Dragon - Söhne von Atlantis Heft Nr. 48
Kampf am Spinnenfelsen
von Hans Kneifel
Durch seine kühnen Taten verhalf D...
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Dragon - Söhne von Atlantis Heft Nr. 48
Kampf am Spinnenfelsen
von Hans Kneifel
Durch seine kühnen Taten verhalf Dragon Vesta, dem Herrn der Elemente, der viele Jahrhunderte lang hilflos gefangen war, wieder zur rechtmäßigen Herrschaft. Dragon, der »Mann Schicksal«, wie ihn die getreue Wanderwolke Aerula-thane nannte, ist gewiß, daß der Herr der Elemente sein wiedererlangtes Amt nicht mißbrauchen, sondern zum Wohle aller Menschen von Danilas Welt ausüben wird. Nichts hält den Atlanter daher mehr – selbst nicht die verheißungsvolle Aussicht, an Vestas Seite über eine ganze Welt zu gebieten. Er will zurück nach Myra, wo Königin Amee auf ihn wartet. Aber schon vor seiner Rückkehr durch »das Auge der Götter« erfährt Dragon, daß die Zeitabläufe auf Danilas Welt und der Wert, die er wieder erreichen will, verschieden sind. Ja, es scheint, daß eine Zeitspanne von einem Monat auf Danilas Welt einem halben Jahr auf der Erde entspricht. Und er, Dragon, hat ein halbes Jahr auf Danilas Welt verbracht – also ganze drei irdische Jahre! Vieles ist in der Zwischenzeit auf der Erde geschehen. Throne wechselten ihren Besitzer, blutige Schlachten wurden geschlagen und Schicksale von Individuen oder von ganzen Völkern wendeten sich zum Guten oder zum Schlechten. Im folgenden geht es um das gemeinsame Schicksal Nabibs, des Händlers, Yinas, der Gedankenleserin, Kapitän Jaggars und der Besatzung der »Schwarzen Wellenreiterin«, der die Flucht aus Kartug glückte. Das Schiff wird jetzt von einem Phantom gelenkt – und sein Kurs führt unausweichlich zum KAMPF AM SPINNENFELSEN …
Die Hauptpersonen des Romans: Jaggar - Ein Kapitän verbrennt sein Schiff. Yina - Jaggars Frau vernimmt tödliche Gedanken. Nabib - Der Händler von Sodok lädt zum Gelage ein. Bartulok, Zimaron, Uli, Alrun und Haalbek - Besatzungsmitglieder der Schwarzen Wellenreiterin. Givara - Eine männerfressende Göttin.
1. Bartulok saß im Winkel seiner halbdunklen Kombüse, hatte die Knie angezogen und die dicken Arme um die Unterschenkel gelegt. Er blickte starr geradeaus. Das Licht, das durch die Rauchöffnung in den Raum unter Deck einfiel, ließ seinen kahlgeschorenen Schädel glänzen. Bei jeder Bewegung des schnell dahinschießenden Schiffes klapperten und klirrten die Talismane und Amulette, die Bartulok auf der Brust trug. Er saß still da und dachte nach. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, rief er seine Götter vom Unterlauf des Grünen Stromes an. »Bartulok!« Eine Stimme von oben. Er schrak aus seinen Überlegungen auf und rief zurück: »Hier bin ich, Nabib!« Nabib kam den Niedergang herunter. Er stolperte und rutschte. Endlich stand er schwankend vor dem dunkelhäutigen Koch der Schwarzen Wellenreiterin, der wie ein dunkles Untier in der Ecke kauerte. Nur die Augen schienen zu leuchten. »Warum bist du nicht … bei uns an Deck, Freund?« Nabib war angetrunken. Er war angesteckt worden von der allgemeinen Hochstimmung, die schlagartig am Morgen nach dem verhängnisvollen Nachmittag der Flucht durch das Labyrinth der Felsen ausgebrochen war. Sie waren alle mehr oder weniger betrunken. »Ich muß nachdenken!« murmelte Bartulok und rührte sich nicht.
Unsicher blinzelte Nabib von Thinayda ihn an. Er konnte kaum gerade stehen. »Ich bin der Eigner des Schiffes! Ich gebe die Befehle«, rief Nabib. »Und ich habe Befehl gegeben, sich zu freuen und zu trinken.« »Ich weiß es, Herr Nabib!« »Warum trinkst du nicht?« fragte Nabib vorwurfsvoll. »Die Götter des grünen Stromes haben es mir nicht erlaubt.« »Hier gelten meine Götter! Hier! Trink den Becher leer!« Nabib griff an den Gürtel, band den Krug los und schenkte den Becher voll. Er hielt ihn schwankend dem Koch entgegen. Roter Wein lief über seine Finger. Bartulok schüttelte den Kopf. »Nein.« »Seit heute morgen feiern wir die wunderbare Rettung. Wir haben das Ufer in Sichtweite. Wir haben die Weiße Göttin zu unserem Schutz. Warum trinkst du nicht, mein Freund?« Nabibs Stimme war weinerlich geworden. Bartulok, rund vierzig Sommer alt und überall in der Welt herumgekommen, erkannte das Problem des Händlers aus Sodok. Er war von der Weißen Göttin erschreckt worden und versuchte, seine Unsicherheit zu betäuben. Nachsichtig erklärte Bartulok: »Sieh, Mann aus Sodok, du bist ein guter Herr!« »Das will ich meinen. Ich zahle den Wein, den dreißig Männer saufen! Nur du nicht, Vater der Gewürze!« »Du bist ein guter Herr«, wiederholte Bartulok. »Aber ich darf keinen Wein trinken. Meine Götter werden mich strafen, und außerdem werde ich dann betrunken und koche wieder Dinge, von denen euch schlecht wird. Und dann bist du erregt und verärgert, zu Recht, wie ich sage. Deswegen muß ich dein Angebot abweisen, Herr Händler.« Nabib war zu betrunken. Er merkte den Sarkasmus nicht, mit dem der fette Mann sprach. Er warf ihm einen unsicheren Blick zu, trank den Becher halb leer und wandte sich wieder zum Niedergang. Unbeholfen tappte er hinauf und verschwand aus dem Blickfeld Bartuloks.
Sie sind alle verrückt geworden! dachte der Schiffskoch. Er war unübertroffener Meister im Zubereiten exotischer Mahlzeiten, aber inzwischen kannte er die Grenzen, die er nicht überschreiten durfte. Nicht einmal seine Lieblingsspeise konnte er auf diesem Säuferschiff braten: Fetter Hund, in allerlei Küchenkräutern gebraten, paniert und mit speziellen Gewürzen. Dazu eine dicke Pfeffersoße und Maisfladen. Sie mochten dies nicht. Aber saufen, das konnten sie! Verächtlich schüttelte er den Kopf und erhob sich aus seiner Haltung. Er war mittelgroß, aber er mußte sich bücken, um nicht gegen die geschlossene Lichtklappe zu stoßen. Was soll ich tun? Ich werde Jaggar fragen. Er ist, abgesehen von seiner Frau, der einzige, mit dem man sprechen kann. Das Schiff raste, von einem starken Wind getrieben, nach Westen. Es befand sich auf dem offenen Meer, aber backbords sahen sie immer noch das Ufer und die Berge. Tagsüber konnte man hin und wieder eine Rauchsäule entdecken, nachts brannten stechende Feuer wie tiefstehende Sterne dort drüben. Es war eine Fahrt von seltsamer Ungewißheit. Und ihr Ziel lag ja auch jenseits der unbekannten Engpässe vom Ende der Welt. Das war ein zweiter Grund, weswegen die Leute ihre Gedanken betäuben mußten. Sie alle waren unsicher und hatten Angst vor dem Unbekannten. Sie wußten nicht, was in den nächsten Tagen geschah. Und am meisten Angst schien Nabib zu haben. Bartulok bewegte sich vorsichtig am mittleren Mast vorbei. Hier lagen Zimaron, Uli der Starke und Alrun auf Seilbündeln. Sie schnarchten, und sie verbreiteten einen durchdringenden Geruch nach saurem Wein, Salzwasser und Schweiß. Bartulok schnalzte mit der Zunge, rollte die Augen zum strahlenden Himmel und ging weiter. Er sah Yina und Jaggar auf dem Achterdeck. Jaggar hielt das Steuer in beiden Händen, und Yina lag in einer windgeschützten Ecke auf Pelzen und Decken. »He, Käpten!« rief Bartulok. »Darf ich heraufkommen?« »Natürlich! Komm nur. Alle anderen sind betrunken. Was gibt
es?« Der Koch blieb neben dem Kapitän stehen, nachdem er Yina begrüßt hatte. Er deutete mit einer umfassenden Bewegung auf das Schiff und sagte anklagend: »Warum beendest du diesen Unfug nicht? Es gibt nur drei nüchterne Menschen auf dem Schiff!« Jaggar sah erschöpft aus, aber seine Kraft reichte noch einige Tage. Er hatte bisher nichts anderes getan, als das Schiff vor dem Wind laufen zu lassen und zu steuern. Es war, als würden unsichtbare Schutzgeister die Wellenreiterin sicher auf dem Kurs halten. »Ich kann es nicht, Koch. Wie soll ich etwas tun? Ich darf das Ruder nicht loslassen, und zum Beidrehen fehlen mir die Leute. Soll ich allein die Segel reffen? Kannst du mir sagen, was ich machen soll?« Wieder mußte Bartulok den Kopf schütteln. »Wie lange soll das noch gehen?« fragte er. Yina verfolgte alles, was an Bord vorging, schweigend, aber aufmerksam. Sie mischte sich auch jetzt nicht ein. Aber immer wieder blickte sie hinüber zum fernen Strand, als ob sie erwartete, die Weiße Göttin wieder zu sehen. »Nabib hat gesagt, er will ein dreitägiges Fest feiern!« erwiderte Jaggar. »Und heute ist erst der erste Tag!« jammerte der Koch und rollte die Augen. Er faßte in das Bündel seiner Zähne und Ohren, Knöchelchen und Samenbehälter, Metallplatten und farbigen Steine, die er an dünnen Lederschnüren um den Hals trug. Er überlegte. »Ich könnte ein Gericht kochen, das ihnen die Lust am Wein nimmt!« schlug er vor. »Das wäre eine Idee. Wir müssen sie nüchtern bekommen, sonst zerschellt das Schiff in der Nähe des Ufers.« Yina hob die Hand und rief: »Ich habe mit einigen gesprochen. Sie sagen, die Weiße Frau würde das Schiff weiterhin sicher führen.« »Unsinn!« schrie Jaggar wütend und glich mit dem Steuer eine
Bewegung des Rumpfes aus. »Ich bin es, der das Schiff führt.« Sie waren ratlos. Bis jetzt – nach der letzten Nachtwache hatte es begonnen – hatte es keinerlei Zwischenfälle gegeben. Wie von Zauberhand geführt, war das Schiff auf stabilem Kurs geblieben. Aber selbst Männer wie Zimaron waren vollkommen betrunken und nicht mehr in der Lage, einen Handgriff richtig auszuführen, ohne sich selbst zu gefährden. Unschlüssig trat der Koch von einem Fuß zum anderen. Schließlich sagte er: »Mehr als ein halber Tag ist vergangen, Kapitän. Morgen sollten sie alle wieder nüchtern sein.« »Das wird Nabib nicht gefallen, Koch!« »Soll ich den restlichen Wein über Bord werfen?« »Nein, laß das! Er ist Nabibs Eigentum – und meines. Ich glaube, du solltest ein Gericht von der Art vorbereiten, von der du gesprochen hast.« »Einverstanden! Ich mache mich gleich an die Arbeit. Oder soll ich dich am Steuer ablösen?« »Nein!« sagte der Kapitän. »Ich werde das Steuer festbinden und die Segel abschlagen.« »Wenn du mich brauchst, rufe einfach.« »Gut!« Bartulok verließ das Achterdeck. Er ging wieder hinunter in den Raum zwischen dem Bug und den drei Masten. Mehr als zwei Dutzend Männer hatten sich teilweise um den Weinschlauch und das Faß versammelt. Sie tranken aus Lederbechern, aus Holzbechern oder aus Pokalen; und alle waren im gefährlichen Stadium der Trunkenheit. Eine harte Hand legte sich auf die Schulter des Kochs. »He, Bart!« sagte eine lallende Stimme. Langsam drehte sich Bartulok herum und starrte in das triefäugige, unrasierte Gesicht Haalbeks. Der Segelmacher krallte sich an einem Tau fest und schwankte entgegengesetzt der Schiffsbewegung. Sein Gesicht hatte eine grüne Farbe angenommen. Bartulok wußte, daß der kleine,
schmächtige Mann – einer der »Zwillinge« – so gut wie nichts vertrug. »Ja?« erwiderte er unwillig. »Ich habe Hunger! Hast du nichts … hup … dort unten?« »In ein paar Stunden gibt es für euch Saufbolde eine heiße Suppe!« sagte der Koch grimmig. Er war seinen Kameraden gegenüber in einem Dilemma. Einerseits verachtete er Säufer, andererseits mochte er sie – denn er kannte sie, wenn sie nüchtern waren. Alles gute Männer. Aber im Augenblick waren sie sich selbst die schlimmsten Feinde. »Heiße … Suppe. Gut! Aber nicht wieder gehackte Schlangen oder …«, der Rest des Satzes verlor sich im Gemurmel, als der Segelmacher weitertorkelte, sich an die Reling klammerte und sich würgend erbrach. Grimmig grinste der Koch. Er versetzte dem blonden Hünen Uli einen Tritt in die Seite, aber der Bootsmann wachte nicht auf. Er grinste nur verklärt und legte sich auf die andere Seite. Nabib hockte in den untersten Wanten, hatte sich mit seinem breiten Gürtel an das Tau festgebunden, schwenkte seinen leeren Becher und grölte ein altes Lied aus Sodok. »Du wirst herunterfallen und dir das Genick brechen, Handelsmann!« schrie der Koch. »Die Weiße Frau wird mich auffangen, haha!« schrie Nabib zurück und lachte wie ein Narr. »Armer Jaggar!« knurrte Bartulok. »Arme Wellenreiterin!« Er verschwand in seiner Kombüse. Sein Groll wuchs mit jedem Schritt. Jetzt haßte er sie, weil sie ihn, Yina und Jaggar allein ließen. Während er vorsichtig die Lehmschicht vom Feuerrest entfernte, Holz und Späne nachlegte und nachsah, ob genügend Löschwasser neben dem Herd stand, schwor er sich, ihnen allen eine Suppe zu kochen, an die sie sich noch jenseits des Endes der Welt fühlbar erinnern würden! Er begann damit, daß er mehrere Liter Trinkwasser mit einem gehörigen Schuß Seewasser vermischte und in den schweren, an Ketten hängenden Kupferkessel schüttete. Das Feuer wurde
mächtiger und heißer, und er öffnete die Luftklappe über dem Tisch. Dann suchte er die Zutaten zusammen. Als er an den Geschmack der fertigen Suppe dachte, mußte er lachen. Es war ein grimmiges, humorloses Lachen. * Er öffnete vorsichtig die Augen. Er wimmerte voller Angst auf, als er den geteilten Himmel über sich erkannte. Es war früher Abend, und genau im Zenit teilte sich das Firmament. Von Nordosten schob sich eine blauschwarze Wolkenwand heran. Der Rest des Firmaments bis zum südwestlichen Horizont war dunkelblau. Die Sonnenscheibe stand drei Handbreit über dem Wasser. Noch immer waren die Segel prall und gestrafft. »Beim Weißen Wolf! Was habe ich getrunken!« stöhnte Zimaron auf. Er hob einen Arm vor die Augen; das Licht war zu grell. Rings um ihn schien ein Geräuschorkan zu toben. Jeder Laut in seiner Umgebung war dröhnend, schrill, klirrend oder heulend in seinen Ohren. Er stützte sich mit seinen langen, affenähnlich behaarten Armen auf und bewegte unruhig die kantigen Schultern. »Beim menschenfressenden Mond!« gurgelte er und schüttelte seinen Kopf. Ihn schwindelte. Der Geist des Weines hackte in seinem Kopf herum wie ein Specht. Jeder Pulsschlag schmerzte unter den langen, braunen Haaren. Endlich, nach vielen tiefen Atemzügen und drei fruchtlosen Versuchen, gelang es dem Steuermann, sich halb aufzusetzen und an den Großmast zu lehnen. Ein kalter Wind pfiff durch die Takelage und ließ ihn frösteln. Zimaron, mit gewaltigen, fast nichtmenschlichen Körperkräften ausgestattet, hatte seinen Rausch als erster überwunden. Nein, nicht überwunden, sondern der Schlaf hatte ihn ein wenig ernüchtert. Er begann sich zu schämen, gleichzeitig erwachte in dem Mann aus dem Land der Wolfsmenschen die Wut über sich selbst. »Ich komme, Jaggar!« brummte er und stemmte sich hoch. Die stahlharten Finger mit den abgebrochenen Nägeln krallten sich an
die dicken Tauringe, die um den Mastfuß lagen. Endlich stand er da, schwankte und umklammerte den dicken Mast. Seine dunklen Augen waren blutunterlaufen. Wieder legte Zimaron den Kopf in den Nacken und blickte in den Himmel. »Ausgerechnet der Megastral!« knurrte er. Kaum ein Wind der Großen See war ihm unbekannt. Aber der Sturmwind, der aus den unbekannten Eisländern kam, durch die breite Flußmündung fuhr und über die See raste, bis er in den Dünen irgendwo dort hinten verendete. Die Wolken bedeuteten, daß in wenigen Stunden ein Sturm ausbrechen würde. »Beim Weißen Wolf! Was habe ich getrunken«, wiederholte er. Zimaron holte tief Luft. Vor seinen Augen begannen sich Schleier zu drehen. Er klammerte sich an allem fest, was er erreichte. Schließlich taumelte er die breiten Stufen zum Achterdeck hoch. Jaggar blickte ihn an, als sähe er die Weiße Göttin ein zweites Mal. »Du, Zimaron? Bist du etwa nüchtern geworden?« »Ja, Kapitän. Ich könnte mich selbst prügeln«, keuchte Zimaron. »Soll ich das Ruder …?« »Später! Siehst du die Wolken?« »Deswegen bin ich hier!« »Gut. Wir lassen nur das Vorsegel oben. Der Rest muß herunter. Nimm das Ruder, und ich werde die Segel übernehmen.« »Aye, Käpten!« Jaggar ging mit keinem weiteren Wort auf Zimarons Zustand ein. Aber die Wut, die der Steuermann über sich selbst fühlte, war Strafe genug. Die beiden Männer wechselten die Griffe um das Ruder, und Jaggar sprang nach unten. * Die eine Hälfte der Männer war betrunken und behinderte den Kommandanten, die Segel loszuschlagen und so gut zu reffen, wie es möglich war. Doch Jaggar wurde grob und rücksichtslos. Er
schaffte es, das riesige Segel des hintersten Mastes zu lösen und festzuzurren. Einige Faustschläge hatten die Männer zur Seite geschleudert. Die andere Hälfte schlief oder war unfähig, sich auf den Beinen zu halten. Die Geschwindigkeit des Schiffes nahm nicht ab, denn der Wind war heftiger geworden. Der Megastral, der zumeist drei volle Tage lang seine ungebrochene Kraft behielt, kam schnell heran. Aber noch war der Sturm nicht losgebrochen. »Zimaron!« brüllte Jaggar und zog sein Messer. »Ja? Was gibt's?« »Geh aus dem Wind! Ich kriege das Tauwerk nicht los!« »Wird gemacht!« schrie Zimaron zurück. Er war froh, wieder einigermaßen handeln zu können. Seine robuste Natur wurde mit den Nachwirkungen des Weinrausches schnell fertig, aber trotzdem fühlte er sich alles andere als wohl. Während er das Schiff vorsichtig aussteuerte, sah er, daß die Segel zu flattern und zu schlagen begannen. Jaggar arbeitete wie ein Rasender, immer wieder unterbrochen von Betrunkenen. Er fluchte, stieß die Männer zurück und wußte, während er Seile durchschnitt und Knoten aufriß, daß die eigentliche Gefahr noch bevorstand. Der Sturm würde gleichzeitig mit der Dunkelheit kommen. Und er würde das Schiff wieder in die Richtung der felsigen Ufer treiben. Jaggar schaffte mit der Kraft eines Gehetzten auch das zweite Segel. Jetzt nahm die Fahrt des Schiffes ab. Jaggar hastete weiter. Die Schwärze bedeckte jetzt schon zwei Drittel des Himmels. Die Sonne nahm einen bösen, schwefelgelben Glanz an. Jaggar verkleinerte die Fläche des dritten Segels und befestigte die Taue wieder. »Zurück in den Wind! Und steure hinaus aufs Meer!« brüllte er und sprang im Zickzack über das Deck. Rauch und merkwürdige Gerüche schlugen ihm aus der Luftöffnung der Kombüse entgegen. Habib hing halb schlafend in den Wanten und lallte undeutliche Worte vor sich hin. Zimaron hatte nicht gemerkt, daß Yina neben ihn getreten war
und sich am Balken des Ruders festhielt. Das Schiff lag schräg und strebte von der Küste fort. Immer wieder tauchte der Bug ein, riesige Wellen sprangen auf und überschütteten das vordere Drittel mit Gischt und Wassertropfen. »Zimaron? Du spürst es auch, nicht wahr?« fragte sie durch das Heulen des Windes. In der schwarzen Fläche wetterleuchtete es. Überrascht drehte sich Zimaron herum und blickte auf Yina herunter. »Woher …?« fragte er, aber dann sah er das wissende Lächeln der jungen Frau. Sie erwiderte: »Ich weiß es aus deinen wirren Gedanken. Du bist aufgewacht, weil du diese unheimliche Macht gespürt hast. So wie ich!« So war es, mußte er sich eingestehen. Sein Verstand beschäftigte sich mit Wind und Wellen und nicht viel anderen Dingen, aber jetzt, als Yina es erklärt hatte, verstand Zimaron. »Ich habe sie gewarnt! Auch Nabib!« sagte er düster. »Aber sie hören nicht. Weder auf Jaggar noch auf mich. Etwas zwang sie, zu trinken und zu feiern. Sie denken, die Weiße Göttin wird Ihnen helfen.« Yina nickte und sah hinunter zu Jaggar, der Nabib losband und ihn sich über die Schulter warf. Er schwankte einem Niedergang zu. Die Betrunkenen und die Schlafenden mußten unter Deck, sonst riß sie der Sturm ins Meer. »Nabib ist am schlimmsten betroffen!« »So ist es, Yina!« Zugleich mit einem kreideweißen Blitz, der irgendwo ins Wasser schlug, krachte ein verheerender Donnerschlag über das Wasser. Der Wind begann unvermittelt zu heulen. Das Schiff holte schwer über, und Jaggar wurde mitsamt seiner Last in den Niedergang geschleudert. Ein schlafender Mann, es war einer der Zwillinge, rutschte quer über das Deck und schlug gegen die Reling. »Ist es die Weiße Göttin? Führt sie uns? Zieht sie das Schiff mit magischer Kraft in ein geheimnisvolles Reich?« Yina wußte, daß annähernd die gleichen Gedanken in allen
Köpfen spukten. Aber sie wußte nicht, worauf sich diese Gewißheit stützte. Sie selbst hatte nur den Eindruck, daß das Grauen mit dem Schiff segelte. Aber von einer Botschaft der Weißen Göttin, und wäre sie noch so nebelhaft gewesen, wußte sie nichts. Vor einem Tag war die Weiße Frau erschienen – und seit dieser Zeit glaubte die Besatzung an dieses Wunder. »Nein!« schrie Yina gegen den Sturm an. »Ich weiß nichts davon.« Sie griff nach einem dünnen Tau, schlang es sich um die Hüften und turnte abwärts, um Jagger zu helfen. Der schneidende Wind trieb das Schiff. Ein einziges, auf die Hälfte gerefftes Segel genügte, um die Wellenreiterin durch die aufgewühlten Wellen zu jagen. Die Masten deuteten schräg nach Backbord. Die Blitze schlugen rund um das Schiff ein. Ununterbrochen krachten Donnerschläge. Die ersten Regentropfen knatterten in das Segel. Zimaron duckte sich. Das letzte Sonnenlicht schwand. Yina versuchte, unter Deck einige Laternen anzuzünden und aufzuhängen, aber sie schaffte nur ein einziges Licht. Der Steuermann wußte, daß jetzt eine schwere Nacht kommen würde. Nur drei Personen, oder vier, wenn Bartulok nichts getrunken hatte, mußten das Schiff führen. Aber sie würden tun, was sie konnten. Zimaron klemmte das Ruder unter die Achsel, ergriff ein Tau und band sich an beiden Seiten des Hecks fest. Der Tanz durch die Wellen begann. Das Schiff wurde in die Wellentäler hineingedrückt, legte sich schwer über, schoß wieder nach oben und verharrte dort. Dann packte der Sturm zu, schleuderte die Wellenreiterin nach vorn und nach unten. Wasser ergoß sich über Deck, riß Tauwerk mit sich, floß seitlich wieder ab. Furchterregende Dunkelheit ohne jeden Stern senkte sich über das Wasser. Dann begann der Regen. Er war eiskalt, und die furchtbare Wucht, mit der die Wassertropfen fast waagrecht durch die Luft geschleudert wurden, machte sie zu gefährlichen Geschossen. Sie prasselten gegen den ungeschützten Rücken Zimarons, durchnäßten binnen weniger
Augenblicke die Segelleinwand und machten die Planken rutschig. Ein leerer Weinschlauch flog in die Finsternis davon. Brecher rollten über Deck und verschwanden. Das Schiff hob und senkte sich, stieß tief in die Wellen hinein und steuerte einen wilden Kurs durch die Täler und Wellenberge. Nichts mehr schien fest zu sein, es gab weder Landmarken noch einen einzigen Stern. Nur eine brüllende, sturmerfüllte Dunkelheit, durch die das Schiff gesteuert wurde. Yina half Jaggar, die Leute unter Deck zu bringen. Es gab Beulen, Schnitte und blaue Flecken. Aber zusammen schafften sie es, die Besatzung wenigstens aus dem Bereich des Sturms und der Wassermassen zu schleppen. Jaggar verkeilte einige Luken und drang dann unter Deck bis zum Koch vor. »Es ist aussichtslos!« jammerte Bartulok und löschte das Feuer. »Die Suppe klebt in der ganzen Kombüse.« »Bleibt hier!« ordnete Jaggar an. »Bleibt unter Deck, Yina. Ich gehe hinauf zu Zimaron und versuche, ein zweites Mal das Unglück zu besiegen.« »Ich kann dir nicht helfen?« »Du hilfst mir am besten, wenn du hierbleibst!« Er zog sich den Niedergang hoch, warf die Luke zu und kämpfte sich gegen den Sturm bis zum Ruder. Auch er band sich fest und griff dann nach dem Ruder, das mitsamt Zimeron vom aufgewühlten Wasser hin und hergerissen wurde. »Der Sturm wird drei Tage dauern, Jaggar!« schrie der Steuermann. Das Wasser rann an ihnen herunter. Die Regentropfen wirkten wie geschleuderte Kieselsteine. Die Männer froren und schwitzten zugleich. Die Brecher, die sich überschlugen, der heulende Sturm, der Donner und das knarrende Schiff – man hätte eine Besatzung von dreißig Männern gebraucht, um richtig segeln zu können. Mehr oder weniger hilflos trieb das Schiff dahin. Sie kannten nicht einmal die Richtung, in die sie gejagt wurden.
»Das kann ich nicht glauben!« brüllte Jaggar zurück. Er war nur noch daran interessiert, diesen Kampf gegen die Elemente zu gewinnen. Mit oder ohne Hilfe der Weißen Göttin. »Morgen ist es nicht mehr so hart. Dann gibt es wieder Licht!« Jaggar lachte sarkastisch. Es war nicht der erste Sturm dieser Art, den er zu besiegen trachtete. Er hatte auch keine Götter oder Wunder nötig, nur sein Können, ein gutes Schiff und eine starke Mannschaft. Aber jetzt war er so gut wie allein. Fluchend klammerte er sich ans Ruder und versuchte, nur sein Ziel im Auge zu behalten. Stundenlang dauerte dieser wahnsinnige Tanz. Der Megastral blies ununterbrochen in gleicher Stärke. Der Regen hörte auf und kam wieder. Das Gewitter mit den knatternden Blitzen zog zweimal über das Schiff hinweg und hörte dann auf. Die Wellen blieben so hoch wie seit Einbruch der Dunkelheit. Zimaron und Jaggar munterten sich gegenseitig auf und halfen einander. Das Schiff behielt den Kurs, den sie segelten, aber wenn der Wind drehte, konnten sie schon jetzt in gefährlicher Nähe der Ufergewässer und der Felsen sein. Die beiden Männer waren zu erschöpft, um Stunden zu zählen oder nachzudenken. Sie handelten, wenn die Wut der Elemente es erforderte. Sie versuchten, das Schiff zu retten. Sie arbeiteten wie Untote, die einem sinnlosen Befehl gehorchten und nicht aufhören konnten. Gegen Morgen, als der Regen wieder einmal aufhörte, die Wolken aufrissen und einen fahlgrauen Himmel zeigten, sagte Zimaron mit heiserer Stimme: »Wir sollten an Land segeln, Käpten. Den Sturm in einer Bucht abwarten!« Jaggar ließ seine müden Augen umhergehen. Er sah überall nur Wasser. Weder einen Felsen noch ein entferntes Ufer. »Finde eine Bucht, und ich werde dort ankern.« Der Steuermann deutete nach vorn. »Geh hinunter, Kapitän. Schlaf ein paar Stunden. Iß etwas, und
dann löse mich ab. Das Segel hat die Nacht ausgehalten!« »Einverstanden, Zimaron.« Jaggar schleppte sich unter Deck. Jeder Muskel und jeder Knochen schmerzten. Seine Haut war wundgeschlagen vom Regen und brannte vom salzigen Wasser. Außerdem hatte ihn ein kalter Schauer gepackt und schüttelte ihn. Er erreichte die Kombüse, wo der Koch Yina im Arm hielt, und versuchte zu schlafen. Es stank nach verschütteten Gewürzen. »Gib mir etwas zu essen!« murmelte Jaggar mühsam. »Und dann bringe Zimaron etwas Nahrhaftes!« Er ließ sich auf einen halbgefüllten Sack fallen und schlief fast augenblicklich ein. Mit unendlicher Mühe schnitt Bartulok Schinkenstreifen, Brotwürfel und Stücke aus Früchten, mischte irgendwelche Essenzen mit Wein und Wasser und fütterte den Kapitän. Yina half ihm dabei, aber die stampfenden Bewegungen des Schiffes verhinderten jeden Versuch. »Was tun die Betrunkenen?« murmelte Jaggar undeutlich, während er die letzten Brocken herunterschlang. »Sie schlafen. Aber sie sind unruhig und sie reden noch immer von der Weißen Frau!« Jaggar hörte die letzten Worte nicht mehr. Er war in eine halbe Bewußtlosigkeit versunken. Bartulok machte sich daran, Zimaron zu versorgen. Aber es dauerte fast eine Stunde, bis er es schaffte, dem Steuermann Braten und Brotstücke auf das nasse Achterdeck zu bringen. Noch immer wütete der Sturm und schleuderte das Schiff wie einen Spielball umher. Die Sonne ging unsichtbar hinter den schwarzen Wolken auf und kletterte höher. Es wurde nur um ein weniges wärmer. Der schneidende Wind wütete nicht nur auf dem Wasser, sondern riß auch den letzten Rest von Wärme aus der Haut von Zimaron und Jaggar, die sich abwechselten. Zwei Tage lang trieb das Schiff dahin. Zweimal Nacht, zweimal Sonnenaufgang, ununterbrochener Sturm. Ununterbrochener Kampf der erschöpften Männer mit dem
Steuer. Das Segel hielt noch immer; dies war das eigentliche Wunder. Weder Zimaron noch Jaggar dachten an die nächste Stunde. Sie waren unfähig. Sie kämpften nur noch wie Träumer. Das Schiff trieb führerlos vor dem Wind dahin. Nach Westen. Oder Nordwesten. Oder vielleicht auch Südwesten. Aber sie sahen keine Vögel, die auf Landnähe hingewiesen hätten. Am Mittag des dritten Tages hörte der Sturm binnen weniger Augenblicke auf. Er hatte seine Wut erschöpft. Eine Stunde später war keine einzige Wolke mehr zu sehen. Das Meer beruhigte sich etwa in der gleichen Zeit. Das Segel hing plötzlich schlaff herunter. »Flaute!« röchelte Jaggar und hing wie ein Stoffetzen über der Ruderpinne. »Zwei oder drei Tage, Käpten!« flüsterte Zimaron. »Jetzt können wir schlafen!« »Und die anderen können weitertrinken. Was ist nur in Nabib gefahren?« lallte Jaggar und löste den Knoten. Er fiel auf das nasse Deck, rollte in einen Winkel und schlief ein, als habe man ihn betäubt. * Eine absolute Windstille herrschte. Das Meer war spiegelglatt. Die Wellen, die von kaum spürbaren Windstößen herrührten und bizarre Muster auf der glatten Fläche bildeten, waren nicht einmal einen Fingerbreit hoch. Die Mittagssonne brannte fast senkrecht herunter. Es war schon jetzt, keine drei Stunden nach Ende des Sturmes, unerträglich heiß. Das nasse Holz dampfte, und überall begannen sich weiße Salzkrusten abzusetzen. Kapitän Jaggar lag auf dem Rükken und schlief. Sein Mund stand offen, Salz war auch in seinem Haar und seinem Bart. Er lag wie tot da. Auf der anderen Seite des Achterdecks lag Zimaron. Auch er
schlief tief und traumlos. Seine Stiefel dampften ebenso wie das Deck. Die Haut beider Männer war voller Schnitte und Risse, voller Beulen und Schorf. Das Salz brannte in den unzähligen kleinen Wunden. Zuerst erschien, taumelnd, blaugeschlagen und unausgeschlafen, Yina auf dem Deck. Sie stemmte die verkeilte Luke hoch und sah sich um. Das Schiff dümpelte leicht in dem stillen Wasser, bewegte sich kaum. Aber als Yina in die Richtung des Hecks blickte, sah sie trotzdem eine deutliche Heckspur, die sich im spitzen Winkel bis zum Horizont fortsetzte. »Bartulok!« rief sie leise. Der dunkelhäutige Koch schob seinen massigen Oberkörper aus der Luke und lächelte breit. »Ja? Der Sturm ist vorbei!« »Hilf mir. Sie verbrennen sich sonst die Haut! Und dann koche etwas für die ganze Mannschaft!« Sie gingen zum Achterdeck. Dort legten sie Felle und Decken aus und wälzten die zwei Männer darauf. Daraufhin holten sie Leinwand, banden sie an den vier Enden zu langen Zipfeln und spannten eine Art Sonnensegel aus. Der Koch sah, daß in den nächsten Stunden kein Sturm mehr aufkommen würde, und er ging wieder zurück in seine Kombüse und fand unter den dicken Schichten aus Asche und Lehm noch ein daumengroßes Stück weißer Glut. »Es ist unheimlich«, murmelte er, während er den Kessel putzte, Trinkwasser holte, seine Nahrungsmittel aus Tonnen und Säcken zusammensuchte und sich über die Ruhe des Schiffes freute, »kein Wind, und das Schiff bewegt sich. Und gleich werden die anderen aus den Löchern kriechen und weitersaufen!« Er hatte recht. Was auch immer sich unter Deck abgespielt hatte, jetzt erwachten die Männer aus ihrem unruhigen Schlaf und tappten an Deck. Nabib war der erste. Er trug einen vollen Weinschlauch um den Hals und sang eine neue Strophe seines unanständigen Liedes aus Sodok.
2. Sechsundzwanzig Stunden lang schlief Jaggar. Als er aufwachte, fühlte er sich wie zerschlagen. Er sah, daß der Platz neben ihm leer war. Und er hörte, kaum daß er wieder zu sich gekommen war, das Grölen und Johlen der Besatzung. Was war mit dem Schiff geschehen? Er stand auf. Im Augenblick war er allein. »Ich weiß«, murmelte er, »wo ich bin. Ich weiß, wo das Schiff ist, aber mehr weiß ich nicht. Und ich habe Hunger.« Er blickte die Ruderpinne entlang, ging zur Heckreling und sah schweigend hinunter. Der erste Schock dieses Tages traf ihn. Jaggar wirbelte herum. Ihm schwindelte, aber als sich sein Blick wieder klärte, sah er, daß das Segel schlaff nach unten hing. Es war noch immer windstill, wie zu dem Augenblick, als er förmlich zusammengebrochen war. Aber hinter dem Heck breitete sich die Spur aus, die anzeigte, daß das Schiff trotz der Flaute Fahrt machte. Die Spur entsprach einer mittleren Geschwindigkeit bei leichtem Wind. »Yina!«rief er. Langsam drehte er sich wieder zurück. Das Schiff lag unter seinen Augen. Er sah seine Männer. Sie bevölkerten das Deck in allen Stellungen und in allen Phasen der Trunkenheit. Habib saß wieder in den Wanten und schwenkte singend den Becher. Yina stand neben dem Koch, der einen rußigen Kessel auf einen Bock gestellt und dicke Suppe mit Fleischstücken ausgegeben hatte. Jetzt wandte sie sich um und lief Jaggar entgegen. Er breitete die Arme aus und drückte sie fest an sich. »Du hast geschlafen wie tot«, sagte sie. »Ich habe dich abgewaschen und Salben auf deine Haut getan. Nur rasiert habe ich dich nicht. Jaggar – sie sind schon wieder betrunken!« Zimaron und Bartulok, Yina und er: nur vier von dreiunddreißig
Menschen waren nicht dem Teufel der Trunkenheit verfallen. »Yina, Liebste – ich bin noch halb bewußtlos. Ich sehe, daß wir im Augenblick nichts zu tun haben. Ich muß erst wieder zu mir kommen. Zuerst brauche ich ein Bad!« »Zimaron wird dir helfen!« »Darauf warte ich. Er war großartig. Er hat gekämpft wie ein Löwe.« Er küßte sie lange und hingebungsvoll. Dann warf er eine Jakobsleiter über Bord, band sich ein Seil um den Körper und sprang ins Wasser. Sein Sprung wurde von den Betrunkenen mit Schreien und Gelächter begrüßt. Grimmig schwamm er einige Runden und fühlte sich erfrischt. Auch die ziehenden Schmerzen verschwanden aus seinem Körper. Während er schwamm und sich gleichzeitig reinigte, dachte er nach. Er würde sich zuerst stärken, dann erst konnte er dieses lange Freudenfest beenden. Schnell und gründlich. Er kam zurück, trocknete sich ab und rieb sich mit Öl ein. Er rasierte sich und zog sich frische Kleidung an. Die Hitze lastete schwer auf dem Schiff, und der kaum bemerkbare Fahrtwind kühlte die Haut nur mäßig. Von der reichlich gewürzten Suppe aß Jaggar mehrere Näpfe voll – es war wieder eine der rätselhaften Schöpfungen des amulettbehängten Kochs vom Grünen Strom. Anschließend fühlte sich Jaggar stark genug, um sein Vorhaben durchzuführen. »Bewaffnet euch!« raunte er Zimaron und Bartulok zu. »Vielleicht brauchen wir es.« Er holte seine Waffen und ging dann auf die erste Gruppe zu, die um den mittleren Mast saß und becherte. Hinter Uli dem Starken blieb er stehen und setzte die Spitze des Stiefels auf die Schulter des blonden Bootsmanns mit den strahlenden blauen Augen. »Uli!« sagte er drohend. »Ich bin der Kapitän. Der Kapitän fragt dich, warum du seit Tagen säufst, als wolltest du dich selbst umbringen. Die grauen Götter deiner Eisländer sind auch nicht für die Trunksucht!«
Uli richtete sich langsam auf und stemmte die Hände in die Seiten. Er schwenkte nach beiden Seiten und nach vorn und hinten. Jaggar ging einen Schritt zurück, um der stinkenden Wolke aus Atem und Weindunst zu entgehen. »Ich trinke, weil Nabib uns auffordert. Wir feiern unsere Rettung!« »Ich befehle dir, sofort aufzuhören! Das Schiff braucht eine Mannschaft, die nicht über Bord fällt!« Uli kicherte und hob die Schultern. Die Mannschaft wußte, daß er aus dem Land westlich der Eisländer geflüchtet war, weil er die Blutrache eines Fürstengeschlechtes fürchtete. Er hatte einen Fürstensohn im Streit um eine Frau erschlagen. »Du hast mir nichts zu befehlen, Jaggar. Nabib ist unser Herr!« »Ich werde Nabib ins Wasser werfen, damit er den Wein ausschwitzt!« verkündete Jaggar und packte Uli an der Schulter. »Ich habe nichts gegen einen Becher Wein, aber was ihr getan habt, war Verrat und obendrein halber Selbstmord. Wir hätten gleich die Wellenreiterin versenken können!« Uli schlug dem Kapitän krachend auf die Schulter, lachte schallend und rief: »Die Weiße Göttin wird uns sicher an allen Klippen vorbeiführen. Wir sind sicher! Wir brauchen nicht einmal einen Steuermann!« »Aber der Sturm in den letzten Nächten – wir hatten zwei Männer am Steuer. Das Schiff wäre gekentert, du Narr!« Die anderen verfolgten den Redewechsel mit gelangweilten Gesichtern. Haalbek lachte unaufhörlich. Jaggar sah ein, daß man mit Betrunkenen schlecht sprechen konnte. Sie waren weder seinen Befehlen noch Vernunftsgründen zugängig. »Sturm? Ich habe keinen Sturm gesehen!« Uli strahlte Jaggar an. Die düstere Stimmung, die ihn sonst kennzeichnete, war restlos verschwunden. Seine Heiterkeit steckte an. Jaggar fluchte lautlos. So oder ähnlich würde es bei allen übrigen Männern sein. »Ich habe eine Möglichkeit, euch binnen einem halben Tag nüchtern zu machen«, sagte er so laut, daß es alle hören konnten.
»Ich habe eine Möglichkeit, in ein paar Stunden wieder lustig zu sein!« schrie Nabib von seinem luftigen Sitz herunter. »Ich werde den Wein in einen Laderaum verschließen. Und wenn ihr eindringt, dann schütte ich ihn ins Wasser.« »Das ist mein Wein!« rief Nabib zornig. »Und es ist unser aller Leben. Und dein Schiff, du betrunkener Narr!« schrie Jaggar zurück. »Schluß jetzt! Ich mache ernst!« Während sie stritten, wurde die Wellenreiterin von einer unsichtbaren Kraft angezogen und bewegte sich, als hinge sie an einem Zugseil, durch das stille Wasser. Jaggar wußte das, und deswegen war er derartig wütend. »Ist denn bisher etwas passiert?« schrie Nabib herunter. Jaggar ging, die Hand am Dolchgriff, auf die Wanten an der Steuerbordseite zu und blickte nach oben. Dort saß sein Freund, war betrunken und redete Unsinn, obwohl er die Warnung gehört hatte – die Warnung, die Yina ausgesprochen hatte. »Nichts ist passiert. Aber das haben wir nicht dem Wein zu danken, du gewissenloser Händler!« »Nein! Der Weißen Frau, die uns führt!« Ehe Jaggar antworten konnte, unterbrach ein schriller Schrei die murmelnde Unterhaltung. Jaggar fuhr herum; es war die Stimme seiner Frau gewesen. Sie stand neben Zimaron und deutete wieder nach Backbord. »Die Weiße Göttin!« brüllte der Koch in panischer Furcht. Jaggar duckte sich unter dem schlaffen Segel hindurch und blickte in die Richtung, in der er das Ufer vermuten mußte. Dort ging ein erstaunlicher Wandel mit dem Meer vor. Augenblicklich verstummten alle Unterhaltungen. Die Männer rannten quer über das Deck und hielten sich an der Reling fest. Selbst Nabib kam herunter. Alle blickten nach Süden. An einer Stelle schäumte das Wasser hoch auf. Vielleicht zwanzig Bogenschüsse weit entfernt. Etwa so weit wie vor einigen Tagen, als die Weiße Göttin auf dem Felsen zum erstenmal erschienen war.
Das Meer bildete eine Art Hügel, rund, wie ein umgedrehter Kessel. Auf der Spitze des Hügels aus Gischt und Schaum stand die Weiße Frau. »Sie ist es, tatsächlich!« murmelte Jaggar und griff unwillkürlich an sein Schwert. »Sie hilft uns! Sie führt uns sicher dorthin, wohin wir wollen!« schrie Nabib auf. »Zu dem Strand, wo wir das Elixier finden!« »Halt's Maul!« knurrte Jaggar. Der weiße Schemen war wieder sichtbar geworden. Aber dieses Mal griff Yina an ihren Kopf und zuckte zusammen. Ihr Körper krümmte sich, als stieße ihr jemand ein Messer in den Magen. Jaggar machte einen Satz und sprang auf sie zu. Er ergriff sie bei den Schultern und preßte sie an sich. »Was ist?« »Ich höre ihre Gedanken! Ja! Es sind furchtbare Gedanken! Sie ist wirklich, die Weiße Göttin!« Yina zitterte am ganzen Körper. Sie starrte mit großen Augen die Weiße Göttin an, die unbeweglich auf dem Hügel aus Wasser stand und die Arme nach dem Schiff ausstreckte. Es war eine lockende, fordernde Geste, wie alle Besatzungsmitglieder genau erkannten. Sie schwiegen bestürzt, während die Gedankenflut auf Yina einstürmte. Hundert Herzschläge lang schwieg die junge Frau, dann fühlte Jaggar voller Sorge und Schrecken, wie ihr Körper schlaff wurde und zusammensackte. »Ich habe sie gespürt! Ihre Gedanken …«, flüsterte sie schreckensbleich. »Welche Gedanken!« »… kommt nur«, stöhnte Yina und hielt ihren Kopf. »Kommt nur, sagt sie. Kommt nur schnell zu mir, ihr Männer! Viele starke Männer. Ich habe lange hungern müssen, ich, Givara!« »Lange habe ich gehungert, sagte sie. Sie ist eine starke Persönlichkeit. Kommt, sagt sie. Kommt, und ich werde euch mit glühender Leidenschaft umarmen. Einen Mann nach dem anderen. Meine Leidenschaft ist wie Feuer, wie weißglühende Glut. Meine
Leidenschaft wird euch verzehren … kommt! Das sind ihre Gedanken.« »Kein Mensch weiß, was das bedeutet!« knurrte Jaggar. Der schlanke Körper in seinen Armen zuckte wieder zusammen und richtete sich steif auf. »Sie merkt es! Sie spürt, daß ich Ihre Gedanken erkenne!« flüsterte Yina. »Und jetzt schlägt sie zurück …« Yina schrie auf. Die anderen Männer hörten und merkten nichts, denn sie waren in den Anblick der Göttin vertieft. Nur Zimaron und Bartulok sahen besorgt herüber. Eine glühende Welle des Hasses schlug unhörbar und unfühlbar von der Göttin zurück. Yina taumelte und verlor das Bewußtsein. Schwer hing ihr Körper in den Armen des Kapitäns. Gleichzeitig verschwand die Weiße Göttin. Der Berg aus Wasser und Schaum sank in sich zusammen und löste sich in kleine Wellen auf. Vorsichtig ließ Jaggar den Körper auf die Planken gleiten, dann starrte er die anderen Männer an, die bewegungslos halb über der Reling hingen. Alrun, Haalbek und Uli ließen die Reling los und traten langsam einige Schritte zurück. Ihre Gesichter waren ungewöhnlich ernst. Alle Zeichen des Rausches waren daraus verschwunden. »Sie sind wieder bei Sinnen!« flüsterte Jaggar. Langsam kamen die Männer ihm entgegen, in dem schmalen Gang zwischen der Reling und den umgedrehten Beibooten, die zwischen den Masten festgezurrt waren. Der Bootsmann, der Schiffszimmermann und der Segelmacher gingen nebeneinander auf den Kapitän zu. »Wir sind aufgewacht!« murmelte Uli, und der düstere Ausdruck war wieder in seinem hellhäutigen Gesicht. »Der Bann ist von uns genommen!« murmelte auch Haalbek. »Wir sind nicht mehr betrunken!« Jaggar bückte sich, hob Yina auf die Arme und ging auf einen freien Platz zu. Der Koch und der Steuermann breiteten Decken aus,
und Bartulok rannte und brachte einen Becher Wasser. Die drei Männer, die von ihrem merkwürdigen Dauerrausch geheilt waren, kamen näher und blieben stehen. »Was ist mit Yina?« erkundigte sich Uli. »Wir müssen tatsächlich halb verrückt gewesen sein, Jaggar. Aber jetzt sind wir frei!« »Yina ist ohne Bewußtsein. Die Weiße Göttin hat gemerkt, daß sie ihre Gedanken gelesen hat. Der Haß, den sie nach uns schleuderte, hat euch wieder zu vernünftigen Menschen gemacht.« »Wir konnten uns nicht wehren, Käpten!« jammerte der kleine Segelmacher. »Schon gut. Jetzt müssen wir nur noch die anderen dazu bringen, daß sie wieder nüchtern werden.« »Das wird ein hartes Stück Arbeit!« dröhnte Zimaron und hob prüfend ein Stück Riemen hoch. »Mit diesem Knüppel hier wird es am besten gehen – oder?« »Nein. Keine Gewalt!« Yina kam zu sich und sah von einem zum anderen. Als sie in die neugierigen Gesichter der drei Männer starrte, begriff sie, was geschehen war. Sie nickte und murmelte: »Ich bin sicher, daß alles Unheil von der Weißen Frau gekommen ist. Und noch größeres Unheil wird über uns kommen.« »Solange wir nicht tot sind, sind wir nicht besiegt!« verkündete Zimaron. Er wandte sich an den Koch. »Hör zu, Zauberer der Würzkräuter! Geh in dein stinkendes Loch und braue den anderen einen Trank, der sie für einige Tage einschläfert. Der Käpten hat gemeint, es ist besser als ein Holzstück.« »Das kann ich ganz schnell besorgen, Urmensch!« erwiderte Bartulok, klimperte mit seinen Amuletten und verschwand in seiner Kombüse. * Yina und Jaggar, Zimaron und die drei »erwachten« Männer
bildeten eine deutliche Gruppe. Die Verhältnisse hatten sich abermals geändert, aber nicht unbedingt zum Vorteil der Wellenreiterin. Jaggar sah deutlich, daß sich die Betrunkenen zusammenrotteten. Sie schienen zu merken, was Jaggar und seine wenigen Getreuen vorhatten. Uli deutete über die Schulter und sagte eindringlich: »Sie sind noch immer unter dem Bann. Was hat die Weiße Göttin gedacht?« »Es wird gefährlich werden«, erklärte Zimaron. »Sag ihnen, Käpten, was Yina aufgefangen hat!« In wenigen Sätzen erklärte Jaggar, was die Weiße Göttin gedacht hatte, als sie mit flehender Gebärde ihre schönen Arme nach dem Schiff ausgestreckt hatte. Verständnislos blinzelten ihn die Männer an. Sie verstanden nur, daß abermals eine böse Macht das Schiff im Griff hatte. Und noch immer wurde die Wellenreiterin angezogen und bewegte sich nach Westen. Plötzlich, mitten in die Unterhaltung hinein, schrie Nabib wütend: »Ich sehe es! Ihr rottet euch zusammen. Ihr heckt etwas gegen uns aus, Jaggar!« Jaggar rief, ohne sich umzudrehen: »Wir wollen nur euren Durst nach Wein stillen!« »Das ist mein Wein, und wenn ich sage, wir feiern, dann feiern wir!« rief Nabib hartnäckig. Er hatte sich erschreckend verändert. Sein Gesicht war verfallen, die rotgeränderten Augen tränten, und er schwankte unaufhörlich. Seine Redeweise war stockend, seine Stimme heiser und rauh. »Und ich sage, wir hören auf! Ihr alle seid gefangen in den Klauen einer Zauberin. Eine mächtige Zauberin. Sie sorgt dafür, daß ihr betrunken seid. Sie zieht auch unser Schiff an! Unsere einzige Heimat, unser letzter Schutz, Nabib!« »Unsere letzte Heimat ist die Weiße Göttin!« sagte Nabib halsstarrig und hob den Arm. »Und wenn ihr den Wein wegschließt, dann holen wir ihn uns. Selbst über deine Leiche, Pirat!« Zimaron dehnte seinen Brustkorb und knurrte verwundert:
»Sie machen Ernst, Käpten!« Jaggar griff zum Schwert und zog es halb aus der Scheide. »Ich auch!« Plötzlich funkelten Dolche und Messer in den Händen der Betrunkenen. Einige rissen Seilenden und abgebrochene Ruder an sich. Ein drohender Halbkreis bildete sich um Jaggars kleine Gruppe. »Nabib! Komm zur Vernunft! Wir werden uns doch nicht wegen ein paar Bechern prügeln!« versuchte der Kapitän zu beschwichtigen. »Wir wollen unseren Wein! Schnell! Sofort!« »Halt!« warnte Zimaron. »Ich werde mit fünfen von euch fertig. Ich werfe sie alle ins Meer. Zu den Raubfischen!« »Wir wollen Wein!« schrie jemand von hinten. Aus der Luke tauchte plötzlich der Zauberer auf. So nannten ihn die meisten Besatzungsangehörigen. Es war der Koch, der ein breites Grinsen im Gesicht trug und einen Becher schwenkte. Unter dem linken Arm trug er einen metallenen Krug, der aussah, als würde er besten roten Wein enthalten. »Freunde!« schrie der Schiffskoch laut und taumelte auf die Betrunkenen zu. »Ich weiß, daß der Kapitän Unrecht hat. Die Weiße Göttin wird uns führen! Sie wird uns sicher ans Ziel bringen!« In einem unbewachten Augenblick, als er sich an der kleineren Gruppe vorbeischob, blinzelte er den verdutzten Männern zu. Jaggar begriff, daß der Koch etwas Bestimmtes vorhatte. Er taumelte an ihnen vorbei und auf Nabib zu. Die Betrunkenen johlten und winkten ihn zu sich heran. »Hierher! Wir wollen trinken!« Bartulok tat so, als wäre er ebenfalls dem unheilvollen Bann verfallen. Er hob den Krug, goß den Pokal voll und gab ihn Nabib. Der Händler trank einen mächtigen Schluck und schrie begeistert: »Ein Hoch auf die Weiße Frau!« »Sie ist unsere neue Göttin!« Nabib gab den Pokal weiter. Der Koch schenkte ihn wieder voll.
Plötzlich war alle Angriffslust vergessen. Die Betrunkenen scharten sich um den Koch, der bereitwillig den Wein austeilte. Mehr als zwei Dutzend Männer tranken binnen weniger Augenblicke den Krug aus. »Das wäre es, Kapitän!« sagte Bartulok mit scharfer, wieder völlig beherrschter Stimme. Er hatte gesehen, daß auch der letzte Mann den Wein getrunken hatte. »In wenigen Augenblicken gibt es eine kleine Gefahr weniger.« Nabib schwankte stärker. Er ließ achtlos den Pokal fallen, klammerte sich an seinen Nebenmann, der ebenfalls zu taumeln begann. Beide Männer sanken langsam zu Boden, und noch ehe sie mit den Schultern auf die Planken schlugen, waren sie betäubt. Nacheinander kippten sie alle um, fielen übereinander, bildeten ein wirres Knäuel aus Körpern und Gliedmaßen auf Deck. »Du hast sie betäubt?« »Ich habe gewisse Substanzen in den Wein gemischt. Ich habe genug alte Rezepte. Außerdem haben mir meine Talismans geholfen!« Mit der leeren Kanne kam Bartulok zurück und blieb neben Zimaron stehen. Die Männer lachten sich kurz an, dann warf Jaggar ein: »Wir müssen sie binden und so hinlegen, daß sie keinen Schaden anrichten können und sich selbst auch nicht verletzen. Sieben Männer genügen, das Schiff einigermaßen zu führen. Es wird noch immer von einer rätselhaften Kraft nach Westen und dem Ufer zu gezerrt.« »Wir finden einen Weg, Käpten. Verlaß dich drauf!« rief der Steuermann und lief aufs Achterdeck. »Jetzt brauchen wir auf diese Unglücklichen nicht mehr aufzupassen.« »So ist es!« Sie machten sich langsam an die Arbeit. Sie haßten sich selbst, aber es gab keine andere Möglichkeit. In einer Stunde lagen die bewußtlosen Männer in den dunklen Laderäumen und überall unter Deck. Aber während die sieben Mann arbeiteten, fuhr die Schwarze
Wellenreiterin weiter ungehindert in eine Richtung, die niemand steuerte. Sie waren noch immer im Bann der Weißen Göttin. * Es begann zu dunkeln. Yina befestigte ein halbes Dutzend Lampen im Tauwerk und an den Masten. Notdürftig wurde das Deck erleuchtet. Noch immer war die Wellenreiterin ein Geisterschiff, das von unheimlichen Kräften vorwärtsgerissen wurde. Haalbek, der kleine Segelmacher des Schiffes, saß auf dem Bugdeck und hantierte mit Ahle, Darm und Leinwand. So schnell er konnte, versuchte er den Befehl von Jaggar auszuführen. »Wir müssen es schaffen, das Schiff anzuhalten. Wir werden ins Verderben gezogen. Mache einen großen Treibanker aus Segelleinen!« Haalbek war einer der Männer, die man seit Anbeginn Zwillinge nannte. Sie meinten Alrun und ihn, und tatsächlich waren sie beide einander täuschend ähnlich. In einigen Schenken auf der Fahrt nach Kartug hatten sie diese Ähnlichkeit zu herben Scherzen ausgenutzt. Aber jetzt fühlte sich Haalbek nicht zum Scherzen aufgelegt. Er spürte ebenfalls die Gefahr, in der er und das Schiff sich befanden. Er hatte verstanden, was die Bedeutung der Gedanken jener Weißen Göttin gewesen war. Er stichelte und kreuzte seine Nähte, so schnell er konnte. Das Schiff, noch immer mit nur einem schlaff herunterhängenden Segel, machte erhebliche Fahrt. Zufällig warf Haalbek einen Blick nach Backbord. Was er sah, erschreckte ihn. »Kapitän!« Jaggar, der zusammen mit Zimaron ein langes, starkes Tau vorbereitete und auf dem Deck herumstolperte, blickte auf und schirmte seine Augen gegen das Licht einer Schiffslampe ab. »Hast du gerufen, Haalbek?« »Ja. Wir kommen dem Ufer wieder näher. Siehst du die beiden
Feuer?« Die Männer hörten auf zu arbeiten und starrten in die Richtung, in die Haalbek deutete. »Tatsächlich! Mach schneller mit deinem Treibanker!« Die Feuer waren sehr weit entfernt. Das Schiff bewegte sich auch nicht auf sie zu, sondern schräg an ihnen vorbei auf ein unbekanntes Ziel zu. Die Stimmung unter den wenigen unbeeinflußten Menschen sank. Sie spürten die grausige Gefahr in der Dunkelheit. Nur wenige Sterne waren am Himmel, es herrschte eine feuchte Wärme, und die fernen Feuer waren wie Zeichen des Untergangs. Unter Deck erscholl plötzlich ein rasendes Poltern, dann schrie jemand auf. »Diese Hundesöhne haben uns gebunden. Zerreißt die Fesseln!« Jaggar knurrte den Schiffskoch an: »Nun, du falscher Zauberer! Du hast versprochen, dein Trunk würde die Männer für einen Tag einschläfern und uns Ruhe bringen!« Der Koch wand sich vor Verlegenheit und erwiderte stockend: »Ich weiß es auch nicht, Herr Kapitän. Vielleicht hat die Göttin meine Zauberkräfte schlaffer werden lassen. Aber du mußt zugeben«, seine Stimme wurde wieder lauter, »daß sie ganz schnell zusammengebrochen sind, unsere Freunde!« »Ja. Hoffentlich reißen sie sich nicht los. Bist du fertig, Haalbek?« »Noch nicht, Käpten!« rief der Segelmacher zurück. Es gab nicht viel Hoffnung. Sie sahen keinerlei Möglichkeit, das Schiff in eine andere Richtung zu steuern. Die Kraft, von der die Wellenreiterin gezogen wurde, reichte auch mühelos aus, die Ankertaue zu zerreißen oder die Befestigungen im Schiff auszubrechen. Jaggar konnte nichts tun. Aber er hatte sich geschworen, mit seinen wenigen Leuten bis zum letzten Augenblick zu kämpfen. Er würde versuchen, das Leben seiner Freunde und das Schiff zu retten. Der Bann Givaras lastete auf ihnen. Keiner, auch Yina nicht, wußte, welches Schicksal ihnen Givara
versprochen hatte. Sie wußten nur, daß es furchtbar sein würde und ihren Tod bedeutete. Zwischendurch, während sie Waffen an Deck brachten und versuchten, das Schiff für einen Kampf auszurüsten, aßen und tranken sie etwas. Yina legte sich ein paar Stunden zum Schlafen nieder, aber noch immer hatte sie keine neuen Gedanken aufgefangen. Endlich, gegen Ende der Nacht, riefen Alrun und Haalbek: »Wir sind fertig!« »Gut. Dann bringen wir den Anker aus!« Es war ein spitzkegeliger Segeltuchbeutel von vier Mannslängen. Vier dicke Taue führten zu vier Brettern, die unter Wasser die große Öffnung dieses Schlauches offenhalten würden. Zimaron und die Zwillinge schleppten den Anker bis zum Heck, während Uli und Jaggar die Schlepptaue trugen und klarmachten. Endlich klatschte der schwere Sack ins ruhige Wasser. Das Tau lief aus einer Öffnung neben dem Ruderblatt nach hinten und straffte sich, als der Stein den Anker nach unten zog. Dann wurde die Öffnung auseinandergerissen, ein harter Ruck ging durch das Schiff, und das dicke Tau tauchte langsam wieder auf. Holzstückchen, die der Koch ins Wasser warf und die an der Bordwand vorbeitrieben, bewiesen, daß das Schiff tatsächlich etwas langsamer geworden war. »Immerhin!« knurrte Jaggar. Schweiß strömte über seinen Körper. Die Nacht war heiß, und an einigen Stellen glühte das Meer silbern auf. Das Licht der Mondsichel, die hin und wieder zwischen hochfliegenden Wolken auftauchte, beleuchtete die angespannten Gesichter der Männer. Wieder erscholl Lärmen unter Deck. »Wir sind langsamer geworden. Das bringt uns Zeitgewinn, Jaggar!« brummte der Steuermann unsicher. »Aber ob es etwas nützt?« »Ich weiß es auch nicht. Nehmt ein paar Laternen, geht unter Deck und seht die Fesseln nach. Und dann schlaft. Ich halte Wache!« »Verstanden, Käpten.«
Jaggar war nach kurzer Zeit wieder allein. Er machte langsam einen Rundgang über das Deck und dachte über die letzten Tage nach. Unzweifelhaft stießen sie ins Unbekannte vor, und für ihn als ehemaligen Piraten war es völlig klar, daß der Pfad ins Unbekannte von schrecklichen Gefahren gesäumt war. Aber auch er mit aller seiner Kraft und Erfahrung war nicht in der Lage, gegen Götter zu kämpfen und gegen Zauberinnen, die so viel mächtiger waren als sein Schwert und sein Können. * Stundenlang stand er am Bug und versuchte, in der Dunkelheit zu erkennen, wohin das Schiff trieb. Seine kleine Mannschaft schlief, und offensichtlich waren auch die Betrunkenen eingeschlafen, erschöpft von ihren Versuchen, die Fesseln zu zerreißen. Das Schiff war dank des Schleppankers langsamer geworden, aber die unfaßbare Kraft wirkte noch immer. Die Sterne verschwanden, der Mond senkte sich hinter den Wasserhorizont, und das erste fahle Grau des neuen Tages stahl sich in einem breiten Streifen von Osten her. Leichter Nebel lag über dem Wasser. Aber plötzlich hörte Jaggar einen Vogelschrei. Land! Er ahnte, wo sie waren. In einem großen, aber flachen Bogen waren sie von ihrem genau westlichen Kurs abgekommen und wieder zurück an die Nordküste des im Süden liegenden Kontinents gezogen worden. Und jetzt trieb das Schiff in Ufernähe dahin. Der Zorn und die panische Angst vor dem Tod packten ihn. Das Ziel dieser seltsamen Fahrt konnte nicht mehr fern sein. Von brennender Sorge erfüllt, wartete Jaggar … Aus dem Grau wurde ein rosenfarbener Streifen. Der Blick reichte immer weiter. Mehr Vögel kreischten, und eine Seeschwalbe kam heran und setzte sich auf die Rah. Aber noch immer war das Ufer
unsichtbar. Der Nebel zeigte in verschiedener Höhe verschiedene Grade der Dunkelheit, die langsam vorbeitrieben. Jaggars Herz krampfte sich zusammen: im Geist sah er Klippen und Unterwasserfelsen, auf die das Schiff vollkommen hilflos zutrieb. Sie mußten auf Steinwurfweite am Ufer sein, denn er hörte jetzt sogar das Geräusch von kleinen Brandungswellen. Die Sonne stieg auf, und der Nebel begann zu leuchten. Er umgab das Schiff und setzte sich überall ab. Jaggar fluchte lautlos, dann schrie er nach hinten: »Zimaron!« Er kannte die Begabung des Mannes aus dem Land der Wolfsmenschen. Zimaron wachte beim geringsten Geräusch auf, das ihn irgendwie betraf. Dort hinten, zwischen dampfenden Decken, sprang tatsächlich der Steuermann auf und eilte zum Bug. »Kapitän? Was gibt es? Brauchst du mich?« Jaggar schlug Zimaron auf die Schulter. »Weck die anderen. Ich weiß nicht, was uns erwartet. Wir sind ganz in der Nähe des Ufers.« Zimaron nickte und drehte unruhig den wuchtigen Schädel mit dem langen, braunen Haar. »Ich weiß. Ich rieche es, Jaggar!« Er rannte davon und weckte Yina und den Koch, Uli den Starken und die Zwillinge. Die Sonne kletterte höher, es wurde wärmer, und der Nebel verdampfte langsam. Plötzlich verwandelte sich die massive Nebelwand in eine Menge treibender Fetzen, und zwei Pfeilschüsse vor dem Schiff schob sich ein Felsen ins Blickfeld. Ein Kap! Schnell wich der Nebel völlig. Zwischen der kleinen Bugwelle der Schwarzen Wellenreiterin und den Steinblöcken des Felsens, an denen sich die Brandung brach, war freies Wasser – ohne jede Untiefe. Langsam schob sich das schwarzrumpfige Schiff an den abfallenden Felswänden vorbei, in denen Seevögel hausten, die sich jetzt auf den Ankömmling stürzten. Ihr gellendes Geschrei machte die Besatzung vollends wach.
»Das ist ein Felsenkap! Dahinter gibt es mit Sicherheit eine Bucht. Vielleicht können wir ankern!« schrie Jaggar. Er wartete weiter. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, während das Schiff näherkam, auf die äußerste Spitze des Kaps zutrieb und daran vorbeidriftete. Und in dem Augenblick, als Jaggar vom Bug aus hinter den Felsen blicken konnte, sah er schon den kleinen Segler, der dort im Windschatten lag. Ein langes Tau, das in der Mitte das Wasser berührte, verband den Einmaster mit einem Felsen, aber es war schlecht belegt. Nur die Flaute hatte verhindert, daß sich das Schiff losriß und gegen die Felsen trieb. Hinter dem Kap öffnete sich eine breite Bucht, deren Ende nicht sichtbar war. Felsen versperrten den Ausblick. Tiefes, dunkelgrünes Wasser … »Zimaron, Uli, holt Wurfanker!« Die beiden Männer begriffen. Sie rafften Taubündel an sich, rannten zum Heck und befestigten sie dort an starken eisernen Verstrebungen. Dann legten sie die Bündel lose vor sich hin und begannen, die Eisenanker mit den scharfgeschliffenen Spitzen zu schwingen. Denn jetzt drehte sich die Wellenreiterin und nahm direkten Kurs auf den Segler. »Männer! Yina! Vielleicht sind diese Männer dort ebenfalls von der Göttin angezogen worden! Vielleicht bekommen wir Hilfe. Oder Aufklärung!« Jaggar verglich den neuen Kurs mit dem Abstand der beiden Schiffe, dann riß er ein Ruder aus den Sicherheitsknoten und blieb am Bug stehen. »Wir legen an! Wir müssen diese Männer sprechen!« rief Jaggar. »Wir werden das Schiff nicht verfehlen!« schrien Uli und Zimaron zurück. Unaufhaltsam trieb das große Schiff auf das kleine zu. Jaggar hob das Ruder hoch und wartete mit angespannten Muskeln. Das Bugspriet, ein langer, mit Eisen, Ketten und Tauen geschäfteter
Holzbalken, deutete genau auf das kleine Schiff. Sie würden sich rammen. Während Jaggar wartete, suchten seine Augen das Deck ab. Er sah keinen einzigen Mann, keine Spuren, nichts. Die Segel waren sorgfältig befestigt, die Luken geöffnet. Sogar das Steuer war festgezurrt. »He! Ich rufe die Mannschaft des Schiffes!« schrie Jaggar, als sie auf Steinwurfweite herangekommen waren. Keine Antwort. Nur knarrendes Tauwerk und die Schreie der Vögel, die unaufhörlich dicht über dem Wasser dahinschossen. Verlassen, dachte Jaggar und streckte das Ruder aus. Hinter sich hörte er das Schwirren, mit dem die Wurfanker über den Köpfen der beiden Männer kreisten. Yina und die Zwillinge standen an der Backbordreling und blickten zum kleinen Segler hinüber. »Ich kann keine Gedanken empfangen, Jaggar. Das Schiff ist verlassen!« rief die junge Frau. »Ein weiteres Rätsel!« Dann erreichten sich die beiden Schiffe. Jaggars Ruder schlug hart gegen die Bordwand. Er stemmte sich gegen den Druck, das Ruder bog sich ein wenig, und der Mann wurde quer über das Bugdeck geschoben. Aber der starke Stoß hatte ausgereicht, um die Kollision zu verhindern. Der kleine Segler wurde zur Seite gestoßen, nur um eineinhalb Mannslängen. Die beiden Bordwände schoben sich zwei Handbreit entfernt aneinander vorbei. Dann klirrten die Wurfanker. Ihre Spitzen bohrten sieh ins Holz. Ein dritter Anker, vom Koch geworfen, verfehlte den Mastfuß, das Seil wurde dreimal ums Holz gewickelt, dann krachte das Eisen in eine offene Luke. Als der Bug der Wellenreiterin am Heck des kleinen Schiffes vorbeistrich, griff Jaggar mit der Linken nach einem Enterbeil, mit der Rechten krallte er sich in ein lose hängendes Tau. Er stieß sich ab und landete genau auf dem Achterdeck, neben der festgezurrten Pinne. Die Taue sprangen über die Reling, strafften sich, rissen ein paar
Holzteile ab und hingen dann lose durch. Sie führten vom Heck der Wellenreiterin zum Bug und zum Mast des kleinen Schiffes. Und jetzt strafften sie sich langsam. Gleich würde ein Ruck durch das Schiff gehen, auf dem Jaggar stand. Von oben blickten seine Männer auf ihn, als er sich herumdrehte und das Beil hob. Mit einem einzigen Hieb kappte er das Tau, mit dem der kleine Segler am Felsen befestigt war. »Wir haben den Segler im Schlepp!« rief er. Seine Augen suchten Yina. Sie stand auf dem Achterdeck der Wellenreiterin und blickte schweigend herunter. Dann kam der Ruck. Beide Schiffe waren miteinander verbunden. Aber die Wellenreiterin bog nicht in die Bucht ein, sondern fuhr geradeaus weiter. Ihre Geschwindigkeit hatte sich nicht verringert, trotz des Schleppankers und des Seglers, den sie hinter sich herzog.
3. Kapitän Jaggar federte den Stoß ab, sah das Tau klatschend ins Wasser fallen und blickte wieder zum Heck der Wellenreiterin. Drei dicke Taue führten von dort herunter zum kleinen Segler. Jaggar sprang vom hochgezogenen Achterdeck herunter und näherte sich der ersten Luke. Es konnte nicht viel Platz unter dem Deck sein. Nirgendwo entdeckte er Spuren, mit denen er etwas hätte anfangen können. Mit dem geschliffenen Enterbeil in der Hand umrundete er die Luke und versuchte, etwas zu erkennen. Er rief zu Yina hinauf: »Bist du sicher? Keine Gedanken? Niemand im Schiff?« »Nein. Ich bin sicher. Sieh dich trotzdem vor, Jaggar!« Vorsichtig trat Jaggar auf die oberste Sprosse. Die unheimliche Ruhe zerrte an seinen Gedanken. Er kletterte langsam in die Luke hinein, und als sein Kopf nur noch einige Handbreit über den Planken war, nahm er einen Geruch wahr. Süßlich, schwer und widerlich. Trotzdem kletterte er weiter herunter. Blutgeruch, verwesendes Fleisch. Der Geruch wurde stärker, aber es gab keine Fliegen. Nicht hier, auf dem Meer. Der erste Leichnam lag am Fuß dieses Niedergangs. Ein Mann, nicht ganz so groß wie er selbst. Er lag da, und jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. Die Kleidung des Mannes war blutdurchtränkt, und er lag in einer riesigen trockenen Blutlache. Jaggar schwieg und blickte nach rechts und links auf die Hände des Mannes. Sie waren leer. Er konnte kein Messer und keinen Dolch entdecken. Also hatte jemand diesen Mann umgebracht. Aber ein Blick in das aufgedunsene Gesicht zeigte dem Kapitän, daß der Ausdruck des Schreckens fehlte. Auch war offensichtlich kein Kampf vorausgegangen. Dieser Mann war friedlich gestorben. Etwa zwölf, fünfzehn Mann Besatzung. Nicht mehr, dachte Jaggar, bückte sich und ging weiter. Seine Augen hatten sich an das
Halbdunkel gewöhnt. Er sah die zweite Leiche, dahinter die dritte. Weinpokale, aus denen es sauer roch, standen und lagen hier auf den Brettern. Gebückt ging Jaggar weiter. Der zweite Tote. Ihm hatte man einen langen Dolch ins Herz getrieben. Die aufgerissenen, gebrochenen Augen starrten Jaggar an, als wollten sie ihm eine geheime Botschaft signalisieren. Neben ihm hockte ein Junge. Er lächelte glücklich, aus seinen Fingern war ein Holzbecher gerollt und lag neben seinem Knie. »Gift!« knurrte Jaggar. »Aber warum das?« Sie hatten sich in aller Ruhe selbst umgebracht. Der nächste Tote lag ausgestreckt in einem Winkel. Auch ihm hatte man den Hals durchgeschnitten. Der Gestank wurde unerträglich. Eine Zeitlang später sahen die Zurückgebliebenen, wie Jaggar aus der Bugluke hervortaumelte, sich an die Reling lehnte und die Hände vors Gesicht schlug. Dann nahm er sich zusammen und rief zum anderen Schiff hinüber: »Sie sind alle tot, Yina!« Beide Schiffe, durch Taue verbunden, zogen mehrere Steinwürfe von den felsigen Ufern entfernt, unbeirrbar ihre Bahn nach Westen, dem Ende der Welt zu. Jaggar versuchte sich zu fassen und schlug das Enterbeil mit einer einzigen wilden Bewegung, in der sich sein aufgestauter Haß, seine hilflose Wut und seine Niedergeschlagenheit entluden, in die Decksplanken. »Was hat sie umgebracht!« brüllte Zimaron zurück. »Sie selbst haben sich gegenseitig umgebracht! Gift, Messer, Dolche, eine Schlinge!« »Das kann nicht wahr sein, Käpten!« »Es ist wahr!« »Dann komm zurück zu uns! Wir müssen beratschlagen. Und die unter Deck schreien schon wieder!« »Ich komme!« Jaggar schwang sich auf ein Tau, hielt sich an den beiden anderen fest und balancierte schnell hinüber zur Wellenreiterin. Für ihn war es wie ein Spaziergang, und er zog sich neben dem Ruderblatt aufs
Deck. »Sie haben sich alle umgebracht. Kein Wunder, Yina, daß du keine Gedanken aufgefangen hast.« Jaggar atmete schwer. Er fühlte sich schlecht. »Sie haben sich umgebracht, um dem Bann der Weißen Göttin zu entgehen!« stellte Yina fest. Sie schien ganz sicher zu sein. »Woher weißt du das?« »Ich ahne es ebenso, wie ich weiß, daß wir unter der schwarzen Wolke des Grauens segeln. Ich weiß es.« »Wir wissen, was uns erwartet. Die Gedanken waren deutlich genug. Der Schrecken hat die Mannschaft des Seglers gezwungen, sich zu entleiben.« »Beim Weißen Wolf! Sich gegenseitig umzubringen! Wie müssen sie sich gefürchtet haben!« Zimaron ballte die Fäuste und sah schweigend hinüber zum geschleppten Schiff. »Ja. Die Angst trieb sie dazu. Die Angst vor einem gräßlicheren Tod. Dieser Tod erwartet uns!« knurrte Jaggar. Sie waren hilflos. Sie konnten sich nicht wehren. Sie konnten nur warten und versuchen, jedem Angriff der unbekannten Macht zuvorzukommen. Die zwei Schiffe drifteten weiter, mit mittlerer Geschwindigkeit, immer dem Felsufer entlang. Vögel umschwärmten die Masten und Rahen, hin und wieder sahen sie backbords grüne Hügel und kleine Wälder, aber nicht einen einzigen Menschen. Eine ungastliche Küste war es, die an ihnen vorbeizog, eintönig rostbraun und gelb, nur von der Brandung genäßt. * Ungewißheit marterte die kleine Gruppe. Sie suchten nach Beschäftigung. Sie aßen und versorgten ihre Freunde, die zwar nicht mehr betrunken, aber jetzt von einer gierigen Leidenschaft geschüttelt waren, die sie halb besinnungslos
machte. Nach wie vor waren die sechsundzwanzig Männer unter Deck gefesselt. Yina half ihnen, wo sie konnte, aber die Aufgaben waren bald erschöpft. Dann zogen sich die Männer um und legten leichte Rüstungen und Waffen an. Auch das war kein fester Plan, sondern ein Einfall, aus der Ungewißheit entsprungen. Ununterbrochen zog das Bild der Felsenküste vorbei. Mittag war vorüber, die Hitze nahm zu, und nur dann und wann schlug ein schwacher, ablandiger Windstoß in die herunterhängende Leinwand. Schließlich sagte Jaggar: »Zimaron, Bartulok – gehen wir hinüber auf das andere Schiff. Erweisen wir der toten Mannschaft und dem toten Kapitän den letzten Gefallen. Wir sind es ihnen als Seefahrer schuldig!« »Wahr gesprochen, Jaggar! Es wird uns wenigstens ablenken.« Jaggar deutete auf die »Zwillinge« und ordnete an: »Ihr bleibt hier. Gebt auf Yina acht. Vielleicht empfängt sie wieder die Gedanken der Weißen Göttin.« »Wir werden alles tun, Käpten!« Nacheinander turnten sie hinüber. Die Taue bogen sich tief ins Wasser hinein, aber die Männer halfen sich gegenseitig, auf den Bug hinauf. »Ein schönes, recht schnelles Schiff!« meinte der Steuermann. »Aber der Geruch des Todes wird lange nicht daraus weichen.« »Ich weiß nicht recht, warum ich das Schiff mitgenommen habe«, sagte Jaggar irgendwann, als sie nacheinander die Leichen herausschleppten und nach einem kurzen Anruf an die Meeresgötter ins Meer versenkten. »Vielleicht können wir uns mit dem kleinen Segler eher retten.« »Sollen wir Vorräte und Waffen herüberbringen?« »Noch nicht. Warten wir noch!« schlug Jaggar vor. Am frühen Nachmittag waren sie fertig und kannten das Schiff. Es war ebenfalls ein Handelsschiff, aber offensichtlich zwischen zwei Fahrten. Es gab ausreichende Vorräte an Nahrungsmitteln und
einige Truhen voller Münzen verschiedener Länder, Schmuck und Waffen. Sie waren von der Weißen Göttin überrascht worden, und in einer Zeitspanne, in der der Druck nachließ, zogen sie den Freitod vor. »Zurück zu unserem Schiff.« Gerade als die drei Männer auf halbem Weg waren und über die jetzt straffen Taue zur Wellenreiterin zurückkletterten, schrie Haalbek plötzlich: »Jaggar! Yina hört etwas! Komm schnell an Deck!« Yina saß erschöpft auf einem Beiboot und hielt die Augen geschlossen. Ihr Gesicht war kreideweiß. Schweiß rann in breiten Bahnen von ihrer Stirn. Ihre Lippen öffneten und schlossen sich tonlos. Sie beachtete die drei bewaffneten Männer nicht, die polternd über das Deck rannten. »Sieht jemand die Weiße Göttin?« rief Jaggar unterdrückt. »Nein. Nichts. Nirgendwo ist etwas zu sehen!« murmelte der Koch und ließ abergläubisch seine Amulette durch die Finger gleiten. »… es ist das nächste Kap … morgen früh wird Givara uns erwarten … sie saugt das Leben aus den Männern, denn sie hat nur Macht über Männer …« Yina redete nicht mit ihrer eigenen Stimme. Sie röchelte und keuchte, und auf erschreckende Weise veränderte sich der Klang ihrer Stimme. Jetzt stand auch sie im Bann der Zauberin. »… ein Felsenkap … der Felsen sieht aus wie ein Löwenkopf … schreckliches Schicksal für jeden Mann der Wellenreiterin … eine enge Durchfahrt zwischen einer Insel und dem Ufer … am Ende der Welt … ein gewaltiges Netz wird sich über das Schiff senken …« Schweigend, gebannt und zitternd vor unterdrückter Furcht hörten die Männer zu. Sie bildeten einen Kreis um Jaggar und Yina. Der Kapitän hielt Yina in sitzender Stellung und versuchte, mit einem feuchten Tuch den Schweiß zu trocknen. Ununterbrochen kamen die fremden Worte aus dem Mund der jungen Frau. »… kein Ausweg … solange ein Mann auf einem Schiff denkt und lebt, kann sie dieses Schiff herbeiziehen … sie ist keine Göttin, und
sie giert nach dem Blut von Männern … es gibt keine Möglichkeit, die Zauberin zu töten … Feuer …« Sie schwieg und zuckte mehrmals, als risse eine unsichtbare Kraft an ihr. Dann öffnete sie die Augen und sah ins Gesicht Jaggars. »Bei allen Göttern«, flüsterte sie wieder mit ihrer eigenen Stimme. »Es war furchtbar. Ich sah Bilder und hörte Gedanken. Jetzt weiß ich alles.« »Wein her!« befahl Jaggar. Der Koch rannte davon. »Ich weiß alles. Uns erwartet ein furchtbares Schicksal, Jaggar. Hört zu. Ich schildere, was ich gesehen habe …« Sie trank einen großen Schluck unverdünnten Wein und berichtete dann, welche Bilder und welche Gedanken sie soeben aufgefangen hatte. Je länger sie sprach, desto genauer erkannten die Männer, daß sie in eine tödliche Falle hineinfuhren. Jetzt erfuhren sie auch, daß es kein Entkommen gab. Jaggar überlegte fieberhaft. Er hatte Zeit bis zum nächsten Morgen. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte er sich wehren, konnte versuchen, einen Plan zu entwickeln. Was immer er planen konnte, es würde eine Aktion werden, die aus der reinen Verzweiflung geboren war. * »Es gibt keinen anderen Weg, glaubt mir!« ächzte Jaggar. Er stand wie seine Helfer an der Ankerwinde und drehte sie. Knarrend und summend drehte sich das dicke Seil über die Trommel. Langsam näherte sich der kleine Segler. Die Zwillinge standen am Heck und stießen den Bug des geschleppten Seglers dergestalt ab, daß das kleinere Schiff an der Backbordreling entlangschrammte. Mühsam drehten sie das Spill. Holz krachte und splitterte ab, die Taue knirschten laut gegeneinander. Die Verzweiflung verlieh ihnen Riesenkräfte. Sie mußten diese Arbeit ausführen, solange es noch Tageslicht gab. »Schneller! Wir müssen es schaffen! Belegt das Tau!« stöhnte
Jaggar. Er hielt den kurzen Balken vor der Brust und stemmte sich gegen das Deck. Die Trommel drehte sich abermals, und mit einem letzten Ruck polterte der kleine Segler gegen die Wellenreiterin. »Taue sind belegt!« riefen die Zwillinge. Jaggar wischte den Schweiß von seinem Gesicht. Während sie schufteten wie die Sklaven, hatten die Männer unter Deck wieder rebelliert. Zwei von ihnen hatten sich losgerissen, aber zwei harte Schläge Ulis betäubten sie, als sie an Deck auftauchten. »Koch!« brüllte Jaggar. »Ich habe es gleich, Kapitän! Es wird der Trunk des Vergessens werden. Ich habe einen Zauber darüber gesprochen.« »Narr«, murmelte Uli und befestigte die Jakobsleiter an der Reling. Das Deck des kleineren Seglers lag etwa eine Mannslänge tiefer als das der Wellenreiterin. »Du bist der lausigste Zauberer, den es gibt.« »Du kannst gern versuchen, was ich gemischt habe!« schrie der Schwarze und kam mit der Metallkanne wieder an Deck. »Und jetzt – unsere Freunde!« Die sieben Menschen holten einen der Männer nach dem anderen aus dem Unterdeck hervor. Die Männer, die ohne eigenen Willen waren, wehrten sich verzweifelt. Man hielt ihnen die Nasen zu und flößte ihnen den Trunk des Koches ein, der sie auf der Stelle wieder betäubte. Dann schleppte man sie hinunter auf das andere Schiff und kontrollierte den Sitz ihrer Fesseln. Mitten in der Nacht waren sie mit dieser Arbeit fertig und begannen, die teuersten Handelswaren aus dem Bauch der Wellenreiterin in den kleinen Segler zu schleppen. Auch die Waffen wurden hervorgeholt und auf den Küstensegler gebracht. Schließlich standen sie, müde und erschöpft, auf dem Deck der Schwarzen Wellenreiterin. »Wir sind auf dem Kurs ins Verderben!« sagte Jaggar und legte seinen Arm um die Schultern Yinas. »Und wir können nichts tun, um die beiden Schiffe von diesem Kurs abzubringen.« Die Schiffe, noch immer Bordwand an Bordwand, trieben weiter. »Wir konnten auch nicht landen und das Schiff ausladen!« sagte
der Steuermann und prüfte die Schärfe seines Beiles. »Aber dieses Schiff kann uns helfen.« »Es wird uns helfen, Freunde!« sagte der Kapitän entschlossen. Ihr Plan stand fest. Sie kannten den furchtbaren Gegner. Oder besser: die Gegnerin. Beim ersten Sonnenlicht würde die Falle zuschlagen. Sie waren die Opfer. * Givara wußte, daß sie uralt war. Ein Wesen, das in den Zeiten der Alten Welt gezeugt und geboren wurde. Jahrhunderte und Jahrhunderte waren an ihr vorbeigezogen wie flüchtige Jahreszeiten. Sie kannte sogar die Wesen, von denen sie gezeugt worden war. Sie, Givara, hatte gleichermaßen das Blut Cnossos' in sich, wie auch das Erbe einer riesigen weiblichen Königsspinne. Diese unnatürliche Verbindung zwischen zwei gleichermaßen rätselhaften Lebewesen war ihr Schicksal. Sie war ihm ausgeliefert, solange sie lebte. Und da sie schon seit Urzeiten lebte, dachte sie nicht daran, daß auch ihre Zeit einmal ablaufen würde. Keiner der unzähligen sterblichen Männer dieser Welt konnte sie töten, denn sie war nicht zu fassen. Ihr Reich war die große Felseninsel hier, am Schneidepunkt zwischen zwei Welten. Zwischen den bekannten Uferstämmen und Städten rund um die zerklüfteten Linien der Großen See – und andererseits zwischen dem riesigen Ozean, der zwischen den Kontinenten und den Zeiten lag. Sie war die Herrscherin der Felseninsel und der umliegenden Ländereien. Und ihr Werk, seit Jahrhunderten immer mehr verbessert und erweitert, war auch das riesige Netz, das diese Passage überspannte. Es schimmerte silbern, und die Tausende von kürzeren und längeren Fäden machten ein Kunstwerk daraus. Es war ein
Kunstwerk, denn sie hatte es gesponnen. Ich brauche sie! Ich brauche sie für meine Leidenschaft, und ich brauche ihr Blut, dachte sie in qualvoller Gier. Die Gier war immer heftiger geworden, seit sie dieses Schiff gesehen hatte. Ihre Persönlichkeit pendelte hin und her zwischen den Fähigkeiten einer zeitlos schönen Frau, reif und klug und grausam … und einer riesigen Spinne, die nur von ihren Instinkten getrieben wurde. Kommt, dachte sie. Kommt nur! Ich erwarte euch! Solange noch ein Mann auf eurem Schiff denkt, kann ich euch anziehen! Die Frau an Bord interessierte sie nicht; sie konnte zur Priesterin gemacht werden. Jetzt, im Augenblick, war Givara nichts anderes als die Herrscherin über den großen Stamm der Givaren. Der Stamm lebte auf dem Festland, und nur die Priesterinnen durften die Felseninsel über die Hängebrücke aus Spinnenfäden betreten. Litt sie unter ihrer Veranlagung? Litt sie unter ihrer faszinierenden Möglichkeit, ihr Aussehen und ihr Fühlen zwischen einer Frau und einer Spinne zu wechseln? Sie hatte sich daran gewöhnen müssen. Meist war sie die Herrscherin über die Givaren. Der Stamm lebte gut und in Frieden, aber es herrschte inzwischen ein Frauenüberschuß, der sie selbst unruhig machte. Denn immer dann, wenn sie sich an der Leidenschaft eines Mannes gelabt hatte, mußte sie ihn töten. Dieser Drang kam oft, aber in unregelmäßigen Abständen. Und dann nützte Givara alle ihre Fähigkeiten aus. So wie jetzt. Dreißig Männer! Ein gewaltiger Vorrat! Sowohl für den Stamm als auch für sie selbst. Ihr Geist war hinausgeschweift und hatte zwei Schiffe entdeckt. Eines war inzwischen tot, weil der Geist der Männer die Belastung nicht ausgehalten hatte. Der zweite befand sich auf der Fahrt hierher. Ein lebloses Ding konnte von ihr solange bewegt werden, wie sich
ein Verstand in oder auf ihm befand. Und sie bewegte das Schiff. Morgen … bei Sonnenaufgang … dann würde das Fest stattfinden. Es war ein Ereignis, wie es nur alle Jahrzehnte einmal vorkam, hier am Ende der Welt, der abgelegenen Passage zwischen den Ozeanen. Sie hatte alle Macht, und sie hatte Zeit. Sie wartete. * Die Unruhe machte Kapitän Jaggar fast krank. Er hatte vor einer Stunde Zimaron abgelöst und stand jetzt allein im Heck der Schwarzen Wellenreiterin. Längsseits an der Steuerbordreling war ein Tau befestigt. An diesem Tau hing ein Beiboot. Yina und die anderen waren auf dem Deck des Küstenseglers und schliefen – das hoffte Jaggar. Was er in den letzten Stunden vor seinem Schlaf getan hatte, schmerzte ihn wie der Verlust eines Armes, aber es würde ihr Leben retten. Immer wieder rief er sich ins Gedächtnis zurück, was er zu tun hatte, und wie seine Aktionen zu den Schilderungen des Bildes paßten, das Yina entworfen hatte. Unruhe, Furcht, die Angst um ihr Leben und vor dem Netz der Spinne ließen ihn schwitzen und zittern. In seinem Magen bildete sich ein Klumpen, hart wie ein Stein. Der Morgenstern begann zu flimmern. Auf dem Heck des Schiffes sah Jaggar die rote Glut der Schale, die seit Stunden unverändert brannte. Daneben lag sein Bogen, daneben steckten die Pfeile mit dem Harz und dem Werg an der Spitze. Jaggar blutete das Herz, wenn er an die nächsten Stunden dachte. Ein guter Kapitän verwuchs mit seinem Schiff -und er war ein guter Seefahrer. Es ist soweit! dachte er. Jaggar nickte entschlossen, riß das Beil aus dem Decksholz und ging über das leere Deck ins Heck. Er hob beide Arme und kappte mit einem schnellen Hieb das Tau, das den Schleppanker hielt. Das
Tau zerriß, verschwand durch die Öffnung und glitt neben dem Ruder ins Wasser. Genau spürte Jaggar den Ruck nach vorwärts, den das große Schiff machte. Summend und tropfenschleudernd sprang das letzte Haltetau aus den Wellen und riß den Bug des Küstenseglers wieder nach unten. Jaggar hieb die Axt neben diesem Tau in die Reling und blickte nach Osten zurück. Der Himmel war völlig wolkenlos. Es gab auch heute keinen Nebel. Allerdings konnte Jaggar auch nicht entdecken, welche Landschaft an Backbord war, und ob die Felseninsel geradeaus auftauchte. Er ging unruhig wieder zurück zum Bug. Viel zu langsam nahm die Helligkeit zu. Schemenhaft wuchs die Felsenküste aus dem vagen Grau, und ebenso schemenhaft nahm das Felskap voraus die groben Züge eines Löwenkopfes an. Jaggar starrte geradeaus und sah zu, wie sich die Landschaft zu verschieben begann. Er zitterte vor Spannung. Er wartete darauf, loszurennen und zu handeln. Die Schiffe trieben lautlos auf den Löwenkopf zu, die Strömung zog sie an dem Felsen vorbei, der von geradeaus nach links wanderte und sein Aussehen veränderte. Dann wuchs aus der hellgrauen Dunkelheit an Steuerbord eine scharf gezackte Insel auf. Die Küste an Backbord flachte sich ein wenig ab, wurde aber von scharfen Steinhaufen unterbrochen. Dann sah Jaggar das Netz. Ein riesiges silberfarbenes Gebilde, das sich von der linken Seite der Insel bis zum Festland spannte. Es überquerte die Passage zwischen dem Festland und der Insel in einer Höhe, die einige Mannslängen über dem höchsten Mast der Wellenreiterin lag. »Das Netz! Ich sehe es!« murmelte er. Doppelte Speerwurfentfernung! Jaggar handelte. Die aufgestaute Spannung löste sich. Er rannte zum Heck und riß das Beil in die Höhe. Ein dumpfer Schlag ging durch das Schiff, als er mit einem Schlag das Haltetau kappte. Wieder wurde die Wellenreiterin schneller. Der Küstensegler fiel
etwas ab, aber blieb in derselben Spur. Jaggar riß den Bogen hoch, zog einen Pfeil aus dem mit Öl gefüllten Krug und wartete noch einige Herzschläge lang. Jetzt sah er das Netz noch deutlicher. Und er sah auch die Spinne, die leichtfüßig auf ihren langen, weißen Beinen über das Netz lief und im Mittelpunkt anhielt. Der große, runde Körper federte auf und ab, als sich die acht Beine an den silbernen Tauen festhakten. Jetzt befand sich das Bugspriet der Wellenreiterin genau am Beginn der Passage, direkt unter dem ersten silbernen Tau, das sich von Felsen zu Felsen spannte und leise wippte. Die riesige weiße Spinne, größer als drei Männer, zuckte vor und zurück. Sie lief einige kurze Schritte auf das Schiff zu. Jaggar berührte mit der Spitze des Pfeiles die Glut des Korbes. Augenblicklich züngelten Flämmchen hoch, das Harz und das Öl begannen zu brennen als Jaggar den Bogen hob und zielte. Der erste Pfeil zischte zwischen den Segeln hindurch, entlang der Wanten und schlug in den Haufen von ölgetränkten Decken und Fellen, die am vorderen Mast angeknotet waren. Sofort fingen die Decken Feuer. Der zweite Pfeil krachte in die Planken, zerbrach und zerstreute Funken und Feuer in die Öllache. Ein zweiter Flammenherd entstand. Die Flammen züngelten hoch und leckten an das Segel, das Jaggar ebenfalls getränkt hatte. Einige Augenblicke später hatte sich das Vorschiff in ein brüllendes Meer von Flammen verwandelt. Ein dritter Pfeil krachte in den Hauptmast, ein vierter und fünfter setzten das Großsegel in Brand. Fast alle Segel waren mit Nabibs Salböl getränkt. Jaggar stand auf dem Achterdeck und schickte einen Pfeil nach dem anderen in die Takelage und in die vorbereiteten Nester aus trockenem Material und Öl. Als das halbe Schiff eine einzige Flammenwand war, als sich schwarzer Rauch aufwölkte, als er sah, daß die Flammen der Feuersäule nach den Silberfäden griffen und sie anzündeten, warf Jaggar den Bogen weg und sprang zur Bordwand. Mit einigen
schnellen Griffen turnte er ins Beiboot und kappte das Seil. Zwei Ruderschläge brachten ihn vom brennenden Schiff weg. Er drehte den Kopf und sah sich um. Seine Freunde standen im Bug und sahen zu ihm hinüber. Er brachte das kleine Boot in die Richtung des Küstenseglers, bremste es ab und wartete auf das Tau, das Zimaron ihm mit gewohnter Sicherheit zuwarf. Kurze Zeit darauf stand er an Deck. »Das Schiff! Es brennt, ein einziges Riesenfeuer!« Die ersten Sonnenstrahlen beleuchteten die gewaltige Rauchtrombe, die sich ausbreitete. In der Mitte dieser schwarzen Wolke loderte eine riesige Flamme fast senkrecht in die Höhe. Das brennende Schiff knackte und knisterte, die Flammen heulten und wurden immer größer. Gewaltige Hitze strömte von der brennenden Wellenreiterin aus und schlug in die Gesichter der Menschen. Der Rauch verhüllte das Bild der Vernichtung nur unvollkommen. Die silberfarbenen Fäden lösten sich schnell auf, kringelten sich unter der Hitze zusammen und flammten auf. Das Schiff, das noch immer geradeaus fuhr, brannte eine breite Gasse in das riesige Gespinst. Es war schätzungsweise noch einen Steinwurf vom Zentrum des Netzes entfernt. Durch Lücken in dem Rauchvorhang sahen sie, was das Schiff anrichtete. * Givara erwachte früh; sie brauchte wenig Schlaf. Sie war auf ihrer Insel allein. Die Priesterinnen waren auf ihren Befehl hin auf dem Festland und bereiteten den Ritus der Großen Nacht vor. Wieder griff ihr Geist hinaus, und sie sah die beiden Schiffe, die sich so wie geplant näherten. Sie sah den Kapitän, der hoffnungslos Anstrengungen unternahm, dem Unheil zu entgehen.
Sie war in ihrer Gestalt als Spinne unfähig, weiterhin leblose Dinge nach ihrem Wunsch anzuziehen. Sie weidete sich noch einige Zeit an den Versuchen dieses aktiven Mannes, der alles, aber auch alles tat, um ihr zu entgehen. Er schien irgendwie zu ahnen, was ihn erwartete. Das würde die Nacht noch reizvoller machen. Es wurde Zeit. Immer dann, wenn die Beute in unmittelbarer Nähe war, verwandelte sie sich in eine riesige Spinne. Sie war die Geißel der näheren Umgebung, aber nur Eingeweihte wußten, daß Givara und die Spinne ein und dasselbe Wesen waren. Langsam ging sie vor die große Platte aus poliertem Silber. Sie sah sich an. Sie wußte, daß sie schön war. Schöner als alle ihre Priesterinnen, die sie immer wieder erzogen und ausgebildet hatte, die schönsten und tüchtigsten eines Geschlechts nach dem anderen, durch die Zeiten hindurch. Der Spiegel zeigte eine hochgewachsene Frau mit schlanken, festen Gliedern. Ihr Gesicht war länglich und edel geschnitten. Die Haut war fein und seidenweich. Das Haar fiel auf die wohlgeformten Schultern und bildete dort einen Wellenkranz. Es wird Zeit! »Ich komme, Schiff voller Männer!« sagte sie. Zweimal war sie den Männern erschienen, um nicht nur ihren Geist gefangenzunehmen, sondern auch ihre Augen zu blenden. Sie waren sichere Opfer. Givara leitete die Verwandlung ein. Sie sah in den Spiegel und betrachtete wieder einmal, wie sich ihr vollkommener Körper zu verändern begann. Die Beine und Arme streckten sich und begannen, ihre Oberfläche zu ändern. Dicke weiße Haare sprossen darauf. Dann wuchs aus den Hüftknochen ein zweites Paar Beine, aus den Schultergelenken schob sich ein zweites Paar Arme. Sie wuchsen und wuchsen, und auch der Körper vertauschte seine Form. Die Enden der acht Beine berührten den Boden, der aus
spiegelndem Mosaik bestand. Ein runder Spinnenkörper schaukelte in der Mitte des veränderten Körpers. Aus den Zähnen wurden mächtige Mandibeln, und die Augen bedeckten sich mit Haut. Jetzt sah die riesige Spinne, so hoch wie drei Männer, mit acht Augen in ihren Gliedmaßen. Auch ihr Denken veränderte sich. Sie wurde innerhalb der Zeit, die sie zur Verwandlung brauchte, zu einem Wesen, das sich verhielt wie ein Tier. Nur die Fähigkeit, sich nach beendetem Blutgenuß wieder in eine Frau zu verwandeln, blieb ihr dann noch. Sie kannte es, sie kannte diesen brünstigen Zwang, aber sie hatte sich durch die Jahrhunderte hindurch ihm immer wieder ausgeliefert. Sie drehte sich, und dann vollführten ihre acht schlanken Beine einen rasenden Wirbel auf dem Boden. Sie lief mit schaukelndem weißem Körper hinaus, über die Blumen und Pflanzen und an der Hängebrücke vorbei. Sie hakte die Füße in die Seile und Fäden des Netzes und lief leichtfüßig geradeaus. Unter ihr schwankte das Netz. Eine alte, vertraute Bewegung. Sie liebte dieses rhythmische Schaukeln des riesigen, kunstvoll gesponnenen Netzes. Sie erreichte, vorbei an den Knochen und an den halb eingesponnenen Resten einstiger Opfer, den enggesponnenen Mittelpunkt des Netzes. Sie blickte in acht Richtungen, aber nur eine Richtung interessierte sie. Givara richtete ihre Gliedmaßen so aus, daß mehrere Augen nach Osten blickten. Dort erkannte sie die wohlvertrauten Umrisse der Küste, das Kap in Form eines Tierkopfes, und genau in der Strömung der Passage die beiden Schiffe. Ein Anblick, der sie halb wahnsinnig vor Freude machte. Die zwei Schiffe, deren Segel aufgespannt und von einem leichten Wind gebläht wurden, segelten genau auf die Passage zu. Voller Männer, voller Blut, voller Aussicht auf Leidenschaften aller Art. Die Spinne federte auf ihren Beinen. Ihre Beißwerkzeuge klickten gierig. Sie wartete. Jeden Augenblick
mußte das erste Schiff den Rand des runden Netzes erreichen. Schon näherte es sich den ersten Stützfäden, die so dick wie Tauwerk waren.
4. Die Spinne, das sahen sie alle sofort, war nichts anderes als ein riesiges Tier. Keine Zauberin mehr, keine Weiße Göttin, kein Wesen, das wunderbare Dinge vollbringen konnte. Es war eine riesige Spinne, aber eben nicht mehr als eine Spinne. Sie handelte, wie Spinnen handeln, wenn sie sich einem Vorgang gegenübersahen, den sie nicht kannten. Sie rannte aufgeregt hin und her. Jedesmal legte sie einen Weg von zwanzig oder mehr Mannslängen zurück. Aus ihrem Hinterleib schoß ein langer Faden, der sich schwer durchsenkte, auf das Schiff zuschaukelte und in den Flammen aufging. Die brennenden Enden fielen klatschend ins Wasser, die Flammen erstickten. Das Schiff, eine dreifache Zunge aus Funken und Rauch, Flammen und hochgerissenen brennenden Leinwandfetzen, brannte eine breite Gasse in das Netz. Es hatte die Wirkung einer Kerzenflamme, wenn man einen Keller betrat und mit der Flammenspitze das Netz einer großen Spinne zerschnitt. Vom Festland herüber und vom Felseiland klatschten die Zugfäden ins Wasser. Das Netz hing schwer durch, andere Seile rissen knallend, und die Spinne rannte im Zentrum hin und her und zog klebrige Fäden hinter sich her. In der Luft hing ein betäubender Geruch. Er drang in die Nasen der kleinen Besatzung, die unter Waffen im Heck des Küstenseglers stand und versuchte, das Schiff aus dem bisherigen Kurs zu bringen. Der Wind war sehr schwach, aber er drückte das dreieckige Segel ein und schob den Segler aus der Kielspur des brennenden Schiffes heraus. Der betäubende Geruch wurde stärker, durchdringender. Er erfüllte die Luft und machte sie süß und schwer. Er roch nach geheimnisvollen Essenzen, nach Lotos, dessen Geruch man einatmet
und dann zu träumen beginnt. »Das Netz wird verbrennen. Es war deine richtige Entscheidung, Kapitän Jaggar!« sagte Zimaron beinahe ehrfürchtig und legte die Ruderpinne scharf nach Steuerbord. Neben dem Schiff fielen die ersten glühenden Fetzen des Netzes ins Wasser. Der traurige Rest der Wellenreiterin verlangsamte seine Fahrt, aber er trieb noch weiter. Vielleicht erreichte er auch noch das andere Ende des Netzes, ehe das Wasser eindrang und den gewaltigen Brand löschte. Jaggar fühlte, wie dieser Geruch ihn besänftigte, wie er in seine Lungen drang und seine Spannung wegnahm. »Es war Yinas Verdienst. Ich hätte ohne sie nichts erfahren!« schwächte er ab. Nur durch Yinas Visionen hatte er herausfinden können, wie sie sich wehren konnten. Die Flamme vor ihnen wanderte. Träge wälzten sich der schwarze Qualm und die schwebenden Rußteile hinüber zum Festland. Immer mehr der silbernen Spinnenfäden rissen und schmolzen und verbrannten, während sie wie Pendel nach unten kippten und ins Wasser schlugen. Wieder hagelte es neben dem Küstensegler riesige brennende und schmelzende Tropfen ringsum ins Meer. »Wenn uns einer dieser Tropfen trifft …« »Es geht nicht anders. Wir müssen dorthin!« schrie Zimaron und steuerte das träge laufende Schiff weiter in Küstennähe. Jetzt war die brennende Wellenreiterin steuerbords voraus. Sie hatte fast keine Fahrt mehr. Der Geruch in der Luft machte die Männer trunken, aber sie verloren nicht die Kontrolle über sich selbst. Wachsam beobachtete Jaggar das Schiff, das durch die herunterhängenden Fäden glitt wie durch einen seltsamen Wald aus weißen Stämmen. Dann sahen sie die Spinne. Sie befand sich im letzten Drittel des Netzes. Noch immer spann sie Fäden, um das Netz zu retten oder um Menschen einzufangen. Hinter und über ihr spannte sich die zauberhaft grazile Konstruktion einer langen Hängebrücke von der Insel zum Festland.
Unbarmherzig näherte sich das brennende Wrack. Inzwischen hatte sich darüber eine riesige Säule heißer Luft gebildet, die sich spiralig zu drehen begann und frischen Wind von allen Seiten zu sich heranzog. Auch das Segel des kleinen Schiffes füllte sich, und durch geschickte Steuermanöver trieb Zimaron das Schiff am Wrack vorbei und durch die engste Stelle der Passage. Er überholte das Feuer und kam frei. Die Spinne raste einen Teil des schräg hängenden und reißenden Netzes aufwärts, der Brücke zu. Aber dann zerschmolzen einige silberne Seile, das Netz kippte noch stärker, und die Spinne verlor den Halt. Sie fiel direkt auf die wirbelnde Flammensäule zu. Sie schleuderte einen Faden aus ihrem Hinterleib, der sich im Netz verfing und an der Luft augenblicklich erhärtete. Dann schmolz und brannte ein weiteres Tau. Die Spinne schwang nach rechts, sie hing an ihrem Faden, dann pendelte sie wieder zurück. Diese Bewegung schleuderte sie unaufhaltsam mitten in die Flammen hinein. Aber während sie fühlte, daß sie unrettbar verloren war, während der süße Duft aus dem eigenen Gespinst die Luft erfüllte und sie die lodernde Wand auf sich zukommen sah, verwandelte sie sich innerhalb eines winzigen Zeitraums zurück. Sie wurde wieder zur Frau, zur Weißen Göttin. Sie breitete die Arme in einem letzten Reflex aus. Schräg stürzte sie dem Feuer entgegen, tauchte hinein und fühlte einen schrecklichen Augenblick lang, wie ihr Haar aufflammte. Dann endete ihr Sturz in einem aufflammenden und funkensprühenden Trümmerhaufen. Die Weiße Göttin war tot. Ihr langes Leben hatte ein Ende gefunden. * »Nein!«
Yina schrie auf und hielt sich den Kopf. Einige Augenblicke lang, während sich der Spinnenkörper im Flug verwandelte, während die sieben Menschen verblüfft und erstaunt sahen, wie aus der Riesenspinne blitzschnell eine wunderschöne nackte Frau wurde, die mit ausgebreiteten Armen durch die Luft flog und nach zwei Herzschläge langem Flug ins Feuer stürzte, empfing Yina die letzten Gedanken der fernen Cnossos-Enkelin. Es waren Bilder, die zusammengesetzt das gesamte Leben dieses erstaunlichen Wesens zeigten. Dann, nach einem kurzen, heftigen Todesschmerz, der Yina rückwärts in die Arme Bartuloks schleuderte, rissen die Bilder ab. »Alles ist vorbei!« murmelte Jaggar … »Wir sind gerettet!« keuchte Uli auf. »Und ich habe es gefühlt; der Bann ist von den anderen genommen!« Sie blickten zurück, während Zimaron den kleinen Segler aus der Passage heraus steuerte und direkten Kurs auf einen sichelförmigen Strand nahm, den sie in einiger Entfernung undeutlich erkennen konnten. Bäume und Büsche bewiesen, daß dort ein Bach oder Fluß in die See mündete. Sie konnten nicht mehr sehr weit vom Ende der Welt entfernt sein, aber mit ihren geschwächten Freunden konnten sie nichts mehr riskieren. »Du hast diese Bucht gesehen, Zimaron?« fragte Jaggar. »Ja. Und niemand wird mich davon abhalten, das Schiff dorthin zu bringen. Wir alle haben Ruhe und Schlaf mehr als nötig, Käpten.« Jaggar lächelte kurz und erklärte: »Das ist auch meine Meinung. Steure diesen Strand an.« Das Wasser in der Passage war ruhig geworden. Die Reste des Netzes hingen von allen Seiten über die Felsen und endeten im Meer. Nur die Brücke war unversehrt. Rauch hing über dem Wasser, löste sich aber unter dem Wind auf. Das Heck und der Bug der Wellenreiterin ragten schräg aufwärts und sanken unter den Blicken der Geretteten ab. Auf dem Wasser trieben geschwärzte Planken, einige brennende Fässer und ein Ballen verschmorter Stoff. »Das war die zweite Wellenreiterin!« sagte Jaggar dumpf. »Bin ich
nun der schlechteste Kapitän der Bruderschaft, oder ist das Schicksal gegen meine Schiffe? Mit diesem winzigen Boot hier …« Er beendete den Satz nicht, denn unter seinen Füßen ertönte unverkennbar die jammernde Stimme Nabibs. »Und jetzt auch noch Nabib! Ich ahne, was er uns erzählen wird!« sagte Haalbek und grinste schief. »Vielleicht sollten wir sie alle noch unten lassen.« »Nein«, ordnete Jaggar an. »Bindet sie los. Holt sie herauf. Wir haben diese Gefahr überstanden, wir werden auch Nabib überstehen und das, was er zu schimpfen hat.« Zimaron und Uli gingen zur Luke. Sie sahen die Trümmer, aber was sie nicht sahen, war zwischen den schwarzen Leinwandfetzen, einigen umgedreht treibenden Tonkrügen und anderen Resten der weiße, schlanke Körper der Göttin. Ihr Haar war verschmort, und beim Sturz in das weißglühende Deck des Schiffes hatte sie sich sämtliche Knochen gebrochen. Das Salzwasser machte die furchtbaren Brandwunden unsichtbar, und noch im Tod würde man die Schönheit dieses Geschöpfes bewundern müssen. Die Strömung packte auch diesen Körper und trieb ihn auf die scharfen Ränder der Uferklippen zu. * Als der Bann von ihm wich, erkannte er sofort, daß etwas Ungewöhnliches geschehen sein mußte. Er lag in einem dunklen, stinkenden Verschlag, und neben sich erblickte er undeutlich andere Männer, die sich bewegten. Der nächste Eindruck war, daß seine Hände und Knöchel gefesselt waren. Keineswegs grob, aber sehr gekonnt. Nabib begann zu denken. Er sah ein, daß diese Fähigkeit ihm in der letzten Zeit abhanden gekommen war. Außerdem spürte er nagenden Hunger und einen Durst, der weit über das übliche Maß hinausging. Sein Schädel dröhnte vor Schmerzen. Trotzdem konnte er nachdenken.
Sein letzter Eindruck war gewesen, daß er widerstrebend ein Faß Wein gespendet hatte. Sie wollten ihre wunderbare Rettung feiern. Das war wohl geschehen. Dann gab es in seiner Erinnerung nur Lücken und unzusammenhängende Bilder. Er sah die Weiße Göttin, erkannte, daß sie weit mehr getrunken hatten, erinnerte sich an einen Streit mit Jaggar, und er entsann sich auch, wie der Koch ihm Wein zu trinken gegeben hatte. Ab diesem Schluck Wein fehlte jede Erinnerung. Wo war er? Wo waren die anderen? Was trieben sie? Und warum war er gefesselt? Er holte Luft, aber als er zu schreien anfing, verstärkten sich seine Kopfschmerzen derartig, daß er es nicht lange aushielt. »Jaggar! Verdammter Pirat! Komm gefälligst und sage mir, warum ich gefesselt bin!« Ein dumpfer Chor murmelnder und stöhnender Geräusche, die rund um ihn ertönten, war die Antwort. Waren außer ihm noch andere Gefangene gemacht worden? Panik überflutete ihn. Er war jetzt sicher, daß sie doch noch den Verfolgern aus Kartug in die Hände gefallen waren. »He! Ihr Schinder! Bindet mich los! Ihr wißt nicht, wie furchtbar ich in meinem Zorn bin!« schrie er ein zweites Mal. Zu seinem Erstaunen öffnete sich direkt über ihm eine Luke. Er blinzelte im unerträglich hellen Licht. Er erkannte in der Luke die Umrisse eines riesigen Körpers mit blondem Haar. »Brüll nicht so, Händler!« sagte Uli der Starke, griff nach unten und hob mühelos Nabib am Gürtel aus der Luke. Ein Dolch blitzte auf, und Nabibs Handfesseln wurden durchgeschnitten. Nach dem Gestank dort unten war die Meeresluft eine wunderbare Sache, aber in der Luft lag ein Geruch wie in einem Freudenhaus. »Was ist los, wo sind wir?« Nabib sah sich um. Ihm schwindelte. Er entdeckte Yina und Jaggar, und langsam fand er sich wieder zurecht. Aber dann sah er,
daß sie sich auf einem ganz anderen Schiff befanden. »Jaggar! Was ist das … das ist doch nicht unser Schiff!« schrie Nabib und fühlte eine ungeheure Schwäche in seinen Knien. »Unser Schiff ist dort!« sagte Jaggar und deutete nach achtern. Nabib stellte einen Fuß zur Seite, als Uli seine Fußfesseln durchtrennte. Er starrte auf Rauch, auf eine unbekannte Landschaft, auf treibende Planken und Fässer im Wasser. Und er begriff langsam. »Das Schiff ist …?« »Die Schwarze Wellenreiterin ist verbrannt. Ich mußte sie in Brand stecken, weil ich nur dadurch unser Leben retten konnte. Es ist für mich nicht weniger bitter als für dich. Wie fühlst du dich, Nabib?« Nabib vergaß alles. Er vergaß seinen Kopfschmerz, Hunger und Durst und abgestorbene Gelenke. Er vergaß seine bruchstückhafte Erinnerung. Nur eines vergaß er nicht. Er holte Luft, und dann begann er zu keifen: »Meine Waren! Meine Truhen und Kannen und Ballen! Du Wahnsinniger! Du Witz von einem Seefahrer! Jaggar, du Nachfahre von Unaussprechlichen! Du zündest mein Hab und Gut an! Alle Vorräte! Alle Handelswaren! Jahrelang habe ich geschachert, betrogen und gehandelt! Schwitzend habe ich Sack um Sack aus Kartugs Lagerhäusern geschleppt, nur daß ich mein Vermögen rette! Und du zündest es an! War es dir in der Nacht vielleicht zu dunkel, du blinder Sohn eines gehirnlosen Vaters? Vergessen sei deine Mutter! Und du nennst dich mein Freund? Sei verdammt, Jaggar! Du mitsamt deinem Bart! Warum hast du nicht deinen Bart angezündet? Dieser irrsinnige Pirat! Betrunken wart ihr alle von meinem Wein! Legt Feuer an die Wellenreiterin! Ihr Narren! Ihr Unglückseligen! Ihr Verbrecher!« Er holte Atem, um weiterzuschreien. Jaggar sah ihn schweigend an, nur sein Gesicht wurde härter und weißer. Als Nabib wieder den Mund öffnete, um weiterzubrüllen, legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter. »Halt, Händler!« sagte Zimaron. »Kein Wort mehr, oder ich
schlage dir, obwohl du mein Herr bist, die Zähne in den Hals. Höre zuerst die Wahrheit, und dann urteile. Ihr alle wäret längst tot, wenn Jaggar nicht gewesen wäre! Und jetzt schweige und höre zu. Yina, willst du es ihm berichten?« »Ja«, sagte die junge Frau und trennte sich von Jaggar. Sie ging auf Nabib zu und ergriff dessen Hände. Sie blickte ihm lächelnd ins Gesicht und sagte leise: »Ihr alle dort unter dem Deck wart seit dem Tag, an dem das erste Faß geöffnet wurde, wie Wahnsinnige. Ständig betrunken und im Bann der Spinne. Wir mußten uns um euch kümmern wie um kleine Kinder. Es gab einen Sturm, und mit dem Schiff haben wir das Netz der Spinne verbrannt, die uns alle zerstückelt hätte. Ich spreche die Wahrheit, Nabib. Wir erzählen euch alles, wenn wieder Ruhe eingekehrt ist. Dort drüben, an diesem Strand werden wir landen. Außerdem haben wir die teuersten Stücke gerettet und hierher geschafft.« Nabib starrte sie lange an, dann senkte er den Kopf. »Entschuldigt«, sagte er schließlich. »Aber das alles habe ich nicht gewußt. Tatsache ist, daß wir ruiniert sind. Alle.« Respektlos warf der Koch ein: »Solange du lebst, Nabib, kannst du verdienen. Denke an das Elixier, hinter dem wir herjagen.« Nabib schüttelte nur noch fassungslos den Kopf. Während Zimaron wieder ans Steuer ging, halfen sie alle zusammen. Sie holten die Männer ans Deck, durchschnitten die Fesseln und kühlten die Beulen und die blauen Flecke. Der Koch fand Essen und teilte es aus, und am frühen Abend konnten sie einen Steinwurf von einem weißen Sandstrand entfernt den Anker werfen und das Segel bergen. Dreißig Männer und eine Frau gingen an Land und sahen sich um. Es war ein Platz, an dem sie es längere Zeit aushalten konnten. Mit dem Beiboot, der letzten Erinnerung an die Schwarze Wellenreiterin, holten sie Vorräte und Waffen an den Strand. Bald gab es drei Feuer, an denen der Koch seine Kessel aufgehängt hatte.
Als der Abend kam, saßen sie alle in einem großen Kreis um die Feuer, und Yina berichtete, was sie aus dem Leben der Spinne wußte. * »Sie heißt die Givara, und sie ist seit Jahrhunderten oder länger, so genau weiß ich dies nicht, die Herrscherin der Givaren. Dieser Stamm muß hier irgendwo leben und seine Felder bestellen.« Inzwischen wußten alle Männer, was geschehen war, während sie unter dem Bann der Spinne gestanden hatten. Zuerst waren sie ungläubig gewesen, dann erschreckt, und jetzt schwiegen sie, weil sie einsahen, daß Jaggar und Yina dafür verantwortlich waren, daß sie noch alle lebten. Yina berichtete den atemlos lauschenden Zuhörern weiter: »Die Givara stammte von Cnossos und einer Riesenspinne ab. Sie konnte sich verwandeln – in eine wunderschöne Frau oder in eine Spinne. Als Spinne aber hatte sie alle geistigen Fähigkeiten verloren, deswegen fiel es uns auch so leicht, sie mit Feuer zu töten. Hätte die Spinne einen menschlichen Verstand gehabt, wäre sie rechtzeitig geflohen. Als Königin war sie eine kluge Herrscherin. Sie hatte eine Garde aus Priesterinnen um sich. Alle Monate einmal überkam Givara der Drang, einen Mann zu lieben und ihn dann in der Art einer Spinne auszusaugen und zu zerstückeln. Das ging so seit unglaublich langer Zeit. Sie ist ein Wesen aus der Alten Welt, von der nur Dragon etwas weiß.« »Schon wieder Dragon!« murmelte Nabib. »Er scheint dir noch immer sehr am Herzen zu liegen.« Yina beachtete den Einwurf nicht und führte weiter aus: »Früher gab es bei den Givaren noch genügend Männer. Es bildete sich schnell ein Kult. Die Männer wollten eine so schöne Frau besitzen, und sie waren stolz darauf, in den Tempel gebracht und von den Priesterinnen vorbereitet zu werden. Man gab ihnen Drogen, und sie gingen gern in den Tod. Sie besaßen die Oberste
Priesterin des Kultes, also Givara selbst, für eine Nacht. Und am Morgen fraß die Spinne die Opfer.« »Wußte das Volk von diesem Treiben?« fragte Jaggar. Sie hatten eine der scharf gewürzten Suppen des Koches gegessen, und jetzt bedauerte er selbst, daß der letzte Schluck Wein getrunken war. Es gab keine Vorräte mehr. »Nicht die Mitglieder des Stammes. Nur die Priesterinnen waren eingeweiht. Das Volk wußte zwar, daß Givara unsterblich war – was nicht ganz stimmte, denn sie war sowohl sterblich als auch umzubringen …« »Was wir bewiesen haben!« unterbrach Uli der Starke und hob den Arm. »… das Volk hielt Givara für unsterblich, aber es verehrte die Riesenspinne als Gottheit. Es wußte nicht, daß die Frau und die Spinne ein Wesen waren. Aber langsam rottete die Spinne die Männer im Stamm der Givaren aus. Zuerst holten die Priesterinnen Männer aus der näheren Umgebung, dann führten sie Beutezüge in immer weiter entfernte Gegenden durch, und schließlich ging die Weiße Göttin als Schemen selbst auf die Suche.« »Und so fand sie uns!« »Richtig. Und sie besaß die Gabe, beispielsweise ein Schiff anzuziehen, wenn auf diesem Schiff ein geistig aktiver Mann war. Deswegen mußte Jaggar bis zuletzt auf dem brennenden Schiff bleiben. Ihr anderen wart ausgeschaltet. Ihr wäret jetzt tot, wenn euch Jaggar nicht gerettet hätte. Und wir sollten uns, Nabib, nicht um verlorene Handelsware streiten!« Ein Schweigen entstand. Holz knisterte im Feuer. Ein Mann rülpste. Irgendwo in den Büschen knackte ein Zweig. »Morgen werden wir das Schiff überholen und klarmachen. Wir brauchen Frischwasser, das Blut muß aus den Planken, und eine Menge Nahrungsmittel müssen wir auch einlagern!« sagte Jaggar. »Aber es eilt nicht.« »Mir eilt es!« rief Nabib. »Gut, ich sage kein Wort mehr über unzählige Ballen teuersten Tuches, über Gewürze, die teurer waren
als Gold. Ich spreche auch nicht von den Spitzenweinen aller nur denkbaren Ufer, ich denke nicht einmal an die Öle, die Spezereien und die wertvollen Spiegel und Geschmeide, die dort am Meeresgrund liegen. An all das denke ich nicht mehr, Jaggar. Aber ich denke an das Elixier der ewigen Jugend und an das Ende der Welt, durch das wir mutig vorstoßen wollen!« Jaggar winkte ab. »Mit diesem Boot dort können wir am Ufer entlangsegeln und uns bei jedem stärkeren Wind in eine Bucht wie diese flüchten!« »Das Ding ist für eine lange Seereise so ungeeignet wie ein Tonkrug, Nabib!« sagte auch der Steuermann und streckte sich im warmen Sand aus. Nabib lachte auf und deutete in die Runde. Dann sprang er auf die Beine und rief laut: »Diese Mannschaft hat bewiesen, daß sie der tödlichen Umarmung der Flotte aus Kartug entkommen konnte. Diese Mannschaft ist eine der besten, die je gesegelt sind. Und Jaggar ist der beste Kapitän, den ich kenne. Ich muß gestehen, ich kenne Jaggar ziemlich lange. Damals war er auch Kapitän, aber seine Arbeit war nicht friedliche Handelsfahrt.« »Ich glaube du willst Prügel von mir!« grollte Jaggar, der nicht genau wußte, worauf Nabib von Thinayda hinauswollte. Er erfuhr es im nächsten Satz. »Keine Prügel für die Wahrheit, Pirat! Erstens hast du die Wellenreiterin angezündet, und deshalb solltest du dich für Ersatz verantwortlich fühlen, mein Freund. Und, Vater der Stürme, bei deiner Erfahrung als Kaperkapitän, sollte es dir wahrlich leichtfallen, uns ein schönes, neues Schiff, dickbäuchig und schnell, mit gefüllten Laderäumen zu verschaffen.« »Endlich verstehe ich dich!« rief Jaggar unter dem brüllenden Gelächter der anderen. »Zeige mir dieses Schiff, und ich werde mein Bestes tun!« »Abgemacht!« rief Nabib. Er drehte sich um, und dann sagte er leichthin:
»Wenn mich nicht alles täuscht, und wenn meine alten Augen noch das sehen, was sie sehen, dann steht dort ein Mädchen, das sich nicht ans Feuer traut. Dort, bei dem runden Busch.« Das Gelächter riß augenblicklich ab. Die Männer wandten die Köpfe und blickten in die angegebene Richtung, dann griffen sie blitzschnell zu den Waffen. Einige sprangen auf, andere rissen Feuerbrände aus den flackernden Haufen und schwenkten sie über den Köpfen. »Tatsächlich! Ein Mädchen!« rief Nabib, der jetzt genauer sah. »Und dahinter noch eines! Freunde, wir bekommen Gesellschaft.« »Achtung!« Zimaron schwang eine riesige Bootsmannsaxt. »Das kann eine Falle sein. Wir sind an einer fremden Küste!« Eines der Mädchen, die langsam näherkamen, stieß einen Schrei aus, als sie die riesige, behaarte Gestalt des Steuermanns sah. Die Flammen beleuchteten ihn in schauerlichem Rot, und er wirkte wie ein Unmensch aus einer alten Sage. »Yina!« erscholl Jaggars Stimme. Die Mannschaft bildete einen Halbkreis und stand, sämtliche Waffen in den Händen, mit dem Rücken zum Wasser. Dorthin konnten sie flüchten, falls sie überfallen wurden. »Ist es eine Falle?« Mit angespannten Muskeln warteten alle auf die Antwort der jungen Frau. Yina aber hatte es nicht schwer. Die Gedanken, die ihr entgegenkamen, waren harmlos und ein wenig furchtsam. Die beiden jungen Frauen – und hinter ihnen wartete eine viel größere Gruppe – brachten Speisen und Wein, und sie waren nur gekommen, weil sie Männer und ein Schiff gesehen hatten, und weil Männer in ihrem Stamm selten waren. »Keine Falle. Sie kommen, um uns zu begrüßen!« Ihre Stimme klang hell über den Strand. Jemand warf frisches Holz ins Feuer. Die Flammen loderten hoch auf und beleuchteten den Sand bis an den Rand der Büsche. Dort kamen jetzt noch mehr Mädchen und junge Frauen hervor, und alle lächelten scheu und etwas ängstlich. »Kommt näher, Mädchen!« rief Jaggar lachend. »Werft die Waffen
weg, Freunde. Es ist doch noch Wein gekommen. Und heute haben wir einen echten Grund zum Feiern. Kommt heran! Setzt euch zu uns!« Es waren mehr als zwei Dutzend junge Frauen. Keine von ihnen war häßlich, und jede von ihnen trug Speisen und Getränke in einem großen Korb bei sich. Die ersten Worte wurden gewechselt. Es waren Frauen vom Stamm der Givaren. Schlagartig hatte sich die Stimmung geändert. Die Männer, die seit langer Zeit keine Frau gesehen hatten – nur Yina, und niemand wagte, Jaggars Weib anzurühren –, holten ihre Becher. Sie verständigten sich schnell mit den Mädchen, und kurze Zeit darauf saßen viele kleine Gruppen um die Feuer. Die Männer aßen die frischen Früchte, die angenehm säuerlich schmeckten. Wein floß in mitgebrachte Holzbecher. Die Mädchen suchten sich die Männer aus, die sie besonders nett fanden, und die Besatzungsmitglieder begannen, miteinander zu wetteifern, um Eindruck zu machen. Es war das alte Spiel, das immer wieder neu und gleichermaßen aufregend war. * Nabib hatte zwar keine Erinnerung an seinen damaligen Zustand, aber er wußte, daß er dem Wein heute nicht sehr stark zusprechen durfte. Er nippte an dem Becher – der Wein war gut und stark! –, dann aber biß er in eine Frucht und betrachtete im Feuerschein das Mädchen, das ihm gegenüber saß. Sie war zweifellos hübsch. Sie hatte sich in ein Tuch gehüllt, das über den Brüsten geknotet war, von einem breiten Stoffgürtel zusammengehalten wurde und drei Handbreit über dem Knie endete. Sehr verlockend, fand Nabib, und als er die samtbraune Haut und das schulterlange schwarze Haar ansah, gefiel sie ihm noch besser. »Wie groß ist euer Stamm?« fragte er, um überhaupt etwas zu
sagen. »Seid ihr alle so hübsch wie du?« Sie kicherte verlegen und erwiderte leise: »Wir sind etwa tausend Menschen. Wir wohnen dort in den Hügeln. Wir haben fast alles, was wir brauchen.« »Nur keine Männer«, meinte Nabib versonnen. Er versuchte etwas zu finden, mit dem er handeln konnte – dort in den Hügeln. »Fast tausend Menschen. Wo sind die givarischen Männer hingekommen?« »Wir wissen es nicht genau. Aber sie ziehen aus, um die Oberste Priesterin der Givara zu erobern, und wir sehen sie niemals wieder.« Nabib unterdrückte einen Schauder und sah zu, wie sie einen zierlichen Reifen am Handgelenk drehte. »Und warum geht ihr nicht auf die Wanderung. Zum nächsten Stamm, dorthin, wo es Männer gibt?« »Weit und breit wohnt kein anderer Stamm. Vielleicht haben sie Angst vor der Spinne, aber uns tut sie nichts.« Überall hatten sich kleine Gruppen gebildet. Lautes Gelächter ertönte, und nur Zimaron stand da und schien seine Kameraden zu bewachen. Nabib sah einen der Zwillinge, den Arm um ein Mädchen gelegt und einen Weinkrug in der anderen Hand, zwischen den Büschen verschwinden. »Wie wißt ihr, daß wir hier sind?« Das Mädchen drehte noch immer verlegen an ihrem Reifen und blickte Nabib prüfend an. Er streckte die Hand aus und begann, ihre Schulter zu streicheln. »Wir sahen eine gewaltige Rauchwolke. Und ein paar von uns gingen auf die Klippen. Dann sahen wir das Schiff.« »Keine Angst vor uns?« »Doch, ein wenig schon. Aber ihr seid Männer, und vielleicht bleibt ihr hier und helft uns.« Nabib zuckte die Schultern; ihm schauderte vor dieser Vorstellung, hier buchstäblich am Ende der Welt als Ackerbauer zu verblöden. Aber dann lächelte er breit und erinnerte sich, daß ein gutes Argument schon der halbe Verkaufserfolg war. Er entgegnete:
»Vielleicht bleiben wir hier. Vielleicht nicht. Wir werden sehen, wohin uns das Schicksal treibt. Macht ihr Mädchen diesen Wein?« Sie nickte eifrig. Nabib sah sich verstohlen um. Er sah den Kapitän und Yina, die über den Strand gingen. Sie waren barfuß, und ihre Füße warfen kleine, plätschernde Wellen auf. Sie sind glücklich, durchfuhr es Nabib. Er war es nicht, denn ihn hetzte seine Sehnsucht nach Erfolg, Jugend und Reichtum durch die Welt. Er war der Sturm, der in die Segel der anderen blies. »Warum? Ist der Wein schlecht?« Jetzt bestiegen Jaggar und Yina das Beiboot. Der Mann ergriff die Riemen und ruderte in die Richtung des dümpelnden Schiffes, das fast außerhalb des Lichtscheins lag. »Der Wein ist hervorragend«, sagte Nabib entschuldigend und veränderte seine Haltung. »Wie weit ist es zu dem Dorf?« »Einen Tagesmarsch!« Er ließ sich wieder zurückfallen. Plötzlich kam ihm eine weitere Frage in den Sinn. Er witterte neue Gefahren. »Du hast etwas von Priesterinnen berichtet. Es sind die Priesterinnen der Givara, nicht wahr?« »Du hast recht. Woher kennst du unsere …?« Nabib vollführte grinsend eine eindeutige Bewegung und erklärte: »Ich weiß manches. Wieviel Priesterinnen gibt es? Sind sie schön?« Jetzt war das Mädchen vollkommen unsicher. Sie zuckte die zierlichen Schultern und antwortete zögernd: »Es wird etwas weniger als hundert Priesterinnen geben. Es sind die schönsten, stärksten und klügsten Mädchen des Stammes. Sie werden herausgesucht, wenn sie jung sind. Givara ist die Schönste von allen, und sie sucht selbst aus. Und dann erzieht sie die Mädchen selbst. Die Priesterinnen wohnen in kleinen Hütten am anderen Ende der Hängebrücke. Wir dürfen nicht dorthin gehen, das ist heiliges Gebiet.« Wieder bemerkte Nabib zwei Pärchen, die sich vom Feuer entfernten und irgendwo zwischen den raschelnden Ranken und Zweigen verschwanden. Ein Feind, der sie überfallen würde, hätte
heute leichtes Spiel. Aber die Anwesenheit von Yina bedeutete, daß sie rechtzeitig warnen konnte. Nabib war noch immer nicht sicher, ob auch er auf das Schiff zurückkehren sollte oder nicht. Er faßte das Mädchen – es mochte zweiundzwanzig Sommer alt sein – unter das Kinn und sagte leise und drängend: »Wir sind arme und schutzlose Seefahrer. Und wir fürchten uns davor, verschleppt zu werden. Deswegen habe ich gefragt. Es könnte sein, daß die Priesterinnen uns überfallen. Und ich persönlich kämpfe ungern mit Frauen. Ich ziehe es vor, sie zu lieben!« Sie begriff und lachte ihn schelmisch an. »Warum tust du es nicht? Du redest nur immer wie ein Kaufmann mit schlechter Ware.« Nabib glaubte, sich verhört zu haben, aber dann begann er schallend zu lachen. Er trank den Becher leer, schlug sich klatschend auf die Schenkel und rief dann: »Die Stunde sei gepriesen, die mich an diesen ärmlichen Strand geworfen hat. Mädchen, ich kenne nicht einmal deinen Namen, aber ich liebe dich schon jetzt! Komm, gehen wir auf die Spitze dieses Hügels dort. Von dort können wir die Sterne besser zählen.« Sie lachte und entgegnete: »Ich heiße Bente, und die Sterne habe ich noch nie gezählt!« Wortlos hielt ihr Nabib den Becher entgegen. Sie füllte ihn bis an den Rand mit feurigem, süßem Rotwein.
5. Seit zwei Stunden arbeiteten alle Besatzungsmitglieder zusammen. Die Frauen und Mädchen aus der Siedlung der Givaren halfen ihnen. Die Mädchen waren traurig, weil sie erkannten, daß die Männer wieder in See stechen würden, aber sie schienen trotzdem das Zwischenspiel zu genießen. Unaufhörlich bemühten sie sich jedoch, die Männer zum Hierbleiben zu bewegen. Eine Kette von Besatzungsangehörigen zog den Küstensegler, der aus Tradition auch den Namen Wellenreiterin erhielt, ans Ufer heran. Dann gingen sie daran, das Schiff zu reinigen und zu überholen. Aber es waren nicht viele Planken zu dichten; das Schiff fuhr noch nicht sehr lange. Alrun, der kleine, schmächtige Schiffszimmermann mit der fahlen Haut, breitete seine Werkzeuge aus. Er hatte sich nicht von ihnen getrennt. Es gab an allen nur denkbaren Stellen kleine Schäden auszubessern, Verbesserungen anzubringen, zu glätten und zu hobeln. Fünf Stunden nach Sonnenaufgang hallte die Bucht wider vom Hämmern und von Kommandos, vom Gelächter und von den kreischenden Blöcken, in denen neue Taue liefen. Eine Gruppe von Besatzungsmitgliedern trug die Wassersäcke und die Fässer zur nahen Quelle. Dort wurden sie gescheuert und ausgewaschen und dann mit frischem Wasser gefüllt. Sie bildeten eine lange Reihe am Strand. Eine zweite Gruppe schlug das Segel los und breitete es am Strand aus. Haalbek, der Segelmacher, einer der Nomaden aus Lu'ur, ein ehemaliger Sklave aus Myra, den Dragons Verfügung befreit hatte, machte sich über das Segel her und hörte nicht eher auf, bis es seinen Ansprüchen genügte. Er war ein Meister seines Faches, und Jaggar samt seinem Steuermann konnten sich auf ihn verlassen. Nabib, der etwas müde und angegriffen wirkte, stand neben Jaggar und Yina am Strand und sah den arbeitenden Männern zu.
Zwischen ihnen bewegten sich die graziösen Mädchen und schenkten verdünnten Wein ein, boten Früchte, Fladen und Braten an und halfen, wo sie konnten. »Nun, zufrieden?« erkundigte sich Jaggar. Er hatte seinen wild wuchernden Bart gestutzt und sah wieder erholt und ausgeruht aus. »Zufrieden mit dem, was wir gerettet haben?« Nabib erwiderte vorsichtig: »Du weißt, ich will keinen Streit. Ich freue mich, daß ihr Gold, Münzen und Geschmeide, also die wertvollsten Güter, auf den Küstensegler gebracht habt.« Yina schaltete sich ein. Vielleicht hatte sie seinen Unwillen gespürt, jedenfalls sagte sie: »Glaube mir, es ging nicht anders. Wir haben getan, was wir konnten. Wir waren nur sieben Leute!« »Ich mache euch keinen Vorwurf, liebste Frau des Kapitäns. Ich überlege nur die ganze Zeit, was ich mit diesem Kapital hier in dieser gottverlassenen Gegend anfangen kann.« »Vermutlich nicht viel!« murmelte Jaggar. Er blickte aufmerksam zum Schiff hinüber und vermerkte voller Freude den Eifer der Besatzung. Sie schienen alle die Zeit ungeschehen machen zu wollen, während der sie im Bann der Weißen Spinne gestanden hatten. »In Kartug wäre es etwas anderes. Aber vielleicht kommen wir bald in etwas, das den Namen Stadt verdient.« »Warum handelst du nicht in der Siedlung?« Nabib winkte ab. »Mit einem Dorf voller Frauen? Nur Männer sind gute Händler. Nein, danke, ich verzichte. Ich beschränke mich darauf, euch zu helfen, damit wir von hier bald wieder wegkommen.« »Ins Reich des Südens!« Nabib grinste breit. Seine Augen suchten das Mädchen Bente, mit dem er die Nacht zusammengewesen war. Schließlich, als er sie drüben beim Segelmacher entdeckte und sie zu ihm herüberwinkte, meinte er etwas unsicher:
»Ja, zum Elixier der ewigen Jugend. Aber nicht zu schnell, denn ich merke, daß ich doch noch nicht zu alt zur Liebe bin.« »Dazu ist niemand zu alt«, meinte Yina. Jaggar und Nabib wechselten einen langen, ernsten Blick. Sie hatten sich freiwillig entschlossen, nach dem Reich des Südens zu suchen. Aber nun wußten sie, daß dieses Reich – wie groß und mächtig es auch sein mochte – von Kriegern bevölkert war, die so schnell und so unbarmherzig waren wie Karnaks Truppe. Aber schließlich waren sie selbst Händler und keine Eroberer. Sie wollten Elixier kaufen, nicht erbeuten. »Machen wir weiter!« schlug Jaggar vor. »Wir sollten uns nicht zu lange hier aufhalten.« Das Schiff mußte wenigstens so gut überholt werden, daß sie sich ein wenig weiter vom Ufer entfernen konnten. Niemals würde der Küstensegler die Leistungen der zweiten oder gar der ersten Wellenreiterin erreichen, aber die Mannschaft und die wenigen Güter mußten sicher sein. Deswegen wurde gehämmert, geschliffen, genäht und geknotet. * Uli der Starke, der Bootsmann, hatte die Bucht verlassen. Seit einer Stunde lief und kletterte er in dem Gelände rund um die Bucht. Er hatte die Erlaubnis Jaggars, nach zwei verschiedenen Dingen Ausschau zu halten. Erstens suchten sie einen Weg auf einen der höheren Felsen, von dem aus man weit auf das Meer hinaussehen konnte. Jaggar segelte nicht gern ins Ungewisse, und er wollte sich einen Überblick verschaffen. Zum zweiten suchte Uli nach Spuren von Verfolgern, von Beobachtern oder nach den Priesterinnen der Weißen Göttin. Bisher hatte er nichts gefunden. Uli blieb stehen und drehte sich langsam um die eigene Achse. Auf seinem Rücken hing ein Schild, im Gürtel trug er zwei Dolche,
und in der Hand die schwere Bootsmannsaxt. Der Wind, der vom Land herkam und sein langes blondes Haar zerzauste, war warm und trug die Gerüche bestellter Felder mit sich. Undeutlich erkannte Uli unter den Schatten ziehender Wolken die Felder und einige Hütten des weit auseinandergezogenen ersten Dorfes. Er war allein. Das Mädchen, das ihn gestern die ganze Nacht umschmeichelt hatte, war ins Dorf zurückgegangen. Er stand auf halber Höhe über der Bucht. Tief unter sich sah er das Schiff und die vielen Gestalten, die auf ihm herumkletterten, Gegenstände ausluden und an den Strand brachten, das große Segel lag auf dem Sand, und wieder andere schleppten Fässer ins Schiff zurück. Überall wurde gearbeitet, aber der Wind verschluckte den Großteil der Geräusche. Links von ihm zeigte ein fast unkenntlicher Pfad, wohl von Ziegen oder anderen Tieren getreten, daß der Felsgipfel hin und wieder betreten wurde. Uli packte das Beil fester, sah sich abermals um und ging den Pfad entlang. Er wich den dornigen Gewächsen aus, stolperte über lockere Steine, schritt im Zickzack aufwärts. Hin und wieder verlor er die Bucht aus den Blicken, dann machte der Pfad wieder eine Biegung und änderte seinen Lauf. Was von der Seite der Bucht aus wie ein schroffer Felsen aussah, verlief hier nach rechts in einem bewaldeten Hang. Das hatte er nicht vermutet. Uli blieb stehen, beschattete seine Augen mit der Hand und sah hinter einer fernen Felskante eine Insel auftauchen. Auf der Spitze der Insel entdeckte er ein großes, weißes Gebäude. Er zuckte zusammen – war dies die Insel der Spinne? Er ging beunruhigt weiter. Seine Sohlen machten kaum Geräusche, als er zwischen stark riechenden Blüten und stacheligen Gewächsen den Serpentinen des schmalen Pfades folgte. Es ging ununterbrochen aufwärts, einmal steiler, dann wieder flacher. Rechts von ihm begann eine Art halbhoher Wald, der dort in der Senke endete, in der sie den breiten
Bach gefunden hatten und die Quelle. Uli blieb stehen und holte tief Luft. Ungehindert brannte die Sonne auf seine bloßen Schultern. Er lauschte in die Richtung des Waldes hinein, aber er hörte nur das Knistern, mit dem sich die Pflanzen und Blätter aneinander rieben. Die Zikaden vollführten einen höllischen Lärm. Uli hob die Schultern und kletterte weiter. Jetzt begann sich die Gegend zu verändern. Er sah immer weiter aufs Meer hinaus. Es war ein völlig klarer Tag. Der Wind, der aufgefrischt war, hatte den Nebel und den Dunst weggeblasen. Mehrere Tagesmärsche weit konnte Uli den Verlauf der Küste nach Westen mit den Augen verfolgen. Es war eine von Buchten, Felsen, Einschnitten und langen Sanddünen unterbrochene Linie, die sich nur langsam nach Norden krümmte. Dort, wo dies geschah, verschwand das Ufer unter dem Horizont. Dort muß das Ende der Welt liegen, dachte Uli schaudernd. Und ich bin sicher, daß wir bis zum Reich des Südens eine Menge schrecklicher Abenteuer erleben werden. Nicht alle von uns werden zurückkommen. Viele werden in fremdem Land begraben werden müssen. So wie die Besatzung des Küstenseglers. Die Bucht war nur noch ein winziger Halbmond, die Freunde wirkten wie Ameisen, die um das Boot wimmelten. Uli blickte aufwärts und sah, daß er nur noch dreißig Mannslängen hatte, bis er die oberste Stelle des Felsens erreichte. Er ging weiter und warf immer wieder unsichere Blicke in die Richtung des Waldes. Hier oben änderte sich die Natur der Pflanzen; sie wurden brauner, waren kleiner und stacheliger und härter. Ein Mensch konnte sich aber noch immer zwischen ihnen verbergen. Endlich stand er ganz oben. Hier erzeugte der Wind ein summendes, heulendes Geräusch. Er war so stark, daß sich Uli gegen ihn stemmen mußte. Er befand sich auf einem kleinen Plateau, das völlig unbewachsen war. Es gab nur
einen unregelmäßigen Belag aus Bruchstein, der mit Sand ausgefugt war. Moosstreifen wuchsen in den Sandrillen. Den östlichen Abschluß dieser Plattform bildete ein zahnförmiges Stück Felsen. Dort erkannte Uli einen gemauerten Herd, darüber ein Dach aus Pflanzenteilen, das sich auf zwei halbkreisförmige Mauern stützte und mit dem Felsen verschmolz. »Das ist natürlich. Ich würde hier auch einen Wachturm bauen!« murmelte er und dachte an die klobigen, zyklopischen Rundtürme seiner Heimat. Er blickte nach Westen. Dort sah er wieder die Küste. Inseln konnte er keine entdecken. Jaggar, der von hier oben seinen Kurs für die nächsten zwei Tage bestimmen konnte, würde eine seiner Karten zeichnen können. Im Norden war nichts als das weite Meer. Uli starrte, die Hand über den Augen, nach Süden. Er blickte über ein hügeliges Land von seltsamem Aussehen. Alle Täler waren grün und voller Felder und kleiner Wälder aus Palmen und seltsam zerfaserten großen Bäumen. Die Hügel bestanden aus Felsen und Sand. Uli erkannte schmale Straßen und ebensolche Brücken. Offensichtlich war die Herrschaft der Weißen Göttin in ihrer Frauengestalt nicht schlecht gewesen, wenn auch die einzigen Arbeitskräfte dort drüben Frauen und Mädchen waren. Uli grinste; dies würde sich ändern. Die Weiße Spinne fraß keine Männer mehr, und zweifellos hatte die Besatzung der dritten Wellenreiterin in dieser Nacht bereits für Nachkommen gesorgt, ungewollt. Und wie er seine Kameraden und sich kannte – es würden Söhne werden. »Und jetzt die Insel!« sagte er, aber er hörte seine eigenen Worte nicht wegen des Windes. Er drehte sich herum, sah einen Schatten und handelte blitzschnell. Er sprang zur Seite, riß den Arm mit dem Beil hoch und sah den Schatten eines Netzes, das durch die Luft kreiselte und über ihn fiel. Ein zweiter Sprung brachte ihn eine Mannslänge weit auf die
Hütte zu. Die hochgerissene Axt verfing sich in den Maschen des Netzes und entglitt seiner Hand, als das Mädchen an der Leine riß. Das Netz streifte seine Schulter und fiel zu Boden. Uli wirbelte herum und schrie vor Überraschung auf. Hinter den beiden Bruchsteinmauern schien ein schmaler Gang gewesen zu sein. Durch diesen Durchlaß war das Mädchen gekommen. Sie wich aus, als seine Hand zum Dolch zuckte. »Was willst du?« schrie Uli wütend. Der heimtückische Angriff hatte ihn überrascht. Der Wind zerrte an seinem Körper, aber diesen Nachteil hatte auch seine Gegnerin. Sie umkreisten sich auf dem kleinen Plateau wachsam, nach vorn gebückt, das Mädchen trug eine Waffe in der Hand, die an die Zangen eines riesigen Käfers erinnerte oder … Siedend heiß fiel es ihm ein. »Die Mandibeln einer Spinne!« rief er verblüfft. Das Mädchen war groß und schlank. Sie war herrlich gewachsen und der Traum eines jeden Mannes. Aber sie war eine Amazone. Das lange schwarze Haar war im Nacken zu einem kurzen, dicken Zopf zusammengedreht. Über der Stirn trug sie einen helmartigen Metallreifen, auf dessen Vorderseite das Zeichen einer Spinne prangte. Sie war in eine Art Kettenhemd gekleidet; kleine Metallscheiben, die miteinander durch Ringe verbunden waren. Die Waffe in ihrer Hand war furchtbar, und jetzt machte sie einen Vorstoß. Sie warf sich mit einem kühnen Sprung auf ihn und streckte den rechten Arm vor wie ein Fechter. Er sprang hoch und krümmte seinen Körper. Der Stoß ging zwei Fingerbreit an seinem Magen vorbei und ins Leere. Während seine Hand herunterzuckte und der Amazone den Knauf des Dolches zwischen die Schulterblätter schlug, ertönte ein hartes, metallisches Klicken. Die beiden Zangen – mit mehrfachen, flammenförmig geschmiedeten Auswüchsen, ähnlich den Werkzeugen riesiger Krebse – gingen ruckhaft zusammen wie eine Schere.
Uli brachte sich mit einem weiteren Sprung in Sicherheit, trat auf den Rand des runden Netzes und schauderte abermals. Hätte sich sein Arm zwischen den beiden Waffenhälften befunden, wäre er halb abgeschnitten worden. Während sich die Amazone herumwarf, noch halb im Sprung, trat Uli zu und schleuderte das Netz mit seinem Beil zusammen in die Ecke, die Plateau und Mauer bildeten. Mit einer schnellen Bewegung riß er den Schild vom Rücken und hielt ihn in der linken Hand, hatte den Halteriemen am Unterarm. Er schützte seinen Körper und ging langsam auf das Mädchen zu. Ihre Augen funkelten. Ihr Mund stand halb offen und zeigte die spitz zugefeilten Augenzähne. Ihre langen Beine steckten in halbhohen Stiefeln, auf denen Metallschienen glänzten. Wieder umkreisten sie sich. Die blitzende Spinnenzange bewegte sich hin und her. Das Mädchen atmete schwer. Ihre Brust hob und senkte sich unter den Metallplatten. »Du bist Priesterin der Weißen Göttin!« rief Uli. »Warum willst du mich töten?« »Ihr seid Eindringlinge. Ihr habt das Netz zerstört!« Er verstand. Er hatte eine der Priesterinnen der Weißen Frau vor sich, die alle Ankömmlinge als Feinde betrachteten. Die Garde der Göttin mußte selbstverständlich diejenigen, die ihrer Herrin etwas antaten, als Feinde bekämpfen. Hoffentlich war sie allein, denn gegen zwei der Amazonen hatte er höchstens mit dem Beil eine Möglichkeit der Gegenwehr. Gleichzeitig reizte ihn die Schönheit dieser jungen Frau. Sie erregte ihn, und er wollte sie haben. Er grinste und sagte: »Schwester, du versuchst besser, mich umzubringen. Denn wenn ich gewinne, dann bist du meine Beute! Und ich bin kein schlechter Kämpfer!« Als Antwort spuckte sie aus und sprang vorwärts. Er erwartete den Angriff in ruhiger Haltung. Als die Zange hochzuckte und nach seinem Hals zielte, riß er den Schild nach oben und stieß gleichzeitig damit zu. Krachend bohrten sich die Spitzen durch das Metall, das Leder und das Flechtwerk. Eine Schneide
ritzte einen Finger, die andere zerschnitt die Haut seines Unterarms. Der rechte Arm Ulis holte aus und schlug von der Seite aus zu. Der große Knauf des Dolches schlug zwischen zwei Metallplatten dicht unterhalb des Schultergelenkes auf die Muskeln des linken Arms. Die Amazone schrie auf, ließ sich rückwärts fallen und riß mit dieser Bewegung die Schere wieder aus dem Schild. Die Spitzen waren blutig, und hinter dem Schild tropfte Blut zu Boden. Uli wurde wütend. Er sah, daß der linke Arm des Mädchens bewegungslos herunterhing. Der Schlag hatte ihn gelähmt, und diese Lähmung würde lange anhalten. Jetzt griff der blondhaarige Nordländer an. Er sprang vorwärts, duckte sich und pendelte mit dem Oberkörper hin und her. Seine rechte Hand mit dem langen Dolch zuckte vor und zurück. Er zielte nach dem Kopf und dem rechten Arm. Jedesmal, wenn die furchtbare Waffe sich seinem Körper näherte, schlug er mit dem Schild so hart zu, wie er konnte. Die Schnittwunden begann zu schmerzen. Er wußte, daß sie ihn umbringen würde, wenn es ihr gelang. Er aber wollte sie nur entwaffnen, weil er sie haben wollte. Es war kein leichter Kampf. Das Mädchen kämpfte wie eine Löwin, weit besser als viele Männer. Und erbitterter als der Fürstensohn, den er zwischen den hochragenden Steinen im Abendrot erschlagen hatte, nach einem Kampf, der mittags begonnen hatte. Noch heute dachte er daran, wie sein Schwert über der Rüstung in den Hals des jungen Mannes gefahren war. Wieder schlug er mit der Schildkante zu und traf das Handgelenk. Als das Mädchen aufschrie, sah er die Furcht in ihren Augen. Sie sprang zurück und preßte sich gegen die Felswand. Uli lachte breit, warf den Dolch in die Luft und fing ihn mit der Spitze wieder auf. Er hob den Arm, zielte kurz und tat dann so, als würde er den Dolch nach ihr schleudern. Die Amazone duckte sich. Uli warf sich nach vorn. Sein Fuß schnellte hoch und traf abermals das Handgelenk des Mädchens. Die Wucht des Schlages riß den
Arm hoch. Ein gellender Schrei entrang sich der Kehle des Mädchens, als sich ihr Griff löste und die schreckliche Waffe aus der Hand glitt. Die Spinnenschere überschlug sich in der Luft, prallte auf den Rand der Plattform und fiel dann klappernd über die Felsen herunter ins Meer. Im selben Augenblick war Uli bei ihr. Sein Schild und sein Körper preßten sie gegen den Felsen, und die Spitze des Dolches drückte auf ihrem Kehlkopf. »Nun, Priesterin der Weißen Göttin, ist es geschehen. Ich habe dich besiegt. Dem Sieger die Beute – so ist es Gesetz.« Sie beide atmeten keuchend. Ihre Gesichter waren kaum eine Handbreit voneinander entfernt. Sie starrten sich in die Augen. »Dein Gesetz! Es ist nicht das Gesetz der Weißen Göttin!« sagte sie unterdrückt. Sie hatte Angst, und außerdem hatte sie mit Sicherheit den ersten Kampf ihres jungen Lebens verloren. »Richtig. Mein Gesetz. Und es gilt jetzt!« sagte er hart. »Du bist jung und willst nicht sterben. Du weißt, daß die Weiße Spinne getötet wurde?« Sie schüttelte wild den Kopf und stieß hervor: »Das ist nicht wahr! Sie wird zurückkommen. Sie ist unsterblich. Ihr Fremdlinge seid machtlos gegen sie!« Uli lachte heiser. Der Schweiß lief über seinen Körper, und er verstärkte den Druck der Dolchspitze ein wenig. »Wir sind nicht machtlos«, sagte er. »Und jetzt, meine schöne, schwarzhaarige Beute, hast du drei Möglichkeiten. Du kannst wählen.« Sie starrte ihn wild an. Er gab den Blick zurück und wartete. Jetzt hatte er genug Zeit. Er hatte gesehen, was er sehen mußte, aber ihm fiel dazu noch etwas ein. »Ich werde nicht wählen!« sagte sie stolz. »Ich bin eine Priesterin der Weißen Göttin! Wenn du mich anrührst, wird sie dich fürchterlich strafen.« Uli schüttelte den Kopf und erwiderte ohne Zorn: »Sie wird mich nicht strafen. Sie wird niemanden mehr strafen.
Denn sie ist tot. Sie ist in den Flammen des schwarzen Schiffes verbrannt. Finde dich damit ab.« Wieder schwiegen sie. Uli ließ den Schild zu Boden gleiten, faßte mit der linken Hand an den Arm des Mädchens und drehte sie herum. Er legte den Arm um ihre Brust und schob die Priesterin, den Dolch zwischen ihren Schultern, auf den Rand des Plateaus zu. Er blieb stehen, als er an ihrem Kopf vorbei die Insel und die Passage sehen konnte. »Dort drüben. Was ist das?« fragte er. »Das ist die Insel der Göttin. Gärten sind dort, Brunnen mit gutem Wasser, und der Tempel. Es ist der Tempel der Spinne und der Palast der Göttin.« Er nickte zufrieden und murmelte: »Ein leerer Tempel, ein ausgestorbener Palast. Siehst du das Netz, oder die Reste des Netzes?« »Es wird wieder gesponnen werden. Schon viele Stürme haben am Netz gerissen!« »Niemals mehr wird es dort ein Netz geben!« versprach Uli. »Diese Plattform? Sprich! Ist es euer Ausguck?« »Ja. Diesen Mond muß ich hier sein und berichten!« »Ich verstehe. Was wirst du berichten, falls ich dich nicht töte?« Sie zuckte in seinem Arm zusammen, und die Dolchspitze bohrte sich in ihre Haut. »Alles, was geschehen ist.« »Wieviel Priesterinnen gibt es?« fragte er nach einer Weile. Sie standen beide regungslos da und stemmten sich gegen den Wind. Sein Griff lockerte sich ein wenig, aber er ging das Risiko nicht ein, sie loszulassen. Er rechnete fest damit, daß sie sofort zu fliehen versuchte. Und da sie die Gegend und alle Pfade weitaus besser kannte als er, würde er sie vergeblich verfolgen. »Wir sind fünfundsiebzig. Auf jeden von euch fast drei Priesterinnen. Wir werden euch alle opfern!« »Leicht gesagt«, meinte Uli. »Da ich es weiß, werden wir uns vorsehen. Und wie gut wir kämpfen, hast du erlebt.«
Er drehte sie herum und schob den Dolch in die Scheide. In sein Gesicht kam ein Lächeln, als er sie musterte. Unter seinem Blick, aus dem Leidenschaft und Verlangen sprachen, errötete sie. »Jetzt, schönste Beute, weiß ich alles, was ich wissen wollte. Nun zu dir. Du hast dreifache Wahl.« »Wie kann ich wählen? Ich bin in deiner Gewalt!« Sie war unsicher geworden. Vielleicht hatte sie seine Sicherheit und Stärke überzeugt, dachte er. Langsam sagte er, während seine Hand unter ihr Kinn faßte: »Ich kann dich töten, denn du wolltest mich töten. Es war ein ehrlicher Kampf. Ich kann dich mit Gewalt nehmen, oder du entschließt dich, mich freiwillig zu lieben.« »Ich will nicht sterben!« sagte sie. Uli gab ihr ein weiteres Zeichen seiner Überlegenheit. Er ließ sie los und ging, ohne sie aus den Augen zu lassen, zu der Stelle, wo das Fangnetz lag. Er wickelte es schnell auseinander, zog seine Axt heraus und warf sich das Netz über die Schulter. Dann blieb er vor dem Durchgang in den Felsen stehen. »Ich will dich nicht töten«, wiederholte er. »Ich will dich lieben.« Sie kam zögernd auf ihn zu. Ihr linker Arm hing noch immer gelähmt herunter. Sie blieb dicht vor ihm stehen und sagte heiser: »Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Er hob die Arme und zog sie an sich. »Ich werde es dir zeigen!« sagte er. Zuerst streifte er den helmartigen Reifen von ihrer Stirn und ließ ihn achtlos fallen. Der Wind rollte ihn über die Plattform und hinunter über die Felsen. Als sich ihre spitzen Zähne in seine Lippen bohrten, stöhnte er auf. * Unter den vorsichtigen Schritten der beiden Priesterinnen begann die Hängebrücke leicht zu schwingen. Aber Givana und Ginata kannten diese Bewegung und ließen sich nicht aufhalten. Als die beiden Priesterinnen das erste Drittel der Brücke aus silbernen
Spinnenfäden hinter sich hatten, blieben sie stehen und blickten hinunter in die Passage. Sie sahen jetzt erst ganz genau die furchtbaren Zerstörungen des Netzes, das sie kannten, seit sie zum ersten Mal auf die Insel gekommen waren. »Diese Fremdlinge. Sie haben ihr Schiff verbrannt, und die Flammen haben das Netz zerstört! Die Spinne wird lange Jahre weben müssen, Givana!« Nur noch einige Fäden spannten sich unterhalb der Hängebrücke über die Passage. Die Strömung, die zwischen dem Festland und der Insel sich drehte, hatte inzwischen alle Spuren des untergegangenen Schiffes mitgerissen. Aber noch immer roch es nach Rauch und nach dem verbrannten Gespinst. »Sie werden furchtbar büßen. Es sind ungefähr dreißig Männer. Merkwürdig, die Givara hat uns nicht gerufen. Was hältst du davon, Ginata?« Die angesprochene Priesterin hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, sie hat sich zurückgezogen.« Sie blieben auf der leise schwankenden Brücke stehen. Über die Felsen des Festlands und über die abschüssige Kante der Insel hingen die Fäden. Die schöne, ausgewogene Ordnung des Netzes war nicht mehr zu erkennen. Nur in den Fangnetzen, die beide Priesterinnen über der Schulter trugen, wiederholte sich das klare Muster der verschwundenen Falle für Schiffe und Männer. »Wir müssen sie fragen, welche Befehle sie für uns hat. Sie wird sich furchtbar rächen wollen.« »So ist es. Gehen wir zur Insel. Sie ist sicher im Palast. Oder im Tempel!« Sie schritten weiter und berührten nur hin und wieder das federnde Geländer der Brücke. Zwanzig Mannslängen unter ihnen sahen sie die kleinen Wellen und die Pflanzen am Grund des Wassers, die sich in der Strömungsrichtung bewegten. Wieder ging es leicht aufwärts, dann endete die Hängebrücke zwischen den ersten Bäumen der Insel.
»Eine merkwürdige Stille!« flüsterte Givana unsicher. »Ich höre nur Grillen und Vögel.« »Warte es ab. Keine von uns ist heute hier. Givara hat niemanden gerufen!« Sie folgten dem Pfad, den sie kannten. Er führte in leichten Windungen zwischen den Bäumen aufwärts, ging zwischen den beiden weißen Obelisken hindurch und endete vor den Stufen des Tempels. Der Tempel, eine weiße Kuppel, war der Weißen Spinne geweiht und trug die Zeichen dieses geheimnisvollen Wesens. Langsam gingen die beiden jungen Frauen die Stufen hoch und bemerkten, daß die Portale fest geschlossen waren. Die Kuppel trug das Muster des Netzes, die Portale waren mit den Zeichen der Spinne verziert; den silbernen Bildern dieses Wesens mit den acht schlanken Beinen und den scharfen Mandibeln. »Die Tore geschlossen, diese Ruhe … die Spinne ist nicht hier, Givana!« Sämtliche Priesterinnen besaßen Namen, die ihre Zugehörigkeit zu Givana symbolisierten. Sie begannen stets mit dem ersten Laut. Givana und Ginata waren die ältesten Priesterinnen; in wenigen Jahren würden sie jüngeren Platz machen müssen. Dann konnten sie versuchen, einen Mann zu finden, mit dem sie leben und Kinder zeugen konnten. »Warten wir. Suchen wir sie, aber wenn die Göttin schläft, dürfen wir sie nicht stören.« Die Portale gingen leise auf. Die leichten Stiefel der Priesterinnen machten kaum Geräusche, als sie in den kleinen, weißen Steinbau hineingingen. Unter der Kuppel mit ihren ausgesparten Öffnungen – auch ein Symbol des Netzes – hing ein echtes Netz, vollkommen symmetrisch, waagrecht als Decke für die Augen von der Spinne selbst gewoben. In der Mitte hing an einem senkrechten Faden die Nachbildung der Spinne aus kostbarem Metall. Edelsteine waren die Augen. In halber Mannshöhe pendelte die Spinne über dem Boden. Unter ihren acht Beinen war der rituelle Opferstein. Eine längliche Bank,
aus einem einzigen schwarzen Stein geschnitten. »Ist sie hier?« »Ich sehe nach!« Givana stieg die schmale Treppe hinauf. Die Stufen schwangen sich im Halbrund entlang der Wand und bis hinauf zu der großen Öffnung, hinter der die Dunkelhöhle der Spinne lag. Die Wände der Höhle waren wie ein Kokon mit Gespinst ausgeschlagen, aber als Givana einen Blick hineinwarf, sah sie, daß die Höhle leer war. Sie drehte sich um und rief leise: »Leer. Die Spinne schläft nicht hier!« Also hatte die Spinne keinen der Männer aus dem Schiff holen können. »Gehen wir in den Palast, Givana!« Sie wurden unruhig, weil sie ahnten, daß etwas Unglaubliches geschehen war. Als sich das Schiff näherte, waren sie von Givana ans Festland geschickt worden. Sie sollten zurückkommen, wenn sie gerufen wurden. Dann hatten sie die riesige Flamme und die Rauchwolken gesehen und waren hierher gerannt. Als sie ankamen, war das brennende Wrack untergegangen, und das kleine Schiff legte bereits in der Bucht an. Sie fanden weder die Spinne noch die Göttin, aber das beunruhigte sie nicht so sehr. »Sie ist bisher immer wieder zurückgekommen. Als Spinne oder als Göttin.« Givana blickte Ginata kurz an und wisperte: »Vielleicht hat sie sich in einen Mann verliebt. In diesen starken Kapitän, von dem sie sprach!« »Vielleicht!« Sie schlossen leise die Portale und gingen langsam um den Tempel herum. Über dem Pfad wölbten sich die gebogenen Lianen, über die sich blühende und grünende Ranken schlangen. Ein zweites Tor schob sich in ihr Blickfeld. Auch dieses Tor, diesmal weniger breit und nur so hoch, daß ein Mensch hindurchgehen konnte, war geschlossen. Die Spinne aber konnte kein Tor schließen.
»Denke daran! Sie hat uns nicht gerufen!« »Ich denke daran. Aber ich sorge mich um die Göttin!« Ginata schob das Tor auf. Sie warf einen langen Blick in den Raum hinein, der spiegelglatte Boden war leer bis auf das weiße Bündel der Kleider. Der Schleier lag vor dem Spiegel aus poliertem Metall. Die Göttin hatte sich verwandelt. Dabei war das Kleidungsstück abgeworfen worden. Fassungslos sagte Ginata: »Sie hat sich nicht wieder angezogen. Das bedeutet, daß sie in der Gestalt der Spinne ist.« »Und was tun wir?« »Gehen wir zurück zu den anderen. Ich denke, wir sollten die Fremden fangen und ein großes Opfer bringen. Dieses Opfer wird uns die Göttin wiederbringen.« »Gut!« Ginata und Givana machten noch einen Rundgang durch den Palast, aber sie fanden ihn leer und verlassen. Mit dieser bedrückenden Botschaft kamen sie wieder zum Festland und berichteten den anderen Priesterinnen, was sie gefunden hatten. Die Priesterinnen beschlossen, genau das zu tun, was ihnen die Herrscherin befohlen hätte, wäre sie bei ihnen gewesen. Sie mußten den Zauber der Rückkehr ausführen.
6. Der Strand war völlig verlassen. Nur ein einziges Feuer loderte in der Mitte der sichelförmigen Sandfläche, und rund um die Flammen war genügend trockenes Holz gestapelt, um das Feuer die ganze Nacht über hoch und lodernd zu halten. Nach der Rückkehr Uli des Starken hatte sich alles geändert. Nabib, bewaffnet und voller Grimm, ging rund um das Feuer, schob ein paar Bohlen tiefer hinein und wandte seine Augen ab, um nicht geblendet zu werden. »Verdammt!« sagte er. »Ausgerechnet heute! Und dort drüben in den Büschen und in den ersten Hütten warten die Frauen auf uns. Mit Wein und frischen Früchten und mit den Köstlichkeiten ihrer Küche und ihrer Körper.« Bartulok befand sich auf der anderen Seite des Feuers. Der Rest der Besatzung hockte verdrossen auf dem Schiff und ärgerte sich. Aber sie sahen ein, daß Jaggar recht hatte. »Amazonen! Priesterinnen! Wir schlagen sie mit der flachen Hand in die Flucht! Bei unserem Stamm sollte einmal eine Frau es wagen …« Der dunkelhäutige Koch konnte es nicht fassen, daß rund fünfundsiebzig zu allem entschlossene Amazonen die Mannschaft nicht nur überfallen, sondern sie auch gefangennehmen konnten. »Andere Strände, andere Frauen«, erklärte Nabib im Tonfall der Belehrung. »Du solltest einmal die Amazonen von Agrion kennenlernen. Sie nehmen es einzeln mit zwei guten Männern auf! Wenn diese hier nur halb so gute Kämpferinnen sind – du hast gehört, was Uli berichtet hat!« »Schon gut. Wir können noch immer flüchten!« brummte ärgerlich der Koch. Sie hatten die erste Wache. Ihre Aufgabe war, Holz nachzuschieben und die anderen zu warnen. Sie würden mit einem Sprung im Boot sein und zum Schiff zurückrudern, das, von einigen
Lichtern erhellt, weiter draußen in der Bucht lag. Auch dort waren die Männer bewaffnet. »Meinst du, daß sie diese Nacht kommen?« fragte Bartulok nach einiger Zeit. Er konnte sich noch immer nicht beruhigen. »Wer weiß? Vielleicht, vielleicht auch nicht!« Sie gingen weiter. Dreißig Schritte nach jeder Richtung. Der feuchte Sand knirschte unter den Sohlen. Hin und wieder sprang platschend ein Fisch aus dem Wasser. Rund um die Bucht knisterte, knackte und bewegte es sich unaufhörlich. »Die Mädchen! Die Frauen!« rief der Koch und deutete mit dem Schwert auf den Halbkreis aus Büschen, hohen Schilfgräsern und niedrigen Bäumen. »Sie warten noch immer. Sie werden auch morgen früh noch dort sein!« erwiderte Nabib. »Ich bin nicht sicher!« Sie warteten eine Stunde lang. Nichts geschah, die wenigen Rufe vom Schiff her und zurück verstummten nach und nach. Eine Laterne erlosch auf der Wellenreiterin. Bartulok und Nabib gingen hin und her, warfen frisches Holz in die Flammen, blickten immer wieder hinüber zu den Büschen. Als Bartulok nach einem Kloben griff und in die weiße Glut schleuderte, hörte Nabib hinter sich das Tappen leichter Füße. Er drehte sich schnell herum, hob das Schwert und ging in Angriffshaltung. Als der Schauer der Funken in die Höhe stob, sah Nabib, daß es Bente war. »Mädchen!« rief er, halb erschrocken, halb erfreut. »Ich habe dir doch gesagt, daß die Gefahr uns alle umgibt. Die Gefahr, bestehend aus vielen zornigen Priesterinnen.« Bartulok stimmte ein meckerndes Gelächter an, blieb aber mit dem Rücken zum Wasser stehen. Bente rannte auf Nabib zu, warf sich ihm um den Hals und sagte: »Ich habe auf dich gewartet. Ich habe es nicht mehr ausgehalten, Nabib!« Nabib streichelte beschwichtigend ihre Schultern und versuchte
sie zu beruhigen. »Du mußt zurück! Geh zurück in die Siedlung. Wir erwarten einen Überfall der Amazonen. Einer von uns hat heute mit einer Priesterin gekämpft, auf Leben und Tod. Geh zurück, Bente!« »Ich will nicht!« Nabib packte sie am Oberarm, drehte sie herum und schlug ihr mit der flachen Klinge leicht auf die Kehrseite. Dann schob er sie in die Richtung der Büsche. »Los, schnell!« »Erinnerst du dich nicht, Nabib! Komm mit! Oder laß mich hierbleiben!« »Nein!« Nabib ging mit ihr einige Schritte vom Feuer weg auf das Gebüsch zu. Er war wütend und ärgerlich zugleich. Wütend, weil sie gekommen war, und ärgerlich, weil er nicht mit ihr mitgehen konnte. »Was ist dort los?« schrie Jaggar vom Schiff herüber. »Nichts«, rief Nabib zurück. »Nur Bente ist gekommen. Ich bringe sie zurück zum Wald!« »Nehmt euch in acht, Freunde!« »Keine Sorge.« Nabib zog das Mädchen mit sich und ging langsam geradeaus. Hinter ihm bewegte sich auch Bartulok einige Schritte vom Feuer weg. Nabib redete auf Bente ein, aber sie zeigte sich uneinsichtig. Schließlich, nur einige Schritte von den ersten Büschen entfernt, blieb er stehen und sagte in endgültigem Ton: »Die Priesterinnen werden dir nichts tun, Bente. Wir sehen uns wieder, wenn die Sonne am Himmel steht.« »Komm mit!« sagte sie und versuchte, ihn mit sich zu ziehen. Er schüttelte den Kopf und versuchte, sich aus ihrem Griff zu lösen. Als sie losließ, sprangen von drei verschiedenen Stellen glänzende Gestalten aus den Büschen. In der Luft schwirrte etwas, und dann legten sich Netze über Bente und Nabib. »Ich komme!« schrie Bartulok und rannte, das Schwert
schwingend, auf Nabib zu. Nabib begriff einige Herzschläge zu spät. Er versuchte, die Fäden des Netzes, das sich über ihn senkte und sofort hart zugerissen wurde, mit dem Schwert zu zerschneiden. Aber ihn traf, während die Schneide durch die Maschen fuhr, ein schmerzhafter Hieb am Handgelenk. Dann rissen die beiden Amazonen an den Zugseilen und warfen ihn in den Sand. Um ihn bildete sich eine Gruppe, die das Netz noch enger zog und die beiden Zugschnüre mit erstaunlicher Geschwindigkeit um seinen Körper wickelte. »Bleib weg!« schrie Nabib auf und warf sich herum. Er versuchte, an seinen Dolch zu kommen. Während er kämpfte, trat eine Priesterin hart auf sein Handgelenk. Zwei andere befreiten Bente aus dem Netz und trieben sie mit Verwünschungen und Schlägen der flachen Waffen ins Gebüsch zurück. Bartulok war heran, prallte gegen eines der Mädchen und schlug mit dem Schwert zu. Zwei Amazonen stellten sich zum Kampf, und während er auf beide eindrang und sein Schwert mit erstaunlicher Gewandheit und Schnelligkeit führte und damit auf jene furchtbaren Eisenmandibeln einschlug, drehte sich eines der runden Wurfnetze durch die Luft, legte sich um seine Schultern und wurde zugezogen. Eine Amazone sprang ihn wie ein Raubtier von hinten an und warf ihn zu Boden. In wenigen Augenblicken war er entwaffnet. Einige seiner Amulette rissen ab und fielen in den Sand. Eine Amazone stellte ihren Stiefel auf den Hals des Kochs und sagte kurz: »Bringt sie weg! Weit genug. Mit ihnen locken wir die Männer vom Schiff!« Unbemerkt konnte Nabib Luft holen. Während er hilflos zusehen mußte, wie vier Amazonen sein Netz packten, in das er wie ein Tier verschnürt war, das man auf den Markt brachte, schrie er: »Jaggar! Bleibt auf dem …« Der Schaft einer unbekannten Waffe traf ihn im Nacken und
schlug ihn bewußtlos. Sein Schrei endete in einem Gurgeln. Dann wurden die zwei Körper vorwärtsgerissen und davongeschleppt. Die Amazonen, von denen Bartulok und Nabib getragen wurden, schienen im Dunkeln sehen zu können, denn sie brauchten keine Fackeln. Ein Scheit fiel in sich zusammen. Ein Funkenregen erhob sich. In seinem Licht sahen Jaggar und die übrigen Männer nichts als einen leeren Strand und Büsche, in denen sich Menschen bewegten. * Kapitän Jaggar ahnte, daß sie wieder in eine Falle liefen, aber er mußte dieses Risiko eingehen. Yina blieb auf dem Schiff zurück. Eben erreichte der erste Mann die Stelle, an der man aufhören konnte zu schwimmen. Die Männer zogen Fackeln und ihre Waffen auf Brettern hinter sich her oder schoben sie vor sich durchs Wasser. Jaggar war der erste, der das Feuer erreichte, dort einige Stücke Holz hineinschob und sich dann bewaffnete. Er hatte den Leichtsinn Nabibs mitangesehen, den sinnlosen Versuch Bartuloks, und jetzt mußten sie versuchen, die beiden Männer zu finden und die fünfundsiebzig Amazonen in die Flucht zu schlagen. Jaggar, den Bogen in der Hand und eine Fackel zu Füßen, drehte sich um und sah die lange Reihe der Wartenden und Schwimmenden an, dann schrie er: »Nur eines kann uns retten, Männer! Wir müssen zusammenbleiben. Derjenige, der sich von der Gruppe entfernt, wird von den Priesterinnen gefangen. Denkt daran, was Uli erzählt hat.« Murmelnde Antworten erfolgten aus der Richtung des Schiffes. Nacheinander erschienen alle Männer. Sie trockneten sich flüchtig ab, bewaffneten sich und steckten die Fackeln in die Flammen. »Uli! Zimaron!« rief Jaggar unterdrückt. Sie umrundeten das Feuer, und sofort waren beide Männer neben ihm.
»Käpten?« »Wir müssen versuchen, die Amazonen bis zum Tageslicht zu beschäftigen. Sie werden wie die Partisanen kämpfen – wie damals Dragon und seine Leute. Und die Nacht ist immer der Freund der Partisanen.« »Ich habe verstanden!« meinte Uli. »Ich weiß, wo die Priesterinnen wohnen!« »Sie werden sicher dort sein und auf uns warten, du weißhäutiger Narr!« spottete der Steuermann. Sie setzten sich in Bewegung. Sie gingen in Dreierreihen und loser Ordnung. Ihre Fackeln warfen zitterndes Licht rundum und sandten lange Rauchfäden in die Luft. Schrittweise näherten sie sich der Stelle, an der Nabib und Bartulok überfallen worden waren. Jetzt bewegte sich nichts mehr in den Büschen – die Frauen der Siedlung waren wahrscheinlich vertrieben worden. »Sie erwarten uns auf dem Weg!« erklärte Jaggar. »Denn sie wollen uns fangen wie die Givara.« »Das glaube ich auch!« sagte Uli, der sich jetzt fragte, ob ihm Ginesa helfen würde. Er war überzeugt, in ihr die Liebe geweckt zu haben. »Hier sind Spuren!« Sie sahen die Abdrücke von bloßen Füßen und Stiefeln im Sand, dann die tiefen Spuren der Mädchen, die Nabib und den Koch weggeschleppt hatten. Langsam, eng aneinandergedrängt, gingen sie den Spuren nach. Sie schlichen so leise, wie sie es vermochten und lauschten angestrengt. * Alrun und Haalbek befanden sich am Ende der Gruppe. Haalbek trug eine Fackel, und Alrun hatte einen Pfeil auf der Sehne. Er sicherte nach hinten und stolperte jetzt vom Sand hinweg zwischen die ersten Büsche. Es bildete sich eine schmale Gasse, weil die Vorangehenden die Gewächse niedertraten und mit den
Schwertern und Beilen die Äste abschlugen. Die Amazonen würden vermutlich im Wald oder zwischen den Büschen kämpfen, und sicher nicht im offenen Gelände, das im Mondlicht lag. »Still! Ich höre etwas!« flüsterte Haalbek. Er blieb stehen. »Geh weiter! Schnell!« zischte Alrun. Seit der Zeit, in der sie als Sklaven in Myra geprügelt worden waren, halfen die Zwillinge einander und hielten zusammen wie Brüder. Sie waren abenteuerlustig, aber dieser Marsch war keineswegs das, was sie sich immer gewünscht hatten. Seit Dragon sie befreit hatte, waren sie zusammengeblieben. Meistens waren sie mit Jaggars Schiffen gesegelt. Aber dieser nächtliche Wald mit seinen unheimlichen Geräuschen erschreckte sie. Sie schlossen auf und blieben dicht hinter den anderen Männern. Der Lichtschein der Fackeln tanzte zwischen den Zweigen. Die Büsche warfen bizarre Schatten. Jenseits des Blickfelds flüchteten kleine Tiere – oder liefen dort die Amazonen? Grillen zirpten, aufgescheuchte Vögel flatterten vor den Gesichtern der Seeleute vorbei und erschreckten sie. »Dort! Ein Mädchen!« Haalbek hob die Fackel, und tatsächlich sahen sie beide gleichzeitig, wie hinter einem Pflanzenvorhang ein Mädchen rannte. Sie lief in die Richtung, in die auch die Männer hasteten. Nur zwei Mannslängen entfernt, und sie schien die Zwillinge nicht zu sehen. »Hinterher! Ich decke dich!« Alrun, der nicht nur flink und beweglich war wie ein Gaukler, sondern einen ebenso schnellen Verstand hatte, zog die Sehne an und sprang dorthin, wo das Mädchen in wenigen Augenblicken sein mußte, wenn sie mit dieser Geschwindigkeit weiterlief. Er kam an den Rand einer winzigen Lichtung, drehte sich herum und sah sie, weil hinter ihr Haalbek mit der Fackel erschien. »Halt!« sagte Haalbek laut. Alrun zog die Sehne aus, zielte blitzschnell und schoß den Pfeil ab. Das Mädchen schrie auf, der Pfeil traf sie unterhalb der Schulter. Haalbek erreichte sie, als sie zusammensackte und Netz und Waffe
fallen ließ. Alrun griff in den Rückenköcher und zog den nächsten Pfeil heraus. »Hierher, Männer!« schrie Haalbek. »Wir haben eine Amazone!« In den Zweigen über Alrun knackte es. Er warf sich zur Seite, aber es war zu spät. Das Netz traf ihn in der unnatürlichen Bewegung des nach hinten gewinkelten Arms, und das Mädchen, das von oben auf ihn heruntersprang und ihn zu Boden riß, schlug ihn bewußtlos. Eine Amazone rannte, während rundum die Büsche krachten, auf Haalbek zu. Er wollte ihr die Fackel ins Gesicht rammen, aber von beiden Seiten kamen andere Angreiferinnen und warfen die Netze über ihn. Eine hielt seinen Arm fest, entwand ihm die Fackel und schleuderte sie in die Richtung der heranstürmenden Männer. Dann packten die Mädchen zu, betäubten Haalbek und zerrten die beiden bewußtlosen Männer über den Waldboden, über knorrige Wurzeln und durch messerscharfe Gräser davon. Wenige Augenblicke später, als Jaggar mit seinen Leuten die Stelle erreichte, war sie leer. Nur in den Büschen krachte es. Zweige schnellten und peitschten zurück. Aber niemand sah etwas. »Wer war das?« »Haalbek und Alrun müssen es gewesen sein. Sie bildeten den Schluß!« »Verdammt! Sie führen uns an der Nase herum. Das werden sie bereuen – Uli?« Der blonde Hüne brach durch die Büsche wie ein Bulle. »Was willst du?« »Führe uns zu ihren Behausungen. Wir stellen ihnen eine Frist. Sonst brennen wir die Häuser nieder, verwüsten den Tempel und zerstören den Palast!« Jaggar schrie so laut, daß es im Umkreis von hundert Mannslängen jeder hören mußte. Auch und gerade die Priesterinnen. Er sah ein, daß eine Verfolgung hier und um diese Zeit selbstmörderischer Leichtsinn gewesen wäre. Also ging er
wieder zum Angriff über. »In drei Stunden sind wir dort!« versicherte Uli. »Mir nach, Freunde!« Er schwenkte seine Fackel und begann loszulaufen. Er kannte den Weg nicht genau, aber er wußte die Richtung und konnte sich, sobald sie aus diesem Wald draußen waren, nach den Sternen orientieren. Die Besatzungsmitglieder folgten ihm. Dicht hinter ihm, mit hoch erhobener Fackel, rannte Jaggar. * Zimaron bildete jetzt den Schluß. Er rannte geduckt dahin, hielt das Beil in beiden Händen und sah vor sich den Fackelschein und den schmalen Rücken eines Matrosen. Er dachte an das Land der Wolfsmenschen und daran, wie er dort gekämpft hatte. Schon seit einiger Zeit glaubte er, hinter und neben sich Schritte zu hören. Es waren leichte Schritte, die Tritte rennender Mädchen. Aber er war nicht sicher. Hin und wieder drehte er sich um, warf nach jedem zehnten Schritt einen Blick nach rechts und links, aber er sah niemanden, den er verfolgen konnte, aber auch niemanden, der ihn angriff. Der Stein, der aus der Dunkelheit von rechts heranflog, traf ihn vollkommen überraschend. Plötzlich traf seinen Schädel ein harter Schlag. Zimaron blieb stehen, hob das Beil und schüttelte den Kopf. Blut lief in sein Auge. Er stöhnte auf. Zwischen den Stämmen bewegte sich etwas. Ein Mädchen kam mit ausgebreitetem Fangnetz auf ihn zu und tänzelte im Zickzack von einem Baum zum anderen. Rasch drehte sich Zimaron um. Auch dort stand eine Amazone und versuchte, ihr Netz zu schleudern. Mit einem wütenden Aufschrei stürzte sich Zimaron auf diesen neuen Gegner, holte mit seiner Waffe aus und wich nach links aus, als sich das Netz durch die Luft drehte.
»Hierher, Freunde!« rief er laut. Aber es wurde immer dunkler. Die Fackel entfernte sich. Sein Vordermann hatte nichts gehört. Zimaron wandte sich zur Flucht. Er konnte nicht in völliger Dunkelheit gegen mehrere Gegner zugleich kämpfen. Er sah undeutlich das flackernde Licht und rannte blind in die Büsche hinein, auf diese letzte Fackel zu. Ein zweites Netz schwirrte, noch ehe er die schützenden Gewächse erreichte. Er packte es mit einer Hand und schlug mit dem Beil zu, das er dicht hinter der Schneide gepackt hatte. Knirschend riß das Gewebe, aber noch während er rennend die Reste des Netzes abstreifte und davonschleuderte, landete ein weiteres Netz um seinen Körper. Er trat auf das Fangseil und stolperte. Er streckte die Arme vor, um sich abzufangen, aber eine Amazone sprang ihm mit beiden Füßen in den Rücken. Dann kamen fünf Mädchen aus allen Richtungen, warfen sich auf ihn und schlugen ihn bewußtlos. Das Lärmen des Trupps entfernte sich immer mehr. Bald war es an dieser Stelle nicht mehr zu hören. * Mehr als zwei Stunden, nachdem die Männer von Bord gegangen waren, fing Yina die Gedanken von mindestens fünf Menschen auf. Sie schloß die Augen und konzentrierte sich auf diesen Eindruck. Priesterinnen! »Sie kommen mich holen!« flüsterte sie und griff nach dem Bogen, der neben ihr auf dem Achterdeck lag. Der gefüllte Köcher stand neben der Reling. Sie sprang zum Heck und blickte ins Wasser. Sie sah nur das schwache Mondlicht auf den kleinen Wellen. Viele Tausend sichelförmige, zauberische Lichter, die sich unaufhörlich bewegten. Die Amazonen schwammen geräuschlos auf das Schiff zu, das
stand für sie fest. Sie begann Angst zu fühlen. Sie hielt den Atem an und lauschte. Hin und wieder ein leises Plätschern, das nicht im mindesten verräterisch klang. Ihr Blick glitt suchend über die Wasserfläche, sie ging von einem Ende des Decks zum anderen und suchte das Wasser ab. Nichts. Das Feuer am Strand wurde kleiner und kleiner, aber auch im Spiegelschein des Gluthaufens, der eine breite Bahn Helligkeit über das Wasser warf, konnte Yina keinen Kopf sehen, keine Arme, die das Wasser zerteilten. Sie hörte auch nicht die lauten Atemzüge von Schwimmenden. Wieder flüchtete sie zum hintersten Teil des Schiffes. Sie konzentrierte sich auf die Gedanken der Amazonen. Was sie fand, war: Der Wunsch, das Schiff gleichzeitig zu entern und von allen Seiten auf die Frau einzudringen. Das Bestreben, möglichst geräuschlos zu schwimmen. Und die Überzeugung, daß der Rest der kämpferischen Priesterinnen inzwischen die Besatzung des Schiffes bis auf den letzten Mann gefangengenommen hatte. Sie wurden als Opfer für den Zauber der Rückkehr gebraucht. Yina war entschlossen, die Pfeile zu verschießen. Aber sie wußte nicht, wohin. Die Furcht packte sie jetzt stärker und stärker. Plötzlich hörte sie vom Bug her ein Plätschern. Sie hob den kleinen Bogen. Aber noch immer sah sie nichts. Das gleiche Geräusch an Backbord, dann zweimal an Steuerbord, dann hinter ihr in der Nähe des Ruderblattes. Sie drehte sich herum. Sie suchte die Linien der Reling ab, spähte nach unten, drehte sich abermals und sah jetzt, daß am Bug jemand aus dem Wasser kletterte. Aber die Amazone blieb nur halb sichtbar. Sie bewegte sich in der Deckung von Mast und Vorratsstapeln. Yina lief nach links hinüber – die Angreiferin wechselte nach rechts. Yina zog die Sehne aus und sagte laut und deutlich:
»Ich bin bewaffnet! Ich werde jede von euch niederschießen, die es wagt, mich anzugreifen.« Die Antwort waren weitere plätschernde Geräusche und ein sanftes Schaukeln des Schiffes. Mehr Angreiferinnen kletterten über die Bordwände. Yina drehte sich hin und her, und dann zeigte sich an Backbord der erste Kopf. Sie wartete mit zitternden Fingern, die die Sehne hielten. Die Angreiferin schob den Oberkörper über die hölzerne Wehr und sah Yina schweigend an. Yina las den kalten Entschluß in den Gedanken, auch sie gefangenzunehmen und zu opfern. Sie zielte und feuerte den Pfeil ab. Im gleichen Moment verschwand die Angreiferin. Der Pfeil krachte ins Holz. Während Yina einen leisen Schreckenslaut ausstieß und einen zweiten Pfeil auf die Sehne legte, schwang sich auf der gegenüberliegenden Seite eine Angreiferin aufs Deck und lief geduckt einige Schritte bis hinter den Mast. Wieder schlug ein Pfeil ins Holz, genau in Höhe des Kopfes. Die Angreiferinnen arbeiteten sich vorwärts, während Yina Pfeile hochriß, auf die Sehne legte und schoß. Es lag etwas unheimlich Drohendes in diesem lautlosen Angriff. Als Yina die vier Mädchen sah, die jetzt ganz nahe – fast zu nahe für einen Pfeilschuß herangekommen waren, kletterte die letzte Amazone auf das Ruder, schleuderte das Rundnetz und riß hart an der Zugschnur. Yina rutschte aus, taumelte und fiel aufs Deck. Augenblicklich warfen sich die vier Mädchen auf sie, hielten sie an allen Gliedmaßen fest. Die älteste der fast nackten, triefenden Angreiferinnen sagte hart: »Du bist die letzte. Bringt sie weg, zu den anderen. Auch du wirst beim nächsten Mondwechsel geopfert werden.« Mit kühler, geschäftsmäßiger Lautlosigkeit wurden Yinas Handgelenke und Fußgelenke zusammengebunden. Ruderschläge näherten sich vom Ufer. Das Beiboot kam und holte alle sechs Frauen ab. Yina schwieg. Sie versuchte, in den Gedanken der Mädchen zu
lesen, was sie vorhatten. Vielleicht konnte sie auf diese Weise wieder einmal helfen. Für die Amazonen hatte es den Anschein, als habe sich ihre Gefangene stumm in ihr Schicksal ergeben. * Jetzt packte auch Kapitän Jaggar die Furcht. Er hatte eben eine neue Fackel entzündet. Hinter ihm hörte er die keuchenden Atemzüge Ulis. Sie liefen durch die letzten Büsche des Waldes, auf die Dünen und die flache Landschaft zu. Die Männer hinter ihnen waren alle niedergeschlagen und verschleppt worden. Uli und er flüchteten jetzt. Ihr einziges Ziel war es, sich irgendwo in Sicherheit zu bringen. Vielleicht sogar in den Hütten der Frauen, irgendwo. »Weiterlaufen!« keuchte Jaggar. »Ja, ich weiß …« Und dann geschah, was sie beide befürchtet hatten. Keine fünf Mannslängen von der rettenden Sanddüne entfernt, wuchsen zwischen und hinter den Büschen mindestens zwanzig Amazonen in die Höhe. Schwirrend flogen zehn oder mehr Netze auf die Männer zu. Sie rannten weiter, duckten sich, warfen sich hin und her, aber aus der halben Dunkelheit flogen weitere Fangnetze, fielen auf die Zweige, die Füße der Seefahrer verfingen sich in den Schlingen, sie stolperten, rafften sich wieder auf, und in dem Sprung, der Jaggar ins Freie bringen sollte, fing sich ein Netz um seinen Körper. Es zischte auf, als es in die Flammen kam. Einige Herzschläge lang roch Jaggar wieder diesen Geruch, der vom brennenden Spinnennetz der Passage ausgegangen war. Dann fielen sie über ihn her. Jemand trat ihm in die Kniekehlen. Eine andere Amazone schlug ihm mit dem Mandibel-Werkzeug die Fackel aus der Hand. Eine andere zerbrach den Bogen, und sie schlugen den Kapitän zu Boden. Undeutlich gurgelte Uli:
»Sie haben mich, Jaggar …« »Mich auch!« rief Jaggar zurück, aber ein weicher Absatz bohrte sich in seinen Mund. »Schweigt!« sagte eine herrische Stimme aus der Dunkelheit. »Ich bin Gionta, und ich versichere euch, daß keiner von euch den nächsten Mondwechsel überleben wird.« Jaggar gurgelte eine Antwort. »Es wird den großen Zauber geben. Ihr werdet der Spinnengöttin geopfert. Bis zu diesem Zeitpunkt werdet ihr das Dasein führen, das allen Gefangenen gemäß ist. Ihr seid Kettensträflinge und Sklaven.« »Givara ist tot! Wir haben sie getötet!« konnte Uli noch schreien, ehe Jaggar einen dumpfen Hieb hörte und zusammenzuckte. »Givara ist nicht tot. Sie ist unsterblich. Der Zauber wird dazu führen, daß sie, angelockt vom Geruch eures Blutes, zurückkommen und über uns herrschen wird. So ist es. Bringt sie weg, zu den anderen.« Halb betäubt, halb erstickt, fühlte sich Jaggar von vielen Händen hochgerissen und davongeschleppt. Der Kreis hatte sich geschlossen. Und wieder sind wir im Bann der Todesspinne, dachte er. Und diesmal wird uns keine verzweifelte List mehr helfen können. ENDE Kapitän Jaggar opferte sein Schiff, um sein Leben und das seiner Gefährten zu retten. Doch die Priesterinnen der Spinne sorgen dafür, daß Jaggar und seine Leute sich nicht lange der wiedergewonnenen Freiheit erfreuen können. Ihr Schicksal scheint besiegelt zu sein und in ewiger Dunkelheit zu enden. Auch für Myra und Dragons Thron, den zu halten sich Königin Amee bemüht, sieht es nicht allzu rosig aus. Dunkle Mächte finden sich dort zusammen, die den Umsturz anstreben … Mehr darüber berichtet Hugh Walker im nächsten Dragon-Band. Der Roman erscheint unter dem Titel:
SCHATTEN ÜBER MYRA