Jörg Hagedorn Jugendkulturen als Fluchtlinien
Erlebniswelten Band 13 Herausgegeben von Winfried Gebhardt Ronald Hitzl...
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Jörg Hagedorn Jugendkulturen als Fluchtlinien
Erlebniswelten Band 13 Herausgegeben von Winfried Gebhardt Ronald Hitzler Franz Liebl
Jörg Hagedorn
Jugendkulturen als Fluchtlinien Zwischen Gestaltung von Welt und der Sorge um das gegenwärtige Selbst
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15982-9
Vorwort ............................................................................................. 7 1.
Einleitung ......................................................................................... 9
2.
Theoretische Ortsbestimmungen und Stand der Forschung
2.1
Popkultur als Ort kultureller, sozialer und politischer Auseinandersetzungen .................................................................................... 21 Jugendkulturen als Protest- und Widerstandskulturen ............................... 27 Jugendkulturelles Handeln als kunstvolles Handeln ................................... 35 Jugendkulturen in den Segmentaritäten von Gesellschaft ......................... 41 Über den Un-Sinn von Techno als Widerstandskultur – Zugleich ein kritischer Blick auf den Stand der Forschung ...................... 45
2.2 2.3 2.4 2.5 3.
Empirischer und methodischer Bezugsrahmen
3.1 3.2
Empirischer Fokus der Arbeit und Markierung zentraler Forschungslücken ............................................................................................. 57 Anlage und Ziele der Studie............................................................................. 65
4.
Die Methode der Objektiven Hermeneutik ........................................... 69
4.1
4.5 4.6
Sinnstrukturiertheit sozialer Realität und regelgeleitetes Handeln .................................................................................... 70 Die Analyse objektiver Sinn- und Bedeutungsstrukturen in der Fallrekonstruktion ............................................................................................ 72 Ausdrucksgestalten sozialer Realität und ihre Verfügbarkeit als Protokoll ...................................................................................................... 74 Edierte Ausdrucksgestalten im Internet als ein mögliches Forschungsfeld für eine rekonstruktiv-hermeneutische Jugendund Medienforschung ...................................................................................... 76 Die Sequenzanalyse an einem Anwendungsbeispiel ................................... 77 Das Generalisierungsprinzip der Objektiven Hermeneutik ...................... 83
5.
Darstellung der Rekonstruktionsergebnisse
5.1 5.2
Rekonstruktion A ............................................................................................. 95 Rekonstruktion B ............................................................................................. 97
4.2 4.3 4.4
5
6.
Theoretisierung der Rekonstruktionsergebnisse
6.1 6.2
6.7.1 6.7.2
Über die Gelassenheit und das Verschwinden des Horizonts ................ 101 Einige Überlegungen zur widersprüchlichen Einheit von Entscheidungszwang und Begründungspflicht ......................................... 107 Jugendkulturelle Handlungstheater im Internet – Das Schreiben als raumaneignende und strukturbildende Praktik ......... 110 Raumaneignung durch Erzählung und Gründung .................................... 111 Das Paradox der Grenze – Differenzmarkierungen und Berührungspunkte zwischen dem Selbst und dem Anderen ................... 116 Inszenierung des gegenwärtigen Selbst im Erscheinenlassen von Sinngestalten ............................................................................................ 121 Über den Rhythmus als Ordnungs- und Strukturprinzip ........................ 127 ‚Körper-Papier’ – Über die Einschreibung rhythmischer Ordnungen und Gesetze auf den Körper eines Volkes ................................................. 133 Schreib-Apparate – Werkzeuge und Instrumente ..................................... 136 Techno als Fluchtlinie – Jugendkultureller Widerstand in den Zwischenräumen segmentierter Linien und Quanten-Strömungen ..................................................................................... 140 Mikropolitik und Segmentarität – Was Techno zur Fluchtlinie macht .. 141 Erde und Kosmos – Grundlegung und kosmisches Ausbrechen .......... 145
7.
Schlusswort .................................................................................................... 151
8.
Literatur ........................................................................................................... 165
6.3 6.3.1 6.3.2 6.4 6.5 6.6 6.6.1 6.7
6
Vorwort und Danksagung
Das hier vorliegende Buch ist das Ergebnis einer Arbeit, die sich dem Verstehen jugendkultureller Praktiken verschrieben hat. Gelungen wäre diese Arbeit, wenn dieses Buch diesen Verstehensprozess theoretisch wie methodisch schlüssig nachzuzeichnen vermag. Dies ist oft nicht ganz einfach gewesen, denn Verstehensprozesse neigen leider dazu, die Sache zu überformen oder zu vereinfachen. Die Schlüssigkeit der Argumente und Positionen sollte aber der Sache selbst, dem Fall dienen. Dieses Buch versteht sich als ein Agent dieser Sache, dieses Buch ist aus dieser Sache entstanden und dieses Buch gehört dieser Sache. Die ganzen angestrengten reflexiven aber auch lustvollen Akte, deren Zeuge der Leser werden wird, sind die Produkte von jugendlichen Alltagspraktikern, die in ihren kulturellen Feldern eine Leistung vollzogen haben, deren Wert wir nicht abschätzen können, da wir uns auf anderen Feldern befinden. Die Sache von Innen zu verstehen und dieser Sache eine Sprache zu verleihen, das ist das ganze Anliegen, dessen Ergebnis in diesem Buch zu lesen ist. Dieses Buch ist im Rahmen eines dreijährigen, von der Hans–Böckler– Stiftung finanzierten Stipendiums entstanden. Der Hans–Böckler–Stiftung sei dafür aufrichtig gedankt. Wenngleich dieses Buch von einem Einzelnen geschrieben wurde, so verdienen sich an diesem Buche viele Personen auf ganz unterschiedliche Weise. Zuvorderst sind es junge kreative Menschen, die sich ihre ganz eigenen Gedanken über die Welt und ihrem Selbst in dieser Welt machen. Ihnen gilt mein Dank, da sie einerseits, das ist meine feste Überzeugung, auch weiterhin am Projekt einer besseren Welt festhalten und ihren eigenen Beitrag in der Gestaltung dieser Welt leisten werden. Es ist nur an uns, die spezifischen und oft unscharfen Arten und Weisen zu verstehen. Andererseits sind gerade diese jungen Menschen der Grund dafür, dass ich dieses Buch, so wie es nun zu lesen ist, geschrieben habe. Dieses Buch gründet auf dem Äußerungs- und Veränderungswillen junger Menschen, die sich einer Welt mitteilen und die sich ihre eigene Welt formen wollen. Ihnen zuzuhören, ohne ein Wollen an sie zu adressieren, ist ein weiteres Anliegen dieses Buches. 7
Mein ganz verbindlicher Dank gilt Prof. Dr. Heinz-Hermann Krüger, der meine Arbeit gewissermaßen ‚beheimatet’ und vor allem im Rahmen seines Kolloquiums betreut hat. Ein ganz großer Dank gilt Prof. Dr. Uwe Sander, der die Zweitbetreuung meiner Arbeit übernommen hat und dessen unkomplizierte Art und Anregungen mir sehr geholfen haben. Ein solches Buch entsteht nicht ohne die Arbeitszusammenhänge, in denen man die wichtigen Dinge lernt, die für die Verrichtung einer solchen Arbeit vonnöten sind. Ich denke hierbei insbesondere an Prof. Dr. Werner Helsper, der mir diese Dinge beigebracht hat – ihm bin ich zu großem Dank verpflichtet. Schließlich möchte ich Prof. Dr. Jeanette Böhme für die langjährige inspirierende Zusammenarbeit und Freundschaft danken.
Leipzig im Januar 2008 Jörg Hagedorn
8
1.
Einleitung
Jugend bedeutet eine prekäre Lebensphase, und dies in verschiedener Weise: einerseits verlassen Jugendliche gerade den Schonraum der Kindheit, andererseits fehlen ihnen noch die Privilegien der Erwachsenenwelt. Jugendliche müssen sich die Anerkennung durch ihre Eltern, Lehrer und Vorgesetzten erst hart erkämpfen. Vor allem aber sind an die Lebensphase Jugend auf der einen Seite gesellschaftliche Hoffnungen gebunden. Auf der anderen Seite steht die Erwachsenenwelt der Jugend mit Skepsis und diffusen Ängsten gegenüber. Jugendliche sind also Hoffnungsträger der Gesellschaft und fremde, bedrohliche Ethnie zugleich. Innerhalb der Lebensphase Jugend müssen sich junge Heranwachsende zweischneidig bewähren: als gesellschaftlicher Innovationsmotor einerseits und als Bewahrer tradierter gesellschaftlicher Ordnungen andererseits. Das ist die Reibungsfläche, an der die Lebensphase Jugend stattfindet. Hier die gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen und Erwartungshaltungen, dort die je eigenen Interessen und Bedürfnisse. Zwischen diesen beiden Seiten ein richtiges Lebenskonzept zu finden, das aktiv und innovativ an der Gestaltung von Welt beteiligt sein sollte, ist als gesellschaftlicher Auftrag an Jugendliche adressiert. Diese IchKonstruktionsleistung im ausgewogenen Selbst–Welt–Verhältnis ist nicht zuletzt Ausdruck und Gegenstand von Bildungsprozessen junger Heranwachsender. In diesem Lichte betrachtet, müssen sich Jugendliche mit einer offenen, riskanten und krisenimmanenten Zukunft auseinandersetzen. Diesen Prinzipien rationaler Vernunft folgend, gelang es den vorangegangenen Jugendgenerationen mal besser und mal schlechter, diese höchst riskanten Zukunftshorizonte mit eigenen utopischen Entwürfen im Sinne von Lebenskonzepten, Wünschen und Idealen zu schließen. Aus diesen Entwürfen, die sich gegen gesellschaftliche Machstrukturen, gegen tradierte gesellschaftliche Ordnungen und gegen die Entwürfe einer dominanten Erwachsenenkultur richten, geht gesellschaftliches Neues hervor, verändert sich eine Gesellschaft innovativ. Jugendliche bewegen sich in ihren Sozialisationsprozessen also immer zwischen Innovationsanspruch und Reproduktionsverpflichtung. Jugendliche müssen in ihren Sozialisationsprozessen aber auch darauf achten, dass ihr eigenes Selbst nicht zwischen Rollenerwartungen einerseits 9
und eigenen Interessen und Bedürfnissen andererseits gespalten wird. Dieser Selbsterhalt gehört zur großen Aufgabe jugendlicher Identitätsarbeit dazu. Ich möchte dies in Anlehnung an Foucault (2004) die sokratische Frage in den Identitätsprozessen Jugendlicher nennen. Dieser Sorge um das eigene Selbst gehen Jugendliche in ihren kulturellen ästhetischen Handlungspraxen nach, wie ich später in diesem Buch ausführen werde. Eine Gesellschaft, die sich nicht oder zu wenig mit solchen jugendlichen Gegenentwürfen auseinandersetzt und Jugendliche nur auf die Verpflichtung der Bewahrung des Vorgefundenen einschwört, gibt gleichzeitig ihre Innovationsbereitschaft auf. Jugendlicher Veränderungswille drückt sich nicht im luftleeren Raum aus und ist im Übrigen immer weniger das Verdienst von institutionalisierten Bildungsprozessen. Solche jugendlichen Gegenentwürfe entstehen zuvorderst im jugendkulturellen Raum und auf gleicher Augenhöhe im Kontext jugendlicher Peers. Denn hier darf sich ein Begehren frei von gesellschaftlichen Sachzwängen entfalten. Ein Begehren, das den tiefen Grund jugendkultureller und ästhetischer Praktiken bildet. Gleichzeitig ist es die Grundvoraussetzung für diesen Veränderungs- und Gestaltungswillen Jugendlicher. Jugendkulturen funktionieren als Kampfplätze und Diskursarenen, in denen dieser Veränderungswille artikulierbar wird. Hier werden Entwürfe des eigenen richtigen Lebens und die Visionen einer besseren Welt frei vom gesellschaftlichen Zensor verhandelt, ausprobiert, entworfen und wieder verworfen. Da ist viel Bewegung drin! Man könnte sagen, Jugendliche bringen sich mit ihren Kulturen im gesellschaftlichen Getriebe in Stellung. Es wäre zu kurz gedacht, anzunehmen, Jugendliche würden sich in ihren Jugendkulturen nur als bunte Paradiesvögel präsentieren wollen, die ihre Teilnahme am gesellschaftspolitischen Diskurs gegen pure Selbstbezogenheit eingetauscht haben – insbesondere die Medien perpetuieren auf eine unerträgliche Weise immer wieder solche Bilder. Jugendkulturen funktionierten seit je her als Widerstands- und Protestkulturen, ja auch heute noch, nur folgt die aktuelle Jugendgeneration anderen Strukturlogiken, als die Jugendgenerationen vor ihnen. Widerstand und Protest artikuliert sich heute weniger auf den Strassen und Paraden und noch weniger auf brennenden Barrikaden. Auch zeigen aktuelle Jugendstudien, dass Jugendliche im deutschsprachigen Raum immer mehr die kleinen Ordnungen suchen und alte Werte für sich neu entdecken (vgl. Zinnecker 2005). Auch sind in der aktuellen Jugendgeneration die Eltern wieder zu Vorbildern geworden. In der verknöcherten Gesellschaft der ausgehenden 1950er und beginnenden 1960er ist dies – jugendkulturell gesehen – 10
undenkbar gewesen. Doch die gegenwärtige Ruhe ist trügerisch. Jugendkultureller Widerstand und Protest – so meine These – zeigt sich uns heute in ganz anderen gesellschaftlichen Segmenten. Die alten Muster, die alten Territorien und die alten Codes haben Jugendkulturen hinter sich gelassen, die Kampfplätze sind andere geworden. Jugendkulturen haben sich von einstmaligen jugendkulturellen Orten in neue jugendkulturelle Räume – etwa im Kontext der Neuen Medien – zurückgezogen; sie lassen sich nicht mehr auf die alten Logiken ihrer Politisierung einstimmen. Hierauf muss sich Jugendkulturforschung im 21. Jahrhundert einstellen und sowohl theoretisch und methodisch innovativer werden. Das Eigene moderner Jugendkulturen auf den alten Kampfplätzen gewesener Jugendgenerationen zu suchen, spielt einer ungehemmten, oft normativ argumentierenden Politisierung von Jugendkulturen im akademischen Kontext zu. Die Widerstands- und Protestkulturen haben sich grundlegend verändert, genau so wie sich Jugendgenerationen immer wieder verändert haben: sie sehen nicht nur anders aus, sie funktionieren auch binnenlogisch ganz anders. Und wenn man sich nicht eines anderen Auges und eines anderen Ohres bedient, sind Jugendkulturen vielleicht sogar unsichtbar geworden und verstummt. Sie sind dann augenscheinlich zu bunten Abziehbildern mächtiger Medien- und Kommerzmaschinen geworden. Ich folge dieser Lesart nicht, auch wenn sie selbst im jugendtheoretischen Diskurs zu einer sehr populären geworden ist. Ich bezeichne Jugendkulturen in Anlehnung an Deleuze und Guattari (2005) als Fluchtlinien, die sich von alten Codes, alten Territorien und alten Kampfplätzen wegbewegen. Man könnte Jugendkulturen in dieser Weise auch als Mutationsmaschinen (vlg. ebd.) bezeichnen, die immer daran arbeiten, die Logik des Vorgefunden umzuwandeln ohne sofort neuen Sinn anzubieten. Jugendkulturen haben keinen Staat, sie brechen aus, wandeln nomadisch im vorgefundenen Raum umher, zeigen sich und verschwinden wieder. Mannigfaltigkeit und Vielheit wird zum neuen Strukturprinzip und ist eben mehr als das modernisierungstheoretisch daher geplapperte Chaos im jugendkulturellen Raum. Jugendkultureller Protest und Widerstand agiert heute unterirdisch und zerstreut, nicht weniger taktil und subversiv als immer schon. Jugendkulturen heute verstehen zu wollen, setzt eine hohe Flexibilität, einen mikroskopischen Blick und ein jugendliches Denken in Vielheiten voraus. Aber dennoch: Jugendkulturen muss es, einem Denkmodell der rationalen Potenzialitäten folgend, auch heute noch gelingen, der Gesellschaft ihren innovativen und sinnvollen Beitrag in der Gestaltung von Welt anzubieten. Diese Perspektive metaphysischen Denkens und Wollens können wir einfach nicht aufgeben. Jugendkulturen brauchen ihre Legitimation und Akzeptanz im gesellschaftlichen 11
Getriebe. Erwachsenenwelt, Medien und Wissenschaft schauen ganz genau darauf, welche Ideen und Botschaften, ja welchen konkreten Veränderungswillen Jugendkulturen an ihre gesellschaftliche Gegenüberwelt zu adressieren gedenken. Ärgerlich ist es freilich dann, wenn diese Botschaft als Graffiti ausgerechnet an der eigenen Hausfassade geschrieben steht. Den Sinn solcher Handlungen vermuten wir dann völlig zu Recht in der kruden Provokation und der Lust an der Zerstörung. Es ist aber auch genau so gedacht! Genau so wie die „Halbstarken“ in den 1950er Jahren Mülltonnen umwarfen, in großen Horden herumstreunend die entgegenkommenden Passanten auf die andere Straßenseite zwangen und mit ihren quer gestellten Motorrollern Autofahrer am Weiterfahren hinderten. Dahinter verbirgt sich die zügellose, pure Lust an der Provokation. Das ist immer die andere Seite, gewissermaßen das destruktive, un-sinnige Moment von Jugendkulturen. Dies aber nur aus der Perspektive des gesellschaftlichen Anderen. Jugendkulturen zeigten immer schon eines: wenn schon Autorität nicht umkehrbar ist, Macht ist es allemal, und die Umkehrung der Macht ist immer eine Antwort auf die Anerkennungsverweigerung, die von der dominanten Mehrheitskultur, von uns Erwachsenen ausgeht. Das Graffiti ist nur der unangenehme, sichtbare Ausdruck des Ganzen. Der Leser bemerkt es vielleicht schon, ich möchte ihn gedankenexperimentell auf die andere Seite herüber holen: weg von den Prinzipien der rationalen Vernunft, die den Sinn von Handlungen immer nur vor dem Hintergrund der sinnfokussierten Verwertbarkeit von Machbarkeitsutopien betrachtet. Unstrittig ist, dass sie für gesellschaftliches Zusammenleben und für die Lösung von Alltagsgeschäften unverzichtbar sind. Gerade Jugendliche sind auf die Wichtigkeit solcher Prinzipien einzustimmen. Diesen Auftrag erfüllen Schule oder andere gesellschaftliche Zensoren aber schon so gut sie können. Jugendkulturen hingegen waren dafür nie der geeignete Ort. In Jugendkulturen entfaltet die andere Seite des jugendlichen Gesellschaftskörpers seine Wirkmächtigkeit. Es ist die bewegliche Seite der Vernunft, eine Vernunft der Übergänge, die nomadisch und fluchtlinienartig unterwegs ist, umherschweift und umherwildert in den Strukturen des Vorgefundenen. Sie ist deshalb aber nicht unsinnig oder sinnlos. Der Sinn von kulturellen Handlungen liegt hier gerade in der Umwandlung und Verfremdung der Sprache des Vorgefundenen. Jugendkulturelles Handeln geht immer mit dem Verrat an bestehenden gesellschaftlichen Ordnungen einher! Ich will es ein wenig zuspitzen: Jugendkulturen werden für Jugendliche in den molekularen Segmenten von Gesellschaft attraktiv, in ihnen funktionieren jugendkulturelle Akteure als umherziehende Nomaden, als Barbaren, Vandalen und räuberische Erpresser (vgl. Gebhard/Hitzler 12
2006). Dort, wo junge Heranwachsende innerhalb ihrer kulturellen Felder auf Entdeckungsreise sind, entsteht für Außenstehende ein undurchsichtiges Chaos, ein unstetes Gewimmel, das sich jedem objektiv verwertbaren Sinn zu entziehen scheint. Jugendkulturen müssen sich aber gerade einem tradierten gesellschaftlichen Sinnkorsett entziehen, denn es geht in Jugendkulturen neben der Aneignung von Welt auch darum, das eigene wahre Selbst zu berühren. Dies geschieht nirgendwo so stark und so tönend, so bunt wie in jugendkulturellen Handlungspraxen, die sich einem ästhetischen Welt- und Selbstaneignungsmodus hingeben. Jugendkulturen sind die Handlungstheater, auf deren Bühnen Jugendliche eine amouröse Berührung mit dem eigenen Selbst erfahren und auf deren Brettern das eigene zukünftige Leben inszeniert, aufgeführt und ausprobiert werden kann. Auf der Ebene solcher Praxen entziehen sich Jugendliche einer rationalen Verfügbarkeit, um in der Abstandsnahme zur Außenwelt etwas je Eigenes kreieren zu können, nämlich das eigene Selbst in der gegenwärtigen Weltstunde. In den jugendtheoretischen und bildungstheoretischen Diskursen scheint sich dieser Blick eher zu verlieren. Er ist aber so wichtig, denn hier praktizieren Jugendliche einen Weltaneignungsmodus, der sich auch dem eigenen Selbst als ‚ästhetisches Kunstwerk’ hinwendet. Dies macht den enormen Reiz und die Anziehungskraft von Jugendkulturen aus! Es geht nicht in jedem Falle darum, das eigene Selbst als ein kohärentes Selbst hervorzubringen. Es geht auch nicht darum, dem klein bisschen mehr Sinn im Leben nachzujagen. In Jugendkulturen werden Gegensätze und Widersprüche ‚kunstfertig’ in eine Art rhythmische Schwingung versetzt. Zwischenräume, Strömungen und Fluchtlinien tun sich auf, in denen sich das Selbst sinnleiblich wahrnehmen lässt und zu einer eigenen Sprache finden kann. Jeder, der einmal einen Poetry Slam verfolgt hat, wird wissen, mit welch unglaublicher Professionalität, Virtuosität und vor allem aber mit welch ästhetischer Wucht und Leidenschaft Jugendliche Sprache anzuwenden wissen, wenn sie sie zu ihrer eigenen Kultur machen dürfen und wenn der Zensor ihr Begehren nicht verstopft. In der Frage nach dem Sinn jugendkulturellen Handelns sollte der Fokus nicht nur auf die makropolitisch begründeten Diagnosen des Verschwindens jugendlicher Protest- und Widerstandskulturen gelegt werden, sondern auf die Analyse sogenannter Mikro-Widerstände, auf die ‚kleinen Kriegsschauplätze’ und ästhetischen Spielräume, die sich in den kreativen kulturellen Ausdrucksformen offenbaren. Im zunehmenden Verlust verlässlicher gesellschaftlicher Orientierungsrahmungen, und in der zunehmenden Erodierung primärer Sozialisationsinstanzen (Familie, Schule, Berufsausbildung etc.), sind Jugendliche immer mehr auf ihre selbst generierten 13
Lebensentwürfe angewiesen, in ihnen müssen sie sich weitestgehend sicher sein können, wofür und wogegen es sich einzusetzen lohnt. Neben diesen Prinzipien rationaler Vernunft kommt es aber auch zunehmend darauf an, sein eigenes Selbst zu erfahren und zu erhalten. Dies meint eine Identitätsarbeit, die das eigene Selbst vor Selbstverlust und gesellschaftlicher Desintegration zu schützen vermag (vgl. Helsper 1995). Innerhalb dieser Praktiken lernen Jugendliche, sich in der Generierung des je Eigenen von anderen zu unterscheiden und zu behaupten. Neben solchen eher sinn- und bedeutungskonstruierenden Lebenskonzepten und Selbstentwürfen nehmen kulturelle Praktiken, in denen Jugendlichen den Selbsterhalt praktizieren, einen immer wichtigeren Stellenwert ein. All dies ist auch als gelungene Bildung zu verstehen und dies gehört untrennbar zu einem Verstehen von Jugendkulturen dazu. Kulturelle bzw. ästhetische Bildung entzieht sich einstweilen einem angestrengten Sinntransport. Eine Jugend, die nicht in ihren kulturellen Praktiken und nicht in den operativen Logiken ihrer Selbstbildungspraxen verstanden wird, verliert ihre wahre Funktion als gesellschaftlicher Innovationsmotor. Das eigene Dasein im Hier und Jetzt bildet einen immer zentraleren Referenzpunkt dieser jugendlichen Identitätsprozesse, wohingegen der Blick in eine krisenhafte und offene Zukunft hierfür immer weniger zuträglich zu sein scheint. In den selbst angeeigneten kulturellen Räumen wenden sich Jugendliche von dieser krisenhaften Zukunft, von ihrer Alltagswelt ab und erfahren dadurch ihr eigenes Selbst im ästhetischen Erleben. Ästhetisches Erleben und die Erfahrung des eigenen Selbst – so mein Plädoyer – sind als solche Selbstbildungspraktiken zu verstehen und als Ausdruck von hoch wertvollen Bildungsprozessen zu behandeln. Im Kontext wissenschaftlicher Analysen zu jugendkulturellen Praktiken und Formationen ist dies weitaus ernster zu nehmen, als das bis heute der Fall ist. Beschreibende Detailstudien zu jugendkulturellen Stilen und Ausdrucksformen reichen hierfür nicht aus; sie müssen ergänzt werden durch methodische Verfahren, die präzise Aussagen darüber zulassen, wie solche kulturellen Praxen im Detail sowohl mikropolitisch als auch ästhetisch für sich selbst funktionieren. Das Verstehen jugendlicher Subkulturen, jugendkultureller Szenen und Handlungspraxen nahm spätestens Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre auch im deutschsprachigen Raum einen zentralen Stellenwert in den Sozialwissenschaften ein. Mit dem durch die englischen und amerikanischen Cultural Studies ausgelösten sozialwissenschaftlichen „cultural turn“ sind kulturwissenschaftliche Studien bis in die heutige Zeit zu einem eigenständigen, sehr breiten und gleichsam 14
beliebten Forschungsfeld geworden. Anfang der 1990er Jahre, als die aus dem englischen und amerikanischen Raum stammende ‚Rave-Kultur’ auch in Deutschland wirklich Fuß fassen konnte und zu einer der größten jugendkulturellen Massenbewegung im deutschsprachigen Raum führen sollte, haben sich eine Vielzahl von Studien mit dem jugendkulturellen Massenphänomen Techno auseinandergesetzt (vgl. dazu insbesondere: Hitzler/Pfadenhauer 2001). So war und ist man bis heute im Rahmen jugendkultureller Studien vor allem daran interessiert, Einblicke in diese kleinen Lebenswelten und Formen jugendlicher Vergemeinschaftung zu erhalten (vgl. dazu: Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001) um etwas darüber zu erfahren, wie diese kleinen Welten als Segment in der Gesellschaft funktionieren, welchem kollektiven Lebensstil sie folgen und wofür oder wogegen sie sich einsetzen bzw. stark machen wollen. Diese Fragen stellten sich umso deutlicher, als etwa gegen Ende der 1980er Jahre Jugendkulturen immer mehr zu einem attraktiven Gegenstand von mächtigen Werbe- und Kommerzmaschinen geworden sind. So drehen sich vor allem heute die Fragen darum, wie es Jugendlichen in ihren kulturellen Feldern überhaupt noch gelingen kann, einen eigenen innovativen Stil o.ä. hervorzubringen, um auszudrücken, dass sie nicht nur ein buntes Abziehbild kommerzieller und/oder medialer Systeme geworden sind. Jugendkulturen, die als ein spezifischer Ausdruck der Verarbeitung schwieriger Lebensverhältnisse gehandelt wurden, schienen fortan der tendenziellen Gefahr ausgesetzt zu sein, zur käuflichen Ware zu mutieren und schließlich als abgrenzbarer Erfahrungsraum mit seinen eigenen innovativen Fabrikationen ganz von der Bildfläche zu verschwinden. Zurückgebunden wurden diese Befürchtungen auf gesellschaftliche und/oder politische Dispositionen. Spätestens gegen Ende der 1990er Jahre schien in der Tendenz festzustehen, dass Jugendkulturen immer weniger als ein spezifischer Beitrag in der Gestaltung von Welt funktionieren. Dies führte nicht zuletzt zu einer extremen Politisierung jugendkultureller Szenen im akademischen Kontext selbst und schließlich zu den bekannten Diagnosen des Verschwindens jugendkultureller Meinungs- und Protestkulturen oder zu der Pauschalkritik, dass Jugendkulturen sich mehrheitlich aus dem gesellschaftspolitischen Diskurs zurückziehen. Dem Anspruch des Verstehens jugendkultureller Szenen und Handlungspraxen ging die Jugendkulturforschung vor allem im Rahmen lebensweltlichethnographischer orientierter Ansätze nach. Hier stand aber eher der Einblick in und die möglichst dichte Beschreibung von jugendkulturellen Szenen und Handlungspraxen im Vordergrund, als dass jugendkulturelle Sinn- und Bedeutungswelten tatsächlich durchdrungen worden wären. Vielmehr wurde bloß danach gefragt, welchen mehr oder weniger erwarteten oder gewünschten Sinn jugend15
kulturelle Praktiken auf einer makropolitischen gesellschaftlichen Ebene machen. Zu einer wirklichkeitsnahen und auf eine über das Beobachtbare hinausgehenden Analyse sind nur die wenigsten Studien insbesondere zur Technokultur vorgedrungen. Folgerichtig weiß man strukturtheoretisch gesehen über die Techno-Szene bis heute nur sehr wenig bis gar nichts. So bleibt die Frage offen, welche Strukturproblematiken wie spezifisch in und durch Techno gehandhabt und ‚gelöst’ werden. Ebenso bleibt ein Mangel dort zu festzustellen, wo es um die rekonstruktive Herleitung ganz grundlegender Krisen geht, auf die jugendkulturelle Praxen ganz konkret reagieren. Hier scheint man sich aber eher damit zu begnügen, diese Krisenkonstellationen modernisierungstheoretisch hervorzuholen. Hier vergibt sich Jugendkulturforschung viel, denn die Rekonstruktion spezifischer Fallstrukturen geht immer einher mit der Rekonstruktion ganz grundlegender gesellschaftlicher Strukturproblematiken, auf die diese Fallstruktur reagiert. (Jugend-)kulturelle und ästhetische Handlungspraxen sind dafür prädestiniert, solche Strukturkonflikte bzw. Krisen zu handhaben und zu lösen. Aus diesen spezifischen Handhabungen und Lösungen von strukturell bedingten Problematiken lässt sich innovatives Handeln in der Gestaltung von Welt fallspezifisch ausmachen und formulieren, weil sie einen Ausweg finden müssen; einen Ausweg aus der Krise. Erst die Beantwortung dieser Frage lässt es überhaupt erst zu, von einem wirklichen Verstehen jugendkultureller Szenen und Handlungspraxen und von einer wirklichen Durchdringung jugendkultureller Sinn- und Bedeutungswelten zu reden. Die vorliegende Arbeit favorisiert in einem ersten Schritt ein rekonstruktivhermeneutisches Vorgehen, in dem ein Sinn verstehender Zugriff auf jugendkulturelle Handlungspraxen möglich wird. In diesem Schritt wird anhand von ausgewählten Texten der Frage nachgegangen, wie spezifisch gesellschaftliche Strukturproblematiken von Techno zur Sprache gebracht und wie sie entsprechend gehandhabt und gelöst werden. In den konkreten Handhabungs- und Lösungsprozeduren kommen schließlich alternative Sinn- und Bedeutungskonstruktionen zum tragen, die im weitesten Sinne als das je spezifisch Eigene der Techno-Kultur bedeutet werden kann. Es werden aus den konkreten Handlungen, die in dieser Studie schriftsprachliche internetbasierte Ausdrucksgestalten sind, ganz allgemeine gesellschaftliche Strukturlogiken rekonstruiert, die in den jeweiligen Handlungen konkret bearbeitet werden und aus denen alternative Weltaneignungsprozesse‚ ‚technospezifisch’ generiert werden. Ganz grundlegend wird hier davon ausgegangen, dass Jugendliche sich diesen am spezifischen Fall offenbarenden Struktur16
bzw. Krisenproblematiken, so oder in ähnlicher Weise stellen müssen. Aus dem Fall Techno lässt sich also eine fallgebundene Spezifik bezüglich der Handhabung und Lösung von gesellschaftlichen und/oder alterstypischen Spannungs- und Krisenproblematiken im rekonstruktiv-hermeneutischen Vorgehen schlüssig herleiten. Der erkenntnistheoretische Zugewinn liegt nun aber gerade darin, dass über die Rekonstruktion technospezifischer Handhabungen sich ein Gesetzesallgemeines hinsichtlich ganz allgemeiner (gesellschaftlicher) Strukturproblematiken und der Handhabung und Lösung derselben als Jugendlicher zumindest andeuten lässt. In einem zweiten Schritt werden die gewonnen Rekonstruktionsergebnisse in den Kontext einer Theorie der Vielheiten gestellt (vgl. Deleuze/Guattari 2005). Eingebettet in ein Gesellschaftsmodell, das sogenannten Mikro-Widerständen und mikropolitischen Prozessen nachgeht, die in molekularen Segmenten von Gesellschaft auszumachen sind und die in einem spezifischen Wechselverhältnis zu den Gesetzen und Strukturen vorgefertigter Systeme in molaren Segmenten von Gesellschaft stehen (vgl. ebd. 2005), werden jugendkulturelle Handlungspraktiken als defensiv produktive, raumaneignende, gleichsam strukturreproduzierende wie strukturbildende Aktivitäten entworfen (vgl. Certeau 1988). In ihnen werden die Gesetze und Strukturen einer vorgefundenen Welt zwar auch reproduziert, vielmehr werden diese aber repräsentiert und auf ganz spezifische Weise im Verborgenen zur Sprache gebracht. Das Eigene kommt nicht im Gewande höchst offizieller Gegenentwürfe zu gesellschaftlichen Ordnungs- und Dominanzstrukturen daher, sondern findet seinen Ausdruck in der Umwandlung des Vorgefundenen hin zur Logik der je eigenen Interessen und Bedürfnisse, die sich wiederum an der Sorge um das eigene ‚wahre Selbst’ orientieren (vgl. dazu auch Foucault 2004; 2007). Ich werde zunächst im anschließenden Kapitel (Kap.2) einige theoretische Ortsbestimmungen markieren. Hier werden Popkulturen als Orte kultureller, sozialer und politischer Auseinandersetzungen markiert (Kap. 2.1). Entgegen den bekannten Thesen vom tendenziellen Verschwinden des Stellenwertes, den jugendliche Popkulturen für diese Weltaneignungs- und Auseinandersetzungsprozesse Jugendlicher einnehmen, und entgegen den Thesen, dass solche Popkulturen ins Nichts verschwinden und zu bloßen Popularkulturen diffundieren, werden in der Folge zwei Linien aufgezeigt, die jeweils in ihrer gesellschaftstheoretischen Ausrichtung kulturelle, soziale und politische Auseinandersetzungsprozesse auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Linien und Segmenten verorten und folglich jugendkulturelles Aufbegehren gegen dominante gesellschaftliche Ordnungsstrukturen auf der einen Linie als Widerstandskulturen (Kap. 2.2), jugendkulturelles Handeln als kunstvolles Handeln (Kap. 2.3) und schließlich auf der anderen Linie 17
einer Theorie der Vielfalten folgend, Jugendkulturen als Querverbindungen und Fluchtlinien in den Segmentaritäten von Gesellschaft (Kap. 2.4) bezeichnen. Im Kapitel 2.5 treffen schließlich beide Linien aufeinander und so wird am jugendkulturellen Massenphänomen Techno danach gefragt, welchen Sinn Techno – im konventionellen Sinne – als eine Widerstandskultur im aktuellen gesellschaftlichen Gewebe macht. Im Kapitel 3.1 werde ich den spezifischen Fokus der Arbeit markieren, der in der Hinwendung zu schriftsprachlichen jugendkulturellen Praktiken im Internet seinen Ausdruck findet. Damit geraten jugendkulturelle Handlungsweisen in der Anwendung der Schrift in sogenannten ‚Handlungstheatern’ (vgl. Certeau 1988) in den Blick. Diese Handlungstheater werden in der Folge als raumaneignende und strukturbildende Praktiken bezeichnet, in denen der Grund jugendkultureller Handlungspraxen gelegt wird. Schließlich wird die konkrete methodische bzw. theoretische Ablaufgestalt der Studie dargestellt. (Kap. 3.2). Im Kapitel 4 wird schließlich die Methode der Objektiven Hermeneutik möglichst dicht an den Konzeptionen von Oevermann nachgezeichnet (Kap. 4.1 bis Kap. 4.3). Im Kapitel 4.4 werden so genannte edierte Ausdrucksgestalten (vgl. Oevermann 2000) als ein besonderes Forschungsfeld für eine rekonstruktiv-hermeneutische Jugend- und Medienforschung hervorgehoben. Quasi als eine Art Lesehilfe für die ausführlichen Darstellungen der Rekonstruktionsverläufe wird im Kapitel 4.5 die Anwendung der Sequenzanalyse an einem Anwendungsbeispiel im Detail vorgeführt und erklärt. Im Kapitel 4.6 wird das Generalisierungsprinzip der Objektiven Hermeneutik erläutert und schließlich die Frage danach beantwortet, wie die konkreten Rekonstruktionsergebnisse Struktur generalisierend einzuordnen sind. Im Kapitel 5 stelle ich die zentralen Rekonstruktionsergebnisse vor. Im Kapitel 5.1 erfolgt die ergebnisorientierte Zusammenfassung der Ergebnisse aus der Rekonstruktion A, im Kapitel 5.2 die der Rekonstruktion B. Im Kapitel 6 erfolgt die weiterführende Theoretisierung der Rekonstruktionsergebnisse. Im Kapitel 6.1 wird „Gelassenheit“ als ein je spezifischer Modus einer Aneignung von Selbst und Welt markiert, der einem besinnlichen Denken folgt und sich an der Weite einer Gegenwärtigkeit im Hier und Jetzt orientiert. Diese Position wird gegen eine solche gehalten, die sich, einem rechnenden Denken folgend, am offenen und krisenhaften Zukunftshorizont orientiert (vgl. Heidegger 2004); Certeau 1988). Im Kapitel 6.2 wird dieser Weltaneignungsmodus in den Diskussionszusammenhang der widersprüchlichen Einheit zwischen Entscheidungszwang und Begründungspflicht gestellt (vgl. Oevermann 2000; Böhme/Helsper 2000). Dies meint die Frage danach, ob dieser spezifische Weltaneignungsmodus diesen grundlegenden Zwang in verschiedenen Kontexten gegebenenfalls sogar aufzulösen vermag. Das Kapitel 6.3 entwirft jugendkulturelle Hand18
lungspraktiken als raumaneignende Praktiken, die sich im Schreiben und im Erzählen einer Welt als sogenannte Handlungstheater bezeichnen lassen. Im Kapitel 6.4 wird aufgezeigt, wie sich das gegenwärtige Selbst in der Gleichzeitigkeit von Erscheinen und Verschwinden von Sinngestalten selbst erfahren kann. Es wird aufgezeigt, dass sich dies zuvorderst einer Inszenierungsleistung verdient. Im Kapitel 6.5 werde ich den Rhythmus als spezifisches Ordnungs- und Strukturierungsprinzip jugendkultureller bzw. ritueller Praxen bezeichnen, der den rhythmischen Festen eine besondere Strukturlogik verleiht. Im Kapitel 6.6 greife ich die Diskussion um das Schreiben als struktur- und raumaneignende Praktik wieder auf. Hier zeige ich auf, wie der Gesellschaftskörper symbolisch zur fleischgewordenen Inkarnation je eigener Struktur- und Ordnungslogiken wird und eine eigene Ausdrucksmaterie bildet. Im Kapitel 6.7 erfolgt schließlich eine Bündelung der bisherigen Ergebnisse, die in einen Struktur generalisierenden Entwurf von Techno als Fluchtlinie mündet. Im Kapitel 7 folgen einige abschließende Überlegungen.
19
2.
Theoretische Ortsbestimmungen und Stand der Forschung
2.1
Popkultur als Ort kultureller, sozialer und politischer Auseinandersetzungen
Ihren zentralen Referenzpunkt für kulturelle und gesellschaftliche Auseinandersetzungen finden Jugendliche in der Popkultur, die eine spezifische Lebensweise zum Ausdruck bringt, und die das Ausdrucksmedium Jugendlicher ist (vgl. Baacke 1997, Jerrentrup 1997). Popkultur ist nunmehr aber nicht generationstypisch auszumachen, sondern ist zu einem generationsübergreifenden Phänomen geworden, das gleichsam Jugendliche wie auch Erwachsene betrifft. Popkultur ist nun aber nicht nur idealtypischer Ausdruck spezifischer Lebensweisen oder -stile, ist nicht nur kulturelle Praxis, die ihre kreativen Produkte bzw. Fabrikationen schafft, sie ist gleichsam zu einem attraktiven Referenzpunkt für mächtige Kommerzmaschinen geworden. Ihre Wurzeln findet Popkultur als Kultur im Underground, und sie bringt sicher auch heute noch „ausweglose urbane Erfahrungen von Jugendlichen, die sich im Kreislauf von Arbeitslosigkeit, Drogenerfahrung und Kriminalität bewegen oder auch einfach alltägliche Sehnsüchte, Träume, (Liebes-) Erfahrungen und Ängste“ (Klein 2005, S. 46) zum Ausdruck. Pop ist aber auch unverkennbar zu einem wesentlichen Motor dieser Konsummaschinen geworden und „verbreitet (...) die Illusion der westlichen Scheinwelt und die Werte einer an individuellem Konsum orientierten Gesellschaft“ (ebd., S. 45). Die Frage, die sich also heute stellt ist die, wie es Pop als Kultur heute noch gelingt, „alternatives Welterleben“ (ebd., S. 46) in Musik, Text und (Lebens-) Stil zum Ausdruck bringen zu können oder ob sie letztendlich in den Mühlen der Pop- bzw. Kulturindustrie pulverisiert wird. Pop als Kultur bedeutet subkulturelle (Gegen-) Bewegung, Pop als Industrie bedeutet „lokale Ausbeutung von Popmusik und popmusikalischen Images“ (ebd., S. 45), Pop als Lebensweise bedeutet, Pop zu leben und zu fühlen, und Pop scheint in eben dieser engen Verzahnung von Kunst und Kommerz letztendlich zu einer ebensolchen Illusion bzw. zu einem ebensolchen Mythos zu werden, wie die 21
Lebensspanne Jugend selbst schon. Ständige Bewegung, Übergänge und Transformationen lassen die alternativen Weltzugänge und die alternativen Formen des Welterlebens immer labiler erscheinen und bringen selbstverständlich die kulturpessimistisch geprägte Frage nach dem Halb-Wert jugendlicher Popkulturen auf den Tisch. Dies liegt nicht zuletzt auch daran, dass Popkulturen spätestens seit den 1970er Jahren extrem politisiert wurden und sich Analysen zur Popkultur maßgeblich an dem Verhältnis von Underground und Mainstream und insgesamt an der Frage danach orientierten, welche spezifischen Gegenkulturen Jugendliche in der Abgrenzung zum Establishment hervorbringen und welche Ideale bzw. übergeordneten Ziele sich in ihnen ausdrücken. Dies hat sich bis heute fortgesetzt, und so taucht nach wie vor in aktuellen immer wieder die Frage danach auf, welche spezifischen politischen Orientierungen Jugendlicher sich in jugendkulturellen Praxen ausmachen lassen bzw. wie Jugendliche ganz allgemein zu Politik stehen (vgl. Meyer 1994, 2000, 2001; Pfaff 2006; Pfaff/Krüger 2006; Roller/Brettschneider/v. Deth 2006). Folgerichtig argumentiert etwa Klein: „Mit ihrer Politisierung wurde die Popkultur zum Feld sozialer Auseinandersetzungen stilisiert. Die Kämpfe spielten sich dabei aber nicht in erster Linie in der Realworld ab, sondern auf den intellektuellen Kampffeldern, in den theoretischen Texten“ (Klein 2005, S. 47). Was sich bei Klein jedoch als eine eher nüchterne Feststellung liest, bedeutet streng genommen eine enorme Forschungslücke in der aktuellen Analyse von Popkulturen bzw. jugendlichen bzw. jugendkulturellem Widerstandskulturen. Aktuell bleibt man nämlich auf der Diagnose sitzen, dass sich Popkultur als eine Widerstandskultur eher überlebt hat. Wenn mehr oder weniger politisch motivierte jugendkulturelle (Gegen-) Bewegungen zu beobachten wären, dann dienten sie maximal der gesellschaftlichen Anerkennung oder der Wahrung eigener Interessen. So stellt Meyer (2000) etwa in Bezug auf die Techno-Szene fest, dass aus deren kultureller Praxis „auch Phänomene der Politisierung >resultieren@, die jedoch nicht auf eine gegenkulturelle Transformation der Gesellschaft abzielen, sondern primär an der Einschränkung individueller Autonomie anknüpfen“ (ebd. 2000, S. 159). Es entsteht der Eindruck, dass in den Fragestellungen solcher Analysen immer wieder nach genau diesen Phänomenen gesucht wird, deren Verschwinden oft genug diagnostiziert wurde. Solche Analysen zu politischen Phänomenen in jugendkulturellen Szenen reproduzieren nicht nur dieses überholte Modell jugendkultureller Widerstandskulturen, sie verorten jugendkulturellen Widerstand allein auf einer harten Linie, welche die Diagnose des Verschwindens jugendkulturellen Widerstands stets perpetuiert. Makropolitisch mag das alles stimmen, eine Perspektive jedoch, welche die mikropolitischen Bewegungen und Aktivitäten in den Blick nimmt, bleibt eine 22
Perspektive, die in den aktuellen Studien zu Jugendkulturen weitestgehend ausgeblendet wird. Was meint Klein mit der kühlen These, dass sich mit dem „Überleben des alten Gegensatzes von Mainstream und Underground (...) sich die Popkultur überall hin verstreut >hätte@“ (Klein 2005, S. 48), und was meint sie, wenn sie sagt „Pop als Industrie habe Pop als Lebensweise und als widerständige Kulturpraxis kolonisiert und den Sieg des neoliberalen Systems einer globalisierten Kulturindustrie über die Lebenswelt Pop davongetragen“ (ebd., S. 48)? Bedeutet dies in der letzten Konsequenz wirklich nicht mehr, als dass man sich nunmehr damit begnügen muss, dass sie (die Popkultur) nur weil sie überall hin verstreut ist und sie ihre Konturen verloren hätte, „auf diese Weise zum Verschwinden gebracht worden“ (ebd., S. 48) und zur „Populärkultur diffundiert“ (ebd., S. 48) sei? Oder funktioniert eben jener alte Gegensatz von Mainstream und Underground als Erklärungsmodell für eine zeitgenössische Analyse von jugendlichem bzw. jugendkulturellem Widerstand nicht mehr? Wenn Popkultur sich in alle Richtungen verstreut und auf etwas Offenes und Unbestimmtes hinausläuft, wenn ihre Konturen allenfalls als Motor von Kommerzmaschinen und somit auf einer harten molaren Linie noch erkennbar sind, wenn Lebensstile und Subkulturen „flüchtig und schnelllebig sind“ (Klein 2005, S. 47), muss sich Jugendkulturforschung gerade mit dieser Flüchtigkeit, Mannigfaltigkeit und Bewegung, insgesamt also mit einer Nomadisierung jugendlicher Popkulturen und mit der Heterogenität im jugendkulturellen Raum als ein neues Strukturprinzip theoriegenerierend auseinandersetzen, statt nach Homogenitäten und Eindeutigkeiten zu suchen. Deleuze und Guattari (2005) haben einen alternativen Weg in der Analyse (nicht nur) von Popkulturen vorgeschlagen. Die Autoren führen in eine Perspektive ein, die eine Diagnose des Verschwindens von Phänomenen ins Nichts strukturell verunmöglicht: das Verschwinden wird zum Strukturprinzip als Fluchtlinie, die neue Strömungen und Quanten aufmacht. Dem liegt ein anderes Gesellschaftsmodell zugrunde, das mit dem Gesellschaftsmodell, das für die Cultural Studies so prägend war, wenig gemein hat. Im Gesellschaftsmodell der genannten Autoren existieren kein Oben und kein Unten; keins ist dem anderen nach- oder untergeordnet. Den Referenzpunkt dieses Gesellschaftsmodell bildet die Mitte, also das Wechselverhältnis bzw. das Oszillieren zwischen einem Oben und einem Unten, das sinnlogisch die Definition von Widerstand anders darstellt. (Mikro-) Widerstände gehören zu jeder Gesellschaft strukturbildend wie -erhaltend dazu. Gesellschaftliche oder kulturelle Phänomene sind aus ihren Mitten heraus zu betrachten. 23
Eine solche Perspektive versteht sich als ein Plädoyer für eine Analyse, die das Verhältnis von herrschenden und unterdrückten kulturellen Ordnungen nicht in seiner hierarchischen bzw. pyramidenartigen Logik angeht, sondern die ein Gesellschaftsmodell zugrunde legt, in dem prinzipiell von einem gegenseitigen und strukturellen Wechselspiel zwischen sogenannten molaren (makro-politischen) und molekularen (mikro-politischen) Linien oder Segmentaritäten ausgegangen wird (vgl. Höller 1996, S. 59; Deleuze/Guattari 2005, S. 290). Dabei sind die molekularen Linien den molaren Linien nicht nachgeordnet, sondern sie stehen in einem konstitutiven Wechselverhältnis zueinander. Wenn man so will, besteht eine strukturelle Korrespondenz zwischen harten gesellschaftlichen Ordnungen auf der einen Seite, die zwar gesellschaftliche Normierungen („Hemmungsphänomene“) festschreiben, und weichen molekularen Linien auf der anderen Seite, die einen ständigen Bruch bzw. eine Flucht („Unruheherde“) von diesen harten gesellschaftlichen bzw. kulturellen Ordnungsstrukturen bedeuten können, aus der eben Widerständisches und Neues hervorgehen kann: Fluchtlinien und Quanten. In dieser Perspektive wird das Strukturprinzip von Bewegung und Flucht als solches ernst genommen und steht nicht vordergründig als ein Verschwinden von etwas, das sich sinnlogisch dem Auge und Ohr dann entzieht, wenn der Blick in der Analyse von (jugendkulturellen) Widerstandsritualen auf einer rein makropolitischen bzw. molaren Ebene harter Segmente erstarrt. In der Tradition der Cultural Studies fungieren derartige Territorien als ein Ort kultureller, gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen; Bewegungen dieser Auseinandersetzungen funktionieren als ein Aufbegehren unterdrückter gegen herrschende Klassen. Heute, da sich diese Gegensätze kaum mehr halten lassen, verschwinden diese subkulturellen Gegenbewegungen in der Tat, wenn sie nur auf der Ebene molarer Linien verfolgt werden. Auf der Ebene molekularer Linien und Segmentaritäten breiten sich „im Gegensatz zu linearen oder dialektischen Entwicklungen“ (Höller 1996, S. 60) sogenannte „Plateaus“ aus, die so etwas wie „zusammenhängende, in sich vibrierende Identitätszonen“ sind, „die sich ohne jede Ausrichtung auf einen Höhepunkt und ein äußeres Ziel“ (Deleuze/Guattari 2005, S. 37) ausbreiten. Damit geraten „äußerst feine unterirdische Stränge“ (ebd., S. 37) in den Blick, die gefügeartig bzw. rhizomartig miteinander verbunden sind. Dies ist kein Blick von oben nach unten oder von rechts nach links, sondern dies ist ein Blick von der Mitte aus (vgl. ebd., S. 39). Es bietet sich an, jugendkulturelle Praxen in der Suche nach Widerstandspotenzialen von der Mitte aus zu betrachten; eine Mitte, welche die Verhältnisse in ein leises Schwingen geraten lässt, nicht als (Makro-)Widerstände und Spannungen, die sich in Antinomien und Paradoxien 24
verhärten, und die definieren sollen, ob eine Jugend politisch oder unpolitisch sei, sondern als Mikro-Widerstände, die nur schwer lesbare neue Querverbindungen, Strömungen und Quanten einschlagen, die zunächst einmal mit Politik, Protest oder Widerstand im konventionellen Sinne nichts zu tun haben wollen. In den nun folgenden beiden Abschnitten werde ich diese beiden Logiken des Verständnisses von jugendlichem bzw. jugendkulturellem Protest bzw. Widerstand kontrastiv gegeneinander halten. Protest und Widerstand wird in der ersten Linie, die der Tradition der Cultural Studies folgt, als ein Widerstand der beherrschten gegen die herrschenden kulturellen Ordnungen verstanden. Widerstands- und Protestkulturen fungieren quasi als ein Aufbegehren von unten nach oben und zeichnen eher auf einer makropolitischen Linie höchst offizielle Widerstandskulturen vor dem Hintergrund gewesener Jugend- oder Studentenbewegungen nach. In einer zweiten Linie werden diese Widerstands- oder Protestkulturen als sogenannte Mikro-Widerstände entworfen, die nun aber keinem höheren Ziel, keinem höheren Sinn oder einer großen Utopie nachjagen, sondern hier werden die kleinen im verborgenen liegenden Mechanismen des Aufbegehrens und das nomadische Umherwildern in vorgefertigten funktionalisierten Systemen in den Blick genommen. Auf einer handlungstheoretischen Ebene bedeutet dies die Hinwendung zu den Taktiken als operative Logiken, die das Wildern in der Sprache vorgefertigter Systeme zum Zwecke je eigener Interessen und Bedürfnisse bezeichnet. Dominanten kulturellen Ordnungen werden keine besseren oder schlechteren Entwürfe gegenübergestellt, sondern die vorgefundenen Logiken dominanter kultureller Ordnungen und Systeme werden in einer Weise umfrisiert, bis sie den eigenen Interessen und Bedürfnissen genügen. Auf einer strukturtheoretischen Ebene bedeutet dies die Hinwendung zu einem Modell von Gesellschaft, das Widerstand und Protest als ein ‚mittiges’ und gleichsam als strukturbildendes wie strukturreproduzierendes Prozedere anerkennt, in dem die einstmaligen Widerstands- und Protestkulturen zu Fluchtlinien werden, die sich ihrerseits nunmehr nicht an höheren Zielen oder Idealen orientieren. Sie lassen sich auch nicht an den Kräfteverhältnissen des Einen zum Anderen messen, sondern sie offenbaren sich in den neuen Strömungen und Quanten, aus denen auch gesellschaftliches Neues hervorgeht. Solche Fluchtlinien entstehen gerade dort, wo aufgrund des Mangels aber auch des Überschusses (das macht keinen Unterschied) an Sinn und Bedeutung mit bewährten Logiken gebrochen wird, ohne bereits etwas fertiges Neues anbieten zu können. Dies muss dissipativ gedacht werden, sonst macht das Sprechen von Fluchtlinien und Nomaden keinen Sinn. 25
Aus diesen Fluchtlinien gehen nun Strömungen und Quanten hervor. Ein neuer Grund wird geschaffen, aus dem gesellschaftliches Neues überhaupt hervorgehen kann: Gründen statt Begründen. Solche Strömungen und Quanten ziehen immer wieder neue Kreise, Territorien oder Zwischenräume in denen Neues potenziell ausgemacht werden kann (vgl. Deleuze/Guattari 2005). Einer solchen Denkweise liegt die These zugrunde, dass gegenwärtig Gesellschaft nur noch unzureichend in der Orientierung an bipolaren, linearen, monolithischen und hierarchischen bzw. pyramidenartigen Modellen erklärt werden kann. Wir haben wir es vielmehr mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen zu tun, die sich in weitaus komplexeren und subtileren kulturellen Strömungen ausdrücken, die sich zunehmend mehr vom Projekt einer besseren Welt verabschieden und in Zwischenräumen wildern, und die sich kaum mehr das höchst offizielle Eintreten für oder gegen etwas auf die Fahne schreiben. In einer solchen Welt lohnt es sich, den Blick auf die Mitten oder Zwischenräume zu richten, in denen Protest und Widerstand insofern im Verborgenen offenbart wird, als die Mechanismen des Zeigens und Verbergens von Potest und Widerstand in ein leises Summen, Zwitschern, rhythmisches Schwingen oder Rütteln versetzt werden. Dies entzieht sich dem gewohnten Blick. Gegenwärtig scheinen wir keine Augen und keine Ohren dafür zu haben, weil wir uns daran gewöhnt haben, die Hervorbringung des gesellschaftlichen innovativen Neuen an höheren und besseren Konzepten, Idealen, Zielen und Utopien festzumachen. Ohne diesen Blick auf die stets neuen Irrlinien, die Bewegungen ohne festgesetztes Ziel sind, die keinen neuen und größeren Sinn garantieren, sondern immer wieder neue Strömungen und Quanten auftun, befinden wir uns in der Suche nach dem gesellschaftlichen Neuen, das als ein Beitrag der Jugend in der Gestaltung von Welt erwartet wird, weiterhin in einer Sackgasse. Statt weiterhin der verzweifelten Suche nach den Widerständen, Protesten und Meinungsbildern alter Logik nachzujagen, müssen komplexe Wegstrecken und Routen gezeichnet werden, die der Heterogenität im jugendkulturellen Raum gerecht werden. Dort, wo Mannigfaltigkeiten und fließende bzw. fluchtartige Bewegungen zum Strukturprinzip werden, verbietet sich die Herstellung von Homogenitäten und Eindeutigkeiten.
26
2.2
Jugendkulturen als Protest- und Widerstandskulturen
Das etablierte Verständnis von Widerstand und Protest findet seine Wurzeln in den Studien zur Subkulturforschung des im Jahre 1964 gegründeten Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS), das sich zumindest noch in den frühen Studien besonders am Klassenmodell und an den Alltagskulturen sogenannter Minderheiten (Arbeiterkultur) im Verhältnis zur Mehrheitskultur orientierte. Heute, da sich diese einstmaligen Klassenunterschiede weitestgehend verschoben haben und neue gesellschaftliche Unterscheidungen hinzugekommen sind, müssen aktuelle „so diffuse Inhalte wie Jungsein, Marginalisiertsein, alltägliche Machtkämpfe, politische Auseinandersetzungen, sexuelle Konflikte, Probleme von Ethnizität, Zukunftsaussichten, schließlich die ganze Palette von Pubertäts-, Jugend- und Lebensbewältigung“ (Höller 2005, S. 56) anders behandelt werden. All dies muss folglich zu einer zeitgemäßen Analyse aktueller Jugendbewegungen und Jugendkulturen führen, die jugendlichen bzw. jugendkulturellen Widerstand nunmehr nicht in einer am Klassenmodell orientierter Logik nachgehen, sondern die die Mikroprozesse jugendkulturellen Protests innerhalb von Gesellschafts- und Machtformationen in den Blick nehmen. Ihren ganz frühen Ursprung finden Cultural Studies in den sogenannten English Studies, die in der Herausbildung nationalstaatlicher Interessen im späten 19. Jahrhundert Sprache und Literatur als ein Leitmedium von Kultur definierten. Der Sprach- und Literaturunterricht sollte der Herausbildung englischnationalistischer Identität dienen. Kultur wurde also noch nicht – so wie in den späteren Cultural Studies – als Produkt alltäglicher Kreativität bedeutet, sondern als normativ-ästhetische und moralische Instanz, die von elitären Vertretern der Literatur und im sogenannten Literaturkanon repräsentiert werden sollte (vgl. Lutter/ Reisenleitner 2002, S. 17). Diese elitären Vertreter sollten gewissermaßen als moralische Vorbilder dienen, an denen sich der Charakter der Minderheiten ausformen und schließlich sich eine englisch-nationale Identität, schlechthin also „Englishness“ (ebd., S. 16) konstituieren sollte. Kulturaneignung sollte vermittels des Literaturstudiums und der Sprachausbildung quasi von oben nach unten als hegemonial wirkende kulturelle Praktik funktionieren: „Der Englischunterricht wurde als Priorität des Bildungswesens bezeichnet und als >>Ansatzpunkt (lever) für die Erziehung der Massen<< angesehen“ (ebd., S. 17). Dies – so führen Lutter/Reisenleitner weiter aus – kann auf die Arbeiten des Kulturkritikers Matthew Arnold zurückbezogen werden, der Kultur als „moralisches Leitsystem“ (ebd., S. 17) nicht nur anerkannt, sondern der Literaturkritik und 27
dem Literaturunterricht die Aufgabe zugesprochen hat, „dieses System kanonisch abzusichern (...) und zu vermitteln (ebd., S. 17). Parallel zu diesen elitären Hochkulturen, die sich in Eliteschulen und -universitäten herausbildeten, entwickelte sich „weitestgehend unbehelligt von direkter Intervention der herrschenden Klasse“ (ebd., S. 18) aber schnell eine starke und weitestgehend eigenständige Arbeiterkultur die im Rahmen von Erwachsenenbildungsmaßnahmen Zugang zu Bildung bekommen hatte. Im Zuge dessen traf eine elitäre Tradition auf die Vorstellungen der Arbeiterkultur: „Die ideologische Vereinnahmung durch das Bürgertum sollte nun den >respektablen< Teil der Arbeiterklasse über den Englisch- und Literaturunterricht in die Kultur des Bildungsbürgertums eintreten lassen und durch den gemeinsamen kulturellen Horizont >regierungsfähig< machen, gleichzeitig jedoch auch seinen Wurzeln in der Arbeiterkultur entfremden“ (Lutter/Reisenleitner 2002, S. 18). Hier kann man bereits erkennen, was Deleuze/Guattari als ‚Maschinenarbeit’ bezeichnen. Auf der einen Seite die abstrakte Maschine der Übercodierung auf der harten Linie von Hochkulturen, die molekular ausgerichtete Segmente der Gesellschaft (sogenannte Unruheherde oder Mutationsmaschinen) auf die Logiken und Gesetze übergeordneter Systeme einstimmen. Deutlicher in den Vordergrund trat die Betrachtung der Popularkultur durch die Literaturkritiker F.R. und Q.D. Leavis und der Zeitschrift Scrutiny, wenn auch nach wie vor unter normativ-wertender Perspektive (vgl. Lutter/Reisenleitner 2002 S. 18). In der Tradition Matthew Arnolds war insbesondere F.R. Leavis, motiviert durch den nach dem ersten Weltkrieg zunehmenden amerikanischen Einfluss, der eine kommerzialisierte Massenkultur zu begünstigen drohte, davon überzeugt, dass es nunmehr darauf ankäme, „die schädlichen Komponenten der Massenkultur zu identifizieren, zu beschreiben, und die besonderen Qualitäten des Kanons darzustellen, um die vermeintliche (ästhetische) Überlegenheit zu demonstrieren“ (ebd., S. 19). Die Betrachtung und Beschreibung der Popularkultur diente somit ganz klar der Bewahrung elitärer bzw. hochkultureller und hegemonialer Praktiken, die als moralische und ästhetische Leitkultur fungieren sollten; „Auswahl und Wertschätzung einer so verstandenen Kultur >könne letztendlich@ nur von einer Elite geleistet werden (...), die die Masse führte, deren Elitestatus andrerseits jedoch nur durch das Verständnis der ästhetischen Werte von Kultur legitimiert und somit zum sozialen Distinktionsmechanismus wurde“ (ebd., S. 19). ‚Leavisismus’ – so bilanzieren Lutter/Reisenleitner schließlich – „war damit in den englischen Geisteswissenschaften das einzige intellektuelle Feld, in dem eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Popularkultur stattfinden konnte, und zwar durch die Anwendung 28
literaturwissenschaftlicher Methoden, die die Überlegenheit der Hochkultur zu beweisen hatten und dem Kulturverfall entgegensteuern sollten“ (ebd., S. 19f.). Die eigentlichen Gründerväter der später folgenden Cultural Studies stammten nun gerade aus dem Kontext dieser Erwachsenenbildungsprogramme und waren die Experten dieser sogenannten „University extension programmes“ (ebd., S. 18). Sie „brachten ihre eigenen persönlichen Erfahrungen mit ausgegrenzten kulturellen Formen und Praktiken in diese neuere Diskussion um Bildungsinhalte und den traditionellen Kanon ein. Die Betrachtung der Stellung von Popularkultur kam erstmals losgelöst von normativ-wertenden Implikationen in Hoggarts (1958) Text „The Uses of Literacy“ in den Blick und plädierte dafür, dass Popularkultur nicht vom (hochkulturellen) traditionellen Literaturkanon ignoriert werden dürfte (vgl. Lutter/Reisenleitner 2002, S. 21). Vielmehr müsse sich das Studium des traditionellen Kanons wissenschaftlicher Werke auch einem „Verständnis aller Arten schriftlicher und vieler anderer Formen kultureller Erzeugnisse“ (ebd., S. 21) öffnen. Mit diesem Ansatz wurde dem traditionellen Kanon erstmals der ästhetisch-moralische Führungsanspruch und jegliche Formen hegemonialer kultureller Praktiken in der Vermittlung von Authentizität und Wirklichkeit ihre Alleingültigkeit abgesprochen. Kultur bedeutete eine aus dem alltäglichen Leben hervorgehende Kreativität und sie sei damit so etwas wie „Ausdruck und Form einer spezifischen Ästhetik, die das Gemeinschaftliche betont und sich in einer intensiven Erfahrung und Gestaltung des Alltags, der Lebens-, Arbeits-, und Freizeitrituale ausdrückt“ (Lutter/Reisenleitner 2002, S. 21). Deutlich wird damit der Blick auf die Formen der Gemeinschaftsbildung, die das abhanden gekommene Gefühl von community vor dem Hintergrund des Aufweichens eines ursprünglichen Klassenmodells wiederherstellte. Das tägliche Leben sei damit zu einer kulturellen Praxis geworden, das jenes ‚echte’ Gefühl von Gemeinsamkeiten erfahrbar werden lässt; keine hegemoniale klassenorientierte Kultur, sondern eine Kultur, die im Alltag gelebt wird und die aus diesem Alltag hervorgeht. Jene im alltäglichen Leben gesammelten Erfahrungen („lived experience“) wurden zum Ausgangspunkt für wissenschaftliche Analyse: „ein methodisches Vorgehen, das für die Cultural Studies bestimmend werden sollte“ (ebd. S. 21). In seiner Abhandlung „Culture and Society 1780-1950“ setzte sich schließlich Williams (1958), der ähnlich wie Hoggart stark von einer proletarischen Kultur geprägt war, mit dem Konzept culture auseinander und konzentrierte sich dabei auf „Äußerungen von Schriftstellern und Dichtern der Zeit, die es als Indizien einer neuen Einstellung ansah“ und die schließlich zur bekannten Definition von Kultur als „umfassende Lebensweise, ... als Weg, all unsere gemeinsamen Erfah29
rungen darzustellen“ (Lutter/Reisenleitner 2002, S. 23) führte. Den Alltagserfahrungen und den aus ihnen hervorgehenden kulturellen Erzeugnissen wurde ihre je eigene Qualität zugeschrieben, allein ihre massenhafte Verbreitung könne diese Wertigkeiten nicht von vornherein festlegen, sondern müsse je spezifisch „innerhalb einer kulturellen Gattung, wie Film oder Zeitung (...) bewertet werden“ (ebd., S. 23). Dies bedeutet, dass Kultur nicht mehr aus hochkulturellen und elitären Praxen hervorgeht, sondern selbst das Produkt und Erzeugnis einer spezifischen Lebensweise und spezifischer Alltagserfahrungen ist. Alltag und spezifische alltagskulturelle Erfahrungen müssten demzufolge in ihrer Wertigkeit und Qualität gleichauf mit denen von Kunst und Literatur behandelt werden. An diesem Scheitelpunkt sollten sich Cultural Studies als Disziplin der Gesellschaftsanalyse etablieren und so wurde ihnen zunehmend mehr ihr soziologischer Ort zugewiesen. Thompson, ebenfalls einer der zentralen Wegbereiter der späteren Cultural Studies, der wie Hoggart in der Arbeiter- und Erwachsenenbildung tätig war, betonte nun stärker „das Element des Konflikts zwischen (klassenspezifischen) Erscheinungsformen“ (Lutter/Reisenleitner 2002, S. 25). Ebenso wie Hoggart wehrte er sich gegen die Vorstellung, dass sich Klassenbewusstsein und die Gewahrwerdung einer eigenen klassenspezifischen Identität an einen ökonomischen Determinismus gebunden sei. Klassenbewusstsein bzw. der Sinn der eigenen Identität ginge vielmehr aus seiner prozessualen Entstehung („Making“) hervor, die spezifische Erfahrungen schafft. Der Arbeiterklasse fällt ihre Klasse nicht vor dem Hintergrund eines ökonomischen Determinismus zu, sondern sie erarbeitet sie sich selbst innerhalb eines historischen Prozesses, indem sie „eine lebendige, politisch selbstbewusste kulturelle Basis für ihre Formation schuf“ (ebd., S. 26). Der Konflikt, der nachgerade das spezifische Verhältnis von Hoch- und Popularkultur ausmacht, liegt Thompson zufolge gerade in den marginalisierten Bedeutungen „der Sackgassen und Misserfolge, der Unterdrückung von Ritualen und Institutionen, die Unterwerfung bedeuten, aber auch fortwährend Widerstand sichtbar machen“ (ebd., S. 25), die es zu beschreiben und zu interpretieren gilt. Der (unterdrückten) Geschichte der Arbeiterklasse sei als einer ‚Geschichte von unten’ ein Sprachrohr zu verleihen um die Konflikte, die zwischen herrschender und populärer Kultur ausgemacht wurden, zu ‚lösen’ und insgesamt Kultur als Motor historischer und innovativer gesellschaftlicher Veränderungen anzuerkennen. Diesen genannten Vertretern verdanken die Cultural Studies ihren zentralen Gegenstandsbereich ihrer Analysen und Beschreibungen: Arbeiterkultur als eine aus dem alltäglichen Leben hervorgehende kulturelle Praxis, die ihre Nahrung aus den 30
Alltagserfahrungen bezieht und so ein eigenes Klassenbewusstsein, eine klassenspezifische Identität und das Gefühl der Zugehörigkeit („community“) erhält. Ihre entscheidende theoretische Wende hat das CCCS jedoch erst unter der Leitung von Stuart Hall erfahren. Zunehmend mehr verlagerte sich das ursprüngliche Interesse an den Alltagskulturen der Arbeiterklasse hin zu den Massenmedien als Vermittlungsinstanz moderner Popularkulturen. Mittelpunkt dieses Interesses bildete nunmehr die Betrachtung des Verhältnisses von Ideologie und Medien. Das CCCS öffnete sich damit nicht zuletzt den semiotischen und strukturalistischen Zugängen, die unter dem Einfluss des (Post-) Strukturalismus standen. Kultur wurde nun als „Feld der Auseinandersetzung um die Definition von Bedeutungen >gelesen<, Medientexte einer exemplarischen Analyse der Wirkungsweise von Ideologie unterzogen, um herauszufinden, durch welche Vorgänge die Verteilung politischer Macht und ökonomischer Ressourcen durch kulturelle Prozesse als natürlich, fair und normal präsentiert, also zu einem gemeinschaftlichen common sense wird“ (Lutter/Reisenleitner 2002, S. 30). Nicht zuletzt führte die Komplexität des Ideologiebegriffs und die damit verbundene Anerkennung der prinzipiellen Vieldeutigkeit kultureller Botschaften zu einer zunehmenden Verschiebung der für die 1970er Jahre noch typischen Auseinandersetzung mit ideologiekritischen Analysen der kulturellen Praktiken im Kontext von gesellschaftlichen Machtverhältnissen, hin zu einem Verständnis von Kultur als diskursive Formation und lenkte somit in den späten 1980er Jahren den Blick eher auf die Frage, „wie im Alltagsleben auf Machtverhältnisse reagiert wird, wie versucht wird, mit ihnen zurechtzukommen, ihnen zu entrinnen bzw. sie zu verändern“ (Winter 1999, S. 37). Dieser Blick war weitestgehend von Gramscis Hegemonietheorie geprägt, die in den Cultural Studies der frühen 1980er Jahre leitend gewesen ist und die die Voraussetzung dafür gab, „das Populäre als Ort sozialer Auseinandersetzungen zu bestimmen, an dem für und gegen die Kultur des Machtblocks in einer Gesellschaft gekämpft wird“ (ebd., S. 37). Dies schließt in der Perspektive auf die Analyse der Populärkultur „diese beiden konträren Bewegungen des >In-Schach-haltens< und der >Vereinnahmung< auf der einen Seite und die des >Widerstandes< auf der anderen Seite“ (ebd., S. 37) ein. Neben den zentralen Begriffen wie Kultur und Macht setzten sich Cultural Studies nunmehr auch in der Analyse von Popularkultur mit den Möglichkeiten des Widerstandes gegen gesellschaftliche, kulturelle, ideologische und politische (Macht-) Blöcke auseinander. Unterdrückte kulturelle Formationen, die nunmehr nicht nur im Kontext von Arbeiterkulturen auszumachen sind, sondern vielmehr alle möglichen kulturellen Ausdrucksformen einschließen, die sich gegen den elitären Hegemonialanspruch dominanter Kulturen 31
und Formationen richten, standen nun im Mittelpunkt der Betrachtung. Nicht zuletzt ist diese Öffnung des Untersuchungsfeldes durch die feministische Kritik vor allem unter dem Einfluss von Mc Robbie dafür verantwortlich gewesen, dass sich im Bereich der Cultural Studies die Blickrichtung auf Fragen der Identitäts-, Subjektivitäts- und Geschlechterkonstruktion über/durch Kultur ausweitete. Kulturelle Vielfalt, Mannigfaltigkeit spezifischer sinn- und bedeutungsproduzierender Erfahrungen und kultureller Ausdrucksformationen, die zunehmende Aufweichung streng marxistisch orientierter Klassenmodelle, die sich an ökonomischen Determinismen orientierten, die Aufweichung des Ideologiebegriffs und der zunehmende Einfluss (post-) strukturalistischer und später dekonstruktivistischer Ansätze, führten schließlich zur weiteren Theorieoffenheit der Cultural Studies und zu einer dominanten Konzentration auf Textanalyse (und den folgenden ethnographischen Methoden), die die Rolle von Geschichte und Alltagskultur etwas in den Hintergrund geraten ließ. Kulturelle Texte gaben unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen je spezifische Möglichkeiten der produktiven und subversiven Auseinandersetzung mit dominanten Kulturen und Machtstrukturen, die es zu unterlaufen und denen etwas je Eigenes entgegenzusetzen gilt. Bedeutungen kultureller Formationen seien nicht mehr durch eine dominante Ideologie vorbestimmt, sondern seien abhängig von ihrer jeweils spezifischen Erfahrung in der Auseinandersetzung mit Bedeutungsvielfalten. Sinn und Bedeutung wird somit nicht als vorbestimmt akzeptiert, sondern wird in den dynamischen Auseinandersetzungs- und Aneignungsprozessen immer wieder neu hergestellt: „Der intertextuell (durch den Bezug auf andere Texte der gleichen Gattung) und der intertextuell (durch den Bezug auf andere Textsorten) bedingte Überschuss an Bedeutungen, der den kulturellen Formationen inhärent ist, produziert immer neue Möglichkeiten von pleasure und identity, die Option für Widerstand bieten, gleichzeitig aber auch der Macht ihrer hegemonialen Interpretation (durch den Kapitalismus) unterworfen sind“ (Lutter/Reisenleitner 2002, S. 32f.). Die manipulative und kontrollierende Kraft der Massenmedien, die durch die Kritische Theorie der Frankfurter Schule und ihren bekannten Vertretern im Kontext der amerikanischen Cultural Studies auf den Plan gerufen wurde, durchkreuzte gewissermaßen die optimistischere Sicht auf sogenannte Gegen- bzw. Widerstandskulturen. Denn so wurde Massenkultur aus diesem akademischen Kontext heraus als etwas grundlegend Negatives betrachtet, das widerständisch oder subversiv kaum zu unterlaufen sei. Massenkulturen in modernen kapitalistischen Gesellschaften seien durch Industrialisierung und Kommerzialisierung und aufgrund des Wahrencharakters ihrer (kulturellen) Produkte nichts anderes als ein ideo32
logisches Instrument der Manipulation der unterdrückten Klasse durch die herrschende Klasse. Jede Form kultureller Produktion liefe so unweigerlich aufgrund ihres Warencharakters und ihrer gleichzeitigen Produkt- und Marktorientierung darauf hinaus, ihre widerständische oder subversive Aneignung zu verhindern (vgl. dazu: Horkheimer/Adorno 2003). In dieser Spannung, die Hall (1980) in seinem encoding/decoding Modell „des >Lesens< von Symbolen und Bedeutungen, Strategien und Ideologien in Massenmedien“ (Lutter/Reisenleitner 2002, S. 38) ausformulierte, ginge es in der Analyse kultureller Praxen darum, danach zu schauen, wie zwischen der bedeutungsproduzierenden Macht der Massenmedien (encoding) auf der einen Seite und der je spezifischen Verwendung, also das je spezifische ‚Lesen’ dieser (dominanten) Bedeutungsangebote (decoding) auf der anderen Seite im Sinne eines zirkulären Vorgangs den Rezipienten dieser so gebotenen Texte es gelingt, diese mit je eigenen Bedeutungen zu versehen. Insgesamt betrachtet haben die Cultural Studies in den 1980er Jahren unter der Leitung des CCCS durch Hall ihre wohl produktivste Phase durchlaufen, und so gingen aus dieser Zeit die bis heute vielzitierten Werke und Studien zur Jugendkulturforschung hervor, die maßgeblich für den Boom kulturwissenschaftlicher Fragestellungen bis in die 1990er Jahre im deutschsprachigen Raum verantwortlich sind. Dieser so ausgelöste „cultural turn“ in den Sozial- und Geisteswissenschaften hat bis heute seine Wirkung nicht verfehlt. Nur wird die Frage danach, wie Jugendkulturen sozial und semiotisch situiert sind, heute zu einer immer schwieriger zu beantwortenden Frage (vgl. Höller 1996, S. 58). Die Cultural Studies der 1970er und 1980er Jahre haben sich ganz klar an der zentralen Kategorien Jugend orientiert; sie ‚funktionierte’ als Opposition zwischen einer dominanten Kultur auf der einen Seite und sub- bzw. gegenkulturellen Praktiken und Ausdrucksformen auf der anderen Seite (vgl. ebd., S. 58). Zentrale Studien und Feldforschungen aus dieser Zeit haben zeigen können, dass Pop die musikalische Artikulation einer zweifachen Opposition war: „gegen die spießigen Eltern >und@ gegen den >gemainstreamten< Durchschnittsbürger“ (ebd., S. 59). Heute, da Eltern wieder zu Vorbildern werden und die einstmaligen Minderheiten selbst zum Mainstream und zu bloßen Konsumenten zu verkommen scheinen, treten jene Widersprüche, mit denen nicht zuletzt die Cultural Studies selbst immer wieder zu tun hatten, immer deutlicher hervor. Dies provoziert folgerichtig die von Höller ins Spiel gebrachte Frage, wie diese Widersprüche und sich aufweichenden zentralen Kategorien wie Jugend, Generation und Klasse an die jugendkulturelle Formationen bzw. an eine aktuelle Definition von Popularkultur zurückgeführt 33
werden können. Einen Abschied von Widerstands- und Protestkulturen zu propagieren, der Hand in Hand geht mit der bekannten Diagnose des Verschwindens jugendlicher bzw. jugendkultureller Diskurspraktiken und der Verweigerung gesellschaftlicher und politischer Meinungsbildung, gibt einer kulturpessimistischen Perspektive ihren Raum, die sich endgültig von der Lebensspanne Jugend als gesellschaftlichen Innovationsmotor verabschiedet und jugendkulturelle Formationen schließlich in eine eher fruchtlose postmoderne Diskussion überführt. Viel mehr müssen die jugendkulturellen Mikroprozesse und -widerstände in den Blick genommen werden; ein Blick, der es sich auch getraut, von den etablierten und einstmals zentralen Kategorien wie >Stil< oder >Stil-Ritualen< als das (einzige) Kampfmedium von Jugendkulturen (vgl. ebd, S. 58) ein Stück weit abzuweichen bzw. diese neu zu justieren. In der Definition von Jugendkulturen, so wie sie aus der Tradition der Cultural Studies als „aktive wie passive Kampfansagen an die jeweils vorherrschende kulturelle Norm“ (Höller 1996, S. 58) hervorging, scheint heute nur noch bei wenigen ausgewählten jugendkulturellen Szenen der Fall zu sein. Viel grundlegender müssen die Mikrowidersprüche, die einem aktuellen Verständnis von Pop-Kultur zuträglicher sind, in den Blick genommen werden. Dies meint gegenüber der Suche nach den neuen großen Utopien und Gegenentwürfen der heutigen Jugend, die Suche nach den ‚weichen’ molekularen Formen des Widerstandes und das Aufspüren subversiver Taktiken, die manipulative Wirkmächtigkeiten geschickt zu unterlaufen vermögen. Eine Suche, die sich den Tricks, Finten und Listen von jugendlichen Produzenten hinwendet; nicht der Blick auf die großen weltumspannenden Gegenentwürfe, die dem großen Projekt der Machbarkeit einer besseren Welt nachhängen, sondern der mikroskopische Blick auf die Texte kultureller Praxen wildernder Nomaden (vgl. Certeau 1988 und 2002; Deleuze/Guattari 2005) mit ihren innovativen Potenzialen, die erst einmal nichts zu verändern suchen, sondern sich in der Weite der Gegenwart tummeln (vgl. Heidegger 2004). Parallel zu den Arbeiten des CCCS unter der Leitung von Hall gingen aus den frühen und späten 1980er Jahren eine ganze Reihe von Arbeiten hervor, die geprägt von der französischen Philosophie, dem Poststrukturalismus, der Linguistik und Semiologie und schließlich dem Dekonstruktivismus geprägt waren und die sich in spezifischer Weise mit eben dieser Perspektive auf eine oppositionelle Mikropolitik, „also einer Politik der unterschwelligen (subkulturellen) Strömungen“ (Höller 1996, S. 59) hinwendeten. Mit diesen Arbeiten insbesondere von Certeau (1988) und Deleuze/Guattari (2005) (vgl. dazu auch: Höller 1996; Winter 1999) sind m.E. enorm fruchtbare theoretische Auseinandersetzungen genannt, die für 34
das Verständnis und die Analyse aktueller Popularkulturen von großem Stellenwert sind. Ich werde diese Arbeiten in den folgenden Abschnitten darstellen und sie in den weiteren Abschnitten zur Theoretisierung der Rekonstruktionsergebnisse wieder aufnehmen.
2.3
Jugendkulturelles Handeln als kunstvolles Handeln
In seinem Werk „Die Kunst des Handelns“ wendet sich Certeau (1988) einer Theorie des kunstvollen sozialen Handelns hin. Certeau zufolge schaffen soziale Handlungen solche Fabrikationen, die als verborgene Mikrowiderstände gegen die Dominanzkulturen der Beherrschenden funktionieren. Diese Fabrikationen sind ihrerseits wieder etwas anderes als fertige Produkte. Unter dem Einfluss von Foucaults Machttheorie (vgl. Foucault 1978, 1994), die sich gegen die monolithische Logik von Macht ausgesprochen hat, setzt sich Certeau mit den je spezifischen Möglichkeiten auseinander, verborgene subversive Gegenkulturen, die sich gegen dominante Mehrheitskulturen richten, hervorzubringen. Diesbezüglich widmet sich Certeau einer ganz eigenen Definition von Konsum nicht als eine manipulative Macht die von Dominanzkulturen ausgeht und die die Konsumenten in die passive Rolle der Beherrschten drängt, so wie es etwa die Kritische Theorie nahe zu legen versuchte, sondern Konsum definiert Certeau als eine spezifische Form des aktiven Gebrauchs gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen. Er setzt damit den Fokus auf die konkreten Handlungsweisen und Aktivitäten von Verbrauchern, die eben nicht von vornherein zu Passivität und Anpassung verurteilt sind. Ganz im Sinne des encoding/decoding – Modells von Hall rekurriert auch Certeau hierbei auf die Unterscheidung von (medialen oder gesellschaftlichen) Bedeutungsangeboten einerseits und den konkreten Handlungsweisen der Verbraucher andererseits, die aus diesen vermittelten (Sinn-) Bildern etwas konkretes fabrizieren (vgl. Certeau 1988, S. 13). Damit ist der Blick auf die „Kombinationsmöglichkeiten von Handlungsweisen“ (ebd., S. 12) gelenkt, die es dem Verbraucher ermöglichen, die unendlichen Metamorphosen der Gesetze einer herrschenden Kulturökonomie „in die Ökonomie ihrer eigenen Interesse und „um>zu@ frisieren“ (ebd., S. 15). Der Produktion eines Vorstellungs- oder Meinungsbildes durch gesellschaftliche oder mediale Systeme steht also eine Produktion gegenüber, „die in den Anwendungsweisen verborgen ist“ (ebd., S. 14). Konsum ist demzufolge als eine sekundäre Produktion zu verstehen, die jedoch nicht in ihren fertigen hervorgebrachten Produkten zu er35
kennen ist, sondern in der spezifischen „Umgangsweise mit den Produkten, die von einer herrschenden ökonomischen Ordnung aufgezwungen werden“ (ebd., S. 13); im Verstehen von Jugendkulturen ein ganz klares Plädoyer dafür, den Blick auf die konkreten (kulturellen und ästhetischen) Praktiken und Fabrikationen zu richten. Diese leise, listenreiche, und in den konkreten Handlungsweisen von Konsumenten verstreute, sich verbergende Produktion steht einer „rationalisierten, expansiven aber auch zentralisierten, lautstarken und spektakulären Produktion“ (ebd., S. 13) gegenüber. Das Moment des Subversiven und Widerständischen bedeutet Certeau in den spezifischen Möglichkeiten zur je eigenen Fabrikation, die „zwischen der Produktion eines Verstellungsbildes und der sekundären Produktion, die in den Anwendungsweisen verborgen ist“ (Certeau 1988, S. 14) auszumachen ist. Certeau bezieht sich hier deutlich auf eine durch Chomsky bekannt gewordene Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz. Ähnlich wie sich in konkreten Sprechakten die Regelhaftigkeit der Sprache zwar repräsentiert, ist dieser Sprechakt aber nicht auf die Kenntnis der Sprache reduzierbar, vielmehr vollzieht er sich „innerhalb eines Sprachsystems, er erfordert eine Aneignung oder Wiederaneignung der Sprache (langue) durch die Sprecher, er begründet eine von Raum und Zeit abhängige Präsenz, und er führt zu einem Vertrag mit dem Anderen (Gesprächspartner) in einem Netz von Orten und Beziehungen“ (ebd., S. 15). Ähnlich wie die spezifische Aneignung der Sprache (als performativer Gebrauch) sich im konkreten Sprechakt ausdrückt, und im Sprechakt sich eine spezifische (heimliche) Kunstfertigkeit in der Verwendung der Sprache repräsentiert, ist dies auch für den Gebrauch vorgegebener Regeln, Gesetze und Strukturen in den unterschiedlichsten sozialen Praxen des täglichen Lebens bedeutsam. Certeau orientiert sich ähnlich wie Foucault an der zentralen Frage, wie es einer ganzen Gesellschaft gelingen kann, sich gegen die Machstrukturen und die Instrumentarien von Überwachung und Manipulation zu wehren: „welche populären (und auch „verschwindend kleinen“ alltäglichen) Praktiken spielen mit den Mechanismen der Disziplinierung und passen sich ihnen nur an, um sie gegen sich selber zu wenden; und welche „Handlungsweisen“ bilden schließlich auf Seiten der Konsumenten (oder „Beherrschten“?) ein Gleichgewicht zu den stummen Prozeduren, die die Bildung der soziopolitischen Ordnung organisieren?“ (ebd., S. 16). Certeau wendet sich damit deutlicher den Widerstandsprozeduren und Gegenkulturen hin, als dies bei Foucault der Fall gewesen ist. Foucault hat sich gelegentlich den Vorwurf gefallen lassen müssen, dass er in seinen machttheoretischen Überlegungen „andersgeartete Technologien, aber auch Praktiken des Wider36
standes nicht oder nur am Rande untersuchte und so häufig den Eindruck erweckte, er vertrete die Auffassung, dass die Macht in der Moderne monolithisch und ein allumfassendes System sei“ (Winter 1999, S. 39). Diese listenreichen und „in den labyrinthischen Strukturen des Alltags verborgenen und kunstfertigen Praktiken“ (ebd., S. 40), die nun ihrerseits zwar „ähnlich stumm wie die Technologien der Überwachung sind“ (ebd., S. 40), arbeiten aber nicht einer disziplinierenden Technologie zu, die ein Netz der Überwachung ausbreitet, so wie es Foucault angenommen hat, sondern sie gehen darüber hinaus und generieren untergründige Formen, „welche die zersplitterte, taktische und bastelnde Kreativität von Gruppen und Individuen annimmt, die heute von der „Überwachung“ betroffen sind“ (Certeau 1988, S. 16). Diese kunstfertigen Alltagspraxen, die ihren Ausdruck in den je spezifischen Kombinationsmöglichkeiten von Handlungsweisen erhalten, arbeiten in dieser Perspektive nicht den gesellschaftlichen und/oder kulturellen Dominanzkulturen zu, wie es uns die Arbeiten von Horkheimer, Adorno oder Foucault zu lehren versuchen, sondern sie spinnen „das Netz einer Antidisziplin“ (ebd., S. 16), die dem Populären eine „ratio“ (ebd., S. 17) beistellt; „eine Art und Weise, das Denken auf das Handeln zu beziehen, eine Kombinationskunst, die untrennbar von einer Kunst im Ausnützen ist“ (ebd., S. 17). Die Dimensionen von Widerstand bekommen hier einen ganz anderen Anstrich. Widerstand definiert sich nicht aus einem vordergründigen und höchst offiziellen Konflikt zwischen herrschenden und beherrschten Klassen, sondern Widerstand (Subversion als Umfrisieren des Vorgefundenen) befindet sich in einer Art Beweglichkeit und bewegt sich auf unbestimmten Bahnen, die „Irr-Linien“ (ebd., S. 85) sind. Sie sind ihrerseits scheinbar sinnlos, „da sie in keinem Zusammenhang mit dem bebauten, beschriebenen und vorfabrizierten Raum stehen, in dem sie sich bewegen“ (ebd., S. 85). Dennoch folgen sie bestimmten Regeln des vorfabrizierten Raumes und sie unterliegen einer gewissen Logik. Ihre Kunstfertigkeit besteht nun aber gerade darin, diese Regeln nicht nur anzuwenden und zu reproduzieren, sondern je spezifisch mit ihnen umzugehen (operative Logik), sie also je spezifisch zu kombinieren und zu verwerten. Wenn man so will, werden diese Handlungsweisen als eine Möglichkeit des Konsumenten bedeutet, sich jenen Raum wieder anzueignen, „der durch die Techniken der soziokulturellen Produktion organisiert wird“ (ebd., S. 16) und im „Inneren der technokratischen Strukturen“ (ebd., S. 16) liegt. Denn aus diesem Raum, der durch die totalitärer werdende Verbreitung televisueller, urbaner und kommerzieller Systeme organisiert wird, wurde der Verbraucher, und damit die marginalisierte stumme Masse, einstmals verdrängt. In den konkreten alltagspraktischen Kunstfertigkeiten, Operationstypen und Aktivitätsformen 37
findet Wiederaneignung durch Ausnützen, Gebrauchen und Umfrisieren eben jener Systeme statt: „In dem technokratisch ausgebauten, vollgeschriebenen und funktionalisierten Raum, in dem sie >die Irr-Linien@ sich bewegen, bilden ihre Bahnen unvorhersehbare Sätze, zum Teil unlesbare „Querverbindungen“: Auch wenn sie aus dem Vokabular der gängigen Sprachen (des Fernsehens, der Zeitung, des Supermarktes oder der offiziellen Museen) gebildet werden und der vorgeschriebenen Syntax (Zeitmodi des Stundenablaufes, paradigmatische Ordnungen von Orten etc.) unterworfen bleiben, verweisen sie auf Finten mit anderen Interessen und Wünschen, die von den Systemen, in denen sie sich entwickeln, weder bestimmt noch eingefangen werden können“ (Certeau 1988, S. 22). Hierbei unterscheidet Certeau zwei in ihrer Logik zu unterscheidende Operationslogiken von Praktikern: Auf der einen Seite die Strategien, die der Autor als „eine Berechnung von Kräfteverhältnissen >bezeichnet@, die in dem Augenblick möglich wird, wo ein mit Macht und Willenskraft ausgestattetes Subjekt (ein Eigentümer, ein Unternehmen, eine Stadt, eine wissenschaftliche Institution) von einer „Umgebung“ abgelöst werden kann“ (ebd., S. 23). Um ein Beispiel zu bemühen: in institutionellen Kontexten wie etwa der Schule, können sich oppositionelle Schüler in spezifisch ausgeformte Schülersubkulturen (vgl. dazu: Böhme 2003 und 2000a) ‚zurückziehen’ und sich aus der Umgebung einer dominanten Schulkultur ‚herauslösen’. Diese Schülersubkulturen funktionieren so als ein Ort, „der als etwas Eigenes umschrieben werden kann und der somit als Basis für die Organisierung seiner Beziehungen zu einer bestimmten Außenwelt (...) dienen kann“ (Certeau 1988, S. 23). Das je Eigene ermöglicht somit eine Ortbeständigkeit (vgl. ebd., S. 24), die ein solches strategisches Handeln im Ort des je Eigenen zu den Grenzen des je Anderen ermöglicht. Auf der anderen Seite bilden Taktiken jedoch eher ein Kalkül ab, „das nicht mit etwas Eigenem rechnen kann und somit auch nicht mit der Grenze, die das Andere als eine sichtbare Totalität abtrennt. Die Taktik hat nur den Ort des Anderen“ (ebd., S. 23). Jugendkulturen, denen es aktuell immer weniger zu gelingen scheint, dieses je Eigene (als erkennbare politische Orientierung, als eine Idee, Botschaft o.ä.) vor sich herzutragen, sind aus dieser Perspektive heraus betrachtet auf den Ort des Anderen angewiesen (gesellschaftliche, politische oder kulturelle Dominanzkulturen). Taktiken tasten diese Grenzen im Ort des Anderen ab und warten gewissermaßen auf günstige Gelegenheiten, die sich aus situativen Ereignissen ergeben (vgl. ebd., S. 23). Die Taktik verfügt damit gerade nicht über eine „Basis, wo sie ihre Gewinne kapitalisieren, ihre Expansionen vorbereiten und sich Unabhängigkeiten gegenüber den Umständen bewahren kann. Das Eigene ist ein Sieg des Ortes über die Zeit. Gerade weil sie keinen Ort hat, bleibt die Taktik von der Zeit abhängig; 38
sie ist immer darauf aus, ihren Vorteil „im Fluge zu erfassen“. Was sie gewinnt, bewahrt sie nicht“ (ebd., S. 23); eine Produktion also, die nichts anhäuft. Eine solche Produktion bzw. Fabrikation bedeutet eine Bastelei, die sich auf den situativen Gebrauch von Gesetzen eingespielt hat. In einer Zeit, in der sich gesellschaftliche Ortbeständigkeiten auflösen und einstmalige jugendkulturelle Orte sich zu neuen jugendkulturellen Räumen transformieren, wo Jugendkulturen als einstmalige „streetcorner societys“ zunehmend mehr zu „Cyberspace-Kulturen“ werden (vgl. Richard/Krüger 1997), die überall und nirgendwo anzutreffen sind, wo voneinander unterscheidbare jugendkulturelle Stile und Stil-Rituale als einstmalige Kampfmedien ihren Ort als etwas je Eigenes in der Unterscheidung zum je Anderen kaum noch verteidigen wollen oder können, wo eine jugendkulturelle Ausdrucksform in eine andere fließend übergehen kann, dort – so eine zentrale These – vermehren sich die Taktiken im Verlust dieser Ortsbeständigkeiten „als ob sie – da sie nicht mehr von einer sie umgebenden Gemeinschaft fixiert werden – aus der Bahn gerieten, herumirrten und die Konsumenten mit den Immigranten in einem System auf eine Stufe stellen, das zu groß ist, als dass es das ihre sein könnte, und das zu engmaschig ist, als dass sie ihm entkommen könnte.“ (Certeau 1988, S. 24). Certeau orientiert sich hier an einem Gesellschaftsmodell, das weniger die hegemoniale Wirkmächtigkeit von gesellschaftlichen Dominanzkulturen in einen binären Zusammenhang zu den Widerstandsprozeduren und -potenzialen beherrschter Klassen stellt. Widerstand definiert sich gerade nicht als eine stimmgewaltige Opposition gegen die ordnungsstiftenden gesellschaftlichen und/oder medialen Systeme, denen je eigene Ordnungen sinn- und bedeutungsstiftend im Sinne eines Richtig-Falsch-Kalküls gegenübergestellt werden, das sich an offenen Zukunftshorizonten orientiert. Widerstand, und damit die Potenzialität, gesellschaftliche Ordnungsstrukturen subversiv zu unterlaufen, liegt in den kleinen unauffälligen kunstvollen Alltagsprozeduren von Konsumenten, die in diesem gesellschaftlichen Regelkanon herumwildern. Regeln und Strukturen von Machtapparaten werden so verknüpft, dass sich daraus eine Ökonomie der jeweils eigenen Interessen generieren lässt. All dies ist ein flüchtiger Prozess und der Regelkanon dieser dominierenden Systeme funktioniert als die existenzielle Grundlage von Improvisationen, auch und gerade in Jugendkulturen. Diese Improvisationen sind ihrerseits streng mit der Logik der konkreten Umstände bzw. Gelegenheiten verknüpft, sie funktionieren daher eher als Spielzüge, denn als Wahrheiten oder beständige Sinn- und Bedeutungswelten. Es sind gerade diese Improvisationen, die einen taktischen Angriff bedeuten, der gerichtet ist auf die Gesetze und Strukturen des Vorgefundenen. Eine „Kunst des 39
Handelns“, die sinnlogisch zu einer „kriegswissenschaftlichen Analyse der Kultur führen“ (ebd., S. 20) muss. Dieser Logik eines Denkens, das aus den alltäglichen Handlungsweisen als operative Logik bzw. Aneignungspraxis hervorgeht, liegt die Annahme zugrunde, dass es popularkulturellen Alltags- und Lebenspraxen immer schwerer fällt, in der Hervorbringung und Darstellung des je Eigenen, (bereits) auf eine je eigene Sprache zurückgreifen zu können. Gerade hier aber entsteht der Raum für kreative Aneignungspraktiken, denen es an einer eigenen Sprache fehlt1; sie nutzen die Gelegenheit, um im Ort des Anderen herumzuwildern und sich der Sprache der Systeme zu bedienen, um deren Logik im Sinne der Hervorbringung des je Eigenen umzufrisieren, nicht um ein Produkt anzuhäufen, sondern um sich in einem vorstrukturierten Raum zu bewegen und um „unvorhersehbare Sätze, zum Teil unlesbare „Querverbindungen““ (Certeau 1988, S.22), schlicht das je Eigene und/oder Neue hervorzubringen. In der Analyse solcher Aneignungspraktiken käme es nun in der Folge darauf an, aus der Logik dieser gebrauchten bzw. benutzen gängigen Sprache der Systeme und ihren etablierten Ordnungen, die selbstverständlich im Gebrauch dieser Sprachen reproduziert werden, und denen das Handlungssubjekt selbstverständlich unterworfen bleibt, die konkreten Indikatoren für einen je eigenen kreativen Sprachgebrauch aufzuspüren, der sich der Logik etablierter Ordnungen quasi nur bedient. Diese Zwischenräume, in denen sich Widerstandskulturen überhaupt noch finden lassen, bilden – will man Certeau folgen – (auch) den zentralen Gegenstand einer zeitgemäßen Analyse von Popularkulturen. Sie lassen sich immer weniger als feststehende Figuren nachzeichnen, sondern sie bezeichnen verborgene Strömungen, Irr-Linien, die keinem konkreten Ziel mehr nachgehen. Sie verlaufen in Bahnen, die sich aus einzelnen Punkten auf einer Linie überhaupt erst zusammensetzen. Sie assimilieren etablierte kulturelle Ordnungen, um sie gleichsam geschickt zu unterlaufen. Sie manipulieren sie im Gebrauch und sie frisieren sie so lange in den Gelegenheiten um, bis sie einer Ökonomie der eigenen Interessen und der Generierung des je Eigenen entsprechen, das stets neue (Irr-) Linien einschlägt: Ein nomadisches, produktives und fabrizierendes Wildern in einem vorstrukturierten technokratischen, funktionalistischen Raum und die Aneignung dieses Raumes als Taktik ohne die zielfokussierte Produktion eines je Eigenen. 1 Dieses Fehlen einer eigenen Sprache auf der Ebene höchst offizieller Widerstandskulturen musste in der Folge zu den bekannten Diagnosen der Sprachlosigkeit der Techno-Szene führen. Mit einem sinnverstehenden Blick auf die kleinen und unauffälligen Diskurse und Praxisäußerungsformen von jugendkulturellen Akteuren, bliebe dieser diagnostizierten Sprachlosigkeit jedoch weiter nach zu gehen.
40
2.4
Jugendkulturen in den Segmentaritäten von Gesellschaft
Ausgehend von der Segmentarisierung moderner Gesellschaften gehen Deleuze/Guattari (2005) der Frage nach den Vermischungen vielschichtiger und sich durchkreuzender Segmente nach, die jeweils Potenziale für Widerstand und Gegenkultur gleichsam verhindern wie ermöglichen. Segmente bedeuten hier Bereiche, Ebenen oder Felder, die jeweils gesellschaftlicher, kultureller oder institutioneller Natur sein können, je nach dem ob sie jeweils molar oder molekular sind. Strukturell sind moderne Gesellschaften jeweils binär, zirkulär und linear segmentiert (vgl. Deleuze/Guattari 2005, S. 284). Im Kontext der großen dualen Gegensätze, die sich auf Dispositionen wie Klasse (Herrschende und Unterdrückte), Geschlecht (Mann und Frau), Alter (Alt und Jung), Rasse (Schwarz und Weiß) o.ä. beziehen, würden wir uns demzufolge auf einem binären und wenig beweglichen Abstraktionsniveau bewegen. Erst mit Hinzunahme zirkulärer Segmentierungen, „in immer größeren Kreisen, in immer größeren Scheiben oder Kränzen“ (ebd., S. 284) weitet sich der Blick in Richtung derjenigen Formationen, die über diese harten binären Segmentierungen hinausgehen. Harte binäre Segmentarisierungen differenzieren sich zu immer beweglicheren Sub-Segmenten aus. Diese haben jeweils spezifisch miteinander zu tun: „meine Angelegenheiten, die Angelegenheiten meines Stadtteils, meiner Stadt, meines Landes, der Welt“ (ebd., S. 284). Die Bewegung auf einer Linie, das Ablösen des einen Segments durch das andere, das jeweils für sich „eine Episode oder einen „Vorgang“ repräsentiert“ (ebd., S. 284), kennzeichnet schließlich eine lineare Segmentierung: „kaum haben wir einen Vorgang beendet, beginnen wir einen anderen, immer und ewig machen wir Prozesse und unterliegen Prozessen: Familie, Schule, Armee, Beruf“ (ebd., S. 284). Nun haben aber binäre, zirkuläre und linearen Segmentierungen immer etwas miteinander zu tun, sie gehen ineinander über und verändern sich. Dieses Wechselspiel zwischen binären, zirkulären und linearen Segmentierungen unterliegt nun spezifischen Logiken, die zwar voneinander unterschieden werden müssen, sich aber in einem Prozess vereinen. Die Rede von Antinomien und Paradoxien verbietet sich hier streng genommen. Zunächst unterscheiden Deleuze/Guattari zwischen harter Segmentarität auf der einen Seite und geschmeidiger Segmentarität auf der anderen Seite: „Im harten Modus steht die binäre Segmentarität für sich selber und ist von großen Maschinen zur direkten Binarisierung abhängig, während die Binaritäten im anderen Modus aus „Mannigfaltigkeiten mit n Dimensionen“ resultieren.“ (ebd., S. 289). Die Autoren hantieren hier eher gedankenexperimentell mit zwei Arten von Gesellschaften; auf der einen Seite sogenannte primitive Gesellschaften „die keinen 41
festen zentralen Staatsapparat und weder eine allumfassende Machtinstanz noch spezialisierte politische Institutionen haben“ (Deleuze/Guattari 2005, S. 285) und auf der anderen Seite die modernen Gesellschaften, die eher „von einem geschmeidigen Gewebe durchzogen >sind@, ohne das die harten Segmente nicht halten würden“ (ebd., S. 290). Die sogenannten primitiven Gesellschaften hingegen haben eher „harte und baumartige Kerne, die den Staat antizipieren und ihn zugleich abwerten“ (ebd., S. 290). Es stellt sich damit die Frage, wie Segmente in Gesellschaften zusammengehalten werden bzw. in welchem spezifischen Verhältnis sie zueinander stehen, ob sie Referenzpunkte bilden oder ob diese zunehmend mehr verschwinden. Für moderne Gesellschaften sei es aber gemeinhin typisch, dass die verlorengegangenen Codes und Territorien durch sogenannte abstrakte Maschinen (vgl. Deleuze/Guattari 2005, S. 290ff.) immer wieder hergestellt werden, um nicht zuletzt Stabilität von Systemen zu gewährleisten. Jede Gesellschaft ist durch diese beiden Logiken gekennzeichnet und sie werden in der Folge von den Autoren als molare und molekulare Segmentaritäten bezeichnet (vgl. ebd., S. 290). Eine Verbindung zwischen molaren und molekularen Segmentaritäten besteht durch ein mehr oder weniger geschmeidiges Segmentaritätsgewebe; einen wirklichen Gegensatz bilden diese beiden Logiken nicht, sie stehen vielmehr in einem sich wechselseitig beeinflussenden Verhältnis bzw. Prozess zueinander. Zu unterscheiden sind sie nur in ihren jeweils spezifischen Arten von Mannigfaltigkeiten und Relationen. Den molaren Segmentaritäten sind nun „die großen Ensembles wie Geschlechter oder Klassen“ (ebd., S. 291) zugeordnet, aus denen stets weitere Differenzierungen und Abstraktionen quasi fließend hervorgehen. Eine strikte Abkehr also von Determinismen (ökonomische, soziale, gesellschaftliche u.a.), die Gesellschaften an feste Gefüge binden. Selbst die molaren Segmentaritäten, die sich auf binäre Ensembles beziehen, sind von weichen Segmentierungen durchzogen; hier wenden sich die Autoren deutlich von einer Definition von Macht- oder Dominanzkulturen ab, die Hierarchie als pyramidenartige Struktur ansehen (vgl. ebd., S. 286). Selbst institutionelle oder gesellschaftliche Funktionsbereiche sind von weichen Linien durchzogen und so besteht eine „Geschmeidigkeit und eine Kommunikation von Büros, eine Perversion der Bürokratie, einen permanenten Erfindungsreichtum oder eine durchgängige Kreativität, die sich sogar gegen die Verwaltungsvorschriften wenden“ (ebd., S. 291). Hier tut sich eine deutliche Parallele zur Certeaus Überlegungen auf, denn auch er betont, dass die Politik (der Handlungen) immer zugleich Makro- und Mikropolitik ist, eine Politik, die unterschiedlichste Handlungsstile hervorbringt. Diese Handlungsstile oder „Macharten“ (Certeau 1988, S. 78) „intervenieren in einem Bereich, der sie auf einer ersten Ebe42
ne bestimmten Regeln unterwirft (zum Beispiel im Fabriksystem), aber sie ziehen dabei ihren Nutzen aus diesem Bereich auf eine Weise, die anderen Regeln folgt und die so etwas wie eine zweite Ebene bildet, die mit der ersten verflochten ist“ (ebd., S. 78)2. Ähnlich formulieren dies Deleuze/Guattari, denn die molare Organisation von Handlungen, Wahrnehmungen oder Gefühlen „schließt keineswegs einen ganzen Kosmos von unbewussten Mikro-Perzepten, unbewussten Affekten und feinen Segmentierungen aus, die nicht dieselben Dinge erfassen oder erleben, die sich anders verteilen und anders vorgehen“ (Deleuze/Guattari 2005, S. 291). So bildet die molare Organisation der Geschlechter als eines der großen binären Ensembles in der Folge „tausend kleine Geschlechter“ (ebd., S. 291), die sich aus einem spezifischen Gefühl von Männlichkeit oder Weiblichkeit im Verhältnis zu den Dingen, etwa in der „Beziehung von jedem im anderen zum Tier, Pflanze, etc.“ (ebd., S. 291) herausbilden. D.h., der Maschinerie von Gesellschaften sind strukturell eine Vielzahl „molekularer Unruheherde“ (vgl. ebd., S. 293) eingeschrieben, die zu sogenannten „Kriegsmaschinen“ werden; insgesamt sind also alle Segmentaritäten immer das Ergebnis bzw. Resultat „einer abstrakten Maschine“ (ebd., S. 290), nur sind jeweils unterschiedliche Maschinen im „Harten und im Geschmeidigen (...) am Werk“ (ebd., S. 290). Auf der einen Seite eine eher abstrakte Maschine der Übercodierung, die dem Staatsapparat zugewiesen wird. Auf der anderen Seite sind es jene Kriegsmaschinen, die einen anderen, aus den molekularen Segmentaritäten hervorgehenden Ursprung und ein anderes Gefüge als den Staatsapparat haben; nomadischen Ursprungs ist die Kriegsmaschine gegen diesen Staatsapparat und gegen die abstrakte Maschine der Übercodierung gerichtet (vgl. ebd., S. 313). Hier kommt nun die strukturelle Koexistenz dieser abstrakten Maschine der Übercodierung auf der einen Seite und der Kriegsmaschine auf der anderen Seite zum tragen, denn „je stärker die molare Organisation ist, um so mehr ruft sie selber >Hervorhebung: J.H.@ eine Molekularisierung ihrer Elemente, ihrer Beziehungen und elementaren Apparate hervor“ (ebd., S. 294) und in der Folge: „Wenn die Maschine planetar oder kosmisch wird, haben die Gefüge eine immer stärkere Tendenz, sich zu verkleinern und zu Mikrogefügen zu werden“ (ebd., S. 294). Man könnte es auch so sagen: je stärker Jugend als Lebensphase im Allgemeinen und Jugendkulturen im Besonderen gesellschaftlich, medial und akademisch politisiert werden, desto stärker wird der Drang Jugendlicher werden, sich 2
Im Kapitel 4.2 wird deutlich werden, dass Certeau mit diesen grundlagentheoretischen Annahmen am ehesten in einem strukturalistischen Ansatz und in einer deutlichen Nähe zu Oevermanns Ausführungen zu den Regeln erster und zweiter Ordnung zu positionieren wäre, die diesen oder jenen sozialen Handlungen ihren spezifischen Sinn einschreiben.
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selbst zu entpolitisieren. Die Techno-Bewegung hat dies in dem Slogan zur ersten Loveparade „Friede, Freude, Eierkuchen“3 ganz gut ausgedrückt und vorgeführt. Greifen wir hier etwa das Stichwort Heterogenität im jugendkulturellen Raum auf, so bedeutet dies in diesem Lichte betrachtet nichts anderes, als dass in dem Maße, wie jugendkulturelle Formationen durch sich selbst, aber auch gesellschaftlich oder medial übercodiert und reterritorialisiert werden (abstrakte Maschine der Übercodierung) immer eine entsprechende (Gegen-) Bewegung der Decodierung und Deterritorialisierung (vgl. Deleuze/Guattari 2005, S. 303) bzw. – darüber hinaus – der Transcodierung oder Tansduktion (vgl. ebd., S. 427) in Gang gesetzt wird, „bei der es sich nicht um eine schlichte Addition handelt, sondern um die Schaffung einer neuen Ebene, um so etwas wie einen Mehrwert“ (ebd. 2005, S. 428). Je dominanter diese Maschine der abstrakten Übercodierung wird, die – will man es in den Worten Certeaus ausdrücken – einem „Zerfall von Ortbeständigkeit“ (Certeau 1988, S. 24) auch in den Mechanismen der Reterritorialisierung (Rückführung in ein festes Gefüge) entgegenwirkt, desto stärker arbeitet die Kriegsmaschine gegen eine solche Übercodierung und Reterritorialisierung, indem sie immer wieder neue (molekulare) „Fluchtlinien“ (ebd., S. 294) bzw. „Quanten-Strömungen“ (ebd., S. 295) freisetzt. Diese Fluchtlinien und Quantenströmungen zeichnen nun das Molekulare aus, während Linien und Segmente dem Molaren zuzuordnen wären (vgl. ebd., S. 295). Würde man dies nun auf die seit den 1990er Jahren stets anwachsenden, sich zerfransenden und stets fein ausdifferenzierenden jugendkulturellen Musikstile bzw. (Sub-) Formationen übertragen wollen, würde dies als These bedeuten, dass jugendkulturelle Formationen immer molekularer werden (müssen), um sich einer abstrakten (gesellschaftlichen) Übercodierungsmaschine in der Form zu entziehen, in dem sie immer wieder neue Fluchtlinien einschlagen, um sich diesen oder jenen Machtzentren zu entziehen: „Massenbewegungen überstürzen sich und folgen dicht aufeinander (oder schwächen sich lange Zeit ab, erstarren), aber sie springen von einer Klasse zur nächsten, machen Mutationen durch, befreien oder entfesseln neue Quanten, die die Klassenverhältnisse verändern, die ihre Übercodierung und Reterritorialisierung erneut in Frage stellen und woanders neue Fluchtlinien entstehen lassen. Unterhalb der Reproduktion von Klassen gibt es immer eine variable Karte von Massen“ (ebd., S. 302). Dieser Wandel jugendkultureller Szenen, Stile und Moden, der auf einer Linie betrachtet immer undurch3 Dieser Slogan stand für die erste, im Jahre 1989 stattgefundene Loveparade und darf durchaus als eine Eröffnungsfigur der Techno-Szene interpretiert werden, die im Grunde genommen mit dieser Eröffnung bereits andeutete, was man von dieser Veranstaltung erwarten durfte und was eben nicht.
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schaubarer wird und in der Folge oft zu Verwirrungen führte, muss in der Folge strukturtheoretisch behandelt werden, denn Mutationen werden hier zum Strukturprinzip; immer „fließt oder flüchtet etwas“ (ebd. Deleuze/Guattari 2005, S. 295), nicht aber ohne auf das jeweils Andere zu verweisen. Solche mutierenden Strömungen enthalten immer etwas, was dahin tendiert, „den Codes zu entfliehen, sich den Codes zu entziehen; und Quanten sind Zeichen oder Grade der Deterritorialisierung in der decodierten Strömung. Dagegen gehört zur harten Linie eine Übercodierung, die die verfallenen Codes ersetzt, und die Segmente sind so etwas wie Reterritorialisierungen auf der übercodierenden oder übercodierten Linie“ (ebd., S. 299). Die Überzeugung, etwas Eigenes im Verhältnis zum Anderen zu sein, drückt sich auf der eher harten Linie der Segmente, der Codes oder Territorien aus, wohingegen das Begehren auf eben diese Decodierung und Deterritorialisierung in der Hervorbringung von Strömungen und Quanten abzielt: erschaffen, ausschöpfen, umwandeln und hinzufügen, abziehen und kombinieren (vgl. ebd., S. 299): „Dies sind keine Widersprüche, sondern Fluchtlinien“ (ebd., S. 300). Dieser Logik folgend käme es darauf an, in der Suche nach den innovativen Potenzialen jugendkulturellen Handelns solche Mutationen rekonstruktiv zu erschließen und weiterführend strukturtheoretisch zu behandeln. Erst dann stiften solche Mutationen keine Verunsicherung, sondern sie tragen zum Verstehen jugendkultureller Handlungspraxen und Formationen bei.
2.5
Über den Un-Sinn von Techno als Widerstandskultur – Zugleich ein kritischer Blick auf den Stand der Forschung
In den 1990er Jahren begann sich auch in Deutschland mit Techno ein kollektiver Lebensstil herauszubilden, „der sich – sozusagen ‚kultisch’ – in einer ausdifferenzierten Art von stark repetitiver, elektronisch erzeugter Musik, in besonderen Tanzformen, speziellen Konsumgewohnheiten, auffälligen Attitüden und habituellen Eigenarten und in signifikanten Arten von Geselligkeiten äußert“ (Hitzler 2001, S. 11). Techno wurde als ein Genre der populären Musik gehandelt, „dessen kollektive Rezeption im Kontext vornehmlich kommerzieller Veranstaltungen offensichtlich die Grundlage einer informellen Gruppenbildung darstellt, die als TechnoSzene bezeichnet wird“ (Meyer 2001, S. 52). Heute, nachdem sich Techno zwar gut fünfzehn Jahre auf der Bildfläche hat halten können, ist Techno wohl eher zu einem Oberbegriff für eine Vielzahl von Ausdifferenzierungen geworden, die 45
immer weniger erkennen lassen, dass es sich dabei heute noch um eine weitestgehend homogene jugendkulturelle Formation handelt. Dies war streng genommen aber vor einigen Jahren nicht wirklich anders und so war/ist Techno das, was man auf den Paraden vorführte: irgendwie alles und gleichsam flüchtiges Nichts. Das vornehmlich wissenschaftliche Interesse an Techno war angestoßen vom Interesse an den spezifischen Möglichkeiten und Motiven der kollektiven Mobilisierung junger Menschen und so stand die Frage danach im Vordergrund, was Techno als einen kollektiven Lebensstil konkret ausmachte, wofür oder wogegen sich die Akteure und Anhänger dieser Szene stark machten. Heute, da Techno weitestgehend von den Straßen verschwunden ist, nimmt das einstmals so große Interesse an dieser jugendkulturellen Bewegung in der Tendenz eher ab. Seinerzeit war das Interesse jedoch groß, denn so müssten große jugendkulturelle Bewegungen oder Phänomene schließlich etwas Großes ausdrücken (wollen) und dies umso mehr, als sich diese Bewegung von ihrem subkulturellen Ursprung in den Clubs und Lagerhallen demonstrativ auf die Straße verlagerte und öffentlichen Raum für die Artikulation spezifischer Interessen okkupierte. Schnell war die Vermutung auf den Tisch, dass es sich bei Techno um eine neue jugendkulturelle Protestbewegung handeln sollte. Die Techno-Bewegung sollte sich idealer Weise im Rahmen ihrer Paraden und Demonstrationen zu einer jugendkulturellen Bewegung mit politischen Ambitionen mausern. Nun erkannte man aber recht schnell, dass die Techno-Szene diesem Bild von Anfang an kaum nachkam. An der Massenfront der Techno-Bewegung, resp. der alljährlich stattfindenden Loveparade, wurde die politische Motiviertheit dieser Bewegung schnell schon von den Veranstaltern dieser Paraden karikiert und die Logik der Artikulation höherer Ziele und Interessen in dem Slogan „Friede, Freude, Eierkuchen“ unterlaufen. Die Frage, ob Techno im Rahmen dieser formal als politische Demonstration angemeldeten und legitimierten Loveparade nun endlich politisch werde, ließ sich in der Folge vermeintlich schnell beantworten: „An der Massenfront einer Loveparade gibt es keine Zeichen von Politisierung, genau das Gegenteil ist der Fall: Politik und vieles mehr wird Techno“ (Richard 2001, S. 291). Bzw., so wird an anderer Stelle bilanziert, resultieren politische Phänomene aus der Techno-Bewegung allein aus dem Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung und der Wahrung eigener Interessen und stünden nicht im Dienste gesellschaftlicher Transformationsprozesse (vgl. Meyer 2000, S. 159). Die Loveparade, so schlussfolgert Richard weiter, „deutet (...) nicht mehr die symbolische Umkehrung von Machtverhältnissen an, sondern dient deren Bestätigung“ (Richard 2001, S. 293.) 46
Nun bedarf aber gerade die symbolische Umkehrung von Machtverhältnissen einer authentischen Selbstpositionierung im gesellschaftlichen System, der sich Techno jedoch im Verzicht auf die Suche nach einem Selbst unter gesellschaftlichen Masken (vgl. Herma 2001, S. 155) stets mehr oder weniger geschickt entzog. Einen Grund dafür sieht Herma gerade in der generationsspezifischen Lagerung der Techno-Anhänger im Verhältnis zu den jeweiligen Vorgänger-Generationen. Der Autor verkündet aus dieser Perspektive das Abhandenkommen eines bisher üblichen Offenbarungseides der politischen Gesinnung, der nunmehr „hinter den Primat der kulturellen Praxis zurück >tritt@“ (Herma 2001, S. 139). So wäre etwa für die 89er Jugendgeneration eine „vergleichsweise positive Grundeinstellung zu den vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnissen sowie ein koexistenzielles Verhältnis zu modernen Technologien und kapitalistischen Grundprinzipien“ (ebd., S. 139) auszumachen, das jenes strenge Overground-Underground-Modell zunehmend mehr auflöst und einer „Inszenierung eines gesunden Narzissmus“ und einem „Habitus radikaler Gegenwärtigkeit“ (ebd., S. 139) Platz macht. Diese Marginalisierung des Politischen und die Selbstpositionierung in der gegenwärtigen Weltstunde, im gleichzeitigen Verzicht auf große utopische Gegenentwürfe, haben insbesondere der Technobewegung in der Folge viel Schelte und Kritik eingebracht. Techno hätte „seine polarisierende Wirkung zwischen den Generationen durch den Volksfestcharakter >seiner@ großen Events“ (Richard 2001, S. 293) ebenso verloren, wie seinen innovativen Stil (vgl. ebd., S. 293). Die Einschreibung von Techno im Hier und Jetzt spendiere in der Folge kein Versprechen für die Zukunft mehr, sondern „ein Gefühl der Befreiung im Hier und Jetzt“ (Rösing 2001, S. 181). Wie diese Befreiung im Hier und Jetzt konkret auszumachen und zu verstehen ist, wird im Kapitel 6.1 vor dem Hintergrund Heideggers Daseinsphänomenologie fallspezifisch hergeleitet und entsprechend strukturtheoretisch behandelt. Herma (2001) geht auf der Generationenlinie folgender Frage nach, um zu klären, was Techno seinem Wesen nach ist: wie kann es sein, dass die Nachfolgegeneration resp. die 89er (Geburtsjahrgänge ab 1970) ihre polarisierende Wirkung auf die Vorgängergenerationen (die 68er und 78er) weitestgehend eingebüßt hat und „die alten Chiffren subkultureller und politischer Zeichenreferenz aufgelöst und statt dessen eine neue Semantik des Körpers hervorgeholt“ (ebd. 2001, S. 140) hat? Die Gründe dafür sieht Herma in den generationsspezifischen Erfahrungen, die von den jeweiligen Nachfolgegenerationen kritisch vor dem Hintergrund der je eigenen Erfahrungen und Bedürfnisse hinterfragt und immer wieder neu beantwortet werden (müssen). Die eigene personale Identität, die sich für oder gegen etwas einsetzt, sei also immer „mit einer historisch-kulturellen Identität verwoben“ 47
(ebd., S. 135) und suche quasi in den Erfahrungen der jeweiligen VorgängerGenerationen nach möglichst widerspruchsfreien Lebenskonzepten, die die Generierung eines ‚wahren Selbst’ erlauben (vgl. ebd., S. 135). Vornehmer Platzhalter für solche kollektiven Neuorientierungen im historischen Raum seien schließlich spezifische Jugendbewegungen und Musik-Szenen, so auch Techno (vgl. ebd., S. 138). Diese Neuorientierungen werden wirksam – so Herma weiter – wenn „Individuen in der Phase der Adoleszenz im gesellschaftlichen Repertoire von Inszenierungsmöglichkeiten keine adäquaten Ausdrucksmittel mehr finden“ (Herma 2001, S. 141); hier wird nicht nur Neues im jugendkulturellen Raum hergestellt bzw. kreativ produziert, sondern diese Jugendbewegungen und Musik-Szenen „führen gleichzeitig Bewährungsmuster der verinnerlichten Generationserfahrung vor“ (ebd., S. 142). Gesellschaftlicher Strukturwandel erklärt sich somit aus den spezifischen Formen der Emergierung des Neuen, das sich nicht mehr in den Rahmungen und Grenzen des bereits Bewährten bewegt, sondern Improvisationspozenziale werden freigesetzt, die Neues schaffen. Um dies nun auf der Ebene je spezifischer generationaler Erfahrungen nachzuzeichnen, bemüht Herma eine Kontrastierung der 68er-, 78er- und 89er-Generationen um am Beispiel von Techno „bestimmte ‚Grundtöne der Lebensauffassung’ (...) – als figurative Bedeutungsebenen – in generationsspezifischen Bewusstseinslagen“ (ebd., S. 138) hinzuweisen. Ziel seiner Auseinandersetzung ist es, „das jeweilige Verlangen nach ‚Echtheit’ in Jugendbewegungen als mentalitätsgeschichtlichen Abriss zu skizzieren und dadurch mehr über die historische Situation der Technojugend zu ermitteln“ (ebd., S. 138). Im Schnelldurchlauf bedeuten die so generierten Ergebnisse folgendes: während die Praxis der Weltaneignung der 68er „überwiegend in politischen Reflexions- und Handlungsstrategien verläuft, verlieren Kulturdeutungen dieser Art, aufgrund veränderter Problemkonstellationen in der historischen Zeiterfahrung, für die Jugend zunehmend an Überzeugungskraft“ (ebd., S. 145). In den 1970er und 1980er Jahren hätte man es vielmehr mit einer Jugendgeneration zu tun, die den „Gefühlen als Schlüssel und Kontrollprinzip zur Wahrheit“ (ebd., 145) glaubt und sich einer sensualistischen Weltaneignung hinwende (vgl. ebd., S. 145). Der offensiv geführte Kulturkampf der 68er Generation, der sich gegen Autoritäten und Institutionen richtete und sich für sexuelle Befreiung einsetzte, verkehrte sich in den 1970er und 1980er Jahren zur Hinwendung zum Natürlichen und dem eigenen verletzbaren Ich; ein Sentimentalismus, der „aus der Idee einer uneingelösten Harmonie des Ganzen“ (ebd., S. 146) lebt. Herma bezeichnet damit das Generationsdilemma der 78er als eine „Spaltung von systemischer Rationalität und individueller Autonomie“ und die Bewältigungsstrategie als „die diskursive, permanent selbstreflexive Aneig48
nung der Welt“ (ebd., S. 146). Hier setzen nun die 78er an die Generationserfahrungen der 68er an, und so zeigt sich in den Darstellungen eines ausgewählten Techno-Anhängers des Geburtsjahres 1963, dass es den 68ern gerade nicht gelungen sei, „den Imperativ befreiter Lebenspraxis in reale Handlungspraxis zu übersetzen“ (ebd., S. 148). Die kulturelle Ansprüchlichkeit der 68er sei vor dem Hintergrund dieser Deutungen in einem reflexiven Überbau verfangen gewesen, die handlungspraktisch in einer konkreten Lebensweise oder Kulturform nie wirklich zum Ausdruck gekommen sei. Techno-Kultur – so zeigt es dieser Fall den Herma ins Feld führt – wird als eine „kollektive Praxisform aufgefasst, in der der kulturelle Anspruch der 68er erst wahrhaftig zur Einlösung kommt“ (Herma 2001, S. 148). Dies nicht aber nur als ein einseitiger Befreiungsversuch „von Fesseln im Sinne von Adornos negativer Dialektik“ (ebd., S. 148), sondern auch gleichsam als eine „Befreiung von diesem Befreiungsversuch, also die Abkehr von einer theoretischreflexiven Durchsetzung der Lebenspraxis“ (ebd., S. 148). Hier werden die Erfahrungen der Vorgängergeneration (die 68er) aufgegriffen und gedeutet und das Spezifische der eigenen Kultur vor diesem Hintergrund hergeleitet, nämlich die vermeintliche Anspruchslosigkeit der eigenen kulturellen Praxisformen und Befreiung durch Befreiung von theoretisch-reflexiver Durchdringung der eigenen Lebenspraxis. Irgendwann, so Herma weiter, überschreite eben jede Jugendbewegung den Zenit ihrer Überzeugungs- und Geltungskraft und so wird der Platz frei für die Erzeugung jeweils spezifischer „Anknüpfungspunkte, an denen eine neue Jugend anschließt“ (ebd., S. 146). Genau darin verbirgt sich m.E. aber das fatale Moment in der Suche nach den Anknüpfungspunkten jeweiliger Nachfolgegenerationen, da sie die Eigenheiten jugendkultureller Formationen eben nur auf einer molaren Linie verfolgt und gerade den Stellenwert jugendkultureller Erfahrungsräume vernachlässigen, in denen überhaupt erst der Raum für praktizierbare Improvisationen geschaffen wird, die überhaupt erst den eigenen Anschluss begründen. In der Tendenz wird dabei übersehen, dass gerade in der Techno-Szene sich eine Flüchtigkeit eingestellt hat, die sinnlogischer Weise auf einer molaren Linie als das Verschwinden kultureller Eigenheiten missverstanden wird. In dieser Logik verfangen muss Herma zwangsläufig erkenntnistheoretisch bei der Annahme landen, dass jugendkulturelle Formationen irgendwann ihre Überzeugungs- und Geltungskraft verlieren. Der Blick für die Frage, ob es in Jugendkulturen überhaupt noch um die Generierung einer übergeordneten Geltungs- und Überzeugungskraft geht, wird verstopft und die Frage müsste m.E. eher lauten, ob sich Techno als territoriales Gefüge im gesellschaftlichen Gewebe nicht selbst in der Weise decodiert und deterritorialisiert, dass diese 49
alten Logiken von Geltung und Überzeugung im jugendkulturellen Raum strukturell immer weniger eine Rolle spielen. Wie wäre nun dieser Bruch in den wissenschaftlichen Analysen selbst zu deuten und zu interpretieren, als ein Bruch auf einer harten, molaren Linie, der gewissermaßen das Ende des Widerständischen in Popularkulturen bedeuten würde, oder ließe sich dieser Bruch als eine Bewegung oder Strömung bezeichnen, die sich selbst von bekannten Codes wegbewegt und seine widerständische und innovative Wirkmächtigkeit in den molekularen Segmenten entfaltet, in der binäre Logiken und Linearitäten zunehmend mehr ihre Wirkung verlieren? Dies sind Fragen, die unmittelbar an die Frage danach anschließen, wie es der Techno-Bewegung bisher gelungen ist, so etwas wie eine kollektiv geteilte Identität zu generieren. Hierzu hat die Techno-Bewegung selbst wenig Antworten gegeben, was im wissenschaftlichen Kontext schnell als Diskursferne und allgemeine Sprachlosigkeit der Techno-Bewegung die Runde machte und hier und da selbst als kulturelles Signum ausgewiesen wurde. So schreibt Klein (1999) etwa: „Die Clubund Rave-Kultur lässt sich deshalb als eine – weder intendierte noch gewollte – sprachlose Antwort auf die diskursgeschulte und textgewandte studentenbewegte Elterngeneration interpretieren. Vielleicht ist gerade ihre Diskursferne die beste und wirksamste Möglichkeit, den Generationenkonflikt überhaupt zu leben. Die Provokation der Club- und Ravekultur läge demnach gerade darin, dass sie nicht bewusst widerständisch ist oder sein will – und dies in politischer wie in ästhetischer Hinsicht“ (ebd., S. 183; zit. n. Stauber 2001, S. 126). Auch hier wird auf ein Wollen abstrahiert, das auf übergeordnete Ziele und Ideale von Jugendkulturen abzielt. Die Diagnose einer Diskursferne unterstellt gerade das Vorhandensein eines großen übereinkommenden Diskurses, vom dem sich Techno wegbewegt und distanziert haben soll. Fernab normativer Induzierungen, die einer Politisierung von Jugendkulturen im wissenschaftlichen Kontext Vorschub leistet, muss das Vorhandensein eines solchen großen übereinkommenden Diskurses selbst kritisch in Frage gestellt werden und mehr nach den kleinen Diskursen gefragt werden, die in neuen jugendkulturellen Räumen im Sinne mikropolitischer Bewegungen und Prozesse stattfinden. Dort, wo nun wenig über die identitätsstiftenden Potenziale dieser Bewegung auf einer Diskursebene zu erfahren waren, hat man sich diesen Potenzialen auf der Ausdrucks- und Stilebene der Techno-Bewegung angenähert, um dem je Eigenen dieser Bewegung nachkommen zu können. Hier hat man in der Vielfalt und 50
Mannigfaltigkeit kultureller (Sub-) Stile und Ausdrucksformen schnell erkannt, dass die Techno-Szene wie kaum eine andere „das wichtigste Prinzip jugendkultureller Stilbildung, die Bricolage, radikalisiert“ (Vogelgesang 2001, S. 267) hat. Gemeint ist damit „eine alle Stilelemente umfassende Bastelmentalität, deren ästhetisches Signum (...) die Um- und Neugestaltung vorhandener kultureller Artefakte ist“ (ebd., S. 267). Dies betrifft in der Techno-Bewegung ebenso die Bastelei an tradierten Formen der musikalischen Produktion, als auch das Umherwildern in Trendsetzungen von Mode und Kleidung. In den Nahaufnahmen zu kreativen und produktiven Aneignungsweisen auf der Ebene jugendkulturellen Stils und jugendkultureller Codes hat sich etwas nachzeichnen lassen, das nur selten als ein Strukturprinzip der Techno-Bewegung konsequent weiterführend behandelt wurde. So kann man etwa bei Roccor (1997) in der Übertragung des Crossoverbegriffs auf die Kleidung lesen: „Es wird hemmungslos aus älteren Stilen zitiert, ohne dass daraus ein rigider Kleidungscode entwickelt wird. Wie für alle anderen Adaptionen von Minderheitenstilen gilt, dass das Stilelement seiner ursprünglichen Bedeutung, seinem ursprünglichen Ensemble entfremdet wird, um tragbar zu sein. Es ist also nicht möglich, in einem kompletten Heavy Metal-Outfit zur Techno-Party zu gehen, wohl aber, Tätowierungen, indianischen Silberschmuck und eine Weste in Kombination mit einer schicken Kurzhaarfrisur, Plateauschuhen und Bodysuit zu tragen. Kleidungselemente aus dem Punk (stachelige Frisuren, rasierte Flächen) (…) werden in immer neuen Variationen kombiniert und dadurch ihrer ursprünglichen rigiden Botschaft als Minderheitenstil beraubt“ (ebd., S. 62; zit. n. Vogelgesang 2001, S. 271; vgl. dazu auch: Breyvogel 2005). Dieser collagierte und stets immer wieder veränderte Kleidungs- und Stilgebrauch „stellt die modischen Objekte in ein neues, szeneeigenes Bedeutungssystem“ (Vogelgesang 2001, S. 271). Der CrossoverBegriff ließ sich nun auch auf die Musik übertragen und führte zu folgender Erkenntnis: „Der DJ (...) hebt die bisher produzierte Musik im materialistischen Sinne auf: Er sammelt und archiviert sie als Rohstoff für seine eigene Arbeit. Damit gelangt er ganz direkt in ein Verhältnis zur Musikgeschichte und kann so unmittelbar mit ihr hantieren. Er kann Sounds, Beats und Melodien aus verschiedenen Liedern, von verschiedenen Komponisten, sogar aus unterschiedlichen Epochen in Verbindung bringen, sie gegenüberstellen oder miteinander vermischen. Alte Musik wird in neue Zusammenhänge gestellt; die Kontexte werden verschoben. Alte Musikstücke (sowohl im Sinne von ganzen Liedern als auch von Liedelementen) lassen sich unendlich neu erfinden. Die Musikgeschichte scheint ihre Linearität zu verlieren: Der potenziell unbegrenzte Zugriff auf altes Material lässt alles auf das 51
Jetzt, den Moment der Synthese zusammenlaufen“ (Porschardt 1995, S. 16; zit. n. Vogelgesang 2001, S. 269). Ähnlich argumentiert Vogelgesang in der Beantwortung der Frage danach, wie die Techno-Bewegung zu den großen Konsummaschinen zu platzieren wäre. Auffallend sei hier, dass die Techno-Kultur „wie keine andere Jugendkultur vor ihr den Kommerz annimmt und in ihre Stilbildung integriert, ohne ihre Eigenständigkeit und stilistische Exklusivität zu verlieren. Nur auf den ersten, szenenfernen Blick lassen sich die Techno-Fans von den zahlreichen Werbekampagnen und Produktofferten der Konsumindustrie vereinnahmen. Eine szenennahe Beobachtung offenbart dagegen andere Gebrauchsformen >Hervorhebung: J.H.@: Die Paradiesvögel der Postmoderne schmücken ihr Federkleid auf eine ‚ausgeprägt konsum-avantgardistisch’ zu nennende Art und Weise. Denn sie entwickeln eine spielerische, exotische und äußerst dynamische Form von Markenfetischismus (...) Zum Ausdruck soll damit gebracht werden, wie sehr die Techno-Fans einerseits zum Motor von Mode und Konsum geworden sind, andererseits aber in der Marken- und Produktplatte zur individuellen Stilgestaltung und Selbstdarstellung regelrecht wildern. Sie entziehen sich nicht dem kommerziellen Druck, sondern beziehen Marken und Signets von Anfang an in die symbolische Arbeit mit ein“ (ebd., S. 270). Dass somit die kulturellen Felder, in denen Techno ungeniert umherwildert, einerseits ihre Linearität verlieren, andererseits aber auch ihre binären Logiken einbüßen, indem sich etwa das Verhältnis zwischen Produzenten und Konsumenten immer weiter auflöst und ein „Oszillieren zwischen extremen Vermarktungs- und damit Veralltäglichungstendenzen und der gleichzeitigen Ausbildung eines neuen Subjektivitäts- und Originalkultes“ (Vogelgesang 2001, S. 272) auszumachen ist, fordert gerade dazu auf, derartige Befunde auch auf der Ebene strukturtheoretischer Überlegungen weiter zu verfolgen und nicht-lineare Bewegung, Mannigfaltigkeit und umwandelnde Bastelarbeit als Strukturprinzip im Sinne operativ wirksam werdender Logiken und Systematiken anzuerkennen und nicht nur auf der Ebene von Ausdrucksformen und Stilproduktionen zu verfolgen. Wenn also durch die „Partynomaden“ (ebd., S. 273) eine „Ästhetik der De- und Rekontextualisierung“ (ebd., S. 272) auf den Weg gebracht ist, wenn im Binnenleben der Techno-Bewegung selbst so etwas wie ein szenetypischer Strukturkonflikt sich dergestalt ausformt, dass „in dem Maße, wie im Techno-Diskurs eine Bewegung hin zu ‚unity’ erkennbar wird“ in der Szene nachweisbar die Neigung steigt, „’difference’ zu markieren – und umgekehrt: dort wo Unterschiede betont werden, (...) sogleich wieder auf Gemeinsamkeit hingewiesen >wird@“ (ebd., S. 277), wo sich insgesamt ein Strukturprinzip in den Ausläufern einer ständigen „Entpara52
doxierung“ (ebd., S. 277) zu zeigen beginnt, und wenn Integration und Distinktion „als zwei ‚zugleich’ gegeneinander und ineinanderlaufende, als sozusagen dialektisch-prozessierende Bewegungen gedacht werden“ (Hitzler/Pfadenhauer 1997, S. 11; zit. n. Vogelgesang 2001, S. 277), dann fällt es mir schwer, dies als einen Strukturkonflikt weiter anzunehmen. Dieses Strukturprinzip ließe sich als ein Oszillieren zwischen molaren und molekularen Segmentaritäten bzw. als taktile operative Logik der Deterritorialisierung und Decodierung entwerfen, die Neues in der Form produziert, als sie gerade keinem (eigenen) übergeordneten Sinn oder Ziel nachjagt, sondern sich in den Sprachen und Funktionsweisen Anderer bedient. In dieser Strukturlogik geraten die Dinge dieser Welt in ihrer linearen Logik strukturell durcheinander und bilden eher weniger eine Anhäufung stets neuer Stile und Ausdrucksformen ab. Es ist dieser Strukturlogik immanent, die kulturellen Ausdrucksformen und Stile erkennbar zu halten (Prinzip der Codierung bzw. Territorialisierung); dieses Prinzip funktioniert gewissermaßen auf einer molaren Linie als Stabilisierung der eigenen kulturellen Praxisformen, die als je eigene auch nach außen erkennbar bleiben (sollen). Kulturelle Praxen erhalten so ihren spezifischen Ort (Territorium) und ihre spezifischen Stile und Ausdrucksformen (Code), um als Ausdruck einer spezifischen Kultur überhaupt sich halten zu können, im Gespräch zu bleiben, in ihrer Originalität und Einzigartigkeit erkennbar zu bleiben und nicht zuletzt ihre gesellschaftliche Akzeptanz und Anerkennung zu erhalten. Auf einer molekularen Ebene werden aber gerade diese Territorien und Codes stets umgewandelt und neu zusammengesetzt um Neues zu produzieren. Dies aber nicht im Sinne eines übergeordneten Sinns oder Ziels, sondern als fluchtartige Bewegungen und Sprünge, die stets neue Strömungen und Quanten freisetzen. Auf dieser Ebene setzt sich die immer wieder diagnostizierte Bastelmentalität als Strukturprinzip um: Territorien und Codes werden in immer wieder neue deterritorialisiert und decodiert, um nicht zuletzt die kulturelle Bewegung in Gang zu halten und um Fremdzuschreibungen sogenannter abstrakter Maschinen der Übercodierung (Medien, Institutionen, Staat etc.) entgegenzuwirken, die auf einer molaren Ebene ihre Wirkmächtigkeit entfalten. Hier werden auf einer molekularen Ebene sogenannte Mutationsmaschinen wirksam, die stets neue Fluchtlinien und Quanten auftun. Diese Fluchtlinien sind als das leise Inkrafttreten des Neuen zu bezeichnen und nicht als eine Flucht ins Nichts gemessen am Verschwinden pyramidenartig gedachter und entworfener Potenzialitäten, die mit der Logik des Blicks von Unten nach Oben hantieren.
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„Techno ist Krieg!“ stellt Richard (2001) fest und wendet sich in ihren Analysen dem Militärischen hin, das ähnlich wie auch in anderen Jugendkulturen ein Element einer außeralltäglichen Gemeinschaft ist (Richard 2001, S. 299). Auffällig wäre aber in Bezug auf die Techno- und House-Bewegung, dass schon die Bezeichnung ‚Loveparade’ eine „Zwiespältigkeit des Stils“ (ebd., S. 299) aufzeige: „Eine Parade, normalerweise die Präsentation waffenstrotzender Macht, wird ins liebevolle Gegenteil umfunktioniert“ (ebd., S. 299) und eine solche Inbesitznahme des Militärischen stünde quasi als ein Ausdruck einer spezifischen Oppositionshaltung: „Das Militärische steht für eine besonders starre Ordnung in der Gesellschaft. Mit der Enteignung der Accessoires drücken Jugendkulturen ihre Oppositionshaltung zur Gesellschaft aus“ (Richard 2001, S. 301). Legt man hier aber ein weiterführendes, nicht an der Oberfläche des Sichtbaren orientiertes theoretisches Abstraktionsniveau an, so könnte man dies aber durchaus auch folgendermaßen behandeln: Das Militärische steht auf einer übergeordneten und moralen Linie zwar als eine besonders starre gesellschaftliche Ordnung, es ist aber auf einer molekularen Linie und im Sinne mikropolitischer Prozesse auch ein Kriegsschauplatz im Rahmen dessen kleine, höchst subtile Kämpfe ausgetragen werden. In der Übernahme dieser molaren Logik in der Bezeichnung ‚Loveparade’ wird dieser Kriegsschauplatz selbstverständlich nicht als höchst offizielle Kampfansage gegen gesellschaftliche Ordnungs- und Dominanzstrukturen interpretierbar; in dieser Logik wäre die Aussage „Techno ist Krieg!“ selbstverständlich nur in der liebevollen Umkehrung haltbar. Mehr als eine „neutrale Feststellung, dass das Militärische, wie in allen anderen Jugendkulturen, auch ein Element einer außeralltäglichen Gemeinschaft ohne Hierarchie wie der Techno- und House-Szene darstellt“ (ebd., S. 301), ist Techno tatsächlich Krieg, wenn man dies einem anderen Gesellschaftsmodell folgend auf einer molekularen Linie als einen Kriegsschauplatz definiert in dessen Rahmen verschiedene Maschinen ihre kleinen oder großen Kämpfe austragen. Auf der einen Seite sind es die abstrakten Maschinen der Übercodierung, die stets darum bemüht sind, dem Phänomen Techno einen Ort bzw. ein Territorium zuzuweisen, nämlich den Ort ihrer nur dürftigen politischen Orientierung und Meinungsbildung. Diese abstrakte Maschine der Übercodierung (bzw. Reterritorialisierung) wird nun gerade dort wirksam, wo sie folgendes erkennt: „Die Szene >die ‚Kriegsmaschine Techno’@ ist nicht fest gefügt und überrollt daher die Proteste einer überholten Form der Bürgerbewegung, nämlich der ökologischen, die jedes Mal pünktlich zur Parade die Technobewegung des Ökoterrorismus in Form der Zerstörung des Berliner Tiergartens bezichtigt“ (ebd., S. 300). Die Kriegsmaschine Techno wird zu einer Gefahr, die stets die abstrakten Maschinen der Übercodie54
rung nebst ihrer Repräsentanten auf den Plan ruft. Die Gegner der Loveparade „fürchten diese als spukhaften Auftritt des Künstlichen, eines zukünftigen Ungewissen“ (ebd., S. 300). Somit besteht die eigentliche Gefahr der Techno-Bewegung im „Nicht-Greifbare>n@ dieser Szene, die sich nur zwei Tage trifft, um dann wieder zu verschwinden“ (ebd., S. 300). Die Loveparade ist in der Form tatsächlich als Kriegsschauplatz zu bezeichnen. Hier wird ein Krieg ausgetragen zwischen zwei Fronten, die jeweils das eine oder das andere einer Gesellschaft vor sich her tragen: molare und molekulare Segmentaritäten. Die Parade ist in diesem Sinne eine höchst militärische Veranstaltung, nämlich die der Kriegsmaschine Techno, die lautstark mit ihren Säbeln rasselt. An den Rand gedrängt stehen die Repräsentanten der abstrakten Maschine der Übercodierung (Bürgerbewegungen, Polizei, Ökoaktivisten, Medienvertreter, verstörte Passanten u.a.) zwar abseits, sie sind aber gleichartiger Bestandteil dieses Krieges. Ganz offensichtlich ist es doch so, dass die gesellschaftlich etablierte und legitimierte Form der Meinungsäußerung und des Protests in Form eines Demonstrationszuges im Rahmen der Loveparade nicht nur instrumentalisiert sondern darüber hinaus auch als die einzige gesellschaftlich anerkannte Form der Demonstration einer eigenen Meinung oder Sprache entwaffnet und regelrecht umfunktioniert wurde. Eine als Demonstration angemeldete Massenveranstaltung, die öffentlichen Raum in Besitz nimmt, um vermeintlich für oder gegen etwas höchst offiziell einzutreten zu wollen, hat diese Erwartung gesellschaftlicher, medialer und auch wissenschaftlicher Systeme von Anfang an geschickt unterlaufen und eines deutlich demonstriert: die Verweigerung der Teilhabe am etablierten gesellschaftspolitischen Diskurs in der Logik vorgefertigter Systeme. Streng genommen wurde hierfür die Logik einer Demonstration somit nicht nur instrumentalisiert, sondern im Interesse der je eigenen Bedürfnisse und Interessen umfrisiert. Auf der Loveparade wurde gerade dieses Umfrisieren des Vorgefundenen bzw. die räuberische Übernahme der Gesetze und Strukturen vorgefertigter Systeme auf den Punkt getrieben. Dies spiegelt gerade keine Oppositionshaltung gegenüber dominanten gesellschaftlichen Ordnungen wieder, sondern eine Aneignung von Gesetzen und Strukturen, die einem nicht selbst gehören. Nomadischen Ursprungs eignete sich die Techno-Szene systematisch Räume an; sie begann mit leerstehenden Lagerhallen und endete auf den Straßen Berlins; als Demonstration deklariert, eroberte sie sich selbst die Orte etablierter Ordnungen. Ganz gleich was sie tut, ob sie in Konsum- und Kommerzmaschinen ungeniert umherwildert, ob sie die alten Codes von Mode und Stil übernimmt oder in je eigene neue Codes überführt, ob sie mit generationalen Erfahrungsgeschichten bricht und in je eigene untergründige Bahnen flüchtet, ob sie öffentlichen Raum für die Artikulation eigener Interessen 55
und Bedürfnisse okkupiert um gleich wieder zu verschwinden: so oder so ist dies ein verbrecherischer Akt, der sich an der Logik alter Ordnungen vergeht.
56
3.
Empirischer und methodischer Bezugsrahmen
3.1
Empirischer Fokus der Arbeit und Markierung zentraler Forschungslücken
Strukturell ist die Lebensphase Jugend in ein Spannungsverhältnis zwischen Wahlmöglichkeiten und der Freiheit zur eigenen Entscheidung für dieses oder jenes Lebenskonzept, und den ständigen Entscheidungszwängen gestellt, die stets die Unmöglichkeit der richtigen Entscheidung vor Augen führen. So stellt sich heute um so mehr die Frage, in welcher Übereinkunft die schier grenzenlose Mannigfaltigkeit an Möglichkeiten, das eigene gegenwärtige Selbst zu erleben, zu erfahren und auszuprobieren auf der einen Seite, zu der enormen Last der eigenen Lebensplanung auf der anderen Seite steht. Diese Krisenhaftigkeit, in die die Lebensspanne Jugend eingebettet ist, geht Hand in Hand mit der Krisenhaftigkeit des offenen Zukunftshorizontes, an dem sich die Richtigkeit der getroffenen Entscheidung für dieses oder jenes Lebenskonzept bewähren muss. Der in der Lösung solcher Krisen sich generierende Eigenwert des Lebens, der sich von tradierten Lebensführungsprinzipien auch begründet loszulösen vermag, spendiert uns augenscheinlich einen Einblick in ein gegenwärtiges Bild von Jugend. So haben wir uns mehr oder weniger daran gewöhnt, die Lebensphase Jugend an ihren Prozessen von Integration und Distinktion, an ihren Stellungnahmen zu den großen Diskursen zur Reproduktion tradierter gesellschaftlicher Ordnungen einerseits und der innovativen Hervorbringung des gesellschaftlichen Neuen andererseits, insgesamt also an der Artikulation des je Eigenen gegenüber dem Anderen zu erklären. Wir halten daran fest, die Lebensspanne Jugend als den Innovationsmotor von Gesellschaft auszumachen und schauen danach, welche rationalen Potenzialitäten Jugendliche in ihren Lebensentwürfen potenziell hervorbringen. So stehen die Fragen danach im Vordergrund, wie es Jugendlichen gelingt, die Krisenhaftigkeit des offenen Horizontes in der Konstruktion hypothetischer Welten, übergeordneter Ziele oder gar utopischer (Gegen-) Entwürfe zu generieren, die einer Machbarkeit und Planbarkeit von Welt nachjagen. Schließlich haben die Jugendgenerationen der letzten einhundert Jahre ein imposantes Bild vorgelebt und so blie57
be der neuen Jugendgeneration des beginnenden 21. Jahrhunderts eher vorzuhalten, dass ihre Stellungnahmen zum „Wofür“ oder „Wogegen“ immer undeutlicher werden, wenn nicht sogar diese Teilhabe am großen gesamtgesellschaftlichen Diskurs von Seiten der Jugendlichen insgesamt aufgekündigt worden ist. Gesellschaftliche Innovationsprozesse gehen – aus dieser Perspektive auf Jugend betrachtet – gerade aus den Entscheidungen Jugendlicher gegen diese oder jene etablierten gesellschaftlichen Ordnungen oder gegen diese oder jene Lebensführungsprinzipien hervor. Dies macht Jugend zum gesellschaftlichen Innovationsmotor, indem eingefahrene gesellschaftliche Strukturen und Ordnungen aufgebrochen werden und sich am anderen Pol jugendliche Gegenentwürfe auftun, die sich gegen die Logik etablierter Ordnungen aufbäumen und im Sinne der rationalen Verwertbarkeit solcher Gegenentwürfe oder -modelle, gesellschaftliches Neues hervorbringen. Hier bewegen wir uns jedoch in einem Idealbild von Jugend, das seinen Wirklichkeitsbezug immer weiter einzubüßen scheint. Denn so stehen die bekannten Diagnosen vom Verschwinden der Teilhabe Jugendlicher am gesellschaftspolitischen Diskurs und – damit verbunden – das tendenzielle Verschwinden jugendlicher Meinungsbilder sowie die dem entgegenlaufende Konzentration Jugendlicher auf die Wahrung eigener Interessen und Bedürfnisse für ein Bild von Jugend, das – auf der Oberfläche betrachtet – immer mehr von seinen einstmaligen Widerstandsund Protestkulturen einzubüßen scheint. So zeigen aktuelle Jugendstudien, etwa die von Zinnecker (2005) oder der Deutschen Shell (2002), dass wir es in der jungen Generation zu Beginn des neuen Jahrhunderts, resp. in den Jahrgängen zwischen 1977-1991 (vgl. Zinnecker 2005, S. 181), im deutschsprachigen Raum mit eher systemloyalen jungen Menschen zu tun haben, die im Großen und Ganzen mit der Erwachsenengeneration ihren „persönlichen, sozialen und politischen Frieden geschlossen“ (Zinnecker 2005, S. 178) haben. Im Kontrast zu den deutschen Jugendbewegungen der letzten einhundert Jahre hat sich die junge Generation weitestgehend vom Projekt einer besseren Welt verabschiedet, und so stehen die pragmatischen Lösungen je eigener Probleme im Vordergrund und nicht mehr das Hantieren mit krisenhaften Zukunftshorizonten bzw. die Konstruktion utopischer Gegenentwürfe im Vordergrund jugendlicher Identitätsprozesse. Jugendliche entdecken für sich herkömmliche Werte wie Disziplin, Leistungsorientierung, Fleiß und Ehrgeiz neu, und diese konventionellen Werte stehen kaum mehr in einem Konflikt zu eher materiellen Werten und Werten der Kreativität (vgl. ebd., S. 177). Zugleich werden erwachsene Vorbilder, die vor allem im familiären Bereich auszumachen sind, entgegen den Entwicklungen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wieder hochgehalten. Dagegen 58
stehen die Agenten des Bildungssystems (Lehrer) und des Staatsapparates (Politiker) bei den Jugendlichen nicht sonderlich hoch im Kurs; ihnen wird allenfalls mit Skepsis und Misstrauen begegnet bzw. zerfällt ihre Autorität zunehmend mehr (vgl. Zinnecker 2005, S. 179). So zeichnet sich insgesamt das Bild einer jungen Generation des neuen Jahrhunderts ab, das Jugendliche eher als „Ordnungssucher“ (ebd., S. 186) erscheinen lässt; eine Jugend, die an „verlässlichen sozialen und kulturellen Ordnungen interessiert“ (ebd. S. 186f.) ist, und die auch bereit ist, nach pragmatischen Lösungen zu suchen und „sich für die Stützung und den Neuaufbau solcher >kleinen Ordnungen<“ engagiert (ebd., S. 187.). Aus diesem Blick verkehrt sich das gewohnte Bild von Jugend enorm: die einstmals gegen die überlieferten Ordnungen rebellierende Jugend wird zum Bewahrer dieser Ordnungen; eine Rolle, die sonst eher der Erwachsenengeneration zugeschrieben wurde (vgl. ebd., S. 175). Ein solches Bild von der aktuellen Jugendgeneration ist eingewoben in makropolitische Hintergrundbilder, und so wäre diese junge Generation Ausdruck bzw. Produkt der gesellschaftlichen, sozialen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse und Wandlungsprozesse in denen sie herangewachsen ist: Liberalisierung des pädagogischen Umgangs in Elternhaus und Schule seit den 1970er Jahren und die missglückte Umkehr im Verlaufe der 1990er Jahre, tiefgreifende gesellschaftliche, politische, soziale und auch ideologische Umbrüche zu Beginn der 1990er Jahre, enorme Anforderungen an das Leben in einer globalen Medienkultur und nicht zuletzt die Krise der Erwerbsarbeit und des Wohlfahrtsstaates sind hier nur als einige Stationen zu nennen, die diese junge Generation nicht nur durchlaufen, sondern für sich selbst auch meistern mussten (ebd., S. 181). Legt man nun allerdings einen mikropolitischen Blick an und wendet sich der Frage hin, wie es Jugendlichen heute gelingt, innerhalb ihrer ‚eigenen Welten’ so etwas wie ein widerständisches und/oder innovatives Potential zu entfalten bzw. hervorzubringen, landet man in anderen gesellschaftlichen Gefügen und Segmentaritäten und etwa in jugendkulturellen Räumen, in denen sich Jugendliche relativ frei von gesellschaftlichen (Rollen-) Erwartungen nicht nur frei entfalten und gesellschaftliche Sach- und Rollenzwänge kompensieren, sondern ihr eigenes ‚wahres Selbst’ berühren können. Bestenfalls präsentieren sich solche jugendkulturellen Entwürfe eines eigenen Selbst im Gewande kultureller Gegenentwürfe, die in einem spezifischen Verhältnis zu den dominierenden gesellschaftlichen Strukturen und Ordnungen stehen. Sie funktionieren gewissermaßen als Gegenkulturen, die sich gegen die Enge und Begrenzung gesellschaftlicher Strukturen in der Hervorbringung eines je Eigenen aufbäumen. Aber auch dies scheint immer weniger der Fall zu sein, und so werden jugendkulturelle Szenen und Formationen 59
bzw. der Sinn und die Bedeutung jugendkultureller Handlungspraxen immer undeutlicher und vielgestaltiger. Und auch hier zeigen Studien eher auf, dass mit der Artikulation eines spezifischen Meinungsbildes, das mit gesellschaftlichen Konventionen bricht, aus den Tiefen des jugendkulturellen Raumes immer weniger zu rechnen sei. So wird gegenwärtig ein Bild von Jugend gezeichnet, das eher Leerstellen und Lücken bzw. das Verschwinden einstmaliger Eigenheiten und Besonderheiten nachzeichnet, die man von Jugendlichen bisher gemeinhin erwarten konnte, als dass es aufzeigt, was das je Eigene spezifischer jugendkultureller Handlungspraxen sinn- und bedeutungsbasiert überhaupt noch zu bedeuten habe. Eine Sinn verstehende Jugend- und Jugendkulturforschung muss es sich heute umso mehr zur Aufgabe machen, in diese vielfältigen Sinnwelten Jugendlicher einzutauchen. Hierbei muss auch berücksichtigt werden, dass sich Sinn und Bedeutung jugendkulturellen Handelns, sich an vielen Stellen von den Handlungssubjekten in jugendkulturellen Kontext nur schwer kommunizieren und artikulieren lassen. Oft sind diese Sinn- und Bedeutungskonstruktionen Jugendlicher, die auf das eigene kulturelle Handeln zielen, in spezifischen Handlungsweisen verborgen, die einen offensichtlichen und außen artikulierbaren Sinntransport eher erschweren. Sinn-logisch lässt sich gerade in den jugendkulturellen Handlungsweisen, die stets neue Richtungen und Bahnen einschlagen können, oft gar kein Sinn ausmachen, da auf einer Ausdrucksebene und auf der Ebene des Beobachtbaren, der Sinn einer Handlung nicht erkennbar ist. Dennoch sind es gerade diese spezifischen Handlungsweisen, in denen der eigene Sinn einer Handlung nicht nur generiert wird, sondern in denen sich objektive Sinnstrukturen verbergen, die im spezifischen Ausdruck einer Handlung ihre eigenlogische Artikulation erfahren. Jugendkulturelle Handlungspraxen sind gerade als höchst aussagefähige Sinnwelten zu verstehen, in denen sich ganz allgemeine gesellschaftliche Strukturproblematiken insofern niederschlagen, als sie gerade in jugendkulturellen Räumen ihre je spezifische Handhabung und Lösung erfahren. In der spezifischen Handhabung solcher gesellschaftlichen Struktur- oder Krisenproblematiken kommt gerade das je Eigene jugendkultureller Handlungspraxen zum Ausdruck, nämlich eine je spezifische Art und Weise der Auseinandersetzung mit und Aneignung von Welt. Jugendkulturelles Handeln ist in der Folge als strukturreproduzierendes, strukturrepräsentierendes wie strukturgenerierendes Handeln zu verstehen. Ob diese Handlungen nun im jugendkulturellen Kontext so etwas wie innovative oder rationale Potenzialitäten in der Gestaltung von Welt hervorbringen, kann in der Folge nur aus den Handlungen selbst und in einem Sinn verstehenden Zugang zu jugendkulturellen Hand60
lungspraxen und Handlungsweisen herausgearbeitet werden. Ob solche Potenzialitäten nun makropolitisch verwertbar oder mikro-politisch wirksam sind und ob sie einer rationalen Vernunft oder einer produzierenden Vernunft, ob sie dem rechnenden Denken oder der dem Denken abgewandten Seite des Selbst zuträglich sind, auch dies muss sich in einem Sinn verstehenden Zugang erklären lassen. Diesen Sinn- und Bedeutungswelten der Techno-Kultur geht diese Arbeit im rekonstruktiv-hermeneutischen Vergehen nach. Hier beschreitet diese Arbeit eher Neuland. Zumindest ist mir keine Studie bekannt, die jugendkulturelle Fabrikationen schriftsprachlicher Identitätsarbeit aus dem Kontext dieser Szene einer rekonstruktiv-hermeneutischen und also Sinn verstehenden Analyse unterzogen hat. So existieren zwar eine (Un-) Menge von Studien, die Bilder von Techno gezeichnet haben, bzw. war man stets darum bemüht, Informationen aus erster Hand und also im Rahmen von Einzelinterviews, Experteninterviews oder Gruppendiskussionen zu beziehen, immer darauf insistierend, dass diese Informationen aus erster Hand unverzichtbar sind für ein wirkliches Verstehen jugendkultureller Szenen und Handlungspraxen. In den meisten Fällen blieb man jedoch in der Auswahl des ‚richtigen’ Zugangs zu dieser Szene und in der Auswahl der ‚angemessensten’ Erhebungsinstrumente bei diesem Anspruch stehen. Die Anwendung, und manchmal sogar nur die Kennzeichnung konkreter methodischer Erhebungs- und Auswertungsverfahren, die der qualitativen Sozialforschung zur Verfügung stehen, ist nur in den wenigsten Studien zur Techno-Szene auch wirklich erkennbar. Bis heute kann man einen rekonstruktiv-hermeneutischen und damit Sinn verstehenden Zugang zu jugendkulturellen Szenen und Handlungspraxen nicht ausmachen. So bleibt m.E. die Frage offen, ob man bis heute tatsächlich (Sinn verstehend!) in die Welt von Techno eingedrungen ist. So bemerkt Vogelgesang (2001) etwa: „Durch intensive Beobachtungen vor Ort und Schilderungen aus erster Hand haben wir versucht, die notwendige Wirklichkeitsnähe herzustellen, um der Faszination ‚Techno’ auf die Spur zu kommen. Zwar birgt das dazu notwendige Involvement im Laufe der Forschung immer die Gefahr der Überidentifikation in sich, aber letztendlich sind gerade in Jugendszenen teilnehmende Recherchen unverzichtbar, um aus der Binnenperspektive eine andere Welt in unserer Welt transparent zu machen“ (Vogelgesang 2001, S. 265) und schmiegt sich damit auf folgenden Verweis von Pfadenhauer (1999) an: „Sie ist eine ‚fremde’ und ‚seltsame’ Welt, diese kleine Lebenswelt der Technoiden. Sie erschließt sich dem Betrachter nicht im Vorübergehen, nicht mit einem flüchtigen Blick in die düsteren Clubs, in denen die Nacht zum Tag wird, nicht in Fern61
sehberichten und Zeitungsartikeln. Wer ‚verstehen’ will, was da vor sich geht, muss sich einlassen auf die Relevanz derer, die in dieser Welt zu Hause sind“ (Pfadenhauer 1999, S. 294; zit. n. Vogelgesang 2001, S. 266). Da steckt viel drin: erstens impliziert das Vorangegangene, dass sich eine Wirklichkeitsnähe, was auch immer dies in der letzten Konsequenz zu bedeuten habe, idealer Weise durch personale Anwesenheit und in der Folge durch Beobachtung und Beschreibung des Gesehenen herstellen lässt. Zweitens impliziert dies streng genommen folgerichtig, dass diese Form der hergestellten Wirklichkeitsnähe in erster Linie dazu dient, der ‚Faszination’ Techno und nicht etwa dem, was Techno fernab dieser Faszination als sinn- und bedeutungsproduzierendes Segment im gesellschaftlichen Gefüge ist, auf die Spur zu kommen und so ein Bild einer Welt in unserer Welt nachzuzeichnen bzw. transparent zu machen. Drittens wird impliziert, dass dies nur aus einer Binnenperspektive heraus geschehen kann; andere denkbare Perspektiven und Vorgehensweisen werden vorschnell als „armchairPosition“ (Vogelgesang 2001, S. 266) abgeurteilt, in der man als Forschender wiederum dazu verurteilt wäre, „urteilen zu müssen“ (ebd., S. 266). Viertens wird unterstellt, dass die Relevanzen der ersten Hand, die zunächst einmal nur Informationen spendiert, schon ein Verstehen garantiert. Fünftens schließlich ist dieses Zuhause der Technoiden als ein Ort markiert, der in der personalen Anwesenheit der Technoiden im Zentrum des Beobachtbaren seinen Ausdruck findet. Die erste Annahme impliziert, dass der Zugang zur Wirklichkeit in jugendkulturellen Szenen und/oder Handlungspraxen durch Beobachtung des Beobachtbaren und durch so verstandene Informationen aus erster Hand herstellen lässt. Hier muss aber die Frage gestellt werden, welche Wirklichkeit hier gemeint ist. Die Wirklichkeit des Beobachtbaren im Szenekontext, oder die Wirklichkeit, die Techno als Segment im gesellschaftlichen Getriebe produziert. Dies bekommt man in den Studien oft nicht auseinander bzw. wird unterstellt, dass die beobachtete Wirklichkeit eine strukturtheoretische Abstraktion im Sinne von theoretischen Generalisierungen erlaubt. Diesen Abstraktionsgrad erreichen lebensweltlich-ethnographische ausgerichtete Studien in der Regel nicht, und so dringen derartige Studien so gut wie gar nicht auf die Sinn- und Bedeutungsebenen vor, die dem beobachtbaren Handeln in jugendkulturellen Szenen zugrunde liegen; sie bleiben allzu oft spekulativ. Auch nicht im Rahmen der in hoher Zahl erhobenen qualitativen Interviews, da auch hier nur in den wenigsten Fällen die Anwendung konkreter sinn- und bedeutungsrekonstruierender methodischer Verfahren deutlich wird. Es ist sicher nahe liegend und richtig, die Wirklichkeit dort zu erheben, wo sie passiert, aber diese Wirklichkeit passiert eben nicht nur in den Orten des 62
Beobachtbaren, sondern auch und gerade in den raumaneignenden Praktiken, die sich nicht vor Ort beobachten und sehen lassen. Informationen aus erster Hand bezieht man eben auch und vielleicht sogar gerade dort, wo keine Absichten und Interessen eines Anderen herrschen. Die zweite Implikation hat folgerichtig damit zu tun und beantwortet streng genommen die Frage danach, welche erkenntnistheoretischen Fabrikationen im Rahmen eines solchen Vorgehens geschaffen werden. Mir scheint es wirklich zunächst einmal nicht mehr und aber auch nicht weniger zu sein, als die dichte Beschreibung eines faszinierenden und eben nicht erklärenden bzw. Sinn verstehenden Bildes jugendkulturellen Treibens. Der Faszination Techno auf die Schliche kommen zu wollen, definiert Techno symptomatisch eben nur als faszinierendes jugendkulturelles Massenphänomen und nicht als Sinngestalt, die in ihrer eigenen Art und Weise auf die Strukturproblematiken bzw. -eigenheiten dieser Welt reagiert. So wurde gerade in Bezug auf die Techno-Szene eine Fülle von Material und ein Detailwissen produziert, das den sinn- und bedeutungsverstehenden (Über-) Blick auf das Phänomen Techno eher verhindert hat. Drittens wird im Verständnis der Information aus der ersten Hand ein Erhebungsinstrument unkritisch idealisiert, ohne dass dieses Instrument in seiner Angemessenheit auf den Untersuchungsgegenstand überhaupt noch überprüft wird. Dominant kommt die Information aus erster Hand als Einzelinterview und/oder Experteninterview daher, ohne dass danach gefragt wird, was im Rahmen dieses Instrumentes konkret erhoben wird. Von der kritischen Frage, was Interviewsituationen selbst schon provozieren und produzieren, ist schon gar nicht mehr die Rede. Diese Frage stellt sich streng genommen auch nicht, wenn der Anspruch der Erhebungsarbeit darin liegt, zunächst einmal nur Informationen zu beziehen, die der Beschreibung eines zusammengestückelten Bildes dienlich sind. Meine Erfahrungen in der Erhebung und Analyse von Einzel- und Experteninterviews sowie Gruppendiskussionen in der Techno-Szene haben mich hauptsächlich folgendes gelehrt: es sind Texte entstanden, die einem Bedürfnis bzw. einem Bedarf entsprungen sind, meinem Bedarf am Gesagten von Akteuren einerseits und dem in der Interviewsituation provozierten Bedürfnis des Akteurs, dem jugendkulturellen Handeln dort Sinn zuzuschreiben, wo eigentlich kein übergeordneter Sinn auszumachen ist: reine Recodierung. Die von mir befragten Akteure haben sich die allerfeinste Mühe gegeben, Informationen zu spendieren. Oft waren komplette Interviews vom Gewebe dieses Bedürfnisses, vom Wollen des Fragenden und vom Wollen des Befragten durchzogen, nicht weil der Interviewverlauf zu wenige offene Stellen für ‚wahrhaftige’ Narrationen ließ, nein, weil das Wollen des einen die Arti63
kulation von Begehren und Wollust des anderen verstopfte, jenes Begehren aber, das sich nicht sagen lässt und aber der tiefe Grund der Handlungen im jugendkulturellen Raum ist. Begehren ist auch als ein strukturbildendes Moment zu verstehen, indem feststehender Sinn durchbrochen oder abgewandelt und neuer Sinn hinzugefügt werden kann. Man könnte mit Barthes (1996) sagen, der Text plapperte, und dieses „Plappern des Textes ist jener Sprachschaum, der sich aufgrund eines bloßen Schreibbedürfnisses >oder Erzählbedürfnisses@ bildet. Hier hat man es nicht mit Perversion zu tun, sondern mit Bedarf“ (Barthes 1999, S. 10). Dort, wo es nur um Informationen geht, spielt Begehren und Wollust keine Rolle bzw. hat es dort keinen Platz. Dort aber, wo wir es mit einem Forschungsgegenstand und nämlich mit kulturellen Praxen zu tun haben, die sich selbst maßgeblich über dieses Begehren, diese Wollust, diese Lust am Umwandeln, am Verfremden, Hinzufügen und Abziehen in der Konstruktion einer eigenen Welt definieren und sich über die harten Linien und Segmente einer vorgefundenen Welt hinwegbewegen, dort spielen kühle Informationen keine Rolle; hier muss nach den Spuren gesucht werden, aus denen man dieses Begehren eines Veränderungswillens bzw. das Tun und Machen eines je Eigenen aufspüren kann, unabhängig davon, wie faszinierend und informativ dies auch sein sollte. Dies sei dann erst einmal dahingestellt. Viertens schließlich wäre zu fragen, was dieses sich Einlassen auf das Zuhause, die Beheimatung oder das Heimatliche der Technoiden in der letzten methodischen und theoretischen Konsequenz zu bedeuten hätte. Durch personale Anwesenheit in den Orten einer Szene erfährt man m.E. noch nicht allzu viel vom Heimatlichen einer jugendkulturellen Massenbewegung. Man wird nicht automatisch Resonanzbox der Verhältnisse, die sich in den kulturellen Praxen bewegen. Nur durch eine Form des (mimetischen) Anschmiegens, das den Schmerz und die Lust kultureller ästhetischer Handlungspraxen in sich aufnimmt und auf eine Struktur zurückführt, die den listenreichen Logiken und Handlungsweisen im Verborgenen eingeschrieben ist, ermöglicht überhaupt erst ansatzweise von einem Verstehen, statt von bloßer Beschreibung zu sprechen. Und so ist es ein Trugschluss, zu glauben man wäre drin, wenn man bis zum Ort des Geschehens, der durch grimmige Türsteher versperrt wird, vorgedrungen ist (vgl. Vogelgesang 2001, S. 266). Das Gefühl, im Zuhause seines eigenen Selbst, seiner eigenen kleinen Welt angekommen zu sein, „erstreckt sich von einem Binnengefüge bis zum Zentrum, das nach außen projiziert wird, es durchzieht die Zwischengefüge und dringt bis zu den Toren des Kosmos vor“ (Deleuze/Guattari 2005, S. 454). Diese eigene kleine Welt, die zu einem Zuhause wird, ist nicht der Ort gesehener Ordnungen, in die sich 64
Handlungssubjekte eingenistet haben. Es ist das Ergebnis von Bewegungen: weg vom Vorgefundenen und hin zu neuen und unbekannten Kräften. In diesem Buch ist der Fokus auf schriftsprachliche Texte gerichtet, die allerdings nicht entwurfartig als Präsentation eines fertigen Selbstbildes o.ä. daherkommen, sondern die als erzählerische Handlung und als Re-Präsentation der Verhältnisse der Dinge zueinander. Ziel ist es, das offene Moment solcher Sinnkonstruktionen in Ausdrucksgestalten jugendkulturellen Handelns einzufangen, die in der Folge als so etwas wie dynamische Fluchtpunkte in den eigenen Sinn- und Bedeutungszuschreibungen zu bezeichnen wären. Ich gehe davon aus, dass sich in solchen unfertigen und hinsichtlich ihrer rationalen Potenzialitäten offenen Texten gerade ein subtiles, lustvolles Spiel mit Sinnvielfalten ausdrücken kann, das sich zwar auf objektive Strukturproblematiken beziehen, und in gewisser Weise diese Strukturproblematiken selbst reproduzieren kann, durchaus aber auch in der Handhabung solcher Strukturproblematiken als Handlungsweisen keinen neuen übergeordneten Sinn entwurfartig hervorbringt, sondern neue Oberflächen einzieht, die es hier und da erlauben, sich von der Krisenhaftigkeit solcher Strukturproblematiken quasi stoß- und fluchtartig wegzubewegen.
3.2
Anlage und Ziele der Studie
Insgesamt liegen dieser Arbeit zwei Texte zugrunde, die dem Internet entnommen wurden und auf unterschiedlichen Seiten im Internet positioniert waren. Bei dem Text A handelt es sich um einen schriftsprachlichen Text, der im Rahmen eines bekannten Internetportals der Techno-Szene erhoben wurde.4 In einem Forum dieses Internetportals5 wurde ein Ausschnitt eines kleinen Diskurses erhoben. Dieser kleine Diskurs setzte sich mit der Frage auseinander, was Techno eigentlich sei. Dieses so vorliegende Protokoll einer solchen jugendkulturellen Praxisäußerungsform repräsentiert gewissermaßen eine stellvertretende Deutung dessen, was Techno sinn- und bedeutungsstiftend kennzeichnet. Folgendes Transkript gibt einen Auszug aus diesem Text wieder. Anfang und Ende dieses Textes bildet ein eigenständiger Redebeitrag einer einzelnen unbekannten Person:
4 5
http://www.technoguide.de/a/index.php http://www.talk-netz.de/viewforum.php?f=53 (vom 14.06.2000)
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„Hat unsere Gesellschaft vielleicht ein Problem mit Menschen, die sich eben nicht an die altbewährten Wertvorstellungen und Moralansichten einer Generation anpassen wollen, die es seit Jahrzehnten nicht auf die Reihe bekommen hat, ihr Leben so zu gestalten, dass sie sich in ihm wohlfühlen, weil sie genau das machen, was unser nicht all zu langes Dasein etwas fröhlicher gestaltet? Ist es nicht an der Zeit umzudenken, und nicht alle von der gesellschaftlichen Norm abweichenden Dinge mit Argwohn zu betrachten, und bei Bedarf Lorbeer bringend zu bekämpfen? Ich denke, viele denken so wie ich, und können Vorgänge wie sie sich im „Lennox“, im „Peack“ und in vielen anderen Clubs abspielen, nicht nachvollziehen. Vielleicht erlebe ich es ja noch, dass gewissen Leuten endlich mal ein Licht aufgeht, und sie begreifen, dass die Technoszene keine dunkle Bedrohung der Menschheit ist, sondern eine kulturelle Begleiterscheinung einer neuen Generation aus jungen, intelligenten und kreativen Menschen, die ihre Ideen und Wertvorstellungen in eine vielleicht bessere Zukunft einfließen lassen.“
Bei dem Text B handelt es sich um einen Text, der aus der Feder einer lokalen Gruppe von Jugendlicher stammt, die in regelmäßigen Abständen größere TechnoEvents in einer Kreisstadt in den neuen Bundesländern organisieren und veranstalten6. Diese Events werden auf der eigenen Homepage jeweils angekündigt und präsentiert. Exemplarisch wurde eine solche Event-Ankündigung als natürliches Protokoll aus dieser Homepage erhoben.7 Im Jahre 2002 bildete dieser Text die Startseite der genannten Homepage (www.ton-aus-strom.de). In der Analyse bleibe ich bei genau diesem Protokoll und begrenze die Analyse auf jene Wirklichkeit, die durch dieses Protokoll eröffnet und beschlossen wird. Folgendes Transkript soll also auf dieser Ebene weiterer Gegenstand der Analyse sein: „Seit Menschengedenken wird der Weg zu Einheit und Ekstase, zu höherem Bewusstsein und Vollkommenheit von den Völkern aller Kontinente fieberhaft gesucht. Eine Art diesen Weg zu finden, welche so alt wie die Menschheit selbst ist, ist die Zusammenkunft zu rhythmischen Festen. Schon immer verhalfen Takt und Rhythmik zu Trance und Ekstase. All diese Treffen sind verewigt im Metronomicon, dem Buch der Takte. Verschollen tritt das Buch nur dann in Erscheinung, wenn alle die Faktoren in Einklang stehen: Der Rhythmus – der Takt Das Licht – der Klang Die Menschen – die Prediger.
6
http://www.ton-aus-strom.de/txtversion/history_ger.htm (28.10.2004); http://www.ton-ausstrom.de/history.htm (18.05.2006) 7 http://www.ton-aus-strom.de/ (02.03.2002)
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All dies verhilft zu einer einzigartigen Konstellation, die es ermöglicht, ein neues Kapitel in diesem Buch zu verewigen. Die Metronomanden sind jene Reisende, welche vom Altar des Taktes gerade diesen Takt beschwören. Wir luden nur ausgewählte Metronomanden zum Spiel nach X-Stadt. Sie selbst sind schon als Teil der Geschichte im Metronomicon gebannt. Also lasst uns, geblendet von Video, Laser und Licht, betäubt von riesigen Soundsystemen und überwältigt von einzigartigen Takten und Rhythmen gemeinsam einen Weg finden, das Metronomicon erscheinen zu lassen. TON AUS STROM soll ein neues Kapitel in diesem Buch beschreiben. //enter metronomicon//“
Diese beiden Texte wurden vor dem Hintergrund der zentralen Forschungsfrage erhoben, die sich mit den je fallspezifischen Ausformungen jugendkultureller Selbstkonzepte auseinandersetzt. Dabei ist die grundlagentheoretische Annahme leitend, dass sich in solchen Ausdrucksgestalten jugendkultureller Identitätsfindungs- und Selbstkonstruktionsprozesse ganz grundlegende Struktur- und Bewährungsprobleme ausdrücken, die im Kontext dieser spezifischen Szene gewissermaßen ‚technospezifisch’ und somit nach spezifischen Eigenlogiken und Systematiken gehandhabt und gelöst werden. Im rekonstruktiv-hermeneutischen Vorgehen galt es nun, diesen grundlegenden Struktur- und Bewährungsdynamiken auf die Schliche zu kommen, um in der Folge Struktur generalisierende Aussagen darüber treffen zu können, welche Stellung Techno im gesellschaftlichen Getriebe einnimmt, welche spezifischen innovativen Potenzialitäten Techno in der Gestaltung von Welt mitbringt und welche vor dem Hintergrund der Struktur des Falls eher ausgeschlossen werden können. Dieser Zugang will einen tiefen Blick in die spezifischen Logiken und Systematiken der Handhabung und Lösung von Bewährungs- und Strukturproblematiken eröffnen, die sich aus den jugendkulturellen Handlungen bzw. auf der Ebene sinn- und bedeutungsstiftender Selbstkonzepte ausdrücken. In ihrer fallspezifischen Ausformungen werden so allgemeine strukturtheoretische Aussagen zum jeweils höher aggregierten sozialen Gebilde Techno deutlich. Hierfür ist es notwendig, Texte auszuwählen, die hoch verdichtet und möglichst authentisch den Kern der Sache zur Sprache bringen, die sich in einer konkreten Forschungsfrage wiederfindet. Beide Texte setzen sich mit der Frage auseinander, welche Stellung Techno in der Gesellschaft bezieht, was Techno-Kultur sein soll und was sie nicht sein will; all dies sind Fragen, die ohne die fallspezifische Beantwortung der Frage nach den Struktur- und Bewährungsproblemen, in die Lebenspraxen innerhalb dieser modernen Welt gestellt sind, nicht auskommen. Doch in der Beantwortung dieser Fragen bleibe ich nicht am Fall kleben, denn Fallstrukturen bemühen ein 67
Wissen um die universellen Regeln, Gesetze und Strukturen dieser Welt, um ihre eigenen Entscheidungen für dieses oder jenes Lebenskonzept vor sich selbst und vor anderen begründen und darüber hinaus einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben zu können; darauf zielt die folgende Abhandlung. Wie dies alles gewählt und begründet wird, eröffnet nicht nur einen Blick in die Systematiken und Eigenlogiken des Einzelfalls, sondern sie lassen auch Aussagen darüber zu, wie Jugendliche in spezifischen kulturellen u.a. Kontexten ganz allgemeine Widrigkeiten, Irritationen und Krisen einer modernen Welt ganz konkret handhaben und lösen, in welche spezifischen Struktur- und Bewährungsprobleme Jugendliche heute gestellt sind, die sich so oder in ähnlicher Art und Weise andere Jugendliche in anderen Kontexten ähnlich stellen müssen. Das umfassende Ziel dieser Auseinandersetzung liegt demnach gerade nicht darin, Techno in seiner ganzen Fülle und Breite zu beschreiben sondern hier liegt der Anspruch darin, aus je spezifischen Fallstrukturen gewissermaßen das Gesetzes-Allgemeine des jugend-kulturellen Phänomens Techno herauszuarbeiten und aber auch das Gesetzes-Allgemeine einer Welt fallspezifisch herzuleiten, in die Techno als soziales Gebilde hineingestellt ist. Dieses Vorgehen und die Tragweite eines solchen Modus der Erkenntisgenerierung begründet sich aus einem spezifischen Generalisierungsprinzip, das im Kapitel 4.6 möglichst dicht an den grundlagentheoretischen Annahmen der Objektiven Hermeneutik dargestellt wird.
68
4.
Die Methode der Objektiven Hermeneutik
Die Methode und Theorie der Objektiven (strukturalen) Hermeneutik wurde von Ulrich Oevermann beginnend in den 1970er Jahren entwickelt und bis in die heutige Zeit ständig weiter vorangetrieben. Das ‚Einlesen’ in die Methode der Objektiven Hermeneutik gestaltet sich deshalb etwas schwierig, weil das so entstandene Methodengerüst auf kein einheitlich vorliegendes ‚Methodenbuch’ verweist, sondern erst aus vielen verstreuten Einzelpublikationen Oevermanns entstanden ist (vgl. Oevermann 1981, 1986, 1990, 1991, 1995, 2000) und die zum Teil aus kritischen Diskursen hervorgegangen sind. Als Klassiker schlechthin sind hier die Rekonstruktion einer Abendbrotszene (Oevermann/Allert/Kronau/Krambeck 1979) und die einer Fernsehansage (Oevermann 1983) besonders hervorzuheben. Erstmals wurde in der Rekonstruktion dieser beiden Szenen die Differenz zwischen der subjektiven Repräsentanz intentionalen Handelns einerseits und den latenten Sinnstrukturen andererseits deutlich. In der so genannten „Guten Abend Szene“ im Rahmen dieser Fernsehansage wird bspw. deutlich, wie auf der Ebene subjektiv-intentionaler Repräsentanz die Begrüßung der Zuschauer augenscheinlich zwar als wohlgeformte Einhaltung von Höflichkeitskonventionen daherkommt, die aber in der Strukturlogik des Fernsehens den Zuschauer latent in eine Beziehungsfalle manövriert. Neben den Beiträgen Oevermanns existiert eine Vielzahl von Beiträgen, die sich durchaus auch kritisch mit der Objektiven Hermeneutik auseinandersetzen (Reichertz 1994, 1995), die einen einführenden Überblick zur Methode und Verfahrensweisen der Objektiven Hermeneutik verschaffen (Garz 1997; Reichertz 1997; Hagedorn 2005) und die als Sammelbände Einblicke in die Forschungspraxis der Objektiven Hermeneutik erlauben (Garz 1994; Kraimer 2000). Bleibt an dieser Stelle noch auf den radikalen Perspektivwechsel zu verweisen, den Oevermann in der Anwendung aber auch im wirklichen Verstehen der Objektiven Hermeneutik immer wieder einfordert: weg von der Logik der „normal science“ und ihrer subsumtionslogischen Vorgehensweise, hin zu einem rekonstruktionslogischen Vorgehen. Dieser Perspektivwechsel und „ein intuitives Regelwissen, über das wir naturwüchsig alle verfügen“ (Oevermann, 1985, S.19) ist die Grundvoraussetzung für das Verstehen und die Anwendung der Methode der Objektiven 69
Hermeneutik. Im ersten Abschnitt werde ich zunächst das methodologische Grundprinzip möglichst dicht an der Konzeption Oevermanns darstellen. Hier markiere ich die zentralen Grundannahmen der Sinnstrukturiertheit sozialer Realität und des regelgeleiteten Handelns (Abschnitt 4.1), den zentralen Gegenstandsbereich der Analyse objektiver latenter Sinn- und Bedeutungsstrukturen in der Fallrekonstruktion (Abschnitt 4.2), die schließlich in den Ausdrucksgestalten sozialer Realität analysiert werden können (Abschnitt 4.3) und die in so genannten edierten Ausdrucksgestalten im höchsten Grad ihrer Verdichtung vorliegen (Abschnitt 4.4). Im Kap. 4.5 werde ich versuchen, die ‚technische’ Verfahrensweise der Methode resp. die Sequenzanalyse, an einem knappen Anwendungsbeispiel deutlich werden zu lassen (Abschnitt 2). Im Kap. 4.6 kennzeichne ich schließlich das Generalisierungsprinzip der Objektiven Hermeneutik.
4.1
Sinnstrukturiertheit sozialer Realität und regelgeleitetes Handeln
In der Objektiven Hermeneutik wird ganz grundlegend von der Sinnstrukturiertheit sozialer Realität ausgegangen. D.h., dass „jegliches Handeln und seine kulturellen Objektivierungen qua Regelerzeugtheit soziales Handeln sind“ (Oevermann 2000, S. 64). Jeder sozialen Handlung liegt also ein objektiver Sinn zugrunde. Die universellen Regeln bilden den Grundstein jedes sozialen Handelns und werden daher als Erzeugungsregeln der humanen Sozialität oder als „kulturelle Universalien“ (ebd. 1986, S. 25) bezeichnet. Ganz in der Nähe zum strukturalistischen Modell des Spracherwerbs von Chomsky8 ist hierbei ein ganz grundlegend gesichertes Wissen von geltenden Regeln gemeint. So wie bei Chomsky der Spracherwerbsapparat theoretisch universell strukturiert ist, sind alle sozialen Handlungen gemeinhin einer solchen objektiven Sinnstrukturiertheit unterlegen. Wir haben es hier „mit einem Typus universeller Regeln zu tun, dessen materielle Geltung nicht kritisierbar ist“ (ebd. S. 26), denn diese Regeln operieren wie ein Algorithmus. Liefert diese oder jene universelle Regel ihre jeweiligen Erfüllungsbedingungen selbst schon, werden Handlungsanschlüsse relativ routiniert gewählt. Eine Begrüßungshandlung wäre eine solche Handlung, in der die Erfüllungsbedingungen für regelgeleitetes Handeln relativ klar sind (vgl. ebd. 2000, 8
Chomsky geht in seiner Hypothese einer „Universalgrammatik“ von genetisch determinierten mentalen Strukturen aus, die es uns ermöglichen, eine Sprachfähigkeit unabhängig von äußeren Einflüssen zu entwickeln (vgl. Chomsky 1981).
70
S. 75). Diese universellen, sinn- und bedeutungsgenerierenden Regeln werden dem Parameter 1 zugeordnet. Nun bewegen sich Handlungssubjekte aber nicht im krisenfreien Raum und so vollziehen sich Handlungspraxen nicht nur vor dem Hintergrund von Routinen. Handlungskrisen können Handlungsroutinen aufbrechen und eröffnen ein mehr oder weniger breites Spektrum an alternativen Handlungsanschlüssen9. Nun obliegt es dem Handlungsobjekt, aus der Vielzahl potenziell richtiger Handlungsanschlüsse zu wählen10. Diese für die spezifische Struktur des Falls bezeichnenden Selektionskriterien vollziehen sich vor dem Hintergrund der fallspezifischen „Einschätzung der Wohlgeformtheit bzw. Akzeptabilität einer Handlung im Sinne geltender sozialer Normen“ (ebd. 2000, S. 66) und bilden ab, für welchen konkreten Handlungsanschluss sich der Fall letztendlich vor dem Hintergrund ganz verschieden möglicher Handlungsanschlüsse begründet entscheidet. Diese (Selektions-) Entscheidungen werden nun nicht mehr aus der holen Hand von Handlungsroutinen getätigt, sondern sie sind in ein Spannungsgelage von Entscheidungszwang und Begründungspflicht gestellt (vgl. ebd. 1995, S. 36f.). Die konkrete Entscheidung, die vor dem Hintergrund von Angemessenheitsurteilen wohlgeformten Handelns vollzogen wird, bildet nun die jeweilige Eigenlogik der Lebenspraxis und damit die „Sprache des Falls“ ab. Der Differenzierung dieser beiden Parameter liegt die Sequenzialität von Handlungspraxen zugrunde: „An jeder Sequenzstelle eines Handlungsverlaufs wird also einerseits aus den Anschlussmöglichkeiten, die regelmäßig durch die vorausgehenden Sequenzstellen eröffnet wurden, eine schließende Auswahl getroffen und andererseits ein Spiel-
9
Die Autonomie von Lebenspraxis ist dadurch ‚gesichert’, indem die Krise als der Normalfall und die Routine als Ausnahme funktioniert. Autonomie gelingt gewissermaßen durch das Scheitern von Handlungsroutinen und dem Hervorbringen des Neuen (vgl. Oevermann 1995). Die je spezifische Entscheidung der Lebenspraxis für diesen oder jenen Handlungsanschluss ist also gleichsam Ausdruck lebenspraktischer Autonomie.
10
Hier fällt die Wahl und begründete Entscheidung für wohlgeformte Handlungsalternativen dort am leichtesten, wo „in der Entscheidungssituation selbst schon die Begründungsargumente evident vorliegen“ (Oevermann 1995, S. 37). Hierbei könne aber – so Oevermann – im eigentlichen Sinne gar nicht von einer wirklichen Öffnung des Handlungsspielraums die Rede sein, vielmehr müsse dieser Handlungsspielraum tatsächlich geöffnet sein, in dem er bis dahin gültige Entscheidungskriterien und -regeln überschreitet (vgl. ebd. 1995, S. 37). Die Krisenhaftigkeit dieser Handlungssituationen ist in der Folge darin zu bedeuten, dass die Wahl eines angemessenen Handlungsanschlusses nach der Konstruktion hypothetischer Welten verlangt, denn Entscheidungsvielfalt ist ebenso offen, wie die Zukunft, in der sich die ‚Richtigkeit’ der getroffenen Wahl bzw. Entscheidung bewähren muss (ausführlich hierzu: Oevermann 1995).
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raum zukünftiger Anschlussmöglichkeiten eröffnet“ (ebd. 2000, S. 64)11. Jede potenzielle Handlungssituation ist demnach gekennzeichnet von der Eröffnung und Schließung spezifischer Handlungsanschlüsse. Eröffnet werden die Möglichkeiten des wohlgeformten Handlungsanschlusses durch die „bedeutungserzeugenden, algorithmisch operierenden Regeln“ (ebd. S. 64). Diese Offenheit möglicher Entscheidungen muss nun „geschlossen werden und zwar so, dass der Anspruch auf Begründbarkeit im Modell der praktischen Vernunft dabei aufrechterhalten wird, obwohl eine vernünftige Begründung im Modell eines methodisierbaren „Richtig-Falsch“-Kalküls im krisenhaften Moment der Entscheidung nicht in Anspruch genommen werden kann“ (ebd. 1995, S. 39). Die konkrete Entscheidung für diesen oder jenen Handlungsanschluss ist durch Parameter 2 bestimmt, „der die tatsächliche Auswahl aus den durch die Sequenzregeln eröffneten Möglichkeiten“ (ebd. 2000, S. 65) kennzeichnet. Begründet gefällt wird diese Entscheidung, und konkret geschlossen wird die Vielfalt an Handlungsoptionen aus dem „Ensemble von Dispositionsfaktoren“12 (ebd. 2000, S. 65), die eine spezifische Fallstruktur erst ausmachen. Diese beiden Parameter dürfen nicht in ihrer Verschiedenheit zueinander betrachtet und behandelt werden, sondern in ihrer sinn- und bedeutungsgenerierenden Bezogenheit aufeinander. Denn erst das Zusammenspiel dieser beiden Parameter in sozialen Handlungen bildet eine konkrete Fallstruktur, die sich in der Eigenart ihrer Reproduktion und Transformation in einer spezifischen Fallstrukturgesetzlichkeit ausdrückt.
4.2
Die Analyse objektiver Sinn- und Bedeutungsstrukturen in der Fallrekonstruktion
An dieser Stelle ist der Strukturbegriff der Objektiven Hermeneutik zu platzieren. Hier gilt die Leitformel, dass Struktur immer Fallstruktur ist und sich Struktur nur in einem konkreten Fall manifestiert. Diese sich im Fall ausdrückenden objektiven 11
Dieses Moment der Eröffnung und Beschließung einer Sequenzstelle (Sequenzialität einer Handlungssituation) ist gewissermaßen als der besondere ‚methodische Kniff’ zu bezeichnen, der in der Operation der Sequenzanalyse konsequent umgesetzt werden sollte. Denn nur so kommt der Interpret den objektiven bedeutungsgenerierenden Regeln einer Handlungssituation auf die Schliche.
12
Unter diese Dispositionsfaktoren fallen all jene Einflüsse, die dem äußeren Kontext des Falls angehören. Dies wären etwa lebensweltliche, soziale, ökonomische o.a. Dieser äußere Kontext sollte in der Sequenzanalyse zunächst unbeachtet bleiben. Die Hinzunahme von Kontextwissen würde in der Analyse Abkürzungsstrategien negativ begünstigen.
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Strukturen lassen sich im Rahmen der Fallrekonstruktion13 (siehe hierzu zusammenfassend: Garz 2000) als latente Sinnstruktur14 rekonstruieren. Diese latenten Sinnstrukturen sind dem Handlungssubjekt mental nicht verfügbar, sie unterscheiden sich von konkreten Selbstbildern, -entwürfen o.ä. und dürfen insofern nicht intentionalistisch interpretiert werden. Sie bilden vielmehr die in den protokollierten Handlungen manifestieren objektiven Sinn- und Bedeutungsstrukturen ab, die es methodisch zu erschließen gilt. Nun liegt es auf der Hand, dass Strukturen und ihre latenten Sinnebenen nicht als starre Fundamente des Immergleichen verstanden werden dürfen. Sie unterliegen selbst historischen und sozialen Wandlungsprozessen und werden selbstverständlich interaktiv generiert. Eine generalisierende Strukturanalyse schließt folglich Fragen der Historizität bzw. des sozialen Wandels immer schon mit ein. Hier wird wiederum die Unterscheidung zwischen universellen Strukturen und den konkret historischen Strukturen markant, obwohl sie in einem konstitutiven Verhältnis zueinander stehen, „denn die Strukturiertheit eines konkreten historischen Gebildes beziehungsweise Falls ist transformierter Ausdruck universaler Strukturen der Sozialität“ (Böhme 2000, S. 30f.). Dies heißt für die Frage, ob sich Strukturen an einem Fall transformieren oder in einem Fall reproduzieren, aus der Strukturanalyse selbst immer schon hervorgeht bzw. hervorgehen muss15: „Der Gesichtspunkt des sozialen Wandels wird also nicht aus der Gegenstandsanalyse herausgetrennt, vor die Klammer gezogen und später als Zusatzüberlegung einem klassifikatorischen Zugriff wieder hinzugefügt, sondern steht wie selbstverständlich per Verfahren immer im Mittelpunkt“ (Oevermann 2000, S. 72). Grundlegend ist jedoch davon auszugehen, dass „bei den ‚universalen Strukturen’ als regelhaft erzeugte Handlungsspielräume für die ‚Gattung Mensch’ eine umfassende Reproduktion angenommen“ werden kann, wohingegen „die historische Strukturiertheit eines Falls nur in der Spannung von Synchronie und Diachronie zu fassen“ (Böhme 2000, S. 31) ist. Böhme leitet daraus ab, dass der Strukturbegriff in der Objektiven Hermeneutik durchaus unterschiedlich verwendet wird. So habe sich 13
Die Fallrekonstruktion bedeutet ein Verfahren, dass sich in keiner Nähe zur Fallstudie oder Fallbeschreibung befindet. Gerade hier fordert Oevermann den radikalen Perspektivwechsel und markiert die grundlegende Unterscheidung „einer subsumtionslogisch und einer rekonstruktionslogisch verfahrenden Erfahrungswissenschaft“ (Oevermann 2000, S. 61).
14
Des Begriff des Latenten versteht sich hier in deutlicher Abgrenzung zu seiner Verwendung im psychoanalytischen Ansatz (dazu ausführlich: Oevermann 1993).
15
In der Regel wird zu diesem Zwecke ein zweites, zeitlich vorausgehendes Segment aus dem Leben des Falls analysiert.
73
die begriffliche Unterscheidung zwischen ‚Struktur’ – „zur Bezeichnung der universellen ahistorischen Strukturen – und ‚Strukturiertheit’ – zur Bezeichnung der konkret ausgeformten historisch spezifischen Fallstruktur – (...) im Diskurs um die Objektive Hermeneutik nicht durchsetzen können“ (ebd. S. 31). Bleibt damit festzuhalten, dass der Strukturbegriff die „Fallstrukturgesetzlichkeit, also den fallspezifischen Ausdruck der universellen Strukturen“ (ebd. S. 31) bezeichnet.
4.3
Ausdrucksgestalten sozialer Realität und ihre Verfügbarkeit als Protokoll
Die Analyse dieser Fallstruktur bzw. Fallstrukturgesetzlichkeit erfolgt in der Sequenzanalyse. Damit ist ein Verfahren gekennzeichnet, das sich in der methodischen Vorgehensweise an den konkreten Fall quasi mimetisch anschmiegt und „mit dem man zwangsläufig auf die Fallstruktur und ihre Gesetzlichkeit gestoßen wird“ (Oevermann 2000, S. 69). In der Sequenzanalyse und ihrem rekonstruktionslogischen Vorgehen kommen all jene Regeln zur Anwendung, die schon für das sequenzielle Zustandekommen der zu analysierenden Handlungspraxis verantwortlich gewesen sind. Diese Handlungen, als Ausschnitt einer sinnstrukturierten Welt, liegen uns zur Analyse jedoch nur dann vor, wenn diese Handlungs- oder besser Lebenspraxen quasi ihre ‚Spuren’ hinterlassen haben. Diese Spuren werden als Ausdrucksgestalten bezeichnet (vgl. ebd. 1995, S.15), die wiederum ausschließlich in ihrer Ausdrucksmaterialität in Form von Protokollen (Texte, Interviewtranskriptionen, Aufzeichnungen öffentlicher Reden o.ä.) konkret fassbar sind. In der Umkehr heißt dies: „Soziale Wirklichkeit außerhalb von Protokollen ist methodologisch nicht fassbar“ (ebd. 1986, S. 47). Diese Protokolle von Handlungen und Äußerungen bilden immer den primären Gegenstand der methodischen Operation der Sinnauslegung (vgl. ebd. S. 22). Jede Lebenspraxis als Mittel autonomer Entscheidung findet ihre endgültige Ausdrucksgestalt im Protokoll ihres Handelns und Lebens (vgl. ebd., S. 48). In diesen Protokollen drückt sich nicht nur eine konkrete Lebenspraxis aus, sondern mehrere (konkrete oder mögliche), die in einer Ausdrucksgestaltet jeweils spezifisch verschachtelt sind und die sich als Fallstruktur spezifisch ausformt. Diese fallspezifische Ausformung zeichnet die Sequenzanalyse rekonstruktiv nach. Eine Fallstruktur kann dann expliziert werden, wenn eine geschlossene Phase ihrer Reproduktion in der Analyse nachgezeichnet werden konnte. Gleichzeitig bedeutet die Reproduktion einer Fallstruktur am Text auch die Validierung der Fallstruktur und ihrer -gesetzlichkeit. Deutet sich in einer Sequenz 74
die Reproduktion einer Fallstruktur an, kann eine (Fall-) Strukturhypothese formuliert werden. Erst wenn sich diese Strukturhypothese wie ein ‚roter Faden’ durch das gesamte Protokoll zieht, kann eine Fallstruktur(gesetzlichkeit) expliziert werden. Wie extensiv diese Prozedur vollzogen werden muss, hängt davon ab, welchen jeweiligen Verdichtungsgrad ein Protokoll aufzeigt. Dieser Verdichtungsgrad, und damit verbunden die Frage nach der Authentizität des Falls, hängt nunmehr davon ab, ob wir es mit einer naturwüchsigen oder inszeniert protokollierten Wirklichkeit zu tun haben. Das meint die Frage danach, „ob die Protokolle, die wir analysieren, ausschließlich zu diesem Zecke angefertigt wurden, oder ob die protokollierte Praxis selbst, unabhängig von der Datensammlung zu Forschungszwecken, das der Sequenzanalyse zugrunde liegende Protokoll ohnehin hinterlassen hätte“ (Oevermann 2000, S. 85f.). Sowohl natürliche als auch inszeniert protokollierte Wirklichkeiten folgen ihrer „sozialen Natur“ (vgl. ebd. 2000, S. 77). Lebenspraxen folgen demnach einer spezifischen Verlaufsordnung und Sequenzierungslogik, die wiederum durch die spezifischen Eröffnungs- und Beschließungsstrukturen markiert werden. Natürliche Ausdrucksgestalten tun dies auf andere Weise als inszenierte Ausdrucksgestalten, beide folgen aber gleichsam dem Zwang von Eröffnung und Beschließung einer Handlungssituation vor dem Hintergrund zeitlicher Begrenztheit (Sequenzialität) (vgl. ebd., S. 77). Jede Handlungssituation läuft demnach auf ihr naturwüchsiges Ende hinaus und je nachdem wie begrenzt die Zeit dafür ist und wie mehr oder weniger stark ausgeprägt der Zwang zur Gestaltschließung ist, weist eine Ausdrucksgestalt einen unterschiedlich stark ausgeprägten Verdichtungsgrad auf und „dieser „Zwang zur Verdichtung“ sichert, dass auch in vergleichsweise stark formalisierten und über wenig Vorgeschichte verfügenden, zeitlich stark begrenzten Datenerhebungssituationen immer noch Protokolle mit geschlossenen Gestalten erhalten bleiben“ (ebd., S. 78). D.h. im Grunde genommen nichts anderes, als dass zwar einerseits ein Protokoll lang genug sein muss, um eine latente Sinnstruktur herleiten zu können, auf der anderen Seite heißt dies aber auch, dass die Objekte Hermeneutik aufgrund des Zwangs zur Verdichtung in den Protokollen sozialer Wirklichkeit auch mit relativ wenig Text auskommt, um zu einer ersten Strukturhypothese zu gelangen16.
16
Mit letzterem Argument verteidigt sich Oevermann zu Recht gegen den völlig unbegründeten Vorwurf, dass die Objektive Hermeneutik „über die Anfänge längerer Interaktionsprotokolle wegen der Ausführlichkeit ihrer Sinnauslegungsprozeduren nicht hinausgelange“ (vgl. ebd. 1986, S. 21).
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4.4
Edierte Ausdrucksgestalten im Internet als ein mögliches Forschungsfeld für eine rekonstruktiv-hermeneutische Jugend- und Medienforschung
Als Texte mit dem höchst möglichen Verdichtungsgrad bezeichnet Oevermann so genannte „edierte Ausdrucksgestalten“ (Oevermann 2000, S. 83). Hierbei handelt es sich um Protokolle, „bei denen die Protokollierungshandlung und die zu protokollierende Wirklichkeit als Praxis gewissermaßen zusammenfallen und – damit zusammenhängend – die Protokollierungshandlung bzw. der Protokollierungsvorgang vollständig in der Kontrolle der protokollierten Wirklichkeit verbleibt, so dass auch die Eröffnung und die Beschließung des Protokolls vollständig koinzidiert – einfacher ausgedrückt: Rahmung und Umfang, also die Abgrenzung der zu analysierenden Ausdrucksgestalt von vornherein vollständig definiert ist.“ (ebd. S. 83). Diesen edierten Ausdrucksgestalten liegen Kunstwerke als Modell für gestaltete Texte zugrunde. D.h. wir sprechen hier auch von (ästhetischen) Textproduktionen, die ohne ein Forschungsinteresse und ohne sonstiges Zutun eines Anderen sowieso entstanden wären und als ‚reine’ Ausdrucksgestalten mit höchstmöglichem Verdichtungsgrad vorliegen. Als solche Ausdrucksgestalten wären Formen der Selbstinszenierung etwa im Kontext der Neuen Medien (Chatprofile, Homepages, Kontaktanzeigen, jugendkulturelle Selbstentwürfe, Online-Tagebücher o.ä.) oder Redemanuskripte, literarische Werke usw. zu bezeichnen. Derartige Texte verfügen erkenntnistheoretisch und methodisch über den enormen Reiz, dass sie eben nicht wie etwa im Rahmen eines Interviews sich in einer inszenierten oder irgendwie beeinflussten Handlungspraxis bewegen. Vielmehr genügen derartige Texte sich selbst, um als gestalteter Text ‚kunstvoll’ zu gelingen, und dies gelingt eben nur im größtmöglichen Grad ihrer Verdichtung. Solche Texte eröffnen und beschließen sich selbst, zwischen Eröffnung und Beschließung liegt eine eigentümliche und fallspezifische Dramaturgie. So liegen „Kunstwerke als Ausdrucksgestalten für die Objektive Hermeneutik nicht in der Peripherie der Sozialforschung, sondern methodologisch gesehen geradezu in deren Mittelpunkt: Sie geben, weil sie >ediert< und in höchstem Maße verdichtet sind, das idealtypische Protokoll für eine detaillierte Sequenzanalyse ab – das Bezugsmodell, an dem sich die Sequenzanalyse aller anderen Typen von Protokollen bemessen lassen“ (ebd. S. 83f.). Insbesondere für eine Medienforschung im Kontext der Neuen Medien sollten derartige Texte von herausragendem Interesse sein, denn in ihnen „wird die fiktionale Realität einer komplexen Lebenspraxis, sei es in Gestalt eines oder mehrerer Protagonisten, sei es in Gestalt einer beispielhaften Episode, gültig erzeugt, ohne 76
dass irgendeine Referenz auf eine werkexterne Realität zur Prüfung und Abstützung zur Verfügung steht“ (Oevermann 2000, S. 81). Hier liegt ein Forschungsfeld offen, das – in Abhängigkeit zur entsprechenden Forschungsfrage – als nahezu unerschöpfliches Feld erscheint. Handlungspraxen im so genannten „real live“ hinterlassen zwar auch ihre Spuren, sie sind jedoch nur begrenzt in edierter Form verfügbar. Schaut man sich allerdings in Streifzügen durch die „Netzkulturen“ nach solchen edierten Ausdrucksgestalten um, herrschen nahezu paradiesische Zustände. Diese Netzwelten nehmen zielgruppenübergreifend einen immer gewichtigeren Stellenwert als Erfahrungswelten ein, da solche wie Familie, Schule, Beruf o.ä. zunehmend erodieren. Erfahrungswelten im Internet bilden in der Strukturlogik Neuer Medien ganz eigenlogische Handlungspraxen, die ihre je spezifischen natürlichen und edierten Ausdrucksgestalten produzieren. Das Verstehen und Erklären dieser Handlungspraxen mit ihren je eigenen Sinn- und Bedeutungsstrukturen könnte neben dem bloßen Beschreiben zu einem neuen Arbeitsfeld einer rekonstruktiv-hermeneutischen Medienforschung werden. Exemplarisch werde ich im Folgenden die Schritte der Sequenzanalyse an einem Text verdeutlichen, der im Kontext der Neuen Medien entstanden ist und erhoben wurde. Hierbei handelt sich um eine solche edierte Ausdrucksgestalt, die dem Zwecke einer jugendkulturellen Selbstpräsentation diente (dazu ausführlicher: Hagedorn 2004). Ich werde diesen Text in diesem Zusammenhang eher dazu verwenden, die Schritte der Sequenzanalyse nachzuzeichnen. Eine umfassend ergebnisorientierte Rekonstruktion mit dem Anspruch auf Vollständigkeit kann dieser Abschnitt hier nicht erfüllen.
4.5
Die Sequenzanalyse an einem Anwendungsbeispiel
Prinzipiell sollte der Anfang eines Textes immer Wort für Wort interpretiert werden. Auch ist zu empfehlen, den Text mindestens bis zur Explikation einer Strukturhypothese in einer größeren Gruppe zu interpretieren (etwa 5 Interpreten). Die Interpretation in der Gruppe fördert zum einen die fantasiereiche, möglichst extensive Explikation so genannter Lesarten, andererseits ist das Maß an Kontrolle gegenüber Abkürzungsstrategien Einzelner um so größer, je mehr Personen an einer Interpretation teilnehmen. Auch hat es sich bewährt, dass so wenig wie möglich Teilnehmer einer Interpretationsrunde über Kontextwissen des zu analysierenden Falls verfügen. Besteht bereits bei einzelnen oder mehreren Teilnehmern ein Wissen über den Kontext, ist hier die Fähigkeit danach gefragt, in eine ‚künstliche 77
Naivität’ zum Text zu treten17. Man sollte quasi so tun, als würde man den gesamten Text bzw. seine kontextuelle Eingebundenheit noch nicht kennen. Gegebenenfalls ist es sogar sinnvoll, zu Hilfsmaßnahmen zu greifen. Soll etwa vorerst nur das erste Wort eines Textes rekonstruiert werden, kann es für ungeübte Interpreten sinnvoll sein, die folgenden Sequenzen mit einem Blatt Papier abzudecken. Grundsätzlich sollten Interpretationssitzungen auf Tonband aufgezeichnet werden. Dies befreit die Gruppe von Protokollierungsverpflichtungen während der Interpretation und erlaubt eine Protokollierung (Protokoll der Analyse des Protokolls) im Anschluss an die Interpretationssitzungen. Beginnen wir mit dem ersten Wort unseres Protokolls: Hat In einem ersten Schritt werden alle nur denkbaren Bedeutungsvariationen des Wortes „Hat“ gesammelt. Ganz allgemein markiert „Hat“ einen noch zu kennzeichnenden Besitzanspruch bzw. eine Zuweisung. Auch die Großschreibung des Wortes sollte hier berücksichtigt werden, da dies auf den Beginn eines Satzes bzw. Textes verweist. In einem zweiten Schritt werden minimale und maximale Kontrastierungen des Wortes „Hat“ mit „Haben“, „Hatte“ oder „Habt“ (als minimaler Kontrast) bzw. mit „Wird“ oder „Ist“ als maximaler Kontrast angestellt. Über diese Kontrastierungen erhellen sich Bedeutungsvariationen, die gegebenenfalls so deutlich gar nicht sichtbar gewesen wären. Die methodische Operation der Kontrastierung ist als eine sehr fruchtbare und wichtige zu bezeichnen, derer man sich in der Analyse möglichst oft bedienen sollte. Anschließend sollten sich die Teilnehmer in einem dritten Schritt gegenseitig die Frage stellen, in welchem Zusammenhang bzw. Kontext das Wort „Hat“ am Anfang eines Satzes stehen kann. Hier sollten alle nur möglichen sinnvollen Handlungsanschlüsse (Lesarten) gesammelt werden und dies immer wieder als Frage an die Gruppe: Wann steht „Hat“ am Anfang eines Satzes und was drückt man damit aus? Dieser Schritt sollte so lange fortgesetzt werden, bis die Gruppe zum Schweigen kommt und ihr nichts mehr dazu einfällt. Man sollte aber auch längere Denk- und Sprechpausen geduldig abwarten, meist wird nach längeren Denkpausen doch noch die eine oder andere Lesart ‚geknackt’. Man sollte sich für diesen Fall also immer die Frage stellen: wann und 17
Hiermit ist eine erkenntnisorientierte Haltung gemeint, die sich in der Logik des abduktiven Schlussfolgerns den geläufigen logischen Schlüssen der Deduktion und Induktion gegenüberstellt (dazu ausführlicher: Reichertz 1993).
78
wo kann jemand begründet einen Satz mit „Hat“ beginnen? Anschließend begibt man sich auf die Suche nach sinnvollen Handlungsanschlüssen und damit auch auf die Suche nach objektiven Strukturbedingungen, die diesen oder jenen Handlungsanschluss sinnvoll und wohlgeformt erscheinen lassen. Man wird feststellen, dass „Hat“, wenn es am Anfang eines Satzes steht, eigentlich nur eine wohlgeformte Verwendungsweise zulässt: die einer (rhetorischen) Frage. Denn stellt man sich sinnvolle Anschlüsse an das Wort „Hat“ vor, so lassen sich Lesarten wie „Hat der Hund heute schon etwas gefressen?“, „Hat jemand meine Hausschuhe gesehen?“ oder aber im Sinne einer rhetorischen Frage „Hat hier überhaupt irgend jemand eine Ahnung, wie schlecht es mir geht?“ gedankenexperimentell konstruieren. Im Grunde genommen ist hier noch eine nahezu unbegrenzte Vielfalt sinnlogischer und wohlgeformter Anschlüsse bzw. „pragmatischer Erfüllungsbedingungen“ (Oevermann 2000, S. 69) möglich. Der Fall gewinnt hier somit noch nicht an Kontur. Bei der Interpretation des Wortes „Hat“ sollte man aber auch nicht zu sehr am Wort ‚kleben bleiben’, sondern weiterführende Abstraktionsniveaus anstreben, indem man danach fragt, was die Verwendung des Wortes „Hat“, wenn es am Anfang eines Satzes am ehesten als Frage daherkommt, ganz strukturell bedeuten kann. Es bedeutet, dass dort, wo eine Frage in der Verwendung des Wortes „Hat“ beginnt, ein Adressat vermutet bzw. unterstellt wird. Hier würde man schon einen höheren Grad der Explikation von Strukturbedingungen erreichen. Man könnte etwa vom Beginn einer Interaktion ausgehen, die durch eine Frage eingeleitet wird. In der Interpretation des Wortes „Hat“ fällt auf, dass der Sprecher oder Autor ein Gegenüber entwirft: einmal denkbar als Adressat und Experte einer Frage (A:„Hat jemand meine Hausschuhe gesehen?“, B: „Ja, sie liegen unter dem Bett“) oder aber als imaginäres Gegenüber im Rahmen einer rhetorischen Frage. Erst wenn der Gruppe zur Bedeutung des Wortes „Hat“ nichts mehr einfällt geht man zur nächsten Sequenz über und legt den Aufmerksamkeitsfokus darauf, welchen konkreten Anschluss der Fall nun wählen wird und welchen er ausschließt. Hat unsere In einem ersten Schritt widmet man sich zunächst wieder der Bedeutung des Wortes „unsere“ und wird feststellen, dass damit ein noch recht unspezifischer kollektiver Zusammenhang gekennzeichnet oder unterstellt wird, in den sich der Autor bzw. Sprecher mit einbezieht. Dieser kollektive Zusammenhang wird sich im Anschluss an „unsere“ weiter spezifizieren lassen müssen (z.B. „Hat unsere 79
Schule...“, „Hat unsere Mutter...“ o.ä.). Ein spezifischer Kontext ließe sich bis zu dieser Stelle noch nicht markieren. Es sind damit all jene Kontexte denkbar (institutionelle, familiäre oder Freundschaftsbeziehungen) die einen wie auch immer gearteten kollektiven Zusammenhang bezeichnen, zu dem der Sprecher oder Autor zwar dazugehört aber auch tendenziell heraustritt, denn er befindet sich in einer reflexiven Distanz. Mehr als einen kollektiven Zusammenhang können wir aus „unsere“ zunächst nicht herausarbeiten. „Hat“ und „unsere“ können folglich – jeweils für sich isoliert – nicht weiter auf ihren objektiven Sinn bzw. Bedeutung befragt werden. Erst in einem zweiten Schritt, wenn „Hat“ und „unsere“ aufeinander bezogen werden, ergibt sich eine erste interessante Erkenntnis: die konstruierte Gemeinschaft erscheint insofern brüchig, als über das Gemeinschaftskonstrukt diskursiv verhandelt werden muss. Dies fällt umso mehr auf, wenn wir in einem dritten Schritt wieder Kontrastierungen bemühen. Kontrastieren wir etwa „Hat unsere“ mit „Unsere Hat“, so sehen wir, dass Kollektivität im unterschiedlichen Maße gesichert bzw. ungesichert erscheint. „Hat unsere“ verweist auf eine Konsensproblematik während die Verwendung von „Unsere hat“ diesen Konsens zumindest unterstellen würde. Hier zeigt sich sehr deutlich die Wichtigkeit der Kontrastierung in der Analyse. Man stellt sich die Frage, warum der Autor oder Sprecher sich gerade für „Hat unsere“ entschieden hat und nicht für die Verwendung von „Unsere hat“. Es ist also die Frage nach der fallspezifischen Entscheidung für diese oder jene und gleichzeitig gegen diese oder jene Handlungsalternative, die potenziell möglich gewesen wäre. Diese Frage legt uns den Kern und damit die latente Sinnstruktur des Falls schrittweise offen und wird oftmals erst mit der Operation der Kontrastierung wirklich deutlich. So kann – für diesen Fall – die eingeleitete Frage „Hat unsere“ in einer Konsensgenerierung motiviert sein, die der Sprecher oder Autor hier stellvertretend übernimmt. So kann sich die Figur in zwei Richtungen entwickeln, die wir im Folgenden als zwei mögliche Lesarten festhalten wollen: Lesart 1: Mit der Frage „Hat unsere“ verweist der Sprecher oder Autor auf einen Interaktionszusammenhang entweder im Rahmen einer protokollierten face-to-face Situation oder im Rahmen einer indirekten Interaktion. Er fordert von seinem Gegenüber eine Expertenmeinung ein, die eine Konsensproblematik betrifft. Lesart 2: Mit der Frage „Hat unsere“ wird eine rhetorische Frage eingeleitet. Der Sprecher oder Autor problematisiert die Konsensproblematik selbst aus einer Expertenperspektive und bietet gegebenenfalls einen konkreten Lösungsentwurf an. 80
Beiden Lesarten ist jedoch gemein, dass hinsichtlich der ausgewiesenen (brüchigen) Kollektivität ein Verhandlungshaushalt und damit eine Konsensgenerierung angestrebt werden muss. Dies ist das Thema dieser Sequenz und gleichsam ein erster entscheidender Hinweis auf die Struktur des Falls! Gehen wir nun einen Schritt weiter: Hat unsere Gesellschaft Im Grunde genommen durchlaufen wir auch in dieser Sequenz dieselben Operationen wie schon bei „Hat“ und „unsere“. Wir widmen uns zunächst dem Wort „Gesellschaft“ und beziehen aber in einem weiteren Schritt immer auch das bereits kumulierte Wissen über den inneren Kontext des Falls in die Analyse mit ein. Zunächst einmal fragen wir uns, was das Wort „Gesellschaft“ ganz allgemein und weiterführend in diesem Zusammenhang bedeuten kann. Ganz allgemein würden wir hier von spezifischen Formen des Zusammenlebens mehrerer Menschen ausgehen. Dies kann ganz alltagspraktisch gemeint sein im Sinne von Vereinsstrukturen oder Körperschaften im Sinne von mehr oder weniger alltagsrelevanten zweckorientierten Vergemeinschaftungen (z.B. „Hat unsere Gesellschaft ihren Jahresbericht schon vorgelegt?“). Krisenhaft besetzt wäre diese Gemeinschaftsstruktur durch das konsensuell nicht verbürgte Wissen darum, ob dieser Jahresbericht schon angefertigt wurde. Dies wäre als eine dritte Lesart festzuhalten. Der Verhandlungshaushalt zur Generierung dieses Wissens, entweder im Interesse des Sprechers oder Autors selbst oder aber mehrer Personen, für die er das Wort hier stellvertretend ergreift, wäre damit eröffnet und stünde gleichsam als latente Sinnstruktur im Hintergrund dieser Handlungspraxis. Im Rahmen einer vierten Lesart kann „Gesellschaft“ als soziales System bzw. (länder-) spezifische kulturelle Ordnung bezeichnet werden. Im Kontext dieser Lesart erscheint die weiter oben hergeleitete Konsensproblematik schon etwas gewichtiger (z.B. „Hat unsere Gesellschaft eine Zukunft?“) weil sie eben soziale bzw. kulturelle Ordnungen zwar nicht grundlegend in Frage stellen, zumindest aber krisenhaft irritieren würde. Auch hier steht wieder die Frage erkenntnisleitend im Vordergrund: Wann und warum wird ein Verhandlungshaushalt hinsichtlich sozialer bzw. kultureller Ordnung eröffnet? Sinnlogisch nur dann, wenn diese Ordnungen kollektiv nicht verbürgt bzw. konsensuell gesichert sind. Anders sehe dies in der Kontrastierung mit „Unsere Gesellschaft hat“ aus. Immer noch wäre in dieser Kontrastierung der Konsens zumindest unterstellt. 81
Bis zu dieser Stelle lassen sich insgesamt vier zentrale Lesarten festhalten, die bereits erste Aussagen zum Fall zulassen. Die Lesarten 1 und 2 zielen eher auf die Positionierung bzw. Rolle des Autors bzw. Sprechers: einmal kann er eine Expertenmeinung bezüglich der Konsensproblematik erfragen (Lesart 1) oder aber er kann als Experte selbst im Sinne einer rhetorischen Frage die Konsensproblematik dramaturgisch herleiten (Lesart 2). Die Lesarten 3 und 4 zielen eher darauf ab, welche kontextuelle Reichweite diese Konsensproblematik für den Fall haben wird. Einmal kann sie bezogen sein auf eher alltagsrelevante (Arbeits-) Gemeinschaften im Sinne ziel- bzw. zweckgerichteter Teil-Kulturen (Lesart 3) oder aber sie markiert eine Konsensproblematik hinsichtlich übergreifender sozialer, kultureller oder etwa generationaler Ordnung (Lesart 4). Bis hier sollte dieses kurze Beispiel folgende drei Schritte der Sequenzanalyse nachgezeichnet haben: in einem ersten Schritt wird an einer gegebenen Sequenzstelle das Ausdruckselement danach befragt, welche wohlgeformten Anschlussmöglichkeiten (pragmatische Erfüllungsbedingungen) es bereit hält. Es geht also um die Explikation objektiver Möglichkeiten (Parameter 1) für sinnvolle Handlungsanschlüsse (vgl. Oevermann 2000, S. 69). In dem Beispiel wäre das Ausdruckselement zunächst das Wort „Hat“, als pragmatische Erfüllungsbedingungen bzw. wohlgeformte Anschlussmöglichkeiten kommen etwa bspw. „Hat der“, „Hat mein“, „Hat das“, „Hat jemand“ usw. in Frage. In einem zweiten Schritt, wenn alle möglichen sinnvollen Anschlüsse ‚durchbuchstabiert’ worden sind, wird auf der Kontrastfolie des ersten Schrittes das tatsächlich vom Fall gewählte nächstfolgende Sequenzelement hinzugenommen und in seiner objektiven Bedeutung bestimmt (Parameter 2). In dem Beispiel wäre dies die Frage nach der objektiven Bedeutung von „Hat unsere“ im Kontrast zu „Hat der“, „Hat mein“ usw. Zu diesem Schritt gehört auch die weiterführende Abstraktion und Verdichtung in der gedankenexperimentellen Konstruktion von Kontexten, die in Lesarten festgehalten werden. In dem Beispiel könnte dies etwa eine öffentliche Rede, eine Diskussionsrunde o.ä. sein. In einem dritten Schritt schließlich „erfolgt eine hypothetische Erschließung bzw. Bestimmung der möglichen fallspezifischen Motivierung der objektiven Bedeutung dieses Sequenzelementes“ (ebd. S. 69f.), die ebenfalls in Lesarten festgehalten werden. In dem Beispiel wurde diese fallspezifische Motivierung hypothetisch als der Versuch der Thematisierung einer Konsensproblematik bzw. als Eröffnung eines Verhandlungshaushaltes interpretiert. In dieser nicht zwingend chronologisch einzuhaltenden Schrittigkeit wird nun der Text Zug um Zug weiter erschlossen und dabei entscheidet der Text bzw. die spezifische Fallstruktur selbst, welche Lesarten, aufrechterhalten werden können 82
und welche sukzessive verworfen werden können. Je weiter man so im Text voranschreitet, desto größer wird der Grad an Verdichtungen sein bis zu dem Punkt, an dem letztendlich eine erste Strukturhypothese formuliert werden kann. Mit dieser Strukturhypothese geht man nun im Text weiter und sucht gewissermaßen nach einer ‚schönen Stelle’ im Text. Reproduziert sich an dieser Sequenzstelle die formulierte Strukturhypothese, gilt die Fallstruktur als gesichert. Zumindest sollte in einem Text der Anfang sehr ausführlich und möglichst Wort für Wort analysiert werden. Auch sollten die Mitte – da sich hier gewissermaßen der dramaturgische Höhepunkt des Textes befindet – und das Ende (Gestaltschließung) in die Analyse einbezogen werden. So genannte edierte Ausdrucksgestalten sollten aufgrund ihres sehr hohen Verdichtungsgrades möglichst vollständig rekonstruiert werden.
4.6
Das Generalisierungsprinzip der Objektiven Hermeneutik
Das Generalisierungsprinzip der Objektiven Hermeneutik stellt sich zuvorderst der Frage danach, wie vor dem Hintergrund einer relativ geringen Menge an empirischen Daten zu abgesicherten strukturtheoretischen Generalisierungen zu gelangen sei. Setzt man sich hier mit den Stellungnahmen Oevermanns zu dieser Problematik auseinander (vgl. dazu: Oevermann 2000), so gewinnt man schnell den Eindruck, dass dieses besondere Generalisierungsprinzip sich auf der einen Seite zwar sinnlogisch aus den grundlagentheoretischen bzw. methodologischen Grundannahmen der Objektiven Hermeneutik konsequent und unmissverständlich herleiten lässt. Andererseits wird aber auch deutlich, dass Oevermann sich in der Markierung eines Geltungs- und Gültigkeitsanspruchs, der sich auf eben diese Strukturgeneralisierungen bezieht, in einem enormen Überzeugungs- und Verteidigungsanspruch bewegt, der die Wertigkeit und Gültigkeit rekonstruktiv-hermeneutisch generierter Rekonstruktionsergebnisse vor dem Hintergrund einer gemeinhin typisch schmalen Datenbasis herzuleiten und zu begründen versucht. Insgesamt dominiert bis heute im Methodendiskurs, insbesondere aber in der kritischen Auseinandersetzung zur Methode der Objektiven Hermeneutik, eher Unsicherheit und Skepsis darüber, wie mit relativ wenig Text zu gesicherten und fundierten strukturtheoretischen Generalisierungen zu gelangen sei. Um solche zementierten Zweifel aus dem Wege zu räumen, und um den Nachvollzug dieses Generalisierungprinzips deutlich werden zu lassen, hat Oevermann fast schon ‚schulmeisterisch’ die diesbezüglichen theoretischen und methodologischen Grundannahmen der Objektiven Hermeneutik ausführlich dargelegt und war sicher nicht zuletzt auch von der 83
Hoffnung getragen, dass gerade die methodische Effizienz und die theoretische Aussagekraft rekonstruktiv-hermeneutisch generierter Ergebnisse anerkannt werden. Oevermann beginnt in der Darlegung des Generalisierungsprinzips mit der ganz grundlegenden Unterscheidung des Anspruches auf Repräsentativität von Forschungsergebnissen einerseits und der Authentizität derselben andererseits. Der Anspruch auf Repräsentativität, der gemeinhin eher für die subsumtionslogische Forschung und insbesondere für die klassifizierende Forschung typisch sei, weicht im Rahmen der Objektiven Hermeneutik dem der Authentizität „des zu analysierenden Protokolls als einer Ausdrucksgestalt der unter theoretischen (oder praktischen) Aspekten interessierenden Fallstruktur“ (Oevermann 2000, S. 79). Diese Fallstruktur muss sich nun ihrerseits in einem Protokoll möglichst authentisch entfalten und in der Folge rekonstruktiv-hermeneutisch im Rahmen der Sequenzanalyse schlüssig hergeleitet werden. Dies impliziert auch eine Unterscheidung der Frage danach, wie authentisch der Fall gegenüber einem oder vielen anderen Fällen einerseits ist, und wie authentisch der Fall gegenüber sich selbst ist und überhaupt erst so eine Fallstruktur entbirgt. Diese Unterscheidung definiert nämlich in der Konsequenz Authentizität des Falls bzw. seiner Struktur ganz anders als im tradierten geisteswissenschaftlichen Konzept der Authentizität (vgl. ebd., S. 79f.). Die Frage nach der Authentizität des Falls beantwortet sich in der Objektiven Hermeneutik vor dem Hintergrund des jeweiligen Verdichtungsgrades des Protokolls, in dem sich der Fall in seiner eigenlogischen Struktur und Gesetzlichkeit offenbart. Dieser Verdichtungsgrad ergibt sich jeweils spezifisch aus der Textsorte als naturwüchsiges oder inszeniertes Protokoll. Authentizität offenbart sich sinnlogisch als eine objektive und subjektive oder naturwüchsige und gestaltete (vgl. ebd., S. 79f.). Von diesem jeweiligen Verdichtungsgrad des Protokolls hängt es nun jeweils ab, wie lang ein Protokoll sein muss, um den Verlauf einer Fallstruktur abbilden zu können. Prinzipiell gilt also für jede Praxisäußerungsform, dass sie über einen solchen spezifischen Verdichtungsgrad verfügt, denn jede Praxisäußerungsform ist zeitlich mehr oder weniger stark begrenzt, unterliegt einem Gestaltungszwang. So besteht ein natürlicher Zwang zur Verdichtung (vgl. ebd., S. 78), der in den jeweiligen Eröffnungs- und Beschließungsprozeduren seinen Ausdruck findet. Jede Praxisäußerungsform läuft also auf ihr natürliches Ende zu und führt schließlich zu einem Verdichtungsgrad, der im Rahmen eines Interviews oder ähnlichen inszenierten Datenerhebungsverfahren selbstverständlich schon gesteuert und hergestellt wird, „was einerseits Prägnanz sichert, andererseits die Möglichkeit zur Spontaneität einengt – und gerade dadurch einen zusätzlichen Zwang zur 84
strategischen Inszenierung ausübt“ (ebd., S. 79). Umgekehrt gilt für „informelle, ein hohes Maß an Spontaneität und Zweckfreiheit erlaubende Situationen“ (ebd. S. 79), dass diese „nicht die durch Eröffnung und Beschließung in Gang gesetzte natürliche Verlaufsgestaltung außer Kraft“ (Oevermann 2000, S. 79) setzen. Die Authentizität der Praxisäußerungsform, und damit auch die Authentizität des Falls, ist nun dadurch gesichert, dass der Fall innerhalb der Praxis strukturell beschränkt ist und in der Praxisäußerungsform notwendig abkürzen muss, um mit sich selbst identisch zu sein: Wichtiges muss hervorgehoben, Unwichtiges muss weggelassen werden, ein Anfang muss gesetzt, und ein Ende muss herbeigeführt werden. In diesem abgesteckten bzw. sich in einer natürlichen Verlaufsgestalt ergebenden Raum, entfaltet sich der Fall mit sich selbst identisch. Das Protokoll dieser Praxisäußerungsform muss nun nur lang genug sein, damit „die Fallstruktur in ihrer Differenziertheit, ihrer Individuiertheit und ihrem inneren Zusammenhang bzw. ihrer inneren Gesetzlichkeit“ (ebd. S. 80) schlüssig entziffert bzw. rekonstruiert werden kann. Praxisäußerungsformen werden also zu hoch authentischen Ausdrucksgestalten, indem sie über einen hohen Verdichtungsgrad verfügen, und dies ist dann der Verfall, wenn der Eröffnungs- und Beschließungszwang in der Praxisäußerungsform eingelöst wurde, indem er seine Fallstruktur zwischen Anfang und Ende einer Ausdrucksgestalt freigibt, sich somit selbst offenbart. Auf methodischen Pfaden bedeutet dies nun, den hohen Verdichtungsgrad eines Textes in der methodischen Operation der Sequenzanalyse und nach dem Prinzip der Detailliertheit, dem Wörtlichkeitsprinzip und dem Totalitätsprinzip gerecht zu werden (vgl. ebd., S. 100 f.) Aus der strengen Einhaltung dieser Prinzipien ergibt sich in der Folge auch die Frage nach dem Umfang des Datenmaterials hinsichtlich seiner Erhebung, Verschriftlichung und Auswertung. So ist grundsätzlich klar, „dass angesichts der Detailliertheit und des Aufwandes an der Explikation in einer Sequenzanalyse, die diesen Namen verdient, immer nur ganz geringe Textmengen ausgewertet werden können“ (vgl. ebd., S. 97), denn bezogen „auf die reale Lebensspanne einer Fallstruktur bzw. einer Lebenspraxis kann das methodisch zu bearbeitende Protokoll ohnehin immer nur ein außerordentlich begrenzter Ausschnitt sein. Dass er dennoch eine Fallstruktur >freigibt< – eine detaillierte Rekonstruktionsmethode vorausgesetzt – dafür gibt uns ganz wesentlich jener Verdichtungsgrad die Gewähr, der in der Praxis selbst in Abhängigkeit vom Gestaltungszwang durch Eröffnung und Beschließung einer konkreten Praxis operiert“ (ebd., S. 80). Weist also im Grunde genommen jeder Fall dann eine gelungene Gestaltschließung auf, wenn sich der Fall zwischen Eröffnung und Beschließung einer 85
Praxisäußerungsform mit sich selbst identisch entwirft, kann in der Folge davon ausgegangen werden, dass der Fall sich authentisch offenbart und ein rekonstruktiv-hermeneutischer Zugriff auf seine Fallstruktur mittels Sequenzanalyse prinzipiell möglich ist. Anfang und Ende einer solchen Praxisäußerungsform werden entweder im Rahmen von Interviewsituationen von außen gesetzt, oder sie ergeben sich in den natürlichen Spuren, die Handlungssubjekte in spezifischen Ausdrucksgestalten hinterlassen haben. Diesem Zwang zur Gestaltschließung sind gerade jene Praxisäußerungsformen im besonderen Maße ausgesetzt, die im weitesten Sinne als gelungene Kunstwerke daherkommen. In ihnen herrscht ein besonders hoher Grad an Verdichtung vor, da die Länge des Werktextes dazu ausreichen muss, damit sich „eine fiktionale Realität (...) vor uns entfaltet, als ob sie eine eigenlogische Lebendigkeit hätte. Das geht nur durch ein Höchstmaß an Verdichtung“ (Oevermann 2000, S. 81). Gerade in dieser Beschränkung muss der Fall hoch authentisch mit sich selbst sein, um überhaupt ausdrücken zu können, worum im Rahmen der vorgefundenen Praxisäußerungsform geht. Dies gelingt freilich nur dann, wenn es dem Fall gelingt, bezüglich seines Entwurfes an ganz allgemeingültige Regeln und Universalien anzuschließen und, im zweiten Schritt, diesen Regeln und Gesetzen (Parameter I) gewissermaßen ein eigenes Leben einzuhauchen, diese also je fallspezifisch und nach ganz eigenen bzw. eigenlogisch wirksamen Auswahlkriterien zu beantworten (Parameter II). Nur so werden von einem Fall Praxisäußerungsformen bzw. Ausdrucksgestalten generiert, die einer natürlichen Verlaufsordnung folgen, die sich ihrerseits wiederum an den Prinzipien der Regelgeleitetheit, der Wohlgeformtheit und an denen der rationalen Vernunft orientieren. Rekonstruierte Fallstrukturen und Fallgesetzlichkeiten sind demnach nicht nur die Voraussetzungen für abgesicherte Generalisierungen, sie sind bereits in der methodischen Operation selbst Gegenstand von Strukturgeneralisierungen. Und hier liegt der Kern dieses Generalisierungsprinzips wirklich im Detail methodologischer Grundannahmen und Voraussetzungen. Oevermann insistiert hier ganz deutlich darauf, dass sich das Generalisierungsprinzip der Objektiven Hermeneutik nur erkennen und verstehen lässt, wenn in methodologischen Grundannahmen sowie im methodischen Nachgang ganz grundlegend zwischen Fallbeschreibung und Fallrekonstruktion konsequent unterschieden wird (vgl. ebd., S. 117). Fallbeschreibungen folgen einem subsumtionslogischen Modus und einem empirischen Generalisierungsprinzip, wohingegen in der Objektiven Hermeneutik das Prinzip der Strukturgeneralisierung im Vordergrund steht. Damit ist ein Erkenntnismodus gemeint, der es ermöglicht, „aus der detaillierten, unvoreingenommenen, nicht von vornherein selektiv verfahrenden Betrachtung eines Einzelereignisses oder Einzel86
dinges dessen allgemeine Struktureigenschaft zu erschließen“ (ebd., S. 119). Eine Fallbeschreibung dringt in diese Logik eines solchen Generalisierungsprinzips überhaupt gar nicht vor, da ihr ein ganz anderes methodologisches Grundprinzip und zwar ein subsumtionslogisches zugrunde liegt. Sinnlogisch ergibt sich daraus der berechtigte Einwand, dass aus einer einzigen Fallbeschreibung „keine Generalisierung, weder eine empirische noch eine Strukturgeneralisierung, möglich ist“ (Oevermann 2000, S. 117), aus einer Fallrekonstruktion jedoch schon. So bleibt einer subsumtionslogischen Vorgehensweise nur ein Ausweg: möglichst viele Fälle anzuhäufen, die einer Hypothesenüberprüfung dienlich sind, die auf zuvor definierte Strukturzusammenhänge fußen. Ohne diese zuvor definierten Strukturzusammenhänge kommt eine subsumtionslogische Vorgehensweise nicht aus, da ihr sonst die Basis für eine Vergleichbarkeit der Fälle fehlen würde. Eine initiale Strukturzusammenhangserkenntnis bleibt ihr jedoch verschlossen bzw. wird sie „als je schon gegeben vorausgesetzt“ (ebd., S. 118). Ganz entgegen eines solchen induktiven bzw. deduktiven Vorgehens folgt das Strukturgeneralisierungsprinzip der Objektiven Hermeneutik dem Modell des Abduktionsschlusses von Ch. S. Peirce, der einen Schlussmodus bezeichnet, der neue Erfahrungen und neue Erkenntnisse erzeugt (vgl. ebd., S. 118). Da der Fall nun seinen eigenen spezifischen Gesetzlichkeiten folgt, die nichts anderes sind „als die Explikation der Systematik und Regelmäßigkeit, mit der die immer wieder erkennbare konkrete Fallstruktur sich sequenziell reproduktiv entfaltet und von der die mögliche Transformation ihren Ausgang nimmt“ (ebd., S.119), unterliegen die Handlungen und damit auch spezifische Praxisäußerungsformen gerade diesen Gesetzlichkeiten; sie sind gewissermaßen strukturlogisch organisiert. Auch und gerade wenn sie von ihrem Umfang her relativ knapp sind, handelt der Fall immer entsprechend seines eigenlogischen Innenlebens, das es nun aber nicht zu beschreiben, sondern sequenzlogisch zu rekonstruieren gilt. Gerade auf dieses fallspezifische Eigenleben zielt die sequenzlogische Operation der Objektiven Hermeneutik ab und befreit den Verstehensprozess von Willkürlichkeiten und Beliebigkeiten. Das Erschließen von Fallstrukturen und Fallstrukturgesetzlichkeiten setzt im rekonstruktiven Vorgehen einen Erkenntnis- und Erfahrungsmodus frei, der ein Gesetzes-Allgemeines offenbart, denn Fallstrukturen sind gleichzeitig als Ausdruck des Besonderen wie des Allgemeinen zu verstehen. Sie tragen das Allgemeine ebenso in sich, wie sie etwas Besonderes auszudrücken versuchen, denn das Besondere kann als solches nur Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, indem es das Allgemeine und damit die Regeln, Gesetze und Universalien dieser Welt in sich aufnimmt. Diese funktionieren nicht als quasi 87
(Natur-) Gesetze, die den Fall von Außen determinieren und die das Handlungssubjekt assimiliert, sondern sie werden fallspezifisch mittels je eigenlogisch wirksamer Erzeugungsregeln und Auswahlkriterien beantwortet und bilden eine je eigene Systematik und Logik ab: „Fallstrukturen sind also Gebilde, die in einem dialektischen Zusammenhang tatsächlich eine Allgemeines und ein Besonderes zugleich der Art sind, dass darin beide Momente einander notwendig bedingen: ohne diese Allgemeinheit kein Besonderes und ohne diese Besonderung kein Allgemeines der praktischen Vernunft“ (Oevermann 2000, S. 124). Fallstrukturen und Fallstrukturgesetzlichkeiten unterliegen folglich immer spezifischen Strukturproblemen, die ein Handlungssubjekt zu lösen gezwungen ist und die wiederum spezifische Bewährungsdynamiken freisetzt. In diesen Bewährungsdynamiken muss das Subjekt dem Anspruch von Autonomie der Lebenspraxis gerecht werden. In diesem Autonomiekonzept von Lebenspraxis werden die „konstitutiven Strukturprobleme wie Individuierung, Bewährung, Subjektivität, Authentizität“ (ebd., S. 120) insofern wirksam, als sie als solche Strukturprobleme spezifische Lösungs- und Bewältigungsstrategien freisetzen, die sich in Ausdrucksgestalten als Fallstrukturen und Fallstrukturgesetzlichkeiten analysieren lassen. Genau auf diese Lösungsentwürfe oder -strategien zielen Strukturgeneralisierungen in der Objektiven Hermeneutik; sie geben Antworten darauf, wie spezifisch der Fall seinen Weg aus diesen konstitutiven Strukturproblemen findet, in welcher Weise diese Strukturproblematiken sich überhaupt erst am Fall herleiten lassen und welche potenziell möglichen Wege der Fall für sich selbst ausgeschlossen hat. Wir erfahren also in solchen Fallrekonstruktionen nicht nur etwas darüber, wie der Fall für sich selbst Bewährungs- und Strukturproblematiken handhabt und löst, sondern wir erfahren überhaupt erst durch die Arbeit am Fall etwas über ganz allgemeine Strukturprobleme, die fallspezifisch besonders gelöst und bearbeitet werden: „Deshalb kennt man mit jeder empirisch im Material vorfindbaren Fallstruktur gleichzeitig – konkret als Möglichkeiten ausgeformt – mehrere andere, die der Fall hätte werden können, aber nicht geworden ist“ (ebd., S. 125). Gerade auf diesen besonderen Erkenntnismodus zielt das Strukturgeneralisierungsprinzip der Objektiven Hermeneutik: der Fall wird nicht an vorher festgelegte Strukturannahmen angelegt, so wie es im empirischen Generalisierungsprinzip der Fall ist, sondern Strukturgeneralisierungen werden fallrekonstruktiv in den sequenzanalytischen Operationen aus dem Fall im mimetischen Anschmiegen an den Fall hergeleitet. Darüber geben uns maßgeblich die spezifischen Fallstrukturen Auskunft, denn sie sind nichts anderes als „je eigenlogische, auf individuierende Bildungsprozesse zurückgehende Muster der Lebensführung und Erfahrungs88
verarbeitung, mehr noch: als je eigene, Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebende Lebens- und Weltentwürfe und Entscheidungszentren. Sie nehmen soziale Einflüsse in sich auf, aber sie werden nicht einfach durch sie programmiert; sie konstituieren sich in einer schon immer vorausgesetzten und gegebenen Sittlichkeit und Sozialität, aber sie eröffnen immer wieder von neuem mit ihrer eigenen Zukunft auch die Zukunft der sozialen Allgemeinheit und der Gesellschaft“ (Oevermann 2000, S. 123). Analog dazu sind die „Fallstrukturgesetzlichkeiten nicht die je individuellen Übernahmen übergeordneter Regelmäßigkeiten, sondern die den inneren Zusammenhang einer Fallstruktur begründenden und explizierenden sinnlogischen Verknüpfungen, an die die Allgemeinheit der Gegenüber-Welt und die sie beherrschenden Gesetzmäßigkeiten je individuiert assimiliert werden“ (ebd., S. 123). Fallstrukturen und Fallstrukturgesetzlichkeiten verweisen also immer auch auf einen gemeinsamen Geltungsgrund mit anderen Praxen bzw. Fallstrukturen; im Übrigen ein Argument dafür, dass bereits mit einer einzigen Fallrekonstruktion umfassende Generalisierungen plausibel vorgenommen werden können. Für das Generalisierungsprinzip der Objektiven Hermeneutik bedeutet dies schließlich folgendes: „Man muss sich, um dieses Modell von Fallstrukturgesetzlichkeiten als Bezugspunkt bzw. Ziel der Strukturgeneralisierung nicht von vornherein abzuwehren, daran gewöhnen, dass, im Unterschied zur vor-kulturellen Welt der Naturdinge, unter der Bedingung von Kultur und Sprache eine autonomiefähige Lebenspraxis sich um das Problem des Bewusstseins von der Endlichkeit des Lebens und des damit einhergehenden Zwangs zur Entscheidung zwischen eröffneten hypothetischen Möglichkeiten konstituiert und diese Autonomie Wege eines Individuierungs- und Bewährungsprozesses in einer eigenlogischen, individuierten Lebens- und Bildungsgesetzlichkeit sich spezifisch und unverwechselbar artikuliert“ (ebd., S. 120). Vor diesem Hintergrund fasst Oevermann fünf Dimensionen der Strukturgeneralisierung in der Objektiven Hermeneutik zusammen: Erstens ist jede Fallrekonstruktion, wenn sie bis zu einer expliziten und schlüssigen Fallstrukturhypothese geführt wurde, eine Generalisierung, schon allein deshalb, „weil die so artikulierte Fallstruktur einen Typus darstellt, der in sich allgemein ist“ (ebd., S. 124). Was ist nun jedoch als eine Allgemeinheit zu verstehen? Oevermann beantwortet dies mit einer Gegenfrage, die an die Logik einer empirischen Generalisierung andressiert ist. Denn würde man das Verständnis von Allgemeinheit von einem Kriterium der relativen Verbreitung in einer Grundgesamtheit abhängig machen, so würde sich sinnlogisch die Frage danach stellen, von welchem Prozentsatz an etwas allgemein ist (vgl. ebd., S. 124). Umgekehrt würde Allgemeinheit einer Logik von Strukturgeneralisierung folgend bedeuten, dass 89
etwas, „was aus kontingenten oder vielleicht auch systematischen Gründen nur selten oder gar singulär nachgewiesen ist (...) gerade deshalb zum Ausgangspunkt außerordentlich bedeutsamer allgemein gültiger Erkenntnis werden“ (Oevermann 2000, S. 124) kann, da das Wissen bzw. die Erkenntnis nach der relativen Verbreitung des in der Fallstruktur in sich schon allgemeinen Typus gar nicht relevant dafür ist: „Die Allgemeinheit der Fallrekonstruktion bestimmt sich vielmehr nach der Explizitheit und Schlüssigkeit, mit der die Sequenzanalyse zur Formulierung einer Fallstrukturhypothese geführt wurde“ (ebd., S. 125). Zweitens ist jede Fallstruktur immer schon der Verweis auf die objektiven Möglichkeiten je anderer potenziell möglicher Handlungsanschlüsse oder Handlungsalternativen. Die Rekonstruktion einer spezifischen Fallstruktur schließt damit immer schon die Rekonstruktion mehrer verschiedener möglich gewesener Fallstrukturen mit ein. In der Folge bedeutet dies, dass auf dem Wege der Rekonstruktion von Fallstrukturen der gemeinsame objektive Geltungsgrund dieser Fallstrukturen quasi ‚automatisch’ mit erschlossen wird: „Deshalb kennt man mit jeder empirisch im Material vorfindbaren Fallstruktur gleichzeitig – konkret als Möglichkeiten ausgeformt – mehrere andere, die der Fall hätte werden können, aber nicht geworden ist“ (ebd., S. 125). Drittens erfahren wir in den Fallrekonstruktion nicht nur etwas über die je konkrete Fallstruktur, sondern es werden auch „generalisierungsfähige Erkenntnisse über die Fallstrukturen von – in der Regel höher aggregierten – sozialen Gebilden gewonnen, in denen der analysierte Fall Mitglied ist, denen er zugehört oder in die er sonst wie eingebettet ist“ (ebd., S. 125). Dem wäre etwa so, wenn wir einen Schüler oder eine Schülerin im Rahmen eines Einzelinterviews zu seiner/ihrer Schule befragen würden, oder wenn wir einen Anhänger dieser oder jener jugendkulturellen Szene zu seiner Szenezugehörigkeit befragen würden. Die spezifische Fallstruktur des höher aggregierten sozialen Gebildes, also Schule oder jugendkulturelle Szene, würde sich in der Fallstruktur des Einzelfalls immer schon mit nachzeichnen lassen. Dies ist sinnlogisch schon deshalb so, weil die Regeln und Gesetze dieser sozialen Gebilde natürlich die Fallstruktur des Einzelfalls entscheidend mit beeinflussen und prägen. Der Einzelfall reproduziert diese Regeln und Gesetze selbstverständlich; in der Art und Weise wie er dies tut, zeichnet sich seine Fallstruktur ab. Viertens – und dies darf ruhig als Faustformel gelten – ist diesem Generalisierungsprinzip folgend Fallanalyse immer auch Gesellschaftsanalyse, denn jede „Fallrekonstruktion führt potenziell zu Erkenntnissen über allgemein gültige Regeln und Normen, deren Operationsweise und Geltung anlässlich der Sequenzanalyse einzelner Zusammenhänge beispielhaft zur Evidenz 90
gebracht werden“ (ebd., S. 125f.). Rekonstruieren wir etwa einen Entwurf eines Selbst im Verhältnis zur Welt, erfahren wir immer etwas über die objektiven Gegebenheiten, die das Selbst in seinem Entwurf assimiliert und selbstverständlich fallspezifisch beantwortet. Oder rekonstruieren wir etwa den schulprogrammatischen Entwurf einer Schule, so erfahren wir immer etwas über ganz allgemeine bildungspolitische Grundgegebenheiten und Prinzipien einer Gesellschaft. Fünftens schließlich „ergibt sich eine außerordentlich bedeutsame Generalisierungsdimension dadurch, dass grundsätzlich jede Fallstruktur zugleich zumindest implizit einen mehr oder weniger starken Anspruch auf praktisches Gelingen enthält und mit diesem Anspruch zum Beispiel als Vorbild für Nachahmung oder Ablehnung findet. Jede Fallstruktur ist also ein potenzieller Kandidat für eine empfehlenswerte Neuerung, eine zur Allgemeinheit einer Routine führende Bewährung“ (Oevermann 2000, S. 126). Dies ist insofern bedeutsam, als sich hier gewissermaßen der Schlüssel zur Erklärung der Generierung des gesellschaftlichen Neuen verbirgt. Diese Generalisierungsdimension wird von Oevermann völlig zurecht als die wohl bedeutsamste ausgewiesen, denn hier folgt das Handlungssubjekt seinem Autonomieanspruch, der darin seinen Ausdruck findet, den eigenen richtigen Lebensentwurf o.ä. vor sich selbst und vor anderen als den richtigen zu begründen. Dies gelingt nur, wenn dieser Entwurf Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt und potenziell Neues hervorbringt. Selbstverständlich ist es dieser Logik folgend so, dass gesellschaftliches Neues nur aus dem Einzelfall selbst hervorgeht und auch nur aus dem Einzelfall rekonstruierbar ist, auch wenn es sich nur hypothetisch manchmal sogar ‚nur’ heuristisch ausformt. Potenziell steht der Einzelfall mit seiner spezifischen Fallstruktur und -gesetzlichkeit immer für die Hervorbringung des Neuen, denn der Autonomieanspruch bewährt sich immer vor dem Hintergrund einer Krise, nicht aber vor dem Hintergrund von Routinen. Krisenlösungen beinhalten potenziell immer die Generierung eines gesellschaftlichen Neuen. Auch hierüber erfahren wir selbst schon in einer einzigen Fallrekonstruktion etwas und sei es äußerst hypothetisch, denn das „Neue und Zukunftsträchtige wird in der Regel ohnehin nicht plötzlich flächendeckend und massenhaft auftauchen, sondern kaum merkbar punktuell hier und da. Will man es, nicht nur unter dem Gesichtspunkt der zeitdiagnostischen Wirksamkeit von Strukturanalysen, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der schnellen Bekanntmachung, erfolgreich aufspüren, dann darf man sich ohnehin nicht der Mittel der Frequenzanalyse und der auf empirische Generalisierung angelegten Erhebung großer Fallzahlen bedienen, sondern dann muss man an der richtigen Stelle, das heißt für den richtigen Fall, 91
eine möglichst detaillierte und gründliche Fallrekonstruktion vornehmen, um zu relevanten Generalisierungen zu gelangen (ebd., S. 126). Ich habe mit der Darlegung des Generalisierungsprinzips der Objektiven Hermeneutik deutlich gemacht, wie auch im Rahmen dieser Arbeit die Generalisierung der Rekonstruktionsergebnisse im Folgenden zu verstehen sei. In den Rekonstruktionen selbst gewinnt der Leser einen Einblick in die Struktur des Falls und in seine je eigenlogische Systematik der Bearbeitung und Lösung von ganz grundlegenden Bewährungsproblematiken, der sich so oder so ähnlich auch andere Fälle potenziell stellen müssen. Diese werden zwar wiederum auf ihre je eigene Weise bearbeitet und gelöst, sie verweisen jedoch auf einen gemeinsamen Geltungsgrund. Diese sich im Fall entfaltenden Lösungsmodelle beziehen sich auf das Andere der GegenüberWelt, von dem sich der Fall zur Wahrung der Autonomie von Lebenspraxis absetzen muss, um sich vom gesellschaftlichen Anderen individuieren zu können. In der Art und Weise, wie der Fall dies tut, aber auch in der Art und Weise, wie dies dem Fall gelingt oder wie er daran scheitert, wird deutlich werden, wie der Fall in seinem eigenlogischen Kern ‚funktioniert’, wie er ‚gestrickt’ ist. Scheitern und Gelingen werden dieser Logik folgend jedoch nicht als die bessere oder schlechtere Ich-Leistung weiter verfolgt, sondern als lebenspraktischer Ausdruck der Bearbeitung und Lösung von ganz grundlegenden Bewährungs- und Strukturproblematiken, die einmal mehr und einmal weniger Scheitern strukturell bedingen und Gelingen strukturell verhindern können. Die Frage ist folgend nicht, ob der Fall in Scheitern oder Gelingen gestellt ist, sondern wie er dies tut und wie dies in einem weiteren Schritt strukturtheoretisch bzw. Struktur generalisierend zu behandeln ist. Diejenigen Leser, die etwas über den äußeren Kontext des Falls erfahren wollen, müssen hier leider enttäuscht werden. Denn die Besonderheit dieses äußeren Kontextes des Falls liegt gerade in einer zentralen Wesenseigenschaft bzw. Strukturlogik des Internet als anonyme Netzkultur. Wir erfahren aus diesem äußeren Kontext, der „hier nicht ontologisch bzw. phänomenal als außerhalb einer Lebenspraxis liegend bzw. auf deren Umwelt sich beschränkend zu verstehen >ist@, als ob die innere, psychische Realität eines Falls nicht dazu zu zählen wäre, sondern rein methodisch als Charakterisierung eines Wissens über einen Kontext, das außerhalb der Sequenzanalyse gewonnen oder bezogen worden ist“ (Oevermann 2000, S. 96) nur sehr wenig bis gar nichts: die Verfasser der Texte, die im Rahmen dieser Arbeit als protokollierte Ausdrucksgestalten vorliegen, bleiben hinsichtlich ihres Geschlechts, ihres Alters, ihrer spezifischen Funktionen im Szenekontext, ihrer sozialen Herkunft usw. unbekannt, ebenso wie jedes weitere Wissen, das sich 92
nicht aus dem inneren Kontext des Falls selbst herleiten lässt, weitestgehend unberücksichtigt bleibt. Gerade dieser innere Kontext steht in der sequenzanalytischen Operation im Vordergrund des methodischen Vorgehens (vgl. Oevermann 2000, S. 95). Es ist somit das kumulierte sequenzlogisch angehäufte Wissen über den Fall, das sich aus dem Fall heraus nur dann ergibt, wenn gerade der äußere Kontext des Falls ausgeblendet bleibt und damit eine ‚schlechte’ Zirkularität vermieden wird (vgl. ebd., S. 96). Denn nur dann, wenn der Interpret eines Textes so wenig wie möglich über diesen äußeren Kontext weiß, gelingt es ihm, in die Strukturlogik des Falls einzudringen ohne ein bestehendes Vorwissen bzw. angenommene und vorausgesetzte Strukturlogiken an den Fall heranzutragen. Es wäre bspw. für einen Rekonstruktionsverlauf, der sich auf die Analyse eines Textes aus dem schulischen Kontext bezieht fatal, ein wie auch immer bestehendes Wissen über schulische Abläufe und Strukturmomente in die methodische Operation mit einzubeziehen, denn damit wäre die Möglichkeit und das Gelingen einer kumulativen Sequenzanalyse vertan. Denn mit (künstlicher) Ausblendung dieses Vorwissens um den äußeren Kontext des Falls dringt man überhaupt erst in Strukturlogiken und in die spezifische Logik des inneren Kontextes ein, die gegebenenfalls gar nichts mit den Strukturlogiken des äußeren Kontextes gemein haben müssen. So ließe sich bspw. erst mit der Ausblendung dieses Vorwissens um den äußeren Kontext eines schulischen Falls die Strukturlogik totaler Institutionen wie bspw. militärischer Institutionen o.ä. aus dem Fall selbst herausarbeiten. Dies würde ein eingebrachtes Vorwissen um den äußeren Kontext des Falls erschweren bzw. gar nicht zulassen, da man von vornherein ja weiß, das Schule im Regelfall keine militärische Einrichtung ist. Erst in der Einhaltung all dieser grundlagentheoretischen bzw. methodologischen Grundannahmen gelingt es, erstens in die Fallstrukturen einzutauchen, zweitens aus diesen Fallstrukturen im Falle ihrer vollständigen Reproduktion eine je eigenlogische Systematik der Handhabung und Lösung von ganz grundlegenden Bewährungs- und Strukturproblematiken und Fallstrukturgesetzlichkeiten zu rekonstruieren, um schließlich drittens zu ganz allgemeinen Strukturgeneralisierungen zu gelangen, die dann den Blick auch auf jeweils höher aggregierte soziale Gebilde (hier der Techno-Szene) frei machen.
93
5.
Darstellung der Rekonstruktionsergebnisse
Es sei an dieser Stelle drauf verwiesen, dass in diesem Buch auf die ausführliche Darstellung der Rekonstruktionsverläufe im Interesse des Leseflusses und im Sinne der erkenntnistheoretischen Weiterführung der Rekonstruktionsergebnisse verzichtet wurde. Diese hier sehr kompakt wiedergegebenen Rekonstruktionsergebnisse, die in der ungekürzten Fassung auf fast einhundert Seiten Rekonstruktion fußen, sind in aller Ausführlichkeit auf einer Internetseite abgelegt und können dort jederzeit eingesehen werden.18 Mir war es in diesem Zusammenhang wichtiger, mit den konkreten Ergebnissen erkenntnisgenerierend weiter zu arbeiten. Die Interpretationsarbeit ist an dieser Stelle, und mit der Darstellung der Rekonstruktionsergebnisse im Folgenden, nicht abgeschlossen, sondern wird in den Kapiteln 6 und 7 in diesem Buch Struktur generalisierend und erkenntnisorientiert weitergeführt.
5.1
Rekonstruktion A
In dem Versuch, sich selbst als ein konsistentes Selbst gegenüber den gesellschaftlichen Erwartungshaltungen, die an die Reproduktion tradierter gesellschaftlicher Ordnungslogiken gebunden sind, zu individuieren, wird die gescheiterte Normalbiographie, die stellvertretend als die negative Vorbildgeneration entworfen wird, zu einem sinnstiftenden Moment insofern, als sich das selbsterhaltende Subjekt der Sorge um das eigene Selbst hinwendet. Die Hinwendung zur Sorge um das eigene Selbst im Hier und Jetzt der gegenwärtigen Weltstunde erscheint als das Andere vom Altbewährten, dem in der Folge allgemeingültiger und somit kollektiv verbürgter Sinn zugeschrieben werden soll. In diesem Versuch der Sinnzuschreibung, die sich am eigenen Selbst und am vergänglichen Dasein orientiert, bricht die Zerrissenheit des Falls zwischen der Sinnkonstruktion in der Logik etablierter Ordnung einerseits (tradierte Lebensentwürfe und -konzepte) und einer sich selbst
18
www.hagedorn-erziehungswissenschaft.de
95
entbergenden Ordnung des eigenen Selbst andererseits auf (eigene Daseinsentwürfe). Auf der Seite gesellschaftlicher Konventionen und Tradierungen steht das Scheitern altbewährter Formen der Lebensplanung, die sich der Reproduktion dominanter gesellschaftlicher Ordnungslogiken verschrieben haben. Diese sind in der Tendenz zu sinnleeren Lebensgestaltungsprinzipien geworden, da sie die Sorge um das eigene Selbst vernachlässigt haben. Auf der anderen Seite steht das potenzielle Gelingen je eigener Daseinsaspirationen, die die Sorge um das eigene Selbst in den Vordergrund rücken. Beide Seiten fallen in der Fallstruktur ineinander und deuten damit auf die Fallstruktur eines zerrissenen Subjekts. Diese Zerrissenheit wird fallspezifisch in dem Versuch ‚gelöst’, den konspirativen Anderen, die systemloyalen und den gesellschaftlichen Reproduktionsverpflichtungen zugewandten Akteure, vor allem wohl aber sich selbst von der Notwendigkeit eines Umdenkens in der Suche nach einem neuen Modus des Denkens und Wissens zu überzeugen. Damit wird ein Eigenwert des Lebens markiert, der sich nunmehr nicht an einer krisenhaften Zukunft orientiert und diese Risiken und Gefahren im richtigen Lebenskonzept gestalterisch, planerisch und sinnstiftend bearbeitet und zu lösen versucht. Vielmehr wird Zukunft entworfen als ein Geschehen und Passieren, das eher von der Hoffnung getragen ist, dass sich die Dinge in der Zukunft positiver einstellen, als es der krisenhafte und offene Zukunftshorizont vermuten lässt. Der Eigenwert des Lebens wird somit im Hier und Jetzt der menschlichen Existenz ausgemacht, der sich „vielleicht“, vielleicht aber auch nicht in der Zukunft bezahlt machen wird. An Stellung gewinnen gerade nicht die übergeordneten Ziele und Utopien, die der Planbarkeit und Machbarkeit von Welt nachhängen, sondern es ist die Sorge um das eigene Selbst, die ihre Wirkung in einer „vielleicht besseren Zukunft“ entfalten wird – oder eben auch nicht. Diesem eigentlichen Selbstentwurf, der sich eher im Verborgenen artikuliert, haftet ein Makel an, der das inkonsistente Selbst immer wieder in seiner Zerrissenheit zu überführen droht: er lässt sich sinn- und bedeutungsgenerierend nur schwer verbürgen. Hier ist ein Problem markiert, das der Fall kaum handhaben kann: nämlich mit tradierten gesellschaftlichen Ordnungslogiken zu brechen und an die Stelle dieser bewährten Ordnungslogiken, die selbst im kritischen Diskurs oder im Konflikt auf einer zwar sinnleeren, dennoch aber verbürgten Einheitskultur fußen (das „Leben“ der Anderen), eine Ordnungslogik zu stellen, die sich an der Sorgen um das eigene Selbst orientiert und die über eine solche Einheitskultur nicht verfügt (das eigene „Dasein“), folglich sich erst über ein „umdenken“ herbeiführen ließe. Gerade hier aber scheitert der Fall selbst an einer Strukturlogik, die gerade 96
ihre Wirkmächtigkeit dort entfaltet, wo es um die Konstruktion eines kohärenten Selbst geht. Was aus dieser krisenhaften Unsicherheit bleibt, ist der Rückzug auf und der Erhalt des eigenen Selbst im Hier und Jetzt seiner menschlichen Existenz.
5.2
Rekonstruktion B
In der Wiedervergegenwärtigung des Zeitlichen wird Gegenwart als eine Zeit repräsentiert, die eine Suche nach einem kulturellen Modus des Erfahrens und Verstehens des eigenen Selbst kennzeichnet. Diese inszenierte neue Kultur des Erfahrens und Verstehens des eigenen Selbst schließt die „Einheit“ als die Geschlossenheit des Selbst auf der einen und die „Ekstase“ als Ausbruch des Selbst aus seiner starren Logik auf der anderen Seite in einen repräsentierten kulturellen Modus der Selbsterkenntnis ein, der im Oszillieren zwischen Kohärenz und Inkohärenz des eigenen Selbst eine neue Ordnung des Selbst herstellen lässt und damit einen neuen Modus des Wissens vom eigenen Selbst als „höheres Bewusstsein“ bzw. „Vollkommenheit“ bezeichnet. Performativ lässt sich diese neue Ordnungslogik des Selbst in einer herbeigeführten und inszenierten Strukturlogik „rhythmischer Feste“ und einem damit verbundenen Heraustreten aus der Alltagswelt ästhetisch erleben und erfahren. Damit sind Handlungspraxen entworfen, die strukturlogisch in einem rhythmischen Regelmaß die Gegensatzpaare des eigenen Selbst in ein Schwingen bzw. in eine rhythmische Spannung überführen, die sich als „Trance“ und „Ekstase“ seelenleiblich erleben und erfahren lassen. Dieses rhythmische Regelmaß, das den „Festen“ zu ihrer unverwechselbaren Einzigartigkeit verhilft, wird herbeigeführt durch den einzigartigen Takt, der sich sinnlogisch nicht organisieren lässt, sondern der immer wieder neu herbeigeschworen werden muss, um als das erwartet Unerwartete und überraschend hereinbrechende Gestaltungsmoment das Fest zu einem einzigartigen Ereignis werden zu lassen. So sind die „rhythmischen Feste“ als eine besondere „Art“ bezeichnet, die nur in ihrer Einzigartigkeit als herbeigeführtes Ereignis mit den „einzigartigen Konstellation(en)“ eine Gegenwart spürbar werden lässt, in der das Verborgene (des eigenen Selbst) in Erscheinung und zur Präsenz gebracht wird. Diese einzigartige kulturelle Ordnung, in der die jeweilig auserwählten Akteure selbst schon eingebunden sind, wird überhaupt erst zu einer solchen, indem sie als das Verborgene in Erscheinung gebracht wird und damit quasi seelen-leiblich ‚berührbar’ wird. Sinnlogisch wird das in das „Buch der Takte“ eingeschriebene Neue außerhalb dieser rituellen Handlungspraxis dem Verschwinden preisgegeben und im Verborgenen gehalten. Das Heraustreten aus 97
der Strukturlogik dieser rhythmischen Feste bedingt damit gleichsam das Wiederaufbrechen der Gegensatzpaare des eigenen zerrissenen Selbst. Die jeweiligen Akteure sind damit als „Reisende“ im eigenen Selbst bezeichnet, die zwischen den Kontrastpolen ihres eigenen Selbst in den Momenten des Erscheinens und Verbergens ihrer selbsterhaltenden kulturellen Ordnung einerseits und der selbstbeschränkenden alltagsweltlichen Ordnung andererseits hin und her wandern (Nomadisches Selbst). Hinter der eigentlichen „fieberhaft(en)“ Suche nach dem richtigen Weg zu einer Symbiose aus „Einheit und Ekstase“, nach einer Ordnungslogik des eigenen Selbst, die sich in einem eigentümlichen Rütteln an der starren Logik des eigenen Selbst vergeht, verbirgt sich gerade der krisenhafte Normalentwurf, nämlich der Normalentwurf einer dominanten Ordnungsstruktur, der ein Begehren aktiviert, das auf die Lösung einer (In)Kohärenzproblematik eines Selbst gerichtet ist, das sich in einer stets wandelnden und verändernden Welt selbst zu erhalten versucht, indem es sich in den Inszenierungen wiederum an der Gegenwart vergeht. Eine Gegenwart, die dominant davon geprägt ist, dass sie sich in einer irreversiblen Zeit bewegt, die nur in der Erinnerung aufzuhalten ist. In den Ritualen jedoch wird die Zeit umkehrbar und kann Gegenwart spürbar herbeigeführt werden. Für den hier vorliegenden Fall bedeutet dies gerade die verzweifelte („fieberhaft“) Suche nach einem Modus der Selbsterkenntnis, die das Hineingestelltsein in eine passierende Gegenwart kennzeichnet, in der die Akteure bzw. das Selbst der Passagier bzw. der „Reisende“ einer eigentlichen Irrfahrt ist. Erkennbar wird die Ohnmacht des Selbst, das an seiner (In) Konsistenz zu zerbrechen droht. Das ‚wahre Selbst’ kann sich einzig in den (rituell) herbeigeführten und inszenierten Räumen und in einer spürbaren Gegenwart erfahren, entfalten und erhalten. Dies geschieht im Heraustreten aus einer krisenhaften Alltagswelt und im Sich hinein begeben in außeralltägliche rituelle Handlungspraxen, die vorübergehend eine NeuOrdnung des Selbst ermöglichen und das Selbst in eine eigene kulturelle Ordnung einbinden. In diesen rituellen Handlungspraxen wird im eigentümlichen Schwingen zwischen Kohärenz und Inkohärenz das wahre Selbst berührt; diese erlebte und gespürte Imagination des kohärenten Selbst, das im Sinne eines rituell herbeigeführten Wissens mit den Kontrastpolen seines eigenen Selbst im Reinen ist, wird in der imaginären Sinngestalt „Metronomicon“ konserviert und eingebunden; es ist somit ebenso „verschollen“ und tritt immer nur in der „einzigartigen Konstellation“ seiner (rituellen) Inszenierung in Erscheinung. In der Inszenierung und Aufführung des eigenen Selbst in ungewohnten und einzigartigen kulturellen Ordnungslogiken, die sich des Rhythmischen dort bedienen, wo es der Herstellung 98
eines Gleichgewichts zwischen den Kontrastpolen des eigenen Selbst dient, gelingt es dem Selbst, sich selbst als präsentes kohärentes Selbst hervorzubringen, denn all dies verdient sich erst in einer Inszenierungsleistung hinter der das eigentlich gespaltene und zerrissene Subjekt steht.
99
6.
Theoretisierung der Rekonstruktionsergebnisse
6.1
Über die Gelassenheit und das Verschwinden des Horizonts
In einem nächsten Schritt möchte ich zunächst die Frage stellen, wie spezifisch dieser Fall seinen (Selbst-) Entwurf vor dem Hintergrund eines fallspezifisch gedeuteten Zukunftshorizonts entwirft. Denn in diesen möglichen Perspektiven auf einen offenen und krisenhaften Zukunftshorizont einerseits oder zwar offenen, aber gerade in seiner Offenheit das Selbst sich selbst überlassenden Zukunftshorizont andererseits, entfaltet sich die je spezifische Struktur des Falls, indem sie aus der Offenheit und Krisenhaftigkeit des Horizonts ganz eigene Handlungsalternativen für sich selbst reflexiv erschließt und sich somit begründet für dieses oder jenes Lebensführungskonzept entscheidet. Wenn man so will, kommt dieser krisenhafte Zukunftshorizont dem eigenen Tun und Handeln entgegen, indem der Fall – um diese Offenheit und Krisenhaftigkeit der Zukunft zu schließen – hypothetische Welten konstruiert, die überhaupt erst die Richtigkeit des eigenen Entwurfs verbürgen können. Andererseits kann nun aber diese Offenheit und Krisenhaftigkeit des Horizonts vom Fall gerade entthematisiert, gegebenenfalls sogar aus dem Gesichtsfeld tendenziell verschwinden, und dies gerade deshalb, weil die Krisenhaftigkeit des Zukunftshorizontes in der Generierung des Neuen zunehmend mehr von seiner Wirkmächtigkeit einbüßt. Dieser offene und Zukunftshorizont käme nun aus dieser Perspektive heraus nicht mehr dem eigenen Tun und Handeln im Gewande hypothetischer Welten entgegen, sondern bezeichnet ein Verständnis des Inderweltseins, das die Interpretation des Zukunftshorizontes als handlungsmotivierende und sinnerzeugende Disposition tendenziell aufgibt. Nun entspricht es doch aber dem Wesen vernünftigen und rationalen Handelns, sich begründet für diese oder gegen jene Handlungsalternativen zu entscheiden und somit neue rationale Potenzialitäten hervorzubringen. Ist also ein Handeln denkbar, das die Prinzipien der Vernunft und Rationalität anders handhabt, als die Richtigkeit der getroffenen Entscheidungen für etwas oder gegen etwas? Aus welchen Stellungen und Dispositionen heraus kann es sinnvoll erscheinen, aus den tradierten Prinzipien der Vernunft und Rationalität herauszubrechen, um über101
haupt noch das eigene Selbst (re-) präsentieren zu können? Ich möchte in der Folge auf methodologische Feinschärfen der Objektiven Hermeneutik vorübergehend verzichten und die Frage danach stellen, auf was sich das Wollen bzw. das Nicht-Wollen des Falls als ein Ausdruck lebenspraktischer Autonomie bezieht. Hier macht es Sinn, danach zu fragen, was der Fall nicht will. Das Nicht-Wollen des Falls richtet sich auf die Anpassung an die Reproduktionsverpflichtung von „Wertvorstellungen und Moralansichten“ (siehe Text A), wobei es nicht gelingt, aus dieser Verweigerung als spezifische Form des Nicht-Wollens das eigene rationale begründbare Wollen abzuleiten. Was will der Fall? Man könnte sagen, er will nichts, er will die Dinge auf sich beruhen lassen, er will den verschwommenen Horizont der Zukunft auf sich zu kommen lassen, ohne zu wollen. Die „vielleicht bessere Zukunft“ verliert zumindest in der Tendenz ihre Funktion als Horizont, aus dem heraus das Wollen entstehen kann. Sich auszustatten und sich vorzubereiten auf die Unsicherheiten eines auch in seiner Krisenhaftigkeit verlässlichen Horizonts, kann ein Wollen generieren, das diesem Horizont entgegengeht. Davon ist hier aber nicht die Rede. Eher von einer Rückbesinnung auf das Gegenwärtige im Hier und Jetzt; ein Abwarten einer „vielleicht besseren Zukunft“, die sich vielleicht so, vielleicht aber auch so, besser oder schlechter, ganz bestimmt unbestimmt einstellen wird. Was sie genau bringen wird, bleibt abzuwarten. Was an Stellung gewinnt, ist der Rückbezug auf das „Dasein“ als „Daseins zur Entbergung des Seins als Gelassenheit, mithin die Fähigkeit, die Dinge sein zu lassen“ (Gumbrecht 2004, S. 92; vgl. Heidegger 2004). Gumbrecht bezieht sich hier auf Heidegger, der Gelassenheit als das Wollen des Nicht-Wollens bzw. umgekehrt, das Nicht-Wollen des Wollens bezeichnet: „Nicht-Wollen bedeutet einmal noch ein Wollen, so zwar, dass darin ein Nein waltet, und sei es sogar im Sinne eines Nein, das sich auf das Wollen selbst richtet und ihm absagt. Nicht-Wollen heißt demnach, willentlich dem Wollen absagen. Der Ausdruck des Nicht-Wollen bedeutet sodann noch jenes, was schlechthin außerhalb jeder Art von Willen bleibt“ (Heidegger 2004, S. 30). Das Wollen des Nicht-Wollens wäre so in dem vorliegenden Fall als das Nicht-Wollen der Reproduktion „bewährter Wertvorstellungen und Moralansichten“ zu kennzeichnen. Aus diesem Nicht-Wollen folgt jedoch auch das Wollen des NichtWollens als „das gesuchte Wesen des Denkens“ (ebd. S. 31), das ein Geschehenlassen der Wahrheit meint. „Ist es nicht an der Zeit umzudenken...“ steuert auf eine Suche nach diesem Wesen des Denkens hin, dass keinen Horizont mehr antizipiert, sondern das Geschehenlassen bzw. das Beruhenlassen der Dinge favorisiert. So sind es im konkreten Fall die „Ideen und Wertvorstellungen“, die in eine „vielleicht bessere Zukunft“ „einfließen“ sollen. Das gewollt Nicht-Gewollte, also die „Ideen 102
und Wertvorstellungen“ fließen in das hinein, was an Kontur verliert – die Zukunft; es passiert, geschieht und ist gewollt nicht plan- und gestaltbar, sondern es fließt in das Unbestimmbare hinein. Somit besinnt sich der Fall auf das eigene „Dasein“ und er bleibt damit beim Naheliegenden, „was uns, jeden Einzelnen hier und jetzt, angeht; hier: auf diesem Fleck Heimaterde, jetzt: in der gegenwärtigen Weltstunde“ (Heidegger 2004, S. 14). Das Denken überlässt sich in der Weite der Dinge sich selbst, es ruht, kommt zur Ruhe und arbeitet einer „Flucht vor dem Denken“ (ebd. S. 12) entgegen; es ist ein „besinnliches Nachdenken“, das dem „rechnenden Denken“ (ebd. S. 13) entgegensteht. Der Blick in die „vielleicht bessere Zukunft“ erscheint in einer schwindenden „Gestalt des transzendental-horizontalen Vorstellens“ (ebd. S. 36). Dieser Horizont, der hier als die „vielleicht bessere Zukunft“ erscheint, bedeutet Heidegger als die „uns zugekehrte Seite eines uns umgebenden Offenen, das erfüllt ist mit der Aussicht ins Aussehen dessen, was unserem Vorstellen als Gegenstand erscheint“ (ebd. S. 37). In einer solchen Perspektive geht es darum, die Vorstellung von den Gegenständen und das ganze Tun und Handeln nicht in die Offenheit der Zukunft zu legen, sondern die Dinge quasi passieren zu lassen. Im transzendentalhorizontalen Vorstellen hingegen kommen uns die Gegenstände und der Sinn unseres Tun und Handelns aus Offenheit der Zukunft entgegen (vgl. Heidegger 2004, S. 37) und wir „bestimmen somit das, was Horizont und Transzendenz heißt, durch das Übertreffen und Überholen...die sich auf die Gegenstände und auf das Vorstellen der Gegenstände zurückbeziehen“ (ebd. S. 36f.). Blicken wir noch einmal auf den Fall: „die ihre Ideen und Wertvorstellungen in eine vielleicht bessere Zukunft einfließen lassen“ (siehe Text A): gewissermaßen werden hier die Vorstellungen darüber, was der eigene Beitrag in der Gestaltung von Welt sein soll, in die Offenheit des Horizonts gelegt (Geschehenlassen der Zukunft). Dem steht das „Dasein“ zur Seite, das sich einer anderen Offenheit hingibt; einer Offenheit, die das Offene nicht aus der Sicht auf den Horizont bezieht, sondern aus der Umgebung im Hier und Jetzt, die den Menschen ihre Bodenständigkeit und somit das Geschehenlassen der Dinge und eine Gelassenheit als ein Modus der Selbst- und Weltaneignung zurückgibt. Diese Offenheit kennzeichnet Heidegger als die Gegend, „durch deren Zauber alles, was ihr gehört, zu dem zurückkehrt, worin es ruht“ (ebd. S. 38). Es geht also darum, das Leben nicht in fertigen Lebensplänen und Lebenskonzepten aufgehen zu lassen, sondern das eigene „Dasein“ als das Hier und Jetzt in der „gegenwärtigen Weltstunde“ (ebd. S. 14) „etwas fröhlicher zu gestalten“. Die (offene) Zukunft verliert zumindest tendenziell ihren Stellenwert als Bewährungsrahmen 103
dessen, was in der Sicht auf den Horizont als das Richtige entworfen und antizipiert wird. Den Bewährungs- und Geltungsgrund für das eigene Leben bildet nun nicht mehr die geöffnete Zukunft, die erstens mittels hypothetischer Welten geschlossen werden muss um somit zweitens den Entwurf des richtigen Lebens zu ermöglichen, sondern der Bewährungs- und Geltungsgrund selbst wird verändert: er wird nunmehr nicht in die Weite des geöffneten Zukunftshorizontes gelegt, sondern das „Dasein“ bildet diesen neuen Bewährungs- und Geltungsgrund, der sich der Weite der gegenwärtigen Weltstunde hinwendet. In den Vordergrund rückt das „Dasein“ als ein Beruhen in der Weite der Dinge im Hier und Jetzt; nicht Zukunft wird gestaltet, sondern das eigene „Dasein“. Dieses „Dasein“ ist vergänglich („nicht allzu langes Dasein“) und damit auch das Ruhen in der eigenen menschlichen Existenz, die unaufhaltsam auf das Ungewisse hinausläuft. Ungewissheit wird hier nicht zum Gestaltungsrahmen des eigenen Lebens, das neue rationale Potenzialitäten hervorbringen soll, sondern das „Verweilen im Beruhen in sich selbst“ (ebd. S. 40). Diese Gegend, die Heidegger in der Folge als die Gegend bezeichnet, schneidet gewissermaßen die Offenheit in ihrem Bezug zum Horizont ab; die Weite wird nicht zu einer Aussicht, sondern diese Weite ist die „verweilende Weite, die, alles versammelnd, sich öffnet, so dass in ihr das Offene gehalten und angehalten ist, jegliches aufgehen zu lassen in seinem Beruhen“ (Heidegger 2004, S. 40). Das Selbst ist nicht etwas, was es in der Weite der Zukunft und den aus dieser Offenheit zurückbezogenen Vorstellungen dessen, was es sein sollte, ist oder wird, sondern es ist etwas, was in der Weile der Weite in sich beruht; ein „sich selbstentbergendes Sein“ (Gumbrecht 2001, S. 67). Die Gegend, die alles Offene ist, ist die eine Gegend (Gegnet), sie ist die „freie Weite“ (ebd. S. 39), in der die Dinge ruhen. Das Ruhen der Dinge bedeutet die „Rückkehr zur Weile der Weite ihres Sichgehörens“ (ebd. S. 41). Diese Fähigkeit zur Gelassenheit fordert nun zu einem Denken auf, das „kein Vorstellen mehr ist“ (ebd. S. 41), denn jegliches Vorgestellte ist als das Gegenständliche zu bedeuten, das uns im Horizont entgegensteht. Vielmehr geht es darum, sich selbst in das Wesen des Denkens einzulassen, indem man auf ein neues Wesen des Denkens wartet. Nur so gewinnt das Subjekt seine Gelassenheit und seine Bodenständigkeit (im Denken) zurück, und diese Gelassenheit „ist in der Tat das Sichloslassen aus dem transzendentalen Vorstellen und so ein Absehen vom Wollen des Horizonts“ (ebd. S. 57). Dieses Sichloslassen bezeichnet nun die Fähigkeit des Menschen, sich selbst in die Gegnet einzulassen und nicht transzendental vorstellend mit Blick auf den Horizont aus dem Hier und Jetzt hinauszusteigen (vgl. ebd. S. 49). Diese Fähigkeit 104
wird als das Warten bedeutet, welches ein „loslassen aus dem transzendentalen Bezug zum Horizont“ ist (ebd. S. 49). Dies ist nun nicht als etwas Starres oder Passives zu verstehen, sondern sich selbst in die Gegnet (im Warten) einzuschreiben heißt, aus der Gegnet die „Bewegung zur Gegnet empfangen (zu) haben“ (ebd. S. 49). Gelassenheit wiederum wird nur zum Denken (Wesen des Denkens als Weilen in der Weite), wenn sich diese Gelassenheit in die Genet durch Vergegnis einschreibt; die Beziehung zwischen Gegnet und Gelassenheit „kann weder als ontische noch als ontologische gedacht werden...sondern nur als Vergegnis“ (ebd. S. 53). Dies betrifft in der Folge auch unsere Vorstellung über die Dinge in dieser Welt, die eigentlich keine Vorstellung ist, sondern dieses Verhältnis zu den Dingen in der Welt ist „kein Machen und Bewirken; auch kein Ermöglichen im Sinne des Transzendentalen“ (ebd. S. 54), sondern ist Bedingnis und „Was dieses Bedingen ist, müssen wir also erst denken lernen...indem wir das Wesen des Denkens erfahren lernen...mithin auf Bedingnis und Vergegnis warten“ (ebd. S. 54). Kurzum: „Die Gelassenheit zur Gegnet ahnen wir als das gesuchte Wesen des Denkens“ (ebd. S. 57). Und hier kommen wir wieder zum Fall (Rekonstruktion A) zurück: „Ist es nicht an der Zeit umzudenken“, und ist es nicht also die Suche nach nicht unbedingt dem richtigen, zumindest aber nach einem anderen Modus der Welt- und Selbsterfahrung, nach einem anderen Wesen des Denkens, der/das es uns ermöglicht, das Leben so zu leben wie es ist, und eben nicht wie es als gestaltbares, machbares und planbares Projekt sein soll? Diese Frage stellt sich der Fall ganz offensichtlich. Wie kann es gelingen, sich selbst im auf Frist gesetzten Dasein der Zukunft zu entziehen, sich selbst einer besseren oder schlechteren Aussicht zu berauben? Die Zukunft und den Horizont sein lassen wie er ist bzw. werden wird; Zukunft wird vielleicht besser, vielleicht aber auch nicht. Das, was der Fall tut, und das, was er als das Richtige annimmt, nämlich die eigenen „Ideen und Wertvorstellungen“, sollen in diese Offenheit der Zukunft, die sich auch im Hier und Jetzt offenbart, (nur) „einfließen“. Sie erheben nicht den Anspruch, neue Technologien in der Gestaltung von Welt zu sein. Gestaltbarkeit, Machbarkeit und Planbarkeit beziehen sich auf das Hier und Jetzt und damit auf das „Dasein“, das „etwas fröhlicher“ gestaltet werden soll. Zukunft soll nicht gestaltet werden, sie soll passieren wie sie passiert, ob mit den eigenen „Ideen und Wertvorstellungen“ oder ohne sie. Ob sich Zukunft folglich besser oder schlechter einstellen wird, ist streng genommen für den Fall und die Wahrung seiner lebenspraktischen Autonomie einerlei; die Bewährung der Richtigkeit seiner Entscheidung ist somit weniger in den Bewährungsrahmen einer offenen Zukunft gestellt, sondern in die Weite des eigenen Daseins im Hier und Jetzt. Eine solche ins Feld geführte Semantik des Wissens 105
bzw. dieses Wesen des Denkens als ein besinnliches Nachdenken, taugt nun freilich nichts in der Produktion eines neuen, größeren und besseren Sinns, mehr noch: „es taugt nichts für die Bewältigung der laufenden Geschäfte. Es bringt nichts ein für die Durchführung der Praxis“ (Heidegger 2004, S. 13), es steht dem rechnenden Denken gegenüber, das mit „immer aussichtsreicheren und zugleich billigeren Möglichkeiten“ (ebd. S. 13) kalkuliert. Ist besinnliches Denken damit sinnlos? Keineswegs, denn das Subjekt gewinnt in dieser Perspektive seine Bodenständigkeit zurück und es kann aus der „wurzelkräftige(n) Heimat“ (ebd. S. 15) seines Selbst heraus gedeihen, und wo „ein wahrhaft freudiges und heilsames Menschenwerk gedeihen soll, muss der Mensch aus der Tiefe seines heimatlichen Bodens in den Äther hinaufsteigen können“ (ebd. S. 14). Dieser neu eingezogene Grund, der als das „Dasein“ dem „Leben“ der anderen (der gescheiterten Vorbildgeneration) gegenüber steht, entzieht sich dem rechnenden Denken und kann daher nicht mit denselben Geltungs- und Bewährungsansprüchen auffahren. Das ist die Crux, aus der sich die eigentliche Zerrissenheit des Falls speist. Auf dem Plateau dieses Grundes kann es keinen verbürgten Sinn geben, da dieser Sinn im Selbsterhalt liegt und nicht in der Gestaltung und Planbarkeit von Welt. Und dort, wo dieser ‚übergeordnete’ Sinn nicht (mehr) ausgemacht werden kann, erscheinen sinnlogisch die Praktiken, die auf diesen Grund aufbauen, nämlich die Gestaltungsabsichten, die sich darauf beziehen, dieses „Dasein etwas fröhlicher zu gestalten“, sinnlogisch als die „abweichenden Dinge“, die auf dem Grund des Altbewährten nichts in der Gestaltung von Welt taugen. Hier geraten in gewisser Weise die Horizonte durcheinander, die als Bewährungsrahmen dessen funktionieren, was den jeweiligen Grund bildet: auf der einen Seite das „Leben“ (siehe Text A), das sich in der Logik des Altbewährten bewegt und sich an einem krisenhaften Zukunftshorizont orientiert. Das Selbst, das in dieses „Leben“ hineingestellt ist, muss sich auf diesem Grund des rechnenden Denkens für das richtige Lebensführungskonzept entscheiden. Das nomadische Selbst, das sich auf der anderen Seite am „Dasein“ und also an der Weite in der gegenwärtigen Weltstunde orientiert, folgt diesem rechnenden Denken nicht. Es folgt einem besinnlichen Denken; es wendet sich einer anderen Bewährungslogik hin: der Zufriedenheit des eigenen wahren Selbst im Hier und Jetzt, der Sorge um das gegenwärtige Selbst! Hier wird streng genommen nicht am richtigen Lebenskonzept gearbeitet, sondern hier wird ein eigener Grund geschaffen; ein „Dasein“, das sich von konventionellen Bewährungslogiken freimacht, indem gerade nicht die krisenhafte Zukunft in hypothetischen Welten geschlossen wird, in denen sich die Richtigkeit der getroffenen Entscheidung bewähren soll, sondern hier ist der Bewährungsrah106
men ein ganz anderer und zwar ein solcher, der Bewährungsdynamiken im eigentlichen Sinne gar nicht kennt: Gelassenheit. Vielleicht kann man sogar so weit gehen, dass die Zerrissenheit des Falls durch eine Semantik der Krise als Krise des Krisenbewusstseins seinen Ausdruck findet. Hier wird nicht begründet, sondern gegründet.
6.2
Einige Überlegungen zur widersprüchlichen Einheit von Entscheidungszwang und Begründungspflicht
Wie im Kapitel 4 schon ausgeführt wurde, unterscheidet die Objektive Hermeneutik zwischen ganz grundlegenden universalen Regeln, die einen Spielraum von Handlungsanschlüssen und -entscheidungen eröffnen oder schließen einerseits (Parameter 1), und den „faktisch getroffenen Auswahlen, die als Entscheidungen der je handelnden Praxis angesehen werden können“ (Oevermann 2000, S. 130) andererseits (Parameter 2). Diese Entscheidungen, die ein Handlungssubjekt treffen muss, werden zuerst in krisenhaften Situationen hervorgebracht, in denen routinenartiges Handeln nicht mehr möglich ist. Hierbei verlangt die Objektive Hermeneutik nach einem weiteren Krisenbegriff, der Krisen eben nicht nur als das schicksalhafte Hereinbrechen von Ereignissen meint, sondern all jene Ereignisse und Dispositionen als Krise anerkennt, die routinenartiges Handeln unmöglich macht. Befindet sich ein Handlungssubjekt in einer solchen Krise, ist es gezwungen, sich aus dem verfügbaren Repertoire an Handlungsspielräumen und -alternativen die jeweils richtigen auszuwählen, diese gegenüber anderen Handlungsalternativen vorzuziehen und wieder andere auszuschließen. Diese je spezifischen Entscheidungen werden zu dem Zwecke getroffen, Krisen zu lösen und Handlungsfähigkeit herzustellen. D.h., dem Handlungssubjekt muss es gelingen, die für sich richtige Entscheidung zu treffen und diese Entscheidung rational vor sich selbst und vor anderen als die richtige zu begründen. Die Autonomie von Lebenspraxis konstituiert sich demnach aus dem Zwang, sich aus einem Repertoire von möglichen Handlungsspielräumen und -alternativen für die eine richtige Handlungsalternative entscheiden zu müssen, wo sie sich eigentlich nicht entscheiden kann. Dies erscheint deshalb als ein Widerspruch, „weil der Entscheidungszwang sich genau daraus ergibt, dass eine Begründbarkeit aktuell nicht realisierbar ist, aber dennoch die Verpflichtung dazu nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben ist“ (ebd. S. 131). An diesem Begründungsanspruch kann sich nun die Entscheidung der Lebenspraxis bewähren oder sie kann daran schei107
tern, und an der Bewährung oder am Scheitern dieser Entscheidung „wird offenbar, ob sie eine neue materiale Rationalität begründet hat oder als irrational verworfen werden muss“ (ebd. S. 131). Ich will nun der Frage nachgehen, wie es dem Fall gelingt, die je eigene Entscheidung für oder gegen etwas spezifisch zu begründen oder inwiefern er daran scheitert bzw. scheitern muss. Zunächst einmal liegt die Entscheidung der konkreten Lebenspraxis darin, Lebensführungsprinzipien, die gesellschaftlich erwartet und durch eine systemloyale Vorbildgeneration gewissermaßen vorgelebt werden, nicht als die eigenen annehmen zu wollen. Der Fall hat sich gegen die gesellschaftlichen Reproduktionsverpflichtungen entschieden. Dem folgt der Versuch, diese Verweigerungshaltung zu begründen. Sie drückt sich im Wollen des Nicht-Wollens und der Wahrung von Autonomie aus. Das Scheitern gesellschaftlich tradierter Gültigkeits- und Bewährungsansprüche wird vom Fall gerade dort ausgemacht, wo die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben und die Wahrung von Autonomie hinter die gesellschaftlichen Reproduktionsverpflichtungen gestellt werden. Diese Zufriedenheit mit dem eigenen Leben im Hier und Jetzt erfährt nun seine Beachtung im antizipierten Gegenentwurf, der in der Folge begründet werden muss. Dafür steht der Versuch, das Scheitern der Vorbildgeneration (das Scheitern an der Sorge um das eigene Selbst) und das Gelingen des je eigenen Entwurfs (die Entscheidung für die Sorge um das eigene Selbst) gegeneinander zu stellen und einen Weg aus einer möglichen (Selbst-) Krise zu finden. Hier muss sich der Fall nun die Frage gefallen lassen, ob ihm das gelingt. In der Rekonstruktion ist dies nun gerade in eine brüchige Ablaufgestalt gemündet; das Scheitern der Vorbildgeneration kommt dem Gelingen des Gegenentwurfs gefährlich nahe. Die Entscheidung für das „Dasein“ im Hier und Jetzt und die damit verbundene Notwendigkeit „umzudenken“, spricht nun für diesen Charismatisierungsversuch, der gewissermaßen daran arbeitet, die eigene Entscheidung rational zu begründen und damit einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben zu können. Die Bewährung der konkreten Entscheidung gegen die gesellschaftlichen Reproduktionsverpflichtungen und für die Sorge um das eigene „Dasein“ im Hier und Jetzt wird nun in das Geschehen und Passieren von Zukunft gestellt. D.h. also, dass die rationale Begründbarkeit der richtigen Entscheidung ohne die Konstruktion hypothetischer Welten auskommen muss. Denn Zukunft erscheint hier als etwas, das passiert und geschieht; „vielleicht“ besser, „vielleicht“ aber auch schlechter als man es heute absehen kann. Die Autonomie der Lebenspraxis konstituiert sich demnach aus der Entscheidung für die Zufriedenheit mit dem „Dasein“ im Hier und Jetzt, nicht aber aus einer 108
rational begründbaren Entscheidung, die neue rationale Potenzialitäten in der Konstruktion und Gestaltung einer besseren Welt hervorbringt. Diese „vielleicht bessere Zukunft“ erscheint nun nicht mehr als planbares Projekt, an dem sich die rationale Entscheidung der Lebenspraxis irgendwie bewähren kann; die Begründbarkeit der eigenen Entscheidung bleibt an ein Umdenken gebunden, das wiederum die unspezifischen „abweichenden Dinge“, die sich der Sorge um das eigene Selbst hinwenden, als Begründungsfolie überhaupt erst anerkennt und zulässt. So lange dieses Umdenken nicht gelingt, erscheinen die rationalen Potenzialitäten in der Hervorbringung des Neuen in der Machbarkeit und Gestaltung von Welt weiterhin als die eher sinnimmunen „Ideen und Wertvorstellungen“, die relativ anteilnahmslos und unbegründet in eine „vielleicht bessere Zukunft einfließen“. Die Zukunft wird demnach nicht aktiv gestalterisch bzw. rational hervorgebracht bzw. antizipiert, vielmehr wird sie abgewartet. Die Krise wird in gewisser Weise ausgesessen und verliert damit zumindest in der Tendenz ihre Wirkmächtigkeit in der Hervorbringung des Neuen im Sinne rationaler Potenzialitäten. Was bleibt, ist die Sorge um das eigene Selbst im Hier und Jetzt der menschlichen Existenz, die sich in der Zufriedenheit mit dem eigenen Leben niederschlägt. In gewisser Weise scheint dieser Fall seinen Frieden mit der Offenheit der Zukunft geschlossen zu haben. So verschwindet zumindest tendenziell die Urangst vor einem !geöffneten Horizont (vgl. Böhme/Helsper 2000, S. 240) und verkehrt sich in ein Passierenlassen der Zukunft. So verschwindet hier dieser offene Horizont als Projektionsfläche für die je eigene Konstruktion hypothetischer Welten, die hier zwar als eine „vielleicht bessere“ angenommen, jedoch nicht konkret entworfen wird. Sie artikuliert sich allenfalls als eine stille Hoffnung an das Passieren eines Besseren, nicht aber als die hypothetische Konstruktion einer besseren Welt. Der konkrete Entwurf bezieht sich gerade nicht auf die Konstruktion eines Bewährungsmythos, der als eine Ich-Leistung der lebenspraktischen Bewältigung der konstitutiven widersprüchlichen Einheit von Entscheidungszwang und Begründungspflicht nachgeht, in dem er sich die !dreifaltige Existenzfrage Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich? stellt (vgl. ebd. S. 243). Denn dieser Bewährungsmythos muss „den Entwurf einer möglichen Lösung des Bewährungsproblems enthalten, einen – wie verdeutlicht werden konnte, notwendig immer utopischen – Maßstab des möglichen Gelingens vorgeben und vor allem eine Instanz der Erlösung und des Heils, dessen Gnade man prinzipiell teilhaftig werden kann, verbürgen“ (Oevermann o.J.; 2/III, S. 7; zit. n. Böhme/Helsper 2000, S. 243). Dort, wo aber gerade dieser krisenhafte und offene Zukunftshorizont in der Weise geschlossen wird, als man der Zukunft als Passierendes relativ 109
gelassen und abwartend gegenübersteht, verlieren sich sinnlogisch die utopischen Entwürfe, die einem Bewährungsproblem nachgehen und Erlösung und Heil verbürgen würden. Hier wird schlicht die Perspektive verdreht: nicht der Blick in die offene riskante Zukunft, die in den eigenen Entwürfen und Utopien mythisch überbrückt und in die Instanzen der Erlösung und des Heils gestellt wird , ist akut, sondern der Blick in die Weite des Daseins im Hier und Jetzt. Heil und Erlösung gibt das Selbst für sich selbst in der Zufriedenheit mit dem eigenen Leben, indem es sich selbst einer besseren oder schlechteren Aussicht auf die Zukunft beraubt.
6.3
Jugendkulturelle Handlungstheater im Internet – Das Schreiben als raumaneignende und strukturbildende Praktik
Im Folgenden soll das erzählende Moment beider (edierter) Ausdrucksgestalten einer weiteren erkenntnistheoretischen Weiterführung unterzogen werden. Darüber hinaus werde ich der These nachgehen, dass der Schrift hierbei eine besondere Funktion zukommt, die Ausdruck einer besonders situierten Identitätsarbeit Jugendlicher ist. Hierbei wird die weit verbreitete Diagnose von der Diskursmüdigkeit der Techno-Szene einer kritischen Prüfung unterzogen, indem u.a. danach gefragt wird, wo gesellschaftliche oder kulturelle Übereinkünfte auszumachen wären, die eine solche Teilhabe am Diskurs überhaupt ermöglichen. Dem wird die These gegenübergestellt, das sich die stets beweglichen kleinen Diskurse zwischen Jugendlichen und dem gesellschaftlichen Anderen in Zwischenräumen eingenistet haben, in denen stets neue Fabrikationen in der Anwendungsweise von Schrift und Sprache produktiv hervorgebracht werden. Darüber hinaus wird das im Rahmen einer jugendkulturellen Stil- und Ausdrucksebene bereits bekannt gewordene Strukturprinzip der Bricolage auf die spezifische Handhabung des Sprach- und Schriftsystems bezogen und als eine je spezifische Handlungsweise, als eine operative Logik in der Anwendung und Umdeutung von Strukturen und Regeln vorgefertigter Systeme gekennzeichnet. Eine solche listenreiche Handlungsweise unterscheidet sich in der Folge maßgeblich von einer Logik der Aneignung von Welt, die zuvorderst übergeordnete Ziele zu kapitalisieren versucht. In dieser Blickrichtung wird der Schrift die Funktion zugewiesen, die Aneignung von Räumen zu erlauben in denen Jugendliche gesellschaftliche Strukturen hervorbringen und schließlich sich ihre eigene Welt aneignen können.
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6.3.1
Raumaneignung durch Erzählung und Gründung
Nehmen wir die beiden Internettexte erneut zur Seite und befragen sie nach ihrer strukturellen Beschaffenheit, so kommen sie doch am ehesten im Gewande ‚unfertiger’ Erzählungen daher. Beiden Texten ist eine Prozesshaftigkeit, Beweglichkeit und Offenheit inhärent; sie produzieren nichts Fertiges und Abgeschlossenes, vielmehr bewegen sie sich in einem schriftsprachlich produzierten Raum, in dem ein Wollen und Tun beweglich ist. Beide Texte tun sich schwer damit, auf eine feststehende Ordnung zu verweisen, diese zu reproduzieren oder gegen diese anzugehen, indem etwas feststehendes Eigenes dem Anderen gegenübergestellt wird. In beiden Texten wird eher erzählt statt entworfen. Ein Entwurf hat den Ort einer Ordnung auf den er verweist und zu dem er in einer spezifischen Beziehung steht. In einem solchen Entwurf kommen Koalitionen, Koexistenzen und Allianzen zum Ausdruck, die in einem spezifischen Verhältnis zueinander stehen und die die Dinge dieser Welt festhalten. Entwürfe sehen eine Ordnung, zu der sie sich spezifisch positionieren. Eine Erzählung hingegen bildet einen Raum, in dem sich das Gesagte oder Geschriebene bewegt: Grenzen ziehen und Grenzen überschreiten, umherirren und ordnen, entwerfen und verwerfen. Raum und Ort unterscheiden sich voneinander und so ist der Ort eine „Ordnung (egal, welcher Art), nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden“ (Certeau 1988, S. 218). Ambiguitäten schließen sich hier aus, der Ort steht für Stabilität und für die Gesetze des je Eigenen gegenüber dem je Anderen, alles hat seinen Platz und dieser Platz ist mehr oder weniger deutlich definiert (vgl. ebd., S. 218): meine Meinung und die der Anderen. Ein Raum hingegen entsteht, „wenn man die Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt“, und so ist der Raum „ein Geflecht von beweglichen Elementen“ (ebd., S. 218; vgl. dazu auch: Löw 2001). Certeau bedeutet den Raum in der Folge als einen Ort mit dem man etwas macht (vgl. ebd., S. 218). Dies kann eine Strasse sein, die als Ort zu einem Raum insofern wird, als man sich als Flaneur in dieser Strasse bewegt und dieses oder jenes erleben kann. Diese Strasse wird zum Erlebnis- und Erfahrungsraum. Dies gilt aber auch für die Sprache und die Schrift, die eben nicht nur den Ort ihrer Regeln und Strukturen hat; sie wird zum Raum durch die in ihr stattfindenden Beweglichkeiten, die sie den Akteuren etwa im Rahmen der Lektüre gestattet: umherwildern, abdriften, produzieren (vgl. dazu ausführlicher: Barthes 1996; Ingold 2002; Certeau 2002). Wenn man so will, verweisen Entwürfe (des eigenen Selbst, der Welt, des richtigen Lebens o.ä.) auf die Gesetze eines Ortes und die in ihm 111
befindlichen Objekte, wohingegen Erzählungen Handlungen sind, die „die „Räume“ durch die Aktion von historischen Subjekten abstecken“ (Certeau 1988, S. 219). Eine solche Unterscheidung zwischen Ort und Raum entwirft Certeau im Kontext von Alltagspraktiken, die je spezifische Erfahrungen artikulieren. Diese können also auf die eher starre Logik von Gesetzen verweisen und sich auf das Sehen von Ordnungen beschränken. Einstweilen kann es aber sein, dass sie in den Räumen von Ordnungen unterwegs sind. Dies wäre ein Gehen in den Räumen von Ordnungen. Solche raumbildenden Handlungen, die sich u.a. im Rahmen von Erzählungen (narrative Alltagspraktiken) ausdrücken, produzieren in einem Raum – der jeweils spezifisch abgesteckt wird – ganz eigene Erfahrungen. Sie „führen also eine Arbeit aus, die unaufhörlich Orte in Räume und Räume in Orte verwandelt“ (Certeau 1988, S. 220). Dies bedeutet ein Spiel mit den Regeln und Strukturen vorgefertigter Systeme (z.B. Sprache), die in angeeigneten Räumen die Verhältnismäßigkeiten und Wechselbeziehungen zwischen den Dingen dieser Welt in Bewegung versetzen und aus einer starren Logik herauslöst, die in Alltagswelt vorherrscht. Und hier macht es folgerichtig einen Unterschied, ob man als Akteur in der Artikulation von Interessen oder Erfahrungen „Karten“ oder „Wegstrecken“ folgt (vgl. ebd., S. 220f.). Dies wirft also die Frage auf, „worin der Zusammenhang zwischen dem Tun und dem Sehen in der Alltagssprache“ (ebd., S. 221) besteht. Damit benennt Certeau zwei unterschiedliche Erfahrungspole, die in den alltäglichen Erzählungen zum Ausdruck kommen können und die jeweils in einem spezifischen Verhältnis zueinander stehen. Auf der einen Seite die Wegstrecken, die eine diskursive Reihung von Handlungen und Beweglichkeit bezeichnen. Auf der anderen Seite die Karten, die „eine totalisierende Planierung der Beobachtungen“ (ebd., S. 222) bedeuten. Beides scheint – so nimmt es Certeau in der Folge an – mit einander zu tun zu haben und so scheint die „Kette von raumschaffenden Handlungen (...) mit Bezugpunkten markiert zu sein, die auf das hinweisen, was sie produziert (eine Vorstellung von Orten) oder was sie beinhaltet (eine lokale Ordnung)“ (ebd., S. 222). Die erzählerische Artikulation von Erfahrungen kann somit ein Tun oder ein Sehen sein, sie kann starr oder beweglich sein, sie kann verweisen oder produzieren. An dieser Stelle gehe ich in einen der Fälle zurück: ich befinde mich nun wieder im Text A, in dem es ja gerade um die Artikulation spezifischer jugendkultureller Erfahrungen in der Alltagswelt ging. So waren es die „Vorgänge wie sie sich im Lennox, im Peack und in vielen anderen Clubs abspielen“, die nun schriftsprachlich und erzählerisch im Kontext Internet gewissermaßen hervorgeholt werden. 112
Welche Funktion kommt hier dem Schreiben zu und warum nutzen Akteure im Internet die Möglichkeit, über ihre in der Alltagswelt gesammelten Erfahrungen zu schreiben? Certeau gibt hierzu Antworten: das Schreiben bezeichnet der Autor als „die konkrete Aktivität, die darin besteht, in einem eigenen Raum, auf der Seite, einen Text zu konstruieren, der auf die Außenwelt einwirkt, von der er sich zunächst abgesondert hat“ (ebd., S. 245). Das Schreiben füllt hier eine Leerstelle, die Certeau im Verschwinden eines überkommenen Diskurses sieht, der sich auf das gesprochene Wort bezog. So etwa das Wort Gottes, auf das einstmals die Aufmerksamkeit des Zuhörers gerichtet war. Seine Aussagen galt es zu entziffern, um so die großen Mysterien der Welt zu verstehen (vgl. Certeau 1988, S. 251). Mit der zunehmenden Erodierung primärer wirklichkeitsgarantierender Systeme und Institutionen verschwindet dieser große und ganze Diskurs, der sich vermittels der Sprache und dem gesprochenen Wort als Übereinkunft erhielt. Dieser einstmals übereinkommende Diskurs wird in der Schrift als Praktik weitergeführt und bekommt seine mythische Bedeutung, er wird zu einem fragmentarischen Diskurs, „der sich in den heterogenen Praktiken einer Gesellschaft artikuliert und sie symbolisch artikuliert“ (ebd., S. 245). Dies hat zur Folge, dass die Wahrheit nicht mehr von der Aufmerksamkeit des Hörers („Hören-Wollen“) gegenüber einer großen identitätsstiftenden Botschaft („Sagen-Wollen“) übergeordneter Systeme oder Institutionen abhängt, sondern, dass die „durch ein Wort begründeten Orte verschwinden und die Identitäten, die man für ein Gefäß des Wortes hielt, lösen sich auf. Trauerarbeit. Von nun an hängt diese Identität von einer Produktion ab, von einem unendlichen Vorgehen (oder von einer Loslösung und einer Abtrennung), welche durch diesen Verlust notwendig werden. Das Sein bemisst sich an dem Tun, dem Machen“ (Certeau 1988, S. 250). Mit diesem Zerfall von Ortsbeständigkeiten, Sicherheiten und Orientierungen, und der gleichzeitigen Fragmentierung von Gesellschaft, werden die kleinen Diskurse immer wichtiger. Sie ermöglichen es dem Selbst, seinen Platz in der Gesellschaft abzustecken und einen eigenen Kreis zu ziehen. Innerhalb dieses gezogenen Kreises wird potenziell Mögliches umspannt. So sind diese kleinen Diskurse „ein Beweis für das Fehlen eines Platzes, der dem Individuum in der Vergangenheit durch die Gliederung eines Kosmos zugewiesen war, und für die Notwendigkeit, sich durch eine eigene Umgangsweise mit einem Teil der Sprache einen Platz zuzuweisen. Anders gesagt, weil das Individuum seinen Platz verliert, wird es als Subjekt geboren. Der Ort, den ihm früher eine kosmologische Sprache zuwies, die als eine „Berufung“ verstanden wurde und als eine Einordnung in die Welt, wird 113
zunichte, zu einer Art Leere, die das Subjekt dazu zwingt, einen Raum zu beherrschen und sich selbst zum Erzeuger der Schrift zu machen“ (ebd., S. 252). Dieser kleine Diskurs – so hat es die Rekonstruktion des Textes A gezeigt – wird durch den Autor des Textes nicht nur angestoßen, es wird auch die Notwendigkeit dieses Diskurses deutlich gemacht, der in der Desintegration des Individuums begründet liegt. Hierzu ist die Abgrenzung von der Außenwelt vonnöten, es wird ein eigener Raum abgesteckt: „Eine autonome Oberfläche wird unter das Auge des Subjektes geschoben, das sich somit ein Feld für sein eigenes Tun verschafft“ (Certeau 1988, S. 246). Damit ist ein erstes Element des Schreibens markiert, das Certeau auf der Grundebene des Schreibens ausmacht. Als ein zweites Element kennzeichnet der Autor das Bauen eines Textes oder anders gesagt: „eine umherschweifende fortschreitende und geregelte Praktik – ein Vorgehen – erschafft auf der leeren Seite das Artefakt einer anderen „Welt“. Einer Welt, die nicht mehr gegeben, sondern künstlich hergestellt ist. Auf dem Nicht-Ort Papier ist das Modell einer produzierenden Vernunft geschrieben“ (ebd., S. 246). Eine Vernunft also, die nicht vorrangig neue rationale Potenzialitäten hervorbringt, sondern eine produzierende Vernunft, die daran arbeitet, eine eigene Sprache zu produzieren, eine Sprache, die nicht den Ort der eigenen Gesetze und Ziele gegenüber dem Anderen vorweisen kann (Karte), sondern eine Schrift-Sprache die als strukturbildende Praktik funktioniert (Route oder Wegstrecke), die es überhaupt erst ermöglicht, dem Subjekt einen Grund bzw. einen Platz in der Welt zuzuweisen: Gründung statt Begründung. Diese Produktion gestattet sich einiges: das Umherschweifen in der Logik vorgefertigter Systeme, das (Um-) Bauen von Regeln und Strukturen, das Ausnützen und Umfrisieren des Vorgefundenen, das zuvorderst einer Stärkung des Subjektes in seinem Grunde zuträglich ist und weniger den Prinzipien der Machbarkeit und Planbarkeit von Welt nachhängt. Als ein drittes Element kennzeichnet der Autor den Veränderungswillen solcher Schrift-Praktiken. Sie sind – so Certeau weiter – mehr als nur ein Spiel, ihnen ist das Moment der Konstruktion eingeschrieben und so hat das „Spiel der Schrift, diese Produktion eines Systems und dieser Raum zur Festlegung von Normen, den „Sinn“, auf die Realität einzuwirken, von der es abgetrennt worden ist, um sie zu verändern. Es spielt mit seiner Exterritorialität“ (ebd., S. 247). Der konkret produzierte Text oder die „Insel der Seite ist ein Durchgangsort, an dem eine industrielle Umformung vorgenommen wird: was hereinkommt, ist etwas „Übernommenes“, und was herauskommt, ist ein „Produkt“. Die hereinkommenden Dinge sind Indizien für eine „Passivität“ des Subjektes gegenüber einer Tradition; die heraus114
kommenden Dinge sind Kennzeichen für seine Fähigkeit und seine Macht, Gegenstände herstellen zu können“ (Certeau 1988, S. 247). Das Schreiben ist demnach eine ganz spezifische Handlungsweise, die Wirklichkeit hervorbringt, nicht ohne auf die Gesetze eines Ortes zu verweisen. Doch mit diesem Ort wird etwas gemacht und zwar etwas Eigenes, das sich vom Ort der Gesetze vorgefertigter Systeme weg bewegt. So sind es für den vorliegenden Fall (Text A) die Gesetze, die auf den Ort des Altbewährten verweisen. Diese Logiken und Gesetze tradierter, ja überholter Lebensführungsprinzipien verweisen auf Karten von Erfahrungsgenerierungen, die sich nachzeichnen lassen; sie verweisen auf das lineare Scheitern von Vorbildgenerationen, die sich den Orten von Ordnungen verschrieben haben, die stets biographisches Scheitern und das Erleiden des eigenen vergänglichen Lebens hervorruft. Dies ist die Welt, die vorgefunden wird. Eine Welt da draußen, die die Stabilität ihrer Ordnungen an den Erfüllungsbedingungen von Reproduktionsverpflichtungen festmacht und dem ‚wahren Selbst’ die Möglichkeit der freien Entfaltung vorenthält. Die „altbewährten Moralansichten und Wertvorstellungen einer Generation (...) die es seit Jahrzehnten nicht auf die Reihe bekommen hat ihr Leben so zu gestalten, dass sie sich in ihm wohlfühlt“ (siehe Text A), sind das sinnleere Artefakt einer gewesenen Übereinkunft zwischen dem Ersten Sprecher und dem Hörer, die sich nunmehr nicht mehr diskursiv herstellen lässt. Diesem Übernommenen steht nun ein Machen und Tun gegenüber, das sich zuvorderst auf die Sorge um das eigene Selbst bezieht und weniger einem krisenhaften Zukunftshorizont zuarbeitet. Das Produkt, das geschaffen wird, und das aus der Schrift als Handlung hervorgeht, ist die Fabrikation je eigener Relevanzsysteme („ihre Ideen und Wertvorstellungen“), die aus den Logiken und Strukturen vorgefertigter Systeme zwar übernommen wurden, die aber zu je eigenen umfrisiert wurden: die „altbewährten Wertvorstellungen und Moralansichten“, die auf die Reproduktion der Logik dominanter Ordnungsstrukturen abzielen, werden in der Logik dieser vorgefertigten Systeme zu etwas je eigenem umfrisiert; sie werden zu eigenen „Ideen und Wertvorstellungen“, die sich zuvorderst an der Sorge um das eigene Selbst orientieren und die erst dann einer „vielleicht bessere(n) Zukunft“ zuträglich sind. Oder eben auch nicht. So wird das je Eigene genau in der Logik der Sprache des Übernommenen generiert, aber nicht als Anpassung der eigenen Wünsche, Interessen und Bedürfnisse an die dominanten gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen, sondern als Umwandlung des Vorgefundenen. Nur so erlangt das desintegrierte Subjekt seine Souveränität und seinen Platz in dieser Welt zurück; eine Welt, die dem Subjekt eben diesen Platz in der Verpflichtung auf die Reproduktion sinnleerer 115
Lebensführungsprinzipien zugewiesen hat und den Aufenthalt im Dasein in der gegenwärtigen Weltstunde durch die Last der Machbarkeit und Planbarkeit von Welt ersetzt hat.
6.3.2
Das Paradox der Grenze – Differenzmarkierungen und Berührungspunkte zwischen dem Selbst und dem Anderen
Diese produzierende Umwandlung des Vorgefundenen bzw. Übernommenen in der Anwendung der Schrift als strukturbildende Handlungsweise, stellt nun den Autor oder Erzähler strukturell in eine prekäre Stellung. Der Akteur, der sich in einem Text und seinen Bedeutungsvielfalten bewegt, zieht unaufhörlich Grenzen und überschreitet diese, er ist das Sprechen der Grenze, „mehr noch, er setzt nur dadurch eine Grenze, dass er ausspricht, was ihn überschreitet und von der anderen Seite kommt. Er artikuliert. Er ist auch ein Übergang“ (Certeau 1988, S. 233). Indem die Grenze zwischen dem eigenen Selbst und dem Anderen gezogen wird, bestehen selbstverständlich auch Berührungspunkte; dies ist das Paradox der Grenze: „da sie durch Kontakte geschaffen werden, sind die Differenzpunkte zwischen zwei Körpern auch ihre Berührungspunkte“ (ebd., S. 233). Dies ist in der Fallstruktur des Textes A zum Ausdruck gekommen, und so steht das tendenzielle Scheitern des Ziehens einer Grenze zwischen den verweigerten tradierten Lebensführungsprinzipien auf der einen und den je eigenen Lebensführungsprinzipien auf der anderen Seite für eben dieses Paradox: das Ineinanderfallen von Anderem und Eigenem im Zwischenraum produzierender Identitätsprozesse, die sich wiederum in einer „Logik der Zweideutigkeit“ (ebd., S. 235) bewegen. Der in der Anwendung der Schrift hervorgebrachte Zwischenraum funktioniert als eine Art Übergang oder Brücke von den tradierten und zur Reproduktionsverpflichtung auffordernden Lebensführungsprinzipien, die sich in der starren Logik von Gültigkeits- und Bewährungsansprüchen des Altbewährten verorten einerseits, und den je eigenen aus dieser Logik der Sprache vorgefertigter Systeme abgeleiteten, sich in dieser Logik bewegenden je eigenen Lebensführungsprinzipien andererseits, die noch nicht zu einer eigenen Sprache gefunden haben. Diese Interaktionsgeschichten verwandeln so gewissermaßen „die Grenze in einen Durchgang und den Fluss in eine Brücke“ (ebd., S. 235). Eben diese Zweideutigkeit ist bezeichnend für die Struktur des Falls, sie verhindert nachgerade den konkreten Entwurf des eigenen Selbst gegenüber dem Anderen in der Logik des Schlagens „von Pfählen, Pflöcken oder Säulen“ (ebd., S. 237); das Scheitern der Vorbildgeneration fällt in der Ten116
denz in das vermeintliche Gelingen der desintegrierten Menschen. Eine Brücke wird geschlagen und als „Überschreitung der Grenze und Ungehorsam gegenüber dem Gesetz des Ortes steht sie für den Aufbruch, die Auflösung eines Zustandes, den Eroberungswillen einer Macht oder die Flucht ins Exil – und auf jeden Fall für den „Verrat“ an einer Ordnung. Aber gleichzeitig bildet sie ein Woanders, welches in die Irre leitet. Jenseits der Grenzen lässt sie eine Fremdheit entstehen, die im Innern unter Kontrolle war“ (Certeau 1988, S. 235). Dort, wo die Karte Grenzen absteckt, und Routen, Wegstrecken und Verläufe, die überhaupt erst zu ihrer Entstehungsgeschichte beigetragen haben, abschneidet, wo die Dinge in dieser Welt in eine geographische Ordnung überführt werden, je enger diese Grenzen sich durch fest gefügte Identitätsorte und -zentren ziehen, desto stärker wird das Begehren; Routen und Wegstrecken werden eingeschlagen, die sich von den bekannten Codes wegbewegen ohne jeweils neue zu produzieren. Ihre Logik ist die Bewegung in vorfabrizierten Orten und die Umwandlung ihrer Regeln und Gesetze hin zu den eigenen Interessen und Bedürfnissen; ihr Vorgehen ist das Überschreiten der Grenzen und der Aufenthalt in den Zwischenräumen, die die Weite der Dinge im Raum abtasten. Dies ist im Sinne Certeaus ein verbrecherischer Akt, denn wenn „der Verbrecher nur überleben kann, indem er sich von Ort zu Ort begibt, wenn es seine Eigenart ist, nicht am Rande, sondern in den Zwischenräumen der Codes zu leben, die er außer Kraft setzt und verändert, und wenn er durch den Vorrang des Weges gegenüber dem Zustand charakteristisch wird, dann ist die Erzählung verbrecherisch“ (ebd., S. 237). Ihren Grund finden solche räuberischen Handlungen gerade in der Enge vorgefertigter Systeme, die Handlungssubjekten nur wenige Möglichkeiten geben, ihr wahres Selbst zu erleben und zu erfahren. Eine Gesellschaft, die ihren Mitgliedern „keine symbolischen Auswege und Raumerfahrungen mehr bietet, also dort, wo es nur noch die Alternative von disziplinierter Anpassung oder illegaler Abweichung gibt, das heißt die eine oder andere Form von Gefängnis oder des draußen des Umherirrens“ (ebd., S. 238). So sind bzw. bleiben es wohl auch „die abweichenden Dinge“, die „bei Bedarf“ (Siehe Text A), also dann, wenn sie in ihrer wie auch immer gearteten Wirkmächtigkeit auffällig werden, als soziale Delinquenz stigmatisiert und in der Folge sanktioniert werden. In der strukturbildenden Praktik der Schrift hingegen ist den Subjekten ein Möglichkeitsraum eröffnet, der Bewegungen in den Orten von Ordnungen erlaubt. Dies ist der topologische Raum, der in der Alltagswelt kaum noch vorgefunden oder angeeignet werden kann. In der Anwendung der Schrift, resp. in den Erzählungen von Alltagspraktikern, werden diese Räume neu abgesteckt, erobert 117
und angeeignet, sie erlauben eine Entfremdung von dieser Alltagswelt, die ihre Ordnungen geographisch organisiert und Grenzen absteckt und Wegstrecken abschneidet. Solche neu angeeigneten Räume sind mit den „Verzerrungen von Figuren verbunden“ (ebd., S. 236) und definieren keine Orte und eben auch nicht den Ort einer bessern oder schlechteren Zukunft und – sinnlogisch damit verbunden – keine besseren übergeordneten Ziele oder Utopien in der Planung und Gestaltung von Welt. Hier – und insbesondere im Text A – wird im Erzählen einer Welt eine Art und Weise der Aneignung von Welt sichtbar, die dem Machen von Ordnungen – entgegen der Logik des Sehens von Ordnungen – handlungsleitenden Sinn und Bedeutung zuschreibt. Die Orte von Ordnungen, die Karten von Erfahrungsgeschichten, die sich im übereinkommenden Diskurs einstmals übermitteln ließen, werden zu sinnleeren aber nicht bedeutungslosen Identitätsgefäßen; sie werden nicht (mehr) mit den Worten der eigenen Identität bzw. des eigenen Selbst gefüllt. Ihre Bedeutung erhalten sie dennoch als Referenzpunkte und Bezugssysteme, als fest stehende Codes, als „Territorien“ (Deleuze/Guattari 2005) oder „Regionen“ (Certeau 1988), die in der Praxis der Schrift umgewandelt werden. Damit sind Suchbewegungen gemeint; sie bewegen sich ohne ein festgefügtes Ziel, sie vergehen sich an eben diesen festgefügten Ordnungen und Zielen. Sie führen einen Gang aus, sie marschieren durch die Strukturen und Regeln vorgefertigter Systeme, die ihre Bedeutung als Referenzpunkte und Bezugssysteme erhalten, da diese Suchbewegungen ohne die Existenz einer eigenen Sprache auskommen müssen. Entwürfe des eigenen Selbst oder der Welt wären etwas anderes, sie orientierten sich an gesehenen Orten von Ordnungen, sie bedienten sich der vorfabrizierten Karten, die diese Suchebewegungen und damit auch die Generierung eines je Eigenen eher verhindern. Es ist der Weg in eine „vielleicht bessere Zukunft“, die in gewisser Weise abgewartet werden muss, um das Gehen als Weile in der Weite dieser Welt zu ermöglichen: ein ständiges Umherschauen, in Gang führen, verwerten und machen. Die Zerrissenheit des Falls stellt sich dergestalt nur dar, wenn wir nach der Kohärenz des Selbst und nach der Kohärenz des Entwurfs des Selbst im Verhältnis zur Welt sowie nach der Kohärenz der entworfenen Ordnungen suchen. Solche Kohärenz-Konstruktionen finden sich in beweglichen Handlungen nicht, die hier das Schreiben sind. Solche Erzählungen sind Handlungstheater, die Identität nicht (gegen-) entwurfartig präsentieren; Identität geht vielmehr unaufhörlich aus diesen Handlungstheatern hervor, die Grenzen abstecken und überschreiten. Ständig fließt und sickert etwas aus ihnen hervor, ein Produkt, das eine Macht sein kann und das in der Anwendungsweise der Sprache und Schrift seinen Ursprung 118
findet: „Die Beherrschung der Sprache garantiert und isoliert eine neue, bürgerliche Macht, die Macht, Geschichte zu machen, indem man Sprache produziert“ (Certeau 1988, S. 252). Erzählungen funktionieren in dieser Weise als Handlungstheater und bereiten spezifische Handlungsweisen vor, sie schaffen die Grundlage, das fás für alle Verhaltensformen, „die von iús (dem Recht der Menschen) vorgeschrieben und autorisiert werden“ (ebd., S. 228f.). Ohne diese Grundlagen, die autorisiert und gegründet werden müssen, sind „alle Verhaltensformen ungewiss, gefährlich und somit fatal“ (Certeau 1988, S. 229). Erzählungen schaffen diese Gründung und Autorisierung, sie schaffen einen legitimen Raum aus dem heraus folgende Handlungen gewissermaßen vorbereitet, legitimiert und autorisiert werden. Für den vorliegenden Fall und in der Rekonstruktion A ist das fás (der Grund) das „Dasein“ als Weile in der Weite der gegenwärtigen Weltstunde und eine topologische Bewegung im Raum-Zeit-Gefüge, die keine eigenen Gewinne anhäuft oder kapitalisiert. Das iús, die konkreten Verhaltensformen, die durch das Recht der Menschen bestimmt ist (vgl. ebd., S. 228f.), baut auf die mystische Grundlage des fás auf und diese Grundlage kann nicht wie das iús „Gegenstand einer Analyse oder Kasuistik sein: es lässt sich ebenso wenig in Einzelheiten zerlegen wie sein Nomen dekliniert werden kann“ (Dumézil 1969; zit.n. Certeau 1988, S. 229). So erfüllt das in der Rekonstruktion A ins Feld geführte „Dasein“ als fás die Funktion einer Gründung folgender Handlungen, die sich in einem Machen und Tun als Nicht-Wollen übergeordneter Ziele, Ordnungen und Gesetze ausdrückt. Die eigenen „Ideen und Wertvorstellungen“ sind das Produkt einer räuberischen Eroberung der tradierten aber sinnleeren „Wertvorstellungen und Moralansichten“ einer vermeintlich gescheiterten Vorbildgeneration. Der Ort der Ordnungen des Altbewährten wird in einem verbrecherischen Akt innerhalb eines abgegrenzten Raumes zu etwas gemacht, das den Regeln und Gesetzen dieses Anderen, der Welt da draußen, nicht mehr entspricht; eine neue Oberfläche wird eingezogen, ein Feld wird geschaffen (vgl. Certeau 1988, S. 229). Diese gescheiterte Vorbildgeneration ist der Gegenstand einer vorgefundenen Welt, deren Sprache man sich bedient, um aus ihr eine Welt zu fabrizieren, in der die Sorge um das eigene Selbst einem Denken folgt, das nicht mehr mit der krisenhaften Offenheit der Zukunft hantiert, sondern Gegenwärtigkeit in der Zufriedenheit mit dem eigenen Leben in der gegenwärtigen Weltstunde herstellen soll. Dies ist an ein Umdenken gebunden („Ist es nicht an der Zeit umzudenken“), das sich auf das iús bezieht und damit auf die Gesetze und Ordnungen, die die Verhaltensweisen bestimmen und auch steuern. Die Grundlegung eines fás, das sich am eigenen Dasein und an der Zufriedenheit mit dem Leben in der gegenwärtigen Weltstunde 119
orientiert, kann diese Gesetze und Ordnungen nicht liefern und bestimmen; Regeln, Ordnungen und Gesetze können auf dieser Grundlegung nur aufbauen, sie kann glückbringend (fasti) oder unglückselig (nefasti) sein (vgl. ebd., S. 229), „je nachdem, ob sie dem menschlichen Handeln diese notwendige Grundlage geben oder nicht“ (ebd., S. 22). Das Erzählen einer möglichen eigenen Welt ist nun mehr als eine Festschreibung, sie wird vielmehr in einem kulturell schöpferischen Akt hervorgebracht; hier werden Diskursarenen nicht mit Deutungsmustern (vgl. Hagedorn 2004) gefüllt, hier werden Grundlagen geschaffen, die den eigenen Handlungen Legitimation zuspielen sollen. Der Sorge um das eigene gegenwärtige Selbst soll kein neuer übergeordneter Sinn zugeschrieben, sondern ein Feld geschaffen werden, das für politische, kulturelle oder kriegerische Aktivitäten notwendig ist: „Wie eine Generalprobe vor der richtigen Aufführung geht der Ritus, die gestuelle Erzählung, der historischen Tat voraus. Der Gang oder der „Marsch“ der fétiáles eröffnet den militärischen, diplomatischen oder geschäftlichen Aktivitäten, die außerhalb der Grenzen gewagt werden, einen Raum und verschafft ihnen eine Grundlage“ (Certeau 1988, S. 230). Von Jugendlichen wird von der gesellschaftlichen Gegenüberwelt gemeinhin erwartet, dass sie die Welt, in der sie leben, irgendwie auch zu ihrer eigenen, nach den Prinzipien der Vernunft funktionierenden Angelegenheit machen. Es ist deutlich geworden, dass dabei Grenzen gezogen und auch überschritten werden, ja sich sogar überlappen können. Dieses jeweils eigene Spiel mit diesen Grenzen, die das Eine vom Anderen unterscheidbar machen, ist für die Identitätsfindungsprozesse Jugendlicher nach wie vor wichtig. Aber – dies sollte deutlich geworden sein – so nehmen die Prozesse der Integration und Distinktion neue Qualitäten an, die sich weniger auf einen übereinkommenden Diskurs und somit auf eine gesellschaftlich legitimierte und verbürgte Einheitskultur beziehen, vielmehr bringen sie die Verhältnisse in ein leises Schwingen. Im Rahmen von leisen strukturbildenden Handlungsweisen, von denen das Schreiben nur eine von verschiedenen anderen Technologien des Selbst in der sokratischen Frage ist (vgl. Foucault 2007), entstehen so in den Zwischenräumen der Dinge und Objekte dieser Welt in sich vibrierende Identitätszonen, die zumindest eine vorübergehende Stabilität des eigenen Selbst erlauben. Solche Handlungsweisen von Alltagspraktikern geben uns kein ‚wahres’ und ‚wirkliches’ Bild von Welt und den Regeln, Ordnungen und Gesetzen, die diese Welt organisieren, strukturieren und stabilisieren. Diese Welt wird in diesen leisen und listenreichen Praktiken stets neu konstruiert, indem die Objekte dieser Welt stets neu verknüpft und umgeformt werden; ein 120
sich bewegender und flüchtiger kulturell schöpferischer Akt, der sich in ganz eigenen Raum–Zeit–Konstellationen abspielt. Im Rahmen der Rekonstruktion A wird nichts vor sich her getragen: keine Meinung, keine Ziele, keine Botschaften. Hier gilt es (noch) nichts zu verteidigen. Hier werden erst die Felder geschaffen, die für folgende Handlungen als mögliche politische Kampfarenen und Kriegsschauplätze funktionieren können. Hier werden keine Gewinne kapitalisiert, und so erübrigt sich die Vorstellung von Protest und Widerstand gegen die gesehenen Orte der Ordnungen. Die Handlungen laufen diesen potenziell möglichen Protesten und Widerständen, zumindest aber den folgenden Handlungen, die Regeln und Gesetze anwenden, voraus. Sie sind zu verstehen als eine „Vorhersage und ein Versprechen auf den Erfolg zu Beginn der Kämpfe, Vertragsabschließungen und Eroberungen“ (Certeau 1988, S. 229). Dies geschieht in legitimierten und angeeigneten Räumen und ist keinesfalls praktizierbarer Gegenstand der Alltagswelt, in der jegliches Sehen von Ordnungen vor dem Tun und Machen als strukturbildende Praktiken dominiert. Auf den Brettern der Hinterbühne Internet werden diese Generalproben aufgeführt und sie vollziehen sich als Erzählungen und Beschreibungen einer Welt, die nichts festschreiben, sondern das Schreiben funktioniert als eine strukturbildende Praktik insofern, als sie neue Felder schafft.
6.4
Inszenierung des gegenwärtigen Selbst im Erscheinenlassen von Sinngestalten
Seel (2001) hat in der Definition dessen, was unter Inszenierung verstanden werden soll, vorgeschlagen, unter Inszenierungen erstens „absichtsvoll eingeleitete oder ausgeführte sinnliche Prozesse“ zu verstehen, die zweitens „vor einem Publikum dargeboten werden“ und zwar drittens „so, dass sich eine auffällige spatiale und temporale Anordnung von Elementen ergibt, die auch ganz anders hätte ausfallen können“ (Seel 2001, S. 49). Inszenierungen in einem ersten Schritt als einen absichtsvoll eingeleiteten oder ausgeführten sinnlichen Prozess zu bezeichnen, impliziert also ganz gewollt das Abzielen auf die intentionale Ebene einer Handlung. So sind Inszenierungen als Handlungen zu bezeichnen, die eine konkrete Intention beinhalten, ohne jedoch diese Intention selbst zu sein. Inszenierungen sind das „Ergebnis eines komplexen intentionalen Prozesses“ (ebd. S. 49) und sie sind darüber hinaus selbst „ein komplexer und keineswegs durchgängig intentionaler (oder auch nur intendierter) 121
Prozess (ebd. S. 49). Am ehesten ließe sich – so Seel – in einem ersten Schritt eine Inszenierung als ein „intentional erzeugtes Geschehen“ (ebd., S. 49) bezeichnen. Inszenierungen sind zweitens an ein „bestimmtes oder unbestimmtes, begrenztes oder unbegrenztes“ (ebd. S. 50) Publikum gerichtet. Dieses Publikum, „für das etwas in Szene gesetzt wird, kann aus einem oder aus unbestimmt vielen Betrachtern oder Zuhörern bestehen, die räumlich anwesend oder auch abwesend sein können“ (ebd. S. 50). Wenn man so will, entfalten Inszenierungen erst in ihrer intentionalen Gerichtetheit als sinnliches Geschehen auf ein Publikum überhaupt ihre Wirkung, erst so kann überhaupt von Inszenierungen die Rede sein: „Auch wer – vor dem Spiegel oder einem anderen leeren Raum – eine Inszenierung probt, tut dies für ein Publikum, allerdings für ein vorerst potentielles“ (Seel 2001, S. 50). Die Sinnlichkeit, die in den Inszenierungen intentional angestoßen und ausgelöst wird, muss in welcher Weise auch immer, bei einem Publikum ‚ankommen’ und ein Geschehen in Gang setzen. In einem dritten Schritt müssen nun diese absichtsvoll eingeleiteten oder ausgeführten Prozesse vor einem Publikum so dargeboten werden, „dass sich eine auffällige spatiale und temporale Anordnung von Elementen ergibt, die auch ganz anders hätte ausfallen können“ (ebd. S. 51). Gemeinhin wird damit in das Moment der Originalität bzw. Unverwechselbarkeit des Ereignisses eingeführt. Die Anordnung dieser auffälligen und einzigartigen Elemente der Inszenierung bedeuten nun eine spezifische Anordnung in einem besonderen räumlichen und zeitlichen Verhältnis (vgl. ebd. S. 51). Für dieses spezifische Raum–Zeit–Verhältnis bleibt stets „die Momentaneität der Ereignisfolge wichtig, ebenso wie der Umstand, dass es sich um eine vorübergehende Darbietung handelt“ (ebd. S. 52), auch wenn für Inszenierungen prinzipiell das Moment der Wiederholbarkeit bzw. die (Un-)Überschaubarkeit einer genau markierten Bühne bezeichnend sein kann. Bedeutsam für diesen dritten Schritt in der Definition des Inszenierungsbegriffs bleibt die Unverwechselbarkeit des Ereignisses und der Anordnung seiner Elemente, oder um es mit den Worten Seels zu wiederholen: „Unverwechselbarkeit aber heißt hier, im ästhetischen Kontext, dass alles auch hätte anders sein können. Jede Inszenierung ist ein grundsätzlich abiträres Arrangement, das gerade dadurch bedeutsam wird, dass es sich aus vielen, oft unübersehbaren Möglichkeiten gerade diese Folge von Konstellationen ergibt. Alles hätte anders präsentiert werden können, alles hätte sich anders präsentieren können, aber es kommt hier und jetzt gerade so daher: Der Sinn von Inszenierungen (...) verdankt sich wesentlich diesem Effekt. Inszenierungen sind Ereignisse eines vorübergehenden, grundsätzlich 122
arbiträren, für die Augen und Ohren eines Publikums dargebotenen Arrangements“ (ebd., S. 52). An dieser Stelle möchte ich kurz noch einmal in die Rekonstruktion des Falls einsteigen, um die Definitionen Seels zu Inszenierungen am Fall deutlich werden zu lassen. Hierzu bemühe ich folgende Sequenz im Text: „Eine Art diesen Weg zu finden, welche so alt wie die Menschheit selbst ist, ist die Zusammenkunft zu rhythmischen Festen“ (siehe Text B): diese eine ganz besondere „Art“ unterscheidet sich gerade durch ihre Unverwechselbarkeit zu allen anderen denkbaren Arten, diesen Weg zu „Einheit und Ekstase“ zu finden. Sie unterscheidet sich schon allein darin zu anderen Arten, da sie „so alt wie die Menschheit selbst ist“ und damit umfassend zur Sozialität des Menschen gehört. Damit wird die „Zusammenkunft zu rhythmischen Festen“ als etwas hoch Bedeutsames und Einzigartiges präsentiert. Innerhalb dieser konkreten inszenierten Handlungstheater werden nun wiederum spezifische ästhetische Elemente so einzigartig auffällig und unverwechselbar zu einer „einzigartigen Konstellation“ zusammengefügt, dass aus diesen sinnlichen Inszenierungen eine ästhetische Sinngestalt hervorgebracht werden kann, das „Metronomicon“. In diesem Falle ist es die „Zusammenkunft“ und das eigens für das Zustandekommen des Ereignisses notwendige Abheben von nichtinszenierten Handlungen oder Ereignissen, die ihrerseits der Alltagswelt zugehören. Gumbrecht bezeichnet diesen notwendigen Schritt der Abstandsnahme von der Alltagswelt als „Insularität“, der ganz grundlegend „zur Situation des ästhetischen Erlebens gehört“ (Gumbrecht 2004, S. 125). Diese „Zusammenkunft“ spricht nun für die Inszenierung einer Handlungsfolge, die sich von bloß kontingenten, bloß konventionellen oder bloß funktionalen Vollzügen unterscheidet. Innerhalb dieser in der Abstandsnahme zur Außenwelt hergestellten Räume ist nun ästhetisches Erleben als „Versunkenheit in fokussierter Intensität“ (ebd., S. 124) überhaupt erst möglich; eine Definition Gumbrechts, die sich stark am Begriff der „Gelassenheit“ von Heidegger orientiert, „d.h. zur Offenheit bei gleichzeitiger Konzentration, ohne das sich diese Konzentration zur mühseligen Anstrengung verhärtet“ (ebd. S. 124). In gewisser Weise funktioniert der konkrete Text B als ein Türöffner in eine andere Welt; eine Welt, die als eine andere, einzigartige und erst in ihrer Unverwechselbarkeit bedeutsame Welt inszeniert werden muss, in der funktionale und rationale Dimensionen ausgeblendet bleiben müssen, um das für das ästhetische Erleben notwendige Maß an Intensität bzw. die Abgehobenheit von der konventionellen Alltagswelt zu gewährleisten. Es wird ein Feld geschaffen, auf dem Gegenwart sinnleiblich wahrnehmbar wird. Dennoch bleiben Inszenierungen vor diesem Hintergrund keine sinnfreien Handlungen; sie erfüllen gerade dort einen Sinn, wo 123
Gegenwart inszeniert wird, und dies gerade deshalb, „weil es uns nach einem Sinn für die Gegenwart verlangt; weil wir die Gegenwarten, in denen wir sind, auch als spürbare Gegenwarten erleben wollen (Seel 2001, S. 53). Im Eingang der Rekonstruktion, in der über Weite Strecken gerade der Frage nach dem Gegenwärtigen nachgegangen wurde, ist ja gerade die Suche nach einem Aneignungs- und Auseinandersetzungsmodus mit dieser Gegenwart deutlich geworden. So konnte aus der Sequenz „Seit Menschengedenken wird der Weg zu Einheit und Ekstase“ rekonstruiert werden, dass sich Menschen von Anbeginn an auf der Suche nach dem richtigen Weg zu einem Selbst befunden haben, das die Dialektik von „Einheit“ und „Ekstase“ im eigenen Selbst aufzuheben vermag. Diese Suche reicht von Anbeginn an in eine Gegenwart, die durch diese Suche bestimmt ist. Nun ist es die „Zusammenkunft zu rhythmischen Festen“ und also die intendierte Abstandsnahme von der Alltagswelt, die etwas beabsichtigt, nämlich das Versinken in eine fokussierte Intensität, die zu einer (vorübergehenden) NeuOrdnung des Selbst führt. Das ästhetische Erleben des eigenen Selbst in seiner Gegenwärtigkeit, das die Spannung von „Einheit“ und „Ekstase“ im eigenen Selbst zumindest vorübergehend aufzulösen vermag, funktioniert dabei als eine mögliche aber gleichsam unverwechselbare „Art diesen Weg zu finden“, der hinführt zum ‚wahren Selbst’. Diese in den rhythmischen Festen inszenierte Gegenwart – so eine These Seels – „ist ein Herstellen und Herausstellen einer Gegenwart von etwas, das hier und jetzt geschieht, und das sich darum, weil es Gegenwart ist, jeder auch nur annähernd vollständigen Erfassung entzieht“ (Seel 2001, S. 53). Ein vollständiges Erfassen dieser Gegenwart käme wiederum einem Heraustreten aus der Gelassenheit und somit dem Verschwinden der Konzentration auf das Geschehen im Hier und Jetzt und dem damit verbundenen Nachlassen der Intensität gleich; es wäre wieder der angestrengte Akt des Verstehens bzw. Sinnerschließens von Welt, das hinter das Erleben von Selbst und Gegenwart fällt. Demzufolge ist die Gegenwart, die inszeniert wird, sinnlogisch nicht „die Welt der raumzeitlich vorhandenen Objekte“ (ebd. S. 54); Gegenwart wird im Erscheinenlassen und also in der Inszenierung gemacht und sie wird nur so spürbar und der Begriff der Gegenwart, die hier an Stellung gewinnt „ist vielmehr der eines Zustands, in dem wir uns die Dinge der Welt und des Lebens auf verschiedene Weise etwas angehen.“ (ebd. S. 54). Mit den Worten Gumbrechts gesprochen, werden uns die Dinge einer solchen Gegenwart präsent, d.h. sie werden im sinnlichen Nachvollzug berührbar; jedes Abdriften in die Vorstellung dessen, was metaphysische Gegenwart ist, käme einem gleichzeitigen Verschwinden der Gegenwart als gegenwärtig erfahrenes Vorhandensein der Dinge gleich. Oder um es wieder mit den Worten Seels zusammenzufassen: „Ob 124
kollektiv oder nicht, ob einseitig oder mehrseitig, Inszenierungen bieten sich – mitsamt dem in und durch sie Inszenierten – auf eine Weise dar, die sich jeder distinkten begrifflichen Bestimmung entzieht. Sie stellen etwas in seiner Fülle von Möglichkeiten des Wahrnehmens und Verstehens heraus. Sie machen das in und mit ihnen geschehende für eine Weile auf eine Weise auffällig, in der es hier und jetzt unübersehbar als gegenwärtig erfahren werden kann“ (Seel 2001, S. 54). Inszenierungen ermöglichen es demnach, dem gegenwärtig Vorhandenen zu begegnen und also im Sinne Heideggers sich selbst im gegenwärtig Vorhandenen (der Gegnet) zu vergegnen, im Sinne Gumbrechts werden uns die Dinge >präsent<, und im Sinne Seels ist Inszenierung „die öffentliche Herstellung eines vorübergehenden räumlichen Arrangements von Ereignissen, die in ihrer besonderen Gegenwärtigkeit auffällig werden“ (Seel 2001, S. 55). Im vorliegenden Fall wird Gegenwart also repräsentiert: einmal im Schreiben als raumaneignende Praktik (Absender) und am gegenüberliegenden Pol im Lesen als „Lektüre“ (vgl. Certeau 1988 und 2002) (Adressat). Dies ermöglicht es den Akteuren, sich selbst in dieser passierenden Gegenwart wahrzunehmen. Diese Begegnung mit dem Gegenwärtigen, dem Hier und Jetzt, der Gegnet, die ohne die Weite des Horizonts auskommt, eine Gegenwart, die Gegenwart ist, „ohne dabei eine Darstellung naher oder ferner Gegenwarten zu sein“ (Certeau 1988,. S. 55); die Begegnung mit der Gegenwart gelingt im Medium ihrer inszenierten Erscheinungen: „Sie lassen etwas in einer phänomenalen Fülle erscheinen, so dass es in dem Raum und für die Dauer der Inszenierung in einer sinnlich prägnanten, aber begrifflich inkommensurablen Besonderheit gegenwärtig wird (Seel 2001, S. 56). Um es auf den Fall zu justieren: das „Metronomicon“ verdient in gewisser Weise genau diese begrifflich inkommensurable Besonderheit. Denn in diesem Namen erhält das zur Erscheinung gebrachte Sein seinen rätselhaften und prekären Ausdruck; es wird geschützt vor seinem sinnerschließenden und verstehenden Zugriff, der die Erscheinung und damit die Begegnung mit der gefühlten Gegenwart die das „Metronomicon“ vorübergehend ist und in der das Selbst des Akteurs sich vergegnet, überhaupt noch ermöglicht. Dieses „Metronomicon“ ist von vornherein gegenstandslose Pracht des Nichts, erst in seiner Erscheinung, und also im Erscheinen der gefühlten Gegenwart, wird es zur sinnbringenden Gestalt, in der sich das Selbst erfahren und wahrnehmen kann. Erst dann geht das Selbst des Akteurs in einem Bild von Gegenwart auf, das nicht mehr mit der Weite des Horizonts hantiert, das nicht mehr Entscheidungen trifft und diese Entscheidungen rational begründen muss, erst in der Erscheinung von Sinngestalten, in der das Selbst sich die „Zeit für den Augenblick“ (ebd. S. 56) nimmt, sich folglich in seiner 125
Gelassenheit und in der fokussierten Intensität auf die im Hier und Jetzt passierenden Gegenwart sinnleiblich einlässt und erst so zu einem Teil dieser Gegenwart wird, erst dann gehört das Selbst sich selbst in der Gegenwart, gehört es zu den natürlichen Dingen der Welt, erst dann wird es zu etwas, „was seiner Natur nach nicht gegenständlich zu werden vermag“ (Iser 1991, S. 504; zit. n. Seel 2001, S. 55), erst dann werden die Akteure zu den „auserwählte(n) Metronomanden“, die „selbst schon als ein Teil einer Geschichte im Metronomicon gebannt“ sind. Ich werde nun, um das Moment gerade dieser Erscheinung (von Gegenwart im Gewande des „Metronomicon“) vor dem Hintergrund des Falls herauszuarbeiten, eine weitere Sequenz des Textes B aufrufen: „Verschollen tritt das Buch nur dann in Erscheinung, wenn alle die Faktoren in Einklang stehen“. Das „Buch der Takte“, das in der Folge als das „Metronomicon“ bezeichnet wird, funktioniert als ein verschollenes Ordnungs- und Strukturierungsprinzip, das in einem spezifischen Raum-Zeit-Verhältnis, also den „rhythmischen Festen“, repräsentiert und somit im „Medium des Erscheinens“ (Seel 2001, S. 56) inszeniert wird. Das „Metronomicon“ funktioniert als Metronomie einer spezifischen Raum-Zeit Bewegung, die einer nicht-linearen Logik entspricht. In dieser Inszenierung einer rhythmischen Ordnungs- und Strukturierungslogik erscheint eine spürbare Gegenwart, in die sich die jeweiligen Akteure selbst einschreiben und ihr Selbst (als „Metronomanden“) wahrnehmen. Erst diese „Metronomanden“ sind es, die zu etwas anderem geworden sind; sie sind nicht mehr das Selbst, das sich in der Zerrissenheit zwischen „Einheit“ auf der einen Seite und „Ekstase“ auf der anderen Seite bewegen; sie sind „Mitglieder einer tanzenden und singenden Gemeinschaft“ (Fischer-Lichte 2004, S. 94) geworden, die nunmehr nicht dem apollinischen Prinzip der Individuation folgen, sondern die sich auf die Seite des dionysischen Prinzips schlagen, um in „Trance und Ekstase“ zu Mitgliedern einer solchen Gemeinschaft in der Gegenwärtigkeit des Hier und Jetzt zu werden (vgl. ebd. S. 94). Auch hier kommt also dem Erzählen eine besondere Funktion zu: durch die rituelle Inszenierung von Handlungsbereichen wird das antike Ritual in den erzählerischen „Ausbrüchen“ wiedererkannt (vgl. Certeau 1988, S. 231). Diese erzählerischen Ausbrüche sind „an den dunklen Schwellen unserer Existenz eingepflanzt“ (ebd., S. 231) und diese dunklen Schwellen werden im vorliegenden Fall in der Passage „Seit Menschengedenken“ in gewisser Weise hervorgeholt. Aber auch hier schafft das Erzählte keinen übergeordneten Sinn, sondern es gibt den folgenden Handlungen eine spezifische Grundlage (fás), auch hier marschiert die Erzählung den konkreten Praktiken („Zusammenkunft zu rhythmischen Festen“) voraus und 126
eröffnet ihnen ein Feld. Die Gründung dieses fás verdient sich dieser erzählerischen Inszenierungsleistung. Dieses Feld geht keine Koalitionen ein, vielmehr schafft es einen Raum, in dem Ordnungs- und Strukturierungslogiken wirksam werden, die sich dem Rhythmischen als raumzeitliches Strukturierungsmoment bedienen. Nur in diesem rhythmischen Strukturierungs- bzw. Strukturmoment (als fás) kann eine Grenze zum Außen des Anderen gezogen werden, nur so lassen sich Erfahrungsdispositionen generieren, die als Wegstrecke („Weg“) und als Bewegung im abgesteckten Raum funktionieren. Um zu verstehen, was dieses rhythmische Strukturierungsmoment konkret bedeutet, werde ich im folgenden Abschnitt die Überlegungen von Helbling (1999) zum Rhythmus darlegen.
6.5
Über den Rhythmus als Ordnungs- und Strukturprinzip
Helbling geht zunächst einmal in seiner Bestimmung des Rhythmus davon aus, dass dieser über ein gewisses Regelmaß verfügen muss. Ob dies nun die Darstellung des Bildhaften (Bilder), des Aktustischen (Musik) oder der Sprache (Silben) betrifft, immer muss das Erscheinende (Punkte, Noten, Zeichen o.ä.) in einem bestimmten Abstand zueinander durch den Rhythmus geordnet bzw. organisiert sein: „Auf einer Fläche können Farbflecke in einer >rhythmisch wirksamen Anordnung< erscheinen und so den Reiz eines Bildes ausmachen“ (Helbling 1999, S. 8). Dies jedoch als eine wohlgeformte oder wohlgeordnete Strukturiertheit zu deuten, würde der Struktur des Rhythmus nicht gerecht, denn dort, wo der Rhythmus auf ein Regelmaß baut, verweist er gleichsam auf eine widersprüchliche Strukturund Ordnungslogik, die das so Geordnete immer vor die Gefahr stellt, seinen Anspruch auf Strukturiertheit und Geordnetheit zu verlieren. Idealtypisch erreicht der Rhythmus „seine höchste Spannkraft vielleicht eben dort, wo er für Regelmaß und Verhältnismäßigkeit gerade nicht einsteht; wo er sie sowohl hervorbringt wie auch gefährdet und spüren lässt, dass es – noch im statischen Kontext der Bilder und Bauten – auf eine Bewegung ankommt, die den gegebenen Rahmen jederzeit sprengen kann“ (ebd. S. 10). Der Rhythmus kann in der Konsequenz auf eine Struktur- und Ordnungslogik verweisen, die wir nicht kennen bzw. von der wir nichts wissen. Dies macht aber gerade den Eigen-Sinn des Rhythmus aus: Überraschung, Spannung, Widerspruch gehören ebenso zum Strukturmoment des Rhythmus, wie es das Regelmaß und die Wiederholung ist, denn „Rhythmus wird glaubwürdig, wo er nicht zufällig wird“ (ebd., S. 13). Mit anderen Worten gesagt, lässt der Rhythmus (oder in der 127
Folge expressiv gewordener Rhythmus als rhythmische Figur) die Dinge, die er organisiert und ordnet, in einem eigentümlich spannungsvollen Wechselspiel durcheinandergeraten und entfaltet erst so in dieser spezifischen Dramaturgie seine Wirkung als Rhythmus. Seine Funktion besteht demnach gerade darin, die zu erzeugende Harmonie bzw. rhythmische Übereinstimmung in diesem Wechselspiel vor dem Auseinanderbrechen des Rhythmus im Chaos zu schützen. Rhythmus erzeugt in diesem Spannungsgelage von Widerspruch und Harmonie eine spezifische Bewegung, die sich im Rhythmus gleichsam selbst organisiert (vgl. ebd. S. 14). Diese Bewegtheit des Rhythmus bzw. dessen, was der Rhythmus abbildet oder erzeugt, läuft potenziell auf ein Chaos hinaus, welches als das Statische bzw. Starre zu bezeichnen wäre und zum Ende des Rhythmus führen würde: „so ergäbe sich eine Zuordnung des Rhythmischen zu offener Dynamik, wogegen Proportion die >Sprache< versammelter Statik wäre“ (Helbling 1999, S. 17). So bezeichnet Helbling das Wechselspiel zwischen den Gegensatzpaaren von Hell und Dunkel, das nicht dem Chaos verfällt, wie folgt: „Nur schon eine Strecke kann bald im Licht, bald im Schatten verlaufen, weiß oder schwarz aussehen; und dieser Verlauf gewinnt rhythmische Qualität durch sein Regelmaß. Erst recht kann aus einer Konstellation von dunklen und hellen Flächen oder Raumteilen eine rhythmische >Bewegung< besser vielleicht: Bewegtheit – entstehen“ (ebd. S.16). So ist es in diesem Falle gerade das eigentümliche und rhythmische Zusammenspiel dieser Gegensatzpaare (auch von „Einheit und „Ekstase“), welches eine rhythmische Bewegung, also den spezifischen Wechsel zwischen Hell und Dunkel erzeugt. Anders verhielte sich dies in der Unterscheidung zwischen Tag und Nacht als die „ersten Nachfolger des Chaos; sie lassen die Beleuchtung wechseln; und unsere Augen, bald an Licht gewöhnt, bald an Finsternis, machen sich mit dem Prozess vertraut, der eine je neue Ordnung hervorbringt: wir sehen hell werden, was eben noch dunkel war, wir erkennen Kontraste, so wie sie sich bilden und wieder vergehen“ (ebd. S. 16). Hier gerinnt somit das Rhythmische in gegensätzliche Proportionen (Tag und Nacht) die nun nicht mehr in ihrem eigentümlichen Wechselspiel als eine rhythmische Ordnung zu bezeichnen wären, sondern jeweils für sich eine je spezifische eigene Ordnung hervorbringen. Zu bedeuten wäre hier also nicht mehr das rhythmische Zusammenspiel der Kontraste, sondern die Auflösung der rhythmischen Bewegung bzw. Bewegtheit in der starren Ordnungslogik von Tag und Nacht als sich gegenüberstehende Proportionen. Hier schließt Helbling nun die Frage an, in welchem spezifischen Verhältnis Proportion und Rhythmus selbst zueinander stehen. In gewisser Weise – so Helbling weiter – verweist selbst das Starre auf seinen rhythmischen Ursprung: „Ein rhythmischer Vorgang bringt Ver128
hältnisse und Verhältnismäßigkeiten hervor, kann sie weiterentwickeln und umstoßen, und auch am scheinbar festgefügten Ebenmaß einer bildlichen oder räumlichen Komposition kann sich ein leises Rütteln bemerkbar machen, das ihre rhythmische Herkunft verrät“ (ebd., S. 17). Die Frage, die also Helbling diesbezüglich stellt, ist die, ob sich das Statische nicht selbst nur durch dieses ‚leise Rütteln’ oder durch so etwas wie ein „dynamisches Moment“ (ebd. S. 17) zeigt und „ob Proportion sich anders als durch ein rhythmisches Angerührtsein überhaupt mitteilen kann“ (ebd. S. 17). Helbling wirft sich diesbezüglich selbst eine romantische Sicht auf die Dinge vor, die er wie folgt zu begründen versucht: „Wenn aber Rhythmus sich dadurch definiert, dass er ordnet und sich als ordnendes Moment zu erkennen gibt, lässt sich das so verstehen, dass er – im Unterschied zum Geordneten – unterwegs ist und bleibt: immer mit Herstellung und Darstellung bestimmter Verhältnisse beschäftigt und immer auch in der Lage, diese Verhältnisse wieder neu zu entwerfen, seinem Ordnen ein anderes Ziel zu setzen. Zum Rhythmus gehört ein gewisses Maß an Widerruflichkeit, an Bereitschaft zum Widerstand gegen sich selbst; solange er wirkt, sind Wandlungen möglich; und es entspricht wohl einem ungefähren Sprachgebrauch, dies romantisch zu nennen“ (Helbling 1999, S. 18). Strukturtheoretisch gedacht, würde dies – entgegen einer romantisierenden Perspektive – den Rhythmus als ein Strukturierungsmoment bedeuten, das eine Strukturlogik auf den Weg bringt, die sich permanent mit sich selbst auseinandersetzt und diese Auseinandersetzungsprozesse gleichsam als eine bewegte gleichsam strukturbildende wie -verhindernde Ordnungslogik kennzeichnen, die somit eine strukturelle Bereitschaft zur Widerrufbarkeit (Ordnende) ihrer strukturbildenden Maßnahmen (Geordnete) bereithält. Dies bezeichnet eine Strukturlogik des Rhythmus, die sich zwischen Dynamik und Gleichgewicht (vgl. ebd. S. 24) bzw. in gewisser Weise auch zwischen Transformation (Bewegung) und Reproduktion (Wiederholung) bewegt und also ein Regelmaß ist ohne Gleichmaß sein zu wollen/dürfen: „Wir können einstweilen vermuten, dass sich Voraussehbares mit der Möglichkeit des Unvorhersehbaren verbinden muss, damit eine rhythmische Spannung entsteht“ (vgl. ebd. S. 24). So bedeutet Helbling eine strukturelle Spannung zwischen Erwartung und Überraschung, die den Rhythmus als Ereignis, etwa die „Wiederkehr einer Farbe, die Antwort einer hellen auf eine dunkle Fläche, einer weichen auf eine schroffe Kontur, das Wachsen oder Schwinden eines Formelements“ (ebd. S. 24) erhält und diese Ereignisse müssen wiederum „einer Erwartung entsprechen; wenn die Erwartungen sich aber blindlings auf sie >die Ereignisse@ verlassen kann, verfällt sie in Gleichgültigkeit“ (ebd., S. 24). 129
Auf der anderen Seite „wird der Eindruck eines geordneten oder sich ordnenden Farb-, Form- oder Raumgeschehens durch zu viele Zwischenfälle gestört, kommt das Chaos in Sicht, und wir hören auf, mit einem Rhythmus zu rechnen“ (ebd., S.25). Rhythmus schließt also Ordnungs- und Strukturierungsmomente in sich ein, die den Rhythmus selbst in seiner Organisiertheit erhält aber auch stets auseinander zu treiben droht; er schließt demnach die Gefährdung seiner selbst in das Ordnungs- und Strukturierungsmoment ein und „Rhythmisches Geschehen setzt erst ein, wo Ordnung unter Druck gerät, wo sich das Feste dem Beweglichen aussetzt und dieses an jenem einen Widerstand findet“ (ebd. S. 33). Die Permanenz des Rhythmus muss sich in der Bewegung stets selbst infrage stellen; der Wechsel, die Fraglichkeit, die Zerbrechlichkeit, die Wiederholung und die Bewegung sind die Ordnungs- und Strukturierungsmomente des Rhythmus – und darüber hinaus – aller rhythmischen Figuren oder Strukturlogiken. „Von maßvoller Belebung bis zu heftiger Erschütterung, vom Idyll zum Drama“ (Helbling 1999, S. 34) schafft so die spezifische Art des Zusammenwirkens von Rhythmus und Takt „die Ausdrucksformen, an denen der Hörer das Besondere eines Satzes erkennt und wiedererkennt“ (ebd. S. 34). So ist es der Takt, der gerade mit der Struktur des Rhythmus brechen und neu ordnen muss, um ihn überhaupt erst hervorzurufen. Das immer wiederkehrende Gleichmaß des Taktes würde nicht mehr als ein Rhythmus wahrgenommen werden; nur das besondere, sich bewegende Regelmaß des Taktes, also der spezifische Abstand der Takte und Töne zueinander und das Arbeiten der Takte gegeneinander (rhythmische Spannung), bringt einen Rhythmus hervor und bezeichnet gleichsam Fortbewegung des Rhythmus bzw. einen rhythmischen Antrieb (vgl. ebd. S. 34). Der Rhythmus ist dabei selbstverständlich an subjektive Wahrnehmungen, ästhetische Betrachtungen und Urteile gebunden, er erscheint nicht jedem gleich, dennoch wohnt dem Rhythmus ein kollektives bzw. kollektivierendes Moment inne, der sich etwa im Tanz o.ä. ausdrücken kann (vgl. ebd. S. 25). So würden „verschiedene Augen dasselbe – nicht gleich, aber mit formulierbaren, kontrollierbaren Abweichungen im Blick haben. Über Rhythmus zu reden, ist ein Gefühlsund Erfahrungsaustausch, der sich ähnlich vollzieht, vielleicht aber auf eine noch ursprünglichere Erlebnisform rekurriert“ (ebd. S. 25). Hierbei wäre der Tanz als eine Ausdrucksform sowohl der „Bewegung oder Bewegtheit der Körperwelt“ (ebd. S.36) als auch einer seelischen Bewegung zu bezeichnen; das kollektivierende Moment des Rhythmus (und des Tanzes) würde nun in den Verständigungen und Konventionen liegen, denn „sie liest aus dem >Text< der Musik Bedeutungen heraus, die sie in ihn hineingelesen hat; ein Vorgang, der die Hörerschaft jedoch 130
nicht daran hindert, spontane Eindrücke zu empfangen und allenfalls ohne Bedeutung auszukommen; sie verhält sich gegenüber dem musikalischen Kunstwerk jedenfalls freier als die Leserschaft gegenüber dem literarischen Text“ (ebd., S. 38). Diese Verständigung über die Bedeutung eines Werkes und die Konventionen, die sich in dem Werk selbst bedeutungsvoll eingeschrieben haben, bestehen im rhythmischen Werk ebenso, wie die Struktur eines solchen Werkes die spontanen Reaktionen zulassen muss, um einen Rhythmus kunstvoll bzw. ereignisartig zu erhalten, wo „der Rhythmus beide zugleich bestimmt; wo Körperbewegungen >und aber auch seelische Bewegtheit@ ihm entsprechen, über die man sich nicht nur verständigt hat, sondern die zu vollziehen auch eine Befriedigung gewährt, an der wiederum eine sowohl spontane wie konventionelle Gemeinsamkeit teilhat“ (Helbling 1999, S. 38). Konvention und spontane Reaktion würden hier (am ehesten im Tanz) ineinander fallen. Rhythmische Werke – und das ist für das Folgende hoch bedeutsam – werden in diesem Falle „zum Bedeutungsträger, zum Medium einer Botschaft“ (Helbling 1999, S. 39) das spontan (erlebnisartig) und konventionell (bedeutungsvoll) körperlich und seelisch spürbar und erfahrbar wird, dem „Rhythmus fällt dann – so gut wie den Klangfarben, der Dynamik, den Harmonien – die Rolle eines Transportmittels der >Sinngebung< zu“ (ebd. S. 39). Der Rhythmus organisiert in seiner Wirkungsweise gleichsam Zeit und Raum bzw. die Bewegung in Raum und Zeit, „sichtbarer Rhythmus lässt sich nicht >>unbesehen<< dem Raum allein, hörbarer Rhythmus nicht einfach der Zeit zuordnen. Zeit wird nicht sichtbar organisiert, höchstens gemessen; aber ihre hörbare Gliederung muss sich im Raum vollziehen. Ob man ihn sieht oder nicht, ohne ihn hört man nichts. Und umgekehrt nimmt man den Raum – seine Dimensionen, seine Gestalt – nicht allein sehend, sondern auch hörend war, unter Umständen sogar nur hörend – und jedenfalls anders, wenn man ihn sieht und hört, als wenn man auf den bloßen Anblick angewiesen wird“ (ebd. S. 26). In der Folge schlägt Helbling vor, den Rhythmus bzw. die Rhythmik „als >Metronomie< der Raum– Zeit–Bewegung“ (ebd. S. 40) und sowohl als Körper- und zugleich aber auch als Seelenübung zu verstehen (vgl. ebd. S. 40). Dieses strukturelle Wechselspiel von spontaner Reaktion einerseits und bedeutungsvoller Konvention andererseits mündet nun sinnlogisch in der rhythmischen Sinnvermittlung auch in ein Wechselspiel von Wahrgenommenem einerseits und Erinnertem andererseits; „ein gleichsam pantomimischer Vorgang, der zeigen soll, was er nicht sagen will“ (ebd. 41). Im Sinne einer musikalischen (aber auch literalen) Mimesis (vgl. Certeau 2002), muss der Zuhörer bzw. Leser eines rhythmischen Werkes mittels der Wahrnehmung von Rhythmus dazu in der Lage sein, die ‚Sprache’ des Rhythmus wahrzunehmen und 131
zu verstehen: „Wer nur weiß oder wissen will, wovon die Dichtung >handelt<, hört nicht sie, er hört oder liest heraus, was er wiedererkennen will; diesen Inhalt löst er aus der Verpackung, und Rhythmus ist für ihn kaum mehr als Packmaterial“ (Helbling 1999, S. 42). Dies bedeutet für das ‚Lesen’ des Rhythmus, erinnerte Bedeutungen zu verstehen, aber auch in der Wahrnehmung selbst Bedeutungen zu produzieren; ein konstitutives Spannungsverhältnis also zwischen Erwartung und Überraschung, Reaktion und Konvention, das gleichsam als rhythmische Spannung bezeichnet ist. Certeau (2002) folgt einer ähnlichen Logik in der Unterscheidung zwischen dem Lesen und der Lektüre. So bedeutet das Lesen, „in einem vorgegebenen System herumzuwandern (im System des Textes, analog zur baulichen Ordnung einer Stadt oder eines Supermarktes)“ (Certeau 2002, S. 295), wohingegen „jede Lektüre ihren Gegenstand verändert“ (ebd. S. 295). Nun verändert aber die Lektüre ebenso wenig einen Text, wie die Rezeption eines rhythmischen Werkes diesen in seiner Substanz verändert; vielmehr geht es um die Konstruktion von Sinn und Bedeutung auf einer inhaltlichen Ebene. Die Werkimmanenz besteht nun aber gerade darin, dass „schließlich ein verbales oder ikonisches Zeichensystem ein Reservoire von Formen ist, die darauf warten, vom Leser ihre Bedeutung zu bekommen“ (Certeau 2002, S. 295). Dies bedeutet eine Sinn- und Bedeutungsproduktion des Lesers selbst, die den gelesenen Text anders bedeutungsvoll konstruiert als es die Intention des Textes war. Damit bezeichnet die Lektüre eines Textes ein „durch die Seite Driften, die Metamorphosen und Anamorphosen des Textes durch das reisende Auge, die Phantasieflüge und Meditationen ausgehend von einigen Wörtern, das Übergreifen von Räumen auf die militärisch ausgerichteten Oberflächen der Schrift und flüchtige Tänze“ (ebd. S. 296). Helbling kennzeichnet eine ähnliche bedeutungsgenerierende Leistung für den Hörer eine Liedes, denn so spricht das Lied „mit oder ohne Worte, zwei Sprachen: die der verschlüsselten Vor-Bedeutungen oder der im Text eröffneten Bedeutungen und die der Töne selbst, die den Hörer auch dann erreichen, wenn sie nichts über sich hinaus zu bedeuten haben oder wenn er ihnen nichts zu entnehmen sucht“ (Helbling 1999, S. 42). Und wieder sind es auch bei Certeau die „zwei Arten von miteinander kombinierten „Erwartungen“: diejenige, die einen lesbaren Raum (eine Buchstäblichkeit) organisiert, und diejenige, die einen zur Verwirklichung des Werkes notwendigen Vorgang (eine Lektüre) organisiert (Certeau 2002, S. 296). Das, was Helbling also in der Rezeption eines rhythmischen Werkes als pantomimischen Vorgang bezeichnet, kennzeichnet die Leser in der Lektüre eines Textes als Reisende, „sie bewegen sich auf dem Gelände des Anderen, wildern wie Noma132
den auf Feldern, die sie nicht beschrieben haben und rauben gar die Reichtümer Ägyptens, um sie zu genießen“ (Certeau 1988, S. 297). Helbling und Certeau kennzeichnen Rezeption als eine Teilhabe an einem aktiven Prozess der ‚Un-Gewusstes’ bildet und hervorbringt. Dabei beantwortet Helbling die Frage danach, wie ein Text beschaffen sein muss, um so etwas wie eine rhythmische Spannung aufzubauen, die ihrerseits beim Leser so etwas wie eine seelenleibliche Produktion von Bedeutung in der Rezeption eines Textes hervorbringt: „Wenn die Rede sich für einen – und nur einen – Augenblick der Verzweiflung gegen die metrische Führung aufbäumt; wenn sie sich, um überzeugend zu klingen, in ein unbequemes Festgewand zwängt; wenn sie beziehungs- und geistreich die Gangart wechselt, weil sie in dichtester Folge berichten, betrachten, fragen und antworten will; wenn sie dem eigenen Schwung scheinbar ungeschützt von einer noch nur zu erahnenden Ordnung folgt; wenn sie die Maske vollkommener Harmonie vornimmt, damit sich ein Schicksal darstellen kann, gegen das es keine Berufung mehr gibt: dann lässt ein rhythmischer Vorgang für den Leser die Situation entstehen, in der er nicht nur davon hört, sondern es hört; er ist Zeuge“ (Helbling 1999, S. 50). Diejenigen Adressaten des Textes B sind die Zeugen dieses Textes und dieser Text, diese gestische Erzählung ist eine rhythmische Ausdrucksgestalt und Ausdrucksmaterie einer ganz eigenen kulturellen Ordnung. In der Lektüre die durch durch die Zeugen und in den Zeugen passiert, wird Ungewusstes hervorgebracht und verschlüsselte Vorbedeutungen transportiert. Dies geschieht gleichzeitig, in sich schwingend werden (Fall-) Strukturen irgendwann dissipativ, wenn sie einer rhythmischen Strukturlogik folgen.
6.6
‚Körper-Papier’ – Über die Einschreibung rhythmischer Ordnungen und Gesetze auf die Körper eines Volkes
„Gib mir deinen Körper und ich gebe dir eine Bedeutung, ich mache dich zum Namen und Wort meines Diskurses“ (Michel de Certeau 1988)
Ingold (2002) hat sich in Anlehnung an Mallarmè’s Hérodiade (1864/1867), einem Werk, das Mallarmé selbst „Das Buch“ nannte, mit dem „imaginären Status des Nichts“ (Ingold 2002, S. 289) auseinandergesetzt: „Das Buch impliziert das Verschwinden des Draußen in der Weiße des Nichts, durch die das Werk sich selbst bestätigt und, in dem es das tut, sich selbst auch verneint; denn die „einzige“ Wahrheit dieses „einzigen“ Werks ist, ewig während, das Nichts...“ (Ingold 2002, 133
S.290). Die Frage nach dem Autor bzw. nach dem Leser dieses Buches stellt sich also nicht, denn „der Mensch hat keinen Anteil daran, sondern ist gleich schon „ohne sich dessen bewusst zu sein ein Teil davon“ und „das Äußerste, was er erreichen kann, ist, dass sein Name mit dem Werk identisch ist“ (ebd., S. 290). „Das Buch“ erscheinen zu lassen hieße, das Buch zur Sprache und so zum Schweigen zu bringen. Das Werk verneint sich selbst, um existieren zu können, indem es genau das nicht sagt, was es ausdrücken will. Der Sinn des Werkes wird nur erhalten, indem das Werk selbst unverständlich bleibt. Die „Sprache soll das Sagen haben, und zwar ein Sagen, jenseits konventionalisierter Wortbedeutung, ein Sagen, dessen Wahrheit darin begründet ist, das es zwar unverständlich, dennoch aber, in sich, sinnvoll bleibt.“ (ebd., S. 291). So auch das „Buch der Takte“, das als das „Metronomicon“ (siehe Text B) in Erscheinung gebracht wird. Sein Sinn ist sprachlich nicht entäußerbar und kommt in spezifischen rhythmischen Raum–Zeit–Konstellationen zum Ausdruck. Das Lesen in diesem Buch gelingt nur in einem eigentümlichen Schweben zwischen der Vermittlung von verschlüsselten Vor-Bedeutungen einerseits und im Text eröffneten Bedeutungen andererseits: das Buch braucht ein Volk, das es lesen kann; ein Zwischenraum also, in dem Ungewusstes hervorgebracht wird. Dieses Ungewusste kann nur im abgesteckten Raum zur Anwendung gelangen und wird in der Folge selbst in das „Buch der Takte“ als spezifisch kulturell hervorgebrachtes (Erfahrungs-) Wissen eingeschrieben. Dies aber nicht als kollektiv verbürgtes Wissen im Sinne eines rechenden Denkens, das höhere Ziele in der Gestaltung von Welt absteckt, sondern im Sinne eines kulturellen Erfahrungsmodus, der in der Erfahrungswelt rhythmischer Raum–Zeit–Konstellationen konserviert bleibt. In der Weite des Draußen ist dieses Wissen nicht anwendbar, es bleibt gebunden an ein rhythmisches Strukturprinzip, das nur außerhalb der Alltagswelt und nur durch fokussierte Intensität zur Anwendung kommt. Die rhythmischen Feste organisieren einen lesbaren Raum, in dem das „Metronomicon“ als symbolische Sinngestalt in Erscheinung tritt. Diese Erscheinung gerät nun in ein eigentümliches Schweben: „Das referenzlose Werk kann nicht auf Wirkung angelegt sein, vielmehr bewirkt es sich selbst – als rhythmische („vibratorische“) Bewegung – in seinem stetigen Werden; es bleibt mit dem, was es „aussagt“, mit dem, was es „bedeutet“, identisch, sein „verschütteter Sinn“ jedoch – das was potenziell über den Text hinausweist – muss durch die „verzweifelte Praxis“ der Lektüre freigesetzt (nicht bestätigt, bloß entdeckt) werden“ (Ingold 2002, S. 292). Und dennoch vollzieht dieser Text eine Arbeit, die im erzählenden Schreiben liegt. Das Gesetz des Buches wird auf die Körper der Akteure, die „Metronomanden“, eingeschrieben und so werden die 134
Akteure zu einem „Teil dieser Geschichte“ (siehe Text B), die erzählt bzw. geschrieben wird. Solche Schriften, die Certeau zufolge das Recht der Menschen auf die Körper einschreibt, „führen zwei komplementäre Operationen aus: einerseits werden durch sie die lebenden Wesen „zu Text gemacht“, in Bedeutungsträger der Regeln verwandelt (das ist eine Intextuation), und andererseits erlebt die Vernunft oder der Logos der Gesellschaft seine „Fleischwerdung“ (das ist eine Inkarnation)“ (Certeau 1988, S. 254). Hier trifft sich Certeaus These, das sich die Regeln und Gesetze und damit das Recht der Körper „bemächtigt“, um sie zu Text zu machen, mit den Überlegungen Foucaults (1994) zur „Leibesmarter“ (Foucault 1994, S. 14), die einstmals Recht und Gesetz auf den gemarterten, zerstückelten, verstümmelten, an Gesicht und Schulter gebranntmarkten, lebendig oder tot ausgestellten, zum Spektakel dargebotenen Körper einschrieb (vgl. ebd., S. 15). In der Anwendung der Schrift, die das Recht der Menschen auf den Körper einschreibt, kommen Herrschaftsverhältnisse zum Ausdruck: „das Subjekt der Schrift ist der Herr >Robinson@, und der Arbeiter, der ein anderes Werkzeug als die Sprache hat, ist Freitag“ (Certeau 1988, S. 253). In Schriftkulturen, in denen die Druckpresse die Gesetze auf die Körper der Subjekte eingeschrieben hat, übernimmt das Pergament bzw. Papier die Stelle unserer Haut, das Buch ist Metapher für den Körper, aber „in Krisenzeiten ist das Papier für das Gesetz nicht mehr ausreichend, so dass dieses sich erneut auf dem Körper abzeichnet“ (Certeau 1988, S. 255). Certeau will damit sagen, dass die Grundlegung eines Gesetzes an die Praxis des Schriftgebrauchs gebunden ist, es geht immer darum, das Gesetz Fleisch werden zu lassen; Fleisch, durch das das Gesetz erkennbar wird und wie eine Tätowierung getragen wird. Der Körper wird zum Text des Gesetzes. Gleich einer Gravur oder eines Brandzeichens, schreibt sich das Gesetz auf die (Gesellschafts-) Körper und gibt Auskunft über Namen und Gesetz des geschriebenen Textes. Der Körper wird verändert, ihm wird etwas genommen oder ihm wird etwas hinzugefügt, und dies bezieht sich auf einen Code, diese Umwandlung des Körpers unterstellt den Körper einer Norm (vgl. ebd. S. 265f.). Die Einschreibung eines Gesetzes auf den Körper bedeutet immer entweder einen Überschuss oder ein Defizit des Körper in der Referenz zum „Realen“. In der Einschreibung eines spezifischen Gesetzes auf den Körper wird ihm das Emblem eines anderen Namens oder Gesetzes eingebrannt. Mit Identität hat dies allerdings nichts zu tun, eher mit einer intensiven aber flüchtigen Berührung des wahren Selbst. Hier ist es das „Buch der Takte“ als Metapher eines Namens und Gesetzes, das dem Körper eingeschrieben werden soll: die Maschinerie der rhythmischen Feste verwandelt die individuellen Körper in einen Gesellschaftskörper (vgl. ebd., S. 257). Dies ist Gemeinschaftsform, die nach ihren 135
eigenen Regeln und Gesetzen funktioniert. Sie benötigt nun wiederum, um als eine solche anerkannt und legitimiert zu sein, ihre Mitglieder, legitime und autorisierte Subjekte bzw. Text-Körper, die den Code einer solchen Gesellschaftsform auf ihren Körper eingeschrieben bekommen haben. Sie werden zu „Metronomanden“ und damit zur fleischgewordenen Inkarnation, zur Kopie des „Metronomicon“, dem „Buch der Takte“. Das spezifische Funktionieren dieser Gemeinschaftsform im Sinne eines Namens und Gesetzes, wird durch Intextuation, also die Einschreibung dieses Gesetzes auf den Körper jedes Einzelnen, und durch die Generierung eines Logos dieser Gemeinschaftsform, garantiert. Alles, was dieser Gemeinschaftsform gegenübersteht, ist in die Welt des „Realen“ eingebunden, dem ein nichtartikulierbarer Schmerz innewohnt, der mit der Lust zusammenhängt, den Code zu wechseln und zu einem Namen bzw. zu einer Bezeichnung zu werden (vgl. Certeau 1988, S. 263). Normativ wird im vorliegenden Fall ein Defizit markiert, das dem Körper in der realen Welt anhaftet: die Unvollkommenheit des Subjekts in der Bewusstwerden des eigenen Selbst. Dieses Defizit wird im Rahmen eines neuen oder anderen Gesetzes hier im Kontext der rhythmischen Feste bearbeitet; der fehlende Code wird auf den Körper übertragen bzw. eingeschrieben. Schmerz und Lust: „Der Schmerz, durch das Gesetz der Gruppe geschrieben zu werden, wird seltsamerweise durch die Lustempfindung gesteigert, anerkannt zu werden (wobei man nicht weiß, von wem), ein identifizierbares und lesbares Wort in einer gesellschaftlichen Sprache zu werden, in das Fragment eines anonymen Textes verwandelt zu werden und in eine Symbolik ohne Eigentümer und Urheber eingeschrieben zu werden“ (Certeau 1988, S. 255). Hier ist es das „Buch der Takte“, auf dessen Bühne „die ebenso soziale wie amoröse Erfahrung dargestellt >wird@, etwas Geschriebenes zu sein, das man nicht identifizieren kann: „Mein Körper ist nur noch ein Graph, den du auf ihm niederschreibst, ein Signifikant, den nur du entziffern kannst“ (Certeau 1988, S. 255).
6.6.1
Schreib-Apparate – Werkzeuge und Instrumente
Die Einschreibung eines Gesetzes oder Namens auf den Körper benötigt nun das Vorhandensein bzw. die Herstellung eines Apparates, der über jeweilige Instrumente oder Werkzeuge verfügt (vgl. Certeau 1988, S. 255). Dieser Apparat vermittelt zwischen dem Körper und dem Gesetz des Anderen, das vermittels dieser Instrumente auf den Körper eingeschrieben wird: „Früher war es der Feuersteindolch oder die Nadel“ (ebd., S. 256), heute können dies unscheinbare und eher un136
auffällige Elemente sein, die wesentlich subtiler die Formen einer Gravur zu zeichnen vermögen und die wiederum weitaus unauffälligere Prozeduren legitimieren: „Eisen oder glänzender Stahl, derbe Hölzer, dauerhafte und abstrakte Chiffren, die wie Druckbuchstaben angeordnet sind, gekrümmte oder gerade Instrumente zum Festhalten oder Verprügeln, die die Bewegung einer unschlüssigen Justiz nachzeichnen oder bereits zu markierende Körperteile, die noch nicht da sind, vorzubilden. Zwischen den Gesetzen, die sich verändern, und den Lebewesen, die sie durchlaufen, stecken die Galerien dieser Werkzeuge den Raum ab und bilden Netze und Nervenstränge, wobei sie sich einerseits auf einen symbolischen Korpus >die „Metronomanden“@ und andererseits auf fleischliches Wesen >die „Auserwählten“@ beziehen. So verstreut (...) dieses Sortiment auch sein mag, es legt in festen Punkten die Beziehungen zwischen den Regeln und den mobilen Körpern fest“ (Certeau 1988, S. 256f.). Ein vielgestaltiges Gesetz ist es, das im Rahmen der rhythmischen Feste eingeschrieben werden soll. Eine Vielzahl von Elementen, Teilen und Instrumentarien also, die sich wundersam zu einem Ganzen fügen sollen: zu einer „einzigartigen Konstellation“ (siehe Text B), die einem Namen, einem Gesetz und/oder einer Bedeutung zur Erscheinung verhelfen soll. Das Gesetz ist das „Metronomicon“; dies ist das Signifikat, das aus der Strukturlogik rhythmischer Feste hervorgehen, und das sich in die Körper der Akteure einschreiben soll. Die Akteure, die aus einer Welt da draußen in eine neue Welt eintreten („Zusammenkunft“), verlassen eine Grenze; eine Grenze, die zwischen dem Anderen da draußen und dem Eigenen hier drinnen im gezogenen Kreis des Textes liegt. Diese Grenzziehung kennzeichnet zugleich einen Brückenschlag („Weg“) vom Defizit der Welt da draußen, zur Einschreibung eines eigenen Gesetzes, eines eigenen Namens, einer eigenen Bezeichnung in der Welt hier drinnen: „Und ganz gleich, wer der Zeuge dieses Vorgangs ist, man ist begierig, endlich diesen Namen zu bekommen oder dieser Name zu sein, man will ein Bezeichneter bleiben und zur Metamorphose in etwas Gesagtes gelangen, selbst wenn es das Leben kosten sollte. Die Textwerdung des Körpers entspricht der Fleischwerdung des Gesetzes, sie unterstützt sie, sie scheint sie sogar zu begründen und ist ihr in jedem Falle dienlich“ (Certeau 1988, S. 269). Dies ist das Recht der Schrift über dem Wort. Schreiben heißt Produzieren. Es geht nicht darum, die „Geheimnisse einer Ordnung oder eines verborgenen Schöpfers zu entziffern“ (ebd., S. 261), sondern es geht darum, eine eigene (rhythmische) Ordnung zu produzieren und auf den Körper eines Volkes zu schreiben, dies ist die Hervorbringung einer eigenen Ausdrucksmaterie. Die „Metronomanden“ sind die fleichgewordene Inkarnation dieser Ordnung und legitimieren und autorisieren 137
diese Ordnung. Ihr Körper verweist auf die Regeln dieser Ordnung, sie sind deren Emblem. Mit dem Be-Schreiben dieser Körper wird Geschichte neu geschaffen. Unter Rückgriff auf die Ontologien des Universums erfolgt eine Rückkehr zu seinen Ursprüngen, um eine Genese zu finden, die dem Logos einen Körper verleiht und ihn so inkarniert, dass er erneut, aber ganz anders „zu Fleisch wird“ (ebd., S. 260f.). „Seit Menschengedenken“ – so hat es die Rekonstruktion bereits zeigen können – markiert diesen Rekurs auf diese Ursprünge einer „fieberhaften Suche“ (Siehe Text B) nach eben dieser Genese aus „Einheit und Ekstase“. Mit der Schaffung einer neuen Geschichte in der Gegenwart, in der „eine Art diesen Weg zu finden“ „die Zusammenkunft zu rhythmischen Festen“ ist, beginnt gewissermaßen diese „große mythische und reformatorische Leidenschaft“ (ebd., S. 262), die den Schmerz („fieberhaft“) und die Lust in sich aufnimmt. Certeau charakterisiert diese Leidenschaft in folgenden drei Begriffen: erstens „ein Modell oder eine „Fiktion“, das heißt einen Text“ (ebd., S. 262), zweitens „die Instrumente seiner Anwendung oder seiner Niederschrift, das heißt die Werkzeuge“ (ebd., S. 262) und schließlich drittens „das Material, das gleichzeitig Träger und Inkarnation des Modells ist, das heißt eine Natur, also im wesentlichen Fleisch, das durch die Schrift in Körper verwandelt wird“ (ebd., S. 262). Im ersten Bedeutungselement wird ein Text gebaut, der sich auf etwas Fiktives bezieht, etwas, das der Welt da draußen nicht zu Eigen ist; hierin verbirgt sich das erzählerische und mythische Moment, das in der Anwendung der Schrift zum Ausdruck gebracht wird. Fiktive Welten, die Handlungen vorbereiten; Handlungstheater also, die folgenden Handlungen Legitimation und Autorisierung verschaffen sollen. Aus diesen Handlungstheatern gehen überhaupt erst Identitätskonstruktionen hervor, die bestenfalls in der realen Alltagswelt zur Anwendung gebracht werden können. So wird in diesen Erzählungen ein Raum abgesteckt, der Felder und Grundlegungen (fás) schafft, die dem eigenen Handeln und Tun in der realen Alltagswelt eine Bedeutung und Legitimation verschaffen. Im zweiten Bedeutungselement kommen die spezifischen Instrumente und Werkzeuge eines fiktiv geschaffenen Apparates zur Anwendung, die gewissermaßen das erreichen und legitimieren sollen, was im Text fiktiv als Modell geschaffen wird. Es sind die Werkzeuge eines Gesetzes oder einer Ordnung, die im Folgenden auf die Körper von Subjekten eingeschrieben werden soll. Hier sind es „Takt und Rhythmik“, und insgesamt „alle die Faktoren“, die dazu verhelfen („verhilft“), „eine(r) einzigartige(n) Konstellation“, ein Modell zu schaffen. 138
Im dritten Bedeutungselement entfalten nun diese Werkzeuge und Instrumente ihre Wirkung: „also lasst uns geblendet von Video, Laser und Licht, betäubt von riesigen Soundsystemen und überwältigt von einzigartigen Takten und Rhythmen gemeinsam einen Weg finden, das Metronomicon erscheinen zu lassen“ (Siehe Text B). Blendung und Betäubung, die Begehren und Lust anstoßen, funktionieren hier als die Einschreibungsprozeduren; ähnlich einer Nadel gravieren sie die Gesetze einer rhythmischen Ordnung auf die Haut Körper der „Metronomanden“: „Mit Hilfe der Werkzeuge einen Körper an das anpassen, was einen (...) Diskurs definiert – das ist der ganze Vorgang“ (Certeau 1988, S. 262). Die Einladung „zum Spiel nach X-Stadt“ ist „somit ein Spiel, das sich einerseits durch eine Veränderung in Fiktion übersetzt (eine Korrektur des Wissens) und andererseits in den Schrei, einen nichtartikulierbaren Schmerz, die nicht gedachte Seite des Körpers“ (ebd., S. 262f.). Diese nicht gedachte Seite des Körpers wird immer dann aktiv – so eine These – wo nicht nur Gesetze auf den Körper geschrieben werden sollen, sondern wo Gegenwart selbst geschrieben wird, wo Gegenwart in die Ordnung des Gedachten überführt wird. Das eigene Selbst in die Gegenwart einzuschreiben, eine Gegenwart, die (spürbar) gemacht und die nicht in den Orten von Ordnungen gesehen wird. Namen und Bezeichnungen erlangen, die dem Fleisch einen gesellschaftlichen Korpus geben, der vom Realen zitiert wird. Etwas zu sein, das gemacht worden ist: Bedeutungsträger einer geschaffenen neuen Ordnung, die die Kontrastpole des eigenen Selbst in ein kohärentes, ja vollkommenes Selbst überführt: die „Metronomanden“. Dieses fiktive Selbst wird auf den Körper der Subjekte eingeschrieben und in den abgesteckten Räumen, den „rhythmischen Festen“, verfügt das Subjekt über ein kohärentes Selbst als „Metronomanden“. Sie sind die Bedeutungsträger einer Ordnung, die fiktiv und modellhaft ist: das „Metronomicon“, das „Buch der Takte“. Diese Ordnung auf den Körper einzuschreiben bedeutet, eine körperliche Kopie dieser Ordnung zu sein, die bestenfalls in gedachte Ordnungen überführt werden kann. Dessen Ausgang bleibt offen und ist hier nicht so das Thema. Es geht um die Herstellung einer Glaubwürdigkeit dieses kleinen Diskurses; sie liegt darin, die Gläubigen, die auserwählt worden sind („auserwählte Metronomanden“), in Bewegung zu versetzen, in Gang zu halten, zu mobilen Gesetzes-Körpern zu machen, zu Nomaden, die durch selbst geschaffene Sinnwelten ziehen. Indem die Erzählung das macht, erzeugt sie praktisch Handelnde: „Aber durch eine eigenartige Kreisbewegung ist das Vermögen, jemanden in Bewegung zu versetzen – die Körper zu beschriften und in Gang zu setzen –, genau das, was einen etwas glauben lässt. Weil das Gesetz 139
bereits auf die Körper angewandt wird19 und in körperlichen Handlungsweisen „inkarniert“ worden ist, kann es glaubhaft machen, dass es im Namen des „Realen“ spricht“ (ebd., S. 267f.). Aktiv werden die Körper also im Glauben an etwas und dies ist ihnen selbst auf den Körper geschrieben; der Diskurs wird nur glaubwürdig, indem er eine Erzählung ist und die Gläubigen in Bewegung versetzt. Die beschriebenen Körper werden zu „Reisenden“ und zu bewegten Körpern, die in ihrem Glauben an etwas an diesem „Altar“ genau das handelnd hervorbringen, was ihnen als Gesetz auf den Körper geschrieben wurde: das Gesetz rhythmischer Raum–Zeit–Konstellationen (Metronomie), das die Kontrastpole des eigenen Selbst (vorübergehend) zueinander bringt. Dem liegt eine dynamische, zentrifugale Kraft zugrunde, „welche die Lebewesen dahin treibt, zum Zeichen zu werden und sich durch einen Diskurs in eine Sinneinheit, in eine Identität zu verwandeln. Von diesem undurchsichtigen und zusammenhangslosen Fleisch, von diesem exorbitanten und verwirrenden Leben endlich zur Einfachheit eines Wortes zu gelangen, zu einem kleinen Bestandteil der Sprache, zu einem einzigen Namen zu werden, der von anderen entziffert und zitiert werden kann“ (ebd., S. 269).
6.7
Techno als Fluchtlinie – Jugendkultureller Widerstand in den Zwischenräumen segmentierter Linien und Quanten-Strömungen
„Das gilt auch für den Mai 68: alle die die Vorgänge nach Begriffen der Makropolitik beurteilten, haben von dem Ereignis nichts begriffen, weil ihnen irgendetwas entging, das nicht einzuordnen war“ (Deleuze/Guattari 2005).
Wir haben bis zu dieser Stelle etwas darüber erfahren, wie Alltagspraktiker im Rahmen von Erzählungen und kleinen Diskursen etwas je Eigenes im Tun und Handeln hervorbringen können. Ich habe dies bis hier im Schulterschluss mit Certeaus Theorie der „Kunst des Handelns“ hergeleitet. Im Folgenden werde ich diese Alltagspraktiken, die zuvorderst in der Anwendung der Schrift zum Ausdruck gekommen sind, in einen Diskurs überführen, der die Frage danach beantwortet, welche Funktion diese ameisenhaften Praktiken im Getriebe von Gesellschaft mit seinen Macht- und Dominanzstrukturen einnehmen und in welcher Weise sie bisher nicht gedachte Strukturprinzipien befördern, die sich von einer baumartigen bzw. pyramidenartigen Vorstellung von Gesellschaft weg- und hin zu einer 19
„Sie selbst sind schon als Teil der Geschichte im Metronomicon gebannt“ (Siehe Text B)
140
rhizomartigen, dissipativen Ordnungslogik der Dinge bewegen (vgl. Deleuze/Guattari 2005).
6.7.1
Mikropolitik und Segmentarität – Was Techno zur Fluchtlinie macht
Ausgehend von der zentralen These der Autoren, dass jede Gesellschaft und jedes Individuum von zwei unterschiedlichen und miteinander in einer Korrespondenz stehenden Segmentaritäten, den molaren einerseits und den molekularen andererseits, organisiert wird (Deleuze/Guattari 2005, S. 290), verschwinden die binären Logiken und Dualismen und mit ihnen die Unterscheidungen übergeordneter und untergeordneter Modalitäten, die das Handeln und Denken von Subjekten entweder durch das Eine oder durch das Andere organisieren oder steuern. Vielmehr stehen beide Seiten in einem konstitutiven Verhältnis zueinander, und so befinden sich die Orte von Gesetzen und Strukturen auf einer eher molaren Ebene, die dem Staatsapparat, den Institutionen und anderen komponierten Machtzentren zuzuordnen wären. Auf der molekularen Ebene haben wir es hingegen mit untergründigen Bewegungen zu tun, die eine Gesellschaft und eben auch Institutionen und Machtzentren antreiben, die „als eine Konfrontation von molaren Segmenten „repräsentiert“ werden“ (ebd., S. 294). Solche untergründigen Bewegungen bezeichnen die Autoren als „Fluchtlinien“ (Deleuze/Guattari 2005, S. 294), die molekular sind und die aus der Sicht der Mikropolitik Gesellschaft selbstverständlich beeinflussen (vgl. ebd., S.294). Diese untergründigen Bewegungen flüchten vor dem Staat, der ein Resonanzapparat bzw. Übercodierungsmaschine ist. Dies geschieht immer dann, wenn sich zunächst sehr winzige molekulare Strömungen abspalten und zu immer größeren werden. Sie verweisen jedoch immer auch auf das, wovor sie flüchten: Linien und Segmente der molaren Organisation bzw. Ordnung: „molekulare Fluchtbewegungen wären nichts, wenn sie nicht über molare Organisationen zurückkehren würden und ihre Segmente, ihre binären Aufteilungen in Geschlechter, Klassen und Parteien nicht wieder herstellen würden (ebd., S. 295). Das Verstehen kultureller Praktiken schließt also Gesellschaftsanalysen als Strukturgeneralisierung immer schon mit ein. Dennoch bringen sie in ihrer Segmentarität und in ihrer Organisiertheit etwas anderes eigenes hervor: QuantenStrömungen (vgl. ebd., S. 295). Zwischen diesen beiden Seiten bilden sich neue untergründige Machtzentren, die sich an der Grenze zwischen beiden Seiten ansiedeln. Sie sind nun aber nicht durch eine absolute Wirkung in einem dieser Bereiche definiert, „sondern durch die entsprechenden Anpassungen und Um141
wandlungen, die es zwischen der Linie und der Strömung vornimmt“ (ebd., S. 295). Und hier kommt Certeau, der den Handlungen von Alltagspraktiken eben diese Macht zugewiesen hat, wieder mit ins Spiel: die Umwandlung des Vorgefundenen hin zu etwas je Eigenem, das über die Macht verfügt, Gesetze und Strukturen an die eigenen Bedürfnisse und Interessen durch das Umfrisieren des Vorgefundenen anzupassen. Deleuze und Guattari markieren drei Aspekte bzw. Bereiche von Machtzentren, die ganz strukturell „viel stärker durch ihre Ohnmacht oder durch das definiert >werden, J.H.@, was ihnen entgeht, als durch ihre Einflussbereiche“ (ebd., S. 296). Macht ist also nicht absolut, das wissen wir schon von Foucault, und so hat ein Machtzentrum erstens seinen „Macht oder Einflussbereich im Verhältnis zu den Segmenten einer massiven, harten Linie“ (Deleuze/Guattari 2005, S. 309). In diesem ersten Aspekt definiert sich Macht in der Logik der Orte von Ordnungen oder Gesetzen, die makropolitisch definiert sind und wirksam werden. In einem zweiten Aspekt oder Bereich verfügt das Machtzentrum jedoch über „seine Zone der Ununterscheidbarkeit im Verhältnis zu seiner Verbreitung in einem mikrophysischen Gewebe“ (ebd., S. 309). Wenn man so will, wird das Machtzentrum in diesem Bereich ‚nach unten offen’; hier kann nicht mehr zwischen dem unterschieden werden, was auf einer molaren harten Linie festgelegt ist und was sich gewebeartig im Raum als potenzielle oder untergründige Machtdispositive verteilt. Ein Aufbegehren gegen oder ein Verrat an einer bestehenden Ordnung beantwortet die Frage nach Macht nicht in den konkreten Einflussbereichen im Ort von Ordnungen, sondern außerhalb derselben. In einem dritten Bereich schließlich kommt die Machtlosigkeit des Machtzentrums „im Verhältnis zu den Strömungen und Quanten“ zum Ausdruck, „die es nur umwandeln kann, ohne dass es ihm gelingt, sie zu kontrollieren oder zu beeinflussen“ (Deleuze/Guattari 2005, S. 309). MaschinenArbeit: innerhalb jeder Seite, die unterschiedliche Segementaritäten bezeichnet, kommen jeweils andere Maschinen zum Zuge: auf der Seite des Staatsapparates die abstrakte Maschine der Übercodierung und auf der Seite molekularer Strömungen so genannte Kriegsmaschinen, die jeweils ihrer Logik folgend spezifische Wirkmächtigkeiten entfalten: Recodierung und Reterritorialisierung oder Decodierung und Deterritorialisierung. Immer entgeht den molaren Linien etwas, immer entgeht dem Staatsapparat etwas, man könnte sogar sagen, immer entgeht dem Wissenschaftsbetrieb etwas – etwas, das sich nicht im Rahmen statistischer Verfahren und Analysen einer molaren Segmentarität zuordnen lässt. Statistiken sind so gesehen reine Simplifizierungen als Reterritorialisierung des Deterritorialisierten. QuantenStrömungen tun sich auf, die dieser Logik nicht entsprechen und die verkürzend in 142
die Orte erkenntnistheoretischer Begriffsgebäude zurück überführt werden (Reterritorialisierung), indem man sie im Rahmen von Typenbildungen, Kategorisierungen; Clusterbildungen o.ä. recodiert und somit in Begriffsschemata (zurück-) überführt, ihnen Codes zuschreibt, denen diese Quantenströmungen ja gerade entfliehen wollen. Dies folgt keiner Intention sondern einem Begehren. Gerade auf kulturellen Feldern muss die Statistik zur abstrakten Maschine der Übercodierung werden, die neues Wissen und neue Erkenntnisse anhäuft. Ein Wissen jedoch, das stets neue Codes anhäuft (Übercodierung), ein Wissen, das die Bewegtheit von Massenphänomenen in die Logik der Orte von starren Ordnungen überführt (Reterritorialisierung). Es lassen sich drei Zonen eines Machtzentrums ausmachen: eine erste Zone des Machtzentrums „liegt im Staatsapparat und wird immer als Gefüge definiert, das die abstrakte Maschine zur molaren Übercodierung in Gang setzt“ (Deleuze/Guattari 2005, S. 309). Wenn man so will, ist dies der systemstabilisierende Bereich eines Machtzentrums und damit der ‚übergeordnete’ Ort der Regeln, Gesetze und Strukturen. Der zweite Bereich eines Machtzentrums liegt „in dem molekularen Gewebe, in dem dieses Gefüge aufgeht“ (ebd., S. 309). Hier kommt gewissermaßen das, was auf dieser harten Linie fest gefügt ist, zur Anwendung und verändert sich in seiner spezifischen Verteilung und Umwandlung im molekularen Gewebe. Der dritte Bereich eines Machtzentrums liegt schließlich „in der abstrakten Mutations-, Strömungs- und Quanten-Maschine“ (ebd., S. 309) und bezeichnet schließlich das Wirksamwerden von ‚Gegen-Bewegungen’, die sich gegen die Logik vorgefertigter Systeme stemmt. Am anderen Pol einer Gesellschaft oder Institution gibt es also immer eine „abstrakte Mutationsmaschine, die decodiert und deterritorialisiert. Sie zieht Fluchtlinien: sie steuert die Quanten-Strömungen, sichert die Schaffung und Verbindung von Strömungen und sendet neue Quanten aus“ (Deleuze/Guattari 2005, S. 305). Jugendkulturen sind solche Mutationsmaschinen, die solche Fluchtlinien ziehen, nur fühlen sie sich manchmal auch genötigt, Pflöcke in die Erde zu rammen und Fahnen vor sich her zu tragen. Es gibt aber auch Verhandlungen und (vorübergehende) Allianzen zwischen beiden Segmentaritäten bzw. Polen einer Gesellschaft. Anpassung und Umwandlung, dies geschieht gleichzeitig und bezeichnet ein Oszillieren zwischen diesen beiden Polen harter Linien bzw. molarer Segmentaritäten und molekularer Quanten-Strömungen. Das, was als eine neue Quanten-Strömung aus der Flucht vor harten Linien und Segmenten hervorgegangen ist, kann wiederum auf eine harte Linie übersetzt bzw. überführt werden (Transduktion). Oder im umgekehrten Fall: „indem molare Linien manchmal schon von Rissen durchzogen und angeknackst 143
sind und Fluchtlinien manchmal schon von schwarzen Löchern angezogen werden, Verbindungen von Strömungen bereits durch begrenzende Konjunktionen ersetzt werden und die Emissionen von Quanten in Mittelpunkte umgewandelt werden“ (ebd., S. 305). Die Autoren verdeutlichen dieses Treiben dieser abstrakten Maschinen der Übercodierung und der Kriegsmaschinen an einer These des Historikers Pirenne sehr deutlich. Diese ging davon aus, dass die Barbaren sich nicht aus freiem Entschluss auf das Römische Reich stürzten, sondern, dass sie der Hunnensturm vorantrieb und eine ganze Reihe von Invasionen auslöste (vgl. Deleuze/Guattari 2005, S. 304): „Auf der einen Seite die harte Segmentarität des Römischen Reiches, mit seinem Resonanzzentrum und seiner Peripherie, seinem Staat, seiner pax romana, seiner Geometrie, seinen Lagern und seinem Limes. Und dann, am Horizont, eine ganz andere Linie, die der Nomaden, die aus der Steppe kommen, die sich auf einer aktiven und kontinuierlichen Flucht befinden, die Deterritorialisierung überall hintragen, die Fluten vorantreiben, deren Quanten sich erhitzen und die von einer Kriegsmaschine ohne Staat mitgerissen werden. Die umherziehenden Barbaren befinden sich also zwischen beiden: sie kommen und gehen, sie überqueren bei ihren Vor- und Rückwärtsbewegungen Grenzen, sie plündern und erpressen Lösegelder, aber sie integrieren und reterritorialisieren sich auch. Manchmal gehen sie in einem Reich auf, von dem sie ein Segment übernehmen, sie werden Söldner oder Bundesgenossen, lassen sich nieder, besetzen Ländereien oder bilden sogar selber Staaten (die weisen Westgoten). Manchmal werden sie dagegen zu Nomaden und schließen sich so zusammen, dass sie ununterscheidbar werden (die brillanten Ostgoten). Die Vandalen, „die Goten der zweiten Zone“, zogen – vielleicht weil sie unaufhörlich von den Hunnen und den Westgoten geschlagen wurden – eine Fluchtlinie, durch die sie ebenso stark wurden wie ihre Herren; sie bilden die einzige Bande oder Masse, die sich auf das Mittelmeer gewagt hat. Und sie haben auch eine völlig unerwartete Reterritorialisierung vorgenommen, nämlich ein Reich in Nordafrika gegründet“ (Deleuze/Guattari 2005, S. 304).
Fluchtlinien bewegen sich demnach von starren Ordnungs- und Dominanzstrukturen weg und verweisen gleichsam auf ihre Legitimität; sie führen die eigenen Bewegungen auf die Logik ‚übergeordneter’, molarer bzw. makropolitischer und vorgefertigter Systeme zurück. Das Eigene dieser Kriegsmaschinen erscheint also als molekulare Ausprägung der harten Linien. In der Rekonstruktion zu Text A sollte deutlich geworden sein, dass die je eigenen „Ideen und Wertvorstellungen“ nichts anderes sind, als die molekulare Ausprägung der Logik des Altbewährten, das sich auf der molaren Linie als die „altbewährten Wertvorstellungen und Moralansichten einer Generation“ darstellen. Wenn man so will, sickern oder fließen diese je eigenen Lebensführungsprinzipien aus den harten Linien, die diese Fluchtlinien stets zu verstopfen drohen, hervor; sie sind etwas Eigenes in den molekularen Segmentaritäten, die nicht ohne den Verweis auf die harten Linien und Segmente auskommen. Der Staat erscheint auch hier als eine Art „Resonanzbox für alle Punkte“ (Deleuze/Guattari 2005, S. 306), gleich ob es die Maschine der 144
Übercodierung oder die Kriegsmaschine ist: hier trifft sich alles und die Frage ist nur die, ob die eigenen Lebensführungsprinzipien in schwarzen Löchern festgehalten werden und Fluchtlinien verstopfen, oder ob die Flucht ins Exil und in ein „Dasein“ gelingt, das die Umwandlung einer vorgefundenen Welt erlaubt. Die Wirkmächtigkeit der Kriegsmaschine Techno, die als solche selbstverständlich gemessen an der Logik einer harten Linie als „dunkle Bedrohung der Menschheit“ (siehe Text A) erscheint, ist stets darum bemüht, ihre Fluchtlinien zu ziehen. Ich behaupte, dass dies so oder in ähnlicher Weise auch für andere jugendkulturelle Szenen, ja für Jugendkulturen schlechthin gilt. Dies wird gleichzeitig begleitet durch eine Anpassungsmaschine, die ihre Wirkmächtigkeit dort entfaltet, wo es ihr gelingt, diese Quanten-Strömungen durch Reterritorialisierung und Recodierung wieder umzuwandeln: Verpflichtung zur Einlösung eben dieser Anpassung an die Logik molarer Segmentaritäten und also die Verpflichtung zur Reproduktion „altbewährter Wertvorstellungen und Moralansichten“. Dies geschieht gleichzeitig und folglich auch im Schreiben als strukturbildende Maßnahme. Der Autor selbst ist das Machtzentrum, das von Ohnmacht und Begehren gekennzeichnet ist, und in dem die verschiedenen Bereiche und Zonen der Macht zum Ausdruck kommen: ein Gewebe zwischen molaren und molekularen Segmentaritäten.
6.7.2
Erde und Kosmos – Grundlegung und kosmisches Ausbrechen
All diese Fragen zentrieren sich um das Markieren und Machen eines je Eigenen. In den kulturellen Aktivitäten von Alltagspraktikern kommen ameisenhafte Bewegungen zum Ausdruck, die sich einmal mehr und einmal weniger vom Irdischen weg- und zum Kosmischen hinbewegen. Immer geht es jedoch darum, einen eigenen Bereich zu markieren, der wiederum eigene Territorien und eigene Fabrikationen hervorbringt. Es ist das Ziehen eines Kreises, der zumindest vorübergehend Sicherheiten und Orientierungen garantiert. In diesem Kreis werden Kräfte wirksam, die eine Grenze zwischen dem Innen hier und dem Chaos des Draußen dort aufrechterhält. Will man Deleuze und Guattari folgen, so geschieht dies nicht in einer linearen Abfolge, sondern immer gleichzeitig. Diesem Denkmodell folgend werden immer Kreise gezogen, immer hält man sich in diesen Kreisen auf, um das eigene Selbst von den Kräften des Chaos abzuschirmen. Immer tritt man auch aus diesen Kreisen heraus, um sich mit den kosmischen Kräften der Zukunft und mit der Welt da draußen zu verbinden bzw. zu vermischen. Mal stellt man Schilder und Fahnen auf, um den eigenen Bereich zu markieren, mal tut man alles, um diese 145
Schilder und Fahnen überflüssig zu machen, einen eigenen Stil, eine eigene Ausdrucksmaterie zu schaffen, die unabhängig wird von den je spezifischen Signaturen, Indizes und Bezeichnungen territorialer Gefüge. Unabhängig von gezeichneten Landschaften und Karten, die auf der Ebene des Molaren vorzufinden sind, geht es um die Hervorbringung eines eigenen Stils, ja um eine eigene Ausdrucksmaterie, die unabhängig geworden ist vom Wollen einer Gesellschaft. Immer geht es im Ziehen eines Kreises um Codes, Territorien und territoriale Gefüge, die man schafft und wieder ‚zerstört’. Dies hängt davon ab, ob sich ein Kreis schließen oder öffnen will, irdisch oder kosmisch werden will, ob er sich auf dem Grund der Erde bewegt, oder dieser Grund in stoßartigen Gebärden verlassen werden soll (vgl. Deleuze/Guattari 2005, S. 460). Ob man nun Certeau oder Deleuze und Guattari folgen will: es geht um die Schaffung eines Grundes, von dem aus die eigenen Handlungen, das eigene Machen und Tun im Gewebe von gesellschaftlichen, politischen oder institutionellen Macht- und Dominanzstrukturen einen Sinn und eine Bedeutung erhält und als etwas je Eigenes daherkommt. Grenzen werden gesteckt, Grenzen werden überschritten, Grenzen berühren sich. Immer fließt und sickert das Eine aus dem Anderen hervor, immer findet Bewegung und rhythmische Bewegtheit statt zwischen dem Vorgefundenen und dem Hervorgebrachten. Aber selbst das hervorgebrachte Eigene erhält nie seinen Bestand: auch hier obsiegen zentrifugale Kräfte gegen Schwerkräfte (vgl. Deleuze/Guattari 2005, S. 460). Einerseits ist es das Aufstellen eines Schildes oder einer Fahne, das/die ein spezifisches territoriales Gefüge, einen eigenen Bereich mit eigenen Gesetzen, Motiven und Funktionen markieren soll, die als die eigenen „Ideen und Wertvorstellungen“ (siehe Text A) daherkommen. Andererseits „ist es dieser Weg“ (siehe Text B), der einen Übergang von dem einen in das andere Territorium markiert. Hier ist es die Grundlegung eines Gefüges, das als ein „Dasein“ in der Weite der gegenwärtigen Weltstunde markiert wird (Text A), dort ist es die Gründung einer rhythmischen Figur oder Ausdrucksmaterie („Metronomicon“) (Text B), die unabhängig wird zu dem Rhythmus, der die Handlung angeschoben hat; eine rhythmische Figur, die ein Eigenleben entwickelt hat und zu einem eigenen Stil, zu einer eigenen Ausdrucksmaterie geworden ist. Erde oder Kosmos: das richtet sich nach den Kräften des Kreises, der sich verschließt oder öffnet, Territorien schafft oder die eigenen territorialen Gefüge in wieder neue überführt. Da ist Bewegung drin, die Fluchtlinien sind! Dort, wo die Dinge wundersam gefügt werden, entstehen neue Gefüge oder Zwischengefüge; die Mutationsmaschine ist am Werk, „sie zieht die Fluchtlinien: sie steuert die Quanten-Strömungen, sichert die Schaffung und Verbindung von Strömungen und sendet neue Quanten aus“ (Deleuze/Guattari 2005, S. 305). 146
Quanten werden nun dort ausgestoßen, wo Decodierungen stattfinden, wo also feststehende Codes, die das Vorgefundene definieren, umgewandelt werden, wo neue Territorien und territoriale Gefüge entstehen, wo der Kreis sich öffnet (Deterritorialisierung). Fluchtlinien entstehen, die durch Kriegsmaschinen angestoßen werden – Übercodierung und Reterritorialisierung kommen nicht erst im Nachhinein dazu. Die abstrakte Maschine der Übercodierung (Gesellschaft, Institutionen, Wissenschaft etc.) ist immer parallel am Werke und ersetzt die verfallenen Codes, keines ist dem anderen nach- oder übergeordnet – eine Koexistenz der Maschinen im Raum: „Massenbewegungen überstürzen sich und folgen dicht aufeinander (oder schwächen sich lange Zeit ab, erstarren), aber sie springen von einer Klasse zur nächsten, machen Mutationen durch, befreien und entfesseln neue Quanten, die die Klassenverhältnisse verändern, die ihre Übercodierung und Reterritorialisierung erneut in Frage stellen und woanders neue Fluchtlinien entstehen lassen. Unterhalb der Reproduktion von Klassen gibt es immer eine variable Karte von Massen“ (Deleuze/Guattari 2005, S. 302). Was sind nun diese neuen Quanten(Strömungen)? Nicht anderes als das Einmünden der segmentierten Linie (Makropolitik) in eine Quanten-Strömung (Mikropolitik): „Ob gut oder schlecht, die Politik und ihre Beurteilungen sind immer molar, aber es ist das Molekulare mit seinen Einschätzungen, das sie „macht““ (ebd., S. 303). Entwurf oder Erzählung, Sehen oder Gehen, Karte oder Wegstrecke, Erde oder Kosmos. Sobald aber Begehren, Ohnmacht oder Schmerz ins Spiel kommen, verliert sich die Herrschaft makropolitischer Wirkmächtigkeiten; ein kosmologischer Ausbruch, ein Tun und ein Machen, das sich von der Erde abstößt. Einen alten Grund verlassen und einen neuen gründen (fás). Und während „Vorstellungen bereits große Komplexe oder auf einer Linie festgelegte Segmente definieren, sind Überzeugungen und Begehren Strömungen, die durch Quanten gekennzeichnet werden, die erschaffen, ausgeschöpft oder umgewandelt werden und die hinzugefügt, abgezogen oder kombiniert werden“ (ebd., S. 299). Deleuze und Guattari machen das Aussenden neuer Quanten etwa am Beispiel der Kirche fest: „Wenn man von der Macht der Kirche spricht, dann ist diese Macht immer mit einer Art von Sündenverwaltung verbunden gewesen, die eine starke Segmentarität mit sich bringt, Sündengattungen (die sieben Totsünden), Maßeinheit (wie oft?) und Ausgleichs- und Erlösungsregeln (Beichte, Buße...). Ganz anders, wenn auch komplementär, ist allerdings das, was man als molekulare Strömung der Sündhaftigkeit bezeichnen könnte: dies umschließt die lineare Zone und wird sozusagen quer zu ihr gehandelt, aber sie enthält ihrerseits nur Pole (Erbsünde-Erlösung oder Gnade) und Quanten („Sünde, die im Ausbleiben des Sün147
denbewusstseins besteht“, Sünde des Sündenbewusstseins, Sünde der Folge des Sündenbewusstseins)“ (Deleuze/Guattari 2005, S. 297). Man könnte diese Frage auch an Oevermanns Krisenbegriff adressieren: der Krise den Code entziehen und in ein anderes Gefüge überführen, die Krise auf ein anderes fás heben, das der Krise ihre absolute Wirkung entzieht. Mehr noch: die Krise erreicht in diesem heuristischen Gedankenexperiment gegebenenfalls erst gar nicht den Punkt des Auseinanderbrechens von Handlungsroutinen, die Krise befindet sich auf einem fás, das diese absolute Krisenwirkung nicht mehr kennt. Es ginge somit um ein kosmisches Ausbrechen aus dem Territorium einer Krise; der Krise die Erde nehmen, sich mit anderen Kräften vereinen. Ein solches Krisenbewusstsein fließt von einem offensiven Pol zu einem defensiven Pol und von dieser reinen Strömung kann man sagen, „dass sie abstrakt und dennoch real ist, ideal und dennoch wirksam, absolut und dennoch „differenziert““ (ebd., S. 297). In dieser Logik betrachtet steht der Linie bzw. dem molaren Segment der Krise am anderen Pol eine abstrakte Mutationsmaschine gegenüber, die die Gelegenheit der Umwandlung der Krise wie im Fluge erfasst: landen, wassern, abheben. Was macht kulturell-ästhetische Praktiken nun konkret aus? Ich will dies wie folgt zusammenfassen: nimmt man dies alles zusammen, so führen solche Praktiken eine Arbeit aus. Diese Arbeit bezeichnet ein Tun und Machen auf einer leeren Seite, die be-schrieben werden soll. Dies bemüht kein rechendes Denken, das seine eigenen Gewinne kapitalisiert, dies ist kein Vorstellen, das die Logik vorgefertigter Systeme reproduziert, dies ist kein Sehen von Ordnungen vorgefertigter Systeme, sondern nomadisches Unterwegssein in den Geweben molarer und molekularer Segmentaritäten. Kulturelle Praktiken sind ameisenhafte Bewegungen im angeeigneten Raum und sie folgen keiner offensiven, sondern einer defensiven Logik. Sie bereiten Handlungen vor, indem sie Felder schaffen, sie gründen und geben dem eigenen Tun eine Grundlage: dies ist das schöpferische Moment (jugend-) kultureller Praxen. In kulturellen Praktiken wird eine Maschinenarbeit repräsentiert, die jeweils makropolitische und mikropolitische Wirkmächtigkeiten freisetzen können. Es werden Schilder und Fahnen gesteckt, auch auf dem eigenen Körper. Ordnungen werden hervorgebracht; eigene Ordnungen, die sich in den Zwischenräumen molarer und molekularer Segmentaritäten einnisten und zu eigenen Ausdrucksmaterien werden. Sie verfolgen aber auch das Ziel, sich in stoßartigen Gebärden vom Grund der Erde abzustoßen, hin zu den Kräften des Kosmos, die das Aufstellen von Schildern und Fahnen, und die das Schlagen von Pflöcken, Pfeilern oder Zäunen unnötig macht (vgl. dazu auch: Eliade 1974, 1998). Auf dem Grund der Erde 148
suchen sie nach einem eigenen fás, von dem sie sich zentrifugalen Kräften folgend, abheben und stets neue Quantenströmungen hervorbringen. Fluchtlinien, die sich von den Gravitationskräften molarer Linien und Segmente wegbewegen. Sie stehen in ständiger Korrespondenz zu den Gesetzen und Ordnungen vorgefertigter Systeme – sie umzuwandeln ist ihre List. Kulturelle Praktiken sind Ausdruck einer Arbeit von Kriegsmaschinen, die den abstrakten Maschinen der Übercodierung gegenüberstehen. Der Leser hat bis hier Einblicke gewinnen können, in beide Seiten, die sich in kulturellen Praktiken ausdrücken können. Im Text A war es vorwiegend die Durchdringung der Erde, um einen Grund zu finden, der den eigenen Handlungen und dem eigenen Selbst eine Grundlage verschafft. Dort war es das „Dasein“ als eine Existenz des Selbst in der gegenwärtigen Weltstunde und das Nicht-Wollen eines Wollens, das gerichtet ist auf die Gestaltung und Machbarkeit von Welt. Der so angeschobene kleine Diskurs begründete sich auf das Verschwinden eines großen übereinkommenden Diskurses, der sich auf das gesprochene Wort bezieht. Diese Grundlegung eines Daseins in der gegenwärtigen Weltstunde arbeitet molekular einer Logik vorgefertigter Systeme entgegen, die molar ausgerichtet sind und Gesetze und Strukturen vor-schreibt: die Anpassung an die Regeln und Strukturen molarer Segmentaritäten. Die Markierung eines eigenen Bereichs bzw. Territoriums, das „Dasein“, schützen das Selbst vor den Kräften des Chaos da draußen. In diesem gezogenen Kreis verschwindet der krisenhafte Horizont der Zukunft und so kommen dem Subjekt die Dinge dieser Welt als Kräfte in diesem Kreis und somit in der Weite einer Gegenwärtigkeit entgegen und nicht als Vorstellung der Dinge, die dem Selbst aus einem krisenhaften Horizont entgegenläuft. Dieser gezogene Kreis bzw. dieses territoriale Gefüge ist ein Übergang; ein Übergang in eine „vielleicht bessere Zukunft“, in die die eigenen „Ideen und Wertvorstellungen“ als die umgewandelten Gesetze und Ordnungen molarer Linien und Segmente als neue Quanten-Strömungen „einfließen“. Dem Machen, das sich auf die Umwandlung der Orte von Gesetzen bezieht, kommt eine besondere Bedeutung zu: „Sichtbarmachen (...) und nicht das Sichtbare wiedergeben und reproduzieren“ (Deleuze/Guattari 2005, S. 467). Dies ist gleichsam Ausdruck einer handwerklichen Aneignung von Welt, die sich in der Umwandlung des Vorgefundenen ausdrückt, denn „Was in einem Gefüge komponiert war, war zunächst nur etwas Komponiertes und wird erst in einem neuen Gefüge zu einer Komponente“ (ebd., S. 473). 149
Im Text B wendet sich die Grundlegung eines fás dem Körper hin, indem die je eigenen Gesetze einer (rhythmischen) Ordnung auf den Körper der Subjekte eingeschrieben werden. Der Körper wird zum Emblem bzw. zu einer Kopie („Metronomanden“) dieser Ordnung („Metronomicon“); er fungiert in gewisser Weise als ein Schild bzw. Fahne dieser Ordnung. Die Akteure, die sich in dieser Ordnung bewegen, werden zur inkorporierten Fleischwerdung dieser Gesetze. In ihnen selbst werden die Gesetze dieser Ordnung zur Anwendung gebracht; der Rhythmus als raum- und handlungseröffnendes Moment, das eine kritische Distanz zur Außenwelt herstellt und der das Springen vom einen ins andere Milieu ermöglicht, wird im Verlauf zu einer expressiv gewordenen rhythmischen Figur, zu einer Ausdrucksmaterie, die vom Rhythmus als distanzerzeugendes Moment unabhängig wird. Im Sinne eines kosmischen Ausbrechens, das den irdischen Grund des fás verlässt (und damit den Grund einer Ordnung), strömen Quanten aus, die sich mit den kosmischen Kräften vermischen und das Beschreiben eines neuen Kapitels im „Buch der Takte“ erlaubt: die Bildung eines neuen territorialen Gefüges (Deterritorialisierung). Jugendkulturell generiertes Neues erscheint hier nicht als neue rationale Potenzialitäten in der Gestaltung von Welt, sondern als territoriale Grundlegung eigener kultureller Ordnungen, die ihre ganz eigenen Ausdrucksmaterien schaffen und die das Schlagen von Pfählen und Pflöcken unnötig macht. Auf den neu geschaffenen eigenen kulturellen Feldern wird die Berührung mit dem eigenen flüchtigen wahren Selbst ermöglicht.
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7.
Schlusswort
Die Studie ging im Kern der Frage nach, wie spezifisch Techno im gesellschaftlichen Getriebe funktioniert. Seiner Funktion als gesellschaftlicher Unruheherd entsprechend ist Techno in den Mitten molarer und molekularer gesellschaftlicher Segmentaritäten zu verorten, der die Logiken einer vorgefundenen Welt stets neuen Mutationen, Umformungen und Umwandlungen unterzieht. Seiner Logik entspricht es nicht, neue Codes zu produzieren, die im Gewande feststehender Fabrikationen und neuer rationaler Potenzialitäten in der Gestaltung von Welt daherkommen.20 Vielmehr kommt in solchen Mutationsapparaten eine Arbeit zum Ausdruck, die sich auf die Decodierung und also Umwandlung feststehender Regeln, Gesetze und Systematiken einer vorgefundenen Welt eingefahren hat. Techno macht in der Handhabung und Lösung von Bewährungs- und Strukturproblematiken stets neue Fluchtlinien frei, die sich den alten Codes und Territorien entziehen. Techno schafft neue territoriale Gefüge im gesellschaftlichen Gewebe, die dynamischen Fluchtpunkten folgen.21 In der Logik einer solchen Arbeit obsiegt die Schöpfung eines eigenen neuen Grundes, der sich den Codes fest gefügter Territorien zwar bedient, diese aber jeweils decodiert und deterritorialisiert. Diese Arbeit, die angeschoben wird von einem Begehren verrichtet sich nicht einfach so und sie wird nicht ohne Grund verrichtet, denn „in dem Maße, wie sich prinzipiell alle überkommenen – moralische Verbindlichkeiten produzierenden und stabilisierenden – sozialen Identifikationen relativieren, findet sich der Einzelne zwangsläufig eben jenseits gesellschaftlicher Formationen wieder, steht er sozusagen in seiner nackten Subjektivität vor dem Dauerproblem, seine Existenz in einer unerhörten Schärfe und Absonderlichkeit selber bewältigen zu müssen (Hitzler 2006, S. 68).
20 Dies gilt übrigens nicht nur für Techno sondern ließe sich in ähnlicher Form in vielen anderen (jugend-) kulturellen und ästhetischen Handlungspraxen ausmachen. 21 Immer wieder wurde das Ende der Techno-Szene ausgerufen und immer wieder kehrte Techno im neuen Gewand auf die jugendkulturelle Bühne zurück. Es gilt aber auch zu beachten, dass Mutationsapparate auf ihr Ende hinauslaufen können, bis sie gar gänzlich in schwarzen Löchern verschwinden.
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In den unterirdischen Strängen molekularer Segmentaritäten finden Umwandlungsprozeduren statt, die neue Kräfte freisetzen. Diese Kräfte können irdisch oder kosmisch sein. In den molekularen Segmentaritäten erfahren auch die Gesellschaftskörper ihre Umwandlung, in ihnen erfährt ein nicht artikulierbarer Schmerz seine Umwandlung und verwandelt sich hin zu einer Lust an der Umwandlung der Logiken des Vorgefundenen. Mutationsapparate schreiben eigene Gesetze und Strukturen auf den Leib von Gesellschaftskörpern und dieser Leib wird zur fleischgewordenen Inkarnation dieser je eigenen Regeln und Gesetze, die mit den Regeln und Gesetzen molarer Segmentaritäten nichts zu tun haben wollen. Sie schaffen eigene Ausdrucksmaterien, die das Beschreiben von Fahnen unnötig machen. Einstweilen bedienen sich solche Mutationsapparate aber gerade dieser Regeln und Strukturen, sie sind nicht zuletzt das Material, aus denen die Umwandlungen und die Fabrikationen eines je eigenen Grundes hervorgehen. Aber sie gelangen nicht zur Anwendung, dem geschundenen Selbst verlangt es nach einem eigenen Namen, nach einer eigenen Bezeichnung, die ohne die feststehenden Codes molarer Segmentaritäten auskommen soll. Nomadischen Ursprungs sind diese Mutationsapparate in ständiger Bewegung, sie nehmen alte Codes in sich auf, um sie, stets dynamischen Fluchtkräften folgend, wieder zu verlassen. Gleichzeitig sind aber auch abstrakte Maschinen der Übercodierung am Werk, die den Gesellschaftskörper mit gerade diesen alten Codes zu beschreiben und in gesellschaftliche Gefüge molarer Segmentaritäten zu reterritorialisieren versuchen. Die oft normativ einseitige Politisierung jugendkultureller Szenen im akademischen Kontext ist ein Ausdruck solcher Reterritorialisierungsversuche; Studien die vorschnell die Diskursmüdigkeit der aktuellen Jugendgeneration und die verlustig gegangene Teilhabe am gesellschaftspolitischen Diskurs, das Verschwinden eines eigenen innovativen Stils in jugendkulturellen Szenen posaunen, funktionieren als solche abstrakten Maschinen der Übercodierung. Solche Maschinenarbeiten kommen auch in den Gesellschaftskörpern selbst zur Anwendung: so folgen sie einem rechenden Denken auf der einen Seite, das dem Gesellschaftskörper seinen Platz in den molaren Segmentaritäten zuweisen soll und einen nichtartikulierbaren Schmerz erzeugt. Ein besinnliches Denken auf der anderen Seite, das sich in den Weiten und Untiefen molekularer Segmentaritäten tummelt, das diesen Schmerz in eine Lust an den Unwandlungen und Mutationen überführt. Eines geschieht mit dem Anderen und eines geht aus dem anderen hervor, das hat ständig miteinander zu tun und schwingt hin und her. Dies aber nur dann und nur dort, wenn es dem Zensor nicht gelingt, gerade dieses Begehren und die Lust an den Umwandlungen einzufangen, zu verstopfen und auf die Logiken 152
molarer Segmentaritäten einzustimmen. Im Kontext von Schule lässt sich dies gar nicht denken. Frei von diesem Zensor existieren im gesellschaftlichen Getriebe bewegliche territoriale Gefüge, die kulturelle Felder sind und solche Mutationsapparate hervorbringen. Sie agieren unauffällig und sie werden nur in den Momenten sichtbar, in denen sie die Grenzen von Territorien überschreiten und in denen sie sich an den feststehenden Codes vergehen. Diese Umwandlungen und Mutationen bezeichnen räuberische, verbrecherische Akte, da sie sich an den Logiken des Vorgefundenen vergehen, ohne jeweils neue Codes und Territorien zu produzieren; Strukturen werden hier dissipativ bzw. rhizomartig, ohne sich ganz aufzulösen. Techno verfügt nicht über den Ort des Eigenen (allenfalls als flüchtigen Grund oder vergängliche Grammatik) und orientiert sich sinnlogisch an den Orten von Regeln, Gesetzen und Strukturen eines gesellschaftlichen Anderen (feststehende Codes, Gesetze und Strukturen). Aus den Karten von Erfahrungsgeschichten und vorgelebten Lebenskonzepten werden eigene Routen und Wegstrecken gezeichnet, die dem Verlust von Ortsbeständigkeiten in der Schöpfung eines eigenen Grundes entgegenwirken. Die Orte von Regeln, Gesetzen und Strukturen, die der Logik einer vorgefundenen Welt angehören, werden zum begehbaren Raum, in dem die Logiken des Vorgefundenen hin zu den Logiken eigener Interessen und Bedürfnisse umgewandelt werden; ein begehbarer Raum, in dem die Nomaden, Flaneure und Vagabunden (vgl. Gebhardt/Hitzler 2006) lustwandeln. In diesen Umwandlungsprozeduren werden Fabrikationen geschaffen, die das je Eigene in den Sprachen des Anderen hervorbringen; dies sieht man nicht auf den ersten, oft auch nicht auf den zweiten Blick. Dabei geht es auch um die Handhabung und Lösung von Struktur- und Bewährungsproblematiken, die sich auf molare und molekulare Segmentaritäten der Welt beziehen und jeweils spezifische Logiken und Systematiken der Lösung solcher Problematiken hervorbringen. Makropolitisch, und auf der Ebene übergeordneter Ziele und Ideale, werden Autonomieansprüche hervorgeholt, die die Unterscheidung des je Eigenen gegenüber dem gesellschaftlichen Anderen ermöglichen sollen. Metaphysisches Wollen könnte man das nennen. Mikropolitisch, und auf der Ebene der Konstruktion eines eigenen Grundes, der dem Selbst seine wurzelkräftige Beheimatung verspricht, werden Umwandlungsprozeduren deutlich, die sich der Sorge um das eigene Selbst in der gegenwärtigen Weltstunde verschrieben haben. Aber noch einmal: Eines geschieht mit dem Anderen, und so ist das Selbst nicht frei von makropolitischen bzw. molaren Segmenten einer Gesellschaft. Die Bewährung eines weitgehend konsistenten 153
Selbst, das die Richtigkeit seiner Entscheidung vor sich selbst und vor anderen zu begründen und einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit der getroffenen Entscheidungen zu erheben vermag, gelingt nur im Schulterschluss mit übergeordneten Zielen und Idealen, die an der Machbarkeit von Welt festhalten. Unterirdisch werden diese Bewährungsdynamiken jedoch von einem Begehren durchkreuzt, das sich der Vergänglichkeit des eigenen Selbst in der gegenwärtigen Weltstunde hinwendet. So gesehen kann es durchaus sein, dass in anderen gesellschaftlichen Segmenten, auf anderen gesellschaftlichen Kampflätzen erneuerbare Energien abgezogen werden bzw. abhanden kommen; die These von der Diskursmüdigkeit und vom Rückzug aktueller Jugendkulturen aus dem gesellschaftspolitischen Diskurs ist nur die Vereinfachung des Ganzen auf einer molaren Ebene. In diesem ‚engineering’ von jugendkulturellen ästhetischen Praxen büßt ein rechendes Denken seine Wirkmächtigkeit im Festhalten an die Prinzipien der rationalen Vernunft ein; es weicht einem besinnlichen Denken, das sich von der Produktion neuer rationaler Potenzialitäten und übergeordneter Ziele und Ideale sowie von dem Projekt der innovativen Gestaltung von Welt befreit. Dies verdient sich einer Logik von kulturellen Gefügen im gesellschaftlichen Gewebe, für die die Umwandlungen und das Ziehen eines eigenen Kreises typisch sind. In diesen Kreisen verändern sich Semantiken: Semantiken der Krise, des Denkens und des Wissens. In ihnen verändern sich Raum- und Zeitdispositionen und schließlich auch das eigene Selbst. Der geschundene Gesellschaftskörper wird in den Eigenlogiken solcher kulturellen Felder zum Emblem seiner je eigenen Ordnungslogiken, die jeweils eigenen Regeln, Strukturen und Gesetzen folgen. In diesen Umwandlungsprozeduren, in den Schöpfungen eines eigenen Grundes, in der Markierung eines eigenen Kreises, drücken sich die Grammatiken einer vorgefundenen Welt aus, die selbstverständlich in den kulturellen Praktiken selbst zur Anwendung kommen und somit reproduziert werden. Sie bezeichnen die je eigenlogischen Systematiken in der Handhabung von grundlegenden Struktur- und Bewährungsproblematiken. Auch geht es dabei um die gesellschaftliche Anerkennung von Gesellschaftskörpern samt ihren Potenzialitäten in der innovativen Gestaltung von Welt. Als ob es ihnen aber in spezifischen Segmenten von Gesellschaft und in den Untiefen kultureller Praktiken an Referenzpunkten dafür fehlt, das eigene Tun und Handeln auf einen gemeinsamen Geltungsgrund zu legen, von dem aus das eigene Tun und Handeln im Gefüge solcher kulturellen Praktiken einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit in der Produktion neuer Codes erheben kann, werden die gezogenen Kreise, die fest gefügten Territorien, die einen solchen Geltungsgrund potenziell hervorbringen, fluchtlinienartig in stoßartigen Bewegun154
gen verlassen. Strukturen werden dissipativ, neue Gründe werden geschaffen, die dem eigenen Tun und Handeln potenziellen Sinn und Bedeutung versprechen: Gründen statt Begründen. Kulturelle Praktiken tummeln sich in den Mitten molarer und molekularer Segmentaritäten, sie bezeichnen Zwischenräume, in denen die dem rechnenden Denken zugewandte und zugleich aber auch die diesem Denken abgewandte Seite eines Gesellschaftskörpers zur Sprache kommen; Bewährungsdynamiken werden durcheinander gewirbelt, sie bilden jeweils unterschiedliche Logiken ab. Logiken, die sich einmal den molaren und ein anderes mal den molekularen Segmentaritäten hinwenden. In diesem Zusammenspiel wird das Selbst zum wahrhaftigen Referenzpunkt für eigene spürbare Daseinskonzepte. Dieses ganze Treiben ist frei von Inhalten auf einer Gegenstandsebene, die das Eine gegenüber dem Anderen sinnoder bedeutungsvoller erscheinen lassen würden. Die Weite eines Horizontes, aus der die Gegenstände und Dinge dieser Welt dem Subjekt entgegenkommen und zu einer Vorstellung und dem Sehen von Ordnungen führt, weicht einer Weite der Gegenwärtigkeit im Hier und Jetzt, die den Entwurf hypothetischer Welten überflüssig macht. Dies kann zumindest vorübergehend einen enormen Druck aus den Identitätsprozessen Jugendlicher nehmen. Die Richtigkeit der getroffenen Entscheidung bewährt sich im Hier und Jetzt, in einem anderen Wesen des Denkens als Gelassenheit und nicht im Gefüge einer antizipierten hypothetischen Welt. Der Fall, der sich in dieser Weite der Gegenwärtigkeit im Hier und Jetzt selbst verortet, taugt nichts in der Handhabung und Lösung anstehender Alltagsgeschäfte, er taugt nichts in der angestrengten Handhabung und Lösung von Krisenproblematiken, aus der potenziell gesellschaftliches Neues entstehen soll. Auf dem Plateau seines eigenen kulturellen Grundes ist er weitgehend frei von auferlegten Autonomie- und Individuierungsansprüchen und von Bewährungsdynamiken, die sich so oder so am Projekt einer besseren Welt orientieren müssen. Dieses Projekt einer besseren Welt erhält sich selbst nur im Vorhandensein eines übereinkommenden großen Diskurses, innerhalb dessen der eigene Beitrag in der Gestaltung von Welt artikulierbar wird. Mit dem Verschwinden dieses übereinkommenden Diskurses gewinnen die kleinen Diskurse, die ameisenhaften Bastelarbeiten an Stellung, die sich in einer stets beweglichen Flucht vor den alten Codes befinden. Kulturelle und ästhetische Handlungspraxen bilden solche Fluchtlinien. Das je Eigene solcher kulturellen Praxen lässt sich in der Folge nur an der Logik des eigenen gegenwärtigen Grundes festmachen, der gerade hier und jetzt einen vorübergehenden Halt, Sicherheiten und Orientierungen spendiert und der selbst155
verständlich seine je spezifischen (flüchtigen) Grammatiken in der Handhabung und Lösung von Struktur und Bewährungsdynamiken freisetzt. Techno wird hier nun als ein solches soziales Gebilde verstanden, das gerade diesen Strukturlogiken des Umwandelns, des Bastelns an den Gegebenheiten einer vorgefundenen Welt, des Abziehens und Hinzufügens, insgesamt also das Strukturprinzip der Bricolage wie kaum ein anderes jugendkulturelles Massenphänomen auf die Spitze getrieben hat. Markant hat sich vor diesem Hintergrund die Frage aufgedrängt, warum gerade dieses Strukturprinzip vor den Eigenlogiken einer fallspezifischen Ausformung der Handhabung und Lösung ganz grundlegender Struktur- und Bewährungsprobleme halt machen sollte. So haben die Rekonstruktionen zeigen können, dass es gerade in der Handhabung und Lösung solcher Problematiken darum gehen kann, sich höchst offizieller Autonomie- und Individuierungsansprüche zu bedienen, die dem Anspruch nachjagen, das je Eigene gegenüber einem gesellschaftlichen Anderen zu markieren. Nun hält Techno als soziales Gebilde aber gerade solche Dispositionen nicht bereit, die eine Entscheidung für dieses oder jenes Lebensführungskonzept als die richtige gegenüber anderen potenziell möglich gewesenen Entscheidungen begründbar machen würde. Der Anspruch auf Allgemeingültigkeit der getroffenen Entscheidung verliert sich in einer Sorge um das eigene gegenwärtige Selbst und darauf gründenden Daseinskonzepten. Die getroffene Entscheidung (die eine Gründung und keine Begründung ist) bewährt sich nicht im Bewährungsrahmen einer offenen Zukunft, die mittels hypothetischer Welten geschlossen wird, sondern den Bewährungsrahmen bildet die Weite in der gegenwärtigen Weltstunde, die sich gerade dieses Blickes in eine bessere oder schlechtere Welt beraubt. Innovative rationale Potenzialitäten in der Gestaltung von Welt gehen aber nur aus der Logik eines spezifischen Angebotes hervor, welches in die Weite des geöffneten Zukunftshorizontes gelegt wird. Sie funktionieren als potenziell reproduzierbare Angebote in der Handhabung und Lösung von ganz grundlegenden Struktur- und Bewährungsdynamiken. Aber noch einmal: sie benötigen Referenzpunkte, an denen sich ein rechendes Denken orientieren kann; Gravitationskräften von Regeln, Gesetzen und Strukturen einer vorgefundenen Welt folgend, reproduzieren sie den Glauben an die Machbarkeit von Welt und opfern ihr eigenes wahres Selbst. Kulturelle Praxen sind nun auch als solche zu verstehen, die es sich einstweilen gestatten, den ganzen Nonsens dieser Welt vorzuführen, der nicht zuletzt auch darin seinen Ausdruck findet, dieser kleinen Portion mehr Sinn im Leben nachzujagen. An dieser Wahrhaftigkeit des eigenen Selbst beißt sich (Zentrifugalkräften folgend) ein Begehren fest, das kein rechnendes Denken mehr ist. Dieses 156
Begehren bildet den tiefen Grund kultureller Felder, der sich auch in jugendkulturellen Handlungspraxen ausdrückt. Jugendkulturelle Handlungspraxen werden hier als eine ameisenhafte Arbeit verstanden, die sich sowohl makropolitisch verwertbaren als auch mikropolitisch wirksamen Dispositionen hinwendet. Sie generieren Eigenlogiken, die einmal einem Autonomie- und Individuierungsanspruch nachgehen, die sich aber auch gerade diesen Ansprüchen und Erwartungsdispositionen einer Gegenüber-Welt entziehen können. Dies macht den Eigenwert jugendkultureller Handlungspraxen aus: sich einmal dem Projekt einer besseren Welt hinwenden, um sich dann schon gerade von diesem Projekt wegzubewegen. Dies hängt davon ab, welche Maschinenarbeit obsiegt. Es kommt im Verstehen jugendkultureller Handlungspraxen folglich darauf an, den je eigenlogischen Grund solcher Handlungspraxen aufzuspüren und in seiner je spezifischen Logik und (flüchtigen) Grammatik zu erschließen. Dies kann ein gemeinsamer Geltungsgrund sein, in dem die eigenen Entscheidung für oder gegen etwas als die richtige begründbar wird und einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben kann. Dies kann aber auch die Schöpfung eines eigenen Grundes sein, der sich gerade diesen Begründungspflichten strukturell entzieht, da dieser Grund gerade nicht ein solcher ist, der auf allgemeingültige Regeln, Gesetze und Strukturen verweist, sondern sich fluchtlinienartig von einem gemeinsamen Geltungsgrund wegbewegt, um etwas Eigenes zu markieren, das in seiner Verwertbarkeit in der Gestaltung von Welt und in der Hervorbringung eines gesellschaftlichen Neuen offen bleibt. Jugendkulturelle Handlungspraxen sind die kleinen nach allen Seiten offenen Identitätsgefäße, die nicht dafür vorgesehen sind, Erfahrungsgeschichten zu konservieren. Aus diesen offenen Gefäßen sickern stets neue Eigenlogiken heraus, die die spezifischen Grammatiken des eigenen flüchtigen Grundes widerspiegeln, auf denen diese Handlungspraxen hier und jetzt in der gegenwärtigen Weltstunde gründen. In solchen kulturellen Handlungspraxen findet eine Aneignung von Welt in den Umwandlungen des Vorgefundenen statt, Grenzen werden gezogen, die gleichzeitige Berührungen mit dem gesellschaftlichen Anderen sind; da ist immer ein wenig Reproduktion, Recodierung und Reterritorialisierung mit im Spiel. Diese Grenzen weiten sich im nächsten Zuge wieder aus. Kreise, und also der eigene Grund, werden wieder verlassen, um sich neuen zentrifugalen Kräften und neuen dynamischen Fluchtpunkten hinzuwenden. Einstweilen sind Jugendkulturen die reinsten Sinnwüsten und dies muss ihnen zugestanden werden, will man Jugendkulturen nicht stets neu politisieren. Jugendkulturen müssen nach ihren jeweiligen Grammatiken befragt werden, stets damit rechnend, dass sie morgen aus diesen 157
Grammatiken fluchtlinienartig ausbrechen. Das Ganze muss stets nomadisch, rhizomartig und dissipativ gedacht und behandelt werden. Jugendkulturelle Handlungspraxen sind folglich nicht dafür verantwortlich zu machen, neues verwertbares Wissen anzuhäufen, denn dieses Wissen verstopft das Begehren bzw. die Lust am Abziehen und Hinzufügen, am Zeigen und Verbergen als einen je eigenen Modus der Aneignung von Welt und der Entbergung des eigenen wahren ‚Sich-Selbst’. Ein solches metaphysisches Wollen produziert nur feststehende Codes, die den abstrakten Maschinen der Übercordierung und somit dem Staatsapparat oder anderen übergeordneten Systemen samt ihren Zensoren zuspielen. In jugendkulturellen Handlungspraxen findet das diffuse Gefühl seinen Ausdruck, Herr im Hause seines eigenen Selbst zu sein. Es geht auch darum, sich den alten Codes zu entziehen, einen eigenen Kreis zu ziehen, der das Selbst von dem Zwang befreit, sich in den Logiken einer vorgefundenen Welt stets vernunftbasiert bewähren zu müssen. Folgt man Hitzler, bedeutet eine solche postmodernistische Perspektive die ‚Umkehrung’ des Gedankens der Aufklärung, denn eine solche Perspektive „zeichnet sich mithin dadurch aus, dass sie Aufklärung, Vernunft, formale Gleichheit usw., selber wieder hinterfragt – zugunsten sozusagen einer kulturellen Kakophonie von kleinen Variationen von Sinn und Unsinn, von Ernsthaftigkeit und Lächerlichkeit, von Biederkeit und Hinterlist, von Sturheiten und Flexibilitäten usw., kurz: von Ambiguitäten und Ambivalenzen“ (Hitzler 2006, S. 67). Einstweilen gelingt es Jugendkulturen, eigene Territorien, ja sogar einen eigenen kleinen Staat zu gründen, der nach den Regeln, Gesetzen und Strukturen molarer Segementaritäten funktioniert, der neue Codes produziert, die in der Gestaltung von Welt potenziell irgendwie nützlich oder hilfreich sein können. Bleiben sie jedoch in einer solchen molaren und dem Staat zuträglichen Logik verfangen, verlieren sie ihre Funktion als gesellschaftlicher Unruheherd; sie versinken in schwarzen Löchern und verstopfen die Fluchtlinien; der einstmalige Unruheherd wird selbst molar und verschwindet letztendlich von der molekularen Bildfläche. Techno hat als ein solcher Mutationsapparat die Logiken einer vorgefundenen Welt stets umgewandelt und umfrisiert, dort etwas abgezogen und hier etwas hinzugefügt. Techno sah immer schon so aus und hörte sich immer schon so an. Techno war aber vor allem immer schon eines: gegenstandslose Pracht des Nichts. Es ging bei Techno nie wirklich darum, etwas je Eigenes vor sich her zu tragen, eigene Fahnen und Pflöcke in den Boden einer vorgefundenen Welt zu schlagen und sich für irgendetwas einzusetzen: dies war und ist nie die Funktion von Unruheherden und Mutationsapparaten gewesen, sie stehen gerade dem Staatsapparat 158
und den molaren Segmentaritäten in einer ganz anderen Logik gegenüber. Sinnlogisch bewegte sich der eigene Autonomie- und Individuierungsanspruch, der sich in der Logik molarer gesellschaftlicher Segementaritäten von Gesellschaften ausdrücken ließe, eben irgendwo zwischen „Friede, Freude, Eierkuchen“. Mehr wird da makro-politisch sowohl an der Massenfront als auch im Binnenleben der Techno-Szene nicht zu holen sein. Dies erklärt sich allerdings vor dem Hintergrund des Falls, der sich als ein fallspezifischer Ausdruck der Eigenlogiken und Systematiken in der Handhabung und Lösung solcher Struktur- und Bewährungsprobleme auch des übergeordneten sozialen Gebildes Techno versteht: im Scheitern an den Logiken einer vorgefundenen Welt wird ein Gelingen antizipiert, das sich nicht auf das richtige Leben und nicht auf eben diese Logiken des Vorgefundenen bezieht, sondern auf das eigene vergängliche Dasein im Hier und Jetzt der gegenwärtigen Weltstunde; auf ein Dasein, das den eigenen Geltungsgrund der richtigen Entscheidung für ein Dasein im Hier und Jetzt markiert. Das Projekt einer besseren Welt, das voll ist von Sinnschlacken, hat hier keinen Platz, da es das Selbst immer wieder mit den Unmöglichkeiten und Zwängen zur richtigen Entscheidung konfrontieren und alte Inkonsistenzen hervorholen würde. Dies ist kein Basteln und keine Arbeit an neu-alten Inhalten, sondern Fabrikationen und Produktionen als Umwandlung des Vorgefundenen hin zu den Logiken der eigenen Interessen und Bedürfnisse, die sich am eigenen vergänglichen Dasein orientieren und sinnlogisch nicht mit neunen rationalen Potenzialitäten. Dies trifft selbstverständlich nicht für alle gesellschaftlichen Segmente zu, dies gilt zuvorderst für kulturelle Felder im gesellschaftlichen Gewebe, in denen ästhetische Selbst- und Weltaneignungsmodi bemüht werden, die im Übrigen in der Zukunft bildungstheoretische Beachtung erlangen sollten. Jugendkulturen sind als solche Felder anzuerkennen und nicht mit demselben Maßband zu messen, das an institutionelle Felder und Segmente angelegt wird. Hier werden im besonderen Maße dynamische Kräfte wirksam, die nicht ohne weiteres etwa in institutionellen Kontexten auszumachen sind, da sie dort vom Zensor eingefangen und verstopft werden, wenn gleichwohl gilt, dass auch dort nomadischen Ursprungs Mutationsmaschinen wirksam werden, die derzeit allerdings kaum zu einem etablierten Gegenstand von empirischen und theoretischen Auseinandersetzungen werden. Eine Ausnahme bildet hier die Arbeit von Böhme (2006), die sich am Beispiel von Schule mit medialen Bildungsarchitekturen auseinandersetzt und der These nachgeht, das Kinder und Jugendliche als transmediale Nomaden das außerschulische Bildungsspektrum medienkultureller Architekturen durchstreifen (vgl. ebd. 2006). 159
Zusätzlich ist es so, dass diese Kräfte nicht in allen kulturellen Feldern gleich wirksam werden; hier und da werden Felder in jugendkulturellen Praktiken auszumachen sein, die auch Mittelpunkte zwischen molaren und molekularen Linien und Segmenten herstellen und somit gesellschaftliches Neues im Sinne der Produktion neuer Codes in der Übernahme alter Codes (Transcodierung) produzieren. Wie differenziert sich diese Frage nach der Hervorbringung des gesellschaftlichen Neuen konkret nachzeichnen lässt, und in welcher Weise diese Handlungsweisen von Jugendlichen in kulturellen Feldern zu strukturbildenden Praktiken werden, bliebe in der Folge weiterer Gegenstand einer sich diesen alltäglichen Handlungspraktiken und Aneignungsweisen öffnenden Jugendkulturforschung. Eines geht aus diesen Auseinandersetzungen jedoch deutlich hervor: das gesellschaftliche Neue zwingend als die Hervorbringung neuer rationaler Potenzialitäten aus der angestrengten Lösung von Struktur- und Krisenproblematiken zu definieren, birgt die Gefahr in sich, von spezifischen Feldern und Segmenten und ihren strukturbildenden Praktiken im gesellschaftlichen Gewebe nur die Hälfte zu verstehen, nämlich ausschließlich die dem rechnenden Denken hingewandte Seite von Gesellschaftskörpern. Gerade im Kontext der Jugendkulturforschung muss klar sein, dass man es mit einem Forschungsgegenstand zu tun hat, der sich nur hier und da auf der Ebene makropolitischer Dispositionen einordnen lässt und der mikropolitisch in spezifischen neu angeeigneten Räumen Dispositionen und Kräfte freisetzt, die nach dem anderen Auge und nach dem anderen Ohr verlangen. Eine Jugendkulturforschung, die eher normativ inspiriert auf erkennbare, beobachtbare und molar bzw. makropolitisch kategorisierbare und verwertbare Dispositionen und Potenzialitäten abhebt, bleibt auf dem einen Auge blind, auf dem anderen Ohr taub und verliert insgesamt ihren professionellen Anspruch, der im Verstehen ihrer Klienten liegen sollte. Hier hat sich Jugendkulturforschung vorrangig in lebensweltlich-ethnographischen Ansätzen eingenistet, und so ist es ihr zwar gelungen, einen Blick in unbekannte Lebenswelten frei zu machen, Sinn verstehende Aussagen zu jugendkulturellen Szenen und Handlungspraxen bleiben bis heute jedoch eher die Ausnahme. So bliebe zu empfehlen, dass sich zeitgenössische Studien zu jugendkulturellen Szenen und Handlungspraktiken weniger von ihrer Faszination und mehr vom Interesse am Sinn-Verstehen leiten ließen. So hat es auch diese Studie letztendlich nicht klären können, was Techno in seiner ganzen Fülle und Breite eigentlich bedeuten soll, sie hat aber aufzeigen können, welche Stellung Techno im gesellschaftlichen Gewebe einnimmt, was von Techno strukturell bedingt erwartet werden kann und was eben nicht. 160
Diese Studie versteht sich als ein Plädoyer für einen solchen Sinn verstehenden Zugriff auf die soziale Wirklichkeit jugendkultureller Handlungspraxen, indem rationale Potenzialitäten Jugendlicher in der Gestaltung von Welt nicht normativ induziert überprüft werden, sondern indem die Handlungen und Praktiken jugendkultureller Akteure bzw. Anhänger als Inseln solcher Aneignungs- und Auseinandersetzungsprozeduren anerkannt und entsprechend theoretisch wie methodisch behandelt werden. Dies erzwingt geradezu eine weitestgehende Offenheit und Unvoreingenommenheit im Auseinandersetzungsprozess. Unscheinbare und vermeintlich wenig aussagefähige jugendkulturelle Erzeugnisse und Fabrikationen sollten mehr als ein Ausdruck situierter Identitätsarbeit Jugendlicher ernst genommen werden. In einem ersten Zuge können solche Fabrikationen sehr blass erscheinen und vermeintlich weniger Fülle und Wirkimmanenz beinhalten als etwa Experten- oder Einzelinterviews, Gruppendiskussionen oder ethnographische Detailstudien. Oft erscheinen sie gar als verworrenes, plakatives und profanes Gestammel, aber gerade in ihrer Uneindeutigkeit, den uns der erste Blick auf solche Fabrikationen spendiert, können sich in einem zweiten Zuge höchst subtile Konstruktionen ausdrücken, die die Grenzen der Gesetze und Strukturen des Vorgefundenen auf eine ganz eigenartige Weise durcheinander bringen und in neue und unbekannte Strukturmomente überführen. Die soziale Wirklichkeit jugendkultureller Handlungspraxen ist gerade durch Brüche, Vieldeutigkeiten und insgesamt durch eine Lust an der Verfremdung und Umwandlung des Vorgefundenen geprägt; diese Diagnosen liegen schon lange Zeit vor und sind eigentlich auch gar nicht neu, sie wurden m.E. nur falsch interpretiert. Die konkrete methodologische und methodische Handhabung dieser vieldeutigen jugendkulturellen Bastelarbeiten darf nun aber gerade nicht in konventionellen und ‚stimmigen’ Erhebungsinstrumenten und uneindeutigen Auswertungsverfahren gerade gerückt werden. Insbesondere groß angelegte statistische Verfahren verführen hier und dort dazu, ihre Überzeugungs- und Geltungskraft in der Herstellung von Homogenitäten zu entfalten. Sie versprechen schlüssige und stimmige Bilder, in denen die ‚wirklichen’ Verhältnisse aber nur unzureichend nachgezeichnet werden. Oft stellen sie dort Homogenitäten her, wo eigentlich gar keine auszumachen sind. Gerade das scheint sie aber so attraktiv zu machen. Wenn Abhandlungen als eine höchst kampfeslustige Abrechung mit einem vermeintlich zu hoch gehangenen jugendkulturellen Phänomen, wie eben der Techno-Szene, daherkommen (vgl. Weber 1996), verliert sich nicht nur der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, sondern wird einer Politisierung jugendkultureller Szenen ungehemmt Vorschub geleistet. Dies läuft entgegen jeder nur denkbaren 161
selbstreflexiven Ansprüchlichkeit einer zeitgenössischen Jugendkulturforschung. Hält man an einem solchen Anspruch allerdings fest, gilt es im Rahmen von Studien, die sich das Verstehen jugendkultureller Szenen und Handlungspraxen auf die Fahne schreiben, konventionelle und etablierte Erklärungsmodelle stets zu hinterfragen und nicht zu bloßen Reproduktionsmaschinen werden zu lassen, die das Verschwinden des Immergleichen beklagen. Sinn- und Bedeutungswelten Jugendlicher werden gerade in den kulturellen Feldern immer undurchschaubarer. Bahnen und Linien, die auf diesen Feldern gezogen werden, nehmen immer dynamischere Eigenlogiken an, die oft nur noch unterirdisch auszumachen sind. Strukturlogisches Denken muss auch dissipativ und nicht-linear möglich sein. Konventionelle Erklärungs- und Verstehensmodelle tun sich zunehmend schwer damit, diese Vieldeutigkeiten und netzartigen Verknüpfungen erklärbar bzw. überhaupt noch sichtbar zu machen. Im besten Falle lassen sie uns in Grenzbereiche des Erklärbaren solcher jugendlichen Sinn- und Bedeutungswelten vordringen. Gegebenenfalls sollte der wissenschaftliche Anspruch jugendkultureller Studien selbst eher in der Gründung statt in der bloßen Begründung solcher Verstehens- und Erklärungsmodelle liegen. Etablierte methodische Verfahren an Grenzbereiche führen, Widersprüche, Vieldeutigkeiten und Verschiebungen von Semantiken nicht in ‚stimmige’ Bilder verwandeln, heterogene Praktiken in ihren strukturlogischen Besonderheiten erfassen, jugendkulturelle Formationen nicht nur an ihrer spektakulären Massenfront betrachten, sondern die Logik ihrer unterirdischen Unruheherde verstehen lernen; all dies könnten solche Ansprüchlichkeiten sein, die an eine zeitgenössische Jugendkulturforschung zu adressieren wären. Eine Jugendkulturforschung, die sich als professioneller Anwalt ihres Untersuchungsgegenstandes versteht, indem sie die Verhältnisse, die von ihrem Untersuchungsgegenstand zur Sprache gebracht werden, Sinn verstehend übersetzt, statt vor der Verworrenheit, Vieldeutigkeit und Untergründigkeit, die jugendkulturelle Handlungspraxen produzieren, zu kapitulieren bzw. mit vorschnellen und oft unzutreffenden Diagnosen aufzufahren. Jugendkulturelle Handlungspraktiken verlieren immer mehr ihre linearen Logiken, Gleichzeitigkeit wird zum Strukturmoment, eines geht aus und mit dem anderen hervor; produktive Basteleien, die nicht mehr nur auf einer Stil- und Ausdrucksebene zu behandeln sind, sondern als ein eigenlogisches Strukturprinzip, dem es weiterhin nachzugehen gilt. Und diese lassen sich nicht höchst offiziell artikulieren und kommunizieren, sie werden in den (narrativen) Alltagspraktiken jugendkultureller Akteure wirksam, sie bezeichnen untergründig und höchst subtil eine spezifische Eigenlogik bzw. einen spezifischen Modus der Auseinandersetzung 162
mit und Aneignung von Welt, der sich eben hier und da fluchtlinienartig konventionellen Sinngebäuden entzieht. Entgegen einer oft festzustellenden Politisierung von Jugendszenen auf einer makropolitischen Ebene kommt es also auch darauf an, Einblicke in die Sinn- und Bedeutungswelten Jugendlicher zu gewinnen, die sich auf einer mikropolitischen Ebene einer ästhetischen und symbolischen Politik der jugendkulturellen Finten und Listen hinwendet. Erst solche Einblicke erlauben begründet festzustellen, ob in der Tat vom tendenziellen Verschwinden jugendlicher Widerstands- und Protestkulturen und insgesamt vom Ende der Jugendkulturen auszugehen sei oder nicht. Gleichzeitig wiederentdeckt ein solcher Ansatz die ästhetischen und symbolischen Praktiken, die einstmals den zentralen Gegenstandsbereich der Cultural Studies gebildet haben, die aber zunehmend mehr aus dem Blick geraten sind. Es sollte deutlich geworden sein, dass Jugendliche sich ihre ganz eigenen Ausdrucksmedien schaffen, um das ausdrücken zu können, worum es ihnen geht. Es geht ihnen gerade auf den kulturellen, ästhetischen Feldern um die Sorge um ihr Selbst in der gegenwärtigen Weltstunde, und was „brauchen wir, um in dieser oder jenen Situation Herr unserer selbst zu bleiben? Wir brauchen >Reden<, logoi, d.h. wahre und vernünftige Reden (…) Das Rüstzeug, dessen wir bedürfen, um die Zukunft zu meistern, besteht in wahren Reden“ (Foucault 2007, S. 130). In solchen wahrhaften Reden, in die der Leser Einblick erhalten hat, werden keine großartigen neuen rationalen Potenzialitäten in der innovativen Gestaltung von Welt angeboten, ganz im Gegenteil betreffen sie nur das, „was wir in Bezug auf die Welt sind, was unser Platz in der Ordnung der Natur ist, in unserer Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von Ereignissen“ (ebd. 2007, S. 130). Dieser „Lust am Text“ (vgl. Barthes 1996) gilt es gerade im Verstehen diffuser jugendkultureller Felder nachzugehen, sie bezeichnet eine listenreiche und oft kunstvolle Praktik von jungen ‚Geschichtenerzählern’, die gerade darin ihren Ausdruck findet, im richtigen Moment, zur richtigen Zeit nicht das eine richtige Lebenskonzept zu wollen, sondern die entsprechenden wahren Reden parat zu haben, die in keiner Weise „eine Entzifferung unseres Denkens, unserer Vorstellungen, unserer Wünsche“ (Foucault 2007, S. 130) darstellen. Mit anderen Worten könnte man sagen, wird Welt erzählt, nicht entworfen, und in dieser Erzählung wird eine Welt und ein spezifisches Verhältnis zur ihr repräsentiert. Das Wesen eines neuen Denkens liegt nunmehr im Warten bzw. Nicht-Wollen (vgl. Heidegger 2004) oder Meditieren (vgl. Foucault 2007) und auch in diesem Fall auf ein Hoffen, dass „die Gedanken sich von selbst einstellen“ (Foucault 2007, S. 131). 163
Einer solchen Technologie des Selbst in der Sorge um das eigene Selbst, die ihren Ausdruck im Schreiben oder Erzählen einer Welt und des eigenen Selbst findet, gilt es in den edierten narrativen Praktiken von jungen Heranwachsenden weiter nachzugehen. Ein ideales Feld für solche kunstvollen narrativen Praktiken bietet das Internet in all seinen Chats, Foren, Blogs und Diarys; sie sind die Hinterbühnen auf deren Brettern junge Heranwachsende ihre Lebenskonzepte ausprobieren und ihr eigenes Selbst erfahren.
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8.
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