005: 42) selbst ist der Meinung, dass kulturelles Kapital vor allem auf der Seite der Printmedien zu finden sei, da diese am ehesten gesellschaftskritische Debatten anstoßen, die später vom Fernsehen aufgegriffen werden. Dies scheint allerdings nur auf einen relativ kleinen Teil der Presse zuzutreffen, dazu zählen zweifellos Nachrichtenmagazine wie der Spiegel, die sich noch am ehesten der Philosophie eines investigativen und kritischen Journalismus verpflichtet fühlen, sowie viele überregionale Tageszeitungen – hier insbesondere die linksgerichtete tageszeitung mit ihrer kooperativen Eigentümerstruktur. Ebenfalls am intellektuellen Pol des journalistischen Feldes siedelt das Feuilleton und der literarische Journalismus, exemplifiziert durch prestigeträchtige Formate wie Die Zeit und aspekte (im ZDF). Hier, am intellektuellen Pol des Feldes, zählt insbesondere das spezifische symbolische Kapital des Journalismus, das seinen Niederschlag in der Anerkennung der journalistischen Leistung durch Kollegen findet. Journalistenpreise wie der Grimme-Preis (Kategorie Dokumentarfilm/TV-Journalismus/Feature/Essay) und der Theodor-Wolff-Preis fallen überdurchschnittlich oft an Akteure, die auf der linken Hälfte des journalistischen Feldes siedeln, d.h. an öffentlich-rechtliche Fernsehanstalten, Nachrichtenmagazine sowie überregionale Tages- und Wochenzeitungen. Die kommerzielle Logik der Marktanteile steht hier nicht so sehr im Vordergrund, auch wenn sich ein anspruchsvoller Journalismus durchaus in Auflage umwandeln lässt, wie das Beispiel der Zeit (verkaufte Auflage 483.000, IVW, I/2006) beweist. Medienorganisationen, die zu einer Unternehmensgruppe gehören, finden sich auf dieser Seite des Feldes seltener. Darüber hinaus ist die Abhängigkeit von Werbeeinnahmen (im Verhältnis zu den Einnahmen durch Verkauf bzw. Gebühren) deutlich geringer.
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Die hier vorgenommene Einordnung von Medien, Mediensegmenten und journalistischen Praktiken ist freilich nur eine exemplarische und auf Vermutungen basierende Annäherung. Um das journalistische Feld in seinem existierenden Spektrum exakt „kartographieren“ zu können, müssten die Annahmen durch ein empirisches Datenfundament gestützt werden. Dies könnte, wie Bourdieu (1987) in „Die feinen Unterschiede“ und Duval (2005) am Beispiel des journalistischen Feldes eindrucksvoll vorgeführt haben, über eine Korrespondenzanalyse geschehen, da dieses Verfahren im Hinblick auf das Skalenniveau der Daten relativ anspruchslos ist. Als Kriterien zur Bestimmung der einzelnen Positionen im journalistischen Feld können dabei verschiedene Parameter herangezogen werden: Neben Zahlen zu Auflagen, Quoten, Nutzerzahlen bzw. Marktanteilen sollte die Abhängigkeit von Werbung (der Anteil von Werbeeinnahmen am Gesamtumsatz) ermittelt werden. Darüber hinaus spielen sicherlich auch der Preis des Konsumtionsaktes (z.B. Kaufpreis) sowie die Qualität des Publikums (z.B. Kaufkraft, Milieuzugehörigkeit) eine wichtige Rolle. Duval (2005: 151) hat zudem vorgeschlagen, die Eigentümerstruktur in die Betrachtung mit einzubeziehen, insbesondere die Zugehörigkeit zu einer Unternehmensgruppe.
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Journalismus, Journalisten und Habitus
Um der scheinbaren Starrheit seiner Kapital- und Feldtheorie zu entkommen, führt Bourdieu mit dem Habitus ein weiteres wichtiges Konzept in die Theorie ein. Der Habitus ist das entscheidende Bindeglied zwischen Praxis und Struktur, Kapitalbesitz und Lebensstil sowie zwischen Vergangenheit, Gegenwart und (vorweggenommener) Zukunft. Als dynamisches Element gewährleistet er „die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen“ (Bourdieu 1993: 101). Die spezifischen Existenzbedingungen der sozialen Akteure und die damit verbundene Verfügungsgewalt über ökonomisches, soziales, kulturelles (und symbolisches) Kapital prägen den Habitus, verstanden als „System individueller Dispositionen“ (Bourdieu 1987: 278, 1993: 113, vgl. Willems, in diesem Band). Als Produkt von „Einprägungs- und Aneignungsarbeit“ sorgt der Habitus damit für die stilistische Einheitlichkeit der Lebensführung (Lebensstil), die Praktiken eines einzelnen Akteurs oder einer Klasse von Akteuren miteinander verbindet (Bourdieu 1976: 186, 1998b: 21). Die im Habitus vereinten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata dienen der „Generierung von unterschiedlichen und der Unterscheidung dienenden Prak-
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tiken“ (wie etwa Konsum- oder Verhaltensgewohnheiten) und integriert unterschiedliche Klassifikationsschemata, Klassifizierungsprinzipien, Wahrnehmungs- und Gliederungsprinzipien sowie Geschmacksrichtungen. Der Habitus bewirkt, dass die Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs (oder einer Gruppe von aus ähnlichen Soziallagen hervorgegangenen Akteuren) als Produkt der Anwendung identischer (oder wechselseitig austauschbarer) Schemata zugleich systematischen Charakter tragen und systematisch unterschieden sind von den konstitutiven Praxisformen eines anderen Lebensstils (Bourdieu 1987: 278).
Dabei postuliert Bourdieu keineswegs einen mechanischen Determinismus: Der Habitus bestimmt nicht die Praktiken selbst, sondern steckt die Einschränkungen und Grenzen ab, innerhalb dessen sich eine angemessene Praxis realisieren lässt (vgl. Willems, in diesem Band). Der Habitus bestimmt also den Spielraum dessen, was an Praxis möglich – und unmöglich – ist (Schwingel 2003: 71). Die Strukturierung von Handlung läuft dabei von den Akteuren unbemerkt ab, was Bourdieu so trefflich als „praktischen Sinn“ bezeichnet: Der Habitus generiert die „vernünftigen“ Verhaltensweisen des „Alltagsverstands“, die der Logik des jeweiligen sozialen Feldes angepasst sind und dessen objektive Zukunft sie vorwegnehmen (Bourdieu 1993: 104). Die im Laufe von Sozialisationsprozessen ausgebildeten Verhaltensdispositionen bleiben den Akteuren als „zweite Natur“ weitgehend unbewusst, was sie zu einem „spontanen, intuitiven, selbstverständlichen Handeln“ befähigt (Raabe 2005a: 180). Der Habitus erzeugt demnach Praktiken und Vorstellungen, die objektiv „geregelt“ und „regelmäßig“ sein können, ohne dass sie das Ergebnis der Einhaltung von Regeln sind oder das „ordnende Handeln eines Dirigenten“ voraussetzen (Bourdieu 1993: 99f.). Bourdieus Habitus-Konzept ist daher bestens gerüstet, die Strukturen des journalistischen Feldes zu verstehen, wie sie von Journalisten im Verlauf ihrer beruflichen Sozialisation inkorporiert und als Selbstverständlichkeiten wahrgenommen werden. Ausdruck findet dieses „Bauchgefühl“ nicht zuletzt auch im Journalistenjargon, der erfahrenen Reportern auch gerne mal „eine gute Nase für Nachrichten“ attestiert. Hier verstecken sich die als Nachrichtenfaktoren bekannten journalistischen Selektionsstrukturen gewissermaßen „hinter dem Rücken“ der beteiligten Akteure und erscheinen ihnen im Praxisvollzug als intuitives Element der Handlung. Die meisten Journalisten sind sich dabei der Bedeutung von Nachrichtenfaktoren nicht einmal bewusst, weshalb Hall (1973: 181) diese auch als unsichtbare „Tiefenstrukturen“ bezeichnet hat, die den professionellen Akteuren im redaktionellen Alltag verborgen bleiben. Auch
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Raabe (2005a: 199) hat auf die Bedeutung des Habitus für die Stabilisierung des journalistischen Feldes hingewiesen. Weil die Akteure jedoch in diese feldspezifischen Praktiken eingelebt sind und sie ihnen selbstverständlich erscheinen, verkennen sie die Ergebnisse ihres Handelns als individuelle Hervorbringungen, die sie sich persönlich zurechnen, während sie doch zugleich Produkte der Prinzipien und Hervorbringungsweisen eines feldspezifischen Habitus sind.
Andererseits ist der Habitus der Akteure nicht allein durch berufliche Sozialisation geprägt. In Luhmanns (1987: 430) Verständnis signalisieren Rollen abstrakte Handlungserwartungen, die nur einen Ausschnitt aus dem Verhalten eines Menschen bilden. Journalisten können also demnach beim Verlassen des Systems Journalismus – z.B. nach einem langen Bürotag – ihre jeweilige systemspezifische Rolle buchstäblich beim Pförtner abgeben, um dann in eine andere Rolle zu schlüpfen (z.B. als Familienvater). Im personengebundenen Habitus jedoch fließen Erfahrungen zusammen, die Akteure in verschiedenen Feldern gesammelt haben. Nicht zuletzt deshalb bildet der Habitus ein Einfallstor für heteronome Kräfte. Es ist genau diese Schnittstelle von journalistischer Berufswelt und Lebenswelt, die dafür sorgt, dass sich z.B. die politischen Präferenzen von Journalisten und Medienbetrieben in der Berichterstattung niederschlagen können. Da Akteure permanent in verschiedenen Feldern agieren, entwickeln sie zwar einen praktischen Sinn für erfolgreiches Handeln in bestimmten Feldzusammenhängen. Aber Journalisten können schlecht vermeiden, dass außerberuflich erworbene Habitusprägungen in Form von journalismusfremden Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen ihr berufliches Agieren mitgestalten. Insbesondere kulturelle Einflüsse spielen hierbei eine bedeutsame Rolle, wie zahlreiche internationale Studien (vgl. u.a. Weaver 1998) oder die Diskussion um „asiatische Werte“ im Journalismus zeigen (vgl. Xiaoge 2005). Auch die Befunde aus zwei repräsentativen Journalistenbefragungen konnten zu Beginn der 1990er Jahre ein unterschiedliches Rollenselbstverständnis von west- und ostdeutschen Journalisten nachweisen (vgl. Scholl & Weischenberg 1998: 238f.; Schönbach, Stürzebecher & Schneider 1994: 145ff.). Außerdem hat eine Journalistenbefragung in Indonesien zahlreiche Indizien dafür geliefert, dass Faktoren wie Bildungsgrad, ethnische Zugehörigkeit und Territorialität durchaus einen, wenn auch nur geringen Einfluss auf das Rollenverständnis haben können (vgl. Hanitzsch 2004: 205ff., 2006). Die Kräfte einer lebenslangen Habitusprägung können auch ein wichtiger Motor für Dynamik im journalistischen Feld sein. Bourdieu (1999: 357) selbst
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hat in seiner Analyse des Feldes der kulturellen Produktion darauf hingewiesen, dass sich große Umwälzungen oft aus dem Eindringen von Neulingen in das Feld ergeben. Diese könnten schon aufgrund ihrer Anzahl und sozialen Zusammensetzung bestehende Feldstrukturen umgestalten und sogar ganze Felder einer Neubewertung unterziehen. Gerade Journalismus wird als kommunikationssensibles Feld die kulturellen Umwälzungen moderner Gesellschaften auch in Zukunft zu spüren bekommen. Die heutige junge Konsumentengeneration stellt andere Ansprüche an Journalismus als dies noch vor 40 Jahren der Fall war. Wenn diese Akteure das journalistische Feld betreten, werden sie diese Erwartungen „mitnehmen“ und in die bestehenden Feldstrukturen einbringen. Insofern sind Entertainisierungs-Tendenzen im Journalismus nicht allein als ökonomisch induziert zu verstehen. Sie wurden vielmehr vom populärkulturell geprägten Habitus der nachwachsenden Journalistengeneration in das Feld hineingetragen. Andererseits ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass neue Journalistengenerationen grundlegende Gesetze des Feldes – den nomos – antasten werden. Denn immerhin stammen Journalisten, da sie wie viele Intellektuelle und Akademiker etwa gleichstark mit ökonomischem und kulturellem Kapital ausgestattet sind, aus zentralen und privilegierten Positionen im Macht-Feld. Daher sind sie dazu prädisponiert, in ihrem Feld eher eine homologe Position einzunehmen (vgl. Bourdieu 1999: 141), von der aus sie kein großes Interesse an einer prinzipiellen Änderung der „Spielregeln“ verspüren.
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Schlussbetrachtung
Aus der vorangegangenen Darstellung ergeben sich zwei grundlegende Konsequenzen für die empirische Journalismusforschung: Erstens spielen sich die beruflichen Handlungen von Journalisten im redaktionellen Alltag nicht nur innerhalb professioneller Strukturen sondern auch innerhalb der individuell spezifischen Lebenswelt ab. Es kann daher mit einiger Plausibilität davon ausgegangen werden, dass das professionelle Handeln und Erleben von Journalisten auch durch Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Verhaltensdispositionen mitgeprägt wird, die außerhalb der beruflichen Realität erworben werden. Zweitens lassen sich Felder nicht unmittelbar beobachten. Daher kommt eine Dekonstruktion des journalistischen Feldes an einer Analyse der objektiven Feldpositionen sowie den zwischen ihnen herrschenden Relationen nicht vorbei. Die einzelnen Positionen, zwischen denen sich das journalistische Feld aufspannt, werden durch Akteure – d.h. Journalisten – besetzt. Es ist deshalb
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naheliegend, die Akteure von der Analyse journalistischer Medieninhaltsproduktion nicht auszuschließen. Im Gegenteil, die journalistischen Akteure sind für die Beobachtung journalistischer Feldstrukturen sowie der ihnen innewohnenden Dynamik unverzichtbar. In der Tradition soziologischer Differenzierungstheorien stehend, bietet Bourdieus Feldtheorie einige Berührungspunkte zu systemtheoretischen Vorstellungen und ist sicherlich nicht zuletzt deshalb auch anschlussfähig an die von Luhmann stark beeinflusste deutsch(sprachig)e Journalismusforschung. Anders als in der Luhmannschen Systemtheorie, wo die sozialen Akteure konsequent in der Systemumwelt verortet werden, sind die Akteure in Bourdieus Vorstellung jedoch konstitutiv für das Feld und können daher nicht getrennt von diesem gedacht werden (vgl. Schäfer 2004: 323f.). Bedeutsam ist sicherlich auch der Umstand, dass Bourdieu (in Bourdieu & Wacquant 1996: 135) keinerlei funktionale Hierarchien unter den Feldern vorzieht. Jedes Unterfeld verfügt über seine eigene Logik, d.h. jede weitere Untergliederung eines Feldes bedeutet einen qualitativen Sprung. Darüber hinaus verzichtet Bourdieu auf binäre Konstrukte (System/Umwelt, Systemcode, etc.) und exklusive Funktionszuschreibungen. Dadurch gelingt es Bourdieu, Konzepte wie „Autonomie“ in relative und graduelle Kategorien zu fassen, womit auch Phänomene der Fremdsteuerung (Heteronomie), Entdifferenzierung und Entgrenzung (u.a. zu Unterhaltung und Öffentlichkeitsarbeit) in den Blick gleiten. Aus der Kultursoziologie stammt Bourdieus Einsicht, dass Verhalten und das subjektiv-situative Sinnverstehen (der „praktische Sinn“) untrennbar sind (vgl. Reckwitz 2000: 566). Deshalb ist das Werk von Bourdieu gerade für die Analyse kreativer Tätigkeitsfelder wichtig, die mit Quasi-Qualifikationen wie „Begabung“ und „Talent“ operieren. Im Journalismus drückt sich „Begabung“ demnach in feldkonformem Handeln aus und schlägt sich in homologen Positionen nieder. Das Denken in Relationen setzt jedoch einen radikalen Bruch mit der Alltagsvorstellung von der sozialen Welt voraus. Denn zentral sind für Bourdieu weniger die sozialen Wirklichkeiten „an und für sich“, sondern es sind vielmehr die – oft unsichtbaren – objektiven Beziehungen, die sie miteinander verbinden, und die Art und Weise, wie die sozialen Akteure diese Realitäten sinnhaft geltend machen. Damit wird der Weg frei für eine Beobachtung von Journalismus buchstäblich „durch die Augen“ der beteiligten Akteure. Solch eine kultursoziologische Analyse lenkt den Blick auf die Prozesse der Genese von „praktischem Sinn“, d.h. auf die kulturellen kognitiven und evaluativen Schemata, mittels derer Journalisten ihre Wirklichkeit als bedeutungsvoll erschaffen.
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Thomas Hanitzsch
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ORGANISATION
Das Organisationsdispositiv moderner Gesellschaft Michael Bruch & Klaus Türk
1
Problemstellung
Den unterschiedlichen Thematisierungen von Organisation innerhalb der Sozialwissenschaften ist gemeinsam, dass sie weder die Voraussetzungen der Genese, der Existenz und der Reproduktion von Organisation selbst untersuchen, noch sich um eine inhaltliche Bestimmung des allgemeinen Konzepts „Organisation“ etwa im Unterschied zu anderen Formen der Regulation menschlicher Kooperation bemühen. Organisation wird durchweg (mit gewissen Ausnahmen etwa in der Systemtheorie) als gesellschaftliche Selbstverständlichkeit in diesen wissenschaftlichen Disziplinen ebenso schlicht vorausgesetzt wie in der gesellschaftlichen Alltagspraxis. Im Vergleich dazu nähern wir uns dem Organisationsphänomen aus einer Perspektive, die auf die Frage nach den für die modernen Gesellschaften zentralen Formen und Prinzipien der Regulation der gesellschaftlichen Kooperationsverhältnisse gerichtet ist (Bruch 1999; Türk 1999, 1995). Um die Eigenart der organisationalen Regulation begrifflich zu erfassen, greifen wir auf Überlegungen Michel Foucaults zum Verhältnis von Wissen und Macht zurück, die er auf den Begriff der Gouvernementalität bringt, in dem Regieren und Denkweise systematisch miteinander verbunden werden (Foucault 2000; Lemke 1997). Dieser Zugang basiert auf der These, dass Organisation ein historisch spezifisches Machtverhältnis konstituiert, das sich durch eine Machtausübung auszeichnet, die quer zur staatlich-juridischen und ökonomischen Machtausübung liegt. Auf der Basis dieser Überlegungen rekonstruieren wir Organisation als ein historisches Regierungsdispositiv. Der Begriff des Regierungsdispositivs bezeichnet eine Konfiguration von Wissens- und Handlungspraxen, die sich historisch zu einer Einheit der Regulation gesellschaftlicher Kooperations- und Selbstverhältnisse verbinden. Die Bezeichnung dieser Einheit als Dispositiv soll
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Michael Bruch & Klaus Türk
ihre Eigenheit und Wirkungsweise beschreiben. Ein Dispositiv ist dreidimensional verfasst: Erstens bezeichnet es in extensionaler Hinsicht einen Wissensund Handlungsraum, der sich in Diskursen, sachlichen Einrichtungen, Verhaltensweisen und -anforderungen manifestiert. Zweitens bezeichnet es in intentionaler Hinsicht die historisch eigene Art und Weise der Verbindung zwischen den bezeichneten Elementen und drittens bezeichnet es die Strategien, die mit dieser Verbindung einhergehen. Die Analyse von Organisation als ein historisches Regierungsdispositiv erfordert methodisch eine doppelte Perspektive, die es ermöglicht, Organisation als eine geschichtliche Formation sowohl diskursiver als auch nicht-diskursiver Regierungspraktiken zu beschreiben. Organisation wird dabei in zweifacher Weise zur übrigen Gesellschaft ins Verhältnis gesetzt: Zum einen geht es um die gesellschaftlichen Bedingungen, die der Ausbildung von Organisation als Regierungsdenken und -wissen zugrunde liegen, zum anderen um Bedingungen, welche die Praktizierbarkeit von Organisation als Regierungstechnik ermöglichen. Um diese Differenz zwischen einem Wissens- und einem Machtraum zu markieren, unterscheiden wir zwischen Organisation und (Einzel-)Organisationen.
2
Organisation und Organisationen
Sind Organisationen allgegenwärtig und wird über viele von ihnen (z.B. Unternehmungen, Parteien, Verbände, Vereine, Versicherungen) sowohl im Alltag als auch in den Sozialwissenschaften gesprochen und diskutiert, so bildet „Organisation“ gleichsam einen „blinden Fleck“ der modernen Gesellschaft. Es handelt sich um das zentrale Konzept, mit dem Kooperation reguliert wird, das aber selbst so gut wie gar nicht reflektiert wird – dies übrigens interessanterweise ganz im Unterschied zu Markt und Staat, denen nicht nur in den Sozialwissenschaften, sondern auch in den politischen Debatten ein zentraler Stellenwert hinsichtlich der (welt-)gesellschaftlichen Strukturierung und Regulation zugeschrieben wird (vgl. dazu die neueren Debatten zur Globalisierung, NichtRegierungsorganisationen, Neoliberalismus, Global Governance). Wenn Organisation überhaupt thematisiert wird, geht es um „Verbesserungen“ von Organisationen (etwa durch neue Managementkonzepte oder auch „Humanisierungen“), nie aber wird Organisation selbst kritisch erörtert. Organisation gehört offenbar zum selbstverständlichen Inventar von Sozialtechnologien. Um diese Selbstverständlichkeit von Organisation einer kritischen Dekonstruktion zu unterziehen, ist es notwendig, eine begriffliche Unterscheidung
Das Organisationsdispositiv moderner Gesellschaft
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zwischen Organisation und Organisationen vorzunehmen. Diese ist nicht theoretisch zu generieren, sondern im Gegenteil: Die durch die Gesellschaft selbst vorgenommene Unterscheidungspraxis ist aufzunehmen und analytisch zu wenden, indem zum einen nach der historischen Genese dieser Differenzierungspraxis gefragt wird und zum anderen gezeigt wird, dass es sich bei Organisation im Singular nicht nur um das Allgemeine des Besonderen von Einzelorganisationen (also nicht nur um einen Begriff), sondern um ein historisches Regierungsdispositiv handelt. Wir verweisen damit darauf, dass sich mit der modernen Gesellschaft Organisation neben und zusammen mit Staat und Markt (inklusive der kapitalistischen Verwertungspraktiken und Akkumulationsdynamik) als eine Regierungspraxis entwickelt hat, die sich durch eine eigene Modalität der Ordnung und Machtausübung auszeichnet. Dabei durchzieht Organisation nicht nur Staat und Markt, sondern als Regierungsdispositiv greift sie auf Formen der Machtausübung zurück, die, wie etwa die juridische Form, zentral für die staatliche Machtausübung sind (klassisch: „Bürokratie“). Diese Überschneidungen mögen zwar dem Anspruch einer Begriffsbestimmung entgegenstehen, der an der Definition klarer Grenzen orientiert ist. Der damit verbundene Wunsch nach der Herstellung begrifflicher Eindeutigkeit stößt allerdings nicht nur an die Grenze empirischer Komplexität, sondern birgt zudem die Gefahr, dem Gegenstand gleichsam definitorisch eine Ordnung aufzuzwingen, die nur vermeintlich Klarheit schafft, da sie gerade den Blick auf den eigentlichen Erkenntnisgegenstand verstellt, nämlich die durch die Gesellschaft selbst vorgenommene sprachliche und nicht-sprachliche Ordnung. Mit dem Konzept des Dispositivs wählen wir deshalb einen analytischen Zugang, der seinen Ausgangspunkt in Organisation als einer historischen Realkategorie hat (vgl. dazu ausführlich Türk, Lemke & Bruch 2002). Dies bedeutet danach zu fragen, welche Vorstellung und welches Wissen von Ordnung Organisation impliziert und welche Machteffekte die Anwendung dieser Ordnung produziert. Wissen1 und Macht sind dabei nicht als zwei unterschiedliche oder gar hierarchische Ebenen zu begreifen, sondern als zwei unterschiedliche Formen von Praktiken, die auf ihre je eigene Art und Weise die gesellschaftlichen Verhältnisse prägen. In diesem Sinne ist die Rekonstruktion von Organisation als eine historisch eigene Ordnung gleichbedeutend mit
1
Wir verwenden den Wissensbegriff im Sinne Foucaults in Abgrenzung zum Begriff der Erkenntnis als „einen Prozeß, der das Subjekt einer Veränderung unterwirft, gerade indem es erkennt [...]. Es ist dieser Prozeß, der gestattet, das Subjekt zu verändern und gleichzeitig das Objekt zu konstruieren“ (Foucault 1997: 52).
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Michael Bruch & Klaus Türk
der Rekonstruktion der durch diese Ordnung hergestellten Verhältnisse (vgl. Bruch 2000). Das Organisationsdispositiv spannt einen Wissens- und Handlungsraum auf (extensionale Dimension), der aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, Verhaltensweisen und -anforderungen besteht. Die Besonderheit dieses Raums entsteht durch die spezifische Verknüpfung der genannten Elemente (intentionale Dimension), die ihrerseits historisch mit einer bestimmten Funktion oder Strategie verbunden sind (strategische Dimension). Die Macht- bzw. Strukturierungseffekte dieses Dispositivs erschließen sich dabei nicht nur über die Bestimmung der genannten Dimensionen, sondern gleichermaßen über das, was durch diese Bestimmungen ausgeschlossen wird (etwa nicht-organisationsförmige Kooperationsweisen). Mit diesem theoretischen Zugang verschieben wir das Erkenntnisinteresse auf die historische Genese und Geltung eines gesellschaftlichen Ordnungsmusters, das nicht nur den einzelorganisationalen Praktiken als Möglichkeitsbedingung und Programm zugrunde liegt, sondern darüber hinaus den gesellschaftlichen Möglichkeitsraum unserer Denk- und Handlungspraktiken so präformiert, dass die Wahrscheinlichkeit der gesellschaftlichen Geltung verschiedener Kooperationspraktiken ungleich verteilt wird. In Bezug auf die Luhmann’sche Unterscheidung von Medium und Form könnte man auch sagen, dass Organisation als Form die Medien bindet, das Bewusstsein ordnet, die Motive spezifiziert und das Mögliche auf das Machbare beschränkt (Luhmann 1987: 203). Dies schließt die These ein, dass die Strukturationseffekte von Organisationen nicht beliebig oder gar offen sind, sondern dass Organisation als ein begrenztes Möglichkeitsfeld von Praktiken die Möglichkeitsfelder anderer gesellschaftlicher Praktiken systematisch öffnet bzw. schließt und damit die Entwicklung bestimmter gesellschaftlicher Praktiken ermöglicht bzw. behindert. Der Begriff „Regierung“ bezeichnet nicht Regierungsstrukturen, -prinzipien und -institutionen, wie sie etwa in Staatsverfassungen niedergelegt sind, obwohl auch solche explizit formale Verfassungen durchaus Aufschlüsse für unsere Fragestellungen geben könnten. Der Begriff der Regierung bezeichnet vielmehr eine spezifische Art der Konfiguration und Systematisierung von Machtverhältnissen (hier: Organisationsförmigkeit), sodass diese eine Verfestigung bis hin zu Herrschaftszuständen erfahren können.2 Machtverhältnisse sind Teil der Praktiken der Machtausübung, zu denen die Verfügung über allokative, autoritative und symbolische Ressourcen gehört. Dies bedeutet – wie Foucault formuliert – nicht, 2
Unter Herrschaft verstehen wir geronnene, auf Dauer gestellte Machtverhältnisse.
Das Organisationsdispositiv moderner Gesellschaft
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daß es sich um drei getrennte Bereiche handelt und daß es einerseits den Bereich der Dinge, der zielgerichteten Technik, der Arbeit und der Transformation des Realen gäbe, andererseits den der Zeichen, der Kommunikation, der Reziprozität und der Fabrikation des Sinns, und schließlich den der Herrschaft, der Zwangsmittel, der Ungleichheit und des Einwirkens von Menschen auf Menschen. Es geht um drei Typen von Verhältnissen, die allerdings immer ineinander verschachtelt sind, sich gegenseitig stützen und als Werkzeuge benutzen (Foucault 1987: 252).
Machtverhältnisse kommen letztlich zwar nicht ohne Gewalt und auch nicht ohne Konsens aus, diese bilden aber nicht die Grundlage von Machtverhältnissen, sondern sind Teil ihres Instrumentariums. Das Charakteristische eines Machtverhältnisses besteht in der Formierung eines Raums von Möglichkeiten, den Möglichkeitsraum („Spielraum“) anderer zu formieren. So ist Organisation der legalistisch legitimierte Raum von Möglichkeiten par excellence, die Handlungsräume der ihr Subsumierten zu definieren. Dabei werden die Subjekte, auf die Macht ausgeübt wird, durchaus als Subjekte des Handelns anerkannt – heute sogar vehement als „Subjekte“ gefordert –, sodass sich „vor dem Machtverhältnis ein ganzes Feld von möglichen Antworten, Reaktionen, Wirkungen, Erfindungen eröffnet“ (Foucault 1987: 254). Machtausübung operiert auf dem „Möglichkeitsfeld, in das sich das Verhalten der Subjekte eingeschrieben hat [...]“ (ebd.: 255). Es geht um die Strukturierung und damit um die Reduktion von Kontingenz. Diese Strukturierung des Feldes möglicher Handlungen durch Handlungen versucht Foucault mittels des Begriffs der „Führung“ zu erfassen. Führung ist zugleich die Tätigkeit des „Anführens“ anderer und die Weise der Selbstorientierung des Verhaltens in einem Feld von Möglichkeiten. Machtverhältnisse sind Verhältnisse der „Meta-Führung“, des „Führens der Führungen“. Dafür setzt Foucault den Begriff „Gouvernement“ bzw. Regierung ein als jeweils historisch spezifisches Set („Dispositiv“) von Wissen und Praktiken der Selbst- und Fremdorientierung. Die der Macht eigene Verhältnisweise wäre somit weder auf Seiten der Gewalt und des Kampfes noch auf Seiten des Vertrages und der Willensbande (die allenfalls ihre Instrumente sein können) zu suchen, vielmehr auf Seiten dieser einzigartigen, weder kriegerischen noch juridischen Weise des Handelns: des Gouvernement (Foucault 1987: 255).
Dieses regierungsanalytische Konzept ermöglicht einen Zugang zum Erkenntnisgegenstand Organisation, der sich nicht primär auf die Analyse von Einzelorganisationen richtet, sondern allgemeiner Organisation als „Gouvernement“, d.h. als Set von Regierungspraxen, ins Blickfeld nimmt. Diese Forschungsausrichtung ist der Intention nach mit den Überlegungen der Neoinstitutionalisten
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Michael Bruch & Klaus Türk
vergleichbar. Allerdings sind neoinstitutionalistische Konzepte gegenüber dem hier verfolgten Ansatz in den meisten Fällen noch zu sehr durch kontingenztheoretisches Gedankengut geprägt (vgl. auch die Darstellung und Auseinandersetzung bei Türk 2000). Sie arbeiten mit der Differenz von Organisation und institutioneller Umwelt und fragen dann nach den Prozessen der Herstellung von Entsprechungsverhältnissen. Organisationen existieren und haben sich gleichsam ex post ihren institutionellen Umwelten einzupassen. Das „Regierungswissen“ ist außerhalb der Organisationen und wird dann mehr oder weniger importiert. Dagegen fassen wir Einzelorganisationen als Verkörperungen des „Gouvernements Organisation“ auf; sie sind immer schon „institutionelle Applikationen“. Eine Formulierung wie „Organisationen müssen sich dem gesellschaftlichen Prinzip formal-instrumenteller Rationalität fügen oder stellen“ würden wir nicht unterstützen, weil sie davon ausgeht, dass Organisationen zunächst einmal existieren und sich dann erst an diesem Prinzip orientieren müssen. Demgegenüber würden wir formulieren, dass formale Rationalität, z.B. als Bestandteil organisationalen Regierungswissens, immanentes und notwendiges Konstitutionsprinzip von Organisationen überhaupt ist, in welcher konkreten Form dies auch immer empirisch manifest werden mag – ohne die Evolution abendländischer Rationalität keine Organisation. Organisation wird von uns somit als ein Modus der Regierung von Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft aufgefasst. Gesellschaft erscheint nicht als institutionelle Umwelt schon vorgesellschaftlich existierender Organisationen. So ist sowohl die historische Genese als auch die gesellschaftliche Geltung und Modifikation von Organisation aus unserer Perspektive nicht hinreichend zu verstehen, ohne die Fragen geklärt zu haben, was jeweils historisch unter Regierung verstanden wird, wer regieren kann, wer oder was regiert wird und welches die Bedingungen der Ermöglichung von Formen des Regierens sind, die historisch sowohl für die Regierenden als auch die Regierten denkbar und praktizierbar erscheinen (vgl. Gordon 1991: 3). Die Thematisierung von Organisation als Regierung bzw. als das Führen von Führung bewegt sich deshalb auch nicht auf derselben Ebene wie die Debatten über Management (wie etwa bei Boltanski & Chiapello 2003), sondern auf einer vorgelagerten. Es geht nämlich um die Frage, wie über Organisation als Regierungsdispositiv historisch ein Möglichkeitsraum geschaffen wird, der u.a. Management als gesellschaftlich praktizierbaren Modus der Führung und als eigenständige, gesellschaftlich gültige Wissensform überhaupt erst ermöglicht. Die Analyse, dies sei hier nochmals hervorgehoben, zielt auf die Strukturationsprozesse des Ensembles diskursiver und nicht-diskursiver Ordnungsbil-
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dung gesellschaftlicher Kooperation. Organisation als Regierungsdispositiv bestimmt die Inhalte und die Grenzen dieses Ordnungsensembles, sie begrenzt damit die Ausbildung von Kontingenz und sie schafft differenzierte Wahrscheinlichkeiten hinsichtlich alternativer Praktiken gesellschaftlicher Kooperation, z.B. vermittels der Unterstellung minderer Effizienz. Die Wissensordnung von Regierung umfasst nicht nur die Art und Weise der Ausübung von Regierung, sondern bestimmt auch, was überhaupt als Regierung begriffen wird und was nicht. Wie man an den Debatten im 19. Jahrhundert sehen kann, wurde hier Organisation als Regierungsform explizit problematisiert und ausgiebig kontrovers diskutiert. Der zur damaligen Zeit noch nicht abgeschlossene Konstituierungsprozess des Organisationsdispositivs erlaubte es, Organisation in einer Form zu reflektieren, in der noch deutlich zu Tage trat, dass es hierbei um die empirisch-faktischen Leitprinzipien, Ideen, Legitimationsweisen, Praktiken und Institutionen gesellschaftlicher Regulationen und um die damit verbundenen Vorstellungen effizienter und produktiver Formen gesellschaftlicher Kooperation ging. Wir haben es im 19. Jahrhundert mit der historischen Eröffnung eines diskursiven Möglichkeitsraums zu tun, in dem das Denk- und Sagbare über Regierung neu geordnet wird. Es bildet sich eine neue Grammatik und Semantik von Regierung, die nicht nur die bisherigen Vorstellungen vom „politischen Körper“ und dessen Regierung, sondern darüber hinaus die Vorstellungen sozialer Ordnung überhaupt und deren Bildungsprozess neu definiert und eng an den Begriff der Organisation bindet. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich ein Schließungsprozess dieses diskursiven Möglichkeitsraums beobachten. Dieser zeigt sich nicht nur in der diskursiven Verschmelzung von Organisation und Ordnungsbildung, wobei der politische Charakter von Organisation zunehmend in der Hintergrund tritt, sondern zugleich in einem Prozess der „Ver-Selbstverständlichung“ bzw. Institutionalisierung, der zur Desymbolisierung des historisch kontingenten Charakters von Organisation beitrug. Das Ergebnis dieses Schließungsprozesses besteht in der Schaffung eines Wahrheitsraums, in dem über ein Reglement diskursiver Präskription ein gesellschaftlich gültiges Wissen über Organisation und Regierung bereitgestellt wird. Dieses Denk- und Aussagesystem beschränkt sich nicht auf die Bestimmung des Denk- und Sagbaren, sondern produziert zugleich Effekte bezüglich des Machbaren, wobei dieser Zusammenhang nicht als ein einseitiges Determinationsverhältnis zu denken ist. Die organisationalen Regierungspraktiken können nicht schlicht aus den diskursiven Praktiken abgeleitet werden. Viel-
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mehr verbinden sich in dem organisationalen Regierungsdispositiv diskursive und nicht-diskursive Praktiken zu einer Einheit, ohne dass die jeweiligen Praktiken aufeinander zurückgeführt werden können. Die über das organisationale Regierungsdispositiv ausgeübte Macht besteht in der Schaffung und Konfiguration von Möglichkeitsräumen, wobei wir historisch und analytisch zwischen jenen Räumen, die als Einzelorganisation bezeichnet werden und jenen gesellschaftlichen Räumen, die durch Organisation überhaupt konfiguriert werden, unterscheiden müssen.
3 3.1
Organisation und moderne Gesellschaft3 Historische Entwicklungszusammenhänge
Mit Organisation entsteht nicht nur eine historisch neuartige Form von Regierung, sondern zugleich werden die Objekte von Regierung neu definiert.4 Beide Seiten können dabei nicht als voneinander getrennt gedacht werden, vielmehr setzten sie sich gegenseitig voraus. Organisation bildet sich im Kontext des Erstarkens des Bürgertums und der durch die bürgerliche Revolution hervorgebrachten Regierungskrise, die ihrerseits auf der Durchsetzung einer neuartigen Form gesellschaftlicher Differenzierung beruht, welche die bisher gültigen Formen gesellschaftlicher Regulation und Akkumulation sowohl hinsichtlich ihrer Praktizierbarkeit als auch ihrer Legitimation in Frage stellten. Organisation greift diese neuen Differenzierungsformen auf und konfiguriert sie zu einer der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft adäquaten Form der Machtausübung. Grundlegend für die moderne Gouvernementalität sind zwei miteinander verwobene Entwicklungen: zum einen der Konstruktionsprozess der Unterscheidung zwischen einem öffentlich-institutionellen und einem „privaten“ Raum, zum anderen die Entwicklung einer Regierungsperspektive und -praxis, die sich durch die Verbindung einer auf den „Gesellschaftskörper“ insgesamt gerichteten mit einer individualisierenden Machtausübung auszeichnet. Beide 3
4
Wir gehen in diesem Abschnitt sehr selektiv nur auf einige wenige Aspekte ein. Für die inhaltliche Beschreibung von Organisation als Dispositiv verweisen wir auf die Darstellungen in Türk, Lemke und Bruch (2002), insbesondere auf die dortigen Ausführungen zu den drei Organisationsdimensionen der Ordnung, des Gebildes und der Vergemeinschaftung. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Prozesse der Ausdehnung des Feldes von Regierung sowie der Redefinition von Objekten und Auftrennung von Zusammenhängen, sodass sie organisierbar werden. Dies geht notwendigerweise einher mit neuen Formen von arbeitsteiliger und funktionaler Differenzierung der Gesellschaft.
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Linien treten besonders seit dem Merkantilismus in Erscheinung, der im Zuge der Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Ökonomie der Regierung einen veränderten Inhalt und eine veränderte Form verleiht. Wir können also in diesem Zeitraum das Aufkommen von Wissensformen verfolgen, die – und dies verweist nochmals auf die Überschneidung staatlicher und organisationaler Regierung – als zentrale Bestandteile in das Wissensarsenal des Organisationsdispositivs eingehen. Bedeutsam ist dabei, dass die Wissenspraktiken rationaler Ordnungsbildung einerseits und Konzepte von Produktivität und Effektivität andererseits systematisch aufeinander bezogen und zu einem historisch neuen Kanon von Regierungswissen verbunden werden. Die Umsetzung dieser Vorstellungen war nicht nur an die Entwicklung neuartiger staatlicher Regierungstechniken (wie etwa der Ausbildung eines Verwaltungsstabs, vgl. Oestreich 1969), sondern gleichermaßen an die Schaffung konzentrativer Orte und Räume gebunden5, die – etwa entgegen zünftiger Verfassungen – die Praktizierbarkeit veränderter Formen der Regulation der Kooperationsverhältnisse (etwa gemäß den Anforderungen kapitalistischer Produktionsweise) und damit den Prozess „innerer Landnahme“ ermöglichte. Die Innovation organisationaler Regierung besteht in der Entwicklung einer dynamischen Machtausübung. Organisation steht für eine Zugriffsweise, die sich nicht auf die Abschöpfung von Erträgen beschränkt, sondern darüber hinaus wesentlich auf die produktive Regulation der Individuen in Form der Strukturierung von Zeit und Raum besteht. Es geht um eine Machtausübung, die als kontrollierende und zielgerichtete auf die Entfaltung von Kräften mittels besonderer Allokationspraktiken gerichtet ist; es handelt sich damit um die Genese eines spezifischen Paradigmas der Effizienz, das „Produktivität“ an die Stelle von Raub und bloßer Ausbeutung setzt und somit auch in immanenter Verbindung zum legitimatorischen Dispositiv der „Wohlfahrt“ steht – und dies etwa seit dem 18. Jahrhundert. Der unter Bedingungen absolutistischer Herrschaft beobachtbare Prozess der individualisierenden und zugleich zusammenfassenden Machtausübung setzt sich mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft fort und verbindet sich mit neuen Mustern gesellschaftlicher Differenzierung und Synthesis. Die bürgerlichen Gesellschaften setzen im Fortgang ihrer Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert unter dem Einfluss liberalistischen Gedankengutes auf Distan-
5
Dabei ist sowohl an soziale Orte wie etwa die „Firma“ zu denken, als auch an geografisch definierte Räume, die durch Gebäude und Mauern abgegrenzt werden wie Gefängnisse oder Manufakturen.
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zierung und Partialinklusion, reservieren in ihrer Selbstbeschreibung einen geschützten Raum des privaten Lebens. Faktisch aber produziert diese Trennung gerade den Regierungsgegenstand von Organisationen, indem ein Außen geschaffen wird, auf das sie zugreifen: Arbeits- und Bildungssubjekte wie auch -objekte, Körper und Kooperationen, Bedürfnisse und soziale Beziehungen, Rechtstatbestände, Definitionen so genannter „Sozialer Probleme“ (allgemein „Problematisierungen“ im Sinne Foucaults) und dergleichen mehr. Die modernen Gesellschaften reduzieren mit dieser Differenzierungsform keineswegs den Umfang der Regulation individueller Belange. Im Gegenteil vervielfacht und vervielfältigt die individualisierende, auf die „Lebendigkeit“ der Menschen gerichtete Machtausübung die Gegenstände von Regierung (vgl. Bruch 2003). Diese In- und Extensivierung der Machtausübung, die in der Literatur zumeist anhand der historischen Ausdehnung der Staatstätigkeit dokumentiert wird, geht allerdings gerade nicht in der staatlich-juridischen Machtausübung auf. Die Fokussierung einer Macht- und Herrschaftskritik auf den Staat vor allem in Verbindung mit dem positiven Bezug auf die Stärkung der Zivilgesellschaft (wie etwa im Kommunitarismus) greift zu kurz, da sie gerade die Spezifika moderner Macht- und Herrschaftsausübung nicht hinreichend erfasst (gleiches gilt für die ökonomistischen Varianten der Herrschaftskritik). Vielmehr wird die für die Moderne typische, gerade nicht auf einen Zentralpunkt hin ausgerichtete Machtausübung durch eine veränderte, auf dem Organisationsdispositiv basierende Ökonomie der Herrschaft ermöglicht. Deren Merkmal besteht in der spezifischen Verteilung und Ausübung von Macht, die sich in nahezu allen wesentlichen Teilen der Gesellschaft manifestiert; vor allem in deren so genannten „funktionalen Teilsystemen“. Im Vergleich zu historischen Formen, die mit der Sichtbarkeit der Macht operieren, die Macht mit Namen und Orten versehen und in denen sich die Machtausübung auf Personen und ihre Körper bezieht, operiert das moderne organisationale Regierungsdispositiv mit der Entpersönlichung von Regierungssubjekt und -objekt sowie mit einer Dezentralisierung der Macht in Form der Vervielfältigung und Vernetzung ihrer Räume. Die Analyse muss dabei zwischen zwei Richtungen der Regierung unterscheiden, die je unterschiedliche Machteffekte produzieren. Nämlich zum einen die introvers und zum anderen die extrovers ausgerichtete Regierung. In introverser Hinsicht ermöglicht das Organisationsdispositiv über die Bildung von Einzelorganisationen die Schaffung sozialer Räume, die den selektiven Zugriff auf die als verwertungs- und regulationsrelevant definierten Anteile der menschlichen Subjektivität erlauben. Im Vergleich zu Formen der Totalin-
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klusion, die dem Modell eines Gewaltverhältnisses folgen, etabliert Organisation ein Machtverhältnis, in dem die Subjekte als eigenständig Handelnde konstruiert werden. Dies schließt zwar die vollkommene Berechenbarkeit und Fügsamkeit der Subjekte aus und bildet somit die Grundlage für das moderne Transformationsproblem, zugleich aber ermöglicht es den Organisationen, bestimmte Kosten und Zuschreibungen zu externalisieren, die dann wiederum, wie etwa im modernen Wohlfahrtsstaat, anderen Organisationen zur Bearbeitung übertragen werden. 3.2
Agentschaft
Überdies ermöglicht das Organisationsdispositiv eine Regierungs- bzw. Machtausübung, die weder auf ökonomischem Eigentum noch auf dem Prinzip formaldemokratischer Repräsentation beruht. Zentral dafür ist das Konzept der Agentschaft. Hierbei handelt es sich um eine Akteurskonstruktion, die sich deutlich von den Vorstellungen des Liberalismus unterscheidet, aber auch in Differenz steht zu Vorstellungen, wie wir sie in weiten Teilen der Sozialwissenschaften finden (vgl. Meyer & Jepperson 2000). Diese Konstruktion ist insbesondere für das Organisationsphänomen von herausragender Relevanz, dem ja über die Bedeutungskonstellation des Gebildes ein Subjekt- bzw. Akteursstatus zugeschrieben wird. Nun ist es aber klar und auch juristisch durchaus komplex geregelt, dass jede Organisation eines sie vertretenen Organs bedarf, wenn etwa Verträge abgeschlossen oder Rechenschaftsberichte abgefasst werden sollen. Die natürliche Person des Vertreters handelt dann „im Auftrage“, an Stelle der Organisation selbst, sie ist „Agent“ für den „Prinzipal“ Organisation. Aber auch die Organisation selbst tritt durchweg – besonders deutlich bei Verbänden – wiederum nur als „Agentin“ ihrer Mitglieder bzw. eines als allgemein definierten Interesses auf. Ebenso lässt sich individuelles Handeln in organisationalen Arbeitsrollen als ein Handeln für ein anderes – die Unternehmung, die Partei, den Staat, die Wissenschaft, die Universität, den Fachbereich, die Bildung, die Nation, die Familie, die Freiheit, die Religion und so fort – begründen, legitimieren und motivieren. In scharfem Kontrast zur sonst üblichen Bestimmung des Akteurs als gleichsam naturgegebenes Letztelement jeglicher Gesellschaft, das seine Spezifizität in der rationalen Verfolgung eigener Nutzenmaximierung findet, zeichnet sich diese Konstruktion im Wesentlichen durch ihre Agentschaftsqualität aus. Gemäß dem üblichen Konzept des Akteurs würde es kaum Schwierigkeiten bereiten, auch Tieren Akteursqualität im Sinne von Intentionalität und Nutzenmaximierung zuzuschreiben; die Exploration des Akteursbegriffs in der
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Michael Bruch & Klaus Türk
abendländischen Moderne verweist dagegen darauf, dass es das Agieren für etwas anderes ist, was den menschlichen Akteursstatus ausmacht, also die Agentschaft. Der Prinzipal kann dabei eine Schicht des Subjektes selbst, ein anderer Mensch oder ein Kollektiv sein, ein Ziel oder eine Idee, für die man eintritt, andere, nicht menschliche Lebewesen, allgemeine Prinzipien, Recht, Gerechtigkeit, Werte, Normen etc. Die Agentschaftsqualität gilt für die Legitimation des modernen Staates und aller parastaatlichen Einrichtungen genauso wie für alle Organisationen (man sehe sich nur einmal die in den Satzungen bzw. Gesetzen formulierten Zweckbestimmungen an) sowie zumindest für alle Handlungen, die im Kontext von Funktionssystemen der Gesellschaft stattfinden: Kein Politiker, kein Lehrer, kein Wissenschaftler, kein Anwalt und kein Richter würde seine Praktiken mit dem liberalistisch-individualistischen Prinzip des Eigennutzes begründen, sondern alle würden sich darauf berufen, dass sie für etwas anderes handeln. Ein Verhalten gemäß den Prinzipien des „methodologischen Individualismus“ gilt geradezu als unschicklich, anstößig. Auch für alle anderen im System der Erwerbstätigkeit Arbeitenden geht es stets um Arbeit in fremdem Auftrag und sogar der „kapitalistischste“ Unternehmer wird sich darauf berufen, dass er im Namen des Wohlstandes der Nation agiere. Aber auch sonst wird derjenige hoch geschätzt, bei dem eine möglichst große Distanz zwischen Eigennutz und dem Prinzip der agentschaftlichen Handlungsbegründung besteht (für Meyer und Jepperson bestimmt sich sogar die Stratifikation des Sozialprestiges nach dem Ausmaß dieser Distanz). Meyer und Jepperson (2000) entwickeln damit gleichsam beiläufig eine Erweiterung der Weberschen Typologie legitimer Herrschaft, hier nun verstehbar als „Herrschaft kraft agency“. Agency entfaltet eine doppelte Wirkung: Zum einen dient sie Organisationen als eine Legitimation, die gerade nicht den formal-legalen demokratischen Prinzipien folgt, sondern in der Darlegung besteht, dass sie allgemeine Interessen oder Interessen derjenigen vertreten, die nicht für sich selbst sprechen können (Wale, ethnische Minderheiten). Neuere Regierungskonzepte, die wie etwa Global Governance der so genannten Zivilgesellschaft und mit ihr den NGOs eine zentrale Rolle hinsichtlich globaler Steuerungsprozesse zuschreiben, basieren wesentlich auf diesem Konzept. „Es kommt also zu der bekannten Repräsentationsparadoxie, dass diejenigen, die repräsentieren, die Repräsentierten erst erzeugen“. (Demirovic 2001: 144) Zum anderen trägt dieses Konzept zu einer Ausdehnung organisationaler Regierung in Form der Vervielfältigung von Regierungsobjekten bei.
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Keinesfalls allerdings ist „agency“ als bloße Scheinlegitimation zu begreifen, sondern ganz im Gegenteil: Dieses Prinzip ist kulturell tief verankert und konstitutiv für die Definition eines Akteurs (Individuum, Staat, Organisation) in der Moderne. Es ist selbst eine Institution und erzeugt einen inzwischen riesigen institutionellen „Überbau“ von Agenten, innerhalb dessen etwa die Interessenorganisationen einen bedeutenden Platz einnehmen. Wie man leicht sehen kann, ist das Konzept der Agentschaft für die dualisierende Differenzierung in „öffentlich-institutionell“ und „privat“ konstitutiv und damit auch für die weiteren Differenzierungsprozesse innerhalb des organisational-institutionellen Bereichs. Der institutionelle, organisationsgetragene Bereich der Gesellschaft – insbesondere der Komplex funktionaler Teilsysteme – ist um akkumulierbare Güter herum gebildet, und zwar um Güter, die in der Lage sind, als Ressourcen für eine systematische Erzeugung sozialer Ungleichheit zu dienen, also, wie Bourdieu (1998) es ausdrückt, Kapitalfunktion besitzen. Zentral sind dabei seit dem 19. Jahrhundert einerseits die Monopolisierung der Verfügung über Produktionsmittel als ökonomisches Kapital und andererseits die Monopolisierung von Gewalt in Form des staatlichen konstitutionell-rechtsförmigen Erzwingungskapitals, für welches ebenfalls gilt, dass es sich im Verlaufe der Geschichte der letzten 200 Jahre drastisch ausgedehnt hat. Aber auch Wissenschaft, Bildung, Technologie und soziales Beziehungskapital (Klüngel, Seilschaften und Mafiositäten) fügen sich diesem Muster. Sämtlich sind sie organisationsgebunden. Bei der dualisierenden Differenzierung handelt es sich im Unterschied zur vormodernen Gesellschaft nicht primär um eine personale Differenzierung, welche die Arbeit im institutionellen Herrschaftssystem einer bestimmten Klasse oder einem Stand überlässt, vielmehr ist es gerade kennzeichnend für die Moderne, dass die allermeisten Menschen in beide Welten involviert sind, wenn auch nicht mit gleichen Kompetenzen ausgestattet. Die Unterscheidung zwischen einem öffentlich-institutionellen und einem privaten Raum geht durch fast alle beteiligten Personen hindurch, wird von fast allen vollzogen. Das „fragmentierte Subjekt“ (vgl. Hall 1999), das je nach Kontext andere Rollen zu spielen in der Lage ist und über eine hinreichende Fähigkeit zur Rollendistanz verfügt, ist für diese Differenzierung eine notwendige Voraussetzung. Je mehr die Subjekte zu dieser Rollentrennung befähigt sind, je weniger sie vor allem über ihre Rolle im institutionellen System ihre Selbstdefinition, ihre Identifikation, beziehen (man denke an das Verblassen von Berufsidentitäten), desto mehr kann eine Entkopplung zwischen den beiden Welten stattfinden und desto mehr kann sich das institutionelle System ausdehnen, verselbstständigen
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und eigenen abstrakteren Logiken folgen, weil es weniger an individuelle Motivlagen gebunden ist.
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Ressourcenbündelung und soziale Ungleichheit
Organisation ist ein Regierungsdispositiv, das allokative und autoritative Ressourcen (Giddens 1988) bündelt und miteinander verknüpft. Es werden somit nicht nur Orte der Ordnung und des kontrollierten legitimen Zugriffs auf Arbeit hervorgebracht, sondern auch Zentren der Ansammlung von Produktionsmitteln (materieller wie immaterieller Art) und disparitärer Verfügungsrechte über diese. Im System funktionaler Differenzierung dient Organisation der Akkumulation von „Medienkapital“, im System der disparitären Differenzierung produziert Organisation eine duale Struktur sozialer Ungleichheit. In historischer Perspektive lässt sich zeigen, dass die Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme von entstehenden Funktionseliten betrieben wird, die sich jeweils soweit wie möglich von Eingriffen der anderen emanzipieren wollten: Kaufleute und Industrielle befreien sich vor allem von Religion und Staat/Politik, die staatlichen Herrscher von der organisierten Kirche, die Wissenschaft von Religion und staatlicher Regulation, die staatliche Rechtsprechung soll von ökonomischen Dispositiven unabhängig sein, um nur an einige Prozesse zu erinnern. Es entwickeln sich in allen diesen Sphären professionelle Virtuosen und spezielle Besitzklassen, die ihre jeweilige „Kapitalsorte“ zu hüten und zu mehren trachten. Das Rechtsinstitut des modernen Privateigentums ist in diesem Zusammenhang ebenso ein Mechanismus der „sozialen Schließung“ wie organisationsvermittelte Regeln der Mitgliedschaft, die sich z.B. an bestimmten formalen Bildungszertifikaten orientieren oder schlicht an Beziehungen und Vergemeinschaftungen. An die Stelle des Privateigentums tritt allerdings in den vergangenen hundert Jahren verstärkt Organisation mit ihrer hierarchischen Differenzierung von Verfügungsmacht, die weitgehend rein funktional und nicht herrschaftlich zu legitimieren versucht wird (vgl. Schumm-Garling 1972; Pross 1965). Die Medien dieser Funktionssysteme sind nämlich nicht nur akkumulationsfähig, sondern auch differenzierungsfähig. Diese Eigenschaft prädestiniert sie als Basis disparitärer Differenzierung. Einfluss, Status, Ansehen beruhen nicht auf bloßem Eigentum bzw. Besitz an Geld, formal-positionalen Machtmitteln, Wissen oder wissenschaftliche Reputation, sondern allein auf Differenzen: Geld verschafft nur Einfluss, wenn man mehr hat als andere, eine formale Machtposition bestimmt sich in Differenz zu höher bzw. niedriger ausgestatte-
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ten Positionen, Wissen ist keinesfalls an sich Macht, sondern nur, wenn man um mehr bzw. spezielleres, knapperes Wissen als andere verfügt und wissenschaftliche Reputation entsteht ebenfalls nur in einer skalaren Dimension. Damit erzeugen alle diese Medien automatisch Hierarchien und Knappheiten bezüglich ihrer Verfügbarkeit. Sie können deshalb auch im Sinne von Hirsch (1980) als „Positionsgüter“ bezeichnet werden, also als Güter, deren Wert sich nicht in einem absoluten materiellen Gebrauchsnutzen niederschlägt, sondern aus ihrer quantitativen bzw. qualitativen Differenz zur Verfügung anderer über dieselbe Güterart resultiert. Für Positionsgüter ist es typisch, dass die individuellen Anstrengungen um ihre Vermehrung oder Verbesserung nicht zu einer Egalisierung führen, sondern zu einer Verschiebung der stratifikatorischen Leiter nach oben oder zu einer Neudefinition der Wertkriterien. Es fällt nun auf, dass in der Gegenwartsgesellschaft genau diejenigen Medien, entlang derer sich die Funktionssysteme gebildet haben, nicht nur Medien der systemischen Zirkulation und Allokation sind, sondern auch Medien der Definition sozialer Ungleichheit, sozialer Schichtung. Die gesamte sozialstrukturell arbeitende Ungleichheitsforschung bis hin zum „Armuts- und Reichtumsbericht“ der gegenwärtigen Bundesregierung verwendet wie die Alltagsmenschen genau diese teilsystemischen Erfolgsmedien als Kriterien sozialer Stratifizierung bzw. ihrer Abbildung in Tabellen und Theorien. Und wieder stoßen wir auf die Organisationsform, die in diesem Zusammenhang dazu eingesetzt wird, durch interne Hierarchisierungen, durch Stellen- und Positionsstrukturen Zugänge zu und Zuteilungen von Medien zu institutionalisieren, also die Positionierungshierarchien für die Positionsgüter zu definieren. Beginnend schon im 19. Jahrhundert haben sich diese Strukturkonfigurationen der einzelnen Organisationen und Organisationsarten durch Imitation und Evolution soweit aneinander angeglichen, dass auf gesamtgesellschaftlicher Ebene soziale Schichten (oder auch Klassen) beobachtbar werden. Damit werden diese Medien nicht nur zu einem Mittel statistischer disparitärer Differenzierung, sondern ihre ungleiche, organisational determinierte Distribution bestimmt Partizipationsmöglichkeiten am institutionellen Apparat. Nicht nur aufgrund des ideologischen Postulats der Chancengleichheit aller zur Partizipation an den institutionellen Teilsystemen, sondern auch auf Grund des faktischen Zwanges zu Partizipation (zur „Inklusion“), sind diese Medien für Motivierungs- und Disziplinierungszwecke einsetzbar. Kein Mensch benötigt für ein „gutes Leben“ Geld, politischen Einfluss, Bildung (nicht einmal Lese- und Schreibfähigkeit) oder wissenschaftliche Forschung. Hunderttausende von Jahren sind Menschen ohne dies ausgekommen. In der modernen Gesellschaft
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ist aber trotz der Existenz zweier Welten eine Partizipation am institutionellen System über Teilnahmerollen für eine „bürgerliche“ Existenz unabdingbar. Die Verteilung von Naturalien anstelle von Geld, die Verwehrung von Wahl- und politischen Organisationsrechten, Beschneidung von „Bildungschancen“ und Behinderung der Teilhabe am „wissenschaftlich-technischen Fortschritt“ gelten deshalb nicht nur als die typischen Merkmale marginaler Existenzen in der Moderne, sondern zum Teil auch als Strategien des Ausschlusses (z.B. von ethnischen Minderheiten, lange Zeit hindurch von Frauen). Inklusion heißt dann Unterwerfung unter die Logiken des institutionellen Systems als unabdingbare Voraussetzung für die Anerkennung als vollgültiges Mitglied der Gesellschaft; Inklusion heißt aber noch lange nicht relevante Teilhabe, da die systemischen Medien nicht etwa marktförmig allen prinzipiell mit gleichen Chancen zur Verfügung stehen, sondern an organisationale Hierarchien gebunden sind. Wenn nur noch eine lose Kopplung zwischen dem „öffentlich-organisationalen“ und dem privaten Bereich existiert, müsste dies auch Konsequenzen für die disparitäre Differenzierung haben. Ungleichheiten im institutionellen System spiegeln sich möglicherweise dann nicht eins zu eins im Bereich des privaten Lebens wider. Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen, um zu behaupten, dass die Gouvernementalität der modernen Gesellschaft auf der Trennung von privat-individuellem Ressourcenbesitz und institutionellorganisationalen Verfügungsrechten über Ressourcen beruht. Mit der Auftrennung in die zwei Welten vollzieht sich auch eine Entkopplung zweier Strukturkomplexe disparitärer Differenzierung. Dies ist für die ideologische Stabilität der modernen Gesellschaft von außerordentlich großer Bedeutung, weil auf diese Weise dem für sie fundamentalen Gleichheitspostulat Rechnung getragen werden kann bei zugleich teils gewaltiger Disparität von faktischer Verfügungsmacht im institutionellen System (vgl. Meyer 1994: 735ff.). Staatsbeamte, Angestellte in Aktiengesellschaften, ehrenamtliche Vereinsvorstände (herausragend Sport- und Kunstvereine), um nur einige Beispiele zu nennen, verfügen im Rahmen ihrer Organisationsrollen über Milliardenbeträge, die politischen Akteure der großen Interessenverbände, Parteisekretäre und Gewerkschaftsfunktionäre verfügen über großen politischen Einfluss, wissenschaftliche Großtheoretiker bestimmen die jeweils herrschenden Paradigmen, ohne dass sich solche Positionen in der herkömmlichen soziologischen Ungleichheitsforschung überhaupt niederschlügen, weil sie nur gering mit Merkmalen individuell-persönlicher Ungleichheit im Hinblick auf übliche Disparitätskriterien korrelieren. Die Differenzierung in die zwei Welten erlaubt also, die private soziale Ungleichheit auf einem Niveau unterhalb der Skandalisierbarkeit zu halten
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(wenn auch hier immer wieder einmal Entrüstungen vorkommen), indem die wesentlichen Disparitäten gleichsam durch einen Buchhaltungstrick auf den organisationalen Bereich zugerechnet werden. Damit kann der Gleichheitsmythos aufrecht erhalten werden, vor allem dann, wenn es gelingt, die trotzdem noch auftretenden sozialen Disparitäten mit dem Leistungsprinzip im Hinblick auf das institutionelle System zu rechtfertigen (vgl. auch Meyer 1994). In besonders extremer Weise wurde diese Abkopplungsstrategie von realsozialistischen Gesellschaftssystemen in Kraft gesetzt, in denen die Differenzen im privaten Bereich noch sehr viel geringer waren als in den kapitalistischen Demokratien, die organisationale Machtverteilung sich aber durch krasse Machtdifferentiale auszeichnete. Dort hatte das Gleichheitsprinzip einen ideologisch besonders zentralen Stellenwert, sodass die massiven Disparitäten nahezu vollständig auf das institutionelle System umgebucht werden mussten. Die besondere bürokratische Rigidität dieses Systems wurde dann mit rein sachlich-objektiven, funktionalen Erfordernissen zu legitimieren versucht. Organisationen generieren und reproduzieren aber nicht nur soziale Disparitäten in Verbindung mit der Differenzierung in zwei Welten und dem Operieren der institutionellen Teilsysteme, sondern sie sind auch soziale Orte der Nutzung, Reproduktion, Verstärkung und Verbreitung von Mustern sozialer Ungleichheit, die aus anderen Bereichen der Gesellschaft stammen. Sie verteilen in diesem Falle soziale Güter gemäß Unterscheidungskriterien, die nicht von ihnen selbst stammen. Zu denken ist dabei vornehmlich an soziale Diskriminationen entlang askriptiver Merkmale wie Herkunft, Ethnie, Rasse, Geschlecht und Alter. Wir können hier nur auf das Buch „Durable Inequality“ von Charles Tilly (1998) verweisen. Organisation erweist sich somit zusammengefasst als das Dispositiv, welches das moderne Regime sozialer Ungleichheit regiert.
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Das Organisationsdispositiv des Journalismus Klaus-Dieter Altmeppen
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Organisationsbegriffe und Journalismusforschung
Organisation ist ein Phänomen mit enorm vielen Facetten, wie die Fülle an Blickwinkeln der Organisationsforschung zeigt (vgl. zur Einführung Allmendinger & Hinz 2002; Kieser & Kubicek 1992; Schreyögg 1999). Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass die Organisationsforschung an der Nahtstelle von Organisationssoziologie und Betriebswirtschaft operiert, wodurch soziologische und ökonomische Begriffsinstrumentarien ineinanderfließen, wie etwa am Begriff des ökonomischen Neo-Institutionalismus deutlich wird, mit dem Modelle wie die Transaktionskostentheorie und ihre Abwandlungen in die Debatte eingeführt werden. Ein zweites Kennzeichen der modernen Organisationssoziologie besteht darin, dass Organisation als Konstrukt nicht mehr allein für die Analyse der Koordination und Motivation der Operationen von Organisationsmitgliedern verwendet wird. Dieser Untersuchungsfokus wird zunehmend ergänzt durch Arbeiten, die Organisation als gesellschaftskonstituierendes Muster betrachten. Während es der ersten Forschungsrichtung darum geht, die typischen Strukturen innerhalb konkretisierbarer Organisationen zu analysieren, beschäftigt sich die zweite Richtung mit der Rückkehr der Organisation in die Gesellschaft und der grundlegenden Bedeutung von Organisationsprinzipien für gesellschaftliche Ordnung (vgl. Ortmann, Sydow & Windeler 1997). Diese Frage steht auch im Beitrag von Bruch und Türk im Vordergrund. Sie stellen Organisation als gesellschaftskonstituierendes Prinzip neben Markt und Staat und arbeiten die Grundzüge des Organisationsdispositivs heraus. In diesem Beitrag werden daher diese Grundprinzipien, die auf den ersten Blick nicht zur organisationalen Journalismusforschung passfähig sind, rekonstruiert (Kapitel 2). Zwar wird die Organisationsförmigkeit des Journalismus nicht bestritten, in der Journalismusforschung dominieren jedoch Studien zur In-
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nenperspektive, wie eine kurze Zusammenfassung in Kapitel 3 zeigt. Dass beide Sichtweisen durchaus zusammenpassen, sollen die Ausführungen in Kapitel 4 zeigen. Dort steht der Begriff der Struktur im Vordergrund, der eine verbindende Klammer herstellt zwischen dem (gesellschaftlichen) Organisationsdispositiv und der Analyse von Einzelorganisationen. Die Grundlage dafür bildet die Strukturationstheorie (vgl. Giddens 1997). Ihr verbindender Charakter offenbart sich schon dadurch, dass Bruch und Türk sich in ihrer Konzeption auf die Strukturationstheorie berufen und dass es in der Journalismusforschung Anwendungsvarianten dieser Theorie gibt. Die Strukturationstheorie erlaubt es, das Verhältnis der (journalistischen) Organisation zur Gesellschaft (Funktion) zu thematisieren und zu prüfen, wie die Organisiertheit einzelner journalistischer Organisationen zustande kommt. Dabei spielen die organisationalen Ziele eine ebenso bedeutsame Rolle wie die Stellung des Redaktionsmanagements.
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Zum Verständnis von Organisation bei Bruch und Türk
Innerhalb der Organisationstheorien und -forschung sind verschiedene Richtungen auszumachen. Eine davon zeigen Bruch und Türk auf, deren Argumentationslinie sich von den meisten anderen in einem entscheidenden Punkt abhebt. Sie verfolgen nicht die Frage, wie die einzelne bestimmbare Organisation (ein Unternehmen, ein Verband, der Journalismus) die Grundprobleme der Organisation (Koordination und Motivation) löst, sondern sie argumentieren, dass Organisation eines der grundlegenden Strukturprinzipien von Gesellschaft ist. Soziale Ordnung wird, so ihre These, quer durch alle gesellschaftlichen Ebenen wesentlich durch Organisation hergestellt. Um den Unterschied von Einzelorganisation und Organisation als gesellschaftlichem Strukturprinzip kenntlich zu machen, unterscheiden Bruch und Türk (in diesem Band) zwischen Organisation und Organisationen. Der Singular Organisation bezeichnet danach ein Regierungsdispositiv, eine „Konfiguration von Wissens- und Handlungspraxen, die sich historisch zu einer Einheit der Regulation gesellschaftlicher Kooperations- und Selbstverhältnisse verbinden.“ Den Autoren geht es in ihrem Beitrag nur sekundär um die organisationale Ebene, wie also Organisationen strukturiert sind und welche Abläufe in Organisationen geschehen. Es geht ihnen vielmehr um eine Bestimmung des Stellenwerts von Organisation in der Gesellschaft, sie wollen die Bedeutung von Organisation als gesellschaftsprägende Institution neben Markt und Staat herausstreichen. Sie spezifizieren Organisation als Dispositiv nach drei Dimensionen, der extensionalen, der
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intensionalen und der strategischen und beschreiben damit die kommunikativen und strukturellen Elemente von Organisation. Organisation geschieht, so ein weiterer zentraler Argumentationsstrang von Bruch und Türk, nur in Machtverhältnissen, die mit dem Begriff der Regierung bezeichnet werden. Den Begriff der Regierung lösen sie aus der gebräuchlichen Verwendung heraus und definieren ihn als „eine spezifische Art der Konfiguration und Systematisierung von Machtverhältnissen“ (ebd.: 268). Machtverhältnisse werden, in Anlehnung an Giddens (1997) als Verfügung über allokative, autoritative und symbolische Ressourcen definiert. Diese Verfügung liegt häufig, aber nicht immer, in den Händen der „Führung“, wobei Machtverhältnisse Konstellationen der „Meta-Führung“ sind, die als Gouvernement (Regierung) ein spezifisches Set (Dispositiv) von Wissen und Praktiken der Selbst- und Fremdorientierung einrichten. Demnach wird Macht in Organisationen, allen möglichen Eigenarten spezifischer Organisationen zum Trotz, grundsätzlich auf die gleiche Art und Weise ausgeübt. Bruch und Türk fragen vorrangig danach, wie die Gesellschaft durch Organisation konfiguriert wird. Sie bestreiten die Annahme einer Differenz von Gesellschaft und Organisation, sondern gehen dagegen davon aus, dass Organisation ein Modus der Konstituierung von Gesellschaft („ein Modus der Regierung von Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft“, Bruch & Türk, in diesem Band: 268) ist. Organisation als Regierungspraxis der Gesellschaft zeichnet sich durch „eine eigene Modalität der Ordnung und Machtausübung“ aus (ebd.: 267). Die Autoren wollen eine Theorie für diese Ordnung und die Machtverhältnisse entwerfen, wobei Ordnung auch als Organisationsförmigkeit bezeichnet wird. Erst auf einer zweiten Ebene sind Einzelorganisationen (wie etwa der Journalismus) Erkenntnisgegenstand für Bruch und Türk. Organisation als Dispositiv bedeutet, dass sich die grundsätzlichen Muster des Dispositivs Organisation im Handeln und Wirken von spezifischen Organisationen wiederfinden. Der Journalismus organisational betrachtet ist demzufolge primär ebenfalls mit dem Set von Regierungspraxen als einem gesellschaftlichen Ordnungsmuster zu analysieren, das organisationsübergreifend wirksam ist. Darüber hinausgehend können die Regierungspraxen aber durchaus von Organisation zu Organisation differieren, einzelne Organisationen sich durch ihre Organisationsförmigkeit voneinander unterscheiden lassen, ohne allerdings dem Dispositiv der Organisation damit vollständig ausweichen zu können. Für eine Weiterentwicklung der Zusammenhänge von Organisation und Journalismus bedeutet diese Sichtweise, dass einerseits zu diskutieren ist, was
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das Organisationsdispositiv für die Institution Journalismus bedeutet, dem bekanntermaßen besondere konstitutive Leistungen innerhalb der Gesellschaft abverlangt werden. Andererseits ist zu prüfen, inwieweit die Organisation des Journalismus den Regeln des Organisationsdispositivs folgt bzw. ob abweichende Strukturprinzipien im Journalismus zu erkennen sind. (1) Organisation als Regierungsdispositiv ist, so sehen es Bruch und Türk, ebenso wie Markt und Staat anonym, nicht einzelnen Organisationen zuschreibbar. Organisation als Regierungdispositiv setzt voraus, dass Organisation eine die Gesellschaft intensiv formende Kategorie ist, deren Organisationsförmigkeit einzelorganisational übergreifende Elemente aufweist und einen Machtfaktor sui generis darstellt. Journalismus organisational zu analysieren bedeutet vor diesem Hintergrund, dass Journalismus qua organisationalem Status zum Machtgefüge der Organisation in der Gesellschaft zählt. Nur zweitrangig ist dabei die Frage, wie sich der Journalismus organisiert und ob sich seine Organisationsform von anderen Organisationen unterscheidet. Zu fragen ist dann, ob Journalismus als Organisation noch ein – wie auch immer gearteter – Sonderstatus aufgrund der gesellschaftlichen, funktionalen Erwartungen zukommt, wie sie in Pressegesetzen und dem Betriebsverfassungsgesetz zum Ausdruck kommt. Dass derartige „Sonderstellungen“ von Organisation durchaus möglich sind, gründet darin, dass „die Strukturationseffekte von Organisationen nicht beliebig oder gar offen sind“ (ebd.: 268). Vielmehr ergeben sich aus dem interorganisationalen Zusammenspiel Einflussformen, so dass „Organisation als ein begrenztes Möglichkeitsfeld von Praktiken die Möglichkeitsfelder anderer gesellschaftlicher Praktiken systematisch öffnet bzw. schließt und damit die Entwicklung bestimmter gesellschaftlicher Praktiken ermöglicht bzw. behindert.“ (ebd.) Damit gerinnt die Annahme, dass der Journalismus mit seiner Funktion der Beobachtung der Gesellschaft und der Vermittlung dieser Beobachtungen an die Gesellschaft zu einem wesentlich größeren Maße als andere Organisationen zu den Öffnungs- oder Schließungsprozessen beiträgt, zu einer Frage nach den Machtmöglichkeiten des Journalismus, ihrer Entstehung, ihrer Legitimation, ihrer Durchsetzung und ihren Folgen. (2) Ein zweiter Blick richtet sich auf die Führung von Journalismus und damit auf Faktoren etwa der Corporate Governance. Zwar ordnen Bruch und Türk auch diesen Bereich nicht als klassische Management-
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forschung ein, sondern als die (vorgelagerte) Frage, wie Management als Möglichkeitsraum überhaupt entsteht und wirkt, da Machtverhältnisse an soziale Beziehungen gekoppelt sind. Eine organisationale Betrachtung des Journalismus muss sich demnach mit Steuerungs- und Machtpotenzialen von Management generell auseinandersetzen. Da ein wesentliches Machtpotential von Management darin liegt, die Organisationsziele und die Formen ihrer Umsetzung festzulegen, muss hinsichtlich des Journalismus zuvorderst erkundet werden, aufgrund welcher Mechanismen das Management strukturelle Machtverhältnisse durchsetzen und verändern kann. Einen Hinweis darauf geben Bruch und Türk mit der Strukturationstheorie, die nach der Regelsetzung und der Ressourcenverteilung fragt. (3) Wenn Organisation ein grundlegendes gesellschaftliches Ordnungsmuster ist, bleibt trotzdem die Frage, wie die Einzelorganisation dieses Ordnungsmuster anwendet, reproduziert und modifiziert, kurz gesagt, wie das Organisationsdispositiv umgesetzt wird. Dies führt dann zu den Formen der Strukturation auf der Einzelorganisationsebene und den dortigen Ordnungsmustern und zu der Frage, wie Organisation als Kategorie formuliert sein muss, um bestimmte Organisationen – wie etwa Medien und Journalismus – analytisch erfassen und vor allem auch unterscheiden zu können. Hierhin gehört zudem die Frage, wie Organisation als gesellschaftlich strukturierendes Muster im Verhältnis zu den Individuen steht, die durch Organisation koordiniert und motiviert werden sollen. (4) Der letzte Komplex schließlich berührt, was Bruch und Türk immer wieder mit der je historischen Spezifizität von Organisation ansprechen, womit die Formen und Folgen von Strukturveränderungen angesprochen sind. Definiert man Struktur als den Leitbegriff und ordnet Organisation als eine dominante Struktur darunter ein, gerät die Veränderung von Organisation zu einem Indikator für strukturellen Wandel. Was sind dann aber, so ist zu fragen, die Kriterien für diesen organisationalen Wandel, dessen induktive Ermittlung (also die Veränderung von Redaktionsstrukturen beispielsweise) auf der aggregierten Ebene einen Wandel von Organisation und der Art ihres Regierungsdispositivs indizieren würde? Organisation ist, Bruch und Türk folgend, auch ein Dispositiv des Journalismus, der somit übergreifenden Kriterien der Organisation folgt, von diesem
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Dispositiv aber nicht beherrscht wird, sondern durch eigene Zielsetzungen und Modifizierungen eine angepasste Organisation annehmen kann. Im Folgenden sollen diese Aspekte ausführlicher diskutiert werden.
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Organisation und Journalismus: Analysemuster der Journalismusforschung
Die journalistische Organisationsforschung hat sich teilweise an organisationssoziologischen Vorlagen orientiert und dabei so etwas wie eine Redaktionsbetriebslehre entwickelt. Sie ist aber auch organisationstheoretisch eigene Wege gegangen, die lange Zeit systemtheoretisch inspiriert waren – und immer noch sind. Zunehmend werden aber auch Anregungen der Strukturationstheorie aufgegriffen und zu organisationalen Modellen verdichtet. Diese einzelnen Analysemuster sollen im Folgenden kurz umrissen werden. 3.1
Journalistische Organisationen und Redaktionsbetriebslehre
Organisation wird, so Bruch und Türk, in den Sozialwissenschaften durchweg als eine wissenschaftliche Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. Das sieht in der Journalismusforschung ein wenig anders aus, wie der Korpus an theoretischen wie empirischen Studien zeigt (vgl. zusammenfassend Altmeppen 2006; Esser & Weßler 2002; Meier 2002), die die Organisation des Journalismus thematisieren. Die Erforschung der organisationalen Voraussetzungen des Journalismus, bekannt geworden als Redaktionsforschung, bildet nur einen Schwerpunkt der Journalismusforschung, neben Studien zu Selbstverständnis und beruflichem Rollenverständnis beispielsweise. Zudem hat die Redaktionsforschung in all den Jahren nur ansatzweise Bögen zur Organisationstheorie und -soziologie geschlagen. Die Grundlage der meisten Studien zu journalistischer Organisation bilden die klassischen Annahmen der Organisationslehre, diese will „Richtlinien für die Gestaltung effizienter Organisationsstrukturen erarbeiten bzw. [...] Manager lehren, wie sie organisieren können oder sollen“ (Kieser & Kubicek 1992: 38). Zwar sind die Kenntnisse von funktionaler und divisionaler Organisation, von Ein- und Mehrliniensystem fundamental für das Verständnis organisationaler Vorgänge, aber diese Art von Redaktionsbetriebslehre ist zu sehr an schematischen Vorstellungen von Hierarchie, geregelten Produktionsprozessen und planbaren Produkten orientiert und kann beispielsweise die Folgen strukturellen Wandels nicht befriedigend erfassen.
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So ist mittlerweile schon allein der Begriff „Redaktionsforschung“ anachronistisch angesichts von Lokalredaktionen, die als Profitcenter outgesourct werden, angesichts einer zunehmenden Zahl an Mediendienstleistern, derer sich die „Redaktionen“ als Zulieferer bedienen und angesichts einer zunehmenden Zahl an freien oder festen freien Journalisten. All diese organisationalen Entitäten sind nicht in der Redaktion beheimatet, die somit längst nicht mehr „der Ort für die Interpenetration von Journalisten als Akteuren und Journalismus als gesellschaftlichem Funktionssystem“ ist (Scholl & Weischenberg 1998: 156). Für derartige Funktions- und Strukturveränderungen reicht die Redaktionsbetriebslehre als Analysekonstrukt nicht aus. 3.2
Journalistische Organisationen und Systeme
So wundert es nicht, dass die Standards der Redaktionsbetriebslehre in den meistern Fällen mit komplexeren Modellen gemischt werden. Als beständigste „Zutat“ erweist sich die für die organisationale Journalismusforschung grundlegende Studie von Rühl (1979), dessen Konzeption von System, Subsystemen und Intermediärsystemen sowie die Input- und Outputorientierung nach wie vor Bestand haben. Doch obwohl Begriffe wie Struktur, Entscheidung und Kontingenz in der Organisationsforschung mit eigenen Modellen breit vertreten sind, gibt es nur wenige Journalismusstudien, die dieses Inventar organisationstheoretisch nutzen. Organisational inspirierte Journalismusstudien rekurrieren entweder auf die (relativ simple) Organisationslehre oder sie leiten Organisation systemtheoretisch ab, wie etwa beim redaktionellen Entscheidungshandeln (vgl. Marcinkowski 1993) oder bei den Begriffen Rolle und Programm (vgl. Blöbaum 1994). So erhält gerade der Programmbegriff in der Journalismusforschung eine zentrale Bedeutung, obwohl er in der Organisationsforschung nur eine Organisationsstruktur unter anderen darstellt (vgl. Kieser & Kubicek 1992). Dies ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass die Systemtheorie wesentliche Begriffe der Organisationsforschung inkorporiert, wie etwa Organisation selbst, aber auch Entscheidung, Strukturen und Kontingenz. Auch der Rollenbegriff ist in der Journalismusforschung Grundlage einer Vielzahl von Studien, da er sowohl für journalistische Organisationsforschung (vgl. Blöbaum 2000; Rühl 1979) wie auch beim journalistischen Selbstverständnis (vgl. Donsbach 1982; Junghanns & Hanitzsch 2006: 423; Scholl & Weischenberg 1998: 157ff.) verwendet wird. Mit der Organisations- und Managementforschung aber, die sich mit der Entstehung, Entwicklung und dem Einfluss von Positio-
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nen und Stellen beschäftigen, ist er bislang nicht verbunden worden (vgl. Schreyögg 1999). Deutlich sichtbar werden diese weißen Flecken der organisatorischen Journalismusforschung schon dann, wenn man einen Blick in ein Standardwerk der Organisationsforschung (Kieser 2001) wirft. Dort werden die grundlegenden Richtungen der Organisationsforschung vorgestellt, von der Entscheidungstheorie über die Kontingenztheorie, die Human-Resource-Theorie bis zur Strukturationstheorie. Nur wenige dieser Ansätze sind – in Reinform oder als Anleihen – bislang von der Journalismusforschung aufgegriffen und angewendet worden. Hinzu kommt als weiteres Desiderat, dass journalistische Organisationsforschung allenfalls punktuell erfolgt, sowohl hinsichtlich des Gegenstands als auch in der zeitlichen Kontinuität. Gegenstand der journalistischen Organisationsforschung sind in der Mehrzahl Zeitungsredaktionen, Fernsehen, Hörfunk und Online schon weit weniger, Zeitschriften nahezu gar nicht. Zudem fehlt eine zeitliche Kontinuität der Erforschung von Journalismusorganisationen, was vor allem bedauerlich ist, da damit keine Aussagen über strukturellen Wandel und seine Folgen möglich sind. Sicherlich sind vereinzelt Rückgriffe und Bezüge zu diesen Theorien erkennbar, bei Rühl (1979) beispielsweise die Entscheidungstheorie, und auch mit dem Begriff der Programme, denen ja vor allem koordinierende Funktion zukommt. Gerade Koordination ist in der Journalismusforschung eine untergeordnete Kategorie, in der Organisationsforschung dagegen der zentrale Grund für Organisation, die entsteht, wenn die Aktivitäten mehrerer Akteure auf ein gemeinsames Ziel hin zusammengebunden werden sollen (vgl. Schreyögg 1999). 3.3
Journalistische Organisationen und Strukturation
Allerdings wird die Organisation als ein Maßstab in der Journalismus- und Medienforschung in jüngster Zeit verstärkt forciert (vgl. Jarren 2001). Mit der Strukturationstheorie wird der Anschluss an aktuelle Theoriediskussionen gesucht, die im Verbund mit Mehrmethodendesigns den strukturellen Wandel des Journalismus auf mehreren Ebenen und aus mehreren Blickwinkeln erfassen wollen (vgl. Altmeppen 1999, 2006; Lublinski 2004; Quandt 2005; Wyss 2002). Zwar müssen die Stärken und Schwächen der Strukturationstheorie noch ausgelotet werden (vgl. Walgenbach 1995). Als Sozialtheorie beansprucht sie jedoch universellen Charakter, daher findet sie auch Eingang in andere Teildisziplinen der Medien- und Kommunikationswissenschaft wie Organisationskommunikation/PR (vgl. Röttger 2000) und politische Kommunikation
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(vgl. Jarren & Donges 2002). Zudem verknüpft eine strukturationstheoretische Sichtweise sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Argumentationslinien, da sie in beiden Wissenschaftsdisziplinen intensiv diskutiert wird. Ihr Potenzial wird vor allem darin gesehen, die häufig unvereinbar wirkenden Pole rein voluntaristischen und rein strukturell erzwungenen (journalistischen) Handelns verbinden zu können. Das folgende Kapitel wird sich damit intensiver beschäftigen. 3.4
Journalistische Organisationen, Organisation und Gesellschaft
Der Versuch, zwischen Organisation als gesellschaftlichem Dispositiv und Organisationen als einzelnen Entitäten zu differenzieren, zwingt dazu, auch den (organisationalen) Journalismus unter dieser doppelten Perspektive zu betrachten. Zur Perspektive der Organisation als Dispositiv trägt die Journalismusforschung keine Analysen bei. Untersuchungen zu journalistischen Organisationen beschäftigen sich mit deren Innenleben, während die Aspekte von Leistungen und Funktionen vor allem auf der Makroebene, in Form systemtheoretischer Funktionsanalysen (vgl. Görke 2000; Kohring 2000) oder auf der Mikroebene in Form von Selbstverständnis- und Rollenbilderhebungen thematisiert werden (vgl. Scholl & Weischenberg 1998). Gefragt wird also entweder danach, was der Journalismus für die Gesellschaft leistet oder was die Journalisten für die Gesellschaft leisten. Dass journalistische Organisationen eine Vermittlungsinstanz im Spiel der Ebenen sind – top down – indem sie die gesellschaftlichen Anforderungen an Journalismus katalysieren, und – bottom up – indem sie die einzelnen Journalisten organisational integrieren, findet kaum Beachtung. Journalistische Organisationen fungieren somit als ein Scharnier zwischen verschiedenen Ebenen: Auf der Ebene des Verhältnisses von Individuum (Journalist) und Organisation (Journalismus) lässt sich mit diesem Scharnier erkunden, welche Einflüsse die Ziele und Strategien journalistischer Organisationen auf das Handeln der Journalisten haben und inwieweit journalistisches Handeln die Organisation beeinflusst; auf der Ebene des Verhältnisses von Organisation (Journalismus) und Gesellschaft lässt sich erkunden, welchen Einfluss gesellschaftliche Erwartungen auf die journalistischen Organisationen haben und vice versa. Beides ist für den Journalismus höchst problematisch: Wenn Organisation gesellschaftskonstitutives Dispositiv ist, kann Journalismus nicht aus der Ordnung durch Organisation herausdefiniert werden, und auch nicht aus den daraus resultierenden Machtkonstellationen. Solange der Journalismus aber
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zugleich als ein gesellschaftlicher Akteur agieren soll, dessen Leistung in der Selbstbeobachtung der Gesellschaft besteht, steckt er in einem Dilemma. Mit den Augen des Organisationsdispositives gesehen reproduziert Journalismus – über seine organisational strukturierenden Machtpraktiken – genau die Welt, die er beobachten und der er die Ergebnisse der Beobachtung mitteilen soll. Damit stellt sich die Frage nach den Leistungen des Journalismus vehement auch als ein Problem der Ermöglichung oder Beschränkung journalistischer Leistungen durch Organisation, was allein dadurch offensichtlich wird, dass die organisationalen Führungsebenen und die Eigentümer und Aufsichtsgremien die mit Abstand einflussreichsten Referenzgruppen des Journalismus sind (vgl. Weischenberg, Malik & Scholl 2006: 358). Organisation und Management des Fernsehens ermöglichen und beschränken Journalismus offensichtlich auf andere Weise als die gleichen Institutionen der Zeitung. Derartige organisationale Struktureinflüsse schlagen nolens volens bis auf das journalistische Selbstverständnis durch, denn in den journalistischen Organisationen werden das Selbstverständnis und das Rollenbild von Journalisten entscheidend geprägt. Als hierarchisch organisierte Sozialisationsinstanz fungiert die journalistische Organisation als zentrales Vehikel, das darüber entscheidet, ob einzelne journalistische Organisationen als vierte Gewalt, als kritischer Kontrolleur oder als seichter Unterhalter agieren.
4
Journalistische Organisationen: Interaktion und Strukturation
Eine Analyse der Leistungen des Journalismus ist somit, ebenso wie die Frage nach journalistischem Wandel, eine Frage nach den Strukturen einzelner journalistischer Organisationen. Struktureller journalistischer Wandel beispielsweise geschieht ja nicht einfach, sondern folgt spezifischen Zielen, die in der Regel, wie etwa bei der Umformung von ressortgebundenen Redaktionen in eine Teamorganisation, durch das Management festgelegt werden. Derartige ReStrukturierungsprozesse sind komplexe Angelegenheiten, die nicht durch eine Redaktionsbetriebslehre erfasst werden können. Diese steht in der Tradition eines Organisationsbegriffs, der von steuerbaren, durchgeplanten Aktionen ausgeht. Organisationaler Wandel ist aber immer ein rekursiver Prozess, bei dem Struktur erst durch das Handeln der Organisationsmitglieder geschaffen wird, denn Struktur ist nicht per se vorhanden. Die Ziele organisationalen Wandels müssen sich handelnd bewähren, werden dabei reproduziert, ebenso aber auch angepasst und modifiziert.
Das Organisationsdispositiv des Journalismus 4.1
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Journalistische Organisationen als Systeme organisierten Handelns
Die derzeit avancierteste Theorie, um derartige organisationale Ereignisse zu erfassen, ist die Strukturationstheorie (vgl. Giddens 1997). Obwohl es sich dabei prinzipiell nicht um eine Organisationstheorie handelt, werden die Grundgedanken dieser Theorie vor allem von Organisationsforschern (gleichermaßen aus der Soziologie und der Betriebswirtschaft) aufgegriffen (vgl. Ortmann, Sydow & Windeler 1997). Das resultiert vorrangig daraus, dass die Strukturationstheorie nolens volens mit den Begriffen Struktur, Institutionen, Ressourcen und Regeln operiert – mit Begriffen also, die vielfältige Anschlussmöglichkeiten gerade für Organisationsforschung bieten. Journalistische Organisationen können unter Rückgriff auf begriffliche Arbeiten aus der Organisationsforschung als Systeme organisierten Handelns definiert werden, die sich durch die Interdependenz von Handeln und Strukturen auszeichnen (vgl. Altmeppen 2006). Die sich durch Handlungen und Strukturen rekursiv ergebenden „organisationalen Praktiken“ (Ortmann, Sydow & Windeler 1997: 317) werden geformt vom teilsystemischen Orientierungshorizont, in dem sich die jeweilige Organisation (hier: der Journalismus) bewegt, und von den organisationsspezifischen Normierungen (vgl. Altmeppen 2006). Die Herstellung institutioneller Ordnung geschieht beispielsweise durch das Handeln des Redaktionsmanagements, das auf eine Veränderung der Redaktionsorganisation gerichtet ist. Dies ist dann auch schon der Auftakt eines rekursiven Strukturationsprozesses, denn dass sich das Redaktionsmanagement zu strukturellen Veränderungen herausgefordert sieht, ist eine Reaktion auf Probleme mit den bestehenden Strukturen. Häufig sind diese Probleme finanzieller Art, sodass Kostenkontrollprogramme als adäquate Lösung angesehen werden. Häufig sind aber auch strukturelle Veränderungen ein Reflex auf veränderte Berichterstattungsanforderungen, etwa wenn mehr Wert auf Service in der Berichterstattung gelegt wird oder wenn die Berichterstattung vermehrt boulevardisiert wird. Das Redaktionsmanagement ist als Führungsebene legitimiert, die Ziele der journalistischen Organisationen zu verändern, und kann daraus auch die erforderlichen Machtdurchsetzungsmittel ableiten (vgl. Abbildung). Strukturationstheoretisch lässt sich dies auf die Definition von Struktur als die Kombination von Regeln und Ressourcen zurückführen, wobei beide Begriffe grundlegend anders zu verstehen sind als üblicherweise. So bezieht der Regelbegriff bei Giddens auch die Signifikation ein, beinhaltet also auch Regeln zur Sinnkonstituierung. Organisationale Veränderungen fordern in doppelter Weise die Sinnfrage heraus: einerseits müssen diese Veränderungen für das Management Sinn machen, andererseits müssen die Veränderungen den Jour-
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nalisten kommuniziert werden, die die neuen Regeln verstehen sollten und handelnd umsetzen müssen. In ihren Interaktionen richten sich die Journalistinnen und Journalisten auf die organisationsspezifischen Regeln und Ressourcen als strukturelle Merkmale ein. Sie akzeptieren die Ziele der Organisation, sofern sie einen sinnvollen Handlungszusammenhang ergeben; oder sie opponieren gegen Veränderungen in den Organisationszielen und versuchen, ihre eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Gerade in Krisenzeiten, wenn journalistisches Handeln bewusster ausgeübt wird, werden die Journalisten, ebenso wie das Management, ihr Handeln verstärkt reflexiv steuern, während beider Handeln im Alltag routinisiert abläuft. Diese Routinen gewinnt das Handeln aus den strukturellen Rahmungen, wie sie im Journalismus durch die Organisations- und Arbeitsprogramme geschaffen werden. Abbildung: Strukturation und Interaktion
Mesoebene
Strukturation (Regeln und Ressourcen) journalistische Organisation als Ergebnis von Strukturation Signifikation
Domination
Legitimation
Vermittlungsmodalitäten (soziale Praktiken)
Mikroebene
Prozess der Strukturierung (Rekursivität)
Interaktion (journalistische Akteure + reflexiv gesteuerte Handlungen) Kommunikation
Macht
Sanktion
Arbeitsprogramme fassen das Recherchieren, Schreiben, Moderieren und Organisieren zusammen. Die Arbeitsprogramme wiederum sind eingelagert in Organisationsprogramme wie Redaktionen, Ressorts, dem Zusammenspiel von festen und freien Mitarbeitern und formellen Kommunikationsterminen wie etwa Konferenzen. Die Programme sind Strukturprinzipien des Journalismus, die als Organisationsdispositive angesehen werden können, denn sie sind, wie
Das Organisationsdispositiv des Journalismus
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die empirischen Ergebnisse bestätigen, überorganisational gültige Strukturmerkmale des Journalismus. Ihr Erhalt, ihr Aus- oder Umbau beruht auf Entscheidungen des Managements, das seine Machtausübung durch die Verfügung über allokative und autoritative Ressourcen ausüben kann. Die journalistischen Programme sind somit Struktur, weil sie Regeln darüber enthalten, wie Journalisten arbeiten (sollen und/oder können). Die Programme sind aber zugleich Struktur als Ressourcen, und zwar auf vielfältige Art und Weise. Zunächst einmal ist die Organisation selbst eine Ressource, eine vielfach disponible Masse an arbeitsrelevanten Notwendigkeiten wie Räumen, Technik, Finanzen. Darüber hinaus können Journalisten die Organisation als Reputationsressource nutzen, indem sie etwa den Namen ihrer Organisation als „Türöffner“ bei der Recherche nutzen. Auch der Begriff der Ressource ist – wie der Begriff der Regel – dem Verständnis von Giddens (1997) folgend sehr viel weiter zu fassen als im alltagssprachlichen Gebrauch. Giddens unterscheidet allokative Ressourcen als Verfügungsmacht, die hauptsächlich materielle Güter betrifft, und autoritative Ressourcen als Verfügungsmacht von Personen. Von entscheidender Bedeutung bei einer Definition von Struktur als Regeln und Ressourcen ist nun vorrangig, dass journalistische Institutionen zwar an das generelle gesellschaftliche Organisationsdispositiv gebunden sind, jedoch innerhalb dieses aufgespannten Rahmens eigene Strukturen, sprich Regeln und Ressourcen ausbilden können (vgl. Moldaschl & Diefenbach 2002).1 Somit lassen sich drei wichtige Bausteine einer Strukturtheorie des Journalismus herausstellen: (1) Ein Baustein besteht darin zu ermitteln, welche eigenen Ressourcen Journalismus generieren kann bzw. welches seine Kernressourcen sind und bei welchen Ressourcen es sich um generelle Ressourcen im Sinne des Organisationsdispositivs handelt. Eine derartige Analyse führt unmittelbar zurück zur Frage nach den Leistungen des Journalismus und sie erlaubt es, den Jounalismus von anderen Organisationen zu unterscheiden. Wenn die Leistung des Journalismus darin besteht, dass
1
Wenn hier plötzlich von journalistischen Institutionen gesprochen wird, so aus zwei Gründen: (1) Organisationen können als eine besonders ausgeprägte Form von Institutionen, also sozialen Regelwerken, angesehen werden (vgl. Esser 2000: 238 ff.). (2) Damit kann der irreführende semantische Zusammenhang von „Organisation und ihrer Struktur“ vermieden werden, denn Organisation ist Struktur (was bedeutet, dass eine Organisationstheorie des Journalismus vor allem eine Strukturtheorie ist, vgl. Blöbaum 2000).
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Klaus-Dieter Altmeppen er „Themen, die zielgruppenspezifisch als informativ und relevant gelten“ (Löffelholz 2003: 42) selektiert, bearbeitet und publiziert, sind dafür eindeutig andere Ressourcen notwendig als wenn Schuhe, Hemden oder Autos produziert werden. Bei allen Diskussionen um die Zukunft des Journalismus wird in der Regel vergessen, dass diese Leistung des Journalismus sehr spezifisch ist und eine Kernressource darstellt, die nicht umstandslos imitiert oder substituiert werden kann. Bei den Kernressourcen des Journalismus fällt des Weiteren auf, dass die Distribution nicht zu diesen Kernressourcen gehört. Der Journalismus ist allein zur Produktion der Information in der Lage, die Distribution ist das Geschäft (die Kernressource) der Medien (vgl. Altmeppen 2006). Eine organisationale Analyse trägt somit zu einer deutlicheren Grenzziehung des Journalismus bei, nicht allein im Hinblick auf komplett andere Branchen, sondern auch im Kernbereich im Hinblick auf Medienorganisationen. Die Differenz von Medien und Journalismus tritt umso deutlicher ins Bewusstsein, je weniger die Medien journalistische Berichterstattung und je mehr sie Unterhaltungsangebote offerieren. Die Gleichsetzung von Journalismus und Medien wird damit mehr und mehr zum Problem. So sprechen Weischenberg, Malik und Scholl (2006: 349) in ihrem neuesten Journalistenreport von „journalistischen Medienorganisationen“, was auch ein Reflex auf dieses Problem sein dürfte und die Frage aufwirft, was denn nicht-journalistische Medienorganisationen sind. Behauptungen jedenfalls, dass Medien ohne Journalismus nicht existieren könnten (vgl. Stöber 2005: 23), treffen angesichts der Aus- und Entdifferenzierungen im Mediensystem allenfalls noch auf Printmedien zu, da ihnen die Möglichkeiten der Diversifikation (wie sie etwa die Unterhaltung beim Fernsehen bietet) fehlen. Angesichts der digitalen Technologieentwicklungen dürften sich künftig aber die wechselseitigen Interdependenzen von journalistischen und Medienorganisationen noch weiter verflüchtigen.
(2) Ein zweiter Baustein behandelt die spezifische Kombinatorik von Ressourcen, die journalistische Organisationen verwenden können. Hierbei geht es darum, auf der Grundlage der Kern- und weiterer Ressourcen die jeweils sinnvollste (also ökonomisch und/oder publizistisch erfolgreichste) Ressourcenallokation zu erreichen. So können das Mitarbeiterpotenzial und die Organisationsreputation im einen Fall für einen investigativen Recherchejournalismus wie etwa beim Spiegel ge-
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nutzt werden, im anderen Fall für einen Boulevardjournalismus wie etwa bei den entsprechenden Fernsehmagazinen. (3) Schließlich bestimmt nicht allein das Vorhandensein den Wert von Ressourcen, sondern der Wert bestimmt sich vor allem aus dem Gebrauch der Ressourcen. In der eklatantesten Form werden journalismusspezifische Ressourcen vor allem dann unter die Lupe genommen, wenn zunehmend Unternehmensberatungen auch in Redaktionen nach Effizienz- und Effektivitätspotenzial suchen. Eine analoge Präzisierung lässt sich auch hinsichtlich der Regeln vornehmen. Journalistische Organisationen können ihre Regeln in eigenständiger Weise generieren (jedenfalls unter dem Schirm des Organisationsdispositivs), die Regeln in organisationsspezifischer Weise kombinieren und die Auslegung der Regeln in autonomer Weise engführen oder ausdehnen. Die Regelauslegung wird jedoch immer durch die Ressourcen beeinflusst, denn nur beide Faktoren zusammen ergeben Struktur. So ist das Ziel der journalistischen Organisation (als Sinnkonstitutionsregel) nicht einfach veränderbar, wenn nicht auch die Ressourcen an die Zielveränderung angepasst werden können (investigativer Journalismus kann nicht ohne entsprechend qualifiziertes Personal, ohne ausreichend Zeitreserven und ohne gute Quellenkontakte realisiert werden). Andererseits führt eine Verknappung journalistischer Ressourcen (durch Kostendruck, Personalreduzierung, Mehrfachaufgaben) nahezu automatisch zu Qualitätseinbußen. 4.2
Journalistische Organisation und Management
Wenn bislang davon die Rede ist, dass der Journalismus Regeln und Ressourcen ausbilden kann, ist das noch reichlich unbestimmt. Strukturbildung – in Form von Organisation – (vgl. Abbildung) findet „nicht einfach statt“, sie ist nicht per se gegeben, sondern sie ist das Ergebnis von Strukturation, ist das Ergebnis der Dualität von Handeln und Struktur. Erst die Interaktion kompetenter Akteure, die ihre Handlungen reflexiv steuern können, sorgt für Struktur, die im und durch das Handeln erst sichtbar und wirksam wird. Im Weiteren interessiert gerade dieses reflexiv, also bewusst gesteuerte Handeln, denn es verweist auf das Konstrukt der Führung.2 Führung definieren Bruch und Türk
2
Das in Handlungs- und auch in der Strukturationstheorie dominante Problem unintendierter Handlungsfolgen soll hier nur erwähnt werden.
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(in diesem Band: 267) in Anlehnung an Foucault als die „Strukturierung des Feldes möglicher Handlungen durch Handlungen“ und beziehen sich damit auf den „Set an Regierungspraxen“, den die Führung applizieren kann, um die Handlungen der Organisationsmitglieder anzuleiten. Es geht damit darum, wie Management in das Organisationsdispositiv einzuordnen ist. Dass Management und Organisation sehr eng zusammenspielen, wird deutlich bei einem Blick in die Grundlagenliteratur der Organisations- und Managementforschung, in der der jeweils andere Faktor immer mitdiskutiert wird (vgl. Steinmann & Schreyögg 2000). Bruch und Türk gehen davon aus, dass Führung (hier verstanden als das Redaktionsmanagement) eine bewusste Strukturierung des organisationalen Handelns vornehmen, indem die Ziele der Organisation durch das Management formuliert sowie Wege zur Zielerreichung definiert werden. Diese Führung geschieht aber nun selbst wiederum nur durch Handeln, das rekursiv mit Strukturen verbunden ist, sich also auf diese Strukturen bezieht, um im Weiteren dann die jeweiligen Strukturvorstellungen zu kommunizieren. Der Prozess der Strukturation greift somit auf doppelte Weise: Das Redaktionsmanagement, ausgestattet mit unterschiedlichen Machtmitteln (Anweisung, Anordnung, Überzeugung, Überredung), entwirft seine Zielvorstellungen selbst in einem rekursiven Prozess der Strukturierung, also gemäß spezieller Regeln und der Verfügung über Ressourcen. Dies ist der Punkt, an dem empirische Forschung ansetzen kann, indem sie nach den Zielvorstellungen des Redaktionsmanagements und nach den dahinterliegenden Motiven fragt. In Motiven wie Kostenreduzierung, Qualität der Berichterstattung, (publizistischem) Konkurrenzdenken und Quotenerfolg manifestieren sich spezifische Vorstellungen des Redaktionsmanagements über Regeln sowie Ressourcenverteilungen in journalistischen Organisationen. Deren Herkunft resultiert aus den Umweltbeobachtungen des Redaktionsmanagements (Welche Strukturen scheinen erfolgversprechend, sprich effizient und effektiv, für die eigenen Ziele?) sowie darauf aufbauenden Entscheidungen zur Veränderungen der Regeln und Ressourcen der Aussagenproduktion in der eigenen Organisation. Der Erfolg oder Misserfolg neuer Strukturen konkretisiert sich aber erst, wenn die Zielvorstellungen Teil des Handelns der Journalisten werden, die auf diesem Wege – wie das Redaktionsmanagement selbst – die Regeln und Ressourcen produzieren und reproduzieren. Über das Handeln werden die Strukturen auf Dauer gestellt, sie werden „rekursiv in Institutionen eingelagert“ (Giddens 1997: 76).
Das Organisationsdispositiv des Journalismus 4.3
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Journalistisches Handeln
Dies geschieht allerdings nicht maßstabsgetreu, denn die Strukturen ermöglichen journalistisches Handeln nur bis zu einem bestimmten Punkt, und sie beschränken es auch nur in bestimmter Weise. So können die Programme des Nachrichtenschreibens lediglich als generelle Regeln angesehen werden, über deren Anwendung im Einzelfall entschieden werden muss. Häufig ist es erforderlich, die Regeln zu erweitern, zu ergänzen oder sie abgewandelt anzuwenden. Die Rekursivität journalistischen Handelns äußert sich gerade darin, dass die Journalisten die Strukturen durch soziale Praktiken realisieren, die neben den Programmen informell institutionalisierte Handlungsweisen, Verfahrensschritte und Arbeitsabläufe enthalten, wie etwa durch eigenständig installierte Kommunikationswege, durch die individuelle oder koordinierte Gestaltung von Arbeitsvorgängen und in hohem Maße durch Abstimmungsprozesse. Der „Zwang“ zur Koordination – der wesentliche Grund für die Existenz von Organisation – hebt die Bedeutung der Interaktion im Strukturierungsprozess hervor, was wiederum auf den zentralen Stellenwert der Kommunikation verweist. Das ermöglicht es dann auch, den in der Journalismusforschung bislang noch weitgehend unbestimmt gebliebenen Begriff des journalistischen Handelns exakter zu fassen. Journalistisches Handeln kann als soziales Handeln verstanden werden, dass sich im Orientierungshorizont und in den instutionellen Ordnungen journalistischer Organisationen vollzieht. In die organisationalen Interaktionen bringen die Journalisten ihre vorjournalistischen Erfahrungen und Wissensvorräte, ihre Einstellungen und Werterahmen (die grundsätzlichen Deutungsmuster ihrer individuellen Handlungen) ein. Dabei fügen sich die nicht-journalistischen Deutungsmuster mit den journalistischen zusammen, wobei vor allem – aber eben nicht allein – die journalistischen Programme (als Strukturprägungen) wirksam werden. Die journalistischen Programme dienen dabei primär dem Zweck, ein organisationales Entscheidungshandeln zu ermöglichen, das zur Aussagenentstehung notwendig ist. Der Vollzug journalistischen Handelns ergibt sich erst aus der Kombination von Entscheidungshandeln und koordinierendem Handeln, das sich durch die Interaktionen im organisationalen Rahmen institutionalisiert, also strukturell verfestigen kann. Koordinierendes Handeln dient dazu, die Lücken in den Programmvorgaben auszufüllen. Die Rekursivität von Handeln und Struktur liegt darin, dass die journalistischen Programme einen Korridor darstellen, der bestimmte Ausschnitte der journalistischen Arbeit konkretisiert. Nur sehr spezifische Elemente des journalistischen Handelns sind geregelt. Darüber hinaus werden die Programme aber erst koordinierend, im reflexiven Handeln, konstituiert. Un-
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terschieden werden können dabei Koordinierungen des Handelns und Koordinierungen durch Handeln. In den Arbeitssituationen, in denen die Programme verbindliche Vorgaben darstellen, zum Beispiel beim Nachrichtenschreiben, leisten sie eine Koordinierung des Handelns durch präzise Regeln wie die Nachrichtenauswahl und verbindliche Muster des Nachrichtenaufbaus. Koordinationen werden dadurch nicht überflüssig, sind aber, im Vergleich zu anderen organisationalen Tätigkeiten, weniger häufig notwendig. Wo Programme diese Strukturierungsleistungen nicht gewährleisten können, durch Unspezifiziertheit der Aufgaben, durch Unangemessenheit im Hinblick auf die zu lösenden Probleme oder durch neue und unerwartete Problemstellungen (Krisen, Kriege, etc.), beginnt eine Koordinierung durch Handeln. Durch ihr koordinierendes Handeln stellen die Journalistinnen und Journalisten Konkretisierungen der Programme her, die sie demzufolge nicht nur reproduzieren, sondern auch erweitern, umformulieren und spezifisch deuten. Durch die Koordinationen werden fehlende Strukturierungen für die Arbeit hergestellt (zum Beispiel die Frage der Themenauswahl in der Unterhaltung), und es werden einzelne Strukturierungen verknüpft (zum Beispiel der Zusammenhang von Themen und Darstellungsformen). Dabei greifen die Journalistinnen und Journalisten auf vorgegebene Strukturierungen (vorhandene Regeln und bestehende Ressourcen) zurück und formen sie zugleich situationsspezifisch um, denn die Verständigungen können nur unter den Bedingungen geleistet werden, die die Ressourcen der Arbeit zulassen. Mit den Vermittlungsmodalitäten stellen die Journalisten Strukturen her, die auf organisationale Regeln und Ressourcen zurückgreifen, die aber situationsbezogen modifiziert werden müssen. Erst auf diese Weise, durch die Konstituierung des Arbeitsprozesses in rekursiven Handeln-Struktur-Beziehungen, entstehen journalistische Medienangebote. Weil die Strukturen unvollständig sind, bedürfen sie der deutenden, ergänzenden, entscheidenden und vermittelnden Eigentätigkeit der Journalisten – deshalb führen Programme zu Koordinationen. Und weil andersherum die Journalisten auch darauf bedacht sind, die Arbeitssituationen zu strukturieren und zu stabilisieren, entstehen Programme (oder, weniger tiefgreifend: Modifikationen von Programmen) durch Koordinationen. Die Erfahrungen, die die Journalisten aufgrund der koordinierenden Handlungen machen, sedimentieren im Wissensvorrat, sie werden institutionalisiert und stehen daher prinzipiell für ähnliche Situationen wieder zur Verfügung. Die Programme als Strukturrahmen ergeben zusammen mit dem individuellen, dem sozialen Handeln eines jeden Journalisten, das journalistische Han-
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deln. Die journalistischen Programme sind somit eine der wesentlichsten Vermittlungsmodalitäten zwischen der Interaktion und der Struktur. Vermittlungsmodalitäten sind verfestigte soziale Praktiken, auf Dauer gestellte Interaktionsmuster, die aber durchaus durchbrochen werden können, etwa wenn Störungen mit den gewohnten Interaktionsmustern nicht bewältigt werden können. Dann begeben sich die Journalisten auf die Suche nach alternativen Lösungsmustern, was wiederum häufig in Form von Interaktion geschieht. Hier liegt eines der wesentlichen Erklärungsmuster für strukturellen Wandel im Journalismus, der an der Veränderung von Regeln und Ressourcen gemessen werden kann, und zwar auf den Ebenen von Redaktionsmanagement und journalististischem Handeln in organisationalen Bezügen.
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Resümée
Das Regierungsdispositiv Organisation, wie es Bruch und Türk in die Diskussion einbringen, ist ein auf den ersten Blick sperriges Konstrukt, da es sich nicht ohne weiteres an die bisherige Forschung zum organisationalen Journalismus anschließen lässt. Sein unbestreitbarer Vorteil liegt, so kurios das klingen mag, darin, eine (organisationale) Gewöhnlichkeit des Journalismus zu konstatieren, denn dem Dispositiv der Organisation kann sich (auch) der Journalismus nicht entziehen. Er interagiert zunächst einmal nicht anders als andere Organisationen (aus der Wirtschaft, der Bürokratie), er wird in einem rekursiven Sinn gemanagt und damit von mikropolitischen Machtkonstellationen durchdrungen. Dies bedeutet jedoch eben nicht, dass der Journalismus einer organisationalen Determination unterliegt. Vielmehr wird erkennbar, dass die Strukturen des Journalismus nicht per se gegeben sind oder angeordnet werden, sondern in rekursiver Weise durch die Dualität von Handeln und Struktur hergestellt werden. Die Dualität von Handeln und Struktur gilt gleichermaßen für die Führung (das Redaktionsmanagement) wie für die Organisation selbst. Der Aspekt der Führung verweist – der Rekursivität von Handeln und Struktur folgend, der auch das Redaktionsmanagement unterliegt – darauf, dass die derzeit konstatierbaren Zerfallserscheinungen des Journalismus (Kommerzialisierung, Formatierung, Boulevardisierung, Entgrenzung) nicht allein außerhalb des Journalismus an gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen festgemacht werden können. Das Redaktionsmanagement bezieht die Informationen für seine Entscheidung aus den Beobachtungen der ökonomischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen. Es verdichtet diese Beobachtungen zu einzelorganisatorischen Entscheidungen, deren Umsetzung strukturprägend für
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die jeweilige Organisation ist und die in ihrer Gesamtheit das Phänomen Journalismus ausmachen. Vereinfacht wird ein Anschluss an das Konstrukt des Regierungsdispositivs der Organisation dadurch, dass Bruch und Türk selbst in ihrer Konzeption auf das Gedankengut der Strukturationstheorie zurückgreifen. Damit kann der Blick von Organisation (als gesellschaftlichem Ordnungsmuster) auf die einzelnen Organisationen gelenkt werden. Dies schafft die Voraussetzung dafür, nach den speziellen organisationalen Ordnungsmustern des Journalismus zu fragen. In den Vordergrund rücken dabei die rekursiven Strukturierungen zwischen und innerhalb von Führung und Organisation. Strukturierung ist ein aktiver Prozess, der erst durch (journalistisches) Handeln in Gang gesetzt wird und bei dem die Struktur das Handeln eben nicht nur beschränkt, sondern es überhaupt erst ermöglicht. Ein solches Konstrukt, das den (organisationalen) Prozess der Strukturierung ebenso definiert wie das journalistische Handeln als Interaktion, eröffnet Horizonte zur Erkundung des jederzeit dynamischen Organisationsgeschehens, das über eine Redaktionsbetriebslehre hinausgeht und nicht nach dem Zustand der Organisation fragt, sondern nach den Motiven, Gründen und Ursachen von Veränderung. Der Hebel dafür ist die – auch empirisch – adaptierbare Verwendung der Definition von Strukturen als Regeln und Ressourcen sowie von journalistischem Handeln als Medium und Ergebnis von Struktur. Auf dieser Grundlage ist es dann auch möglich, die Folgen des (häufig) strukturellen Wandels des Journalismus zu eruieren, denn das Regierungsdispositiv der Organisation besteht im interessengeleiteten, von Machtansprüchen durchsetzten Handeln der Organisationsakteure.
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INTERAKTION
Alle Rahmen krachen in den Fugen: Erkenntnistheoretische und soziologische Perspektiven bei Erving Goffman Robert Hettlage
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Lebensfluss und Zeitpfeil
Die offenkundige Kontradiktion, dass die Welt auf dem Zeitpfeil dahinschießt, das Erkennen aber ein Anhalten dieser Turbulenzen sein muss, hat die Menschheit immer schon fasziniert. Dass Menschen einen möglichst großen Spielraum für sich gewinnen wollen, aus eben diesem Grund widerwillig Rücksicht auf die anderen nehmen müssen, ist ein anderes unauflösbares Daseinsrätsel. Mit jeweils unterschiedlicher Denkrichtung wurde dafür auf die Gegensatzpaare von Werden und Sein, Leben und Begriff, Wandel und Ordnung, Individuum und Gesellschaft zurückgegriffen. Die Welt- und Geistesgeschichte oszilliert zwischen beiden Polen. Während manche historische Epochen eher für die Seite der Stabilität optierten, ist das vergangene 20. Jahrhundert weitgehend über die Termini „Wandel“, „Leben“ und „Individuum“ zu erschließen. Erkenntnistheoretische und soziologische Betrachtungsweisen sind dabei gar nicht voneinander zu trennen. Das „Leben“ durchpulst die Welt, lässt sich aber „intellektualistisch“ über Definitionen, Konzepte und feste Gestalten kaum unmittelbar erfassen. Denn: Der Begriff des Lebens, als die Summe aller nacheinander auftretenden Augenblicke ist [...] an dem kontinuierlichen Fluss des realen Lebens gar nicht zu vollziehen, setzt vielmehr an dessen Stelle die Addition jener, nach Sachbegriffen bezeichenbaren Inhalte [...] insofern sie gerade nicht als Leben, sondern als irgendwie fest gewordene ideelle oder dingliche Gebilde gelten (Simmel 1985: 1).
Diese Spannung war Simmel durch die Lebensphilosophie seines Zeitgenossen Henri Bergson (1964) vermittelt worden. Dieser empfahl, den dauerhaft flie-
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ßenden Lebensstrom ganzheitlich, d.h. intuitiv und einfühlend, zu begreifen. Denn der Lebensschwung (elan vital) bringe ständig neue Formen hervor, die aber unweigerlich in epistemologischen und gesellschaftlichen Aggregatszuständen erstarrten. Das an sich Unteilbare würde in begriffliche Teile zerlegt, die schöpferische Lebens- und Gesellschaftswirklichkeit sei dieser Technik aber immer ein Stück voraus. So wie Begriffe immer zu eng für das Leben sind und das Verborgene kaum „entbergen“ können, so steht es auch mit dem gesellschaftlichen Ordnungsanspruch. Der Mensch lebt in einem permanenten Spannungszustand. Allein die Notwendigkeit der Bedürfnisbefriedigung zwingt ihn in gesellschaftliche Formen der Produktion und des Konsums und in einen Prozess kreativer Konstruktion und Destruktion hinein. Die Folgen der kontinuierlichen wissenschaftlichen und technologischen Innovation sind unvorhersehbar. Schon deswegen sehen sich die Menschen gedrängt, sich jenseits der gesellschaftlichen Aggregate, Gesetze und Wandlungstendenzen in ihrem eigenen Lebensschwung zu profilieren. Aber auch durch diese Reflexivität wird das gesellschaftliche Leben unaufhörlich umgestaltet. Während das 18. Jahrhundert aus der Lösung von den gesellschaftlichen Fesseln das Freiheitsbedürfnis gewann, versuchte das 19. Jahrhundert, den Aspekt der Allgemeinheit durch Gleichheitsforderungen zurückzuerobern. Das 20. Jahrhundert hingegen war von der Leitidee geprägt, dass sich die unverwechselbaren Individuen in ihrer Differenziertheit und Unergründlichkeit wieder unterscheiden wollen. Modernes, individualisiertes Leben bedeutet nicht mehr nur gleiche Persönlichkeitsrechte, sondern auch Verwirklichung der unvergleichlichen Besonderheit. Simmel (1970: 92) drückt das so aus: Alle Verhältnisse zu anderen sind so schließlich nur Stationen des Weges, auf dem das Ich zu sich selber kommt: mag es sich den anderem im letzten Grunde gleich fühlen, weil es [...] noch dieses stützenden Bewusstseins bedarf, [aber] die vielen [sind] eigentlich nur da, damit jeder einzelne an den anderen seine Unvergleichlichkeit und die Individualität seiner Welt ermessen [kann].
Hier, an dieser Doppelthematik, setzt der „Simmel-Schüler“ Erving Goffman (1922-1982) an. Der Strom des Lebens drückt sich in der unablässigen Abfolge von Interaktionen aus. In ihnen entwirft sich das Individuum auf die Welt der Mitmenschen hin. In der Kommunikation mit ihnen deutet es sich als unvergleichlich, muss von den anderen aber in diesem Anspruch auch anerkannt, also „richtig“ gedeutet werden. Es bedarf des gegenseitigen „Fest-Stellens“, ohne dass es gelänge, das jeweilige Individuum in seiner Einzigkeit und Besonderheit wirklich einzufangen. Darin drückt sich der dauerhafte Gegensatz von
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Individualität und Gesellschaft, Person und Institution aus. Je höher die Arbeitsteilung und soziale Differenzierung, desto mehr kommen sich die Geltungsansprüche der Interaktionspartner ins Gehege. Je dringlicher die gegenseitige Ergänzung der unterschiedlichen Lebensentwürfe, desto stärker geraten der Individualismus des „Andersseins“ und der Ordnungsanspruch gegenseitiger Verregelmäßigung in Konflikt. Mit anderen Worten: Das Drama des Lebens besteht in einer konstanten Doppelbewegung: Nämlich einmal darin, den Anderen ständig suchen zu müssen, um sich sogleich von ihm wieder abzuheben. Will aber das Individuum autonom sein, dann wird es darin aber im nächsten Handlungszug schon wieder überwunden, weil es nur durch den Anderen zum Selbst gelangen kann. Im Strom des eigenen Handelns kann man dem Anderen nicht entfliehen. Man ist in eine dauerhafte Spannung aus Nähe und Distanz eingespannt. Goffman theoretisch zu verorten ist nicht leicht, da er sich aller Vereinnahmung durch Schulen und Denktraditionen immer wieder entzieht. Der Grund liegt wohl darin, dass er Theoriekämpfe für unfruchtbar und LehrerSchüler-Verhältnisse dem Abenteuer des Selber-Denkens für abträglich hielt. Auch wollte er es den Exegeten nicht so einfach machen. Stattdessen gab er sich mit einem Augenzwinkern und wohlwissend um die Unmöglichkeit „reiner“, naturalistischer Beobachtung als Empiriker des Alltäglichen aus. Viele haben das ernst genommen. Daher auch die häufigen Missverständnisse, die dazu geführt hatten, dass Goffman lange als Geschichtenerzähler von Episoden und Kuriositäten im Mikrokosmos der kleinen Interaktionen verstanden wurde. Das hatte ihm zwar eine hohe Popularität auch in den Nachbardisziplinen eingetragen, doch andererseits dazu geführt, den hohen theoretischen Anspruch dieses Soziologen zu verkennen.
2 2.1
Goffmans Intuition: Der immerwährende Kreislauf des Verstehens Der Ansatz der verstehenden Soziologie
Ohne Zweifel bewegt sich Goffman im weiten Umkreis einer interpretativen Soziologie. Ihr zufolge haben gesellschaftliche, ja alle raum-zeitlichen Phänomene nur als symbolische Ausdrucksformen von Sinn einen Zusammenhang mit dem Handeln. Aufgabe der Soziologie ist es, diese Bedeutungen zu verstehen. Dafür muss man in das interaktive Geschehen eintauchen, die verwendeten Symbole kennen, mit ihnen umgehen lernen, Situationen unterscheiden
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und allmählich ein Gesamtbild des Handelns (und der Kultur) rekonstruieren. Alltagserkenntnis und wissenschaftliche Beobachtung unterscheiden sich hierin vorerst kaum.
Am ehesten kann man zu den Sinnkonstrukten der einzelnen Handelnden vordringen, wenn man nach Weber (1968: 237ff.) einen rationalen Handlungstypus zugrunde legt. Denn dann setzt der Handelnde die für seine Ziele gebotenen Mittel so transparent ein, dass der Beobachtende im Alltag und der Beobachter auf der zweiten Ebene (d.h. der Wissenschaftler) den Zusammenhang unschwer herausfinden können. Dass wir dabei mit einer Reihe von Unterstellungen („immer weiter so“, RelevanzÜberschneidungen, Motivationsstrukturen) und mit jeweils in der Biographie verankerten Wissensvorräten operieren, hat Alfred Schütz (1970: 53ff.) ergänzend herausgearbeitet. „Verstehen“ heißt in diesem Fall, eine Hypothese aufzustellen, die auf die Ziele verweist, welche der Handelnde mit rationalen (oder anderen) Mitteln verfolgt (Rex 1970: 197). Jeder Handelnde wird solche Hypothesen aufstellen, wenn er mit seinem Gegenüber zu tun hat. Er wird ihn zunächst mit rationalen Unterstellungen zu verstehen versuchen, um dann für Abweichungen zusätzliche Erklärungen zu finden. Schwieriger wird es dann, wenn nicht-rationales Handeln zu erwarten ist. Hier sind wir in unserem Verstehen und in unseren „WirBeziehungen“ unsicherer. Nicht dass wir keine Hypothesen bilden könnten. Nur tappen wir dabei stärker im Dunkeln. Die Erfahrungswerte, die wir zum Auffinden von Hypothesen einsetzen, sind nicht stark erhärtet, sondern können schnell enttäuscht werden. Denn die Gefühlsäußerungen anderer Menschen sind in ihrer affektiven Dichte, in ihren psycho-sozialen Verschlingungen, in ihrer Geschichte und ihrer interaktiven Reichweite von außen schwer zu durchdringen. Die psychoanalytische Praxis kennt dieses Problem und weiß um die Widerstände und den Aufwand an Zeit und Empathie, der nötig ist, um solche Verstehensschichten freilegen zu können. Die eine Unsicherheit ist also eine hermeneutische. Die Ziele sozialen Handelns sind variabel und weisen eine höchst mannigfaltige Vielzahl von Varianten auf. Jeder muss zunächst Modelle und Muster entwickeln, mit denen er typisch menschliches Handeln rekonstruiert, um damit die weniger luziden Zonen des Handelns einzugrenzen. Die andere Schwierigkeit, warum uns – im Sinne der Weber’schen Handlungstypologie – affektives und traditionales Verhalten weniger transparent erscheinen, ist diejenige, dass Rituale und Symbole mit den symbolisierten Realitäten nur auf recht lose und willkürliche Weise verbunden sind. Was
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sozial gelten soll, muss zwischen den Handelnden ausgehandelt werden. Verstehen ist somit ein Dauervorgang, der sich auf Handlungsimpulse und Reaktionsbereitschaften, auf Handlungswahrnehmungen, Wahrnehmungskorrekturen und gegenseitige Abstimmung von Perspektiven bezieht. Dabei ist von allen Teilnehmern einer Interaktion eine gespannte Aufmerksamkeit bei der Wahrnehmung der physischen und besonders der sozialen Objekte in ihrer jeweiligen Umwelt von Nöten. Auf dieses Wechselspiel zwischen den Handelnden und ihrer gesellschaftlichen Einbettung hat Herbert Blumer (1969: 10) verwiesen. Die symbolisch interaktive Perspektive besteht gerade darin, den Fokus darauf zu lenken, dass und wie sich Akteure ihre Handlungen und deren rationale und/oder emotionale Ladung gegenseitig anzeigen. Auf dieser symbolischen Basis erfolgt die Interpretation des eigenen und des gemeinsamen Tuns. Dadurch werden gemeinsame Situationen hergestellt, in der die Objekte für die Teilnehmer eine Bedeutung erhalten und eine Welt im Kleinen konstruieren. Die Bedeutung der Objekte ist also nicht einfach vorgegeben oder eine bloß neutrale Verbindung von Faktoren, sondern ergibt sich aus dem interpretativen Kontext. Handeln ist folglich nicht nur das Ergebnis vorgeformter Erwartungen oder festgelegter Dispositionen, sondern das Resultat eines andauernden Wechselspiels der Teilnehmer einer Situation. Diese erarbeiten sich dadurch das Verständnis ihrer gemeinsamen Handlungsentwürfe und -probleme und konstruieren sich damit ihre Wirklichkeit. Dabei reagieren die Teilnehmer nicht nur passiv aufeinander, sondern zeigen sich – selbstreflexiv – gleichzeitig ihre Deutungen an. In diesem Deutungs- und Lernprozess bildet sich Gesellschaft im Kleinen und im Großen. 2.2
Goffmans eigene, verstehende Perspektive
Goffman ist die verstehende Soziologie aufgrund seiner Lektüre von Schütz und durch seine Zeit in Chicago im Umfeld von Blumer durchaus vertraut, auch wenn er sich gegen alle Vereinnahmungen zur Wehr setzt. Er tut das wohl, um seinen eigenen Blick auf das Verstehen plastischer herausarbeiten zu können. Ganz im Sinn des symbolischen Interaktionismus verlegt er sich auf die Deutungskreisläufe zwischen Personen und die Art und Weise, wie diese – in unmittelbarer Gegenwart anderer – einen wenigstens vorläufigen Arbeitskonsens über die Beschaffenheit ihrer Wirklichkeit bewirken. Von bestimmten vorstrukturierten Situationen ausgehend inszenieren Menschen ihre Handlungsentwürfe, versuchen sie trotz aller Risiken, Ausnahmen und Verletzbar-
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keiten aufrechtzuerhalten und zu einem guten Ende zu steuern, d.h. zur Akzeptanz zu führen. „Unterwegs“ kann aber viel passieren, so dass es auch zu Umorientierungen, Abbrüchen, Neuansätzen und damit Neudefinitionen kommt. Diese sind der Ausgangspunkt für die nächste Deutungs- und Handlungsrunde. Dabei geht es Goffman weniger um die subjektiven Deutungsperspektiven der Handelnden als solche. In Anlehnung an Simmels „Formalismus“ und an den Strukturalismus (Collins 1986) möchte er vielmehr formale Interaktionsstrukturen im Alltag beschreiben, wie sie sich, trotz aller schwankenden Verstehens- oder Akzeptanzerfolge, trotz aller Zwischenfälle auf dem Weg zur „richtigen“ Interpretation, herauskristallisieren. Dahinter möchte Goffman (1999: 8) die Beziehungssystematik zwischen den Handlungen gleichzeitig („face to face“) Anwesender studieren. Dafür experimentiert er mit einer Vielzahl von Konzepten, mit denen er dieses pulsierende „Leben“ einzufangen gedenkt. Seine Vorgehensweise der suggestiven Analogisierung, aber auch der Dekonstruktion, wurde als „konzeptueller Konstruktivismus“ bezeichnet (Williams 1983). Für Lofland (2000) war Goffman sogar der „master coiner“ des jeweils treffenden Begriffs.
Die dramaturgische Perspektive wird in den frühen Arbeiten zugrunde gelegt. In „Wir alle spielen Theater“ (Goffman 2000) weist er auf die besonderen Handlungen der Individuen unter den Bedingungen physischer Kopräsenz hin. Denn die Welt ist – so gesehen – eine Bühne, auf der sich die Einzelnen in ihrem Alltag präsentieren und bestimmte Rollen aufführen. Dabei lassen sich die Interaktionen in zentrierte und nicht-zentrierte (fokussierte) unterscheiden (so in seinem Buch „Interaktion: Spaß am Spiel, Rollendistanz“). Dabei zeigt sich schon, dass die Begegnungen einem unsichtbaren, normativen Regelwerk unterliegen, „unabhängig davon, ob es sich um öffentliche, halböffentliche oder private Orte“ (Goffman 1971: 8), ob es sich um lockere Routinen oder ob es sich um Verhalten bei „sozialen Gelegenheiten“ handelt. „Das Individuum im öffentlichen Austausch“ (Goffman 1982) bedarf sogar dieser strukturierten Anpassung an die normative Ordnung, damit die Interaktion in geordneten Bahnen verläuft und die Menschen – gerade wegen der Einschränkung ihrer Darstellungsspielräume – Verhaltenssicherheit erlangen. Andernfalls wäre die Definition der Situation zu vorläufig. Das gilt auch noch im Fall eines sozial anstößigen „Stigmas“ (Goffman 1998). Denn sogar das „Abnormale“ muss durch „Stigma-Management“ im alltäglichen Verkehr zwischen den abweichenden und den normalen Gesellschaftsmitgliedern verhandelt und jeweils neu geeicht werden (Kusow 2004: 180f.).
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Während in den anfänglichen Arbeiten das strategisch sich inszenierende Spieler-Selbst im Vordergrund stand, geht es Goffman in den späteren Arbeiten, besonders in der „Rahmen-Analyse“ (1996), eher um die andere Seite der Medaille: um die Organisationsweise der alltäglichen Begegnungen. Diese umschreibt er mit den Konzepten der interpersonellen Rituale, der Interaktionsordnung und der sozialen Rahmung. Auch wenn Goffman eine systematische Theoriebildung keineswegs beabsichtigt, versucht er doch zu zeigen, dass sich die Individuen in ihrem Austausch nicht nur dauernd maskieren, sondern auch berechtigten kognitiven Erwartungen und moralischen Grundregeln gehorchen. Ausgehend von einer vorläufigen Normalitätsannahme, konstituieren die Beteiligten durch dieses Vorverständnis „sinnhaft“ aufeinander bezogene Handlungen, ja sogar ihre Bedürfnisse. Der Sinn bildet sich folglich in der Interaktion selbst. Der Rahmen ist aber nicht ein für alle Mal gefestigt. Er wird ständig umgebildet, ja er kann sogar auseinander fallen, so dass die Ordnung wieder gänzlich neu gefunden werden muss. Auf diese Weise ergibt sich eine ständige Spirale aus Vor-Definitionen, Engagement, kommunikativer Anerkennung, Enttäuschungen, Verletzungen, Blockaden, Rückzügen auf vorläufig gesicherte Territorien und neuen Verfügbarkeiten für die nächste Deutungsrunde. In „Rahmen-Analyse“ wird das ganz deutlich, denn hier zeigt er, wie stark die kulturellen Deutungsmuster und deren sozialisierte Normalität durch Unterwanderung der etablierten Deutungen ständig in Bewegung sind. Niemals ist ein für alle Mal gesichert, was in der Begegnung „eigentlich vor sich geht“. Situationen müssen also fortlaufend neu- oder nachinterpretiert werden, wenn man sich nicht hoffnungslos im Gewebe von jederzeit möglichen Rahmungsirrtümern, bewussten Täuschungen oder intransparenten Theateraufführungen verstricken will.
Interaktionen sind deswegen als interaktive Kommunikationssysteme zu begreifen, in denen die Darstellungszwänge der Teilnehmer und die nötigen normativen Rahmungsfestlegungen in einem gegenseitigen Abstimmungsverfahren zu einer vorläufigen Deutungskongruenz gebracht werden. Diese Kreisläufe sind im Folgenden genauer zu untersuchen.
3
Deuten und Darstellen: Goffmans dramatologischer Ansatz
Berühmt geworden ist Goffman vor allem durch seine frühen Arbeiten. Sie wurden unter dem Etikett des dramaturgischen Handlungsmodells subsumiert. Obwohl er nicht davon ausging, dass die ganze Welt eine Bühne sei, ist doch
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die Bühnenmetapher mit seinem Namen eng verbunden geblieben. Offensichtlich haben seine witzigen Detailbeobachtungen über den Alltag der face-toface-Begegnungen so viel Realitätsnähe, dass sich fast jeder in ihnen wiedererkennen kann. Wer hat nicht selbst schon mit Konfusionen und Verlegenheiten zu kämpfen gehabt, die daraus entstanden, dass uns eine „Aufführung“ (z.B. das Erzählen eines Witzes) nicht richtig gelungen ist, und wir nun versuchen müssen, unser Gesicht zu retten. Insofern ist die Unterstellung recht suggestiv, die Handelnden zunächst einmal so zu behandeln als seien sie Schauspieler, die sich in einem Theater vor einem Publikum präsentieren und dieses von der eigenen, möglichst gelungenen Darstellung einer Rolle überzeugen müssen. 3.1
Interaktion: Einigung auf reflexive Darstellungsformen
Tatsächlich macht es einen guten Sinn, jede Interaktion als von einem vierfachen Zwang geleitet anzusehen. Einerseits gilt „Kopräsenz“, d.h. keiner kann gänzlich ohne andere auskommen, hat sich also an anderen auszurichten (Interaktionszwang). Dabei muss er sich zwangsläufig irgendwie „zeigen“, weil er in Anwesenheit anderer nicht nicht kommunizieren kann (Watzlawick, Beavin & Jackson 1974: 50ff.). Diesem „Kundgabezwang“ (Srubar 1994: 15) steht schließlich der jeweilige „Interpretationszwang“ gegenüber. Denn jeder muss erkennen, was „hier eigentlich vor sich geht“, wenn sich jemand über bestimmte körperliche Signale zu erkennen gibt. Zumindest muss er durchschauen lernen, was andere von sich in die Interaktion einzubringen bereit sind. Erfolgreich sind Kundgabe, Interaktion und Interpretation nur, wenn man dabei auch die Perspektive des Anderen mit einbezieht. „Richtig“ kann nur handeln, wer sich immer auch in die Rolle des Anderen versetzt (Reflexivitätszwang). Da jeder Einzelne folglich als Handelnder und als Beobachter auftritt, laufen in ihm die Positionen von ego und alter ständig durcheinander. Zunächst unterscheidet Goffman Formen der Präsenz und Formen der Information. Gemeinsame Anwesenheiten setzen voraus, dass Menschen einander physisch nahe genug sind, um sich gegenseitig wahrgenommen zu fühlen und „gesehen“ zu werden. Diese Erwartung äußert sich in wechselseitigen Informationen sprachlicher und sonstiger expressiver Art (Nicken, Grüßen, Lächeln). Denn jeder hat im „öffentlichen Raum“ der Kopräsenz – seien es Begegnungen oder andere, mehr formelle Anlässe – gewisse „situationelle Verpflichtungen“ gegenüber Bekannten oder Unbekannten. Dazu zählen angemessene Kleidung, territorialer Respekt, Gesprächsrituale und die Kontrolle des eigenen Körpers (Körperdistanz). Die jeweils zu beachtenden Regeln hängen von der Typik der Situationen ab (Party, Spiel, Diskussionsrunde etc.). Mit
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anderen Worten: Situationen werden mit Normen und Ritualen belegt, deren Befolgung man in diesem speziellen Raum erwarten darf. Außerhalb dieser raum-zeitlichen Grenzen sind die Verpflichtungen anderer Art oder erlöschen gänzlich. Deshalb verwendet Goffman für die Präzisierung der Situationserfordernisse auch das Konzept der Territorialität. Denn face-to-face-Interaktionen sind an Räume gebunden, innerhalb derer der direkte Informationsaustausch stattfinden kann. Hier liegt ein erster Hinweis auf die Rahmungsnotwendigkeit vor. 3.2
Das Kommunikationssystem der Interaktion
Den hohen gegenseitigen Verpflichtungsgrad in Begegnungen illustriert Goffman durch das Konzept des Engagements. Schon der Eintritt in soziale Situationen ist durch angemessene Blickkontakte als Zeichen für „Anwesenheit“ normativ geregelt. Zugänge zu Begegnungen bedürfen wenigstens einer „persönlichen (gestischen) Fassade“, aus der Alter, Geschlecht und „Zugänglichkeit“ abzulesen sind. Jeder Teilnehmer muss sich und den anderen die jeweils situative Verfügbarkeit für den in Gang gesetzten Handlungsablauf einer Unterhaltung oder einer Teamarbeit etc. darstellen. Kann er sich nicht voll auf die Situation einlassen, dann muss er seine unangemessenen geistigen Abwesenheiten („inadäquates Engagement“) wenigstens verhüllen und schützen („Engagementschutz“). Schließlich kann es ja durchaus sein, dass sich jemand gleichzeitig mehreren Aktivitäten widmet, indem er zum Beispiel mit jemandem redet und gleichzeitig einen Dritten beobachtet. Deswegen unterscheidet Goffman Haupt- und Nebenengagements, dominante und untergeordnete Engagements. Das An- und Wegblicken in nicht-zentrierten Interaktionen bezeichnet er als „höfliche Gleichgültigkeit“ (Goffman 1971: 85). Die visuelle Beachtung muss sogleich wieder zurückgenommen werden, um „besondere Absichten“ zu neutralisieren. Wir kennen dieses Spiel von den ersten „interessierten“ Kontaktaufnahmen her. Bei zentrierten Begegnungen hingegen ist reger Blickkontakt als Ausdruck erhöhter Zugänglichkeit sogar gefordert. Hierüber steuern sich die ganzen Abläufe – vom Beginn bis zum Ende. Nichts ist irritierender oder beleidigender, als mit jemandem im direkten Kontakt zu stehen, ohne dass der andere diesen gestisch entsprechend untermauert. Beziehungszeichen sagen aber auch etwas über den Akteur selbst aus. Sie untermauern nämlich ein mehr oder weniger kohärentes (Selbst- und Fremd-) Bild des betreffenden Individuums. Denn jeder Handelnde muss bemüht sein, den von ihm gezeigten Eindruck zu kontrollieren, um dadurch eine situationsgemäße Darstellung zu „fabrizieren“. Denn die Teilnehmer erwarten eine kon-
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sistente, persönliche und soziale Identität. Der Handelnde symbolisiert nicht nur Handlungen, sondern immer auch sich selbst als Ganzes und seinen Geltungsanspruch im sozialen Feld. In der modernen, profanen Gesellschaft ist die eigene Persönlichkeit das letzte sakrale Objekt, das uneingeschränkten Anspruch auf Verehrung, Akzeptanz und Respekt erheischt. Der Schutz der Persönlichkeitsrechte hat nicht nur eine makro-, sondern schon eine mikrosoziologische Bedeutung. Das heilige Selbst muss in der Interaktion – auf beiden Seiten – jederzeit bestätigt und gesichert werden. Dem dienen die Begegnungsrituale. Als konventionalisierte soziale Verklammerungen (Begrüßungs- und Verabschiedungsrituale) bereiten sie vorab einen vorläufig gesicherten Boden für den erwartbaren Ablauf der Interaktion. Sie bewirken aber mehr: nämlich soziale Anerkennung. Denn in ihnen bezeugt „ein Individuum seinen Respekt und seine Ehrerbietung für ein Objekt von höchstem Wert“ (Goffman 1982: 97). Und was gibt es aus der subjektiven Sicht wertvolleres als das eigene Selbst? Kommunikation ist nie wirklich „zwanglos“, sondern folgt dem zwanglosen Zwang des weiterlaufenden Lebens. Man muss auch künftig mit gewissen Personen weiterhandeln können, d.h. man muss die Begegnungen durch rituelle Kontrollen „anschlussfähig“ halten. Aber auch wenn man sich noch so stark kontrolliert, werden immer mehr Informationen mitgeteilt, als man selbst beabsichtigen mag. Deswegen unterscheidet Goffman zwischen Informationsflüssen, in denen Beziehungszeichen gegeben (signs given) oder weggegeben werden (signs given off). Bei „gegebenen“ Informationen zeigt eine Person das an, was sie andere wissen lassen will. Bei weggegebenen Informationen werden unfreiwillige Hinweise in Gesten eingebaut, durch die der Akteur, ohne dass er darüber vor sich völlige Klarheit gewinnt, seine eigene Glaubwürdigkeit zu Markte trägt. Denn er setzt über den Tonfall, über Erröten, Stirnrunzeln oder sein äußeres Erscheinungsbild häufig ungewollte Akzente, die das Gegenüber zur Neubewertung der Information (oder Situation) veranlassen. Denn jede irgendwie geartete Information fließt vom Handelnden zum Publikum, und von diesem – als reflektiertes Image – wieder zurück zum Akteur. Im besten Fall kann er daraus ablesen, wie gut oder schlecht er seinen Part gespielt hat und welche Korrekturen er vorzunehmen hat. Daraus ist zweierlei abzuleiten: einerseits der unhintergehbare Darstellungszwang, andererseits die Aufrechterhaltung des eigenen Selbstbilds. In Goffmans Interaktionstheorie ist ego jemand, der sich nicht nur wegen seines Geltungsdrangs, sondern auch – viel fundamentaler – wegen der Notwendigkeit, sein Selbst zu schützen, ständig darum bemüht, seinen Ausdruck
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sorgfältig zu kontrollieren, also einen guten Eindruck zu hinterlassen. Er hat deshalb immer den Anderen, ein Publikum und sich selbst im Auge. Mit anderen Worten: Er muss Eindrucksmanagement („impression management“) betreiben, damit er so gelassen oder engagiert wie nötig, so selbstsicher und gewandt wie möglich erscheint. Diese Informationen tragen entscheidend zur Definition der Situation bei. Gelingt diese Darstellung nicht (z.B. durch Verlegenheit und Ungeschicklichkeit), dann werden nicht nur die Ereignisse empfindlich gestört, es kommt auch, was noch schlimmer ist, zu einer Gefährdung des Bildes, das andere glauben, sich von mir machen zu müssen. Damit steht sogar mein Selbstbild zur Disposition. Um das klarzumachen, wendet sich Goffman den Techniken der Imagepflege zu. Vorab muss er zwischen dem dargestellten Selbst und dem Darsteller unterscheiden. Das Erstere bezieht sich auf den Schauspieler, der nach der gelungenen Verkörperung einer Figur und angemessenen Inszenierung trachtet (Goffman 2000: 230). Wie die „weggegebenen“ Zeichen verdeutlichen, kann die Darstellung nicht ganz von dem dahinter verborgenen Darsteller und seinem verletzlichen, sakrosankten Selbst abstrahieren. Insgesamt gilt aber, dass man von anderen über die dargestellten Bilder und Rollen (Alter, Geschlecht, Schicht) identifiziert werden muss. Das macht die soziale Identität aus. Diese aber umhüllt eine einzigartige Biographie und situative Vorerfahrungen, die als persönliche Identität in die soziale Interaktion hineingetragen und dort identifiziert werden. Jeder ist zur situationsgerechten Darstellung seines Selbst – in beiden Identitätsschichten – nicht nur verpflichtet (Pflicht zur Kundgabe), er kann auch nicht anders, als über sich selbst solche relevanten Informationen preiszugeben. Die Regeln der Kundgabe schlagen zwangsläufig in Erwartungen an das Individuum um. Was aneinander bindet sind für gewöhnlich die gegenseitigen Vorschriften und Erwartungen hinsichtlich des kontrollierten Umgangs miteinander. Dabei sind die Pflichten der einen Seite zugleich die Erwartungen der anderen (Goffman 1982: 255). Diese harte Notwendigkeit schränkt die ursprüngliche Theatermetapher erheblich ein. Denn die Menschen stehen nicht einfach auf einer Bühne und sondern beliebige Bilder von sich ab. Jede Darstellung wird auch immer unter dem Gesichtspunkt der Selbst-Darstellung (und Selbst-Gefährdung) relevant. Es ist die Eigentümlichkeit der Kommunikation, dass jeder dabei, ob er will oder nicht, Informationen über sich (als Selbst) herausrücken muss, um überhaupt mit anderen Kontakt aufnehmen zu können. Die Darstellung einer Rolle kann nicht gänzlich ohne die – wenigstens partielle – Darstellung des dahinter versteckten Selbst auskommen (vgl. Goff-
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mans berühmte Ausführungen zur so genannten Rollendistanz). Beides ist Pflicht und wird dementsprechend erwartet. Denn die Darstellung des Selbst ist Beweis dafür, dass man in der Lage ist, vor einem Publikum überhaupt eine Rolle zu spielen (Goffman 1973: 109). Diese Dreifachkompetenz zu bewältigen, nämlich mit anderen zu kommunizieren, eine „Sache“ darzustellen (z.B. ein Thema, eine Rolle) und sein Selbst dabei durchblicken zu lassen, stellt den Einzelnen vor schwierige Managementaufgaben. Natürlich soll nicht in Abrede gestellt werden, dass der Einzelne dabei absichtlich auch Fehlinformationen erzeugen kann. Das stellt die Interaktionspartner vor erhebliche Verstehensleistungen. Denn ein zutreffendes Urteil über den „wahren“ Wert einer Aussage, einer Geste oder eines Bildes gelingt nur, wenn jemand Vorinformationen über die darstellende Person besitzt, wenn er „weggegebene“ Informationen erkennt und somit den Hiatus zwischen dargestelltem und darstellendem Selbst überwindet. In der reflexiven Verknüpfung mag das handelnde Ego dies wiederum voraussehen und die Informationen über die eigene Person (erneut) manipulieren wollen. Solche Schutzmaßnahmen für das eigene Selbst macht Goffman an der Unterscheidung zwischen Vorder- und Hinterbühne klar. Auf der Vorderbühne gelten die Regeln des Anstands und der Höflichkeit. Diese müssen nicht in wahrhaftiger Gesinnung befolgt werden. Strategische Verhaltensweisen sind nicht ganz unwahrscheinlich. Auf der Hinterbühne bedarf man solcher Masken hingegen nicht, da nur einigen Wenigen der Blick hinter die Fassade freigegeben wird. Auf der Vorderbühne (etwa bei Beerdigungen) mag die Illusion der „wahren Gefühle“ verbreitet werden, während auf der Hinterbühne die strategisch unstimmigen und „unanständigen“ Reaktionen zum Zug kommen. Die Trennung der Szenen und der Publika setzt voraus, dass man die Interaktion gewissermaßen zweiteilen kann. Das gelingt häufig dadurch, dass man der körperlichen Fassade (Kleidung, Schmuck, Make-up) und der sozialen Fassade (Rollenkompetenz) den Raum einer privaten Kulisse der Vorbereitung und des Trainings vorschaltet. Nur wenige Verschworene (das „Ensemble“) dürfen bei der dramaturgischen Einübung als kritisches (Teil-)Publikum mitarbeiten. Für das nicht eingeweihte eigentliche Publikum „vorne“ ist es deswegen keineswegs immer klar, ob ein dargestelltes „Image“ einen richtigen oder einen falschen Eindruck vermittelt. Wird er als aufgesetzt oder unehrenhaft durchschaut, dann stellt er nicht nur die Aufführung, sondern das Selbst schlechthin in Frage. Je nachdem, ob die Inszenierung als diplomatisch, raffiniert oder lügnerisch gewertet wird, fällt das Gesamturteil über die Persönlichkeit gnädig, mitleidig oder vernichtend aus. Deswegen muss der Spieler auf hohe Konsis-
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tenz seiner Spielzüge achten. Werden ein Ereignisverlauf oder eine Mitteilung den Regeln entsprechend stimmig dargestellt, so kann der Handelnde die gewünschte Bestätigung durch sein Gegenüber erhoffen. Praktiken und Konventionen schützen beide Seiten. Sie legen das Maß der „richtigen“ Aufmerksamkeit fest, grenzen störende Unterbrechungen und Beleidigungsrisiken ein und führen Gespräche an den Klippen des möglicherweise irritierenden Abbruchs vorbei. Insofern ist die Wahrung des jeweiligen Images die Bedingung für eine gelungene Interaktion. Werden Brüche im Eindrucksmanagement festgestellt, dann lässt das Publikum die „Aufführung“ unter Umständen platzen. Als Sanktion wird es nicht nur die Darstellung als eine solche entlarven, sondern auch den Darsteller bloßstellen. Er verliert seinen guten Ruf, sein Ansehen, also seine soziale Identität (Goffman 2000: 55). Das ist das alltäglich inszenierte Drama jeder sozialen Begegnung und ihrer Deutung. Die Distanz zwischen den Interaktionspartnern bleibt unaufhebbar. Jede Selbstdarstellung kann scheitern und damit für den Urheber gefährlich werden. Er gerät in eine peinliche Situation („Scham“), wird Opfer von Spott, Verachtung, Lächerlichkeit und hat alle Mühe, sein Gesicht zu wahren („face work“). Sind die Bemühungen – wozu oft auch die Mithilfe anderer Teilnehmer erforderlich ist („Takt“) – nicht erfolgreich, so kommt das einem sozialen Absturz gleich. Häufig kann man sich nur retten, wenn man die peinliche Interaktion gänzlich abbricht. Im Grundsatz ist keine sozial hergestellte Wirklichkeit solchen Zweifeln und der Gefahr des Scheiterns gänzlich enthoben. Deswegen ist das Bedürfnis nach festen Interpretations- und Verhaltensleitlinien groß. Das versucht Goffman an der Rahmenanalyse zu verdeutlichen.
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Darstellung und Rahmung
Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass wir es bei Begegnungssituationen zunächst mit den „öffentlichen“ (dargestellten) Personen zu tun haben. Die Situation ist der Ort, in dem unabweislich über das Handeln und damit über die soziale Ordnung entschieden wird. Die Selbst-Bilder sind deren Widerschein, so wie es Mead (1969) in seiner Dialektik von „Me“ and „I“ umrissen hat. 4.1
Der Überraschungscharakter von Wirklichkeit
Individuen werden unablässig physisch, d.h. räumlich, zeitlich und über ihr Engagement (also über Gesten, Gewohnheiten, Kommunikationsstile) veror-
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tet. Dieser Standort wird in jeder Interaktion provisorisch ausgehandelt. Dabei sind die Sinn- und Sicherheitsklammern der Zeremonien und Rituale hilfreich. Sie dienen als Interpretations- und Energiespeicher, in denen Erinnerungen an frühere Interaktionen aufbewahrt werden. Diese Sicherheiten sind aber nur vorläufiger Natur, denn die Vorräte an Wissen müssen im „hier und jetzt“ ablaufenden Ereignis zum Tragen kommen. Das verschärft den Verhandlungscharakter der Ordnung. Denn Beziehungen erschöpfen sich nicht in allgemeinen sozialen Klassifikationen, sondern müssen immer noch mit Hilfe besonderer, situationsspezifischer Beschreibungskategorien abgetastet werden. Das Lernfeld ist grundsätzlich offen. Das macht es aus, dass Handelnde nicht als reiner Reflex der Außenwelt agieren. Sie zappeln nicht als Puppen an den Fäden „des Systems“, sondern wirken als „bricoleure“ ihrer kleinen Welt. Zwangsläufig wächst damit der Überraschungscharakter der ausgehandelten Wirklichkeit an. Die größte Nähe kann plötzlich in Entfremdung umschlagen, wenn die Regeln des Umgangs nicht eingehalten oder nicht beherrscht werden. Jede falsche Bewegung ist Anlass zu erhöhter Alarmbereitschaft aller Seiten. Dadurch herrschen Unbestimmtheit und Befremden, Risiko und Sorge, Verletzbarkeit und Angst vor. Eine solche Verunsicherung hilft den Menschen nicht weiter. Wirklichkeit muss eine gemeinsame werden, wenn wir nicht in Anomie verfallen wollen. Vertrauensbildende Maßnahmen – wie rituelle Sorgfalt, dramaturgische Disziplin und Loyalität – müssen das Gefühl der Regelhaftigkeit und Kontinuität sichern helfen. Andernfalls wäre die Wirklichkeit gänzlich unvorhersehbar und Ordnung unbeherrschbar. Deswegen sind Gesellschaften auf der Mikro- und Makroebene jeweils auf der Suche nach einer gemeinsamen Ortsbestimmung, aus der sich eine verlässliche (vielleicht auch idealisierte) „Normalität“ gewinnen lässt. Angesichts des schwankenden Bodens unter unseren Verstehensund Handlungsweisen sah sich Goffman gezwungen, die Frage der Stabilität, des gegenseitigen Vertrauens, der Normalität der Erscheinungen (normal appearances) und des Engagements für eine gemeinsame Wirklichkeit neu zu durchdenken. Dazu dient ihm das Konzept der Rahmung. 4.2
Ordnung durch Rahmung
Auch wenn Normalität ein soziales Konstrukt sein sollte, könnten wir nicht darauf verzichten, eine Realität zu unterstellen, die nicht ständig neu „erfunden“ werden muss. Die Bewältigung des Alltags hängt davon ab. Sie kann nur gelingen, wenn wir den zufälligen Charakter von Wirklichkeit einklammern, und sei es nur durch ein unreflektiertes, dumpfes, traditionales Befolgen von
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Routinen und Regeln. Das ist aber nicht genug, da sie – wie gesagt – von der situativen Bastelarbeit der lokalen Handelnden abhängen. Definitives Vertrauen in die einmal festgestellte Wirklichkeit können wir also nicht gewinnen. Deswegen oszillieren wir zwischen Notfall, Alarm und Beruhigung. Das sehen wir schon daran, dass wir dann, wenn unsere Ordnungserwartungen enttäuscht wurden und zusammenbrechen, schnell zu einer neuen, „modernen“ Lesart von Wirklichkeit gelangen, die wir am besten gleich wieder für „normal“ erklären. Denn solcher Konsens ist das Werkzeug des sozialen Überlebens. Seine Normalisierung ist die Leistung der Rahmung. Sie zieht die Grenze zwischen „erstaunlich“ und „gewöhnlich“, „alarmierend“ und „beruhigend“, „normal“ und „nicht normal“. Rahmen sind wie Bilderrahmen. Sie binden unser Auge und wirken als Klammern über das, was unseren Ereignissen ihre Bestimmtheit verleiht. Trotz der Fluidität der sozialen Wirklichkeit gelingt es den Menschen nämlich doch, ein gemeinsames Deutungsschema über die Irregularitäten alltäglicher Welterfahrung zu werfen und eine Art gruppenspezifisches Hintergrundverständnis für Ereignisse zu erreichen. Goffman spricht von „Gruppenkosmologie“. Er meint damit eine Art gesellschaftliche Sehhilfe, ein „sozialer Wahrnehmungsfilter“, der uns glauben macht, dass das, was real erscheint, auch real ist. Ein solcher „primärer Rahmen“ ist z.B. der Erkenntnisrealismus, wonach es „fraglos“ eine originäre Außenwelt („den echten Schuss aus echten Kanonen“) und die anderen gibt bzw. die Gesellschaft einfach „da“ ist („taken for granted“) und für uns die Leitlinien der Interpretationen bereithält. Ein solcher lebensweltlicher Realismus stellt sich auf ganz natürliche Weise ein, da der vorgängige Herstellungsprozess solcher Vereinbarungen im alltäglichen Vollzug unsichtbar gemacht wird. Das ist der Fall, weil die Ereignisse – in sich selbst erfüllender Weise – unsere Projektionen zu bestätigen scheinen. Das gewöhnliche Verhalten (ordinary conduct) ruht häufig schon auf einer Typisierung des Schicklichen; es ist eine „Geste“ gegenüber dem Verbindlichen. Mit anderen Worten: Ereignisse und Rahmen passen gewöhnlich so gut aufeinander, weil das, was Menschen als „normal“ erwarten, immer schon als „real“ gerahmt wird. „Normalität“ ist folglich die Unfraglichkeit der gruppenspezifischen Interpretationshorizonte, also der Rahmen selbst. Die Alltagspragmatik zwingt offensichtlich dazu, den Herstellungscharakter des sozialen Konsensus nicht selbst wieder fraglich werden zu lassen, sondern dem Bewusstsein zu entziehen. Rahmungen sind „implizites Wissen“ (Polanyi 1966) von der „gegebenen“ Normierung unseres Lebens. „So erscheint das Alltagsleben, so wirklich es an
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sich ist, oft als ein geschichteter Abglanz eines Urbilds, das selbst einen völlig ungewissen Wirklichkeitsstatus hat“ (Goffman 1996: 604). „Normal“ zu handeln oder „natürlich“ zu sein, heißt in der interpretativen Soziologie und bei Goffman im Besonderen nichts anderes, als dass man die anderen davon überzeugen kann, dass Rahmung und Wirklichkeit gleichzusetzen sind. Dann sind kritische Distanz, Verdacht und Alarm überflüssig. Erscheinungen werden als üblich und erwartbar gewertet, so dass man sie nicht mehr besonders beachten muss. Diese Übereinstimmung ist zwar nur ein Arbeitskonsens, macht jedoch die gemeinsame Lesbarkeit und die „Basiskontinuität“ der Welt aus (Goffman 1996: 317). Wenn den Beteiligten nämlich der Handlungsrahmen klar ist, dann bleibt die inhärente Mannigfaltigkeit der Wirklichkeiten und subjektiven Deutungen vorläufig still gestellt. Normal ist das durch Erfahrung Erhärtete und Eingeübte, das gerade deswegen keine weiteren Fragen aufwirft. Es ist der selbstverständlich gewordene Wissensvorrat im Alltag, der uns den Boden für die Frage entzieht, „worin solche normalen Erscheinungen bestehen“ (Goffman 1971: 342). Normalität des Handelns, der Wahrnehmung und der Deutung besteht folglich darin, dass vorläufig kein Anlass besteht, Ereignisse, ja die ganze Rahmung der Sinnbereiche in Frage zu stellen (Goffman 1996: 523). Normal ist eben normal. So werden die Wirklichkeit und die Sozialstruktur etabliert. Die soziale Ordnung kann „mechanisch“ weiterlaufen, weil sie das Verständnis ihres Ordnungscharakters schon als von den Interaktionspartnern geteilte Erkenntnisvoraussetzung in sich integriert hat (ebd.: 563). Erst die Tatsache, dass Regelmäßigkeit des Verhaltens als normal und natürlich erscheint, erlaubt uns den anderen in unserem Umfeld zu trauen (Goffman 1971: 317). So gesehen ist soziale Realität eine „kognitive Organisation“ (Cicourel 1973: 27), deren Konstruktcharakter durch tagtägliche Einübung in eine bestehende Gruppenkultur, ihre Klassifikationsschemata und Deutungsmuster verwischt worden ist. Erst diese vorkonstruierten Bezugsschemata meiner Welt machen das Verstehen des Ablaufs dieser Welt möglich (vgl. Schütz & Luckmann 1973: 11). Denn sie operieren in jeder Begegnung als schon zugrunde gelegte, gemeinsam gewordene Annahmen über die Art und Weise, wie man in einer Situation natürlicherweise vorzugehen hat. Insofern ist Normalität ein „überdeterminiertes“ Ereignis. Die Gewöhnung daran erzeugt Beschwichtigung und somit plausible Erklärungsmöglichkeiten. (Das heißt aber auch: Wer etwas verbergen möchte, muss sich am besten daran orientieren, was in den Augen anderer als normal erscheint.) Es ist das schon vorab geteilte, also sozialisierte Verständnis vom Sinn der Welt, das uns eine Übereinstimmung über die ordentliche Produktion
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von Selbstdarstellungen und Rollen erlaubt und die Kontinuität unserer Begegnungen absichert. Die Rahmung verschafft uns einen Sinn für richtige Strukturierung unserer Interaktionen, auch dann noch, wenn diese unvorhergesehen sind und uns vielleicht etwas seltsam erscheinen. Sie werden, sofern es eben geht, „ein-geordnet“ (normalisiert). Goffman nennt als solche Alltagsstrukturierungen die raum-zeitlichen Rahmen (z.B. wenn im Theater der Vorhang fällt oder das Pausenzeichen ertönt). Daneben erwähnt er zeremonielle Rahmen (Grußpraktiken), Gesichtsrahmen (bei Trauerfeiern oder Ehrungen), Gesprächsrahmen (Sprachstil, Mimik bei Vorträgen) und Geschlechtsrahmungen (z.B. durch unterschwelliges Kontrollieren von Geschlechtsidentitäten). Andere Rahmen sind denkbar.
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Rahmung und Deutung: Der Kreislauf beginnt von neuem
Wie schon angedeutet ist Alltagssicherheit aber nur vorläufig zu gewinnen. Denn in Wahrheit krachen auch alle Rahmen beständig in ihren Fugen. Sie sind nicht ein für alle Mal gesichert, sondern können auch bersten und brechen. Die vielfältige Ineinanderschachtelung der Wirklichkeiten wird daran ersichtlich, dass die primären Rahmen im Laufe allmählich oder plötzlich umgerahmt werden können (sekundäre Rahmen). Die grundsätzliche Wirksamkeit der primären Rahmen wird sogar erst dann sichtbar, wenn die (Normalitäts-)Erwartungen, die mit ihnen verbunden sind, sich nicht bestätigen. Es macht umgekehrt aber auch klar, wie verletzbar unser Handeln und unsere Wirklichkeitskonstruktionen insgesamt sind. Ein solcher Kontinuitätsbruch kann etwa dadurch zustande kommen, dass etablierte Rahmungsvereinbarungen durch Rahmungsfallen, Rahmungsirrtümer und Fehlinformationen (misframings), Täuschungen (fabrications) und Modulationen („keyings“) mit anderen Inhalten unterlegt und somit unterlaufen werden. Das kann für alle ersichtlich sein oder einem Teil der Interaktionspartner verborgen bleiben. Ersteres ist bei den Modulationen der Fall. Sie machen darauf aufmerksam, dass primäre Rahmen einen neuen Sinn erhalten, indem sie in etwas transformiert werden, das dieser Wirklichkeit zwar nachgebildet ist, von den Beteiligten aber ganz anders gedeutet wird. Täuschungen und Lügen sind hingegen darauf aus, das Denken und Handeln von anderen Menschen so zu lenken, dass sie zu einer falschen Vorstellung darüber gebracht werden, was eigentlich vor sich geht (1996: 98). Die asymmetrische Informationsverteilung zwischen dem Täuscher und dem Opfer macht, dass die Letzteren nur das wahrnehmen, was offensichtlich vor sich
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geht, während die Fälscher den wahren Hintergrund kennen. Die systematische Produktion von Schein, also die Lüge, kann in guter oder in schädigender Absicht ausgeführt werden. Zudem gibt es selbst geschaffene Täuschungsmanöver (z.B. Wahnvorstellungen, Tagträume). Auch die Täuschungen können wieder transformiert werden, so dass sich komplizierte, mehrschichtige und kaum noch durchschaubare Verwerfungen ergeben. Bekannt sind Fälle der heimlichen Überwachung von Spionen oder jener Gauner, die selbst wieder betrogen werden, oder schließlich des Fallenstellers, der selbst in seine Falle tappt. Nie ist die Gefahr ganz auszuschließen, dass die Täuschung auffliegt und die bisherige Sicherheit in der Deutung der Wirklichkeit gänzlich ins Wanken bringt. Aber es ist auch dann schon der Fall, wenn der Zauberer seine Tricks vorführt, wir ihm aber trotz aller Anstrengung unseres Spürsinns nicht auf die Schliche kommen. Goffmans Schriften überborden mit Beispielen, die diese konstruktive Kreativität belegen. Werden Modulationen und Lügen erkannt, dann muss die bisherige Normalitätsannahme grundsätzlich überdacht werden. Nur wenn man neue Informationen gewinnt, kann man sich daran machen herauszufinden, was „wirklich“ gilt. Das weist uns auf das grundsätzliche Problem zurück, dass Realitäten durch sozialen Abgleich hergestellt werden, gerade dadurch in ihrer Konstitution aber auch veränderlich sind. Es muss die Mehrdeutigkeit primärer Rahmungen prinzipiell einkalkuliert werden. Dadurch sind Fehlrahmungen, Rahmungsirrtümer und Rahmungsstreitigkeiten überhaupt möglich. Das macht die Sache für den sicherheitsbedürftigen Alltagshandelnden nicht eben leichter. Denn er muss sich bewusst bleiben, dass die in die Rahmen eingelagerten normativen Erwartungen in ihrer tiefsten Konstitution auf schwankendem Boden stehen. Denn sie sind nichts anderes als „enttäuschbare“, also veränderbare, soziale Absicherungen darüber, welches Verhalten in welcher Situation als angemessen gelten soll und welches Engagement dafür zu leisten ist. Rahmungen schaffen zwar Sinn, Umrahmungen sind aber nicht ausgeschlossen. Sie schaffen dann einen neuen Sinn. Die neu gewonnene Normalität muss wiederum durch Artikulationszeichen (Mimik, Gestik) „bis auf weiteres“ zur gültigen Realität erklärt werden. Wir müssen mit der ceteris paribus-Klausel leben, wissen aber, dass sie nur ein methodologischer Behelf ist, der jederzeit umgestoßen werden kann. Der Gewinn an gemeinsamen Wirklichkeitsüberzeugungen ist niemals definitiv. Vielmehr werden wir – bei näherem Hinsehen – auf beständig fortlaufende Deutungskreisläufe verwiesen. Rahmen sind verletzlich. Normalverhalten ist wahrscheinlich, aber nie wirklich gesichert. Jede Ordnung bleibt ein Entwurf
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und ist immer eine „negotiated order“ (Strauss 1978). Im Grundsatz gilt das für die kleinen und die großen Strukturierungen, für die Interaktionsordnung wie für Makrogesellschaften.
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Makrosoziologische Perspektiven
Goffmans Mikrosoziologie ist zwar ein in sich geschlossenes und stimmiges Theoriegebäude, beinhaltet aber durchaus Erweiterungsmöglichkeiten, die auf die Meso- und Makroebene zielen. Er war sich bewusst, dass soziale MikroOrdnungen in den größeren Zusammenhang der „sozialen Tatsachen“ einer Gesellschaftsstruktur eingebettet werden müssen. Umgekehrt ließ er keinen Zweifel daran, dass auch Makrostrukturen ihre interpretative Entstehungsgeschichte haben. Auch sie sind Herstellungsprozessen unterworfen, denn sie werden durch die einzelnen Handelnden mit ihren jeweiligen Ressourcen jeden Tag von neuem implementiert, korrigiert und neu festgestellt. Es gibt keine anderen als gedeutete Strukturen. Insofern sind die Makrostrukturen vom dauernden „Strom des Lebens“ abhängig. Wenn ein Machthaber keine Zustimmung durch die Machtunterworfenen erfährt, kann er keine andauernde Macht „haben“. Wenn Krieg ist und keiner hingeht, so sagte die 68er-Generation, dann ist eben kein Krieg. Wenn sich die Menschen massenhaft auf von außen „gesetzte“ Deutungen nicht einlassen, dann haben diese und die davon gestützten Sozialstrukturen auch keine soziale Geltungschance. Mikro- und Makro-Ordnung stehen also in einer kontinuierlichen Verknüpfung. Den „Link“ zwischen beiden Ebenen hat Goffman nur angedeutet, aber nicht selbst ausgearbeitet. Je nach Betrachtungsweise kann man die Analyse des Zusammenhangs „von oben“ oder „von unten“ in Angriff nehmen. Ganz der Simmel’schen Inspiration folgend, hat Goffman bei der „seelischen Wechselwirkung zwischen Individuen“ angesetzt, die sich zu dauerhaften Beziehungsformen, also zur Vergesellschaftung, verdichten (Goffman 1953: IV). Er stützt sich dabei auf die berühmte Passage aus Simmels „Grundfragen der Soziologie“ von 1917, in der es heißt: Fortwährend verknüpft sich und löst sich und knüpft sich von neuem die Vergesellschaftung unter den Menschen, ein ewiges Fließen und Pulsieren, das die Individuen verkettet, auch wo es nicht zu eigentlichen Organisationen aufsteigt. Daß die Menschen sich gegenseitig anblicken und daß sie aufeinander eifersüchtig sind, daß sie sich Briefe schreiben oder miteinander zu Mittag essen, daß sie sich ganz jenseits von greifbaren Interessen sympathisch oder antipathisch berühren [...], daß einer den anderen nach dem Wege fragt und daß sie sich füreinander anziehen und schmücken – all die tausend von Person zu Person spielen-
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Robert Hettlage den momentanen und dauernden, bewußten oder unbewußten, vorüberfliegenden oder folgenreichen Beziehungen, [...] knüpfen uns unaufhörlich zusammen [...]. All jene großen Systeme und überindividuellen Organisationen, an die man bei dem Begriff von Gesellschaften zu denken pflegt, sind nichts anderes als die Verfestigungen – zu dauernden Rahmen und selbständigen Gebilden – von unmittelbaren, zwischen Individuum und Individuum stündlich und lebenslang hin und hergehenden Wechselwirkungen.
Sein Studium der mikrosoziologischen Interaktionsordnungen reiht sich ein in den Ansatz aller verstehenden Soziologie. Silverman (1972: 108ff.) umreißt diese Denkweise folgendermaßen:
Im Blickpunkt der Betrachtungen steht das bedeutungsgeladene Handeln und nicht das gleichförmige Verhalten an sich. Handlungen sind ein System von Erwartungen, Bewertungen von Zielen und Situationsdefinitionen. Bedeutungen sind das Ergebnis sozialer Typisierungen (von Wissensbeständen, Rechten, Pflichten, Positionen, sozialen Feldern). Diese werden von nachfolgenden Akteuren als „soziale Tatsache“ erlebt und bilden den Bezugsrahmen, um eigenes und fremdes Handeln wieder mit Sinn zu belegen. Bedeutungen können nicht gänzlich in unserem Inneren gefunden werden. Sie sind soziale Ereignisse, deren „Angemessenheit“ von anderen laufend bestätigt und als „natürliche Ordnung der Dinge“ routinisiert (institutionalisiert) wird. Sie bestimmen die Art, wie der Alltag sozial konstruiert und als real wahrgenommen wird. Bedeutungen sind folglich nicht einfach „objektiv“ gegeben, sondern werden durch immerwährende, dramaturgische Aufführungen aufrecht erhalten. Die so entstehende Wirklichkeit verlangt kooperative Handlungen, wenn sie nicht verfallen soll. Wer immer die Erwartungen verletzt, bringt unsere soziale Welt und die Selbstbilder zum Einsturz. Bedeutungen und Erwartungen werden aber niemals von allen in gleicher Weise geteilt. Es gibt immer abgegrenzte Sinnbereiche, unvollständig definierte Rollen und konkurrierende Interpretationsschemata für die Problembewältigung. Wer sich mit seiner Konzeption durchsetzt, erzwingt eine bestimmte, vielleicht neue Definition der Wirklichkeit oder Normalität (also sozialen Wandel). Die Erklärung beginnt mit der Beobachtung subjektbezogener Gedankengänge und der durchschnittlich intendierten Absichten der Handelnden. Sie versucht Wahrscheinlichkeiten („Chancen“) auszuleuchten, warum sich
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Menschen auf bestimmte Handlungen einlassen. Die Deutungen werden nur zwingend, wenn sie von den Handelnden als „äußere“ Tatsache akzeptiert und objektiviert werden. Das gilt auch für die Begriffsbildung selbst. Institutionen sind dramatische Konventionen, die auf die Darstellung und Bestätigung von Meinungen benennbarer Akteure reduzierbar sind. Deshalb sind Reifizierungen „der“ Gesellschaft, „des“ Staates, „der“ Rollen zu vermeiden. Ändern sich die Meinungen („Definitionen“), dann ändern sich auch die Institutionen.
„Das Drama ist in uns und wir sind das Drama.“ Diese Devise des italienischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Luigi Pirandello (1964) hat Goffman besonders ernst genommen und in seinen Darlegungen zur Interaktionsordnung beispielhaft demonstriert.
Literatur Bergson, Henri (1964): Materie und Gedächtnis und andere Schriften. Frankfurt am Main: S. Fischer. Blumer, Herbert (1969): Symbolic Interactionism: perspective and method. Englewood Cliffs & New Jersey: Prentice-Hall. Cicourel, Aaron V. (1973): Cognitive Sociology. Harmondsworth: Penguin. Collins, Randall (1986): The Passing of Intellectual Generations: reflections on the death of Erving Goffman. In Sociological Theory 4(1): 106-113. Goffman, Erving (1953): Communication Conduct in an Island Community. PhD Manuscript. University of Chicago. Goffman, Erving (1971): Verhalten in sozialen Situationen. Strukturen und Regeln der Interaktion im öffentlichen Raum. Gütersloh: Bertelsmann. Goffman, Erving (1973): Interaktion: Spaß am Spiel. Rollendistanz. München: Piper. Goffman, Erving (1982): Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Goffman, Erving (1996): Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. 4. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Goffman, Erving (1998): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. 13. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Goffman, Erving (1999): Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. 5. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Goffman, Erving (2000): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellungen im Alltag. 8. Auflage. München: Piper. Kusow, Abdi M. (2004): Contesting Stigma: on Goffman’s assumptions of normative order. In: Symbolic Interaction 27(2): 179-197.
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Robert Hettlage
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Rollen und Rahmen der Interaktionsordnung: Journalismus aus der Perspektive seiner Interaktionen Carsten Schlüter
„Ich bin nicht jemand, der behaupten würde, daß sich unsere Aussagen auf großartige Leistungen stützen könnten. Mir ist sogar zu Ohren gekommen, daß wir froh sein könnten, wenn wir unsere bisherigen Ergebnisse gegen ein paar gute begriffliche Unterscheidungen und ein kühles Bier eintauschen könnten. Doch es gibt nichts in der Welt, daß wir dafür eintauschen sollten, was wir haben: die Begabung, alle Elemente des gesellschaftlichen Lebens mit einem unverstellten und unbestechlichen Forschergeist anzugehen, und die Weisheit, dieses Mandat nirgendwo anders einzulösen als bei uns und in unserer Disziplin.“ (Goffman 1994: 103)
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Einleitung
1982, kurz vor seinem Tod, schrieb Goffman in der Funktion als Präsident der American Sociological Association das Manuskript zu seiner Abschlussrede, welche er nie halten konnte. Der Krebs hatte ihn bereits zu sehr geschwächt. In diesem Manuskript fasste er noch einmal zusammen, was ihn Zeit seines Lebens beschäftigt hat: Es war in all den Jahren mein Anliegen, Anerkennung dafür zu finden, daß diese Sphäre der unmittelbaren Interaktion der analytischen Untersuchung wert ist – eine Sphäre, die man auf der Suche nach einem treffenden Namen, Interaktionsordnung nennen könnte (Goffman 1994: 55; Hervorhebung im Original)
In den anschließenden 25 Jahren haben sich verschiedene Sozialwissenschaften diesem Anliegen angenommen und immer wieder auf den Erkenntnisgewinn einer interaktionistischen Forschung hingewiesen. Doch obwohl Goffmans Begriffe wie Rahmen, Rollendistanz oder Image in der Sozialwissenschaft ihren festen Platz haben, gibt es kaum eine vertiefende Auseinandersetzung mit seinem Werk. So ist es nicht verwunderlich, dass Hettlage und Lenz (1991) von Goffman als einem „unbekannten Bekannten“ sprechen. Und was für die Sozi-
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alwissenschaft insgesamt gilt, ist in der Kommunikations- und Medienwissenschaft nicht anders. Während die Kommunikatorforschung Goffman gänzlich ignoriert – die einzige Ausnahme ist hier Willems (2000), der dafür plädiert, die Rahmenanalyse auch auf den Journalismus anzuwenden –, finden sich verstreute Artikel zur Rezeptionsforschung (vgl. z.B. Höflich 1996) und hier speziell zum Framing-Ansatz (vgl. Entman 1993), dessen Ursprünge zu Goffman jedoch in Vergessenheit geraten sind und nicht weiter aufgegriffen wurden (vgl. u.a. Scheufele 1999; Renckstorf & Wester 1999; Bonfadelli 2003: 88f.). Diese doch eher unbefriedigende Literaturlage sollte jedoch nicht zum Anlass genommen werden, Goffman weiterhin in eine „Spezialistennische“ zu drängen, in welcher sich wenige Eingeweihte tummeln, sondern ganz im Gegenteil dazu anregen, Goffmans Konzepte zu analysieren und auf breiter Ebene zu benutzen, um einen komplementären Erkenntniszuwachs zu erzielen. Gerade in der Journalismusforschung, wo die Fokussierung auf Organisationssysteme und gesellschaftliche Wechselwirkungen zwar enorme Erkenntnisfortschritte gegenüber den Anfängen der wissenschaftlichen Disziplin einbrachten, nun jedoch zunehmend unter dem damit einhergehenden „Verlust“ von Zusammenhängen zwischen Strukturen und individuellen Einflüssen in ein kritisiertes Vakuum geraten, ist zu prüfen, ob Goffmans Theoriearbeit einen frischen Windstoß bieten kann. Robert Hettlage hat in seinem Beitrag bereits auf die vielfältigen Denkanstöße Goffmans hingewiesen und zusammenfassend beschrieben, wie Goffman alltägliche Begegnungen analysiert hat. Dabei hat Hettlage herausgearbeitet, welche Mechanismen in der Interaktionsordnung greifen und damit einen guten Einblick in die Goffmansche Theorie geboten. Im Folgenden soll nun versucht werden, den Kern des Goffmanschen Ansatzes für die Journalismusforschung handhabbar zu machen. Zwangsläufig werden dabei einige von Goffmans Thesen, die sich mit speziellen Ordnungsprinzipien allgemeiner, alltäglicher Interaktionen beschäftigen und die Hettlage ausführlich vorgestellt hat, vorerst beiseite gelassen, da sie das hier relevante Thema, nämlich die Verknüpfung von Interaktionen zu journalistischem Handeln in Organisationen, nicht primär berühren. Andere Ausarbeitungen Hettlages hingegen, wie Rahmen- oder Rollenanalyse, sind unabdingbar für journalismustheoretische Ausführungen und werden daher vertiefend behandelt.
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Strukturen des Journalismus
„Mikro- und Makro-Ordnung stehen also in einer kontinuierlichen Verknüpfung.“ schreibt Hettlage (in diesem Band), wobei man, so Hettlage weiter, je nach Betrachtungsweise “die Analyse des Zusammenhangs "von oben" oder "von unten" in Angriff nehmen“ kann. Mit dieser Feststellung weist Hettlage einerseits auf eine grundsätzliche Differenzierung von Theorien hin: den Ausgangspunkt der Beobachtung. So sind systemtheoretische Arbeiten durch ihren Blick „von oben“ von denen zu unterscheiden, die auf das Individuum fokussieren, also „von unten“ an das Forschungsproblem herangehen. Andererseits betont Hettlage in seinem Text, dass Makro- und Mikroebene in einer Verknüpfung stehen, demnach zwei Seiten einer Medaille bilden, die komplementär zueinander stehen. In der Soziologie ist diese Erkenntnis weit verbreitet und wird z.B. durch Begriffspaare wie System und Akteur ausgedrückt, welche keineswegs untrennbar nebeneinander stehen, sondern integrativ zu sehen sind. Integrativ in dem Sinne, dass beide Ansätze unterschiedliche Erkenntnisse bieten und mithin komplementär sind (vgl. Schimank 2000: 277ff.). Dies ist möglich, da sowohl Makro- als auch Mikrotheorien Berührungspunkte haben. So unterschiedlich auch der Startpunkt des jeweiligen Ansatzes ist, die Schnittmenge bildet sich im Mesobereich der Organisationstrukturen. Dies wird an zwei Beispielen der Journalismusforschung schnell deutlich: Blöbaum (1994: 11) „konstruiert Journalismus als ein System, das sich im Laufe der Entwicklung der modernen Gesellschaft herausgebildet, dabei eigene Strukturen entwickelt und zusehends Eigenständigkeit entfaltet hat.“. Er beobachtet demnach Journalismus als Teilsystem der Gesellschaft (Makroebene), welches bestimmte Strukturen (vgl. ebd.: 15) entwickelt (Mesoebene). Umgekehrt argumentiert Wolfgang Donsbach, if influences through institutional objectives exist, they make their way in a subtle manner into a journalist´s self-perception as a subjectively independent decision-maker. In other words, they become part of the reality definition through communication. This kind of communication does not necessarily happen over each and every news decision. It can be a long-term process, which we then would call 'socialization' in the newsroom.
Auch hier haben wir den Verweis auf die Mesoebene („institutional objectives”), nun jedoch vom Blickwinkel der Mikroebene („journalist´s selfperception“). Bei beiden Ansätzen ist die Mesoebene der Strukturen sozusagen Dreh- und Angelpunkt, Personen- und Systemforschung konstruieren sich
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durch die Blickrichtung und treffen sich auf der Strukturebene der Organisationen. Abbildung: Die drei Ebenen der Journalismusforschung Mikroebene
Mesoebene
Individuumzentrierte Forschung z.B. x „Handlungstheorien“
Makroebene
Gesellschaftszentrierte Forschung z.B. x „Systemtheorien“
Berücksichtigung von Strukturen der Organisation
Wenn wir nun fragen, was die Journalismusforschung unter Strukturen des Journalismus versteht, so erhalten wir differenzierte und im Detail widersprüchliche Antworten. Am Anfang der Journalistik standen vor allem Handlungsrollen im Vordergrund der Strukturmerkmale, wobei das Handeln einzelner Journalisten als ideale Rollendefinition galt (vgl. z.B. die Analyse bei Löffelholz 2000: 36ff.). Diese individualistisch-normative Sicht hat jedoch sowohl das Zusammenwirken von Handlungen und die daraus entstehende Strukturemergenz – welche nicht alleine durch die Beobachtung einzelner, individueller Journalisten gefasst werden kann, sondern sich durch soziales, also gegenseitig bezügliches Handeln ergibt – vernachlässigt, als auch organisatorische Imperative unbeachtet gelassen (vgl. Blöbaum 1994: 48). Spätestens mit dem Relevanzgewinn von systemtheoretischen, an Luhmanns Werk angelehnten Arbeiten wurde dem begegnet. Zwar war die Rolle des Journalisten auch weiterhin eine der Hauptkriterien von Strukturen, doch ist diese in ihrem sozialen Kontext zu verstehen und steht nun neben Organisations- und Programmstrukturen (vgl. Blöbaum 1994). Es ist nicht länger vordergründlich, was der einzelne Journalist tut, sondern welche Strukturen sich im Laufe der Evolution des Journalismus herausgebildet haben.
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Eine solche Sicht auf Organisationsstrukturen hat sich bis heute – in verschiedensten Variationen (vgl. die Ausführungen bei Quandt 2005: 131) – gehalten und bewährt. Bewährt in dem Sinne, als dass der formelle Aspekt der Strukturen des Journalismus erkenntnisgewinnend beschrieben und untersucht wird. Eine systemtheoretische Herangehensweise ist jedoch nicht ohne Kritik geblieben, und in den letzten Jahren finden sich viele Versuche, die strukturelle Ebene integrativ unter Berücksichtigung des individuellen Handelns zu beschreiben. Sei es unter Zuhilfenahme von kybernetischen Ansätzen (vgl. Hienzsch 1990), der Strukturationstheorie von Anthony Giddens (1997; zur Umsetzung in der Journalismusforschung vgl. Altmeppen 1999; Wyss 2004), der Akteurstheorie von Uwe Schimank (2002; zur Umsetzung vgl. Neuberger 2000; Meier 2002), Journalismus als kommunikatives Handeln (vgl. Bucher 2000; Baum 1994), Struktur-Handlungsvorstellungen wie sie Raabe (2005) in Anlehnung an das Habitus-Konzept Bourdieus vorschlägt oder einer Netzwerkanalyse (vgl. Quandt 2005). Hier zeigt sich eine der Verbindungslinien zu Konzepten Goffmans, die eine Definition von Strukturen durch die Reflexivität von Einzelhandlungen und normativen Vorgaben benennen, wobei bislang jedoch die Strukturen in der Forschung weiterhin als formale Elemente der journalistischen Organisation betrachtet und analysiert werden. Mit anderen Worten, unter gleich welcher Perspektive wir den Journalismus betrachtet haben, immer haben wir auf eine spezifische Gruppe rekurriert, die mit vorgegebenen Gruppenstrukturen ausgestattet ist. Strukturen sind so formale journalismusbezogene, organisatorische Vorgaben, in denen soziales Handeln geschieht und die umgekehrt soziales Handeln erst ermöglichen. Nun mögen wir uns mit dieser Sichtweise zufrieden geben, wenn dabei nicht eine Vielzahl von Fragen blieben, die wir auf diesem Wege nicht hinreichend beantworten können. Besonders betrifft dies Aspekte informeller Einflüsse auf die Entscheidungen des Journalismus. Obwohl vielfach darauf hingewiesen wurde, dass informelle Strukturen einen gewichtigen Einfluss auf journalistische Entscheidungen ausüben (vgl. Rühl 1979: 299), ging die Forschung diesem Aspekt bislang nur ungenügend auf den Grund. Die Ursache hierfür mag in der Schwierigkeit liegen, informelle Strukturen und persönliche Einflüsse in bestehende Theoriekonzepte einzuordnen, denn man kann sie weder alleine durch den Bezug auf das Individuum, noch als Teil der Organisationsstrukturen erklären. Sie hängen zwar mit den formellen Rollenstrukturen zusammen, doch eine differenzierte Betrachtung lässt Einflüsse hervortreten, die nicht aus einem spezifischen Organisationssystem stammen. In den informellen Strukturen finden wir sowohl persönliche Einflüsse einzel-
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ner Individuen als auch Einflüsse aus verschiedensten sozialen Systemen. Wenn wir diese Einflüsse analysieren wollen, so ist es angebracht, eine andere Beobachtungsebene als die organisatorische Gruppe oder einzelne Individuen zu wählen. Hier bietet sich eine Beobachtungsebene an, die Goffman eine fokussierte Versammlung oder besser: eine zentrierte Interaktion genannt hat (vgl. u.a. Goffman 1973: 8).
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Interaktionen in zentrierten Versammlungen
In seinem Buch „Interaktion. Spaß am Spiel. Rollendistanz“ (1973) differenziert Goffman (1973: 7ff.) zwischen der Analyse von Gruppen (bzw. Organisationen) und der Analyse von zentrierten Versammlungen. Soziale Gruppen „nehmen die Organisation als deutliche kollektive Einheit wahr, als ein soziales Ganzes, ungeachtet der besonderen Beziehungen, die die Teilnehmer zueinander haben mögen; […]“ (Goffman 1973: 9). Und weiter: Soziale Gruppen besitzen, ob sie nun groß oder klein sind, einige allgemein organisatorische Vorschriften für den Ein- und Austritt, die Fähigkeit zu kollektiver Aktion, eine Arbeitsteilung einschließlich der Führungsrollen, eine Sozialisationsfunktion primärer oder sekundärer Art; ein Mittel, persönliche Ziele zu befriedigen und latente und manifeste soziale Funktionen in der Außenwelt. (ebd. 10)
In Beobachtungsdifferenz hierzu analysiert Goffman zentrierte Interaktionen (oder zentrierte Versammlungen) und fordert, diese mit einem anderen begrifflichen Rahmen als den der Gruppen zu fassen, da hier vielseitige soziale Beziehungen zwischen den Individuen geschehen, die durch eine Gruppenanalyse nicht zu beschreiben sind. Und dabei geht es ihm nicht um Individualismus, um einzelne Akteure, sondern um die Interaktion, die sich zwischen den Akteuren bildet: Most sociologists have plumped for individual persons, taking their circumstances and their relationships to others, and what they are asked, or choose, to tell about their attitudes, beliefs, ideas and opinions, as representations of the society whose members they are. Goffman´s monad was the social act itself – the encounter between individuals. (Burns 1992: 25, Hervorhebung im Original)
Hettlage (in diesem Band) hat in seinen Ausführungen zum Kommunikationssystem der Interaktion bereits einige der Hauptpunkte der Goffmanschen Interaktionsanalyse herausgearbeitet, wie z.B. das kommunikative Engagement. Daraus ergibt sich, dass Interaktionen eigene Strukturen beinhalten, aber nicht unbeeinflusst von der Umwelt (soziale Gruppe bzw. Organisation) sind. Ge-
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mäß dieser Differenzierung wäre der hier vorgeschlagene analytische Fokus nicht auf die organisatorische Einheit des Journalismus gerichtet, sondern läge auf den Interaktionen, die sich innerhalb des journalistischen Systems bilden, aber von diesem abzugrenzen sind. Dabei mag man nun denken, dass diese Autonomie dazu führt, Interaktionssysteme alleine über eine detaillierte Beschreibung dramaturgischer Zwänge und Darstellungen einer alltäglichen Interaktion, wie sie auch Hettlage aufzählt, zu fassen. Das führt zu der Frage, mit welchem Erkenntniszuwachs Goffmans Interaktionsordnung in die Journalismustheorie eingebettet werden kann, wenn ihr Augenmerk offensichtlich nichts mit den sie umgebenden journalistischen Strukturen zu tun hat. Die Antwort gibt Goffman (1973: 73f.) selber, indem er die Zusammenhänge zwischen der Interaktion und der sie umgebenden Umwelt als eine reflexive strukturelle Beeinflussung erläutert: Wenn die Umwelt die Grenze einer Begegnung passiert und in die Interaktionstätigkeit eingearbeitet wird, tritt mehr ein als eine Neuordnung oder Umwandlung des Schemas. […] Ein Teil der bestimmenden Umwelt wird leichthin nicht beachtet, ein Teil wird verdrängt […]. Um leichter in diesen organischen Begriffen denken zu können, sollte eine organische Metapher versucht werden. Eine lebende Zelle hat gewöhnlich eine Zellwand, eine Membrane, die die Zelle von den Komponenten in ihrer äußeren Umgebung abschneidet und so eine selektive Beziehung zwischen ihnen und der inneren Zusammensetzung der Zelle sicherstellt. Die Elastizität und Gesundheit der Zelle ist in der Fähigkeit ihrer Membrane ausgedrückt, eine besondere selektive Funktion aufrechtzuerhalten.
Bestimmte Strukturen des organisatorischen Systems diffundieren in die Interaktionen und umgekehrt, immer in Abhängigkeit davon, wie stark das jeweilige beobachtete Interaktionsgeflecht mit dem organisatorischen System verbunden ist. Dabei sind Diffusionen nicht nur bzw. nicht unbedingt mit dem umgebenden Organisationssystem möglich. In der Interaktion können Strukturen aus verschiedensten Systemen wirken, da alles außerhalb der Interaktion Umwelt der Interaktion ist. Beobachten wir Interaktionen im Journalismus, so finden wir nicht zwangsläufig Strukturen, die sich nach Rollen und Programmen des Organisationssystems richten, sondern auch Einflüsse beispielsweise aus der ökonomischen Umwelt. Darüber hinaus steht das Interaktionssystem nicht nur mit sozialen Systemen in einer selektiven Beziehung, sondern auch mit den psychischen Systemen der beteiligten Individuen, was sich u.a. im Einfluss von Erfahrungen und persönlichen Werten niederschlagen kann. Dies alles kann Auswirkungen auf das Interaktionssystem haben. Hierzu schreibt Goffman (1973: 14) beispielsweise, dass eine bestimmte Position (und daran anknüpfend auch Handlungen, die zu organisationsbezogenen Entschei-
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dungen führen) in der Interaktion auf der Basis von Attributen der persönlichen Identität zugewiesen wird, wie „der anerkannten Erfahrung, der Beherrschung der Sprache, der Priorität des Erscheinens am Versammlungsort oder des Alters.“ Diese dann eingenommene Position ist in Differenz zur formalen Position innerhalb der Organisation zu betrachten, kann sich aber wieder auf die organisatorischen Strukturen auswirken – und hat insofern auch Beobachtungswert für die Journalismusforschung. Werden in einer Redaktion Entscheidungen getroffen, ist daher nicht zwangsläufig auf die journalistische Struktur zu rekurrieren, sondern es können diese auch in Abhängigkeit von einer bestimmten eingenommenen Position innerhalb der Begegnung gesehen werden, die wiederum aus einer Vielzahl von Komponenten besteht. Diesen Zusammenhang von organisationsexternen Strukturen und organisationsinternen Entscheidungen nennen wir persönlichen oder auch informellen Einfluss. Mit Hilfe der Goffmanschen Interaktionsordnung lassen sich diese selektiven Beziehungen theoretisch beschreiben und empirisch beobachten, da ein Interaktionssystem nach Goffman – anders als im Verständnis der Systemtheorie nach Luhmann – sämtliche Erfahrungen der beteiligten Individuen mit einschließt. Während eine systemtheoretische Sicht in der Journalismusforschung nur die Strukturen beachtet, die dem spezifischen Organisationssystem formal zugehörig sind, fokussiert Goffman in seinen Interaktionssystemen auf sämtliche sozial zu beobachtenden Einflüsse und die daraus resultierenden Strukturen. Dazu hat Goffman in seinem Werk ein begriffliches Instrumentarium entwickelt, das sich um zwei Schwerpunkte gruppiert. Zum einen ist dies Goffmans dramatologischer Ansatz, zum anderen die Rahmenanalyse.
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Rollen, Image und Identitäten im dramatologischen Ansatz
Goffmans Untersuchungseinheiten waren Interaktionsstrukturen, ein Ordnungsrahmen welcher innerhalb einer zentrierten Begegnung zu beobachten ist. Hettlage beschreibt diesen auf der Basis von situativen Normen und Ritualen und führt weiter aus, dass Goffman in seiner „dramatologischen Perspektive“ einen Schwerpunkt auf das Rollenspiel zwischen den Interaktionsteilnehmern gelegt hat. Die Rolle ist vor allem deshalb interessant, da sie eines der wesentlichen Strukturmerkmale der Organisation ist. Rollen gehören zu den eindeutigen Strukturmerkmalen in journalistischen Organisationen, da mit ihnen bestimmte Erwartungen und zum Teil sogar explizit Aufgaben- und Leistungsbeschreibungen verbunden sind. Rollen erlauben somit
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auch Konkretisierungen des journalistischen Handelns, das ansonsten zu den schwierig definierenden Merkmalen des Journalismus gehört. (Altmeppen 1999: 47)
Goffmans Rollenanalyse stellt einen Ansatz dar, der auf beobachtbare Reflexivität zwischen Akteuren und Strukturen in der Interaktion beruht. Der Ausgangspunkt ist dabei weder auf das einzelne Individuum zentriert noch nimmt er das gesellschaftliche System als Ausgangspunkt. Damit sind Rollen weder alleine individuumsbezogen noch alleine normative Vorgaben eines Systems, sondern immer auch abhängig von der spezifischen Situation und der Wechselbeziehung zwischen den Personen, die diese Rolle tragen: Die Organisationsrolle als Resultat der genannten Rollendefinitionen kommt empirisch fassbar zum Ausdruck im Rollenverhalten. Dies aber ist nicht nur bedingt durch relevante Normen der Organisationsrolle, sondern auch durch die jeweilige konkrete Situation, in der eine Person handelt sowie deren Präferenzen. (Abraham & Büschges 2004: 163, Hervorhebung im Original)
In der Journalismusforschung dominiert der makroperspektivische Blick auf formalisierte Rollen. So hat Rühl die Rollenanalyse ins Zentrum seiner Ausführungen gerückt. Er identifiziert das organisierte soziale Zeitungssystem über die Strukturen, die als generalisierte Handlungserwartungen wirken (vgl. Rühl 1979[1969]: 72), die sich in Rollen niederschlagen. Dabei unterscheidet Rühl formale von informellen Rollen. Formale Rollen sind „Redaktionserwartungen für die Leistungen, die der einzelne Redakteur in seiner Position und in seinem Ressort zu erbringen hat“ (ebd: 258), Verhaltenserwartungen etwa, die sich aus den spezifischen Aufgaben und Hierarchien ergeben. Interessant ist nun, dass „hinsichtlich der Arbeitsrollen verschiedene Variations- und Interpretationsmöglichkeiten“ bestehen (ebd: 259). Die theoretischen Annahmen Rühls beschränken sich demnach nicht alleine darauf, die organisationalen Strukturen in ihrer Kondensierung als entpersonalisierte Rollenvorgaben anzuerkennen, sondern werden erweitert auf die persönlichen Einflussnahmen einzelner. Noch deutlicher als in der „Zeitungsredaktion als organisiertes soziales System“ tritt diese Annahme in den späteren theoretischen Ausführungen Rühls zutage (1980: 52): Aber da die Erfahrung lehrt, daß einzelnen Journalisten besondere Leistungen gelingen, muß es möglich sein, dieses „Mehr“ durch die einzelnen Persönlichkeiten in das standardisierte journalistische Handeln einzubringen. Ungeachtet der grundlegenden sozialen Handlungsmuster des Journalismus können durch den Einsatz persönlicher Qualitäten einzelne Situationen besonders gut gemeistert werden. Diese Einsicht läßt freilich nicht den Schluß zu, daß Journalismus nun wohl doch eine Sache von Personen ist. Vielmehr wird damit erkannt, daß neben
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Carsten Schlüter den sozialen, vor allem den organisatorischen und beruflichen Aspekten journalistischen Handelns, biographische Fakten das Ansehen und das Auftreten des einzelnen, seine Intelligenz, die Ergebnisse seiner Bildung und Ausbildung, seine Erfolge und Beziehungen sowie seine innere Unabhängigkeit, seine Sprachkompetenz und sein Stil, kurz: daß persönliche Möglichkeiten und Qualitäten in journalistische Leistungen eingehen, um sie mitzubewirken. Ein persönliches Niveau im journalistischen Handeln wird selbst in ideologisch-kollektivistisch orientierten Journalismussystemen nicht ausgeschlossen.
Das Problem besteht darin, die informellen Aspekte theoretisch einzugliedern (vgl. auch die Kritik von Raabe 2005: 56ff.). Schaut man auf Rollen auf der Interaktionsebene, dann ist der Rollenkern ein normatives Handlungsmuster, eine „typische Reaktion von Individuen in einer besonderen Position“ (Goffman 1973: 104). Dieser Rollenkern diffundiert aus der Organisation in die Interaktion und vice versa, eingebettet aber in Position und Situation. Die typische Rolle muß natürlich vom tatsächlichen Rollenverhalten eines konkreten Individuums in einer gegebenen Position unterschieden werden. Zwischen der typischen und der tatsächlichen Reaktion können wir gewöhnlich einen Unterschied erwarten, wenn auch nur deshalb, weil die Position eines Individuums, in dem jetzt gebräuchlichen Sinn, in gewisser Weise von der variierenden Art abhängen wird, wie es selbst seine Situation sieht und definiert. Wo es für eine gegebene Rolle einen normativen Rahmen gibt, können wir erwarten, daß die komplexen Kräfte, die auf Individuen in den relevanten Positionen einwirken, dafür sorgen, daß die typische Rolle in einem gewissen Grad vom normativen Modell abweicht - und zwar trotz der Neigung im gesellschaftlichen Leben, das, was üblicherweise getan wird, in das umzuwandeln, was getan werden sollte.: Im allgemeinen muß dann eine Unterscheidung zwischen einer typischen Rolle, den normativen Aspekten der Rolle und dem tatsächlichen Rollenverhalten eines besonderen Individuums gemacht werden. (ebd.: 104f., Hervorhebung im Original)
Prinzipiell ist zu konstatieren, dass die Interaktionen, welche aufgrund ihrer Formalität eng mit der Organisation verbunden sind – hierzu zählen regelmäßige, standardisierte Handlungen wie beispielsweise die Recherche – dem Rollenkern am ehesten entsprechen. Interaktionen, die eher die Möglichkeit zu Variationen eröffnen, können demnach stärker von der Rollennorm abweichen. Dies ist etwa der Fall bei Abstimmungen zwischen zwei Redakteuren zwecks inhaltlicher Gestaltung eines Artikels – man könnte hier im Sinne Altmeppens (1999: 34f.) von koordinierenden Interaktionen sprechen1. Was bei 1
Sehr passend schreibt Altmeppen (1999: 160, Fußnote 28) an anderer Stelle: „Die Untersuchung von Machtspielen, Konkurrenzverhalten, Bündnissen und persönlichen wie strukturellen Dominanzen, die in journalistischen Organisationen immer auch eine Rolle spielen,
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der Rollenübernahme zu den formalen Aspekten hinzu kommt, sind auf der persönlichen – kognitiven – Seite die Aspekte der individuellen Gestaltung, wie sie u.a. von Rühl genannt werden (vgl. Rühl 1980: 66): Gewandtheit, Höflichkeit, Humor, Intelligenz usw., aber auch erlernte/sozialisierte Handlungsmuster, welche aus anderen Interaktionsrahmen stammen. Dies sind Einflüsse innerhalb des Handlungsspielraums, den die normativen, von der journalistischen Organisation stammenden Strukturen eröffnen. Im Extremfall kann der Handlungskorridor soweit ausgedehnt bzw. gänzlich verlassen werden, dass es zur Rollendistanz kommt: die Möglichkeit eines Interagierenden, die Rolle bewusst abzulegen und entgegen den normativen Erwartungen zu handeln (vgl. Goffman 1973: 118, vgl. auch Hettlage, in diesem Band)2. Damit werden die organisatorischen Strukturen kontakarriert, verändert, einer situativen Interaktion angepasst. Das tatsächliche Rollenverhalten ist immer abhängig von der sozialen Interaktion. Der Rollenkern mag einen noch so großen Interpretationsspielraum lassen, wenn die Interaktion dies nicht ermöglicht, bleibt jede Handlungsalternative irrelevant. Umgekehrt gilt ebenfalls: Der einzelne Journalist mag sich zwar überlegen, wie er seine Rolle ausfüllt, wenn ihm die konkrete Interaktion nicht die Möglichkeit dafür lässt, bleiben diese Überlegungen Wunschdenken. Diese Feststellung ist zentral für Goffman und führt zurück auf die Problematik zwischen individuenzentrierter und interaktionistischer Forschung. Einstellungen einzelner Journalisten wären für Goffman irrelevant. Ein Journalist kann von sich behaupten, er sei politisch einer bestimmten Richtung zugehörig oder würde sich dem investigativen Journalismus zuordnen. Erst in der Interaktion zeigt sich, ob diese virtuelle Selbstbeschreibung tatsächlich auch zutrifft, die Interaktion also reelle Möglichkeiten zulässt, eine Selbstbeschreibung aktuell zu konstruieren. Die Handlungsrelevanz, wie sie Scholl und Weischenberg (1998: 157ff.) untersucht haben, hängt danach nicht nur von dem Wollen der Journalisten und den Strukturen ab, sondern auch von den Möglichkeiten in der Interaktionssituation. Goffman (1973: 108f.) spricht daher von situiertem Rollenverhalten, dem Rollenverhalten in einer spezifischen Interaktion: Eine situierte Rolle umfaßt also ein Bündel von Aktivitäten, die deutlich vor anderen Teilnehmern ausgeübt werden, gleichzeitig aber mit den Aktivitäten der
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ist eine eigene Arbeit wert, gerade unter Bedingungen, in denen häufig Themen noch gefunden werden müssen.“ Gänzlich verlassen wird hier dann natürlich „nur“ die journalistische Rolle. Stattdessen nimmt das Individuum eine andere Rolle an, z.B. die des Außenseiters oder Spaßvogels. Er begibt sich dann ebenfalls in eine informelle Rolle und füllt diese für einen Augenblick vollkommen aus.
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Carsten Schlüter anderen in deutlichem Zusammenhang stehen. Diese Rollen unterscheiden sich so von Rollen im allgemeinen, nicht nur, weil sie in einer bestimmten sozialen Situation realisiert werden, sondern auch, weil das System, dessen Teil sie sind, als konkretes selbstkompensierendes System identifiziert werden kann.
Der Begriff situierte Rolle beinhaltet also sowohl den Rollenkern wie auch das variierende Rollenverhalten und ist auf einen beobachtbaren Ausschnitt der sozialen Realität, dem situierten Aktivitätssystem, bezogen. Eng mit dem Goffmanschen Begriff der situierten Rolle verbunden sind weitere analytische Komponenten, die in der Interaktion zum Tragen kommen und die bereits von Hettlage angerissen wurden. Eines davon ist das Image. Hettlage hat es Selbstbild genannt und auf die Techniken zur Imagepflege hingewiesen, die Goffman ausgearbeitet hat. Als Image bezeichnet Goffman ein Bündel positiver Werturteile, welche einem Interagierenden in und durch die Interaktion zugesprochen werden. Es ist zwar ein Selbstbild, doch eines, was durch die Interaktion gegeben wird. Wichtig ist an dieser Stelle nicht, wie das Image zustande kommt oder welche Möglichkeiten Goffman erörtert hat, um das Image zu wahren (vgl. hier die Ausführungen Hettlages). Wichtig ist vielmehr, dass das Image die Interaktionen strukturiert und dann wiederum auf Entscheidungen der organisatorischen Ebene strukturellen Einfluss haben kann. Es wirkt sich auf die Position aus, die dem Interaktionsteilnehmer zugesprochen wird, auch entgegen den formalen Strukturen. So ist nicht zwangsläufig derjenige tatsächlich der Entscheider, der die adäquate formale Rolle besetzt. Möglich ist auch eine informelle Hierarchie, die sich durch Imagezuschreibungen ergibt und an deren Spitze derjenige Entscheidungen kommuniziert, der das bessere Image besitzt. Image, Rolle und soziodemographische Merkmale wie Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit ergeben zusammen die soziale Identität, also das, was in der punktuellen (sachlichen und zeitlichen) Interaktion von Alter und Ego dargestellt bzw. zugestanden wird. Diese soziale Identität, so Hettlage (in diesem Band), „umhüllt eine einzigartige Biographie und situative Vorerfahrungen, die als persönliche Identität in die soziale Interaktion hineingetragen und dort identifiziert werden“ (Hervorhebung im Original). Die persönliche Identität macht einen Interagierenden unverwechselbar, sie ist ein Zusammenschluss der verschiedenen sozialen Identitäten, die die Interagierenden voneinander kennen und die in der Interaktion aufgegriffen werden bzw. wirken können. Dazu zählen auch Rollen, die von den Interagierenden in anderen Interaktionssituationen ausgefüllt werden. So kann ein gemeinsames Badmintonspielen Erwartungen auf zukünftige Interaktionen – oder auch vergangene Erfahrungen neu (vgl. Goffman 1996: 139) – strukturieren und insofern auch außer-
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halb des Courts, nämlich in der Redaktion, Auswirkungen auf die informelle Rolle haben. Ist einer der Spieler beispielsweise herausragend gut, kann diese Imagezuschreibung zu einem Autoritätsgewinn in der Redaktion führen und damit zu beobachtbaren Einflüssen in der journalismusbezogenen Interaktion, obwohl der Ausgangspunkt der Erwartungsstrukturierung zeitlich, sozial und sachlich außerhalb der Mitglieds- bzw. Arbeitsrolle der Redaktion liegt. Umgekehrt sind natürlich auch Erwartungen aus dem journalistischen System denkbar, die auf ein Verhalten außerhalb der journalistischen Rolle bzw. des journalistischen Systems wirken. Am Beispiel eines Arztes verdeutlicht Goffman (1973: 107), dass der Einfluss einer spezifischen Rolle auch dann die Interaktion irritieren kann, wenn die entsprechende Person nicht in ihrer Arbeitsrolle interagiert. Eine vollständige Untersuchung der Rolle muß seine Krankenbesuche in der Gemeinde einschließen, und was noch wichtiger ist, die ganz bestimmte Behandlung, die ihm widerfährt, wenn er offensichtlich überhaupt nicht in ärztlicher Sache beschäftigt ist – eine Behandlung, die er dadurch erleichtert, daß er ein Arztschild am Auto, ein besonderes Türschild, eine besondere Anrede und einen speziellen Titel auf seinen amtlichen Dokumenten hat.
Entsprechend ist bei Journalisten an ihr Rollenverhalten beispielsweise bei Vor-Ort-Recherchen zu denken, wo ihr Handeln aus einem Gemisch aus Rollenerwartungen, Selbstimage, Image des Mediums sowie informellem Verhalten besteht. Diese Konstituentien des Handelns, eingebettet in strukturelle Mechanismen insgesamt, beeinflussen den Recherchevorgang und das Rechercheergebnis. Damit wären wir bei einem weiteren theoretischen Konzept Goffmans: dem Rahmen.
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Rahmen
Den Ausgangspunkt der Analyse interaktionistischer Rahmen bei Goffman beschreibt Hettlage (in diesem Band: 318) sehr plastisch: Angesichts des schwankenden Bodens unter unseren Verstehens- und Handlungsweisen sah sich Goffman gezwungen, die Frage der Stabilität, des gegenseitigen Vertrauens, der Normalität der Erscheinungen (normal appearances) und des Engagements für eine gemeinsame Wirklichkeit neu zu durchdenken. Dazu dient ihm das Konzept der Rahmung.
Mit der „Frame-Analysis“ (vgl. Goffman 1996) hat Goffman einen Vorschlag zur Beschreibung von sozialisierten Kognitionsstrukturen entwickelt, die einem Individuum in einer bestimmten Situation zugänglich sind. Rahmen sind struk-
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turelle Komponenten der aktuellen Erfahrung. Indem wir eine vorgefundene Situation in einen spezifischen Rahmen ordnen können, ergeben diese Situation und die in ihr ablaufenden Interaktionen Sinn. Dennoch wäre es falsch, hier von Sinnstrukturen als kulturelle Bedeutungsmuster zu sprechen, wie es in der Lebensweltanalyse geschieht (vgl. Raabe in diesem Band), wenn damit universelle Sinndeutungen gemeint sind, die von einer spezifischen Situation losgelöst sind und als allgemeine Beschreibungen verschiedenster Interaktionen dienen. Rahmen beziehen sich immer auf aktuelle punktuelle Strukturen einer bestimmten Interaktion und müssen beständig, der Situation angepasst und neu ausgewählt werden. In ihrer flexiblen Handhabung sind sie kein allgemeines analytisches Raster der Wissenschaft, sondern Organisationsprinzipien spezifischer Erfahrung der Interagierenden. Eberle (1991: 205f.) beschreibt diesen Unterschied zwischen den verschiedenen theoretischen Ansichten: Lebenweltanalyse ist Philosophie, Rahmenanalyse ist Soziologie. Lebensweltanalyse zielt auf die universalen Grundstrukturen subjektiver Weltorientierung, Rahmenanalyse untersucht die soziale Wirklichkeit in ihrer vorfindlichen historischen und kulturellen Gestalt. Lebensweltanalyse will eine Hermeneutik liefern, in deren Rahmen jede Sinndeutung lokalisierbar ist, Rahmenanalyse will einige Organisationsprinzipien beschreiben, gemäß deren in unserer Gesellschaft Situationsdefinitionen vorgenommen werden. Lebensweltanalyse strebt nach einer Anthropologie, welche die Sozialwissenschaft fundiert und damit begründet; Rahmenanalyse ist primär eine Wissenssoziologie, welche die Rahmenstrukturen der vorfindlichen sozialen Wirklichkeit beschreibt – und damit gleichzeitig das als selbstverständlich vorausgesetzte (Erfahrungs-)Fundament herkömmlicher soziologischer Analyse in seiner konkreten Gestalt.
Dieser Definition der Rahmenanalyse entspricht die Annahme über die Reflexivität der Rahmung. Rahmen kommen durch den gemeinsamen Prozess der Rahmung zur Anwendung, die Wahl des „richtigen“ Rahmens – also die Rahmung – geschieht durch die Reflexivität von Ego und Alter. Dabei kommen Fehlrahmungen vor, der Rahmungsprozess muss beständig erneuert werden (vgl. Hettlage in diesem Band, der ein Repertoire von möglichen Missverständlichkeiten aufzählt). Uns interessiert aber vor allem, dass die Rahmen eine Regelmäßigkeit des gegenseitigen Verhaltens (und Vertrauens) auslösen, eine Grundstruktur innerhalb (und aufgrund) derer bestimmte Interaktionen geschehen und die für alle Individuen in einer bestimmten Situation ähnlich sind. Rahmen hängen eng mit den Rollen zusammen, welche die Interaktionsteilnehmer ausfüllen. Auch hier herrscht Reflexivität, denn die Rolle bestimmt den Rahmen und umgekehrt. Der Rahmen gibt bestimmte Verhaltensmuster vor, wird aber erst durch die Interaktion ausgewählt. So existiert eine Vielzahl von
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Interaktionen innerhalb von Redaktionen, die sich nicht dem formalen Organisationsdispositiv zuordnen lassen, sondern anders gerahmt werden: private Gespräche innerhalb der Redaktion, Scherze, Kommunikation über das Kantinenessen oder die Fußballweltmeisterschaft usw. Anders als die Organisation wechselt die Interaktion beständig ihre Rahmung. Jeder Themenwechsel bringt eine neue Rahmung und damit auch eine neue Struktur und neue Rollen hervor, da der Rahmen reflexiv mit den dargestellten Identitäten gekoppelt ist. Ist der gewählte Rahmen z.B. das persönliche Gespräch über die Familien der Beteiligten, wirken familiäre Rollen als Rahmung. So kann aus persönlichen Gesprächen und den sich daraus ergebenen Schlussfolgerungen ein Anlass entstehen, einen Artikel über Familienpolitik zu verfassen. Aus der privaten Interaktion zwischen zwei Redakteuren wechselt der Rahmen innerhalb der Interaktion vom persönlichen Gespräch zur formalisierteren Journalismusinteraktion und umgekehrt. Mit einer Rahmenanalyse kann also bestimmt werden, ob, wie und in welchem Maße Rahmen Einfluss auf Entscheidungsstrukturen der organisatorischen Ebene haben. Der Vorteil des Rahmenkonzepts liegt in der Offenheit der Beobachtungsanalyse, die dementsprechende methodische Vorgehensweisen erfordert, da es um ein „dekonstruktivistisches Konzept“ geht: Den systematischen Höhepunkt des Goffman´schen „Dekonstruktivismus“ bildet zweifellos die „Rahmenanalyse“, die „lebendige“ Alltagserfahrungen in Sinnstrukturen auflöst. Goffmans rahmenanalytischer Strategie, „unbewußte“ Sinnkomplexität zu enthüllen, entspricht ein komplexes System von Konzepten, das die Differenzierung von Rahmenklassen und die Beschreibung von transformationslogischen Zusammenhängen zwischen verschiedenen Rahmen erlaubt. Die Interaktionsebenen (und damit die Grenzen der Mikrosoziologie) überschreitend, analysiert und dekonstruiert Goffman die Reflexivität und Schichtung sozialen Sinns verschiedenster Art. (Willems 2000: 46f.)
Der Sinn des Handelns von Journalisten entsteht nicht allein aus dem funktionalistischen Orientierungshorizont, sondern wird zudem konstituiert aus der situativen Interaktionsrahmung und vielfältigen Sozialisationseinflüssen. In Goffmans Perspektive ist die Grenzziehung zwischen journalistischem und außerjournalistischem Handeln, wie Rühl (1980: 51) sie fordert, nicht möglich: Sicherlich wird niemand ernsthaft unterstellen wollen, daß ein einzelner als Gesamtperson Journalist ist. Journalistisches Handeln stellt einen bestimmten Lebensvollzug dar, der sich rational nicht mit den vielen anderen Handlungsmustern identifizieren läßt, zu denen eine Person fähig ist und die sie auch faktisch vollzieht, wenn sie als Vater, Parteimitglied, Bausparer, Umweltschützer, Tourist, Musikliebhaber u.ä. handelt. Daher ist eine Grenzziehung – aber keine hermeti-
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Carsten Schlüter sche Trennung! – zwischen journalistischem und außerjournalistischem Handeln unerläßlich.
Die Interaktionsanalyse integriert – über Rollen beispielsweise – das Organisationssystem, ihr Schwerpunkt liegt aber in Begriffen wie informeller Rolle und persönlichen Einflüssen. Sie liefert eine eigenständige Sicht auf die Strukturen des Journalismus, die sich aber durchaus komplementär zu anderen Perspektiven verhält.
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Ausblick: empirische Umsetzung
Goffman wollte „formale Interaktionsstrukturen im Alltag beschreiben, wie sie sich, trotz aller schwankenden Verstehens- oder Akzeptanzerfolge, trotz aller Zwischenfälle auf dem Weg zur „richtigen“ Interpretation, herauskristallisieren.“ (vgl. Hettlage, in diesem Band). Eine solche Untersuchung sollte mit den Mitteln der Mikroanalyse durchgeführt werden (vgl. Goffman 1994: 55). Eberle (1991: 206) sekundiert: Gerade Goffman hat uns vorbildlich gezeigt, daß man durch eine konkrete, datengeleitete Auseinandersetzung mit konkreten sozialen Phänomenen wesentlich mehr über das Funktionieren der Gesellschaft erfährt als durch philosophisch hochreflektierte Konstruktionen von „grand theories“. Aufgabe der Soziologie muß sein, die soziale Wirklichkeit empirisch zu analysieren, d.h. sozio-kulturelle Milieus oder „kleine Lebenswelten“ in ihrer konkreten Inhaltsfülle zu studieren.
Journalistische Organisationen sind derartige sozio-kulturelle Milieus, und Gruppenansammlungen wie die Bundespressekonferenz können als kleine Lebenswelten verstanden werden. Schon diese Begrifflichkeiten verweisen darauf, dass in erster Linie qualitative Vorgehensweisen (wie die Beobachtung) von Interaktionen das treffende Instrumentarium wären. Goffman selbst schlägt vor, die Beobachtung auf bestimmte, regelmäßig vorkommende Interaktionen zu fokussieren. Hierbei zeichnen sich dann situierte Rollen und Rahmen ab, die in schematischen Handlungssätzen aufgeteilt werden können. Konkret würde sich die Beobachtung demnach sachlich, zeitlich und sozial fokussieren. Der Interaktionsausschnitt müsste qualitativ ausgewertet und die Strukturen der Interaktion analysiert werden. Das Ergebnis wäre ein Schema der situierten Strukturen (Rollen und Rahmen, formale und informelle) und der verschiedenen Einflüsse untereinander. Begleitend wird dieses Ergebnis mit dem Wissen über die formalen organisatorischen Strukturen abgeglichen. Auf einem solchen Weg kann analysiert werden, inwieweit journalistische und au-
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ßerjournalistische Interaktionen und (formale wie informelle) Strukturen aus welchen Systemen auf die Interaktion wirken. Flankiert werden sollte eine solche Beobachtung durch qualitative Interviews (vgl. u.a. Spöhring 1995: 147ff.), die auch wieder Interaktionen darstellen und von daher geeignet sind, einerseits die aus der Beobachtung gewonnenen Erkenntnisse zu überprüfen und andererseits Wissen für die Analyse der Beobachtung zu generieren (etwa über informelle Strukturen oder persönliche Identitäten).
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NETZWERKE
Interorganisationale Netzwerke: Soziologische Perspektiven und Theorieansätze Arnold Windeler
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Einführung
Netzwerke erfreuen sich heute in der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Politik und nicht zuletzt in den Medien nicht nur großer Aufmerksamkeit, sondern gelten zuweilen als eines der definierenden Topoi moderner Vergesellschaftung (vgl. etwa Mayntz 1992).1 Die Allgegenwart von Netzwerken zwischen Personen und vor allem zwischen Organisationen verweist auf deren Bedeutung: Angesprochen sind Netzwerke zwischen Endherstellern und ihren System- und Komponentenzulieferern in der Automobilindustrie, Franchisenetzwerke, wie die von McDonalds oder OBI, oder Netzwerke in der Content-Produktion für das Fernsehen, das Internet bis hin zu Peer-to-Peer-Systemen in der Musikproduktion und -distribution sowie der verteilten Entwicklung von Portalen (vgl. Sydow & Windeler 2004). Nicht selten geht Vernetzung mit radikalen Umbrüchen von Industrien einher: So wurden Fernsehinhalte vor der Einführung des Privatfernsehens Mitte der achtziger Jahre in Deutschland senderintern produziert, heute jedoch werden sie vor allem senderextern von Fernsehproduzenten zusammen mit Autoren, Regisseuren, Kameraleuten sowie weiteren künstlerischen und technischen Mediendienstleistern, wie etwa Studiodienst-
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Die Rede von Vernetzung und von Netzwerken ist nicht auf die Sozialwissenschaften begrenzt. Netzwerkideen finden sich in verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen: Das gilt für die Physik und Biologie genauso wie für die Linguistik und Anthropologie. Die Sozialanthropologie untersucht etwa Personennetzwerke als Entwicklung von Formen modernen Zusammenlebens von Menschen jenseits tradierter Formen der Verwandtschaft.
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leistern, in Netzwerken erstellt, welche die Grenzen verschiedener Unternehmungen überschreiten (vgl. Windeler 2004; Sydow & Windeler 1999). Soziologisch interessieren Netzwerke zwischen Organisationen, auf die ich mich im Folgenden konzentrieren will, als Medium und Resultat gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. Individuelle Akteure und Organisationen verschaffen sich, indem sie kontextsensitiv Interaktionen und Beziehungen in Netzwerken koordinieren, besondere Handlungsmöglichkeiten. Obgleich die Akteure intendiert handeln, entzieht sich ein Großteil der Konsequenzen ihres Handelns ihrer Kontrolle. Akteure bewerten heute zwar permanent die Vor- und Nachteile von Netzwerken im Vergleich zu Märkten und Organisationen und entscheiden auf der Grundlage jeweils aktuell erneuerter Wissensbestände, wie sie beispielsweise in einem konkreten Fall zusammenarbeiten wollen, ob sie die praktizierte Form fortsetzen oder verändern. Vernetzung wird so selbst reflexiv, selbst zum Medium und Resultat einer zunehmend reflexiv gewordenen Moderne. Durch diese Form „reflexiver Vernetzung“ (Windeler 2001: 334ff.) oder reflexiver Governance schreiben Akteure gleichzeitig Unsicherheiten und Risiken fort, denen sie durch Koordination mit anderen in Netzwerken gerade zu entfliehen versuchen und produzieren andere Risiken. Netzwerke ermöglichen beispielsweise Projekte flexibel zu koordinieren und tragen zu einer Projektifizierung von Industrien und der Gesellschaft bei, die einerseits viele gesellschaftliche Institutionen voraussetzt, sie andererseits aber auch in Frage stellt, etwa im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts sowie der Interessenvertretung (vgl. Windeler & Wirth 2004, 2005). Und nicht zuletzt eröffnet Vernetzung Medienkonzernen Chancen, machtvoll auf die Produktion und Distribution von Content auch jenseits der eigenen Organisationsgrenzen Einfluss zu nehmen, d.h. Möglichkeiten der Medienkonzentration ohne Zentralisation (vgl. Harrison 1994), was bisher weitgehend undiskutiert geblieben ist (vgl. aber Windeler 2004: 72f.; Wirth & Sydow 2004). Im öffentlichen wie im wissenschaftlichen Diskurs verbinden heute viele mit Netzwerken hochfliegende Erwartungen und Vorteile: Netzwerke gelten als die Antwort auf die Turbulenzen der globalen Geschäftswelt, auf gestiegene Risiken der Entwicklung und Erforschung von Technologien, welche die Handlungsmöglichkeiten einer jeden Organisation alleine übersteigen, und auf sinkende Fähigkeiten von Unternehmungen, einen Markt zu dominieren (vgl. Buono 2003). Die Liste von Netzwerken positiv zugeschriebenen Fähigkeiten und Eigenschaften ist damit keinesfalls erschöpft. Da überrascht es kaum, dass einige die Netzwerkanalyse gar als die einzige Möglichkeit ansehen, moderne Gesellschaften zu erklären (vgl. bereits White et al. 1976).
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Sind Netzwerke der neue „one best way“ der Koordination im 21. Jahrhundert (vgl. Mayntz 1992; Snow et al. 1992), sind sie die Garanten von Wohlfahrtsgewinnen sowie des Abbaus sozialer Ungleichheiten (vgl. Perrow 1992)? Mehr als Zweifel scheinen angebracht. Netzwerke haben auch ihre Schattenseiten, denn strukturell schließen sie nicht nur immer viele aus, selbst Teilnehmer binden sie in ein durch das Netzwerk geprägtes Handlungs- und Beziehungsgeflecht mit anderen ein, das ihnen ansonsten offen stehende Chancen verstellt (vgl. Wirth & Sydow 2004). Zudem kreieren Netzwerke keine „heile Netzwerkwelt“ (Gaitanides 1998), sondern bilden sich in Spannungsverhältnissen aus: nicht zuletzt denen von Autonomie und Abhängigkeit und damit von Macht und Herrschaft (vgl. Sydow et al. 1995). Auch die mit Netzwerken verbundenen Resultate sind weder für die einzelnen Organisationen noch gesellschaftlich immer nur positiv (vgl. Teubner 2004). Nicht selten schaffen sie neue Abhängigkeiten, führen zu neuen Formen von Exklusivität und Offenheit der Zusammenarbeit, die neue Arten der Machtzusammenballung kreieren, zuweilen befördern sie auch illegale Aktivitäten (vgl. Baker & Faulkner 1993). Zugespitzt belegt das der aktuelle Diskurs um Terrorismus. So reden Milward & Raab (2003) im Zusammenhang von Al-Qaida und von Drogen- und Waffenhandel von „Covert Networks“, und diskutiert Mayntz (2004) die Koordinationsform des Netzwerks als Moment des transnationalen Terrorismus. Aber klären wir erst einmal, was Netzwerke sind.
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Die Netzwerkperspektive: allgemeine Merkmale
Da Netzwerke in Mode sind, steigert sich die begriffliche Konfusion. Zuweilen entsteht der Eindruck, man sei in einem „terminological jungle in which any newcomer may plant a tree“ (Barnes 1954: 3). Unklar ist bereits oft, was überhaupt eine Netzwerkperspektive kennzeichnet. Was eine Netzwerkperspektive ist, kann man vom – gleich noch näher vorgestellten – Strukturansatz der Netzwerkanalyse lernen. Netzwerkansätze, die ihren Namen verdienen, offerieren eine relationale Sichtweise auf Sets sozialer Beziehungen und deren Charakteristika (vgl. Trezzini 1998: 515ff.; Emirbayer & Goodwin 1994: 1416; Collins 1988: 413). Die Netzwerkperspektive grenzt sich damit grundlegend von Ansätzen ab, die Soziales primär über Ideen, Werte und „kognitive Landkarten“ erklären oder Soziales über Variablen wie Geschlecht, Alter usw. zu erkunden suchen, oder von einem „übersozialisierten“ oder „untersozialisierten Akteur“ ausgehen (vgl. Granovetter 1985). Der Sozialanthropologe J. Clyde Mitchell (1969: 1f.) sieht Netzwerke entsprechend als
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Arnold Windeler a specific set of linkages among a defined set of persons with the additional property that the characteristics of these linkages as a whole may be used to interpret the social behaviour of the persons involved.
Verallgemeinert man diese Bestimmung über Personen hinaus – etwa auf Unternehmungen –, so sind Sets von Beziehungen zwischen einer definierten Gruppe von Händlern, Automobilherstellern, System- und Komponentenzulieferern, die ihre Geschäfte miteinander derart abstimmen, dass das Beziehungsgeflecht zwischen ihnen für ihre Aktivitäten Bedeutung erlangt, Netzwerke, genauer: Unternehmungsnetzwerke, da die beteiligten Akteure Unternehmungen sind (vgl. Abbildung 1). Abbildung 1: Modell eines Unternehmungsnetzwerks z.B. Konzernmütter, Rückversicherer, externe Berater, technische und andere Experten, staatliche Akteure, Vertreter von Verbänden, Händler z.B. Endproduzenten wie Automobilhersteller und Versicherungen z.B. Systemzulieferer, Makler, Zwischenhändler z.B. Komponentenzulieferer, private und Industriekunden Quelle: Windeler (2001: 34).
Drei Besonderheiten der Netzwerkperspektive will ich hervorheben. In Netzwerkanalysen geht es erstens immer um Beziehungen zwischen mehr als zwei Einheiten, etwa zwischen mehr als zwei Unternehmungen, und um mehr als dyadische Beziehungen, sonst haben wir es nicht mit Netzwerkanalysen zu tun. Selbstredend betrachtet man auch dyadische Beziehungen, etwa Geschäftsbeziehungen zwischen einem Systemzulieferer und einem Komponentenzulieferer. Diese lassen sich, so die Netzwerkposition, allerdings nur unter Einbezug weiterer Beziehungen und vor allem des Netzwerks der Beziehungen verstehen und erklären. Die Netzwerkperspektive ist zweitens neutral gegenüber unterschiedlichen Aspekten von Vergesellschaftung und per se nicht normativ. Ob Netzwerke effizient sind, Wohlfahrtsgewinne erbringen oder Demokratie befördern, ist nicht gleich gesagt – auch das Gegenteil ist möglich. Normatives kommt erst durch
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ergänzende Bestimmungen ins Spiel, etwa wenn beim Vorliegen bestimmter Strukturmerkmale die Transaktionskostentheorie (vgl. Williamson 1990 [1985]) behauptet, Netzwerke seien die effiziente ökonomische Koordinationsform. Die vorgestellte Netzwerkperspektive stellt drittens eine Basisidee von Vernetzung bereit, aber keine Netzwerktheorie (vgl. Barnes 1972: 2). Die Betrachtung von Sets von Relationen als Netzwerke ist zwar nicht vollständig theorielos, wie die Spezifität der relationalen Sichtweise belegt (vgl. Emirbayer & Goodwin 1994: 1414). Aussagen darüber, wie Netzwerke sich unter gleichzeitigem Bezug auf Gesellschaft und gesellschaftlichen Institutionen und auf situative Interaktionen und Beziehungen herausbilden und in Zeit und Raum fortschreiben, sind damit aber noch nicht gemacht – diese sind vielmehr im Rahmen von Netzwerktheorien erst noch auszuarbeiten (vgl. ausführlich hierzu Windeler 2005; Windeler 2001: 33ff.). In den Sozialwissenschaften werden heute zwei Netzwerkansätze unterschieden, der Strukturansatz und der Governanceansatz. Der Strukturansatz der Netzwerkanalyse (Abschnitt 3) thematisiert Strukturen von Beziehungsgeflechten, der Governanceansatz (Abschnitt 4) die Regelungen der Koordination von Interaktionen und Beziehungen zwischen beispielsweise Individuen oder Organisationen in diesen Kontexten. Beide Ansätze entwickelten sich weitgehend getrennt voneinander und beginnen erst, sich systematisch wechselseitig wahrzunehmen.
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Der Strukturansatz der Netzwerkanalyse
Strukturelle Netzwerkforscher gehen davon aus, dass jeder mit verschiedenen anderen interagiert und die korrespondierenden Beziehungen die Personen in ein Beziehungsgeflecht einbinden, dessen Strukturmuster sowie deren Positionen für das Verhalten von Akteuren bedeutsam sind. Untersucht werden entsprechend die sozialen Strukturen der Beziehungsgeflechte und Positionen zwischen einer definierten Menge von Akteuren (oder genereller sozialen Elementen). Die Akteure (oder Elemente) betrachtet der Strukturansatz als „Knoten“, die sie verbindenden Beziehungen als „Kanten“. Die Netzwerkknoten können Personen, Gesellschaften, wenn beispielsweise Handelsblöcke wie die Europäische Union untersucht werden, aber auch Unternehmungen sein. Letztlich gilt: „[A]ny entity that is connected to a network of other such entities will do“ (Emirbayer & Goodwin 1994: 1417). Ebenso allgemein ist das Verständnis von Beziehungen zwischen den Einheiten: Es können persönliche, freundschaftliche und geschäftliche ebenso wie
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kurzfristige und dauerhafte Beziehungen sein, neben tatsächlichen schließen sie selbst potentielle Interaktionen ein (vgl. z.B. Pappi 1987: 17f.). Strukturelle Netzwerkforscher betrachten sowohl Beziehungsgeflechte zwischen Akteuren in Unternehmungen, etwa zwischen Konzernunternehmen in einem Konzern, als auch zwischen Unternehmungen, in denen der Austausch von Gütern, Dienstleistungen, Personal, Geld, Informationen, normativen Vorstellungen und vielem mehr erfolgt, als Netzwerke. Vielleicht überraschend charakterisieren sie selbst Märkte als Netzwerke, als Beziehungsgeflechte zwischen Marktteilnehmern. Die Ursprünge des Strukturansatzes der Netzwerkanalyse liegen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Entwicklungen moderner Vergesellschaftungen, in denen neben den traditionellen auch andere Formen sozialer Beziehungen an Gewicht gewinnen, lieferten Anstöße (vgl. Kilduff & Tsai 2003: 35ff.; Windeler 2001: 91ff.; Jansen 1999: 31ff.; Scott 1990). Der Soziologe Georg Simmel (1992 [1908]) gilt als ein theoretischer Vordenker des netzwerkanalytischen Denkens, da er die Wechselwirkungen von Beziehungen zwischen Individuen als Zentrum der Soziologie versteht und die Handlungsweisen und Orientierungen in elementarer Weise an ihre strukturell bestimmten Positionen im Beziehungsgeflecht bindet (vgl. zu weiteren Vorläufern zusammenfassend Breiger 2004; Windeler 2001: 91ff.). Für die Entstehung des Strukturansatzes der Netzwerkanalyse sind drei weitere Quellen wichtig: Erstens übertrugen Forscher wie Kurt Lewin, Fritz Heider und Jacob Moreno um 1920 Ideen aus der Entwicklung von Feldtheorien in der Physik auf die Untersuchung von sozialen Interaktionen in Kleingruppen in der Gestaltpsychologie (vgl. z.B. Lewin 1951, 1936). Zur gleichen Zeit starteten, zweitens, Wissenschaftler der Harvard Business School ihre über zehn Jahre andauernden anthropologischen Studien über das Fabrikleben in dem zur Western Electric Company gehörenden Hawthorne Werk in Chicago. Die berühmten Hawthorne Studien zu informellen Gruppen waren die ersten, welche die von Moreno entwickelten Soziogramme zur graphischen Darstellung der Beziehungen zwischen Individuen in Kleingruppen nutzten, um die Strukturen von Interaktionen zwischen Arbeitern in Organisationen abzubilden (Homans 1960 [1950]; Roethlisberger & Dickson 1947). Zudem setzten vor allem die Sozialanthropologen der Universität Manchester Meilensteine bei der Entwicklung der strukturellen Netzwerkanalyse. So fand Barnes (1954) in seiner als analytischer Wendepunkt der Netzwerkforschung bezeichneten Untersuchung eines norwegischen Fischerdorfes auf der Insel Bremnes heraus, dass die Positionen in einer Gemeinschaft sich nicht primär aus den sozialen Attributen und
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Normen von Klassen sozialer Akteure ergeben sowie die Interaktionsstrukturen zwischen Dorfbewohnern nicht primär durch die ethnischen und familialen Zugehörigkeiten geprägt sind, sondern aus den Interaktionen resultieren, die Dorfmitglieder miteinander durchführen, wenn sie einander Hilfe gewähren, sich unterhalten, Arbeitsplätze vermitteln und politische Aktivitäten durchführen. Ähnliche Ergebnisse lieferten Studien über die Beziehungen von Arbeitern in den multiethnischen, von saisonalen Booms geprägten Minenstädten Zentralafrikas, die aufwiesen, dass die Beziehungsstrukturen weder durch Verwandtschaft noch durch Erwerbsarbeit geprägt waren, sondern davon abgetrennte Sozialstrukturen ausbildeten (vgl. Kilduff & Tsai 2003: 13ff.; Homans 1960 [1950]). Eine dritte einflussreiche Quelle der Netzwerkforschung bildet die mathematische Graphentheorie. Vor allem Forscher der Gruppe um Harrison C. White an der Harvard Universität analysierten mit Hilfe machtvoller Computer Netzwerkstrukturen sozialer Interaktionen und Beziehungen jenseits von Kleingruppenzusammenhängen und verhalfen dieser Forschungsrichtung damit zu ihrem weltweiten Durchbruch (vgl. White et al. 1976; White 1965; zur Geschichte Jansen 1999; Scott 1990). Die Netzwerkanalyse des Strukturansatzes ist vor allem eine Methode der Sozialstrukturanalyse. Oft verharren Studien dieses Ansatzes im Dickicht methodischer Erörterungen. Das gilt aber keinesfalls für alle, obgleich selbst avancierte Studien kaum in der Lage sind, die sozialen Praktiken der (Re-)Produktion der Netzwerke in Zeit und Raum zu erfassen. Illustrativ will ich zwei Studien lediglich ganz kurz ansprechen, die explizit theoriegeleitet vorgehen, ohne deren Theoriepositionen eingehender zu kritisieren (vgl. Windeler 2001: 117ff.). Die eine analysiert Verflechtungen zwischen Unternehmungen, die andere zeigt die Bedeutung von Strukturen für ökonomische Informationsgewinne auf. Franz Urban Pappi, Peter Kappelhoff und Christian Melbeck (1987) liefern ein Beispiel für die Untersuchung von Machtstrukturen und Machtkonzentrationen in Industrien. Sie bestimmen „Die Struktur der Unternehmensverflechtungen in der Bundesrepublik“ im Privatsektor vor allem durch zwei Strukturinformationen: 2. Die Privatwirtschaft ist in der Art einer Machtstruktur organisiert mit Unternehmen an der Spitze, die direkt zur Machtdomäne der Deutschen Bank und der Dresdner Bank gehören. 3. Dieses Machtzentrum ist aber intern differenziert. Neben einer Anzahl von Überlappungen in den Einflusssphären der beiden Banken zeigen sich nämlich deutlich unterschiedene „Hinterhöfe“ (ebd.: 713).
Sodann fragen sie, welche der Theorien über die Bedeutung und Ausprägungen dauerhafter Lieferbeziehungen zwischen Unternehmungen dem bestimmten
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Strukturmuster entspricht und kommen zu dem hier nur referierten Ergebnis, dass dies am ehesten für die Theorie der Bankenhegemonie zutrifft. Ferner reflektieren sie die Bedeutung der Beziehungs- und Positionsstruktur für die Handlungs- und Steuerungsfähigkeiten der beteiligten Unternehmungen und schließen: Das Handlungs- und Steuerungspotential der Unternehmen hängt nicht nur von ihrer Wirtschaftskraft ab, sondern wird wesentlich bestimmt von ihrer Platzierung im Netz der Unternehmensverflechtungen. Ein atomistisches Marktmodell, das nur die Ressourcenpositionen der Unternehmen und die daraus abgeleiteten Unternehmensstrategien berücksichtigen würde, reicht zum Verständnis der Interorganisationsbeziehungen in ihrer systemischen Verflechtung nicht aus (ebd.: 714).
Ronald Burt (1992) – mein zweites Beispiel – geht es in seiner Wettbewerbstheorie um die Frage, wer sich aufgrund welcher Position im Beziehungsgeflecht Vorteile bei der Nutzung von Informationen als der zentralen Ressource im Wettbewerb verschaffen kann – eine Frage, die insbesondere auch für Journalisten wichtig sein dürfte. Seine Diagnose lautet: besonders wichtig sind nicht-redundante Beziehungen, die auf „strukturelle Löcher“ hinweisen (vgl. Abbildung 2). Die Bedeutung des Gesagten lässt sich bereits an einem minimalen Netzwerk von drei Akteuren und unter Bezug auf das Konzept des „lachenden Dritten“ von Simmel illustrieren: Strukturelle Löcher bieten Akteuren Vorteile. [...] Akteure, die strukturelle Löcher überbrücken, verbinden unterschiedliche Welten. Sie können die Rolle des „lachenden Dritten“ einnehmen, weil ihre Position am Schnittpunkt ansonsten unverbundener Cluster reichlich Gelegenheiten bietet, die sich in Geschäftserfolg ummünzen lassen. Ein Endfertiger in der Position Ego kann in einer Triade mit zwei Zulieferern [A und B] eine Tertius-Strategie verfolgen und diese gegeneinander ausspielen, weil und solange die Zulieferer nicht miteinander verbunden sind. Gelingt dem Akteur das, so ist er der lachende Dritte (Windeler 2001: 114).
Entsprechend sind für Burt die Akteure strukturell-autonom und erfolgreich, deren Beziehungsmuster so sind, dass sie die strukturellen Löcher relevanter Akteure kontrollieren, ohne selbst auf der abhängigen Seite struktureller Löcher zu stehen.
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Abbildung 2: Redundante und durch ein „structural hole“ gekennzeichnete Beziehungen zwischen drei Akteuren EGO
EGO
A
B
A
B “structural hole”
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Der Governanceansatz der Netzwerkanalyse
Organisationssoziologen und Managementforscher widmen sich insbesondere der Governance, der Steuerung und Regelung der Koordination der Interaktionen und Beziehungen zwischen Organisationen in Netzwerken. Governance meint dabei nicht nur „politische Steuerung“ im Rahmen des hierarchischen Kontrollmodells (Mayntz 1998), sondern schließt stärker kooperative Formen der Koordination und interorganisationale Koordinationsformen ein: Governance bezeichnet den Prozess des Steuerns und Regelns eines technischen und sozialen Zusammenhangs. [...] Steuerung meint jedoch nicht notwendigerweise autoritative Anordnung. Obzwar in der historischen Figur eines Steuermanns begründet, ist Governance nicht auf den Spezialfall hierarchischer Steuerung reduzierbar, in der die Steuerungsleistungen auf ein singuläres Steuerungssubjekt zurückgehen. Aus einer generalisierten Steuerungs- und Regelungsperspektive im Sinne von Governance ist ein breites Spektrum von Mechanismen denkbar, angefangen bei dem erwähnten singulär-hierarchischen Schema, über komplexe und heterogene Steuerungssysteme, in denen vielzahlige eigenständige Steuerungssubjekte über ebenso vielfältige Koordinationsmechanismen und Ressourcenflüsse ineinandergreifen und zusammenwirken bis hin zum atomistischen Markt als Extrempunkt dezentraler Steuerung (Schneider & Kenis 1996: 10).
Die Governance von Netzwerken bildet einen gestalteten Ordnungsrahmen für das Geschehen in ihnen, bezeichnet die von Netzwerkkoordinatoren geschaffenen allgemeinen Bedingungen, unter denen Akteure im Netzwerk und mit Dritten miteinander interagieren und Beziehungen ausgestalten (vgl. Windeler 2001: 267ff.). Bestimmen lässt sich die Governance über Praktiken der Selektion von Akteuren und Handlungsdomänen, der Allokation von Ressourcen, das heißt, der abgestimmten Produktion oder Nutzung von Ressourcen im Netzwerk, der Evaluation des Netzwerkgeschehens, der Integration der Aktivitäten und Bezie-
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hungen in den Netzwerkzusammenhang, der Konfiguration der Positionen der Netzwerkakteure und der Konstitution der Netzwerkgrenzen und der hierüber erzielten oder erzielbaren Resultate (vgl. ebd.: 249ff.). Die Netzwerkgovernance variiert mit dem Netzwerktypus. In hierarchischen Netzwerken finden wir eine hierarchische Struktur vor, die vorrangig von einem erkennbaren und von den Netzwerkakteuren akzeptierten Netzwerkkoordinator (oder über eine kleine Anzahl von Akteuren) ausgestaltet wird, während in heterarchischen Netzwerken eine heterarchische Struktur vorliegt, die gemeinsam von den Netzwerkmitgliedern festgelegt wird und die Führung des Netzwerkes zumeist für eine bestimmte Zeitperiode auf einen der Akteure überträgt. In der Regel gibt es in Netzwerken mehrere strategisch platzierte Akteure: Netzwerke sind „vielköpfige Hydren“ (Teubner 1992). Governanceforscher unterscheiden Märkte, Unternehmungen und Unternehmungsnetzwerke nach ihren – gleich vorgestellten – Governances. Folgerichtig sind für sie nur ganz besondere Sozialsysteme Netzwerke; andere, etwa Märkte oder Unternehmungen und damit auch Konzerne, sind für Vertreter dieser Richtung der Netzwerkforschung hingegen keine Netzwerke. Vertreter des Governanceansatzes streiten darüber, was die Netzwerkgovernance ausmacht. Das trägt elementar zum begrifflichen Durcheinander im Netzwerkdiskurs bei. Ich will die Vielzahl der Netzwerkbestimmungen hier nicht auflisten (vgl. Sydow 2003). Stattdessen stelle ich kurz einen Netzwerkbegriff vor, der durch die Strukturationstheorie des englischen Soziologen Anthony Giddens (1984) informiert ist (vgl. zum Folgenden Windeler 2005; Windeler 2003). Unternehmungsnetzwerke bilden in strukturationstheoretischer Sicht erstens eine besondere Koordinationsform „beyond market and hierarchy“, um mit Powell (1990) zu sprechen. Insbesondere die durch die Transaktionskostentheorie (Williamson 1990 [1985]) geprägte betriebswirtschaftliche Netzwerkforschung sieht das in der Regel anders (vgl. z.B. Sydow 1992). Sie versteht Netzwerke als eine Hybridform auf dem Kontinuum zwischen Markt und Hierarchie, wobei die Hybriden eine „swollen middle“ (Hennart 1993) bilden. Da auf vermachteten Märkten marktliche und auch hierarchische Momente ebenso eine Rolle spielen wie in vielen Unternehmungen, überrascht das kaum. Zum Beispiel nutzen viele dezentrale Konzerne eine Vielzahl marktlicher Momente. Entsprechend kommt die Frage auf: Sind dann nicht alle (oder fast alle) realen Märkte und Unternehmungen Hybride? Gegen die Hybridvorstellung lassen sich eine Vielzahl weiterer historischer und systematischer Einwände erheben.
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Das habe ich an anderer Stelle ausgeführt (Windeler 2005: 218ff.; Windeler 2001: 237ff.). Der strukturationstheoretische Begriff des Unternehmungsnetzwerks greift – und das ist eine zweite Besonderheit – die Bestimmung von Mitchell auf, spricht im Gegensatz zu dieser aber nur dann von Netzwerken, wenn der Beziehungszusammenhang eine besondere Qualität aufweist. Die Definition lautet: Unternehmungsnetzwerke sind vornehmlich aus Geschäftsbeziehungen und Geschäftsinteraktionen zusammengesetzt, die (mehr als zwei) Unternehmungen überwiegend mit Blick auf den zwischen ihnen konstituierten dauerhaften Beziehungszusammenhang reflexiv koordinieren (ebd.: 231f., Hervorhebung im Original).
Wir haben es bei Interorganisationssystemen von Unternehmungen also nur dann mit Netzwerken zu tun, wenn die Unternehmungen ihre Aktivitäten und Beziehungen im Beziehungsgeflecht dominant unter Rekurs auf den dauerhaften Beziehungszusammenhang koordinieren. Drittens analysiert der strukturationstheoretische Netzwerkansatz die sozialen Praktiken der Konstitution von Netzwerken, untersucht, wie Akteure reflexiv unter Bezug auf relevante Kontexte Netzwerke praktisch initiieren und beenden, die Governance ausgestalten und die Aktivitäten in Netzwerken und in relevanten Kontexten überwachen, rationalisieren und strategisch fortschreiben. Neben den im Strukturansatz betrachteten Strukturen der Beziehungen und Positionen im Netzwerk werden explizit einerseits die Netzwerke übergreifenden Kontexte mit ihren Strukturen, Institutionen usw. und andererseits die Praktiken der Akteure aufgegriffen, die Netzwerke durch ihr Handeln (re-)produzieren. In den Blick geraten so die zentralen Orientierungspunkte des Handelns, die strukturellen und institutionellen Mechanismen der (Re-)Produktion von Netzwerken sowie die gesellschaftlichen Wirkungen von Vernetzung. Märkte, Unternehmungen und Unternehmungsnetzwerke werden, viertens, nicht idealtypisch, sondern über den faktisch dominanten Koordinationsmodus bestimmt und voneinander abgegrenzt. Märkte zeichnen sich dadurch aus, dass die Geschäftsinteraktionen und Geschäftsbeziehungen vornehmlich über Geld und Marktpreise koordiniert werden. Unternehmungen koordinieren ihre Interaktionen und Beziehungen hochgradig reflexiv, so dass dies eine einheitliche Leitung in wirtschaftlichen Angelegenheiten begründet. Im Resultat führt das zu dieser Gegenüberstellung der Koordinationsmodi Markt, Unternehmung und Netzwerke (vgl. Abbildung 3).
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Abbildung 3: Unternehmungsnetzwerke, Märkte und Unternehmungen: eine Gegenüberstellung ihrer Koordinationsmodi2 Grad, in dem die Koordination auf dem dauerhaften Beziehungszusammenhang zwischen Unternehmungen beruht
Unternehmungsnetzwerke
Märkte Theoretischer Nullpunkt, in dem die Koordination ausschließlich auf Marktpreisen und diskretem Tausch beruht
Unternehmungen
Grad, in dem die Koordination auf einheitlicher Leitung beruht
Quelle: Windeler (2001: 235).
Die grafische Gegenüberstellung der Koordinationsmodi verdeutlicht, dass sich in der Praxis von Unternehmungsnetzwerken unterschiedliche Grade der Bezugnahme auf den dauerhaften Beziehungszusammenhang finden. Gewinnt in Unternehmungsnetzwerken etwa der Grad einheitlicher Leitung in wirtschaftlichen Angelegenheiten oder die Koordination über Marktpreise bei der Koordination der Geschäftspraktiken in relevantem Umfang an Bedeutung, dann nähern wir uns den (in Abbildung 3 eingezeichneten) Grauzonen der Koordination. Begründen die Geschäftspraktiken im Netzwerk etwa das Dominantwerden einer einheitlichen Leitung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, dann hört das Netzwerk auf, ein Netzwerk zu sein. Es wird zu einer Unternehmung – etwa einem faktischen Konzern mit allen seinen ökonomischen und rechtlichen Implikationen (vgl. z.B. Teubner 2001). Gewinnen Marktpreise und Momente des diskreten Tauschs an Gewicht und nimmt die Relevanz des
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Die Pole der X-Achse lauten: Koordination ausschließlich über Marktpreise oder über einheitliche Leitung. Die Pole der Y-Achse heißen: Koordination zwischen Unternehmungen ausschließlich als diskreter Tausch oder über den dauerhaften Beziehungszusammenhang. Einheitliche Leitung bei annähernd diskretem Tausch kennzeichnet sehr flüchtige Unternehmungen und/oder Unternehmungen mit flüchtigen Beschäftigungsverhältnissen (Zeitarbeiter, Projektbeschäftigte usw.).
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dauerhaften Beziehungszusammenhangs für die Koordination ab, dann ändert sich die Koordination von einer netzwerkförmigen zu einer marktlichen. Die Literatur über Netzwerkgovernances definiert Netzwerke zumeist jedoch nicht über den Beziehungszusammenhang, sondern über eine bestimmte Qualität von Beziehungen: Im Angebot ist vor allem Vertrauen, dem Kriterium, dem sich eine Vielzahl von Autoren sowohl in der Betriebswirtschaftslehre, wie etwa Gerum et al. (1998), als auch insbesondere in der Soziologie verschreiben; die Liste reicht hier von Powell (1990) über Bachmann (2000) und Weyer (2000) bis hin zu Luhmann (2000) – und zwar nahezu durchgehend mit Referenz auf die Bestimmung durch Powell. Prominent ist weiterhin das Kriterium der Kooperation, dem Kriterium, welchem etwa Sydow (1992) mit seiner Bestimmung von Netzwerkbeziehungen als Beziehungen, die eher durch Kooperation denn Kompetition gekennzeichnet sind, Geltung verschafft, aber z.B. auch Semlinger (2000). Weitere Kriterien sind Verlässlichkeit (Ortmann 2003), Verhandlung (Mayntz 1996) oder ein bestimmtes Vertragsrecht (Williamson 1990 [1985], zur Kritik Teubner 1992). Selbstredend lassen sich alle diese (und weitere mögliche) Strukturmerkmale von Netzwerken als Definitionsmerkmale verwenden. Nicht wenige kombinieren diese (oder weitere) Kriterien zu Sets von Qualitätsanforderungen an Netzwerke (vgl. z.B. Fischer & Gensior 1995). Fraglich ist, ob es zweckmäßig ist, Netzwerke so zu definieren. Erstens tritt das zentrale Moment der Netzwerkperspektive, der Rekurs auf das Beziehungsgeflecht zwischen den Akteuren (oder Einheiten), zumindest in den Hintergrund. Zweitens, wählt man etwa Vertrauen als Definitionsmerkmal, dann finden wir zumindest fast keine Netzwerke im Bereich der Ökonomie. Sind z.B. Netzwerke zwischen Endproduzenten und Zulieferern in der Automobilindustrie vor allem durch vertrauensbasierte Beziehungen gekennzeichnet oder nicht eher durch Machtdifferenzen? Modernisierungstheoretisch ist grundsätzlicher zu fragen: So moderne Gesellschaften dadurch charakterisiert sind, dass Akteure die selbst mit geschaffenen Risiken nur durch Zutrauen in die Verlässlichkeit einer Person oder eines Systems bezüglich bestimmter Resultate oder Ereignisse überwinden können (vgl. Giddens 1990: 34), warum sind dann nur Netzwerke und nicht auch das Geschehen auf Märkten und in Organisationen durch Vertrauen mit geprägt? Wenn sie es aber auch sind, dann wäre zunächst noch einmal zu klären, inwiefern genau Vertrauen das Distinktionsmerkmal für Netzwerke sein kann. Die in der Netzwerkforschung oft als Definitionsmerkmal von Netzwerken gebrauchten Kriterien (wie Vertrauen) lassen sich ggf. also zur Auszeichnung
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besonderer Netzwerke nutzen; nur recht unzureichend lässt sich auf ihrer Basis jedoch ein allgemeiner Netzwerkbegriff formulieren. Die Geschichte des Governanceansatzes ist nicht so systematisch aufbereitet wie die des Strukturansatzes (vgl. Sydow 1992: 56ff.). Auch dieser Netzwerkansatz ist tief im soziologischen und wirtschaftswissenschaftlichen Denken verankert. So charakterisiert Max Weber (1976 [1921]) die Koordinationsform von Märkten und die von Organisationen als Bürokratien im Zusammenhang von „Wirtschaft und Gesellschaft“, und stellt Ronald Coase (bereits 1937) Märkte und Organisationen als in Bezug auf Kosten alternative Koordinationsmodi vor. Der Diskurs um Netzwerkgovernance schreibt diese frühen theoretischen Überlegungen sowie die in der Organisationssoziologie etablierten Sichtweisen auf die Koordination von Aktivitäten und Beziehungen fort (vgl. Oliver & Ebers 1998), ohne jedoch in vielen Fällen selbst die strukturelle Einbettung im Sinne Granovetters systematisch aufzugreifen. Fast durchgängig wird die Forderung Max Webers verfehlt, die Bedeutung kultureller Ordnungen und Institutionen sowie die Bedeutung von Koordinationsformen für die Ausgestaltung von Herrschaftszusammenhängen zu berücksichtigen – eine der Ausnahmen bildet die strukturationstheoretische Netzwerkforschung, die Strukturen und Institutionen im Prozess der Strukturation von Netzwerken integriert (vgl. Windeler 2001). Trotz der Theoriedefizite des Governanceansatzes gewann dieser im Netzwerkdiskurs ab Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts gesellschaftlich hohe Beachtung: Geschuldet ist das vor allem den Diskussionen um die so genannte Japanoffensive. Weltweite Aufmerksamkeit erfuhr die Netzwerkgovernance durch die Studien von Piore und Sabel (1985 [1984]) über „Das Ende der Massenproduktion“ und die des Massachusetts Institute of Technology (MIT) zur „Lean Production“ (vgl. Womack et al. 1991). Piore und Sabel diagnostizieren, dass die Industriegesellschaften weltweit vor der Weggabelung stehen, entweder die bestehende Struktur in Richtung auf einen „multinationalen Keynesianismus“ fortzuschreiten oder den dazu alternativen Weg der „flexiblen Spezialisierung“ mit Netzwerken zwischen kleinen Unternehmungen einzuschlagen. Die „Lean Studie“ hebt die Vorteile der internen Strukturierung von Produktionsorganisationen und der Kooperationsformen der Zusammenarbeit in Netzwerken mit Zulieferern und Abnehmern in Japan hervor (vgl. Ortmann 1995: 291ff.). Ganze Pilgerscharen von Managern und Forschern überschwemmen in der Folgezeit die Emilia Romagna im Norden Italiens oder Japan, um die Formen vernetzter Produktion genauer zu erkunden. In der Managementforschung liefert die Transaktionskostentheorie (vgl. Williamson 1990 [1985]) den dominanten
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Erklärungsansatz, in der Arbeits- und Industriesoziologie in Deutschland ist es der zur „systemischen Rationalisierung“ (Altmann et al. 1986, Baethge & Oberbeck 1986, vgl. Windeler 2001: 69ff.). Eine andere instruktive Studie ist die von Richardson (1972), der schon früh darauf hinweist, dass Organisationen nicht als Inseln geplanter Koordination im Meer von Marktbeziehungen zu verstehen sind, sondern in vielen Fällen in ein dichtes Netzwerk von interorganisationalen Beziehungen eingebunden seien. Beginnend mit den neunziger Jahren boomt die Erforschung von Netzwerkgovernances. Auch für die Forschungen über Governances will ich ganz kurz ein Beispiel vorstellen, das des Projektnetzwerks. Projektnetzwerke bilden einen besonderen Typus von Netzwerken, denen in Hightech-Industrien ebenso hohe Bedeutung zukommt wie in Medienindustrien, da sie Möglichkeiten bieten, dauerhaftere Zusammenhänge zur Abwicklung zeitlich befristeter Projekte von einer Vielzahl von Akteuren unterschiedlicher Organisationen zu gewährleisten. Schauen wir exemplarisch, wie heute Sender, Produzenten, Regisseure, Autoren sowie technische und künstlerische Mediendienstleister (MDL) arbeitsteilig die Programminhalte für das Fernsehen in Kontexten produzieren, die Grenzen verschiedener Unternehmungen überschreiten (vgl. Windeler 2004). Die an der Produktion von Content in einem Projekt Beteiligten koordinieren ihre jeweiligen Projektaktivitäten, indem sie für den Produzenten A typische Produktionspraktiken mit ihren Sicht-, Legitimations- und Handlungsweisen aktualisieren (ȹ). Und indem und insoweit sie so produzieren, wie man Programminhalte üblicherweise bei diesem Produzenten herstellt, institutionalisieren (Ȼ) sie diese Praktiken als für das Projektnetzwerk des Produzenten A typische rekursive Konstitution. Fünf strukturelle Besonderheiten dieser Produktionskoordination seien herausgestellt, ohne sie im Einzelnen herzuleiten. Erstens: Sender wählen – parallel zum aufkeimenden Diskurs um flexible Spezialisierung und Vernetzung – ab Mitte der achtziger Jahre ihre Produzenten für die Fertigung eines bestimmten Fernsehinhalts weder nur nach dem vorgelegten Stoff noch nur nach dem Preis aus. Bedeutsam sind mindestens ebenso Erfahrungen aus früherer Zusammenarbeit und Einschätzungen, ob der Produzent in der Lage ist, das Produktionsnetzwerk bei der Realisierung konkreter Projekte aus der Sicht der Fernsehsender – als den in dieser Industrie mächtigsten Akteuren – kompetent im Rahmen des Budgets zu steuern (vgl. Windeler et al. 2000). Produzenten sind entsprechend durchgängig bemüht, nicht nur attraktive Projekte zu akquirieren, sondern auch interessante Akteure an sich zu binden. Beide, Fernsehsender und Produzenten, ahmen zudem, indem sie die Netzwerkform aufgrei-
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fen, nach, was in der Gesellschaft als „fortschrittlich“ gilt (vgl. DiMaggio & Powell 1983). Abbildung 4: Projekt und Projektnetzwerk – Mechanismus der (Re-)Produktion Projekt des Produzenten A
Sender Autoren Produzent A techn. MDL
Regisseure künstl. MDL
Aktualisierung
Institutionalisierung
Sender Autoren Produzent A techn. MDL
Regisseure Projektnetzwerk des Produzenten A
künstl. MDL
Quelle: Windeler (2004: 66). Anmerkung: techn. MDL = technische Mediendienstleister künstl. MDL = künstlerische Mediendienstleister
Der skizzierte Reproduktionsmechanismus von Projektnetzwerken bewirkt, zweitens, dass Produzenten wieder und wieder mit bestimmten Autoren, Regisseuren, technischen Mediendienstleistern etc. zusammenarbeiten und trotz der in der Regel nicht fortlaufenden, sondern immer wieder unterbrochenen Praktiken gleichwohl dauerhafte Beziehungszusammenhänge zwischen den Akteu-
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ren konstituieren, die für die (gelingende) Koordination ihrer Aktivitäten im jeweiligen Projektzusammenhang oft entscheidend sind. Insgesamt haben wir es daher mit einem über einzelne Projekte hinweg (re-)produzierten Netzwerk, das heißt, mit einem Projektnetzwerk zu tun. Drittens: Fernsehsender und Produzenten bilden zusammen das Koordinationszentrum der Projektnetzwerke, indem sie – in verteilten Rollen – faktisch recht weitgehend Einfluss auf die Koordination der Leistungserstellung nehmen. Viertens: Die wiederkehrende Zusammenarbeit der Beteiligten an der Produktion von Fernsehinhalten erlaubt ihnen, kompetent an gemeinsame Erfahrungen aus vorhergehenden Projekten anzuschließen, wie man etwas macht. Fünftens: Personen und personale Beziehungen spielen in Projektnetzwerken der Fernsehproduktion – wie vermutlich generell in Kulturindustrien – eine besonders wichtige Rolle. Das gilt zumindest für höherwertigen Content wie TV Movies, aber in einem geringeren Maße selbst für Daily Soaps. Die Beziehung zwischen einem Produzenten und einem Redakteur eines Fernsehsenders kann zwar auch eine personale oder persönliche sein, beide treten sich im Kontext der Fernsehproduktion aber nicht nur als Privatpersonen, sondern zumindest auch, wenn nicht sogar vorrangig, als Repräsentanten von Organisationen gegenüber, wodurch sie über ihre Praktiken das interorganisationale Projektnetzwerk mit herausbilden.
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Moderne Gesellschaften und Netzwerkanalyse: Zur Rückkehr des Akteurs und der Gesellschaft
Moderne Gesellschaften sind durch reflexive Ausgestaltungen von Netzwerken und anderen Koordinationsformen gekennzeichnet, die nicht selten die Grenzen von verschiedenen Nationalstaaten und einzelnen Gesellschaftsbereichen, wie denen von Wirtschaft und Wissenschaft, überschreiten, gleichzeitig aber deren Institutionengefüge nachhaltig beeinflussen. Die Organisationsforschung erweitert mit der Aufnahme von Netzwerken nachhaltig ihren Analyserahmen auf die heute oft im Mittelpunkt aktueller Gesellschaftsdiskurse stehenden (interorganisationalen) Beziehungsgeflechte. Das Wissen über die Konstitution von Netzwerken und deren Wirkungen in modernen Kontexten ist aber erstaunlich begrenzt, obwohl sie heute so viel Aufmerksamkeit erhalten. Natürlich konzentrierten sich Organisationsforscher bereits in den sechziger Jahren nicht mehr nur auf das Innere einzelner Organisationen, sondern nehmen deren Umwelten systematisch nach und nach mit auf und erweitern dadurch nachhaltig unser Wissen über die soziale Einbettung von Organisatio-
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nen. So öffnete sich die Organisationsforschung bereits mit der Betrachtung von Organisationen als „offene Systeme“ (Katz & Kahn 1966) der Umwelt von Organisationen und präzisierte deren Bedeutung dann im Rahmen der Kontingenzforschung (vgl. als Überblick Child 1997) sowie der Analysen über Ressourcenabhängigkeiten (vgl. Pfeffer & Salancik 1978), die Evolution von Organisationen (vgl. Hannan & Freeman 1989) und über die institutionelle Einbettung von Organisationen (vgl. DiMaggio & Powell 1983). Aber es sind doch die Veränderungen der achtziger Jahre, die die Umwelt von Organisationen als Sets von Beziehungen zwischen Organisationen mit ihren Strukturen und Governances von Organisationen, Netzwerken und Märkten präziser weltweit – und weit über die Organisationssoziologie hinaus – in den Blick bringen. Dadurch verfeinert sich aber nicht nur elementar der analytische Zugriff auf die soziale Konstitution von Sets von Beziehungen zwischen Organisationen, es wird auch unmissverständlich deutlich, dass, will man sie erklären, ergänzende Theorien benötigt werden (vgl. Windeler 2001: 334ff.). Ist es das Verdienst des Strukturansatzes der Netzwerkforschung, den Strukturen von Beziehungen für die Ausgestaltung von Aktivitäten Beachtung zu verleihen, so ist es die Leistung des Governanceansatzes, auf die absichtsvollen Ausgestaltungen der allgemeinen Bedingungen interorganisationaler Zusammenhänge aufmerksam zu machen. Gegen den Strukturansatz wird zu Recht eingewendet, er sei oft lediglich eine Methode der Sozialstrukturanalyse, die nur statische Bilder von Beziehungsgeflechten liefert und unfähig sei, den Akteur und seine Handlungen hinreichend zu berücksichtigen, während dem Governanceansatz – etwa in der Gestalt des Transaktionskostenansatzes – berechtigt vorgeworfen wird, er verlöre mit seiner Konzentration auf dyadische Beziehungen die Strukturmuster der Beziehungsgeflechte und die gesellschaftliche Einbettung aus den Augen (vgl. für viele Windeler 2005; Kilduff & Tsai 2003; Windeler 2001; Granovetter 1985, 1979; Barnes 1972). Sozialtheorien, die die Defizite des Struktur- wie des Governanceansatzes überwinden, müssen in ihren Erklärungen von Vernetzung und der durch sie erzeugten Wirkungen zwei Dinge berücksichtigen. Erstens müssen sie aufnehmen, wie Akteure die Beziehungsstrukturen und die Governances unter rekursivem Bezug auf gesellschaftliche Zusammenhänge konstituieren, was Handelnde von den Strukturen, Handlungsoptionen und Konsequenzen verstehen und wie sie ihr Wissen jeweils im Handeln nutzen. Zweitens müssen die Erklärungsansätze gesellschaftliche Zusammenhänge und deren Entwicklungen als Medium und Resultat der Prozesse ihrer Herausbildung thematisieren. Denn Akteure betten ihre Aktivitäten und die von Netzwerken in die übergreifenden
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Kontexte ein, nutzen sie in Netzwerken, verwenden gesellschaftliche Sicht-, Legitimations- und Handlungsweisen, um ihre Aktivitäten und Beziehungen etwa im Prozess der Produkterstellung miteinander zu koordinieren, und bringen diese gleichzeitig durch ihr Handeln immer wieder erneut hervor oder verändern sie. Erst Studien, die kompetente Akteure und gesellschaftliche Zusammenhänge im angesprochenen Sinne berücksichtigen, ermöglichen es, relevante Fragen zu klären, etwa die, ob Netzwerke Medienkonzernen gestatten, strategisch eine Konzentration ohne Zentralisation zu betreiben, ob Netzwerke Akteuren über strukturelle Löcher Autonomie zur Informationsgewinnung und -verwertung verschaffen oder ob Projektnetzwerke Einfluss auf die produzierten Contents haben und die Ausgestaltung einer Vielzahl gesellschaftlicher Institutionen beeinflussen. Erst Netzwerkanalysen, die eine avancierte Sozialtheorie verwenden, erlauben die Rückkehr des Akteurs und die der Gesellschaft und ermöglichen, die Fragestellungen des Struktur- und des Governanceansatzes umfassend aufzugreifen und Vernetzung als Medium und Resultat moderner Vergesellschaftung zu verstehen.
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Netzwerkansätze: Potenziale für die Journalismusforschung Thorsten Quandt
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Einleitung: Auf dem Weg zum Netzwerkzeitalter?
Ob Terrornetzwerke, das World Wide Web oder Firmengeflechte – der Netzwerkgedanke ist in einer Vielzahl aktueller Diskussionen zu finden. Zwar sind die mit dem Begriff „Netzwerk“ bezeichneten Phänomene höchst unterschiedlicher Natur, doch werden sie durch eine grundlegende Metapher und die basale Idee einer Struktur aus miteinander verwobenen Einzelelementen geeint. Die Anwendungsfelder dieser Idee liegen mitunter weit voneinander entfernt: Manchmal werden Macht, Einfluss (Perrow 1992) oder ökonomische Koordination (Williamson 1985) mit dem Netzwerkgedanken beschrieben, dann wieder allerlei Erscheinungen in der Natur (Barabási 2002), und mitunter wird sogar die „Netzwerkgesellschaft“ (Castells 2000) heraufbeschworen. Befinden wir uns also auf dem Weg zu einem Netzwerkzeitalter, in dem alles, was um uns herum vorgeht, als Netzwerk strukturiert ist – auch und vor allem die gesellschaftliche Kommunikation (vgl. Hepp et al. 2006)? Arnold Windelers vorangegangene Ausarbeitung will und kann eine (einfache) Antwort vordergründig erst einmal nicht geben – konzentriert sich der Autor doch zunächst auf einen sehr speziellen Typ von Netzwerken: nämlich jene Netzwerke, die aus Unternehmungen bestehen, d.h. er interessiert sich für den spezifischen Fall der so genannten „interorganisationalen Netzwerke“. Damit fokussiert er aus journalismustheoretischer Sichtweise einen eher spärlich untersuchten Bereich, der wohl am ehesten auf einer Meso-Ebene zwischen gesamtgesellschaftlichen Modellierungen und mikroperspektivischen Ansätzen zu verorten ist. Zwar gab es vereinzelt Versuche, sich diesem zu widmen, doch galt ihm sicherlich nicht das Hauptaugenmerk der Forschung. Windelers (in diesem Band: 348) Aussage, „soziologisch interessieren Netzwer-
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ke zwischen Organisationen“, trifft also für die Journalismusforschung bislang nicht zu – hier standen andere Interessenbereiche im Vordergrund. Freilich bedeutet dies nicht, dass sich die Journalismusforschung nicht stärker damit auseinander setzen sollte. In der Vergangenheit wurde des Öfteren eine Stärkung der unternehmensbezogenen Sichtweise gefordert, um Journalismus in seiner organisationalen Verfasstheit besser modellieren zu können – und auch um seinen Platz im Mediensystem oder sein Verhältnis zu diesem klarer bestimmen zu können (vgl. Altmeppen 2004). In diesem Sinne erscheint es natürlich attraktiv, bei der Betrachtung journalistischer Organisationen gleich zu Ansätzen zu greifen, die besonders weit reichend und „aktuell“ sind. Hierzu gehören Netzwerkansätze sicherlich; so stellt Windeler (in diesem Band: 348) fest: Netzwerke gelten als die Antwort auf die Turbulenzen der globalen Geschäftswelt, auf gestiegene Risiken der Entwicklung und Erforschung von Technologien [...] und auf sinkende Fähigkeiten von Unternehmungen, einen Markt zu dominieren. (Hervorhebung im Original)
Allerdings muss man differenzieren: Was Windeler eingangs seines Beitrags zurückhaltend als eine Sichtweise skizziert, die momentan vor allem in der Ökonomie und der Organisationssoziologie en vogue ist, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein ganzes Bündel unterschiedlichster Diskussionsstränge, welche über die von ihm genannten Bereiche weit hinausgehen. Durch die Ausführungen Windelers wird zudem klar (auch wenn er dies nicht expliziert), dass man Netzwerke als empirisch gegebene, „tatsächliche“ Struktur verstehen kann oder als „abstrakte“ Denkfigur für (soziale) Strukturen (vgl. hierzu ausführlicher Abschnitt 3). Damit lässt sich bereits in gewisser Weise die eingangs gestellte Frage nach einem Netzwerkzeitalter und der Anwendung netzwerkanalytischer Ansätze auf gesellschaftliche Kommunikation beantworten: Nimmt man Netzwerke als Denkfigur für die Beschreibung sozialer Phänomene, so kann es gar kein spezielles Netzwerkzeitalter geben – schon immer hat es Strukturen gegeben, die sich mit Hilfe des Netzwerkkonzepts beschreiben lassen. Gleichzeitig sollte das Netzwerkkonzept auch auf Kommunikation und Journalismus übertragbar sein, handelt es sich bei diesem Konzept doch um eine universelle Form der Strukturbeschreibung. Folgt man der „empirischen Sichtweise“, so ist die Frage nach einem Netzwerkzeitalter nur über die Erforschung real existierender Strukturen im Zeitverlauf zu beantworten. Allerdings müsste man hier zunächst klären, worauf der Strukturbegriff angewandt wird (Organisationen, Personen, Kommunikationen usf.), und es müssten zeitstabil vergleichbare
Netzwerkansätze: Potenziale für die Journalismusforschung
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Beobachtungsinstrumente benutzt werden. Für die Kommunikationswissenschaft und speziell die Journalismusforschung wäre dann natürlich auch die Frage wichtig, inwieweit sich Netzwerkstrukturen in bestimmten Journalismusbereichen durchgesetzt haben und den Journalismus verändern. Die Formulierungen deuten es an: empirisch ist noch viel zu tun – ein „Netzwerkzeitalter“ aus Sichtweise der Kommunikationswissenschaft auszurufen wäre also verfrüht. Egal in welche Richtung man aber die Potenziale der verschiedenen Netzwerkansätze ausloten will, tut zunächst die Klärung basaler Konzepte Not. Will man sich als Journalismusforscher den genannten Sichtweisen nähern, müssen zunächst einige Grundbegriffe definitorisch eingegrenzt werden, die bislang im Fach nicht eingeführt sind. Windeler setzt diese zum Teil voraus, da sie in anderen Wissenschaftsbereichen schon zum Basiswissen gehören. Daher wird im Folgenden zunächst nochmals auf einige Konzepte der Netzwerksichtweise eingegangen (Abschnitt 2). Erst dann werden verschiedene Netzwerkansätze kurz besprochen (wobei hier über die von Windeler beschriebenen Diskussionsstränge hinausgegangen wird; vgl. Abschnitt 3), um danach mögliche Anwendungsmöglichkeiten in der Journalismusforschung zu erkunden (vgl. Abschnitt 4). Abschließend werden die Entwicklungsmöglichkeiten einer Netzwerksichtweise für die Journalismusforschung diskutiert, aber auch Probleme bei der „Übertragung“ angesprochen (vgl. Abschnitt 5).
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Grundlagen: Was sind überhaupt Netzwerke?
Eingangs wurde bereits beschrieben, dass in Hinblick auf Netzwerke nicht immer einheitliche Begrifflichkeiten genutzt werden. Zum Teil bezeichnet derselbe Begriff unterschiedliche empirische Gegebenheiten oder theoretische Konstrukte, zum Teil werden mehrere Namen für ein und dieselben Dinge verwandt. Arnold Windelers Beitrag greift diese Problematik auf und trägt zu einer Eingrenzung der Begriffe bei, jedoch konzentriert er sich in seinem Beitrag vor allem auf eine Klärung in dem von ihm diskutierten Bereich der Organisationssoziologie (im Rahmen einer eher wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion). Für die Journalismusforschung muss man möglicherweise etwas allgemeiner auf den Netzwerk-Begriff eingehen, da eine vergleichbare Diskussion (auch über ähnlich gelagerte Konzepte) noch nicht stattgefunden hat. Freilich ist der Netzwerkbegriff in der Kommunikationswissenschaft im Allgemeinen und der Journalismusforschung im Speziellen nicht völlig unbekannt: Insbesondere in den letzten Jahren tauchte er vermehrt auf, jedoch in
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einem ganz anderen Zusammenhang als bisher beschrieben: nämlich in der Debatte über „Computernetze“ und das Internet. Die Denkfigur der „Vernetzung von Computern“ (bzw. Menschen) ist dabei allerdings nur selten der zentrale Punkt – das „Internet“ wird meist in Analogie zu den traditionellen Massenmedien betrachtet. Dadurch wird jedoch oft nicht deutlich, dass gerade bei Computernetzwerken Prinzipien greifen, die in der Logik und Mathematik fußen und zum Teil vor Jahrhunderten entwickelt bzw. entdeckt wurden. In der Mathematik hat man sich mit Elementen und deren Relationen mindestens seit dem 18. Jahrhundert beschäftigt – die entsprechende Forschungsrichtung firmiert unter dem Oberbegriff „Graphentheorie“. Bereits Leonhard Euler wandte deren grundlegende Ideen bei einem mathematischen Beweis – dem so genannten „Königsberger Brücken-Problem“ – im Jahr 1737 an (vgl. eine ausführliche Beschreibung bei Barabási 2002: 10ff.). Die Idee des „Graphen“ findet sich bereits dort: Es handelt sich um eine Struktur, die sich mittels Elementen (auch: Knoten, Ecken) und deren Beziehungen (auch: Relationen, Kanten) grafisch sowie mit Hilfe mathematischer Formelsprache fassen lässt (vgl. Diestel 2000; Biggs, Lloyd & Wilson 1976). Basierend auf diesen zunächst einfachen Grundlagen entwickelte sich eine formale Graphentheorie, mit der auch komplexe Phänomene beschrieben werden können: Höchst unterschiedliche Netzwerktopologien sind mit Hilfe gerichteter oder ungerichteter Graphen darstellbar. Die Anwendungsfelder der mathematischen Netzwerk-Perspektive sind dementsprechend vielfältig, und die Denkfiguren kommen in diversen Disziplinen zur Entfaltung: Unter anderem wurden in der Biologie Populationsentwicklungen und die Ausbreitung von Epidemien mit Hilfe netzwerktheoretischer Denkfiguren modelliert; in der Ökonomie wurden Marktbeziehungen und Firmengeflechte mit Hilfe von Netzwerken dargestellt; und auch in den Sozialwissenschaften wurden Graphen dazu genutzt, beispielsweise Gruppenbeziehungen zu beschreiben. In jüngster Zeit spielt die mathematische Modellierung von Netzwerken in Bereichen eine Rolle, die auch öffentlich stark diskutiert werden: Zur Anwendung kommen einige der grundlegenden Konzepte unter anderem bei der Analyse des Consumer-Verhaltens, bei der Identifikation von Gensequenzen oder bei der Fahndung nach Terroristen (vgl. Barabási 2002; Buchanan 2002; Grötker 2002). Hier wird deutlich: Die basalen Ideen einer (mathematisch-strukturellen) Netzwerkperspektive können auf verschiedenste empirische Phänomene angewendet werden; damit bilden sie aber noch keine „Theorie“ im Sinne der Sozialwissenschaften.
Netzwerkansätze: Potenziale für die Journalismusforschung
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Allerdings existieren auch in den Sozialwissenschaften und der Soziologie netzwerkanalytische Ansätze, die sich – zumindest in Teilen – relativ eigenständig von der eben dargestellten, mathematisch-strukturellen Sichtweise entwickelt haben. Zwar gibt es natürlich Berührungspunkte, doch sind die Diskussionen in den verschiedenen Wissenschafts-Communities weitgehend autonom geführt worden. In der Soziologie kommt der Vernetzungs-Gedanke vor allem aus der Betrachtung von Beziehungsstrukturen: Hier wurde schon früh die Metapher des Netzwerks eingeführt. Jedoch verweisen Vertreter einer Netzwerkorientierung darauf, dass allein die Idee einer „Vernetzung“ nicht als Basis für eine sozialwissenschaftliche Perspektive ausreicht. In einer (auch von Windeler zitierten) Definition von James Clyde Mitchell werden weitergehende Anforderungen formuliert – im Original übrigens auch in Abgrenzung zu einer rein metaphorischen Nutzung des Netzwerkbegriffs: The image of “networks of social relations” to represent a complex set of interrelationships in a social system has had a long history. This use of “network”, however, is purely metaphorical and is very different from the notion of a social network as a specific set of linkages among a defined set of persons with the additional property that the characteristics of these linkages as a whole may be used to interpret the social behaviour of the persons involved. (Mitchell 1969: 1)
Hervorzuheben ist hier zweierlei: Zum einen die Konzentration auf Personennetzwerke (d.h. die Knoten der Netzwerke sind Menschen), zum anderen der Verweis auf den Einfluss des Ganzen auf das Verhalten des Einzelnen. Letztgenannte Überlegung ist von zentraler Bedeutung für soziale Netzwerke: Ein Netzwerk besteht nicht nur aus den Einzelelementen, sondern bildet eine spezifische Struktur, die wiederum auf die Elemente selbst rückwirken kann. Diese Idee findet sich bereits in frühen soziologischen Ausarbeitungen. Als einer der Ersten hat sich der Berliner Soziologie Georg Simmel Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mit sozialen Wechselwirkungen auseinandergesetzt. Sein Konzept enthält dabei einige Aspekte, die auch für eine moderne Netzwerktheorie gelten können, wie Nedelmann (2000: 134) hier ausführt: Erstens beinhaltet es die Aufforderung, die wechselseitigen Relationen zwischen Individuen, Gruppen oder anderen analytischen Einheiten zu untersuchen. Zweitens fordert der Begriff der Wechselwirkung zu einer bestimmten Art kausaler Erklärung auf, die über das übliche Ursache-Folge-Schema hinausgeht und prinzipiell auch die Möglichkeit zirkulärer Kausalität in Erwägung zieht. […] Drittens verweist der Begriff der Wechselwirkung auf ein dynamisches Prinzip. (Hervorhebungen im Original)
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Damit liefere Simmel bereits „grundlegende Überlegungen zu einer netzwerktheoretisch argumentierenden System- und Evolutionstheorie, die die Bedeutung kausaler Rückkopplungen und selektiver Strukturen für die Evolution eines Geflechts von Wechselwirkungen in den Mittelpunkt des theoretischen Interesses rückt“, so Kappelhoff (1999: 133). In der Sozialanthropologie wurde der Netzwerkgedanke ebenfalls aufgegriffen – zunächst metaphorisch, dann stärker theoretisch und empirisch. Der Begriff des „Netzwerks“ wurde beispielsweise von Alfred Reginald Radcliffe-Brown in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts thematisiert, wobei die zentrale Idee der Musterbildung bei der Verbindung von Einzelelementen in seinen Arbeiten zur Sozialstruktur bereits enthalten war. Ein „analytischer Wendepunkt der Netzwerkforschung“ wird von Windeler (2001: 93) in den Arbeiten von John A. Barnes gesehen; insbesondere dessen Studie zum sozialen Netzwerk eines norwegischen Fischerdorfes wurde dadurch berühmt, dass hier „die Netzwerkperspektive zur Bestimmung sozialer Strukturen“ (ebd.) genutzt wurde. Damit machte der Netzwerkgedanke einen bedeutenden Schritt – von der Metapher hin zum theoretischen wie empirischen Analysekonzept. In der Folge traf sich auch der eingangs besprochene, mathematisch-logische Diskurs zu Netzwerken mit der soziologischen Orientierung: Denn zunehmend wurden mathematische Modelle bei der Netzwerkanalyse angewandt (vgl. z.B. White 1963: 163), vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten gefördert durch Computertechnologie und zunehmend anwendungsfreundlichere Statistikprogramme, die es ermöglichen, große Datensätze mit entsprechenden Analysealgorithmen auszuwerten. In der Kommunikationswissenschaft wurden die genannten Diskussionsstränge freilich nur vereinzelt aufgegriffen (vgl. z.B. Schenk 1995); das Echo netzwerkanalytischer Ansätze war bislang eher verhalten, sowohl was die Empirie, als auch die Theorie und die Analysemethoden angeht. Zwar gab es neben den eingangs genannten, eher metaphorischen Nutzungen des Begriffs (z.B. im Zusammenhang mit Computernetzen) in den letzten Jahren einige theoretische Bemühungen, Netzwerke als theoretisches Konzept für die Kommunikationswissenschaft zu erschließen (vgl. z.B. Weber 2001 sowie ergänzend hierzu den Band von Hepp et al. 2006), doch sind dies noch heterogene und vereinzelte – wenn auch viel versprechende – Ansätze. Die prinzipiell zur Verfügung stehenden Analyseinstrumentarien und Programme kommen ebenfalls nur selten zum Einsatz. Definitorisch kann man also keinen genuin kommunikationswissenschaftlichen Netzwerkbegriff bestimmen; es empfiehlt sich, die beiden bereits beschriebenen Diskussionsstränge (in der Mathematik/Logik bzw. der Soziolo-
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gie) zu berücksichtigen. Daraus kann man zunächst einen klareren Netzwerkbegriff entwickeln:
Ein Netzwerk ist eine Struktur, die aus einer Zahl an Elementen (auch: Knoten, Ecken) und deren Verbindungen (auch: Relationen, Kanten) besteht. In den Sozialwissenschaften werden vor allem soziale Netzwerke beschrieben, deren Elemente Personen (auch: Akteure) sind. Die Verbindungen zwischen den Elementen bilden in diesen Netzwerken soziale Beziehungen ab (z.B. Freundschaftsbeziehungen, kommunikativer Austausch, Einfluss).
Darüber hinaus sind Netzwerke natürlich noch weiter zu qualifizieren. Vieles ergibt sich dabei aus dem bereits Gesagten. So können z.B. soziale Beziehungen als gerichtete oder ungerichtete Relationen modelliert werden: Beispielsweise mag eine „ungerichtete“ (letztlich also zweiseitige) Freundschaftsbeziehung zwischen Person A und B bestehen, doch möglicherweise übt nur A auf B einen bestimmten Einfluss aus. Das heißt, hier wäre noch die Richtung der Relation zu definieren. Freilich könnte man Einfluss auch anhand seiner Stärke beschreiben, was für gewöhnlich auch mit einer unterschiedlichen Stärke der entsprechenden Kanten im Graphen ausgedrückt wird (visuell als „Dicke“ der Verbindungslinien darzustellen). Betrachtet man die Gesamtstruktur des Netzwerks, lassen sich weitere Beschreibungsmöglichkeiten finden – beispielsweise können Netzwerke unterschiedlich „dicht“ sein, d.h. eine verschieden große Menge an realisierten Relationen im Verhältnis zur Zahl an NetzwerkElementen aufweisen (vgl. ausführlicher Wasserman & Faust 1994 sowie Scott 2000). Auch kann man einzelne Knoten und Verbindungen ins Verhältnis zum gesamten Netzwerk setzen: Zu analysieren wäre beispielsweise, ob Knoten stark vernetzt sind oder nicht, und ob einzelne Verbindungen im Verhältnis zum Rest des Netzwerks besonders bedeutsam sind oder in bestimmte Bereiche der Struktur führen. Eines wird bei dieser knappen Bestimmung von Netzwerken für die Kommunikationswissenschaft deutlich: Es handelt sich um ein „empirisch leeres“ Konzept. Zwar werden meist „Personennetzwerke“ modelliert, doch ist dies keine zwingende Vorgabe: Was letztlich als Netzwerk beschrieben wird (d.h. welche empirischen Gegebenheiten man als Elemente und Relationen betrachtet), ist Sache des Forschers. Auf dieser Basis kann man immer noch nicht von einer Netzwerktheorie sprechen, sondern lediglich von einer speziellen Sichtweise – einer Netzwerkperspektive (vgl. hierzu Windeler 2001: 35). Barnes
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stellte bereits vor gut 30 Jahren fest: „this remains a basic idea and nothing more“ (Barnes 1972: 2), und auch Windeler erkennt in einer solchen Perspektive lediglich „eine allgemeine Idee für die Untersuchung von Netzwerken bzw. die sozialer Strukturen“ (Windeler 2001: 37). Will man eine solche basale Idee für sozialwissenschaftliche Netzwerkansätze oder gar eine journalistische „Netzwerktheorie“ nutzen, sind Konkretisierungen in Hinblick auf gesellschaftliche Phänomene notwendig. Festzulegen ist, welche Elemente betrachtet werden, welcher Art die Verbindungen sind, und wie Gesamtstruktur und Netzwerkdynamiken in Bezug zu Beobachtungsrealitäten stehen. Dadurch wird die vormals „empirisch leere“ Netzwerksichtweise mit sozialwissenschaftlich relevanten Phänomenen verknüpft und dadurch erst fassbar. Solche Netzwerkansätze – die eben nicht mehr nur „rein perspektivisch“ zu verstehen sind, sondern auch sozialwissenschaftlichen Phänomenbezug haben – gibt es in ganz unterschiedlichen Ausformungen. Im folgenden Abschnitt soll zunächst überblicksartig besprochen werden, welche möglichen Anwendungs-Varianten einer Netzwerksichtweise denkbar sind – und welche Typen von Netzwerkansätzen tatsächlich schon erprobt wurden.
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Varianten: Welche Typen von Netzwerkansätzen gibt es?
Deutlich wurde bereits: Eine so universelle Perspektive wie die Netzwerksichtweise kann in vielen Disziplinen und in den unterschiedlichsten Zusammenhängen zur Anwendung kommen. Im Folgenden soll daher nur über mögliche Varianten in den Sozialwissenschaften (und speziell: der Journalismusforschung) gesprochen werden – andere, insbesondere naturwissenschaftliche Disziplinen, bleiben hier ausgeklammert. Freilich gibt es auch in den Sozialwissenschaften vielfältige Typen von Netzwerkansätzen. Zunächst sollen hier solche Ansätze im Vordergrund stehen, die sich auch im engeren Sinne mit „sozial“-wissenschaftlichen Fragestellungen, also dem Menschen in gesellschaftlichen Zusammenhängen, auseinandersetzen; mehr noch: Die Betrachtungen sollen auf jene Ansätze fokussieren, die den Menschen direkt einbeziehen, d.h. auch Personen(gruppen) oder deren Handeln in den Netzwerken berücksichtigen. Will man diese Ansätze ordnen, so sind zunächst Kriterien für die allgemeine Typologisierung der Ansätze zu finden. Einen Hinweis auf eine Hauptunterscheidung hat bereits Windeler in seinem Beitrag in diesem Band gegeben. Er differenziert – für die von ihm besprochene wirtschaftswissenschaftliche bzw. organisationssoziologische Sichtweise – zwei Arten von Ansätzen: den
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Strukturansatz und den Governanceansatz. Erstgenannter beschäftigt sich mit der Beschreibung von Beziehungsnetzwerken mit Hilfe der bereits oben genannten Denkfiguren der Netzwerkperspektive (hierzu gehört also z.B. die Darstellung von Netzwerken mit Hilfe von Graphen). Wie Windeler (in diesem Band: 353) bereits andeutet, handelt es sich um eine „Formal“-Analyse, die Strukturen abbildet; in der Folge „verharren Studien dieses Ansatzes [oft] im Dickicht methodischer Erörterungen“. Und: Gegen den Strukturansatz wird zu Recht eingewendet, er sei oft lediglich eine Methode der Sozialstrukturanalyse, die nur statische Bilder von Beziehungsgeflechten liefert und unfähig sei, den Akteur und seine Handlungen hinreichend zu berücksichtigen. (ebd.: 366)
Der von Windeler ebenfalls eingehend erläuterte Governanceansatz fokussiert hingegen kaum die Netzwerkstrukturen selbst. Vielmehr geht es um die Steuerung und Regelung spezifischer Arten von Strukturen, die als Netzwerke bezeichnet werden: Governanceforscher unterscheiden Märkte, Unternehmungen und Unternehmungsnetzwerke nach ihren [...] Governances. Folgerichtig sind für sie nur ganz besondere Sozialsysteme Netzwerke; andere, etwa Märkte oder Unternehmungen und damit auch Konzerne, sind für Vertreter dieser Richtung der Netzwerkforschung hingegen keine Netzwerke. (ebd.: 356)
Die im vorherigen Abschnitt dargestellten Spezifika von sozialwissenschaftlichen Netzwerken spielen also kaum eine Rolle; es geht stattdessen um die Koordination in inter-organisationalen Zusammenhängen. Der Netzwerkgedanke ist dabei nur durch einen Phänomenbezug auf spezielle Konstellationen von Organisationen gegeben – was zu der Kritik führte, der Ansatz „verlöre mit seiner Konzentration auf dyadische Beziehungen die Strukturmuster der Beziehungsgeflechte und die gesellschaftliche Einbettung aus den Augen“ (ebd.: 366). Ganz allgemein kann man also die Ansätze danach unterscheiden, wie stark sie formale Netzwerk-Aspekte fokussieren (was zumeist auch eine Anwendung von Netzwerkmethoden zur Analyse der Strukturen mit sich bringt) und wie stark der Netzwerkbezug auf der Ebene der empirischen Phänomene ist. Will man es für die beiden genannten Ansätze zuspitzen, könnte man den Strukturansatz als extrem formal-strukturellen Ansatz bezeichnen, der auf unterschiedliche Phänomene einen Blick durch die „Netzwerk-Brille“ wirft, während der Governanceansatz bereits gegebene empirische Netzwerkstrukturen nimmt, um dort bestimmte Teilaspekte mit Hilfe nicht zwingend „netzwerktypischer“ Denkmuster (in diesem Fall: organisationssoziologischer Art) zu erklären. Freilich
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schließt eine formale Netzwerk-Sichtweise nicht schon per se einen Netzwerkbezug auf der Phänomen-Ebene aus – zwar findet man vielfach „Reinformen“ formaler oder phänomenbezogener Perspektiven im Sinne eines „EntwederOders“, doch können die beiden Positionen auch in weniger extremen Mischformen näher zusammengebracht werden. Gänzlich davon abzugrenzen sind allerdings rein metaphorische Herangehensweisen – diese nutzen den Netzwerkgedanken unspezifisch, d.h. weder als formalisierte Beschreibung, noch im Sinne eines konkreten Netzwerkphänomens (wenngleich sie wohl näher an phänomenbezogenen Sichtweisen sind, da ihnen meist die Beobachtung zugrunde liegt, dass ein sozialer Bereich ja „irgendwie“ einem Netzwerk ähnele). Neben dieser Variation von Netzwerkansätzen gibt es mindestens eine weitere zentrale Unterscheidung – nämlich jene auf Basis der betrachteten Elemente des Netzwerks. Vielfach werden zwar Netzwerke mit Personennetzwerken gleich gesetzt (d.h. das Netzwerk besteht aus Akteuren und deren Relationen), doch gibt es durchaus Betrachtungen, die hier einen anderen Weg gehen. Windeler verweist in seinem Beitrag bereits auf weitere Typen: So kommen natürlich Unternehmungsnetzwerke bzw. Netzwerke aus Organisationen zur Sprache; hier sind die Einzelelemente also nicht mehr Individuen, sondern ganze Unternehmen (die man wiederum als Personengruppen oder soziale Netzwerke modellieren kann). Weiterhin nennt er auch das Internet – ein Netzwerk aus Computern – und Peer-to-Peer-Systeme; bei Letzteren ist mithin unklar, ob die Grundelemente die miteinander verbundenen Computer sind oder tatsächlich die namensgebenden Peers (im Sinne realer Personen), die Daten untereinander tauschen. Klar wird dadurch: Mit einer Begrenzung auf Personennetzwerke würde man die möglichen Anwendungen einer Netzwerkperspektive unnötig limitieren. Selbst wenn man die oben genannten Computernetzwerke ausnimmt – die freilich Relevanz für die Sozialwissenschaften haben können – bleiben neben Personennetzwerken auch Netzwerke aus Unternehmen bzw. Gruppen. Verortet man diese Elemente auf den üblichen Ebenen sozialwissenschaftlicher Betrachtung, so bewegt man sich mit den Elementen auf der Mikro- und der Mesoebene. Allerdings gilt es zu betonen, dass man mit der Netzwerksichtweise die Ebene der Einzelelemente stets transzendiert: Denn die Strukturen, die durch die Verbindung der Elemente bestehen, haben natürlich weitaus höhere Extension. So bilden Personennetzwerke Gruppen, Organisationen, Staaten oder sogar Verbünde, die Ländergrenzen sprengen. Letztlich ist eine Netzwerksichtweise damit fast beliebig skalierbar – ein Netzwerk aus Personen
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kann eine Gruppe bilden; diese Gruppe kann wieder Teil eines größeren Netzwerks aus Personengruppen sein usw. Attraktiv wird die Netzwerksichtweise damit vor allem für sozialwissenschaftliche Fragestellungen, die sich mit dem Zusammenspiel aus Einzelelementen und Strukturen auseinandersetzen – also auch für die Frage nach dem „Mikro-Makro-Link“ (vgl. hierzu z.B. Alexander et al. 1987); der Vorteil der Perspektive liegt vor allem darin begründet, dass für verschiedenste Extensionsebenen dieselben formalen Grundprinzipien angelegt werden können. Ergänzt werden muss an dieser Stelle allerdings, dass die meisten Ansätze bei den Elementen nicht unterhalb der Personenebene ansetzen, aber auch nicht über die Mesoebene hinausreichen. Dies ist jedoch keine prinzipielle Beschränkung: Der Autor dieses Beitrags hat beispielsweise einen Vorschlag vorgelegt, wie man menschliches Handeln mit Hilfe eines netzwerkperspektivischen Ansatzes analysieren kann (vgl. ausführlicher Abschnitt 4 sowie Quandt 2005a). Mithin wäre auch denkbar, die dahinter liegenden Bedeutungsnetzwerke auf der Ebene mentaler Strukturen zu untersuchen (vgl. hierzu Spitzer 2000), welche untrennbar mit menschlichem Handeln verbunden sind und dieses erst ermöglichen. Man bewegt sich dann von der Mikrosoziologie schon auf die Ebene einer (bislang so noch nicht bezeichneten) Nanosoziologie – oder eben bereits in Bereiche der Psychologie. Wobei auch hier gilt: Im Gegensatz zu rein psychologischen Betrachtungen geht ein solcher Nano-Ansatz über die Ebene individueller mentaler Strukturen hinaus; betrachtet man die entstehenden Netzwerke in größeren Zusammenhängen, kann man sogar ganze „Bedeutungscluster“ (oder die im konkreten Handeln sichtbaren „Handlungssyteme“; vgl. Quandt 2005a: 147-154) identifizieren, die gesamtgesellschaftliche Relevanz besitzen und damit eigentlich auch ein Thema für die Makrosoziologie sind. Nimmt man die beiden eben beschriebenen Unterscheidungsmerkmale – Bezugsebene des Ansatzes und Charakterisierung des Netzwerkgedankens – als Grundlage für eine allgemeine Typologie, so ergibt sich eine Matrix (vgl. Abbildung), die jedoch in der Praxis vor allem auf der Mikro- und Mesoebene besetzt ist. Elemente auf anderen Ebenen sind denkbar, aber – wie bereits angesprochen – noch nicht in entsprechenden Ansätzen berücksichtigt worden. Ebenso werden zurzeit formal-strukturelle und phänomenbezogene Ansätze immer noch vielfach als oppositionell gesehen (siehe oben); eine Synthese ist jedoch denkbar.
382 Abbildung:
Thorsten Quandt Typen von Netzwerkansätzen
Neben den genannten Differenzierungsmöglichkeiten gibt es natürlich noch weitere Eigenheiten, die Netzwerkansätze voneinander unterscheiden. So könnte man bei einer Typologie z.B. auch die Nutzung spezifischer Netzwerkmethoden berücksichtigen – wenngleich diese Methoden vor allem dann Berücksichtigung finden, wenn formale Aspekte der Netzwerke betrachtet werden (d.h. diese Differenzierung würde größtenteils mit jener zwischen formal-strukturellen und rein phänomenbezogenen Ansätzen zusammenfallen). Daneben wären Netzwerkansätze wohl auch danach zu unterscheiden, wie stark sie Dynamiken der Entwicklung berücksichtigen. Windeler (in diesem Band: 353) kritisiert angesichts der momentanen Lage nämlich zu Recht, dass „selbst avancierte Studien kaum in der Lage sind, die sozialen Praktiken der (Re-)Produktion der Netzwerke in Zeit und Raum zu erfassen“. Dies hängt wohl vor allem damit zusammen, dass Netzwerke zumeist als statische Strukturen gedacht werden, die nur in jeweils einer Ausformung existieren. Zu selten wird die Strukturbildung (vgl. hierzu Giddens 1997) selbst in Augenschein genommen. Doch nichts spricht dagegen, Netzwerke als veränderlich zu modellieren: Schließlich können in den genannten Anwendungsfällen – z.B. Per-
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sonen- und Unternehmungsnetzwerke – durchaus Verbindungen geknüpft werden, und sie können sich auch auflösen (vgl. ergänzend Quandt 2005a: 148). Mit den genannten Kriterien ist ein Ordnungsprinzip gegeben, um eine ganze Reihe an Netzwerkansätzen zu unterscheiden. Jedoch wurde eingangs bereits erwähnt, dass hierbei nur die in einem sehr engen Sinne auf den Menschen bezogenen Ansätze geordnet werden: Es geht stets um Personen oder Gruppen (mithin auch Organisationen) oder deren Handeln. Denkbar sind aber auch Netzwerke anderer Art. So könnten z.B. Medieninhalte auf die ihnen innewohnenden Relationen untersucht werden – insbesondere im Internet legen die Linkstrukturen entsprechende Analysen nahe, da sie bereits im Wortsinne „Verbindungen“ darstellen. Aber selbst in traditionellen Medien könnten Verweisstrukturen untersucht werden (z.B. in Form von impliziten oder expliziten Hinweisen auf andere Medien, Agenturen oder sonstige Quellen); und es wäre durchaus denkbar „Bedeutungsnetzwerke“ nachzuzeichnen, in dem man analysiert, welche Akteure, Themen, Orte, Bewertungen usw. miteinander verwoben sind. Zu diskutieren wäre natürlich auch hier, inwieweit Inhalte (im Sinne von Produkten menschlichen Handelns) – in dem oben genannten Ordnungsprinzip verortet werden können. Allerdings würde dies für den hier vorliegenden Beitrag zu weit führen – auch andere Verhaltensspuren und „dingliche“ Ressourcen können durchaus als Netzwerke modelliert werden (vgl. Quandt 2005b). Wie bereits erwähnt, ist die Netzwerksichtweise als universelles Prinzip der Betrachtung letztlich auf fast alles übertragbar, und demgemäß sind weitere Unterscheidungsmöglichkeiten natürlich in fast jede Richtung vorstellbar. Die hier bereits genannten zentralen Differenzierungsoptionen sollen aber einstweilen genügen, um einen etwas klareren Blick auf verschiedenste Netzwerkansätze aus Sicht der Journalismusforschung werfen zu können.
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Anwendung: Journalismusforschung und Netzwerke
Nachdem in den vorherigen Abschnitten geklärt wurde, was einen Netzwerkansatz ausmacht und wie ganz allgemein verschiedene Typen von Ansätzen unterschieden werden können, sollen nun einige Anwendungsoptionen für die Journalismusforschung diskutiert werden. Dabei kann es sich nur um erste Vorschläge handeln – wie bereits erwähnt wurde, gibt es bislang kaum konkrete Nutzungen in der Kommunikationswissenschaft (und der Journalismusforschung im Speziellen).
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Einige Möglichkeiten zeigt bereits der Beitrag von Windeler auf, und zwar in Bezug auf Unternehmungsnetzwerke. Mit der Fokussierung der von ihm genannten Ansätze einerseits auf Strukturen, andererseits auf „Governance“, sind schon klassische organisationssoziologische Interessengebiete abgesteckt. Für die Journalismusforschung sind die entsprechenden Erkenntnisse durchaus spannend: Gerade die unübersichtlichen Einfluss- und Besitzstrukturen sind für Fragen der Konzentration (und damit verbunden auch: des Pluralismus und der Meinungsfreiheit) von Bedeutung. Eine Beschreibung formaler Netzwerkstrukturen des Medienmarktes mit seinen eng miteinander verflochtenen Playern, ausgehend von den Daten zu wechselseitigen Besitzverhältnissen und Einflussnahmen, könnte hier erhellend sein – ließen sich doch so Cluster und Schwerpunkte des Beziehungsnetzwerkes identifizieren, aber auch Knotenpunkte mit strategischer Bedeutung, beispielsweise in exponierter Lage zwischen zwei Firmenclustern (vgl. Kempf, von Pape & Quandt 2006). Ähnliche Darstellungen sind von anderen Industriebereichen bereits angefertigt worden (vgl. u.a. die Arbeiten des Netzwerkanalytikers Valdis Krebs, wie z.B. das Netzwerk der Internetindustrie1), und für die Journalismusforschung liegen relevante Marktdaten vor (z.B. die Übersichten von Röper, vgl. Fußnote 1). Allerdings gibt es hier einiges zu bedenken: Hinter einer solchen Analyse steht zumeist die Überlegung, dass sich damit Machtstrukturen abbilden lassen – doch die empirischen Indikatoren hierfür sind natürlich nicht nur Besitzverhältnisse, sondern auch informelle Beziehungen, (markt-)politische Einflussnahmen und vieles mehr. Insofern müssen empirisch beschreibbare Relationen unterschiedlicher Art identifiziert und messbar gemacht werden, und damit sind solche Netzwerke mitnichten „eindimensional“. Untersucht werden könnte zudem auch die Entwicklung der Strukturen über längere Zeiträume – hier ließe sich beispielsweise bestimmen, wie stabil Firmencluster sind, ob die Verdichtungen zunehmen, oder ob auch Auflösungsprozesse zu konstatieren sind. Allerdings besteht bei den zeitbezogenen Maßen für Netzwerkbeschreibungen ein Defizit: Diese sind kaum verbreitet und werden in den einschlägigen Handbüchern nur am Rande oder gar nicht berücksichtigt (vgl. Wasserman & Faust 1994 sowie Scott 2000); freilich kann dies auch als Herausforderung verstanden werden, hier produktiv einen Ansatz – und auch entsprechende Kennwerte – (weiter) zu entwickeln.
1
http://www.orgnet.com/netindustry.html
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Neben den Strukturbeschreibungen haben auch die von Windeler (in diesem Band: 361ff.) angesprochenen „Projektnetzwerke“ sowie die von ihm im Rahmen des „Governance“-Ansatzes diskutierte Erforschung vernetzter Produktion hohe Relevanz, denn in den Medienhäusern kam es in den letzten Jahren zu deutlichen Veränderungen in der Arbeitsorganisation und den allgemeinen Produktionsbedingungen. Flexibilisierung, Auslagerung der Produktion, Arbeiten in projektbezogenen Teams, variable Tätigkeitsprofile – mit diesen Schlagworten lassen sich einige Eckpunkte dieses Wandels in der Produktion abstecken (vgl. Altmeppen & Quandt 2002). Nach Windeler (in diesem Band: 361) bieten z.B. Projektnetzwerke die Möglichkeit „dauerhaftere Zusammenhänge zur Abwicklung zeitlich befristeter Projekte von einer Vielzahl von Akteuren unterschiedlicher Organisationen zu gewährleisten“. Sie passen damit gut zu den aktuellen Anforderungen in der Medienindustrie. In diesem Sinne würde auch eine praxisbezogene Journalismusforschung gut daran tun, sich mit derlei Konzepten auseinanderzusetzen; kann man doch davon ausgehen, dass sie zunehmend an Bedeutung gewinnen und dadurch auch die journalistischen Produktionsbedingungen – mithin auch das entsprechende Berufsbild – prägen werden. Tatsächlich skizzieren diverse Arbeiten derlei Prozesse des Wandels: Das traditionelle Bild journalistischer Inhalteproduktion ist demnach nicht mehr überall und vollständig zutreffend (vgl. z.B. Altmeppen & Quandt 2002; Bardoel & Deuze 2001; Deuze 2004; Engels 2003; Neuberger 2002; Quandt 2005a; Quandt et al. 2006; Singer 2003). Konkret zeigt sich dies im Online-Journalismus, dessen Angebote zum Teil in völlig neuartigen Arbeitszusammenhängen entstehen – u.a. im Rahmen distribuierter Produktion an unterschiedlichen Orten, synchron oder zeitversetzt (vgl. hierzu Projekte zum dezentralen, kollaborativen Journalismus wie z.B. www.indymedia.org). Journalismusbezogene Weblogs und Diskussionsforen, die allerdings meistens in nicht-professionellen Zusammenhängen entstehen, können ebenfalls in diesem Zusammenhang diskutiert werden. Bei diesen neuen (Vor-)Formen des Journalismus könnte man – neben der Denkfigur der Netzwerk-Produktion – zudem die strukturelle Netzwerkanalyse zum Einsatz bringen, um die empirisch beobachtbaren Produktionsstrukturen mittels Graphen und auch mathematisch zu beschreiben sowie in Hinblick auf die Distribution zentraler Informations- oder Produktionsknoten zu optimieren (wenn z.B. der Informationsfluss im Netzwerk zu stark von einzelnen Akteuren abhängig ist, könnten diese überlastet werden, und ihr Ausfall würde den Produktionsprozess nachhaltig stören).
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Mit diesen Analysen hat man bereits den Schritt von den organisationsbezogenen Analysen zu den personengebundenen Netzwerken vollzogen – die einem umfassenden Wandel unterworfen sind, wie Windelers Ausführungen in diesem Band verdeutlichen. Netzwerke bieten hier – sowohl als Denkfolie für die Analyse als auch im Sinne einer Organisationsform – interessante Möglichkeiten, die sicherlich nicht auf die bereits erwähnten Projektnetzwerke beschränkt sind. So kann man beispielsweise die (formellen wie informellen) Beziehungen innerhalb einer Redaktion mit Hilfe von Netzwerkmodellen darstellen, ebenso wie Informationsnetzwerke, um z.B. zentrale Quellen und besonders einflussreiche Informanten zu identifizieren. Gerade für die personenbezogene Sozialstrukturanalyse gibt es in der Soziologie reichlich Vorbildmaterial (als frühe Quelle dieser „Soziometrie“ vgl. Moreno 1934), und auch in der Kommunikationswissenschaft wurden bereits Schritte in dieser Richtung getan (vgl. Schenk 1995). Hier steht auch ein fortgeschrittenes Analyseinstrumentarium (u.a. in Form anwendungsreifer Software, wie z.B. UCINET oder Clementine) zur Verfügung. Mit diesen eher klassischen Anwendungen auf der Meso- und Mikroebene erschöpft sich das Potenzial einer Netzwerksichtweise jedoch nicht. Prinzipiell ist denkbar, auch bei „kleineren“ Elementen als den Akteuren zu beginnen. Wie bereits angedeutet, hat beispielsweise der Autor einige Eckpunkte einer Netzwerktheorie menschlichen Handelns vorgestellt (Quandt 2005a). Angesetzt wurde dabei bei grundlegenden, miteinander vernetzten Handlungselementen, welche die Bausteine einer jeden menschlichen Handlung darstellen: Handlungstyp, Zeit und Ort, Ressourcen, Subjektbezüge und Kontext. Durch das alltägliche Handeln der Akteure werden spezifische Konstellationen solcher Elemente reproduziert. Diese Konstellationen in Form von Assoziationen (Relationen zwischen verschiedenen Handlungen bzw. Elementen) und Sequenzen (zeitbezogene Abfolgen von Handlungen bzw. Elementen) werden von den Handelnden in einem Wissensvorrat abgelegt und bei der Planung neuer Handlungen als strukturelle Orientierung herangezogen; sie bilden also die Basis für Handlungsregeln. Es konnte theoretisch begründet und auch empirisch am Beispiel des Handelns in Online-Redaktionen belegt werden, dass solche Muster größere Netzwerke bilden, die nicht auf Individuen beschränkt sind, sondern von den meisten Personen in bestimmten sozialen Bereichen (hier: im Online-Journalismus bzw. in den zugehörigen Redaktionen) geteilt werden. Damit wirken diese Netzwerke quasi als Orientierungshorizonte für das Handeln; durch die bestehenden Netze wird das Handeln einerseits geleitet (wenn auch nicht determiniert), andererseits werden die Netze durch
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das weitere Handeln immer wieder neu (re-)konstruiert und (re-)konfiguriert. Eine solche Sichtweise hat durchaus praktischen Nutzen und lässt sich mit empirischen Ergebnissen verbinden (vgl. Quandt 2005a: Kapitel 5 ff.); allerdings sind noch viele Fragen zu klären – z.B. jene nach der Rolle von KoOrientierung, Kommunikation und Wahrnehmungsprozessen bei der Reproduktion von Handlungsmustern. Auf der Ebene soziologischer „Grundbausteine“ wäre wohl auch zu diskutieren, inwieweit man als Basiselement auf „Kommunikationen“ zurückgreifen kann – und ob hier Anschlussfähigkeit zu bestehenden Theorien gegeben ist. Obwohl man (ebenso wie bei der eben vorgestellten handlungstheoretischen Sichtweise) quasi bei „Atomen“ des Sozialen anfängt, sind Netzwerke aus Kommunikationen auch auf einer Makroebene modellierbar. Denn letztlich gilt hier das bereits Gesagte: Eine Netzwerksichtweise übersteigt in ihren Aussagen – durch die Betrachtung der spezifischen Netzwerkstrukturen – immer die Bezugsebene der Einzelelemente. Interessante erste Vorschläge zu einer im Wortsinne „kommunikations“-wissenschaftlichen Netzwerktheorie hat Stefan Weber gemacht, indem er die Semantiken von „System“ und „Netzwerk“ vergleichend gegenübergestellt hat (Weber 2001); Bezugspunkt ist also explizit die auf Kommunikation abzielende Systemtheorie, die in der deutschsprachigen Journalismusforschung eine zentrale Rolle spielt (vgl. Löffelholz 2004). Allerdings ist noch abzuwarten, inwieweit diese ersten (begrifflichen) Gegenüberstellungen weiterführende Arbeiten nach sich ziehen, und ob die zu entwerfende Netzwerktheorie dann ein Komplement oder Konkurrent zur Systemtheorie wäre. Versteht man Kommunikation etwas abstrakter als die Relationierung von Informationen, so ließe sich die Netzwerkanalyse zudem in weiteren Forschungszusammenhängen einsetzen: Beispielsweise könnten Bedeutungsstrukturen in veröffentlichten Texten mit Hilfe von Netzwerken beschrieben werden. So könnten Bezüge zwischen Informationseinheiten (die natürlich zunächst definitorisch festgelegt werden müssten) analysiert werden, um z.B. Verdichtungen und Cluster erkennen zu können – d.h. um „Schwerpunkte“ der Berichterstattung im wahrsten Sinne des Wortes zu identifizieren. Indes müssen Informationen hier nicht (nur) im Sinne journalistischer „Aussagen“ verstanden werden – letztlich können beliebige Medieneigenschaften, so sie denn in Beziehung zueinander gesetzt werden könnten, in Form von Netzwerken dargestellt werden. Beispielweise hat der Autor dieses Beitrags (zusammen mit Kempf und von Pape) einen Vorschlag dazu vorgelegt, wie man technologische, soziale und ökonomische Medieneigenschaften als Mehrebenen-
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Netzwerke darstellen kann; eine solche Sichtweise kann, wie andernorts gezeigt, u.a. im Rahmen des Innovationsmanagements in Medienbetrieben zu klareren Situationsanalysen führen (vgl. Kempf, von Pape & Quandt 2006). Anhand dieses kurzen Abrisses sollte deutlich geworden sein: Eine Netzwerksichtweise kann auf verschiedenen Betrachtungsebenen zur Anwendung kommen. Sie ist nicht nur auf Unternehmen oder Personen als Grundelement angewiesen, sondern kann auch anderweitig gewinnbringend genutzt werden. Allerdings ist wohl ebenso klar hervorgetreten, dass „Netzwerktheorien“ in der Journalismusforschung bislang nur in Ansätzen existieren – im positiven Sinne besteht also noch sehr viel Freiraum für kreative Theoriebildung.
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Diskussion: Potenziale und Probleme der Netzwerksichtweise
In den vorangegangenen Abschnitten wurde der Begriff des „Netzwerks“ definitorisch näher bestimmt, es wurden verschiedene Typen von Netzwerkansätzen vorgestellt und „Anwendungsmöglichkeiten“ für die Journalismusforschung erörtert. Dabei ging die Diskussion über die von Arnold Windeler vorgestellten „interorganisationalen Netzwerke“ hinaus; denn wie auch Windeler erwähnt, ist die Netzwerkperspektive nicht als ein Ansatz zu verstehen, sondern als eine grundlegende Orientierung auf unterschiedlichste Phänomene. Erst in der Übertragung auf das Soziale ist das zunächst „empirisch leere“ Konzept des Netzwerks so mit Sinnbezügen zu füllen, dass spezifische Ansätze und Theorien entstehen können. Damit werden aber auch schon einige der Potenziale – und Probleme – einer Netzwerksichtweise offenbar. Im negativen Sinne kann man nämlich monieren, dass der Netzwerkbegriff allein nur eine Metapher, bestenfalls ein (strukturorientiertes, formal-logisches) Konzept ist; damit wäre aber noch keine sozialwissenschaftlich relevante Substanz (und mithin schon gar keine für die Journalismusforschung) vorhanden. Oder zugespitzt: Der Gewinn der Netzwerksichtweise läge nur darin, dass man in den Modellen statt auf einige Pfeile und Quadrate eben auf Netzwerke zurückgreifen würde; an den Sachverhalten würde dies nichts ändern. Einer solchen Kritik (auf die auch Windeler in seinem Beitrag verweist) kann man entgegenhalten, dass sie die perspektivische Umstellung – und damit: die Änderung der Denkweise über Soziales – außer Acht lässt. Denn das Denken in Netzen lässt mitunter ganz eigene Aspekte hervortreten. Mit Hilfe der Netzwerksichtweise ist das Soziale auf andere Weise zu skizzieren als z.B. mit klassischen kommunikationswissenschaftlichen Modellen (vgl. z.B. die Über-
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sicht in Maletzke 1988) oder der Systemtheorie. Sicherlich richtig ist aber, dass solche konkreten Netzwerkansätze oder sogar ausgearbeitete Netzwerktheorien insbesondere in der Kommunikationswissenschaft (und der Journalismusforschung im Speziellen) Mangelware sind. Dies wurde auch im letzten Abschnitt deutlich: Vorschläge für spezifischere Ansätze sind nur vereinzelt gemacht worden und harren zumeist einer weiteren Ausarbeitung. Allerdings spricht dies nicht gegen Netzwerkansätze per se; der Mangel an konkreten Arbeiten kann auch als Zeichen der aktuellen Dominanz anderer Positionen gedeutet werden – zu nennen wäre hier beispielsweise die Systemtheorie. Mit dieser hat die Netzwerksichtweise zumindest eine gewisse Universalität gemeinsam, denn sie zieht ihre Kraft ebenso aus einigen zentralen Konzepten und Betrachtungsweisen, die vielfältig übertragbar sind. Im Detail bestehen natürlich erhebliche Unterschiede, was den Ausarbeitungsgrad und die Differenziertheit der Aussagen angeht. In Teilen hat dies mit dem bereits angesprochenen Mangel an konkreten Spezifikationen in Richtung Netzwerktheorie zu tun. Freilich müsste sich aber ein Netzwerkansatz schon per se ein gewisses Maß an Offenheit erhalten: denn Netzwerke sind (im Gegensatz zu Systemen) als nicht klar abgrenzbar und variabel zu denken. Eine Netzwerksichtweise entwickelt vor allem dann einen besonderen Charme, wenn die Relationen als veränderlich angesehen werden: so können (und müssen) Netzwerke als permanent zu rekonstruierende Gebilde modelliert werden, die – quasi organisch – wachsen, sich stabilisieren, verfallen oder sich sogar auflösen können. Wie bereits erwähnt, liegt in der Dynamisierung allerdings ein zentrales Problem der Netzwerksichtweise: Die Darstellung als Netz – d.h. als „Struktur“ – verführt allzu leicht dazu, Phänomene nur statisch zu begreifen. Der Grund mag mitunter auch banaler Natur sein: Denn Wandel und Dynamik von Netzwerken sind eben nur unter Schwierigkeiten „abbildbar“, d.h. in Schaubilder oder grafische Modelle zu überführen. So konstatiert auch Doreian: The nodes of the network can change in two senses: (i) their presence and (ii) their properties. Actors – be they individuals, organizations or nations – can come to and go from their networks. We tend not to consider this, confining our attention to those actors present at all of the time points [...] considered. [...] The implicit notion that we can describe the “structure of the network” as a static object, one that is in equilibrium form, seems remarkably quaint.. (Doreian 1995; zitiert nach Windeler 2001: 118)
Die prinzipielle Komplexität der Darstellung mag auch ein Hindernis bei der Nutzung für „praktische“ journalistische Fragen sein. Schließlich wird vielfach gegenüber der Journalismusforschung hervorgebracht, dass sie zu abstrakt –
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und an den „Realitäten“ des Alltagsjournalismus vorbei – argumentiert (vgl. z.B. Haller 2000; Kübler 2005: 207f.). Doch sollte man sich von „kompliziert“ erscheinenden Graphen (vgl. z.B. Quandt 2005a: 347ff.) im Rahmen von Netzwerkansätzen nicht täuschen lassen: Denn die Besonderheit von Netzwerkansätzen liegt darin, dass mit Hilfe eines begrenzten Reservoirs an Grundelementen und deren Relationen komplexe Muster erzeugt werden. Umgekehrt ist somit auch das Einfache, Basale im Komplexen stets zu erkennen. Dass der Praxisbezug sogar eher eine Stärke der Netzwerkansätze ist, zeigten ja bereits die Ausführungen Windelers in diesem Band: Denn die Wirtschaftswissenschaften und die Organisationssoziologie sind in besonderem Maße an Aspekten der Praxis interessiert; schließlich haben wirtschaftswissenschaftliche Modelle in ihrer Anwendung vielfach direkte Auswirkungen für Märkte, Unternehmen und dort arbeitende Personen. Deutlich wird dies insbesondere anhand des „Governance“-Ansatzes und der von Windeler diskutierten Projektnetzwerke. Eine ähnlich starke Verzahnung von Wissenschaft und Praxis ist in der Journalismusforschung nicht zu konstatieren. Doch muss es im Interesse jeder Sozialwissenschaft sein, für ihren Phänomenbereich relevante Erkenntnisse und Modelle zu liefern. Ansätze auf Basis der Netzwerksichtweise hätten hier sicherlich Vorteile; sie zu erarbeiten ist eine fordernde und gleichsam spannende Aufgabe – hoffentlich nicht erst für die „next generation“ der Journalismusforscher.
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MACHT
Macht: Dimensionen und Perspektiven eines Phänomens Peter Imbusch
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Macht – Annäherungen an einen schwierigen Begriff
Begriffe wie Macht, Herrschaft, Autorität zählen zu den zentralen Kategorien der Sozialwissenschaften. In der Hierarchie unverzichtbarer Grundbegriffe rangieren sie ganz weit oben (vgl. Korte & Schäfers 2006; Schäfers & Kopp 2006). Solchen Begriffen ist ein hohes Maß an Charme eigen, der daraus resultiert, dass jedermann sie benutzt und offensichtlich eine genaue Vorstellung davon hat, was mit ihnen gemeint ist, somit eine Verständigung über ihre inhaltlichen Aspekte voraussetzungslos möglich zu sein scheint. Gleichwohl hat Galbraith schon früh gewarnt: „Das Wort Macht gehört zu der nicht allzu großen Zahl von Begriffen, die zwar häufig benutzt werden, bei denen aber nur ein geringes Bedürfnis besteht, darüber nachzudenken, was sie eigentlich bedeuten.“ (Galbraith 1987: 13) Bei genauerer Betrachtung offenbaren sich denn auch nicht nur eine Vieldeutigkeit der mit Macht bezeichneten Phänomene und ein überlappender Wortgebrauch mit Herrschaft, sondern auch unterschiedliche, teils sogar konträre Einschätzungen und Bewertungen ihrer inhaltlichen Ausprägungen. Zudem fallen das Alltagsverständnis und das Wissenschaftsverständnis von Macht (und Herrschaft) auseinander: Gilt es im Alltag als weitgehend ausgemacht, dass Macht etwas Negatives ist – was sich z.B. in Assoziationen wie „Machtmensch“, „Machtbesessenheit“, „Machthunger“ und „Machtergreifung“ zeigt – und Herrschaft häufig mit Zwang und Unterdrückung in eins gesetzt wird, so ist das wissenschaftliche Verständnis differenzierter, wenn auch bis heute Uneinigkeit über ein angemessenes Verständnis von Macht, ihrer Grundlagen, Quellen, Träger etc. fortbesteht. Dies hat seinen Grund nicht zuletzt darin, dass der Machtbegriff immer Teil größerer ideologischer Debatten gewesen ist und sich Macht (wie auch Herrschaft) im Grunde einem
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auf Quantifizierbarkeit angelegten Methodenzugriff entzieht (vgl. Zelger 1975; Hradil 1980): Macht ist eben nichts Gegenständliches, unmittelbar Sichtbares, sondern weithin unsichtbare Eigenschaft sozialer Beziehungen. Macht ist – wie auch Herrschaft – ein primär relationales und nicht attributionales Phänomen, auch wenn im Alltagsverständnis von „Machthabern“ bzw. „Macht haben“ gesprochen wird, was eher eine Eigenschaft oder ein Besitzverständnis nahe legt. Macht hat niemand für sich allein, sie existiert nur in Verbindung mit und zu anderen Menschen, weil Macht stets ein soziales Verhältnis bezeichnet. Die Abwertung eines Begriffs beginnt häufig mit seiner Verengung. In Bezug auf den Machtbegriff wäre deshalb zunächst einmal auf die Vielfältigkeit des Machtvokabulars ohne feste Bedeutungsgrenzen hinzuweisen, die sich schon aus einer historisch-etymologischen Herangehensweise ergibt. Das Wort Macht bezeichnet nämlich a) was ein Mensch, eine Menschengruppe oder die Menschheit allgemein „vermag“ und hebt somit auf ihr physisches oder psychisches Leistungs-„Vermögen“, ihre Kraft oder ihre körperliche und geistige Stärke ab; b) die jemandem zustehende und/oder ausgeübte Befugnis, über etwas oder andere zu bestimmen; c) die existente Staats- oder Regierungsgewalt, etwa im Sinne einer Macht im Staate; d) eine herrschende Klasse, Clique oder Elite; e) den Staat als Ganzes, etwa im Sinne von „Supermacht“, „Großmacht“ oder „Kolonialmacht“; f) nicht zuletzt auch die Wirkung oder das Wirkungsvermögen von vorhandenen oder vorgestellten Verhältnissen, Eigenschaften oder Wesenheiten, etwa im Sinne einer „Macht der Gewohnheit“, „der Liebe“, „der Vernunft“, „der Unterwelt“, „der Götter“ etc. Eine Vielzahl von Komposita dient dabei der Spezifizierung einzelner Facetten des Machtbegriffs (vgl. Klenner 1990; Faber, Ilting & Meier 1982). Macht ist also überall anzutreffen, und jeder Mensch kann entsprechend seinen Chancen und Möglichkeiten Macht entfalten. Es sind also nicht allein die vermeintlich oder real Mächtigen, die Macht haben: Mächtig ist potenziell jeder, weil Macht eine allgemein menschliche Möglichkeit darstellt. Dieser sachlichen Differenzierung des Bedeutungsgehalts von Macht in „Möglichkeit“, „Vermögen und Können“ und ihre Nähe zu „Kraft“ und „Energie“ stehen Charakterisierungen von Macht als „böse“ oder gar „satanisch“ gegenüber, die dann zu jenen kategorischen Negativbestimmungen führen, wie sie etwa in Jacob Burckhardts (1970: 61) Formel von der Macht als dem absolut Bösen oder in dem Diktum Lord Actons (1972: 335) von der korruptiven Wirkung der Macht zum Ausdruck kommt. Macht ist bis heute ein „essentially contested concept“ geblieben, „characterized by unresolved – and indeed unresolvable – disputes over its meanings and proper application“ (Ball 1993: 554).
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Nicht zuletzt auf Grund dieses Begriffs- und Verständniswirrwarrs hat Max Weber (1976: 28f.) seinerzeit den Begriff der Macht als „soziologisch amorph“ bezeichnet und sein Machtverständnis mit großer Wirkung auf den soziologischen und politologischen Diskurs wie folgt definiert: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ Er hat dabei explizit unterstrichen, dass „alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen [...] jemand in die Lage versetzen [können], seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen.“ Im Gegensatz dazu hatte Weber Herrschaft an Legitimität zurückgebunden und von Macht als soziologisch amorpher Kategorie geschieden. Den Herrschaftsbegriff präzisierte er wie folgt: „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“ (ebd.: 28) Nicht also jede Chance, „Macht“ und „Einfluss“ auf andere Menschen auszuüben. Herrschaft („Autorität“) in diesem Sinne kann im Einzelfall auf den verschiedensten Motiven der Fügsamkeit: von dumpfer Gewöhnung angefangen bis zu rein zweckrationalen Erwägungen, beruhen. Ein bestimmtes Minimum an Gehorchenwollen, also: Interesse (äußerem oder innerem) am Gehorchen, gehört zu jedem echten Herrschaftsverhältnis (ebd.: 122).
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Macht als soziale Figuration
Macht bezeichnet also ein soziales Verhältnis, sie ist eine zentrale Form der Vergesellschaftung und immer ein Beziehungsgefüge. Bei Macht handelt es sich um einen sozialen Prozess. Um dieses Prozesshafte deutlich zu machen, haben Sofsky und Paris (1994: 13f.) – unter Rückgriff auf Georg Simmels formale Soziologie und in Anlehnung an Norbert Elias’ Einsichten in Machtfelder als interdependente Beziehungsgeflechte von Gruppen – den Begriff der „Machtfiguration“ geprägt: Eine Machtfiguration ist ein komplexes Geflecht asymmetrischer und wechselseitiger Beziehungen, in dem mehrere Personen, Gruppen oder Parteien miteinander verknüpft sind und in dem Veränderungen einer Relation auch die anderen Relationen ändern [...] Das Konzept der Machtfiguration erlaubt eine genuin soziologische Analyse. Es rekonstruiert die Dynamik von Machtprozessen [...] aus dem sozialen Verhältnis selbst. Versteht man Macht in diesem Sinne als Machtfiguration, dann lassen sich ausgehend von den sozialanthropologischen Grundlagen der Macht die Di-
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mensionen des Machtbegriffs und seine wichtigsten Differenzierungen herausarbeiten und schließlich auch die Effekte der Macht beschreiben. 2.1
Sozialanthropologische Grundlagen der Macht
Die Frage, warum und auf Grund welcher Fähigkeiten die Menschen Macht ausüben können und warum andere Menschen diese Macht erdulden, ertragen oder erleiden, ist zum einen die Frage danach, wie Macht überhaupt wirkt, zum anderen eine nach den sozialanthropologischen Grundlagen der Macht. Fasst man Macht ganz kategorial als etwas auf, was der Mensch „vermag“ (z.B. das Vermögen, sich gegen fremde Kräfte durchzusetzen), so wird man zunächst einmal dieses menschliche Vermögen in vier spezifische Handlungstypen differenzieren können, denen wiederum vier vitale Abhängigkeiten gegenüberstehen. Heinrich Popitz (1992: 24-39) hat vier anthropologisch nicht weiter reduzierbare Bedingungen herausgestellt, die zugleich vier Grundtypen der Macht bilden, von denen sich wiederum andere Typologisierungsmöglichkeiten ableiten lassen:
Aktionsmacht (als Verletzungsmacht) meint nicht nur jene kreatürliche Verletzbarkeit des menschlichen Körpers, dem der Mensch in vielfältiger Weise ausgesetzt ist, sondern auch ökonomische Verletzbarkeit durch den Entzug von Subsistenzmitteln, von Raub und Zerstörung, von Zugangsbeschränkungen zu Ressourcen und nicht zuletzt auch Verletzbarkeit durch den Entzug sozialer Teilhabechancen. Das typische daraus resultierende Machtverhältnis wäre pure Gewalt. Instrumentelle Macht (als Unterwerfungsmacht) ist die konventionelle und geläufigste Form der Durchsetzung gegen fremde Kräfte. Sie basiert auf dem Geben- und Nehmen-Können, der Verfügung über Belohnungen und Strafen, dem Gewähren oder dem Entzug von Gratifikationen. Sie ist die Macht des Entweder-Oder. Instrumentelle Macht wirkt durch das glaubhafte Verfügenkönnen über diese Mittel und die Bewahrung dieser Glaubwürdigkeit. Das typische hieraus resultierende Machtverhältnis wäre soziale Erpressung oder Konformität erzeugende Angst und Hoffnung. Autoritative Macht (als das Verhalten und die Einstellungen steuernde Macht) ist eine Macht, die einwilligende Folgebereitschaft erzeugt. Sie wirkt (verinnerlicht) über den jeweiligen Kontrollbereich hinaus, also auch dort, wo Handlungen nicht direkt kontrolliert werden können. Das typische hieraus resultierende Machtverhältnis wäre fraglose Autorität.
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Datensetzende Macht (als objektvermittelte Macht technischen Handelns) ergibt sich etwa aus jenen technischen Artefakten, mittels deren Hersteller Macht über andere Menschen ausüben können, weil in die Dinge latente, jederzeit manifest werden könnende Macht eingebaut ist. Sie ist aber auch Rückwirkung der technischen Beherrschung der Natur durch den Menschen. Das sich hieraus ergebende typische Machtverhältnis ließe sich als technische Dominanz fassen.
Natürlich können diese Machttypen zusammen auftreten und sich in ihrer Wirkung akkumulieren. Diesen konstitutiven Handlungsfähigkeiten der Menschen entsprechen bei Popitz vitale Abhängigkeiten des Menschen, die zugleich verdeutlichen, warum sich die Anderen fügen und unterwerfen, nämlich a) aufgrund ihrer Verletzbarkeit, b) ihrer Sorge um die Zukunft, c) ihrer Anerkennungs- und Maßstabsbedürftigkeit, sowie d) ihrem Angewiesensein auf hochkomplexe technische Apparaturen. 2.2
Prozesse der Machtbildung
Die sozialanthropologischen Grundlagen der Macht bilden gewissermaßen die Basis, auf der Macht sich herausbilden kann. Popitz (1992: 185-231) hat die Prozesse der Machtbildung eindrucksvoll an Beispielen beschrieben. Fasst man seine Ergebnisse zusammen, dann kann als Ausgangspunkt von Machtbildungsprozessen gelten, dass jemand ein Privileg definiert und wahrnimmt oder sich gesellschaftliche Ressourcen aneignen kann, die eine gewisse Überlegenheit verbürgen. Privilegien betreffen immer knappe Güter, so dass die Durchsetzung von Privilegien stets zu Lasten und auf Kosten anderer, zu kurz gekommener Individuen geht. Solidarität ist ein wichtiger Schritt in der Verfestigung von Macht, denn um Widerstände möglichst zu minimieren, solidarisieren sich die Privilegierten und bestätigen sich gegenseitig, legitime Rechte wahrzunehmen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist vergessen, dass hier ursprünglich Macht gegen den Willen anderer durchgesetzt wurde. Macht bekommt sodann durch Institutionen und Organisationen Struktur, indem Mächtige zwischen sich und anderen differenzieren. Da sie die Verfügungsmacht über knappe Güter haben, von denen die Macht nun selbst das Wichtigste ist, können sie bestimmen, wer wie nah oder fern zur Macht steht. Macht stabilisiert sich also über soziale Schließungsprozesse und über die gestufte Partizipation an ihr. Da die Reproduktion von Macht auch immer eine beschränkte Umverteilung voraussetzt, stimmen schließlich auch die weniger
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oder gar nicht Mächtigen der neu etablierten Machtordnung zu, weil das die geringsten Nachteile bei der Wahrnehmung ihrer verbliebenen Lebenschancen verbürgt (vgl. Abels 2001 I: 249f.). Die reine Möglichkeit zur Machtausübung wächst sich zur Fähigkeit der Machtausübung aus (potenzielle Stufen), wird sodann zur latent wirkenden Macht und schließlich zu manifest wirksamer Macht (aktuelle Stufen) (vgl. Hradil 1980: 34-40). 2.3
Dimensionen der Macht
Um zu verstehen, was Macht ist und wie sie wirkt, ist es allerdings keineswegs ausreichend, den Machtbegriff typologisch auseinander zu legen und Prozesse der Machtbildung zu reflektieren. Vielmehr müssen wenigstens vier Dimensionen der Macht berücksichtigt werden, um zu gehaltvollen Machtanalysen zu gelangen: Alle Macht beruht auf bestimmten grundlegenden Machtquellen, welche als Ursprünge und Gründe von Macht betrachtet werden können. Denn die Machtquellen eröffnen eigentlich erst den Zugang zu den Machtmitteln. Diese sind die Trümpfe eines Machtspiels, mit denen Konflikte ausgefochten, Widerstand geleistet oder gebrochen wird. Machtquellen und Machtmittel liegen noch im Bereich der potenziellen Macht, da man beispielsweise über Machtmittel verfügen kann, ohne diese einsetzen zu müssen. Erst mit dem Einsatz der Machtmittel, wenn sich Machtmittel in Formen der Machtausübung niederschlagen, übersetzt sich potentielle Macht in aktuelle Macht. Den einzelnen Formen der Machtausübung liegen jeweils typische Wirkungsmechanismen von Macht zu Grunde. Dass Max Weber mit seiner Charakterisierung des Machtbegriffs als „soziologisch amorph“ durchaus Recht hatte, zeigt sich nicht nur an der Vielfalt der Machtquellen, sondern auch daran, dass die Abgrenzungen zwischen den einzelnen Dimensionen nicht immer trennscharf sind. Dies wird im folgenden bei einem Durchgang durch die Bestandteile der einzelnen Machtdimensionen deutlich. 2.3.1 Machtquellen Die Machtquellen stellen die unmittelbaren Gründe für die Macht dar, wie sie sich aus den allgemeineren sozialanthropologischen Grundlagen der Macht ergeben. Eine erste solche Machtquelle ist zunächst physische Stärke bzw. psychische Überlegenheit. Körperliche Stärke garantiert zumindest in Konfliktsituationen im Mikro-Bereich eine Form der Überlegenheit, der sich andere fraglos beugen werden. Ist man einem „Muskelprotz“ körperlich sichtlich un-
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terlegen, wird man es sich gut überlegen, sich auf eine Kraftprobe einzulassen, bei der man offensichtlich „den Kürzeren zieht“. Macht als körperliche Überlegenheit schafft ziemlich unhinterfragt Gehorsam, sie wirkt direkt. Auf der Makro-Ebene lassen sich ähnliche Wirkungen durch die Monopolisierung physischer Gewaltmittel (Polizei, Militär) beim Staat erzielen. Beruht die Macht einer Person auf psychischen Besonderheiten, etwa auf Ausstrahlung, Geist, Intellekt, dann wird sie eher bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen eines Menschen zugeschrieben, deren Überlegenheit man neidvoll oder neidlos anerkennt. Psychische, geistige, rhetorische, moralische oder sonstige Eigenschaften können also ebenfalls den Zugang zu Machtmitteln ebnen, weil sie zur Sinngebung eingesetzt werden können oder Situationsdefinitionen erfolgreich durchzusetzen vermögen. In vielen Fällen steht die Macht der Persönlichkeit in engem Zusammenhang mit Formen konditionierter Macht, mit der Fähigkeit also, Überzeugungen oder Motivationen zu schaffen. Von hier aus ist der Weg zur Ausbildung von Charisma und Autorität nicht weit. Die Anerkennung der Persönlichkeit anderer bedeutet zugleich immer ein stückweit Verzicht auf Selbstbestimmung. Eigentum und Besitz stellen eine weitere wesentliche Quelle von Macht dar. Macht ergibt sich hier aus der mehr oder weniger exklusiven Verfügung über die Produktionsmittel und die damit verbundenen property rights, den mit der Verfügung oder dem Besitz eines Gutes einhergehenden Eigentumsrechten. Sie kann aber auch Resultat der Monopolisierung bestimmter gesellschaftlich bedeutsamer Ressourcen (von Rohstoffen und Böden bis hin zu Patenten) sein. Sie erwächst aus der Reichtums- und Einkommenskonzentration einer Gesellschaft, so dass etwa Pierre Bourdieu (1992) das ökonomische Kapital als die grundlegendste, weil in alle anderen Kapitalarten transformierbare Kapitalie betrachtet. Ökonomisch tritt sie als Marktmacht im Sinne der Ausbildung monopolistischer oder oligopolistischer Positionen in Erscheinung, die anderen Marktteilnehmern bestimmte Tauschbedingungen aufzwingt, ohne die formalen Prinzipien der Marktgesellschaft zu verletzen. Auch können Eigentum und Wohlstand habituell den Eindruck von Autorität und Entschlusskraft vermitteln, die dann wieder zu Formen konditionierter Unterwerfung oder kompensatorischer Macht führen können. Schließlich kann in der Organisation eine der wichtigsten Machtquellen moderner Gesellschaften gesehen werden. Organisationen bilden durch den zielgerichteten Zusammenschluss und die Bündelung von Kräften Handlungspotenziale aus, die individuellen Machtaspirationen durch die Verfügung über größere und andere Ressourcen weit überlegen sind. Macht entsteht dabei aus
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Kooperation und Zentralisierung und schlägt sich u.a. in bürokratischen Strukturen nieder. Wo Macht erstrebt wird, ist in der Regel auch eine entsprechende Organisation der Macht vorhanden (vgl. Crozier & Friedberg 1979). 2.3.2 Machtmittel Die Machtmittel stellen dagegen die konkreten Medien der Machtausübung dar. Mittels ihres Einsatzes wird der Ausgang von Machtkämpfen und Herrschaftskonflikten entschieden. An erster Stelle zu nennen wäre hier Kapital, und zwar Kapital in jenem umfassenden Sinne, wie Bourdieu seine Kapitalarten gefasst hat, nämlich als ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital (vgl. die Beiträge von Willems und Hanitzsch in diesem Band). Ökonomisches Kapital – etwa in Form von Geld – stellt ein universelles Tauschmedium dar, welches den höchsten Konvertierungsgrad in die anderen Kapitalarten aufweist und entsprechend kompensatorisch oder konditionierend eingesetzt werden kann. Soziales Kapital zeigt sich vor allem in einem dauerhaften Netzwerk mehr oder minder institutionalisierter Beziehungen, mit dem nicht nur Kennen und Anerkennen, sondern auch die aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe resultierenden Ressourcen verbunden sind. Während die Macht des sozialen Kapitals häufig sehr manifest wirkt, zeigt sich die Wirkung des kulturellen Kapitals eher auf symbolischer Ebene und muss von dort aus seine Macht erst entfalten. In inkorporiertem Zustand (Bildung, Wissen, Begabung) bildet das kulturelle Kapital eine dauerhafte, habituell verfestigte Disposition des Organismus; in objektiviertem Zustand kommt es vor allem in der Produktion kultureller Güter zum Ausdruck; und in institutionalisiertem Zustand hat es sich etwa in Form von schulischen oder akademischen Titeln objektiviert, die für „feine Unterschiede“ (Bourdieu 1982) sorgen und Kompetenz und Wissen garantieren, mit denen dann Autorität und Einfluss verbunden sind. Körperschaften und Organisationen bilden nicht nur eine bedeutsame Machtquelle, sondern stellen zugleich ein wichtiges Machtmittel dar. Formale Institutionen bilden nämlich das machtrelevante institutionelle Gefüge der Gesellschaft, deren interne Macht über Positionen hierarchisch gegliedert und mit bestimmten Befugnissen versehen ist, deren externe Macht darin zum Ausdruck kommt, dass sie strukturell verfestigte, häufig normsetzende Macht ist, weil in ihnen gesellschaftlich relevante Entscheidungen gefällt und umgesetzt werden. Insofern kann es sich bei der von Organisationen ausgehenden Macht sowohl um kompensatorische wie auch konditionierende Macht handeln. Ein besonderes Machtmittel stellt auch die Sanktionsgewalt eines Amtes dar, das an öffentliche bürokratische Strukturen gebunden ist. Im Gegensatz zu
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den übrigen Organisationen und Körperschaften werden hier insbesondere konditionierte und repressive Formen der Macht ausgeübt, die sich aus den spezifischen Befugnissen solcher Bürokratien ergeben. Im Sinne legaler Herrschaft begegnet uns die Bürokratie im Alltag vor allem als (mehr oder weniger) rationale Verwaltung, die Sachlichkeit und Zweckmäßigkeit mit spezifischen Erzwingungsmaßstäben verbindet und so ihren Sanktionscharakter gewinnt. Wenn auch eine Vielzahl von Vorschriften nicht unmittelbar sanktionsfähig ist, so gilt doch die Sanktionsdrohung im Prinzip, weil ihre Umsetzung jederzeit erzwungen werden könnte. Schließlich stellt die Verfügung über und der Umgang mit Informationen ein Machtmittel beträchtlichen Ausmaßes dar. „Wissen ist Macht“ – heißt es nicht umsonst kurz und knapp im Volksmund. Macht kann beispielsweise auf einem Monopol hinsichtlich der Verfügung über Informationen im weitesten Sinne beruhen. Dies betrifft ganz basales Wissen, grundlegende Verfahrensabläufe, bestimmte Techniken (die mittels Patenten höchst exklusiv verfügbar sind), aber auch aktuelle politische Informationen, gilt auf anderen Stufen gesellschaftlicher Entwicklung etwa für Heilswissen und magische Praktiken, die ihren Inhabern seit je Macht verliehen und Expertokratien zu begründen halfen. Informationsmonopole sind zwar flüchtige, aber mitunter sehr effektive Machtmittel. Berücksichtigt man zudem, dass Informationen und Wissen manipuliert, gestreut oder selektiv eingesetzt, bei wichtigen Entscheidungen zurück gehalten oder offenbart werden können, so wird der Stellenwert von Informationen als Machtmittel einsichtig. Die Macht der Medien als Bereitsteller und Bearbeiter von Informationen ergibt sich einerseits aus den berechtigten Informationsbedürfnissen der Menschen, andererseits aus den Manipulationsmöglichkeiten von Nachrichten, mit denen Meinungen „gemacht“ werden. Informationen und Wissen als Machtmittel zu betrachten, heißt ihre konditionierenden Aspekte (also im Hinblick auf Änderungen des Bewusstseins, der Überzeugungen oder des Glaubens) in den Mittelpunkt zu rücken. 2.3.3 Formen der Machtausübung Die meisten Formen der Machtausübung lassen sich auf einem Kontinuum wie folgt rubrizieren (vgl. Olsen & Marger 1993: 3f.; Turner 2005): Die diskretesten Formen der Machtausübung sind Einfluss, Überzeugung und Motivation. Einfluss übt ein Akteur auf der Grundlage allgemein akzeptierter Regeln aus. Die Fähigkeit, Einfluss geltend zu machen, hängt meistens von einer Machtposition in einem Netzwerk oder einer Organisation ab, welche die Verfügung über bestimmte Ressourcen mit sich bringt und tendenziell um so effektiver wird, je
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höher eine Position in der Sozialstruktur lokalisiert ist. Überzeugung setzt dagegen eine sich aus Wissen und Information speisende persönliche Autorität und geistige Überlegenheit voraus, die Argumente in Auseinandersetzungen mit anderen vernünftig zu begründen vermag. Einfluss und Überzeugung veranlassen jemanden dazu, etwas zu tun, was er vorher nicht beabsichtigte. Motivation stellt dagegen eine verdeckte Form sozialer Macht dar, der es nicht darum geht, Widerstände überwinden zu müssen, sondern andere dazu zu veranlassen, etwas überhaupt erst zu wollen oder auch nicht zu wollen, ein bestimmtes Verhalten in Gang zu setzen oder zielorientiertes Handeln auszulösen. Einfluss, Überzeugung und Motivation sind damit genuine Formen kommunikativer Macht. Sie rangieren in bezug auf die mit der Machtausübung verbundenen Zwänge ganz unten auf der Skala. Autorität wird grundsätzlich – in der Regel von machtschwächeren Gruppen – zugeschrieben, sie beruht auf Anerkennung (Sofsky & Paris 1994: 21156; vgl. Sennett 1985). Sie kann in zwei Formen auftreten: Als Amts- und Befehlsgewalt basiert sie auf der vorgängigen Gewährung von Legitimität seitens der Machtunterworfenen, denn sie ermächtigt einen Akteur, bestimmte Entscheidungen mit Aussicht auf persönliche Anerkennung und Gehorsamsbereitschaft zu fällen. Autorität bezeichnet in diesem Sinne den rechtmäßig anerkannten Einfluss einer sozialen Instanz. Sie gründet v.a. auf legalen Rechten und rationalem Wissen. Mit Autorität kann aber auch persönliche Autorität gemeint sein, die Macht der Persönlichkeit (Attraktion). Sie entsteht durch eine Reihe herausragender persönlicher Eigenschaften, langen Erfahrungen oder besonderen Kenntnissen und steht häufig mit der Existenz von Charisma in Verbindung, die einer Person eine „natürliche“ Autorität verleiht. Sie kann jedoch auch auf diffuser Anziehung oder kognitiver Identifikation beruhen. Diese Form der Autorität ist unabhängig von der Stellung in einer Hierarchie und kann auch einfach zugeschrieben sein: Jemand hat Autorität, wenn und weil andere ihn anerkennen. Autorität beruht in diesem Fall auf besonderen Wissensvorräten, traditionellem Glauben bzw. entsprechenden Werten oder der anderweitig geschätzten Ausstrahlung einer Person. Verschmelzen Autorität im Sinne von Amts- und Befehlsgewalt und persönliche Autorität miteinander, dann ist in der Regel ein hohes soziales Prestige die Folge. Während Autorität eine relativ stabile Form der Machtausübung begründet, sticht im Falle der Attraktion der transitorische, flüchtige Charakter von Macht hervor. Kontrolle ist eine Form der Machtausübung, die sich bereits sehr verschiedener Methoden bedienen kann und eine unterschiedliche Reichweite besitzt. Sie kann sich lediglich auf bestimmte Handlungen und Interaktionsprozesse
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beziehen, sie kann aber auch regional oder global angelegt sein – je nachdem von welcher Form der Macht die Rede ist. Sie kann sich auf Entscheidungssituationen und damit auf intentional Handelnde, aber auch sog. NichtEntscheidungen beziehen und dadurch bestimmte strategische Weichenstellungen vornehmen. Peter Bachrach und Morton S. Baratz (1962) haben NichtEntscheidungen in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen ausgemacht und sie das „zweite Gesicht der Macht“ genannt. Zwang liegt dagegen dann vor, wenn auf einen möglichen Adressaten Druck über das Gewähren bzw. Zurückhalten bestimmter Ressourcen ausgeübt bzw. damit gedroht wird oder er von bestimmten Handlungen auf Grund der zwingenden Einflussnahme anderer abgehalten wird. Zwang kann auf recht verschiedene Weise ausgeübt werden: Bei den sanften Formen des Zwangs werden demjenigen, auf den Zwang ausgeübt wird, im Falle wunschgemäßen Verhaltens bestimmte Vorteile gewährt oder in Aussicht gestellt (Nutzenaspekt). Im Fall brachialer Zwangsmittel wird mit Gewalt oder Strafen gedroht, um die eigene Macht gegenüber einem anderen durchzusetzen (Schadensaspekt). Dagegen stellt das staatliche Gewaltmonopol einen Spezialfall der Zwangsausübung dar. Als rationaler anstaltsmäßiger Herrschaftsverband stellt der Staat schon bei Weber (1976: 822) ein auf das Mittel der legitimen Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen dar, dem sich die beherrschten Menschen kraft seiner Autorität fügen müssen, weil er bestimmte Grundfunktionen für die Durchführung und Aufrechterhaltung der Ordnung erfüllt. Entgegen einer vielfach anzutreffenden Vorstellung muss schließlich auch die Gewalt als eine Form der Machtausübung, die von der einfachen Machtdemonstration bis hin zur absoluten Macht reichen kann (Sofsky 1993: 29ff.), angesehen werden. Sicherlich lässt sich Gewalt auf einem Kontinuum der Formen möglicher Machtausübung am entgegengesetzten Ende zu den friedlichen Formen der Machtausübung (wie Einfluss, Überzeugung und Motivation) verorten, aber Macht und Gewalt sind keine Gegensätze. Hannah Arendts (1970: 57) Behauptung, dass es zwischen Macht und Gewalt keinerlei Übergänge gibt und dass Gewalt dort auf den Plan tritt, wo Macht in Gefahr ist, kann nur soweit zugestimmt werden, als sich Macht und Gewalt als Phänomene nicht aufeinander reduzieren lassen (vgl. Imbusch 1998: 15f.). Doch gibt es einen Überschneidungsbereich von Macht und Gewalt, der genau darin besteht, dass Gewalt ein sehr effektives Machtmittel sein kann, weil sie unmittelbar Gehorsam erzwingt und Widerstand zu überwinden weiß (vgl. Imbusch 2002). In diesem Sinne spricht etwa Popitz von Verletzungsmacht als Gewalt.
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Dass nicht alle Macht Gewaltcharakter besitzt, dürfte aber ebenso offensichtlich sein. 2.3.4 Wirkungsmechanismen der Macht Bisher ist schon verschiedentlich auf die möglichen Wirkungsmechanismen der Macht Bezug genommen worden, ohne diese eigens systematisch auszuführen. Drei solcher Wirkungsmechanismen lassen sich nach ihrer je spezifischen Art unterscheiden: Sanktion, Kompensation, Manipulation. Macht als Durchsetzung des eigenen Willens kann grundsätzlich deshalb wirken und dadurch ihr Ziel erreichen, dass etwaiges Widerstreben mit Strafen oder Sanktionen belegt ist. Die Aussicht eines Individuums oder einer Gruppe auf schmerzhafte Gegenmaßnahmen für den Fall, dass dem Willen des Anderen nicht entsprochen wird, lässt die Betroffenen ihre ursprünglichen Präferenzen eher aufgeben oder veranlasst sie zu einer Verhaltensänderung im Sinne des Machtausübenden. Der Wirkungsmechanismus der Sanktion erreicht also Unterwerfung durch die Auferlegung oder die (gestaffelte) Drohung mit unangenehmen Konsequenzen. Macht kann aber auch deshalb wirksam sein, weil positive Sanktionen verhängt worden sind, die Unterwerfung unter fremden Willen also dadurch erreicht wurde, Wohlverhalten zu belohnen – etwa durch Lob, Geld, die Erfüllung bestimmter Versprechen oder die Aussicht auf sonstige materielle und immaterielle Vorteile. In diesem Fall bekommt das sich unterordnende Individuum also etwas für es Wichtiges zum Ausgleich. Schließlich existiert als dritter grundlegender Wirkungsmechanismus von Macht die Manipulation. Im Gegensatz zu den beiden zuvor genannten Mechanismen, bei denen sich ein Einzelner oder eine Gruppe ihrer mal erzwungenen, mal entgoltenen Unterordnung durchaus bewusst ist, wird im Falle der Manipulation konditionierend auf andere eingewirkt: Die Unterwerfung entspricht scheinbar dem selbstgewählten Kurs und wird vom Beeinflussten entweder gar nicht oder zumindest nicht vollständig als das erkannt, was sie tatsächlich ist, nämlich Machtausübung. Manipulation erzielt ihre Wirkung im Falle einer Bewusstseinsänderung, der Aufgabe einer Überzeugung oder eines Glaubens und darf nicht nur im negativen Sinne des Wortes als krude Beeinflussung verstanden werden. Sie kann auch durch Unterordnung unter geliebte Menschen, durch Identifikation mit einer charismatischen Persönlichkeit oder Autoritätsperson entstehen. Diese Wirkungsmechanismen der Macht stehen jeweils in engem Zusammenhang mit bestimmten Machtmitteln. Sanktion, Strafe und Drohungen ent-
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falten ihre Wirkungen häufig auf der Basis von physischen Machtmitteln; Kompensation und Belohnung bedürfen zur Entfaltung ihrer Wirkung in der Regel bestimmter ökonomischer Ressourcen; und Manipulation erzielt ihre Wirkung auf der Basis symbolischer Machtmittel. Diese drei Methoden der Machtausübung hat John Kenneth Galbraith (1987: 17f.) in seiner Anatomie der Macht deshalb auch als repressive Macht, als kompensatorische Macht und als konditionierte Macht bezeichnet. Repressive Macht erzielt Unterordnung durch die Fähigkeit, die individuellen oder kollektiven Präferenzen eines einzelnen oder einer Gruppe mit derart unangenehmen oder schmerzhaften Gegenmaßnahmen zu belegen, daß die Betroffenen ihre Präferenzen aufgeben. Der Terminus enthält einen Beigeschmack von Bestrafung [...] Im Gegensatz dazu erzielt kompensatorische Macht Unterwerfung durch das Angebot, Wohlverhalten zu belohnen [...] Ein gemeinsames Merkmal sowohl der repressiven wie der kompensatorischen Macht besteht darin, daß das sich unterordnende Individuum sich seiner Unterordnung – hier erzwungen, dort entgolten – bewußt ist. Die Ausübung konditionierter Macht hingegen wird durch eine Änderung des Bewußtseins, der Überzeugungen und des Glaubens bewirkt [...] Die Unterwerfung entspricht dem selbstgewählten Kurs und wird nicht als das erkannt, was sie tatsächlich ist.
2.4
Effekte der Macht
Mit jedem Einsatz von Macht verbindet sich die Hoffnung, bestimmte Effekte und gewünschte Wirkungen zu erreichen, die anders nicht oder schwerer zu erlangen gewesen wären. Macht erzielt dabei Effekte immer in bestimmten Sozialräumen, die den Geltungs- und Wirkungsbereich von Macht abstecken. Dieser lässt sich wiederum idealtypisch in dreierlei Hinsicht differenzieren, nämlich erstens hinsichtlich der Reichweite, zweitens hinsichtlich des Geltungsgrades und drittens hinsichtlich der Wirkungsintensität. Die Reichweite von Macht zeigt sich am ehesten in personeller oder territorialer Weise. Macht wird typischerweise über eine bestimmte Zahl von Personen oder über ein bestimmtes Territorium ausgeübt. Die Reichweite der Macht ließe sich über die Erhöhung der der Macht unterworfenen Menschenzahl oder die Vergrößerung eines Einflussbereichs steigern. Der Geltungsgrad der Macht zielt auf die Zuverlässigkeit der zu erwartenden Konformität und dürfte u.a. von der Legalität der Machtausübung oder sonstiger Legitimitätsquellen der Macht abhängig sein. Der Geltungsgrad von Macht würde sich erhöhen, wenn Gehorsam und Folgebereitschaft zuverlässiger als zuvor erwartet werden können oder Macht unhinterfragter befolgt würde.
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Für die Wirkungsintensität der Macht sind vor allem die Durchsetzungskraft bzw. -fähigkeit und die Innovationskraft bzw. ein entsprechendes Potenzial von Bedeutung. Eine Verstärkung der Wirkungsintensität der Macht kann in der machtvolleren Durchsetzung des eigenen Willens gesehen werden, der nun einen größeren Widerstand zu überwinden vermag als zuvor. Die Innovationskraft von Macht würde sich daran zeigen, dass etwa mit Bestehendem gebrochen werden kann oder Ungewohntes und Neues verbindlich geregelt wird. Die Intensität würde mit der Größe einer Herausforderung steigen müssen (vgl. Popitz 1992: 234f.). 2.5
Ebenen der Macht
Diese Differenzierungen weisen über die Webersche Definition von Macht insofern hinaus, als sie nicht nur das Handeln zur Überwindung von Widerstand als Machtaktion begreifen, sondern auch die Gründe für die Möglichkeit zur Machtausübung spezifizieren. Steven Lukes (1974) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Macht mindestens ein dreidimensionales Phänomen ist und mithin auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt werden kann. Er hat dabei den rein auf der Handlungsebene angesiedelten, klassischen Machtbegriff von Weber als eindimensional gekennzeichnet, weil er auf die Durchsetzung des eigenen Willens gegen Widerstand abhebt und ihn damit in die Nähe von Kampf und Konflikt rückt. Weber lässt schon eine zweite Dimension von Machtausübung – so genannte non-decisions – außer Acht. Machtausübung beinhaltet hier Kontrolle über soziale Situationen und Akteure mit dem Ziel, bestimmte Aktivitäten von vornherein zu verhindern oder Entscheidungen, issues etc. erst gar nicht auf die Tagesordnung gelangen zu lassen. Dabei geht es um die Beeinflussung der Rahmenbedingungen für die Machtausübung etwa über die Manipulation oder die Kontrolle der Spielregeln. Dieses „zweite Gesicht der Macht“ (Bachrach & Baratz 1962) besteht also wesentlich in verborgener Machtausübung mittels „Nicht-Entscheidungen“ oder Nicht-Handeln, so dass bestimmte Diskussionen oder Handlungen als illegitim erscheinen. Aber auch eine solche zweidimensionale Fassung von Macht bleibt immer noch an die intentionale Willensdurchsetzung von Individuen gekoppelt. Nach Lukes gilt es deshalb auch noch eine dritte Dimension zu berücksichtigen: Diese besteht in einem impliziten gesellschaftlichen oder gruppenförmigen Konsensus, dass bestimmte Dinge gar nicht verhandelbar sind, sondern als gegeben akzeptiert werden müssen. Diese dritte Ebene der Machtausübung zielt also auf die Kontrolle des größeren gesellschaftlichen Kontextes und der
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Rahmenbedingungen, in denen die Handlungen anderer Personen stattfinden, im besonderen auf die Öffnung oder Schließung bestimmter Optionen und Handlungskorridore ab. Dazu sind in der Regel Machtpositionen vonnöten, die es bestimmten Akteuren erlauben, soziale Situationen zu strukturieren und auf die Sichtweisen, Erklärungsmuster und Interessendefinitionen anderer Akteure Einfluss auszuüben (vgl. Lukes 1974: 11-25; Clegg 1989, 1975). Eine solche „Meta-Macht“ impliziert weitreichende Kontrolle über soziale Prozesse und Organisationen. Noch vor der Ebene der Abstimmung der Spielregeln und weit vor dem eigentlichen Handeln sind also bereits bestimmte Aspekte fest geschrieben – unzweifelhaft ein Machtphänomen.
3
Herrschaft als institutionalisierte Macht
Macht ist also ein äußerst komplexes soziales Phänomen. Sie tritt in einer Vielzahl von Formen und Arten auf. Sie kann sporadisch oder relativ dauerhaft sein, sie kann kontinuierlich oder diskontinuierlich, partiell oder umfassend ausgeübt werden, sie kann informell oder ganz offiziell gebraucht werden. Herrschaft ist dagegen ein Spezialfall von Macht, die sich verdichtet, verfestigt, verstetigt und akkumuliert hat. Denn im Gegensatz zu Macht zeichnet sich Herrschaft durch eine gewisse Dauerhaftigkeit aus. Herrschaft kann entsprechend auch als ein institutionalisiertes Dauerverhältnis der Machtausübung einer übergeordneten Person oder Personengruppe gegenüber untergeordneten Gruppen verstanden werden, das ohne ein Mindestmaß an Anerkennung und Gehorsam (Webers eingangs zitiertes, berühmtes Gehorchenwollen) nicht möglich wäre. Herrschaft hat damit stärkere Bezüge zur Legitimität als Macht, müssen doch die Herrschenden in viel größerem Maße danach streben, ihre Herrschaft zu legitimieren, um sie dauerhaft ausüben zu können. 3.1
Der Institutionalisierungsprozess von Herrschaft
Betrachtet man Herrschaft mit Max Weber als institutionalisierte Macht, dann wird man zunächst einmal auf den Institutionalisierungsprozess der Macht selbst verwiesen. Popitz (1992) hat auf drei Elemente aufmerksam gemacht, die den Institutionalisierungsprozess von Macht in Richtung auf Herrschaft kennzeichnen: Zum einen löst sich Macht mehr und mehr von bestimmten Personen und geht an bestimmte Funktionen und Positionen über, so dass es zu einer zunehmenden Entpersonalisierung von Machtverhältnissen kommt. Zum anderen löst sich Machtausübung in zunehmendem Maße von persönlicher
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Willkür und orientiert sich stattdessen an feststehenden Regeln und Verfahrensweisen, so dass auch eine Formalisierung der Machtausübung eintritt. Schließlich wird Macht in zunehmendem Umfang in übergreifende Ordnungsgefüge integriert und verschmilzt mit den „bestehenden Verhältnissen“. Entpersonalisierung, Formalisierung und Integrierung bewirken eine Erhöhung der Stabilität und damit auch eine Absicherung von Macht, die sich im Institutionalisierungsprozess verfestigt und entsprechend schwer rückgängig zu machen ist. Popitz (1992: 236 ff.) hat diesen Prozess im Sinne eines Stufenmodells dargestellt, das folgende Ebenen aufweist: Auf der ersten Stufe bleibt Macht immer auf den Einzelfall beschränkt, vollzieht sich bestenfalls als eine lockere und zufällige Aneinanderreihung von Aktionen, so dass sie im Grunde noch eine Vorstufe darstellt, die Popitz mit dem Namen „sporadische Macht“ belegt. Zur Verfestigung stehen hier weder ausreichende Machtmittel zur Verfügung noch bezieht sich die Machtausübung auf wiederholbare Situationen, noch kann der Machtausübende wiederholbare Leistungen durchsetzen, geschweige denn den Schwächeren irgendwie an sich binden. Auf der zweiten Stufe kann ein Machthaber das Verhalten der Untergebenen nicht nur im Einzelfall lenken, sondern auch normieren. Dadurch kann er Verhaltensregelmäßigkeiten durchsetzen, die teils bereits auf Sanktionen beruhen, und Fügsamkeit mit möglichen Vorteilen für beide Seiten normativ verfestigen. Die zweite Stufe auf dem Weg zur Institutionalisierung ist die der normierenden Macht. Auf der dritten Ebene kommt es zur Positionalisierung von Macht und zur Herausbildung erster Ansätze von Herrschaftsbastionen, weil sich normierende Macht zu positioneller Macht fortentwickelt und sich als solche zu einer überpersonalen Machtstellung verdichtet. Dies ist der bedeutendste Einschnitt im Prozess der Institutionalisierung von Macht, weil er den Beginn von Herrschaft markiert und alle weiteren Stufen nur noch als Ausbau dieser grundlegenden positionellen Verfestigungen zu verstehen sind. Auf der vierten Stufe bilden sich Positionsgefüge der Herrschaft heraus, die sich um zentrale Machtpositionen herum gruppieren. Als entscheidenden Schritt auf dieser Stufe betrachtet Popitz die Verfestigung einer Arbeitsteilung innerhalb einer Struktur von Positionsgefügen, so dass sich nicht nur übertragbare Machtstellungen dauerhaft etablieren, sondern bei fortbestehenden Herrschaftspositionen auch die Herrschenden austauschbar werden. Mit der Etablierung staatlicher Herrschaft – der Veralltäglichung zentrierter Gebietsherrschaft im allgemeinen –, welche die fünfte und letzte Stufe der
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Institutionalisierung von Macht bildet, ist zugleich ein qualitativ neues Niveau im Institutionalisierungsprozess erreicht, das sich nicht zuletzt den außerordentlichen Monopolisierungserfolgen einer zentralisierten, territorial ausgerichteten Herrschaftsinstanz wie etwa dem modernen Staat schuldet, der zwar einerseits beträchtliche soziale Zwänge für den Einzelnen heraufbeschwört und über gravierende Sanktionsmonopole verfügt, andererseits aber lebenswichtige Ordnungsfunktionen für das Individuum erfüllt. Mit den einzelnen Stufen der Institutionalisierung von Macht bis hin zur Verfestigung als Herrschaft nehmen die „Machtvolumina“ (Mann 1991) zu und die „Machtsteigerungen“ schlagen sich in der „Zunahme der Reichweite“, der „Erhöhung des Geltungsgrades des Machtwillens“ und einer „Verstärkung der Wirkungsintensität“ nieder. Mit der Durchsetzung zentralisierter Herrschaft im Alltag ist zugleich die Endstufe der Institutionalisierung von Macht erreicht, so dass Michael Mann (1991: 14) in seiner „Geschichte der Macht“ geschrieben hat: „Gesellschaften bestehen aus vielfältigen, sich überlagernden und überschneidenden sozialräumlichen Machtgeflechten.“ Die Analyse von Gesellschaftsstrukturen kann nun durch das Inbeziehungsetzen einzelner Dimensionen sozialer Macht geschehen. 3.2
Drei Typen legitimer Herrschaft
Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang besteht in der Frage nach der Legitimität solcher Herrschaftsgebilde. Max Weber (1976: 541) hatte Herrschaft als einen „Sonderfall von Macht“ bezeichnet und Herrschaft im Gegensatz zur Machtausübung an Legitimation gebunden. Der wesentliche Unterschied zwischen Macht als Chance, seinen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, und Herrschaft als Chance, für einen bestimmten Befehl Gehorsam zu finden, wird also durch das Moment des Anerkennens und des Annehmens markiert. Denn Legitimation zur Herrschaft bekommt Macht nur durch die Zustimmung der betroffenen Menschen, wobei sich der Legitimationsanspruch potenziell Herrschender und der Legitimationsglaube möglicher Herrschaftsunterworfener treffen müssen (vgl. Bourdieu 1982). Herrschaft steht damit in modernen Gesellschaften unter einem besonderen Rechtfertigungszwang. Legitimität kann einer Herrschaftsordnung nach Weber zugeschrieben werden
auf Grund von Tradition, d.h. der Geltung des immer Gewesenen; auf Grund affektuellen Glaubens, d.h. der Geltung des neu Offenbarten oder des Vorbildlichen;
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Peter Imbusch auf Grund wertrationalen Glaubens, d.h. der Geltung des als absolut gültig und richtig Erkannten; sowie auf Grund positiver Satzung, d.h. dem Glauben an deren Rechtmäßigkeit und Legitimität (Weber 1976: 19).
Dabei unterscheidet er drei reine Typen der legitimen Herrschaft: Die traditionelle Herrschaft beruht auf der „Heiligkeit überkommener Ordnungen und Herrengewalten“. Sie legitimiert sich vor allem über die dauerhafte Anerkennung ihrer Faktizität, dadurch, dass „es immer schon so war“. Einen zweiten Typus legitimer Herrschaft sieht Weber in der charismatischen Herrschaft. Sie beruht auf außeralltäglichen Eigenschaften und als außergewöhnlich anerkannten Qualitäten der Persönlichkeit, kurz dem Charisma einer Person, die Autorität verleiht und Folgsamkeit verbürgt. Die charismatische Legitimation von Herrschaft ist deshalb zugleich die risikoreichste Art der Legitimation von Herrschaft (vgl. Sofsky & Paris 1994: 149ff.). Dagegen betrachtet Weber die legale Herrschaft mit einem modernen bürokratischen Verwaltungsstab als die rationalste Herrschaftsform, weil sie auf einem festgelegten Satz von Regeln und berechenbaren Verhaltensweisen beruht, die für jedermann einsichtig sind und verlässlich funktionieren. 3.3
Typen illegitimer Herrschaft – Gefahr der Verselbständigung von Macht
Hans Haferkamp hat in seinem Buch „Soziologie der Herrschaft“ (1983) eine Macht- und Herrschaftstheorie eingefordert, die auch die Folgen von Macht und Herrschaft „in ihrer Zweideutigkeit“ thematisiert. Er wendet sich darin gegen die seit Max Webers Auseinandersetzung mit den verschiedenen Typen legitimer Herrschaft gängige starke Kopplung von Herrschaft und Legitimität, die den herrschaftssoziologisch interessanten Tatbestand aus dem Bewusstsein verloren hat, dass auch eine ganze Reihe von Typen illegitimer Herrschaft existiert. Über Jahrhunderte hinweg bildeten diese Herrschaftsformen noch bis in die Gegenwart hinein eher die Regel (man denke etwa an die vielen Oligarchien, Diktaturen und autoritären Regimes), demokratisch legitimierte Systeme die Ausnahme auf der Welt. Gerade das, worin Weber ein generelles Prinzip von Herrschaft gesehen hatte – Gewährleistung von Überleben oder sogar Wohlergehen gegen Herrschaftsunterwerfung – scheint in diesen Fällen wenn nicht gänzlich außer Kraft, so doch in erheblichem Maße eingeschränkt gewesen zu sein. Der Pflicht der Beherrschten zum Gehorsam und zur Anerkennung der Herrschaft stand jedenfalls keineswegs immer eine entsprechende Pflicht der Bewährung seitens der Herrschenden gegenüber.
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Theorien der Macht
Es gibt eine Fülle von theoretischen Zugängen zu Macht und Herrschaft, von Theorien der Macht und Theoretisierungen von Herrschaftsverhältnissen (vgl. Imbusch 1998; Hindess 1996; Han 2005; Kondylis 1992; Rolshausen 1997; Maurer 2004; Honneth 1989; Luhmann 1988), die unterschiedliche Aspekte der bezeichneten Phänomene beleuchten, verschiedenartig begründete Machtverständnisse aufweisen und gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse konträr reflektieren. Da diese hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden können, gleichwohl das Feld aber in theoretischer Hinsicht etwas sortiert werden soll, möchte ich die vielfältigen Diskussionen um Macht und Herrschaft um einige zentrale Achsen herum organisieren und damit eher typologische Zugänge deutlich machen. Theorien der Macht lassen sich zunächst einmal grundlegend danach differenzieren, ob sie Macht im Sinne eines power to oder eines power over thematisieren. Im ersten Fall würde die Möglichkeit bzw. die Fähigkeit eines Akteurs, etwas zu tun, was er ansonsten nicht getan oder gekonnt hätte, im Vordergrund stehen, im letztgenannten Fall be- oder verhindert ein Akteur Handlungen oder Verhaltensweisen anderer Personen. In einem Fall wird also auf die förderliche Fähigkeit abgehoben, allein oder zusammen mit anderen bestimmte Ziele zu erreichen, im anderen Fall steht eine Machtausübung, die wesentlich Kontrolle über andere anstrebt, im Mittelpunkt. Damit gehen zugleich positive oder negative Bewertungen von Macht und unterschiedliche Legitimationsstandards einher. Während die einen hier Macht neutral als einen allgemeinen menschlichen Handlungsmodus betrachten und Möglichkeitsspielräume betonen, beschäftigen sich die anderen mit den ungleich verteilten Machtressourcen und Machtmitteln und weisen auf die daraus resultierenden Ungleichgewichte hin, thematisieren also stärker Überwältigungsaspekte von Macht. In der empirischen Machtforschung hat dies z.B. zur Folge, dass einerseits die Legitimität und Pluralität von Eliten betont wird, andererseits auf die Konzentration und Bündelung von Befugnissen bei Machteliten hingewiesen wird, die partikularistische Interessen durchzusetzen vermögen (vgl. Hradil & Imbusch 2003). Eine skeptische Bewertung von Macht findet sich typischerweise bei machtschwächeren Gruppen; aber auch wirkliche Machthaber thematisieren nicht gerne ihre Macht und weisen stattdessen lieber auf ihren begrenzten Einfluss hin. Sodann ließen sich Machtverständnisse danach unterscheiden, ob ihnen ein weiter Machtbegriff oder ein enger Machtbegriff zu Grunde liegt. So gehen
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manche Ansätze davon aus, dass alle menschlichen Beziehungen und alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens quasi kapillarisch von Macht durchdrungen sind, Macht sozusagen ein allgegenwärtiges und ubiquitäres Phänomen ist, wohingegen andere den Machtbegriff auf bestimmte soziale Tatbestände zu begrenzen versuchen und ihn eher dosiert zur Anwendung bringen. Eine Mikrophysik der Macht, die zwar zur genaueren Thematisierung von verborgenen Machtphänomenen, aber auch zu einer semantischen Ausdehnung geführt und einer Inflationierung von Macht Vorschub geleistet hat, stehen hier auf analytische Genauigkeit abzielende Machtverständnisse gegenüber, die Macht als konkretes gesellschaftliches Steuerungsmedium verstehen und ihren Geltungsbereich einzugrenzen versuchen. Machttheorien ließen sich des Weiteren danach differenzieren, ob sie eher einen dezisionistischen bzw. exekutiven Machtbegriff besitzen oder einem kommunikativen Machtbegriff frönen. Auf der einen Seite stünden dann Machtverständnisse, die auf die konkrete Überwindung von Widerstand und die Konfliktivität von Gesellschaften abzielen, die Macht an bestimmte Kräfteverhältnisse binden und an sozialstrukturelle Aspekte rückkoppeln; auf der anderen Seite stünden jene Theorien, die in Macht primär ein Kommunikationsmedium, ein Mittel der Verständigung oder überhaupt die Grundlage für gemeinschaftliches Handeln sehen. Im letztgenannten Fall hätte Macht immer auch eine normative Komponente, im erstgenannten Fall nicht. Gewalt würde so einerseits ein Phänomen der Macht bilden, andererseits wären Macht und Gewalt strikte Gegensätze. Schließlich ließen sich Theorien der Macht auch nach den dahinter stehenden Gesellschaftsverständnissen differenzieren. So wären etwa handlungstheoretische Machtverständnisse von struktur- oder systemtheoretischen zu unterscheiden und es ließen sich intermediäre Ansätze erkennen, die in unterschiedlicher Form verschiedene Aspekte der Macht zusammen zu bringen versuchen. Auch in Bezug auf die Herrschaftsproblematik lässt sich ein ganz unterschiedlicher wissenschaftlicher Umgang erkennen. Individualistisch orientierte Theorien oder rationale Akteursmodelle, die vom Menschen als einem egoistischen Nutzenmaximierer ausgehen, sehen in der Herrschaft mit ihren stabilen Formen der Über- und Unterordnung einen nützlichen und allseits vorteilhaften Ordnungs- und Koordinationsmechanismus, mit dessen Hilfe das Handeln vieler Einzelner koordiniert werden kann. Gehorsam und Anerkennung der Herrschaft werden hier mit individuellen Vorteilsüberlegungen begründet. In vielen Gesellschaftstheorien bzw. Sozialtheorien gilt Herrschaft dagegen als eine allgemeine soziale Regelungs- und Beziehungsform, deren Vor- und
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Nachteile sich in konkreten Analysen unterhalb des abstrakten Herrschaftsbegriffs erweisen müssen. Hier ist das Angebot an Theorien außerordentlich breit und das Spektrum der Untersuchungsgegenstände kaum noch überschaubar, so dass stärker herrschaftskritische neben herrschaftsaffirmativen Bezugnahmen existieren. Schließlich gibt es eine Reihe von kritischen und marxistisch orientierten Theorien, die Herrschaft als einen Macht- oder Konfliktregelungsmechanismus auffassen und darauf hinweisen, dass Herrschaft mehr oder weniger stabile Formen hierarchischer Ordnung hervor bringt, die keinesfalls für alle gleichermaßen vorteilhaft sind. Sie verweisen bei ihrer Kritik an Herrschaft auf Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse, betonen den Zwangscharakter von Herrschaft und die anzutreffende Willkür der Machtausübung, erinnern an Gewaltherrschaften und wollen Herrschaft insgesamt möglichst minimieren, weil sie einer demokratischen Konstitution der Gesellschaft ein Stück weit entgegen steht. Der Legitimierbarkeit von Herrschaft stehen sie grundsätzlich skeptisch gegenüber.
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Ein Ausblick: Macht und Medien
Abschließend möchte ich das Gesagte nicht noch einmal zusammen fassen, sondern eher einige weiterführende Linien der Diskussion um Macht hervor heben, um dann Anschlussmöglichkeiten an das Feld der Medien aufzuzeigen. Betrachtet man Macht und ihre Wirkungsweise differenziert und unterzieht sie einer nüchtern-sachlichen Analyse, dann ist sie kein gutes Objekt für allgemeine Entrüstung. Zu vielfältig ist die Bedeutung von Macht, zu vielgestaltig sind die Akteure, die Macht einsetzen können, zu bunt sind die Machtfelder, und zu mehrdimensional ihre Quellen, Mittel und Wirkungen. Gleichwohl sollte das Thema Macht angesichts seiner engen Bezüge zu sozialer Ungleichheit mit gesunder Skepsis, aber nicht fixiert auf das Böse schlechthin betrachtet werden. Denn Macht hat grundlegend mit sozialer Hierarchisierung und der Ausbildung sozialer Ränge zu tun. Macht und Herrschaft sind in Gesellschaftsformationen und sozialen Figurationen mit der ungleichen Verteilung von gesellschaftlich relevanten Ressourcen verknüpft. Die wesentliche Bedingung für eine effektive Machtausübung bleibt die Asymmetrie der wechselseitigen Abhängigkeit (vgl. Giddens & Held 1982). Pauschalurteile über alle Formen der Macht sind auch deshalb inadäquat, weil nicht erst moderne Gesellschaften mit vielfältigen Machtprozessen und Herrschaftsstrukturen durchzogene Ordnungsgebilde sind. Was moderne Ge-
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sellschaften allerdings von früheren „traditionellen“ Gesellschaften unterscheidet, ist, dass Macht und Herrschaft keine unhinterfragten und unhinterfragbaren sozialen Phänomene mehr darstellen, sondern begründungs- und legitimierungsbedürftig werden. Die mit ihnen einhergehenden sozialen Ungleichheiten, unterschiedlichen Kapitalausstattungen und sozialen Chancen der Menschen, Über- und Unterordnungsverhältnisse und Abhängigkeiten können seit der Aufklärung nicht mehr als Ausdruck eines göttlichen Willens oder anderweitiger transzendentaler Mächte aufgefasst werden, sondern müssen als – wie auch immer vermittelt – von Menschen gemacht verstanden werden. Macht und Herrschaft müssen daher als ubiquitäre Phänomene menschlicher Gesellschaften gelten. Da macht- und herrschaftsfreie Gesellschaften Utopien geblieben sind, kommt es entscheidend auf die Art und Weise ihrer Organisation an – gerade letztere ist jedoch heftig umkämpft (vgl. Greven 1991; Gebhardt & Münkler 1993; Frisch 1996). Macht und Herrschaft stellen nicht zuletzt deshalb eine Herausforderung für menschliche Gesellschaften dar, weil sie dauerhaft und unvermeidlich Konflikte über ihre Geltungsgrundlagen und ihre Geltungsbereiche produzieren. Das verweist nicht nur auf die anhaltende Aktualität der mit den Begriffen bezeichneten Phänomene, sondern auch darauf, dass die Begriffe und ihre jeweilige Interpretation immer Teil größerer ideologischer Auseinandersetzungen waren und zentrale Bezugspunkte gesellschaftspolitischer Debatten darstellten. Wie lassen sich nun Macht und Medien zusammen bringen? Fünf Kontexte scheinen mir bedeutsam zu sein, die jeweils unterschiedliche Bezüge von Macht und Medien herzustellen erlauben:
Medien verfügen über Macht: Medien wie Zeitungen, Rundfunk und das Fernsehen sind selbst mächtige Institutionen, die mit dem Medium Information, aber auch der Themensetzung bzw. -unterschlagung, Meinungsmache und Ideologien Einfluss auf gesellschaftliche Akteure und die öffentliche Meinung ausüben können. Sie üben dabei eine Art kommunikativer Macht aus. Medien können über die Art der Berichterstattung, die Struktur des Informationsangebots und die vielfältigen Manipulationsmöglichkeiten mittels Sprache/Worten, Bildern sowie der generellen Art der Darstellung von gesellschaftlich relevanten Sachverhalten Macht- und Herrschaftsverhältnisse unterminieren oder stabilisieren. Macht und Einfluss sind in der Regel an vermachtete Interessen rückgekoppelt und werden von Journalisten transportiert, so dass sich nicht umsonst in beinahe allen Institutionen Kodizes über den verantwortlichen Umgang mit der eigenen Macht finden.
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Medien kontrollieren Macht: Neben der überragenden Rolle der Medien in der Informationsvermittlung kommt den Medien im demokratischen Verfassungsstaat auch eine Rolle als „vierter Gewalt“ und als Kontrollinstanz gegenüber den Mächtigen zu. Insbesondere in Selbstbeschreibungen der Medien findet sich diese Funktion der Machteinhegung und der Kontrolle gegenüber den sich unter Umständen verselbständigenden Machtgelüsten von Politik und Wirtschaft, aus der wichtige Legitimationen für sie erwachsen. In diesem Sinne können Medien ein ausgleichender Machtfaktor sein, der die Machtfülle von Mächtigen einschränkt. Medien bieten ein Forum für Macht: Medien dienen sich aber auch den Mächtigen an, sie bedienen die Medienfixierung der Mächtigen im Zeitalter eines allmächtigen Info- und Politainments (vgl. Bourdieu 1998; Dörner 2001) und bieten ihnen Möglichkeiten zur Selbstdarstellung, zur Präsentation, zur Vermittlung von Nachrichten etc. Wer sagt was wo, wer verbreitet als erster eine Nachricht, wer ist am nächsten dran an der Macht – das sind einige der Essentials im alltäglichen Konkurrenzkampf um TopNachrichten, Quoten, Absatzmöglichkeiten und Macht. Medien sind ein Teil des gesellschaftlichen Machtsystems: Medien agieren nicht im luftleeren Raum, sie sind Instanzen, in denen es zwar um die Ware Information, aber nicht immer um wahre Information geht. Als Organisationen, die mit unterschiedlicher Machtfülle ausgestattet sind, fügen sie sich in andere Machtstrukturen und -hierarchien ein oder konstituieren solche selbst. Zwar hängen Reichweite und Wirkungsmöglichkeiten vom konkreten Typus des Mediums ab, Medien strukturieren aber auf jeden Fall den Blick auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse und können dazu beitragen, solche durchsichtig zu machen oder zu verschleiern. Medien sind selbst vermachtete Organisationen: Als solche haben sie zunächst einmal ein Interesse an der Reproduktion ihrer eigenen Macht. Des Weiteren sind sie als hierarchische Institutionen mit verschiedenen Machtebenen durchzogen, auf denen es unterschiedliche Befugnisse und Autoritätsverhältnisse gibt. Den bei ihnen beschäftigten Menschen geht es immer auch um Macht und Einfluss, insofern finden permanent Machtkämpfe in ihnen statt. In den Medien wird zudem auf höchst unterschiedliche Weise und mit verschiedenartigsten Mitteln um Macht gekämpft.
Dies sind nur einige wenige, keineswegs erschöpfende Stichworte zum Thema Macht und Medien. Es ließen sich noch andere Kontexte denken, innerhalb derer einschlägige Thematiken bearbeitbar wären. Die Untersuchung von
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Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnissen in den Medien ist zweifellos ein wichtiges und spannendes, aber erst noch zu erschließendes Feld für Machtstudien.
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Macht: Dimensionen und Perspektiven eines Phänomens
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Journalismus und Macht: Ein Systematisierungs- und Analyseentwurf Klaus-Dieter Altmeppen
1
Journalismus und Macht: Begriffsfacetten
Pressefreiheit und Pressegrundrechte, Medienzensur und Selbstzensur, Redaktionsstatute und redaktionelle Autonomie, Meinungsmacht und Marktmacht: Die Wechselwirkungen von Macht und Journalismus werden in einer Vielzahl von Begriffen ausgedrückt, die den facettenreichen Mechanismen von Machtverhältnissen im öffentlichen Raum nachspüren. Die Vermachtung der Öffentlichkeit (vgl. Baum 1994: 145 ff.) durch das Handeln und Wirken von Journalismus und Medien läuft in vielen Studien implizit mit, etwa immer dann, wenn es um den Einfluss der Berichterstattung geht. Explizit jedoch wird Macht zusammen mit Journalismus kaum einmal thematisiert, eine „aktuelle Konturierung der Kategorie Macht bezogen auf Medien liegt nicht vor.“ (Leidinger 2003: 57) Macht ist eben eine schwierige Angelegenheit. Macht haben, Macht ausüben, Macht kontrollieren: Die Verben, mit denen Machtverhältnisse beschrieben werden, verraten, dass Macht erstens ein aktiver Vorgang ist und zweitens ein relationaler. Macht entsteht in sozialen Prozessen, in denen einzelne Personen, Gruppen oder Institutionen aktiv dominante Herrschaftsformen gegenüber anderen anstreben. Macht als relationales Konstrukt bezeichnet die Tatsache, dass Macht eine Ausdrucksform von Interaktionen in sozialen Beziehungen ist. Soziale Beziehungen und Prozesse sind höchst komplexe Abläufe menschlichen Handelns, dementsprechend sind Machtverhältnisse ebenfalls höchst komplexe, ineinander verschachtelte Handlungsformen. Dies wird auch im Beitrag von Imbusch (in diesem Band) deutlich, der die Vielfalt der Konstrukte von Macht veranschaulicht. Sein Resümée umreißt diejenigen Machtverhältnisse, die im Hinblick auf die Macht der Medien relevant sind und die zugleich
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Klaus-Dieter Altmeppen
sehr verschiedene Ebenen machtvoller Medien aufzeigen, als Macht in, durch und von Medien. Allerdings geht es in diesem Band und so auch in diesem Beitrag um die Macht des Journalismus. Ist damit automatisch auch die Macht der Medien eingeschlossen? Und, hinsichtlich der Medien, sind damit Personen (welche?) gemeint oder Organisationen? Ganz offensichtlich spricht Imbusch nicht allein von – in der Medien- und Kommunikationswissenschaft – so dominanten Konzepten wie der Meinungsmacht oder der Marktmacht. Wer aber übt die Meinungsmacht aus und worauf beruht Marktmacht? Sind marktmächtige Medien wie die privat-kommerziellen Fernsehsender gleichzeitig auch meinungsmächtig, obwohl ihre politische Berichterstattung nur einen geringen Programmanteil ausmacht? Lässt sich Meinungsmacht überhaupt auf politische Information eingrenzen? Auch Unterhaltungsangebote dürften Einfluss haben und durchaus auch zu politischer Meinungsmacht beitragen (vielleicht auch nur als Bestätigung der Abkehr vom Politischen). Unterhaltungsangebote haben aber auf alle Fälle Einfluss auf Lebensstile und Freizeitverhalten und in Kombination mit der Werbung kann durchaus von Unterhaltungsprogrammen gesprochen werden, die gezielt und geplant, also machtvoll, das Publikumsinteresse ansprechen und Bedürfnisse wecken sollen. Die Dimensionen von Macht und Journalismus provozieren mehr Fragen (deren Anzahl sich beliebig erweitern ließe) als Antworten parat stehen. Dies hat zwei Gründe. Erstens ist der Komplex von Macht und Journalismus ein Desiderat in der Forschung. Machtfragen im Journalismus laufen (so etwa bei Erhebungen über das Selbstverständnis der Journalisten) gleichsam implizit mit. Inwieweit Einstellungen Handlungsrelevanz haben, und zwar als gewollt machtvoll durchgesetzte Dispositionen, bleibt im Dunkeln (vgl. für den Zusammenhang von Einstellungen und Handlungsrelevanz Scholl & Weischenberg 1998; für Macht im Zusammenhang mit kulturalistischen Ansätzen zum Beispiel Lünenborg 2005). Der zweite Grund liegt in der Dominanz – und gleichzeitigen Reduzierung – der Machtfragen des Journalismus auf die zwei Faktoren der Meinungs- und Marktmacht. Damit beschäftigen sich insbesondere die politische Kommunikation und die Medienökonomie. Meinungsmacht richtet sich auf die durch die Berichterstattung gegebene Möglichkeit, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. „Die entscheidende Macht der Massenmedien“, so Gerhards (1991: 58) „beruht auf der Tatsache, daß sie öffentliche Meinung generieren, die Einfluß auf die Meinungsbildung und die Ausbildung von Wahlpräferenzen nimmt.“ Bei der Marktmacht stehen die Aspekte von Medienkonzentration und Monopolbildung im Vordergrund, beide Machtbegriffe bilden einen engen Zusam-
Journalismus und Macht
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menhang immer dann, wenn es um die publizistische Vielfalt geht (vgl. Heinrich 1999: 231f., Karmasin 1998: 182 ff.). Wirtschaftliche und publizistische Vielfalt, und damit Macht, bilden einen engen Zusammenhang (vgl. die Beiträge in Schatz, Jarren & Knaup 1997), der aus dem dualen Charakter der Medienprodukte als Ware und als Kulturgut resultiert. Die Verfügungsmacht über die Produktion und Distribution dieser Güter eröffnet sowohl ökonomische wie publizistische Machtoptionen. Daher hat die Medienkonzentrationspolitik nicht nur „die Entstehung und den Missbrauch von Marktmacht zu verhindern [...], sondern auch die Entstehung und den Missbrauch von Meinungsmacht.“ (Seufert 1997: 258) Neben diesen Machtformen verblassen weitere Machtfaktoren und auch bei diesen beiden Konstrukten werden die Verästelungen von Macht, wie Imbusch (in diesem Band) sie aufzeigt, nur vereinzelt aufgegriffen. Zudem lässt sich in den Analysen eine diffuse, keineswegs begrifflich immer eindeutige Koinzidenz von Medien und Journalismus sowie von Journalismus und Journalisten feststellen. Damit bleibt unklar, wo beispielsweise Machtzentren lokalisiert werden können. Lässt sich das an einzelnen Journalisten festmachen, an Redaktionen, an bestimmten Sendungen oder Printtiteln, oder ist das Medienmanagement ein Machtfaktor? Für einen ersten Versuch, diesen Komplex zu sortieren, zu systematisieren und damit zu differenzierteren Analysen zu gelangen, werden im Folgenden, nach einer Definition des Machtbegriffs als Verfügung und Kontrolle über Ressourcen und Ereignisse (Abschnitt 2), in einem zweiten Schritt die von Imbusch aufgezeigten Dimensionen des power to and power over aufgegriffen (Abschnitt 3). Dies dient zum einen dazu, Macht danach zu unterscheiden, wer sie ausübt: Beantwortet werden soll die Frage, ob Journalisten oder journalistische Organisationen oder Medienorganisationen die Machthaber sind. Zur Machtausübung bedienen sich die Machthaber ferner bestimmter Machtquellen, -mittel und -formen, die zum zweiten im Hinblick auf Journalismus konkretisiert werden sollen. Im vierten Schritt werden diese Machtdimensionen und -formen beispielhaft anhand ihrer Geltung, Intensität und Reichweite im Journalismus geprüft (Abschnitt 4).
2
Macht: Eine Begriffsdefinition
Macht ist ein schillernder Begriff, auch weil sie nicht als Eigenschaft (den Akteuren, Akteurkonstellationen, Organisationen) zugeschrieben werden kann. Macht ist nicht gegenständlich oder unmittelbar sichtbar, Macht ist eine „weit-
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Klaus-Dieter Altmeppen
hin unsichtbare Eigenschaft sozialer Beziehungen.“ (Imbusch 1998: 9) Als Bestandteil von Beziehungen stellt Macht eine relationale Größe dar, die sich in sozialen Beziehungen entfalten kann. Der Begriff „Machthaber“ ist, wenn er generalisierend verwendet wird, irreführend. Macht ist kein Zustand unveränderlichen Besitzes, sie kann nur auf eine bestimmbare Beziehung bezogen werden. Deshalb sind Medien nicht generell Meinungsmachthaber, nur bestimmte Medien können zu einem bestimmten Zeitpunkt und im Hinblick auf spezifische andere Beteiligte als Machtfaktor gelten, und auch innerhalb sozialer Beziehungen können Machtverhältnisse wechseln. In vielen weiteren Fällen dagegen dürften Medien machtlose Berichterstatter sein, was aber auch schon wieder viel über Machtbeziehungen aussagt, denn als Bestandteil sozialer Beziehungen laufen Machtdimensionen in allen Interaktionen mit. Sie können, aber sie müssen nicht virulent werden. Dies ist der Grund, warum Machtkonfigurationen als zentrale Form der Vergesellschaftung angesehen werden, aber als sozial amorph gelten. Machtkonfigurationen sind ein komplexes wechselseitiges Geflecht sozialer Beziehungen, und sie sind asymetrisch, aber eben nicht dauerhaft in eine Richtung asymetrisch, sondern können auch in ihrer Richtung durchaus wechseln. Diese grundlegenden Ansichten zur Macht sowie eine nach wie vor zentrale Machtdefinition stammen von Max Weber (2005 [1909]: 38), der Macht verstand als jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. (…) Der Begriff Macht ist soziologisch amorph. Alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen.
Webers Definition ist seither weiter entwickelt und umgedeutet worden, wobei vor allem versucht wurde, spezifischere Begriffe zu finden als „alle denkbaren Qualitäten und Konstellationen“. Insbesondere die Konstellationen sind dazu konkreter benannt worden. Im Ergebnis wird Macht als eine Beziehungsgröße zwischen Akteuren/Akteurkonstellationen mit aufeinander bezogenen Handlungen verstanden, wobei die Handelnden Interessen haben, die auf gleiche Ereignisse und Ressourcen bezogen sind. Eine Machtbeziehung ist demnach der Bedingungs- und Bedeutungsrahmen, der die Umsetzung der [...] Verhaltensbereitschaften in konkretes Handeln, d.h. den konkreten sozialen Austausch im Sinne eines Austausches oder einer gegenseitigen Übertragung von Kontrolle über Ressourcen und Ereignisse verständlich bzw. verstehbar macht. (Küpper & Felsch 2000: 21)
Journalismus und Macht
425
Hier ist der eigene Wille aus Webers Definition erkennbar, reformuliert als Interesse an der Erreichung von Zielen. Zur Durchsetzung der getroffenen Entscheidungen können Akteure handelnd Macht gebrauchen, um Ereignisse oder Ressourcen zu kontrollieren. Den Aspekt der Kontrolle von Ressourcen hat Giddens mit seiner Strukturationstheorie um den aktiven Aspekt erweitert, wenn er darauf hinweist, dass die Akteure zur Durchsetzung ihres Willens Ressourcen mobilisieren können. Ressourcen sind somit nicht nur Faktoren, die durch Macht beherrscht werden sollen, sondern Ressourcen sind selbst gleichfalls Machtquellen und Machtmittel, da die Verfügbarkeit und der Einsatz der Ressourcen über die Stärke der Machtausübung entscheiden. Ein wesentlicher weiterer Mechanismus des rekursiven Ressourcenbegriffs von Giddens liegt darin, dass Ressourcen unterteilt werden: allokative Ressourcen beziehen sich auf Formen des Vermögens zur Umgestaltung der Herrschaft über Objekte, Güter oder materielle Phänomene, autoritative Ressourcen „beziehen sich auf Typen des Vermögens zur Umgestaltung, die Herrschaft über Personen oder Akteure generieren.“ (Giddens 1997: 86). Während der Besitz eines Medienunternehmens beispielsweise eine typische allokative Ressource ist, kann ein Journalist die Reputation der ihn beschäftigenden Zeitung als autoritative Ressource einsetzen, um Zugang zu Recherchequellen zu erlangen. Da Machtbeziehungen auf Handlungsakten gründen, bei denen die Handelnden (gleichgerichtete oder unterschiedliche) Interessen vertreten, entstehen quasi automatisch Macht- und Verteilungskonflikte. Auch wenn Macht nicht automatisch mit Konflikt verbunden ist, wendet ein Akteur Machtausübung regelmässig an als „Versuch, die anderen Akteure innerhalb der Machtbeziehung zu veranlassen, ihre Verhaltensbereitschaften in das von ihm gewünschte konkrete Verhalten zu überführen.“ (Küpper & Felsch 2000: 21) Die Machtausübung ist gekoppelt an das Vermögen des Akteurs, seine Ansprüche und Interessen durchzusetzen. Vermögen bedeutet, dass Machtausübung selbst wiederum daran gebunden ist, dass bestimmte Machtmechanismen vorhanden sind. „Ein wesentliches Element von Machtbeziehungen sind daher die Optionen, über die die beteiligten Akteure verfügen und die es ihnen ermöglichen, ihr Verhalten ungewiss zu halten.“ (Theis-Berglmair 1997: 27) Je größer die Optionen sind, je mehr Optionen bestehen, über Machtmittel und mechanismen zu verfügen, umso größer ist die Chance der Machtausübung der Akteure, denn die Wahl zwischen Optionen erhöht den Handlungsspielraum des Akteurs. Eine Wahl zwischen mehreren Optionen vergrößert die Unsicherheit bei den weiteren Beteiligten der Machtbeziehungen, allerdings nur dann, wenn die Optionen relevant sind für die Beteiligten (vgl. Crozier &
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Klaus-Dieter Altmeppen
Friedberg 1979: 43), denn: nur wenn das zu behandelnde Problem oder das Interesse der Beteiligten gleichgerichtet ist, kommt es zu Machtspielen mit Zugewinn oder Verlust von Macht. Machtzuwachs bedeutet in solchen Situationen, dass ein Akteur grössere Fähigkeiten der Kontrolle entwickeln kann, ein Machtverlust bedeutet dementsprechend vor allem, dass die Verfügung über Ressourcen weniger oder gar nicht mehr aktiviert werden kann und dass die Kontrolle über die Ereignisse den Akteuren immer mehr entgleitet. Mit der aktuellen Machtausübung sollen immer Handlungsoptionen vergrößert und Unsicherheitszonen verringert werden (vgl. Röttger 2000: 158). Macht ist zusammengefasst eine relationale Größe in sozialen Beziehungen, bei denen Interessen, die von den Beteiligten gleichermaßen auf Ressourcen und Ereignisse gerichtet sind, machtvoll durchgesetzt werden. Dies bedeutet, dass die Beteiligten – Akteure, Akteurkonstellationen und Organisationen – spezifisches Vermögen (wie etwa die Mobilisierung von Ressourcen) zur Durchsetzung ihrer Interessen besitzen.
3
Journalismus und Macht: Analysedimensionen
Auch eine Machtdefinition als die Verfügung über Ressourcen und Kontrolle von Ereignissen erfordert es zu klären, wer die Macht besitzt (power to) und über wen Macht ausgeübt wird (power over). Machthaber und Betroffene von Machtausübung können einzelne Personen sein wie auch Organisationen, wobei aufgrund des relationalen Verhältnisses von Macht Personen oder Organisationen in der einen Situation Macht ausüben, in der anderen Situation Leidtragende von Machtausübung sein können. Diese wechselseitigen Machtverhältnisse gilt es zu berücksichtigen, wenn dargelegt wird, dass einzelne Journalisten ebenso Machthaber sein können wie journalistische Organisationen. Als weiterer Machtfaktor kommen Medienorganisationen hinzu, die nicht umstandslos mit journalistischen Organisationen gleichgesetzt werden können. Da sich die Leistungen und Strukturen beider Organisationen unterscheiden, existieren auch Unterschiede in den Machtverhältnissen. Diese Unterschiede der Macht für und über Journalisten, journalistische Organisationen und Medienorganisationen stehen im Fokus der folgenden Abschnitte. 3.1
Journalismus und Macht: Für wen?
Macht spielt eine Rolle in den Beziehungen zwischen Redakteuren und Redaktionsmanagement (Entscheidungshierarchie), sie spielt eine Rolle in den Bezie-
Journalismus und Macht
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hungen zwischen Journalisten und ihren Interviewpartnern, Akteurkonstellationen wie Rundfunkräte agieren innerhalb machtvoller Beziehungen mit dem Medienmanagement, und Organisationen wie die Landesmedienanstalten oder die Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) stecken in machtdurchsetzten Verhandlungen mit den Medienorganisationen. Macht kann, soviel wird deutlich, ausgeübt werden von Personen oder Akteuren, von Akteurkonstellationen und von Organisationen. Hinsichtlich des Beziehungsgefüges von Journalismus und Macht stellt sich also die Frage: Macht für wen? Die Frage zielt auf die eine der beiden grundlegenden Unterscheidungen zur Macht, das power to als die Möglichkeit oder Fähigkeit eines Akteurs, etwas zu tun, was er ohne Machtmittel nicht hätte tun können. Grundsätzlich stecken im Bedingungsgefüge des Journalismus die einzelnen Akteure (Journalisten) genauso wie die journalistischen Organisationen (Redaktionen, Ressorts, Newsrooms) in Machtbeziehungen, wobei schon allein das Verhältnis von Journalist und journalistischer Organisation höchst charakteristische Machtbeziehungen konstitutiert (Vertragsverhältnis, Hierarchie, Selbstverständnis), die im Folgenden noch näher thematisiert werden. Von erheblicher Bedeutung scheint uns aber noch eine weitere Differenzierung zu sein: die zwischen journalistischen und Medienorganisationen. Aus organisationaler Perspektive lassen sich Journalismus und Medien als eigenständige Organisationen ansehen, die funktional autonom, aber organisational abhängig sind (vgl. zum Folgenden Altmeppen 2006: 201 ff.). Diese Abhängigkeit besteht wechselseitig, denn die Kernkompetenz des Journalismus ist die aktuelle Informationsproduktion, der Journalismus verfügt jedoch nicht über die Möglichkeit der Distribution. Diese Leistung erfüllen die Medienorganisationen, sie benötigen dafür aber quasi im Gegenzug Inhalte. Aus dieser Konstellation ergeben sich wechselseitig Erwartungen, Anpassungen und Abhängigkeiten zwischen der Informationsproduktion (der journalistischen Organisationen) und der Mitteilungsleistung (der Medienorganisationen). Erwartungen, Anpassungen und Abhängigkeiten werden über die KoOrientierung geregelt, über die Kommunikation der sozialen Beziehungspartner und über strukturelle Arrangements. Ko-Orientierung bedeutet, dass sich die journalistischen Organisationen (wie Redaktionen oder Ressorts) und die Medienorganisationen nicht nur beständig beobachten, sondern sie versuchen, sich gegenseitig zu beeinflussen oder passen sich wechselseitig an. Diese KoOrientierung verläuft nolens volens über Mechanismen der Macht, wie Beeinflussung, Druck oder Anpassung. Der Grund dafür liegt darin, dass die Medienorganisationen die journalistischen Organisationen für ihre Informations-
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Klaus-Dieter Altmeppen
leistungen bezahlen, wobei der Begriff des Zahlens hier als Metapher zu verstehen ist. Die Medienorganisationen bezahlen nämlich, indem sie den journalistischen Organisationen Ressourcen zur Verfügung stellen. Dieses Tauschgeschäft, Informationsprodukte gegen Ressourcen, begründet eine Reihe von strukturellen und sozialen Machtbeziehungen zwischen journalistischen und Medienorganisationen. Die Frage nach den „Machthabern“ ist folglich dreifach zu beantworten (vgl. Abbildung 1), mit den Journalisten, den journalistischen Organisationen und den Medienorganisationen. Alle drei potenziellen „Machthaber“ stehen in komplexen wechselseitigen Machtbeziehungen und in komplexen Machtbeziehungen mit ihrer Umwelt. Abbildung 1: Journalismus und Macht: Für wen? MACHT
FÜR
Journalistische Organisationen
Journalisten
Politik
Wirtschaft
PR
Medienorganisationen
Werbung
EINFLUSSNAHME
Angesichts dieser Unterscheidung von eigenständigen Medienorganisationen und journalistischen Organisationen wird ersichtlich, dass die gewohnten Machtbegriffe Meinungsmacht und Marktmacht unterschiedlich zuzuordnen sind. Meinungsmacht ist an den Journalismus gebunden, denn die journalistischen Organisationen leisten die informative Berichterstattung, mittels derer
Journalismus und Macht
429
Meinungsmacht überhaupt erst ausgeübt werden kann. In Attribuierungen wie Leitmedien (Spiegel, Tagesschau) drückt sich diese Meinungsmacht aus. Auch einzelne Journalisten können „Meinungsmachthaber“ sein, wenn sie einen herausgehobenen Reputationsstatus haben wie etwa Hans Leyendecker stellvertretend für investigativen Journalismus oder Sabine Christiansen für politische Talkshows. Zu dieser Macht einzelner Journalisten trägt allerdings der immer noch vorhandene Mythos des Berufs als frei, unabhängig und öffentlich nicht unerheblich bei, weshalb dieser Mythos denn auch gerne zwischen Buchdeckeln weitergegeben wird (vgl. Pörksen 2005). Da Journalisten und journalistische Organisationen (in der Kombination von individueller Entscheidung und strukturellen Zwängen) immer noch zu einem nicht unerheblichen Teil die Schleusenwärter sind, die aus singulären Aussagen öffentliche Erklärungen machen, stehen sie vielfach im Zentrum von Einflussversuchen. Politik und Wirtschaft, aber auch die von ihnen instrumentalisierte Public Relations richten hocheffiziente Beziehungsstrukturen zu einzelnen Journalisten wie auch zu journalistischen Organisationen ein, um ihre öffentlichen Kommunikationsinteressen mit Macht durchzusetzen. Auch diese Machtverhältnisse sind jedoch wie viele andere höchst facettenreich und keineswegs unidirektional. Der Macht des Schleusenwärters über die Ressource Schleuse (öffnen oder geschlossen halten) steht seine Abhängigkeit von der Ressource Information gegenüber, was wiederum eine Machtquelle des Informationsträgers begründet. Eindeutig aber konstituieren sich machtvolle Beziehungen der PR nicht zu Medienorganisationen, sondern zu Journalisten und deren Organisationen, denn dort wird entschieden, welche Inhalte hergestellt und welche von der Produktion ausgeschlossen werden. Meinungsmacht wird in derartig diffizilen, von vielen Interessen geleiteten Beziehungsverhältnissen produziert. Die Marktmacht dagegen ist kein publizistisches, sondern ein ökonomisches Phänomen und daher Sache der Medienorganisationen. Sie agieren im Orientierungshorizont der Wirtschaft, ihre Handlungskriterien sind wirtschaftlicher Provenienz. Ihr Machtpotential liegt nicht allein, aber in sehr viel grösserem Maße als bei journalistischen Organisationen in allokativen Ressourcen. Als Besitzer, Eigentümer oder Gesellschafter verfügen die Machthaber der Medienorganisationen über Kapital, Rechte, Produkte und Sachvermögen, das im Hinblick auf Marktmacht eingesetzt wird, um die Kosten- oder die Preisführerschaft zu erreichen, um Fusionen, Kooperationen und Beteiligungen der Medienorganisationen untereinander und mit anderen Branchen zu schmieden. Die Werbung ist dabei gleichzeitig Bündnispartner wie auch Gegner. Bündnis-
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Klaus-Dieter Altmeppen
partner ist sie, weil werbefinanzierte Medien auf gute Beziehungen zur Werbewirtschaft angewiesen sind. Gegner ist die Werbung, weil über Tarife, Preise und Rabatte in oftmals zähen Verhandlungen entschieden wird, in denen die Quote oder Auflage ein zentrales und mächtiges (oder im Falle des Misserfolgs auf dem Rezipientenmarkt ohnmächtiges) Argument ist. Diese Bedeutung der Quote spricht prinzipiell für eine Macht der Rezipienten, die aber real nicht vorhanden ist, denn die Rezipienten müssten organisiert sein, um ihre gemeinsamen Interessen zu artikulieren und ihre Medienwahl möglicherweise kollektiv als Machtmittel einsetzen zu können. Da die Medienorganisationen für die Werbung der Verhandlungspartner sind, richten sich auch die (machtvoll vorgetragenen) Beschwerden der Werbewirtschaft über unerwünschte Berichterstattung an die Medienorganisationen, insbesondere das Medienmanagement. Vermittelt über die Ko-Orientierung erreichen die Beschwerden dann die journalistischen Organisationen, wobei das Medienmanagement die Ressourcen, mit denen es die journalistischen Organisationen finanziert, als Machtmittel einsetzen kann. 3.2
Journalismus und Macht: Über wen oder was?
Die zweite grundlegende Differenzierung des Machtbegriffs drückt sich im power over aus, der Frage, auf welche Weise Akteure oder Organisationen die Handlungen Anderer be- oder verhindern können (vgl. Imbusch, in diesem Band). Analog zu einem um das Verständnis der Strukturationstheorie erweiterten Machtbegriff müsste auch hier die Frage ergänzt werden, auf welche Weise Akteure Macht nicht nur zur Verhinderung nutzen, sondern auch zur Ermöglichung eines Handelns, das ihren Interessen und Zielen entspricht. Motivation beispielsweise ist ein Element von Machtheorien, bei dem es nicht um repressive, sondern um progressive Machtausübung geht. Entsprechend unserer Definition von Macht ist die Frage im Grunde schnell beantwortet: Es geht um Ressourcen und Ereignisse, die mittels der Macht kontrolliert werden sollen, um interessengeleitete Ziele durchzusetzen, zu sichern oder auszubauen. Damit ist die konkrete Beantwortung an eine empirische Prüfung geknüpft, mit der festzustellen wäre, welche Ressourcen und welche Ereignisse im Fokus der Machtbestrebungen stehen. Allerdings müssen nicht alle Machtverhältnisse empirisch überprüft werden, da insbesondere aufgrund struktureller Verhältnisse offenkundige Machtbeziehungen bestehen – so etwa bei Besitz und Hierarchie – deren Existenz keiner empirischen Prüfung bedarf. Allerdings ist zum Beispiel gerade hinsichtlich der Macht durch ökonomisches Kapital zu fragen, inwieweit publizistische Ziele
Journalismus und Macht
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noch eine Rolle spielen, ob und wie diese Ziele durchsetzbar sind. Können einzelne Journalisten, als Autoritätspersonen, publizistische Ansprüche durchsetzen? Oder ist dies den journalistischen Organisationen vorbehalten, die als Ganzes und mit Unterstützung ihres Redaktionsmanagements publizistische Ziele erreichen können? 3.3
Macht worüber? Richtungen der Macht im Journalismus
Die Frage, wer Macht hat, ist gekoppelt mit der Frage, worüber Macht ausgeübt wird. Auch beim power over ist demnach zu unterschieden, ob Journalisten, journalistische Organisationen oder Medienorganisationen Macht über Ressourcen oder Ereignisse haben, wie in Abbildung 2 dargestellt. Es können einzelne Journalisten oder Organisationen die Verfügung von Ressourcen und die Kontrolle über Ereignisse im Hinblick auf andere Personen und Organisationen an streben; Journalisten oder journalistische Organisationen möchten bestimmte institutionelle Arrangements (Tarifverträge, Redaktionsstatute, Regularien der Selbstkontrolle) beeinflussen; Medienorganisationen wollen den Wettbewerb diktieren oder Einfluss auf das Rezipientenhandeln erreichen. Für all diese Ziele und Interessen können die Akteure auf unterschiedliche Machtquellen zurückgreifen und unterschiedliche Machtmittel sowie Formen der Machtausübung anwenden (vgl. zur Unterscheidung dieser Kriterien den Beitrag von Imbusch in diesem Band). Welche Machttechniken angewendet werden, entscheidet sich anhand der Ressourcen oder Ereignisse und der beteiligten Akteure, die die jeweiligen Machtkonstellationen bilden. Die Macht des einzelnen Journalisten dürfte, ausserhalb von Autorität oder Position, eher gering sein. Die Ressourcen und Ereignisse, die Journalisten kontrollieren wollen, sind im persönlichen Bereich die Karriere und das berufliche Fortkommen sowie das Gehalt und das Ansehen der beruflichen Tätigkeit. In ihrer Tätigkeit wollen Journalisten desweiteren die jeweiligen Arbeitsprozesse kontrollieren, also etwa Recherchepartner und -wege festlegen oder die Themenauswahl mitbestimmen. Journalistische Organisationen dagegen streben, insbesondere in Form des Redaktionsmanagements, nach effizienter Koordination der Arbeitsprozesse, nach Konsonanz oder manchmal auch nach Exklusivität der Berichterstattung im Vergleich zu anderen Redaktionen. Sie achten ferner auf die Reaktionen des Publikums, registrieren Veränderungen des Rezipientenverhaltens und suchen darauf adäquat zu reagieren. Machtkonstellationen bilden sich in diesen Fällen vor allem zwischen einzelnen Journalisten und der journalistischen Organisation bzw. deren Management.
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Klaus-Dieter Altmeppen
Journalisten wie journalistische Organisationen müssen sich ferner mit institutionellen Arrangements auseinandersetzen. Dazu gehören Tarifauseinandersetzungen zwischen den Sozialpartnern, der ständige Kampf um die Autonomie der redaktionellen Arbeit (Redaktionsstatute) und die Durchsetzung ethischer Standards. Gerade bei der Aushandlung institutioneller Arrangements treffen journalistische und Medienorganisationen regelmässig aufeinander, in den turbulenten letzten Jahren der Medienindustrie mit immer schärferen Auseinandersetzungen. Dabei werden die Dauerthemen der Autonomie und der Ethik zunehmend verdrängt von den Folgen der Kommerzialisierung. Längst tritt eine große Zahl an Zeitungsverlagen die sogenannte Tarifflucht an. Im weitgehendsten Fall verlassen die Verlage den Bundesverband der Deutschen Zeitungsverlage und regeln Gehälter über Haustarifverträge. Aber auch Outsourcing, Leiharbeit und untertarifliche Bezahlung von Volontären gehören mittlerweile zum Alltag. Abbildung 2: Journalismus und Macht: Über wen oder was? Journalistische Organisationen
Journalisten
Medienorganisationen
MACHT
ÜBER
Ressourcen / Ereignisse
Machtquellen
Personen: Organisationen: Institutionen:
Journalisten Redaktionen Statute, Ethik, Tarife
Machtmittel
Machtausübung
Märkte Wettbewerb
Rezipienten
Journalismus und Macht
433
Zwar scheint der Beziehungszusammenhang von Journalisten und Medienorganisationen in der Tarifpartnerschaft derzeit mehrheitlich von sozialpartnerschaftlicher Harmonie geprägt zu sein. Tarifverhandlungen verlaufen seit Jahren in relativer Ruhe und Abgeschiedenheit, von Streik oder Schlichtung, wie sie noch in den siebziger Jahren Ausdruck „antagonistischer Sozialstrukturen“ (Prott 1976: 376) waren, ist keine Rede. Die Antagonismen allerdings sind nicht nur geblieben, sie werden schärfer aber auch subtiler vollzogen. Mit dem Ausstieg aus den tarifvertraglichen Bindungen verlassen die Arbeitgeber einen Machtraum, der durch Regeln des Miteinanders und der Einigung geprägt ist. Ausserhalb dieses Machtraumes lassen sich die Interessen der Medienorganisationen ganz offensichtlich sozusagen in „freierer Wildbahn“ durchsetzen. Oder, wie Kiefer (2002: 498) formuliert hat: „Wer den Verwüstungen des Wettbewerbs widerstehen will, muss selbst einen Machtfaktor darstellen.“ Dass Widerstand der Journalisten offenbar ausbleibt oder nur innerhalb betroffener Medienunternehmen stattfindet, ist ein erstes Resultat der Singularisierung medienunternehmerischer Interessen: Befreit von tarifvertraglichen Bindungen können die Medienorganisationen vor dem Hintergrund des prekären journalistischen Arbeitsmarkts sehr viel machtvoller auftreten. Dass der Fahrstuhl der Wohlstandsgesellschaft die Journalisten darüber hinaus offensichtlich in eine komfortable Zone hinaufbefördert hat, trägt dazu bei, dass die Organisation arbeitnehmerischer Interessen, eine Grundvoraussetzung für Gegenmacht, nahezu völlig ausfällt. Die geringen tariflichen Auseinandersetzungen aufgrund der tiefgreifenden Re-Strukturierungen in journalistischen Organisationen sind ein herausragendes Beispiel der Erhaltung und Sicherung sowie des Ausbaus von Macht über Ressourcen (Personal, Gehalt, organisationale Struktur) und Ereignisse (tarifvertragliche Bindungen). Dabei dient die Organisation als eine Machtquelle sui generis mit ganz entscheidenden Wirkungen. 3.4
Macht wodurch? Machtquellen, Machtmittel, Machtausübung im Journalismus
Von entscheidender Bedeutung bei der Bewertung von Macht sind die Quellen und Mittel der Macht, die darüber entscheiden, welche Formen der Machtausübung angewendet werden, um potenzielle in aktuelle Macht zu verwandeln (vgl. Imbusch, in diesem Band). Machtquellen wie die (journalistische) Organisation, physische und psychische Stärke (der Journalisten) sowie Eigentum und Besitz (der Medieninhaber) sind „Ursprünge der und Gründe von Macht“. Machtquellen werden zu Machtfaktoren, wenn sie durch Machtmittel als konkrete Medien zur Machtausübung eingesetzt werden. Aus der Vielfalt mögli-
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cher Quellen, Mittel und Formen der Machtausübung ergeben sich komplexe Geflechte asymetrischer und wechselseitiger Beziehungen, die als Machtfiguration bezeichnet werden (vgl. Imbusch 1998: 13). Diese Vielfalt soll im Folgenden am Beispiel der journalistischen Organisation durchgespielt werden, denn Organisation gilt als eine der wichtigsten Machtquellen moderner Gesellschaften, und zwar in doppelter Weise: als Macht der Organisation wie auch als Organisation der Macht. 3.4.1 Machtausübung in und durch journalistische Organisationen Die Macht der Organisation gründet sich auf ihre strukturellen Merkmale, die den Wirkungskreis von Machtbeziehungen determinieren (vgl. Crozier & Friedberg 1997: 47). Dabei können zwei Wirkungskreise unterschieden werden, die sich in der Praxis überlappen. Der eine Wirkungskreis bezeichnet die Macht in Organisationen, das täglich zur Konstituierung der journalistischen Arbeitsprozesse notwendige koordinative oder konfrontative Aushandeln sowie die mit Hierarchie und Anordnung verbundenen Arbeitsanweisungen. Der zweite Wirkungskreis befasst sich mit der Machtausübung durch Organisationen und charakterisiert die Interaktionen journalistischer Organisationen mit ihrer Umwelt, mit Quellen, mit konkurrierenden Redaktionen, mit der PR mit dem Publikum. In zeitlicher Hinsicht stellen Organisationen Machtbeziehungen auf Dauer, da die Mitglieder (Journalisten) in der Regel mehr oder wenige dauerhafte (Vertrags-)Verhältnisse mit der Organisation eingehen. Aber auch Organisationen aus der Umwelt interagieren längerfristig mit dem Journalismus, aufgrund vertraglicher Bindungen, wie etwa Nachrichtenagenturen oder aufgrund von Erwartungsstrukturen wie etwa die PR. Ein weiteres Merkmal von Macht und Organisation liegt in den Strukturen selbst, denn Organisation als Struktur schafft oder benötigt Ressourcen und stellt Regeln des organisationalen Handelns auf. Desweiteren schliesslich regulieren Organisationen auch den Ablauf der Machtbeziehungen, durch formale und informelle Regelungen (Verfahrensabläufe, hierarchische Positionen, Management) werden bestimmte Wege zur Interessendurchsetzung vorgezeichnet, andere verschlossen und nolens volens Machtkonflikte und Wege ihrer Austragung vorgezeichnet. Die Macht der (journalistischen) Organisation beruht vor allem auf der Verfügung über Ressourcen, über allokative wie den Personaleinsatz, über autoritative wie die Reputation. Die (journalistische) Organisation der Macht, verstanden als Bildung, Reproduktion und Verlust von Macht (vgl. Imbusch 1998: 13), findet sowohl intra- wie interorganisational statt:
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(1) Intraorganisationale Machtbeziehungen: Formen der Machtausübung innerhalb journalistischer Organisationen sind sui generis aufgrund von Über- und Unterordnungen durch Hierarchie angelegt (Redaktionsmanagement). Regelmässige Machtbeziehungen bestehen beispielsweise während der jährlichen Etatverhandlungen, wenn Ressorts um die Zuteilung von Ressourcen streiten. Intraorganisationale Machtkonstellationen durchziehen aber auch die alltägliche Arbeit, etwa wenn es um die Auswahl von Themen geht, die Journalisten konkurrenzierend vorschlagen. Signifikante Formen der Machtausübung treten zudem immer dann auf, wenn es um Veränderungsprozesse geht. Re-Organisations- und Re-Strukturierungsprozesse wie die Auflösung und Neukombination von Ressorts und Kostendeckelungsmaßnahmen, aber auch beispielsweise die Kündigung von Nachrichtenagenturen und der damit verbundene veränderte Informationsbeschaffungsprozess berühren divergierende Interessen und können daher nur in Handlungsakten abgeschlossen werden, in denen Macht durchgesetzt wird. (2) Interorganisationale Machtbeziehungen: Journalistengewerkschaften, die mit den Arbeitgebern über Vergütungen verhandeln, stellen das deutlichste – und ein formell institutionalisiertes – Beispiel interorganisationaler Machtbeziehungen dar. Ein weiteres, nahezu beständiges Konfliktfeld mit intensiven Machtauseinandersetzungen ergibt sich aus der Konzeption von Medien und Journalismus als voneinander unabhängigen Organisationen, die aber über die Ko-Orientierung der Medien als Distributeure und der journalistischen Organisationen als Produzenten aktueller und relevanter Inhalte miteinander verbunden sind. Auch hier wird über machtvolle Aushandlungsprozesse vor allem über Ressourcen verhandelt. Insbesondere in den vergangenen krisenbehafteten Jahren hat sich gezeigt, dass die journalistischen Organisationen regelmässig über die Verknappung von Ressourcen gedeckelt werden, da die Medienorganisationen laufend weniger für die journalistischen Leistungen „bezahlen“. Interorganisationale Machtbeziehungen bestehen ferner auf der publizistischen Ebene, wenn verschiedene journalistische Organisationen um die Exklusivität von Informationen buhlen. Dazu werden allokative Ressourcen aktiviert (etwa wenn mehr Redakteure für die Recherche eingesetzt werden), dazu werden aber auch autoritative Ressourcen wie die Reputation der journalistischen Organisation eingesetzt.
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Macht der Organisation, Macht über die Organisation und Organisation der Macht sind miteinander verknüpfte Faktoren: Die Reputation einer Redaktion, beispielsweise als besonders investigative Institution, verschafft der Redaktion Macht in den Umweltbeziehungen gegenüber den Recherchequellen, das Ausmaß der Reputation hängt aber davon ab, inwieweit das Redaktionsmanagement investigativen Journalismus strukturell (durch Ressourcen und Regeln) ermöglicht und ob die journalistische Organisation bereit ist, ihren Journalisten durch Freiräume „den Rücken zu stärken“. Die Macht über die Organisation, also die Organisation selbst als Machtfaktor behandeln zu können, ermöglicht somit das organisationale Handeln der Organisation nach außen. Umgekehrt beschränken die externen Strukturen das Machtpotenzial von Organisationen, die Macht von Organisationen findet ihre Grenzen in den Umweltstrukturen, also auch in der Macht anderer Organisationen. Es geht dabei in der Regel immer um den Versuch, Regelungen und Strukturen im Sinne der Eigeninteressen der Organisation durch machtvolles Handeln zu erreichen (vgl. Zimmer & Ortmann 1996). „Jede ernst zu nehmende Analyse kollektiven Handelns muss [...] Macht in das Zentrum ihrer Überlegungen stellen, denn kollektives Handeln ist im Grunde nichts anderes als alltägliche Politik. Macht ist ihr ‚Rohstoff’“ (Crozier & Friedberg 1979: 14). Die Möglichkeiten machtvoller Handlungen in und durch journalistische Organisationen beruhen vorrangig darauf, dass es einzelne Akteure oder Akteurkonstellationen sind, die machtvoll und machtbewusst handeln. Als Mitglieder bestimmter Organisationen handeln sie sozusagen in deren Auftrag, ihr Handeln wird dementsprechend von den institutionellen Ordnungen der Organisation gepägt (allerdings können immer auch sehr individuelle Interessen eine Rolle spielen), und in erster Linie von den Zielen der journalistischen Organisationen. Die Macht des Journalismus ist also auch eine Frage der Führung, die die Ziele der Organisation formuliert, dazu Ressourcen bereitstellt und Regelwerke (wie die Redaktionsstruktur) etabliert (vgl. Altmeppen 2006: 209 ff.). Gleichzeitig kontrolliert das Redaktionsmanagement die Ressourcen und Ereignisse, und avanciert gewiss zu einem zentralen und machtvollen Akteur in journalistischen Organisationen, da ihm qua Autorität Entscheidungshoheit zugesprochen wird. Aber das Redaktionsmanagement ist in gleichem Maße in strukturelle Gegebenheiten und soziale Beziehungen eingebunden wie alle anderen Organisationsmitglieder, daher unterliegt es ebenso den Spielregeln der Macht wie alle anderen Organisationsmitglieder (vgl. den Beitrag „Das Organisationsdispositiv des Journalismus“ in diesem Band).
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Seine grundlegende Macht kann das Redaktionsmanagement daraus herleiten, das es den Fortbestand und die Stabilität der journalistischen Organisation sichern soll und die Organisation damit „am unmittelbarsten und stärksten kontrollieren“ kann (Crozier & Friedberg 1997: 75). Der Handlungspielraum und die Handlungsmöglichkeiten des Managements sind aber nicht unbegrenzt, sondern finden ihre Grenzen in Machtbeziehungen inner- und außerhalb der journalistischen Organisationen. Grundsätzlich aber hat das Management einen generell größeren Einfluss, bestimmte Regeln aufzustellen und über die Verteilung von Ressourcen zu entscheiden. Das Redaktionsmanagement kann somit den Handlungsspielraum für die Journalisten erweitern oder verengen. Für Medienmanagerinnen beispielsweise hat Keil (2001) nachgewiesen, dass sie einen größeren Handlungsspielraum haben und dass sie aufgrund ihrer Position die Macht haben, „formale Organisationsstrukturen in ihrem Verantwortungsbereich und in der gesamten Rundfunkanstalt zu verändern“, und dass sich desweiteren ihre „Definitionsmacht“ auch auf die Organisationskultur erstreckt. Mit der Zuweisung positionaler Autorität entsteht die Definitionsmacht, aus der Position heraus kulturelle und strukturelle Veränderungen vorzunehmen. Dass dies auch für Medienmanagerinnen gilt, sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass Frauen im Journalismus nach wie vor massiv benachteiligt werden. Nur gut ein Drittel aller Journalisten in Deutschland sind weiblich, ihr Arbeitsplatz steht häufig in Redaktionen oder Ressorts wie Mode, Wellness und Lifestyle (vgl. Weischenberg, Malik & Scholl 2006: 48). Während also schon die quantitativen Zahlen die verschobenen Machtverhältnisse abbilden, manifestieren sich Formen der Diskriminierung und Unterlegenheit darüber hinaus dadurch, dass Frauen kaum einmal Machthaber über ökonomisches Kapital in journalistischen Organisationen sind und dass sie Formen der Machtausübung (Einfluss, Autorität) nicht nur anders handhaben, sondern dieser Art der Machtausübung in den männlich dominierten sozialen Netzwerken in der Regel auch unterlegen sind. Eine der stärksten Begrenzungen und die Quelle stetiger Aushandlungskonflikte auch für das Redaktionsmanagement stellen die Medienorganisationen dar. Sie sichern den Fortbestand der journalistischen Organisation, indem sie die dafür notwendigen Ressourcen zur Verfügung stellen. Nolens volens ist damit aber auch Verfügungsmacht verbunden, die ein ernstes Problem für das Redaktionsmanagement darstellt, das einerseits in die sozialen Beziehungsstrukturen mit Medienorganisationen eingebunden ist, weil Redaktionsmanager Teil des Medienmanagements sind. Andererseits erwarten die Mitglieder der
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journalistischen Organisationen von ihrem Management, dass es die Belange und Bedürfnisse der Redaktion vertritt. In dieser Strukturdichotomie von Medien- und journalistischen Organisationen sind prinzipiell latente Machtkonflikte angelegt.
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Dimensionen von Journalismus und Macht: Eine Systematisierung möglicher Ausprägungen
Die Vieldeutigkeit von Macht scheint eher noch zuzunehmen, bringt man das Konstrukt in Verbindung mit dem Journalismus. Zu den generell mit Macht verbundenen Ausprägungen kommen beim Journalismus noch alle Machtformen hinzu, die sich im Zusammenhang mit öffentlicher Meinung und öffentlichen Funktionen ergeben. Selbst wenn die Medienorganisationen als eigenständiger Machtfaktor ausgeblendet werden, verbleiben mit den Journalisten und journalistischen Organisationen, mit den Unterscheidungen von power to und power over, von Machtquellen, -mitteln und Formen der Machtausübung immer noch enorm viele Variablen für eine Matrix, wie sie in Tabelle 1 vorliegt. Tabelle 1: Journalismus und Dimensionen der Macht Indikatoren der Machtdimensionen
Geltungsgrad
Wirkungsintensität
Reichweite
Ressourcenart
Psychische Stärke
soziale Beziehungen (Verhandlungen über Gehalt, Durchsetzungskraft des Journalisten z.B. bei der Recherche)
face-to-face; situativ hoch
autoritativ soziale Beziehungen und Netzwerke (Umfeld Recherche, intra-/ interorganisational)
Eigentum/Besitz
Medieneigentümer, Anteilseigner, Gesellschafter
materiell; symbolisch
organisationale Beziehungen; intraorganisational (Eigentum); interorganisational (Reputation, Autorität)
Organisation
Organisationsmitglieder (Redaktion); Hierarchie (Management, Eigentümer); Organisation als Ressource; strukturelle Macht
intraorganisational hoch (Hierarchie); interorganisational hoch
autoritativ, organisationale Beziehungen; intraor- allokativ ganisational (Struktur); interorganisational (Reputation, Autorität)
Machtquellen
autoritativ, allokativ
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Tabelle 1: Journalismus und Dimensionen der Macht (Fortsetzung) Indikatoren der Machtdimensionen
Geltungsgrad
Wirkungsintensität
Reichweite
Ressourcenart
Machtmittel Ökonomisches Property rights (Lizenzen); Sachgüter (Druckereien, Medienhäuser); Kapital Finanzmittel (Kapital, Aktien)
höchste Ausdehnung
gesellschaftsweit
allokativ, autoritativ
Soziales Kapital
Unternehmensverantwortung; Wahrnehmung gesellschaftlicher Funktionen; Ethische Normen; Institutionalisierte Beziehungen und dauerhafte Netzwerke (Verbände wie BDZV, djv; Aufsichtsgremien); Wissen, Verfügung über Informationen; Gender
indirekt (Nutzung von „Vitamin B“); symbolisch
soziale Beziehungen und Netzwerke; organisationale Beziehungen; Medienbranche
autoritativ
Kulturelles Kapital
Journalismus als Produzent kultureller symbolisch Güter; gesellschaftliche Stellung des Journalismus (4. Gewalt); Berufliches Ansehen der Journalisten („Begabungsberuf“); Deutungshoheit (Agenda Setting, Meinungsführer); Gender
soziale Beziehungen; gesellschaftsweit
autoritativ
Formen der Machtausübung Einfluss, Persönlichkeit (Publizisten, Überzeugung, Meinungsführer, Hierarchie) Motivation
face-to-face, situativ
autoritativ soziale Beziehungen und Netzwerke; organisationale Beziehungen; intraorganisational (Redaktionshierarchie und -management); interorganisational (Fusionsverhandlungen, Tarifverhandlungen)
Autorität
Persönlichkeitsmerkmale; Amt und Position (Führungsposition, Glaubwürdigkeit der Berichterstattung); symbolisch (Reputation des Journalisten)
face-to-face, situativ wechselnd
soziale Beziehungen und Netzwerke
Kontrolle
Soziale Beziehungen intraorganisational (Redaktionshierarchie); formelle Regeln (vertragliche Beziehungen – Anstellungsvertrag, Nachrichtenfaktoren, Gegenlesen); informelle Regeln (Redaktionsnormen); gesellschaftliche Legitimation (Kritik und Kontrolle)
sozial und soziale und regelgebun- kontraktliche den; abhängig Beziehungen vom Sanktionspotential
autoritativ
autoritativ, allokativ
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Die Tabelleninhalte verbinden Indikatoren ausgewählter Machtdimensionen (Machtquellen, Machtmittel, Formen der Machtausübung), mit dem Geltungsgrad, der Wirkungsintensität und der Reichweite von Macht. Mit diesen drei Faktoren werden Effekte der Macht beschrieben, die von den Machthabern intendiert sind (vgl. zu den Machtdimensionen und den Effekten der Macht den Beitrag von Imbusch in diesem Band). Zudem gibt die rechte Spalte Auskunft darüber, welche Art von Ressourcen mit dem jeweiligen Indikator angesprochen ist. Die Darstellung in der Tabelle stellt einen ersten Systematisierungsversuch zur Vielfalt von Wirkungsfaktoren in Machtprozessen dar. Angesichts der Komplexität von Macht kann diese Synopse nur auszugsweise die Vielzahl möglicher Macht wiedergeben, die das Beziehungsgefüge von Journalismus und Macht kennzeichnen. 4.1
Machtfigurationen im Journalismus: Beispiele
Die Vielfalt der Machtausübung im und durch den Journalismus beruht vor allem darauf, dass die Dynamik von Machtprozessen aus miteinander verwobenen Machtfigurationen entsteht, an denen Personen ebenso beteiligt sind wie Gruppen und Organisationen. Grundsätzlich unterschieden werden können zwei Ebenen der Machtausübung: diejenige im Journalismus, mit Personen wie einzelnen Journalisten, Medieneigentümern und Medienmanagern, mit Gruppen von Journalisten oder Mediengesellschaftern und mit Organisationen wie Ressorts, Tarifpartnern und Nachrichtenzulieferern und die Machtausübung durch Journalismus, mit wiederum einzelnen Journalisten und Organisationen wie den Redaktionen auf der einen und den Berichterstattungssubjekten und -objekten wie Parteien, Verbänden, Sportvereinen und der PR sowie Politikern, Wirtschaftsvertretern und PR-Fachkräften auf der anderen Seite. Die Zusammensetzung der Personen, Gruppen und Organisationen kann in den mehr oder weniger langen Zeiträumen von Machtprozessen ebenso wechseln wie die Interessen der Beteiligten. So wird bei der Re-Strukturierung von Redaktionen (etwa durch Outsourcing) nicht selten auch das Führungspersonal ausgewechselt. Dies hat seinen Grund häufig darin, dass der neuen Führung eine unbelastete, vor allem aber grössere Durchsetzungskraft bei der ReStrukturierung zugesprochen wird (Nutzung autoritativer Ressourcen durch die Machtquelle psychische Stärke). Die Etablierung der neuen Führungsstruktur beruht wiederum auf der Machtquelle Organisation, die in der Verfügung der Medieneigentümer liegt und durch hierarchische Machtstrukturen gesteuert werden kann.
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An diesem Beispiel wird deutlich, dass Geltungsgrad, Wirkungsintensität und Reichweite der Machtdimensionen nicht isoliert vorkommen, sondern zum Auf- und Ausbau von Machtverhältnissen miteinander kombiniert werden. Je mehr eine Merkmalshäufung von Machtformen konstatiert werden kann, umso wirkungsvoller kann Macht ausgeübt werden. Macht bedeutet in diesem Fall Macht über journalistische Organisationen durch „Entscheidungsbefugnisse, die auf Eigentums- oder sonstigen Verfügungsrechten beruhen.“ (TheisBerglmair 1997: 26) Durch den Besitz von ökonomischem Kapital, durch die damit verbundene Verfügungsmacht (Kontrolle) über die Organisation wird die Organisation selbst zum Machtfaktor, denn Macht „lässt sich nicht in Ratings messen oder durch Marktanteilsbegrenzungen regulieren“, sondern, so Kiefer (2002: 498), „meint den Ressourcenpool, der einsetzbar ist, um [...] wirtschaftliche und/oder publizistische Ziele und Vorstellungen auch gegen Widerstand durchzusetzen“. Eine wesentliche, aber nur schwer zu beobachtende Kombination ist diejenige von autoritativen und allokativen Ressourcen. Während die Verfügungsmacht über allokative Ressourcen und ihren Umfang messbar sind (über ökonomische Unternehmensdaten und über Marktdaten der Mediennutzung) und zudem häufig auch in einer Ursache-Wirkungsschleife zuordnenbar sind (bei Übernahmen wie etwa der Kauf der Frankfurter Rundschau durch das Verlagshaus NevenDuMont), entziehen sich autoritative Ressourcen in der Regel der Beobachtung und Bewertung. Dies sollte aber nicht dazu verführen, autoritative Ressourcen als weniger wichtig einzuschätzen. Übernahmen und Fusionen im Zeitungsmarkt beispielsweise werden nicht allein anhand des ökonomischen Kapitals geregelt. Da entweder mehrere Anbieter miteinander konkurrieren oder die Kulturen von Käufer und Verkäufer nicht kompatibel sind, müssen in vielen Situationen Verhandlungsstärke, Durchsetzungsvermögen, Wissen und Beziehungsnetzwerke als ebenso bedeutsame Wirkungsfaktoren eingesetzt werden, die aus sozialem Kapital, Einfluss oder psychischer Stärke resultieren und insgesamt als Verhandlungsmacht zusammengefasst werden können. Ihre höchste Wirkmächtigkeit entfalten allokative und autoritative Ressourcen, wenn sie miteinander kombiniert werden, wenn Kapitalkraft und Durchsetzungsvermögen gemeinsam von einem Machthaber eingesetzt werden. Autoritative Ressourcen werden dabei als diskrete Formen der Machtausübung eingesetzt, die von schmeichelndem Umwerben bis zum unverhohlenen verbalen Drohen reichen können. Ungewöhnlich genug, werden bisweilen sogar unmittelbare Zwangsmaßnahmen im Journalismus angewandt, jüngst erst bei der Münsterschen Zeitung, bei
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der eine ganze Lokalredaktion von einem Tag auf den anderen entlassen wurde (vgl. Spiegel Online, 24. Januar 2007), da ihr nicht zugetraut werde, den Marktanforderungen gerecht zu werden. Mag dies auch ein in seiner Rigidität einmaliger Vorgang sein, reflektiert er doch die derzeitigen Veränderungsbestrebungen in der Printbranche, die über Re-Strukturierungen den Kostendruck senken will. Dieser auf breiter Front initiierte Prozess hat nicht allein konkrete Folgen für einzelne Journalisten (von Gehaltskürzungen bis hin zu Entlassungen), sondern hinterlässt Spuren bei allen Journalisten und journalistischen Organisationen, die in den Worten von Leidinger (2003) durchaus als marktstrukturell vermittelte Selbstzensur bezeichnet werden können. Im Gegensatz zur klassischen staatlichen Zensur umreisst Leidinger mit diesem Begriff Machtformen, die durch (Mit-)Eigentum funktionieren. Hierzu zählen Repressalien, Aufsichts-, Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten, Sinnkontrollmechanismen hegemonialer Instanzen, Einschränkung der Arbeitsmöglichkeiten, Verbote und Unterbindungsmassnahmen in technischer, organisatorischer, rechtlicher und personeller Hinsicht (Leidinger 2003: 91): Diese Zensurformen setzen entweder bei den JournalistInnen an – vor, während oder nach deren Arbeitsprozess – oder nachgeordnet bei den technischen bzw. organisatorischen Verbreitungsmöglichkeiten der Publikation. Die Formen beziehen sich entweder auf einzelne Medien (binnenstrukturell) oder auf das gesamte Medienangebot (aussenstrukturell). Dabei sind (halb)staatliche, redaktionelle, verlegerische oder unternehmerische sowie andere individuelle oder kollektive Einzelpersonen als Akteure identifizierbar.
Marktstrukturelle Selbstzensur, die Auswirkungen auf die Medieninhalte hat, funktioniert demnach in genau der Kombination von ökonomisch induzierten Einflüssen mit autoritativen Ressourcen von Personen oder Gruppen. Aus den ökonomische Entscheidungen entstehen Akte der (Selbst-)Zensur, da sie Folgen für das Handeln der Journalisten haben, gleichgültig, ob diese Folgen intendiert sind oder nicht, gleichgültig auch, ob die Journalisten die Entscheidungen als Zensur wahrnehmen oder nicht, da ganz diskret ein Klima der Bedrohung im Journalismus entsteht. 4.2
Meinungsmacht
Abschliessend soll vor dem Hintergrund der bisherigen Analyse von Journalismus und Macht eines der meistbenutzten, zugleich aber schwierigsten Konstrukte im Kontext von Journalismus und Macht noch einmal aufgegriffen werden: der Umgang mit der Meinungsmacht. Hilfreich sind dabei zwei Konstrukte, die Bruch und Türk (in diesem Band) in die Diskussion einführen: zum
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einen das Konstrukt des Medienkapitals, zum zweiten dasjenige der Positionsgüter. Medienkapital wird nicht im Hinblick auf Medienorganisationen angewendet, sondern als ein generelles Konstrukt, um festzustellen, welche Form von Kapital spezifische Formen von Organisationen „zu hüten und zu mehren trachten“. Dieses Kapital kann nun aber nicht absolut und uneingeschränkt machtvoll eingesetzt werden, sondern nur relational zur quantitativen oder qualitativen Verfügbarkeit dieser Güter bei anderen Organisationen. Diese Verfügbarkeit macht das so verstandene Medienkapital zu Positionsgütern. Beim Medienkapital geht es in vorderster Linie um die Kernkompetenzen von Organisationen, und so wie Versicherungen ihre Kernkompetenz der heutigen Absicherung allfälliger zukünftiger Risiken hüten und mehren wollen, so sind journalistische Organisationen bestrebt, ihre Kernkompetenz der Produktion aktueller und relevanter News zu hüten. In dieser Kernkompetenz gründet die Meinungsmacht journalistischer Organisationen, denn sie ist an die Produktion öffentlicher Aussagen gebunden und somit in erster Linie ein Machtfaktor, den journalistische Organisationen einsetzen können, da sie die Produzenten informativer und aktueller Berichterstattung sind. Typischerweise wird Meinungsmacht den sogenannten Leitmedien zugeschrieben, Printmedien vor allem, die eine hohe Koinzidenz von journalistischem Produkt und Medienorganisation aufweisen, da die Berichterstattung ihre Kernressource ist und Printmedien anders als Fernsehen oder Hörfunk kaum Produktdiversifikation betreiben können. Meinungsmacht ist in dieser Perspektive zuallererst das Vermögen einzelner (journalistischer) Organisationen, die öffentliche Meinungsbildung durch Berichterstattung zu initiieren, weiter zu treiben und zu beeinflussen. Journalistische Organisationen haben somit sui generis, qua öffentlichem Auftrag und öffentlicher Zuschreibung, ein Medienkapital durch das Monopol der Berichterstattung. Wie andere Machtformen können die journalistischen Organisationen aber auch dieses Medienkapital nicht uneingeschränkt einsetzen. Die Balance of Power sorgt – in demokratischen Systemen – für eine relative Verfügungsmacht über die öffentliche Meinung. Allerdings, auch darauf macht eine organisationale Analyse aufmerksam, ist diese Verfügungsmacht verknüpft mit einer Organisationsmacht. Kapitalstarke journalistische Organisationen können erheblich mehr Kontrolle über Ressourcen und Ereignisse ausüben als weniger kapitalstarke. Sie können mehr in die Berichterstattung investieren und somit eine potentiell bestehende Meinungsmacht weiter ausbauen. Dies ist sozusagen die publizistische Form der Anzeigen-Auflagen-Spirale, nach der höhere Auflagen zu mehr Einnahmen führen, die wiederum in die Stärkung der Marktstellung investiert werden kön-
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nen. Es wäre jedoch illusorisch anzunehmen, dass die höheren Einnahmen regelmässig für die Qualität der Berichterstattung eingesetzt würden, schliesslich wollen auch die Gesellschafter an den Mehreinnahmen partizipieren. Unbestreitbar aber stärkt die Organisationsmacht auch die Meinungsmacht, die als eine autoritative Ressource von den journalistischen Organisationen benutzt wird. Allerdings ist Meinungsmacht nicht allein an Kapitalmacht geknüpft. Auch eine fehlende Countervailing Power kann zu Meinungsmacht führen, wenn durch fehlenden Wettbewerb (Ein-Zeitungskreise, Duopol im Fernsehmarkt) die Kontrolle über die Ressourcen und Ereignisse keine Begrenzung erfährt. Dabei ist höchst bedeutsam, dass derart machtvolle Zustände erstens schon bei der Auswahl von Themen (Unterdrückung von Berichterstattung, vgl. die Beiträge in Leif 2003) in den journalistischen Organisationen sehr wirksam sind. Zweitens sind journalistische Organisationen, die allein, ohne Gegenmacht, auf weiter Flur agieren können, ihre mächtige Position der Meinungsmacht durch weitere Machtbeziehungen (soziale Netzwerke) stützen und ausbauen können. Meinungsmacht als eine Form des „journalistischen Kapitals“ (vgl. den Beitrag von Hanitzsch in diesem Band) entsteht somit zum einen in Relation zu anderen journalistischen Akteuren und Organisationen, wenn die Deutungsmacht als Meinungsführer in der Konkurrenz mit anderen errungen wird. Meinungsmacht entsteht desweiteren durch die Ausschaltung von Gegenmacht.
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Resümeé
Die Macht hat, auch im Journalismus, viele Gesichter, deren Vielfalt weit über die in der Regel diskutierte Meinungs- und Marktmacht hinausgeht. Das von der Machtforschung erarbeitete Arsenal an Begriffen und Konstrukten zur Macht ist bislang von der Journalismusforschung kaum aufgegriffen worden. Mögliche Dimensionen der Macht, ihr Geltungsgrad, ihre Wirkungsintensität und Reichweite sowie die Quellen, Mittel und Formen der Machtausübung laufen wenn überhaupt dann allenfalls nebenbei als Gegenstand der Forschung mit. Sie stehen aber nicht im Fokus und werden auch nur am Rande durch systematische Begriffsarbeit getragen. Systematischere theoretische, begriffliche und empirische Arbeit zum Komplex Journalismus und Macht muss bei grundlegenden Fragen und Problemen ansetzen. Hierzu zählen die Aspekte des power over und power to, die in Frageform gekleidet bereits erste Aufschlüsse und Einblicke in notwendige Differenzierungen liefern. So sind bei der Frage nach der Macht für wen signi-
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fikante Unterscheidungen zwischen Journalisten, journalistischen Organisationen und Medienorganisationen zu machen. Zwar ist Imbusch (vgl. seinen Beitrag) zuzustimmen, dass Medien über unterschiedlichste Machträume verfügen. Aber Medienorganisationen (wie Verlage und Rundfunksender) sind nicht gleichzusetzen mit journalistischen Organisationen (wie Redaktionen oder Ressorts), ihre Struktur, ihre Ziele und damit auch ihre Formen der Machtausübung unterscheiden sich. Medienorganisationen haben daher ein Interesse an der Kontrolle anderer Ressourcen und Ereignisse als journalistische Organisationen. Beide organisationalen Entitäten verfügen über Macht, sind selbst vermachtet und sind Teil des gesellschaftlichen Machtsystems, aber auf durchaus unterschiedliche Weise. Während die Medienorganisationen vor allem im wirtschaftlichen System wirken, um ihren Bestand durch die fortwährende Distribution von Inhalten zu garantieren, agiert der Journalismus in den verschiedenen Arenen der Öffentlichkeit, in denen er Inhalte produzieren (sammeln, bearbeiten, zur Veröffentlichung anbieten) soll. Medienorganisationen üben Macht vorrangig über ökonomisches Kapital aus, journalistische Organisationen über kulturelles Kapital. Die Kontrolle von Macht (im Sinne der vierten Gewalt) und ein Forum für Macht bietet aber – jedenfalls im Rahmen der aktuellen, informativen Berichterstattung – allein der Journalismus, in Form einzelner Journalisten oder in Form der journalistischen Organisationen. Für seine produzierten Inhalte benötigt der Journalismus einen Distributionsapparat, den die Medienorganisationen bieten. Die wiederum sind für ihr Geschäft der Distribution auf Inhalte angewiesen. In dieser wechselseitigen Interdependenz sind bereits viele der Machtkonflikte angelegt, die den Journalismus kennzeichnen.
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Giddens, Anthony (1997): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. 3. Aufl., Frankfurt am Main: Campus Heinrich, Jürgen (1999): Medienökonomie. Bd. 2: Hörfunk und Fernsehen. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Hienzsch, Ulrich (1990): Journalismus als Restgröße. Redaktionelle Rationalisierung und publizistischer Leistungsverlust. Wiesbaden: DUV Imbusch, Peter (1998): Macht und Herrschaft in der Diskussion. In: Peter Imbusch (Hrsg.): Macht und Herrschaft. Sozialwissenschaftliche Konzeptionen und Theorien. Leske + Budrich: Opladen. 9-26 Karmasin, Matthias (1998): Medienökonomie als Theorie (massen-) medialer Kommunikation. Kommunikationsökonomie und Stakeholder-Theorie. Graz: Nausner & Nausner. Keil, Susanne (2001): Medienfrauen in Führungspositionen. ‚Gibt es einen weiblichen Journalismus?’ – revisited. In: Elisabeth Klaus, Jutta Röser & Ulla Wischermann (Hrsg.): Kommunikationswissenschaft und Gender Studies. Opladen: Westdeutscher Verlag. 144-162. Kiefer; Marie-Luise (2002): Kirch-Insolvenz: Ende einer ökonomischen Vision? Zu den medienökonomischen Ursachen und den medienpolitischen Konsequenzen. In: Media Perspektiven (10). 491500. Küpper, Willi & Anke Felsch (2000): Organisation, Macht und Ökonomie. Mikropolitik und die Konstitution organiationaler Handlungssysteme. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag Leidinger, Christiane (2003): Medien – Herrschaft – Globalisierung. Folgenabschätzung zu Medieninhalten im Zuge transnationaler Konzentrationsprozesse. Münster. Westfälisches Dampfboot Leif, Thomas (2003) (Hrsg.): Verschwiegen, Verschwunden, Verdrängt – Was (nicht) öffentlich wird. Dokumentation zum 7. MainzerMedienDisput vom 30.10.2002. Mainz. Lünenborg, Margreth (2005): Journalismus als kultureller Prozess. Zur Bedeutung von Journalismus in der Mediengesellschaft. Ein Entwurf. Wiesbaden: VS Verlag Lünenborg, Margreth (2005): Journalismus als kultureller Prozess. Zur Bedeutung von Journalismus in der Mediengesellschaft. Ein Entwurf. Wiesbaden: VS Verlag. Pörksen, Bernhard (2005) (Hrsg.): Trendbuch Journalismus. Erfolgreiche Medienmacher über Ausbildung, Berufseinstieg und die Zukunft der Branche. Köln: Halem Prott, Jürgen (1976) Bewußtsein von Journalisten. Frankfurt am Main/Köln Röttger, Ulrike (2000): Public Relations - Organisation und Profession. Öffentlichkeitsarbeit als Organisationsfunktion. Eine Berufsfeldstudie. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Schatz, Heribert, Otfried Jarren & Bettina Knaup (Hrsg.): Machtkonzentration in der Multimediagesellschaft? Beiträge zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von politischer und medialer Macht. Opladen: Westdeutscher Verlag. Scholl, Armin & Siegfried Weischenberg (1998): Journalismus in der Gesellschaft. Theorie, Methodologie und Empirie. Opladen: Westdeutscher Verlag. Seufert, Wolfgang (1997): Medienübergreifende Unternehmenskonzentration - Mittel zur Kostensenkung oder zur Erhöhung von Marktmacht? In: Heribert Schatz, Otfried Jarren & Bettina Knaup (Hrsg.): Machtkonzentration in der Multimediagesellschaft? Beiträge zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von politischer und medialer Macht. Opladen: Westdeutscher Verlag. 258-273. Theis-Berglmair, Anna M. (1997): Das demokratische Moment der Ungewissheit. In: Heribert Schatz, Otfried Jarren & Bettina Knaup (Hrsg.): Machtkonzentration in der Multimediagesellschaft? Beiträge zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von politischer und medialer Macht. Opladen: Westdeutscher Verlag. 25-33
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Weber, Max (1972): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5., rev. Aufl. (besorgt von Johannes Winckelmann). Tübingen: J.C.B Mohr. Weischenberg, Siegfried, Maja Malik & Armin Scholl (2006): Die Souffleure der Mediengesellschaft. Report über die Journalisten in Deutschland. Konstanz: UVK. Zimmer, Marco & Günther Ortmann (1996): Strategisches Management, strukturationstheoretisch betrachtet. In: Hans H. Hinterhuber, Ayad Al-Ani & Gernot Handlbauer (Hrsg.): Das neue strategische Management: Elemente und Perspektiven einer zukunftsorientierten Unternehmensführung. Wiesbaden: Gabler. 87-114.
Autorinnen und Autoren Klaus-Dieter Altmeppen, PD Dr. phil., geb. 1956, wissenschaftlicher Oberassistent und Privatdozent im Fachgebiet Medienwissenschaft, Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der TU Ilmenau. Arbeitsgebiete: Journalismusforschung, Medienökonomie, -management und -organisation. Michael Bruch, Dr. rer. soc., geb. 1963, wissenschaftlicher Assistent an der Bergischen Universität Wuppertal. Arbeitsgebiete: Organisationssoziologie, historische Organisationsforschung, Gesellschaftstheorie. Hartmut Esser, Prof. Dr. rer. nat., geb. 1943, Ordinarius für Soziologie und Wissenschaftslehre an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Mannheim. Arbeitsgebiete: Empirische Sozialforschung, Wissenschaftstheorie und Methodologie, soziologische Theorieansätze, Migrationsforschung, Familiensoziologie. Susanne Fengler, Dr. phil., geb. 1971, Lehrbeauftragte an den Universitäten Zürich und Luzern. Arbeitsgebiete: Journalismusforschung, Organisationskommunikation. Thomas Hanitzsch, Dr. phil., Dipl.-Journalist, geb. 1969, Oberassistent am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich. Arbeitsgebiete: komparative Medienforschung, kulturvergleichende Journalismusforschung, Kriegsberichterstattung. Robert Hettlage, Prof. Dr. Dr., geb. 1943, Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Regensburg. Arbeitsgebiete: Soziologische Theorie, Wirtschaftssoziologie, Familiensoziologie, Migrationssoziologie, vergleichende Sozialstrukturforschung. Stefan Hradil, Prof. Dr. Dr. h.c., geb. 1946, Lehrstuhl für Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Arbeitsgebiete: Sozialstrukturanalyse, auch im internationalen Vergleich, Soziale Ungleichheit, Soziale Milieus und Lebensstile, Singles, die künftige demographische und gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands.
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Autorinnen und Autoren
Peter Imbusch, PD Dr., geb. 1960, Privatdozent für Soziologie, vertritt zurzeit eine Professur am Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg. Arbeitsgebiete: Politische Soziologie, Sozialstrukturanalyse, Konflikt- und Gewaltforschung, soziologische Theorien. Michael Jäckel, Prof. Dr. phil., geb. 1959, Professur für Soziologie an der Universität Trier. Arbeitsgebiete: Mediensoziologie, Konsumsoziologie, Neue Technologien und Arbeitsorganisation, Allgemeine Soziologie. Christoph Neuberger, Prof. Dr. phil., Dipl.-Journalist, geb. 1964, Professur für Kommunikationswissenschaft (Schwerpunkt Journalistik) am Institut für Kommunikationswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Arbeitsgebiete: Journalismusforschung, Internetforschung. Thorsten Quandt, Dr. phil., geb. 1971, Forschungsassistent am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Arbeitsgebiete: Medieninnovationsforschung, Onlinekommunikation, Journalismusforschung, Medientheorie. Johannes Raabe, Dr. phil., Dipl.-Journalist, geb. 1963, wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft der Otto-FriedrichUniversität Bamberg. Arbeitsgebiete: Journalismusforschung, Kommunikationstheorie, Medienlehre, Journalismus- und Medienethik. Carsten Reinemann, Dr. phil., geb. 1971, wissenschaftlicher Assistent am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Arbeitsgebiete: Journalismusforschung, politische Kommunikation, Medienwirkungsforschung, Medieninhalte, Methoden. Stephan Russ-Mohl, Prof. Dr. rer. soc., geb. 1950, Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft an der Università della Svizzera italiana in Lugano und Leiter des European Journalism Observatory (www.ejo.ch). Arbeitsgebiete: Journalistische Praxis, Medienmanagement Uwe Schimank, Prof. Dr. rer. soc., geb. 1955, Lehrstuhl für Soziologie an der FernUniversität Hagen, Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften. Arbeitsgebiete: Soziologische Gesellschaftstheorie, Organisationssoziologie, Sportsoziologie, Hochschulforschung.
Autorinnen und Autoren
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Carsten Schlüter, M.A., geb. 1971, Redakteur beim Goodwill Verlag Lünen. Arbeitsgebiete: Interaktionsforschung, Journalismusforschung, qualitative Methoden. Klaus Türk, Prof. Dr. rer. pol., geb. 1944, Professur für Soziologie, insbesondere Soziologie der Organisation an der Bergischen Universität Wuppertal. Arbeitsgebiete: Organisationssoziologie, Gesellschaftstheorie, Kulturgeschichte der Arbeit. Herbert Willems, Prof. Dr. phil., geb. 1956, Prof. für Soziologie mit den Schwerpunkten Mikrosoziologie und qualitative Sozialforschung am Institut für Soziologie der Universität Gießen. Arbeitsgebiete: Mikrosoziologie, Massenmedien, Theatralisierungsprozesse. Arnold Windeler, Prof. Dr. phil., geb. 1956, Lehrstuhl für Soziologie, Fachgebiet Organisationssoziologie am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin. Arbeitsgebiete: Organisations- und Sozialtheorie, Industriesoziologie und interorganisationale Netzwerke.