Johann Fabricius
Kapitän Bontekoes
Schiffsjungen
Tosa Verlag
scanned by rrosenberg corrected by bouncer63 zu Ehr...
75 downloads
616 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Johann Fabricius
Kapitän Bontekoes
Schiffsjungen
Tosa Verlag
scanned by rrosenberg corrected by bouncer63 zu Ehren von HWS
Im Auftrag hergestellte Sonderausgabe Alle Rechte vorbehalten Umschlag von Erich Hölle © by Johan Fabricius und Tosa Verlag, Wien Printed in Austria
Erster Teil Seewind »Satansjunge, halt den Bolzen fest!« »Ich halt ihn doch fest, Meister!« »Nennst du das festhalten? Aus dir wird nie ein guter Schmied werden.« Peter Hajo schwieg. »Will ich auch gar nicht«, murrte er dann. »W—was sagst du? Du willst nicht Schmied werden?« »Nein, Meister; ich will zur See.« Meister Wouter, der Hufschmied in der Schmiede »Zum eisernen Mann«, ließ den schweren Vorhammer, den er gerade erhoben hatte, vor Erstaunen eine Sekunde lang in der Luft schweben. Dann dröhnte ein Hammerschlag; die Funken stoben Meister und Knechte ins Gesicht, und die Baßstimme des Schmiedes bestätigte, was der Hammer in seiner eisernen Sprache bereits gesagt hatte: »Narrengeschwätz!« Peter Hajo sah schweigend nach dem rotglühenden Bolzenende. Auch Meister Wouter schwieg, aber seine kurzen, grimmigen Hammerschläge sagten Peter Hajo genug. Peter Hajo verstand die Sprache des Schmiedehammers. Wenn er im Halbdunkel des Wintermorgens die rötlich beleuchtete Schmiede betrat, hatte er draußen schon gehört, wie sein Meister gelaunt war. »Möchtest du nicht mal ein bißchen anblasen?« brummte Meister Wouter. »Das Feuer ist beinahe aus. Auf diese Weise kann ich den Hammer plattschlagen, und der Bolzen bleibt doch rund.« »Wie kann ich anblasen, Meister, wenn ich ...« »Bist du ein Jüngferchen, daß du den Bolzen nicht mit einer Hand festhalten kannst?« Peter Hajo war kein Jüngferchen. Er umklammerte mit seiner rechten Faust den Bolzen, zog mit der linken den Blasebalg, ließ sich nicht anmerken, daß die Schläge ihm nun bis in die straffen Muskeln des Rückens weh taten. Ein breites Grinsen erschien auf seinem rußbedeckten Jungenantlitz, als er fragte: »Und wenn ich mir nun die Nase kratzen muß, Meister?« »Lege sie nur auf den Amboß, dann werde ich sie mit meinem Hammer kratzen! Was willst du auf See! Heringe fangen? Und ertrinken wie dein Vater? Oder von den Dünkirchener Kapern auf die Galeeren gebracht werden?« »Ich will mit den Walfischfängern fahren, Meister. Und später nach Ostindien. Aber...« Peter Hajo schluckte etwas hinunter. »Jungen von vierzehn wollen sie nicht mithaben, Meister. Man muß sechzehn sein. >Fange du nur Gründlinge!« sagen sie.« Meister Wouter schmunzelte. Aber sein Gesicht bezog sich, als seine böse Frau zur Schmiede hereinstob und keifte: »Bist du taub? Dreimal ist schon die Ladenklingel gegangen, und mir brennen die Rüben an!« Der Hufschmied vom »Eisernen Mann« sah verblüfft nach der Tür, die mit einem Knall wieder zugefallen war, legte dann brummend und achselzuckend den Schmiedehammer nieder und verließ die Werkstatt. Peter Hajo blieb allein, starrte in die Flammen der Esse. »Komm man wieder zurück, wenn du sechzehn bist!« hatte es geheißen. — Über zwei Jahre! Es war zum Tollwerden! Als ob er nicht die Arbeit eines sechzehnjährigen Jungen leisten könnte! Er wollte die Sechzehnjährigen aus Hoorn erst einmal sehen, die den Bolzen so festhalten konnten, wie er es soeben getan! Und gab es einen einzigen unter ihnen, der es mit ihm aufnahm? Hatte er nicht erst vor drei Tagen Peer den Bos eine Tracht Prügel verabreicht, wie der sie sein Leben lang noch nicht gekriegt hatte, weil er, ohne um Erlaubnis zu fragen, in dem Eisloch gefischt hatte, das Peter Hajo mit der größten Mühe in das zwei Fuß dicke Eis geschlagen hatte? Peer den Bos, der wohl einen Kopf
größer war als er! Es war eine Gemeinheit, ihn als Landfrosch herumspringen zu lassen, ihn, der,
als er noch kaum laufen konnte, die Taue, die die zurückkehrenden Fischer seinen älteren
Freunden zuwarfen, schon mit einem richtigen Seemannsknoten um die Molenpfähle schlang;
ihn, der sich mit fünf Jahren heimlich in Vaters Fischkutter versteckt hatte und mit zum
Heringsfang gefahren war! Wie verlangte es ihn, die weite Welt zu sehen und mit richtigen
Seemannsbeinen zurückzukommen und aufzuschneiden, gerade wie die braungebrannten
Teerbüxen, die mit Ian Pieterszoon Coen nach dem Osten gezogen waren und nun die Wahrheit
sprachen oder logen, wie es ihnen in den Sinn kam, ohne daß eine Landratte sagen konnte: »Du
saugst dir's aus den Fingern!« — Der Osten ...! Darauf brauchte er fürs erste nicht zu rechnen.
Vielleicht später, wenn er erst ein paar Reisen mit einem Walfischfänger gemacht hatte, wenn
die Haut seiner Hände gesprungen war durch das Einsalzen, wenn die Tranluft ihm in Haar und
Kleidern hing — vielleicht würden sie ihn dann mitnehmen. Ach, die Herrlichkeit! Peter Hajo
erschienen im Geist Bilder von Bergen, flatternden Papageien, tanzenden Wilden, von Affen,
Tigern, Krokodilen ...
Weg war das Bild. Da stand er, Peter Hajo, Lehrling in der Hufschmiede »Zum eisernen Mann«.
Da lag der Bolzen, den er nachher wieder festhalten mußte; da hing der Balg. Zwei Jahre lang
noch würde er zwischen grauen Wänden und schmutzigen Fensterscheiben den Blasbalg ziehen
müssen und Bolzen festhalten. Zwei Jahre lang noch würde er statt des Seewindes, der ihm das
Blut klopfen machte, Eisengeruch und den Gestank versengter Pferdehufe einatmen müssen.
Still! Was hörte er da? Er lauschte. Draußen, auf der Gasse, kam singend ein Trupp Jungen
vorbei:
»Zur See! Zur See!
Der Wind bläst von der Rhee!
Der Wind bläst in den Rocken!
Wer wird zu Hause hocken?
Zur See! Zur See!«
Peter Hajo wußte, daß sie im Hafen Butt fangen gingen. Und er? Er...! Als Meister Wouter nach
einer Weile wieder die Schmiede betrat, machte er große Augen. »Satansjunge!« murmelte er.
Grimmig packte er den Bolzen; der Hammer fiel mit der Wucht eines Donnerschlags auf das
glühende Eisen. Peter Hajo war verschwunden.
Draußen herrschte Dezember. Peter Hajo zog die Mütze über die Ohren, steckte die Hände in die
Taschen und setzte sich in Trab, um warm zu werden. Im siebzehnten Jahrhundert war ein
Winter noch ein Winter! Bald bekam er die singenden Jungen zu Gesicht. Da stakte Leendert,
»Langer Leen«, der natürlich wieder der Anführer des Trupps war. Peter Hajo würde ihn, sobald
sich die Gelegenheit bot, mal ordentlich durchhauen, denn Leen sah stets verachtungsvoll auf
einen herab und konnte sich auf die Dauer zuviel einbilden. Und auch Padde war dabei, der
gutmütige Dicke, der fortwährend mit den Äuglein zwinkerte und natürlich wieder die Netze und
den Eimer tragen mußte. Padde war Hajos Schatten, folgte ihm auf dem Fuß bei all seinen
Streichen. Er war es, der Hajos Heldentat ruchbar machte und ihn jedermann gegenüber
verteidigte, wenn Hajo selbst nicht dabei war, um es zu tun. Hundertmal war es vorgekommen,
daß Padde, der nicht so schnell laufen konnte, wie die Umstände es manchmal erforderten, in die
Klauen eines zornigen Bauern oder Nachtwächters geriet und Hajo am nächsten Tag unter
bitteren Vorwürfen auf seine Beulen, Schrammen und blauen Flecken aufmerksam machte. »Warum läßt du dich fassen?« fragte Hajo dann. Padde fuhr auf. »Gut, geh du künftig nur allein! Du brauchst nicht zu denken, daß ich mir das geringste aus dir mache!« Und er zwinkerte stärker denn je mit den Augen. Aber wenn Hajo wieder zum »Apfelauflesen« nach dem Garten des Sankt-Katharinen-Klosters ging, war Padde wieder bei ihm und kroch schnaufend und keuchend über Mauern und Zäune — zum großen Mißvergnügen seiner Mutter, die ihn darüber mit ihren großen, harten Händen braun und blau schlug, wenn sie nicht zu müde dazu war. Das kam dann vom vielen Flicken und Stopfen; denn Padde hatte sieben jüngere Geschwister, die einen ganzen Haufen Höschen und Röckchen zerreißen konnten. »Hajo!« rief Padde erfreut, als er seinen Helden ankommen sah. »Ich dachte, du stündest im >Eisernen Mann<.« »Es wurde mir da zu warm«, sagte Hajo. »Und Wouter war so im Hämmern drin, daß ich in einem fort ans Buttklopfen denken mußte. Wo wollt ihr ihn klopfen gehen?« »In der Karpfenkuhle«, war die Antwort. »Möchtet ihr es nicht lieber in Mutters Waschbottich probieren? Da habt ihr die gleiche Aussicht auf Erfolg. Nein, wißt ihr, wo der Butt sitzt? Um den Italienischen Seedeich herum. Da ist Eis genug. Und der Aal sitzt da auch noch.« »Jawohl«, bestätigte Padde, »da steht zwanzig Ellen dickes Eis.« »Gut«, sagte Langer Leen, »geht ihr ruhig zum Italienischen Seedeich! Wer legt euch was in den Weg? Her mit dem Beil, Padde! Wir gehen zum Karpfenkuhle.« Padde zögerte, »Der Butt kommt da bestimmt nicht hin, und Aussicht auf einen fetten Aal habt ihr auch nicht, denn es ist stehendes Wasser.« Peter Hajo blieb ruhig. »Wessen Eimer ist das?« fragte er.»Meiner«, erwiderte Padde. »Und das eine Netz ist auch meins.« »Topp! Leg das andere hin und komm mit! Das Beil brauchen wir nicht; Stampfen geht mit dem Holzschuh und Aufhacken ist nicht nötig, denn ich habe da noch ein Loch.« »Das Stampfen überlaß nur mir!« sagte Padde. Er nestelte zwei andere Netze los, die ihm noch über die Schulter hingen, und gab das an den Langen Leen zurück. »Laßt sie laufen, Kinder!« sagte dieser. »Wir haben sie wahrhaftig nicht nötig. Ich habe zu Hause zehn Eimer.« »Wetten, daß in der ganzen Karpfenkuhle kein halber Butt herumschwimmt?« rief Padde, während er sich anschickte, Hajo zu folgen, der bereits loszog. »Wartet doch!« riefen die Schouwen Dudes und noch ein paar kleinere Jungen. »Wir gehen mit euch.« »Laßt das gefälligst!« drohte Hajo. »Jetzt brauche ich euch nicht mehr.« Schweigend liefen Hajo und Padde über den Kornmarkt und die Fährmannskade entlang mit ihren hohen Lagerschuppen und vornehmen Patrizierhäusern. Gerade wollten sie beim Hauptturm rechts abbiegen zum Italienischen Seedeich, als durch die eisfrei gehaltene Fahrrinne eine kleine friesische Tjalke in den Hafen hereinsegelte. Schnell sprangen sie zu, um beim Anlegen zu helfen. Um ein Haar wurde Padde durch das Tau ins Wasser geschleift, was er nur noch verhindern konnte, indem er einen kühnen Sprung an Bord ausführte. Hier landete er zu Füßen einer Gesellschaft vornehmer Herren. Verlegen krabbelte er wieder in die Höhe. Die Herren lachten und stiegen ans Land. Hajo grüßte sie ehrfürchtig. »Wer war das alles?« fragte er Schiffer Blok, den Eigentümer den Tjalke. »Der«, sagte Blok, »der mit dem Bart, das ist Schiffer Bontekoe.« »Natürlich! Aber die ändern?« »Kennen tu' ich sie nicht. Aber sie sind alle fünf von der Ostindischen Compagnie. Der Magere ist aus Enkhuizen und der Dicke mit den weiten Handschuhen kommt aus Zeeland. Ich mußte sie
mit der >Hoornschen Sonne<« — Blok wies auf seine Tjalke — »nach Texel bringen und wieder abholen. Da liegt die >Nieuw Hoorn<, weißt du?« »Die >Nieuw-Hoorn« »Dem Schiffer Bontekoe sein Kahn, der dieser Tage nach Ostindien geht. Den müßtest du sehen! Zweihundert Köpfe an Bord!« Hajo sah nachdenklich den vornehm gekleideten Herren nach, die gerade einen Augenblick stillstanden vor Bontekoes Haus auf der Fährmannskade. Padde griff wieder nach seinem Eimer, und die beiden Jungen setzten ihren Weg fort. Als sie auf dem Italienischen Seedeich anlangten, erwies es sich, daß Paddes Auskunft über die Dicke des Eises ungefähr stimmte; es sah vertrauenserweckend aus. Plötzlich blieb Hajo stehen. Der Blick in seinen Augen deutete auf Sturm. »Sieh mal, Padde«, sagte er langsam und zeigte geradeaus. »Was siehst du da auf dem Eis?« »Lieber Himmel«, rief Padde, »da klopft schon einer den Butt!« »Richtig«, bestätigte Hajo, »da fängt einer Butt in meinem Loch! Kennst du ihn? Ich nicht.« Padde begann aufgeregt zu schnaufen. »In unserem Loch! Nein, wer es ist, kann ich nicht erkennen. Ich sehe nicht so gut wie du.« Und Paddes Augengezwinker unterstrich diese Erklärung. »Komm mit!« befahl Hajo. Gemeinsam steuerten sie auf den ruchlosen Buttfänger los. Es war ein gutgekleideter Junge von ungefähr demselben Alter wie Padde und Hajo, der, mit seinem Eimer neben sich, kräftig mit einem Beil auf das Eis klopfte, um den durch die Kälte betäubten Butt zu wecken und zum Loch hinzujagen, in dem das Netz hing. Der Junge war so in seine Arbeit vertieft, daß er nicht merkte, was ihm drohte. Padde konnte seine Entrüstung nicht länger zurückhalten. Als sie den Deich abschritten, rannte er auf den eifrigen Klopfer zu. Dicht bei ihm angekommen, hatte er aber das Mißgeschick auszugleiten; er schlug hintenüber aufs Eis, das wenig nachgab, und richtete sich verbiestert wieder auf. Der Junge sah verwundert auf. Sein ernsthafes Gesicht nahm einen mitleidigen Ausdruck an. »Ja, das Eis ist hier glatt«, sagte er. »Was tust du hier?« fuhr Padde ihn an, während er auf seine kurzen Beine krabbelte. »Butt fangen«, antwortete der Junge. »Hast du dich verletzt?« »Butt fangen?« schrie Padde. »Ich werde dir helfen!« Der Junge sah Padde befremdet an. Dann sagte er: »Wo du jetzt stehst, ist es nicht mehr nötig; der Butt wird da wohl arg erschrocken sein.« Padde rang nach Atem. Da er die rechten Worte nicht fand, um seinen Zorn Luft zu machen, stieß er mit dem Fuß den Eimer um, der neben dem fremden Jungen stand. Der Butt sprang überall auf dem Eis herum. Da funkelte es in den Augen des unbekannten Jungen. Er sprang aus seiner knienden Haltung auf mit einer Behendigkeit, die von Padde halb mit Neid, halb mit Schreck wahrgenommen wurde, stellte sich vierschrötig vor den Störenfried und sagte ruhig und freundlich: »Tu den Butt wieder in den Eimer, bitte!« »Ich werde dich in den Eimer tun und ins Eisloch werfen!« entgegnete Padde. »Das tu nur!« erwiderte der Junge. »Aber suche erst den Butt zusammen! Eins — zwei...» Da kam Hajo an. »Halt, laß meinen Freund in Ruhe!« Der Junge maß seinen neuen Gegner von Kopf bis zu den Füßen, etwas, was Hajo nie vertragen konnte, vor allem nicht, wenn derjenige, der es tat, so musterhaft aussah wie dieser unbekannte Junge. »Guten Tag!« sagte der Fremdling freundlich. »Wo wohnst du?« klang es grimmig aus Hajos Mund. »Ich komme aus Alkmaar.«
»So, also du wußtest nicht, daß dies mein Eisloch ist?« »Dein Eisloch?« fragte der Junge, und unschuldig fügte er hinzu: »Und wenn das Eis nun wieder schmilzt — bleibt das dann dein Loch?« Das war zuviel. »Komm mit nach dem Deich!« sagte Hajo kurz. »Ich will mich mit dir messen.« Padde glühte vor Erwartung. »Nun sollst du mal sehen, Bürschchen, wer besser den Butt klopfen kann! Er wird dich ausklopfen, daß du tanzt wie ein geklopfter Butt!« Der fremde Junge achtete nicht darauf. »Ich gehe mit dir«, sagte er zu Hajo. »Aber erst soll der Dicke da...« Und langsam kam er auf Padde zu, der heftig mit den Äuglein zwinkerte. »Eins — zwei — dr...« »Such sie man zusammen, Padde«, sagte Hajo.Da bückte sich Padde. »Ich tu's, weil ich schnell sehen will, wie du ihn verhaust, Hajo«, erklärte er. Peter Hajo und der musterhafte, unbekannte Junge begaben sich nach dem Deich. Zwanzig Schritte hinter ihnen her folgte keuchend Padde, an einem Arm seinen eigenen Eimer, am ändern den Eimer mit dem Butt. So langten sie auf dem verlassenen Deich an. Padde stellte seinen leeren Eimer umgekehrt auf die Erde und setzt sich. »Fang an!« sagte Padde. Die beiden Feinde traten einander gegenüber. Hajos Augen funkelten, sein geschmeidiger Körper duckte sich zum Sprung. Der andere wartete aufgerichtet den Angriff ruhig ab. »Pack ihn doch an, Hajo«, rief Padde. »Mit einem Stoß legst du ihn.« Doch Hajo hatte Paddes Rat nicht abgewartet. Unverhofft war er zugesprungen. Der unbekannte Junge erwies sich aber als ebenso stark wie ruhig; er fing Hajo auf, und dieser hatte es allein seiner Behendigkeit zu verdanken, daß er nicht niedergedrückt wurde. Padde war vor Aufregung von seinem Eimer aufgesprungen und tanzte nun um die Ringkämpfer herum. »Du siegst bestimmt, Hajo! Er ist so steif wie ein Stockfisch.« Aber Peter Hajo, der »wilde Hajo«, der Schrecken des friedlichen Städtchens Hoorn, hatte seinen Meister gefunden. Nach einem minutenlangen heftigen Kampf standen sie noch geradeso, wie sie begonnen hatten, das heißt, Hajo nun rot wie ein gekochter Krebs, der unbekannte Junge aber nicht im mindesten aufgeregt. »So kommen wir nicht vorwärts«, keuchte Hajo. »Wir wollen etwas ausruhen und dann wieder von vorn anfangen.« Der andere ließ sofort die Arme sinken. Während Hajo sich außer Atem auf den Eimer setzte, den Padde ihm ehrerbietig abtrat, ließ der andere einen Blick über seinen Anzug gehen und klopfte den Sand von seiner Hose. »Verflixt schade, daß du ihn losgelassen hast, Hajo!« meinte Padde. »In zwei Sekunden hätte er auf dem Rücken gelegen.« »Halt die Klappe«, brummte Hajo. Der Junge aus Alkmaar sah wohlwollend zu seinem Gegner hinüber. »Ruhe dich nur gut aus!« sagte er besorgt. Hajo sah ihn argwöhnisch an. Aber er las nicht den geringsten Spott auf den ernsthaften Zügen. »Bist du Schmied?« fragte der Junge. Hajo wischte sich unwillkürlich mit dem Ärmel über sein schwarzes Gesicht. »Du bist sicher Federfuchser, was, daß du dich so aufputzst?« »Ich bin Schiffsjunge«, war die Antwort. Das wirkte. Hajo sprang in die Höhe. »Schiffsjunge?« »Ist es so merkwürdig, wenn jemand Schiffsjunge ist?« fragte der andere verwundert. Hajo machte eine unwillkürliche Bewegung. »Ich möcht's um keinen Preis!« schimpfte er, mit etwas weichem Ton in der Stimme. »Warum nicht?« »Darum nicht!« »Wir haben es hier fein«, erklärte Padde. »Er wird Hufschmied, und ich komme zu meinem Oheim in die Bierbrauerei. Da weiß man, was man hat. Spiel du ruhig Affenschwanz auf deinem schmierigen Kahn!«
Hajo tat sehr gleichgültig, als er fragte: »Du bist sicher bei der Walfischfahrt?« »Nein«, war die Antwort. »Ich gehe mit der >Nieuw-Hoorn< nach Ostindien.« Hajos Herz stand beinahe still. »Dacht ich's doch, daß du so'n Pfefferdieb wärst!« schalt Padde. Hajo suchte den letzten Rest seiner Ruhe zusammen. »Wie — wie alt bist du?« »Ich bin vierzehn.« »Vierzehn?!« »Glaub's nicht, Hajo!« rief Padde. Doch Hajo sah wohl, daß der Junge nicht log. »Wer — wer hat dich angeheuert?« stammelte er. »Schiffer Bontekoe selber.« »So«, schimpfte Hajo, »dann ist dein Vater gewiß selbst zum Schiffer gegangen, um fürs liebe Söhnchen ein Plätzchen zu erlangen, was?« Der fremde Junge sah vor sich hin, den Seedeich hinunter. »Ich habe meinen Vater niemals gekannt«, sagte er dann. Hajo wurde feuerrot, hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. »Na«, sagte Padde, »dann bist du doch sicher ein verteufelt vornehmes Herrchen, was? Sag's ruhig: bei wem bist du hier im Hause?« Der Junge bedachte sich etwas. »Auf der Fährmannskade«, sagte er dann. »Hörst du's, Hajo? Ein Nachbarskind von Schiffer Bontekoe!« Der Junge blickte Hajo forschend an. Dann bemerkte er: »Du sagst, daß du nicht seefahren willst; aber du meinst es nicht ernst.« »Wohl«, knurrte Hajo. »Aber warum denn bloß nicht? Man sieht und hört doch tausenderlei Dinge, hinter die man sonst nicht kommt. Und dann: sollen wir uns da drüben von den Spaniern und Portugiesen alles vor der Nase wegkapern lassen? Später werde ich Reeder und baue Schiffe für die große Seefahrt. Ich will...« Hajo sprang mit einem Ruck in die Höhe. Mit abgewendetem Haupt schlug er, ohne ein Wort zu sprechen, die Richtung nach dem Westerdeich ein. Der zukünftige Reeder sah ihm mit stummem Staunen nach. Padde fuhr heraus: »Er hat dir doch gesagt, daß er nicht seefahren will! Was erlaubst du dir dann, immerzu darüber weiterzuquasseln? Oder denkst du, daß es so vergnüglich ist, das Geschwätz mit anzuhören, wenn man selber in der Schmiede stehen muß?« Er griff nach seinem Eimer und sagte drohend: »Wehe dir, wenn ich dir wieder mal begegne!« Und brummend trottete Padde hinter Hajo her. Der unbekannte Junge sah dem Zweigespann kurze Zeit nach. Ein beinahe unmerkliches Lächeln spielte um seine Lippen, als er den Eimer aufnahm und den Deich entlangwanderte in der Richtung der Fährmannskade. Hajo und Padde liefen den Westerdeich hinunter, unterm Tor durch und danach wieder weiter, Hajo vorauf, Padde einen halben Schritt hinter ihm. In Hajos Innerem stürmte es. Padde wollte Öl auf die Wogen gießen und begann auf den unbekannten Jungen zu schimpfen. »Der mit seiner Reederei! Mit den Schiffen meint er bestimmt Holzschuhe mit einem Mast drin!« Hajo antwortete nicht. Seine grauen Augen starrten in weite Fernen, über das Meer. Er hörte nicht, was Padde sagte; er sah die weißen, kreischend auffliegenden Möwen und auch die grauen Krähen nicht, die krächzend flüchteten mit kraftvollem Flügelschlag. Was Hajo hörte, das war die Sprache der See. Das Meer sprach mit Peter Hajo, das Meer, das lockte und berauschte, das Meer, das seine Seele sich verzehren ließ in unbefriedigtem Verlangen. Bei Einbruch der Dunkelheit kamen die Jungen wieder zum Tor hinein. Hajo steuerte in die Richtung des Hauptturmes. »Gehen wir denn noch nicht nach Hause!« fragte Padde. »Geh du nur!« »Ich bleibe bei dir.«
Beim Hauptturm bog Hajo linksum in die Fährmannskade ein.
»Wie kannst du ihn verprügeln, wenn du sein Haus nicht einmal weißt?« fragte Padde.
Hajo hielt inne vor dem Haus von Schiffer Bontekoe und sagte: »Geh du nur nach Hause!« Dann
kletterte er die Stufen hinauf und ließ den schweren Klopfer fallen.
Sprachlos blieb Padde stehen.
Das Dienstmädchen öffnete und blickte mißtrauisch auf den wohl unerwarteten, doch ihr nicht
unbekannten Gast.
»Ist der Schiffer zu Hause?« fragte Hajo. »Ich will ihn sprechen.«
»Du?« fragte das Dienstmädchen. »Du den Schiffer sprechen?«
Padde fand die Sprache wieder. »Laß ihn rein«, schrie er, »wenn du nicht willst, daß ich morgen
wieder deine Eimer umschmeiße!«
»Still, Padde!« sagte Hajo. Und zum Dienstmädchen: »Sag dem Schiffer, daß ich mit nach Osten
will! Bitte, tu's doch!«
Das Dienstmädchen hatte augenscheinlich ein weiches Herz. Sie hatte gerade die Absicht
gehabt, Hajo die Tür vor der Nase zuzuschlagen, doch nun zögerte sie einen Augenblick. »Mit
nach dem Osten? Du mit nach dem Osten?«
Da rief aus dem oberen Stockwerk eine Jungenstimme: »Laß ihn herein, Aagje!
Der Schiffer weiß davon.«
Hajo fuhr ein Schauer durch die Glieder. Die Stimme — war das nicht...?
Er wurde eingelassen. Aber als er seine Holzschuhe draußen niedergesetzt hatte
und in Strümpfen auf der dicken Flurmatte stand in dem vornehmen Treppenhaus
mit den kupfernen Leuchtern, war es ihm zur Gewißheit geworden, daß seine
letzte Aussicht verspielt war. Der Junge, mit dem er gerungen hatte, wohnte hier
im Hause!
Auch Padde draußen hatte die Stimme erkannt. Er schalt und wütete, daß es eine Art hatte, und
wartete auf den Augenblick, da Hajo zur Tür hinausgeworfen werden würde. Als das nicht
geschah, setzte sich Padde verwundert auf die Stufen und grübelte vor sich hin.
Es war still auf der Straße und vollständig dunkel geworden. Das Licht der Häuser an der
gegenüberliegenden Seite der Kade spiegelte sich sanft glänzend auf dem Eis der
dazwischenliegenden Gracht. Ein Schlittschuhläufer kam, kritsch-kratsch, die Gracht herab
und... Nanu, war das da drinnen nicht Schiffer Bontekoes Stimme? Padde spitzte die Ohren, um
etwas aufzufangen. Weg war die Stimme wieder. Armer Hajo! dachte Padde. Armer Freund
Hajo, was hast du dir eingebrockt! Aber der Junge aus Alkmaar sollte verwichst werden,
papperlapapp, das stand fest! — Brr, war das hier zugig!
Wie spät mochte es eigentlich schon sein? Er konnte sich an den Fingern abzählen,
daß er spät genug nach Hause kommen würde, um eine Tracht Prügel von der Hand seiner
Mutter teilhaftig zu werden. »Ich habe es verdient«, gestand er sich seufzend ein. »Sie schlägt
hart, aber sie hat ganz recht, daß sie mich schlägt. Lassen andere Jungen ihre Mutter auch mit
dem Essen warten? Soll ich nach Hause gehen?«
Padde richtete sich fest entschlossen auf. Doch mißmutig plumpste er wieder zurück. »Es geht
nicht!« seufzte er. »Ja, so bin ich nun einmal. Ich kann immer so schwer nach Hause, wenn ich
einen Freund habe. Das ist bei Vater genauso, und darum läuft er von einem Krug zum ändern,
selbst wenn er zu betrunken ist, um ordentlich auf seinen Beinen zu stehen. Mutter wird wohl
denken: Padde? Mit Padde geht's einmal genauso.«
Padde hob den Kopf, als er in einiger Entfernung, in der Richtung der Herberge »Zu den heiligen drei Königen« den lallenden Gesang einiger trunkener Männer vernahm. Tränen stiegen ihm in die Augen. »Leb wohl, Hajo!« sagte er leise. »Leb wohl, lieber Freund Hajo! Ich muß weg; Vater kommt nach Hause. Aber wenn er meine Mutter oder meine kleinen Geschwister schlagen will, kriegt er's mit mir zu tun. Das — das versichere ich dir!« Padde stand auf und sputete sich durch die dunklen Gäßchen heimwärts.
Schiffer Bontekoe Von Umkehren war keine Rede mehr: Hajo saß in der Falle. Das Dienstmädchen führte ihn durch einen breiten, dunklen Flur in ein vornehmes Zimmer. Da sollte er nur warten. Und Hajo wartete im Schweiße seines Angesichtes. Er blickte voller Ehrfurcht nach den schweren, glänzend gewachsten Eichenmöbeln, nach dem blanken Kupfer um den stattlichen Kamin herum, nach den in goldene Rahmen gefaßten Zeichnungen von Schiffen, nach den schwarzsamtenen Übergardinen und dem schönen Teppich, der ihm unter den Sohlen brannte. Sollte er heimlich weglaufen? Durch den Gang und dann schnell zur Tür hinaus? Doch er verwarf den Plan ebenso schnell, wie er ihm gekommen war; man würde denken, er hätte was gestohlen, und ihm nachlaufen und rufen: »Haltet den Dieb!« Das Blut stieg ihm in die Wangen. Er saß in der Falle, hoffnungslos. Gleich würde der Schiffer hereinkommen und sagen: »Du Schmutzfink, du wolltest mich sprechen? Du Lausbub wolltest den Befehlshaber der >NieuwHoorn< sprechen? Packe dich, Galgenschwengel! Ich habe gerade verschiedenes von dir gehört. Schöne Geschichte!« Und was sollte er antworten? »Schiffer, er fischte in meinem Eisloch?« — Zur Tür hinausjagen ließ er sich nicht. Er würde in aller Ruhe über den Flur gehen und draußen seine Holzschuhe anziehen, als wäre nichts geschehen. — Ob der Schiffer noch lange wegblieb? Hajo holte tief Atem. Was würde er sagen, wenn der Schiffer hereinkam? »Guten Abend, Schiffer?« So, ohne Arg? Da nahte draußen im Flur ein schwerer Schritt. Die Tür öffnete sich: Schiffer Willem Ysbrantszoon Bontekoe, Befehlshaber des Ostindienfahrers »Nieuw-Hoorn«, betrat die Stube. »Guten Abend, junger Mann!« sagte der Schiffer freundlich. »Ich höre, daß du mich was fragen willst.«Die Freundlichkeit war schlimmer als eine Tracht Prügel. Alles drehte sich um Peter Hajo. Was war das nun? Der Schiffer setzte ihn nicht vor die Tür, stand ihm sogar wohlwollend Rede? Oder kam das dicke Ende nach? Unmöglich! In den klaren Augen des Seemannes fand er nichts, was auf Doppelsinn deutete. »Schiffer«, stammelte er, »Schiffer... Ich möchte ... ich will... ich ...« Ein Lächeln erschien auf dem gebräunten Antlitz des großen Mannes. »Ich hatte aus einer Erzählung meines Neffen geschlossen, daß du nicht auf den Mund gefallen wärest«, sagte er. Da hatte er es. Also doch! Hajos Kinn bebte, aber er sagte kein Wort. Der Schiffer bekam Mitleid. »Gut denn«, sagte er, »dann werde ich reden! Es ist in Ordnung. Du gehst mit.« »Mit...?« stotterte Hajo, der glaubte, der Boden sinke ihm unter den Füßen weg»Mit nach dem Osten«, sagte der Schiffer, »mit der >Nieuw-Hoorn<.« Hajo begann zu zittern wie Espenlaub, »>Nieuw-Hoorn<...« stotterte er. »Osten...?!« »Ganz recht«, sagte der Schiffer lächelnd. »Du scheinst mir schnell von Begriff. Und ich hörte von meinem Neffen, daß du ein paar gediegene Fäuste hast und dir den Käse nicht vom Brot nehmen läßt. Das sind Eigenschaften, die ich bei meinem Schiffsvolk brauche.« »Schiffer!« Hajo machte eine Bewegung, wie um Bontekoes Hände zu fassen. Dieser war doch überrascht durch Hajos Gefühlsausbruch. »Willst du so gerne
mit?«
Da geschah etwas, was Hajo jahrelang nicht vorgekommen war: er weinte.
»So, so«, sagte Schiffer Bontekoe. »Du heißt Hajo, nicht wahr?«
»Jawohl, Schiffer, Peter Hajo.«
»Sohn von Harmen Hajo?«
»Jawohl, Schiffer. Aber Vater ist...«
»Ich weiß«, sagte Schiffer Bontekoe. »In derselben Nacht sind noch drei andere
Kutter untergegangen.« Er schwieg einen Augenblick und sagte dann langsam,
ohne Hajo anzusehen: »Dein Vater, Peter Hajo, war ein wackerer Mann. Ich
erwarte von seinem Sohn dasselbe.« Dann fragte er plötzlich: »Deine Mutter ist
doch wohl damit einverstanden, daß ...»
»Oh, die findet es fein, Schiffer!«
»Was findet sie fein? Daß du sie verläßt! Daß du weggehst?«
»Ja gewiß, Schiffer.«
Bontekoe konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Doch sein Gesicht war wieder
ernsthaft, als er fragte: »Was warst du am Lande, Peter Hajo?«
»Schmiedejunge, Schiffer.«
»Vorher noch was anderes gelernt?«
»Jawohl, Schiffer, Drogistenlehrling.«
»Gefiel dir das nicht?«
»Nein, Schiffer.« Und Hajo preßte ängstlich hervor: »Ich bin dort weggeschickt
worden, Schiffer.«
»So? Wie kam denn das?«
Hajo biß sich auf die Lippen. Er konnte dem Schiffer doch nicht sagen, daß
er Lakritzen genascht und der Katze des alten Drogisten Pillen eingegeben hatte,
um ihr das Mäusefangen beizubringen?
Der Schiffer wollte ihm heraushelfen. »Bist du vielleicht auch noch in einem ändern Fach
gewesen?«
»Jawohl, Schiffer«, sagte Hajo, froh, daß er aus der Klemme war. »Klempner.« Bontekoe machte
große Augen. »Und — äh — vordem?« »Maurer, Schiffer.« »Und vorher?«
Hajo mußte sich erst besinnen. »Ich glaube...«
»Zerbrich dir nicht den Kopf, Peter Hajo! Ich sehe schon, daß du bereits eine Menge hinter dir
hast. Überall weggeschickt?«
Hajo nickte. Mit Augen, in denen die Angst zu lesen war, folgte er dem Schiffer, der in
Gedanken versunken im Zimmer hin und her lief. »Schiffer«, stöhnte Hajo, »ich werde ... ich
will... ich verspreche...« Mit einem Ruck drehte Bontekoe sich um und sah Hajo gerade ins
Gesicht. Hajo fühlte, daß die Augen geradeswegs durch sein Wams hindurchsahen. Und eben
darum hielt er dem Blick stand. »Höre, Peter Hajo!« sagte der Schiffer, »wenn deine Mutter
keine Bedenken hat, melde dich morgen bei Fährmann Blok am Jeroensteg und sage ihm, daß du
übermorgen mit der >Hoornschen Sonne< mitfährst nach Texel, wo die >Nieuw-Hoorn< auf
günstigen Wind wartet!« »Jawohl, Schiffer!« Es klang wie ein Jauchzen. Und mit seinen
Rußfäusten wischte Hajo sich hastig übers Gesicht, das strahlte von unermeßlichem Glück und
glänzte von Tränennaß.
»Tu das nicht!« riet Bontekoe. »Du wirst noch ganz und gar ein Mohr werden.« Hajo zog
schnell, wie auf frischer Tat ertappt, die Fäuste weg. »Schiffer, ich will immer...«
»Daran zweifle ich nicht, Peter Hajo. Lausejungen sind gut an Land; auf einem Ostindienfahrer
brauchen wir Männer. Wenn deine Mutter nichts dagegen hat, stehst du von morgen ab auf
meiner Schiffsliste. Denke dran, daß von der Bemannung der >Nieuw-Hoorn< kein schlechtes
Wort darf gesagt werden können und daß im Großmast eine Flagge weht, die wir vor der ganzen
Welt hochhalten müssen. Verstanden?«
»Verstanden, Schiffer.« — Alle Wetter, das kam tapfer heraus! Und dann ein großer
Augenblick: Schiffer Bontekoe, Befehlshaber der »Nieuw-Hoorn«, hielt dem Schiffsjungen Peter
Hajo die Hand hin. Hajo fühlte es durch all seine Glieder nachzittern: die Hand seines Schiffers!
Bei der Haustür, im Flur, wartete seiner der Junge, der heute nachmittag in seinem Eisloch
gefischt hatte. »Ich heiße Rolf«, sagte der. »Wir müssen gute Freunde werden, denn an Bord ist
mein Oheim nicht mein Oheim, sondern der Schiffer und ich der Schiffsjunge; das kannst du dir
denken.«
»Bist du denn nicht böse auf mich?« stammelte Hajo.
»Böse?« fragte Rolf. Und sein Gesicht war ernst wie stets, als er hinzufügte: »Dachtest du etwa,
daß ich dich darin hätte fischen lassen, wenn es mein Eisloch gewesen wäre?«
Mutter In dem armseligen Häuschen am Beginensteg wartete Peter Hajos Mutter. Vor drei Jahren, während der noch in aller Erinnerung lebenden Herbststürme des Jahres 1615, war auch der Kutter ihres Mannes untergegangen und Peters Vater und Onkel waren ertrunken. Frau Hajo blieb mit den Kindern zurück: Peter, zwei Mädchen, Antje und Maartje, nun zwölf und zehn Jahre alt, und Hein, der damals noch kaum laufen konnte. Es war für die schwer getroffene Witwe eine fast unlösbare Aufgabe, neben ihrer täglichen Hausarbeit noch so viel mit Nähen zu verdienen, daß sie sich und ihre Kinder ernähren konnte. Doch sie schlug sich tapfer durch. Eine große Sorge war für sie obendrein, daß ihr ältester Junge für Galgen und Rad aufzuwachsen drohte. Peter führte vom Morgen bis zum Abend die tollsten Streiche aus; täglich liefen Beschwerden ein, daß er die ganze Nachbarschaft unsicher mache. Ihr Mann war die Gutmütigkeit selber gewesen und nicht schnell dazugekommen, seine Kinder zu schlagen; doch Peter hatte ihn verschiedene Male dazu gebracht. In seinem zwölften Jahr hatte Peter den Wunsch ausgesprochen, zur See zu gehen. Von diesem Tag an hatte seine Mutter überhaupt keinen ruhigen Augenblick mehr. Sie versuchte auf alle Art und Weise, ihn für etwas anderes zu begeistern. Er kam erst zu einem Schuhmacher in die Lehre, wo er volle drei Wochen aushielt. Dann wurde er weggeschickt. Der Gerber erbarmte sich seiner, wurde aber schlecht dafür belohnt; am zweiten Tag rückte Peter aus, weil er den Gestank der Gerberei unerträglich fand. Der Gerber wollte ebensowenig Peter wiedersehen wie Peter den Gerber, und unser Freund landete bei einem Metzger. Die ersten Tage hindurch, als er nur Fleisch auszutragen brauchte, war alles gut. Peter trieb sich mit seinem Fleischkorb am Arm stundenlang am Hafen herum. Dann kam der Tag, wo er zum erstenmal beim Schlachten einer Kuh helfen sollte. Peter hielt sich gut, aber als die blutige Arbeit beendet war, schlich er sich mit bösem Gewissen durch Gassen und Gäßchen nach Haus. Nachts tat er kein Auge zu, und am nächsten Morgen weigerte er sich kurz und bündig, wieder nach der Metzgerei zu gehen. Die Bücklingsräucherei folgte. Peter erklärte, daß, wenn er da bliebe, er selber ein geräucherter Bückling würde, und lief weg. Auch zum Zimmermann schien er vom Schicksal nicht bestimmt zu sein, ebensowenig zum Maurer, Klempner oder Drogisten. Endlich kam er in die Schmiede zu Meister Wouter. Da war er nun schon ein halbes Jahr. Seine Mutter, die sich bereits mit dem Gedanken versöhnt hatte, daß ihr Peter zur See gehen würde — an Land taugte er nun einmal nicht —, fühlte ihre Hoffnung sich wieder beleben. Sollte es nun endlich glattgehen? Ihre Sorgen blieben zahlreich genug; Peter zerriß auf unerklärliche Weise seine Kleider bis hinauf zu seiner Mütze, zerbrach fortwährend etwas und machte ihr oft Unruhe, aber das alles verzieh sie ihm gern, wenn er nur endlich zeigte, daß er noch ein brauchbarer Mensch werde. War Peter Hajo auf einmal umgewandelt? Ganz und gar nicht. Die Sache war einfach die, daß die Schmiede ihn unter allen Gewerben an Land am wenigsten abstieß und er beschlossen hatte, es so lange auszuhalten, bis sich Gelegenheit bot, das große Wasser zu befahren. Doch Peter Hajos Mutter war wieder einmal schwer bekümmert an jenem Abend, als sie auf ihren ältesten Sohn wartete. Vor einer Stunde war die Hufschmiedsfrau aus dem »Eisernen Mann« bei ihr gewesen und hatte mit ihrer schrillen Stimme gesagt: »Wenn mein Mann auch ein Esel ist, ich bin es nicht. Ich werde dafür sorgen, daß der Unband von einem Jungen nicht wieder über meine Schwelle kommt! Jetzt ist es aus mit meiner Geduld!« Peter Hajos Mutter hatte nichts geantwortet. Schweigend wurde das Abendessen eingenommen; Mutters Gedrücktheit legte sich auch auf die Kinder.
Als Antje, Maartje und Hien zu Bett waren, setzte sich Mutter mit ihrem Nähzeug an den Kamin. Sie sagte zu sich selber, daß sie sehr böse sei auf ihren Peter, weil er von seiner Arbeit weggelaufen war und sowenig Rücksicht auf seine Mutter nahm, daß er zum Essen nicht nach Hause kam und sie warten ließ, Abend für Abend, während er Dummheiten machte. Sie würde ihn fragen, ob sie es um ihn verdient habe, daß er ihr Leben so verbittere, und ob er auch wisse, wie Vater in diesem Augenblick über ihn denke. Würde es was helfen? Peter war leicht gerührt; sie wußte, daß er allem zum Trotz doch seine Mutter über alles liebte und treuherzig Besserung geloben würde. Aber würde er sein Versprechen halten können? Würde er — vorausgesetzt, daß Meister Wouter ihn doch noch wieder zu sich nähme — nicht über eine Woche von neuem weglaufen? »Das Meer sitzt ihm im Kopf«, seufzte sie. Das Meer, das würde am Ende doch noch das einzige sein. Da konnte er nicht weglaufen, wenn es ihm in den Sinn kam; da herrschte unerbitterlich strenge Zucht. Da würde sein zügelloser Sinn für Abenteuer Befriedigung finden. Aber das hatte noch Zeit. Welcher Schiffer würde einen vierzehnjährigen Jungen annehmen? Und dann...! Peters Mutter biß sich auf die Lippen, nähte mit zitternder Hand weiter. Draußen schlug die Turmuhr. Schon sieben Uhr! Wo mochte er doch so lange stecken? Ihre Unruhe wuchs. Großer Gott, er lag doch nicht unter dem Eise? — Unsinn! War es nicht hundertmal geschehen, daß er sie hatte warten lassen? — Doch der Gedanke ließ sie nicht los und folterte sie. Schließlich wurde sie so unruhig und aufgeregt, daß sie ihre Arbeit beiseite legen mußte. Sollte sie einmal draußen um die Ecke sehen, ob er käme? Sie stand auf. Ja, wenn sie nun doch draußen nach ihm Ausschau hielt, konnte sie ebensogut ein Tuch umschlagen und bis zum Hafen hinüberlaufen. Ihr Entschluß war gefaßt. Aber als sie aufstand, zögerte sie auf einmal. Schnell kehrte sie zu ihrem Sitz zurück, nahm ihre Arbeit wieder auf und tat, als ob sie gar nicht draußen hätte ausschauen wollen. So, nun würde sie es noch einmal versuchen. Mit klopfendem Herzen saß sie in ihrem Stuhl über ihre Arbeit gebückt. Da wurde die Tür aufgerissen, ihr Junge stürzte herein, warf sich in ihre Arme und schluchzte: »Mutter! Mutter! Mutting! Ich gehe zur See!« Das wirkte. Peters Mutter wurde ganz bleich. Sie schlang ihre Arme um seinen Kopf und bedeckte ihn mit Küssen. »Mein Junge! Mein lieber Junge! Wie ist... ist denn das auf einmal?« »Schiffer Bontekoe — >Nieuw-Hoorn< — Texel — Ostindien...« brachte Peter hervor. »Ich werde alles erzählen!« »Gut, mein Junge«, sagte Mutter. Und während sie mit großen Augen nach der Haustür starrte, die noch weit offen stand, wiederholte sie tonlos: »Es ist gut. — Mach nun die Tür zu, Peter!« Und sie ließ Peters Haupt los und ging unsicher zum Schrank, in dem sein kaltgewordenes Essen wartete.
Der große Abschied Schon früh am folgenden Morgen klopfte Padde an die kleinen Fensterscheiben des Häuschens am Beginensteg. Hajo öffnete ihm und posaunte seinem Freund die große Neuigkeit entgegen. Padde schlug beinahe hintenüber. »Herrje, was wird nun aus mir?« »Frage, ob du mitdarfst!« schlug Hajo zögernd vor. »Ich mit?« rief Padde. »Denkst du denn, daß ich mit will? Ich komme doch in die Bierbrauerei von meinem Oheim! Da weiß man, was man hat!« Hajo berichtete alles, was geschehen war, seit er Padde verlassen hatte. »Und morgen gehe ich mit der >Hoornschen Sonne< nach Texel, Padde.« »Unmöglich!« rief Padde entsetzt aus. »Sie werden ein Tag warten müssen.« »Warum ist das unmöglich?« frage Hajo. »Warum?« Padde sperrte seine Äuglein auf. »Deine Mutter muß doch eine Ausrüstung nähen, und du mußt hier doch noch von der ganzen Stadt Abschied nehmen. Willst du das vielleicht an einem Tag abmachen?« »Meine Mutter hat heute nacht mit meiner Ausrüstung begonnen«, sagte Hajo. »Und das Abschiednehmen in der Stadt ist innerhalb einer Stunde abgemacht.« »Da könntest du dich irren«, versicherte Padde. »Du bist ganz verwirrt, du weißt natürlich selber nicht, was du sagst. Los, zieh deine Holzschuhe an! Wir machen gleich einen Anfang.« Und er begann an den Fingern abzuzählen, von wem alles Hajo Abschied nehmen müsse. »Ich muß auch zu Schiffer Blok mit heran, ihm sagen...« »Dazu ist keine Zeit«, unterbrach ihn Padde. »Ich habe schon siebenunddreißig Menschen, zu denen du hin mußt.« »Ja, aber Blok geht vor.« »Willst du mit deinem Geschwätz noch mehr Zeit verlieren?« fragte Padde. »Ich komme«, gab Hajo zur Antwort. Er ging ins Hinterzimmer, wo Mutter eifrig nähte. Er teilte ihr sein Vorhaben, in der Stadt sich zu verabschieden, mit, küßte sie und ging mit Padde. »Höre gut zu!« sagte Padde. »Ich habe dir niemals widersprochen, ich habe immer getan, was du wolltest, und das tut mir nicht leid. Aber heute bin ich der Herr. Du bist viel zu aufgeregt, um selber die Sache in die Hand zu nehmen. Ich bin ruhig, das siehst du ja, und darum werde ich es tun. Ich möchte um alles in der Welt nicht, daß du beim Abschiednehmen einen übergehst und ich es nachher zu hören kriege.« Hajo ließ sich, zum erstenmal in seinem Leben, von Padde leiten. Seine Augen strahlten das übergroße Glück aus, das so unerwartet auf ihn herabgesunken war. »Zuerst«, sagte Padde, »mußt du von Meister Wouter Abschied nehmen.« Und er schlug die Richtung nach der Schmiede ein. »Es ist etwas nicht in Ordnung mit dem Meister«, stellte Hajo fest, als er draußen bereits den hitzigen Hammerschlag vernahm, worin nichts von dem frohen Rhythmus lag, den er haben konnte, wenn der Meister guter Laune war. »Er wird von seinem lieben Lenchen wohl wieder was auf die Mütze gekriegt haben«, meinte Padde. Er öffnete die Tür der Schmiede, trat hinein und rief: »Morgen, Meister Wouter! Wir kommen uns verabschieden.« Meister Wouter ließ den Hammer sinken. »Satansjunge!« war alles, was er sagte. »Seid nicht böse auf mich, Meister, daß ich gestern ...« »Er geht nach dem Osten«, sagte Padde, »Pfeffer holen und so. Es ist die Frage, ob er jemals zurückkommt.«
Selbst ein so harter Mann wie ein Schmied kann manchmal weich werden. »Nach dem Osten?« fragte er mit leicht zitternder Stimme. »Du, Hajo?« »Ja, Meister.« »Mit der >Nieuw-Hoorn<«, sagte Padde. »Hast du keine alte Kiste, Wouter? Die man als Schiffskiste gebrauchen könnte, weißt du? Deswegen sind wir gekommen.« Wouter hatte Hajo seine schwarze Schmiedefaust hingestreckt. »Ich bin nicht böse, wirklich nicht. Du kannst mir glauben, daß ... Hm! Und eine Kiste habe ich auch noch für dich. Na und ob! Ich werde Reifen herumschlagen, dann kann sie was aushalten.« »Willst du über die Ecken nicht lieber Plättchen nageln?« schlug Padde vor. »Das ist auf jeden Fall gut.« »Wird besorgt«, sagte Meister Wouter. Hajo wollte ihm danken. »Meister, ich ...« »Bst!« brummte Wouter. »Schrei nicht so! Wenn meine Frau dich hörte, na, dann setzte es was für dich! — Übrigens — wenn ihr nachher die Kiste holen kommt, lauft dann hintenherum und nicht durch die Vordertür! Wegen — weißt du, von wegen ...« Padde blinzelte mit den Äuglein. »Begriffen, Wouter. Wenn sie uns mit der Kiste sähe — na, dann setzte es was für dich, was?« »Es ist bloß wegen des Hausflurs«, brummte Wouter. »Der wird so schmutzig von all dem Gelaufe.« Die Jungen gingen. Und der für seinen Hausflur so besorgte Schmied äugte dem Zweigespann nach. Dann wanderte sein Blick durch die leere Werkstätte und heftete sich auf den verlassenen Platz unter dem Blasebalg. »Satansjunge!« murmelte er. »Zu Schiffer Blok!« befahl Padde. Sie liefen am Rathaus vorbei, über den Roten Stein, ließen die Waage links liegen und gingen das große Ost entlang. Es war noch nicht ganz hell; die Straßen waren leer, bis auf einen Milchoder Torfkarren hie und da. So kamen sie an den Jeroensteg bei Schiffer Bloks bescheidener Wohnung an. Padde ließ mit gewaltiger Gebärde den Klopfer fallen. Es wurde nicht geöffnet. »Das könnte ihm noch einmal leid tun«, meinte Padde. »Einen von der Mannschaft der >NieuwHoorn< in der Kälte warten zu lassen!« Er wollte mit dem Klopfer gerade einen Wirbel schlagen, als ein Riegel beiseite geschoben, die Tür halb geöffnet wurde und durch den Spalt eine Hand mit einer Milchkanne erschien. »Zwei Liter, Kobus«, erklang eine Frauenstimme. »Rutsch mir den Buckel lang!« rief Padde wütend. »Komm, wir gehen jetzt erst zu Truitje Cannegieter! Da sind sie schon lange auf, denn ihr Vater muß um sechs Uhr an der Arbeit sein. Mädchen halten sehr darauf, daß man Abschied von ihnen nimmt.« Truitje Cannegieter wohnte in der Liliengasse. Die Jungen mußten also wieder quer durch die Stadt, am Gouw entlang und über den Torfhafen. Truitje, ein hellblondes, rosiges Mägdlein mit einem kurzen roten Leibchen und einem blauwollenen Rock war schon eifrig damit beschäftigt, das Stückchen Straße vor der Haustür zu schrubben. »So!« rief sie fröhlich, als sie das unzertrennliche Zwiegespann sich nähern sah. »Wo geht ihr hin?« »Nach Ostindien«, sagte Padde. »Na ja, ich natürlich nicht! Ich komme in die Bierbrauerei von meinem Oheim. Da weiß man, was man hat. Aber Hajo geht auf der >NieuwHoorn< mit. Gegen die Wilden kämpfen.« »Oh!« rief Truitje. »Wirklich? Und bringst du ein Äffchen für mich mit, wenn du wiederkommst?« »Du kriegst einen Papagei«, versprach Padde. »So einen wie dem Trunkenbold Roel seiner.« »Fein! Tust du's gewiß, Peter?« »Wenn ich einen auftreiben kann«, meinte Hajo zweifelnd. »Du brauchst sie nur zu greifen«, versicherte Padde. »Aber hinter dem Kopf, denke dran! Denn sie beißen. Allerdings ist es die Frage, ob du lebendig wiederkommst, Hajo...«
»Ja, sei bloß vorsichtig!« rief Truitje mütterlich.
»Darin sitzt der Haken nicht, Truitje«, sagte Padde. »Man kann dort so vorsichtig sein, wie man
will, aber ehe man sich's versieht, hat man einen vergifteten Pfeil in der Leber.«
»Hu, wie schaurig!« stammelte Truitje erbleichend.
»Schaurig ist das richtige Wort«, versicherte Padde. »Die Wilden springen von einem Baum auf
den ändern wie Eichhörnchen. Das einzige, was man dagegen tun kann, ist: sie
herunterschütteln. Und dann all die Schlangen, Tiger, Elefanten, Bären und Krokodile! In den
Bäumen hängen Nüsse wie Kanonenkugeln, die einem regelmäßig auf den Kopf fallen, wenn
man darunter schläft.«
»Woher weißt du das alles?« fragte Truitje entsetzt.
»Das hat Roel mir selbst erzählt. Den mußt du bloß mal über die Menschenfresser hören! Überall
stehen sie mit solchen Messern bereit, um einem bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen.
Vierzehnjährige Jungen seien am leckersten, sagen sie.«
»Unsinn!« sagte Hajo. »Man drückt ihnen ein paar Glasperlen oder blankgeputzte Münzen in die
Hand, und sie denken nicht mehr daran, einem ein Haar zu krümmen. Gewöhnlich wollen sie
einen dann mit der Tochter von so einem Menschenfresserhäuptling verheiraten.« »Das würdest
du doch nie tun?« fragte Truitje.
»Niemals!« sagte Padde. »Er läßt sich lieber lebendig verschlingen. Sieh mal nach, Truitje, ob du
zufällig ein paar Glasperlen für uns hast! Es handelt sich um sein Leben, verstehst du?«
»Glasperlen?«
»Na ja, aller alte Kram tut es! Flicken, Spielzeug, was du eben entbehren kannst. Suche nur
ordentlich! Wir warten; denn deswegen sind wir gekommen.« Als Truitje hineingegangen war,
wandte Padde sich an Hajo: »Siehst du wohl, daß du fürs Abschiednehmen ein paar Tage nötig
hast?« »Auf diese Weise gewiß«, entgegnete Hajo lachend. »Es ist die einzig richtige Weise«,
stellte Padde fest.
»Ich wünschte, ich säße schon auf der >Nieuw-Hoorn<, Padde!« Hajo kniff seinen Freund in den
Arm und seufzte vor froher Spannung.
Padde schwieg und sah vor sich hin.
Ein anderes Mädchen trat aus der Haustür, Truitjes zwanzigjährige Schwester Sytje, ebenso
frisch, blühend und stämmig wie ihre jüngere Schwester. Sie hielt etwas unter ihrer Schürze
versteckt. Nachdem sie einen schnellen Blick hinter sich ins Haus geworfen hatte, winkte sie
Hajo: »Komm mal her, Peter!« »Ja«, sagte Padde und tat einen Schritt vorwärts. »Nein, ich muß
Peter sprechen.«
Padde blieb brummend zurück, und Hajo wurde hineingelotst. Hinter der Tür blieb das Mädchen
bei ihm stehen und flüsterte: »Du gehst mit der >Nieuw-Hoorn<, ja?« Hajo nickte.
»Nun, da ist auch ein Friese an Bord! Er heißt Hilke. Hilke Jopkins. Dem mußt du dieses geben.
Willst du?« Und Sytje holte unter ihrer Schürze ein Paar riesige lilawollene Handschuhe hervor.
»Socken?« erkundigte sich Hajo. »Handschuhe«, sagte das Mädchen, fast beleidigt. »Sie sind so
furchtbar groß ...«
»Findest du? Ja — ach, er ist überhaupt ziemlich groß! Und bei Handschuhen, das weißt du ja
auch, ist es besser zu groß als zu klein. Und findest du es vielleicht schön, wenn ein Mann so
kleine Händchen hat, gerade wie ein Mädchen? Ich finde es einfach abscheulich. Und du?« »Ich
auch«, versicherte Hajo.
»Na ja«, fuhr Sytje befriedigt fort, »sage ihm nur, daß sie noch nicht fertig waren, als er hier war,
sonst hätte ich sie ihm gleich mitgegeben! Und — äh, wenn du kannst, sorge doch dafür, daß er
ein bißchen vorsichtig ist! Willst du? Hilke ist immer so schrecklich unvorsichtig.« »Ich werde dafür sorgen«, versprach Hajo. Sytje sah ihn lieb an. »Hier!« flüsterte sie, während sie aus einer Tasche unter ihren Röckchen einen sehr, sehr bunt schillernden Schlips zum Vorschein brachte. »Der ist für dich, lieber Junge. Ich hatte ihn eigentlich für Hilke gehäkelt, siehst du, wenn er zurückkommt, aber nun ist er für dich.« Sie seufzte auf. »Ich habe doch Zeit genug, noch einen ändern zu häkeln. — Komm her, dann werde ich dir den Schlips umbinden!« Und mit Hingebung und Sorgfalt knüpfte sie den Schlips um Hajos Hals. »Du bist eine liebe Deern, Sytje«, versicherte Hajo. »Dummer Junge! Sage Hilke, er soll mir einmal schreiben! Wirst du es tun?« »Ja, Sytje.« »Und bald wiederkommen. Tust du's?« »Ja, Sytje.« »Und sage ihm, daß ...« Ganz unerwartet begannen Sytjes Lippen zu beben. »Ich werde es ihm sagen«, versprach Hajo. Da geschah wieder etwas, was niemand erwartet hätte: Sytje nahm Hajos blonden Kopf in ihre Hände und küßte den verblüfften Jungen auf beide Wangen, daß es knallte. »Geh jetzt nur!« flüsterte sie hastig, als im Hausflur Schritte erklangen. Draußen brach Hajo beinahe den Hals über Padde, der auf den Knien vor der Türritze lag. »Ein Engel von einem Mädchen!« versicherte Padde mit heiserer Stimme.»Was? Hast du gelauscht?« »Und alles gesehen. Vergiß nicht, die Handschuhe an Hilke zu geben! Und paß ein bißchen auf ihn auf! Das letzte sagst du ihm natürlich nicht.« »Was?« »Daß sie dir einen Kuß gegeben hat. — Zeig mal den Schlips! Bitte sehr, fünf verschiedene Farben! Dieser Schlips ist mit Liebe gemacht, Hajo.« Truitje kam zurück mit einer liederlich aussehenden Puppe, einer halb kaputten Klapper, einem kupfernen, verbeulten Vogelkäfig, einer verrosteten Kaffeemühle, einer Maske und einer Sammlung bunter Glasperlen. Schüchtern umherspähend, schnitt sie den Faden durch, mit dem ein Scherchen um ihren Hals befestigt war. »Hier, nimm das nur auch! Ich werde sagen, daß ich es verloren habe.« Padde war im siebenten Himmel. Er untersuchte sorgfältig, in welchem Zustand sich die verschiedenen Kostbarkeiten befanden, ließ die Klapper rasseln und Hajo die Maske ausprobieren. Als er die Kaffeemühle entdeckte, sprang er ellenhoch in die Luft. »Truitje, du bist mir eine! Eine Kaffeemühle! — Geh du nur ruhig unter die Wilden, Hajo! Mit einer Kaffeemühle bei dir, brauchst du nicht bange zu sein. Ich kenne eine Unmenge Leute, die einer Kaffeemühle ihr Leben verdanken. Und die sagen alle: Nach Ostindien? Gut! Aber nicht ohne Kaffeemühle.« »Ob ich das alles aufs Schiff bringen darf?« fragte Hajo zweifelnd. »Warum denn nicht?« entrüstete sich Padde. »Ein Menschenleben ist kein Pappenstiel!« »Mir soll's recht sein. Dann kann ich in dem Käfig gleichzeitig Gerrit mitnehmen.« — Gerrit war eine zahme Turmkrähe, die seit zwei Jahren Lust und Leid mit Hajo teilte. »Na, wir müssen gehen«, sagte Padde. »Ja. Herzlichen Dank, Truitje! Und ich werde an dich denken, wenn ich so einem Wildenhäuptling die Puppe in die Finger stecke.« »Oh, hör auf, Peter!« seufzte das Mädchen. »Glückliche Reise, und sieh zu, daß du lebendig wiederkommst!« Padde konnte rührende Dinge schlecht vertragen: eine dicke Träne kugelte ihm über die Wangen und blieb an seinem Kinn hängen, denn Padde hatte beide Arme voll und keine Möglichkeit, die Tränen abzuwischen. »Nun zu Jansje Besen!« sagte er mit gebrochener Stimme. »Noch ein Mädchen?« fragte Hajo.
Padde drehte sich erstaunt um. »Willst du vielleicht von Jungen Glasperlen kriegen?«
»Aber hast du denn noch nicht genug?«
»Ich fange erst richtig an. — Gerade solche Kleinigkeiten retten einem das Leben, Hajo. Frage
Roeltje! Glasperlen, Knöpfe ... Knöpfe haben wir noch nicht. Denke dran, daß du die auf jeden
Fall mitbekommst!«
Jansje Besen wohnte am Hahnenkammsteg; also mußten unsere beiden Freunde wieder durch die
ganze Stadt.
»Hättest du das Abschiednehmen nicht ein bißchen geschickter einrichten können?« fragte Hajo.
»Wir rackern uns auf diese Weise dreimal mehr ab als nötig.« »Verwirre mich nicht!« sagte
Padde. »Ich habe genug im Kopf.«
»Na, aber ich mache nicht mehr mit! Mir können all die Mädchen gestohlen werden!«
»Was? Jansje Besen auch?« »Jansje Besen erst recht.«
»Wie kannst du nur!« sagte Padde. »Sie ist ein Engel von einem Mädchen.«
»So? Kann sein; aber ich habe nie etwas davon bemerkt.Wohl, daß sie schnippisch ist und
niemals ihren Mund hält.«
»Wenn du wüßtest, was für ein Esel du bist!« seufzte Padde. »Wirklich, du darfst Jansje Besen
nicht übergehen!«
»Nun, meinetwegen! Aber erst will ich zum tauben Nelis; da sind wir gerade in der Nähe.«
Padde zuckte die Achseln und folgte Hajo brummend nach dem kleinen Haus des tauben Nelis,
einer alten Seerobbe, der in Hoorn seine letzten Jahre zubrachte, inmitten geschnitzter Schiffe in
Flaschen und tausendundeiner Reiseerinnerung. Wie oft hatte Hajo nicht seine Zeit vertrödelt,
wenn der taube Nelis am Erzählen war! Von ihm wollte Hajo an erster Stelle Abschied nehmen.
Der alte Bas war gerade im Begriff, seinen täglichen Morgenspaziergang an den Deichen und
Hafendämmen entlang zu machen. Aber als die Jungen eintraten, zog er seine Jacke wieder aus
und gebot Grietje, seiner gutmütigen Hausfrau, Kaffee zu kochen.
Hajo gebrauchte die Hände als Sprachrohr und schrie dem tauben Nelis seine großen Pläne ins
Ohr.
»Das hör' ich gerne«, sagte Nelis, während er vergnügt mit dem Kopf nickte. »So, so, mit
Schiffer Bontekoe? Ein feiner Schiffer! — Seefahren, mein Junge, das ist das Schönste, was es
gibt. Darüber kann unsereiner mit Landratten nicht reden, das muß man fühlen, verstehst du?
Wenn man auf seinem Kahn steht und so schräg am Besanmast in die Höhe sieht und so
leichthin sagt: Kamerad, was für Wetter steckt da hinter dem Segel? Oder: Bootsmann, was
meinst du, wann werden wir wiedermal Land vor den Bug kriegen? — was man dann fühlt, das
weiß einzig und allein ein Seemann.Seefahren, Jungen, das muß einem im Blut sitzen, das kann
man nicht lernen! Man muß es riechen, ob irgendwo Riffe oder Sandbänke liegen, man muß es
riechen, ob man ausfahren kann oder nicht. Und, Jungen, man muß seinen Kahn lieber haben als
sich selber! Wenn ein Sturm im Schwung ist, daß man mehr Seewasser hereinkriegt als Suppe,
dann muß man nicht beten: Herr im hohen Himmel, rette mich! Nein, dann muß man sagen:
Gnade für meinen Kahn! Dann ist man ein Seemann!«
Hajo lauschte schweigend. Er war bereits auf dem Ozean. »Und die Seekrankheit?« rief Padde.
»Was gibt es gegen die Seekrankheit?« Nelis brummte etwas und war nicht mehr sehr
gesprächig.
»Komm«, sagte Padde darum, »wir müssen weiter!«
Die Jungen schickten sich zum Gehen an. Hajo nahm tränenden Auges Abschied von seinem
alten Freund.
Bei der Tür schob Grietje in Paddes Hand ein Fläschchen, in dem sich eine Art Öl befand. »Hier, Padde, heb das für ihn auf! Es ist das beste Mittel gegen die Seekrankheit.« Padde sprang ein Loch in die Luft. »Gerechter Strohsack! Hajo, das nimmt mir einen Stein vom Herzen.« Und er barg das Fläschchen sorgfältig unter seiner Mütze. Die Jungen setzten ihren Weg zu Jansje Besen am Hahnenkammsteg fort. War es Gedankenlosigkeit von Padde, daß er beim Großen Ost, anstatt geradeaus zu gehen, in den Bottelsteg einbog zum Appelhafen, wo er wohnte? Sie waren schon zwanzig Schritte in den Steg hinein, als Hajo stillstand. »Wo gehen wir hin, Padde?« Padde machte ein verwundertes Gesicht. »Zu Jansje Besen. Wohin sonst?« »Dann machen wir einen Umweg.« »Glaubst du?« »Ich glaube es nicht; ich weiß es. Und du weißt es gerade so gut.« »Mir recht«, seufzte Padde. Und mit einem Märtyrergesicht machte er rechtsumkehrt. Doch zwei Häuser weiter hielt er wieder inne und packte Hajo beim Arm. »Du, Hajo! Wo wir doch einmal hier sind, können wir eigentlich auch zu mir mit heran, was? Es ist noch keine zehn Schritte Umweg.« »Aber was sollen wir denn da?« »Das fragst du noch? Natürlich Abschied nehmen von meiner Mutter.« »Ob sie großen Wert darauf legt?« Padde schluckte etwas hinunter. »Na und ob!« Hajo zauderte. »Du brauchst nicht«, versicherte Padde leicht beleidigt. »Ich werde dich nicht zwingen.« Hajo zögerte noch etwas und schlug dann die Richtung des Appelhafens ein. Paddes Antlitz strahlte. Seine Mutter, eine große, bleich aussehende Frau, war damit beschäftigt, den schmalen Hausgang aufzuwischen, der zu ihrem Häuschen und noch ein paar ändern Wohnlöchern führte, die eine gemeinschaftliche Bleiche und ein Gemüsegärtchen hatten. Auf der Gasse davor bewarfen ein paar kleinere Geschwister von Padde einander mit Schmutz. »Draußenbleiben!« rief Paddes Mutter ihrem ältesten Sohn zu, als er mit Hajo den warmen Hausgang betreten wollte. »Vor dem Essen kommst du mir nicht ins Haus! Und dann die dreckigen Holzschuhe draußenlassen! Begriffen?« Padde räusperte sich und schob Hajo vor. »Peter geht nach Ostindien, Mutter, mit der >Nieuw-Hoorn<. Schiffer Bontekoe hat ihn auf der Stelle angemustert. Er kommt Abschied nehmen.« »Wartet eine Weile da!« sagte die Frau. Und schweigend arbeitete sie weiter. »Gut, Mutter«, antwortete Padde schnell. »Wir werden so lange... Wir werden warten.« Und zu Hajo gewandt erklärte er, während er ihn mitzog: »Wir haben jetzt Zeit. Wenn ich gewußt hätte, daß wir so bald eine Kaffeemühle auftreiben würden ... Und das Mittel gegen die Seekrankheit. Jansje Besen wird uns schon Knöpfe geben. O ja, soviel wir wollen! Übrigens — Mutter ist mit dem Gang da eins, zwei, drei fertig. Soll ich dir erzählen, wie der Säufer Roel einer Kaffeemühle sein Leben verdankt?« Hajo nickte, nur halb zuhörend, mit dem Kopf. Aber Padde konnte nicht mehr zu Wort kommen, denn seine kleinen Geschwister hängten sich ihm um den Hals. »Reiten!« schrien die Knirpse. »Hü, Pferd, hü!« Und Padde galoppierte und schlug mit den Hinterbeinen wie ein feuriger Hengst. Da kam seine Mutter herbei. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, schob Hajo ein in ein rotes Sacktuch geknüpftes Bündelchen in die Hände, sah ihn streng an und sagte mit ihrer tiefen Stimme: »Gib das deiner Mutter! Sage ihr
auch, daß ich morgen ein Stündchen helfen komme! Sie wird wohl alle Hände voll zu tun haben mit deiner Ausrüstung.« »Morgen geht es schon weg, Mutter«, sagte Padde. »Dann komme ich heute nachmittag; jetzt habe ich keine Zeit. Hat Meister Wouter dich weggejagt?« Die beiden Jungen schüttelten verneinend den Kopf. »Wouter zimmert sogar noch eine Kiste für ihn«, sagte Padde, »mit eisernen Reifen und Platten an den Ecken!« »Das ist ein Wunder bei einem Galgenstrick wie du«, sagte die Frau zu Hajo. »Deine Mutter ist viel zu gut gegen dich gewesen. Auf hoher See werden sie es dir besser beibringen.« »Ich werde dafür sorgen, daß ich keine Schläge kriege«, antwortete Peter. Paddes Mutter sah auf bei dem entschlossenen Ton, womit das herauskam. Der Schatten eines Lächelns glitt an ihren schroffen Mundwinkeln entlang. »Wollen sehen, ob du Wort hältst. Geh gut um mit deinen Sachen und spare, was du verdienst, für deine Mutter!« Hajo biß die Lippen zusammen. »Hätte ich sowieso getan«, sagte er. Aber Paddes Mutter war schon wieder zu sehr in Anspruch genommen, um Hajo weiter Rede stehen zu können — jetzt mit der Wiederherstellung der Ordnung unter den Kleinen, unter denen eine Heulerei und Balgerei ausgebrochen war. Abschiednehmend nickte sie Hajo zu. »Ich halte dich beim Wort«, rief sie. »Glückliche Reise!« Padde zog seinen Freund beiseite. »Laß sehen!« bat er, auf das rote Bündelchen weisend. Hajo knüpfte es auf. Es waren eine Hosi und ein Paar Socken darin. Padde befühlte die Gegenstände ehrfürchtig. »Das ist meine neue Hose«, sagte er. »Sonntag sollte ich sie zum erstenmal anziehen. So'n schöner Stoff! Und unzerreißbar. Und die Socken hat Mutter diesen Herbst gestrickt.« Hajo wurde ein wenig verlegen. »Deine Hose?« fragte er. »Ja, ebenso die Socken. Die wären auch für mich gewesen. Aber das macht nichts. Mutter strickt wieder neue.« »Aber soll ich nicht wenigstens das Sacktuch ...?« »Zurückgeben? I wo! Es ist Vaters Sacktuch für die Kirche. Na ja, da geht er doch niemals hin! Denn wenn er am Samstagabend nach Hause kommt...« Paddes Stimme zitterte. »Vorwärts!« sagte er. »Wir gehen zu Jansje Besen.« Als die Jungen am Nachmittag wieder im Beginensteg anlangten; wo Mutter mit dem Essen wartete, zeigte sich deutlich, daß die Hoorner Mädchen, was für ein Nichtsnutz Hajo auch sein mochte, ihn nicht von Menschenfressern verschlingen lassen wollten. Wenn Hajo stehenden Fußes einen Trödlerkram begonnen hätte, wäre er ein gemachter Mann gewesen. Mit strahlendem Gesicht setzte er eine prachtvolle, starke Kiste vor seine Mutter hin. »Von Meister Wouter bekommen. Eine richtige Schiffskiste! Und dies ist von Paddes Mutter. Sieh nur, wie fein! Nach dem Essen kommt sie selber, um dir bei meiner Ausrüstung zu helfen.« Mutter nickte, während sie das Bündel aufknüpfte. Sie wollte noch etwas antworten, konnte es aber nicht gut herausbringen. Abends, als die Kinder zu Bett gebracht waren, sagte Mutter: »Peter, du mußtAbschied nehmen von deinen Geschwistern, denn morgen gehst du weg, ehe sie wach sind.« Ihre Stimme war fest und wirkte beruhigend auf Hajos verwirrte Gedanken. Er ging ins Hinterzimmer, wo Hein und Maartje und Antje schliefen, beugte sich über ihre Bettstatt und versprach, Papageien und Kokosnüsse, Affen, Tiger, junge Elefanten und Menschenfresser in einem Käfig mitzubringen. Und bei jedem Versprechen kugelten ihm heiße Tränen über die Wangen. Er küßte die weichen Köpfchen und kam mit unsicheren Schritten ins Wohnzimmer zurück, wo er seine Mutter im Stuhl beim Kamin sitzen sah.
Sie lachte ihm freundlich zu. »Setz dich nun zu mir, Peter!« sagte sie. »Wir wollen zum letztenmal miteinander reden, ja? Ganz ruhig, wie verständige Menschen, denn es ist da noch einiges, was geregelt werden muß. — Sieh, dies ist der Schlüssel zu deiner Kiste! An einem Bindfaden. Bücke dich, Peter, dann werde ich ihn dir um den Hals hängen! So, nun kannst du ihn nicht verlieren. Und hier ist ein Säckchen, in das ich drei Gulden eingenäht habe, für den Fall, daß du in Verlegenheit geraten solltest. Hänge es unter dein Hemd, wenn du nachher schlafen gehst! Es ist nicht sehr viel, Peter, aber — aber...« »Mutting«, schluchzte Hajo, »was soll ich mit all dem Geld anfangen? Du brauchst es so nötig. Du mußt es behalten für Maartje und Antje und Hein und auch für dich selber. Ich verdiene doch Geld!« »Still!« sagte Mutter. »Wenn das Schiff... Wenn du Schiffbruch erleiden solltest — dies Säckchen kannst du nicht verlieren. Und — Vaters kleine Bibel habe ich auch in deine Kiste getan und ein Haarlöckchen von uns allen. Dann hast du wenigstens etwas, wenn du an uns denken willst. Über zwei Jahre kommst du erst zurück. Du wirst dann ein großer, starker junger Mann geworden sein, der eine ganze Menge mehr gesehen hat als Vater oder ich. Während all der Zeit, Peter, werde ich — werde ich ruhig warten und fest vertrauen, daß alles gut geht. Und, mein Peter, wenn du jemals kummervolle Augenblicke hast, sage dann nur getrost: >Mein Mutting denkt an mich.< Versprichst du mir das, Peter?« »Mutting!« ächzte Hajo. »Dann ist es gut, mein Junge. Und nun mußt du zu Bett gehen, denn es ist besser, wenn du morgen eine ordentliche Nachtruhe hinter dir hast.« Sie schlang die Arme um ihn. Und Peter Hajo, Schiffsjunge auf dem Ostindienfahrer »Nieuw-Hoorn«, ließ sich, an sein Mütterchen geschmiegt, wie ein kleiner Junge zu Bett bringen.
Padde gibt seinem Freund das Geleit Am Morgen des 28. Dezember 1618 um neun Uhr in der Frühe sollte die friesische Tjalke »Hoornsche Sonne« den Schiffer Willem Ysbrantszoon Bontekoe nach dem Ostindienfahrer »Nieuw-Hoorn« bringen, der vor Texel lag und auf günstigen Wind zur Ausfahrt wartete. Etwa um sieben Uhr desselben Morgens, als die Dunkelheit noch um den Hafen hing, kamen zwei Jungen, bepackt und beladen, die Fährmannskade herabgestürmt in der Richtung des Landungsplatzes. »Ich kann nicht mehr!« keuchte der Dickere von beiden. »Lauf du voran, Hajo! Du darfst auf keinen Fall zu spät kommen.« »Aber es ist noch viel zu früh, Padde! Es ist noch lange nicht neun Uhr.« Padde wollte ihm verweisen, daß er zu aufgeregt sei, aber er verschluckte sich. So langten sie beim Hauptturm an. »Wir sind die ersten«, rief Hajo. Padde trottete keuchend im Zuckeltrab weiter, bis er bei der Tjalke angekommen war. Da stellte er die umfangreiche Last, die er schleppte, nieder, setzte sich auf den eingebeulten Käfig von Truitje Cannegieter — zum großen Mißvergnügen Gerrits, der unruhig auf seiner Stange hin und her trippelte und vorwurfsvoll durch die Gitterstäbe schaute — und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »So«, sagte er, »nun kann die dreckige Tjalke nicht mehr ohne dich wegsegeln.« »Wir wollen so lange auf und ab gehen«, schlug Hajo vor. »Auf und ab? Ich bin heute gerade genug gelaufen!« »Aber du erkältest dich, Padde, wenn du da sitzen bleibst.« »Dann krieche ich in mein Bett; ich habe doch nichts Besseres zu tun, wenn du erst weg bist.« Und Padde blieb wehmütig sitzen und blickte nach der »Hoornschen Sonne«, die leise auf den sanften Wellen schaukelte. Hajo blieb noch ein Weilchen stehen, setzte sich dann neben Padde. Er suchte mit den Augen den grauen Morgennebel zu durchbohren. Aus weiter Ferne drang das Heulen eines Nebelhorns zu ihm hindurch. Dann wurde es wieder still bis auf das leise Anschlagen des Wassers. Da kam Schiffer Blok mit seinen beiden Söhnen an. »Ihr seid früh genug daran«, rief er den beiden Freunden lächelnd zu. Und auf den Vogelkäfig und alles, was rundherum lag, deutend, fragte er: »Muß der ganze Krempel mit?« »Das ist kein Krempel!« fuhr Padde heraus. »Schön, dann ist es kein Krempel!« sagte Blok breit. »Wirf es nur hinten in die Back! Aber der Bootsmann von der >Nieuw-Hoorn< wird dir's schon besorgen! Der ist nicht gerade schüchtern.« »Der Bootsmann wird schon wissen, was man zu einer Ostindienfahrt braucht«, versicherte Padde. »Na, da bin ich neugierig!« sagte Blok. Er sprang in die Tjalke und begann mit Hajos und seiner Söhne Hilfe den Mast aufzurichten. »Ostwind«, sagte er. »Bis Enkhuizen gilt es gegenstemmen. Dann sind wir gleich da.« Ein Viertel vor neun kam Rolf in Sicht mit einer Kiste unter dem Arm. Hajo rannte ihm entgegen, und die Jungen drückten einander die Hand. »Rolf«, sagte Hajo, »es tut mir leid, daß ich dich Federfuchser gescholten habe.« »Ja«, sagte Padde, der auch dazugekommen war, »ich habe gesagt, daß ich dich durchhauen würde, wenn ich dir wieder begegnete; aber das ziehe ich zurück.« »Zwinkerst du immer so mit den Augen?« fragte Rolf.
»Rutsch mir den Buckel lang!« sagte Padde. Und auf Rolfs Kiste zeigend, fragte er: »Ist das alles, was du mitnimmst?« »Es ist genug«, meinte Rolf. »Ach, du liebe Zeit!« sagte Padde. »Du bist doch genauso übergeschnappt wie Hajo!« Es war allmählich hell geworden. Und endlich, als von dem Turm der großen Kirche zwölf bronzene Schläge hallten und es zugleich im Sankt Antonius hellzu bimmeln begann, kam eine Gesellschaft Herren mit Bontekoe in der Mitte die Mole herunter. »Dieselben von vorgestern, Padde«, flüsterte Hajo. »Die geben meinem Oheim bis Texel das Geleite«, sagte Rolf. »Der Lange mit dem bleichen Gesicht ist Kaufmann Rol; der geht mit nach Indien, um Geschäfte zu machen für die Ostindische Kompagnie, der das Schiff gehört.« Und gleich Hajo und Padde, der sogar eine Art Verbeugung machte, zog er ehrerbietig die Mütze. »Guten Morgen, Leute!« begrüßte sie Bontekoe mit breiter Seemannsherzlichkeit. Er ließ einen musternden Blick über seine beiden braven Schiffsjungen gleiten und gönnte dem kleinen, dicken, sich verbeugenden Padde ein wohlwollendes Lächeln. Darauf überschritten die Herren fröhlich plaudernd die Laufplanke zur Tjalke. Rolf drückte Padde die Hand und sprang an Bord. Schiffer Bloks Söhne warfen die Taue los, mit denen die Tjalke festgemacht war. Für Hajo und Padde war der Augenblick des Abschieds gekommen. Mit Augen voll Tränen standen sie einander gegenüber und suchten nach Worten. »Hajo . ..!« »Padde...!« »Hajo ... lieber Hajo . ..!« »Padde .. . lieber, guter Padde . ..!« Hajo wagte nicht länger zu säumen. Er wandte sich verwirrt schnell ab und überschritt die Laufplanke. Das Brett wurde eingezogen. Mit einem Gesicht, in dem die Verzweiflung sich spiegelte, stand Padde auf der Landungsbrücke und sah zu, wie die Tjalke sich vom Land löste. Da, im letzten Augenblick, setzte er mit einem Schrei ab und sprang. Blok fing ihn auf und hißte ihn an Bord. Padde war mit den Füßen im Wasser gelandet. »Hajo!« schluchzte der arme Kerl, während er das Wasser aus seinen Holzschuhen laufen ließ. »Es geht nicht.. .! Ich bringe dich bis Texel.« Bontekoe hatte mit einem Seitenblick Paddes Kunststück wahrgenommen. »Da haben wir wahrhaftig wieder denselben Springer!« rief er. »Was machen wir mit ihm?« Blok war so übel nicht. Er wußte, daß Hajo und Padde unzertrennliche Freunde waren. »Er kann mitfahren«, antwortete er lachend. »Dann kann er sich gleich mal die >Nieuw-Hoorn< angucken. Die ist das Ansehen wert.« Aber als Padde wieder zur Besinnung kam, fuhr ihm der Schreck in die Beine. Wie würde das enden, wenn er wieder nach Hause kam? »Heda!« rief er ein paar Fischern zu, die damit beschäftigt waren, ihren Kutter eisfrei zu kappen. »Bestellt meiner Mutter, daß ich nur schnell nach Texel mitgefahren bin!« Die Fischer lachten. »Sie schlägt dir beide Beine entzwei«, sagte der eine. »Da kennst du meine Mutter schlecht«, rief Padde erzürnt, während ihm dicke Tränen in die Augen sprangen. Und als die Fischer schmunzelnd die Achseln zuckten, schrie der arme Junge sie wütend an: »Außerdem, daß tut euch doch nicht weh!« Die Tjalke durchsegelte den Eisgang und kam in offenes Wasser. Bontekoe trat auf Padde zu. »Willst du später auch seefahren?« Padde schüttelte mit unverhohlenem Abscheu den Kopf. »Ich komme in die Bierbrauerei von meinem Oheim. Da weiß man, was man hat.« Bontekoe maß Padde lächelnd von Kopf zu Fuß. »Du hast ganz recht. Ein gutes Fach.« Und Bontekoe setzte sich zu den Herren, die hinten in der Tjalke Platz genommen hatten.
»Mir ist jetzt schon schlecht von dem elendigen Schaukeln«, erklärte Padde, als er bei Rolf, der
vorn saß, anlangte. Und nur die Überzeugung, daß sein Freund es später noch nötiger brauchen
werde, hielt ihn zurück, aus Grietjes Fläschchen zu kosten.
»Deine Füße werden wohl kalt sein«, sagte Rolf.
Padde empfand das als einen Stich. »Spring du so'n Ende!« brummte er. Hajo saß noch beim
Mast und sah mit noch feuchten Augen nach den schwächer werdenden Umrissen des
Städtchens, das still in den Nebelschleiern versank. Da schwang sausend der Querbaum heran:
die Tjalke ging über Stag. Hajo duckte blitzschnell den Kopf und fühlte sich wieder in die
Wirklichkeit zurückversetzt. Bis Enkhuizen mußte man lavieren; danach verlief die Fahrt flotter.
Sie bekamen nun den Wellenschlag an Steuerbord, so daß die Tjalke tüchtig hin und her
schwankte und es Padde übel ward. Seine Augen wurden matt, sein Gesicht grün. »Ich wollte,
ich wäre tot!« erklärte er. »Willst du was aus Grietjes Fläschchen?« fragte Hajo.
Einen Augenblick lang entstand ein heftiger Zwist in Paddes Busen. Doch sein besseres Ich
triumphierte. »Du denkst doch nicht etwa, daß ich seekrank bin?« fragte er. »Das Fläschchen
hilft mir nicht. Ich bin bloß übernächtig, weil ich die ganze Nacht kein Auge zugemacht habe,
das ist alles.« Und um zu beweisen, daß das alles sei, bog er sich schnell über Bord, um sich erst
nach einer Weile noch viel grüner umzudrehen.
Das Wetter war sonnig, blauer Himmel. Der Ostwind hielt stetig an.
»Wenn's so bleibt, fahren wir noch heute nachmittag aus«, sagte Bontekoe zu den ändern Herren.
»Was hältst du vom Wind, Blok?«
»Daß er gut ausgeschossen ist und hübsch festsitzt, Schiffer.«
Eine Stunde später kam Texel in Sicht. Die gelben Dünen glänzten im Sonnenlicht, hie und da
schimmerte ein rotes Dach, und — und ...
»Die >Nieuw-Hoorn
packte seinen Freund beim Arm und wies ihm aufgeregt ein Fleckchen mit ein paar
aufwärtsstrebenden Strichen. »Sieh doch bloß, Padde!«
»Ich sehe nichts«, behauptete Padde. »Meine Augen tun weh vor Müdigkeit. Aber ich werde —
ich werde deine Ausrüstung holen.« Und Padde wankte nach der Stelle, wo Hajos Kiste und
Tauschwaren verstaut waren.
Bontekoe sah aufmerksam zu, wie Padde Hajos Hab und Gut nach vorn schleppte. »Wem gehört
das alles?« fragte er. »Dem Peter Hajo, Schiffer.« »Soso? Ruf mir Hajo her!«
Padde spürte Unrat. »Es ist zum Tauschen, Schiffer. Gegen die Wilden.« »Wenn du bei mir im
Dienst wärst, würde ich dich für deinen Widerspruch ins Tauende beißen lassen«, sagte
Bontekoe.
Da beeilte sich Padde, dem Befehl des Schiffers zu gehorchen. »Nicht mit der Wimper zucken!«
flüsterte Rolf Hajo ins Ohr. »Er ist nicht so schlimm.«
Doch Hajo fühlte sich nicht so ganz sicher, als er vor dem Schiffer stand. »Ist das deine
Ausrüstung, Peter Hajo?« Die Stimme klang unheilverkündend. »Ja—jawohl, Schiffer.«»Was
willst du mit all dem anfangen?«
»Eintauschen, Schiffer.«
»Willst du auf eigene Faust Handel treiben und die Compagnie benachteiligen?«
»Handel treiben, Schiffer .. .?«
Padde war wieder nähergekommen. »Das soll ihm das Leben retten, Schiffer.«
Bontekoe schaute verwundert auf. »Ich spreche mit ihm und nicht mit dir.«
Padde begriff nicht. »Er ist mein Freund, Schiffer.«
»Pack dich, oder du gehst über Bord!« flüsterte Blok dem tapferen Padde zu.
Das wirkte. Padde kehrte unverzüglich um und begab sich zu Rolf, indem er
über die Hindernisse grollte, die man Hajo in den Weg legte.
Bontekoe sandte einen untersuchenden Blick über den Kramladen. »Was wird
aus der Krähe? Auch zum Tauschen?«
»Nein, Schiffer. Das ist Gerrit. Der kommt — der kommt zur Gesellschaft mit.«
»Zur Gesellschaft, soso? Wie kommst du zu Gerrit?«
»Aus dem Nest geholt, Schiffer, als er noch jung war.«
»Kra!« schrie Gerrit.
Die Herren konnten ihre Heiterkeit nicht unterdrücken, und Hajo schöpfte Mut.
»Das Nest saß in den Schallöchern von Sankt Antonius, Schiffer. Der Küster
hat nichts gemerkt.«
»Wieviel Junge saßen darin?« fragte Bontekoe.
»Drei, Schiffer.«
»Drei? Gewöhnlich hat eine Krähe doch vier?«
»Jawohl, Schiffer, diese auch. Aber ich hatte eins weggenommen.«
Bontekoe biß sich auf die Lippen. »Na, es gefällt mir, daß du ihr wenigstens drei
gelassen hast. Sind die gut davongekommen?«
»Jawohl, Schiffer. Schouwen Dudes hat eins davon und Klaas vom Hohen
Deich hatte zwei; aber eins hat sich an einem Wurm verschluckt. Ich hatte ihm
das Nest verkauft. Doch Gerrit ist der Schlaueste, Schiffer. Gerrit versteht alles.
Und wegfliegen tut er auch nicht mehr.«
»Ist er so zahm?«
»Ja, Schiffer. Ich habe ihm die Flügel gestutzt.«
Die Herren fingen an zu lachen. »Höre zu, Peter Hajo!« sagte Bontekoe. »Wenn
mein Bootsmann Folkert Berentsz dich mit diesem Hausrat an Bord klettern
sieht, wirft er dich mitsamt Gerrit in die Nordsee. Darum ist es am besten,
wenn du ihm sagst: >Der Schiffer läßt fragen, ob ein Fleckchen dafür frei ist.< —
Verstanden?«
»Jawohl, Schiffer!« Hajo strahlte.
»Na, dann packe dich!«
Das tat Hajo. Sein Herz wog leicht wie eine Feder, als er nach vorn ging.
Auch Padde war überglücklich, daß es so gut abgelaufen war, und machte kein
Hehl daraus. Aber Hajo achtete nicht auf ihn, sondern guckte sich die Augen aus
nach der »Nieuw-Hoorn«, die immer größer wurde. Wie stolz hob das Schiff
seinen hohen Achtersteven aus dem grüngrauen Wasser! Allmählich konnte Hajo
die schönen Schnitzereien am Heck unterscheiden, das schlank ausgebaute Galion,
die drohenden Stückpforten mit den drohenden Feuermündern.
Bum! Bum! Zwei weiße Wölkchen stiegen zu beiden Seiten des Schiffes auf,
und im gleichen Augenblick lief an einer Leine ein buntes Tuch nach der Spitze
des Großmastes, die Flagge der Ostindischen Compagnie. Blok wollte nicht
zurückstehen und hißte das Hoorner Einhorn. Hajo zitterte vor Aufregung. Er fühlte einen
unwiderstehlichen Drang, laut Hurra zu schreien und auf dem Bretterboden herumzutanzen. Das
war nun sein Schiff! Das war das Schiff, das ihn durch tausend Gefahren und Abenteuer
hintragen würde in das große Traumland Indien!
Eine halbe Stunde später legte sich die »Hoornsche Sonne« gegen die »Nieuw-Hoorn« an. Eine Strickleiter wurde herabgeworfen; Bontekoe und die anderen Herren kletterten hinauf. Ihnen folgte Hajo, hinter ihm Padde, um tragen zu helfen, und zum Schluß Rolf. »Fängst du mich, wenn ich falle?« rief Padde klagend nach unten. Und dann mit einem herzzerreißenden Schrei: »Meine Kaffeemühle!« Ein Plumps zeigte an, daß die Kaffeemühle ins Wasser gefallen war. Mit anmutigen Schaukelbewegungen sank sie in die Tiefe. »Kra!« rief Gerrit erschrocken. Und Rolf sagte, bedächtig wie stets: »Ich habe sie fast auf den Kopf bekommen.« »Zurück!« jammerte Padde. »Hajo muß die Kaffeemühle mitkriegen!« »Sie ist gesunken«, antwortete Rolf im Grabeston. »Du wirst nach ihr tauchen müssen. Vorwärts, mach, daß du weiterkommst, sonst fällst du mir auch noch auf den Kopf!« Wehklagend setzte Padde die Kletterei fort. So kamen sie oben an, wo eine Matrosenschar sie mit Hohngelächter empfing. »Grünlinge!« wurde gerufen. »Ich rieche Landratten! Eine Krähe!« »Wir sind zu dreien«, sagte Rolf. »Wenn sie einen Finger rühren, schlagen wir drauf.« Hajo biß die Zähne aufeinander. Und Padde schrie: »Vorwärts! Zeigt uns, wo wir hin müssen!« Alle begannen zu prusten. Aber ein gutmütiger Koch mit weißem Schurz und rosigem Gesicht kam auf die Jungen zu und sagte: »Laßt sie nur lachen! Sie meinen's nicht so böse. Kommt mit! Ich werde euch in den Mannschaftsraum bringen.« »Das möchte ich mir ausbitten!« murrte Padde. So kamen sie, nachdem sie eine Treppe hinabgestiegen waren, in den Schlafraum des Schiffsvolks. »Hier, diese Hängematten sind frei«, sagte der Koch. »Ja, die besten Plätze sind natürlich weg; bei wildem Wetter könnt ihr hier ruhig auf einen Brecher rechnen. Aber daran gewöhnt man sich. Steck den Kram da schnell weg, bevor der Bootsmann ihn sieht! Aber was fangen wir mit der Krähe an? Die kann auf die Dauer unmöglich verborgen bleiben.« »Kra!« bekräftigte Gerrit. »Schadet nichts«, sagte Padde. »Der Schiffer kennt sie.« »Dann ist es was anderes«, erklärte der Koch. »Hier ist ein Nagel. Hänge da den Käfig vorläufig dran auf! So — nun könnt ihr allein weiter. Ich heiße Bolle. Ja, ich heiße eigentlich anders; aber die Matrosen nennen mich Bolle, weil ich zu Weihnachten und Neujahr immer die leckeren Ölbollen backe, sagen sie. Da kommt ihr also gerade recht. Ja, ich selber mache mir nichts daraus.« »Warum nicht?« fragte Padde. »Weil ich mich daran übergegessen habe, auf einem Kaperschiff. Das erzähle ich euch ein andermal. Und Malaiisch kann ich euch auch beibringen. Furchtbareinfach: Ajer heißt Wasser, Kapal heißt Schiff, und was man nicht weiß, bleibt so.« Bolle verschwand mit freundlichem Kopfnicken. »Seht zu, daß ihr den Kram gut verstaut! Wenn Berentsz das sieht...!« Die Jungen blieben allein und sahen sich um. »Den Koch mußt du dir warmhalten, Hajo«, rief Padde. »Ich würde die Ölbollen auch gern mal kosten.« »Damit du dich von dem Schreck über die Kaffeemühle erholst?« fragte Rolf. Padde seufzte. »Erinnere mich nicht daran! Du wirst sehen, daß diese Reise ein schlechtes Ende nimmt! Dieser Berentsz scheint auch ein schlimmer zu sein.« »Die Luft ist hier nicht sehr frisch«, stellte Rolf fest. Und er riß eine Luke auf. Padde jammerte noch eine Weile über seine entschwundene Kaffeemühle, dann erklärte er: »Ich geh' mal hinauf, mir das Schiff ansehen.« Eine Viertelstunde
später wolle Rolf und Hajo ihm folgen. Aber sie hatten die Nase noch nicht um die Ecke gesteckt, als eine schwere Stimme sie andröhnte: »Donner und Blitz! Wollt ihr jetzt schon faulenzen? Da steht ein Schrubber, Wasser die schwere Menge. Braucht bloß die Augen aufzumachen. Und du, nimm dir den Wischlappen! Was er schrubbt, wischst du auf. Verstanden?« »Und was soll ich schrubben, Bootsmann?« »Donner und Blitz! Was du schrubben sollst? Das Schiff sollst du schrubben! Willst du vielleicht die Nordsee schrubben? Du fängst beim Achterdeck an und endigst mit dem Galion und dem Bugspriet. Wenn ich nachher noch ein schmieriges Fleckchen finde, werdet ihr alle beide gekielholt. Vorwärts! An die Arbeit!« Und Folkert Berentsz, Bootsmann auf dem Ostindienfahrer »Nieuw-Hoorn«, setzte seinen gefürchteten Rundgang fort. Hajo ergriff den Schrubber und machte sich eifrig an die Arbeit. Rolf aber maß mit den Augen die Oberfläche des Schiffes und sagte dann, während er Hajo mit sich fortzog: »Wir wollen uns heute auf das Achterdeck beschränken.Es ist unmöglich, an einem Nachmittag das ganze Schiff zu schrubben, das weiß Donner und Blitz natürlich auch.« Während die beiden Jungen scheuerten und wischten, daß es rings um sie her spritzte, überzeugte sich Schiffer Bontekoe, daß alles für die Ausreise bereit sei. Der Wind versprach östlich zu bleiben, und der Schiffer schickte ein paar Boote an Land, um frisches Wasser einzunehmen. Rolf sah, wie es an Bord gehoben wurde. »Wir fahren heute weg«, sagte er zu Hajo. »Noch schneller, als ich dachte.« »Woher weißt du, daß wir wegfahren?« »Wir nehmen Wasser ein. Das geschieht immer zu allerletzt.« Hajo spähte umher. »Wo mag Padde stecken? Ich sehe ihn nirgends.« »Er wird wohl nach seiner Kaffeemühle fischen«, meinte Rolf lachend. »Halt, da kommt Blok an! — Hast du Padde gesehen, Blok?« »Jawohl, der liegt unten in der Tjalke und schläft. Ich fahre gleich nach Hause. Aber an eurer Stelle ließe ich ihn ruhig, wo er ist. Sonst geht er noch mit nach Ostindien.« »Ja!« lachte Rolf. »Das wäre für die Bierbrauerei seines Oheims ein großer Verlust.« Die Jungen setzten die Arbeit wieder fort. Hajo scheuerte aus Leibeskräften. Jedes Fleckchen, das er geschrubbt hatte, betrachtete er mit Genugtuung. Das Fleckchen kannte er, und es kannte ihn. Hajo war im Begriff, innige Freundschaft zu schließen mit der »Nieuw-Hoorn«. Eine Weile später packte Rolf seinen Gefährten beim Arm. »Da geht die Tjalke fort.« Hajo starrte mit großen Augen dem wegsegelnden Fahrzeug nach. Dann schnellte er nach der Verschanzung und sah, daß die »Hoornsche Sonne« in der Tat weggefahren war. »Padde!« schrie er. »Leb wohl, Padde!« Und er holte das große, rote Sacktuch, das Paddes Mutter ihm geschenkt hatte, hervor und schwenkte es aus Leibeskräften. »Leb wohl, Padde! Padde!« Er merkte nicht, daß es auf dem Unterdeck immer geräuschvoller wurde; weder das Hinundhereilen der Matrosen hörte er, noch das Rasseln der Ankerwinde und das Stimmengewirr unter und über sich. »Auf Wiedersehen, Padde! Padde!« rief er. Und er winkte, winkte in einem fort. Da dröhnte der Bretterboden unter seinen Füßen: eine Reihe donnernder Kanonenschüsse machte ihm die Ohren sausen. Eine Rauchwolke umhüllte das Schiff. Halb betäubt wandte sich Hajo um. Im Want und in den Riggen wimmelte es von Janmaats. Die Segel wurden gelöst und schlugen klappernd aus im Wind, bis gebräunte Fäuste sie festgesorrt hatten. Ein mächtiges Hurra stieg auf aus zweihundert Kehlen. Hajo hielt sich fest am Want und holte tief Atem. Die »Nieuw-Hoorn« stach in See.
Träumerisch hingen Rolf und Hajo über die Reling und spähten nach dem grauen Streifen Land,
der immer schmäler wurde. Schweigend blickten sie über die weite, grünliche Wasserfläche, die
rund um das Schiff durch den Schaum zu Marmor gewandelt wurde. Ein paar Möwen irrten um
die Masten mit ruhigem, lautlosem Flügelschlag.
Da hörten sie hinter sich ein leises Rascheln. Sie drehten sich um und — und — sahen in der
Öffnung des Mannschaftsraumes das bleiche, vom Schlaf verzerrte Gesicht Paddes erscheinen,
der stotternd fragte: »Was — was war das mit den Kanonen, Hajo?«
Auf der Suche nach dem Bottler An der schweren eichenen Tafel in der großen Schiffskajüte der »Nieuw-Hoorn« saßen Schiffer Bontekoe und Kaufmann Rol einander gegenüber. Ersterer studierte aufmerksam eine große Seekarte und maß mit dem Zirkel einige Abstände. Der Kaufmann ließ seine Augen über lange Zifferreihen wandern, machte hin und wieder eine Aufzeichnung und vertiefte sich in neue Tabellen mit Zifferreihen. Stille im Raum, Stille, die vollkommen paßte zu der würdigen, beinahe feierlichen Stimmung in diesem Heiligtum: der Kajüte des Kapitäns. Plötzlich hoben beide Herren den Kopf; vor dem Eingang der Kajüte war Lärm entstanden. »Laßt mich durch!« schrie eine Stimme. »Ich will den Schiffer sprechen. Laßt mich durch, sage ich!« Im selben Augenblick wurde die Tür aufgerissen und ein Junge, nicht höher als fünf friesische Torfstücke, stürmte herein, auf dem Fuß gefolgt von dem würdigen, bereits ergrauten Schiffsbader, gemeinhin »Vater Langjacke« genannt. Der vermessene Eindringling — wer war es anders als Padde? — starrte mit Augen,in denen Entsetzen lag, in das strenge Antlitz Bontekoes. »Herr — die Tjalke ist weg!« »Schiffer! Der verflixte Nichtsnutz von einem Jungen — hm!« brummte der Bader aufgebracht und nach Atem schnappend. »Es ist gut, Vater Langjacke«, sagte Bontekoe. »Ich werde mit dem jungen Mann schon ins reine kommen.« »Ich gehe, Schiffer. Aber der verflixte Taugenichts — hm!« Und grimmig schloß Vater Langjacke die Tür hinter sich. Padde fiel vor dem Schiffer auf die Knie. »Liebster, bester Schiffer, kehr um! O bitte, bitte!« »Steh schnell auf!« sagte Bontekoe in einem Ton, der wenig Gutes verhieß. Padde kroch wieder auf die Füße; seine Augen schwammen in Tränen. »Schifferchen, bitte!« »Erzähle mir kurz und deutlich, warum du nicht auf der Tjalke sitzst! Und keine Ausflüchte, wenn ich bitten darf!« »Ich bin eingeschlafen! Heute nacht habe ich kein Auge zugemacht.« »Da soll doch das Donnerwetter...! Hättest dich in der Tjalke aufs Ohr legen sollen!« »Das habe ich getan, Schiffer. Aber die schaukelte so entsetzlich, und da bin ich wieder an Bord gegangen. Lieber Himmel, wie all die Kanonen auf einmal...!« »Die Kanonen hast du also gehört?« »Jawohl, Schiffer, aber ich traute mich nicht herauszukommen bei all den Kanonen. Ich dachte — ich dachte, daß die Dünkirchener ...« Und Paddes Augen füllen sich aufs neue mit Angst vor den gefürchteten Seeräubern. »Bengel, wärst du doch bloß zum Vorschein gekommen! Dann hättest du noch zurückgekonnt.« »Und jetzt nicht mehr, Schiffer?« Es klang wie ein Notschrei. Bontekoe wußte nicht recht, wie er daran war. »Wie ist es nun eigentlich? Hältst du mich zum Narren? Beichte mir jetzt ehrlich, wie sich die Sache verhält! Wolltest du mit deinem Freund fahren?« Paddes Augen drohten aus den Höhlen zu fallen. »Mit nach Ostindien?« stammelte er. Der arme Junge griff sich in die Haare. »Ich gehe doch in die Bierbrauerei von meinem Oheim! — O Schiffer, Schiffer, kehr um, um Himmels willen!« Und aufs neue sank Padde zu Bontekoes Füßen nieder und trachtete seine Hände zu fassen. Bontekoe sah ein, daß er sich geirrt hatte. Er tat ein paar Schritte durch den Raum und fragte dann: »Du heißt Padde?« »Padde Kelemeyn, Schiffer, vom Appelhafen.«
»Höre gut zu, Padde Kelemeyn! Wir werden dir hier an Bord ein bißchen Arbeit verschaffen,
denn Müßiggang ist des Teufels Kopfkissen. Und wenn du gut zugreifst und wir zufällig einem
Schiff begegnen sollten, das zurück nach Holland bestimmt ist, dann werden wir dich darauf
übersetzen.« »Wann würde das sein, Schiffer?«
»Das kann heute noch geschehen, aber auch noch drei Monate dauern.« »Drei Monate!«
wiederholte Padde tonlos.
»Sei ohne Sorge!« tröstete Bontekoe. »Du bist hier gut untergebracht und deine Mutter wird viel
zu froh sein, wenn sie dich gesund wiederhat, um noch ans Durchhauen zu denken.«
Padde sprang in die Höhe. »Meine Mutter schlägt mich überhaupt nicht, Schiffer!«
»Wo du doch wirklich Anspruch auf eine tüchtige Tracht Prügel hast«, war Bontekoes Meinung
von der Sache. »Aber wir suchen dir eine passende Beschäftigung aus. Kannst du klettern?«
»Klettern, Schiffer?« »Ja. Zum Beispiel an einem Tau?« »O nein, Schiffer, an einem Tau nicht!«
»Auf einer Leiter wohl?« fragte Bontekoe.
»Auf einer Leiter? Natürlich!« beeilte sich Padde eifrig zu versichern. Bontekoe warf dem
Kaufmann einen heiteren Blick zu. »Dann machen wir einen Bottlersmaat aus dir. Gleichzeitig
eine gute Vorbereitung für die Bierbrauerei. Laß dir von den Matrosen den Bottler zeigen und
bestelle ihm, daß du ihm helfen sollst! Begriffen?« »Jawohl, Schiffer.« »Gut so. Die Tür ist
hinter dir.« »Jawohl, Schiffer.« Padde blieb stehen.
»Schiffer — Schiffer!« Paddes Äuglein zwinkerten flehentlich. »Kannst du denn wirklich nicht
noch zurücksegeln?«
Das war zu arg. Bontekoe machte eine Bewegung, die Padde veranlaßte, in solcher Eile die
Kajüte zu verlassen, daß er vor der Tür einen dicken, rosigen, freundlichen, etwas schieligen
Mann blindlings über den Haufen rannte. »Sperr doch die Augen auf!« schnauzte Padde. Der
Mann kroch sprachlos vor Verwunderung auf die Füße.
Padde setzte grimmig seinen Weg fort. Ein langer, dürrer Janmaat mit rotem Haar und grünen,
glasigen Augen wie die eines Fisches wurde zuerst von ihm befragt. »Wo ist der Bottler?«
Der Mann sah Padde überlegen an. »Der Bottler? Dreimal rund ums Schiff, an der vierten Ecke
vom Segel vorbei und dann am fünften Tau ziehen, dann kommt er.«
»Möchtest du gern verhauen werden?« fragte Padde. Der Bursche begann zu meckern wie eine
Ziege.
Padde schnaubte und zischte und packte einen ändern beim Rockzipfel. »Wo ist der Bottler?«
Der Matrose, ein untersetzter, kräftiger Mann mit ein paar schlauen Augen, sah von seiner Arbeit
— dem Aufrollen eines Taues — auf. »Was kann ich verdienen, wenn ich ihn dir zeige?«
»Ich werde es dem Schiffer sagen, was für erbärmliche Burschen ihr seid«, versicherte Padde.
»Ja, dann allerdings«, sagte der Mann. »Höre gut zu! Der Bottler ist bestimmt auf dem Schiff;
ich habe ihn auf der vorvorigen Reise noch gesehen. Lauf nur ein Stückchen weiter, dann wirst
du ihn schon finden! Es ist so'n langer, magerer, kurzer, dicker Kerl.«
Padde war schon wieder weiter, suchte sein Heil bei drei Matrosen, die über die Reling hingen
und priemten.
»Der Bottler?« fragte der größte, der ein schiefes Gesicht und darin ein halbgeschlossenes Auge
hatte. »Weißt du, was du vor allem nicht vergessen darfst, wenn du den Bottler suchst?«»Na?«
fragte Padde unsicher.
»Herrje, nun habe ich es selber vergessen!« sagte der Bursche.
»Hast du dein eines Auge vergessen?« fragte Padde. Dann sprang er hastig
beiseite.
Padde klagte seine Not einem treuherzigen bärtigen Seebären, der gerade ein
Ankerspill schmierte. »Ja, sie führen dich wohl ordentlich an der Nase herum«,
sagte dieser, während er seine klaren Augen mitleidig auf den neugebackenen
Bottlersmaat richtete. »Du mußt bedenken: du bist ein Grünling, nicht wahr?
Aber ich werde dir den Bottler zeigen. Hab nur einen Augenblick Geduld! Dies
Spill muß erst noch geölt werden. Hilf mir dabei! Dann geht es schneller.«
»Gern«, sagte Padde, froh, daß er dem treuherzigen, freundlichen Seebären
einen Gegendienst erweisen könne.
»Du bist ein braver Junge«, erklärte dieser. »Hier ist Öl. Schmier nur drauflos!«
Und Padde schmierte, bis das Spill und er selber um die Wette glänzten.
»Gut so!« pries der treuherzige Seebär. »Du wirst es bald lernen. — So, nun dies
Spill auch noch.«
Padde war schon wieder an der Arbeit. Das Lob, das der erfahrene Seebär
seinem Schmiertalent zuteil werden ließ, stachelte Padde an; er schmierte nun
so hingebend und eifrig, daß er gar nicht merkte, wie sein Gefährte sich mit den
Händen in den Taschen dazugesetzt hatte, ein lustiges Liedchen zwischen den
Zähnen pfiff und beifällig mit dem Kopf nickte.
Als das Spill geschmiert und Padde außer Atem war, sagte der treuherzige Seebär:
»Ich versichere dir, daß ich selber es nicht besser hätte machen können. Komm,
jetzt das Spill vom Notanker!«
Padde machte ein langes Gesicht. »Und der Bottler?« fragte er.
»Die Pflicht geht vor, Junge«, erklärte der treuherzige Seebär. »Erst noch
geschwind das Spill vom Notanker.«
»Aber gehst du dann auch wirklich mit mir?« fragte Padde.
»Ja, wenn ich erst noch im Fockmast was geklart habe.«
»Und wann bist du damit fertig?« fragte Padde unschlüssig.
»Das kommt darauf an«, sagte der treuherzige Seebär. »Wenn du mir hilfst, sind
wir in einer halben Stunde so weit, sonst geht mein ganzer Nachmittag drauf.«
In Paddes Augen schossen die Tränen; er wandte sich ab und begann zu
schluchzen.
»Ja, die Pflicht geht vor«, sagte der treuherzige Seebär. Und er nahm seinen Topf
mit Schmieröl und machte sich auf den Weg zum Notanker.
Padde blieb stehen, Verzweiflung im Herzen. Er fühlte sich von der ganzen Welt
verlassen und wünschte, die »Nieuw-Hoorn« möge noch heute mit Mann und
Maus untergehen. Er schluchzte je länger desto heftiger, und je mehr er schluchzte,
desto entsetzlicher fand er seine Lage.
Doch unerwartet wurde er auf die Schulter geklopft. Er drehte sich um und
sah in das rosige Gesicht des schieligen Dicken, den er beim Verlassen der
Kajüte über den Haufen gerannt hatte. »Was fehlt dir denn, Kerlchen?« fragte
der Mann freundlich.
Doch Padde hatte sein Vertrauen an die Menschheit verloren. »Geht dich gar
nichts an!« grollte er. »Ich hab' nix.«
»Aber wenn dir nichts fehlt, warum heulst du dann?« fragte der Mann.
»Du willst dich auch bloß über mich lustig machen. Ja, stell dich man nicht,
als ob du nicht wüßtest, daß ich den Bottler suche! Ihr könnt mir alle den Buckel
entlang rutschen!«
»Bottler? Suchst du den Bottler? Na, das ist ein Mirakel: ich bin der Bottler!«
Padde konnte einen Schrei nicht unterdrücken. »Ist das wahr? Foppst du mich
nicht?«
»Aber nein«, sagte der Dicke, »das weiß ich genau, daß ich der Bottler bin.«
Padde flog ihm um den Hals. »Ich soll dir helfen. Der Schiffer hat es gesagt.«
»Mirakel! Ich hatte den Schiffer gerade um einen Jungen für die Bottlerei...«
Der Mann stockte, trat ein paar Schritte zurück und starrte Padde an. »Na,
das ist'n Mirakel!« flüsterte er. »Das ist nun wahrhaftig ein großes Mirakel!
Du siehst meinem — meinem Jungen ähnlich.«
»Ist der hier auch auf dem Schiff?« fragte Padde.
Der schielige Dicke wollte etwas erwidern, schluckte es aber wieder hinunter
und schüttelte verneinend den Kopf.
»Wo ist er denn?« fragte Padde.
Der Bottler räusperte sich, legte seine Hand auf Paddes Schultern und gab dann
die merkwürdige Antwort: »Da stehen — da stehen noch zwanzig Kruken, die
allesamt gespült werden müssen. Komm, komm nur mit, Kerlchen!«
Auch Gerrit machte an jenem ersten Nachmittag an Bord schwere Augenblicke durch. Während
er im Dämmer des Mannschaftsraumes in seinem Käfig saß und sich überlegte, daß er für eine
ganz gewöhnliche Turmkrähe doch ein merkwürdig bewegtes Leben führe, kamen drei Männer
herein. »Bitte sehr«, sagte einer von ihnen, ein untersetzter Mann, der ein wenig hinkte, »da liegt
das Gerumpel!« Und er zerrte Hajos »Tauschhandel« ans Licht. »Was wollen wir damit
ausfressen? Sie müssen gepiesackt werden, das steht fest; Grünlinge müssen gepiesackt
werden.«
»Gepiesackt werden«, bekräftigte der zweite, ein Mann mit einem von den Pocken
zerschundenen Gesicht.
»He —he —he!« feixte der dritte, ein etwas gebücktes Männlein. »Was wir tun könnten«, sagte
der Hinkefuß, »wäre: den ganzen Krempel verschwinden lassen.«
»Verschwinden lassen«, rief der Pockennarbige. »Hi — hi — hi!« grinste der Kleine. »Kra!« rief
Gerrit.
Die drei Männer erschraken; der Kleine verschluckte sich. Dann begann der Hinkefuß zu lachen.
»Schockschwerenot!« rief er. »Der Krähe drehen wir das Genick um.«
»Genick umdrehen«, stimmte der Pockennarbige ihm bei.
Der Hinkefuß ging zum Käfig und versuchte dessen Bewohner zu greifen. Aber Gerrit war so
gewandt, wie eine guterzogene Turmkrähe nur sein kann, »'n hübsches Tier«, versicherte der
Hinkefuß. »Pick!« machte Gerrit und hackte mit dem Schnabel.
»Na, wenn ich das Ungetüm zwischen die Finger kriege!« drohte der Hinkende schimpfend. Und
er bekam es zwischen die Finger und zerrte seinen glänzendschwarzen Gefangenen heraus. »So,
nun kannst du dein Testament machen.« Da erklangen draußen Schritte. Die Männer hielten sich
still. Hajo betrat den Mannschaftsraum, sah mit einem Blick das Durcheinander auf dem
Fußbodenund merkte, daß der Hinkefuß etwas verborgen hielt. »Was hast du da?« fragte er,
während er sich entschlossen vor den Burschen hinstellte. »Geht dich nichts an.«
»Kra!« schrie Gerrit.
Das Blut stieg Hajo zu Kopfe. »Laß die Krähe los! Sie gehört nicht dir.« »Aber dir, was? Mußt
sie dem Bootsmann zeigen.« »Laß sie los!« drohte Hajo.
»Ich werde ihr vor deinen Augen das Genick umdrehen«, erklärte der Hinkefuß. Da riß Hajo den Käfig von der Wand und schmetterte ihn in blindem Zorn dem Burschen auf den Kopf. Es konnte nicht besser gehen: der alter vermoderte Boden gab nach, und der Käfig hängte sich um des Mannes Hals. Er mußte den laut kreischenden Gerrit loslassen, um sich von dem kupfernen Gitternetz zu befreien. Dabei schimpfte und tobte er. »Dich soll doch ... du Salamander!« Und während Gerrit mit hastigen Sprüngen, halb flatternd, zu entkommen suchte, stand Hajo mit geballten Fäusten, bebend vor Aufregung da und wartete den Angriff des Hinkenden ab. Der ließ nicht lange auf sich warten. Kaum hatte er sich des Käfigs entledigt, da kam er wutschnaubend auf den Schiffsjungen zu. Ein erbitterter Ringkampf, dem die zwei ändern voller Spannung zusahen, folgte. Und grade als Hajo, trotz seiner unvergleichlichen Gewandtheit, der rohen Gewalt des viel stärkeren Janmaats zu unterliegen drohte, kam Folkert Berentsz dazu. Sehen und handeln war für den wackeren Seemann eins. Der Hinkefuß fühlte sich kräftig beim Genick gepackt und ließ verblüfft seinen Widersacher los. »Donner und Blitz! Stehst du hier und ringst mit einem Schiffsjungen?!« »Schöner Schiffsjunge«, brummte Hinkefuß, während er sein herausgezerrtes Hemd wieder in die Hose stopfte und sich das Handgelenk leckte, das zerkratzt war. »Schöner Schiffsjunge! Der Salamander hat den Käfig auf meinem Kopf entzweigeschlagen.« Der gefürchtete Bootsmann richtete seine Augen drohend auf Hajo. »Er wollte meiner Krähe das Genick umdrehen, Bootsmann.« »Kra!« rief Gerrit. »Deiner Krähe? Was machst du hier mit einer Krähe?« »Der Schiffer kennt sie«, sagte Hajo. »Und hier erst, Bootsmann!« tönte es aus Hinkefuß' Munde. »Sieh bloß, was für Gerümpel das Herrchen bei sich hat!« »Donner und Blitz!« stotterte Berentsz. »Der Schiffer weiß es, Bootsmann, und läßt bitten . . .« »Der Schiffer, der Schiffer, der Schiffer!« knurrte Berentsz. »Schöne Zustände heutzutag! Als ich Schiffsjunge war... — Du, Boutjens, kannst auf jeden Fall auf eine Nacht im Schurkenloch rechnen«, schnaubte er den Hinkefuß an. »Und dich, Jüngling, werde ich mir merken, und deine Krähe auch. Donner und Blitz!« — Weg war der Bootsmann. Hajo suchte seinen Hausrat zusammen, hob den Käfig auf und bemühte sich, den Boden wieder hineinzustoßen. Die drei Männer verließen murrend und schimpfend den Mannschaftsschlafraum. Hajo atmete tief. Er setzte sich auf die Kiste, die Meister Wouter ihm geschenkt hatte, stützte den Kopf in die Hände und starrte vor sich hin, die Reihe Hängematten entlang. Das Glück, das unermeßliche, blendende Glück, dessen Widerschein vorhin noch in seinen Augen geleuchet hatte, war getrübt. Voller Wehmut dachte Hajo an Meister Wouter, an seine Geschwister und an... Ob sie an ihn dachte? »Wenn du jemals Kummer hast, sage dann immer getrost: >Mein Mutter denkt an mich.< — Mutter — Mutting!« Hajo sprang auf, lief ein paarmal auf und nieder und eilte dann hinaus. Es war allmählich dunkel geworden. Die frische Seeluft tat ihm wohl; mit vollen Zügen sog er sie ein. Er lehnte über die Reling und sah nach dem weißen Schaum, der den Bug entlang jagte, und nach den leuchtenden Köpfen der dunklen Wogen. Es war kein Mond da; eine Handvoll bleicher Sterne lag verstreut über dem Himmelsgewölbe. Allgemach kam Hajo wieder zur Ruhe.
Er lauschte dem Seufzen des Windes, dem Klappern einer losgelösten Ecke eines der Focksegel,
dem Wimmern der Wellen, die schmerzlich unter dem Schiffsbug zerrissen, dem eintönigen
Singsang der Steuerleute.
»Hallo!« klang es auf einmal hinter Hajo. Da stand Rolf. »Hallo, Hajo! Ich suche dich überall.
Wo warst du nur geblieben?« Hajo erzählte, was ihm widerfahren war.
»Wir sind zu zweien«, sagte Rolf, als Hajo zu Ende erzählt hatte. »Wer uns lästig wird, kriegt es
mit zweien zu tun.« Da kam Padde angewackelt.
»Hallo, Padde«, rief Rolf, »sehen wir dich auch endlich? Der Schiffer wird wohl ein herzhaftes
Wort mit dir gesprochen haben?«
»Ich bin Bottlersmaat«, seufzte Padde. »Er will nicht mehr zurück. Lieber Himmel, was wird
meine Mutter sagen! Und das alles durch die elendigen Kanonen!«
»Wenn die nicht geschossen hätten, schliefest du jetzt noch«, warf Rolf ein.
»Wär's nur so!« klagte Padde. »Ich falle um vor Schlaf.«
»Ich mache einen Vorschlag, Padde«, sagte Rolf. »Wir schließen einen Dreibund. Wir haben
dieselben Freunde und dieselben Feinde und helfen einander immer und überall. Hand drauf?«
»Abgemacht!« sagte Padde.
Und die Jungen schlugen kräftig die Hände ineinander.
Dann läutete mit hellen Schlägen eine Glocke.
»Die Essensglocke!« rief Padde.
»Woher weißt du das?«
»Na, wozu sollen sie sonst läuten als zum Essen?«
»Vorwärts dann!« sagte Rolf.
Und so begab sich der Dreibund, diesmal mit Padde als Anführer, Arm in Arm in den
Mannschaftsraum, wo der Koch und seine Gesellen keuchend die dampfenden Eßkessel
schleppten.
Reisegeschichten Es mochte unter der Bemannung der »Nieuw-Hoorn« unangenehme Burschen geben, im großen und ganzen waren es nette, gemütliche Leute, die, wenn nötig, wie Pferde arbeiteten, vor dem Teufel nicht bange waren und lachen konnten, daß die Wände des Mannschaftsraumes davon erdröhnten.An jenem ersten Abend beim Essen gewannen die drei »Grünlinge« schon ein paar Freunde. Da waren — außer dem braven, vornehmen Vater Langjacke, der die Mahlzeit mit einem Gebet eröffnete und schloß — Schwarzer Gys und Diede Dudes und Floorke und Gerretje und Steven Düffel und Nase und — und Harmen. Der Kochsmaat Harmen von Kniphuizen, ein paar Jahre älter als Hajo und Rolf, war eigentlich ein Dichter. Wenn man zu Harmen sagte: »Guten Morgen!«, dann antwortete er: »Ich werd' dafür sorgen.« Wenn man ihn fragte: »Was gibt's heute für Braten?«, dann grinste er zurück: »Darf ich nicht verraten.« Er kletterte wie ein Affe, schwamm wie eine Wasserratte, lief wie ein Hirsch, hatte die Muskeln eines Vollmatrosen und konnte aufschneiden wie ein ... Die letzte Eigenschaft kam des Abends ans Licht, als das Schiffsvolk im Mannschaftsraum gesellig beisammen war. Mann neben Mann saßen sie an den langen Tischen, zusammengepreßt wie Heringe in der Tonne. Es gab einige, die gleich nach dem Essen in ihre Koje sanken; einige schnarchten, daß es eine Art hatte. Hier und dort wurde ein Spiel Karten hervorgeholt oder ein Pöttchen Bier getrunken. Und rauchen taten sie! Eine halbe Stunde nach dem Essen konnte man sein Gegenüber im Nebel kaum mehr erkennen. Der Tabak war nicht immer vom besten. Es mußte einem manchmal die Pfeife aus dem Mund gezogen werden, weil der »Duft« für die ändern unerträglich wurde. Der Betreffende fühlte sich beleidigt, schmiß mit großen Worten um sich, schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Bierkrüge klirrten, und — lachte dann wieder mit den andern. »Spiel uns was!« rief einer von seiner Koje aus. »Kniphuizen, spiel was!« »Ja, spielen!« schrien zehn andere. Und der Kochsmaat Harmen von Kniphuizen holte seine Fiedel, schwang sich auf den Tisch und strich drauf los. Es ging wohl manchmal daneben; die Geige war auch keine echte Stradivari, aber das tat der Gemütlichkeit keinen Abbruch. Die »Ohmes« — so nannten die Schiffsjungen die über sie gestellten Matrosen — stampften mit den Füßen und sangen dazu. »Ich werde euch mal was erzählen, worüber ihr staunen sollt!« schrie »Nase«, ein dicker Kerl mit einem zierlich gelockten Schnurrbart und einer Nase gleich einer angefrorenen Kartoffel. »Wenn du lügst, beiße ich dir die Nase ab«, drohte Schwarzer Gys, der Schmied. »Die würde dir gut schmecken«, versicherte Nase. »Vorwärts, erzählen! Erzählen!« »Hört zu«, sagte Nase. »Auf meiner vorigen Reise hatten wir einen geistlichen Krankentröster an Bord: Vater Jonas. Der war fromm, saperlott! Und wenn wir vor Anker lagen, hatte er keine Ruhe, bevor er die Wilden bekehrt hatte. So lagen wir auch einmal mit Haverei vor einem Inselchen. Die Schwarzen tauchten bald auf, und Vater Jonas ging ans Bekehren. Wenn es ihm bei einem gelungen war, hing er dem Wilden eine Nummer um den Hals. Die andern wurden sicher neidisch auf diese Nummer, denn im Handumdrehen meldeten sie sich allesamt zur Bekehrung an. Einer war Vater Jonas' Liebling, ein spindeldürrer Wilder, der war nicht von ihm wegzuschlagen. Vater Jonas hatte ihn Paulus getauft. Gut. Der Bader will Kräuter suchen und bittet Vater Jonas, ihm einen vertrauenswürdigen Wilden mitzugeben. >Dann mußt du Paulus mitnehmen<, sagte Vater Jonas.
Gut, Paulus und der Bader gehen an Land. Nach einer Weile kommt Paulus angerannt und
erzählt mit viel Fratzenschneiden, daß der Bader von einem Krokodil verschlungen worden ist.
Großer Aufruhr. Vater Jonas schwört bei hoch und niedrig, daß Paulus unschuldig wie ein Lamm
ist. Und bei der Totenfeier betet Paulus für zwei.« »So'n Halunke!«
»Still! Das dicke Ende kommt noch.«
»Gut. Am nächsten Tag verschwindet ein Freund von mir. Wir suchen jedes Mauseloch ab.
Nichts zu finden.
>Sapperlot, was wird mir der Paulus dick!< sage ich so zu Vater Jonas. >Nase<, sagte Vater
Jonas, >Paulus ist ein Christenmensch.< Über Paulus wollte er nichts hören.
Ein Stündchen später gehen sie zusammen weg. >Wo gehst du hin, Vater Jonas?< frage ich.
>Paulus hat mich gebeten, seinen alten Vater zu bekehren. Der arme Mann kann nicht mehr
laufen.<
>Soll ich nicht lieber mitkommen? Es ist hier so'n unheimliches Land.< >Paulus ist bei mir,
Nase.< >Gerade darum<, sage ich.
Vater Jonas wurde böse und lief mit Paulus weiter. Ich sah ihn noch unter den Bäumen
verschwinden. Wollt ihr glauben, daß mir den ganzen Nachmittag nicht wohl in meiner Haut
war?
Und richtig, da kommt Paulus angesegelt, fuchtelt mit den Armen und Beinen und macht
dieselben Fratzen wie das vorige Mal.
>Hundsfott<, schreie ich und packe ihn bei seiner Nummer, >du hast Vater Jonas aufgefressen!<
— Und ich rüttle ihn durcheinander, bis er sich übergibt. Und was spuckt er zuallererst aus? Na? Vater Jonas' Trauring! Den hatte er in der Eile mit hinuntergeschluckt.« »Ja, gefährliches Zeug, die Menschenfresser«, versicherte Harmen. »Mein Bruder und ich sind auf der vorigen Reise auch so gut wie aufgefressen worden.« »Erzähle!« »Mein Bruder ist ein Spaßmacher, müßt ihr wissen, der kann alles. Er kann Knoten in seine Ohren machen, seine Augen wie Murmeln rollen lassen und nach zwei verschiedenen Seiten zugleich spucken. Taschendieben kann der, nicht so knapp! Und von einem Rattenfänger hat er Bauchreden gelernt. Na, wir waren an Land gegangen von wegen des Skorbuts. >Kommst du mit, Harmen?< fragt mein Bruder. >Dann gehen wir einen Topf Honig holen. Hier muß irgendwo ein Nest sitzen, denn ich sehe immerzu Bienen fliegen.< Er war versessen auf Honig, mein Bruder. Und ich dachte: Er soll seinen Willen haben. Aber mir war gar nicht recht geheuer so zu zweien in der Wildnis. Und richtig, hast du nicht gesehen, waren wir von Menschenfressern umzingelt! Geschrien haben die! Sie zogen uns die Kleider aus. Mein Bruder sagte noch zu mir: >Harm, du hättest dir auch erst die Füße waschen können!< >Klaas<, entgegnete ich, >wie kannst du jetzt noch deinen Unsinn machen !< Na, wir wurden in ein kleines Boot gesetzt, und dann gings' flußaufwärts, Jungens. Klaas und ich mußten auch rudern, mit so einem Stock mit platten Scheiben an der Spitze.« »Pagaien — Paddeln!« riefen ein paar. »Weiß ich selber. Ich war fuchtsteufelswild, denn einer von den Holzkohlenköpfen hatte sich meinen roten Schlips, den mein voriger Schatz mir gestrickt hatte, um seinen Lausebusch gebunden. >Klaas<, sagte ich, >wenn wir die Ruder packten und ihnen die Zähne damit einschlügen?< >Du bist wohl nicht recht bei Trost?< fragte Klaus. >Dann müßten wir jeder acht auf unsere Rechnung nehmen.<
Bei Dunkelwerden kamen wir beim Menschenfresserdorf an. Na, wir wurden mit Jauchzen empfangen! Und weißt du, was Klaas tat? Der lachte bloß und schwenkte die Arme. >Euch werd ich's besorgen, Gesindel!< rief er. Na, das verstanden sie natürlich nicht, aber sie waren doch baß erstaunt, daß Klaas so guter Dinge war. Wir wurden vor den Radscha gebracht. Er hatte ein Stück Knochen durch seine Nase gezogen und auf dem Kopf einen Südwester; den hatte er verziert mit Glasperlen und in der Mitte mit einem Taschenspiegel. Hinter ihm saßen seine Frauen. Die jüngste ähnelte sprechend meinem Schatz von vor drei — vor vier Jahren. Na ja, nur ihre Augen! Nun müßt ihr bloß hören, was Klaas tat! Er machte erst eine feine Verbeugung vor dem Radscha; dann legte er den Knoten in seine Ohren und ließ seine Augen rollen. Dabei sehe ich, wie er den Taschenspiegel von des Radschas Südwester zieht. Aber der Radscha selber merkte nichts. Der schrie was auf Pulupuluisch oder so, und da kam ein Kerl mit so einem Messer an, sicher ein Zauberer. Und dann band er mich an einen Pfahl. Aber gleichzeitig fiel Klaas auf die Knie, küßte die Füße von dem Menschenfresserkönig, dann tönte es wie aus der Erde herauf: >Pfeffer und Muskatnuß !< Klaas war beim Bauchreden. Das hättet ihr sehen sollen! Die Kerle schielten einander an, als ob sie einen Sparren zuviel hätten. Klaas stand auf, drückte auf seinen Bauch und spuckte dem Radscha, klatsch, seinen Taschenspiegel ins Gesicht. Dann machte er ein Geräusch wie von rollendem Donner, zog eine Zickzacklinie durch die Luft — das war der Blitz — und drückte seinen Finger auf die Mopsnase von dem Radscha. >So<, sagte Klaas, >nun wirst du's wohl kapiert haben.< Na, ob sie's begriffen hatten! Der Zauberer schnitt die Taue entzwei, mit denen ich vertäut war, und der Radscha wollte sich aus dem Staub machen. Aber Klaas packte ihn bei seinem Südwester, nahm mit der anderen Hand den Zauberer beim Schlafittchen und stieß sie vor sich her ins Boot, in das... das ...« »Kanu!« wurde gerufen. »Natürlich, ins Kanu! Das ganze Dorf gaffte uns an. Der Zauberer wies auf Klaas und schrie was auf Pulupuluisch, und da sprangen sie alle zur Seite. Der Radscha stieg ins Kanu, der Zauberer auch, und ich und Klaas, wir setzten uns fein hinten hinein. >So, ihr Herren<, sagte Klaas, >legt euch nur ins Zeug!< Na, der König und der Zauberer paddelten, daß wir halbstündlich den Schweiß ausschöpfen mußten. Als wir an Ort und Stelle waren, streckte Klaas dem Radscha seine Füße hin und ließ sie ihn küssen. >So gehört es sich<, sagte er. >Und nun könnt ihr euch wieder packen. Auf Wiedersehen!< Dabei dreht er sich um und sagt: >Harm<, sagt er, >weißt du, was wir noch vergessen haben?<« »Den Honig«, rief Padde aus. »Richtig«, sagte Harmen. »Wir sind umgekehrt und mit der ganzen Mütze voll Honig zurückgekommen.« »Die Wilden hatten euch doch die Kleider abgenommen!« bemerkte Rolf. »So genau muß man's nicht nehmen«, sagte Harmen beleidigt. »Sonst könnte man nie was erzählen.« »Ja, und du hast dich ruhig zu verhalten, wenn Kniphuizen erzählt!« »Kinder, ich habe noch was Besseres!« rief ein ganz langer Janmaat mit flachsblondem Haar, hellblauen Augen, großen, abstehenden Ohren und mit Händen — ach herrje! Hajo konnte sie nicht ansehen, ohne an die Handschuhe von Sytje zu denken. Sie boten ausgiebig Gelegenheit zur Tätowierung, und das hatte dem Besitzer auch eingeleuchtet; ein Anker prangte neben dem andern, auf den Handgelenken waren Herzen mit einem Pfeil zusammengeschmiedet und weiter
oben segelten Dreimaster auf wildbewegten Wellen. Hajo hatte große Hochachtung davor. Das
war doch ein richtiger Seemann! Er wollte gut seine Ohren aufsperren.
»Es ist zwei Reisen her, ich war auf dem >Goldenen Löwen<«, begann der Erzähler, »und wir
waren bei einem Fluß gelandet, der so voll mit Krokodilen saß, daß man das eine neben dem
andern liegen sehen konnte. Na, ich war gerade wie hier der einzige Friese an Bord, und die
Matrosen zerbrachen sich darüber öfters die Zunge. >Werden in deinem Rindviehland die
Kinder immer so an den Ohren gezogen?< fragten sie dann wohl oder: >Was habt ihr Friesen für
kleine Händchen !< und mehr solche Albernheiten. >Gut<, sagte ich da einmal, als es mir zum
Hals heraushing, >wenn ihr Holländer solche Hauptkerle seid, dann setzt mal ohne Boot über
den Fluß!< >Wenn du es vormachst< sagten die Maats.
>Ich bin nicht bange<, erwiderte ich. >Ich setze auf Friesisch über.< Na, ich nahm einen
tüchtigen Anlauf und ...«
»Und?«
»Ihr wißt, springen kann ich. — Na, ich bin eben von einem Krokodil aufs andere gesprungen.
Und bevor die Tierchen wußten, was los war, stand ich am ändern Ufer.«
»Das ist stark!« erklärten die Maats.
»Das ist gelogen«, stellte Padde rundweg fest.
»Spritze Nummer elf gibt auch Wasser«, sagte Harmen. »Hört zu, Kinder, ich hab' noch ganz
was anderes erlebt, und wenn ich euch das erzähle, solltet ihr eure Mützen lieber festsorren, denn
euch werden die Haare zu Berge stehen! Wir waren einmal zu fünfen im Urwald, und während
wir so unter einem Baum lagen und uns ausruhten, sagte einer meiner Freunde: >Harm<, sagte
er, >spiel was!<
Gut, ich holte meine Geige hervor und spielte.
>Noch ein Stück!< sagte mein Freund.
Schön, ich strich schon wieder drauflos. Aber was sehe ich da? Stücker fünf Königstiger, eine
Handvoll Löwen und an die zwanzig Riesenschlangen saßen im Kreise und gafften mich an. Die
Musik hatte sie herbeigelockt. Meine Freunde lagen halb im Dusel und merkten nichts.
>Weiterspielen<, dachte ich. >Weiterspielen, das ist das einzige!< Und ich spielte und spielte...
>Nimmt das Stück überhaupt kein Ende?< fragten meine Freunde. >Stört es euch vielleicht?<
fragte ich gereizt.
»Nicht im geringsten, sagten sie, und drehten sich faul auf die andere Seite. Wie ich so vier
Stunden lang gespielt hatte, fing ich an, müde zu werden, und ...
Ja, wenn der Mensch müde ist! Da kam dann auch mal ein falscher Ton dazwischen — nicht
wahr? Aber ich konnte merken, daß Tiere was von Musik verstehen, denn sie schnitten
Gesichter, als ob sie einen hohlen Zahn hätten. Da schoß mir ein Lichtstrahl durch meinen Grips.
Das war ein Ausweg! Wißt ihr, was ich tat? Ich fing an falsch zu spielen, falsch!
Und richtig, mit eingeklemmtem Schwanz liefen die Ungetüme davon. Ich war naß vom
Schwitzen, und meine Arme waren wie Blei. Aber — wir waren gerettet!«
»Und deine Freunde, sagten die nichts, als du so falsch spieltest?« fragte Hajo, der nach der
wunderbaren Rettung einen tiefen Seufzer ausgestoßen hatte.
»Och, die hatten nicht so drauf geachtet!« erwiderte Harmen.
»Nun habe ich noch eine Geschichte«, rief Rolf. »Es war einmal ein Schiff voll Janmaats. Da
kam ein großer Walfisch, der sperrte sein Maul auf und verschluckte .. .«
»Ein Walfisch kann kein Schiff verschlucken.« »Dieser doch. Aber er spie es wieder aus.« »Weil
es ihm zu hart war?«
»Nein, weil ihm übel wurde von all den Lügen, die in seine Kehle hereinspülten.«
»Sapperlot!« stammelte Nase.
Und die andern schlugen mit der Faust auf den Tisch. »Das sollst du büßen, Dreikäsehoch!«
Aber sie meinten es nicht so schlimm. Heimlich freuten sie sich über Rolfs Freimut; Hasenfüße
waren nicht beliebt.
Draußen ertönten vier Glasen. Zehn Uhr. Die Ohmes standen auf, krochen in ihre Kojen. Das Öl
in der Lampe schien ausgebrannt, die Flamme wurde spärlich, der Qualm schlug dick gegen die
Decke.
Hajo suchte den langen Friesen auf. »Heißt du vielleicht Jopkins?« fragte er nach einigem
Zögern. »Hilke Jopkins?« »Ja, der bin ich.«
»Dann muß ich dir etwas geben von ...«
»Von ...?« Hilke sperrte die Augen auf und packte Hajo beim Arm. »Ja«, flüsterte Hajo, »von
Sytje.« »Zeig her!« sagte Hilke, tief Atem holend.
»Gehst du eben mit hinaus?« fragte Hajo. »Da sehen die andern es nicht.« Schweigend stand der
Matrose auf. Und Hilke Jopkins, der als Ohme tausend Meilen über dem neugebackenen
Schiffsjungen stand, folgte Hajo willig das Treppchen zum Deck hinauf. Ehrfürchtig befühlte er
die Handschuhe, die Hajo ihm dort gab. »Verdoria!« murmelte er, »Verdoria!«
»Sie sagte, daß du ihr mal schreiben solltest und daß du vorsichtig sein solltest, und sie wollte
noch etwas sagen, aber da mußte sie heulen.« »Verdoria!« Hilke schüttelte den Kopf. »Die
Handschuhe sitzen mir wie angegossen. Sieh bloß!«
»Ich habe einen Schlips von ihr gekriegt«, sagte Hajo. »Zeig mal!«
Hajo überreichte ihm Sytjes farbenfreudiges Geschenk. »Verdoria!« pries Hilke. »Nur für
sonntags«, sagte Hajo.
»Das kann ich mir denken. — Du, Hajo . ..? Was willst du für den Schlips haben?«
Hajo fühlte ein Zittern in Hilkes Stimme. »Der Schlips ist mir nicht feil«, sagte Hajo.
»Das begreife ich. Für einen andern nicht, aber für mich doch wohl?«
»Da«, sagte Hajo, »da hast du ihn für nix.«
»Verdoria!« war alles, was Hilke antwortete. Er liebkoste den Schlips zwischen den Fingern und
griff nach Hajos Hand. »Junge, wenn du mich mal brauchen solltest. ..«
»Du, Hilke?« fragte Hajo. »Würdest du — würdest du vielleicht. ..?« »Wahrhaftig, schieß los!
Was hast du?«
»Hajo wies auf Hilkes Hände. »Könntest du mir nicht auch einen Anker oder ein Schiff oder was
dir am bequemsten ist...?«
Hilke streifte den Ärmel auf. »Such dir was aus! Einen Dreimaster? Oder so einen mit Kanonen
drauf? Ich kann alles, und du fühlst nichts. Hast du einen Schatz?«
»Nein«, bekannte Hajo verlegen. »Ist das nötig?«
»Keineswegs. Nur hätte ich dir dann ein Paar Herzen gebrannt, so wie auf meiner Hand.«
»Das ist auch sehr hübsch«, schwankte Hajo.
»Ja, aber dann mußt du eine Deern zu Hause haben«, sagte Hilke. »Es gibt Jungen, die dann
ihren Namen hineinsetzen: Geertruida oder Katherina oder so. Aber — hm, es geht nie wieder
heraus, weißt du? So wie ich es habe, ohne Namen, paßt es — paßt es immer, nicht wahr?«
Hajo begriff es nur zur Hälfte. »Du, Hilke«, fragte er, »wann kannst du es tun?«
»In ein paar Tagen«, versprach Hilke, »wenn der stärkste Trubel ein bißchen vorbei ist.«
»Fein!« sagte Hajo. »Du, weißt du, daß ich auch noch friesisches Blut in mir habe?«
Hilke schlug die Hände zusammen. »Ein Freise? Du?« »Mutter stammt aus Friesland.«
»Dacht' ich es doch! Ein Kerl wie du! Ich werde dich auch die Knoten lehren, den Bauern- und
den türkischen Knoten, den Fischer-, Trompeten-, Maul- und Ankerstich, den Altweiberknoten.
Noch nie gehört?«
Hajo schlug vor Ehrfurcht beinahe zu Boden und schüttelte verneinend den Kopf.
»Noch nie von einem Altweiberknoten gehört? Warte mal!« Und Hilke holte Sytjes Schlips aus
der Hosentasche, faßte die beiden Zipfel... »Der ist zu schade«, meinte Hajo. »Zeig es mir lieber
morgen!« »Du hast recht«, gestand Hilke. »Ja, das kommt, weil du ein Friese bist.« Sorgfältig
strich er den Schlips wieder glatt und liebkoste ihn mit den Augen, »Brave Deern!« murmelte
Hilke mit heiserer Stimme. Dann sagte er hastig: »Na, adjüs! Es ist spät.«
»Gute Nacht!« war Hajos Antwort. Und während der Schiffsjunge der »Nieuw-Hoorn« noch
stehen blieb in glücklichem Nachsinnen über die nächste Zukunft, sputete sich der lange Friese
mit seinem Schatz fort. Da kam Rolf an. »Wollen wir schlafen gehen, Hajo?«»Der — der über
die Krokodile gesprungen ist, will einen Anker auf meinen Arm
stechen«, flüsterte Hajo seinem Gefährten aufgeregt zu.
»So?« sagte Rolf. »Laß es ihn dann ein bißchen hoch tun! Auf deinen Oberarm
oder so.«
»Aber dann ist es nicht zu sehen.«
»Grade deswegen.«
Hajo sah seinen Freund verwundert an. »Findest du den Anker nicht schön? Soll
ich lieber ein Schiff nehmen? Hilke kann alles. Sieh dir mal seine Hände an!«
Rolf lächelte. »Ich habe sie gesehen. Aber weißt du, daß das Zeug nie wieder
abgeht?«
»Ist das denn schlimm?«
»Das kann schon einmal unangenehm werden. Du weißt doch noch nicht, was aus
dir wird.
»Aus mir?«
»Ja, aus dir.«
Hajo brummte vor sich hin. »Na, gut!« seufzte er dann unwillig.
»Sehr vernünftig«, lobte Rolf. »Kommst du mit?«
Hajo fügte sich. Und er rief Padde, der noch am Tisch saß, zu: »Padde, steh auf!
Wir gehen zur Koje.«
Ha, das hörte sich doch nach was an: Koje anstatt Bett! Aber Padde hörte nicht;
mit dem Kopf in den Händen war er sitzend in Schlaf gesunken.
Silvester Ob die Jungen arbeiten mußten? Nicht so knapp! Schmieren, scheuern, wischen war die Losung. Und wenn der Bootsmann ihnen das eine oder andere Mal einen Augenblick zum Verschnaufen ließ, dann wußten die Ohmes »eine gute Arbeit für einen Schiffsjungen«. Padde machte natürlich eine Ausnahme; der führte ein Leben wie ein ausgewachsener Bottler. Er schlief ein Loch in den Morgen, aß mit Hingebung, spülte wohl auch mal eine Kruke aus und plauderte stundenlang mit dem braven Bottler. Es war von Anfang an so eingeführt, daß der schielige Bottler die Arbeit verrichtete und Padde, auf einer leeren Tonne sitzend, wie ein König auf seinem Thron, seine kurzen Beinchen baumeln ließ. »Soll ich vielleicht helfen, Schieliger?« fragte Padde manchmal, wenn der dicke Bottler heftig japste vom vielen Bücken. »Bleib du nur sitzen, mein Junge!« war die Antwort. »Ich bin gleich fertig.« Aber Hajo wurde alles aufgehalst. Wo er auch sein freundliches Gesicht zeigte, überall hatte man eine Arbeit für ihn. Wenn er dem Bader in die Arme lief, fragte der: »Sag mal, Freundchen, bist du nicht Drogistenjunge gewesen?« »Ja, Vater Langjacke.« »Ach, hilf mir dann, bitte, beim Einstampfen von Kräutern! Willst du?« Und Hajo stampfte. Aber draußen hörte er den Schwarzen Gys schon toben: »Wo steckt denn der verflixte Schmiedjunge? Er muß Krampen für mich schlagen!« Oder Steven Düssel, der Bäcker, ließ ihn Teig kneten. Oder Hajo mußte Bretter sägen für Diede Dudes, den Zimmermann. Oder... — Sein Lohn bestand meist in den Worten: »Du darfst mir öfters helfen«, oder in einer Ohrfeige, wenn er etwas verkehrt gemacht hatte. Wie oft wurde er beim Kragen gepackt und von einem Matrosen ins Want hinaufgeschickt, um etwas zu »klaren«! Und wenn er dann bei der schwierigen Arbeit auf der obersten Fockrahe balancierte mit neun zu zehn Möglichkeiten, herunterzufallen, dann rief der Ohme von unten: »Ja, brich dir nur 's Genick! Morgen ist doch Sonntag.« Aber was viel wieder gutmachte? Wenn Hajo mit ein paar Eimern eiskalten Wasser in den verklammten Fingern und einem Schrubber unter dem Arm mit echtem Seemannsgang übers Deck lief oder scheuerte und schrubbte, daß alles weiß vom Schaum war, konnte es vorkommen, daß auf einmal der Schiffer hinter ihm stand und fragte: »Gefällt es dir hier, Peter?« Dann wurde es Hajo, ungeachtet der Dezemberkälte, warm unter seinem durchweichten Wams; er riß seine Mütze herunter und sagte: »Ausgezeichnet, Schiffer!« Und der große Mann nickte beifällig. Rolf, den ließen die Ohmes mehr in Ruhe. Er war immer so besonnen, daß er auch den Älteren Achtung abzwang. Sie sagten ihm wohl hin und wieder: »Tu dies oder das!«, aber ihn, wie Hajo, ungefragt beim Kragen nehmen, dazu kamen sie doch nicht. Bolle, der Smutje, gab Hajo in der Mittagsstunde malaiischen Unterricht. Rolf saß auch dabei und schrieb alles auf; denn Rolf konnte schreiben, eine Kunst, die unter den Matrosen wenig getrieben wurde. »Sieh mal«, sagte Bolle, während er mit zugekniffenen Augen die dampfenden Kartoffeln umschüttelte, »sieh mal, besie heißt Eisen, und tukang heißt — heißt Mann. Na, was ist nun Schmied?« »Besie tukang«, meinte Hajo, »Eisenmann.«
»Nun bist du ganz dicht dabei«, sagte Bolle. »Schmied ist: tukang besie.« Und der Koch freute sich, daß Hajo hereingefallen war. »Weiter! Orang heißt Mensch, und orang-orang heißt Menschen. Du brauchst nichts weiter zu tun, als das Wort zweimal sagen. Furchtbar einfach! Puhun heißt Baum. Was ist nun ein Wald?« »Utan«, sagte Rolf. »Hmmm? Verteufelt, ja, das ist wahr! Ja, das kommt: du schreibst alles auf, und ich ... — Meine Bohnen!« rief er und eilte, in der Hast einen Küchenjungen umrennend, auf den großen Kessel zu, der drüben auf dem Feuer stand. »Morgen wieder ein Stündchen!« rief er seinen Schülern zu. »Seht nur erst, daß ihr das alles behaltet!« Bolle hatte guten Grund, nicht allzu freigebig zu sein mit seiner Weisheit; denn wie alle Weisheit hatte auch die seine ihre Grenzen. Hajo beschloß bereits am ersten Abend an Bord, sich aufs Geigenspiel zu legen. Er ging Harmen deswegen an, das musikalische Wunder der »Nieuw-Hoorn«. Dieser war durch das Ansuchen geschmeichelt. »Ich werde es dir beibringen«, sagte Harmen, »aber du mußt nicht denken, daß es mit vollen Segeln geht; du kannst froh sein, wenn du es über einen Monat ordentlich kannst.« »Ich werde mir Mühe geben«, versprach Hajo. »Das hilft natürlich um einige Knoten«, gab Harmen zu. »Du, Harmen«, sagte Hajo, »muß hier keine Saite sitzen?« »Eigentlich ja«, sagte Harmen. »Da haben drei drangesessen. Aber die eine quietschte so; da habe ich sie einfach abgeschnitten.« »Und was machst du mit den schwarzen Hölzchen?« »Die sind dazu da, um die Sache ein bißchen anzutaljen. Aber ich drehe lieber nicht zuviel dran, sonst springen sie mir noch, die Saiten. Ach, kein Mensch weiß natürlich so genau, wie steif man sie anholen muß! Das tut jeder nach Gutdünken und gerade, wie es kommt, nicht wahr?« Mit schwungvoller Gebärde legte Harmen die Geige an die Brust und kratzte drauflos. »Darf ich nun auch mal?« fragte Hajo mit vor Spannung unsicherer Stimme. »Wenn du bloß vorsichtig damit umgehst«, sagte Harmen. Na, das tat Hajo; er traute sich den wunderlichen Kasten kaum anzufassen. Ängstlich wagte er einen Strich. »Du lernst es bestimmt«, versicherte Harmen. »Meinst du?« »Natürlich! Wenn du ab und zu einen Ton nicht weißt, dann überschlägst du ihn einfach, nicht wahr? Das tue ich auch, das tut jeder, und kein Mensch merkt was davon. Gib her, ich werde dir ein Begräbnis vorspielen!« »Prachtvoll!« seufzte Hajo, als es aus war. Das tat Harmens Künstlerherzen wohl. »Na, ich leihe sie dir!« sagte er freigebig. »Aber laß es die andern nicht hören, solange du es noch nicht kannst! Denn sie würden meine Fiedel auf deinem Kopf kaputtschlagen.« Hajo wählte für seine Studien ein verlassenes Fleckchen. Padde war sein bewundernder Zuhörer, und zusammen saßen sie den ganzen Abend bei einer Lafette, Padde schläfrig vor sich hinstarrend. »Wunderbar!« sagte Padde, wenn Hajo eine unsichere Melodie mit einem gefühlvoller Triller beendet hatte. »Du, Hajo?« »Mm?« »Meine Mutter müßte uns hier sitzen sehen.« »Ja«, seufzte Hajo, während er die Geige sinken ließ, und seine Augen wanderten. Auch Rolf wandte seine Abende nützlich an. Er hatte sich mit Vater Langjacke angefreundet und bekam von diesem Erlaubnis, in einigen Büchern zu blättern, die der Bader in seiner Koje stehen hatte. Es war ruhig in Vater Langjackes Kämmerchen. Rolf las mit zusammengepreßten Lippen und gefurchter Stirn. Binnen vierundzwanzig Stunden sprach man denn auch von ihm als von dem »Bücherwurm«. Indessen, auch dadurch gewann Rolf an Achtung.
Gerrit hatte ein gutes Leben. Die Matrosen steckten ihm alles mögliche zu, sogar Tabak, und gaben sich viel mehr mit ihm ab, als er verdiente; denn Gerrit belohnte alle mit hochmütiger Gleichgültigkeit und ließ sich bloß von Hajo streicheln. Gerrit war nicht das einzige lebende Tier an Bord. Lysken Cocs, ein blasser, schmalwangiger Küchenjunge, mit Augen, in denen so auf den ersten Blick zehn Pfund Unschuld ausgewogen lagen, besaß ein Meerschweinchen, ein weißes Tierchen mit braunen Flecken namens Job. Das konnte »eine Reise um die Welt« machen, die darin bestand, daß es seinem Herrn in den Hals kroch und ihm zum Hosenbein wieder herauspurzelte. Um ihm die Reise ein wenig zu erleichtern, zog Lysken seinen schon an und für sich nicht sehr umfangreichen Bauch so weit wie möglich ein. Job und Gerrit mußten miteinander bekannt gemacht werden, das war selbstverständlich, und es geschah in der Kombüse. »Kra!« schrie Gerrit, als er Job gewahrte. Das Meerschweinchen sagte nichts, stellte sich auf seine Hinterpfötchen und schnüffelte und glupschte und trippelte hastig in der Runde, ohne eigentlich was anzufangen. Gerrit legte seinen Kopf schräg, spähte aus seinen klugen Augen, wetzte seinen Schnabel auf dem Bretterboden, zupfte kräftig an seinen Federn herum und schrie, überzeugt von der eigenen Vortrefflichkeit: »Kra!« »Kann der weiter nichts?« fragte Lysken. »Joppie, komm bei 's Herrchen!« Job kam eilig herangetrippelt, kletterte an Lyskens ausgestrecktem Arm in die Höhe, verschwand, hast du nicht gesehen, im Kragen seines Herrn. Lysken sagte: »Killekillekie!«, zog seinen Bauch ein, und Job purzelte auf den Boden. Gerrit wippte hastig zur Seite, äußerte seine Verwunderung in einem fragend ausgestoßenen Kra. Auch Job schien etwas verbiestert und trippelte in engem Kreise um Gerrit herum. Dieser reckte sich beinahe den Hals aus und verlor den sonderbaren Wanderer keine Sekunde aus den Augen. »Wir kriegen Sturm«, versicherte Lysken. »Wenn Joppie sich wie ein Kreisel dreht, gibt es Sturm. Wenn er sich auf den Rücken legt, kommt Windstille.« »Na, ich hoffe, daß es Sturm gibt!« sagte Hajo. Lysken sah ihn mit großen Augen an. »Du hast gewiß noch nie einen Sturm miterlebt.« »Du?« »Na und ob! Ich bin mit meinem Vater bei der Walfischfahrt gewesen.« »Und wo ist dein Vater jetzt?« »Tot, am Skorbut.« Lyskens Gesicht nahm einen altklugen Ausdruck an. »Sie sind zu Hause noch zu fünfen. Und meine Mutter ist kränklich. Ich hab' einen Bruder, aber der ist noch zu klein. Und es sind teure Zeiten jetzt.« Lysken begann vor sich hin zu pfeifen. »Was ist daran zu ändern? Hier, der« — das war Job — »der hat meinen Vater noch gekannt. Nicht wahr, Joppie?« »Mein Vater ist ertrunken«, sagte Hajo. Lysken schüttelte nachdenklich den Kopf. »Wieviel sind bei dir zu Hause?« »Meine Mutter, meine Schwestern Antje und Maartje und mein Brüderchen Hein.« »Wie alt?« »Antje ist zwölf, Maartje ...« »Dein Bruder, meine ich.« »Hein ist fünf.« Lysken pfiff bedeutsam. »Zu jung, was?« »Zu jung?« »Zum Verdienen. Das ist traurig für deine Mutter.« Dann wechselte plötzlich der Ausdruck seiner Züge. »Weißt du, was auch nicht angenehm ist? Wenn man einen Pickel auf dem Popo hat und reiten muß.« Und grinsend hob Lysken seinen vierfüßigen Gefährten auf. »Komm du nur bei 's Herrchen, Joppie!« — Am Silvestermorgen segelte die »Nieuw-Hoorn« an Pleimuiden vorüber. Padde sah es, von wehmutsvollen Gedanken erfüllt, hinter dem Gesichtskreis hinabsinken. Er war so in Sinnen
verloren, daß er nicht merkte, wie ein paar Matrosen sich näherten, auf Padde wiesen und
zueinander sagten: »Wollen wir den nehmen? Lysken ist doch zu mager.« Und patsch, da hatten
sie Padde beim Kragen. »Laßt mich los!« schrie der Junge. »Ich bin Bottlersmaat.«
»Deswegen werden wir dich nicht abmurksen«, sagten die Janmaats. »Komm nur hübsch mit!«
Padde wurde in den Mannschaftsraum geschleppt, wo die Ohmes ihn in ein buntscheckiges, mit
Papierblumen beklebtes Kleid steckten und ihm eine Perücke von gelbem Flachs aufstülpten, um
die ein Vergißmeinnichtkranz gewunden war. »Was soll das?« jammerte Padde.
»Du bist das neue Jahr«, sagten die Ohmes. »Und der Bootsmann soll das alte Jahr sein. Sei doch
froh: wir kriegen Speckpfannkuchen und warme Ölbollen!« Warme Bollen! Die Sache begann
Padde einzuleuchten.
»Lauf mal ein paar Schritte!« befahlen die Ohmes. »Und kleine Schritte, denn du bist ein
Mädchen. Wir werden dich heut abend schon hoben, wenn du erscheinen mußt. Und dann nur
immer nicken und lachen! — Och ja, mit Mehl mußt du noch eingestäubt werden! Und dann
streust du immerzu Blümchen. In diesem Korb findest du haufenweise; den mußt du dir über den
Arm hängen. So, und dann sagst du... Muß er was sagen? — Warte, da läuft Harmen gerade! —
Harmen! Einen Vers fürs neue Jahr!«
»Einen Augenblick!« sagte Harmen. Und nach einigem Nachdenken begann er, während die
Maats voller Bewunderung die Köpfe schüttelten:
»Das neue Jahr ist da
Und wünschet euch fürwahr
Ein glückliches Jahr.
Das Schiff des Willem Ysbrantsz Bontekoe 1
Fährt... fährt...«
»Fährt auf Ostindien zu«, fiel einer der Matrosen ein. »Das reimt sich.« »Reimen tut es sich
wohl«, sagte Harmen, »aber das ist nichts Neues. Wir wissen alle, daß die >Nieuw-Hoorn< nach
Ostindien fährt. Man muß in einem Vers etwas sagen, was jeder weiß, und worüber sie doch
staunen. — Halt, ich hab's!«
Und Harmen dichtete:
»Das Schiff von Willem Ysbrantsz Bontekoe
Fährt ohne Schaden auf Ostindien zu.
Beladen mit Reichtum, Pfeffer und Glück
Kehren wir wieder nach Texel zurück.«
»So ist es hübsch«, erklärten die Ohmes. »Vorwärts, sag es nach, Grasaffe!«
»Ich — ich habe kein Wort behalten«, gestand Padde.
»Sperr doch die Ohren auf, Dummkopf! Sag es ihm nochmal vor, Harmen!«
»Wenn ich es man selber noch weiß!« zweifelte der Neujahrsdichter.
»Na, dann machst du eben einen andern Vers!« sagten die Ohmes. »Laß es vom
Bücherwurm aufschreiben! Dann steht es auf Papier. — Wehe dir, wenn du's
heute abend nicht kannst! Und lachen, verstanden?«
»Jawohl.« —
( 1 Bontekoe wird im Holländischen Bonteku ausgesprochen, das erklärt den folgenden Reim.)
Das ganze Schiff war in Aufruhr. Papierlaternen und Blumengewinde prangten in der Kajüte und im Mannschaftsraum. Ein Fleischtopf wurde mit Sorgfalt von innen und außen vergoldet; er sollte als Kutsche dienen, wenn das neue Jahr nachher von vier Janmaats herangeschleppt würde. Es herrschten verschiedene Ansichten darüber, ob fünf oder zehn warme Ölbollen auf den Mann ausgeteilt würden. Der Koch schwieg darüber wie das Grab, und die Küchenjungen leckten sich den Pfannkuchenteig von den Fingern. Padde schwur hoch und heilig, daß er einen großen Napfkuchen gesehen habe, schwarz von Rosinen. Und Harmen flüsterte, daß nach dem Essen Schwarzkirschen auf Branntwein und Feinbrot herumgereicht würden. Herz, was willst du noch mehr? Der Bootsmann vergaß heute ganz und gar, es um die Ohren der Schiffsjungen donnern und blitzen zu lassen, so nahmen die Vorbereitungen ihn in Anspruch. Böse Zungen behaupteten, er sei etwas aus der Fassung, weil er des Abends eine Rede halten müsse. Das Essen übertraf alle Erwartungen. Erst Bohnen mit Speck und einen Krug schäumenden Bieres, dann Reisbrei mit einer Lage Basterzucker darüber, und zum Schluß wurde unter großem Hallo von Padde der Napfkuchen hereingebracht, mit Branntwein übergössen und vom Bootsmann angezündet; die Flammen schlugen beinahe gegen die Decke. Hajo und Padde hatten so etwas noch nie gesehen. Letzterer stand Todesängste aus, daß der Kuchen ganz und gar verbrennen möchte, und ein paar Matrosen murrten, daß es Sünde und Schande sei, den Branntwein auf diese Weise zu vertilgen. Aber der Kuchen schmeckte herrlich, und als der Schiffer mit dem Kaufmann Rol einen Augenblick in den Mannschaftsraum hineinsah, ob die Leute zufrieden wären, nahm das Hurragerufe kein Ende. Der Abend brachte neue Überraschungen. Harmen van Kniphuizen, schwarz wie ein Mohr, kam herein, gefolgt von zwei Schwarzen mit großen Säcken, aus denen sie Ölbollen unter die Menge streuten. Es waren einige mit Salz gefüllte darunter; das gab viel Spucken, Schimpfen und Püffe. Die Mohren räumten nicht ohne blaue Flecken das Feld. Dann wurde vor der Tür des Mannschaftsraumes eine Kanone aufgestellt, geladen, und — mit einem Knall ging der Schuß los. Alle hatten sich hinter Bänke und Kojen verkrochen, doch beeilten sie sich nun — der eine oder andere sogar blaß vor Schreck — nach den Zuckerbohnen zu krabbeln, mit denen das Kanonenrohr bis zur Mündung gefüllt gewesen war. Padde wurde heute abend ganz und gar nicht schläfrig. Als es elf Uhr war, eilte er nach dem Ort, wo er sich verkleiden sollte. Berentsz stand als altes Jahr verkleidet da und übte mit Harmen, der noch deutliche Spuren seiner Mohrenrolle aufwies, seine Rede ein. »Endlich!« schalt der Bootsmann, dem der Schweiß von den Schläfen triefte. »Hol sofort die Burschen her, die meine Schleppe tragen sollen! — Also: Die holländische Flagge soll — soll wehen von ...« »Den Zinnen des neuerworbenen Reiches«, sagte Harmen vor. »Was sind das für Dinge: Zinnen?« »Weiß ich auch nicht«, gestand Harmen ein. »Aber in jedem anständigen Gedicht kommt es vor.« »Hilfst du mir, Harmen, wenn ich nicht weiter kann?« flehte Donner und Blitz, demütig wie ein gezähmter Löwe. »Ich stehe ja keine zehn Schritte von dir entfernt, Bootsmann.« Ja, ja, das war eine schöne Aufregung, an diesem letzten Abend im alten Jahr! Um Viertel vor zwölf Uhr wurden die Maats an Deck befohlen und zu beiden Seiten aufgestellt, so daß ein freier Gang in der Mitte blieb. Der
Gang führte zu einer gegen den hinteren Deckaufbau gezimmerten Erhöhung, auf der vier mit Gewinden umkränzte Stühle standen. Es herrschte eine stramme Kälte; die Maats schlugen den Kragen in die Höhe, steckten die Hände in die Taschen und fauchten und trampelten, um warm zu bleiben. Es hingen brennende Papierlaternen in den Rahen, und das buntfarbige Licht tanzte über die gebräunten Köpfe und beleuchtete die Segel von unten, die rot, blau und orange gefärbt vom dunklen Himmel abstachen. Es war wunderbar schön. Da kamen der Schiffer, der Kaufmann und der Steuermann Jan Piet van Hoorn aus der Kajüte. »Ruhe!« gebot Vater Langjacke. Auf einmal war nichts zu hören als das Plätschern der Wellen und das Seufzen des Windes. Kerzengerade standen die Männer; zweihundert sehnige Fäuste rissen die Mützen herunter. Das gefiel Bontekoe. Während die beiden ändern Herren mit steifem Ernst Platz nahmen, erschien auf dem Antlitz des Schiffers ein breites, jungenhaftes Lächeln. Er nickte kurz, als ob er sagen wolle: »Gut so!« Das ging den Matrosen zu Herzen. Das war der Grund, warum sie ihren Schiffer so verflixt gut leiden mochten. Schiffer Bontekoe, ein feiner Schiffer! Es wurde unter den Maats geflüstert, gelacht und »Bst, da kommt er!« gerufen. Und siehe da, hinter der Kambüse erschien ein ehrfurchtgebietender Greis. Ein langer weißer Mantel mit goldenen Sternen hing von seinen Schultern und wurde von vier Schleppträgern gehalten. Er schritt mit seinem Gefolge zwischen den fröhlichen Matrosen hindurch, machte eine tiefe Verbeugung vor den Herren, die sich von ihren Sitzen erhoben und ihrerseits verbeugten, lehnte schwer auf seinem Stab und begann mit etwas unsicherer Stimme: »Schiffer — hm!« »Bst, Ruhe!« »Schiffer, ich bin — hm! das alte Jahr, und ich bin hergekommen, um — hm! — um Abschied von dir zu nehmen, von dir und vom Kaufmann und vom Steuermann und von all den braven Junggesellen und Hausvätern, die — hm! — die dem Vaterland, den Frauen und Kindern daheim Lebewohl gesagt haben, um — hm! — um die Flagge der Ostindischen Compagnie wehen — wehen zu lassen von den .. .« »Von den Zinnen«, ergänzte der vordere Schleppenträger leise. »Von den Zinnen des neuerworbenen Reiches. Womit ich ausdrücken will, daß — daß ich von Herzen wünsche, daß du und wir allesamt eine pickfeine Reise haben sollen; daß die >Nieuw-Hoorn< mit — mit reicher Beute beladen in die Heimat zurückkehren soll, Schiffer, zu Frau und Kindern; und daß das neue Jahr dir, Schiffer, und uns allen und auch dem Kaufmann und dem Steuermann, die — die an deiner Seite sitzen, Glück bringen soll; und daß, um es gleich ohne Umschweife zu sagen, Schiffer, daß wir im neuen Jahr keinen alten Dreck wieder aufrühren wollen und nicht jammern über das, was in diesem Jahr verkehrt gemacht worden ist; daß wir was füreinander übrig haben müssen; daß wir nicht bange sein müssen, mit beiden Händen zuzugreifen, wenn Not am Mann ist; daß wir allen Streit und Zwist vergessen und vergeben müssen; daß wir handfeste Burschen sein müssen, aus einem Stück! Siehst du, Schiffer, das wünsche ich!« »So höre ich dich gerne, Väterchen«, sagte Bontekoe. Er trat auf den Greis zu und drückte ihm die Hand. »Darf ich dir im Namen der gesamten Bemannung danken?« »Das darfst du, Schiffer«, sagte das alte Jahr. »Wahr und wahrhaftig, das darfst du!« Und es begann zu schniefen. Der Schiffer geleitete den Alten auf die Erhöhung und bot ihm den Platz zu seiner Rechten an. Die vier Schleppenträger verschwanden im Laufschritt. »Vorwärts, in den Bottich!« befahl Harmen Padde, der hinter der Kambüse in vollem Ornat wartete. »Was? Heulst du vielleicht?«
»Harmen!« schluchzte Padde. »Ich habe alles gehört, was — was der Bootsmann gesagt hat.«
Und er begann mit seinem beblümten Ärmel sein Gesicht zu bearbeiten.
»Du siehst aus wie ein Viech«, rief Harmen entsetzt aus. »Lieber Himmel, bist du so 'n
Schwamm? Her mit deinem Gesicht!« Und Harmen schmierte wohl einen Finger dick Mehl
darauf. »Wenn wir stillhalten, steigst du aus und sagst meinen Vers auf. Vergiß das
Blumenstreuen nicht und denke dran: lachen!« Damit wurde Padde ziemlich unsanft in den
Bottich gestoßen. »Können wir ziehen?« fragten die ändern. »Warten, bis geschossen wird!«
befahl Harmen. Padde wurde blaß. »Wird geschossen?«
»Mit allen Kanonen, sowie es zwölf Uhr schlägt. Zu Ehren des neuen Jahres.« »Mir zu Ehren?«
Da schlug es schon in der Fock. Eins — zwei — drei — vier — fünf — sechs ... Padde hielt sich
die Ohren zu. Bumm! Das Schiff dröhnte. Bumm! Bumm! Bumm!
»Los!« schrie Harmen. Und zu Padde: »Vorwärts! Streuen und lachen!« Und zu vieren
schleppten sie den vergoldeten Fleischtopf mit Padde darin zwischen den Matrosen hindurch, die
das neue Jahr mit Hurrarufen begrüßten. Und Padde streute. Das Lachen gelang nur zur Hälfte.
Vor dem Thron, auf dem der Schiffer, das alte Jahr und die Herren saßen, hielt sein Siegeswagen
still. Padde kroch aus dem tiefen Bottich heraus. »Bst!« wurde gerufen. »Er muß einen Vers
aufsagen.«
Padde sah sich schüchtern um. Harmen gab ihm einen Puff. »Schiffer. . .« begann Padde, und
sein Mund fing an zu zucken. »Schiffer...« »Ich bin das neue Jahr«, flüsterte Harmen grimmig.
»Ich bin — ich habe — ich habe vorhin alles gehört, was der Bootsmann gesagt hat, Schiffer,
und ...«
Da rettete Harmen den hoffnungslosen Zustand. Er sprang neben Padde, ergriff seine Hand und
begann:
»Wir sind das neue Jahr,
Wir bringen Glück und Segen dar.
Die >Nieuw-Hoorn< fährt nach Ostindien hin,
Der Companie zu Nutzen und Gewinn,
Die treue Mannschaft ruft dir zu:
Hoch lebe ...«
Er wandte sich den Matrosen zu, schwenkte den bloßen Unterarm, der noch pechschwarz war
von seiner Mohrenrolle her, und aus aller Munde donnerte es: »Schiffer Bontekoe!«
Ein Schnäpschen wurde hereingebracht. Für die Herren und für das alte Jahr gab es Wein; die
Schiffsjungen durften Meerwasser trinken, soviel sie wollten.»Leute«, sagte Bontekoe, »ich
leere dies Glas auf euer aller Wohl. Ich weiß, daß ihr alle hier von demselben Vorsatz beseelt
seid wie ich: die >Nieuw-Hoorn< wohlbehalten nach Ostindien und wieder in die Heimat
zurückzubringen.« »Ja, hoch der Schiffer! Bontekoe soll leben! Es lebe die >Nieuw-
Hoorn
Und mächtig und tief, als stiege es auf aus dem Boden der See, tönte das schöne, alte
»Wilhelmus von Nassauen«. Die Augen der Männer leuchteten. Ein starkes Gefühl wallte aus
ihren Herzen empor.
»Dem Vaterland getreu bleib' ich bis in den Tod ...«
Und dann verschwand Bontekoe mit dem alten Jahr unter lautem Jauchzen in der Kajüte, und die
Ohmes eilten in den warmen Mannschaftsraum. Hier wurde noch lange nachgefeiert. Harmen
rückte mit seiner Fiedel an; die Matrosen sangen und schwatzten und schlugen mit der Faust auf den Tisch. »Es wird eine glückliche Reise!« versicherten sie einander. Es wird eine glückliche Reise, so dachten sie alle.
Sturm Am ersten Januar 1619 passierte die »Nieuw-Hoorn« die Südostecke von England. Die
Windstärke nahm zu, und das gehörig. Erst wußte der Wind selber nicht, wo er sich festsetzen
solle, blies mal von vorn, mal von hinten; man konnte kein Segel danach richten. Aber gegen
Mittag entschloß er sich: er ließ sich im Süden nieder und blieb da sitzen. Die »Nieuw-Hoorn«
begann zu stampfen wie ein Pferd, tauchte schnaubend den Kopf in die Wellen.
Padde wurde grün.
»Ist dir nicht gut?« fragte Harmen mitfühlend. »Ja, das erstemal hoher Seegang! Frag nur den
Bootsmann, wo der seekrankfreie Fleck ist!«
»Der seekrankfreie Fleck?«
»Weißt du das nicht? Jedes Schiff hat einen seekrankfreien Fleck. Wenn der Bootsmann nicht
weiß, wo der ist, dann lauf zum Schiffer! Der muß es wissen, nicht wahr?«
Padde beschloß auf die Suche zu gehen. Aber bevor er den Bootsmann damit belästigte, fragte er
erst auf gut Glück bei Nase deswegen an.
»Der seekrankfreie Fleck? Ja, sapperlot, da brauchst du dich bloß hier und da auf den Rücken zu
legen. Und dann achtest du auf deine Füße. Wenn die auf und nieder gehen, dann bist du an der
verkehrten Stelle; aber wenn sich das Schiff bewegt und deine Füße liegen still, dann hast du ihn
beim Wickel.«
Padde war dankbar für den neuerworbenen Rat, und überall, wo er, ohne daß er Gefahr lief,
ausgelacht zu werden, Versuche anstellen konnte, streckte er sich nieder.
»Was ist das? Bist du tot?« rief eine Stimme.
Padde kroch, so schnell es seine bleischweren Glieder gestatteten, auf die Füße und sah in die
freundlichen Augen Floorkes, dessen rundes Gesicht mit Sommersprossen besät war und unter
dessen Mütze harte, feuerrote Bartstoppeln hervorsprangen. »Ich suche was«, sagte Padde
ungeschickt.
»Und dazu legst du dich auf den Rücken?«
»Och«, war Paddes äußerst gleichgültige Erwiderung, »ich suche so zum Z—Zeitvertreib einmal
den seekrankfreien Fleck!«
Da sprühte etwas in Floorkes Auge. »Wenn du ihn nötig hast, dann komm ruhig zu mir! Ich
werde dir schon sagen, wo der seekrankfreie Fleck ist.«
»Sag es also!«
»Warum? Du bist doch jetzt noch nicht seekrank?«
Padde lachte herzlich. »St—t—tell dir vor! Aber ich möchte es doch w—wissen.«
»Na, wenn du darauf bestehst! Entere dann auf den großen Mast! In die oberste Rahe mußt du
hinein.«
»Das lügst du doch!«
»Lügen? Überlege dir doch mal! Wo kommt die Bewegung her? Vom Wasser und den Wellen,
nicht wahr? Na, wo spürst du sie infolgedessen am wenigsten? So weit wie möglich vom Wasser
entfernt. Und wo ist das? In der Spitze des Großmastes.«
Dagegen war nicht viel einzuwenden. Padde ging zum Großmast und setzte einen Fuß in die
Want. Aber als er fühlte, wie es schütterte und zitterte, und als er sah, wie der Wimpel da ganz
oben hin und her gepeischt wurde, erklärte er Floorke für einen gemeinen Lügner und sich selber
für jemand, der sich wahrhaftig nicht zum Narren halten lasse. Verdrießlich stieß er endlich auf
Hajo.
»Es wird wohl ein Sturm dabei herauskommen«, meinte dieser wichtig.
»Du, Hajo«, Padde schloß die Augen, »ob ich mal was aus dem Fläschchen von Grietje trinke?«
»Hast du Appetit darauf?« fragte Hajo im Zweifel.
»A—ppetit? Es ist doch keine Näscherei!«
»Tu, was du nicht lassen kannst! Es steckt ganz unten in meiner Kiste.«
»Fehlgeschossen!« sagte Padde. Und mit einem schwachen Versuch, triumphierend
dreinzuschauen, holte er das Fläschchen aus seiner Tasche. »Ich dachte: man kann doch nie
wissen! Brrrr, dieses Wackeln!« Und Padde hielt sich an einem Untersegel fest, die Knie
schlotterten ihm. »Machst du es auf, Hajo?«
Auch dieser fühlte etwas wie Übelkeit in sich aufsteigen, als er den ölähnlichen Inhalt des
Fläschchens sah. Mit abgewandtem Gesicht entkorkte er es. Padde schien wirklich wenig
»Appetit« zu haben. Er mußte all seinen Mut zusammennehmen und Nase und Augen zukneifen,
bevor er ein Schlückchen in den Mund goß.
»Fühlst du dich jetzt besser?« fragte Hajo.
»Viel b—b—besser«, versicherte Padde.
»Nimm noch was!« riet Hajo.
Padde kam es hoch. Da faßte Hajo einen kurzen Entschluß, schleuderte das Fläschchen über
Bord. »J—jammerschade!« klagte Padde.
Am vierten Januar sprang der Wind nach Südwesten um und wurde so heftig, daß die Marssegel
eingeholt werden mußten. In der Nacht war es sogar nötig, auch die Fock festzumachen. Das
Schiff lief nach Westen über, auf einem Segel.
Padde war an Deck nicht mehr zu finden. Der Schielige hatte ihn zu sich genommen und
verhätschelte ihn wie einen Säugling. Hajo war auch nicht von der Seekrankheit verschont
geblieben. Rolf schien noch nichts davon zu spüren. Er stützte Hajo oft, wenn sie gemeinsam in
die Want geschickt wurden, und lief dadurch selber hundertmal Gefahr, aus dem heftig
schlingernden Tauwerk zu fallen.
Gegen Abend des folgenden Tages brach der Sturm los. Job hatte richtig gesehen. Die Wellen
rammten mit Donnergetöse die knarrenden Schiffswände. Wolken kochenden Schaumes stoben
bis über die höchsten Rahen.
Mit hohlen, weitgeöffneten Augen lagen unsere Freunde in dieser Nacht und lauschten,
lauschten. Die Laterne im Schlafraum des Schiffsvolkes schwankte beängstigend hin und her
und warf lebende Schatten durch den Raum. Die »Nieuw-Hoorn« wurde hoch in die Luft
gehoben, zitterte in allen Fugen und taumelte wieder in die Tiefe. Hajo schloß die Augen,
drückte die Arme steif gegen die Wände seiner engen Krippe. Hu, wie schaukelte die Lampe!
Durch seine geschlossenen Augenlider sah er das Licht wie rasend hin und her fliegen. Wie,
wenn die »Nieuw-Hoorn« unterging? Hajo wischte sich den Schweiß von den Schläfen. Angst
und Aufregung machten ihn fiebrig.
Rolf sprang auf. »Ich geh' mir das da draußen einmal ansehen«, rief er. Er wurde von einer Koje
in die andere geworfen, klammerte sich überall fest, um nicht zu fallen.
»Grüße die See von mir!« schrie Harmen ihm nach. Irgendwo brachte das einen zum Lachen, das
mißtönig in das Tosen hineinklang. Rolf kam wieder zurück, durchweicht bis auf die Haut.
Todmüde fiel er nieder.
»Was ist denn für Wetter?« fragte Harmen, schreiend, um seinen Witz verständlich zu machen. Auf einmal — mit einem Schrei sprangen die Matrosen in die Höhe — ein Donnerschlag! Die Tür des Mannschaftsraumes wurde zersplittert; durch die weggeschlagene Türfüllung preßte sich das Wasser und spritzte knallend gegen die Vorderwand. Unmittelbar darauf, bevor man wußte, was los war, wurde die Tür ganz und gar aufgerissen: der Bootsmann stürmte mit einer schwankenden Laterne herein, bis an die Knie im Wasser watend. »Alle Hände an Deck!« »Hilfe, mehr Hilfe!« klang ein verschwommener Ruf von draußen. Da konnte man merken, daß die Mannschaft der »Nieuw-Hoorn« sich sehen lassen durfte; sie sprangen auf und stemmten sich fest auf ihre Beine. Mit einem Ruck zogen sie ihre Büx hoch, laschten die Gürtelriemen fest, eins, zwei, und rannten hinter der schaukelnden Laterne des Bootsmannes her hinaus. Komme, was da will! Hier stehen zweihundert ganze Kerle, nicht bange vor dem Teufel und seiner Großmutter. Da draußen ein Gewirr von Leibern in der schwarzen Nacht. Prusten und Schnauben, ein wild klapperndes Segel, schwingende Stengen. Knarren, Krachen, Schreie durch das Heulen des Sturmes hindurch: »Wir sinken! Die Bugpforten stehen offen!« Vom Achterdeck her nähern sich eilends schwarze Gestalten mit einem Licht, das plötzlich erlischt. Ein paar werden übers Deck gefegt und schlagen dumpf gegen die Verschanzung. Plötzlich: Schiffer Bontekoe! »Schiffer, der Kielraum läuft voll! Die Bugpforten sind eingeschlagen!« »Schockschwerebrett, nagle sie doch wieder zu, Berentsz!« »Schiffer!« »Mit zwanzig Mann in den Kielraum!« Weg war Berentsz, ein paar Dutzend Männer ihm auf den Fersen. »Schiffer, der Mannschaftsraum steht unter Wasser!« »So hol die Pützen!« Von allen Seiten wurden die Eimer herbeigeschleppt. Doch bevor die Matrosen sich ans Schöpfen machten, zertrümmerten sie mit Kuhfüßen die Schiffskisten, die im Mannschaftsraum hin und her tanzten und ihnen die Schienbeine zerschlugen. Dann wurde eine Doppelreihe gebildet; die Pützen gingen von Mann zu Mann. Ab und zu schlugen die Maats durch das Stampfen und Schaukeln mit Pütze und allem zu Boden. Wie die Katzen krochen sie wieder auf die Füße, und eine halbe Stunde später war der Mannschaftsraum trocken. Da kamen die Männer, die in den Kielraum geschickt worden waren, auch wieder herauf: die Bugpforten waren versichert. Sie hatten Doppeltüren darübergenagelt. Alle Segel waren eingezogen worden, aber nun wirbelte das Schiff so herum, daß alles in Fetzen zu zerreißen drohte. Zwanzig Männer setzten mit zusammengebissenen Zähnen das Segel wieder bei. Das mäßigte das Schaukeln ein wenig. Taumelig vor Ermattung fielen die Männer in ihren feuchten Kojen nieder. Der Sturm jagte einen eiskalten Regen vor sich her, der klatschend gegen das Deck schlug, die Grenze zwischen Meer und Luft verwischte. Das Schiff nahm westlichen Kurs. Im Osten dämmerte ein trüber Morgen durch den Regenschleier. Der Sturm wütete, tagein, tagaus. Mit rotgeschwollenen Nasen und Augen liefen die Matrosen herum. Ihre Kleider waren durchgeweicht; der Regen wechselte mit schwerem Hagel, der scharf die Haut peitschte. Drei Tage nach der Schreckensnacht strichen große Flüge Möwen über das Schiff, mit dem Sturm ringend. Zu ganzen Haufen wurden sie, zu Tode ermattet, gegen die Want geschmettert
und taumelten mit lahmgeschlagenen Flügeln auf das Deck. Man vermutete die Nähe von Land,
konnte aber durch Wogen, Regen und Wolken von Schaum keine zwanzig Ellen weit sehen.
Das Segel wurde umgeworfen; man fiel nach Osten ab. Der Sturm blieb in derselben Ecke sitzen,
zerrte wütend an Masten und Segeln. Und gleich einem Trupp hungriger Wölfe fielen die Wogen
über das Schiff her. Sie keuchten und zitterten vor Zerstörungswut, sie rollten übereinander weg
und machten einander die Beute streitig, sie hämmerten, klatschten, winselten und heulten.
Vier Tage später, am Nachmittag des zwölften Januar, errang der Sturm einen Sieg. Es war eine
Sekunde lang still gewesen, dann folgte ein Windstoß, der wie ein Kanonenschuß gegen den Bug
knallte. Das Schiffsvolk im Mannschaftsraum sprang auf und lauschte. Ein durchdringendes
Krachen, wieder sekundenlange Stille, und der Sturm tobte weiter. Die Maats eilten hinaus,
rannten einander beinahe über den Haufen. »Der Großmast ist gebrochen!«
Der Bruch befand sich fünf Faden über dem Deck. Der Schiffer stand dabei, eine Schar Janmaats
um ihn herum, bereit, jedem Befehl zu folgen. »Laßt die Stenge sacken!« rief Bontekoe.
Wie Eichhörnchen flogen die Matrosen in die nun schlapp hängende Want hinauf, klammerten
sich fest mit Füßen und Zähnen und kniffen vor dem Regen die Augen zu. Mit ihren
verklammten Fingern machten sie die Stenge los und ließen sie durch den Mastkorb hinunter.
»Festhalten, Jungens!«Die schwere Stenge glitt herab. Ob der Mast noch stehenblieb?
In großer Spannung sahen die Männer unten der Arbeit zu, die ihre Gefährten
da oben verrichteten, im sturmgepeitschten, knackenden Mast. Ein tiefer Seufzer:
die Stenge senkte sich. »Haltet! Haltet die Stenge!«
»Pah!« sage der Sturm und zerrte wie toll. Aber der Mast hielt stand.
Hajo hatte die Seekrankheit überstanden, auch seine Angst war weg. Es ging nun schon so lange
gut bei dem Sturm. Wie eine echte Teerbüx lief er auf dem heftig schaukelnden Schiff umher.
Seine Beine wurden schon hübsch seemännisch rund. Er fühlte sich stolz und männlich,
umgeben von der Gefahr, spie das Salz aus seiner rauhen Kehle und schnaubte und nieste.
Rolf ließ sich durch das Wetter nicht mehr in seinen Studien stören. Eines schönen Tages gab
der Sturm es auf. Ein paar Zuckungen noch, ein tiefer, tiefer Seufzer, und erschöpft fiel er
nieder. Das Wasser beruhigte sich nicht so schnell. Aber allmählich verloren die Wellen doch
ihre zerstörende Kraft, und am 20. Januar war schönes, stilles Wetter. Es wurde auch weniger
kalt; man spürte schon den Süden.
Herrliche Ruhe sank auf die »Nieuw-Hoorn« hernieder. Singend hängten die Ohmes ihre nassen
Siebensachen zum Trocknen auf. Mit den Händen in den Taschen sahen sie in die blaue Luft und
stellten fest, daß es aussähe, als wolle das Wetter noch ein bißchen so bleiben. Sie rauchten,
lachten und spuckten wieder; ihre Lebenskraft war nicht erschüttert.
In einem fest verschnürten hölzernen Schächtelchen wurde eine kleine Leiche dem Schoß der
Wellen anvertraut. Mit ungeübter Hand stand darauf gemalt:
Joppie Ü Am 19. Hartung 1619. Er hat den eignen Doot foraus verteilt Unt is gestorben wie ein Helt. Lysken Cocs heulte dabei.
Padde lernt bauchreden Es gab alle Hände voll zu tun. Das ganze Schiff war durcheinander geworfen. Die Matrosen arbeiteten wie die Löwen, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Sie putzten, ölten und schrubbten, daß es krachte, und versuchten, ihren entzweigeschlagenen Kisten wieder Form zu geben. Das gab ein Hämmern und Klopfen! Aber alles geschah guter Dinge, und die Ohmes sangen sich eins dabei. Jetzt lernten die Jungen erst, was arbeiten heißt! Die Geige und die Bücher kamen dabei zu kurz. Sogar Padde machte sich ans Spülen und Aufwaschen. Man benutzte das günstige Wetter, um den Großmast noch mehr zu verstärken. Der Schiffer leitete selber die Arbeiten. »Der Mast friert«, sagten die Maats. »Er hat sich seine Düffeljacke angezogen.« Und sie wiesen auf den dreifachen Tauring, der um den Mastbruch gewunden war. Die Want wurde aufgetakelt, bis sie wieder stand »wie eine Mauer«. Der Schiffer ließ das große Marssegel aus dem Mast holen und an die Stelle des Großsegels setzen. Wo früher die große Stenge gesessen hatte, setzte man nun die Bramstenge hin und das Bramsegel daran. Dank dieser Maßregeln und einem günstigen Südostwind konnte die »Nieuw-Hoorn« wieder schneller fahren. Man nahm Kurs auf die Kanarischen Inseln, Südsüdwest. Hajo hatte an diesem Morgen mit Hilke eine Abrede wegen der Lieferung eines Ankers auf seinen Oberarm getroffen. Denn nach langem Hin und Her hatte er sich für einen Anker entschieden. »Na«, sagte Hilke, als sie sich's im Mannschaftsraum gemütlich gemacht hatten, »kremple dir nun hübsch den Ärmel auf! Dann werde ich dir, eins, zwei, drei, einen feinen Anker in deinen Arm pieken. Jammerschade, daß du ihn auf dem Oberarm haben willst! Na, dafür bist du eben ein friesischer Querkopf.« Eine Stunde später prangte nach manchem tapfer unterdrücktem Au das hoffnungsvolle Sinnbild in zwei Farben auf Hajos Oberarm. Der Anker war blau, und in hellem Rot ringelte sich ein Endchen Tau rundherum. Strahlend vor Stolz und Zufriedenheit betrachtete Hajo das Kunstwerk. »So«, sagte Hilke, zufrieden mit seiner Arbeit, »sage nun ehrlich: hat es weh getan?« »Ich hab' nichts gemerkt. Und ich danke dir auch schön.« »Quees nicht!« wehrte Hilke ab. »Und wenn es soweit ist, daß du einen ... Je nun, wenn du einmal ein Paar Herzen auf deinem Arm haben willst, ich stehe immer gern zu deiner Verfügung, daß du's weißt.« Bereits früh am nächsten Morgen — die Ohmes lagen noch hintüber in ihren Kojen und zogen ihre Socken an — stürmte Harmen aufgeregt in den Mannschaftsraum. »Jungens, ein Segel in Sicht!« Das schlug ein. Alle sprangen auf und rannten auf bloßen Füßen und in Unterhosen aufs Deck. Eins, zwei, drei, war der Mannschaftsraum wie ausgestorben. Nur eine Nase ragte über die Schlafdecke. Es war die von Padde. Mit dösigen Augen lag der arme Junge in seiner Koje. Ein Segel in Sicht! Ob er nun nach Hause konnte? Padde fröstelte vor Spannung. Nach Hause! Ob seine Mutter böse sein würde? Ob sie Sehnsucht nach ihm hatte? Ob sie froh war, daß sie ihn — hm, daß sie ihn los war? Das konnte sich Padde nicht denken. Er traute sich ruhig nach Hause. Aber — Hajo verlassen! Hajo gefräßigen Kannibalen ausliefern? — Das ging nicht.
Ob Indien noch weit war? Wohl kaum; sie waren nun schon so lange unterwegs. Wie, wenn er mitginge — bis Ostindien — und dann gleich zurückkehrte? Wenn er die ganze Reise mitmachte, würde er ein hübsches Stück Geld nach Hause bringen. Dann würde seine Mutter bestimmt froh sein, wenn sie ihn wiedersähe. Und sein Oheim würde solch einen fixen Jungen gerne in seine Brauerei nehmen. Der würde Padde flehentlich bitten, zu ihm zu kommen: Padde, ein Junge wie du — die Brauerei reißt sich darum! Auch der Schiffer würde ihn nicht gerne missen, das hatte Padde wohl bemerkt. Hajo kam hereingestürmt. »Padde, komm doch bloß! Ein Schiff.« »Ja, du freust dich natürlich!« sagte Padde bitter. »Ja, das ist fein.« »Also du willst mich gern loswerden?« »Loswerden? Dich los? Hajo brach in ein schallendes Gelächter aus, was Paddes Unterlippe noch um Daumenbreite herabzog. »Och, aber Padde! Das Schiff ist hinter uns. Es fährt denselben Kurs.« Padde seufzte wider Willen. Aber gleichzeitig brummte er: »Schade! Ich hätte gerne zurückgewollt.« Er schlüpfte in seine Hose, zuerst verkehrt, und ging mit Hajo. Aber bei der Tür blieb Padde stehen und packte den Freund beim Arm. »Das werden .. . Du, Hajo, das werden doch nicht etwa Dünkirchener sein?« Hajo stutzte. »Dünkirchener! Seeräuber! Wie kommst du darauf? Und wenn es so wäre, dann lassen wir uns doch nicht wie Salzbohnen ins Faß stampfen.« »Du bist der Richtige!« sagte Padde zitternd wie ein vornehmes Schoßhündchen. »Die Schlampam... pamper sind noch imstande und schießen!« »Na, wir haben doch auch Kanonen an Bord!« »Ich will nichts mit Ka — Kanonen zu tun haben«, erklärte Padde. Schiffer Bontekoe schien die Sache leichter zu nehmen als sein Bootlersmaat. Er ließ die »Nieuw-Hoorn« auf die Leeseite werfen, so daß die Segel schlaff niederfielen und das andere Schiff Gelegenheit hatte, den Ostindienfahrer einzuholen. Das ferne Segel wurde größer, das Schiff erwies sich ebenfalls als Dreimaster. Da stieg eine Flagge am Besan in die Höhe. Gespannt hielten die Maats Ausschau, bis der Wind das bunte Tuch auseinanderfalten und die Zeichnung zu sehen sein würde. »Die Flagge der Ostindischen Compagnie!« »Ja!« Alle schrien es heraus. »Die Compagnie-Flagge!« Man antwortete. Fröhlich schwatzend hingen die Maate über die Balje. Wie lange war es her, daß sie zum letztenmal etwas anderes als Wasser und Luft gesehen hatten! Aber Padde blieb mißtrauisch. »Das sagt gar nichts, die Flagge«, versicherte er. »Die vertrackten Seeräuber sorgen schon dafür, daß sie immer eine anständige Flagge bei sich führen. Und gerade, wenn man nicht darauf gefaßt ist, beginnen sie zu schie ...« Das letzte Wort blieb ihm in der Kehle stecken. Padde wurde so bleich wie ein gestärktes Hemd. Aus der Seitenwand des fremden Schiffes purzelte ein hellweißes Wölkchen hervor. »Bumm!« machte es dann. Und beinahe im selben Augenblick donnerte es unter dem Bretterboden, auf dem Paddes Füße ruhten; die »Nieuw-Hoorn« beantwortete den Schuß. Lange bevor der Rauch sich verzogen hatte, suchte Padde schon im Mannschaftsraum sein Heil. Und die Ohmes, die seine Betrachtungen über Seeräuber schmunzelnd mit angehört hatten, überschlugen sich nun beinahe vor Lachen. Padde hatte anscheinend noch nie von Salutschüssen gehört. Eine Viertelstunde später konnte man die Menschen unterscheiden. Ein donnerndes Hurra stieg aus beiden Schiffen auf, und man schwenkte Mützen und Tücher. Auf dem fremden Schiff ließ
man die Treppe nieder; eine Jolle wurde ausgeschwenkt. Einige Männer stiegen hinein, und die Jolle hielt auf die »Nieuw-Hoorn« zu. Bontekoe ließ die Schiffstreppe aushängen. Dann wurde schnell ein Läufer gelegt von der Treppe nach der großen Kajüte. Der Schiffer und der Kaufmann kamen heraus und warteten an der Reling. Die Jolle war nun dicht herangekommen. Es waren sechs Ruderer darin, kräftige Matrosen. Auf dem Achterbänkchen saßen zwei Herren, die auf dem ersten Blick den größten Gegensatz bildeten, den man sich denken konnte. Der eine war groß, bleich und mager, hatte ein dürres Gesicht und glattes, blondes Haar; der andere war klein, untersetzt, verwittert und verbrannt wie ein altes Segel, und unter seinem Schifferdreispitz sprangen widerborstige braune Löckchen hervor. Kaum hatte die Jolle die Schiffstreppe erreicht, da war der fremde Schiffer schon aufgesprungen und wie ein Eichhörnchen hiraufgewippt. Würdig folgte der andere. »Willkommen!« sagte Bontekoe herzlich, während er dem heiter dreinschauenden Gast seine gebräunte Hand hinstreckte. »Willkommen auf der >Nieuw-Hoorn<, ihr Herren! Mein Name ist Bontekoe, und dies ist der Herr Kaufmann Rol.« »Pieter Thysz van Amsterdam, Schiffer auf der >Nieuw-Zeeland<«, stellte der andere sich vor in einem Ton, als ob er bei schwerem Wetter durch ein Nebelhorn tute. »Ich bin erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen. Ich habe, seit wir Ende Dezember Vlissingen verließen, kein Segel mehr gesichtet. Dunnerkiel, war das ein Hundewetter! Habt Ihr Havarei gehabt? Wir sind mit Gottes Hilfe gut davongekommen.« Auch der andere, der Kaufmann an Bord der »Nieuw-Zeeland«, stellte sich vor. »Wir wollen hineingehen, ihr Herren«, schlug Bontekoe vor. »Ich habe noch ein Glas guten Wein.« »Das wird die Stimmung nicht verderben«, bullerte der Kleine lachend. Bontekoe und der fremde Schiffer schienen bald einig, sie nahmen einander unter den Arm und gingen fröhlich lachend in die Kajüte hinein. Abgemessenen Schrittes folgten die beiden Kaufleute in höflichem, bedächtigem Gespräch. Als die Kajütentür zu war, spannen die Ohmes ein Garn mit den Leuten in der Jolle. »Ahoi!« »Ahoi!« »Havarei gehabt?« »Mast geknackst.« »Ist das wahr?« »Mein Kopf soll über die Balje ins Wasser rollen, wenn ich lüge! Komm, sieh dir's an!« »Ich traue mich nicht aus der Jolle. Wenn der Alte zurückkommt. ..?« »Habt ihr 'nen guten Alten?« »Geht an. Wir nennen ihn den Braunfisch. Und wenn er in der Kajüte flüstert, muß man sich im Mannschaftsraum noch die Ohren zuhalten, falls man nicht taub werden will. Aber er ist freigebig mit 'nem Schnäpschen.« »Ja, und mit Jungfer Dreisträng«, rief ein anderer aus der Jolle. »Warum kommst du auch duhn auf Wache!« schalt der erste. »Mach keine Dünung!« schrien die Ohmes von oben. »Es ist noch so früh am Tage.« »Wen geht denn das an?« klang es aus der Jolle. »Soll ich dir mal auf den Kopf spucken?« »Kannst du nichts Besseres?« »Ja doch«, schrie Harmen. »Ich werde euch ein Rätsel aufgeben. Könnt ihr gut raten? Oder seid ihr so dumm, wie ihr ausseht?« »Halt du dich man still!« klang es von unten. »Wir können durch deine Naslöcher in dein Gehirn kieken. Das ist da ein leerer Kielraum.«
»Doch was drin, um euch zum besten zu haben«, versicherte Harmen. »Ich kann den Wind
umspringen lassen.« »Wie macht man das?«
»Du mußt dich so hinstellen, daß du den Wind im Nacken fühlst, dann kiekst du zwischen den
Beinen durch, und du hast ihn prall im Gesicht.«
»Albern!« erklärten die sechs Mann in der Jolle.
»Still!« sagte Harmen. »Ich habe noch ein Rätsel. Wenn sechs Mann in einer
Jolle sitzen, welcher ist dann der Spaßigste?«
»Wissen wir nicht. Sag du's!«
»Tja«, versicherte Harmen, »ich weiß es wahrhaftig auch nicht! Ihr seht alle
sechs gleich fade aus.«
»Komm du bloß herunter!«
»Meine Mutter läßt mich nicht.«
Die Ohmes oben hielten sich die Bäuche.
In diesem Augenblick kamen die Herren wieder aus der Kajüte. »Bis heute nachmittag also!«
bullerte der kleine Schiffer der »Nieuw-Zeeland«. »Ich habe noch einen alten Tokaier stehen. Ihr
werdet merken, daß Ihr bei einem Feinschmecker zu Gaste seid.« Er betrachtete den großen
Mast. »So wird er wohl wieder einen Puff vertragen können.«
»Sobald wir vor Anker liegen, nehmen wir ihn nochmal tüchtig vor«, versicherte Bontekoe.
»Wo dachtet Ihr zu landen? Auf den Kapverdischen?« »Ja, da herum werden wir wohl
Frischwasser einnehmen müssen.«
»Dann landen wir da auch.«
Die Schiffer schlugen die Hände ineinander. Und mit schnellen Schritten stieg der Braunfisch
die Treppe hinunter, gefolgt von dem langen, dürren Kaufmann. Die Ruderer in der Jolle
sprangen auf, als ob die Bänke mit Nadeln gespickt wären.
Bontekoe bemerkte es. »Du hast sie unter der Fuchtel, Väterchen!« murmelte er. »Da wird das
Tauende wohl öfters ein Tönchen mitreden?«
Dann wandte er sich seinen Mannen zu. »Kinder, wir fahren in Kompanie mit der >Nieum
Zeeland<. Das Schiff hat keine Haverei gehabt und segelt also leichter als wir. — Was sagtest du
da, Floorke?«
Floorke verzog seinen Mund zu einem Grinsen. »Wir geben ihnen keinen Daumenbreit
Vorsprung, Schiffer!«
Bontekoe lächelte. »So denke ich auch darüber. — Hast du was auf dem Herzen?« fragte er, als
er sah, daß Floorke an seinem Bauchriemen zupfte. Floorke zuckte die Achseln, zwinkerte den
Gefährten zu. »Na?«
»Sie sagen, daß der Braunfisch freigebig ist mit 'nem Schnäpschen, Schiffer.« Bontekoe verstand
den Wink.
»Na, vorwärts!« sagte er mit heimlichem Vergnügen über den Beinamen seines Kollegen. »Holt
euch denn eins! Aber dann auch die Hände aus den Taschen! Begriffen?«
Ob sie es begriffen! Wie die Hasen rannten sie zum Bottler. »Der Schiffer soll leben!« Und
Floorke wurde auf die Schultern genommen.
Lächelnd sah Bontekoe ihnen nach. »Es sind doch Kinder«, sagte er zu dem Kaufmann, der
neben ihm stand, »und als Kinder muß man sie behandeln.« Rol zuckte die Achseln. »Man kann
die Zügel auch leicht allzu locker lassen, mein Werter.«
Bontekoes Blick verdüsterte sich. »Ich muß Freunde um mich haben«, sagte er dann kurz; »mit Sklaven fange ich nichts an.« Es kamen vergnügliche Tage. Der Wind wehte stets aus derselben Ecke, das Wetter war unverändert schön. Jeden Tag wurde es wärmer. Mit Kniffen und Kunstgriffen gelang es der Bemannung der »Nieuw-Hoorn«, dem andern Schiff an der Seite zu bleiben. Am 23. Januar wurde an Steuerbordseite noch ein Segel gesichtet. Bei Annäherung erwies es sich als die »Enkhuizen«, die beinahe gleichzeitig mit der »Nieuw-Hoorn« ausgefahren war, mit Bestimmung nach Küste von Koromandel. Der Schiffer war ein ruhiger und würdevoller Mann: Jan Jansz van Enkhuizen. Die drei Schiffe fuhren nun gemeinschaftlich weiter. Reihum brannten sie des Nachts das Signallicht, nach dem die ändern zwei ihren Kurs einstellen mußten. Es war recht gesellig so zu dritt. Die Reise schien eine Vergnügungsfahrt werden zu sollen. Die Schiffer besuchten einander regelmäßig und verbrachten ihre Zeit in angenehmem Geplauder. Man passierte die Kanarischen Inseln, ohne sie in Sicht zu bekommen. Es wurde so warm, daß die Männer mit bloßen Oberkörpern liefen. Trotzdem rann ihnen der Schweiß vom Rücken. Padde klagte zum Steinerweichen. »Was fehlt dir?« fragte Harmen van Kniphuizen, als er den armen Dickwanst untröstlich auf seiner Koje sitzen sah. »Ich will ein Regenwurm sein, wenn ich da was von begreife!« erklärte Padde grimmig. »Es ist noch mitten im Winter, und ich schmelze vor Hitze.« »Was wirst du dann erst sagen, wenn wir bei den Menschenfressern sind!« meinte Harmen. »Da fallen die Früchte geschmort von den Bäumen.« Padde zog die Nase kraus. »Schönes Land! Wo man bauchreden muß und weiß der Kuckuck was alles, wenn man nicht lebendig verschlungen werden will!« Beim Wort »bauchreden« leuchtete es auf Harmens Augen. Er dachte einen Augenblick nach und sagte dann: »Ja, man muß was dafür übrig haben. Es hat wohl einen Monat gedauert, bevor ich einen gehörigen Mundvoll bauchreden konnte.« Padde horchte auf. »Kannst du bauchreden?« »Das habe ich dir doch erzählt.« »Nein, das war dein Bruder.« »Na ja, von dem habe ich es natürlich gelernt! Weißt du, was schwierig ist? Malaiisch bauchreden.« »Kannst du das auch?« fragte Padde neidisch. Harmen wehrte bescheiden ab. »Mit einigen Worten habe ich noch manchmal Mühe. Zum Beispiel mit purlaputuspurwerpedjokaput. Man bleibt so leicht stecken bei den >Pes<.« »Sprich mal Bauch!« bat Padde. »Ich habe gerade gegessen. Aber komm zu mir in die Kambüse, wenn ich abgewaschen habe! Da kommt uns niemand in die Quere; ich will es dir auch beibringen, wenn du willst.« Padde errötete vor Freude. »Ob ich es lerne?« »Für jemand mit deinem Bauch ist es eine Kleinigkeit«, versicherte Harmen. »Harmen«, sagte Padde, »ich finde es verdammt nett von dir.« Harmen machte eine abwehrende Gebärde. »Wenn man so zusammen auf einem Schiff sitzt, lernt man, etwas für einander übrig zu haben. Also bis nachher!« Und er verließ den Raum. Eine halbe Stunde später machte sich Padde nach der Kambüse auf. Er fand dort Harmen in ein lebhaftes Gespräch mit Lysken Cocs verwickelt. »Das ist zu früh«, rief Harmen. Es wies heimlich mit dem Daumen auf Lysken und zwinkerte Padde bedeutungsvoll zu.
Padde begriff. Er verließ die Kambüse wieder und ging ein wenig spazieren. Als er wieder in die
Kambüse trat, wartete Harmen schon auf ihn. »So«, sagte Harmen, »den schlappen Heinrich
habe ich schnell abgefertigt. Den geht unsere Bauchrednerei nichts an. Wir wollen uns setzen!«
Und Harmen schwang sich behende auf einen großen eisernen Kessel. »Was soll ich nun
sagen?« »Na, irgend was.«
Harmen preßte die Lippen fest aufeinander, verdrehte angsterregend die Augen, trat vor
Anstrengung mit den Beinen gegen den großen Kessel, auf dem er saß. Und dann tönte es dumpf
und gedämpft, als ob der Ton aus dem Boden aufstiege: »Ich bin Kochsmaat.« Harmen stieß
einen Seufzer der Erleichterung aus. »Mirakel!« stammelte Padde. »Sag noch was!«
»Und wenn ich alle Bücher vom Alten und Neuen Testament hintereinander weg aufsagen
müßte!« brüstete sich Harmen. Er rollte wieder die Augen, stieß vor lauter Anstrengung gegen
den Kessel, und düster klang es aus der Tiefe: »Ich habe blondes Haar.«
»Mirakel!« sagte Padde. »Aber — äh, du hast doch gar kein blondes Haar?« »Das weiß mein
Bauch doch nicht!« wies Harmen ihn zurecht. Padde mußte zugeben, daß sein Einwand nicht
stichhaltig sei. »Ich dachte, daß du deinen Bauch alles sagen lassen könntest, was du wolltest«,
entschuldigte er sich.
»Das kann ich auch«, sagte Harmen. »Ich werde ihn gleich sagen lassen: Ich habe braune
Augen.« »Ja, laß ihn das mal sagen!«
Harmen machte den Mund zu, stieß gegen den Kessel. »Ich habe blaue Augen«, tönte es.
»Willst du wohl glauben, daß ich meinem Bauch eine herunterhauen möchte?« fragte Harmen
mit lauter Stimme. »Er muß sagen: Ich habe braune Augen!« Und Harmen stieß grimmig die
Beine gegen den Kessel. Gespannt wartete Padde auf das, was kommen sollte. Es dauerte lange.
Endlich tönte es: »Ich sage das, was mir paßt.«
Harmen wippte vom Kessel herunter und schrie laut: »Ich werde meinen Bauch nachher tüchtig
einreiben! — Na, nun mußt du es probieren, Padde.« Sag dann erst, wie ich es machen muß,
Harmen!«
»Furchbar einfach, Padde. Du schöpfst tief Atem, wartest, bis du anfängst zu japsen, und dann
denkst du: »Ich will was sagen, ohne den Mund aufzumachen.Dann kommt es ganz von selber.«
Padde versuchte es. Als er blau vor Atemnot war, legte Harmen sein Ohr an Paddes Bauch.
»Aushalten, Padde! Ich höre schon was flüstern.« »Pffff!« seufzte Padde.
»Du wirst zuviel gegessen haben«, meinte Harmen. »Die braunen Bohnen versperren natürlich
eklig den Weg. Es ist am besten, wenn du ein paar Tage lang überhaupt nichts ißt. Wirst du dran
denken?« Padde versprach es zögernd.
»Du bist ein verständiger Junge«, erklärte Harmen. »Setz dich nun mal auf den Kessel!
Vielleicht bringst du es dann fertig.«
Padde ließ sich auf den Boden plumpsen. »Ich sitze«, sagte er.
Harmen war einen Augenblick verblüfft. »Auf den Kessel, habe ich gesagt.«
»Ich sitze hier auch gut«, beruhigte ihn Padde.
»Wer weiß es nun besser: du oder ich?« fragte Harmen. »Ich lasse dich nicht
umsonst auf dem Kessel Platz nehmen. Das ist besser für — für den Ton. Grade
wie bei einer Geige; da sitzt auch ein Kasten drunter, damit es besser klingt.«
Hoppla! da saß Padde auch schon auf dem Kessel. »Was soll ich sagen,
Harmen?«
»Na, sag mal: Ich heiße Lysken Cocs.«
»Aber ich heiße doch nicht...«
»Deswegen kannst du es doch sagen.«
Padde kniff Mund und Augen zusammen und stieß, Harmens Vorbild folgend,
mit den Füßen gegen den Kessel. »Hatschi!« tönte es aus der Tiefe.
»Das ist der Anfang«, rief Harmen erfreut.
Padde sah starr vor Erstaunen an sich herunter. »Kommt das aus meinem
Bauch?«
»Woher sonst?« fragte Harmen. »Aus deiner Sonntagsmütze vielleicht?«
Padde strengte sich aufs neue an. Als er blaurot im Gesicht geworden war,
tönte es: »Ich höre jetzt damit auf! Ich kriege keine Luft mehr!«
»Du bist ein geborener Bauchredner«, erklärte Harmen aufgeregt. Aber zugleich
suchte er Padde, nachdem er ihn von dem Kessel heruntergestoßen hatte, mit
sanfter Gewalt aus der Kambüse herauszulotsen.
Padde widerstrebte. »Ich finde es verflixt nett von dir«, sagte er, »daß du mir
das Bauchreden beibr.. .« Da stockte Padde und erbleichte.
Eine unsichtbare, geheimnisvolle Macht stieß den Deckel des eisernen Kessels,
auf dem Padde und Harmen gesessen hatten, in die Höhe, und wie ein Teufel
aus einer Schachtel hüpfte — Lysken Cocs daraus hervor.
»So, du Firlefanz, hast du uns belauscht?« schnaubte Harmen. »Morgen setzen
wir uns anderswo hin, Padde.«
Padde nickte zögernd, mit Zweifeln im Gemüt.
Padde sieht durch einen Nebelkieker Eines Morgens blieb Hajo überrascht stehen, als er, noch schlaftrunken, aus dem
Mannschaftsraum heraustrat und sich draußen in einem Becken waschen wollte. Um Masten,
Taue und Segel hing ein heller Dampf. Das Achterschiff war nur noch als ein undeutlicher
Umriß zu sehen. »Nebel!« murmelte Hajo, während er die feuchte Luft einatmete.
Na, und ob es neblig war! Wenn man über die Reling lehnte, sah man ins Graue ohne Anfang
und Ende: Wasser und Himmel waren eins geworden. »Uui! Uuiiiiii!« Das waren die
Nebelhörner der »Enkhuizen« und der »Nieuw-Zeeland«. Bootsmann Berentsz war mit zwei
Matrosen dabei, eine große Laterne in die Fock zu hissen. Als sie oben hing, glich sie einer
bleichen Zitrone. »Ujujuiiii!«
Die Matrosen nörgelten, behaupteten, daß man wohl jede halbe Stunde seine Lunge ausschöpfen
könne, daß sie lieber Kiemen hätten wie die Fische, und — das wäre das Schlimmste dabei: daß
von einem Anlaufen der Kapverdischen Inseln keine Rede sein könne.
Die Jungen mußten abwechselnd auf dem Nebelhorn tuten. Die Ohmes behaupteten, davon
bekomme man eine schöne Stimme.
Harmen zeigte sich als Meister in dieser Kunst. Er tutete ganze Lieder, drehte sich dabei im
Kreis, und wenn das Liedchen aus war, stand er wieder genau da, wo er begonnen hatte.
»Ich sehe dich noch mal im Zirkus auftreten«, bemerkte Rolf. »Hast du schon mal ein Nebelhorn
auf den Kopf gekriegt?« erkundigte sich Harmen.
Rolf schüttelte den Kopf. »Noch nie, Tu's mal!«
Harmen rümpfte verächtlich die Nase. »Werde mich hüten, beim Neffen vom Schiffer!«
»Den Schiffer laß aus dem Spiel!« sagte Rolf plötzlich erzürnt. »Hu — hu — hu! Meine
Amsterdamer Muh — me hat ein Ferkel und 'ne Kuh«, tutete Harmen. Als er die zugehörige
Umdrehung vollbracht hatte, sah er Rolf gerade noch in der Kajüte des Baders verschwinden.
»Da läuft er weg, der Bücherwurm. Wenn es ein anderer wäre, hätte ich ihn schon längst
vertobakt.«
Da kam Padde angeschlendert, angelockt von Harmens Nebelgesängen. »Guten Morgen,
Padde!« rief Harmen erfreut.
Aber Padde konnte so ohne weiteres noch nicht wieder freundlich sein. »Mm«, sagte er, »ist das
ein Nebelhorn?«
»Ja, ein Nebelhorn oder ein Nebelkieker, das ist dasselbe.« »Nebelkieker? Kann man denn damit
durch den Nebel sehen?« »Wie durch einen Tropfen Wasser«, versicherte Harmen. »Nicht
wahr, Lysken?«
»Wo sollte das Wort Nebelkieker sonst herkommen?« meinte Lysken. Aber Padde fiel nicht
darauf herein.
»Führt ihr einen andern an!« schimpfte er.
»Anführen?« fragte Lysken in höchstem Erstaunen.
Harmen spähte angestrengt durch das Horn. »Da fährt gerade die >Nieuw-Zeeland<«, rief er aus.
»Vor der Kambüse sitzt der Koch mit drei Ohmes beim Kartenspiel.«
»Darf ich auch mal kieken?« sagte Lysken.
»Bitte sehr, Lysken.« Und Harmen trat ihm bereitwillig das Hörn ab. Lysken spähte in der
Richtung, die Harmen ihm wies. »Dunnerlitjes, hat der Koch aber Trümpfe in der Faust!« rief er
aufgeregt. »Herz-König, Pik-As, Bube, Dame und sechs Kleine.«
»Gib her!« sagte Padde.
»Hör mal, kannst du nicht ein bißchen anständiger darum bitten?«
»Ach, gib ihm den Kieker doch, Lysken!« begütigte Harmen.
Paddes Wunsch wurde erfüllt. »Ich sehe nix«, erklärte er.
»Begreife ich nicht«, sagte Harmen. »Hast du dein anderes Auge auch zugekniffen?«
»Muß man das?«
»Das kapiert doch ein Kind!«
»Hättest du mir gleich sagen sollen!« brummte Padde. Und er bedeckte mit der einen Hand das
Auge, das nicht durch den Tuter spähte.
Da wurde zwischen Harmen und Lysken ein schneller Blick gewechselt. Sie setzten gleichzeitig
ihren Fuß hinter Paddes Hacken und ein — zwei — drei! lag Padde rücklings auf den
Deckplanken und zappelte.
»Das war ein tüchtiger Windstoß!« rief Lysken aus. »Ich fiel beinahe auf den Rücken«,
versicherte Harmen geräuschvoll. Und sie begannen beide zu wiehern. Aber in den Augen des
Betrogenen brüteten Rachepläne. Er schwenkte wütend seinen Tuter und wollte sich aufrichten.
Da geschah etwas Unerwartetes. Ein graues, ungeschlachtes Riesenetwas schob sich hart am
Galion vorbei, anschwellendes Stimmengewirr wurde übertönt von einem heiseren Nebelhorn.
»Das Steuer! Werft das Steuer um!« schrie jemand.
Zu gleicher Zeit blitzte ein Lichtstrahl aus dem Nebel auf. Dann plötzlich ein Segelumriß,
scharfes Krachen von Holz — und weg war alles. Padde war vor Schreck wieder auf den Rücken
gefallen. Die beiden ändern standen zitternd dabei.
Die Donnerstimme von Folkert Berentsz weckte sie aus ihrer Verblüffung. »Da soll doch gleich
ein Donnerwetter! Es haben zwei Ellen dran gefehlt, daß wir in die >Enkhuizen< gelaufen
wären. Stelle ich euch darum zum Tuten an! Donner und Blitz!« Und Lysken und Harmen
kriegten jeder einen Tritt m die Gegend ihrer Sitzfläche. Padde lag und blieb dadurch verschont.
Harmen riß ihm das Nebelhorn aus der Hand. »Hu — hu — hui!« schmetterte er, diesmal ohne
Liedchen. Der Bootsmann war wieder weg.
»Wenn er's dem Schiffer erzählt, werden wir gekielholt«, stellte Lysken in Aussicht, indem er
sich die Hose rieb.
Aber Folkert Berentsz war keine Petze; er konnte seine Leute ohne den Schiffer regieren.
Rolf Man hatte beabsichtigt, Sankt Anton anzulaufen und dort Wasser einzunehmen; aber wegen des
stets dichter werdenden Nebels, gepaart mit feinem Regen, konnte man die Insel nicht in Sicht
bekommen. Deshalb wurde nach Maio und Fogo Kurs gehalten, die ebenfalls der Kapverdischen
Gruppe angehören. Der Wind schwankte launisch; man mußte lavieren und verlor die Fühlung
mit den ändern Ostindienfahrern. Die Nebelhörner tönten noch ab und zu aus weiter Ferne.
Lang und eintönig waren die Tage. Stundenlang lagen die Ohmes in ihren Kojen und spielten
Karten. Hajo war mit Rolfs Hilfe damit beschäftigt, einen Brief an seine Mutter zu schreiben.
Sobald sie einem Schiff begegneten, wollten sie ihn mitgeben.
»Kannst du nicht schreiben?« hatte Rolf gefragt, als Hajo um seinen Beistand bat.
»Ich kann wohl ein wenig lesen«, beeilte sich Hajo zu erklären, während ihm das Blut in die
Wangen stieg. »Padde kann überhaupt nicht lesen oder schreiben.«
»Willst du dich denn mit Padde vergleichen?«
»Wenn ich nur jemanden wüßte, der . . .«
»Ich werde es dich lehren«, sagte Rolf. Und mit der ihm eigenen Tatkraft nahm
er die Sache in Angriff.
Padde saß dabei, während Hajo seine braune Faust übers Papier spazieren ließ,
das unter dieser Bearbeitung nicht sauberer wurde. Rolf steuerte ruhig und sicher
Hajos Gänsekiel den rechten Kurs, und Hajo seufzte vor Aufregung.
»Was schreibst du eigentlich alles?« fragte Padde ehrfürchtig. Geduldig wartete
er, bis Hajo ihm zwei Minuten später zur Antwort gab: »Störe mich jetzt nicht!«
Padde schwieg. Aber schließlich ist ein Mensch kein stummer Fisch. Als Hajo
wieder mit Schwung einen Punkt hinter einen Satz gesetzt hatte, wagte Padde
die schüchterne Frage: »Kannst du alles schreiben, was du bloß willst?«
»Alles«, versicherte Hajo.
Das mußte Padde erst verarbeiten. »Kannst du nun auch schreiben, daß es neblig
ist und daß du auf der Geige spielen lernst?«
»Was dachtest du?«
»Na, ich dachte — bloß Grüße und so, und: Ich komme bald wieder.«
»Sieh mal«, sagte Hajo, »das kommt nun von deinem Geklön! Nun habe
ich wieder einen Klecks gemacht.«
»Was schadet das«, meinte Padde. »Das ist doch schon zwanzigmal passiert.«
Das Zugucken wurde ihm allmählich langweilig, und er trollte sich.
Als die Briefschreiber eine Stunde später die Baderskajüte verließen,. fanden sie Padde an den
Mast gelehnt, mit verschwommenen Augen vor sich hinstarrend in den grauen Nebel.
»Padde, warum sitzt du da? Du wirst dich erkälten.«
»Hopplala — trallala!« lallte Padde, mit den Fingern aufs Deck trommelnd. »Ich habe getanzt
vor den Ohmes. Oben auf dem... Hik! O—oben auf dem Tisch.«
»Er redet im Fieber«, sagte Hajo erschrocken.
Rolf legte die Hand auf Paddes Schläfen. »Wir wollen ihn aufheben und ins Bett bringen.«
Aber davon wollte Padde nichts wissen. »Bleib mir vom Leibe, B—bücher-wurm!«
Hajo zögerte. Aber ein Blick auf Rolfs Augen genügten ihm, um Padde unter die Arme zu
greifen. Rolf packte mit einer schnellen Bewegung seine Beine. Padde wehrte sich aus
Leibeskräften, um seine Freiheit wieder zu erlangen. Als es nicht gelang, klagte er heulend:
»Hajo, hilf mir, dem ekligen — hik! — Federfuchser eins überzuziehen!«
»Du bist krank, Padde. Wir werden dich zu Bett bringen.« »Nein, ich will t—tanzen vor den
Ohmes! Ich will. .. Hik!« Trotz seinem Sträuben wurde Padde nach dem Bottlersverschlag
gebracht und dort mit Hilfe des Schieligen ins Bett gelegt.
»Der Junge bibbert vor Fieber!« jammerte der Bottler ganz außer sich. »Wollen ihm schnell ein
bißchen Wein geben.«
»Oho!« murmelte Rolf. Und kurz und drohend fuhr er fort: »Wenn du das tust, sage ich alles
dem Schiffer.«
Der Bottler sah zögernd Rolf in das strenge Gesicht. Er brummte vor sich hin, ging aber nicht
zum Schrank, um Wein zu holen.
»Komm, Hajo!« sagte Rolf. »Er muß schlafen, das ist alles.« Und Rolf zog seinen Freund mit
sich. »Padde ist betrunken«, sagte er, als sie draußen waren. »W—was sagst du!«
»Komm mit!« war Rolfs Antwort. »Ich will mit dir reden.« Sprachlos ließ Hajo sich nach der
Baderskajüte führen. Vater Langjacke war nicht da.
»Sage mir mal«, begann Rolf, »ist es das erste Mal, daß Padde . ..?«
»Ja, ganz gewiß!«
»Dann ist der Bottler schuld daran«, sagte Rolf. »So ein Schurke!« fiel Hajo aus.
»Der Schielige denkt nicht weiter als bis auf den Grund seines Kruges«, sagte Rolf. »Das ist
alles. Also du hast bis jetzt noch nie gemerkt, daß Padde .. .« »Nein! Aber.. . Ich muß dir was
sagen. Aber läßt du dir nicht merken, daß du's weißt?«
»Wenn ich es nicht für nötig halte, nicht.«
»Sein Vater war jeden Abend betrunken.«
Rolf runzelte die Stirn. Hajo fühlte in diesem Augenblick wieder, wieviel reifer und verständiger
Rolf sei. Eine leise Vermutung stieg in ihm auf, daß Rolf schon viel durchgemacht haben müsse.
Schweigend wartete Hajo.
»Vorläufig tun wir, als hätten wir nichts gemerkt«, entschied Rolf. »Und sowie ich eine günstige
Gelegenheit sehe, nehme ich ihn mir vor. So etwas muß gleich gründlich geschehen.« Beide
schwiegen.
Eine Frage, die Hajo heute früh beim Briefschreiben schon hatte stellen wollen, kam nun, ohne
daß er sich über den Anlaß dazu recht im klaren war, wieder auf und brannte ihm auf den
Lippen. Endlich brachte er es heraus: »Du, Rolf, schreibst du nicht an deine Mutter?«
Rolfs Schultern zuckten. »Meine Mutter ist nicht mehr am Leben«, sagte er kurz. Hajo war auf
Rolfs Antwort vorbereitet. »Ist sie schon lange tot?« fragte er leise.
»Sie ist im März vorigen Jahres gestorben.«
»Und hast du nun überhaupt niemand mehr, der . . .?«
»Meinen Oheim«, sagte Rolf.
»Ja, aber dein Vater? Du sagtest damals auf dem Italienischen Seedeich. . . Weißt du noch?«
»Mein Vater ist vor zwölf Jahren nach Ostindien gegangen«, sagte Rolf. »Er fuhr als Schiffer
unter Pieter Both. Im Jahr 1615 ist sein Schiff an der Küste von Celebes untergegangen. Aber
diese Nachricht bekamen wir erst voriges Jahr. Von der Bemannung verlautete nichts. Meine
Mutter war schon sehr schwach. Fünf Wochen später starb sie.«
»Du — Rolf«, flüsterte Hajo, »ist das Zelee—Zeleebes sehr groß? Es geschehen doch öfters
Dinge, über die man nachher staunt.«
Rolf schien heftig mit etwas zu kämpfen, dann zuckte er die Achseln, wie um das Hoffnungslose
von Hajos Annahme anzudeuten, und sagte abgewandten Gesichts und mit erzwungener
Leichtigkeit: »Wir wollen uns doch nichts vormachen!«
Dann stand er auf, nahm ein Buch aus dem Arzneischrank und setzte sich an den Tisch neben
Hajo, der vergebens nach Worten des Trostes suchte, drückte die Hände an die Schläfen und
richtete die Augen starr auf die Buchstaben.
»Uu — hu — huiiiii!« gellte draußen das Nebelhorn. —
Am nächsten Morgen war der Nebel weniger dicht, die Welt wurde wieder
weiter.
Padde kam spät zum Vorschein. Er lungerte herum und trug kein Verlangen,
Hajo aufzusuchen. In der Mittagsstunde ging Padde in die Baderskajüte hinein,
gerade als der Bader sie verlassen hatte. Er fand dort Rolf allein. »Wo ist Vater
Langjacke?« fragte Padde ihn.
»Geht gerade zur großen Kajüte. Wenn du dich beeilst, kannst du ihn noch
einholen.«
Aber Padde blieb stehen. »Wir kriegen bald Land, was?«
»Ja.«
»Liest du?«
»Ja.«
»Was steht in den Büchern da?«
»Wie man kranke Menschen heilen kann.«
»Steht das auch in Büchern? Ich dachte, der Bader könne das von selber.«
»Dann dachtest du verkehrt«, stellte Rolf fest, ungestört weiterlesend.
»Ist Lesen schwer?«
»Nein.«
»Aber Schreiben wohl?«
»Nein.«
Padde dachte nach. »Du — äh, Rolf? — Rolf, würdest du für mich — auch einen
Brief schreiben?«
Rolf sah auf. »An deine Mutter?«
»Ja.«
Rolf nahm aus der Schublade einen Bogen Papier. Er spitzte einen Gänsekiel
an und tauchte ihn in das Tintenfaß. »Was soll ich schreiben?«
Padde war durch Rolfs schnelles Handeln überrascht. Er schwang sich aufgeregt
auf den Tisch und baumelte mit seinen kurzen Beinchen. »Ja, was soll ich . ..«
»Sage erst, was darüber stehen soll! Liebe Mutter? Oder...?«
»Nein«, sagte Padde, »schreib lieber: Werte Mutter! Das sieht besser aus.«
Rolfs Feder flog über das Papier mit einer Schnelligkeit, daß Padde vor Staunen
der Mund offenblieb. »Steht es schon da? Na, schreib dann nur — daß es nicht
meine Schuld ist, daß ich mit nach Ostindien gegangen bin!«
»Das schreibe ich nicht, denn das ist eine Lüge. Es ist wohl deine Schuld.«
»Was? Ich bin doch eingeschlafen.«
»Ganz recht, und das ist deine Schuld. Du hättest nicht einschlafen dürfen.«
Das ging über Paddes Verstand. »Schreib dann, daß es mir leid tut! Und daß
ich einen Haufen Geld mitbringen werde.«
Rolf blickte erstaunt auf.
»Was guckst du? Ich verdiene doch sicher ebensoviel wie Hajo und du. Oder
ist das vielleicht nicht viel? Meine Mutter wird nicht wissen, ob sie ihren Augen
trauen kann.«
Rolf sah traumverloren vor sich hin. »Hast du deine Mutter sehr lieb, Padde?«
»Na und ob! Und sie mich auch. Wenn die Leute sagen ... Da mußt du kein
Wort davon glauben, was die Leute sagen; das tue ich auch nie. Du, schreib auch,
daß Ostindien gar nicht weit ist! Und: ich komme bald wieder. Und daß sie
Louwtje und Margje und Annetje und Nelis und Hein und Jan und Gys..
Wieviel sind das? Sieben? Das stimmt. Mutter, ich und Vater sind drei, zusammen zehn.«
»Seid ihr zehn zu Hause?«
»Nein, dreizehn. Aber drei sind gestorben, am Fieber, weißt du.«
»Was soll darunter stehen?« »Na: Padde natürlich!«
Rolf war unentschlossen. »Willst du nicht lieber schreiben: >Einen innigen Kuß, oder.. .< Rolf
errötete und fuhr hastig fort: »Und dann hast du vergessen, deinen Vater grüßen zu lassen.«
Padde schüttelte den Kopf. »Tu' ich nicht«, sagte er. Und nach langem, tiefem Nachdenken:
»Schreib nur darunter: Dein treuer Sohn Padde Kelemeyn!« Rolf lächelte. »Wollen wir
>Kelemeyn< nicht weglassen? Deine Mutter weiß doch, daß du Kelemeyn heißt.«
»Sie weiß auch, daß ich Padde heiße. Na gut, laß es dann weg!«
Rolf war mit dem Brief fertig. »Soll ich ihn dir nun vorlesen?«
Padde fing an zu kichern. »Das ist mir noch nie vorgekommen.«
Und nicht ohne Selbstbewußtsein setzte er sich in Positur, um zu hören.
»Werte Mutter«, las Rolf, »es tut mir leid, daß ich, ohne es zu wollen, mit Hajo nach Ostindien
gegangen bin und dich verlassen habe. Ich werde das Geld, das ich als Bottlersmaat auf der
>Nieuw-Hoorn< verdiene, sparen und dir geben. Ostindien kann so weit nicht weg sein, Mutter,
daß ich dich vergesse.
Grüße Louwtje, Gys, Annetje, Nelis, Margje, Hein und Jan von mir!
Dein treuer Sohn Padde.«
Padde hatte Tränen in den Augen. »Mirakel!« flüsterte er. »Ob meine Mutter
das nun auch alles so da herausholen kann? Lesen kann sie natürlich nicht, weißt
du. Aber sie wird damit zum Obermeister gehen.«
»Na, dann liest der ihr alles vor.«
»Rolf«, sagte Padde gerührt, »es tut mir leid, daß ich dich immer ... — Willst
du bitte noch darunterschreiben: Viele Grüße an Jansje Besen?«
Rolf sah Padde verschmitzt an, und dieser wurde feuerrot.
»Es steht da«, sagte Rolf. Und dann sah er Padde tief in die Augen. »Da fällt
mir ein, daß du noch was vergessen hast, Padde. Du hättest schreiben sollen: Liebe
Mutter, mit mir geht es die letzte Zeit genauso wie mit Vater; gestern war ich
betrunken.«
Padde begann zu zittern. »Tu's nicht, Rolf! Schreib das nicht!«
»Aber es ist doch wahr?«
»Ich will nie mehr trinken, Rolf! Keinen Tropfen!« Und Padde fing an zu
weinen.
»Das ist also abgemacht«, sagte Rolf. »Hier ist dein Brief, Padde.«
Padde griff nach Rolfs Hand. »Lieber, lieber Rolf!«
Und mit seinem Brief im Fäustchen wankte er aus der Kajüte.
Als Rolf allein war, nahm er wie in tiefen Gedanken ein Stückchen Papier, das
auf dem Tisch lag, und kritzelte spielerisch ein Wort darauf. Er sah sinnend
danach. Plötzlich zuckte es um seine Lippen; er sprang mit einem Ruck auf und
eilte hinaus.
Als Vater Langjacke nach einer Weile zurückkehrte und, ordentlich wie er war,
den Fetzen in den Papierkorb werfen wollte, schien ihn etwas stutzig zu machen.Er murmelte vor
sich hin, blickte nach der offenen Tür und legte darauf das Stückchen Papier wieder sorgfältig an
die Stelle, wo er es gefunden hatte. Was konnte Vater Langjacke, das Muster von Ordnung, dazu
bewogen haben, dem Stückchen Papier nicht den Platz anzuweisen, an den es gehörte: den
Papierkorb?
Es standen sechs feingezirkelte Buchstaben darauf. Zusammen formten sie das Wörtchen:
MUTTER.
Land! Land! »Land! Land in Sicht!«
Aus allen Ecken und Winkeln kamen die Ohmes heraus, lehnten über die Reling
und spähten nach dem blaugrauen Umriß an Steuerbord.
Bontekoe stand mit Rolf und dem ersten Steuermann auf dem Mitteldeck. »Es
wird Fogo sein«, meinte letzterer.
»Dünkt mich auch«, sagte Bontekoe. »Wir wollen einen Ankerplatz suchen und
morgen Vorräte einnehmen. Die See muß in diesen Breiten ziemlich fischreich sein.
Das wollen wir uns zunutze machen.«
Es wurde gelotet. Das Senkblei erreichte, selbst als man es ganz und gar abrollen
ließ, noch nicht den Grund. Vom Ankerauswerfen konnte keine Rede sein.
Bontekoe beschloß, die Küste abzusegeln, bis er eine Bai gefunden hätte.
Allgemach waren die feuchten Falten des grauen Nebelschleiers zurückgewichen;
die Sonne brach durch und begann die nackten Rücken der Matrosen wieder zu
sengen. Es war in der letzten Woche noch heißer geworden.
Bei Beginn der Dämmerung fand man eine Bai. Zwei schwere Steinrücken erhoben
sich eine Meile weit in See und versprachen Schutz. Das Wasser war tiefblau und
beinahe ohne Gekräusel. Aber man warf aufs neue vergebens das Senkblei aus,
es reichte nicht auf den Grund. Bontekoe beschloß, es darauf zu wagen, die
Nacht treibend zu verbringen. Man barg alle Segel.
Es kam ein unvergeßlicher Abend heran. Der Nebel hatte sich nun gänzlich
verflüchtigt. Die Mondscheibe, Königin der Nacht, thronte inmitten ihres ganzen
Hofstaates aus vielfarbigen Sternen und sandte ihr fürstliches Licht in mildem
Überflusse über die schroffen Felsen aus. Hoch über den Felsen, die nichtig
wurden neben seiner Größe, stand, wie ein einsamer Priester, erstarrt in ewigem
Gebet, ein einziger Berg.
Möwen warfen sich kreischend von den Felsen in die Höhe und schwangen sich
in weiten Kreisen um die »Nieuw-Hoorn«. Doch allmählich verschwanden sie
wieder aus der Luft, und bis auf das eintönige Rauschen der Wogen, die nimmer
schlafen, wurde es still.
An diesem Abend kam Harmen wieder einmal dazu, seine Fiedel hervorzuholen.
Und die Matrosen sangen zu seinem Spiel.
Hajo lehnte schweigend über die Reling.
Rolf saß in der Kajüte des Baders, gebeugt über eine Karte der Kapverdischen
Inselgruppe.
Padde hatte eine Leine mit Speck durch eine der Stückpforten ausgeworfen
und wartete, ob ein Fisch beißen wolle.
Wie eine große Wiege schaukelte die »Nieuw-Hoorn« auf dem Wasser. Man
konnte ein Schlafliedchen dazu summen.
In der Bai schwamm ein großer goldener Fleck, das Spiegelbild des Mondes. —
Ob die Maats am nächsten Morgen aus ihren Kojen kommen konnten! Die Sonne saß noch halb
im Wasser, als bereits ein Trüpplein Ohmes in Unterbüxen über die Verschanzung hing. Wenn
man gut hinblickte, sah man auf den Felsen ein Böckchen springen. Es war Ebbe. Ein tüchtiges Stück Strand lag bloß, und in den Wasserlachen konnte Harmen ohne Nebelkieker, jedoch mit einiger Einbildungskraft, Krebse und Krabben herumschwimmen sehen. Padde lief schon das Wasser im Mund zusammen; Krabben waren sein Leibgericht. Des Abends sollten sie wieder abfahren, also mußte man tagsüber tüchtig heran. Sie wollten heute den alten Kasten, die »Nieuw-Hoorn«, einmal auftakeln, daß keine Schwiegermutter mehr etwas daran auszusetzen haben sollte. Nach dem Frühstück wurde die Jolle herabgelassen, die Vorräte einnehmen und Fische zu ergattern suchen sollte. Wer mit wollte? Allesamt! »Ja, aber die Insel ist spanisch.« »Laß die Specken 1 nur kommen!« »Es darf nicht gefochten werden.« »Und wenn die anfangen?« »Dann schlagt ihr auch drein! Versteht sich«, sagte Donner und Blitz. Es wurde gelost, wer mitkommen sollte. Hajo wußte sich vor Freude nicht zu lassen, als Rolf und er ein langes Ende zogen. Mit dreißig anderen Seeleuten stiegen sie die Strickleiter hinab. Vorn in der Jolle lagen Musketen und Fischzeug. »Denkt an die Krabben und Krebse!« schrie ihnen Padde nach. Die Riemen platschten ins Wasser. Eins — zwei, eins — zwei. »Jungs«, sagte Berentsz, der am Steuer saß, »wir ziehen vor der Brandung das Netz durchs Wasser. Wenn wir einen ordentlichen Schwung Fische fangen, gehen wir gar nicht an Land. Die Specker haben uns schon lange auf dem Kieker.« Am Strand tauchten Bäume mit schlankgebogenen Stämmen und fächerförmigen Wipfeln aus dem leichten Morgennebel auf: Palmen. »Javanischer Blumenkohl, Hajo«, sagte Floorke, der schon vier Reisen nach Indien gemacht hatte. Hajo blickte mißtrauisch die ändern an. Aber alle Ohmes ruderten schweigend weiter und nickten ernsthaft. Da sagte Hajo: »Ich hielt es für Kohlrüben; aber das kam wohl daher, daß Floorke mit seinem Kopf davor saß.« Wiehernd holten die Ohmes das Netz hervor und warfen es nach hinten aus. Weiterrudernd zog man es hinter dem Boot her. »Ob schon was drinsitzt? Es ist gerade, als ob es sich schwerer rudert.« »Zieht mal auf!« sagte Berentsz. Alles kroch nach hinten. Der Bug schoß in die Luft. »Trecken!« Da rissen die Ohmes die Augen auf. Es saß eine große Schildkröte im Netz. »So ein komisches Viech!« »Hol sie herein und leg sie auf den Rücken! Na, pack sie nur ruhig, du tust ihr nicht weh!« »Ob die nicht beißt?« »Beißen? Wir beißen heute abend in sie. Das gibt eine feine Suppe. Hoppla!« Die Schildkröte lag auf dem Rücken, bewegte hilflos ihre dicken Schwimmpfoten. »Ich möchte sie gerne meiner Muhme mitbringen. Kriege ich sie, Bootsmann?« »Wenn die Suppe fertig ist. Das Netz wieder auswerfen, Jungens! — Holla, was ist das?« Von der Strandseite her tönte ein scharfer Knall, und an Backbord plumpste etwas ins Wasser. »Die Specken! Sie schmeißen mit Bohnen.« Aller Augen richteten sich nach dem Strand, wo sich eine Gruppe von Männern versammelt hatte. »Gib mir mal eine Muskete! Ich schieße auf hundert Ellen einer Fliege das Vorderbein ab.« Wieder ein Knall und ein Plumps. ( 1Specken: Spitzname für die Spanier, die bittersten Feinde der Niederländer vom achtzigjährigen Freiheitskampfe her.)
»An die Riemen! Sie schießen uns noch durch die Kleider. Und mein Stopfgarn ist knapp.« »Warte doch, ich lade noch!« murrte der Scharfschütze. Das Laden einer Muskete war eine Arbeit, die Zeit, Erfahrung und Überlegung erforderte. Wieder ein Schuß. Eine Kugel flog den Männern über die Köpfe. Da war der Ohme, der auf hundert Ellen eine Fliege verstümmeln konnte, schußbereit. Grimmig legte er an — ein Donnerschlag! Der Schütze flog durch den Ruck beinahe mitsamt seiner Muskete aus der Jolle. Vom Strand her tönte ein lauter Schrei. Einer der Spanier ließ seine Waffe fallen und stürzte rücklings in den Sand. Die ändern nahmen eiligst hinter einem Wäldchen Deckung. »Hört auf mit den Spaßen, Klaas, und nimm die Riemen zur Hand! Wir sitzen dicht vor der Brandung.« Ein Schuß vom Lande. Durch die Jolle lief eine Erschütterung, und aus dem Boden stieg ein kleiner Springbrunnen auf. »Au, mein Fuß! Au! Au!« »Stopft das Leck!« Es wurde mit Taufasern zugestopft. Der jammernde Maat nahm seinen Fuß in die Hände. »Sie haben mir die große Zehe kaputtgeschossen.« »Zu Weihnachten kriegst du eine neue«, tröstete Berentsz. »Rudern, Jungens! Eins — zwei! Eins — zwei!« Bald war man außer Schußweite.
»Wollen wir hier nicht das Netz noch einmal auswerfen, Bootsmann?« »Gut«, sagte Berentsz.
»Wo ist es?«
Allgemeines Spähen unter die Bänke. »Das Netz ist weg.« Floorke begann zu kichern. »Hast du
es versteckt, Schubjack?«
»Es hängt noch hinten am Boot«, sagte Floorke. »Da werden nun wohl genug Fische drinsitzen.«
Das kam von der Aufregung. Alle hatten vergessen, daß das Netz im Wasser hing. Es wurde
eingezogen. Große Freude, als es voll von glänzenden, zappelnden Fischen war! Doch der
verwundete Maat teilte die Freude nicht; er hatte sein Hemd ausgezogen und mit Rolfs Hilfe
seinen Fuß verbunden. Die ändern achteten kaum darauf. Es waren rauhe Gesellen, die
Matrosen.
An Bord wurde so gehämmert und gesägt, daß niemand das Schießen gehört hatte. Im Kielraum lagen noch Stengen; sie wurden durch die Achterpforten an Deck gezogen. Eine Spiere von vierzehn Palm wurde der Länge nach zersägt, und die beiden Hälften schiente man, mit noch zwei ändern Stengen, um den Mastbruch. Nun konnte man die Stenge, die vorläufig den Mast verstärkt hatte, wieder hissen und das Großsegel führen. Es war eine Lust, es anzusehen. Der Mast glich ja einer wuchtigen Säule aus Sankt Antonius in Hoorn. Nun konnte der Sturm wieder blasen. Man war gerade beim Takeln der Want, als das Boot zurückkam. Der Fang übertraf alle Erwartungen. Bolle ließ die Fische lustig in der Pfanne brutzeln. Die Ansichten über seine Schildkrötensuppe waren sehr verschieden, aber die meisten ließen sie sich munden. Wahrhaftig, man konnte merken, daß an diesem Tage gearbeitet worden war! Da wurden tüchtige Fuhren braune Bohnen hinter die Zähne geschoben. Der verwundete Matrose, der nun von Vater Langjacke nach allen Regeln der Kunst verbunden worden war, stand an Eßlust niemand nach, und Padde versuchte in einem Berg Schellfisch seine Enttäuschung über die ausgebliebenen Krabben zu vergessen.
Nachher suchte er Trost beim Bottler. Dieser war beim Zapfen. Padde steckte
eine Kerze an und stieg in den Keller hinunter.
»Vorsichtig, mein Junge!« warnte der Schielige, als Padde seine Kerze auf
ein Branntweinfaß klebte. »Wie leicht kannst du Brand stiften!«
»Brand?« sagte Padde. »Das Zeug kann doch nicht brennen. Es ist doch naß!«
»Naß ist es. Aber warum sollte man es Branntwein nennen, wenn es nicht
brennen kann?«
»Komm, Schieliger«, sagte Padde, »wir wollen lieber hinaufgehen! Sonst erzählst
du mir am Ende noch, daß die See Feuer fängt, wenn einer seine Pfeife außenbord ausklopft.«
An diesem Abend stach die »Nieuw-Hoorn« wieder in See und hielt den Kurs
geradewegs auf den Äquator zu.
Die Jungen hingen über die Reling und spähten nach dem Land, das langsam
versank. Luft und Wasser waren golden von der untergehenden Sonne, der
Berg und die Felsen ringsherum tiefblau.
Hajo fühlte sich beklommen. In ihm zitterte der Schmerzensschrei nach, den
der gefallene Spanier ausgestoßen hatte. Hajo fand, daß die Form der Insel an
einen Grabhügel erinnere. Als ein weißer Leichenkranz lag die Brandung um
sie her.
Windstille Kaum hatte Bolle am folgenden Morgen für die Frühkost gesorgt, da kam Diede Dudes und erzählte, daß er an Leebord zwei Segel sehe. Die Maats verbrannten sich die Zunge in der Eile, ihre Schale glühheißen Kaffee leerzuschlürfen. Die Marssegel wurden beigesetzt, und man hielt auf die beiden Schiffe zu. Beim Näherkommen zeigte es sich, daß es die »Nieuw-Zeeland« und die »Enkhuizen« waren. Das war eine Überraschung! Man grüßte dreimal mit der Flagge, und auch an Bord der ändern Schiffe schien man hocherfreut über das Wiedersehen. Bontekoe befahl, die Jolle zu Wasser zu lassen. Der Erste Steuermann und er stiegen die Leiter hinab. Die Maats warfen die Riemen aus und ruderten nach der »Nieuw-Zeeland«. »Seid ihr auch an Land gewesen?« schrien sie hinauf, als die Herren in der Kajüte waren. »Ja, wir wollten auf Maio Wasser einnehmen. Aber die Specken haben geschossen. Zwei von uns haben dran glauben müssen, Langer Harm und Ysbrants Dircksz mit den Sommersprossen.« Die Schiffe steuerten gemeinschaftlich wieder südwärts. Aber eines bösen Morgens fielen die Segel schlaff hernieder; träge schwamm man auf dem spiegelglatten Wasser. Die Hitze brachte das Pech in den Deckfugen zum Schmelzen. Die Matrosen wußten sich vor Langeweile keinen Rat. Überall war es gleichmäßig brühwarm, das Holz brannte einem unter den Füßen. Den halben Tag tummelten sie sich im Atlantischen Ozean herum, die Ohmes. Sie sprangen vom Bugspriet aus ins Wasser, tauchten unter dem Schiff durch, planschten und paddelten und kletterten dann an der Strickleiter wieder in die Höhe. Aber fünf Minuten später waren sie wieder ebenso erhitzt wie zuvor. Ihre Haut schälte sich um die Wette. Die Jungen wurden beschäftigt. Während die Ohmes keinen Finger rührten, mußten sie putzen, putzen und nochmals putzen. Aufwischen und schrubben gehörte auch dazu. Wenn die Sonne nicht schon so verflixt gestrahlt hätte, hätte Berentsz die gewiß auch noch aufpolieren lassen. Als der Bootsmann es satt bekam, den ganzen Tag hinter den putzenden Schiffsjungen her zu sein, brach auch für diese armen Aschenbrödel eine Zeit unbeschränkter Freiheit an. Rolf machte dankbaren Gebrauch davon, indem er bei Vater Langjacke, der fließend Malaiisch sprach, weiterbaute auf dem Grundstein, den Bolle gelegt hatte. Der Bader bekam immer mehr Freude an seinem eifrigen Schüler. Er staunte über das Wissen, das Rolf in so kurzer Zeit aus den Büchern über Heilkunde geschöpft hatte, fing an, ihm einen Begriff vom Stand und Wesen der Fixsterne und Planeten zu geben, und lehrte ihn einen Gradbogen machen. Rolf nahm auf wie ein Schwamm, ja, er trieb den würdigen Bader manchmal gar sehr in die Enge dadurch, daß er mehr zu wissen begehrte, als Vater Langjacke ihm erzählen konnte. Hajo spielte Geige, und es ging Harmen wie Vater Langjacke; sein Schüler wuchs ihm über den Kopf. »Kannst du den Wind nicht damit locken, Hajo?« fragte Rolf im Vorbeigehen. »Du kannst es schon ausgezeichnet.« Hajo hielt im Fiedeln inne. »Findest du?« Beifall aus Rolfs Munde war ihm mehr wert als die übertriebenen Lobpreisungen zehn ausgewachsener Matrosen. Padde teilte diesmal ausnahmsweise Rolfs Meinung. Vor allem, wenn Hajo ganz langsam und mit Trillern spielte, nickte er gerührt. »Ja — ja«, sagte er dann.
Außerdem erklärte er unumwunden, daß ein Schiff ein nutzloses Ding sei, wenn kein Wind wäre.
Niemand widersprach ihm.
Fuuiiiiit...! Ein Windstoß, herrlich auffrischend! Die Ohmes liefen johlend hin und her. Flupp,
weg war der Wind wieder!
Die Ohmes gaben die Hoffnung noch nicht auf. »Warte nur!« trösteten sie einander. »Das war
der Anfang. Gleich kommt mehr.«
Aber es kam nicht mehr. Hin und wieder, nach Stunden vollkommener Windstille, kräuselte ein
vereinzelter Luftzug die Wasserfläche. Nach solch einer kurzen Erfrischung drückte die Hitze
noch mehr als zuvor.
Drei Tage später kam von Osten her eine große, dunkle Wolke heraufgezogen. Sie warf einen
schwarzen Schatten vor sich her übers Wasser, verdüsterte binnen einer Stunde den ganzen
Himmel. Totenstille.
Spannung bei den Schiffsbewohnern. »Eine Windhose!« flüsterte man. Trotz des Halbdunkels
brütete eine Hitze, die den Atem versetzte.
Plötzlich ein Windstoß! Noch einer! Noch einer! Die Segel zerrten an den Tauen, fielen
klappernd wieder nieder, rissen aufs neue daran, daß die Rahen quietschten, fielen launisch
wieder herunter. Da prasselte ein Regen nieder, so heftig, daß alle pitschnaß waren, bevor sie es
wußten. Die Wasserstrahlen trommelten auf die hölzernen Deckplanken, daß einem das Hören
verging. Die Matrosen jauchzten vor Vergnügen. In Trögen, Segeln und Kübeln wurde das
Wasser aufgefangen. Man brauchte nur etwas hinzuhalten, und schon war es voll.
Mit einem kräftigen Wirbel schloß der Regen, ganz plötzlich. Kein Tröpfchen fiel mehr. Die
Sonne drang wieder hervor. Was eben noch troff vor Nässe, war in wenigen Augenblicken
knochentrocken. Stille, vollkommene Stille. Brennende Sonnenstrahlen fielen senkrecht auf das
Schiff.
Am Nachmittag wiederholte sich der Spaß, am nächsten Tag dreimal. Aber mit alledem kam
man keinen Fadenbreit vorwärts.
Endlich begann es wirklich zu wehen, aber der Wind tanzte wie ein Kreisel, als wäre er
betrunken. Man war ohne Aufhören mit dem Umwerfen der Segel beschäftigt.
Wunderlich waren die Nächte. Dann schien die Welt ein bis zum Zerspringen gefülltes
Schatzkästlein. Das Gold der Sterne tropfte in das Wasser, das selbst schon flüssiges Gold war.
Der Schaum, der vor dem Bug herspritzte, war lauteres Silber; Milliarden Edelsteine stoben nach
allen Seiten. Der Mond schien das wundersame Geheimnis all dieser Pracht ergründet zu haben;
ruhig glänzte er zwischen all dem bunten Gewimmel.
Albatrosse Nach drei endlosen Wochen unaufhörlichen Lavierens kam der Tag, an dem man den Äquator kreuzen sollte. Die Ohmes, die die Reise schon öfters gemacht hatten — das waren bei weitem die meisten —, taten geheimnisvoll. Um zwölf Uhr mittags erwartete man einen vornehmen Gast: Neptun in eigener Person sollte aus dem Meer auftauchen und der »Nieuw-Hoorn« einen Besuch abstatten. Eine halbe Stunde lang sollte er den Befehl über das Schiff führen, unter seinem gnädigen Vorsitz die Neulinge taufen lassen und dann mit seinem Gefolge wieder in dem salzigen Naß untertauchen. Das Mitteldeck wurde mit grünen Gewinden verziert, denselben, die schon zu Silvester so gute Dienste geleistet hatten. Gegen den Großmast zimmerte man einen Thron für den mächtigen Meeresgott und stellte einen Wasserbottich davor. Wozu der diente, durften die Grünlinge vorläufig noch nicht wissen. Darum machten einige Janmaats sich auf, um sie in den Mannschaftsraum einzusperren. Harmen nahm Padde auf seine Rechnung. Während er ihn gefangen wegführte, malte er ihm in düsteren Farben seine nächste Zukunft aus. Padde jammerte Himmel und Erde zusammen. Die ändern ließen sich lachend einsperren. Aber bei den meisten war es die Fröhlichkeit des altbekannten Bauern, der Zahnweh hatte. »Komm, Padde, schrei nicht so! Wird schon nicht so schlimm werden.« »Schlimm? Wenn wir dreimal gekielholt und eine Stunde lang mit dem Kopf unter Wasser gehalten werden?« Es schlug acht Glasen. Die Tür des Mannschaftsraums wurde aufgeschlossen. Draußen erwartete die Grünlinge eine doppelte Reihe Ohmes, die sie mit papierenen Klappern nach der Erhöhung trieben, wo der greise Neptun bereits saß, umgeben von seinem ganzen Hofstaat. Der Schiffer und der Erste Steuermann waren an seiner Seite. Neptun trug einen würdigen, mit papierenen Fischen beklebten Mantel, und seine Hand umklammerte einen gefährlichen Dreizack, an den ein Stockfisch gespießt war. Seine Diener hatten Masken auf, mit spitzer, langer Nase und großen, grünen Fischaugen. In ihre roten Haare war noch Tang verwickelt. Einer von ihnen wartete mit einer großen Schere bei dem Wasserbottich, um die Grünlinge kahl zu schneiden. Er trug die rotgewürfelte Unterhose von Harmen van Kniphuizen. Die ändern standen mit vollen Pützen bereit zum »Taufen«. Es wurde nicht gezaudert. Ohne Erbarmen packten die Diener des Neptun die Grünlinge beim Schlafittchen, stießen sie Mann für Mann in die Tonne und erfrischten sie zu allem Überfluß noch mit einer Pütze Wasser. Dann wurden sie durch den rotgewürfelten Lakaien des Fürsten Neptun von ihrem Haarschopf befreit. Die Flocken stoben umher. Schmerzliches Aufbrüllen der Schlachtopfer ließ vermuten, daß die Schere manchmal ausrutschte. Als alle Grünlinge gehörig kahl waren und das Wasser ihnen aus den Kleidern troff, erhob sich Neptun mit königlicher Gebärde von seinem Sitz und sprach: »Bringt mir den Bottler herbei!« Da kam der Schielige schon an, noch rot vom Zapfen. »Was befehlen Eure Majestät?« »Daß du den Kerlen eine Runde einschenkst, Mundschenk.« »Hoch König Neptun!« brüllten die Ohmes. »Zu Befehl, Majestät!« Und der Schielige verschwand, fortgetrieben von einer Schar eifriger Matrosen. Bald kam er mit seinen Helfern wieder zurück, ein paar Fäßchen Bier vor sich herrollend. Mit Hurrageschrei wurden die angezapft. Dann hoben die Maate die Krüge in die Höhe, tranken auf die Gesundheit Neptuns, des Schiffers und des Bootsmannes, auf den Äquator, auf Holland und
auf Java, auf die »Nieuw-Hoorn«, auf eine glückliche Heimkunft, auf günstigen Wind und außerdem auf alles, was man nur hochleben lassen konnte. Dann kam der Abschied. Neptun drückte dem Schiffer die Hand, übergab ihm feierlich wieder den Befehl über die »Nieuw-Hoorn« und ließ sich im Triumph nach dem Fallreep geleiten. Er wünschte allen zum letzten Male glückliche Reise und tauchte dann mit seinen Dienern in die Fluten zurück. Eine Viertelstunde später kam der Bootsmann Folkert Berentsz mit nassen Haaren, gerade als hätte auch er sich einer Linientaufe unterzogen, an Deck gestoben. »Donner und Blitz!« fuhr es heraus. »Was hat der Krimskrams da zu bedeuten? Weg damit! Wo stecken denn die faulen Bengels? Vorwärts! Scheuern!« Südostwind. Man hielt Kurs oberhalb der Abreojos, einer Gruppe niedriger, felsiger Eilande an der Küste von Brasilien. Als man in ihre Nähe kam, flaute der Wind jedoch ab, so daß man befürchtete, die Inseln nicht umsegeln zu können. Wenn das nicht möglich war, sah es schlimm aus, denn auf den Abreojos war nichts zu holen, und man sehnte sich nach frischen Nahrungsmitteln. Zu lange gepökeltes Fleisch essen, brachte Gefahr mit sich; die Ostindienfahrer hatten viel mit Skorbut zu kämpfen. Aber in der Nacht wurde der Wind wieder stärker, und mit knapper Not glückte es, die Inseln zu umsegeln; man strich so dicht daran vorbei, daß man mit bloßem Auge die Felsen im Mondlicht aufragen sah. Das Schiffsvolk wurde mit spanischem Wein bewirtet, eine Deckelkanne für jeden Tisch von acht Mann. Nun wurde der Steven nach einer Gruppe kleiner Inseln gerichtet: Tristan da Cunha. Aber man bekam sie nicht zu sehen. Der Wind schlug um nach Nordwesten. Da stellte man den Kurs auf das Kap der Guten Hoffnung ein, um dort frische Nahrungsmittel einzunehmen. Es war allerdings noch ein tüchtiges Ende, aber der Wind schwoll fortwährend an und saß hübsch hinten im Segel. Delphinengleich schossen die Buge durchs Wasser; die Ohmes waren guten Muts. Als unsere Freunde eines Nachmittags beisammensaßen, zeigte Hajo plötzlich mit der Hand nach oben. »Seht doch nur, was für große Möwen!« Da kam, ganz hoch in der Luft, von Süden her, eine Anzahl weißer Vögel herangeschwebt. Ihr Flug mußte erstaunlich schnell sein, denn sie nahmen zusehends an Größe zu. Doch sonderbar: die langen, schmalen Flügel schienen sich kaum zu bewegen. »Albatrosse!« rief Rolf aus. »Dann sind wir dicht beim Kap.« Auf dem Vorderdeck fingen ein paar Ohmes an zu schreien: »Albatrosse! Wir nähern uns dem Kap!« Alles lief zusammen und schrie aufgeregt durcheinander. Es waren gewaltige Tiere. Nun schwebten bereits ein Dutzend hoch um die »Nieuw-Hoorn«, und aus dem Süden kamen stets neue. Sie schienen nicht zu fliegen, sie schwebten auf ihren riesigen Flügeln, an denen fast keine Bewegung zu bemerken war. Während Hajo und Rolf gespannt beobachteten, wie majestätisch die Albatrosse durch die Luft dahergesegelt kamen, wie schnell und zierlich sie sich fallenließen, wenn sie im Wasser eine Beute entdeckten, wie sie, trotz ihrer Größe, voll Anmut und ohne die geringste Anstrengung, wieder aufstiegen von der Wasserfläche, ihre Beute fest umschlossen in den starken Klauen, waren auf dem Achterdeck drei Männer mit einer sonderbaren Arbeit beschäftigt. Der Hinkefuß, der am Tag der Ausfahrt Gerrit den Hals hatte umdrehen wollen, schnitzte ein Stück Holz von Handbreite, überzog es mit Rinderfett, band das Hölzchen an eine lange Schnur und warf es über Bord. »Nun wollen wir mal abwarten!« sagte der Hinkefuß. »Abwarten«, bestätigte sein pockennarbiger Kamerad. »Ob sie Feinschmecker sind? Hehehe!« grinste der kleine Schieitjens Blauw. Zu dreien, vieren zugleich schossen die Vögel aus großer Höhe auf die Lockspeise herunter. Der behendeste
schnappte zu — und war gefangen. Die Männer schrien vor Vergnügen. Zu dritt holten sie die Leine ein. Das ging nicht so leicht. Das Tier flatterte mit den Flügeln, flog vom Wasser auf und wollte wieder in die Wolken. Aber die Übermacht war zu groß. Mit ausgerecktem Hals, den blutigen Schnabel weit geöffnet, wurde es herabgezogen. Hilflos taumelte es an Deck, schlug wild mit den Riesenflügeln. »Kommt her! Seht es euch an!« rief der Pockennarbige. Von allen Seiten kamen die Ohmes herbei. »Was für ein prachtvolles Tier!« Boutjens — so hieß der Hinkefuß — fühlte sich durch die allgemeine Anteilnahme geschmeichelt. »Wartet nur! Dann sollt ihr was sehen!« Er zog sein Messer und stellte sich hinter den Vogel, der sich, als ahne er die neue Gefahr, mit einem schmerzlichen Ruf scheu duckte. Dann ließ Boutjens sich plötzlich mit den Knien auf die beiden gespreizten Flügel fallen und schnitt dem Tier mit einer schnellen Bewegung die Gurgel durch. »Hättet ihr nicht gedacht, was?« wieherte er, während er wieder aufsprang und seine blutigen Hände und Handgelenke an seiner Hose abwischte. Tragisch war es anzusehen, wie das prächtige Tier sich die fleckenlos weißen Federn rot färbte in seinem wilden Ringen mit dem Tod. Boutjens sprang mit den ändern hastig zur Seite, um einem Schlag der mächtigen Flügel auszuweichen. »Kann man das Fleisch essen?« fragte Hajo, dem es Mühe kostete, dem Hinkefuß nicht zu Leibe zu gehen. Boutjens sah mürrisch auf, als er Hajos Stimme erkannte. Er spuckte aufs Deck und kehrte dem Jungen, ohne Antwort zu geben, den Rücken zu. »Essen?« fragte einer der Matrosen. »Aber nein, das Fleisch schmeckt tranig.« »Wir fangen sie nur so zum Spaß«, brüstete sich der Pockennarbige. »So«, sagte Hajo. »Aber wenn du es wagst und noch einen fängst...« Hajos Fäuste ballten sich. Der Hinkefuß stieß ein rauhes Lachen aus; man fühlte seinen Haß hindurch. Hajo wurde beim Arm ergriffen. Es war Rolf. »Geh mit mir, Hajo! Sei nicht unvernünftig! Wir werden seine Absichten auf andere Weise durchkreuzen.« Und er zog Hajo mit sich nach der großen Kajüte. Boutjens sah ihm mit dunklem Blick nach. »Sie gehen zum Schiffer. Ich würde ihnen gern das Genick umdrehen, aber man muß obendrein vorsichtig sein, daß man sich nicht die Finger verbrennt.« »Komm, Boutjens«, sagte Blauw, »wir wollen noch einmal auswerfen!« Da stand Padde vor ihnen. »Wenn ihr das tut, kriegt ihr von mir eine Tracht Prügel.« Boutjens war verblüfft. »Was sagst du, Frechdachs?« »Ich sage, daß du von mir vertobakt wirst, wenn du es wagst, noch eins von den schönen Tieren zu ermorden. Verstehst du das, du Tierquäler?« Dicke Tränen schossen aus Paddes Zwinkeräuglein, seine Stimme zitterte vor innerer Bewegung. »Da flennt einer um so 'n bißchen Blut!« höhnte Boutjens. »Muttersöhnchen!« Aber schwupp! hatte er von dem Muttersöhnchen eins hinter die Ohren, das nicht von schlechten Eltern war. »Das ist eine!« rief Padde. »Und das ist noch eine!« Fluchend und tobend kam Boutjens auf Padde zu, aber zum Glück für den Bottlersmaat nahmen die Ohmes ihn in Schutz. Dabei wollte Padde selber seinen Vorteil nicht einsehen. »Laßt mich los! Er soll sein Fett haben!« »Ja, laßt ihn los!« zischte Boutjens. »Er bittet doch selber darum.« Aber als die Maats nicht auf seinen Vorschlag eingingen, wandte er sich seinen beiden Getreuen zu. »Wir wollen man kein Wort weiter verlieren. Her mit dem Talg!
Wir werfen noch einmal aus.«
»Hör lieber damit auf, Hinkebein!« rieten die Ohmes.
»Und warum?« fragte Boutjens. »Auf der vorigen Reise habe ich mindestens
ein Dutzend gefangen. Es sind hübsche Tiere.«
»Laßt mich los!« jammerte Padde. »Ich will dem Schurken . . .«
Da kam Hilke Jopkins daher. Ohne ein Wort zu sagen, riß er Boutjens die
Schnüre aus der Hand und steckte sie in die Hosentasche. »Befehl vom Schiffer:
es dürfen keine Albatrosse mehr gefangen werden.«
»Oh, der hat uns verklatscht!« sagte der Hinkefuß mit verbissener Wut. »Den
werde ich . ..«
Aber da legte der lange Friese eines seiner Händchen auf Boutjens Schulter.
»Ich meine es gut mit dir«, sagte er, während der Hinkefuß sich unter seinem
Griff wand. »Du läßt ihn in Ruhe!«
Mit einer Verwünschung verschwand Boutjens im Mannschaftsraum.
An diesem Nachmittag bekam man das Kap in Sicht. Aber die Freude hierüber war nicht so groß
wie sie hätte sein können, denn der Wind wehte so steif aus dem Westen, daß man unmöglich an
Land gehen konnte. Die See ward zusehends bewegter, die Schiffe tanzten tüchtig. Es wurde
Schiffsrat gehalten auf der »Nieuw-Zeeland«.
Nach reiflicher Erwägung beschloß man, weiterzusegeln. Alles Schiffsvolk war noch gesund, es
herrschte vorläufig auch noch kein Wassermangel. Am 12. Mai, also vier und einen halben
Monat nach der Abreise aus Holland, umsegelte man das Kap und bog darauf um nach
Nordosten. Bis Terre de Natal behielt man das Land in Sicht. Es war klares Wetter; man
unterschied deutlich die zahlreichen Felsenplatten und die hohen Kegel des Drachengebirges,
dessen Spitzen oft bis in die Wolken reichten.
Die »Enkhuizen« war bestimmt, die Küste von Koromandel zu befahren. Darum schien es dem
Schiffer das beste, den Kanal von Mozambique zu durchkreuzen, um auf den Comorischen
Inseln, westlich von Madagaskars Nordspitze, Nahrungsmittel einzunehmen. Bontekoe und
Pieter Thysz von der »Nieuw-Zeeland« nahmen Abschied von dem Befehlshaber der
»Enkhuizen«. Die Herren tranken ein Glas Wein auf die glückliche Ankunft aller drei Schiffe.
Eine Stunde später sandte die »Enkhuizen« drei Salutschüsse übers Wasser, die sogleich
beantwortetwurden, und wich von den beiden ändern Ostindienfahrern ab. Die Segel wurden
kleiner und kleiner, dann fiel die Dämmerung herab und entzog sie dem Auge. Bontekoe und
Pieter Thysz nahmen den Kurs südlich um Madagaskar.
Eines Nachmittags hing die Flagge der »Nieuw-Zeeland« auf Halbmast. »Ein Toter«, sagten die
Maats von der »Nieuw-Hoorn« zueinander, während sie über die Reling hingen und
hinübersahen. Gegen Abend häufte sich auf dem Mitteldeck
der »Nieuw-Zeeland« das Schiffsvolk zusammen. Es wurde ein Psalm gesungen.
Feierlich tönte der Klang so vieler Männerstimmen über das Wasser herüber.
Dann wurde ein Brett mit einem bedeckten Körper über die Reling geschoben.
Der Körper glitt ins Wasser und sank sofort in die Tiefe. Zwei Kanonenschüsse, und die Flagge
schoß wieder in die Höhe.
Aber zwei Tage später hing sie von neuem auf Halbmast. Da begriffen die
Männer der »Nieuw-Hoorn«, daß man an Bord der »Nieuw-Zeeland« mit dem
mitleidlosen Feinde kämpfte: dem Skorbut.
Am Tag darauf stattete Pieter Thysz dem Bontekoe einen Besuch ab. Der Braunfisch war
verärgert und gereizt durch den schlechten Zustand auf seinem Schiff und wurde sehr heftig, als
er erfuhr, daß Bontekoe seinen Kurs zwei Strich nördlicher zu nehmen gedachte, als ihm, Pieter
Thysz, gutdünkte. Rot vor Zorn segelte er aus der Kajüte, bahnte sich unsanft einen Weg durch
eine Schar verblüffter Matrosen, die schon eine Zeitlang seinem Gepolter gelauscht
hatten. »Fahre, wohin du willst!« schrie er. »Meinetwegen zur Hölle!«
Bontekoe war ruhig geblieben, wie seine Leute das von ihm gewohnt waren.
»Jeder nach seiner Überzeugung! Ich wünsche Euch glückliche Reise.«
»Es soll mich wundern, wenn ich auf der Reede von Bantam nicht eine Ewigkeit warten muß,
bevor die >Nieuw-Hoorn< hereinkommt!« donnerte Pieter Thysz ihm zu.
»Ich werde dir das Warten angenehm machen, indem ich dir gleich bei deiner
Ankunft mit der Jolle ein Fäßchen Tokaier bringen lasse«, war Bontekoes
freundliche Antwort.
Die Ohmes stießen einander an. »Das sitzt«, flüsterte Floorke.
»Glückliche Fahrt!« schnaubte der Braunfisch. Dann flog er gleich einer Katze
das Fallreep hinab.
Die Männer in der Jolle unten sprangen noch schneller in die Höhe als sonst.
Sie stießen ab und ruderten, als hinge ihr Leben daran. Aber Pieter Thysz
ging es noch nicht schnell genug; er packte einen der Riemen, stieß den Maat, der
daran saß, ohne viele Worte beiseite und ruderte, daß das Ruder knirschte.
Die Ohmes von der »Nieuw-Hoorn« feixten. »Ein komischer Kauz!«
Bontekoe konnte ebensowenig ein Lächeln unterdrücken. »Doch ein wackerer
Schiffer, Leute!« sagte er.
Nach dem Abendessen ging die Stimmung in allgemeine Bedrücktheit über. Aus Gewohnheit
ging das Schiffsvolk auch heute abend wieder an Deck, um unter dem leuchtenden
Sternenhimmel gesellig beieinander zu sitzen, aber die Unterhaltung wollte nicht recht in Fluß
geraten. Schweigend lauschten sie dem Rauschen des Bugwassers. Es waren an diesem
Nachmittag drei Mann erkrankt.
Der gefürchtete Feind Im Zeitraum von ein paar Tagen stieg die Anzahl der Kranken auf fünfzehn. Es war da im Mannschaftsraum ein Ächzen und Stöhnen, daß niemand einschlafen konnte. Und jeden Tag kamen Kranke dazu. Vater Langjacke griff sich mit den Händen ins Haar, ersann allerlei Tränklein, die Erleichterung bringen sollten. Manchmal half es auch ein wenig, aber von wirklicher Genesung konnte natürlich keine Rede sein, solange die Ursache der Krankheit nicht beseitigt war: Mangel an frischer Nahrung. Lysken Cocs war am schlimmsten dran. Seine hellblauen, nun matt gewordenen Augen lagen tief in ihren Höhlen; seine spitze Nase wurde mit jedem Tag spitzer, und der Schweiß perlte in seinen strohblonden Haaren. »Ich sterbe!« seufzte er. »Erst mein Vater, dann Joppie... Wir können in unserer Familie den Skorbut nicht vertragen, weißt du.« Lysken schwieg und verriet durch ein wehes Zucken des Mundes, daß er Schmerzen litt. »Hast du Schmerzen«, fragte Harmen, der bei Lyskens Lager saß. Lysken schüttelte verneinend den Kopf. Und mit heiserer Stimme sagte er in besorgtem Tonfall: »Es ist bitter für meine Mutter, daß ich sterbe, denn ich hätte von dieser Reise einen schönen Batzen mit nach Hause bringen können.« Am nächsten Tag hing die Flagge auf Halbmast. Lyskens schmächtiger Jungenkörper wurde in einen Sack genäht und unter dem Singen eines Chorals feierlich den Wogen anvertraut. Die Kanonen wünschten dem kleinen blonden Kochsmaat glückliche Reise nach jenem Ort, an dem er keine Pein mehr fühlen sollte. Bontekoe bezahlte Harmen van Kniphuizen die volle Heuer seines verschiedenen Freundes aus. Harmen kannte Lyskens Mutter und sollte ihr das Geld geben. Heulend barg Harmes es in einem Säckchen. Die Gedrücktheit nahm täglich zu. Es gab nun schon achtundzwanzig Kranke, und doppelt so viele klagten über Müdigkeit in den Beinen. Viele liefen mit blauen Ringen unter den Augen, fahlen Gesichtern und farblosen Lippen umher. Als eines Tages fünf auf einmal ihre Koje hüten mußten, wagte Bontekoe nicht, weiterzusegeln. Zur großen Freude der Kranken wurde der Steven nach Madagaskar gerichtet, wo man Nahrungsmittel zu finden hoffte. Diede Dudes, der sich auch schon matt fühlte, kletterte nichtdestoweniger allstündlich ins Krähennest, um mit seinen geübten Augen nach Land auszuspähen. Am vierten Morgen nach dem Wenden des Stevens wuchsen hinter dem Gesichtskreis Berge auf. »Land! Land vor dem Bug!« Große Aufregung. Am Nachmittag näherte man sich dem Land. Es sah verlockend aus. Die Berge waren mit Wald bewachsen, und das Ganze machte den Eindruck der Fruchtbarkeit. Aber nun die Schwierigkeit: wie landen? Soweit das Auge reichte, nirgends eine Bucht oder ein Meerbusen, geeignet, die »Nieuw-Hoorn« aufzunehmen. Doch setzt man das Boot aus. Während die »Nieuw-Hoorn« vor der Küste auf und ab segelte, fuhr der Schiffer mit dreißig handfesten Maats und ebensoviel geladenen Musketen weg. Aber als man mit dem Boot landen wollte, erwies sich die Brandung als zu stark. Während man noch beratschlagte, was zu tun sei, kamen am Strand nackte schwarze Menschen herbeigelaufen, die in lauten Ausrufen ihre Überraschung äußerten und dann stehenblieben, mit der Hand über den Augenbrauen, um besser sehen zu können.Floorke erbot sich, ans Land zu schwimmen. Er knöpfte seine Hose ordentlich fest, schnaubte und sprang ins Wasser. Wie ein Haifisch schoß er durch die Wellen. Zweimal schlug die Brandung ihn zurück; das drittemal biß Floorke die Zähne zusammen und wußte sich durchzuringen. Seine Hose büßte er dabei ein; ebenso nackt wie die Schwarzen kroch er an Land. »Heda!« rief Floorke keuchend den erstaunten Eingeborenen zu,
die zwischen sich und diesem weißen, rothaarigen Ungetüm einen gehörigen Abstand bewahren zu wollen schienen. »Tunguu 1 doch! Könnt ihr mir vielleicht sagen, wo der Kapal2 vor Anker gehen kann? Ihr versteht doch Malaiisch?« Die Eingeborenen sperrten die Mäuler weit auf. Schön gebaute Burschen waren es, groß und schwarz wie Holzkohle, wolliges, dichtes Haar und von oben bis unten tätowiert mit Sternen und Blumenmustern. Einer kam mit langen, federnden Schritten auf Floorke zu, legte ihm seine schwarze Hand auf die Schulter und wies gen Süden. Er sagte etwas, wovon Floorke keine Silbe verstand, wies auf die »Nieuw-Hoorn« und dann nach Süden. »Ich verstehe dich bereits, mein Freund«, sagte Floorke erfreut. »Im Süden landen, was? Habt ihr auch noch was zu futtern? Makan?« Und Floorke machte eine Gebärde des Kauens und Mundvollstopfens. Der Erfolg war, daß die Schwarzen alle zu lachen anfingen. »Lach nur, wenn du gekielholt wirst!« schimpfte Floorke. Er lief wieder ins Wasser und stürzte sich in die Brandung. »Und?« fragten seine Kameraden, während sie ihn ins Boot zogen. »Im Süden — pff! können wir landen — pfF! Und meine Hose — pff! ist futsch.« »Konntest du die Menschen verstehen, Floorke?« »Sehr gut, Schiffer; ich verstehe alle Sprachen.« Gen Süden! Man fuhr dicht an der Küste entlang, ohne eine Bai zu entdecken, tagelang. Die Stimmung im Mannschaftsraum sank wieder gewaltig. Die Ohmes verloren das Vertrauen in Floorkes Sprachkenntnisse. Die Zahl der Kranken stieg bis über die Vierzig. Padde bekam Arbeit mit der Pflege des Bottlers, der sich auch nicht fühlte, wie es sich gehörte. Er selbst, Hajo und Rolf waren noch gesund. Eines Morgens war das Land außer Sehweite geraten. Man segelte südlich bis auf neunundzwanzig Grad, aber als sich immer noch kein Land, geschweige denn Floorkes Ankerplatz zeigte, wandte man den Steven wieder und fuhr in nordöstlicher Richtung bis auf siebzehn Grad. Von dort aus wurde der Kurs eingestellt auf die Seestraße zwischen Mauritius und Reunion, um eine dieser beiden Inseln anzulaufen. In diesen Tagen hatte man den zweiten Toten: Boutjens. Als man ihn am nächsten Morgen über Bord gleiten ließ, sah man unter Wasser den weißen Bauch eines großen Haifisches leuchten; mit einem Ruck wurde Boutjens Körper in die Tiefe gerissen. Ein Schrei des Entsetzens stieg aus der Gruppe von Männern auf, die gerade ihren Choral beendet hatten. Als am folgenden Morgen Schwarzer Gys, der brave Schmied, auf dieselbe traurige Weise von seinen zahlreichen Freunden Abschied nahm, schössen drei Haifische herzu. Ihr Spürsinn führte sie auf den richtigen Weg. Auch der folgende Tag beanspruchte seine Opfer. Diesmal ließ man alles in der Stille geschehen, um vor den Kranken nicht unnötig von dem zu sprechen, was vielleicht ihrer aller wartete. Nach zwei Tagen bekam man die Ostspitze von Reunion in Sicht, ließ das Schiff dicht an der Küste entlanglaufen und lotete. Erst auf vierzig Faden Tiefe erreichte das Senkblei den Grund; die Küste war also sehr steil. Trotzdem beschloß Bontekoe, die Anker fallen zu lassen. Mit pochendem Herzen vernahmen die Kranken im Mannschaftsraum das Rasseln der Ankerwinde und darauf den schweren Fall ins Wasser. Endlich! Sie kamen aus ihren Kojen an Deck gekrochen und flehten den Schiffer an, sie an Land zu setzen. Bontekoe sah zögernd nach seinen armen Leuten. An dieser steilen Küste konnte die »NieuwHoorn« leicht abtreiben, dann würde man von der Hälfte des Schiffsvolks getrennt sein. ( 1 Tunguu: wartet 2 Kapal: Schiff)
»Mut, Leute!« sagte er darum. »Wir wollen erst mal das Boot ans Land schicken, um zu sehen, ob es da was zu holen gibt.« Eine Viertelstunde später fuhr Bontekoe mit zwanzig Mann an Land. Sie zogen das Boot ein Stückchen den Strand hinauf, um zu verhindern, daß die wachsende Flut es mitreiße, und begannen ihre Entdeckungsreise. Sogar die hochgespannten Erwartungen Floorkes, der bereits von ferne allerlei Herrlichkeiten zu entdecken meinte, wurden noch übertroffen. Fünfzig Ellen den Strand hinauf standen verstreute Baumgruppen, in deren Schatten sie Hunderte und aber Hunderte großer Schildkröten fanden. Der Wald hinter den Baumgruppen widerhallte von Vogelgeschrei. Aufgeregt bahnten die Männer sich einen Weg durch ellenhohe Farne, kamen dann auf eine sonnige Lichtung mit hohem Gras, das an einer Seite gänzlich niedergetreten war. In der Ferne ertönte Hufgetrappel; es schien eine Rinderherde zu sein, die sich aus dem Staub machte. Die Matrosen liefen im Schatten hoher Bäume um die Lichtung herum, spähten überall zwischen den Stämmen hindurch in das Laub, wo schreiende Sperlingspapageien lustig in den Zweigen gaukelten. Hühner flogen mit viel Geräusch vor den Füßen der Ohmes auf und trippelten zwischen wilden Ananaspflanzen mit lackroten Herzblättern gackernd im Gesträuch davon. Große, blaugraue Holztauben spähten durch die Zweige herunter. Es kostete die Maats wenig Mühe, die arglosen Tiere mit Stöcken flügellahm zu schlagen. Mit Ananas, Schildkröten und Tauben für die Kambüse kehrte die Jolle nach dem Schiff zurück. Die Kranken lagen auf dem Deck und warteten. Als sie sahen, was ihre Gefährten vom Land mitbrachten, flehten sie Bontekoe aufs neue mit gefalteten Händen an, sie doch an Land zu setzen. Bontekoe beratschlagte mit dem Kaufmann, ob er es wagen dürfe. Rolf schüttelte den Kopf. »Als Vertreter der Herren Reeder muß ich mich aufs bestimmteste einem Wagnis widersetzen, bei dem das Gelingen der ganzen Reise auf das Spiel gesetzt wird«, versicherte er. Bontekoe hörte ihn mit kaum verhohlenem Zorn an. »Als Vater meiner Matrosen kann ich mich nicht dazu entschließen, die armen Kerle vor die Haifische zu werfen«, sagte er darauf. »Und wenn die Herren Reeder sich das nicht vorstellen können, sollen sie selber mal als Schiffer eine Reise nach dem Osten machen!« Rolf senkte den Kopf. »Ich bitte festzustellen, daß ich mich widersetzt habe.« »Wollt Ihr es schriftlich haben?« fragte Bontekoe bitter. Und er ging zu den kranken Ohmes.»Jungens, helft einander in die Jolle! Ich werde euch ans Land setzen lassen.« »Es lebe der Schiffer! Hoi! Hurra! Es lebe der Alte!« Ob sie da schnell ins Boot kamen! Bontekoe ließ ihnen ein Segel mitgeben, um daraus ein Zelt aufzuschlagen, außerdem zwei gesunde Kochmaats, Öl, Essig, Kochtöpfe und Geräte. Der Schiffer stieg selber mit einem Dutzend Ruderern in die Jolle, um sie hinzubringen. Er wollte die Freude der armen Leute miterleben. Sie wußten sich vor Glück kaum zu fassen. Die Tränen standen ihnen in den Augen, als sie in dem weichen Gras zusammenkrochen. »Wir fühlen uns schon wieder halb gesund, Schifferchen!« Die anderen Maats begannen eine neue Entdeckungsreise, nun in einer anderen Richtung. Man fing etwa zweihundert Holztauben, reihte die fetten Tiere an lange Stöcke und briet sie für die Kranken und Gesunden. Ein festlicher Anblick, all die knisternden Feuer in der Dämmerung! Vorläufig, solange man nicht wußte, was diese Insel beherbergte, wurde für alle Fälle eine Wache ausgestellt. An Bord saß man auch nicht still. Einige Schildkröten, noch von der ersten Landung her, wurden mit getrockneten Pflaumen, die noch im Kielraum lagen, gekocht. Das schmeckte! Die Ohmes aßen, bis sie satt waren, schmauchten ein Pfeifchen, sahen nach den Sternen und fanden die Welt nicht mehr unwirtlich. Drei Stunden nach Sonnenuntergang kehrte der Schiffer mit seiner gesunden Bemannung zurück. Bontekoe befahl, das Boot nicht
einzuholen; er wollte in derselben Nacht eine Strecke weit die Küste abfahren, um für das Schiff einen Ankerplatz zu suchen.
Nächtliche Ruderfahrt Rolf hatte seinen Oheim angebohrt, ob Hajo und er an der Bootsfahrt teilnehmen dürften. »Tätet ihr nicht besser, in die Koje zu gehen?« hatte Bontekoe gesagt, aber dann lächelnd hinzugefügt: »Na, für diesmal!« Nun saßen sie mit dem Schiffer und ein paar Matrosen im Boot. Nur das regelmäßige Plätschern der Ruder und das Rauschen der Brandung unterbrach die nächtliche Stille. Kein Windhauch; von Segeln konnte keine Rede sein. Man kam an einen kleinen Fluß. Vergebens suchten die Matrosen ihn hinaufzurudern: ein Gewirr von Wasserpflanzen spannte sich vor den Bug und schob das Boot wieder rückwärts. An den Ufern hohe, fremdartige Bäume; die Äste umstrickten einander übers Wasser hin. So dicht war das Laub, daß man keine Daumenbreite Himmel hindurchsehen konnte; der Fluß schien aus einer finsteren Bergeskluft zu strömen. Hie und da schwirrten Glühwürmer umher. Einige Matrosen meinten in den Bäumen ein Paar leuchtende Augen zu sehen. Ein Leopard? Bontekoe ließ auf gut Glück einen Schuß darauf abfeuern. Die Wirkung war verblüffend: es klang wie tausend Musketenschüsse. Der Wald widerhallte von durchdringendem Gekreisch, Flügelschlagen, brechenden Zweigen, und neben dem Boot tauchte ein zackiger Schwanz aus dem Wasser auf, schimmernd im Mondlicht, und schlug peitschend auf und nieder, daß das Wasser nach allen Seiten spritzte. »Ein Kaiman«, sagte der Schiffer und lehnte über den Bootsrand. Die Matrosen waren pitschnaß. Schweigend rudern die Matrosen wieder. Alle Wetter, ist das brühwarm! Der Schweiß tropft von Brust und Schultern. Eins — zwei, eins — zwei...! platschen die Ruder. Allmählich geraten die rauhen Seeleute unter den Eindruck der wunderschwangeren Stimmung der Tropennacht. Sie singen nicht, sie sprechen nicht, sie lauschen beklommen dem heißkeuchenden Atem der Stille. In der Ferne grollte es auf einmal dumpf, geheimnisvoll. Dann ist es wieder still. »Was war das?« Aufs neue grummelt es. Ein Windstoß kühlt die verschwitzten Rücken der Männer so schnell ab, daß sie unwillkürlich frösteln. »Gewitter!« Niemand hat beim angestrengten Rudern sein Nahen bemerkt. »Was sollen wir tun, Schiffer?« »Weiterrudern!« Kurze Windstöße erheben sich und lassen die Bäume geheimnisvoll rauschen. Finster wird es, beängstigend finster. Die Matrosen warten, gejagt rudernd, voll innerer Unruhe auf das, was kommen soll. Flitz! Himmel und Erde gehen in Flammen auf. Die soeben noch schwarzen Wolken sind nun augenblendendes Gold, die Stämme der Bäume glänzende Saphire. Im gleichen Augenblick kracht ein Schlag, der das Boot zittern macht. Die Matrosen klammern sich an den Ruderbänken fest und sehen einander in die erschrockenen, weit aufgerissenen Augen. Dann flüchtet der Donner, brummt ganz in der Ferne grimmig nach, und ein Regen schlägt nieder, ein Regen, der eine Sintflut ist. In langen, dicken Strahlen schießt das Wasser herab. Die Matrosen schreien durcheinander; niemand, der den andern versteht. Ist auch nicht nötig; alle wissen, daß in kurzer Zeit das Boot vollgeregnet sein wird. »Ans Land!« Das ist der Gedanke, der sie beherrscht. Sie rudern aus Leibeskräften. Dann, als Wurzeln und Pflanzen es unmöglich machen, stoßen sie mit den Rudern kräftig ab von dem untiefen Boden. Sie springen an Land und ziehen die Jolle
halb auf den Strand. Dann stürmen die Männer auf einen riesenhaften Baum zu und suchen Unterschlupf unter dem Blätterdach. Über ihren Häuptern dröhnt das ohrenbetäubende Konzert des heftig niederschlagenden Regens. Sie stehen noch keine fünf Minuten darunter, da hat sich das Wasser schon einen Weg gebahnt, strömt in Rinnsalen längs des mächtigen Stammes herab, bildet kleine Wasserfälle von Blatt zu Blatt und Stromschnellen an den schrägen, haarigen Ästen entlang. Was mag das für ein Baum sein? Die Blätter sind zäh wie Leder und dick genug, um Schuhsohlen daraus zu schneiden. Die Matrosen finden nun all das Dröhnen, Donnern und Trommeln, Spritzen, Knacken und Piepsen in tausenderlei Tonarten sehr spaßig. Sie ziehen die Kleider aus, lassen das herrlich erfrischende Wasser auf die bloße Haut klatschen und machen vor lauter Vergnügen possierliche Sprünge und Rundtänze. Rrrräng! Blendendes Licht, ein Donnerschlag, als ob er die Erde zerspalten wolle. Der Boden zittert. In das Regengetöse mischt sich das Ächzen zerspleißenden Holzes. Äste werden rechts und links fortgeschleudert, und aus einem dichten Laubbogen — zwanzig Schritte von dem Baum, unter dem der Schiffer noch mit dem Bootsmann steht — entfaltet sich — hat der Teufel die Hand im Spiel? — eine schwarze Schleiergestalt. Eine Gestalt? Nein, es sind tausend,hunderttausend durcheinanderwirbelnde Gestalten, die sich, herniedertaumelnd, schreiend voneinander lösen und nach allen Richtungen entflattern. Sie haben die Form von Fledermäusen, aber ihre Fittiche sind so lang wie Hilkes Arme. »Kalongs!« rufen die Matrosen, die in Indien gewesen sind, ihren zitternden Gefährten zu. »Fliegende Hunde!« Bald brummt es nur noch in der Ferne. Im Westen heben sich zackige Blitze scharf ab von dem dunklen Himmel, glühen einen Augenblick nach wie Raketen und verblassen dann auf einmal. Plötzlich hört der Regen auf. Kein Tröpflein fällt mehr; nur unter den Bäumen spritzt und plantscht es noch. Die Matrosen kennen dies Spiel der Tropen nun allmählich. »Wir müssen weiter, Leute!« tönt Bontekoes Stimme. Das Boot wird gewendet und wieder in See gestoßen. Erfrischt und ausgeruht springen die Matrosen hinein, stoßen ab und heben die Ruder. Je eifriger man rudert, desto schneller werden die klitschnassen Kleider trocken. Der Himmel wird wieder heller; hie und da spähen gelbe und weiße Sterne durch die Wolken. Unter fröhlichem Geplauder rundert man ununterbrochen eine Stunde. Der Sandstreifen längs der Küste wird allgemach breiter. Im Ost beginnt sich die Luft zu färben. Orange, Karmin, Violett, alle Farben tropfen durcheinander. Am Lande lassen sich Vogelstimmen hören. Kreischen, Schreien, Flöten kündet den Morgen an. Und auf einmal bricht das Sonnengold hervor. Die Strahlenbündel schießen nach allen Seiten, prallen blendend gegen die Wolken. Der Dunst, der über dem Wasser hing, zieht weg. Der Lärm an Land schwillt an zu ohrenbetäubendem Schmettern. Graue, blaue, rote, schwarze, grüne Vögel flattern über und in den Wipfeln der Bäume. Es wird nicht so drückend heiß werden wie die vorigen Tage; das Unwetter hat die Luft gesäubert. Die Ohmes werden immer aufgeräumter und fangen an zu singen. Und auf einmal, nachdem man eine grünbewachsene Bucht umrudert hat, kommt man in eine prachtvolle Sandbai. Das Senkblei fliegt über Bord. Alle fürchten, daß für die »Nieuw-Hoorn« nicht genug Wasser stehen wird. Aber die Leine schießt immer weiter und — verteufelt, fünfunddreißig Faden ist es hier noch tief! Man rudert mit kräftigen Ruderschlägen in die Bai hinein, eine Bai, so göttlich schön, daß den Seeleuten das Herz federleicht wird. Hier wird unser Kasten sicher liegen. »Was sagt ihr zu der Bai, Jungens?« »Die ist geradezu zum Einstecken und
Mitnehmen, Schiffer!« Die Matrosen rudern zum Ufer, schleppen die Jolle ein Stück den Strand hinauf und marschieren los, in freudevoller Erwartung der tausend Wunder, die sie zu sehen bekommen werden. Der erste Fund ist ein großes Binnengewässer, zehn Schiffslängen vom Strand entfernt. Es ist ganz und gar durchsichtig; die Sonne macht den hellen Grund leuchten. »Wetten, daß es Süßwasser ist?« fragt Floorke. Er bückt sich, trinkt und speit voller Abscheu alles wieder aus. »Brack, was?« erkundigen sich andere. »Wie kommt ihr darauf?« erwidert Floorke. »Das Wasser schmeckt fein. Kostet bloß mal!« »Nein, wenn es so lecker ist, wollen wir es dir nicht wegnehmen«, versichern die Gefährten. Ein Stück weiter beginnen einige zu schreien: »Alle Wetter, so viel Fische!« Alle rennen hin. »Wo denn?« »Weg natürlich!« ist die gereizte Antwort. »Wenn ihr so stampft!« »Wir wollen nachher, wenn die >Nieuw-Hoorn< geborgen ist, mal das Netz durchs Wasser ziehen«, erklärte Bontekoe. »Hallo, sieh doch mal!« Verblüfft stehen alle still. Aus dem Uferwäldchen schreitet vornehm, abgemessenen Schrittes, ein rosenroter Vogel heraus. Er steht beinahe eine Elle hoch auf den Beinen, trägt auf einem langen, dünnen, eckig gebogenen Hals einen schweren, krummen Schnabel. Noch zwei kommen zum Vorschein, dann wohl ein Dutzend, halb flatternd, mit großen, leichten Schritten. »Flamingos«, sagte Bontekoe. Man verläßt den Strand. Auch hier liegen am Waldesrand, im Schatten der Bäume, zahlreiche große Schildkröten. »Hier wohnen bestimmt keine Menschen«, meint Hilke, »sonst wären die Tiere wohl scheuer.« Ohne viel Mühe bahnt man sich einen Weg durchs Unterholz. Orchideen hängen an den Stämmen. Ihre zierlichen Blüten glänzen im Halblicht des Laubes wunderlich schön gegen das dunkle Holz. Tausende kleiner, buntgefärbter Vögelchen hängen schaukelnd an den Ästen, wippen flatternd und gaukelnd von Zweig zu Zweig. Papageien mit flammendroten Schwänzen ducken neugierig die Köpfe und kreischen herzzerreißend. Manchmal fliegt einer flügelschlagend auf und macht sich unter Höllenlärm aus dem Staub. Man kommt an einen schmalen, schnellfließenden Strom, der von den Bergen südwärts in die See ausläuft. Das Wasser ist hell und schmeckt herrlich. Die Männer laufen ein Stückchen am Ufer entlang und sehen dicke Aale über den Grund kriechen. Und plötzlich schlagen alle vor Überraschung die Hände zusammen, als ein Rudel fetter Gänse, die in Bad nehmen wollen, schnatternd aus den Sträuchern herauswatschelt. »Wir gehen hier nie wieder weg, Schiffer!« rufen die Matrosen aufgeregt. Nase hat eine Gans ergriffen und dem schreienden Tier ohne viel Umstände den Hals umgedreht. Für die Kambüse. Aber dann muß er schnell machen, daß er wegkommt, denn die Gefährten des weißgefiederten Schlachtopfers kommen zischend, watschelnd, mit schlagenden Flügeln und weit aufgesperrten Schnäbeln auf ihn zu. »Leute«, sagt Bontekoe, »wir wollen jetzt umkehren und das Schiff in die Bai bringen. Es wird so ungefähr fünf Meilen von hier liegen. Wir können heute nachmittag also wieder zurück sein und noch für ein gutes Mahl sorgen.« So kehren die Matrosen wieder zum Strand zurück, wo die
Flamingos, deren Zahl inzwischen auf über hundert gestiegen ist, sie schreiend willkommen
heißen.
Nach der Sonne zu urteilen, kann es acht Uhr morgens sein. Es hat sich ein Wind aufgemacht,
und zur allgemeinen Freude kann das Segel gehißt werden. Das weiße Tuch bläht sich
ordentlich, man hißt vor lauter Vergnügen die Flagge, die im Achterkasten aufbewahrt wird.
Sieben Stunden später liegt die »Nieuw-Hoorn« an beiden Ankern sicher vertäut in der Bucht,
die einstimmig »Flamingobai« getauft wurde.
Das Füllhorn der Tropen Das wurde ein Fest! Man brauchte nur die Hände auszustrecken, und man hatte Wildbret, soviel man wollte. Sechs Mann machten sich mit dem Netz auf und zogen es durch das bracke Binnengewässer. Im Handumdrehen hatten sie das Netz voll. Harmen, Rolf und Hajo gingen an den kleinen Fluß, in dem es von fetten Aalen wimmelte. Andere gingen auf den Taubenfang. Die hübschen graublauen Vögel wurden ohne die geringste Mühe zu Dutzenden erbeutet. Es war rührend mitanzusehen, wie einige von ihnen ihr Leben daran wagten, die armen Gefangenen zu befreien. Auch die großen Papageien und die Sperlingspapageien setzten sich tapfer für ihre Gattungsgenossen ein, flogen kreischend um die Köpfe der Männer, die einen Krummschnabel zu packen gewußt hatten. Dem einen oder anderen Matrosen wurde es denn auch zu ungemütlich, und er ließ seine Beute wieder los. Sie konnten so niederträchtig beißen. Padde war zu aufgeregt, um sich auf eine einzige Sache beschränken zu können. Er erschien überall auf der Bildfläche, wo seine Hilfe nicht verlangt wurde. »Was macht ihr da?« fragte er die Matrosen, die den Auftrag hatten, die leeren Wassertonnen aus dem Flüßchen zu füllen. »Wasser einnehmen, zum Zähneputzen. Hilf mit!« Doch Padde drehte sich hochmütig um und zog zum Strand, wo ein Häuflein Matrosen damit beschäftigt war, Schildkröten zu fangen, eine wenig spannende Jagd, da die schwerfälligen Riesen ohne den geringsten Versuch zur Flucht sich damit begnügten, Kopf und Füße in der hörnenen Festung unterzubringen. Man kehrte sie mit Stöcken um und schleppte sie zu Bolles Kambüse. Padde beschloß, auf eigene Faust an die Arbeit zu gehen. Aber während er das schwere Tier, das er sich als Schlachtopfer erkoren hatte, umzuwenden suchte, entdeckte er unter der Schildkröte ein Loch im Sand, und in dem Loch lagen zahlreiche kugelrunde Eier, so groß wie die einer Taube. Er begann zu schreien, als ob er am Spieß stäke: »Kommt doch her, seht doch bloß!« Die Matrosen eilten herbei und waren ebenso erstaunt wie Padde. Aber Gerretje, ein Matrose mit einem langen Hals und einem runden Kopf darauf wie eine Kegelkugel, hatte schon zweimal Bantam und Sumatra besucht, grabschte, ohne ein Wort zu verlieren, die Eier aus dem Nest und barg sie in seiner Mütze. »Gib her!« rief Padde. »Das sind meine Eier!« »Bleib ruhig noch dabei und warte ein Weilchen!« riet Gerretje ihm. »Sie legt dir noch einmal so viel dazu.« Gerretjes Behauptung schien etwas übertrieben und war es auch. Padde glaubte ihm nicht im geringsten. Und um das zu beweisen, gab er Gerretje, der sich gerade feixend über die letzte Handvoll Eier bog, einen tüchtigen Klaps auf die volle Mütze. Dann machte er, daß er wegkam, während Gerretje schalt und tobte und sich das Rührei aus Nacken, Ohren und Augen zu wischen versuchte. Man hielt an jenem Mittag ein Festmahl ab. Tauben und Gänse wurden am Spieß gebraten und dabei mit Schildkrötenfett beträufelt, so daß sie glänzten und knusprig braun wurden. Bolle bereitete für sich selber einen Flamingo, von dem er nur die dicke, fleischige Zunge, die den ganzen Unterschnabel füllt, verzehrte. Nach Bolles Miene, vergnügtem Schmatzen und Fingerablecken zu urteilen, mußte eine Flamingozunge ein besonderer Leckerbissen sein. Aale und andere Fische schwammen in zischendem, brodelndem Fett — und dann in die Mägen der Abenteurer. Ein Berg herrlicher Früchte lag aufgestapelt zum Nachtisch. Obendrein hatte
Harmen noch einen gewaltigen Pudding bereitet aus Mehl, Ananasscheiben, Kokosmilch und Beerentunke. Während des Mahles, das dreimal so lange währte wie sonst, brach die Dämmerung herein. Man schlug Zelte auf für die Nacht. Hajo, Rolf und Padde hatten gemeinsam auch ein Stück Segeltuch zu erobern gewußt. Sie breiteten Decken auf die Erde aus, erhöhten das Kopfende ihres Lagers mit weichem Gras und fühlten sich wie in einem Palast. Die Matrosen, die ihr Zelt fertig hatten, zündeten ein Pfeifchen an und schauten nach den Sternen. Harmen holte seine Fiedel und spielt abwechselnd mit Hajo, und die Matrosen wußten wirklich nicht, wer schöner spielte. So kam die Nacht heran, die Lachen und Plaudern schließlich verstummen ließ.
Seltsame Tiere Der nächste Tag brachte zahlreiche Abenteuer. Frühmorgens nahmen Hajo, Rolf und Padde ein herrlich erfrischendes Seebad. Jauchzend tanzten sie den wuchtigen Rollern entgegen, die den Strand hinaufliefen, warfen sich in die Höhlung einer umschlagenden Welle, schössen flink darunter durch und kamen mit triefenden Haaren wieder herauf, gerade noch zur Zeit, um Atem zu schöpfen für das Untertauchen in eine neue Woge. Als die Jungen genug getollt hatten, ließen sie sich in den Sand sinken, von der Sonne trocknen und braun brennen und machten Berechnungen über die Dauer der fernen Reise. »In einem halben Jahr sind wir da«, schätzte Hajo. »In drei Monaten«, meinte Rolf. Padde jedoch sprang unversehens auf und starrte Hajo und Rolf mit großen Augen an. »Ein Erdbeben!« stammelte er. »Ich habe deutlich gefühlt, daß sich die Erde unter mir bewegte.« »Das wird wohl Einbildung gewesen sein, Padde.« »Dann ist meine Nase auch Einbildung!« Durchaus nicht überzeugt legte Padde sich wieder hin. »Wie lange die Reise noch dauert?« fragte er nach einigem Schweigen. »Ich denke ...« Aber wiederum wippte er, wenn möglich noch schneller als zuvor, in die Höhe und starrte mit entsetzten Augen nach der Stelle, auf der er gelegen hatte. Da begab sich etwas sehr Merkwürdiges: der Sand teilte sich, bröckelte, und — ein fahlschwarzes Köpflein guckte heraus. Ein paar schwarze, stumpfe Liliputpfötchen schoben den Sand weiter beiseite, und danach zeigte sich ... »Eine junge Seeschildkröte!« rief Rolf. Es war ein hübsches Tierchen, nicht viel größer als eine Walnuß, und der Schild war noch ganz weich. Hilflos fuchtelnd mit den schwerfälligen kleinen Schwimmpfoten, drehte es fortwährend das Köpfchen mit den zwei glänzenden, weltweisen Perlenäugelchen und das gefurchte, magere Altmännerhälschen, als wolle es das vom Körper abschrauben.Sieh, da spähte noch ein Köpfchen aus dem Sand! Und noch eins! Die Jungen legten das Nest bloß. Wie es da wimmelte von diesen Tierchen! »Ich nehme ein paar mit nach Hoorn!« rief Hajo. »Wir wollen sie zählen«, schlug Rolf vor. Das taten sie und kamen auf einhundertdreißig Eier und achtundzwanzig junge Schildkröten, halb oder ganz ausgekrochen. »Du hättest noch ein bißchen sitzenbleiben sollen, Padde«, meinte Rolf. »Die Hälfte ist noch nicht ausgebrütet.« »Ja—ha!« grinste Padde. »Aber wenn ich nun später in Hoorn erzähle, daß ich Schildkröten ausgebrütet habe, dann wirst du sehen, daß kein Mensch es glaubt.« »Das ist denn auch nicht ganz wahr«, sagte Rolf; »du hast bloß der Sonne ein wenig geholfen.« Padde sah erstaunt auf. »Der Sonne?« »Was dachtest du, wer sie ausbrütet? Die Alten sind nicht so sehr besorgt um die Eier. Sie graben ein Loch, legen da die Eier hinein, kratzen es dann zu und verschwinden wieder im Wasser. Die Sonne muß das übrige tun.« Die Hälfte der Matrosen zog an diesem Morgen auf Erkundungsfahrten aus. Auch die drei Jungen beschlossen, etwas tiefer ins Land einzudringen. Die Sonnenuhr, die am Tag vorher am Strand angebracht worden war, wies noch nicht acht Uhr, als sie sich aufmachten. Sie wollten
dem Flüßchen stromaufwärts folgen und liefen hintereinander das schmale Ufer entlang. Das niedrige Ufergebüsch ging in hohe, dichte Bambuswälder über. Immer üppiger wurde der Wald und immer dunkler. Lianen, zu unentwirrbaren Netzen verstrickt, versperrten oft den Weg; die untersten Ausläufer schleiften in dem schnell strömenden Wasser. Die Luft im Wald war heiß, feucht und erfüllt von dem süßen Duft von tausend Orchideen, deren stille Pracht berauschte. Hin und wieder kamen die Jungen an eine Lichtung, dann leuchtete ihnen ein nie gekannter Blumenreichtum entgegen. Farbige Schmetterlinge in der Größe einer Hand und zahllose bunte Vögel flatterten um die verlockenden Kelche. Und vor ihnen schimmerten, zwischen den Bäumen hindurch, tiefviolette Berge. Die Jungen fühlten es in den Beinen, daß sie den ganzen Weg gestiegen waren. Bei einem Seitenbach angekommen, beschlossen sie, diesem zu folgen. Sie krochen zwischen Bäumen und Baumfarnen hindurch und standen auf einmal vor einem großen Weiher, über dem ein dichter Nebel hing. »Ein heißer Brunnen!« rief Rolf aus. »Heiß?« fragten Hajo und Padde und steckten ihre Hand ins Wasser. Aber sogleich zogen sie ihre Finger wieder zurück. »Kochend!« »Kommt das so einfach aus der Erde?« fragte Padde mißtrauisch. »Das muß wohl so sein«, sagte Hajo. »Nirgends ist ein Zufluß, und da drüben läßt der Teich doch Wasser ab.« »Der Boden ist hier vulkanisch«, erklärte Rolf; »darum ist das Wasser so heiß.« »Vulkanisch? Was will das heißen?« fragte Padde. »Das heißt, daß, wenn man hier gräbt, man schließlich auf Feuer stoßen würde.« Padde wurde kreideweiß. »Aber dann stehen wir ja — über der Hölle!« »Ja«, sagte Rolf, »paß auf, daß du nicht hineinfällst!« »Dann wärst du im Handumdrehen ein gekochter Krebs«, versicherte Hajo. »Wollen wir nicht lieber hier weggehen?« fragte Padde. »Laßt uns erst ein paar Eier suchen!« schlug Rolf vor. »Ich falle um vor Hunger. Ihr nicht? Und Nester werden hier wohl genug sein.« Auf einmal fühlte Padde auch seinen Magen. Seufzend gab er nach. Die Jungen liefen um den Weiher herum, und bald entdeckte Hajos Jägerauge einige Taubennester. Er kletterte hinauf und kehrte, nachdem er dreimal auf ein Nest mit Jungen gestoßen war, mit zwei weißen Eierchen zurück, die gegen das Licht gehalten und frisch befunden wurden. Hajo saß schon wieder in einem anderen Baum. Diesmal war er noch glücklicher. In drei Nestern lagen saubere Eier. Er fand außerdem noch ein viertes Nest, dessen Eier er liegen ließ, weil sie, als er sie gegen das Licht hielt, sich als angebrütet erwiesen. Von den frischen steckte er soviel wie möglich in seine Taschen und in den Mund und kam mit Pausbacken unten an. Inzwischen hatte auch Rolf ein paar Nester entdeckt und entpuppte sich nun als guter Kletterer. Padde erbot sich, bei den Eiern Wache zu halten, während Hajo und Rolf weitersuchten. »Natürlich, Padde soll auf die Eier aufpassen!« rief Rolf von oben. »Aber setze dich nicht drauf, Padde! Sonst wimmelt es mit einem Male von jungen Täubchen, gerade wie bei den Schildkröten heute früh.« Als nach einer Weile Rolf und Hajo mit ihrer Beute auf der Erde anlangten, sahen sie Padde ein Stückchen weiter, mit dem Rücken gegen sie, durch das Laub spähen, sich vorsichtig umwenden und den Finger auf die Lippen legen. Sie schlichen zu ihm hin und entdeckten nach einigem vergeblichen Suchen in der von Padde angedeuteten Richtung ein merkwürdiges, eidechsenartiges Tier, das seinen runden, dicken Schwanz fest um einen Zweig geklammert hielt
und infolge seiner dunkelgrünen Farbe kaum von seiner Umgebung zu unterscheiden war. Der große, eckige Kopf saß in einem scharfen Winkel, als wäre es ein Helm, über dem dünnen, verschrumpften Hals. Ein blauer, mit dunkelbraunen Pünktchen gesprenkelter Kehlsack hing wie ein Bart unter Kinn und Hals. An dem kräftigen Leib, der durch einen hohen, gezackten Rückenkamm etwas Drachenhaftes hatte, lief ein Band aus rotbraunen Flecken entlang. Die Augen dieses armlangen Tieres quollen stark hervor, waren bis auf die Pupille ganz von einem prächtigen, roten und grünen Augenlid überzogen und spähten, vollkommen unabhängig voneinander, ruhelos umher. Vorn auf der Nase prangten zwei hornartige Buckel. Ganz still saß das Tier. Außer den Augen bewegte sich nichts. »Wartet mal!« flüstert Padde. »Dann werdet ihr lachen!« Und die Freunde warteten mit beinahe ebensoviel Geduld wie das Chamäleon; denn ein solches war es natürlich, das Paddes Interesse erweckt hatte. Da kam ein kleiner Käfer herangesummt, schwarz, mit gelben Sternchen auf den Schilden. Er tanzte lustig schnurrend in der Runde, kitzelte Hajo unter dem Kinn und stattete darauf dem Chamäleon einen Besuch ab. Das heißt, er sah das Chamäleon nicht, merkte nicht, wie zwei bösartige, rauflustige Augen all seine Bewegungen beobachteten. Das Sinnen und Trachten des gesprenkelten Käfers war auf eine große rote Blume gerichtet, vier Handbreit vor der Knubbelnase des unbeweglichen grünen Drachen. Der aber drehte beide Augen so weit nach vorn, daß sie aus dem Kopf zu rollen drohten, maß den Abstand, öffnete ganz langsam das Maul — Padde stieß seine Freunde an; seine Augen quollen beinahe ebenso weit heraus wie die des Chamäleons — und eine Zunge, fast halb so lang der ganze Körper, schoß blitzschnell nach dem arglosen Käfer, schnellte wieder zurück, als säße sie an einer Feder, dann eine kurze Bewegung der Kinnlade - spurlos verschwunden war der gelbschwarze Blumenfreund. Das Chamäleon hatte sich bei allem ganz still verhalten. Und während Hajo! und Rolf noch überrascht nach der Blume schauten, auf der der Käfer gesessen hatte, irrten die kleinen Augen des geheimnisvollen Meuchelmörders schon wieder umher, nach neuer Beute ausspähend. Aber nicht mehr lange, denn auf einmal schwebte Rolfs Hand durch die Luft und umschloß schnell den Banditen dicht hinter dem dreieckigen Kopf. Das Tier stieß einen heiseren Laut aus und wechselte zu Paddes und Hajos grenzenlosen Erstaunen die Farbe. Das blaubraune Fleckenband an den Seiten des Körpers verblich zu einem bläulichen Weiß, der blaue Kehlsack und die Mundränder wurden zitronengelb. Aber Rolf ließ sich nicht zurückschrecken. Er hatte mit der Linken den Hinterleib gepackt und suchte das Tier vom Zweig zu heben. »Alle Wetter«, sagte Rolf »der hält sich tüchtig fest! Wir werden ihn mitsamt dem Zweig mitnehmen müssen.« Hajo warf sich auf die Knie und schnitt mit seinem Taschenmesser den Zweig ab. »Fein gemacht!« sagte Rolf. »Aber wie kriegen wir ihn nun auf das Schiff?« »Hier!« sagte Padde eifrig. Und er zog sein Hemd aus. »Da stopfen wir ihn hinein.« »Er muß mit nach Hoorn!« rief Hajo aufgeregt. »Da kann er Fliegen fangen; unser ganzes Haus sitzt voll davon im Sommer.« »Wir wollen ihn nachher mal Vater Langjacke zeigen«, sagte Rolf vergnügt. »Es ist ein Chamäleon, aber ich bin neugierig, was für eine Art.« »Willst du seine ganze Familie wissen?« fragte Padde. Rolf lachte. »Hast du gesehen, wie er sich verfärbt hat, als ich ihn packte?« »Ja«, sagte Hajo. »Wie geht das zu?« »Wenn du es mir sagst, weiß ich es auch. — Komm, wir wollen unsere Eier verspeisen! Wir haben zwei Dutzend. Erst kochen wir sie, in der heißen Quelle.«
Hajo flocht mit seinen geschickten Fingern ein Netz aus ein paar langen, schmalen Blättern, tat die Eier hinein, knüpfte das Netz oben zu, ließ es ins Wasser hinab und steckte unter den Knoten einen kleinen Zweig, den er am Ufer feststeckte. So, nun abwarten! Während Rolf und Padde am Ufer lagen und auf das Hartwerden der Eier warteten, hatte Hajo ein neues Abenteuer. Als er mit seinem unermüdlichen Spürsinn suchend zwischen den Bäumen umherspähte, fiel sein Blick auf einen weißen Streifen Schmutzes, oben an einem Stamm. Er hätte nicht Peter Hajo sein müssen, um nicht sofort zu begreifen, daß sich dort oben ein Nest befand. Da entdeckte er es auch schon: eine mehr als faustgroße Höhlung im Stamm. Ein Spechtnest konnte es nicht sein, dazu war es zu groß. Sieh, da erschien vor der Öffnung ein Kopf mit krummem Schnabel! Ein Papagei kroch heraus und flog weg. Eins, zwei, drei saß Hajo in dem Baum und spähte gespannt in die Höhlung. Da hockten im Halbdunkel zwei merkwürdig häßliche Geschöpfe brüderlich beieinander. Ihr schwarzer Kopf und Schnabel waren im Verhältnis zu dem traurig kahlen Körperchen viel zu groß. Ohne Zögern packte Hajo einen von beiden, wobei seine Finger in ziemlich unsanfte Berührung mit dem Schnabel gerieten. Er zog seinen Gefangenen ans Tageslicht und begab sich mit ihm hinunter. »Den wollen wir uns hübsch großziehen, Jungens!« Die Kameraden äußerten ihre Bewunderung über einen so häßlichen jungen Vogel. »Ob er schon Nahrung annimmt?« »Nahrung annehmen? Meinen Daumen noch dazu, wenn ich nicht achtgebe. - Komm mal her, alter Freund!« Und mit Koseworten und Schmeichelnamen wußte Hajo dem nackten Krummschnabel ein Stück Banane in den Schnabel zu schieben. »Wie wird sich Gerrit freuen, daß er Gesellschaft kriegt!« meinte Hajo. »Und ich werde ihn sprechen lehren«, versprach Padde. Rolf fischte die Eier heraus. Sie waren allerdings noch nicht ganz hart, schmeckten aber doch. Nur das Salz fehlte. Es wurde Zeit, zurückzukehren. So machten sich die Jungen wieder auf den Weg und wateten, aufgeregt schwatzend und Pläne über die Erziehung des Papageien schmiedend, am Rand des klaren Flüßchens entlang. Um die Dämmerung kamen sie im Zeltlager wieder an. Man war dort eifrig beim Braten und Backen. »Wo ist Vater Langjacke?« fragte Rolf. »Blümchen pflücken. — Soll das etwa ein Papagei werden? Nein, kommt bloß mal her! So ein komisches kahles Gestell! Was sitzt da in dem Hemd?« »Ein Viech mit einer ellenlangen Zunge!« lachte Padde. »Wenn man es kneift, wird es gelb vor Wut.« »Zeig mal!« »Werde mich hüten!« sagte Padde. »Wenn es wegläuft, sind wir es los.« Vater Langjacke war mit der Erforschung von Blumen und Pflanzen beschäftigt. Er hatte die Gewohnheit, in jedem fremden Land aus unbekannten Kräutern Tränklein zu brauen, die er mit wahrer Todesverachtung erst am eigenen Leib erprobte. »Nun, meine Freunde«, sagte Vater Langjacke, während er sich aufrichtete und seine Brille zurechtschob, »ihr kommt mir gerade recht. Seid ihr bange vor Spinnen?« »Wer wird denn bange sein vor so kleinen Spinnen?« meinte Padde. »Dann kommt nur mit!« lud der Bader ein. »Och, was für ein hübsches Tier hast du da, Hajo! Sicher ein grauer Rotschwanz?« »Das dumme Tier hat noch keine Feder auf dem Leib!« sagte Padde verächtlich. »Aber habt ihr die Alten denn nicht gesehen?«
»Der eine Papagei ist grün, der andere rot, gerade wie's kommt«, versicherte Padde. »Unsere Nachbarn — du weißt doch, Hajo? — haben eine weiße Katze, und die Jungen davon sind rot mit schwarzen Flecken. Und dem Schlächter Dobbes sein Spitz? Sein Vater war ein Bullenbeißer, und seine Jungen sind Möpse mit Dackelpfoten. Was, Hajo?« »Ja, das ist wahr«, gab Hajo zögernd zu. Vater Langjacke schüttelte den Kopf über Paddes Behauptungen, die er nicht widerlegen konnte. »Das ist ganz was anderes«, meinte er. »Nein, das ist genau dasselbe«, sagte Padde. »Komm«, schlug Hajo vor, »wir wollen uns doch die Spinne ansehen!« »Ja«, sagte der Bader, »ich habe vorläufig meinen Hut daraufgelegt, denn ich wollte sie lieber von einem von euch greifen lassen. Ich gestehe, daß ich mich ein wenig davor scheute. Es ist eine große, denkt daran!« »Ich traue mich, einen Skorpion über meine Zunge laufen zu lassen!« schnitt Padde auf. »Na, du mußt es selber wissen!« sagte der Bader. »Hier sitzt sie, unter meinem Hut.« Vater Langjackes Kopfbedeckung war ringsherum mit Steinchen beschwert; der Bader schien seinen Gefangenen für einen gefährlichen Ausbrecher zu halten. Padde legte die Steinchen beiseite. »Ich werde sie mit der Linken anfassen«, sagte er, »denn in meine Rechte hat mich vorhin eine eklige Wespe gestochen.« »Tu das, Kleiner! Aber denke daran, hörst du: Vorsicht!« Padde hob eine Ecke des Hutes, schob bedächtig seine Hand darunter und tastete drinnen herum. Aber plötzlich bekamen seine Augen eine Ausdruck höchsten Entsetzens, und mit einem herzzerreißenden Schrei zog er seine Hand zurück. An seinem kleinen Finger baumelte ein haariges Ungetüm mit rötlichem Körper, so groß wie ein Hühnerei. Voller Abscheu schleuderte Padde das Tier von seinem kleinen Finger und steckte diesen dann hastig in den Mund. »Ja, ja«, sagte Vater Langjacke erschrocken, »das befürchtete ich gleich! Die Vogelspinnen haben böse Waffen! Komm mit, dann werde ich dir eine Salbe daraufschmieren!« »Rutsch mir den Buckel lang mit deinen Spinnen und Salben!« fuhr Padde heraus, alle Gesetze des Anstandes verachtend. »Aber Kerlchen«, sagte der vornehme Bader, verlegen seine Brille zurechtrückend, »ich habe dir doch vorher gesagt, daß es eine große Spinne sei! Ich fand sie, wie sie dabei war, dies arme Vögelchen zu töten.« Vater Langjacke hob seinen Hut auf und zeigt ein schönes blaues Vögelchen, das mit ausgestreckten Füßen und blutüberströmter Brust im Grase lag. Ein paar Maats kamen auf Paddes Geschrei herbeigerannt. »Was gibt's denn?« »Mein kleiner Finger ist mir abgebissen worden!« jammerte Padde. »Das hat der mir eingebrockt!« Die Maats sahen erstaunt auf Vater Langjacke, der abwechselnd blaß und rot wurde und mit seiner verschüchterten Haltung wenig Menschenfresserhaftes an sich hatte. »Zeig deinen kleinen Finger!« befahlen sie Padde, der den »abgebissenen« Körperteil noch immer im Mund hielt. »Der Finger gehört mir«, sagte Padde, »und nicht euch!« »Der kleine Finger ist nicht abgebissen«, stammelte Vater Langjacke. »Es ist ein unschuldiger Biß. Die Spinne ist nicht giftig; es ist eine aus der Familie der . ..« »Rutsch mir den Buckel hinauf mit deiner ganzen Familie, Pillendreher!« schrie Padde. Und er ging weg, während ihm die Ohmes mit sprachlosem Erstaunen nachsahen. Zehn Schritte weiter fand Padde es für nötig, sich noch einmal umzudrehen und zu schreien: »Du verdammigter Giftmischer, du! Ich werde dich schon zu finden wissen! Denke daran, daß ich dich diesmal auch vorher gewarnt habe!« Und Padde verschwand im Gehölz.
»Ein sonderbarer Charakter!« stammelte Vater Langjacke. Rolf konnte seine Heiterkeit nicht bezwingen. »Laßt ihn laufen, Vater Langjacke! Seht euch lieber an, was ich hier habe!« Rolf knüpfte behutsam das Hemd auseinander. Der Bader bückte sich und spähte durch die Öffnung. Was er sah, machte ihn all seinen Verdruß wieder vergessen. Froh wie ein Kind rief er aus: »Ein Pantherchamäleon! Das werde ich in Branntwein setzen.« Die Maats waren sprachlos vor Staunen. »Dunnerkiel!« stieß ein kleiner, magerer Matrose mit einer Nase, die einer roten Rübe ähnelte, hervor. »In Branntwein? Ich wünschte, ich wäre auch ein Kammelegon!«
Tauschhandel Padde erklärte rundheraus, daß er das Land hier schändlich finde und daß er doch noch mehr vom Meer halte. Seinetwegen könnten sie stehenden Fußes weitersegeln. Aber Padde mußte seiner Ungeduld noch volle drei Wochen Gewalt antun. Man teerte das Schiff von innen und außen, sperrte alle Pforten auf und besprengte den Bretterboden mit Essig, alles, um gesunde, frische Luft in die »Nieuw-Hoorn« hineinzubekommen. Während ein großer Teil der Bemannung sich singend diesen Arbeiten unterzog, widmeten sich andere dem Trocknen von Fischen, die sie an langen Schnüren in die Sonne hängten. Außerdem hatte man alle Hände voll zu tun mit dem Einlegen von Gänsen in Essig und mit dem Anbordziehen von lebenden Schildkröten, für die an Deck ein großer Zuber mit Meerwasser bereitstand. Harmen, Hajo und Rolf machten sich verdient, indem sie einen großen Stall zimmerten für die gestutzten Gänse und Tauben, die bisher überall das Deck beschmutzten. Gerrit blickte anfangs sprachlos und mit vor Erstaunen schiefgelegtem Kopf nach dem kahlen Gebilde, das sein Meister ihm beigesellte. Wahrscheinlich, um herauszufinden, von welchem Stoff der neue Gefährte verfertigt sei, begann er damit, diesem einen tüchtigen Pick zu versetzen. Aber das kam ihm teuer zu stehen; zur Strafe hielt Hajo ihn unter Wasser, etwas, was Gerrit nicht ausstehen konnte. Er hielt den Eindringling für den Schuldigen an dieser Untertaucherei, drehte ihn voller Geringschätzung den Rücken zu und zupfte sich mit zornigem Gemüt die nassen Federn zurecht, als er sah, daß Hajo dem nackten Untier leckere Bissen vorhielt. Dankbar war das Tierchen nicht; es wollte durchaus nicht den Schnabel aufmachen. Und Hajo hatte auch kein Glück damit; der Erfolg langer Zerrerei war nur, daß er einen tüchtigen Biß erhielt. »Wenn er erst Hunger kriegt«, tröstete Hajo sich, »wird er wohl anders reden.« Er steckte beide Vögel in den Käfig, um sie aneinander zu gewöhnen. Doch da Hajo befürchtete, daß der Freundschaft eine allzudeutliche gegenseitige Auseinandersetzung vorangehen könnte, schob er ein Brett zwischen die beiden zukünftigen Lebensgefährten. Gerrit, verwöhnt durch das freie Leben der letzten Zeit, steckte jedesmal, wenn sein Herr sich näherte, den Kopf zwischen die Federn. Der junge Papagei aber blickte mit wesenlosen Augen umher und hielt den Schnabel so fest geschlossen, als habe er Hajo im Verdacht, ihm Gift eingeben zu wollen. »Du mußt es schlauer anfangen«, riet Harmen. »Kitzle ihn unter dem Bauch, und wenn er dann wütend wird und den Schnabel aufmacht zum Beißen, stopfst du ihm schnell eine Banane hinein!« »Hilft doch nichts!« seufzte Hajo. »Wenn er morgen noch nicht frißt, bringe ich ihn zurück. Schade, ich hatte schon einen Namen für ihn! Ich wollte ihn-Joppie nennen. Gerade wie — weißt du noch?« Harmen nickte. »Ob ich das noch weiß!« Am Nachmittag begann das Tierchen leise zu stöhnen, so alle halbe Stunden ein trauriger Laut. Hajo konnte es nicht mitanhören und beschloß, seinen Papagei am nächsten Morgen wieder zurückzubringen. Aber — auch Gerrit war dadurch getroffen. Als Joppie zum erstenmal stöhnte, zog Gerrit dösig seinen verschlafenen Kopf aus den Federn und lauschte minutenlang. Dann steckte er ihn wieder hinein und wollte sein Nickerchen fortsetzen. Gleich darauf wiederholte sich das Spiel. Noch einmal. Gerrit geriet außer Fassung, hüpfte ein wenig in seinem Käfig herum und wollte einen Schluck Wasser nehmen, um sich Mut zu trinken, als Joppie aufs neue
stöhnte. Gerrit verschluckte sich bei seiner Labung und begann eine lange Grübelei. Wenn Gerrit anfing zu grübeln, fiel er gewöhnlich schnell in Schlaf; aber diesmal kam er unter dem Grübeln zu einem Entschluß. Er wetzte den Schnabel, drehte den Hals ein wenig lose, stemmte sich gegen das Brett und versetzte ihm einen tüchtigen Hieb. Alle Wetter, das saß recht fest! Noch mal! Da flog ein Splitter ab. Gerrit begann Gefallen an der Sache zu finden. Er hackte, wetzte dann wieder seinen Schnabel, hackte unermüdlich. Und endlich: Kra! rief Gerrit. »Gerrit hat einen Alpdruck«, meinte Padde. Aber Hajo ging nachsehen. Gleich darauf kam er wieder zurück, aufgeregt, mit strahlendem Gesicht. »Kommt schnell! Gerrit füttert ihn!« Die Jungen krochen heraus und trauten ihren Augen nicht. Gerrit steckte durch ein Loch, das auf geheimnisvolle Weise in die Bretterwand gekommen war, seinen schwarzen Schnabel und reichte Joppie ein Stück Banane. »Happ!« machte Joppie und ließ es durch die Kehle gleiten. Hajo hüpfte vor Vergnügen. »Das ist mir eine feine Krähe!« »Wir können nun das Brett ruhig fortnehmen«, meinte Rolf. Aber hier wußte Hajo besser Bescheid. »Damit würden wir alles verderben«, rief er aus. »Gerrit denkt natürlich, daß Joppie eine junge Krähe ist. Es ist grade gut, daß er ihn nicht sehen kann.« »Dann wird er große Augen machen, wenn du eines schönen Tages das Brett wegnimmst, wenn Joppie sich selbst bedienen kann und dann natürlich auch schon ordentlich in seinen Papageienfedern steckt!« lachte Rolf. »Ach herrjemine!« kicherte Padde. So wuchs Joppie, von Gerrit mit zärtlicher Sorge umgeben, zu einem Papagei wie Milch und Blut heran. Joppie schien auch seinerseits nicht gefühllos seinem treuen Versorger gegenüber zu sein: er glupschte durch das Loch und begann darin zu knabbern. Und eines schönen Morgens fanden die Jungen sie wie zwei alte Freunde nebeneinander auf Gerrits Stängchen, gerade wie Braut und Bräutigam: Joppie in blühendem Grau und Rot, verliebt seinen Kopf drehend, Gerrit ernsthaft, würdevoll in seinem stimmungsvollen Schwarz. Da öffnete Hajo den Käfig. Mit einem Freudenschrei hüpfte Gerrit heraus. Joppie folgte ihm auf dem Fuß und plumpste mit viel Flügelschlagen und Geschrei auf die Erde. Aber Gerrit, dessen gestutzte Flügel seit langem wieder gewachsen waren, gab Fliegunterricht, und Joppie erwies sich als gelehriger Schüler, wiewohl es ihm niemals gelingen konnte, so zierlich und voll Schwung niederzustreichen wie eine holländische Turmkrähe. Sah man Joppie, dann sah man Gerrit, erblickte man Gerrit, dann war Joppie nicht fern. Sie teilten alles, was eßbar 'war, miteinander: Bananen, Beeren ... Nur vor Würmern zeigte Joppie eine heftige Abneigung; selbst der feinste und fetteste Blaukopf, den Gerrit ihm darbot, konnte ihn nicht dazu bewegen, zuzuschnappen. Gerrit sperrte vor Erstaunen den Schnabel auf, schüttelte seinen weisen Kopf und nahm den Wurm allein auf seine Rechnung. Endlich kam der Tag der Abreise. Die Wasserfässer wurden binnenbords gebracht, die Segel wurden an die kahlen Rahen geschlagen. Ein Trommler ging an Land und trommelte von nah und fern das Schiffsvolk zusammen. Die Kranken waren geheilt, bis auf sieben, die mit betrübten Gesichtern an Bord kamen. Gegen vier Uhr des Nachmittags rasselten die Ankerwinden. Langsam segelte die »Nieuw-Hoorn« zur Bucht hinaus. Eine Schwadron roter Flamingos blickte ihr aufmerksam nach. Man hoffte, morgen noch vor Sonnenaufgang Mauritius anzusegeln. Der Wind war günstig.
Aber am nächsten Morgen gab es eine Enttäuschung. Man hatte den Kurs nicht ganz richtig genommen, die Insel lag vor dem Winde; man konnte wohl hinsehen, aber nicht hingelangen. Was nun? Bontekoe wagte die große, ununterbrochene Reise durch den Indischen Ozean noch nicht, solange nicht alles Schiffsvolk gesund war. Es wurde beschlossen, Kurs nach der Insel Santa Maria zu nehmen, die dicht bei Madagaskar gegenüber der großen Antongilbai liegt. Die Segel wurden übergeholt; voller Spannung sah man der Zukunft entgegen. Das Wetter blieb günstig; das Meer leuchtete des Nachts, als wäre es lauteres Feuer, und tagsüber war der Himmel so lockend blau, daß die Braunfische, um auch was davon zu sehen, ellenhoch aus dem Wasser aufsprangen. Nach einer kurzen Woche des Segelns bekam man Santa Maria in Sicht. Man fuhr westlich um das Eiland herum. Das Senkblei wies sechs bis acht Faden Tiefe. So klar war das Wasser, daß man den Boden sehen konnte. Gegen Mittag wurde ein geeigneter Liegeplatz gefunden an der Innenseite des Eilands, auf zwölf bis dreizehn Faden guten Ankergrunds. Kaum hatte man die Segel gerefft, als auch schon von der flachen Küste her drei Prauen sich näherten, voll brauner Leiber. Die Maats suchten eifrig aus ihren Kisten Taschenspiegel und Glasperlen, Löffel, Messer und allerlei Nippsachen hervor. Dann eilten sie wieder an Deck, die Taschen voller Tauschwaren. Inzwischen waren die Prauen dicht herangekommen. Es stieg ein Heidenlärm aus ihnen auf; jeder einzelne Ruderer schien sich als Admiral über die ganze Flotte zu fühlen und teilte nach allen Seiten Befehle aus, die niemand befolgte. Die Ruderer saßen mit den Gesichtern nach dem Vordersteven, und statt zweier Ruder hatten sie in ihren braunen Fäusten nur einen zu beiden Seiten abgeplatteten Span, den sie abwechselnd links und rechts durchs Wasser zogen. Floorke lüftete sein »fließendes« Malaiisch wieder einmal. »Heda«, rief er, »habt ihr was zu Essen? Makan? Nassi? Klappa? Pisang 1?« »Kuckleku!« schrien die Eingeborenen und hielten Körbe mit Hühnern in die Höhe. »Seht ihr, daß sie mich verstehen?« sagte Floorke triumphierend. Bontekoe war aus der Kajüte gekommen und schaute lächelnd nach den lärmenden Braunhäuten. »Werft mal ein Tau aus, Jungens, und holt so einen Mosjö herauf!« Ein Tau flog über die Verschanzung. Wie Hechte schössen die Frauen darauf zu. Und dann wurde darum gefochten, wer zuerst nach oben sollte. Schließlich gelang es einem der Braunen, nachdem er zwei schreiende Genossen in das salzige Naß getaucht hatte, sich daran festzuhalten, und er wurde denn auch sofort von den Ohmes aufgeholt, denn vorläufig dankte man dafür, das ganze Schiff voll solcher Gäste zu haben. Es war ein prächtig gebauter Bursche, der an Deck sprang. Gänzlich nackt, bis auf ein Tuch um die Hüften, schwarzes krauses Haar, matt olivenfarbige Haut, Brust und Schultern tätowiert. Er sah einen Augenblick mit grenzenlos erstaunten Augen umher und begann zu lachen. Floorke holte einen kleinen Spiegel hervor und hielt ihn dem braunen Gesellen vor die Nase. Das Lachen über dem Antlitz des Mannes verschwand. Er spähte hinter das Spiegelchen, dann wieder hinein, fand es aber geraten, ein wenig aus seiner Nähe zu rücken, und beobachtete argwöhnisch Floorkes grinsendes Gesicht. »Kannst du kriegen«, sagte Floorke. »Aber dann mußt du uns Makan geben!« Und Floorke machte heftige Kaubewegungen. Da kam Padde mit Truitjes Kinderklapper herbei und zauberte damit wieder ein Lächeln auf das braune Antlitz. Der Mund klappte vor Bewunderung auf. Eine Reihe Zähne von reinstem Elfenbein zeigte sich, in rosenrotes Zahnfleisch gefaßt, und die schwarzen, glänzenden Augen warfen begehrliche Blicke auf die schön aufgeputzte Kinderklapper. ( 1Makan: essen; Nassi: Reis; Klappa: Kokosnuß; Pisang: Banane.)
»Kannst du kriegen«, sagte Padde nach Floorkes Vorbild. »Aber dann muß ich Makan haben!« Und auch Padde fing an zu kauen. Der Mann bog sich über die Reling zu seinen Gefährten, deren Gedankenaustausch inzwischen zu einem Höllengetöse angewachsen war. Als sie seinen Schädel erscheinen sahen, schwiegen sie alle wie durch einen Zauberschlag, denn niemand wollte ein Wort verlieren von dem, was er mitzuteilen habe. Er hatte eine ganze Menge auf dem Herzen. Die Laute rollten wie ein Wasserfall aus seinem Mund; er schrie, als ob sein ganzer Stamm stocktaub sei, und redete obendrein noch mit Armen, Beinen und Fingern. Als er seinen Vortrag geendet hatte, erteilte man ihm mit derselben Weitschweifigkeit Antwort. Darauf wurden kleine und große Körbe in die Höhe gehalten, begleitet von einem Gebrüll, das an das Muhen einer Rinderherde erinnerte. Vom Lande näherten sich weitere Prauen, beladen mit Melonen, Äpfeln und Reis. So schnell wurden sie durch das Wasser gejagt, daß der Schaum wohl eine Elle hoch am Bug hochspritzte. Die Ohmes ließen eine Leine nieder. Ihr Gast an Deck erläuterte alles laut und ausführlich, und nach langem Hinundhergerede wurde ein Korb mit einigen Eßwaren — worunter ein festgebundener schreiender weißer Hahn — an der Leine befestigt. Man holte die Leine ein, aber der Bewohner von Santa Maria stellte sich sofort schützend vor den Korb und machte eine Gebärde, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ: erst bezahlen! »Hier sind schon öfter Weiße gewesen«, bemerkte Bontekoe lächelnd. »Kommt, wir wollen ein wenig handeln und bieten!« Und er ließ Hilke ein paar zinnerne Löffel holen. Die fanden Anklang. Ohne langes Besinnen bot unser brauner Freund zum Tausch für die Löffel den ganzen Korb an. »Wir werden nachher an Land gehen und sehen, was wir da finden«, sagte Bontekoe. Dann begab er sich mit dem Kaufmann und dem ersten Steuermann nach der Kajüte. Die Maats kannten ihren Alten; sie wußten wohl, warum er sie jetzt allein ließ: Bontekoe gönnte seinen Jungens gern ein ungestörtes Vergnügen. Er wußte, daß alle danach lechzten, mit dem Handeln zu beginnen. Die Herren hatten kaum den Rücken gewandt, da suchten die Matrosen schon ihre kupfernen Knöpfe, Schrauben, alte Zinndeckel, aufgeputzte Mützen und Glasperlen an den Mann zu bringen. Bald sah man den einen eine Korb voll Federvieh davonschleppen, den ändern mit einem Arm voll Melonen. Als die erste Kauflust, die ihre Ursache eher in der Langeweile der letzten Tage als im wirklichen Bedürfnis hatte, verflogen war, beschlossen die Ohmes, sich einen Spaß zu machen. Sie warfen das Tau, an dem ihr Besucher heraufgeklettert war, wieder über die Reling, warteten, bis ein halbes Dutzend Wilder sich darangehängt hatte, und zogen es dann aus dem Bereich der ändern — eine Tat, die die Zurückgebliebenen mit aufrichtiger Entrüstung erfüllte. Einer, der gerade doch den Zipfel fassen konnte, fiel durch den Ruck des unerwarteten Hochziehens wie eine reife Kokosnuß herunter auf die Köpfe seiner Gefährten. Die andern waren gleich Äffchen nach oben geklommen. Sie grinsten, ihre bewegliche Zunge stockte einen Augenblick; sie wechselten ein paar Worte, stießen einander an und schienen alles, was sie sahen, recht komisch zu finden. Und als ihr zuerst an Bord gekommener Genösse die Kinderklapper, deren glücklicher Besitzer er inzwischen geworden war, klappern ließ, sperrten alle den Mund auf, lauschten mit glänzenden Augen und machten Bewegungen, als wollten sie anfangen zu tanzen. Der Bootsmann ließ den Bottler eine große Schale spanischen Wein bringen und vor sich hinsetzen. Der würde ihnen schon schmecken! Aber die Braunhäute waren mißtrauisch. Es wurden eine Menge Worte darüber verloren, bevor einer bei der Schale niederkniete, sie vorsichtig betastete und darauf seine Lippen in die Flüssigkeit tauchte. Er blickte froh überrascht wieder auf, schnalzte mit der Zunge und steckte dann unverzagt wieder seinen Mund, ja die
ganze Nase dazu in den süßen Trank. Das war für die ändern das Zeichen. Sie sprangen von allen Seiten um die Schale, stießen einander beiseite, knurrend wie Ferkel vor dem Freßtrog, schmatzend und schlürfend. »Die reine Schweineherde!« meinten die Maats, und einige schenkten grinsend wieder ein, als die Schale leer wurde. Keiner der Schwarzen wollte dabei beiseite treten, aus Furcht, seinen guten Platz zu verlieren. Und die einschenkenden Ohmes hatten Mühe, zwischen den Krausköpfen eine Lücke zu finden, durch die sie den Wein gießen konnten. Endlich fand der Bootsmann es genug. Die Zechbrüder leckten das letzte Tröpflein aus der Schale, sahen einander mit blitzenden Augen an und fingen an zu lachen, zu lachen, daß die Tränen ihnen über die Wangen kugelten. Ja, sie mußten sich einander festhalten, um von all dem Lachen nicht auf das Deck zu plumpsen. Ihre Heiterkeit wirkte ansteckend; nur wenige Ohmes behielten ein saures Gesicht wegen der Weinvergeudung.Zur Dämmerungszeit ging man mit beiden Booten an Land. Auf dem flachen Strand wartete eine Gruppe von etwa hundert Eingeborenen mit Rindern und Schafen und Körben voll Hühnern, Fasanen, Waldhühnern, Tauben, farbigen Früchten. Ein lebendiger Handel begann. Floorke tauschte sein Handmesser gegen fünfzig Hühner, für die er einen Stall zimmern würde, einen schönen Stall, der unter seiner Koje stehen konnte. Und jeden Tag würde er Eier und Huhn essen. Bolle kaufte für einen Taschenspiegel und einen »Teufel in der Schachtel« eine schwere Milchkuh für die Kambüse. Auch Harmen tat keinen schlechten Kauf; er tauschte ein paar kupferne Knöpfe gegen einen Korb saftiger Melonen und zwei Dutzend Fasanen. Die »Nieuw-Hoorn« versprach eine zweite Arche Noah zu werden. Der Bader kaufte für einen aufgeputzten Brillenrand den ganzen Medizinvorrat und die Beschwörungswerkzeuge eines Zauberers auf, der mit der glaslosen Brille auf der Nase sicher nicht an Ehrfurcht bei seinen Stammesgenossen einbüßte und überzeugt war, mit Hilfe dieses gelehrt aussehenden Brillenüberbleibsels alle Krankheiten und bösen Geister vertreiben zu können. Rolf nahm einen der Eingeborenen, der seine Waren bereits an den Mann gebracht hatte, beiseite und wies fragend auf das Tüchlein, das dieser um die Hüften trug. »Lamba«, sagte der Mann zögernd. »Lamba«, sagte Rolf ihm nach, holte eine kleine Schiefertafel aus der Tasche und schrieb das Wort auf. Dann entledigte sich der Junge seines Gürtelriemens und legte den vor dem Eingeborenen nieder. Dieser betrachtete aufmerksam die glänzende Gürtelschnalle, knotete dann nach einigem Zögern die Bindfasern los, die sein Lamba festhielten, und trat das Kleidungsstück an Rolf ab. Mit fragendem Gesicht nahm der Eingeborene den Riemen entgegen, rieb die Schnalle gegen die braunen Wangen und strengte sich dann vergebens an, den Riemen um die Hüften zu befestigen. Rolf half ihm, machte es ihm so lange vor, bis er sich selber bedienen konnte. Aus Dankbarkeit knüpfte der Schwarze Rolf den Lamba um, und die Ohmes schüttelten sich vor Lachen. Auch Hajo machte an diesem Nachmittag einen sehr vorteilhaften Tausch. Er setzte Truitjes Handarbeitsschere um gegen einen großen, starken Bogen mit einem schöngeschnitzten, gefüllten Pfeilköcher. Der neue Eigentümer der Schere schnitt tapfer drauflos: seine Nägel, seine Haare, seine Augenbrauen. Und auch Hajo freute sich seines Einkaufs. Er setzte eine Zielscheibe auf den Strand, eine auf einen Stock gespießte Melone, und tat ein paar Tage lang weiter nichts als schießen. Die Bewohner von Santa Maria fielen beinahe um vor Staunen, daß ein weißer Mann so schlecht mit Pfeil und Bogen umzugehen wisse. Aber Hajo hielt durch, gönnte sich kaum Zeit zum Essen, und am dritten Tag traf Schuß auf Schuß. Da ging er wie ein richtiger
Eingeborener mit Pfeil und Bogen auf die Jagd und kam mit drei Waldhühnern zurück, die doppelt so fein schmeckten wie gekaufte zahme Hühner, wenn die auch vielleicht weniger zäh waren. Padde bejammerte in lauten Klageliedern seine Kaffeemühle, die vor Texel vom Salzwasser verschlungen worden war. Er hätte jetzt damit, seiner Meinung nach, Wunder verrichten können. Alles in allem schien das Eiland nicht allzuviel zu bieten, was nicht wundernehmen konnte, denn nach einer schmalen Strandzone stieg der Boden steil, als gedrängtes Stufenland, in die Höhe und ging bald in eine kahle, unfruchtbare Bergplatte über. Ein paar Minuten landeinwärts lag inmitten von Kokosbäumen ein kleines Dorf. Die aus Bambus geflochtenen Wände der niedrigen, blättergedeckten Hütten hatten nur einen Eingang. Bei näherer Betrachtung erwies sich alles als furchtbar schmutzig; der Boden um die Häuschen herum war ein einziger Misthaufen. Im Schlamm spielten pudelnackte Knirpse vertraulich mit Hunden und Affchen. Aber als die Ohmes die Palmenumzäunung betraten, entstand in der kleinen, friedlichen Ansiedlung eine wahre Massenflucht. Die Äffchen suchten eilends ihr Heil in den Bäumen; die Hunde rotteten sich zusammen und kläfften wütend die Matrosen an, bewahrten dabei jedoch einen Abstand, der ein deutliches Licht auf ihre angeborene Vorsicht warf; die Kinder flüchteten in die Hütten. Keine einzige Frau ließ sich sehen; die Türen wurden hastig zugeworfen, nur hier und da spähten erschrockene Gesichter hervor. »Schade!« sagte Floorke. »Ich hätte auch die Frauen gerne mal gesehen.« »Gedulde dich nur einen Augenblick!« sagte Harmen. »Ich bin gleich wieder zurück.« Und er rannte auf die Boote zu. Die Maats begriffen zwar nicht, was er im Schilde führte, aber jedenfalls beschlossen sie zu warten. Harmen war so ein komischer Kauz; man wußte nie, was er sich wieder ausgedacht hatte. — Da kam Harmen zurück — mit seiner Fiedel! Und nun wiederholte sich die Geschichte vom Rattenfänger von Hameln. Kaum schwangen die ersten Töne durch die Luft, da öffnete sich hier und dort vorsichtig, ganz vorsichtig eine Tür und ein dunkler Mädchenkopf spähte nach dem Spielmann. Die Schwarzen, die um die Ohmes herumstanden, konnten ihre Beine nicht stillhalten, sie fingen an, um den Musikanten herumzutanzen, knipsten mit Daumen und Zeigefinger oder klatschten, sich in den Hüften wiegend, in die Hände. Da kamen die Frauen und Mägdlein, ebenso unzulänglich bekleidet wie die Männer, zaghaft heraus, und hinter Mutters Rock, gerade wie alle Kinder auf der ganzen Welt, die pudelnackten Knirpse mit ihren schlanken Rücken und kugelrunden Bäuchlein. Sie sperrten den Mund so weit auf, daß man eine Faust hineinstopfen konnte. Harmen fiedelte. »Fangt ihr nur immer an zu tanzen!« rief er den Ohmes zu. »Dann tun die Deerns es von selber.« Die Ohmes tanzten. Sie faßten einander bei den Händen, machten gemeinsam mit den feixenden Eingeborenen einen Kreis um die Gruppe von Frauen und Mädchen, die umzingelt waren, bevor sie es wußten, und dann tollten die Janmaats herum mit großen Sprüngen. Da wollte eines der Mägdlein entwischen. Aber sie hatte sich eine gefährliche Stelle ausgesucht. Als sie unter Floorkes und Gerretjes Armen hindurchschlüpfen wollte, packten die beiden handfesten Jungens sie bei der Hand und sie mußte mittanzen, ob sie wollte oder nicht. Die anderen Mägdlein fanden das spaßig und versuchten nun auch zu entfliehen. Dunnerkiel, nun hatte Floorke, der Glückspilz, an seiner andern Hand auch schon eine Deern! Harmen konnte es nicht länger aushalten: er steckte Hajo die Geige in die Hand und ruhte nicht eher, als bis er auch zu beiden Seiten ein hübsches Mädel hatte und mittanzte nach den Weisen, die Hajo nun dem Instrument entlockte.
Padde stand abseits, ohne zu ahnen, daß gerade eine Verschwörung gegen ihn angezettelt wurde: Nase und Gerretje, die einander gefaßt hielten, ließen plötzlich los und Padde stand mitten im Kreise. Beschämt wollte er sich einen Ausweg bahnen, doch nun packte Harmen ihn, und so tanzte Padde wider Willen mit, zwischen Harmen und einem allerliebsten Santa Marianischen Dirnlein.
Nase feuert eine Muskete ab Es wurde beschlossen, daß das große Boot unter Leitung des Schiffers nach Madagaskar
übersetzen solle, um herauszufinden, ob es da noch einen tüchtigen Vorrat Früchte einzuheimsen
gebe, denn alles in allem hatte man doch noch nicht genug frische Nahrungsmittel an Bord, um
die große Überfahrt zu wagen. Da der zweite Steuermann ebenfalls mitgehen sollte und der erste
Steuermann mit Fieber in der Koje lag, war die Reihe an Folkert Berentsz, während der
Abwesenheit des Schiffers den Befehl über die »Nieuw-Hoorn« zu führen. Das sah übel aus für
die Jungen; denn es war tagelang nicht reingemacht worden, und der Bootsmann würde bei
Bontekoes Rückkehr die »Nieuw-Hoorn« gewiß blitzblank und ohne Stäubchen abliefern
wollen.
»Jungens«, sagte Harmen, »wir müssen uns irgendwie davon drücken, sonst geht es schief.«
»Wieso schief?« fragte Padde.
»Na, der Bootsmann will in der Zwischenzeit auf dem Schiff Scheuerfest feiern. Von dem langen
Stilliegen hat sich Moos am Kiel angesetzt. Das dürfen wir mit einem Federmesser wieder
abkratzen und die Pforten wieder säubern und die Anker putzen, bis sie glänzen wie Fischhaken.
Und weißt du, was er sich für dich ausgedacht hat?« »Na?« fragte Padde.
»Wird dir nicht gefallen«, versicherte Harmen. »Auf der Spitze vom Großmast liegt der Staub
fingerdick; den mußt du mit der Zunge ablecken. Und du mußt mit einer Laterne das Großsegel
absuchen, ob da die Motten hineingekommen sind, und wenn du eine findest, mußt du sie
lebendig fangen und dem Bootsmann bringen, damit er sie kielholen lassen kann.«
»Ja Kuchen!« schimpfte Padde. »Ich werde mich gerade vom Bootsmann piesacken lassen! Ich
stehe unmittelbar unter dem Bottler.«
»Ja, viel Vergnügen!« höhnte Harmen. »Und der Bottler steht unmittelbar unter dem Bootsmann.
Und wenn der Bootsmann pfeift, mußt du in den großen Mast tanzen und Staub ablecken. —
Nein, wir müssen fertigkriegen, daß der Schiffer uns mitnimmt ins Boot. Kommt nur mit, Jungs,
ich werde ihn schon bereden, daß er uns mitnimmt!«
So zogen die vier Kameraden miteinander nach der großen Kajüte. Bontekoe war allein. Das traf
sich gut; denn keiner der Jungen hatte es auf den Kaufmann abgesehen.
»Was wollt ihr?«
»Schiffer«, begann Harmen mit ernster Miene, »wir haben darüber nachgedacht und — hm! wir
haben morgen hier an Bord doch nichts zu tun, äh, glaube ich, und darum — hm!«
Bontekoes Augen sprühten. »Müßt ihr alle vier mit?«
»Alle vier«, beeilte sich Padde zu erklären.
Harmen hielt seine Sache für gewonnen. »Weißt du, warum Padde mit muß, Schiffer? Weil wir
vielleicht auf Menschenfresser stoßen.«
Padde erbleichte.
»Und wenn das geschähe?« fragte Bontekoe mit heimlichem Vergnügen.
»Ja, Schiffer, wen von uns würden sie sich aussuchen? Padde natürlich! Und wir gehen allesamt
frei aus.«
»Was beliebt?« stammelte Padde.
»Na, wie du willst!« sagte Harmen. »Wenn du lieber reinemachen möchtest?«
»Abgemacht!« sagte Bontekoe. »Also morgen früh alle vier bereit bei der
Jolle!«
»Ich gehe nicht mit«, sagte Padde fest entschlossen. Harmen versetzte ihm einen Rippenstoß. »Bist du verrückt? Befehl vom Schiffer!« flüsterte er grinsend. »Ich will ja gern reinemachen!« jammerte Padde. Am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang stieß die Jolle ab und die Jungen waren dabei, alle vier. Ein trockener, milder Ostwind ermöglichte es, Segel zu führen. Leise wiegend auf ruhigem Wellengang, steuerte die Jolle in westlicher Richtung. Die Ohmes priemten, rauchten, gaben einander Rätsel auf, schnitten auf über ihre Abenteuer. Herrlich war die Morgenluft. Harmen schenkte duftenden Kaffee ein; genießerisch schlürfend wurden die Becher geleert. Des Mittags kam Madagaskar in Sicht, ein blaugrünes Streifchen am westlichen Gesichtskreis. Nachher breitete der Streifen sich aus, unabsehbar weit. Graue Gebilde, die man bisher für Wolken gehalten hatte, erwiesen sich als Berge. Ein gelber Riß in der Brandung deutete auf einen Fluß hin, der ins Meer mündete. Darauf hielt man zu, und am Abend hatte man sich durch die Brandung hindurchgekämpft und die Jolle vertäut. Man nahm die Waffen mit und suchte in der fallenden Dunkelheit eine halbe Stunde weit die Umgebung ab. Keine Spur von Menschen. Flach gegen den Strand begann der Wald. Ein Netz von Lianen, Stelzwurzeln und Dornsträuchern mit Stacheln, groß und scharf wie die Krallen einer Tigertatze, verwehrten den Zutritt. Schweigend, ein wenig beklommen, schlenderten die Ohmes wieder nach der Jolle. Dann wurden hastig, ohne viel Reden, Zelte aufgeschlagen für die Nacht. Im Osten leuchtet etwas Rötliches gegen die Wolken, der Widerschein des Feuers, das die bei der »Nieuw-Hoorn« zurückgebliebenen Maats entzündet haben, im Falle die Leute in der Jolle noch in derselben Nacht würden zurückkehren wollen. Es ist ganz überflüssig, daß die Ohmes hier als Antwort auch ein Feuer anstecken. Aber sie können es doch nicht lassen; es tut so gut, zu wissen, daß dort drüben noch mehr Freunde sind und daß da ihre heißgeliebte Schute liegt, ihr übel zugerichteter Kasten, der mit seinem zusammengeflickten Mast — zum Teufel! — bei günstigem Wind noch zwei Knoten mehr macht als jeder andere Kasten. Am nächsten Morgen waren sie wie neugeboren. Erst ein Bad, dann eine glühende Tasse Kaffee in den nüchternen Magen, ein bißchen herumbalgen, die Zelte zusammenpacken, ein Stück Roggenbrot hinter die Zähne — und singend und kauend zugleich ruderten sie die Jolle den Fluß hinauf. Die Mündung war breit, und in der Mitte lief eine tiefe Fahrrinne. Aber allmählich wurde der Fluß schmäler, und große, verstreut liegende Blöcke erschwerten die Fahrt. Das Ufer begann zu steigen, wurde felsig. Die schweren, dunklen Laubbäume gewannen mehr und mehr die Oberhand, drängten das hellgrüne, wehende Laub der Palmen zurück. Zwischen steilen, steinernen Wänden glitt nun die Jolle stromaufwärts. Hoch in der Luft umschlangen die Bäume beider Ufer einander. An hervorspringende Felsspitzen hatten sich Pflanzen geheftet, deren blütenreiche Stiele in zierlichem Fall herunterhingen. Schwalben schwirrten durch die Kluft ruhelos hin und her, laut, durchdringend ziep — ziep! rufend, wahrscheinlich in Sorge um ihre Nester, deren Versteck durch einen Streifen Schmutz leicht zu erraten war, wenn die hängemattenartigen, grauen Vogelhäuschen selber auch geschickt dem Auge verborgen waren. Eidechsen schössen in Zickzacklinien an den senkrechten Wänden in die Höhe. Hie und da hing an einer Felszacke ein gelbgraues Bienennest, an der Unterseite von einem dichten Schwärm umsummt.
Klatsch! Ein paar Steine oder Nüsse plumpsten ins Wasser. Die Maats schauten in die Höhe. Wo kamen die Dinger her? Wer hatte sie geworfen? Patsch! Eine neue Ladung. Zwei prasselten ins Boot; es waren Nüsse. Was bewegte sich dort oben in den Ästen? »Affen«, meinten die Maats, »die wollen uns ohrfeigen.« Plauz! Wieder eine Ladung. Padde bekam eine Nuß in sein Gesicht, gerade als er ängstlich aufblickte. Tüchtiges Nasenbluten, das war zum Glück alles. Gerretje lud eine Muskete mit Vogelschrot, zielte und drückte ab. Der Schuß dröhnte ohrenbetäubend in der engen Felsschlucht. Aus Ecken und Winkeln taumelten Fledermäuse, torkelten piepsend von der einen Wand gegen die andere. Steinchen, durch den plötzlichen Luftdruck gelöst, klatschten ins Wasser. Aber der Schuß hatte getroffen. Mit dem Kopf voran, den langen, geringelten buschigen Schwanz wie eine Flagge in die Höhe gestellt, sauste ein Äffchen herunter, etwa zehn Ellen vor dem Boot ins Wasser hinein. In den Bäumen droben hatten sich inzwischen die andern Nußwerfer von ihrem Schreck über den Schuß erholt: es regnete wieder Nüsse. Nase, der eine Nuß gegen die Backe bekommen hatte, wobei seinem Ohr übel mitgespielt war, packte nun seinerseits ergrimmt die Muskete. »Laß doch, Nase! Je mehr du schießt, desto schlimmer sind wir dran.« Aber Nase wollte nichts hören. Er lud die Muskete, drückte ab. Bumm! Da geschah etwas Entsetzliches. Die steinerne Wand des linken Ufers zeigte plötzlich in der ganzen Höhe einen Riß und geriet in Bewegung. Ein scharfes Krachen, dann neigte sich die Wand vornüber, lehnte sich gegen die andere Wand, brach mittendurch und stürzte dicht hinter der Jolle donnernd in den Fluß. Das Boot sauste, nachdem es in schräger Richtung hochgeschleudert worden war, ein Stück weiter wieder herunter und wurde im gleichen Augenblick unter dem Laub eines schweren Baumes begraben, der durch die fallende Gesteinsschicht niedergerissen worden war. Wunder über Wunder, das Fahrzeug wurde in seinem Sturz nicht zerschmettert! Leichenblaß, bis auf das Hemd durchnäßt, saßen die Matrosen in der Jolle, beide Hände um den Bord geklammert. »Dabei hätten wir schlimmer wegkommen können«, meinte Bontekoe lakonisch. Ein paar Maats fanden die Sprache wieder und fingen an, Nase auszuschelten. Dieser saß mitten in dichtem Laubwerk, mit einer Blütenranke um die Stirn, die ihm ein festliches Aussehen verlieh. Aber seine Stimmung war durchaus nicht festlich; entgeistert, mit dem Entsetzen noch in den Augen, starrte er seine Gefährten an. »Es ist eine lockere Wand gewesen«, stammelte Rolf. »Wir wollen zusehen, daß wir unter dem Baum wegkommen«, riet Bontekoe, »sonst nimmt es doch noch ein schlimmes Ende mit uns.« Das war auch so. Durch die plötzliche Stauung wuchs das Wasser zusehends. Und da das Boot unter dem Baum festgeklemmt war, mußte es natürlich volllaufen. Alle Hände an die Arbeit! Die Maats hieben mit Beilen und Messern einen Ausweg für die Jolle, die nach vielem Gezerre frei wurde. In wenigen Minuten würde das Wasser über die Felswand einen tüchtigen Fall bilden. »Wie kommen wir nachher zurück?« »Wir sitzen wie die Ratten in der Falle«, stotterte Floorke. »Weiterrudern!« befahl Bontekoe. »Vielleicht finden wir höher hinauf einen Nebenarm, der auch ins Meer mündet.« Alle Wetter, das war nicht dumm! Wenn sie einen Nebenarm fanden, waren sie heraus. Patsch! Die Ruder fegten schon wieder übers Wasser. Einen Vorteil hatte es: nun, wo das Wasser
angeschwollen war, ruderte es sich bedeutend leichter. Und die Affen war man los. Den Quälgeistern schien der Schreck in die Glieder gefahren zu sein. Wann würden endlich die hohen, beklemmenden Wände weichen, die nur auf einen Musketenschuß zu warten schienen, um vornüberzufallen und ein Trüpplein armer Janmaats verunglücken zu lassen? Bei jeder Biegung hoffte man den Ausgang der Schlucht zu sehen. Endlich fielen die Ufer ab, und sofort verbreiterte sich das Flußbett. Die Ohmes atmeten tief auf. In der Kluft war es kühl gewesen, doch hier spürten die Männer die Hitze wieder tüchtig. Die Jolle wurde ans Ufer unter den Schatten der gewaltigen Bäume gerudert, und schnaufend setzten sich die Maats auf eine große Felsenbank. Nase wollte seine Sünde von vorhin wiedergutmachen und fing an, am Ufer Holz aufzulesen. Bald hatte er eine Menge brennbarer Zweige zusammen, und nun wurde auf der Bank, mit Hilfe einiger kleiner Steine, ein Öfchen gebaut, auf das Harmen seinen Kaffeekessel setzte. Rolf und Gerretje schleiften ein Netz ein Stück am Ufer entlang, wobei es sich hübsch mit Fischen füllte, die man in Kokosöl briet. Als die hungrigen Mägen gefüllt waren, setzte man die Fahrt wieder fort. Anfänglich hielt man die Mitte des Stromes, aber bald zwang die brennende Sonne die Männer, den Schatten aufzusuchen, obgleich man sich dort mehr mit Steinen herumschlagen mußte. Merkwürdig still war der Wald. Manchmal kreischten Papageien, oder ein unbekannter Tierruf zerriß die Stille. Aber unmittelbar darauf wurde es wieder still, und so kam es, daß man in der Jolle auch schwieg. Allgemach wurde der Fluß schmäler und schmäler, man konnte jetzt in der Mitte fahren; die Bäume beider Ufer schlossen ihre Wipfel über dem Wasser zusammen. Hier hing Dämmerlicht; die Sonne konnte nirgends hindurchdringen. Die Jolle hatte aber allmählich mit immer mehr Hindernissen zu kämpfen, und es erwies sich, daß der Fluß weiter aufwärts immer mehr zuwuchs. Man hielt Kriegsrat. Es blieb nichts anderes übrig als zurückzurudern und — wie, das wußte noch niemand — der Jolle über den Wasserfall hinwegzuhelfen, der durch die gestürzte Felswand entstanden war. Auch etwas anderes erfüllte mit Sorge. Im Westen fing der Himmel an, sich zu beziehen. Man fühlte, wie die Hitze zunahm, eine brütende Hitze, die das Atmen erschwerte. Die Maats spannten, in Erwartung des kommenden Regens, ein Segel über die Jolle. Der Schweiß tropfte ihnen von den Schultern.Blieb das Unwetter noch lange aus? Die Spannung wurde unerträglich; die ganze Natur sehnte sich nach dem ersten befreienden Donnerschlag. Da kam er dicht hinter dem Blitz, der alles in Fahlgrün setzte. Papageien kreischten. Und schon prasselte der zweite Schlag. Als könne der Klang nicht mehr ersterben, so lange widerhallte er im Wald und rollte in der Ferne nach. Flitz! Bumm! Dreimal hintereinander. Dann folgte die Befreiung. Da prasselte er nieder, der rauschende Regen, befruchtend und heilbringend. Jubelnd trommelte er auf die Blätter, lachend spritzt er ins Wasser und rührt es um, bis sich der braune Schlamm nach oben wälzt. Vorbei! Mit einem tiefen Seufzer kriechen die Maats unter dem Segel hervor, recken die versteiften Glieder und atmen aus voller Brust. Voll frischen Muts ergreifen sie die Riemen und beginnen den Rückzug. Erstaunlich schnell ging es nun mit dem Strom. Um vier Uhr war man wieder bei der Felskluft. Hier wurde die Jolle festgemacht. An beiden Ufern entlang sollte ein Dutzend Maats dem Boot mit etlichen starken Tauen folgen, und so hoffte man, die Jolle von oben über das Hindernis
hinwegzuheben. Der Schiffer sollte mit Floorke und noch einer Handvoll fixer Jungen an Bord bleiben. Man nahm Abschied. Die Ohmes an beiden Ufern kletterten an den Felsen in die Höhe und die Jolle schoß mit ihrer kleinen, tapferen Bemannung in die Kluft hinein. Die Strömung war reißend, und es mußte alle Steuermannskunst angewandt werden, um ein Unglück zu verhindern. Bei dem Ort des Unheils angekommen, wäre um ein Haar alles schiefgegangen. Hatte man einige Stunden zuvor noch stromaufwärts gerudert, so war nun nicht mehr daran zu denken, so hatte der Regen den Strom anschwellen lassen. Mit großer Schnelligkeit trieb die Jolle in der Richtung, aus der tosende Wassergewalt den Fall ankündigte. Man trachtete die Schnelligkeit zu verringern, indem man mit den Rudern stakte, vergebens. Die Haare stiegen den Männern zu Berg. Floorke, gewandt wie der leibhaftige Teufel, stemmte sich dem tanzenden Fahrzeug entgegen, schlug geschwind eine Schlinge in ein Tau, warf es wie einen Lasso um eine vorspringende Felszacke und wickelte dann mit einem blitzschnellen Griff das Tauende um das Steuerruder. Einen Knoten darauf, von dem keine Landratte etwas begriff, und die Jolle blieb mit einem Ruck liegen. Ein schwerer Seufzer stieg aus aller Brust. Mit Floorke konnte man auf den Fischfang gehen! Es wurde noch ein Tau um den Felsen geworfen, für den Fall, daß das erste riß, Dann wartete man schweigend — das Toben des Wasserfalles machte jede Unterhaltung unmöglich — auf die Ankunft der andern. Diese hatten bei weitem mehr Zeit nötig, um vorwärtszukommen, und gewiß nicht weniger Hindernisse zu überwinden. Es war eine endlose Kletterei, ein Vorwärtsringen durch Gestrüpp und Baumstämme, und ab und zu mußte man sogar von einem Baum in den andern hinüberklettern. Eine Leibwache aus Halbaffen begleitete sie und hielt sich den Bauch über das stümperhafte Gekletter dieser weißen Ungeheuer. Die Äste waren noch glitschig vom Regen; fortwährend glitt der eine oder andere aus. Die Maats gingen zu dem Verfahren über, das man in den Bergen anwendet: ein gemeinsames Seil verband sie miteinander. Wenn nun einer fiel, blieb er an seinem Gürtelriemen hängen. Hilke am linken Ufer, am rechten Nase, warfen sich zu Vormännern auf; ihre Sache war es, mit einem Beil die versperrenden Schlingpflanzen durchzuhacken. Da jede der beiden Parteien als erste ankommen wollte, wurde nicht gerastet, und so langten die Männer beinahe gleichzeitig bei der Jolle an. Die Taue wurden heruntergeworfen und reichten knapp. Mit behendem Griff zogen die Leute im Boot sie unter dem Kiel hindurch, so daß die Jolle wie in einer Schaukel hing. »Alles klar?« Die Ohmes schlugen ihre Fäuste um die Taue. Langsam wurde das Kabel, das Floorke um die Felszacke geschlungen hatte, gelöst. Zwei Dutzend sehnige Ohmes hoben die Jolle hoch, trugen sie über die gefährliche Stelle und ließen sie mit kurzen Stößen sinken, bis sie wieder auf dem Wasser lag. Uff! das war gut abgegangen. Die Seile wurden um einen Stamm geschlungen, und Mann auf Mann ließen sie sich wieder in die Jolle gleiten, bis alle unten waren. Dann ließ man die Seile locker und die Jolle glitt wieder vorwärts in dem rauschenden Strom. Bei einer Biegung verlor man das so mühselig überwundene Hindernis aus den Augen. Nach einer Weile schoß die Jolle aus der Kluft heraus und trieb wieder zwischen flachen, weiten Ufern dahin. Die Männer sahen nun, daß die Sonne schon hinter den Bergen stand. Und als man sich der Flußmündung näherte, brach die Dunkelheit herein. Der Mond war voll, doch verbarg er sich immer wieder hinter dunklen Wolken. Dann öffneten sich ringsum schaurige Höhlen. Aus dem Himmel träufelte schwarze Tinte herunter: es regnete wieder ein wenig.
Heimweh beschlich die Maats, Heimweh nach ihrem Schiff, nach ihren Gefährten, nach dem Mannschaftsraum. Wiewohl der Himmel drohend aussah, verspürte keiner der Männer Lust, an Land zu übernachten. Bei der Flußmündung angekommen, setzten sie schweigend den Mast auf, hißten das Segel und steuerten in See. Der Wind stieß böig, so daß das Segel launisch zerrte und die Jolle stark und unerwartet überhängen ließ. Man hielt den Kopf des Fahrzeuges so viel wie möglich aufrecht zwischen den Wellen, was zum Glück nicht schwer war, denn Wind und Strom kamen von Norden, und man war auf der Heimfahrt tüchtig nach Süden abgefallen. Aber das Meer war ebenso launisch wie der Wind; immer wieder kam, bevor man es sich versah, eine schwere Woge, die die Jolle hoch auf ihre Arme hob und wieder in die Tiefe schleuderte, so daß die Ohmes im Handumdrehen triefnaß waren. Immer bewegter wurde die See, immer heftiger drückten die Windstöße in das Segel. Hoppla, die Jolle lief voll Wasser! Schöpfen! Zum Glück hatte man Pützen mitgenommen. Donnerschock, da drohte Steuerbord zum zweitenmal unter Wasser zu schießen! Die Männer ließen sich nach Backbord hinüberfallen, der Mast knarrte unter dem heftigen Druck. »Sollen wir reffen, Steuermann?« fragte Bontekoe. »Mich dünkt, wir können noch ein wenig durchhalten, Schiffer.« Den Maats machte es Spaß. Laßt das Segel nur oben! Die Jolle lag fest genug; sie würden schon sorgen, daß sie nicht kippte. Je schneller zu Hause, desto lieber! Sie halten die Pützen bereit zum Ausschöpfen, handfeste Jungen alle zusammen! Kennen die See wie Mutters Waschzuber, hei! Wie schoß die Jolle durch die Wogen! Wie geschmeidig tauchte sie beim Abgleiten von solch einem glatten Wellenrücken ihre Nase in den folgenden! Auf einmal — an Backbord eine hohe dunkle Mauer. Die Jolle wurde weggezogen, zu gleicher Zeit überwallte sie von hinten eine andere Woge. Ein weißer Schaummantel wurde hoch über die Jolle mit Schwung ausgeworfen, dann kriegten die armen Burschen, die vor Schreck in die Höhe geflogen waren, die volle Ladung herein. »Schöpfen!« Sie fühlten noch Boden unter den Füßen, die Jolle schwamm also noch, wenn auch die Borde so ungefähr mit dem Wasser in gleicher Höhe standen. Keuchend schöpften die Männer. Wer keine Pütze hatte, warf mit Händen und Mütze das Wasser hinaus. Bontekoe ergriff ein Fäßchen Öl und schüttete es an Backbord aus. Darauf spannte er mit Hilke zusammen, während die anderen noch eifrig schöpften, ein kleines Segel über das Vorderkastell, um dem Wasser zu wehren. Und als das Schöpfen zu Ende war, wurde auch der Teil hinter dem Mast bespannt, nur ein Platz für den Mann am Steuer freigelassen. »Wenn wir jetzt kentern, können wir sagen: Mitgefangen, mitgehangen!« meinte ein Ohme. »Das Wachtfeuer!« rief der Steuermann. Die Maats spähten unter dem Segel hindurch und gewahrten den rötlichen Schein. Das gab Mut. Eine Welle ohnegleichen hieb nach dem Segel. Die Ohmes freuten sich. Wenn das Segelchen nicht dagewesen wäre, na, ich sage! Sie zogen es auf alle Fälle mit ein paar Tauen noch fester. Hopsa! Kann man irgendwo auf der Welt luftiger tanzen als auf dem Meer? Die Fröhlichkeit war den Maats nicht mehr auszutreiben. Sie grölten da unter dem Segel alle Lieder, die ihnen einfielen. Binnen einer Stunde würden sie geborgen auf einem Ohr liegen. Aber der Spaß drohte bös verdorben zu werden. Eine Windsbraut drückte das Segel soweit nieder, daß der Jollenrand untertauchte und das Wasser über die ganze Breite hereinströmte. Die Maats verstummten, sie fühlten, daß die Jolle sich noch mehr neigte. Schnell wie ein Gedanke zog Nase sein Messer und schnitt mit kräftigem Ruck das straffgespannte Untertau durch, an dem der Baum mit dem Segel mit aller Gewalt zog. Der Baum schlug herum, tauchte ins Wasser; das Segel zerrte wütend, flog in Fetzen. Aber die Jolle richtete sich auf,
trotzdem sie schon wieder halb voll Wasser stand. Die Maats spannten ihren Rücken gegen das
Segel, daß die Taue knackten, und während sie in fieberhafter Eile schöpften, bewarfen sie Nase
mit den gröbsten Scheltworten. Denn zu einem Unglück gehört ein Sündenbock.
Diesmal war Nase weniger verdutzt; er war mit Recht überzeugt, die Jolle und all seine
Gefährten vom sicheren Untergang errettet zu haben. Na, dann nur wieder rudern! Der
Wellenschlag verlor an Heftigkeit; sie näherten sich dem Land. Da tauchte die »Nieuw-Hoorn«
schon hinter einem Wellenrücken auf. Mut, Jungens!
Eine halbe Stunde später sahen sie Gestalten an Deck. »Ahoi!« riefen die Ohmes, steckten die
Laterne an und winkten damit. Die Wache im Krähennest antwortete. Die Maats fühlten sich
schon wieder zu Hause. »Gott sei Dank, Jungens!«
In der Kambüse wurde Licht angezündet. Allerbester, braver Bolle! Sie ruderten nach der
Leeseite, ergriffen die Taue, die ihnen zugeworfen wurden, und schlangen sie durch die
Hißhaken. Dann kletterten sie Mann für Mann am Fallreep in die Höhe. »Da sind wir wieder!«
»Und wie ist es euch ergangen?«
»Ein feiner Ausflug! Nase hat halb Madagaskar in Trümmer geschossen.«
»Ist das wahr, Nase?«
»Ganz bestimmt. Wenn ich nicht gewesen wäre, wären sie allesamt zu den Haifischen getaucht.«
Mit schlotternden Knien begaben sich die zurückgekehrten Ohmes nach der Kambüse, wo sie
zitternd vor Wohlbehagen den glühendheißen Kaffee schlürften, den Bolle ungeachtet der späten
Stunde für sie gekocht hatte, als die Wache sie in See sichtete. Die nassen Kleider vom Leibe,
trockenes Unterzeug an und unter die Decke! Haaa!
Der Kaufmann empfing Bontekoe angekleidet in der Kajüte. »Und hat die Fahrt etwas
eingebracht?« fragte er.
Erst jetzt kam Bontekoe zum Bewußtsein, daß die Fahrt gänzlich fruchtlos verlaufen war. In
seiner Freude über die glückliche Heimkehr nach all den Gefahren, die sie bedroht hatten, war
ihm das ganz und gar entgangen. Nun plötzlich stand er vor der nüchternen Frage, was die Fahrt
eingebracht habe. »Ein nasses Bündel Kleider«, war seine Antwort.
»Das nützt der Compagnie nicht viel«, meinte Kaufmann Rol lächelnd. »Die Compagnie!« Je
länger die »Nieuw-Hoorn« unterwegs war, desto tiefer hatte sich in Bontekoe unbewußt das
Gefühl eingewurzelt, daß das Schiff ihm gehöre und seinen zweihundert Leuten, die jeden Tag
ihr Leben dafür feilhielten.
»Die Compagnie!« wiederholte er zornig, drehte dem verblüfften Rol den vierschrötigen
Seemannsrücken zu und ging zur Koje.
Feuer! Am neunten Tage, an dem die »Nieuw-Hoorn« vor Santa Maria lag, waren alle Leute wieder gesund. Wohlgemut ging man unter Segel, darauf vertrauend, daß der Vorrat an frischer Nahrung ausreichen werde. Man steuerte südostwärts bis zum dreiunddreißigsten Grade und wandte den Steven darauf nordöstlich nach der Sundastraße. Es waren schöne, stille Tage. Die Maats hatten die Hände voll zu tun mit der Versorgung des Federviehs. Aber ihr Leben lang hatten die Ohmes nicht so viel Eier gefuttert. Padde wurde im Lauf der Wochen selbst so rund wie ein Ei. Man riet ihm etwas Bewegung an. Seufzend entschloß er sich, eine Arbeit zu übernehmen, die der Schielige bis jetzt immer verrichtet hatte, nämlich des Nachmittags mit einem Fäßchen in den Keller zu gehen und es vollzupumpen, um am nächsten Morgen allen Ohmes ein halbes »Mützeken« austeilen zu können. Joppie bekam Sprechunterricht. Ein Ausruf froher Überraschung ertönte unter den Ohmes, als er deutlich »Hajo!« kreischte. Aber nun zeigte es sich, daß Joppie auch nicht viel besser war als die Menschen; auch er stellte seine Kenntnisse in den Dienst des Bösen. Er rief seinen Herrn den ganzen Tag, am liebsten barsch, gebieterisch, wie Berentsz zu tun pflegte, dann wieder lockend, schmeichelnd oder ängstlich, aufgeregt, als wenn er sagen wollte: Junge, du bist mir doch nicht etwa über Bord gefallen? — So kam Hajo manchmal außer Atem angerannt, um zu fragen, was denn der Bootsmann von ihm wolle, und fand dann, statt eines grimmigen Folkert Berentsz, einen allerfreundlichsten Joppie, der ihm den Kopf hinstreckte, um gekrault zu werden. Alle Maats, die dem lernbegierigen Vogel ihren Namen einzutrichtern gewußt hatten, bedauerten es bald nach Kräften. Gerrit war zufrieden mit seinem Pflegekind. Er hatte anfänglich wohl ein wenig betroffen nach dem krummen Schnabel und dem bunten Gefieder der jungen »Turmkrähe« geguckt, aber dann erkannte er an der Weise, in der Joppie »Kra!« sagen konnte, doch deutlich einen Stammesgenossen. Als die Ohmes fanden, daß Joppie mehr als genug Weisheit im Kopf habe, übernahm Padde es, Joppies Lernbegier zu befriedigen. »Vorwärts!« sagte Padde zu ihm. »Sag jetzt mal: Padde Kelemeyn!« Joppie blickte ihn klug an. »Mirakel!« meinte das Tier dann. »Vorwärts!« schalt sein Lehrmeister. »Padde Kelemeyn! Sag es doch, Dösbaddel!« Joppie legte seinen Kopf auf die Seite und lauschte aufmerksam. Dann sah er Padde treuherzig an und schmetterte: »Dösbaddel!« »Du bist selber ein Dösbaddel!« brummte Padde, der rot wurde vor Zorn. »Rutsch mir!« erklärte der Vogel und blickte wohlgemut nach oben. Padde starrte das Tier mit weitaufgerissenen Augen sprachlos an, kehrte sich dann um und nahm sich vor, kein Wort mehr an das Biest zu verschwenden. So kam ein Tag heran, der den Männern der »Nieuw-Hoorn« lange im Gedächtnis haften sollte: der neunzehnte November des Jahres 1619. Wie gewöhnlich begab sich Padde am Nachmittag in den Keller, stieg mit seiner Kerze die kurze Stiege hinab und setzte das Licht auf eine volle Tonne, um die Hände fürs Pumpen freizuhaben. Frohgemut sang er, während er pumpte. Das Fäßchen war voll. Padde befreite mit schwungvollem Griff die Kerze, die er auf der Tonne festgeschmolzen hatte. Da fiel — konnte es unglückseliger treffen? — das glühende Endchen des Dochts in das Spundloch. Der Branntwein da drinnen fing Feuer, die Reifen zersprangen mit einem dumpfen Knall, und die brennende Flüssigkeit bedeckte auf einmal den ganzen Kellerboden. Mit einem Schrei flog der Bottlersmaat
die Stiegen hinauf, sah zwei Pützen Wasser stehen, mit denen Hajo und Rolf beim Deckschrubben waren, ergriff die Pützen und leerte sie über der Kellerluke aus. »Padde, was ist denn los?« Der arme Dicke wollte etwas stammeln, aber es war nicht mehr nötig; das Zischen, Knistern und die Wolke des verdampfenden Wassers, die aus der Luke aufschlug, sagten genug. »Feuer! Feuer!« Das wirkte. Von allen Seiten kamen die Matrosen mit erschrockenen Gesichtern herbeigerannt, manche schon mit vollen Pützen. »Wo ist Feuer?« »Im Keller!« Angst und Aufregung zitterten durch eines jeden Stimme. In rasender Eile suchte man nach Pützen. Ganze Sturzseen Wasser wurden durch die Luke geworfen. Folkert Berentsz kletterte, nachdem man wohl an die hundert Eimer Wasser hinuntergegossen hatte, in den Keller und konnte zum Glück kein Feuer mehr entdecken. Inzwischen war Bontekoe zum Kielraum geeilt, wo, wie er ganz richtig vermutete, Pfützen brennender Flüssigkeit den Boden bedeckten. Er rief um Pützen. Nachdem man zehn darüber ausgegossen hatte, schien auch hier das Feuer gelöscht. Ein Seufzer der Erleichterung stieg auf, als man hörte, daß die Schmiedekohlen nicht vom Feuer ergriffen worden seien. Noch keuchend vor Aufregung, besprach man die Gefahr, die gedroht hatte. Wenn das Feuer bis in den Pulverkeller vorgedrungen wäre.. . »Padde«, hörte man rufen, »in die Kajüte kommen!« Der arme Junge zitterte an allen Gliedern. Unbemerkt wußte er durch eine Luke in den Kielraum zu gleiten. Da war es stockfinster. Tastend stieg er die steile Stiege hinunter. Unten angekommen, wankte er nach einem Haufen Taue, setzte sich, barg das Haupt in den Händen und weinte, weinte... Still! Was hörte er da? Mit pochendem Herzen lauschte Padde. Er wagte die Augen beinahe nicht zu öffnen in dieser gruseligen Finsternis. Knack! Knaps! Kritsch! Zähneklappernd richtete Padde den Kopf auf. War es ein Fieberspuk? Da, auf der ändern Seite des Kielraums, loderten große Flammen auf! Ein schwefliger Geruch drang Padde in die Nase. Großer Gott — die Kohlen brannten! Mit einem Schrei flog Padde zur Leiter. »Die Kohlen! Die K—kohlen ...!« Neue Verwirrung. »Die Kohlen? Brennen die Kohlen?« Ein paar behende Maats sind als erste wieder im Kielraum, gewappnet mit Pützen Wasser, die sie keuchend leerklatschen über die brennenden Kohlen. Zischen ohne Ende. Gelbe Schwefeldämpfe kommen aus dem glühenden Berg zum Vorschein und im Handumdrehen ist die Luft im Kielraum so beklemmend, daß man es keine zwei Minuten darin aushaken kann. Aber die Maats sind zäh. Immer aufs neue steigen sie mit vollen Pützen über die schmale Leiter in den Kielraum hinab, bahnen sich einen Weg in dem verpesteten Schwefelloch, werfen das Wasser über die Kohlen und suchen taumelnd, fluchend, mit tränenden Augen den Rückweg zur Leiter. Wie viele finden den Weg? Wie viele sinken betäubt, bereits halberstickt zusammen, nachdem sie in ratloser Angst hin und her gerannt sind? Bontekoe leitet selbst die Arbeit, bis seine Stimme erstickt und er wankend die Stiege hinaufflüchtet. Aber eine Minute später ist er wieder unten. »Mut, Jungs!« Man hackt Löcher ins Zwischendeck, wirft ungeheure Mengen Wasser in den Kielraum. Ob es hilft? Der Bretterboden unter den Füßen wird ständig heißer. Die Maats springen wie Sandflöhe herum, müssen fortwährend ihre halbversengten Sohlen in den Wasserpützen kühlen, die sie heranschleppen. Ob man lieber das Schießpulver über Bord warf? Die Möglichkeit, in diesen Gewässern einem spanischen Schiff zu begegnen, ist freilich bedenklich groß. Ohne
Schießpulver an Bord wäre man verloren. Dann mit dem Wegwerfen der Pulverfässer lieber warten bis zum Äußersten! Durchhalten, ihr Männer! Aber es gab Verräter. Wissend, daß die Jolle und die Schaluppe hinter dem Schiff herschleppten — die Jolle war seit der Abreise von Santa Maria noch nicht eingeholt und die Schaluppe war soeben ausgeschwenkt worden, weil sie beim Löschen im Wege war —, hatten einige es für ratsam gehalten, sich über Bord gleiten zu lassen, nach der Jolle oder der Schaluppe zu schwimmen und sich unter den Bänken zu verbergen. Der Kaufmann, der nach der Kajüte ging, um auf jeden Fall seine wichtigsten Papiere zusammenzubinden, sah gerade einen Matrosen in die Jolle kriechen.»Was hat das zu bedeuten?« rief er. »Komm auch in die Boote, Kaufmann!« schrien die Maats. »Gleich fliegt der ganze Kasten in Stücke.« »Wenn ihr nicht zurückkommt, hole ich den Schiffer«, rief Hein Rol zornerfüllt. »Dann kappen wir die Taue.« »Schurken!« war Rols entrüstete Antwort. »Kommst du mit oder nicht?« wurde aus der Jolle gerufen. Der Kaufmann besann sich, machte eine unwillige Gebärde. »Ich komme«, rief er darauf mürrisch. Und er sputete sich in die Kajüte wegen seiner Wische. Denn kostbarer als seine Ehre waren ihm seine Papiere. Als er sich an einem Tau in die Jolle hatte gleiten lassen, kappten die Maats die Boote frei. »Rudert ihr weg?« fragte Rol erschrocken. »Nein, wahrhaftig nicht, wir wollen in der Nähe bleiben, um zu helfen. Aber gleich fliegt die Geschichte in die Höhe, dann müssen wir außer Schußweite sein.« Der Kaufmann schwieg, blickte mit besorgtem Gesicht nach dem Schiff, aus dem ein schmutziggelber Rauch aufwirbelte, der Masten und Taue dem Auge entzog. »Es ist Wahnsinn, noch an Löschen zu denken«, sagte er, um sein Gewissen zu beruhigen. Und er blies sich in die bleichen Hände, die geschürft waren durch das Abgleiten am Tau. Auf dem Schiff kämpften die ändern. Mit zugekniffenen Augen reichten die Männer einander die vollen Pützen zu. Durchhalten, Jungens! Da kam der Bader dahergerannt. »Schiffer, die Boote sind weg!« Die Männer sind gelähmt vor Schrecken. »Die Boote weg?!« Alles fliegt nach der Reling. Da schwimmen die Boote. Ohnmächtige Wut ergreift die Verlassenen. »Schiffer, was nun?« So haben die Mannen ihren Schiffer noch nie gesehen. Das offene Seemannsantlitz ist plötzlich verzerrt von Zorn und Schmerz. »Werft die Segel um, Leute! Wir werden sie unter den Kiel spleißen!« Schmerz über die Wunde, die ihre Genossen ihnen geschlagen haben, läßt die Maats in die Riggen hinauffliegen und tastend, in dem gräulichen Rauch, mit zusammengebissenen Zähnen die Segel anziehen. So steuert man geradewegs auf die Boote zu. Dort scheint die drohende Gefahr vermutet zu werden. Die Flüchtenden rudern wie toll, gehen drei Schiffslängen vor der »Nieuw-Hoorn« über Stag, den Bug im Wind, so daß sie nicht verfolgt werden können.
»Nun, dann soll ihr Gewissen sie strafen!« ruft der Schiffer. »Nun das Pulver über Bord, Leute! Der Kahn schwimmt noch. Wenn wir dran glauben müssen — dann alle zusammen!« »Hoch Bontekoe!« brüllen die Ohmes, und wäre es auch nur, um die feigen Gefährten drüben hören zu lassen, daß es noch Männer gibt, die nicht in die Boote kriechen, wenn der Kahn in Gefahr ist. Grimmig packen sie mit ihren verwitterten Fäusten die Pulverfässer, werfen sie von Mann zu Mann und so über Bord. Auf Bontekoes Befehl lassen die Maats die mit Zimmerwerkzeugen umzugehen verstehen, sich über die Verschanzung hinab, um unter dem Wasserspiegel Löcher in die Schiffswand zu bohren. Der Schiffer will den Kielraum ein paar Faden tief vollaufen lassen und so das Feuer von unten her löschen. Aber vergeblich setzt man die Bohrer in das Holz; die Wand sitzt voller Eisenbeschlag. Dann eben wieder mit Pützen an die Arbeit! Hui die Flammen züngeln schon aus einer der Luken. In fieberhafter Aufregung schleppen die Männer Wasser heran. Aber höher hinauf lodert die Flamme, und seltsam — das Knacken, Knistern, Bersten, Piepsen hört auf. Leise brüllend streckt das Feuer eine lange rote Zunge aus den Luken. »Das Öl brennt!« Wie gelähmt lassen die Ohmes die Arme sinken, dicke Tränen rollen den gebräunten Burschen über die Wangen. »Wasser!« ruft eine Stimme. Da wandern die Pützen wieder. Während sie löschen und die verbrannten Füße kühlen, heulen die Ohmes wie die Kinder. Aber aufgeben? Ho, noch nicht! Holländische Jungs, das gibt's nicht! Heulen schadet nicht; Tränen sind auch Wasser und helfen löschen. Mit ihren bloßen Beinen stehen sie fest auf dem glühendheißen Deck. Einer der tapfersten Vorarbeiter, der trotzig, Augen und Lippen zusammengepreßt, in Rauch und Dampf schuftete — war Padde. Er büßt seine Schuld. Und man arbeitete, Verzweiflung im Herzen, aber man arbeitete, bis ... Mit betäubendem Krachen gab das Achterdeck nach und gellend stürzte eine Handvoll wackerer Getreuen in das Feuermeer. Hei, wie stoben die Funken bis hoch über die Masten hinaus! Und die Flammen bäumten sich an den Rahen hinauf, griffen die Segel an und sandten die weißen Flügel der »Nieuw-Hoorn« versengt, weit hinauslodernd in die Höhe. Die zerrissenen Taue fielen schlaff nieder in die Feuerglut und dienten tausend Flämmchen zur Leiter. Die Flagge mußte erobert werden! Auf, Flammen! Holt es herunter, das schmucke bunte Tüchlein! Da riß eine Flamme es herab und raubte ihm die Farben. Tanzt nun, Flammen! Tanzt, die Fahne ist unser, tanzt, tanzt! Hajo, Rolf und Padde standen beim Großmast. Weiter hinauf begann das Deck sich zu biegen, es schössen braune Brandflecken hindurch. Da zog Rolf seine beiden Gefährten an die Verschanzung. »Ins Wasser!« zischte er zwischen den Zähnen. Die verdutzten Jungen folgten ohne weiteres dem Befehl. Viele waren Rolf nachgeeilt und auch ins Meer gesprungen. Andere hatten, vom Schreck gelähmt, nicht so schnell einen Entschluß fassen können und sanken nun hinein in die Flammen. Da geschah es: ein entsetzlicher Knall, ein höllisches Krachen, prickelnd-scharfe Luft, erstickte Schreie, ängstliches Brüllen des Viehs — der Rest des Schießpulvers hatte Feuer gefangen. Eine neue Sprengung. Die »Nieuw-Hoorn« riß entzwei; Masten, Bretter, Menschen, Tiere und Stücke davon flogen in die Luft. Zischend, knackend, schwarze Rauchwirbel und goldene Funken hoch hinausstoßend, kantelten die Trümmer des zerrissenen Schiffes wieder gegeneinander und — versanken in den Wogen. Die Männer im Boot sahen schaudernd zu. War
es möglich? War die »Nieuw-Hoorn«, ihr prächtiges Schiff, untergegangen? Die schwarze Wolke gegen den blutroten Abendhimmel — war das alles, was davon übrigblieb? — Nein, datrieben auf dem Wasser Stücke von Masten, Kisten, Balken, und an die Stücke der Masten, die Kisten und Balken klammerten sich lebende Wesen. »Zu Hilfe! Die Hände an die Riemen!« Von den drei Jungen war es Hajo, der zuerst die Besinnung zurückerlangte. Er sah den Besanmast dahertreiben und arbeitete sich hinauf. Schnell denkend und handelnd warf er Padde, der sich an einen langsam vollaufenden Holzbottich geklammert hatte, ein Masttau zu. Padde sah es, tastete danach, doch er fand es nicht. Hajo zog das Tau ein und warf es von neuem. Diesmal gelang es Padde, es zu ergreifen. Er ließ sich zu seinem Retter hinziehen und packte ihn stöhnend bei den Knien. »Hajo, o Gott, Hajo!« »Klettre auf den Mast!« »Ich kann nicht mehr!« Mit Einsatz aller Kräfte wußte Hajo seinen Freund rittlings auf den Mast zu bekommen. Schluchzend lehnte Padde den Kopf an Hajos Schulter. — Nun Rolf! Großer Gott, wo mochte Rolf sein? In ratloser Angst sah Hajo umher. Ein Stück weiter, außerhalb seines Bereichs rangen ein paar Maats mit den Wellen. Hier und dort arbeiteten sich in der Dämmerung Gestalten auf Stengen, Bretter, Tonnen oder Maststücke. »Rolf! Rolf! Rolf!« »Hajo!« Gott sei Dank, Rolf hat sich auf einen Mastkorb gerettet! — Wo waren die Boote? Zu weit, um sie herbeizurufen. In der halben Finsternis war es nicht möglich zu erkennen, ob sie fort oder her ruderten. »Boot ahoi! Ahoi!« »Hajo!« wimmerte Padde. »Mut, Padde!« Hajo schloß selbst eben die Augen, um ein wenig Ruhe zu finden. Als er die Augen aufmachte, war die Jolle bis auf fünfzig Fuß herangelangt. Näher konnte sie nicht kommen wegen der vielen schweren Trümmer, die überall herumschwammen. Hajo maß den Abstand bis zur Jolle. Ob er sie erreichen konnte? »Bleib hier sitzen, Padde! Halt dich gut fest!« »O Gott, Hajo! Du gehst doch nicht weg? Hajo!« Hajo preßte die Lippen zusammen, ließ sich vom Mast gleiten und schwamm in der Richtung der Jolle. Aber unterwegs wurden seine Arme schwer wie Blei. Da wurde ihm ein Tau zugeworfen. Er ergriff es und ließ sich nach der Jolle ziehen. »Nein«, keuchte er, als die Ohmes ihn binnenbords holen wollten, »ich ruhe nur einen Augenblick aus! Gebt mir das — das Tau mit! Ich will — ich...« Seine Augen schlössen sich, seine Hände ließen den Jollenrand los; man konnte ihn noch rechtzeitig packen und hereinziehen. Da sprang Bokje, der Trompeter, mit einer Lotleine über Bord, schwamm zu Padde hin und ließ sich zusammen mit ihm zurückziehen. Ein zweiter Maat ging ins Wasser und rettete Nase. Floorke kam prustend aus eigener Kraft herangeplanscht und begann die Insassen der Jolle auszuschelten. Aber als er sie einen nach dem ändern ihre Haut wagen sah, um den Haifischen einen Ertrinkenden zu rauben, legte sich sein Zorn wieder ein wenig. Man ruderte um die Stelle, wo die »Nieuw-Hoorn« untergegangen war, herum. Schließlich meinte man, alle Ertrinkenden aufgefischt zu haben. Viele verloren sofort das Bewußtsein, wenn sie ins Boot gezogen wurden, andere weinten noch vor Aufregung. Aber der Schiffer! Wo war der Schiffer? Da erschien Harmens Kopf an Backbord. Er ließ sich in die Jolle ziehen, spie einen Schwall Meerwasser aus und zeigte hinter sich. »Der Sch .. . Schiffer!« Dann versagten seine Kräfte. Man sah in der von Harmen angedeuteten Richtung im Dunkeln ein Wrackstück treiben und darauf eine Gestalt. Die Jolle wurde so nahe wie möglich an den Ertrinkenden herangerudert.
Bokje, der beste Schwimmer von allen, sprang wieder mit einer Leine über Bord, und richtig, gleich darauf kam er mit dem Schiffer zurück, der in die Jolle gehoben und hinten im Roof niedergelegt wurde. Gott sei Dank! »Gib uns Rat, Schiffer! Was sollen wir tun?« Mit matter Stimme rief Bontekoe, diese Nacht noch bei dem Wrack zu bleiben und am nächsten Morgen einige Lebensmittel aufzufischen, die überall umherschwammen. Heftiger Schmerz ließ ihn bald das Bewußtsein verlieren. Man ruderte noch einmal um die Unglücksstätte herum, doch fand sich in der Finsternis kein menschliches Wesen, tot oder lebendig, mehr. Da zog man die Ruder ein, um den Morgen abzuwarten. Aber mit dem Schrecknis vor Augen fällt das Warten schwer. Die, welche vor Ermattung eingeschlafen waren, wurden mit einem Gefühl der Unruhe wieder wach. »Wir wollen wegrudern«, sagten sie. »Warum rudern wir nicht weg?« Die ändern schüttelten den Kopf. »Wir müssen morgen was zu essen auffischen; mit dem bißchen Brot, das wir haben, halten wir keinen Tag aus.« Aber die Frager waren nicht zufriedengestellt. »Was nützt uns das Essen, wenn die See anschwillt und die Jolle in Stücke schlägt? Jetzt ist ruhiges Wetter. Wir wollen Land suchen!« »Wir müssen warten! Befehl vom Schiffer!« Dann herrschte eine Weile Schweigen. Aber eine Nacht ist lang. Eine Viertelstunde später begann die Unruhe wieder. »Wir wollen doch wegrudern! Wir werden eben ein paar Tage fasten. Vielleicht haben wir morgen schon Land. Wir sind doch nicht mehr weit von Sumatra!« »Wir müssen warten! Der Schiffer hat es gesagt.« »Na ja ...« »Was, na ja? Bist du vielleicht einer von den Schleichern, die ausgekniffen sind?« »Wenn wir das nicht getan hätten, wäret ihr allsamt für die Haifische gewesen.« »Und doch war es gemein!« »Weißt du, was ich gemein finde? Daß ihr uns rammen wolltet.« »Das wäre euer verdienter Lohn gewesen.« »Aber es ging nicht so einfach, was?« »Komm«, meinte ein anderer, »kabbelt euch jetzt nicht! Wir wollen wegrudern!« »Nein«, bocken ein paar Ohmes, »der Schiffer hat gesagt: Bleiben!« Erneutes Schweigen. Die Minuten kriechen. Auf einmal flucht ein Ohme, legt die Ruder ein und beginnt zu rudern. Damit ist der Bann gebrochen, der von des Schiffers Wort ausging. Alle, die ihren Körper noch in der Gewalt haben, greifen zu den Riemen. Wohin? Nach dem Lande! Wo liegt das? Niemand weiß es. Aber das Rudern bricht der Unruhe die Spitze ab. Rudern, Jungens, rudern! Niemand hält das Steuer. Etliche werden wach, wie aus einem Alpdruck. »Wo sind wir?« »In der Jolle.« »In der Jolle?« Kurzes Schweigen. Der Frager scheint seine Erinnerung wachzurufen. »Und wo fahren wir jetzt hin?« »Nach Sumatra.« »Wo liegt das?« »Ganz in der Nähe. Paßt man auf, sonst fällst du noch drüber!« Schweigen. Störrisch rudern die Männer weiter.
In den Booten Endlich dämmert der Morgen. Man sucht mit müden Augen den Frühnebel zu durchbohren, der über dem Wasser hängt. Nirgends Land zu sehen; auch die Schaluppe ist aus dem Gesichtskreis verschwunden. Flennend lassen die Ohmes die Ruder sinken. Jetzt erst fühlen alle, wie erschöpft sie sind. Als die Sonne aufgeht, ist kein einziger mehr wach. Steuerlos schaukelt die Jolle auf dem stillen Wellenschlag. Ein herrliches blaues Zelt wölbt sich über der unabsehbaren Wasserfläche. Am Nachmittag erwachen einige. Der Schlaf hat Erquickung gebracht. Die Männer fühlen ihre Hoffnung wieder aufleben; der Schiffer ist an Bord und wird wohl guten Rat geben. Flüsternd, als wären sie in der Stille ringsherum vor den eigenen Stimmen bang, besprechen sie den Untergang ihres prächtigen Schiffs und den Verlust all ihrer Schätze. Könnte man nicht fuchsteufelswild werden auf diesen verfluchten Bottlersmaat mit seiner Kerze? Allmählich wurden alle wach. Man weckte den Schiffer. »Was sollen wir tun, Schiffer? Wir sehen das Wrack nicht mehr und auch kein Land.« »Seid ihr also doch vom Wrack weggerudert?« »Ja, Schiffer. Wir dachten ...« »Das war verkehrt. Ist ein Segel in der Jolle?« Man suchte unter dem Vorderkastell und den Bänken. »Nein, Schiffer, kein Stückchen Segel.« »So zieht eure Hemden aus und macht ein Segel daraus!« Man machte sich voller Vertrauen an die Arbeit. Der Schiffer würde sie schon nach Sumatra bringen! Die Stoßbälle wurden binnenbords geholt und zu Garn zerzupft. Als man genügend zu haben glaubte, zogen die Maats die Hemden aus und begannen, sie zu zwei Segeln aneinanderzunähen. Der Bader untersuchte den Zustand der Verletzten. Fast alle hatten sich mehr oder minder die Fußsohlen verbrannt. Erst wurde der Schiffer behandelt, der zwei Kopfwunden hatte. Vater Langjacke kaute etwas von dem wenigen Brot, das die ersten Flüchtlinge in der Eile mitgeschleppt hatten, zu einem Brei und legte ihn auf die Verletzungen. Auch die anderen Verwundeten wurden in gleicher Weise behandelt. Rolf hatte eine Brandwunde am Bein, die während der Nacht bös angeschwollen war und den braven Bader, der väterliche Gefühle für Rolf hegte, besorgt seinen Kopf schütteln ließ. Man zählte, zu wievielen man im Boot saß, und kam zu der Zahl sechsundvierzig. In der Schaluppe konnten höchstens achtzig geborgen sein. Und die andern ...? Zur Dämmerungszeit waren die »Segel« fertig. Man richtete den Mast auf, der in der Jolle lag, und hakte den Baum und die Gaffel hinein. Ein aufgestecktes Ruder diente als Fock. Als die beiden Masten standen und die Segel befestigt waren, wandte man den Steven nordöstlich. Der betrübend kleine Vorrat Brot wurde zusammengelegt, und alle bekamen eine fingerdicke Schnitte davon. Es war beunruhigend, zu sehen, wie sogar das Austeilen einer so geringen Menge den Vorrat schwinden machte. Padde hatte den ganzen Tag über geschlafen. Als er des Abends von dem Lärm, der mit dem Aufrichten des Mastes verknüpft war, erwachte, verbarg er sofort den Kopf wieder in den Armen und stellte sich ängstlich schlafend. Hajo war, wie alle ändern, wieder voll guten Muts, rechnete bestimmt darauf, daß nun, wo sie auf dem rechten Kurse segelten, morgen wohl Land in Sicht
kommen werde.
Rolf, der in den letzten Monaten täglich die Reise auf der Karte verfolgt hatte, sah den Zustand
weniger rosig. Die Schmerzen in seinem Bein stimmten ihn auch nicht fröhlicher und machten
ihn fiebrig.
So sank die Dunkelheit und umfing alles mit ihren weiten Armen.
Um Mitternacht machte Gerretje einen Heidenlärm. »Land! Land!« Alles fliegt in die Höhe.
»Wo ist Land?«
An Backbord, weit weg, flimmert ein Lichtlein. Eine tolle Freude bemächtigt sich der
Schiffbrüchigen. Man wirft die Segel um, greift zu den Rudern. Dies Licht kann nichts anderes
als Land bedeuten; mitten auf dem Meer wachsen keine Lämpchen wie Pilze auf der Wiese,
nicht wahr? Es kann auch kein Walfisch sein mit einem Lichtlein auf seinem Schädel. Nein,
Jungens, Land ist es. Floorke sieht bereits Berge. Morgen werden sie unter den Kokosbäumen
Spazierengehen. Rudern, Jungens!
Aber die Berge verwischen sich und steigen als Wolken in die Höhe. Und in das Lichtlein
kommt Bewegung; es scheint auf und nieder zu gehen. Einige zögern im Rudern, als fürchteten
sie ihre angstvolle Ahnung bewahrheitet zu sehen. Das Lichtchen dort drüben ist kein Land,
sondern ein Fahrzeug mit Schiffbrüchigen. »Die Schaluppe!«
Der Schmerz der Enttäuschung wird gemildert durch die Freude des Wiedersehens. Die
Schaluppe führt ebenfalls zwei Segel: hellgraue Fleckchen. Man wirft die Riemen wieder hin
und erwartet die Schaluppe. Warum weiter vom richtigen Kurs abweichen? »Schaluppe ahoi!«
»Ahoi!«
Namen von Freunden werden hin und her gerufen, Freudenschreie, wenn zwei Gefährten
einander an der Stimme erkennen.
»Habt ihr zu essen?«
»Drei Zweipfundbrote. Und ihr?«
»Nichts.«
»Alle Wetter! Welchen Kurs fahrt ihr?«
»Gar keinen Kurs. Und ihr?«
»Wir fahren nach den Sternen, haben den Schiffer bei uns.«
»Den Schiffer? Hört ihr's Leute, der Schiffer ist in der Jolle! - Schiffer, bist du da? Hoch der
Schiffer, Kameraden!« Heiseres, beistimmendes Geschrei.
»Wann werden wir an Land sein, Schifferchen? Morgen schon?«
»Mut, ihr Männer! Vertraut auf Gottes Güte!«Gemeinsam wurde die Fahrt fortgesetzt, die Jolle
gab die Richtung an. Doch bald zeigte sich, daß die Schaluppe zurückblieb. Man griff nach den
Riemen und holte die Jolle wieder ein. »Schifferken, nimm uns zu dir! Dann setzen wir alle
Segel auf die Jolle und fahren noch einmal so schnell. Ach, Schifferken . . .«
Aber die Ohmes in der Jolle widersetzten sich. »Die Jolle ist für so viel Mann zu klein,
Schiffer.«
Und als die Maats aus der Schaluppe sich am Jollenbord festklammerten, stießen die andern die
Schaluppe mit roher Gewalt zurück. Wehklagen erhob sich unter den Zurückgesetzten.
»Schiffer, niemand von uns kann nach den Sternen fahren. Willst du uns versaufen lassen?«
Aber die Ohmes in der Jolle kannten kein Erbarmen. »Wenn wir euch aufnehmen, sind wir
allesamt Futter für die Haifische.«
Seufzend griffen die armen Burschen zu den Rudern. Die Öllaterne wurde auf die Jolle
hinübergebracht, so daß man sich in der Schaluppe danach richten konnte.
Langsam wurde es hell. Die Männer spähten nach allen Seiten über die Wasserfläche. »Siehst du was, Dudes?« »Geradesoviel wie ihr.« Alle seufzten. Etliche Ohmes erleichterten ihren Kummer, indem sie Padde mit Vorwürfen überhäuften. Der arme Junge begann zu schluchzen, und ein paar andere, vor allem seine Freunde, nahmen ihn in Schutz. Rolf fühlte sich etwas besser; sein Bein stach ihn bedeutend weniger, und mit glücklicher Miene legte Vater Langjacke einen neuen Brotbrei auf die Wunde. Auch die Verletzungen der andern ließen sich gut an. Man machte sich an diesem Tag daran, den Kurs etwas besser auszurichten, kratzte zu diesem Zweck in das Holz des Vorderkastells eine Karte der Insel Sumatra und Java und der Sundastraße — alles aus dem Gedächtnis. Am Mittag vor dem Unglück hatte Bontekoe fünfeinhalb Grad südlicher Breite gemessen; das Besteck auf der Karte wies dabei neunzig Meilen bis zur Küste. Von diesem Punkt aus stellte man den Kurs ein. Am dritten Tag war das Brot zu Ende. Am Tag vorher hatte sich auch der Durst bereits tüchtig bemerkbar gemacht. Aber man blieb voller Hoffnung. Der Wind saß hinten im Segel; die See blieb ruhig. Am Tag darauf türmten sich schwarze Wolkengebilde am Horizont auf. Gewaltig schritten sie heran, den ganzen Himmel als Pfand benutzend. Die Maats kannten diese Wolken. In aufgeregter Freude wurden die Segel waagrecht ausgespannt. Pechschwarz war nun das Himmelsgewölbe; es schien den Männern, als säßen sie in einem großen, dunklen Keller. Das Meer, das tagelang einen grellblauen Himmel widergespiegelt hatte, schlürfte all die Schwärze gierig auf, glich einem Sumpf. Da prasselte der Regen herab. Die Lebenskraft erwachte wieder. Im Augenblick war das Segel voll. Man konnte nun die beiden Fäßchen füllen, die zur Aufbewahrung des Brotes gedient hatten. Eine kalte Nacht folgte. Die Maats zitterten in ihren durchweichten Kleidern. Aber am darauffolgenden Morgen brannte die Sonne sie im Umsehen trocken und ließ die Haut springen. Erstickend heiß wurde es. Das Meer war glatt wie ein Spiegel. Wo sich verbergen vor der glühenden Sonne? Der Durst machte sich wieder fühlbar. Bontekoe schnitt die Nasen seiner Schuhe ab und ließ allen einen »Becher« voll aus den Fäßchen reichen. Damit waren drei Viertel des Vorrats verbraucht, denn man mußte mit den Gefährten in der Schaluppe teilen, die nichts hatten, um das Wasser darin aufzubewahren. Fürchterliche Tage folgten. Wie ein verschrumpeltes Stückchen Leder saß die Zunge im Mund, Kehle und Gaumen brannten. Das Entbehren der Nahrung rief Krämpfe in den Eingeweiden hervor. Jedesmal, wenn der Morgen graute, hoffte man Land zu gewahren. Jedesmal neue Enttäuschung, wenn man nichts als Meer sah, soweit das Auge reichte.
Haifische Ohne das jemand es merkte, gesellte sich ein Gast zu den Schiffbrüchigen. Erst als er da war, fühlte man seine Anwesenheit. Die Männer hörten ihn in ihren eigenen matten, heiseren Stimmen und sahen ihn in den welken Augen der andern. Verzweiflung hieß der Gast. Wenn ein Maat etwas zu entdecken meinte, das Land sein konnte, griff man in fieberhafter Hast zu den Riemen und zog sie keuchend durch das Wasser. Dann wich der Gast, geräuschlos, wie er gekommen war. Aber wenn bald darauf das »Land« sich wieder in Luft und Wasser auflöste, kam der Eindringling zurück. Die Männer wichen den gegenseitigen Blicken aus, um ihn nicht zu sehen, und sie schwiegen, um durch ihre Stimme einander nicht zu verraten, daß er wieder da sei. Beklommen war das Schweigen, es schnürte die Seele zu. Wenn jemand sich räusperte, schreckten die ändern auf und spitzten die Ohren, ob etwas folgen werde. Eines Nachmittags große Aufregung. Von Osten her kamen Möwen angeflogen, an die dreißig, die kreischend um die Boote kreisten und ab und zu so niedrig darüber hinwegstrichen, daß man sie beinahe greifen konnte. In der Schaluppe lag ein rostiger Degen; damit stellte sich Hilke auf das Vorderkastell, und unter heiserem Geschrei gelang es ihm, eine damit flügellahm zu schlagen. So hatte man, als es dunkel wurde, ihrer fünf zu fangen gewußt. Die Vögel wurden gerupft und verteilt. Mit gierigen Händen nahmen die Ohmes das winzige Bröckchen Fleisch, das ihnen zugedacht war. Sie kauten daran, solange es nur ging, und sogen gierig an den marklosen Vogelknochen. In der Hoffnung, morgen die andern Vögel auch noch zu erbeuten, warteten sie die Nacht ab. Aber als das erste Licht dämmerte, waren die Möwen weg. Doch war wieder Hoffnung aufgekeimt. Und durch die ehrliche Teilung des kleinen Fangs zwischen Schaluppe und Jolle war das Gefühl der Zusammengehörigkeit wieder gestärkt worden. Man beschloß, ungeachtet der Gefahr, die damit verbunden war, die Gefährten aus der Schaluppe nun doch lieber in die Jolle aufzunehmen; denn das Öl in der Laterne war seit langem ausgebrannt und dadurch die Gefahr, des Nachts auseinanderzugeraten, bedeutend gewachsen. Man konnte nun auch den Mast und die Segel von der Schaluppe übernehmen und segelte infolgedessen mit einem großen Mast, einer Fock, einem Besan und einem blinden Segel. Als gegen Abend der Wind zunahm, merkte man zur allgemeinen Freude, daß die Jolle trotz ihrer größeren Belastung schneller fuhr. Merkwürdig, man rechnete niemals mit der Möglichkeit, des Mittags oder des Abends Land vor den Bug zu kriegen; das wurde nur morgens bei Sonnenaufgang erwartet. Tagsüber schien es, als käme man überhaupt nicht vorwärts; es gab nichts, das man näherkommen sah oder verschwinden, und der Gesichtskreis blieb immer gleich. Nur die Wolken zogen vorbei, aber die kamen von hinten und verschwanden wieder weit voraus, so daß man das Gefühl hatte, zurückzubleiben. Aber des Nachts! Man hörte das glucksende Wasser, durch den Bug zurückgeworfen, fühlte den Wind am Segel ziehen, und hinter sich sah man in der dunklen Wassermenge den langen, hellen Streifen, der darauf deutete, daß es vorwärtsging. Wer weiß, ob sie nicht schon gar Land vor dem Bug hatten! Wer weiß, ob sie morgen früh nicht dicht vor ihren Augen Bäume aufragen sehen würden! War das nicht schon das Rauschen der Brandung? Dann kam die langersehnte Morgendämmerung. — Meer. Nichts als Meer. Seit fünf Tagen hatten die Ohmes keinen Tropfen Wasser mehr über die Lippen gebracht.
Hinter dem Boot scharte sich ein abscheuerregendes Gefolge. Als ein Ohme den ersten weißen Haifischbauch im Wasser flimmern sah, stieß er einen Schrei des Schreckens und des Ekels aus. Ein oder das andere Mal stieß ein Maat mit Schauder den rostigen Degen ins Wasser, und alle zitterten vor Freude, wenn ein roter Blutschimmer verriet, daß der Stoß getroffen habe. Am schrecklichsten von allem machte sich der Durst geltend. Man kaute auf Schlüsseln und Musketenkugeln, um dem dürren Gaumen noch ein wenig Speichel zu entlocken. Da geschah wieder etwas, was den Mut aufleben ließ. Eine Schar fliegender Fische tauchte, wahrscheinlich aus Furcht vor den Haien, dicht vor dem Boot auf. Zu vieren und fünfen zugleich taumelten sie gegen das Segel und fielen den eifrig nach ihnen haschenden Ohmes zur Beute. Sie wurden rasch verschlungen, schmeckten feiner als der feinste Lachs. Und man schwamm wieder weiter. Am 1. Dezember — am zwölften Tag, den man in den Booten zubrachte — begannen einige Maats, ungeachtet Bontekoes und Vater Langjackes Warnungen, Seewasser zu trinken. Da es den Durst nicht löschte, schlürften sie immer weiter, bis der Magen seinen Widerwillen dagegen zu erkennen gab und alles wieder herauswarf, zum Glück für die Ohmes, die sonst bestimmt krank geworden wären. Nun brannte ihre Kehle mehr denn je, und ihr Durst hatte noch zugenommen. Die Tränen rollten den armen Burschen über die Backen. Floorke hatte sich in den Oberarm geschnitten und sog sich das Blut aus. Vater Langjacke, aus dem alle Lebenskraft gewichen war, schlug vor, die Jolle leck zu stoßen und sie alle miteinander sinken zu lassen. »Und dann den Haien als Futter dienen?« fragte Bontekoe. Dazu verspürte kein einziger Ohme Lust. Und mit neuem Ansporn, fest entschlossen, solange noch ein Fünkchen Leben in ihren ausgehungerten Körpern säße, diesen nicht den Haien vorzuwerfen, spähten die Männer wieder aus gen Osten. Die Haifische waren geduldig, verließen die Jolle nicht. Allgemach sank der Mut wieder. Ein paar Matrosen fingen an zu weinen, wollten sich über Bord werfen. »Was, zum Kuckuck«, sagte Bontekoe zornig mit heiserer Stimme, »wenn die dummen Tiere den Mut nicht aufgeben, wollen wir es dann tun?« Aber bei manchem war das letzte Restchen Lebensmut gebrochen. Mit hohlen, fieberglühenden Augen starrten sie ins Wasser, krümmten sich, wenn da unten etwas Dunkles vorbeischoß. »Hajo«, stöhnte Padde, »ich kann nicht mehr, Hajo! Ich will lieber tot sein.« Hajo suchte nach ermutigenden Worten. Aber Worte, das blieben sie. Padde fühlte deren Hohlheit und verlor sein letztes Fünkchen Mut, nun, wo er merkte, daß auch sein Freund der Verzweiflung nahe war. Bontekoe ging es wie Hajo. Er mußte seine siebzig großen Kinder trösten — und suchte selber Trost. Rolf sagte nichts, starrte stundenlang nach dem östlichen Horizont. Es kam aufs Durchhalten an. Durchhalten! Am nächsten Tag regnete es. In nervöser Hast, gepaart mit zornigen, rauhen Ausrufen, spannten die Ohmes das Besansegel und das blinde Segel -über das Boot, füllten die beiden Fäßchen wieder, sammelten das Wasser außerdem in Schuhe und lederne Mützen und schlürften gierig aus dem Segel. Dann krochen alle wieder im Hohlraum der Jolle zusammen, um ein wenig Wärme zu suchen. Ihre Kleider waren aufgeweicht, und eine feuchte Morgenkühle hing über dem Wasser. Die Luft war trostlos grau, und obgleich die Maats nun wieder für einige Zeit von ihrem furchtbarsten Quälgeist befreit waren, starrten sie unter dem Segel hindurch mit ihren
blaugeränderten Augen trübe in den dicken Regennebel, und das dumpfe Schweigen der letzten
Woche brach wieder herein.
Ein heiserer Schrei — »Land!«
Wie versteinert blieben alle sitzen, mit weitgeöffneten Augen, Angst und Zweifel im Antlitz.
Man wagte kaum, sich zu erheben und zu überzeugen. Wer würde jetzt noch eine Enttäuschung
ertragen können?
Aber der Mann am Steuer ist seiner Sache sicher. »Land! Land vor dem Bug!« Die Tränen
zittern durch seine Stimme.
Da richten sich alle mit ihren steifgewordenen Gliedern in die Höhe, stecken ihre Köpfe unter
dem Segel hervor und — da, am östlichen Horizont...! Einige brüllen ihre Freude heraus, andere
starren sprachlos oder still weinend nach dem graublauen Streifen in der graublauen Ferne.
Alle zusammen setzten sie keuchend und fluchend die Segel wieder bei. So wurde
allmählich das Streifchen Land größer. Man unterschied Bergformen, den
leichten Streifen der Brandung, dahinter grüne Wälder. Sumatra konnte es nicht
sein; es war ein Inselchen, dessen ganzen Umriß man übersehen konnte. Aber
Bontekoe wußte, daß westlich von Sumatra, dicht an der Küste, eine Reihe von
Inseln liegt. Von diesen mußte es eine sein.
Als man sich dem Eiland näherte, begann die See aufzuwogen.
»Wir müssen einen Landungsplatz suchen«, sagte Bontekoe.
»Wir können hier doch landen, Schiffer? Du wirst sehen, daß alles glatt geht.
Nicht wahr, Jungens?«
»Ja, gewiß!« brüllte die ganze Schar.
Aber hier wurde der Schiffer wieder der Schiffer. »Wollen wir nun im letzten
Augenblick alles verderben? Sagt an: Wer hat euch an Land geführt? Hat Nase
das vielleicht getan? Du, Floorke? Oder Gerretje oder Hilke?«
»Nein, Schiffer, das hast du getan.«
»Glaubt mir dann auch, wenn ich euch sage, daß wir hier nie und nimmer mit
heiler Haut durch die Brandung kommen! Wir müssen einen besseren Fleck
suchen.«
Man gehorchte ihm, fuhr um das Eiland herum und fand an der Innenseite
eine kleine Bucht. Man ruderte hinein, ließ einen Anker fallen, kletterte, so gut
und schlecht die Glieder es noch erlaubten, zum Boot hinaus und wateten durch
das untiefe Wasser. Weinend küßten die Ohmes den Strand.
Joppie der Dritte Als die Männer über ihre erste höchste Äußerung der Freude hinweg waren, krochen einige über den Strand dem Wald zu. Es wuchsen überall Kokospalmen, und die Nüsse lagen nur so zum Greifen auf der Erde. Die meisten waren im Fall gebrochen; die konnte man mit den Händen weiter spleißen. Und dann die Zähne in das weiße Fleisch gesetzt! Als die Maats so viel Früchte hineingepfropft hatten, daß auch kein Stückchen mehr dazu konnte, verlangte es alle nach Ruhe, nichts als Ruhe. Sie schleppten dürres Gras und Blätter herbei. Und dann — oh, wie lange war es her, daß sie sich zum letztenmal richtig hatten ausstrecken können und sogar noch auf so einem weichen Lager und ohne den Hungertod vor Augen! Nun würde weiterhin auch alles gutgehen. Der Schiffer war bei ihnen und kannte den Weg. Mit unendlicher Dankbarkeit schliefen alle ein. Aber wenige Stunden später wurde einer nach dem andern unter heftigem Leibweh wach. Die Eingeweide hatten so viel Nahrung auf einmal noch nicht vertragen. Alle krochen zusammen und klagten über ihre unerträglichen Schmerzen. »Gevert, ich gehe drauf! Gevert, o Gott, mein Bauch!« »Wäre ich nur zu Hause bei meinem Weib! Die wüßte schon ein Mittel dagegen!« Dann ließ die Pein wieder nach. Die Männer schliefen noch ein paar Stunden und wurden endlich durch die Sonne geweckt. Sie stand über der Bai, und das himmlische Gold floß ins Wasser nieder. Behende Strandläufer trippelten auf hohen Beinchen hin und her; Möwen strichen schwungvoll durch den Schaum der Brandung oder wiegten sich auf dem sacht schaukelnden Wasser der Bucht. Allerhand buntgefiederte Vögel schmetterten und flöteten in den hohen, stattlichen Bäumen; in den wehenden Kronen der Kokospalmen führten graubraune Kokosratten ihre gewagten Luftsprünge aus. Die Männer fühlten ihre Kräfte wieder aufleben. Sie lagen dort im sich erwärmenden Sand, über sich die strahlende Sonne, die in Bälde allzu heiß werden würde. Schweigend, still genießend, lauschten sie der Musik der Brandung. Danach ging man wieder einmal auf Kundschaft aus. Eine Gruppe zog nach Süden, am Strand entlang, eine andere Gruppe gen Norden. Am Nachmittag kamen sie zurück mit weiter nichts als Kokosnüssen, Bananen und andern unbekannten Früchten. Menschen hatten sie nicht gesehen. Aber die, die gen Norden gezogen waren, hatten ein spaßhaftes Abenteuer gehabt. Sie hatten ein Fahrzeug, eine Flügelprau gefunden, woraus sie geschlossen hatten, daß das Eiland bewohnt sein müsse, trotzdem sie keine Sterbensseele trafen. Sie hatten das kleine Boot, das nur zwei Mann fassen konnte, ins Wasser gestoßen, aber als sie zum Spaß sich zu dritt hineingesetzt, hatten die halbverfaulten Planken nachgegeben, und die Vergnügungsfahrer waren ins Wasser gefallen, was bei dieser Sonne nicht schlimm war. An der Stelle, wo die Prau lag, führte ein Pfad in den Wald. Man lief hinein, im Gänsemarsch, weil für zwei nebeneinander kein Platz war, Hilke voran. Kaum hatten sie den Pfad eingeschlagen, da begann vor ihnen, ganz in der Nähe, ein Hund zu heulen. Mit aller Vorsicht wurde nun die Wanderung fortgesetzt. Bald sah man zwischen den dicken Bambusstengeln eine Lichtung schimmern und in deren Mitte ein baufälliges Häuschen auf hohen Pfählen, an deren einem ein magerer Hund festgebunden war, der entsetzlich kläffte. Übrigens sah das Häuschen recht friedlich aus; ein paar Tauben flogen vom Dach auf, und da kam sogar eine Taube aus dem
niedrigen Haustürchen geflattert, so daß das ganze Gebäude mehr einem Taubenschlag als einer Menschenbehausung glich. Zweifelnd besahen die Maats sich die Lichtung. Als der Hund Menschen auftauchen sah, winselte er freudvoll, stellte sich vor Aufregung auf die Hinterpfoten und erhängte sich dadurch beinahe an dem Strick um seinen Hals. Und als die Ohmes ihm den schmierigen, stachligen Kopf krauten, stöhnte er leise vor Glück und wedelte dankbar mit dem Schwanz. Ein gekerbter Kokosstamm stand schräg gegen das Häuschen, er schien als »Treppe« gedient zu haben. »Die reinste Hühnerstange!« meinte Floorke, während er nach oben balancierte. »Bleib du hübsch unten!« — Das war zu Gerretje, der folgen wollte, gesagt. — »Wir können nicht alle beide drauf; es ist keine Marmorfreitreppe!« »Was siehst du«, fragten sie von unten, als Floorke hineinkroch. »Puh!« stieß Floorke hervor und spuckte geräuschvoll. »Ich hab' eine Spinne im Mund.« »Kannst du was sehen oder ist es dunkel?« »Dunkel? Das Dach ist so leck wie der Südwestwind. Aber es ist nichts zu sehen. Ein paar geborstene Töpfe. Warte, dahinter ist noch ein Kämmerchen, glaube ich!« »Sieh dir das auch mal an!« Und als Floorke es nicht eilig hatte, reizten sie ihn: »Oder traust du dich nicht?« »Er ist wie Eis von einer Nacht, der Fußboden«, sagte Floorke zögernd. »Man kann ihn durch und durch sehen.« »Du bist mir der Richtige!« höhnte Gerretje von unten. »Komm zurück, dann werde ich es mir ansehen!« »Wenn du es gerne willst, bitte sehr«, sagte Floorke und klomm herab. Gerretjes Mienen drückten jetzt Zweifel aus. Er wußte wohl, daß bei Floorke Bangemachen nicht gelte. Wenn der sagte: »Es ist faul«, dann war es auch faul. Aber gesagt blieb gesagt. Er kletterte behende das »Laufbrett« hinauf, wie er sich ausdrückte, und übersah, oben angelangt, das Gelände. »Es ist man dünn«, mußte er zugeben. »So?« stellte Floorke unten fest. »Weißt du, was ich tue?« sagte Gerretje. »Ich springe drüber weg. Auf der andern Seite ist wieder ein dicker Bambus.« »Laß dich nicht verblüffen, Gerretje!« riefen die Maats. »Deine Knochen sind bezahlt.«Gerretje setzte ab, eins — zwei — dr...! Ein Heidenkrach. Die »Treppe« schlug herunter, klatschte in den Schmutz, der nach allen Seiten spritzte, und das Häuschen fiel hübsch ordentlich um, mit allen vier entwurzelten Pfählen in die Luft, so daß der Hund, der an einen der Pfähle gebunden war, mit herausquellenden Augen in der Luft baumelte. Das Dach riß entzwei, und heraus purzelte, wie eine Weihnachtsüberraschung — Gerretje. Die Maats fielen beinahe um vor Vergnügen. Floorke schnitt rasch den Hund los, der halb von Sinnen auf die Erde plumpste und es als seine erste Pflicht ansah, Floorkes bloße Füße sauber zu lecken. Gerretje krabbelte mit einer ziemlich scharfen Verwünschung des sumatranischen Häuserbaus wieder auf und wischte die Hände an seiner Hose ab. »Wir wollen dazu schweigen«, schlug Floorke vor. Und während einige das umgefallene Häuschen durchschnüffelten und voll Staub Spinnen und Schwaben fanden, liefen die andern um die Lichtung herum und entdeckten einen schmalen Pfad, jedoch so verwildert, daß man sich nur mit dem Beil einen Weg bahnen konnte. Man beschloß zurückzukehren und nahm den Hund als Kriegsbeute mit. Ausgelassen vor Freude sprang das Tier an seinen Befreiern in die Höhe, die inzwischen die phantastischsten Betrachtungen anstellten über den Zusammenhang der morschen Prau mit dem wracken
Häuschen und dem ausgemergelten Hund. So kam man mit einer lebenden Seele mehr bei der Jolle an. Man belud die Jolle mit Kokosnüssen und Bananen, verstaute die Früchte unter dem Vorderkastell, im Achterkasten, oben auf dem Roof. Es schien fast, als führe die Jolle zu Markt. Ein Flüßchen war nicht gefunden worden, so daß man die Fäßchen mit Kokosmilch füllte. Die Zeit, die die Männer mit dem Verproviantieren zubrachten, benützte der magere, stachlige Hund, um eine große Waldratte zu fangen und sie in gieriger Hast zu verspeisen. Als er merkte, daß die Männer in See zu stechen beabsichtigten, bat er auf Hundeweise, ihn mitzunehmen. Er schien mit dem Meer vertraut zu sein. Die Maats taten ihm den Willen. Sie klopften ihm vertraulich die knochigen Flanken, stellten fest, daß man seine Rippen zählen könne, daß seine Ohren gemein lang und steil seien, daß sein Fell beim Schinder keinen Deut einbringen würde, aber daß er, seinen Augen nach zu urteilen, eine aufrichtige Natur habe. Er wurde auch getauft. »Joopie« nannten sie ihn, denn dreimal ist Schiffsrecht. In der Dämmerung verließ die Jolle das Land. Wieder weiter! Die Maats waren voll Mut. Hier konnten sie doch nicht bleiben, und der Schiffer sagte, daß sie binnen zwei Tagen Sumatra vor den Bug kriegen würden. Also noch einmal das Leben gewagt! Das Gefühl der Unruhe, das sich ihrer bemächtigte, als sie das Eiland in der Dunkelheit versinken sahen, wurde tapfer hinuntergeschluckt.
Sumatra An dem perlmutterfarbigen Himmel erschien goldenes Geflimmer, ein paar aufsteigende Wölkchen bekamen goldene Ränder an der Unterseite; dann tauchte die Sonne selbst in einem rosenroten Kleid aus dem Wasser auf. Später zog sie ihr Tagesgewand an, und der Himmel wurde blau, grellblau, bis er schließlich ungemischtes Kobalt war. Bontekoe hatte richtig vorausgesagt: des Mittags kam Sumatra in Sicht, ein langer Streifen Land, der allmählich zu einer mächtigen Wand tiefvioletter Berge wurde, hinter dem ein großer Koloß saß, rauchte und dicke weiße Wolken über den ganzen Himmel blies. Man beschloß, vorläufig erst die Küste abzusegeln, um so schnell wie möglich die Sundastraße und danach Bantem zu erreichen. Es herrschte noch kein Nahrungsmangel. So kreuzte man in südöstlicher Richtung. Die Sonne ging klar unter. Der Wind schlug gänzlich nach Norden um, so daß man es sich nicht besser wünschen konnte. Der Mond ging auf, erst bleich, allgemach zu Silber erglühend, und füllte den ganzen Himmel mit seinem wunderlichen Licht. Sterne glänzten in allen Farben; es war, als schwebe von dort oben eine sanfte, süße Musik herab. Eine Prau! Badend im Mondlicht tanzte das kleine Fahrzeug auf den Wogen. Ein einsamer Fischer stand aufrecht darin, vertieft in seine Arbeit, so daß er die Jolle nicht herankommen sah. In weitem Schwung warf er sein Netz aus, das still ins Wasser fiel. Der Mann war beinahe ganz nackt; das Mondlicht umzeichnete seine schlanken Schultern. Gleich einer Krone stand ihm ein schwungvoll geknüpftes Kopftuch über dem Haar. Plötzlich bemerkte er die Jolle, zog schnell das Netz binnenbords und paddelte in seinem schlanken Fahrzeug davon. Lustig tanzte es über die hohe Brandung. »Sobat! Freund! Sobat kras!« schrie Floorke. Aber der Eingeborene schien der Freundschaft nicht zu trauen. Am nächsten Tag gingen die Nüsse zu Ende, und man mußte neuen Vorrat einzuheimsen suchen. Es handelte sich also darum, eine Bucht zu finden. Da der Wind sich jedoch nach Südosten gedreht hatte, mußte man lavieren und geriet dabei jedesmal in so große Entfernung von der Küste, daß man leicht an einem geeigneten Einschnitt unbemerkt vorbeisegeln konnte. Darum wurde beschlossen, daß fünf Mann am Strand entlanglaufen und ein Zeichen geben sollten, sobald sie auf eine Bucht gestoßen waren. Hilke, Floorke, Harmen, Hajo und Rolf zogen ihre Hosen fester und sprangen über Bord. Gute Schwimmer, die sie allesamt waren, wußten sie sich prustend durch die starke Brandung hindurchzuarbeiten. Mit dem beruhigenden Gefühl, sofort wieder die offene See wählen zu können, wenn Eingeborene ihnen gefährlich werden sollten, folgten sie dem Strand, der in der Landseite von Bäumen begrenzt war, mit ellenhohem Gras dazwischen. Möwenschwärme flogen hie und da auf. Allmählich wurde der Strand schmal und schlammig. Hie und da standen die Bäume sogar mit dem Fuß im Wasser, und es wimmelte von Schlammspringern. Die fünf Mann bahnten sich nun einen Weg durch das hohe Gras, in dem sie ganz verschwanden. Hilke, der vorneweg lief, erstarrte vor Schreck, als dicht vor seinen Füßen ein Affe aufsprang und sich an ein paar hängenden Schlingpflanzen in einen großen Laubbaum hinaufzog, von wo aus er den Ohmes in der Affensprache eine Reihe Verwünschungen an den Kopf warf. Der Boden vor Hilkes Füßen war aufgerissen, und einige Pflanzen lagen mit den Wurzeln nach oben. Sonderbar war, daß ein wenig über den Wurzeln kleine Bohnen saßen, die sich zuvor augenscheinlich unter der Erde befunden hatten, denn es saß noch Erde an ihnen. Floorke wischte eine solche Bohne an seiner
Hose ab. »Ob man die essen kann?«»Natürlich«, meinte Hilke, »wenn dieser Affe deswegen herunterkommt, um sie aus der Erde zu wühlen.« Zögernd steckte Floorke das Böhnchen in den Mund. »Die Schale schmeckt nicht besonders«, erklärte er. »Aber die Kerne, die drinsitzen, sind lecker.« Die andern kosteten nun auch. Hilke besah die ovalen Blättchen der Pflanze und merkte nach einigem Umherspähen, daß sie überall in Fülle wuchs. Alle stopften die Taschen voll Bohnen, und Floorke gab ihnen einen Namen: Affennüsse. Nach einem Marsch von einer Stunde fanden sie einen Fluß. Schnell die Hosen aus und als Zeichenflagge verwendet! In der Jolle verstand man den Wink; der Kurs wurde genau auf den angedeuteten Punkt eingehalten. Beim Näherkommen bemerkte man jedoch, daß vor der Flußmündung eine Sandbank lag, die wohl nicht über die Wasserfläche emporragte, statt dessen aber eine so heftige Brandung verursachte, daß Landen eine gewagte Sache schien. Bontekoe wagte die Verantwortung nicht zu übernehmen und fragte die Maats selbst, was sie wollten. »Landen!« tönte es wie aus einem Munde. »Nun«, sagte Bontekoe, »dann wage ich meine Haut auch daran. Wir sind schon durch so viele Fährnisse hindurchgerollt. Werft vier Riemen aus, und an jeden Riemen zwei Mann! Ich halte das Steuer. Die übrigen klar zum Schöpfen!« Man hielt geradewegs auf die wühlende, schäumende Wassermasse zu. Dann kamen ein paar spannende Augenblicke. Die Jolle wurde hoch emporgehoben, niedergeschmettert, zugleich kam ein schwerer Roller und warf sie halb voll. Mit Schuhen, Händen, Mützen und den beiden Fäßchen wurde das Wasser hinausgeworfen, und die Maats an den Riemen zogen wie die Besessenen. Da schlug ein zweiter Roller hinten über die Jolle. Der Rand ragte keine Handbreit mehr über das Wasser. Mit zusammengebissenen Zähnen arbeiteten die Ohmes in rasendem Tempo. Eine dritte Welle stürzte glücklicherweise hinter dem Boot nieder, eine Welle von Schaum flog den Maats über die Köpfe. Sie waren aus der Brandung heraus. Ständig ausschöpfend, legten sie erst am linken Ufer an, nahmen die fünf Kameraden auf und setzten danach zum rechten Ufer über, wo die Jolle an beiden Ankern vertäut wurde. Dann gingen sie an Land. Die Ufer des Flüßchens waren dicht bewachsen. Wo die Jolle festgemacht war, schossen die Stämme von Kokos- und Betelpalmen in die Höhe und dichte Bambuswäldchen, deren lange, schmale Blätter vielstimmig rauschten, wenn ein Lüftchen sie streifte. Dann funkelten sie vom Sonnenlicht. Die Schiffbrüchigen sahen sich um, was es hier für Proviant gab. Floorke zeigte dem Schiffer die Bohnen, die auch hier reichlich gediehen. Bontekoe kostete die »Affennüsse« und vermutete, nach dem ölartigen Geschmack urteilend, daß sie sehr nahrhaft sein müßten. Er gab den Maats Anweisung, soviel wie möglich davon zu sammeln. In kleinen Trupps durchschnüffelten die Männer die Umgegend. Harmen und Padde, die zusammen unter dem Suchen und Naschen abgeirrt waren, standen, bevor sie es recht wußten — vor einem kleinen Feuer. »Herrje!« stammelte Padde. Harmen lag schon auf den Knien und blies hinein, was er blasen konnte. Feuer, das konnten sie gebrauchen! Hilke, der einzige, der ein Feuerzeug in der Tasche gehabt hatte, war so dumm gewesen, es in der Schaluppe liegenzulassen, als er mit den andern in die Jolle umgestiegen war. »Holz!« rief Harmen beim Blasen. »Trockenes Holz!« Nun, Holz lag überall zum Greifen. Und dank Harmens gesunden Lungen schlugen die Flammen bald wieder aus der glimmenden Asche auf.
»Was liegt da?« fragte Padde, nach ein paar Häufchen Tabak auf einem Bananenblatt weisend. Zur Antwort ergriff Harmen eine Handvoll davon und steckte den Fund in die Tasche. Dann begann er zu schreien: »Hei! Holla! Ho! Hier ist was zu sehen!« Padde schrie aufgeregt mit. Da kamen die Maats angestürmt. Und beim Anblick der beiden Schätze: Feuer und Tabak, hüpften sie vor Freude. Schmunzelnd holten sie ihre Pfeifchen aus der Tasche. Der Tabak wurde ehrlich geteilt. Es war zwar nicht viel, aber jeder würde doch einen feinen Zug tun können. Die Männer legten noch einige Feuer an, dann hockten sie sich um die hochauflodernden Flammen und sogen still genießend an ihren Pfeifen. Danach vertieften sie sich in Mutmaßungen über die Bewohner dieses Landes, die gewiß den Tabak in übereilter Flucht hinterlassen hatten. Ob sie ihnen feindlich gesinnt waren? Ach was, Sorgen kamen immer noch früh genug! Aber als der Abend sich herabsenkte und der Himmel sich bedeckte, bemächtigte sich allmählich eine innerliche Unruhe der Schiffbrüchigen. Wie, wenn die Wilden sie heute nacht in großer Anzahl und bewaffnet überfielen? Ab und zu ließ ein Abendlüftchen das Gras rauschen; die langen Halme beugten sich gegeneinander und flüsterten. Den Ohmes klang es wie der schleichende Tritt hinterlistiger, blutrünstiger Wilder. In der Ferne plötzlich ein Vogelruf. Über der See trieben die Kalongs wieder heran, wahre Spukgestalten. Die Maats hockten allmählich alle zusammen bei dem großen Feuer und warfen Stücke trockenen Holzes darauf. »Schürt die Flammen nur auf, Jungens! Das jagt die Unruhe davon.« Bontekoe beschloß, Wachen auszustellen. »Freiwillige?« Hajo und Rolf meldeten sich als erste. Sie bekamen die Weisung, während der ersten paar Stunden der Nacht den Fluß zu überwachen. Die beiden Freunde zogen auf ihren Posten. Aber sie waren noch keine zehn Schritte entfernt, als keuchend und schnaufend Padde hinterhergetrabt kam. »Ich komme auch mit«, erklärte er. Mutig betraten die Jungen den dunklen Wald. Padde lief, an allen Gliedern zitternd, als letzter und hielt sich am Zipfel von Hajos Hose fest. So kamen sie an den Fluß. Nun einen guten Ausguck finden! Hajo wußte Rat. Ein schwerer Baum war schief übers Wasser gewachsen, den würden sie ersteigen. »Kommst du mit, Padde?« »Ich bleibe unten.« »Aber da kannst du nichts sehen.« »Auch gar nicht nötig«, fand Padde. »Hauptsache, daß sie mich nicht sehen.« »Na, dann bleib unten!« sagte Rolf. »Da kannst du dich von den Krokodilen holen lassen.« »Krokodile?« stammelte Padde. Schweigend kletterte er hastig hinter Rolf her. In der Tat, von hier hatten die Jungen eine herrliche Aussicht. Der Fluß war nirgends zugewachsen und glänzte unter dem nächtlichen Himmel. Die drei wählten einen schönen runden Ast zum Sitzen. So, nun würden sie es eine ganze Weile aushaken. Aber sie hatten nicht mit den kleinen Quälgeistern gerechnet, die es unmöglich machen, ohne Schutz die Nacht in einem tropischen Urwald zuzubringen, den Moskitos. Es war zum Tollwerden, so summten sie einem um die Ohren, Padde schnitt einen belaubten Zweig ab und wedelte und schlug damit, daß er beinahe vom Baum herunterpurzelt. Aber es half etwas, und die andern folgten seinem Beispiel. Auf einmal, unter ihnen, brechende Zweige, Stampfen und Plumpsen in dem weichen Sumpfboden. Unwillkürlich klammerten die Freunde sich aneinander; fest. Da neigte sich das Gras zur Seite, und ein dunkles, haariges Tier mit zwei schweren, rundgebogenen Hauern kam leise knurrend zum Vorschein, watete ohne sich umzusehen, ins Wasser und schlürfte voll Wohlbehagen. Da kam noch eins aus dem Gras hervor, ihm folgten zwei, fünf, acht, elf junge, knurrende Vierfüßler, die sich schreiend vor freudiger Aufregung im Schmutz wälzten und darauf auch ins Wasser liefen, schlürfend, niesend und knurrend: Wildschweine. Atemlos sahen die Jungen zu. Die Ferkel hatten eine längsgestreifte Haut, ein komischer Anblick. Die drei
waren so von dem Familienbad der Ringelschwänzchen gefesselt, daß keiner von ihnen die Bewegung im Wasser spürte, dort drüben. Plötzlich stieß eines der Ferkelchen einen Schmerzensschrei aus. Dann erstickte das Wasser seinen Schrei, und das Tierchen wurde von einer unsichtbaren Macht weggeschleppt. Ängstlich schreiend flüchteten seine Geschwister in unbeholfenen Sprüngen das Ufer hinauf. Aber die Alten stoben unter wütendem Schnauben und Blasen nach der Stelle, wo das Junge in die Tiefe gerissen worden war. Während das Weibchen da stehen blieb, schwamm das Männchen noch ein Stückchen weiter, drehte sich suchend in der Runde und kehrte schließlich mit einem Klagelaut zu seinem Weibchen zurück, worauf sie beide ans Ufer patschten und knurrend zwischen dem Gras verschwanden, die Jungen hinter dem Weibchen her. In ihrer Hast und Aufregung stießen die Ferkelchen aufeinander und überschlugen sich mit der Schnauze in den Schlamm. Aber knurrend und quiekend stürmten sie wieder weiter, tummelten sich und schlugen heftig mit den kurzen Hinterbeinchen, daß die Erdklumpen in weitem Bogen ins Wasser klatschten. Dann wurde es wieder still. Nach einiger Zeit kamen Hilke und Harmen, um die Jungen abzulösen. Schweigend, halb träumend ging sie nach dem Lager zurück, streckten sich bei einem der Feuer aus und schliefen ein. Die Nacht verlief ruhig. Erquickt standen alle am nächsten Morgen auf. Gerade hatten sie ihr Frühstück verzehrt, Kokosmilch mit gerösteten Affennüssen, warm aus dem Feuer, als drei Eingeborene aus südlicher Richtung den Strand entlang kamen. Der Bader, Bolle und Floorke, berühmt wegen ihres fließenden Malaiisch, wurden ihnen entgegengeschickt. Floorke gürtete sich zu Zeichen seiner Würde den rostigen Degen um und gebärdete sich als Leiter der Abgesandten. So begegneten die beiden Gruppen einander. Die Eingeborenen waren von heller Hautfarbe und machten einen zivilisierten Eindruck. Sie trugen hübsche Tücher in dem glatten, glänzendschwarzen Haar. Der nackte Oberleib hatte keine Tätowierung, und um die Hüften faltete sich eine Art Rock mit schönen Mustern. Furchtlos, auch nicht sehr erstaunt, sahen sie den Maats in die Augen und grüßten auf malaiisch. Floorke ergriff sogleich das Wort. »Habt ihr Eßwaren? Makan? Wir bezahlen. Bajar!« »Aba makanan, man«, war die bejahende Antwort. »Makanan apa?« fragte Bolle. Was für Eßwaren? Einer der Malaien zählte auf: »Nassi, kambing, ajam-ajam, ikan, buwah1 .« »Gut, bring es her! Was ist dies für ein Land? Negeri apa ini?« erkundigte sich der Bader. »Negeri Lampong, man«, war die Antwort. »Aha, die südlichste Provinz von Sumatra! Das ist schön. — Mana negeri Djawa?« Wo Java lag? Die Malaien wiesen die Küste hinunter, in südöstlicher Richtung. »Das stimmt«, sagte Vater Langjacke erfreut. Und auf malaiisch erzählte er, wie sie ihr Schiff verloren hätten und nun die Reede von Bantem suchten. Bantem sei noch weit, versicherten die Eingeborenen, und es liege ein Meer dazwischen. Darauf gingen sie fort und versprachen, bald mit Nahrungsmitteln zurückzukehren. Inzwischen sammelte Bontekoe das Geld der Maats ein. Hier galt es, alles zusammenzukratzen. Aus Mützen und Futternähten kam das Geld zum Vorschein, und schließlich lagen achtzig Realen da. Ob die Eingeborenen wußten, was Geld war? Bontekoe glaubte es; es würden an
dieser Küste ja genug Handelsschiffe vorbeikommen, an die sie das Geld wieder loswerden konnten. Die Eingeborenen kamen zwanzig Mann hoch zurück mit Federvieh, Reis, Früchten und zwei Ziegen. Bontekoe, erfreut über die Aussicht, nach wochenlangen bitteren Entbehrungen endlich wieder einmal eine schmackhafte Mahlzeit zu genießen, war bald mit ihnen über den Preis einig. In munterer Stimmung wurde das Mahl bereitet. Bolle, mit Harmen als Helfer, hatte sich noch nie so vieler Ratschläge erfreut. Alle wollten kosten, »ob es schon gar wäre«, und Bolle teilte mit einem hölzernen, selbstgeschnitzten Löffel links und rechts Schläge aus.
Nach der Dessah Nach dem Essen, das selbst Paddes Erwartungen bei weitem übertraf, überlegten die Schiffbrüchigen, wie sie noch zu einigem Proviant gelangen könnten. Von einer so friedlichen Bevölkerung würde wohl alles zu erlangen sein, was man vorläufig brauchte. Die Eingeborenen sagten, eine Stunde Fahrt stromaufwärts liege ein Dorf. Dorthin beschloß Bontekoe sich rudern zu lassen. Er ließ seinen Neffen zu sich rufen. »Rolf, du darfst mit als mein Dolmetsch. Die Eingeborenen werden uns nachher selbst mit einer Prau den Fluß hinaufrudern.« »Fein, Ohm! Darf Hajo mit?« Bontekoe sah seinen Neffen schmunzelnd an. »Ihr haltet einander immer beim Schürzenzipfel, glaube ich. Wenn man Hans hat, kriegt man Peter dazu. Na, vorwärts denn!« Strahlend nahm Rolf die Beine unter den Arm. Fünf Minuten später stand Harmen vor dem Schiffer. »Was hast du auf dem Herzen?« »Ich«, schluckte Harmen, »ich habe noch nie in so einer malaiischen Schaluppe gesessen, Schiffer.« »Wenn ich dich auch noch mitnehme, werden sie da unten wohl denken, daß ich mit einer Jolle voll Kindern angekommen bin.« Harmen erbleichte. »Kinder, Schiffer? Ich werde im März sechzehn!« »Packe dich!« tönte es als Antwort, die jedoch lachend gegeben wurde. Verblüfft zog Harmen sich zurück. Aber Rolf, der dem Gespräch aus einiger Entfernung gefolgt war, gab ihm einen Stoß. »Du darfst mit«, flüsterte er. Harmen sah ihn unsicher an. »Glaubst du wirklich? Wenn die Prau da ist, springe ich eben hinein. Aber wenn der Schiffer mir die Beine kaputt schlägt, kommt es auf deine Rechnung.« Da kam eine Prau um die Flußbiegung geschossen, behende zwischen den Steinen schwenkend. Vorn und hinten saß ein Malaie mit einer Paddel in der Hand. Sie vertäuten die Prau, und Bontekoe nahm mit seinen drei fixen Begleitern darin Platz. Harmen schielte zum Schiffer hin, bereit, wenn nötig, noch herauszuwippen. Aber Bontekoe schien ihn nicht zu bemerken. Gerade hatten die beiden Malaien ihre Prau vom Ufer abgestoßen, als Padde atemlos herbeirannte. »Was soll das?« rief Padde. »Wo geht das hin?« Hajo schämte sich ein wenig über Paddes Auftreten, das von sehr wenig Ehrerbietung vor des Schiffers Gegenwart zeugte. Aber er wollte seinem Freund die Antwort doch nicht schuldig bleiben. »Einkäufe machen für die Kombüse, Padde.« »Ich komme mit«, sagte Padde. »Legt mal an!« »Das fehlte noch!« tönte es aus Bontekoes Mund. »Du kommst nicht mit.« »Ich komme doch mit!« erklärte Padde. Bontekoe machte große Augen. »Schwimm doch hinter der Prau her!« feixte Harmen. Er hätte sich nicht träumen lassen, was sein Rat zur Folge hatte. Platsch! sprang Padde pardauz ins Wasser und pätschelte sich nach der Prau hin. Zusammen mit Hajo und Rolf zog Bontekoe den ruchlosen Bottlersmaat an Bord. »Du verdammigter Junge!« schalt der Schiffer. »Willst du dich von einem Kaiman verschlucken lassen?« »Ich will mit meinem Freund«, keuchte Padde. Bontekoe wußte nicht so schnell, was er sagen sollte, und Padde schien sich um seine Meinung auch wenig zu kümmern. Er setzte sich auf den Boden des Fahrzeugs und wrang zornig seine Mütze außenbord aus.
( 1 Tuan: Herr; Nassi: Reis; Kambing: Ziege; Ajam-ajam: Hühner; Ikan: Fisch; Buwah: Früchte.)
»Vorwärts! Rudern!« befahl Bontekoe den malaiischen Ruderern. Sofort tauchten die Malaien die Paddeln ins Wasser; sie hatten begriffen, trotzdem der Befehl in reinem Holländisch erteilt wurde. Die Eingeborenen arbeiteten die Prau um die Bucht herum. Hajo und Harmen bewunderten im stillen die Fertigkeit, mit der sie die gefährlichen Stellen zu umschiffen verstanden. Einige kurze Zurufe genügten den Paddlern zum gegenseitigen Verständnis. Drückende Hitze lag jetzt schon auf dem Wasser. Wie würde es heute mittag erst werden? Allmählich verbreiterte sich das Flußbett; die Bäume standen auch nicht mehr dicht am Wasser, sondern waren durch ein graues Geröllfeld davon geschieden. Die hellen Palmen am Ufer machten dunklen Laubbäumen, höher als eine Kirche, Platz. Wundersam spielten darüber die Sonnenstrahlen auf den regungslosen Blättern und auf den bunten Blüten der Schlingpflanzen. Man kam an einzelnen Häuschen vorbei, halb hinter Bäumen verborgen. Ein paar Frauen waren mit dem Waschen von Kleidern beschäftigt. Sie hatten einen Rock (»Sarong« nannte Rolf ihn) über der Brust zugeknöpft und schlugen die Wäsche auf einem großen Stein aus. Nackte Kinder mit dicken Reisbäuchlein rannten im Wasser hintereinander her und plantschten, daß es eine Art hatte. Die Mädchen trugen das Haar in einem Knoten hochgebunden, die Jungen waren kahlköpfig, bis auf eine kohlschwarze Locke vorn auf ihrem ovalen Schädelchen. Großes Erstaunen unter den Kleinen, als die Prau sich näherte! Ein paar Knirpse ergriffen das Hasenpanier; andere blieben mit offenem Mund stehen und mit Augen so weit wie die See. Die Frauen bemerkten die Prau nun auch. Sie hielten in ihrer Arbeit inne und stießen einen Laut der Bewunderung aus: »Tjobah!« Die Tatsache, daß zwei ihnen bekannte Eingeborene in der Prau saßen, schien sie zu beruhigen. Als das kleine Fahrzeug vorbeiglitt, überhäuften sie die Ruderer mit Fragen. Diese gaben keine Antwort. »Diam! Mund halten!« murrte der hintere nur. Die Kinder wollten der Prau folgen, aber die Frauen riefen die Racker zurück. Weiter hinauf standen Bäume wieder dicht am Wasser, überwölbten den Fluß ganz und gar. Hier wurde es herrlich kühl. Im grünen Dämmerlicht da droben schaukelten die Affen sich an lose hängenden Lianen hin und her und schüttelten kreischend die Äste. Es kamen wieder Häuschen mit Kindern, Ziegen und Hunden, darunter, darauf, darin, rundherum. Danach Kokosgärten mit Bambuszäunen. Die Jungen waren baff über die Geschwindigkeit, mit der sich ein brauner Knirps da drüben in die Bäume schwang; er lief am Stamm hinauf. Bei einem einfachen Hüttchen, unter dem ein paar Boote lagen, machten die Malaien schließlich fest. Bontekoe sprang mit seinem Gefolge ans Land. Mit den Eingeborenen als Führer an der Spitze, schlugen sie einen verschlungenen Pfad ein, eingeschlossen von dichten, grünen Bambuswäldern. Noch um eine Biegung, und man war beim Dorf. Es lag traulich da, umsäumt von einem Grasstreifen, auf dem ein paar Büffel, gewaltige Kolosse mit schweren Hörnern, friedlich grasten und eine Anzahl brauner Knirpse spielte. Als diese die Fremden sahen, verbargen sie sich eilends hinter den Büffeln und spähten mit großen Augen zwischen deren Beinen hindurch. Um das Dorf herum zog sich ein blumenüberdeckter Erdwall, auf dem ein Zaun aus dicken, zugespitzten Bambusstöcken gesetzt war. Der Pfad führte zu einem Durchgang, vor dem dösig ein Mann hockte. Ein Speer stand hinter ihm. Die Malaien riefen ihn beim Namen. Er schreckte auf, richtete sich scheu in die Höhe, voller Mißtrauen die Fremdlinge betrachtend, und schlug zweimal auf einen hölzernen Block, der neben ihm hing. Inzwischen winkte der vorderste Malaie Bontekoe und den Seinen, ihm weiter
zu folgen. Sie kamen nun auf eine Art Vorplatz aus gestampfter Erde, auf dem es von Federvieh wimmelte. Rechts hinter der Pforte waren, im Schatten einer Pisang- und Papajabaumgruppe, vier junge Mädchen mit dem Stampfen von Reis beschäftigt. Das schöne,glänzendschwarze Haar lag in einem kleinen Knoten hinten im Hals, und es steckten ein paar frische Blümchen darin. Der Oberleib war unbedeckt, doch um die Hüften trugen sie ein feines Tüchlein, das bis über die Knie reichte. Während sie fortwährend ihre liebe Not mit dem Wegjagen der diebischen Hühner hatten, die Körnchen picken wollten, stampften sie, summend, mit langen Stöcken in hölzernen Trögen, deren vier nebeneinander in ein schiffsförmiges Stück Holz gehauen waren, daß auf der Erde stand. Als sie die Ankömmlinge gewahrten, stießen die Mädchen einen leichten Schrei aus. »Tabeh1!« sagte Harmen freundlich. »Tabeh, tuan!« stammelte eins der Mädchen. An der andern Seite des Platzes lag das eigentliche Dorf. Während die weißen Besucher den Vorplatz überschritten, kamen aus den Wohnungen alle Eingeborenen heraus. Das hatte wohl der Schlag auf den Holzblock bewirkt. In einiger Entfernung blieben sie stehen. — Harmen grüßte nach allen Seiten. Aber auf sein freundliches Tabeh bekam er nur ein unverständliches Gemurmel zurück. Alle Häuser waren auf hohen, starken Pfählen erbaut. Manche hatten einen Altan und drei bis vier Gitterfenster. Und wie kunstvoll waren die Bambuswände geflochten! Darin saßen allerlei Figuren. Und dann das farbige Schnitzwerk unter den spitzen Dächern! Unter den meisten Häusern hing in Rotangseilen eine Prau, und es gab keine einzige Wohnung, an deren Seite nicht ein Pfahl mit einem Käfig angebracht war, darin eine kleine graue Taube hauste. Überall scharrte Federvieh umher. Ein paar junge Hähnchen übten sich im Krähen und mischten ihre heiseren, unsicheren Stimmen mit dem selbstzufriedenen Gackern der Hennen, die laut verkündeten, daß sie soeben ein Ei gelegt hätten. Es war wieder ganz dasselbe wie in dem Santa Marianischen Dörfchen: zwischen Tür- und Fensterritzen spähten ängstliche Gesichter von Frauen und Mädchen hervor, und auch hier wimmelte es von nackten Dreikäsehochs, die beim Kommen der Fremdlinge Hals über Kopf die Flucht ergriffen. So, mit einer Schar Malaien auf den Fersen, langten sie bei einem Haus an, das das größte und schönste von allen war und also gewiß dem Dorfhäuptling gehörte. Ihre Führer baten sie, einen Augenblick zu warten; der Bewohner des Hauses werde sich sogleich zeigen. Harmen setzte seine Verbrüderungsversuche fort, indem er immerfort nickte und »Tabeh!« rief. Schließlich schien er Boden zu gewinnen. Einige Eingeborene riefen den andern etwas zu; darauf schmunzelten alle. Aha! dachte Harmen, jetzt habe ich sie! Und unerwartet machte er einen prachtvollen Purzelbaum. In dergleichen Künsten war Harmes reif für den Zirkus, und auch diesmal verfehlte er seine Wirkung nicht. Erst einen Augenblick erstauntes Schweigen, dann allgemeine Heiterkeit. Es waren im Hintergrund nun auch Frauen und Mädchen aufgetaucht, deren Fröhlichkeit ansteckend wirkte. Gerade machte Harmen noch einmal seinen Purzelbaum, aber nun nach rückwärts, als in der Veranda des großen Hauses ein Eingeborener erschien, schön in einen langen Lendenrock, Jäckchen und Kopftuch gekleidet. In einem breiten, goldgestickten Leibgürtel steckte hinter dem Rücken eine eigenartig geformte Stichwaffe mit zierlichem Griff. Bei seinem Erscheinen trat augenblicklich Stille unter den versammelten Dorfbewohner ein. ( 1 Tabeh: Guten Tag; Tabeh, tuan: Guten Tag, Herr.)
Während er, noch erstaunt auf Harmen blickend, der verlegen seine Hose hochzog, langsam und feierlich die Stufen der Veranda hinabschritt, um die Fremdlinge zu begrüßen, traten alle Malaien ehrerbietig zurück und hockten sich in einiger Entfernung nieder, mit den Händen im Schoß. Bontekoe und die Jungen fühlten, daß sie ein anderes Volk vor sich hatten als die Schwarzen auf Santa Maria. Sie beschlossen, an Höflichkeit nicht nachzustehen. Bontekoe verneigte sich, und seinem Vorbild folgten alle, außer Padde, der mit sich nicht recht etwas anzufangen wußte und sich darum ängstlich räusperte und mit dem Arm die Nase wischte. Hierauf verneigte sich der Häuptling auch ein wenig, hieß die Fremden willkommen in Worten, die mehr begriffen als verstanden wurden, und bat sie, seine Gäste sein zu wollen. Rolf, der am besten Malaiisch sprach, dankte dem Dorfältesten für sein freundliches Anerbieten. Hierauf begab sich ihr Gastgeber wieder hinauf, mit höflicher Gebärde Bontekoe und die Seinen auffordernd, ihm zu folgen. Das taten sie. Regungslos, in hockender Haltung, sahen die Eingeborenen von draußen zu. Auf der Veranda hatten einige Frauen und Mädchen an der Wand Platz genommen. Der Häuptling gab ihnen einen Wink, worauf sie sich erhoben und sechs Matten auf dem Boden ausbreiteten. Freundlich lud er seine Gäste ein, Platz zu nehmen. Bontekoe und die Jungen setzten sich mit hochgezogenen Knien auf die Matten. Der Eingeborene hatte sich ebenfalls niedergelassen und kreuzte die Beine unter dem Körper. Ein zweiter Wink, und die Mädchen setzten eine kupferne Platte nieder, auf der einige hübsche, mit grillenhaften Figuren beschnitzte Gefäße standen. In einem lag eine Nuß, in einem andern ein Kranz von grünen Blättern, im dritten weißer Kalk, im vierten wieder etwas anderes. Die Jungen sahen mit großen Augen danach. Was sollten sie damit anfangen? Der Eingeborene legte einige Blätter zu einer kleinen Matte zusammen, nahm etwas aus den verschiedenen Gefäßen, faltete die Blätter zusammen, steckte sie dann in den Mund und machte seinen Gästen eine einladende Gebärde. »Nachmachen!« sagte Bontekoe zu seinen Getreuen. »Muß man es hinunterschlucken?« fragte Hajo unsicher. »Ich schlucke es nicht«, sagte Harmen, »ich gehe lieber auf andere Weise tot.« »Ihr müßt es kauen«, sagte Bontekoe. »Es ist ein Betelpriem.« So gut es gehen wollte, machten der Schiffer und die Jungen ihren Priem zurecht und steckten ihn tapfer in den Mund, bis auf Padde, der wieder seine Nase sauberrieb. Das Zeug schmeckte bitter. Die ganze Zeit hindurch herrschte Schweigen. Bontekoe riet Rolf durch einen Wink, den der höfliche Eingeborene nicht zu bemerken schien, mit Sprechen zu warten, bis der Gastgeber das Wort ergriffen hätte. Endlich war es soweit. Das Oberhaupt winkte den Mädchen, die Schalen wegzunehmen, und wandte sich dann zu Bontekoe. »Darf ich Euch fragen, Herr, woher Ihr kommt?« Rolf berichtete, so gut er konnte, was ihnen widerfahren sei und daß sie hier auf Sumatra gelandet seien, um etwas Nahrungsmittel zu kaufen für die Weiterreise. Der Häuptling antwortete, daß er selbst zu seinem Bedauern ihnen nichts zum Kauf anbieten könne, daß es aber im Dorf gewisse Leute gebe, die ihnen Eßwaren liefern könnten. Darauf erklärte er, daß er es sich sehr zur Ehre anrechnen würde,wenn seine Gäste nachher an der Mahlzeit teilnehmen wollten und die Nacht bei ihm zubrächten. Das Schlafen mußte Rolf abschlagen, weil, wie er sagte, die Eile, zu ihren Gefährten in Bantem zu kommen, sie verhindere, hier lange zu verweilen. Aber die Mahlzeiten nähmen sie gerne an. Harmen war nachdenklich geworden. »Ich traue dem Häuptling für keinen Priem Tabak«, sagte er plötzlich. »Was ich euch sage: es ist eine Sandbank! Er guckt mir viel zu hinterlistig. Ich will nicht Harmen heißen, wenn nicht Gift im Essen sitzt!«
»Ein Gast ist hier in Indien heilig«, sagte Bontekoe. Doch auch er fühlte Harmens Argwohn mit. Es steckte hinter all den Höflichkeiten etwas Beklemmendes; ein gerader Seemann wußte nicht recht, was er daraus machen sollte. Und zugleich mit einem Schimmer von Mißtrauen stieg in ihm ein Gefühl des Bedauerns auf, daß er statt der vier Jungen nicht ein Dutzend vierschrötige Matrosen mitgenommen hatte. Hajo hielt ihren Gastgeber für einen außerordentlich freundlichen Mann. Es war nicht recht, hinter allem etwas zu suchen. Padde aber konnte seine Augen gar nicht von dem Mädchen wenden, das ihm vorhin die Betelschale gereicht hatte. Das Köpfchen bildete ein prachtvolles Oval. Die Öhrchen, die Lippen, das Naschen waren feiner, als sie Padde je vorgekommen. Die zierlich geschwungenen schmalen Augenbrauen, die dunklen, glänzenden Augen, halb verschleiert hinter den langen Wimpern, der prächtige Haarfall, in den ein silberner Zierat und ein paar schneeweiße Blümchen gesteckt waren, das feine Hälschen, das so wunderlich schön in die Schulterlinie überging, die zarten Arme, Händchen und Fingerchen, das sonderbare farbige Gewand, die schlanken Fesseln, jede von einem silbernen Reifen umschlossen. Padde vergaß die ganze Welt. Wie ein Bild erschien ihm die Kleine. Aber sie schenkte auch ihrerseits dem braven Bottlersmaat Beachtung. Ab und zu warf sie ihm unter ihren langen Wimpern hervor einen scheuen Blick zu. Dann wurde Padde rot wie ein Kohlkopf und blickte schnell nach der andern Seite. Der Gastgeber schlug vor, sich das Dorf anzusehen. Inzwischen konnte man hier das Essen auftragen. Eifrig nahm Rolf den Vorschlag an, froh, endlich von der sitzenden Haltung und dem Betelkauen erlöst zu sein. Der Kreis hockender Eingeborener öffnete sich sogleich in der Richtung, in der das Oberhaupt seine Gäste führte. Kinder trabten herbei und schielten seitlich die weißen Menschen an, sich erst wieder schüchtern zurückziehend, wenn einer der fremden Gäste einen Blick auf sie fallen ließ. »Stampft man in eurem Lande den Reis, so wie wir es hier tun?« fragte der Dorfälteste, als sie sich einer Stelle näherten, wo wieder vier Mädchen mit dieser Arbeit beschäftigt waren, doch nun verlegen innehielten. »In unserm Lande wächst kein Reis«, antwortete Rolf. Das Oberhaupt sah verwundert seine Gäste an. »Tjobah!« Und auch unter den Eingeborenen ringsum wurde gemurmelt. »Dürfen wir das Stampfen einmal sehen?« fragte Rolf. »Gewiß!« beeilte sich der höfliche Häuptling zu erklären. Und er winkte den Mädchen, näherzukommen und ihre Arbeit fortzusetzen. Schüchtern, mit niedergeschlagenen Augen, gehorchten sie. Während die Mädchen das Stampfen fortsetzten, führte der Häuptling seine Gäste wieder weiter. Sie standen still bei einem alten Mann, der mit dem Verzieren einer Tür beschäftigt war. Ein kurzes Messerchen war sein einziges Werkzeug. Damit und mit endloser Geduld hatte er Vögel, Fische und Bäume in schönen Linien ins Holz hineingezaubert. Der alte Holzschnitzer lächelte voll bescheidener Freude, als die Fremdlinge sein Werk bewunderten. Nachdem sie den Rundgang durch das Dorf beendet hatten, kamen sie wieder bei der Wohnung des Dorfältesten an, wo inzwischen das Essen aufgetischt worden war. Eine große Matte lag auf der Diele, und darauf prunkte eine Auswahl von Gerichten, alle in Pisangblätter gewickelt. Man setzte sich auf Matten rund um die »Tafel«. Da gab es Reis mit scharfschmeckenden Fischchen, gewürztes Huhn, allerlei Früchte, wobei vor allem eine grüne Frucht mit herrlich saftigem, orangefarbigem Fleisch und einem großen Kern die Jungen in Entzücken versetzte. Das Essen war so gepfeffert, daß einem Tränen in die Augen kamen. »Doch lecker«, fanden die Jungen.
Nur Harmen war sein Mißtrauen noch nicht gänzlich losgeworden, sondern zögerte bei jedem neuen Gericht, das man ihm anbot. »Schmeckt es dir nicht?« fragte Bontekoe. »Wenn ich nur bestimmt wüßte, daß da kein Gift drinsitzt, dann könntest du mich essen sehen, Schiffer!« erklärte Harmen. Seine Gefährten lachten. »Wir haben noch nicht viel Mitleid mit dir. Wenn du das alles aufißt...!« Die Suppe wurde zu ihrem Erstaunen über den Reis gegossen. Dann gab es allerhand Gebäck und eingezuckerte Früchte, und nach dem Essen wurde gegorener Palmwein herumgereicht. Danach standen unsere Freunde auf, um nun ernsthaft auf die Suche nach Proviant für die Jolle zu geben. Es hatte ihnen vortrefflich geschmeckt, und sie dankten dem Häuptling für seine Gastfreiheit. Und da Harmen kein Bauchweh oder dergleichen verspürte, wich auch bei ihm, wie bei den andern, der letzte Rest von Mißtrauen. Rolf fragte die Eingeborenen, die noch immer in weitem Kreise vor dem Hause saßen, ob niemand von ihnen etwas zum Kauf anbieten könne. »Hühner!« rief einer. »Zwei Ziegen!« lautete es in einer andern Ecke. »Reis! Reis und Hühner!« Hühner gab es im Überfluß. Bontekoe kaufte Reis und Federvieh und ließ es nach der Jolle senden. Darauf folgte man dem Eingeborenen, der zwei Ziegen feil hatte. Aber als man an Ort und Stelle ankam, zeigte es sich, daß die »Ziegen« noch keinen Monat alt waren. Und das Töchterchen des Mannes heulte so, als es merkte, was sein Vater mit den lustigen Spielkameraden vorhatte, und seine Frau keifte ihm die Haut so voll, daß er das Angebot zurückzog. In diesem Augenblick kam sein Nachbar, um zu sagen, daß er einen Büffel feil habe. Das lohnte sich wenigstens. Sie folgten dem Mann, der sie aus dem Dorf geleitete. Da graste ein Büffel, ein schönes, junges Tier mit ein paar wuchtigen Hörnern. Rolf eröffnete die Unterhandlung. Man wurde mit fünf und einem halben Real einig. Aber wie nun den Stier nach der Jolle kriegen? »Wenn wir das den Nigger tun lassen, kriegen wir das Tier nie zu sehen«, meinte Harmen. »Wir werden es selbst tun«, sagte Rolf. Und er fragte den Malaien: »Gibt es einen Weg zum Strand?« »Gewiß, Herr, am Fluß entlang läuft ein Weg.« »Gut«, sagte Harmen, »geh du also mit dem Kanu zurück, Schiffer! Dann schlingen wir dem Tier einen Strick um den Hals und bringen es fein nach der Jolle.« Das schien auch Bontekoe das beste. »Na, ihr wißt also, was ihr zu tun habt! Auf Wiedersehen in ein paar Stunden!« »Auf Wiedersehen, Schiffer!« Bontekoe begab sich nach der Wohnung des Häuptlings. »Na«, sagte Harmen zu dem Eingeborenen, »hol du uns schnell wie der Blitz ein Tau!« Der Mann hob ein Stück Rotang von der Erde auf. »So, kassie das saja1 !« sagte Harmen. »Dann werde ich ihm die Schlinge um den Hals legen.« Harmen, der schon öfters eine Kuh bei den Hörnern gepackt hatte, ging auf den grasenden Koloß zu. Aber dieser sprang hastig ein paar Schritte zurück und blickte unsern Freund drohend an, der seinerseits ganz und gar Liebenswürdigkeit war und als verführerische Lockspeise ihm den Strick entgegenhielt. »Komm doch«, sagte Harmen freundlich, »komm doch, alter Freund!«
( 1 Kassie: gib; saja: mir.)
Aber der Büffel kam nicht, so daß Harmen zur List überging. Er machte aus dem Rotang einen Lasso und warf ihn, nachdem er allerunschuldigst etwas näher gerückt war, dem Büffel um die Hörner. Das Tier sprang zurück und riß Harmen mit. Aber der hielt fest. Dann ein kurzes Zögern, und das Tier beugte schnaubend den schweren Nacken und stürmte mit gefällten Hörnern auf den unverzagten Kochsmaat los. In diesem heiklen Augenblick tat Harmen den Sprung, dem er verdankte, daß er fünfzig Jahre später noch seinen Enkelkindern das Büffelabenteuer in lebhaften Farben schildern konnte. Während er eigentlich noch darüber nachdachte, wie er sich am besten aus dem Staube machen könne, hatten seine Arme und Beine die Arbeit schon getan; er packte, Todesangst in den Augen, mit seinen sehnigen Fäusten die Hörner, setzte gewaltig ab und — machte den Bocksprung. »Tjobah!« stammelte der Eingeborene. Die andern fühlten einen Schauder durch den Leib rinnen. Der Büffel stob fort bis zur Umzäunung des Dorfes. Da blieb das Tier stehen, die Hörner zu neuem Angriff gesenkt. »Vorwärts!« rief Rolf dem Eingeborenen zornig zu. »Tangkep!« Der Mann blickte scheu auf. »Oah, tuan, 'nga brani, tuan.« »Was sagst du? Traust du dich nicht? Es ist doch dein Stier?« »Mein Stier, Herr? Ich habe ihn Euch doch verkauft! Dann gehört er mir doch nicht mehr.« »Was sagt der?« fragte Harmen. »Er hat uns einen Streich gespielt. Wie kriegen wir das Tier um aller Welt mit?« »Warten, bis es dunkel ist«, meinte Harmen. »Dann winde ich ihm heimlich ein Tau um seine Beine. Und dann schlafen wir heute nacht beim Radscha.« »Unmöglich. Dann ist es noch besser, ohne Büffel zurückzukehren.« »Da wird der Schiffer sich freuen!« schalt Harmen. »Und er wird wieder einmal Jungen mitnehmen. Nein, er hat gesagt, daß wir ihm den Stier bringen müssen, und da müssen wir den Stier auch bringen. In einer Stunde ist es dunkel. — Dann kriegen wir dich schon, was, Dickkopf?« — Letzteres zu dem Stier. Rolf zauderte. »Na gut«, sagte er schließlich. Er hatte eigentlich auch nicht viel Lust ohne Stier ins Lager zurückzukehren. Der Schiffer würde wohl in Unruhe sitzen, aber morgen klärte sich ja alles auf. Und die Jungen zogen zum Häuptling, der sie wieder aufs beste empfing und ihnen ein Häuschen anbot, das an das seinige grenzte und zur Beherbergung von Gästen diente. Er ließ die Jungen einen Augenblick allein, kehrte freundlich lächelnd zurück und sagte, daß alles für sie bereit gemacht werde. Aufs neue ließ er Palmwein bringen, versicherte, daß es ihm eine Ehre sei, die Söhne eines Schiffers der Compagnie aufzunehmen. Und als ihm ein Eingeborener nach ehrfurchtsvoller Begrüßung meldete, daß das Nachtlager für die Gäste bereit sei, fragte er sie, ob sie Lust hätten, mit dem Diener zu gehen und ihr Obdach in Augenschein zu nehmen. So folgten die Jungen, fröhlich plaudernd und entzückt über den Palmwein und ihren gütigen Gastfreund, dem Eingeborenen nach dem Häuschen. Sie kletterten, Harmen voran, eine Leiter hinauf, die nach der Kammer führte, traten gebückten Hauptes durch die niedrige Tür ein und kamen so in einen dunklen Raum. Padde kroch als letzter hinein. »Sakkerjü«, sagte Harmen, »ist das hier finster. Wir hätten eine Diebslaterne mitbringen sollen.« In diesem Augenblick wurden sie gepackt, ungeachtet ihres wütenden Sträubens geknebelt und in der Finsternis allein gelassen.
Verlassen »Seht ihr wohl, daß es eine Sandbank war!« jammerte Harmen.
»Wir müssen uns befreien«, sagte Rolf.
»Guten Morgen! Ich liege so fest wie eine Auster. Und du, Padde?«
»O Gott, Harmen!«
»Ich kann mich ein bißchen drehen«, sagte Hajo.
»Ah!« sagte Rolf. »Dreh dich her zu mir. Dann werde ich versuchen, ob ich mit
den Zähnen ...«
»Da kannst du lange knabbern«, meinte Harmen. »Es ist ein Rotangknoten. Ich
wollte, ich könnte mein Messer aus der Tasche holen, dann schnitte ich euch, eins,
zwei, drei, los.«
Padde fing an zu weinen. Die andern schwiegen. Dumpfe Wut bemächtigte sich
ihrer. »Wenn sie bei der Jolle wüßten, wie es mit uns steht, würden sie uns schon
befreien«, sagte Hajo.
»Lauf hinüber und sag es ihnen!« riet Harmen.
Draußen Stimmengewirr. Rolf spitzte die Ohren. »Brapa?« fing er auf. »Tudju
puluh.«
»Siebzig.« Das war ungefähr die Zahl der Schiffbrüchigen. Gegen die Gefährten
führte man also auch etwas im Schild! Und was mochte mit dem Schiffer sein?
»Der ist gut im Lager angekommen«, meinte Rolf. »Die ganze Freundlichkeit
diente bloß dazu, unser Mißtrauen einzuschläfern und sich heute nacht unbemerkt
ans Lager heranzuschleichen. Sie hätten uns auch frei ausgehen lassen, aber wo
wir hier doch schlafen wollten, haben sie uns lieber gleich eingesperrt.«
»Der verdammigte Büffel!« schalt Harmen. »Hätte ich dem bloß gleich eine
Schlinge um die Beine gewickelt!«
»Könnten wir nur das Lager warnen!« seufzte Rolf.
Hajo biß vor Zorn die Zähne zusammen. »Eingesperrt und gebunden!«
Still wurde es draußen, merkwürdig still. Ab und zu raschelte etwas im Blätterdach,
wahrscheinlich eine Eidechse. Ein paar Mücken summten durch den Raum. Jemand trällerte
einen sanften Singsang. — Plötzlich durchdringendes Kindergeschrei, vermischt mit dem Jaulen
von Hunden. Dann ein paar hohe Frauenstimmen. Durch einen Spalt im Dach flimmerte ein
Streifen Mondlicht, schob sich allmählich durch den Raum. Wie spät mochte es sein?
Mitternacht? Wurde es bereits Morgen?
Dann knarrte etwas auf der Leiter. Leichte, schnelle Tritte. Die Tür quietschte, der dünne
Fußboden bog sich ein wenig. »Tuan!« sagte eine sanfte Mädchenstimme. Die Jungen fühlten
ihre Herzen klopfen. »Apa?« fragte Rolf. Die Eingetretene kniete nieder, suchte nach dem
Strick, der Rolfs Hand umschloß, und zerrte ihn mit vieler Mühe los. »Nun könnt ihr die andern
auch befreien«, flüsterte sie schnell. »Es sind keine Männer im Dorf. Geht zur Pforte hinaus,
dann nach links auf den kleinen Weg! Da wird man euch nicht suchen.« Sie schlich wieder fort,
die Leiter hinunter.
Die Jungen hatten keinen Ansporn zu schnellem Handeln nötig. Rolf knotete in größter Eile
Hajos Hände los; zusammen befreiten sie darauf Harmen und Padde.
»So ein liebes Ding!« seufzte Padde. »Gesegneter Strohsack, das ist natürlich die eine gewesen, die mit dem feinen Köpfchen!« Als die Hände frei waren, konnte sich jeder selbst von dem Rotang befreien, der die Füße umschnürte. Mit ihren noch steifen Beinen, zitternd vor Aufregung, ließen sie sich von der Leiter gleiten und überlegten, welche Richtung sie einschlagen müßten. Bald hatten sie festgestellt, wo die Pforte liegen mußte, und nun ging es schleichend von Haus zu Haus, jeden Schattenfleck, den die Bananen-, Papaja- und Djambubäume boten, benutzend. Die Prauen, die unter den Häusern gehangen hatten, waren alle verschwunden. Ob es noch möglich war, im Lager zu warnen? Sie kamen an den Vorplatz und wollten ihn gerade in größter Eile überschreiten, als Harmen auf ein schlafendes Huhn trat. Gackernd flog das Tier weg und veranlaßte ein paar andere Hühner, die auf dem First eines Daches schliefen, mit heftigem Flügelschlagen herunterzuflattern. Zu allem Überfluß begann ein Dutzend Kamponghunde im Chor zu jammern. Wie der Blitz sprang Harmen ins Gestrüpp, das den Platz umsäumte. Die andern folgten ihm auf den Fersen, drückten sich so weit wie möglich ins Gebüsch und warteten zähneklappernd. Die Tür des Häuschens, bei dem sie sich befanden, wurde geöffnet, und eine Frau schaute heraus, mit aufgelösten Haaren und hastig übergeworfenem Tuche. »Si—apa?« klang es ein wenig ängstlich aus ihrem Munde. »Wer ist da?« Keine Antwort. Auch an der andern Seite wurde eine Tür geöffnet. »Eh, Niti? Apaiah?« »Tiada tau. Ajam-ajam. — Ich weiß es nicht. Es waren Hühner.« Die Tür wurde wieder geschlossen, und auch auf der gegenüberliegenden Seite verschwand die Gestalt. Als alles ruhig war, gab Rolf das Zeichen zum Weiterschreiten. Flugs setzten sie alle vier zugleich über den Vorplatz und tauchten am äußeren Erdwall unter. Harmen schlich voran, um zu sehen, ob die Pforte bewacht würde. Die andern sollten warten, bis er das Zeichen gab. Er glitt geräuschlos unter den Bananen-und Papajabäumen hindurch und spähte um eine Ecke der Pforte. Mit dem Rücken gegen sie hockte ein Eingeborener und summte eine eintönige, nasale Weise. Harmen überlegte, ob er die andern heranwinken sollte, um gemeinsam den Mann zu überfallen. Aber jetzt stand die Sache günstig: Harmen würde schon allein fertig! Vorsichtig also einen Schritt näher, mit verhaltenem Atem! Noch einen Schritt, vollkommen geräuschlos. Der Eingeborene richtete den Kopf auf, hörte auf zu summen; es war, als hielte er den Atem an. Langsam wandte der Mann den Kopf. Das war für Harmen das Zeichen. Wie eine Katze sprang er hinzu, packte mit beiden Fäusten den Wächter bei der Gurgel, drückte ihn mit aller Gewalt nieder und preßte seine knochigen Knie auf die vor Schreck ausgebreiteten Arme des Überfallenen. Ein erstickter Schrei, das war alles gewesen. Der Eingeborene, rasend vor Angst und Beklemmung, stieß mit den Beinen und suchte vergebens, seine Arme unter Harmens Knien wegzuziehen und sein Hackmesser zu greifen, das in seinem Gürtel steckte. Doch mit wilder Kraft drückte Harmen die Knie herunter; es gab kein Entkommen. Die Zuckungen des Wächters wurden schwächer, schließlich fielen die Beine schlaff hernieder. Die andern eilten herbei. »Tot?« fragte Rolf, während Padde und Hajo mit erschrockenen Augen den Körper des Wächters anstarrten. »Nur ein bißchen außer Puste«, klärte Harmen auf. »Nehmt sein Messer! Und den Spieß können wir auch gebrauchen.« Die Jungen nahmen Hackmesser und Speer und schnellten den Pfad hinunter an den Fluß. Sie waren überzeugt, daß sie zu spät kommen würden, um ihre Freunde zu warnen. Aber niemand
wollte sich das eingestehen. Laufen, Jungs, laufen! Da standen sie am Fluß. Alle Boote weg! Dann dem Pfad am Wasser entlang folgen! Harmen voran! Laufen! Hie und da bog der Pfad vom Fluß ab, doch bald sahen die Jungen zu ihrer Beruhigung den Silberglanz des Wassers wieder zwischen den Bäumen. Laufen! Laufen! Sie kamen an einem Häuschen vorbei. Nun galt es vorsichtig sein. Gott sei Dank, kein Hund bellte! Nur weiter! Was war das? Stimmen? Jawohl, da kamen Prauen vom Strand zurück. Drei, vier, sechs! Ob die Eingeborenen geflüchtet waren? Oder sollte der Schiffer mit der Jolle — o Himmel! — in See gestochen sein? Unter dem dichten Schatten der Uferbäume hervor spähten die Jungen, ob in einer der Prauen vielleicht ein bekanntes Gesicht sei. Auf der vordersten Prau befand sich ein Mattenzelt, die Prau des Oberhauptes natürlich, des schlauen Verräters. Andere Prauen folgten. Die Ruderer schienen in hohem Grade aufgeregt, sie sprachen alle durcheinander, so daß Rolf kein Wort auffangen konnte. In keiner der Prauen saß einer der Gefährten. Die Jungen stürmten weiter. Ob sie wieder zu ihren Freunden kommen würden? Im Vorbeischleichen sahen sie unter einem Häuschen eine kleine Prau hängen. Ein Hund war nirgends zu entdecken. Also . . . Mit aller Vorsicht wurde der gefährliche Raub vollbracht, die Prau aus den Rotangseilen gehoben, ans Ufer getragen, zu Wasser gelassen, und die Jungen setzten sich hinein. Mit behenden Fingern ergriffen sie die Paddeln, die am Boden lagen, und steuerten nach der Mitte. Jetzt kam man schneller vorwärts. Sie brauchten wenig mehr zu tun, als das Boot geradezuhalten, so stark war der Strom. Die Bäume am Ufer glitten gleichden Bildern einer Schaubude vorbei. Mit jeder Minute lebte die Hoffnung, die Gefährten wiederzusehen, mehr auf. Und dann würden sie wieder in See stechen, voll guten Mutes. Java war ja nicht mehr weit. Die Prau glitt um die Biegung, die die Jungen in der verflossenen Nacht von ihrem Baum aus überschaut hatten. Bis ans Meer übersahen sie nun den Fluß. Die Jolle war verschwunden. Mit klopfenden Herzen machten sie die Prau an der Stelle fest, an der noch einer der beiden Anker, mit einem durchgekappten Tau daran, im Sand lag. Und dort, auf dem Strand, wer lag da? Floorke! Durchstochen von allen Seiten, in krampfhafter Stellung, starr in den nächtlichen Sternhimmel blickend. Vom Grauen gepackt, schlugen die Jungen die Hände vors Gesicht. »Tot!« stammelte Harmen. Und Padde heulte laut: »Da — noch einer! Und dort.. .!« Der zweite Tote, ebenso verstümmelt wie der arme Floorke, lag vornüber im Sand, der in großem Umkreis rot gefärbt war. Harmen und Rolf richteten ihn schaudernd auf: es war Nase. Und der dritte war niemand anders als der Pechvogel, der vor Fogo von den Spaniern verwundet worden war. »Entsetzlich!« stöhnte Hajo. »Und wir?« sagte Harmen mit heiserer Stimme. »Was soll aus uns werden?« Er bekam keine Antwort. Padde war weinend zusammengesunken; Rolf stand schroff, wie versteinert, kreidebleich da und starrte nach dem toten Floorke; Hajo, ratlos, sah abwechselnd von einem zum andern. »Dort!« schrie Harmen und zeigte mit der Hand gen Süden, wo gegen den dunklen Wasserhorizont ein winziges graues Fleckchen wegdämmerte. »Die Jolle!« Er riß sich die Hose von den Beinen, fuchtelte wild damit durch die Luft und suchte mit heiserer Stimme die Brandung zu übertönen. »Kameraden! Kameraaa-den!« Er ballte die Faust, und der Schmerz, sich in schneidendem Hohne äußernd, zitterte durch seinen Ruf: »Kameraden!« Dann brachen die Tränen durch seine Stimme, und er warf sich schluchzend in den Sand. Padde kroch auf den Knien zu Hajo und lehnte sich gegen seinen Freund. »O Gott, Hajo!«
Auch Hajo rollten dicke Tränen über die Wangen, aber er ließ den Kopf noch nicht hängen. »Wir folgen!« rief er aus. »Wir folgen mit der Prau!« Harmen flog auf. »Die Prau!« — Aber mit großen Augen starrte er nach der Stelle, wo die Prau — gelegen hatte. Sie war nicht mehr da. »Hättet ihr sie doch besser festgebunden!« schrie Harmen wütend. »Guck, da schwimmt sie! Warte!« Und Harmen wollte ins Wasser laufen. Rolf hielt ihn zurück. »Du kommst zu spät, Harmen. Sieh nur!« Und Harmen, der sich mit aller Gewalt, stampfend und schreiend, loszumachen suchte aus Rolfs festem Griff, wandte den Blick und sah, wie die Prau in die Brandung geriet, hoch aufgehoben wurde, unter eine überschlagende Welle geriet und sank. »Es hätte uns nichts geholfen«, sagte Rolf. »Was nun?« jammerte Harmen. »Uns abschlachten lassen?« »Wir marschieren zur Sundastraße«, sagte Rolf. »Wir haben doch unsere Beine! Von dort setzen wir über nach Bantem.« »Die Sundastraße liegt gleich um die Ecke«, höhnte Harmen, sich in den Sand werfend. »Ich gehe mit dir, Rolf«, sagte Hajo, mit Mühe seine Tränen bezwingend. »Ich gebe es nicht auf.« Rolf nickte. »Gut, aber wir müssen uns beeilen. Sie werden uns schon suchen.« »Ich bleibe hier liegen«, erklärte Harmen weinend. »Ich will hier totgehen!« »Gib mir das Hackmesser!« befahl Rolf. »Wir wollen — wir wollen sie begraben.« Da sprang Harmen auf und begann, während die Tränen ihm von den Wangen tropften, den Sand auszustechen. Rolf und Hajo halfen mit den Händen. So gruben sie eine breite Mulde, legten die Toten hinein und warfen dann mit fieberhafter Eile das Grab zu. »Das ist geschehen«, sagte Rolf mit matter Stimme. »Nun müssen wir hier weg.« Schweigend zog das traurige Trüpplein den Strand entlang in südlicher Richtung. Nach Bantem gingen sie, nach Bantem! Wie weit war das von hier? Es lag noch ein Meer dazwischen! Aber Rolfs Wille und Überzeugung wirkten allmählich auch auf die andern. Was, zum Kuckuck, sie waren doch zu vieren! Wenn man Padde nicht mitrechnete, waren sie drei fixe Jungens, alle mit einem Taschenmesser bewaffnet und außerdem im Besitz eines Hackmessers und eines Speers. Außerdem war es noch möglich, daß sie weiter hinauf die Jolle wiederfanden, die vielleicht aufs neue an Land gehen würde. Und wenn das nicht der Fall war, na, dann würden sie der Compagnie mal zeigen, was für Schiffsjungen sie im Dienst hatte! Hinter ihnen tönte scharfes Gekläff. Erschrocken drehten sie sich um. Da kam ein Hund herangestürmt, nichts weiter als ein Hund, der die Zunge wie einen Lappen aus dem Maul hängen ließ. »Joppie!« So war es. Toll vor Freude sprang das Tier an den Jungen in die Höhe. »Das ist der Fünfte im Bunde«, sagte Rolf. »Kommst du mit nach Bantem, Joppie?« »Wau! Waff! Wau!« bellte Joppie. Das ist Hundesprache und bedeutet: Na und ob! Und so zogen sie zu fünfen der unbekannten Zukunft entgegen. Sie gingen am Strande entlang, bis hinter den Bergen der Morgen aufglühte. Dann streckten sie ihre zu Tode erschöpften Glieder im Sande aus und schliefen.
Zweiter Teil
Die Wanderer Die Sonne und die Vögel weckten die Jungen. Sie waren ausgeruht, und mit dem Tageslicht gewannen sie wieder ihren Jungenmut zurück. Sie nahmen ein Bad, ließen sich eine halbe Stunde im losen Sand braten. Darauf kletterte Harmen in einen Klapperbaum und drehte ein paar junge Kokosnüsse ab. Das war das Frühstück. Hajo suchte inzwischen geeignetes Holz für einen Bogen; er wollte sich selber einen schnitzen. Mit Harmens erobertem Hackmesser schnitt er, etwas tiefer im Gehölz, einen tüchtigen Bambusstengel, der ihm sowohl Bogen wie Pfeile liefern sollte. Streifen von Bambusschale mußten die Bogensehne abgeben. Seine Beute mit Mühe schleppend, kehrte er zurück. Nun beschlossen alle, sich einen Bogen zu schnitzen. Hajo hatte doch auch damit schießen gelernt! Während Hajo, Rolf und Padde ihre Pfeile bereits über den Strand schnurren ließen, verfertigte Harmen ein paar Pfeile für »schweres« Wild. Er fand in seiner Hosentasche nämlich noch einige Nägel, die er mit der Spitze nach außen in dünne Bambusröhrchen bohrte. So: Pfeil und Bogen hatten sie nun. Und der Speer des Wächters war eine tüchtige Waffe. Es saßen Widerhaken daran, und Rolf vermutete, daß die Spitze außerdem vergiftet sei. Aber ein Speer genügte nicht für alle vier, und so wurden aus ein paar jungen Bambussen und einigen gediegenen holländischen Taschenmessern noch drei zusammengestellt. So ausgerüstet getrauten sie sich, es gegen ganz Sumatra aufzunehmen. Nach ein paar Stunden begannen Hunger, Hitze und Durst die Jungen zu quälen, und es wurde haltgemacht. Schnaufend kletterte Harmen in einen Klapperbaum und erbeutete wieder ein paar Nüsse. Joppie sorgte für sich, daß er nicht verhungerte. Ab und zu verschwand er, eifrig schnüffelnd, zwischen den Bäumen. Die Jungen hörten sein kurzes, scharfes Gebell, und wenn sie herbeieilten, fanden sie Joppie knurrend an einer Ratte oder einem Mäuschen knabbernd. Auch Käfer, Eidechsen, Würmer waren ihm recht, und wenn er sich hin und wieder in der Wahl seiner Speisen irrte, kam es eine halbe Stunde später von selbst wieder heraus. In der Dämmerung erreichten die Jungen eine schmale Bucht. Das Wasser war hier still und durchsichtig, und unwillkürlich ließen sich die vier nieder, um die Sonne darin versinken zu sehen. Still saßen sie beieinander und blickten auf die rote Scheibe. »Nun wird es in Holland Tag«, sagte Rolf. Holland! Das war alles, was sie davon auffingen. Die Stimmung der Jungen wurde weich. Was würden sie darum geben, im trauten Wohnzimmer, wo alle rund um den Tisch saßen, wieder einmal mitschlemmen zu dürfen aus Mutters dampfendem Topf mit Rüben, dann noch gemütlich auf der Bank vor dem Haus zu sitzen, den Vorübergehenden einen guten Abend zu wünschen und dann bei Dunkelwerden den Riegel vor die Tür zu schieben, das Gewicht der Uhr aufzuziehen und nach dem allgemeinen Gutenachtsagen mit den Wolldecken über dem Kopf hineinzutauchen in das mit Gänsefedern gestopfte Unterbett! Unerwartet stieß Harmen Joppie von seinem Schoß, sprang auf und atmete tief. »Vorwärts! Wir wollen für diese Nacht mal ein gemütliches Häuschen machen.« Das war allen recht. Gegen den Waldsaum steckten sie ihre
Speere schräg in den Boden, verbanden sie kreuzweise, legten einen fünften Stab darüber, verfertigten mit Hilfe einiger Querhölzer und etlicher großer Bananenblätter die Seitenwände, breiteten Gras auf dem Boden aus und legten sich dann schlafen, entzückt über ihre prächtige Behausung.
Paddes Hose Am anderen Morgen sprangen die Jungen erst einmal in die Bai, tauchten, zappelten, spritzten einander das kühle, klare Wasser um den Kopf und schwammen um die Wette bis an die Brandung. Auf einmal fing Padde an zu schreien, tanzte mit großen Sprüngen durchs Wasser nach der Stelle, wo ihre Sachen lagen. Was war geschehen? Während sie sich tummelten und tauchten, war aus den Bäumen eine Herde Affen heruntergekommen. Der Verwegenste unter ihnen hatte sich Schritt für Schritt den zurückgelassenen Kleidungsstücken genähert, ohne sich auch nur eine einzige Bewegung der schwimmenden Jungen entgehen zu lassen. Da hatte Padde, der die Gefahr zuerst bemerkte, zu schreien angefangen. Der Affe hatte auf gut Glück irgend etwas aus dem Kleiderhaufen gerissen und floh nun mit großen Sprüngen nach dem nächstgelegenen Baum, wobei er in einer seiner Hinterpfoten — Paddes blaugesprenkelte Hose entführte. Aber Joppie war durch Paddes Gekreisch aus süßen Träumen erwacht und wußte im gleichen Augenblick, in dem der Kleiderdieb mit seiner Beute in den Baum hinauffliehen wollte, das andere Ende der Hose zu packen. Das Äffchen bekam sofort Hilfe von Seiten seiner Gefährten, die mit vereinten Kräften an der Hose zerrten. Joppie sah ein, daß er den Kampf verlieren müsse, und spähte ängstlich nach Padde aus, der, so schnell seine dicken Beine es gestatteten, herbeirannte. Die andern waren zu weit, um noch rechtzeitig den Kampfplatz erreichen zu können. Mit den Zähnen grimmig eingebissen in eins der blaugesprenkelten Hosenbeine, ließ Joppie sich vom Boden in die Höhe ziehen. In Paddes zwinkernden Äuglein leuchtete die Hoffnung, sein teures Kleidungsstück noch zu retten. In diesem Augenblick fiel Joppie mit einem Schmerzensschrei und einem halben Hosenbein auf seinen Schwanz, und mit ohrenbetäubendem Freudengekreisch floh die Affengesellschaft mit der eroberten Fahne in die Bäume hinauf. Paddes erstes Werk bestand darin, Joppie mit dem bloßen Fuß einen Tritt zu versetzen, danach hob er den blaugesprenkelten Rest auf, sah, daß er gerade zu einem Taschentuch reichte, und empfing seine Gefährten mit einer Flut von Verwünschungen. Harmen fand das Geschehene nicht so schlimm. »Deerns sind hier doch nicht in der Nähe!« tröstete er. Aber Padde war untröstlich. »Wenn ich meine Hose nicht wiederkriege, tue ich keinen Schritt mehr!« drohte er. »Oder dachtest du, daß ich so in Bantem ankommen will?« Harmen wußte Rat. »Du sollst deine Büx wiederkriegen, Padde. Laß mich nur machen!« Und während die andern mit Zweifel im Gemüt zusahen, begann Harmen seinen schlauen Feldzug, der zur Zurückeroberung von Paddes Hose führen sollte. Er eröffnete die Feindseligkeiten mit einem wüsten Kriegsgeschrei. Es wirkte; die braunen Räuber droben in den Bäumen beantworteten es in gleich lärmender Weise. »Ist das die Kriegserklärung?« fragte Rolf. »Ssst!« sagte Harmen. »Sie sollen alles nachmachen, was ich tue.« Er machte einen Luftsprung, fuchtelte mit den Armen und kam kopfüber wieder herunter. Oben wurde an den Zweigen gezerrt, aufgeregt gekreischt, und einige Affen sprangen auf einen andern Ast hinüber. »Gut so!« jauchzte Harmen. »Eins — zwei — drei hast du sie, Padde!« Darauf hob er seine eigene Hose in die Luft und warf sie mit einer Gebärde tiefer Abneigung wieder auf den Boden. »Chrrr!« sagte der Affe, der die Beute bewachte. Und er umklammerte die Hose noch fester.
»Daneben gelungen!« bekannte Harmen. »Ich dachte, daß er die Hose nun auch wegwerfen
würde. Ja, lieber Padde, dann mußt du dich eben mit Dreck einschmieren, dann denken die
Leute, du seist auch ein Malaie.«
»Ich will meine Hose wieder!« schnaubte Padde. »Ich will nicht zum Gespött herumlaufen!«
Harmen runzelte in tiefem Nachdenken die Stirn. »Jetzt hab ich's!« rief er aus. »Gleich, Padde!«
Hannen schnitt einen dünnen, zähen Rotang ab und legte eine Schlinge hinein. »Ich habe nicht
umsonst Kaninchen gewildert«, sagte er. »Leih mir, bitte, deine Hose, Hajo!«
»Wozu brauchst du die?« fragte Hajo.
»Als Lockspeise. Sieh mal, die Schlinge hänge ich hier auf; ich stelle mich dort drüben hin, mit
einem Ende in den Fingern. Nun lege ich die Hose unter die Schlinge, und wenn dann einer seine
Klauen durchsteckt, um die Hose zu fassen, dann habe ich ihn.«
»Und woher weißt du, daß du gerade den Affen fängst, der Paddes Hose hat?«
»Das ist der frechste, der wird wohl wieder vorneweg sein.«
»Aber kannst du nicht was anderes dazu verwenden als meine Hose?« fragte Hajo zweifelnd.
Harmen war beleidigt. »Was kann denn damit geschehen? Nix! Wer seine Pfote durch die
Schlinge steckt, der bleibt drin stecken.«
»Ja, aber wenn er nun ...«
»Gut! Gut! Gut!« brummte Harmen. »Wenn du kein Vertrauen hast, nehme ich meine eigene
Hose. Nee, jetzt will ich deine gar nicht mehr!« Und grimmig nahm Harmen seine Hose und
legte sie zwischen zwei schwere Wurzeln, den Strick obendrauf. Dann versteckte er sich mit den
andern hinter einem dicken Baum, mit dem Rotang in der Hand, bereit, seinen Schlag zu tun.
In den Bäumen wurde eine Versammlung abgehalten über die mögliche Eroberung dieses neuen
verlockenden Gegenstandes. Alle waren überzeugt, daß es mit Gefahr verbunden sei, aber gerade
das reizte ihr Räubergemüt. Sie ließen sich dicht über der Stelle, wo die Hose lag, nieder.
Da kletterte ein Affe ganz herunter, blieb mit dem Schwanz an einem Ast über der Hose hängen,
baumelte ein wenig hin und her, die Finger über die Schlinge schleifend, und spähte nach allen
Seiten. Der Affe, der Paddes Hose geraubt hatte und den teuren blaugesprenkelten Lappen noch
immer fest in der linken Hinterpfote hielt, saß nachdenklich auf seinem Ast und schien zu dem
gefährlichen Spiel diesmal nicht die geringste Lust zu haben. Harmen vergaß, daß sie sehr wenig
Nutzen davon haben würden, wenn er einen andern Affen finge als gerade den mit der Hose.
Harmens Ehre stand auf dem Spiel; Paddes Hose war ihm jetzt ganz gleichgültig. Er lauerte,
lauerte.
Der hängende Affe faßte, nachdem er lange von seinen Genossen angefeuert worden war,
schließlich einen kühnen Entschluß und griff zu. Harmen zog die Schlinge zu, und das Äffchen
war gefangen. In diesem Augenblick wippte blitzschnell der nachdenkliche Geselle mit Paddes
Hose in der linken Hinterpfote herunter, ergriff mit der rechten Hinterpfote Harmens
»Lockspeise« und floh mit beiden Trophäen kreischend den Stamm hinauf. Baff stand Harmen,
so baff, daß der Rotang seiner Hand entglitt und der gefangene Affe mitsamt dem Strick hinter
seinen Gefährten herflüchtete.
Da brach Harmen in Wehklagen aus. Er fühlte sich als Schlachtopfer seiner eigenen
Edelmütigkeit; er hatte sich seines letzten Kleidungsstückes beraubt, um seinem Nächsten zu
helfen. Und nun? Da stand Harmen nun, größer als er geboren wurde, aber im übrigen genauso.
Zu neuen Versuchen wollte niemand seine Hose hergeben. Es mußte also Rat geschafft werden.
Und es wurde Rat geschafft. Hajo flocht für die beiden Hosenlosen Röckchen aus langen
Gräsern, die durch Rotanggürtel festgehalten wurden. Seufzend zog erst Harmen, darauf auch
Padde das neue Kleidungsstück an. Harmen sah aus wie ein richtiger Menschenfresser. Er versöhnte sich mit seinem Schicksal und führte mit Lanze und Hackmesser einen wilden Kriegstanz auf, den die Affen von den Bäumen aus kreischend anfeuerten. Dann riet Rolf, die Wanderung fortzusetzen. Die Jungen brachen das Zelt ab und warfen die Stäbe und Blätter ins Gesträuch, um recht wenig Spuren hinter sich zu lassen. Sie liefen den schmalen Strand entlang, der die Bai umzog. Doch an der gegenüberliegenden Seite angekommen, standen sie unverhofft vor einem Pfad, der landeinwärts führte. Sollten sie ihn einschlagen? Rolf fand es sicherer, am Strand zu bleiben, solange das anging. So bezwangen die andern ihre Neugierde. Aber kaum hatten sie die Bucht gänzlich umwandert, do hörte der Strand auf. Steile, kahle Felsen liefen weit in die See hinein und schlossen gleich einer granitenen Mauer den Weg ab. Es blieb nichts anderes übrig, als den Pfad landeinwärts zu nehmen. Also liefen sie wieder halbwegs um die Bai zurück und schlugen den Waldpfad ein. Da die Sonne sehr gestochen hatte, tat der kühle Schatten des Pfades wohl. Die Jungen vermuteten, daß er nach einem Dorf führen werde, waren also vorsichtig. Nach einiger Zeit kamen sie an ein Bächlein. Die Jungen beschlossen, die letzte Gelegenheit, die sich vorläufig zu einem Bad bot, nicht unbenutzt vorübergehen zu lassen. Herrlich frisch war das Wasser. Sie setzten sich auf den sandigen Boden und planschten nach Herzenslust. Nach dem Bad ließen sie sich am Ufer nieder und nickten ein wenig. Als die drückende Mittagshitze etwas abnahm, erwachten sie mit der Entdeckung, daß sie tüchtigen Hunger hatten. Sie sahen im Umkreis nichts Eßbares, schnallten den Bauchgurt etwas fester und setzten ihren Weg fort. Dieser begann zu steigen, krümmte sich zwischen steilen, farnbewachsenen Wänden dahin. Sie liefen durch ein trockenes Flußbett, das immer tiefer wurde. Seit langem lag der Pfad im Schatten der rechten Wand; die linke, die in der vollen Sonne lag, bot einen verblüffenden Anblick tropischen Reichtums. Wunderschön angeordnet breiteten sich die Farnfächer; dazwischen funkelten zahllose rote Blumen und huschten Schmetterlinge und Vögel — es war wie in einem Märchen. Stundenlang stiegen die Jungen, sie fühlten es in den Beinen. Auf einmal standen sie auf einer mit hohen Laubbäumen bewachsenen Hochebene. Die Felswände waren verschwunden, die Wanderer konnten von ihrer Höhe aus frei die Gegend überschauen. Nichts als grüne und blütenbesäte Baumwipfel. Ha, man atmete nun wieder frei! Padde ließ sich hinfallen und behauptete, keinen Schritt mehr tun zu können. Die andern streckten sich neben ihm ins Gras, und bald schliefen sie alle ein. Aber schon nach einer Stunde wurden sie wieder wach. Weiter! Die Sonne war schon ein ordentliches Stück gesunken; es wurde nun zum Glück etwas kühler. Im Gänsemarsch folgten sie dem schmalen Pfad. Harmen lief singend voran. Auf einmal standen die Jungen vor einer Schlucht. Prächtig war die Aussicht über das Meer von Grün, darin gerade die Sonne versank. Hier gedachten die Jungen die Nacht zuzubringen. Sie bereiteten ein hohes, weiches Bett aus Farnen und setzten sich dann zusammen an den Rand der Hochebene. Die Schlucht lag nun in einen blauen Schleier gehüllt da. Der Himmel verblaßte, die Dämmerung spann ihre ersten Fäden. Wie still wurde es! Die Jungen kannten die Tropen schon so weit, daß sie wußten, von wie kurzer Dauer die Stille sein würde. Gleich würden die Grillen zu zirpen anfangen in tausend Ecken und Löchern. Geheimnisvolle Rufe würden mit einem Schlag die Stille verjagen, dann würde die Nacht heranschleichen, wie der Tod in seinem schwarzen Mantel, schweratmend vor Mordlust.
Das letzte rosige Wölkchen war aschfahl geworden. Hier und dort begann ein Sternlein zu funkeln. Der Mond stieg herauf. Wo seine Strahlen den Boden berührten, stiegen lange weiße Spukgestalten auf und wanden sich seufzend in die Höhe. Dann setzten die Grillen ein, unzählige feine Stimmchen. Harmen stand auf. »Ist das hier ein Land!« brummte er. »Wir kommen hier im ganzen Leben nicht wieder heraus!« Langsam richteten auch die andern sich auf, sie fühlten einen kühlen Luftzug über die Ebene streichen. In den Bäumen ächzte und seufzte es. Mit Mühe ihre Angst überwindend, tasteten die Jungen sich in die Finsternis und suchten ihr Lager auf.
Ein Nest mit Katzen Am nächsten Morgen jagte die Sonne alle Hirngespinste lachend vor sich her. Das erste Gefühl, mit dem die Jungen erwachten, war das der Befreiung. Aber gleich darauf folgte ein anderes Gefühl: das des leeren Magens. Verflixt, sie mußten etwas Eßbares finden, sonst wurden sie zu wandelnden Gerippen! Sie hatten gestern nur Früchte gegessen. Das schmeckte ja sehr lecker, aber ein holländischer Junge konnte doch nicht satt davon werden. Während Hajo mit Pfeil und Bogen gegen die Tauben zu Feld zog, die überall am Rand der Hochebene hausten, griff Harmen zu Speer und Hackmesser und versprach, mit einem Wildschwein zurückzukehren. Rolf ging unbewaffnet auf Entdeckungen aus, und Padde und Joppie begleiteten Hajo. Es war verabredet worden, daß alle etwa in einer Stunde zurück sein sollten. Hajo und Joppie schlichen, mit Padde in einiger Entfernung hinterher, durch das Farnkraut. Schon der erste Schuß war sehr glücklich: eine Taube taumelte herab, mit einem Pfeil in der Brust. Gleich darauf traf Hajo aufs neue, doch diesmal schwirrten nur ein paar Federn herunter, und die Taube flog weg. Die Pfeile waren zu leicht; eine eiserne Spitze hätte dem Zweck besser entsprochen. Wohl hatte Hajo in seinem Köcher auch fünf Pfeile mit einem Nagel als Spitze, aber es war beschlossen worden, diese schwereren Geschosse für besondere Fälle aufzuheben. Da sah Hajo auf einem niedrigen Zweig wieder eine Taube sitzen. Er zielte sorgfältig und schoß das Tier. Doch nun begannen die Vögel Argwohn zu schöpfen und gaben das einander in der Taubensprache zu verstehen, so daß Hajo nichts mehr in Schußweite bekam. Nun, zwei fette Tauben waren auch schon was wert. Er würde sehen, daß er ein paar Eier ergattern konnte. Auf gut Glück kletterte er in einen Baum und fand zwei Nester beieinander. In einem davon saßen zwei Jungen, schon ganz und gar in Federn, also anscheinend im Begriff, flügge zu werden. Als Hajos Schädel sich zeigte, erhoben sich die beiden dösenden Dickwänste — wenige junge Vögel werden von den Alten so lange gefüttert wie junge Tauben — mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen und wollten aufflattern. Aber Hajo legte schnell die Hand auf das Nest und stopfte die Jungen in seine Hosentasche. So, nun konnte er die Eier in dem andern Nest wohl liegen lassen. Unten angekommen, zeigte er Padde seine Beute, und die Jäger kehrten zufrieden heim. Rolf war unbewaffnet ausgezogen. Langsam durch die Farne watend, betrachtete er die tausend Wunder um sich her. Schließlich fiel ihm ein, daß er doch ausgegangen war, um etwas Eßbares zu finden. Ach, er fühlte nun, daß er Heißhunger hatte! Also noch schnell herumgespäht! Auf einmal blieb er vor einem zum Staunen hohen Baum mit glattem Stamm stehen. Was hingen dort oben für große stachlige Früchte? An dem glatten Stamm in die Höhe zu klettern war unmöglich. Rolf lief hin und her unter dem ungeheuren Blätterdach. Ein dünnerer Baum kreuzte seine Zweige mit denen des Riesen. Rolf arbeitete sich in diesem Baum hinauf, kletterte geschickt in den andern hinüber und schnitt mit seinem Taschenmesser drei der Früchte ab. Sie fielen dumpf nieder in das Farnkraut. Dann balancierte Rolf nach dem kleinen Baum zurück und begab sich wieder hinunter. Er suchte die Früchte zusammen, konnte aber nur noch zwei davon finden. Nun, daran hatte er auch genug. Sie waren größer als ein Menschenkopf und mit dicken eckigen Stacheln besetzt. So langte Rolf, in jedem Arm eine der schweren Früchte, auf dem Platz an, wo Hajo und Padde mit Hingabe beschäftigt waren, die Tauben zu rupfen. »Was hast du da für Früchte?« fragte Padde.
»Wir wollen sie einmal aufschneiden. Ist Harmen schon zurück?« »Noch nicht. Sieh mal, was ich habe!« Hajo wies auf seine Tauben. »Die sehen lecker aus«, sagte Rolf. »Schade, daß wir sie nicht braten können! Soll mich wundern, was Harmen mitbringt. Der bleibt lange weg.« »Ja, er jagt hinter großem Wild her. Am Ende kommt er noch mit einem Königstiger an.« »Ganz gewiß«, lachte Rolf. Und mit einem tüchtigen Kreuzschnitt öffnete er eine der Früchte. Brrr, es kam ein alles eher als verlockender Geruch heraus, ein Geruch, der an Zwiebeln, verdorbenen Käse und faule Eier erinnerte. Padde hielt sich die Nase zu, und Hajo sah Rolf zweifelnd an. »Sie wird angefault sein, Rolf.« »Unmöglich!« sagte Rolf. »Die Schale ist ganz und gar unbeschädigt, und sieh nur, wie frisch das Fleisch aussieht! — Warte! Der Bader sprach mal von einer Frucht, die zwar eklig riecht, aber doch gut schmecken soll. Es wird ein Durian sein. Vorwärts, ich koste sie!« — Die Frucht war von einer gelbweißen Zwischenhaut in Kämmerchen geteilt, und in jedem lagen ein paar fleischige, weiße Kerne von der Größe eines Enteneis. Mit einem Mut, den Hajo und Padde heimlich bewunderten, steckte Rolf so einen Kern in den Mund. »Na und ...?« »Lecker«, sagte Rolf. »Es schmeckt wie Nüsse mit Sahne. Koste auch mal!« Zögernd, mit zugehaltener Nase, steckte Hajo auch einen Kern in den Mund und mußte zugeben, daß die Frucht gar nicht schlecht schmecke. Nun begannen sie beide zu schmausen. »Nimm doch auch was, Padde!« riet Hajo. »Ich kann mich beherrschen«, sagte Padde, rückte zwanzig Schritt weiter und rupfte da seine Taube. Er behauptete, daß er sogar da noch umfalle von dem Gestank. Wo bloß Harmen so lang blieb? Mit Lanze und Hackmesser gewappnet und dabei in seinem Blätterröckchen, wie ein richtiger Menschenfresser, hatte er die Richtung eingeschlagen, wo die Ebene langsam zu einem Bergabhang anstieg. Durch Lianen und stachlige Rotangranken hatte er sich Bahn gebrochen. Er war durch enge Höhlungen gekrochen, über tote Waldriesen geklettert, wobei er Schrammen im Überfluß bekam und hundertmal einsank in das vermodernde Holz. So war er, immerfort hackend, an die denkwürdige Stelle gekommen, von der er später wahrheitsgetreu erzählte, dort vor Staunen Lanze und Hackmesser fallen gelassen zu haben. Zwischen hohen Bambusstengeln lagen auf Moos und Blättern drei — Katzen! Nein, das hätte Harmen nie gedacht! Die Katzen waren ziemlich groß, beinahe wie Hunde. Sie hatten ein glänzend gelbes Fell mit schwarzen Querstreifen; um den Schwanz saßen schwarze Ringe. Von diesen niedlichen Miezekatzen wollte Harmen eine mitnehmen, nicht zum Essen, bloß zum Ansehen. Sie spielten so hübsch! Sie lagen auf der Seite und schlugen einander mit den Pfötchen. Was für dicke, schwarze Pfötchen für solche lieben Tierchen! Mit schnellem Griff packte Harmen eins beim Kragen. Komm! Damit wollte er seine Gefährten einmal überraschen! Aufgeregt suchte Harmen den Rückweg. Er hatte die Richtung noch im Gedächtnis, aber die Last, die er trug, hinderte ihn sehr beim Wegbahnen. In seinem linken Arm hielt er die Katze, und im Gürtel schleifte seine Lanze wie ein langes Schwert hinter ihm her. Endlich entdeckte er zwischen den Bäumen seine Freunde wieder. »Hallo, ich hab' was, Jungs! Eine Katze! Joppie festhalten!« Und vorsichtig, um sich nicht noch mehr Schrammen zuzuziehen, näherte sich Harmen durch das dornige Gestrüpp. »Bitte schön! Da habt ihr das Tierchen!« Joppies Haare richteten sich steil auf. »Aber — das ist ja ein Tiger!« rief Rolf. Harmen sah ihn verblüfft an. »Ein junger Königstiger.«
Da erbleichte Harmen. »Ein Junges? Alle Wetter, dann habe ich vor einer Tigerhöhle gestanden!
Drei lagen drin. Drei Königstiger!« Und Harmen ließ seine »Miezekatze« mit Schaudern auf die
Erde fallen. Nach Katzenart fiel sie auf ihre vier Füße, fauchte und wollte davon.
Aber Rolf griff nach ihr. »Wir müssen hier wie der Blitz weg, bevor die Alten kommen. Padde,
nimm die Tauben, Harmen, du die große Frucht! Ich trage den Tiger.«
»Was willst du mit dem Tier tun?« fragte Harmen entsetzt. »Zähmen«, sagte Rolf. »Der Tiger ist
noch jung. Vorwärts!« »Ja, dann nehmen wir ihn mit nach Hoorn!« rief Hajo.
»Oder er frißt uns binnen vier Wochen alle vier auf«, brummte Harmen. Er hob den Durian auf
und besah ihn mit argwöhnischer Miene. »Na, denn los!«
Padde nahm mit bebender Hand die Tauben und folgte, während er sich in gehöriger Entfernung
von dem gelbschwarzen Ungetüm hielt, das Rolf im Arm hatte. Joppie blieb wiederum hinter
Padde. So wollte der sonderbare Aufzug den Pfad am Rand der Schlucht wieder einschlagen, da
— Hajo stieß einen Schrei des Entsetzens aus —, da sprang aus den Büschen, keine zwanzig Schritte von ihnen entfernt... Die Jungen brauchten nicht zu raten, wen sie vor sich hatten. Da war er, der grausame, stolze Kaiser des indischen Walds, ganz unerwartet, während die Sonne hoch am Himmel stand. Er wandte, augenscheinlich selbst überrascht, seinen schwarzen, stumpfen Kopf den Jungen zu. Diese standen gelähmt vor Schrecken. Harmen hob unwillkürlich den Durian, als wolle er sich damit verteidigen, Hajo faßte ebenso mit beiden Händen seinen Speer, Padde starrte ausdruckslos mit weitgeöffnetem Mund. Eine bange Pause. Das Tier zog die Lippen auseinander, entblößte seine kräftigen, dreieckigen Eckzähne und brummte. Dann richtete es plötzlich seine hellgrünen Räuberaugen auf Rolf, wahrscheinlich auf das Junge, das dieser in den Armen hielt, schlug wütend den dicken, runden Schweif über den Boden, kroch einen Schritt rückwärts, stieß ein kurzes, heiseres Gebrüll aus, unheilverkündend wie kein anderer Laut, und duckte sich. Rolf hatte eine Eingebung und folgte ihr ohne Zögern: mit kräftigem Schwung schleuderte er dem Tiger sein Junges zu. Er hätte nichts Besseres tun können. Der Tiger packte das Junge mit den Zähnen im Nacken und sprang in prächtigem, leichtem Bogen damit fort in die Sträucher. »Adjüüüs!« stammelte Harmen mit noch kreideweißen Lippen. Dann rannten die Jungen den Pfad hinunter, so schnell sie nur konnten, Harmen voran, die Beine schwingend wie ein Schnelläufer von Beruf, Padde als letzter, sich fortwährend ängstlich umsehend und schreiend: »Nicht so schnell! Nicht so schnell! Ich kann nicht mit!«
»Tabeh!« Erst ein ganze Stück weiter wagten sie, ihre Geschwindigkeit etwas zu mäßigen. »Ob er uns verfolgt?« fragte Hajo nach Luft schnappend. »Ich glaube nicht«, keuchte Rolf. »Aber wir wollen doch lieber machen, daß wir so weit wie möglich wegkommen.« »Wo ist Joppie?« fragte Rolf. Joppie war verschwunden. »So ein Held!« schimpfte Harmen. »Wenn der wenigstens noch dem Tiger zu Leib gegangen wäre!« »Kommt!« sagte Rolf. »Wir wollen noch ein Stündchen weitermarschieren, aber jetzt langsamer.« »Sieh mal, da geht noch ein Weg!« sagte Hajo plötzlich. »Der vereinigt sich mit diesem hier.« »Ja, der scheint auch aus dem Innern zu kommen.« Gleich darauf standen die Jungen bei der Gabelung. Der andere Pfad war nicht festgetreten, und in den weichen Boden zeichnete sich der Abdruck eines kleinen nackten Fußes. »Die Spur ist noch frisch«, sagte Hajo. »Es ist ein Kinderfuß. Vielleicht sind wir hier dicht bei einer Dessah.« »Leicht möglich«, meinte Harmen. »Gib mir mal ein Täubchen, Padde! Es sind vier da, für jeden eins; Joppie kommt um seinen Teil.« Und Harmen setzte sich rupfend an den Wegrand. Die Federn stoben in der Runde. Hungrig verzehrte darauf jeder sein Täubchen. Hajo und Rolf taten sich auch noch an dem Durian gütlich; Padde und Harmen setzten sich aus der Windrichtung und hielten sich über Leute auf, die solch ekelhaft riechendes Zeug essen mochten. Wo blieb nur Joppie so lange? Er war doch nicht etwa von dem Tiger...? Die Jungen ertappten sich dabei, daß sie Joppie als Gefährten vermißten. »Joppie! Joppie!« Keine Antwort. Also wieder weiter. Der Weg wurde steinig, ab und zu hieß es tüchtig klettern. Auf einmal standen sie vor einer natürlichen Treppe. Das heißt, war es denn möglich, daß die Natur die ellenbreiten, basaltenen Stufen so regelmäßig verteilt hatte? Zu beiden Seiten standen Bananen mit Büscheln goldgelber Früchte und überschatteten die Treppe mit ihren großen grünen Blättern. »Das ist beinahe wie eine Treppe zu einem alten Schloß«, fanden die Jungen. Sie pflückten ein paar reife Bananen, aber die Früchte schmeckten bitter. »Es sind wilde Pisangs«, erklärte Rolf. »Es sind Dreckpisangs«, sagte Harmen enttäuscht. Hajo schien auf etwas zu lauschen. »Hört doch mal!« »Ein Wasserfall!« jauchzte Rolf. Dann eilten sie mit großen Sprüngen die Treppe hinauf und landeten keuchend auf einer Hochfläche. Gespannt, was sie jetzt sehen würden, eilten sie zwischen moos- und blumenbedeckten Felsen dem Geräusch nach, rannten in ihrer Eile fast an ein paar Apfelsinenbäumen vorbei, umliefen ein Palmenwäldchen — und standen vor einem See. Es war berauschend. An der einen Seite des Sees stieg eine steile Felswand empor. Ganz oben entsprang ein Wässerchen. Das silbrige Wasser tanzte über die Felsen herunter und fiel schäumend in den stillen, zwischen hohen, leise flüsterndenBambuswäldchen und wehenden Fächerpalmen versunkenen See. In der Mitte ; lag ein mit Baumfarnen und Blumen überwuchertes Eiland. Vögel flatterten überall in den niedrigen Zweigen und trillerten in wunderlicher Sprache laut über das Wasserrauschen hinaus. Am Ufer stand auf einem Bein ein fischender Reiher.
»Ich gehe hier nie wieder weg!« stammelte Hajo. Es war so schön, daß einem die Tränen in die Augen stiegen. Der Grund des klaren Wassers lag voll buntscheckiger Steine. Und was schoß dort vorbei? Ein Fischrücken, dick wie ein Arm. Lange dauerte es nicht, da saßen die Jungen im Wasser. Während Padde dicht beim Ufer herumplantschte und auf die wenigen Kleidungsstücke und die Waffen achtgab, schwammen die andern nach der Insel. Alle machten ein Nickerchen, jene auf ihrer Insel, Padde oben auf den Sachen, die seiner Hut anvertraut waren. Als die größte Hitze vorüber war, standen die Jungen hungrig auf. Harmen schlug vor, ein wenig zu fischen. »Ja!« rief Hajo. »Angelruten gibt es hier die schwere Menge, Angelruten allerf einster Sorte.« »Ich weiß was Besseres«, sagte Rolf. »Wir schießen sie, mit Pfeil und Bogen.« Dieser Vorschlag fand Beifall. Aber die Jagd war nicht so einfach; die Fische verschwanden, sobald die Jungen sich näherten. Rolf wußte sich zu helfen. Während Hajo und Harmen um die Wette hinter den Fischen herschwammen, blieb er, dem Vorbild des Reihers folgend, ganz still auf einem untiefen Fleck stehen, mit einer gefällten Lanze in der Hand. Bald schwamm ein großer Fisch vorbei. Rolf zielte und spießte mit einem glücklichen Stoß das Tier an seine Lanze. Das erwies sich wirklich als die beste Weise des Jagens. Er hatte bald vier schwere Tiere erbeutet, während Harmen und Hajo nichts schossen. Nach dem Mittagmahl wanderten die Jungen ein wenig auf der Hochfläche umher, die sie vorhin nur flüchtig gesehen hatten. Sie pflückten einige Apfelsinen, die von außen nicht ganz reif schienen, doch herrlich süß waren. Als sie langsam durch die Palmen wieder zurückkehrten, hielt Rolf seine Gefährten fest. »Seht mal da!« Was sie sahen, war schön wie ein Traum. Zwei Hirsche und einige Rehe standen und tranken, wobei sie den Kopf weit nach hinten warfen, das Geweih im Nacken, und das Wasser seitwärts an den Lefzen entlang herausfloß. Die großen, schreckhaften Augen glänzten. Wie waren die Hälse schön gebogen! Wie zierlich standen die Tiere auf ihren schlanken Beinen! Plötzlich schien eins von ihnen Gefahr zu wittern. Es sog die Luft ein, stieß einen Laut aus, ähnlich dem Kläffen eines Hundes. Und — was ertönte da drüben? Das Echo? Die Hirsche und Rehe sprangen fort ins Grün. Die Jungen starrten noch sprachlos vor Verwunderung nach der Stelle, wo die Tiere getrunken hatten. Auf einmal — wer kam da schnaufend herangestürmt mit der Zunge aus dem Halse? Joppie! Das war also das soeben gehörte Echo gewesen. Winselnd vor Freude sprang der Hund an seinen Herren in die Höhe, drehte sich halb toll um sich selber, bellend und schwanzwedelnd unter ihren Liebkosungen und leckend, wo er nur lecken konnte. »Wau! Wau!« »Wir wußten ja, daß du uns nicht im Stich lassen würdest!« sagte Hajo. Die Karawane schlug wieder denselben Weg ein, vergnügt darüber, daß nun wieder alle beisammen waren. Der Weg senkte sich, wurde eng und gewunden. Harmen, der voranging, lief fortwährend mit dem Kopf in Spinngewebe. Dieser Pfad schien so selten benutzt zu werden, daß ihn die Sträucher hie und da ganz und gar versperrten. »Ach«, sagte Harmen auf einmal, »hier ist jemand entlanggegangen! Seht nur: dieser Zweig ist frisch abgebrochen! Vielleicht derselbe, dessen Fußstapfen wir heute früh gesehen haben.« Schweigend liefen die Jungen so ein paar Stunden hintereinander, bis es zu dämmern anfing und an ein Nachtlager gedacht werden mußte. Sie wählten dazu wieder eine Lichtung zwischen Bambuswäldern.
Plötzlich richtete Hajo sich auf. »Ich höre was!« Die Jungen lauschten. Mit dem Heimchengezirp mischten sich dumpfe Laute wie von einer Trommel. »Menschen!« flüsterte Hajo. »Ich höre auch eine Flöte.« Die Jungen sprangen auf. Einer hinter dem andern liefen sie den dunklen schmalen Pfad entlang, dem Schalle nach. Mit einemmal hörte der Wald auf, und zu ihren Füßen erstreckte sich ein weites Tal mit abgeteilten Teichen. In der Mitte, umringt von Kokosgärten, lag ein Dörfchen, aus dem ein gelber Lichtschein aufstrahlte. Wie herankommen, ohne gesehen zu werden? Das Tal zitterte in blauem Mondenschein; die Teiche sogen das Licht gierig ein und strahlten es wieder aus. Auf, sie würden ihrem guten Stern vertrauen! Es schien im Dorf ein Fest gefeiert zu werden; da würde man wohl nicht so wachsam sein. So begaben sie sich über einen sich schlangelnden Damm den Abhang hinunter. »Reisfelder!« sagte Rolf, auf die Teiche weisend. »Seht ihr, die Halme ragen aus dem Wasser heraus!« Weiter ging es. Zu Dutzenden plumpsten die fetten Frösche von dem kleinen Damm in die Reisfelder, schwammen komisch weg und blieben mit ausgestreckten Hinterbeinen liegen, neugierig über das Wasser glotzend. So kamen die Jungen zum ersten Kokosgärten. Die schlanken Stämme und die langen, gebogenen Blattstengel glänzten im Mondlicht. Vorsichtig, Schritt vor Schritt schlichen sie weiter. An einem Bambuswäldchen entlang spähend, konnten sie das Tor sehen. Da stand ein Wachhäuschen, aber von einem Wächter war nichts zu entdecken. Nun, wozu wäre der auch nötig gewesen? Das ganze Dorf war doch auf den Beinen. Die Jungen duckten sich an dem Bambusgehölz entlang unter den Außenwall von Erde und konnten durch die Ritzen der Umzäunung nach innen sehen. Die Dessah-bewohner saßen in weitem Kreis auf dem Vorplatz, in hockender Stellung, und in der Mitte des Kreises schritten Tänzer mit putzigen Bewegungen durcheinander. Sie trugen auf dem Haupt greuliche Scheusalsköpfe mit wilden Haaren und großen Glasaugen, und der Oberleib war von einem weiten Mantel aus langen Blättern bedeckt. Rund um die Tänzer saßen mit gekreuzten Beinen die Musikanten, die mit der flachen Hand auf eigenartige längliche Trommeln schlugen, die quer auf ihren Knien lagen, oder auf hölzernen Flöten bliesen. Einer spielte auf einer einsaitigen Geige, die auf den Boden gelegt war, ein anderer schlug wechselweise auf zwei Becken. Dahinter saßen Männer mit qualmenden Fackeln; weiter hinten hockten die Zuschauer und klatschten mit den Händen den Takt. »Kirmes!« flüsterte Padde. Harmen blickte nur nach dem Geigenspieler. »Der kann es gar nicht. Falsch!Wieder falsch! Nennt sich das Spielen?« Und nach einer Weile konnte er es beinahe nicht mehr aushalten. »Soll ich hineingehen und ihnen zu hören geben, wie man spielen muß? Halt meinen Speer so lange fest, Hajo, und meinen Bogen!« »Das wirst du gefälligst sein lassen!« drohte Rolf. »Was sollen sie mir tun?« fragte Harmen. »Sie werden froh sein, wenn sie einmal gut spielen hören.« Gleich darauf begann er wieder zu quengeln. »Sie haben dahinten auch allerlei leckeres Zeug stehen. Riecht bloß mal! — Und ich möchte so gerne wieder einmal eine Fiedel in den Fingern haben. Wie lange habe ich nun schon nicht spielen können! Hört! Falsch! Wieder falsch!« Kurz entschlossen warf Harmen seine Waffen auf die Erde, sprang kreuzvergnügt zum Tor hinein und rief — in einem Tone wie: da bin ich endlich! — den Versammelten zu: »Tabeh!«
Padde ist weg Die Trommeln schwiegen, die Tänzer stellten das Tanzen ein, alle starrten mit großen Augen auf den sonderbaren Besucher in seinem Röckchen aus Gras. Darauf sprangen einige Männer hinzu und ergriffen Harmen, der zu spät auf den Gedanken kam, sich wieder aus dem Staub zu machen. Alle riefen durcheinander. Die andern, die von draußen alles mit angesehen hatten, flohen, nachdem sie Harmens Waffen zusammengerafft hatten, mit Joppie in das Bambusgehölz. Gleich darauf eilten bewaffnete Eingeborene an ihnen vorbei, scheinbar auf der Suche nach etwaigen andern Weißen in der Umgebung. Aber die drei wurden nicht bemerkt, und die Eingeborenen kehrten wieder zurück. Dann legte sich der Lärm drinnen. »Wir müssen ihn befreien«, sagte Rolf. »Aber wie?« Padde begann jammernd seine Meinung zu äußern über Leute, die durch ihre Waghalsigkeit auch andere in Gefahr brächten. »Hajo«, sagte Rolf, »du siehst das Tor von da. Steht eine Wache davor?« »Nein. Ich werde sehen, was sie drinnen machen.« Hajo schlich sich zur Umfriedung hin und spähte durch die Ritzen. »Der Vorplatz ist leer, und hinter den Häusern kommt Licht hervor.« »Folge mir dann!« flüsterte Rolf. »Hier, Padde, paß du auf Joppie und die Waffen auf!« »Was macht ihr bloß?« jammerte Padde in gedämpftem Ton. »Du kommst doch hierher zurück, Hajo?« »Ja gewiß«, brummte Rolf. Und Rolf und Hajo schlichen weg, um das halbe Dorf herum, bis dahin, wo das Licht durch die Spalten des Zauns herausschien und Stimmengeräusch ihr Ohr erreichte. Sie spähten zwischen den Bambusstäben hindurch und sahen gerade, wie Harmen, die Hände auf den Rücken gebunden, eine Treppe hinaufgeführt wurde zu einer Hütte. Die Tür wurde hinter ihm geschlossen. Darauf schienen die Eingeborenen eine Beratung abzuhalten. Die Entfernung war zu groß, um etwas auffangen zu können aus dem Stimmengewirr. »Warten!« sagte Rolf. »Solange sie da sind, können wir nichts beginnen.« So warteten die Jungen denn, von Stechmücken geplagt. Endlich zerstreuten die Eingeborenen sich in lebhaftem Geplauder und verschwanden in ihren Wohnungen. »Komm mit!« sagte Rolf. »Vielleicht finden wir eine Hintertür; das Tor wird nun wohl bewacht sein.« In diesem Augenblick hatten die Jungen, ungeachtet ihrer heiklen Lage, Mühe, ihr Lachen zu unterdrücken; Harmen hub an, die ersten Takte des Geusenliedes zu singen: »Schlagt auf die Trommel, von dirredomdeme! Schlagt auf die Trommel, von dirredomdus!« Es berührte in dieser indischen Mondnacht voll Grillensang sehr sonderbar. Seine Freunde begriffen, daß es nicht Harmens Lust am Trommeln war, die ihm das Lied aus der Seele preßte; es sollte ihnen andeuten, wo er gefangen saß. Ohne einen Eingang zu finden, umschlichen sie das Dorf. So kamen sie wieder an das Tor, aber nun auf der Seite, die der, wo Padde und Joppie sich befanden, entgegengesetzt war. Hajo spähte um die Ecke. Eine Schildwache hockte jetzt neben dem Häuschen.
Was tun? Den Mann überrumpeln? Hajo fiel etwas ein. Er hob ein Steinchen auf und warf es
über den Kopf des Wächters hinweg. Raschelnd fiel es nieder. Der Eingeborene hob den Kopf.
Todesstille. Grillensang. Ganz in der Ferne der kläffende Ruf eines Hirsches.
Hajo warf noch ein Steinchen. Diesmal erzielte er den gewünschten Erfolg. Der Mann ergriff
seinen Speer und bewegte sich dorthin, woher das Geräusch kam. Er hatte den Rücken noch
nicht gewandt, da schoben Rolf und Hajo sich schon geräuschlos im Schatten der Umfriedung
entlang, schlichen hinter dem Wachhäuschen vorbei und schlüpften durch die Pforte. Sie wagten
den Vorplatz nicht zu überschreiten, umgingen ihn also von Baum zu Baum.
»Horch!« sagte Hajo auf einmal. Die Jungen hielten den Atem an. »Ich höre nichts.«
»Ich jetzt auch nicht mehr. Ich glaubte soeben . . .«
»Es wird Harmen gewesen sein. Höre nur! Er singt jetzt von dem Volendamer Fischerken.«
»Ja - ha!«
Wieder weiter! Keiner von beiden vermutete etwas von dem blutigen Drama, das sich
inzwischen außerhalb der Pforte abgespielt hatte.
Padde hatte unerwartet dicht vor seiner Nase ein Steinchen niederfallen hören. Wo kam das her?
Da fiel noch eins. Und siehe, der Wächter stand auf und kam auf Padde zu! Klopfenden Herzens
spähte der Dicke durch die Zweige und sah, wie der Eingeborene überall in der Runde blickte
und mit seiner Lanze im Gebüsch stocherte. Padde kroch ein Stück zurück. Der Wächter blieb
stehen, kam dann geradewegs auf die Stelle zu, wo Padde saß, und stach seine Lanze mit Kraft
zwischen die Bambusstämme. Dieser Angriff ging über Joppies Kraft; er befreite sich mit einem
erstickten Aufheulen von Paddes Griff und flog dem Mann an die Beine. Mit einer
Verwünschung stieß der Malaie den Hund beiseite, sprang zu und ... Padde hatte in ratloser
Angst, ohne zu wissen, was er tat, eine Lanze vorgestreckt. Die Lanze knackte; ein dumpfer
Laut, Röcheln, der Aufschlag eines fallenden Körpers. Schaudernd sprang Padde in die Höhe
und sah, wie der Ein-geborene, mit der Speerspitze tief in der Brust, sich auf der Erde wand.
Alles drehte sich vor Padde; er barg das Antlitz in den Armen. Weg! Weg von hier! Nur weg!
Und, mit Joppie auf den Fersen, war Padde davongestürzt.
»Das Volendamer Fischerken,
Das fuhr nach Duiveland ...«
sang Harmen. Von Haus zu Haus schleichend waren Rolf und Hajo seinem Gefängnis näher
gekommen. Mit einem prachtvoll langausgezogenen Ton schloß das Lied.
Rolf und Hajo waren schnell unter dem Häuschen hervorgekrochen, in dem er gefangen saß.
»Harmen!«
»Holla! Alle Wetter, wenn ich nicht dächte, daß ihr...«
»Bst! Ich komme zu dir.« Rolf kletterte schnell die Leiter hinauf. Zum Glück stand sie an der
Schattenseite. Die Tür war mit einem Rotang befestigt. Das Messer hinein — ritsch! Krack,
krack! Still, dumme Tür! »Harmen, wo liegst du?«
»Hier! Großer Gott, Rolf! Die Schufte!«
Rolf kniete und fing an, die Fesseln durchzuschneiden. »Au!« »Frei?« »Ja.«
»Dann komm!«
Leise schimpfend stieg Harmen die Leiter herunter. »Hajo?«
»Mitkommen!« flüsterte Rolf.
Nach einer Weile waren die Jungen wieder durch das Dorf am Zaun entlang um den Vorplatz
herumgeschlichen und standen nun dicht bei dem Tor. Rolf hob ein Steinchen auf und
schleuderte es über den Bambusrand ein tüchtiges Stück seitwärts von dem Tor. Nichts rührte
sich.
»Was machst du denn?« fragte Harmen.
»Bst!« Rolf nahm noch ein Steinchen, diesmal etwas größer, und warf es hinter dem andern her.
Totenstille.
»Vielleicht steht der Wächter weiter weg«, sagte Hajo.
Rolf schlich vorwärts, die andern folgten. So kamen sie zum Tor hinaus. Nichts zu sehen. Warte!
Was — wer liegt da? Alle eilen herbei. Ein Schrei des Entsetzens, als sie den Wächter
blutüberströmt auf der Erde finden.
»Padde?« Hajo stürzte sich in die Büsche. Padde ist verschwunden! Da liegen die Waffen noch.
Rolf kniet bei dem Schwarzen nieder. »Tot!« flüstert er.
»Ob Padde mit der Lanze ...?« Rolf springt auf. »Schnell! Weg von hier!«
Die andern beiden folgen, Hajo ratlos über Paddes Verschwinden.
»Warte mal!« keucht Harmen. Er eilt zurück, reißt die Waffen aus dem Gebüsch und nimmt dem
Malaien Speer und Dolch ab. Dann läuft er wieder hinter den andern her.
»Rolf«, schluchzt Hajo, »müssen wir Padde nicht...?«
»Wir müssen hier weg!« befiehlt Rolf. »Aus dem Tal weg! Wir können uns hier nicht verbergen.
Sie suchen uns nachher und...«
Harmen bückt sich und hebt Paddes Schurz vom Boden auf. »Gott sei Dank!« sagt Rolf. »Dann
ist er nach der richtigen Seite geflüchtet. Nimm es, daß sie es nicht finden!«
Die Jungen rennen einen Damm zwischen den terrassenförmig ansteigenden Reisfeldern hinauf,
gleiten im Schlamm aus, krabbeln wieder auf die Füße und stehen schließlich keuchend an der
andern Seite des in Mondlicht getränkten Tales.
Dolimah Der Pfad läuft wieder in den Wald hinein. Hundertmal strauchelt Harmen, der vorausläuft, über
dicke Wurzeln. Husch — was springt dort für ein Tier weg? Fort! Fort! Hajo kann schließlich
nicht mehr und sinkt gegen die Sträucher. Tränen rollen ihm über die Backen. »Padde! Wo ist
Padde...?« »Still doch!« sagt Harmen. »Hört ihr was?«
Hajo birgt das Gesicht in den Armen, um sein wildes Schluchzen zu ersticken.
»Wir müssen hier weg. Komm, Hajo!« drängt Rolf. »Hier ist noch alles so offen.« Er stützt Hajo,
der Mühe hat, sich zu erheben.
So stolpern die Jungen weiter, bis sie an einer Stelle angekommen sind, wo der Boden weich ist
und Farnkraut wächst. Vorsichtig bemüht, keinen Farnstengel zu brechen und auf diese Weise
eine Spur zu hinterlassen, stapfen sie hindurch. Als sie weit vom Weg entfernt sind, sinken sie
zusammen. Harmen fällt sogleich in Schlaf. Hajo schluchzt noch lang.
Die Sterne verschwinden schon. Der Mond verblaßt. Die Grillen schweigen. Mit
Schreckensbildern vor Augen wachte Hajo als erster von den dreien wieder auf. »Padde! Wo ist
Padde?«
Die Sonne stand schon hoch, sie glänzte in den Baumwipfeln droben. Überall schmetterten die
Vögel. »Rolf, wach auf! Wir müssen Padde suchen.«
»Ja«, stammelte Rolf und richtete sich auf.
Auch Harmen erwachte, reckte sich, gähnte und kratzte sich einige gerötete Mückenstiche.
»Wo sollen wir suchen?« fragte Rolf nach kurzem Schweigen. Hajo suchte nach einer Antwort,
fand aber keine. Mit Tränen in den Augen blickte er in das Grün rundum. Harmen wälzte sich
auf den Bauch, pflückte ein Grashälmchen, kaute darauf und seufzte: »Ihr könnt ebensogut
meine Fiedel suchen, die mit der >Nieuw-Hoorn< koppheister gegangen ist.«
»Padde muß gefunden werden!« sagte Hajo mit erstickter Stimme.
»Ja«, pflichtete Rolf bei, »natürlich muß er gefunden werden. Das ist doch selbstverständlich!«
Schweigen, drückendes Schweigen.
Harmen sprang auf, strich sich über die Stirn und sagte: »Ich geh' mal zurück, um zu sehen, ob
dies Gesindel uns gefolgt ist.« Langsam, hängenden Kopfes, stapfte er durch das Farnkraut.
Gleich darauf kam Harmen mit großen Sprüngen zurück; er mußte erst nach Luft schnappen,
bevor er etwas herausbrachte: »Da drüben sitzt er! Mit Joppie und einer schwarzen Deern! Und
Feuer hat er auch!«
Die andern sprangen in die Höhe. »Und — und? Warum ist er nicht mitgekommen?«
»Er hat mich nicht gesehen.«
»Bist du nicht zu ihm hingegangen?«
»Denkst du denn, ich werde mich da so splitternackt sehen lassen?« fragte Harmen entrüstet.
Und hastig zog er sein Röcklein an.
»Kommt mit!« sagte Rolf. Und die Jungen eilten hinter Harmen her. »Siehst du den Rauch da?
Bei dem Kokosbaum? Da sitzt er mit der Schwarzen und seinem Feuer.«
»Padde! Hallo, Padde!« riefen sie.
»Wau!« Da kam Joppie ihnen schon entgegen und sprang heulend vor Freude an ihnen in die
Höhe.
Doch Padde schien über -das Wiedersehen ganz und gar nicht erstaunt. »So!« sagte er, trat in der
Hülle, in der er geboren war, ein wenig schüchtern vor, räusperte sich und fragte: »Habt ihr
vielleicht meinen Schurz?«
»Hier!« sagte Hajo. »Aber sage doch mal, wie bist du ...«
Mit einem Seufzer zog Padde sein Röcklein an. »So! — Ja, das ist das Mädchen — ihr wißt
doch, damals bei dem Radscha. Sie ist uns nachgelaufen. Nicht wahr?« wendete er sich zu dem
Mädchen, das mit niedergeschlagenen Augen im Gesträuch stand. »Du wolltest mit uns? Sama
saja? Ich kam hinter ihr her, heut nacht, als ich fortlief wegen ...« Padde schauderte.
»Also du hast ihn totgestochen?«
»Ist er tot?« stammelte Padde. »Ich konnte nichts dafür. Er kam auf mich zu.«
»Apa munamah nja?« fragte Rolf. »Wie heißt du?«
»Dolimah, tuan«, sagte das Mädchen leise.
»Es ist das liebe Mädchen, das uns das eklige Zeug gab, worauf wir kauen mußten«, gab Padde
Auskunft. »Weißt du noch, Harmen?«
»Na und ob!« sagte Harmen.
»Sie erkannte mich gleich wieder«, fuhr Padde fort. »Na, und da hat sie ein Feuer angemacht,
fein! Ihr solltet mal sehen, wie sie das macht! Mit ein paar Hölzchen immerzu reiben. Ich habe
geschlafen, bin gerade aufgewacht.«
»Und hast du keinen Augenblick daran gedacht, wo — wir geblieben waren?« fragte Rolf.
»Na, ich wußte doch, daß ihr kommen würdet!« meinte Padde leichthin. »Ich dachte: Sie werden
schon suchen.«
Rolf nickte. »So!« Dann wandte er sich wieder zu dem Mädchen. »Dolimah, sage mir, warum du
deine Dessah verlassen hast«
»Luntar hat gesehen, daß ich des Nachts aufgestanden bin, Luntar verrät immer alles.«
»Wer ist Luntar?«
»Luntar ist mein kleiner Bruder.«
»Und«, Rolf zögerte, »willst du nun mit uns gehen?« »Ich wage nicht zurückzukehren«, flüsterte
das Mädchen.
»Kannst du nicht in einem andern Dorf Unterkommen finden?« Dolimah schüttelte den Kopf.
»Sie würden fragen, wer ich bin, und mich wieder zurückbringen.«
»Und wovon hast du in diesen Tagen gelebt?«
»Ich habe nichts gegessen, ich war so bang. Ich bin gelaufen, gelaufen...« Dem
Mädchen schien plötzlich schwindlig zu werden, es strich mit der Hand über die
Augen.
»Was hat sie?« fragte Harmen erschrocken. »Sie hat die ganze Zeit nichts gegessen!«
»Heiliger Barbaras!« Harmen sah in der Runde, dann fiel ihm der Kokosbaum dicht bei ihnen
ein, und wie ein Affe kletterte er hinauf.
»Hajo«, schrie er von oben herunter, »schieß wie der Blitz ein paar Tauben!«
Hajo hatte die Sehne seines Bogens schon gespannt. »Was ich in Schußweite kriege, muß dran
glauben!«
Rolf raffte Blätter zusammen zu einem weichen Lager. »Setz dich ein wenig!« sagte er zu dem
Mädchen, das verlegen wurde unter all der Sorge um sie. »Du wirst müde sein.«
»So!« sagte Padde, der, um auch etwas zu tun, überflüssigerweise im Feuer herumstocherte. Und
er zeigte auf Harmen, der oben im Baum eifrig Nüsse losdrehte. »Siehst du? Er holt makan.«
Da ließ sich Harmen wieder herabgleiten und belud sich die Arme mit Nüssen.
»Das wäre eins. Wo bleibt Hajo mit seinen Tauben? Wenn das Dorf nicht so offen und bloß
daläge, würde ich etwas Reis für sie holen. Und dann nähme ich gleich was Besseres für mich
mit als das elendige Röckchen, das ich anhabe. Es ist ja gerade, als ob ich im Zirkus auftreten
sollte!« Er nahm sein Hackmesser und spaltete mit ein paar tüchtigen Hieben eine Nuß auf.
»Bitte sehr, liebe kleine Dalo — Dola ... Wie heißt du doch gleich?«
»Dolimah«, sagte das Mädchen verlegen. Sie nahm mit ihren feinen Fingerchen das Stück
Kokosnuß an, das Harmen ihr bot, und setzte ihre weißen Zähnchen in das weiße Fruchtfleisch.
»Süß ist sie, was?« seufzte Harmen. »Hier, kleiner Engel, nimm das noch, dazu!«
»Gib her!« schnauzte Padde eifersüchtig. »Denkst du, daß sie das so essen kann? Das muß erst in
Stückchen.« Er versuchte, es mit den Händen zu zerbrechen, und wurde rot vor Anstrengung —
vergebens.
»Nun mußt du es mit deinen dreckigen Fingern erst kohlschwarz machen!« schalt Harmen, der
es doch sonst nicht so genau nahm. »Her damit, du Stümper!« Und Harmen drückte seine
kräftigen Finger hinein. Knack!
»Ein Schiff in Brand stecken, das kann er, aber eine Nuß knacken, da muß er Harmen erst
rufen!«
»Quatsch!« schrie Padde, und die Tränen schossen ihm in die Augen.
Da kam Hajo aufgeregt aus dem Gebüsch. »Bitte schön!« rief er und hielt ein gackerndes
Waldhuhn in die Höhe.
»Gib her!« befahl Harmen. Und es betastend, pries er: »Feines Tier! Fett auf der Brust.« Und
während er ihm den Hals umdrehte, befahl er Padde, Holz für sein Feuer zu suchen, und Hajo
trug er auf, einen spitzen Stock für einen Bratspieß zu schneiden. Und schon stoben die Federn
umher. Mit überraschender Fertigkeit schnitt der ehemalige Küchenjunge es auf, spießte das
ausgenommene Waldhuhn auf, schichtete die Holzscheite im Feuer etwas übereinander und sah
dann mit glänzenden Augen zu, wie der Leckerbissen sich bräunte und das Fett zischend in die
Flammen tropfte.
»Dies darfst du aufessen. Ja, Dolimahchen?« sagte er.
»Daran hat sie wenigstens genug«, meinte Rolf.
»Oh, möchtest du auch was davon?« brummte Harmen. »Sieh lieber zu, daß du was schießt!«
»Das ist ein guter Gedanke«, sagte Rolf aufgeräumt. »Gehst du mit, Hajo?« Und die beiden
Jungen nahmen ihre Bogen und verschwanden zwischen den Bäumen. Joppie sprang um sie
herum.
»Am liebsten hätte ich Waldhühner«, schrie Harmen ihnen noch nach.
»Du brauchst bloß auszusuchen«, sagte Rolf.
»Tauben sind mir auch recht. Wenn sie nur fett sind!«
Langsam spazierten die Freunde zwischen den Bäumen. »Fein, was?« sagte Hajo. Rolf schreckte
auf. »Fein?«
»Daß das Mädchen mitgeht. Ich finde alles auf einmal viel netter. — Die andern werden staunen,
wenn wir mit ihr in Bantem ankommen! Und später, in Hoorn!«
Rolf sah nachdenklich vor sich hin. »Ich glaube, Hajo«, sagte er endlich, »daß wir ihr raten
müssen, doch nach ihrem Dorf zurückzukehren.«
»Warum?« fragte Hajo erschrocken. Rolf schwieg, und Hajo ließ den Kopf hängen.
Ohne etwas in Schußweite bekommen zu haben, landeten die Freunde im Lager. »Mit leeren
Händen?« höhnte Harmen. »Na, dann können wir zu vieren an dem Huhn herumknabbern! Das
ist doch schon schwarz gebrannt.«
»Das Huhn? Hat Dolimah nichts davon gegessen?«
»Die kann mir gestohlen werden!« sagte Harmen grimmig. »Ich machte ihr einen Leckerbissen
zurecht! >Du sollst bedankt sein<, sagt das Fräulein. >Knabbere das Zeug selber ab! Ich beiße
nicht an.< — >Gut<, sage ich, >wenn dir das nicht fein genug ist, Gnädige, dann wird Harmen
es eben.. .<« Harmens Stimme wurde verdächtig heiser, »»wird Harmen es eben für dich
aufessen.< Und nun ist es kohlrabenschwarz, nun schmeckt es mir auch nicht mehr.«
Das Mädchen schien zu begreifen, worüber gesprochen wurde. »Ich darf es nicht essen, Herr«,
wandte sie sich zögernd an Rolf.
Dieser sah sie einen Augenblick erstaunt an, dann begriff er. »Ich denke mir, daß ihr Glaube es
ihr verbietet«, sagte er zu seinen Gefährten.
»Sitzt da der Haken?« seufzte Harmen erleichtert. »Sie hätte es hier doch ruhig tun können. Kein
Mensch hätte es gesehen.« Er schnitt das verbrannte Huhn in Stücke. »Hier, Hajo, hast du eine
Keule. Und für dich, Padde, sieh bloß mal, ein Stückchen Brustfleisch und einen Flügel als
Zugabe! Und für dich, Federfuchser, auch einen Flügel und ein Stück von der Brust. So, dann
bleibt für Harmen noch eine Keule und das Schwanzstück, und für Joppie — reiß es mir nicht
aus den Fingern, Scheusal! —, hier für dich der Brustkorb, daran kannst du knabbern. — Du,
Rolf, frag Dolimah, was sie eigentlich wohl essen darf!«
»Ich darf ja Huhn essen«, erwiderte das Mädchen auf Rolfs Frage, »aber nur, wenn es mit dem
Messer geschlachtet ist.«
»Das sind Mucken«, erklärte Harmen, als Rolf ihm übersetzte, was Dolimah gesagt hatte.
»Möchtest du nicht doch noch ein Stückchen nehmen, Dolimahchen?« Und Harmen bot ihr
verführerisch die Keule, die er noch in der fettbeschmierten Hand hielt. Das Mädchen schüttelte
lächelnd den Kopf. »Ich bin nicht mehr hungrig.«
Nun mußte an den Aufbruch gedacht werden. Harmen stieß murrend das Feuer auseinander.
»Man müßte es auf den Rücken nehmen können. Frag sie mal, wie sie es gemacht hat!«
»Hast du das Feuer angemacht, Dolimah?« fragte Rolf.
Das Mädchen nickte bejahend und lächelte verlegen. »Wenn Ihr es braucht, Herr,
werde ich es anzünden.«
»Ja, ist es wirklich nicht besser, wenn du zu den Deinen zurückkehrst?« fragte
Rolf mit unsicherer Stimme. Und hastig fügte er hinzu: »Wir freuen uns natürlich
sehr, wenn du mit uns kommst. Aber wir haben Angst, daß es dir später leid tun
wird.«
Dolimah beugte schweigend das Köpfchen. »Ich wage mich nicht zurück«, flüsterte sie in
plötzlich wieder aufsteigender Angst.
Rolf machte eine entschlossene Gebärde. »Dann kommst du mit uns! Bist du noch müde?«
»Nein«, sagte das Mädchen erfreut, »ich bin nicht müde.«
»Wir haben uns geeinigt, daß sie mit uns kommt«, erklärte Rolf den andern heiter. »Kommt,
Kinder, packt eure Sachen zusammen! Wenn wir die Richtung gut einhalten, müssen wir nach
Bantem kommen.«
Munter wanderten sie weiter. Sie fühlten sich jetzt als ganz andere Kerle. Es gab nun etwas, das
ihrer Stütze, ihres Schutzes bedurfte; sie mußten zeigen, daß sie Männer waren. Wirklich,
Dolimah hätte es schlechter treffen können! Waren nicht alle bereit, für sie ihr Leben aufs Spiel
zu setzen?
Dolimah lief mit kleinen, leichten, geschwinden Schritten zwischen ihnen, wurde immer zutraulicher und zeigte ihnen allerlei unterwegs. »Seht, des ist der Ganjong! Davon kann man die Wurzeln essen. Aber sie müssen erst zerkleinert und durchgesiebt werden. Ich werde aus dem Mehl einmal kleine Kuchen backen, wenn ich nur erst etwas habe, worin ich sie backen kann. Und dies ist Djambu. Die ist herrlich. Kostet mal!« Und mit ihren geschickten Fingerchen pflückte sie eine glasige, durchsichtige Frucht ab und reichte sie Padde. Dieser besah sie zögernd. Doch ohne viel Umstände riß sie ihm Harmen aus den Fingern und setzte seine Zähne hinein. »Fein!« rief er aus. Sie gingen wieder weiter. »Schaut her«, sagte das Mädchen nach einer halben Stunde und wies auf eine Kletterpflanze mit langen Büscheln grüner Blüten, »da steht Gadung! Davon kann man die Wurzelknollen essen.« Hajo zog an der Pflanze, und wirklich saßen Knollen daran. »Na, die weiß Bescheid!« pries Harmen frohgemut. »Mit ihr werden wir nicht verhungern.« »Wenn bei uns Mißernte ist, essen wir nichts weiter als Gadung«, sagte das Mägdlein. So ging sie plaudernd zwischen den Jungen einher, die heute wanderten, ohne es zu merken. Erst die Mittagshitze zwang sie zu rasten. Die Vögel in den Bäumen waren verstummt. Padde fiel sogleich in Schlaf und füllte mit seinem Schnarchen die Stille.
Der Kampf um die Höhle Nach kurzer Rast standen die Wanderer ermattet und unerquickt auf. Was lag doch in der Luft, das sie so schlaff machte? Bei der geringsten Bewegung perlte ihnen der Schweiß auf der Stirn. Dolimah saß an einen Baumstamm gelehnt und blickte vor sich hin. Dann sagte sie: »Ich denke daran, daß wir niemals an das Meer kommen werden. In dieser Richtung kommt man niemals an die See. Die See liegt im Westen.« Rolf erschrak heftig. »Die Sundastraße liegt doch im Süden?« fragte er unsicher. »Jawohl«, antwortete Dolimah, »aber das ist so weit weg, daß man doch niemals dorthin gelangt. Man wird unterwegs von den Geistern verzaubert, die in den alten Waringinbäumen hausen. Erst werdet ihr voll Mut sein, aber dann werdet ihr die Tage zählen. Es werden Bambusgehölze und Djatiwälder kommen, Berge und Sümpfe und weite Ebenen ohne Schatten. Und ihr werdet die Stunden zählen, dann die Bäume am Weg, dann die Steinchen unter euren Füßen, und endlich werdet ihr weinend niedersinken. Dann haben die Geister gesiegt.« Rolf schwieg eine Weile. »Komm«, sagte er dann, geschmeidig aufspringend, »wir müssen weiter!« Aber es barg sich unter seiner äußerlichen Sicherheit ein Zögern. Padde erhob sich matt. »Hab solche Kopfschmerzen«, sagte er. »Die Luft ist drückend«, erklärte Harmen. Schweigend suchten sie wieder den Pfad und weiter ging es. Hajo hörte Flügelrauschen, ging ihm nach und schoß eine Taube. Harmen schnitt dem noch flatternden Tier den Hals ab. »Jetzt wird sie es doch essen dürfen«, sagte er. »Die braten wir nachher«, verkündete er. »Eigentlich brät man so schon. Ist das heute warm!« Es begann dunkel zu werden; die Sonne stand wie ein Haufen gleißenden Goldes zwischen den schwarzen Wolken. »Laßt uns hierbleiben!« schlug Harmen vor. »Wenn es nachher regnet, können wir kein Feuer mehr machen.« Die andern zögerten noch, Padde sank sogleich am Wegrand nieder, keuchend, mit geschlossenen Augen. Was war das? Ein Gewitter? Der Erdboden dröhnte; es war, als ob in der Ferne Reiterscharen einherzögen. »Elefanten«, sagte Dolimah. »Sie sind weit weg.« »Na, Dolimah, jetzt ein Feuer!« sagte Harmen, den das Dröhnen weniger kümmerte. Dolimah begriff und holte aus ihrem Sarong zwei Stückchen trockenen Bambus hervor. In dem einen war ein Loch. »Machst du damit Feuer?« fragte Rolf. »Ja, aber ich muß erst noch trockene Bambusspäne haben, aus dem Innern eines alten Stengels.« »Gib mir mal dein Hackmesser, Harmen!« sagte Rolf. »Sie will uns ein Feuer anzünden.« »Da bin ich neugierig!« lachte Harmen aufgeregt. Inzwischen traf Rolf, so schnell es ging, die Vorbereitungen. Dolimah legte die Späne, die Rolf ihr verschaffte, auf einen Haufen, steckte ein paar Splitter hinein, setzte das Stück Bambus mit dem Loch auf die Erde und begann erstaunlich schnell das andere Stückchen Bambus in dem Loch zu reiben. »Ich sehe noch nichts«, sagte Harmen. »Laß mich einmal!« bat Rolf. »Ich sehe jetzt, wie man es machen muß.« Er begann aus Leibeskräften den Bambus zu reiben, aber es kam kein Feuer. Wohl troff ihm der Schweiß von Stirn und Handgelenken. »Hör nur auf mit dem Gepfusche!» sagte Harmen. »Wetten, daß ich eins, zwei, drei Feuer habe?«
Rolf reichte ihm die Hölzchen, und Harmen begann zu arbeiten. Bald aber keuchte er: »Ich bin
schon ganz lahm!«
Das Mädchen sah lächelnd zu, wie die Jungen sich abmühten. »Laßt mich noch einmal!« bat sie.
Und mit geübter Hand rieb sie, weniger heftig, doch viel schneller als die Jungen. Und siehe da,
ein Fünkchen schlug aus dem trockenen Holz nach dem Zunder hinüber. Noch einmal!
Harmen warf sich auf die Knie und fing an zu blasen. Da züngelte ein Flämmchen auf. Schnell
beim Blasen noch ein paar Späne dazu! Nun würde es nicht mehr ausgehen. »Heda, Padde,
schlaf doch nicht! Such Holz zusammen!« Padde blieb sitzen. »Ich habe Kopfweh«, brummte er.
»Ja, leg dich nur wieder hin!« sagte Harmen.
Hajo suchte ein wenig trockenes Holz zusammen. Und nun lohte ein prasselndes Feuer auf.
Zufrieden schmunzelnd begann Harmen die Taube zu rupfen. Der Himmel verdunkelte sich so,
daß die Stämme der Bäume hell davon abstachen. Es war, als beugten sich die Äste unter dem
schweren Druck. In der Ferne grollte das Unwetter. Flitz! Da flammte eine lichte Lohe auf. Das
schwarze Dach droben wurde in Stücke und Brocken zerrissen. Unter den Bäumen fielen
plötzlich blaugrüne Schatten, und die Flammen von Harmens Feuer wurden leicht
herabgedrückt. Da dröhnte der erste Donnerschlag.
Dolimah saß mit weitgeöffneten Augen auf einem Lager von Farnkraut, das Rolf und Hajo ihr
bereitet hatten, wie ein Prinzeßchen auf seinem Thron. Harmen war mit Rupfen fertig und
schlitzte die Taube hastig auf. Padde lag, den Kopf in die Arme gedrückt, gegen einen Stamm.
»So«, sagte Harmen nach einer Weile, »wenn das kein feiner Happen ist, dann weiß ich's nicht!«
Und er begann die Taube zu zerteilen. Doch Padde wollte nichts haben. »Nun brat mir einer 'n
Storch!« rief Harmen.
Auch die andern sahen befremdet auf. »Fehlt dir was, Padde?« »Rutsch mir!« sagte Padde.
Da rannen dicke, warme Tropfen aus dem Himmel. Geheimnisvoll tickten sie auf die Blätter.
Ping! — Pong! — Pang — Ping! — Ping! Der Blitz lohte wieder und füllte die Luft auf einmal
mit bläulichen Diamanten. Dann schlug der Regen herab. Die Zweige bogen sich unter dem
Wasserfall, ächzten und knackten. Blätter wirbelten hernieder und schwammen weg in den
Bächlein, die sich im schlammigen Moos bildeten. Unter dem Baum, wo unsere Freunde
standen, begann es auch durchzusickern; zischend erlosch das Feuer. Sollten sie weitergehen und
einen Unterschlupf suchen? Das trübselige Trüpplein nahm Speere und Bogen auf und platschte
den schlammigen Weg entlang, Padde mißmutig und matt hinterdrein.
Da riß wieder ein Blitz das Dunkel entzwei, der ein paar Kokosbäume sichtbar werden ließ.
»Ein Kampong 1!« flüsterte Dolimah. »Wo Kokospalmen stehen, ist ein Kampong nicht weit.«
Unerwartet begann Padde hinter ihnen zu schluchzen. »Ich hab' solche Kopfschmerzen! Und die
Beine sind mir so schwer ...«
Die Jungen erschraken. »Du wirst uns doch nicht krank werden, Padde?« »Dija sakit?« fragte
Dolimah. »Ist er krank?«
Rolf nickte. Und zu den andern sagte er: »Jungens, wenn wir in der Nähe eines Dorfes sind,
können wir hier nicht bleiben. Es ist jetzt dunkel; wir müssen es zu| umschleichen suchen. —
Kannst du wirklich nicht mehr laufen, Padde?« »Geht ihr ruhig weiter und laßt mich hier
liegen!« schluchzte Padde.
»Was für ein Unsinn!« rief Hajo zornig aus. »Komm, Padde, vielleicht bist du morgen wieder so
munter wie ein Fisch im Wasser!«
( 1 Kampong: Eingeborenendorf.)
»Ja — vielleicht«, sagte Padde trübselig. Und die Jungen gingen wieder weiter.
Sie standen vor einem umzäunten Kokosgarten. »Wartet einmal!« sagte Harmen.
»Ich werde ein paar Nüsse abpflücken; vielleicht können wir sie morgen gut gebrauchen.« Er
wippte über die Bambushecke und erklomm einen schrägen Kokosbaum. »Der Stamm ist
furchtbar glatt!« schrie er von oben.
Wieder blitzte es. Über die Hecke sahen sie die Umrisse einiger spitzer Dächer.
Der Donner polterte hinterher und erstarb im klagenden Brüllen eines Büffels drüben im Dorf.
Ein erneuter Blitzstrahl. Acht, zehn, zwölf, vierzehn, fünfzehn Häuschen auf hohen Pfählen. Wie
merkwürdig war Harmens Schattenriß dort oben gegen den Gewitterhimmel! War es nicht, als
wären sie wieder auf hoher See und Harmen müßte in einer wilden Nacht etwas in der Fock
klaren? Da kletterte er wieder herunter. »Fangt!« rief er hinter der Umzäunung.
Während Hajo und Rolf voll beschäftigt waren mit dem Auffangen der Nüsse, die Harmen über
den Zaun warf, setzte sich Dolimah zu Padde. »Dimanab sakit? Wo tut es weh?« fragte sie mit
ihrer lieben Stimme. »Hier«, sagte Padde gerührt und zeigte auf seinen armen Schädel.
»Biar—Iah!« tröstete das Mädchen. »Hab Geduld! Morgen werde ich Krauter für dich suchen.«
Padde nickte. »Verstehen tue ich dich nicht«, sagte er, »aber lieb bist du, soviel ist sicher.«
Mit etwas aufgeheitertem Gesicht stand er wieder auf. Der Lärm des noch immer mit gleicher
Heftigkeit niederschlagenden Regens erleichterte das Umschleichen des Kampongs. Es war ein
kleines Dorf, das an einen Abhang von Reisfeldern grenzte und an der Seite, von der die Jungen
kamen, an den Waldrand. Es war nicht so einfach, in dem heftigen Regenguß, der alles ersäufte,
den Weg hügelabwärts zu finden.
Nach etwa zweistündigem Laufen und Waten durch das immerfort niederplanschende Wasser
kamen sie wieder auf eine Hochebene, die an eine Schlucht grenzte. »Hier wollen wir nun
bleiben«, sagte Rolf; »einen Unterschlupf finden wir doch nicht.«
Padde sank nieder.
»Ich werde mal oberhalb der Schlucht nachforschen«, sagte Harmen. »Kommst du mit, Hajo?
Hier, nimm auch einen Speer mit!« Und beide zogen in die schwarze Nacht hinein.
Rolf und Dolimah setzten sich an Paddes Seite. Ein Windstoß fuhr über die Hochebene. »Ist dir
kalt, Padde?« fragte Rolf besorgt.
Paddes Zähne klapperten aufeinander.
»Komm ganz dicht an uns heran!« Unablässig strömte der Regen nieder.
Hajo und Harmen folgten dem Rand der Hochfläche. Zu ihren Füßen gähnte,
unheilverkündend schwarz, die Schlucht. »Sei vorsichtig, Harmen! Wenn du
hineinfällst...!«
»Kommt nicht in Frage!« versicherte Harmen. Zu gleicher Zeit rutschte die Erde
unter seinen Füßen weg. Hajo blieb starr vor Entsetzen stehen, aber Harmen
wußte sich noch rechtzeitig an einer vorspringenden Wurzel festzuhalten, zog sich
hinauf und sprang wieder auf festen Boden. »Da liegt mein Speer!« schalt er.
»Futsch! Zum Kuckuck!«
»Was...?« stammelte Hajo.
»Der Boden ist so pappig von dem ewigen Regen«, erklärte Harmen. Und sich
an dem Baum festhaltend, der ihm das Leben gerettet hatte, lehnte er über den
Abgrund. »Alles so schwarz wie eine Teerpütze. Ist es nicht jammerschade um so
einen schönen Spieß?«
Doch da setzte der Blitz die Talsenkung in grelles Licht, und Harmen rief: »Ich
sehe ihn, keine zehn Ellen unter mir!«
»Na, und ...?« fragte Hajo ein wenig gereizt.
»Ich hole ihn mir«, sagte Harmen.
»Das läßt du bleiben!«
»Ich werde doch meinen schönen Spieß nicht da liegen lassen, wenn ich ihn nur
zu greifen brauche!«
»Willst du dir das Genick brechen?«
»Nein. Du?« fragte Harmen. »Da sitzt gerade ein Bäumchen an der Wand, darauf
lasse ich mich hinunter.« Und ohne weiter Hajos Genehmigung abzuwarten, ließ
er sich an den Wurzeln eines großen Baumes, der am Rand stand, hinab.
Vor Angst den Atem anhaltend, wartete Hajo oben. »So«, hörte er endlich, »nun
noch ...« Da krachte etwas — ein dumpfer Schlag, und Harmens Stimme ertönte
wieder: »Das ging noch schneller, als ich dachte! Ich sitze auf meinem Spieß.«
»Kannst du — kannst du wieder heraufkommen?« fragte Hajo.
»Auf diesem Wege nicht mehr so gut«, meinte Harmen. »Der verflixte Baum ist
abgebrochen. Aber hier führt so etwas wie ein Weg. Den kann ich ein Stückchen
entlangkriechen.«
»Harmen, was hast du gemacht!« seufzte Hajo.
»Na, greine nur nicht!« sagte Harmen. »Ich würde hier unten bloß naß davon
werden.«
Mit gemischten Gefühlen wartete Hajo. »Ein tadelloser Weg!« pries Harmen dort
unten. »Hier ist er nicht ganz so gut, aber mit meinem Spieß kann ich mich schon
hal...« — Da kollerte etwas Schweres in die Tiefe.
»Harmen!«
Erst nichts, dann Harmens Stimme, keuchend: »Ich h—änge noch! Ich hänge auf
meinem Spieß!« Stille. »So, da stehe ich wieder! — Donnerlitjes, Hajo, da sehe ich
eine Höhle!«
»Eine Höhle?«
»Spreche ich Chinesisch?«
»Geh nicht hinein, Harmen!«
»Warum denn nicht? Das suchen wir ja gerade. Hier ist's ganz trocken.«
»Harmen, hör doch, Harmen!«
Harmen schwieg in sieben Sprachen, auch auf chinesisch. Endlich gab er wieder
ein Lebenszeichen. »Ich bin ein Stückchen hineingekrochen«, sagte er.»Na, und .. .?«
»Da sitzt ein Tier drin. Komm dir's ansehen! Zwei glühende Augen.« »Harmen, komm herauf!«
»In schnellem Lauf!« dichtete Harmen. »Komm du lieber runter, dann wirst du munter! "Und
bring auch deinen Speer mit! Dann spießen wir es damit auf.«
»Und wenn es nun ein Tiger wäre?«
»Ist kein Tiger«, sagte Harmen etwas verdutzt. »Woher weißt du das?«
»Hat er mir selber erzählt.« Und Harmen lachte vor sich hin. »Na, kommst du, oder kommst du
nicht?« rief er darauf ungeduldig. »Spring nur ruhig! Ich fange dich auf. — Oder traust du dich
nicht?«
Das war eine gefährliche Frage. »Fängst du mich auf?« fragte Hajo. »Natürlich! Ich sehe dich so
ungefähr gegen den Hintergrund. Spring nur ruhig! Und halt die Spitze von deinem Speer nach
oben, wenn möglich, denn daran liegt mir wenig!« Hajo sprang.
»Wehgetan?« »Wo ist die Höhle?« »Komm mit! Vorsichtig, vor allem da, wo du jetzt bist!« Harmen voran, krochen die beiden bis zu einer steinernen Höhle mit mannshohem Eingang. »Bleib neben mir und halt deinen Spieß bereit!« riet Harmen. Mit angehaltenem Atem und klopfendem Herzen krochen die Jungen in die Höhle hinein. Da schlug ihnen eine warme Moderluft entgegen, und dort, im Dunkeln, glühten zwei starre, gelbe Augen. »Na, siehst du?« flüsterte Harmen. »Es tut nichts.« Hajo wollte antworten, doch seine Kehle war ihm wie zugeschnürt. Er fühlte selber, wie er bebte. »Jetzt«, flüsterte Harmen, »jetzt! Ich gebe ihm erst meinen Spieß zu kosten, und wenn er dann noch was will, fängst du ihn mit deinem auf.« »Ja—a«, stotterte Hajo, verdutzt über Harmens Kaltblütigkeit. Da richtete Harmen sich plötzlich auf, holte mit dem rechten Arm, der den Speer gefaßt hielt, weit nach rückwärts aus und schleuderte die Waffe kräftig vorwärts in der Richtung der starren, gelbglühenden Augen. — Ein kurzes, heiseres Gebrüll. Ein mächtiges Tier sprang in die Höhe; das Speerholz knackte und zerbrach. Der Wurf hatte getroffen. Eine faulige Luft schlug den Jungen ins Gesicht. Unwillkürlich umklammerten beide Hajos noch gefällten Speer. Der verwundete Höhlenbewohner duckte sich fauchend, tat einen Sprung — geradewegs in die Lanzenspitze hinein und stieß einen wüsten Schrei aus. Die Jungen fühlten das schwere Gewicht sich auf ihre Lanzen senken, sahen undeutlich die Gestalt des Tieres um die Klinge gekrümmt und drückten mit einem Schrei der Aufregung die Waffe noch mehr vorwärts, so daß das Tier zusammenklappte und zurücktaumelte in die Ecke, in der es gelegen hatte. »Halte fest!« keuchte Harmen. Und die Jungen stemmten aus Leibeskräften den Speer gegen die Ecke. Da brach der Speerschaft. Die beiden taumelten vorwärts, fühlten eine heiße Atemwelle über ihr Gesicht streichen, flogen mit einem Schauder wieder auf und stießen mit den Köpfen gegen die steinerne Decke der Höhle, daß ihnen beinahe die Sinne vergingen und sie alles rot sahen. Das Tier hatte sich wieder aufgerichtet, als Hajos Lanze brach und es nicht mehr zu Boden drückte, aber zugleich war es wieder umgerollt, schlug mit den Klauen durch die Luft, brüllte heiser und röchelte. Und während die Jungen sich noch, in eine Ecke gedrückt, still verhielten, verstummte das Röcheln. »Er ist tot«, flüsterte Harmen. »Ich werde...« »Paß doch auf, Harmen! Nicht so dicht heran!« »Wenn er aber doch tot ist!« keuchte Harmen. Er kroch auf das Tier zu. »Mausetot!« stellte er fest. »Hier habe ich seinen Schwanz. Ich werde ihn hinausschleifen.« Und schweigend, noch schwer atmend, begann er an dem Körper zu zerren. Da kam allmählich der alte Harmen wieder zum Vorschein. »Alle Wetter, ist das aber schwer! Hilf mir, Hajo!« Gemeinsam schleiften die Jungen, Hajo noch an allen Gliedern zitternd, das Tier aus der Höhle. Es war ein Panther.
Der Regen »Wie kommen wir nun wieder zu den andern?« fragte Hajo.
»Wir wollen auf diesem Weg weiterkriechen«, sagte Harmen. »Und dann hoffe ich bloß das
eine, daß wir nicht noch auf ein anderes Untier stoßen, denn ohne meinen Spieß würde ich nicht
wissen, was ich zu ihm sagen sollte.«
»Ja«, sagte Hajo besorgt, »sie sind gewöhnlich zu zweien, nicht?«
Harmen schmunzelte. »Jetzt sind sie jedenfalls nicht mehr zu zweit. — Hier entlang, Hajo, und
vorsichtig!«
So krochen sie weiter, sich festhaltend an Wurzeln und Felsvorsprüngen. Nach vielem Gekletter
landeten sie mit abgeschürften Händen und Knien wieder auf der Hochebene und suchten die
andern auf, die in dem strömenden Regen betrübt beisammenkauerten.
»Eine feine Höhle gefunden!« schrie Harmen. »Ein Tiger lag darin, aber der sagt nix mehr, was
Hajo?«
»Ein Tiger?«
»Ein Tiger! Aber Hajo und ich haben ihn tüchtig am Schwanz gezogen, und nun sagt er nicht
mehr buh oder bah. Kommt schnell mit! Es ist da knochentrocken und herrlich warm.«
Rolf sprang auf. »Komm, Padde! Harmen hat eine trockene Höhle gefunden.« Padde richtete
sich mühsam auf und fröstelte. »Ist es weit weg von hier?«
»Nebenan«, sagte Harmen.
Und während Hajo die Geschichte von dem Panther auftischte, begab sich der ganze Trupp
dorthin, wo Harmens Speer in die Tiefe gefallen war. »So, da wären wir«, sagte Harmen. »Wenn
es blitzt, springe ich hinunter.« Gleich darauf setzte das Wetterleuchten das Tal wieder in helle
Glut. Harmen maß geschwind seinen Sprung ab und tauchte in die Tiefe. »Harmen...?«
»Ja, ich lebe noch«, klang es von unten. »Ich bin auf mein Hinterteil gefallen. Spring nur, Hajo!«
Hajo, der vor Harmen nicht zurückstehen wollte, besonders da Dolimah dabei war, sprang, und
Harmen fing ihn auf.»Jetzt ich«, sagte Rolf. »Aber fang erst die Nüsse!«
»Wirf herunter!« rief Harmen. »Aber nicht alle auf einmal! Ich hab' schon eine Beule am Kopf.«
Stück für Stück warf Rolf die Nüsse hinunter. Harmen hatte geradezu Katzenaugen; er fing sie
allesamt. »Noch mehr?«
»Nein, nun komme ich selber.« Und Rolf sprang in Harmens Arme. »Nun du, Padde!«
»Springen?« fragte Padde.
»Nein, fliegen«, gab Harmen zur Antwort. »Komm doch, wir fangen dich zu dritt auf!«
»Und wenn ich nun zu weit springe?« »Dann springen wir dir nach. Komm!«
Padde zögerte und brummte vor sich hin. Dann sprang er. »Au! Oh! Au!« »Geht schon vorüber«,
tröstete Harmen.
»Denkst du vielleicht, daß ich so weich gesprungen bin? Mein Hinterteil brennt mir wie
Höllenstein. — Nun du, Dolimahchen!«
Nach einigem Zögern sprang das Mädchen.
»Ich habe sie!« rief Harmen erfreut, und vorsichtig setzte er sie hin. »Nun, Joppie, komm! Schrei
nicht, als ob du am Spieß stecktest! Joppie!« Jaulend und heulend suchte Joppie am Abgrund
entlang eine geeignete Stelle für den Abstieg.
»Er traut sich nicht, der Feigling«, schalt Harmen. »Dann soll er bleiben, wo er ist! Vorwärts,
Kinder! Immer langsam voran! Da unten steht niemand zum Auffangen.«
So krochen sie nach der Höhle.
»Siehst du«, sagte Harmen, »hier sind wir zu Hause! Der Hund liegt vor der Tür, aber beißen tut
er nicht.«
Mit gelindem Schauder stiegen die Jungen über den toten Panther hinweg. Es hing ein
durchdringender Blutgeruch in der Höhle. »Ja, daß es hier gut riecht, habe ich nicht gesagt«,
entschuldigte sich Harmen. »Aber trocken ist es und warm.« Schweigend suchten sie ein warmes
Fleckchen auf und traten Dolimah den besten Platz ab, dort, wo die Höhle am tiefsten war.
Draußen sang der Regen eintönig weiter.
Am nächsten Morgen regnete es noch. Joppie lag schnarchend zwischen ihnen, schien also einen
Weg gefunden zu haben. Sehr schön konnte der aber nicht gewesen sein, dem Schlamm nach zu
urteilen, in dem Joppie bis über die Ohren steckte.
Die Jungen krochen hinaus, um den Panther zu besichtigen. »Wir wollen ihn in den Abgrund
werfen«, schlug Hajo vor. »Dann sind wir ihn los.« »Natürlich sind wir ihn dann los«, sagte
Harmen. »Darum wollen wir das auch lieber nicht tun. Wir wollen ihm seine Jacke ausziehen;
die ist ihm bloß lästig, und wir können so ein Stückchen Leder gut gebrauchen. Nicht wahr,
Rolf?«
»Und wäre es nur, um darauf zu schlafen«, sagte Rolf. »Da dringt keine Feuchtigkeit hindurch.«
»Wißt ihr, wozu das Fell auch gut wäre? Zu einer Hose. In meinem Röckchen sehe ich aus wie
ein Hampelmann.«
»Die würde dir schon stehen, so eine Pantherhose«, lachte Rolf. »Weißt du, wie du ihm die Haut
abziehen mußt?«
Harmen nahm das Messer und starrte Rolf mit großen Augen an. »Meinst du, ich habe noch
niemals ein Kaninchen abgezogen?« »Ja, aber das ist kein Kaninchen.«
»Allerdings«, sagte Harmen, »ein Panther ist kein Kaninchen. Aber das Abziehen wird wohl
dasselbe bleiben. Hinterbeine einritzen, Ritz durchs Kreuz ...« — Grimmig zog er dem Panther
beide Speerspitzen aus dem Leib. »Wenn ich seine Hinterbeine nur irgendwo festbinden
könnte!«
»Wir wollen ihn hinaufschleifen«, sagte Rolf. »Hier könntest du mit dem Fell in die Schlucht
stürzen.« Harmen fügte sich schweigend.
Als die Jungen wieder in die Höhle krochen, wurde ihnen ganz übel von der Luft da drinnen.
»Sobald der Regen aufhört, gehen wir hinaus«, sagte Rolf. »Wie fühlst du dich, Padde?«
»Ich habe Kopfweh«, sagte Padde matt.
»Wir haben auch noch nichts gefuttert«, sagte Harmen; »ich falle um vor Hunger.« Er spaltete
ein paar Nüsse, und alle, bis auf Padde, schmausten, als hätten sie vierzehn Tage gefastet.
Rolf fühlte Padde die Stirn. Sein Gesicht wurde besorgt. »Padde hat Fieber«, sagte er zu den
andern. »Deinen Puls, Padde!«
Stöhnend streckte Padde ihm die Hand hin. »Und — was habe ich?« fragte er geängstigt.
Rolf mußte wider Willen lächeln. »Ich denke, daß du dich erkältet hast, Padde. Ein Glück, daß es
hier wenigstens warm ist.« Rolf sah hinaus. »Ich glaube nicht, daß der Regen so bald aufhören
wird. Dann müssen wir uns eben an die Luft hier gewöhnen.«
»Kleinigkeit!« sagte Harmen. »Ich rieche schon gar nichts mehr. Komm, Hajo, wir besorgen was
zu essen für nachher!«
»Werdet ihr auch vorsichtig sein?« fragte Rolf.
»Wir fassen einander am Händchen«, versprach Harmen. »Nimm deinen kaputten Speer mit,
Hajo! Da stecken wir ein anderes Stück Holz hinein. Ich habe meinen auch bei mir.« Und
gemeinsam erklommen sie wieder den Pfad. Oben angekommen, war das erste Werk der Jäger, sich ein paar stämmige Bambusstengel abzuschneiden, die sie in die eisernen Lanzenspitzen zwängten. »Jetzt nach dem Dorf!« sagte Harmen. »Wollen mal sehen, was es da zu holen gibt.« Und im strömenden Regen verfolgten die beiden den Pfad nach dem Dorf. Im Tal angekommen, wo an der gegenüberliegenden Seite die gelbgrauen Bambushäuschen mit den dunkelbraunen Dächern standen, umgeben von Bananenbäumen, deren Blätter vom Regen hellgrün glänzten, sahen die Jungen, daß aus dem Bächlein dort unten ein bräunlicher, schlammiger Fluß geworden und daß die kleine Brücke fortgespült war. Sie beschlossen, das Tal zu umgehen — sowieso die einzige Möglichkeit, zum Dorf zu gelangen — und bahnten sich einen Weg am Waldessaum entlang. Es dauerte wohl eine Stunde, bis sie an den Kokosgarten kamen. Durch das Rauschen des Regens hindurch klang wehmütiges Flötenspiel. Harmen ließ sich gegen den Zaun fallen. »Kannst du dir denken, daß ich keine Musik hören kann, ohne an meine Fiedel zu denken?« Er blickte in die Höhe. »Soll ich uns ein paar Nüsse pflücken?«»Harmen, sie sehen dich bestimmt!« »Ich wünschte, sie wären blind«, sagte Harmen. »Aber vielleicht liegen ein paar auf der Erde.« Harmen schwang sich auf den Zaun, doch ließ er sich wieder hinuntergleiten. »Da kommt gerade so 'n Schwarzer in den Garten«, flüsterte er. Hajo blinzelte durch die Umzäunung. »Es ist ein kleiner Junge; er ist allein.« »Ob man es im Dorf hören kann, wenn er schreit?« fragte Harmen. »Was hast du vor?« »Nichts. Ich will nur mit ihm reden.« Und mit einem Satz nahm Harmen den Zaun. Wider Erwarten begann der Junge nicht zu schreien beim Anblick des halbnackten weißen Teufels. Das Kerlchen klammerte sich mit beiden Händen an einem Baumstamm fest. »Tabeh!« sagte Harmen. »Hole mir schnell wie der Blitz ein paar Nüsse! Makan! Da!« Und Harmen zeigte in die Bäume und dann auf seinen Magen. Der kleine Wilde begriff. An allen Gliedern zitternd, doch gewandt wie ein Eichkätzchen, flog er einen Baum hinauf, ruhte auf halber Höhe etwas aus, um seine Angst auszukeuchen, und kletterte wieder weiter, die Fußsohlen platt gegen den Stamm setzend. So, nun saß er oben, selbst einer Kokosnuß ähnlich. Die erste Frucht purzelte herunter. »Gut so!« lobte Harmen. »Fang sie nur auf, Hajo, und verstecke sie im Gebüsch! Wir holen ein andermal ab, was wir jetzt nicht tragen können.« Und er begann die Nüsse über die Hecke zu werfen. Der Baum, den das Bürschchen sich ausgesucht hatte, gab etwa ein Dutzend Nüsse her. Als unter der Krone nichts mehr zu entdecken war, kam der Kleine zögernd wieder herunter. Harmen brauchte nur mit dem Kopf zu nicken, da war der eifrige Pflücker schon wieder in einem andern Baum. »Das lasse ich mir gefallen!« sagte Harmen. »Fängst du, Hajo?« Hajo verbarg die Nüsse in einem Busch. Als drei Bäume kahlgepflückt dastanden und das Bürschchen an einem vierten hinaufschoß, ließ Harmen es gut sein und setzte wieder über den Zaun. »Wo liegen sie, Hajo? Prachtvoll! Da findet sie kein Mensch.« Weitere Nüsse fielen polternd nieder. »Der wird noch den ganzen Vorrat ernten!« lachte Harmen vergnügt. »Ein brauchbarer Kerl ist er, verstand mich auch gleich. Komm, wir nehmen ein paar Nüsse unter den Arm!« Etliche Stunden später kamen sie wieder auf die Hochebene. Als sie hinunterspringen wollten, fiel plötzlich ihr Auge auf — eine Strickleiter. »Da hängt ein Fallreep!« stotterte Harmen. »Hallo!« tönte es von unten. Rolf stand am Eingang der Höhle. »Wie kommt das Ding dahin, Rolf?« »Gefällt es euch?« war die Gegenfrage.
»Hast du es gemacht?« stammelte Harmen voll Anerkennung. »Das nenne ich arbeiten! Wie hast
du es zusammengepfriemt?«
»Das siehst du doch«, entgegnete Rolf. »Bambusstückchen, durch Rotang verbunden. Mit
diesem Stock holen wir sie des Abends ein, dann kriegen wir keine ungebetenen Gäste. — Wo
habt ihr die Nüsse her?«
»Habe ich mir pflücken lassen«, sagte Harmen mit vornehmer Handbewegung. Und sie
berichteten ihr Abenteuer.
»Du bist frech, Harmen«, sagte Rolf. »Heute oder morgen fliegst du dabei herein.«
Harmen machte sein schlauestes Gesicht. »Mit Harmen ist es genau wie mit
einem Floh. Wenn man ihn fangen will — wuppdich, weg ist er! Und den Biß
hat man weg.«
»Wie geht es Padde?« fragte Hajo.
Rolfs Gesicht verfinsterte sich. »Er redet im Fieber. Dolimah sammelt Heilkräuter.
Vielleicht helfen sie was.«
Niedergeschlagen gingen die Jungen in die Höhle hinein. Der Regen rauschte.
Si-Kampret Des Nachmittags machten sich die Jungen über den Panther her. Sie schlangen ihm ein paar dünne Bambusstengel um die Klauen und zogen ihn zu dritt hinauf, eine ordentliche Last. Und dann begann Harmen seine Arbeit. Nach halbstündigem Keuchen, Schimpfen und Ziehen fiel er mitsamt der Haut auf den Rücken, und der Panther baumelte nackt, mit hervorquellenden Augen, hin und her. Harmen schleifte das abgehäutete Tier zum Rand der Schlucht und ließ es in die Tiefe rollen. Dann suchte er eine Stelle im Gebüsch, wo er die Haut ausspannte, das Innere nach außen gekehrt. »So«, murmelte er, »nun muß die liebe Sonne darauf scheinen.« Es sah noch nicht danach aus. Immerwährend zogen von Westen her schwere graue Wolken heran, schütteten ihre Wasserlast aus und flossen wieder auseinander, so daß hie und da ein heller Flecken hindurchschimmerte, der den übrigen Himmel noch trüber und hoffnungsloser erscheinen ließ. Padde lag im Fieber und gab auf nichts Antwort. Obgleich sich niemand etwas davon versprach, versuchten sie Feuer zu machen mit ein wenig Holz und Kokosfasern, die sie zum Trocknen in der Höhle ausgebreitet hatten. Sie waren jedoch noch zu feucht. Da setzten sich die Jungen an den Eingang und starrten schweigend über die Schlucht. Aus der Tiefe stieg die Dämmerung herauf. Hinten, in der Finsternis der Höhle, saß Dolimah bei Padde. Das Köpfchen ihm zugeneigt, erzählte sie ihm ein uraltes Märchen vom Regen und dem Reiskorn. Unter der Einwirkung ihrer sanften, wohlklingenden Stimme wurde Padde ruhiger und schlief ein. Am folgenden Tag: Regen, Regen, Regen. In nächster Nähe der Höhle suchte Rolf zusammen mit Dolimah Heilkräuter. Harmen langweilte sich in der Höhle und zog am Nachmittag mit Hajo auf die Jagd. Den Pfad nun in entgegengesetzter Richtung verfolgend, kamen sie an einen Seitenpfad, in den Harmen ein Stück hineinwatete und dann innehielt, um aufmerksam einen Fleck Erde zu betrachten, der über das Wasser herausragte. Hajo kam dazu. In dem braunen Schmutz waren tiefe Fußspuren abgedrückt, von einem zweihufigem Tier. »Ob das ein Hirsch ist, Harmen?« »Was dachtest du sonst?« fragte Harmen. »Ein Tausendfüßler? — Bitte sehr!« Und er wies Hajo ein Büschel seidigen Haares, das an einem Dornstrauch hing. »Das ist Hirschhaar, nichts anderes.«»Du, Harmen, können wir ihn nicht fangen?« »Das überlege ich mir gerade«, sagte Harmen in tiefem Nachdenken. Langsam schlenderten die Jungen wieder zurück. — Bevor sie die Leiter hinabstiegen, schnitt Harmen ein paar dünne Rotangs ab. Die Stimmung in der Höhle war an diesem Abend nicht allzu rosig. Padde lag mit heißer Stirn und klopfenden Pulsen; sein Atem ging kurz und stoßweise. Rolf und Hajo starrten trübe hinaus in den grauen Regenschleier. Sogar Joppie saß mit betrübtem Ausdruck in den glänzenden Hundeaugen am Eingang der Höhle, fröstelte und ging hinein, wo er sich mit einem tiefen Seufzer niederließ, den Kopf an Paddes Kinn geschmiegt. Dolimah rieb auf einem flachen Stein einige Krauter zu Brei und legte diese dem Kranken auf die Brust. Harmen war der einzige, der den Kopf hochhielt; zufrieden vor sich hinsummend und wenig von der trüben Stimmung der andern merkend, flocht er aus den mitgebrachten Rotangstengeln ein paar Stricke. Früh legten sich alle zur Ruhe. Doch mitten in der Nacht sprang Harmen auf und warf sein Hackmesser nach einem glitzernden Ding, das, zischend sich über den Boden schlängelnd,
schnell entfloh. Joppie prallte mit gesträubten Haaren bis an die Hinterwand zurück. Eine Schlange hatte sich in die Höhle eingeschlichen. Ermüdet standen die Jungen am nächsten Morgen wieder auf; keiner hatte nach der Entdeckung der nächtlichen Besucherin ganz ruhig weitergeschlafen. Nach einem dürftigen Frühstück aus Kokosnüssen machten sich die Jungen wieder auf. Rolf wollte Knollen, Früchte und eßbare Wurzeln sammeln, und Hajo sollte Harmen beim Schlingenlegen begleiten. An dem Seitenpfad angekommen, stieß Harmen einen Schrei der Überraschung aus. »Da ist er wieder gewesen! Sieh bloß!« Und Harmen wies auf Hufspuren, die noch nicht einmal voll Wasser gelaufen waren. »Es ist noch keine Minute her. Hätte ich meine Schlingen nur eine Viertelstunde früher gelegt, dann säße er jetzt schon darin.« »Schade!« seufzte Hajo. »Wie wolltest du die Stricke nun aufhängen?« »Fünf Fuß über der Erde«, sagte Harmen. »Dann muß er selbst wissen, ob er hineinlaufen will.« Und Harmen vollbrachte sein Wilderergeschäft mit einer Geschicklichkeit, die die Vermutung nahelegte, daß er dergleichen schon öfters geübt habe. »So«, sagte er zufrieden, »nun lege ich hier unten auch noch eine Schlinge, dann kann er da hineintreten, wenn's ihm Spaß macht.« Die Jungen waren wieder auf der Hochfläche angelangt. Rolf kam ihnen entgegen. »Habt ihr Dolimah gesehen?« Die erstaunten Gesichter der beiden machten jede Antwort überflüssig. »Unerklärlich!« sagte Rolf. »Soeben komme ich zurück und finde Padde allein. Vielleicht ist sie wieder auf der Kräutersuche. Aber dann begreife ich nicht, warum sie nicht ein Wort gesagt hat; ich war doch in der Nähe.« Schweigend, die Hände um die Knie gefaltet, saßen die Jungen den ganzen Nachmittag vorn in der Höhle und starrten hinaus. Sollte Dolimah sie wirklich verlassen haben? Das wäre schrecklich. Wehmutsvoll dachten sie an Dolimahs wohllautende Stimme, an ihr feines Köpfchen mit den großen, glänzenden Augen. Von Stunde zu Stunde sank ihnen der Mut. Dolimah war fort und damit alles, was ihnen in diesem Land noch lieb war. Wären sie nur wieder am Strand! Das Meer kannten sie. Sie würden in eine Prau steigen und wegfahren. Wohin? Was kam es darauf an! Nur weg, weg aus diesem Land! Auf einmal — was war das? Die Jungen flogen hinaus. Dolimah! Dolimah! — Lnd wenn hatte sie bei sich? Da stand ein Kerlchen mit großen, abstehenden Ohren. In seinen weit aufgesperrten Augen lag namenloses Erstaunen, als er die Jungen sah. Er machte Anstalten, auf und davon zu gehen. »Ikut sadjah, Saleiman!« sagte Dolimah. »Äh-äh, mari!« kam Rolf ihr zu Hilfe. »Djangan takut. Sei nicht bang!« Das braune Bürschchen, das den stolzen Namen Saleiman führte, zögerte, schnaubte vor sich hin und stieg dann umsichtig, nachdem er seinen Sarong zwischen die Knie geschlagen hatte, die Strickleiter hinab. Schön war Saleiman nicht; seine Arme und Beine waren dürr und wie aus dunklem Holz gehackt, seine Knie und Ellenbogen glichen dicken Knorren darin. Sein Rücken war eckig und knochig; im übrigen war Saleiman vom Kopf bis zur Zehe mit Narben bedeckt. Rolf sah Dolimah fragend an. »Saleiman ist mitgekommen, um Feuer zu machen«, sagte das Mädchen. Der kleine, spindeldürre Feuergott zog schüchtern ein paar Hölzchen aus seinem Sarong und starrte Rolf mit seinen großen Augen keineswegs getrost an. Die Jungen sahen das Männlein nun plötzlich mit ganz andern Augen an und nickten ihm freundlich zu. Nur Joppie knurrte
mißtrauisch gegen den Besucher, und sein Mißtrauen wuchs noch, als er Saleiman beschnüffelte und dieser ihm mit seinem mageren, knochigen Bein einen Tritt gab, der nicht von schlechten Eltern war. »Saleiman hat mir auch versprochen, uns etwas zu essen zu bringen. Nicht wahr, Saleiman?« fragte Dolimah. »Äh-äh«, bestätigte Saleiman. »Fang nur an!« sagte Dolimah. »Äh-äh.« Saleiman beugte sich über die Kokosfasern, die die Jungen am Tag vorher vergebens zu entzünden versucht hatten, und begann zu reiben. Seine Nase berührte dabei fast die Erde, und seine ebenfalls magere, knochige Sitzfläche ragte stolz in die Höhe. Nach einer Weile, während deren er hart arbeitete, begann Saleiman zu blasen; es waren also Funken vorhanden. »Ich werde blasen helfen«, rief Harmen und bog sich zu Saleiman hinüber. Saleiman stockte; eine Sekunde lang sahen Saleiman und Harmen einander schweigend in die Augen. Dann fuhr ersterer hastig fort mit Reiben. Da sprühten auch schon wieder die Funken. Saleiman und Harmen bliesen einander beinahe weg, aber — ein Flämmchen züngelte aus den Kokosfasern empor, ein Wölkchen blauen Rauches stieg zwischen den Köpfen der Bläser auf und blieb wie ein Siegeskranz darum hängen. Sieh da, das Feuer! Die Jungen betrachteten es, als hätten sie einen Schatz gefunden. Die lustigen Flämmchen brachten mit einem Schlag Frohsinn. Halte nur die Hand darüber! Herrlich warm, was? Die Höhle war auf einmal bis in den letzten Winkel erleuchtet. »Danke schön, Saleiman! Trima kassi, ja?«Diesen Worten entnahm Saleiman, daß er nun ruhig gehen könne. Er steckte die Hölzchen wieder in seinen Sarong, schlug sein gebatiktes Kleidungsstück einwärts und klomm die schwingende Leiter hinauf. »Kommst du morgen wieder, Saleiman?« fragte Dolimah. »Äh-äh«, versprach Saleiman. Und nachdem er noch einen scheuen Blick zurückgeworfen hatte, hastete er im strömenden Regen davon. »Wie kamst du zu dem?« fragte Rolf das Mädchen. Die Kleine lächelte. »Er war mit seinen Freunden beim Spiel. Da habe ich ihn gebeten, mit mir zu kommen, um Feuer zu machen. Sie werden alle darüber schweigen.« Die Jungen wurde von einer wahren Feuerwut befallen. Sie schleppten so viel Holz zusammen, als sollte ein Scheiterhaufen aufgerichtet werden. Und als am Eingang der Höhle das Feuer hoch aufloderte, machten sie es sich in ihrer Wohnung gemütlich. Ah, wie sicher fühlte man sich hinter der Mauer aus Feuer! Auch Padde wurde durch die behagliche Wärme erquickt. Keuchend starrte er nach den gespenstischen Schattenrissen auf der Hinterwand der Höhle.
Saleiman und seine Flöte Am nächsten Tag regnete es in einzelnen Schauern, doch die Luft blieb noch
so grau wie ein Rattenfell. Schon am frühen Morgen erschien Saleiman mit
seinen Fledermausohren oben an der Leiter.
»Bist du schon da, Saleiman? Komm nur her!« lud Dolimah ein.
Saleiman zeigte seine Schätze. Sie bestanden aus einem gesprungenen Steintopf,
einem Klumpen gekochten Reises, in ein Bananenblatt gefaltet, einigen Krautern
und ein paar großen Bananen.
»Wie lieb von dir, Saleiman!« lobte Dolimah ihn. »Kommst du morgen wieder
zurück?«
»Äh-äh«, versprach Saleiman.
»Hast du einen Suling (Flöte aus Bambus) bei dir?«
Saleiman nickte.
»Kannst du auch darauf spielen?«
Zustimmendes Kopfnicken von Saleiman.
»Blas doch mal darauf!«
Saleiman zögert und bohrt in seiner Nase.
»Traust du dich nicht?«
Saleiman errötet, wendet sich ab und sieht in die Luft.
»Traust du dich nicht, mir was vorzuspielen, wenn es dunkel ist!«
»Äh-äh«, tönt es aus Saleimans Mund. Und er steigt die Leiter wieder hinauf, den Sarong
ordentlich zwischen den Beinen.
Harmen und Hajo begaben sich an diesem Morgen voller Erwartung nach ihren Schlingen. Die
Enttäuschung war groß, als sich erwies, daß sie leer waren. Als sie in die Höhle zurückkehrten,
fanden sie Dolimah beim Kochen. Sie hatte aus festgestampfter Erde einen Herd gemacht, der
durch das Feuer allmählich zu Backstein gebrannt wurde, und darauf hatte sie den steinernen
Topf gesetzt, mit dem Saleiman den Grund gelegt hatte zum Hausrat der Wanderer. So kochte
sie eine Art Süppchen von allerlei Kräutern, warf den Reis hinein, der sich nun grüngelb färbte,
schnitt ein paar Bananenscheibchen hinein und setzte Padde die ganze Geschichte vor die Nase.
Aber der arme Junge konnte nichts zu sich nehmen.
»Aber Padde«, sagte Hajo, »es riecht so fein! Du trinkst bloß den ganzen Tag, und du mußt doch
auch was essen!«
Padde ergriff Hajos Hand. »Hajo...!« Und er begann krampfhaft zu schluchzen. »Ich weiß ja, ihr
möchtet weiter und ihr müßt meinetwegen hierbleiben. Ich möchte am liebsten tot sein, Hajo,
dann könntet ihr — dann könntet ihr...« Tränen erstickten seine Stimme. »Ihr seid alle so viel
stärker als ich, ihr habt mehr Schneid. Ich bin eine Last für euch, ich bin dir auch immer zur Last
gewesen .. .«
»Was für ein Unsinn, Padde!« brummte Hajo, dem die Tränen nun auch in die Augen traten. »Du
bist niemand zur Last und mir ganz gewiß nicht. Denkst du, daß es mir halb soviel Spaß gemacht
hätte, wenn du nicht bei mir gewesen wärst? Nein, Padde, wir verlassen einander nicht, daß du's
weißt! Zusammen in die Fremde, zusammen wieder heim!«
»Hajo«, schluchzte Padde, »so wie dich gibt es nur einen!«
Zur Dämmerzeit kam Saleiman wieder. Diesmal hatte er noch mehr zu kapern verstanden: ein paar Eier, noch ein steinernes Töpfchen, drei getrocknete Fische und acht Maiskolben. »Tu es nicht wieder, Saleiman!« bat Dolimah. »Ich will nicht, daß sie es merken und dich einen Dieb nennen.« Saleiman guckte beschämt nach der andern Seite. »Hast du deinen Suling wieder bei dir?« »Äh-äh.« »Spiel mir dann was vor! Ja?« Saleiman nickte, kauerte sich bedächtig nieder und holte seine Flöte hervor. Es war ein hohles Stück Bambus mit hineingebrannten Löchern. Das Mundstück wurde gebildet durch einen Bambusschößling, in den ein schmaler Spalt hineingeschnitten war. Saleiman sah sich schüchtern um nach den Jungen, die staunend warteten auf das, was kommen sollte. »Ja, spiele nur, Saleiman!« sagte Rolf freundlich, die andern zum Sitzen nötigend. Saleiman zögerte noch etwas, schnaufte kurz auf, sah in die graue Luft und setzte dann bedachtsam, ernsthaft die Flöte an die vorgeschobenen Lippen. Da kam, wie der ferne Ruf eines Nachtvogels, ein langgestreckter nasaler Ton aus dem Instrument. Auf diesen Ton folgte ein etwas höherer, ebenso langgezogen und schwermütig. Dann sank die Flöte schnell wieder zurück auf den ersten Ton, stieg wieder zur Höhe, ging mit einem weichen Laut zum zweiten über und sang den dritten geheimnisvoll aus, mit einem kurzen Seufzer. Dann wieder in die Tiefe, lang und klagend. Und so allgemach wieder in die Höhe mit feierlichen Tönen. Auf einmal — tiereliet! tiereliet! tiereliet! ganz hoch und schrecklich falsch. Und doch wieder nicht falsch. Kann ein Vogel falsch singen, selbst wenn er noch so hoch schmettert? Saleimans Gesicht war tiefernst. Da, hört! Eine Weise, sanft wiegend, schmeichelnd, eine Melodie, und doch hättekeiner der Jungen sie nachflöten können. So schnell liefen die Töne hintereinander her, daß man keinen davon haschen konnte; sie berührten auch kaum das Ohr und verstummten sogleich wieder. Dann ein langer, trübseliger Triller, ein munterer Lauf nach unten und wieder ein dumpfer, endloser Ton, darin ein Beben zitterte wie ein Lichthusch auf einem nächtlichen See. Saleiman hielt inne. »War das der Mond?« fragte Dolimah. »Äh-äh.« Saleiman sah nachdenklich in den Regenhimmel, aus dem sich allmählich die Nacht herabspann. »Kannst du das Bächlein auch nachflöten?« »Äh-äh.« »Und das Krokodil? Und die Schlange? Mach einmal die Schlange nach!« Der kleine Künstler besann sich ein wenig und brachte dann die Flöte wieder an die Lippen. Hört, da kommt die Schlange, den flachen Kopf aufgerichtet, lispelnd mit der Zunge! Langsam, mit unerwarteten, listigen Wendungen rascheln die Töne daher. Saleiman bewegt im Takt seinen mageren Rücken. Die Schlange hält still, lispelt mit dem feinen gespaltenen Zünglein, bewegt sich noch ein Stückchen weiter, wendet ein paarmal spähend den Kopf und rollt sich dann zusammen. »Damit kann man die Schlangen locken, nicht wahr, Saleiman?« fragt Dolimah. »Äh-äh.« »Mache nun einmal das Feuer nach!« Saleiman richtet seine Augen auf das Feuer, bringt die Flöte an die Lippen und... Hört nur, da tanzen die Flämmchen schon. Ein Windstoß streicht wie ein müder Vogel in die Schlucht nieder, rührt sich noch ein wenig, läßt die Flammen etwas höher auflodern. Die Flöte folgt. — Dann fängt Saleiman an zu phantasieren. Er hält seine Augen starr aufs Feuer gerichtet. Sie quellen hervor, und das Weiße blitzt aus dem braunen Antlitz auf, das vor Anstrengung dunkler wird. Saleiman zaubert einen wüsten Brand. Rote Flammen kommen aus der Tiefe hervor, lodern auf, färben sich hellgelb und endigen in einem langen, sich windenden Punkt. Hui...! Hui...! Hui...!
— Endlich hört Saleiman auf, ringt nach Atem, mit einem siegesgewissen Lächeln um die Lippen. »Nun die beiden Vögel!« sagt Dolimah. »Kannst du die beiden Vögel auch?« »Äh-äh.« Höre, da singt der eine Vogel schon! Abwärts, aufwärts, kristallhelle Triller, ein langer, lockender Ruf. Ein Zauber strahlt aus von diesem mageren, häßlichen Jungen mit seinen Flappohren und seinen Narben. — Nun der andere Vogel! Oje, der will es dem ersten nachtun, aber es gelingt ihm nicht! Er krabbelt von dem einen Ton zum andern, schwillt vor Eigenliebe, als der Triller ihm so ungefähr gelingt, und macht noch einen schönen Schnörkel daran. Dann der Lockruf zum Schluß, heiser und unsicher. Dolimah lacht. »Du kannst es gut, du. Wer hat es dich gelehrt?« Saleiman schweigt, schaut in die Höhe und schnauft. »Spiele mir einmal das Allerschönste, was du kannst, Saleiman!« bittet Dolimah. Saleiman sieht Dolimah schüchtern, unschlüssig an. Dann bringt er die Flöte an die Lippen, schließt die Augen. In sanftem, trübem Ton setzt er ein, mühsam schleppen die Töne sich fort. Dann eine kurze Pause, und plötzlich klettern sie in die Höhe, wie um nach etwas auszuspähen. Und nun folgt eine zarte, süße Melodie, mit sanften, leichten Lauten fortgeführt, höher, immer höher, bis in die Wolken von Saleimans Einbildungskraft. Saleiman liebt diese Weise, er läßt sie wieder fallen und dann wieder steigen, wie um den Weinstock sich die Ranken winden voll zarter Blüten. Dann plötzlich bricht die Weise mit einem schrillen Ton ab, als ob ein roher Junge sie entzweigeschlagen. Saleiman läßt die Flöte sinken, holt tief Atem, bringt sie dann wieder an die Lippen und setzt wieder in der wehmütigen Tonfolge von vorhin ein, immer weicher und leiser, bis endlich der letzte Ton erstirbt. Dann öffnet Saleiman die Augen und starrt gen Himmel. Dolimah fragt leise. »Was war das, Saleiman?« Saleiman schweigt, eine große Träne quillt in seinen Augen auf. »Nun, wie heißt die Weise?« drängt Dolimah. »Heißt sie — Saleiman?« Saleiman krabbelt hastig auf die Füße. »Mußt du weg?« Saleiman nickt abgewendeten Gesichts. Dann kramt er aus seinem Sarong ein Schächtelchen heraus und öffnet es. Auf dem Boden angeklebt sitzt ein Glühwürmchen. Das soll Saleiman unterwegs gegen die bösen Geister schützen. Die Jungen sehen das kleine Flappohr nun mit ganz andern Augen fortgehen. Als er seinen Sarong umschlägt, um die Leiter zu besteigen, raschelt eine Schlange zwischen den Sträuchern den Abhang zur Schlucht hinab. »Eh, gagit!« ruft Saleiman entsetzt und fliegt mit seinem Suling und Diebslaternchen in die Höhe. Harmen hat einen tiefen Seufzer ausgestoßen. »Hätte ich nur meine Fiedel, dann würden wir zusammen ein Liedchen spielen!« Doch keiner der andern scheint sich für diesen Wunsch zu erwärmen. Glücklicherweise merkt Harmen es nicht. »Ob wir noch was futtern, bevor wir schlafen gehen?« fragt Harmen. »Über der Flöte habe ich alles vergessen; ich hatte den Mais rösten wollen.« Niemand verspürt Eßlust. Die Jungen werfen tüchtig Holz aufs Feuer und gehen schlafen.
Harmen findet ein Zicklein Am darauffolgenden Morgen flog Harmen mit einem Schrei in die Höhe: »Die Sonne! Die Sonne scheint!« Da stand sie, schon hoch über dem Gebirge wie loderndes Gold. Ihre wohlige Wärme füllte das Tal, aus dem die Dämpfe aufstiegen. Der ganze Himmel war blau getüncht und glänzte noch von der nassen Farbe. Über die Bäume war ein Pinselstrich frischen Grüns hingegangen; die Blumen standen wie verkleckerte Spritzer rot und weiß und gelb und blau auf den Sträuchern. Und welch ein Schmettern in den Bäumen! Da purzeln sie, die grünen Zwergpapageien mit ihren grauen Köpfchen und hellgelben, krummen Schnäblein; da flattern sie und spähen in die Runde, die bronzegrünen Glanztauben, die »kukukurr« rufenden Turteltäubchen, die Fruchttauben mit den perlgrauen Unterseiten der Flügel und mit den rotbraunen Mäntelein, über denen ein purpurner Glanz liegt. Wenn sie von einem Zweig auf den andern flattern, tropfen Demanten von den Bäumen. Und ein Honigdieb schwirrt im Bogen auf so ein fallendes Edelsteinchen zu und fängt es im Flug. Große Falterköniginnen irren von Blume zu Blume, machen vor dem Kelch einen Hofknicks auf Schmetterlingsart, indem sie die Flügel kurz niederschlagen und danach feierlich wieder diese zerbrechlichen, bunten, unendlich zierlichen Dingerchen ausbreiten, beklatschten, um der Blume ein Vergnügen zu bereiten, die andern Blumen kokettieren mit dem Sonnenlicht auf ihren Flügeln und küssen das goldene Blumenherz. Wie wohltätig brennt die Sonne auf die nassen Kleider! Die Jungen sitzen vor der Höhle, schauen in Entzücken über die Schlucht. Wie prächtig sind nun die grünen Abhänge mit den großen, grauen Steinflecken, die gestern noch so trostlos erschienen! Jetzt stehen sie voll Farbe, und das Grün rundum ist voll Abwechslung. Wie schön ist es nun auch auf der Hochebene! Wo kommt auf einmal all das Leben her? Wo verbargen sich all die Vögel, die jetzt die Welt erfüllen mit ihrem Gesang und Gezwitscher? Wo waren die bunten Käfer versteckt und die Insekten, die nun in großen, schnell und zierlich gezogenen Spiralen einhersausen? Die Jungen dehnen sich in der Sonne. Auch die Bäume recken sich; es ist, als ob ihre Wurzeln sich straffer spannten und ihre Äste sich ausdehnten nach der Sonne. Auch die Blümchen, gestern noch schlaff und mit gebeugten Köpfen, recken sich in die Höhe; es gilt einen Wettbewerb, wer die meisten Käfer und Schmetterlinge anlockt. Padde ist herausgekrochen. Die andern erschrecken, als sie sehen, wie bleich und mager sein Gesicht geworden ist und wie matt seine Augen sind. »Komm, setz dich ein bißchen in die Sonne, Padde! Man kann sie jetzt noch ganz gut vertragen. Ist es nicht fein so?« »Fein!« seufzt Padde. Dann schließt er abgespannt die Augen. Vom Fortsetzen der Wanderung kann vorläufig noch nicht die Rede sein. Hajo und Harmen sahen wieder nach ihren Fallstricken, doch fanden sie noch immer keinen gefangenen Hirsch. »Hast du dafür Worte?« rief Harmen verdrossen. Zugleich strauchelte er über einen Argusfasan, der kriegsgefangen war, bevor er es sich versah. Als sie heimkehrten, war Rolf eifrig damit beschäftigt, die Höhle etwas wohnlicher zu gestalten. Er schnitt trockenes Gras und bedeckte den Boden damit, der nun federte wie ein wolliger Teppich, und spannte das Pantherfell vor der Höhle über ein paar Stöcke, so daß es ein Sonnenzelt bildete, unter dem Padde geschützt lag und doch die frische Luft atmete. Rolf bewunderte den Fang. »Der Fasan gibt ein gutes Mittagessen. Und Dolimah sammelt Früchte und Kräuter; daraus wird sie auch wohl was Feines zu kochen verstehen. Dann haben
wir noch Reis, ein paar getrocknete Fische, Maiskolben, für Padde zwei Eier, Kochtöpfe sogar...« Harmen schlug sich vor Vergnügen auf die Knie. Juchhe! Die Sonne tat einem doch gut, da wurde man wieder ein anderer Mensch! »Wenn wir doch noch hier bleiben müssen, wollen wir uns etwas Hausgerät zimmern«, meinte Rolf. »Was dünkt euch von ein paar Bänkchen und einem Tisch?« »Warum nicht!« sagte Harmen. »Und ein paar Schränke an der Wand, wo ich des Abends meinen Anzug hineinhängen kann.« Die letzten Worte kamen gallebitter heraus. »Ich werde dafür sorgen«, versprach Rolf lächelnd. »Hilfst du mir heute dabei, Hajo?« »Na«, sagte Harmen, »dann unternehme ich allein etwas.« Und mit seinem Speer bewaffnet, zog Harmen auf die Jagd. Die Unruhe saß ihm im Blut, das kam von der Sonne. Auf gut Glück bahnte er sich einen Weg. Er kam auf eine Lichtung. Still. Was gab es da zu hören? Ein Schaf? Harmen bewegte sich behutsam vorwärts in der Richtung, aus der er die Laute vernahm. Da, zwischen den Bäumen hindurchspähend, konnte er es sehen — ein Zicklein! Und — es saß fest! An einem Pflock. Und in einer Art Gang stand es. Zu beiden Seiten waren schwere Balken in die Erde getrieben. Wozu sollte das gut sein? Ein festgebundenes Zicklein hier im Wald, wo es sozusagen an die Tiger ausgeliefert war? Wozu diente der Gang? Und warum war der Strick so kurz? Das Tierchen konnte kaum grasen. Ah, das war, das war doch nicht gar eine Tigerfalle? Richtig, da sah Harmen zwischen dem Grün auf jeder Seite eine Falltür. Wenn der Tiger da hineinkam, um das Zicklein zu verspeisen, machten die Türen klapp und der Tiger saß wohlverwahrt. »Mä-ä-äh«, meckerte das arme Zicklein. »Sei brav, ich komme ja zu dir!« versprach Harmen mitleidig. »Harmen läßt dich nicht von einem Tiger verschlingen, nein, nein! Du darfst mit Harmen nach der Höhle, und wenn Not am Mann ist... Junge, Junge, sind das dicke Falltüren! Wenn die zuklappen! Na, sei still, ich komme schon!« »Mä-ä-äh!« begrüßte das Zicklein den Jungen mit freudedurchzitterter Stimme. »Ach herrje!« sagte Harmen. »Wie komme ich bloß zu dir, ohne dabei selber in die Falle zu geraten? — Halt, ich hab's.« Harmen streckte seinen langen Speer aus und begann mit der scharfen Klinge den Strick durchzufeilen. Das Zicklein half, spannte — wahrscheinlich aus Angst vor dem Speer — das Rotangseil, mit dem es angepflockt war, straff. Auf einmal flog es gegen die hölzerne Seitenwand. Der Strick war zerrissen. Das Geißlein lag auf den Knien vor dem hölzernen Verschlag, kroch auf die Beine und nahm in seiner Verwirrtheit Angriffstellung gegen Harmen ein. Dann drehte es sich plötzlich um und wollte mit zierlichen Sprüngen auf und davon gehen. »Hierher!« schrie Harmen entrüstet und sprang hinter dem Zicklein her. Aber als er durch den Käfig schnellte, senkte sich eins der Bretter ein wenig. Harmen strauchelte, zwei dumpfe Schläge folgten. Und als Harmen verwirrt und noch nicht begreifend aufsah, waren die Türen zugefallen, und Harmen war eingesperrt. »Eklige Zicke!« schrie er dem draußen fortspringenden Geißlein nach. »Ich will ihr helf, und dabei...!« In rasender Wut nahm er seinen Speer und schleuderte ihn mit aller Gewalt gegen eine der Türen. Es flog ein Splitter ab, der Speer zitterte und fiel. Die Türen waren aus Djati, jenem Holz, an dem sogar die weißen Ameisen vergebens ihre Kräfte messen. Aufrecht stand Harmen, keuchend, mit zusammengebissenen Zähnen. Er mußte heraus, das stand bei ihm fest. Aber wie? Die Wand war auf allen Seiten wohl fünf Ellen hoch; der Boden war, ebenso wie die Wände, aus dicken Brettern gemacht, deren Enden unter den Seitenwänden lagen, so daß von Herausheben
keine Rede sein konnte. Harmen warf sich auf die Knie und begann das Holz einzukerben. Aber nachhalbstündigem heftigem Arbeiten sah er das Hoffnungslose seines Beginnens ein und warf sich, heulend vor Wut, in eine Ecke. Als er sich einigermaßen beruhigt hatte, blickte er wieder auf. Wie still es war. Wie, wenn er riefe? — »Ho! Ho! Hilfe!« klang Harmens Stimme. Wie der Klang widerhallte im stillen Wald! Keine Antwort. Dann plötzlich aus weiter Ferne: »Mä-ä-äh!« Der Junge schrie aufs neue, dann schnell hintereinander, um sein eigenes Echo nicht zu hören; er fürchtete sich davor. Endlich schwieg er, heiser geschrien. »Ho — ho!« tönte es von allen Seiten. »Hilfe! Ein—ge—sperrt!« Harmen steckte sich die Finger in die Ohren. Er stellte sich mit dem Rücken gegen eine der Türen und stieß mit aller Gewalt. Keine Bewegung zu spüren. Gegen die andere Tür. Die saß ebenso unerschütterlich fest. Plötzlich, in wildem Zorn, begann Harmen mit den Fersen dagegenzutreten, daß sie violett und blau wurden. »Gehst du weg!« gellte er. »Gehst du weg—weg—weg—weg!« tönte es von allen Seiten. Harmen erbleichte und blieb schaudernd stehen. Er war in Schweiß gebadet. Die Sonne funkelte zwischen den Blättern des Bambus über seinem Kopf. Wart, er würde den Speer als Springstock gebrauchen und mit einem tüchtigen Sprung... Ruhig jetzt! Harmen stellte sich ans äußerste Ende des Kafigs, mit dem Rücken gegen die Tür, um seinen Anlauf so lang wie möglich nehmen zu können. Dort in jene Ritze würde er die Speerspitze pflanzen und dann, mit einem kräftigen Satz, oben auf der andern Tür landen. Harmen sprang; die Hände um die Spitze des Speerschaftes, schwang er sich in weitem Bogen durch die Luft. Da brach der Speerschaft, und mit einem dumpfen Prall kam Harmen wieder auf die Bretter herunter. Taumelnd stand er auf, versuchte sich festzuhalten, wankte, schlug wieder hin und blieb liegen. Als er endlich mit einem dumpfen Gefühl im Kopf die Augen aufschlug, war es schon vorgerückter Nachmittag, und die Vögel, die vorhin in den Stunden der größten Hitze geschwiegen hatten, schmetterten nun alle durcheinander. Harmen war anfänglich verwundert, sehr verwundert. Dann kam unerwartet ein bestimmtes Gefühl der Unruhe in ihm auf. Er griff mit den Händen nach seinem Kopf und versuchte sich zu besinnen. Auf allen vieren richtete er sich auf, schwankte wieder, lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die Wand und hörte die Vogelstimmen weit, weit entfernt. Dann wurde es besser. Er öffnete die Augen und sah die Bretter seines Verlieses. Eingesperrt saß er also. Nachher, jedenfalls aber morgen würden sie wohl kommen, die schmutzigen Kannibalen, die die Falle aufgestellt hatten, und ihn verspeisen. »Hilfe!« schrie er, »Hilfe!« — Keuchend lauschte Harmen. Ob seine Freunde ihn wohl suchten? Die Dämmerung brach herein, und mit ihr schlich die Angst in Harmens Brust. Seine starke Einbildungskraft zauberte ihm die greulichsten Dinge vor. Er kroch in eine Ecke und schlug die Hände vor die Augen. Als er sie wieder öffnete, war es dunkel geworden. Aber über die andere Tür, gegenüber, schaute der Mond durch die Bambusstengel, bleich, noch ohne Glanz. Er beruhigte Harmen, der seufzend seinen Blick in ihn versenkte. Plötzlich spitzte er die Ohren und richtete sich erschrocken auf. Da draußen schien ein Tier sich zu schaffen zu machen. Zitternd am ganzen Leibe ergriff Harmen das Stück Schaft mit der Speerspitze und wartete keuchend auf das, was kommen sollte. Siehe, da erschien etwas Schwarzes über der Verschanzung! Ein braunes Antlitz mit großen, erschrockenen Augen und weit abstehenden Flappohren folgte und stand wie ein schwarzes Bildnis im Rahmen des Mondes. Es war Saleiman.
Pa-Samirah, der Zauberer Als Harmen morgens früh seine Gefährten verlassen hatte, machten sich Hajo
und Rolf ans Verfertigen der Möbel. So einfach war das allerdings nicht mit den
gebrechlichen Werkzeugen, über die die Jungen verfügten.
Nach langem Mühen und Plagen stand ein Tisch aus Bambus da. Die Jungen
besahen ihr Machwerk voll Stolz.
»Was wollen wir jetzt machen, Rolf?«
»Löffel«, sagte Rolf, »und Schüsseln und Becher und einen Kamm.«
Wirklich, der Bambus war zu allem zu gebrauchen. Becher waren ziemlich einfach
herzustellen; der Schuß in den Hölzern diente als Boden, und mit dem Messer
wurde der Rand sauber abgeschnitten. Als Löffel nahmen sie halbe Kokosnüsse;
man säuberte sie von den Fasern, zwängte ein Bambusstäbchen hinein, und fertig
war die Laube!
Während Dolimah an jenem Morgen Krauter und Nahrungsmittel sammelte, kam
Saleiman des Wegs daher, ein Huhn unter dem Arm. »Guten Tag, Dolimah!«
sagte er schüchtern und blieb in einiger Entfernung stehen.
»Ah, Saleiman? — Hast du nun doch wieder gestohlen?«
Saleiman schwieg und sah Dolimah verlegen an.
»Merken sie es nicht, daß du für uns stiehlst?« fragte Dolimah.
»Jawohl«, sagte Saleiman, »aber sie denken, es sei ein böser Geist. Es ist einer im Kokosgarten
gewesen und hat Si-Karto befohlen, Nüsse für ihn zu pflücken.
Und ein Tiger hat Towikromos Hund weggeschleppt. Sie haben nun im Wald, nicht weit von
hier, die Falle wieder hergerichtet. Und morgen sehen sie nach, ob er schon darinsitzt, der
Räuber.«
»Du Saleiman«, fragte Dolimah, »wie heißt euer Dukun?«
»Unser Dukun heißt Pa-Samirah.«
»Hat er gute Zaubersprüche?«
Saleiman nickte. »Er hat so starke Rapals, daß man damit die Mäuse aus den
Reisfeldern treiben kann. Und alte Pusakas hat er, an die tausend Jahre alt;
darunter ist ein Kris, vor dem alle Gespenster sich fürchten.«
»Dann ist der Dukun selbst gewiß auch schon sehr alt?« fragte Dolimah.
»Er weiß selbst nicht mehr, wie alt er ist«, bestätigte Saleiman stolz.
»Du, Saleiman« — Dolimah zögerte einen Augenblick —, »würdest du ... ach,
versuche doch, ob du ihn hierherkommen lassen kannst!«
Saleimans Augen weiteten sich.
»Sag ihm — sag ihm, daß er ein Pantherfell kriegt!«
Saleiman senkte den Kopf. »Ich werde es versuchen«, versprach er. Und er wandte
sich zum Gehen.»Wo bleibt eigentlich Harmen?« fragte Hajo, als Dolimah mit ihren Krautern
und Saleimans stibitztem Huhn in die Höhle zurückkehrte.
»Wir wollen das Essen fertigmachen«, sagte Rolf. »Harmen hat eine feine Nase, und wenn er
den Geruch erschnüffelt. . . Wir haben heute die Auswahl.« »Und wir haben einen Tisch«, fügte
Hajo hinzu, »und Eß- und Küchengeräte.« »Und einen hungrigen Magen, das hilft auch«,
ergänzte Rolf lachend. »Wir wollen den Fasan rupfen. Eigentlich schade um das schöne Tier. Die prächtigen Federn!« Dolimah blies das Feuer im Herd an und kochte für Padde etwas Reis in Kokosmilch. Doch Padde wies es zurück. Er war feuerrot im Gesicht; seine Augen waren geschwollen. »Ich kann nicht!« stöhnte er. Die Jungen trugen ihren Gefährten in die Höhle. Da war es kühl, und Padde seufzte, als er auf dem frischen Lager von Farnkraut ausgestreckt lag: »So ist es besser.« »Vielleicht kommt ein Dukun«, sagte Dolimah leise. »Ein Dukun?« »Saleiman wird fragen, ob er kommen will. Er ist sehr alt und weise und kennt alle Krankheiten.« Ein warmes Gefühl für Dolimah wallte in beiden Jungen auf. »Ich habe ihm das Pantherfell versprechen lassen«, sagte Dolimah. »War das recht?« »Das einzig Richtige«, lobte Rolf. »Da wird er wohl kommen.« Die Jungen rupften nun gemeinsam den Fasan. Dolimah freute sich über den selbstverfertigten Hausrat und nahm sofort alles für ihre »Küche« in Beschlag. Bald konnte der Fasan an den Bratspieß. Im Eifer des Kochens und Bratens hatten die Jungen den ganzen Harmen vergessen. Doch als sie ihren »Tisch« beschickten schraken beide zugleich auf. »Harmen ist noch nicht da!« Auch Dolimah sah sie unruhig an. »Unkraut vergeht nicht«, beruhigte Rolf sich und Hajo. »Er wird ja wohl gleich kommen. Wir fangen an, sonst wird alles kalt.« Mit innerlicher Unruhe setzten die Jungen sich zum Mahl nieder, das reichhaltiger war, als sie es nun monatelang gehabt hatten. Doch waren sie heute nicht in der Stimmung, Dolimahs Kochkunst nach Verdienst zu würdigen. Als der letzte Bissen hinunter war, sprang Rolf auf: »Komm, Hajo, wir suchen die Umgebung ab.« Die beiden zogen aus. Sie hatten gesehen, welche Richtung Harmen eingeschlagen hatte, und waren alsbald bedeckt mit blutigen Schrammen, da sie sich durch den dichten Pflanzenwuchs einen Weg bahnen mußten. »Harmen! Haaarmen . . .!« Keine Antwort. Echos von allen Seiten. »Der Wald ist überall gleich«, seufzte Hajo. »Wo soll man suchen?« »Vielleicht ist Harmen schon lange wieder zu Hause«, sagte Rolf. »Wir wollen umkehren.« Als sie sich der Höhle wieder näherten, beschleunigten sie in hoffnungsvoller Erwartung ihre Schritte. Aber Harmen war noch nicht zurück. Dolimah blickte sie mit Augen voller Unruhe an. »Euer Freund ist so krank!« flüsterte sie. Aus der Höhle kam ein erstickter Schrei: »Feuer! Feuer!« Erschrocken stürzten die Jungen hinein. »Padde, was hast du, Padde?« Padde atmete kurz und stoßweise, sein Mund war verzogen; er hielt die geballten Fäuste unters Kinn, und der Schweiß perlte ihm auf der feuerroten Stirn. »Feuer!« gellte Padde und zog die Knie herauf, »Feuer!« Rolf kniete bei ihm nieder. »Wach auf, Padde! Du träumst.« Und er rüttelte ihn an den Schultern. Der Kranke schlug die Augen auf und sah Rolf wie geistesabwesend an. »Padde!« stammelte Hajo erschrocken. Padde starrte über seine Brust hinweg nach außen. Dann begann er plötzlich wieder gellend zu schreien und ließ den Kopf mit einem Ruck hinüberfallen. Rolf kühlte die Stirn des Kranken mit Wasser. Padde seufzte und schien einen Augenblick etwas ruhiger. Dann fing er an heftig zu schluchzen. Sein ganzer Körper bebte, die Tränen schossen ihm über die Wangen auf die Farne unter seinem Kopf. »Alle — sind stark — allesamt — bloß ich nicht!« Hajo beugte sich über
seinen Kameraden, auch ihm standen die Tränen in den Augen. »Laß nur, Padde! Wir bleiben beisammen, ja? Wir verlassen einander nicht.« »Feuer!« schrie Padde und stieß Hajo mit aller Gewalt von sich. Und keuchend, gehetzt, begann er irre zu reden. Ratlos sahen sich Hajo und Rolf an. Dolimahs Augen wanderten schrecklich von einem zum andern. In diesem Augenblick räusperte sich draußen jemand, und Dolimah stammelte: »Der Dukun!« Vor dem Eingang der Höhle erschien, ein düsterer Schatten gegen die Dämmerung, ein alter Eingeborener mit einem weißen Spitzbart und mager wie ein Totengerippe. Die Jungen wußten so schnell nicht, wie sie sich verhalten sollten. Rolf wollte etwas sagen, doch er verschluckte sich schon beim ersten Wort. Glücklicherweise wußte Dolimah besser mit dem Dukun umzugehen. »Wir sind froh, daß Ihr gekommen seid, guter Pa-Samirah. Ihr werdet uns aus der Not helfen. Bis in die fernsten Dörfer wird Eure Kunst gerühmt.« Pa-Samirah nickte und spie bedächtig einen Strahl roten Sirihsaftes auf die grauen Steine. »Wo ist der Kranke?« »Dort drinnen, Pa-Samirah.« »Wo ist das Pantherfell?« »Ihr steht darunter, guter Pa-Samirah.« Der Dukun blickte in die Höhe, nickte befriedigt und spuckte noch einmal mit Bedacht. »Laß die Weißen sich entfernen und bleib du hier, um mir zu helfen!« befahl er mit heiserer, knarrender Stimme, die dem Rattern eines alten Karrens glich. Dolimah bedeutete den andern, sich zu entfernen. Zögernd, ohne selbst recht zu wissen, warum sie es taten, gehorchten sie. Draußen bemerkten sie erst, daß hinter Pa-Samirah ein Bürschchen verdeckt Aufstellung genommen hatte, das nun die Flucht ergriff. An seinen Ohren erkannten sie ihn: Saleiman! Bedrückt warteten die beiden draußen. Dolimah war beim Dukun geblieben. »Ist es eigentlich richtig, Rolf, daß wir ihn mit Padde allein lassen?« »Dolimah ist doch dabei!« Auf einmal erklang Paddes markerschütterndes Geschrei wieder aus der Höhle. Hajo wollte hinzueilen, doch Dolimah erschien vor der Öffnung. »Still!« flüsterte sie. »Der Dukun ist an der Arbeit.«Doch Hajo konnte sich nicht länger bezwingen und betrat die Höhle. Der alte Dukun, der bei Padde hockte, wandte murmelnd den Kopf. Und ein Blick in die alten, lichtlosen Augen, die sich starr, scheinbar ohne zu sehen, auf ihn richteten, genügte, um Hajo zurückprallen zu lassen. Murmelnd, allmählich in Summen übergehend, kehrte der Dukun sein Haupt wieder ab. Der alte Nacken glich einer verschrumpelten Wurzel. Befangen kehrte Hajo zu Rolf zurück. »Was hast du gesehen?« fragte Rolf. Hajo zuckte die Achseln, während er wie geistesabwesend vor sich hin starrte. »Ich weiß es nicht«, sagte er, wie in tiefen Gedanken. Das Schreien in der Höhle nahm ab. Ununterbrochen tönte der einförmige, klanglose Singsang des alten Mannes. Nach einer Weile, die eine Ewigkeit schien, kam Dolimah auf den Zehenspitzen heraus und flüsterte: »Die Geister begeben sich bereits auf die Flucht. Ich habe Krauter zerrieben, die der Dukun mir gab. Geduld!« Dann zog sie sich wieder zurück. Rolf und Hajo setzten sich nebeneinander und starrten schweigend in die silberne Nacht. Aus der Höhle drang der rötliche Schein des Feuers. Hin und wieder flog ein Schatten durch die Luft, der Schatten Dolimahs, die am Feuer entlanglief. Und endlich — sie wußten selbst nicht, wie lange
sie wohl beieinandergesessen hatten — kam wie ein alter Berggeist der Dukun heraus. Dolimah folgte. »Er schläft ruhig«, sagte sie mit freudebebender Stimme. Wieder fühlten die Jungen das Zögern von vorhin. Was hielt sie davon zurück, die Hände ihres Retters zu ergreifen? Auf den Zehenspitzen betraten sie die Höhle. Padde schlief, seine Atemzüge waren lang und regelmäßig, die hochrote Fieberglut war gewichen. Draußen stand der Wundermann, der das zuwege gebracht hatte, und wartete auf sein Pantherfell. Während Hajo es hastig zusammenrollte, suchte Rolf Worte des Dankes zu finden. Doch wenn er in das steinalte, glanzlose Antlitz blickte, blieben ihm die Worte in der Kehle stecken. Der Dukun spie bedachtsam einen Strahl Sirihsaft aus, der im Schein der Flammen wie Blut aussah. Dann nahm er die Pantherhaut unter den Arm, schlug seinen Sarong ein und bestieg die Strickleiter. Oben angekommen, glich er im Mondschein einer Vogelscheuche. Dolimah begleitete ihn hinauf. »Begreifst du das eigentlich, Rolf?« fragte Hajo. »Nicht im entferntesten«, antwortete Rolf. »Das mag der Kuckuck wissen, wie er ... Du, Hajo, Harmen ist noch nicht zurück!« »O ja, richtig!« stotterte Hajo. »Das hatte ich ganz und gar vergessen.« Und bestürzt sahen die Jungen einander an. Als Saleiman seine Pflicht, die darin bestand, den Dukun nach der Höhle zu führen, erfüllt hatte, sputete er sich heimwärts, überzeugt, daß er das übrige den kräftigen Rapals und den ehrfurchteinflößenden Pusakas des Pa-Samirah überlassen könne. Plötzlich vernahm er ein klagendes Gemecker. Verwundert lief er darauf zu und stand — vor einem Zicklein! »Tjoba!« stammelte Saleiman. Er fing das Tier ein und besah verwundert den durchgefeilten Rotangstrick um seinen Hals. »Es ist das Zicklein aus der Tigerfalle!« Saleiman dachte nach. Dann hatte er seinen Entschluß gefaßt. Was auch mit der Falle geschehen sein mochte, Saleiman mußte es herausfinden. Ob irgendein Geist die Hand im Spiel hatte? Oh, Saleiman hatte an seinen braunen Fingerchen einen Djimat, einen Talisman, gegen den die Waldgeister nichts ausrichten konnten, selbst die allerbösartigsten nicht! Und Saleiman machte sich auf den Weg. Den geraden Weg zur Falle kannte er nicht, er mußte erst wieder ein Stück Wegs dem Dorf zu wandern und dann in spitzem Winkel wieder umkehren. Doch Saleiman hatte keine Sohlen zu zerreißen, die seinigen wurden desto dicker, je länger er darauf lief, und der Mond schien so herrlich. Saleiman dachte beim Wandern darüber nach, was er morgen wieder für Dolimah mausen solle. Ma-Satia hatte immer eine Menge Eier; davon konnte sie ganz gut einige entbehren. Und Niti hatte auf ihrem Dach Deng-Deng (in Scheiben geschnittenes Fleisch) zum Trocknen ausgebreitet; davon könnte Saleiman auch etwas nehmen. Und Si-Amat hatte soviel Reis; davon hatten die Glateks (Reisvögel) schon soviel gefressen, daß es nichts schadete, wenn Saleiman auch noch eine Handvoll wegnahm. Zufrieden zog er seines Wegs. Endlich kam er bei der zugeschlagenen Falle an und sah hinunter. Sein Erstaunen war maßlos. »Saleiman!« schrie Harmen von drunten. »Wo steckst du?« Hier, hacke einen Bambus um und reiche ihn herein!« Und Harmen warf sein Messer hinaus, so daß Saleiman es beinahe auf den Schädel bekam. Doch Saleiman hatte schon einen Plan geschmiedet. Er kletterte auf einen nahen Baum, schnitt einen Rotang ab, knüpfte das obere Ende fest um einen Ast und warf das untere Ende in die
Falle. Im Nu arbeitete Harmen sich daran empor, während Saleiman noch versuchte, sich ohne Riß in seinem Sarong vom Baum herabzulassen. Harmen seufzte tief auf, strich über seine Schenkel und nahm Saleiman das Messer aus der Hand. »Hübsch stumpf dabei geworden! Adjüs und — äh, trimah kassi banjak, schönen Dank!« Und Harmen eilte davon, sich mit Mühe einen Weg bahnend durch das dichte Gebüsch. Bald wurde er müde und blieb zögernd stehen. Von welcher Seite war er doch gleich gekommen? Der Schweiß brach ihm aus. Sollte die Geschichte nun wieder schiefgehen? Wild brach er sich Bahn. Er hatte vorhin den Mond an Backbord gehabt; es war am besten, diesen Kurs zu halten. — Und endlich — da schimmerte der Pfad zwischen den Bäumen! So, da wäre er! Vorsicht! Harmen duckte sich ins Gestrüpp; da kam jemand, ein Malaie. Und — und — was hielt er unter dem Arm, das so glänzte im Silberlicht des Mondes? Harmen schnaubte vor Wut: es war das Pantherfell. Der Mann stand still. Eckig und knochig und wie mit einem Knüppel schief und krumm geschlagen, hob sich die Gestalt gegen den Mondschein ab. »Siapah?« fragte der Malaie. »Wer ist da?« »Ich!« sagte Harmen. Er sprang hervor, schlug den Eingeborenen zu Boden, entriß ihm das Pantherfell und eilte damit fort in der Richtung, aus der der Malaie gekommen war; denn da mußte die Höhle liegen. Daß der Kerl das Fell gestohlen habe, stand bei Harmen fest. Er kam auf die Hochebene, ließ sich an der Leiter hinabgleiten und stürmte in die Höhle hinein. »Harmen...!« Harmen schnaubte und warf die Haut vor sich auf die Erde. »Bitte sehr, da habt ihr euer Fell wieder! Ist noch was zum Futtern da?« Mit großen Augen starrten die andern ihn an.
Die Flucht »Wir müssen uns so schnell wie möglich aus dem Staube machen!« seufzte Rolf, als Harmen seine Heldentaten zum besten gegeben hatte. Und er legte ihm in zwei Worten dar, wie die Sache zusammenhing. »Der Dukun wird diese Geschichte nicht auf sich beruhen lassen.« »Der abscheuliche Giftmischer!« schimpfte Harmen, der sich eiligst über das Fasanenkeulchen hergemacht hatte, das für ihn aufbewahrt worden war. »Was fangen wir mit Padde an?« »Wir tragen ihn.« »Vergnügen eigener Art!« »Es muß gehen. Wir spannen die Pantherhaut zwischen zwei Stöcke, dann haben wir eine Bahre. Vorwärts, Jungens!« Und er klärte Dolimah geschwind über den Stand der Dinge auf. Hajo und Harmen begaben sich an die Arbeit, hackten an der andern Seite der Hochebene, wo die Bambuswälder standen, zwei Stangen von gleicher Länge ab und knüpften mit Rotang die Haut daran fest. Rolf machte aus einem der Bambusstäbe, die bis dahin als »Sonnenzelt« gedient hatten, ein Pikolan, einen Tragestab, um Hausrat und lebenden Proviant daran fortzuschaffen. »Seid ihr fertig?« fragte er. »Dann muß Padde hinauf.« Da kam im Mondschein ein Männlein herangestürmt: Saleiman. Keuchend flog er auf die Jungen zu. »Der Dukun ist erzürnt, und nun kommt er mit einer großen, großen Schar hierher.« »Da haben wir's!« sagte Rolf bestürzt. Harmen nahm Padde von seinem Lager auf. »Hältst du dich ordentlich fest, Padde? Ich trage dich hinauf.« Keine Antwort. Paddes Kopf hing schlapp nieder. Mit Hilfe der andern trug Harmen den schlafenden Padde die Leiter hinauf und legte ihn auf die Bahre. Hajo schob dem Kranken noch ein paar weiche Farnkräuter unter den Kopf, dann hob er mit Rolf zusammen die Bahre auf. Und es ging los. Saleiman voran, mit dem Pikolan auf der Schulter. Den Arm darüber gelegt und mit etwas gebogenen Knien schritt er einher mit dem geschmeidigen, schnellen Gang der lasttragenden Eingeborenen. »Ikut sadjah«, sagte er ermutigend, während er den Weg einschlug, der vom Dorf wegführte, »folgt mir nur!« Das taten sie denn auch. Dolimah und Harmen schleppten die Waffen. Joppie hatte während des Aufenthalts in der Höhle ein ziemlich faules Leben geführt; aber nun, wo es wieder auf die Wanderschaft ging, wurde er wieder der alte und sprang mit stolz erhobenem Kopf vor Saleiman her. Es war eine sonderbare Karawane da im Mondschein. Plötzlich hörten sie auf ihrer linken Seite den Schrei irgendeines Tieres. Erschrocken mäßigten sie ihren Schritt. »Tjelleng«, stellte Saleiman fest, »ein Wildschwein.« Doch Harmen verstand das Wort nicht. »Mein Hirsch!« rief er entzückt. Und mit langen Sprüngen rannte er um eine Biegung, mit beiden Händen Zweige und Äste abwehrend. Was war das? Die obere Schlinge hing noch unberührt, an der
untern aber riß aus Leibeskräften ein wildes Ferkel.
»Ein Ferkel!« murmelte Harmen enttäuscht. »Komm her, Untier, dann werde
ich dir helfen!«
Doch der kleine Gefangene schien von Harmens Hilfe wenig Gutes zu erwarten;
er riß an dem Rotang um seinen Hals, daß er ihn beinah erwürgte. Harmen packte das Tierchen,
befreite es von dem Rotangstrick und band ihm mit einem Griff die Hinterbeine zusammen. »So,
siehst du, nun darfst du mit!« Die andern waren nun auch herangekommen. »Zeig mal deinen
Hirsch!« forderte Rolf ihn auf, lächelnd trotz der wenig rosigen Aussichten. »Ein Hirsch ist es
nicht«, sagte Harmen; »aber am Bratspieß wird es auch munden.«
Und die Jungen gingen wieder weiter, ab und zu innehaltend, um zu lauschen, ob ihre Verfolger
ihnen schon auf den Hacken säßen. Nach einiger Zeit wechselte Harmen mit Hajo den Platz an
der Bahre, und später löste Hajo Rolf ab. Padde lag noch in tiefem Schlaf.
»Bist du noch nicht müde, Dolimah?« fragte Rolf. »Sonst ruhen wir etwas aus.« Saleiman
schaute bestürzt drein.
Dolimah wandte sich an ihn. »Müssen wir noch weiter, Saleiman?«
»Äh-äh!«
»Wie weit noch?«
»Nicht weit mehr; dann können sie nicht mehr folgen.«
Und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Der Wald hörte auf, der Boden wurde felsig. Hie
und da noch Sträucher, das war alles. Auf einmal standen die Jungen vor einer Schlucht. In der
Tiefe glänzte ein Flüßchen. Jenseits dehnte sich eine kahle Ebene, ganz in der Ferne begrenzt
von einer mondgetränkten Bergwand. Lautlose Stille lag darüber. Der Himmel glitzerte von
Sternen. »Seht!« Saleiman zeigte mit seinen braunen Ärmchen an der Schlucht entlang. »Da ist
die Brücke.«
Wo die Schlucht am schmälsten war, schwebte eine Art Rotanghängematte. Sollte das eine
Brücke vorstellen?
»Wenn ihr über die Brücke seid, müßt ihr sie kappen«, sagte Saleiman. Sein Rat war überflüssig;
alle hatten dasselbe gedacht. — Nun standen sie vor der Brücke. Ob sie wohl verläßlich war?
Als Harmen ein paar Schritte darauf tat, begann sie heftig zu schwingen.
Dolimah sah seinen Zweifel. »Die Brücke ist stark«, versicherte sie. »Wir wollen es wagen«,
sagte Harmen. »Wenn wir alle zusammen ins Wasser fliegen, kann wenigstens niemand sagen,
daß wir vor Durst gestorben sind.« »Du bleibst nun gewiß hier, Saleiman?« fragte Rolf.
»Ja, denn er könnte ja nicht mehr zurück, wenn wir die Brücke hinter uns abbrechen«, antwortete
Dolimah.
Rolf blickte sie an. »Und du auch nicht, Dolimah.«
Saleiman zeigte plötzlich großes Interesse, er starrte mit weit offenen Augen auf Dolimah.
»Ich kann ja doch nicht zurück!« sagte das Mädchen leise.
Da kam Saleiman mit einer Frage, die man von dem schüchternen Kerlchen nicht erwartet hätte
und die er denn auch mit unsicherer Stimme herausbrachte: »Warum nicht, Dolimah?«
»Oh«, sagte Dolimah, ihn liebevoll und überrascht anblickend, »es ist ja schon so weit bis zu
meinem Kampong, Saleiman!«
»Ich will dich hinbringen!« versprach Saleiman hastig.
Dolimah sah ihn noch immer liebevoll, mit betrübten Augen an. »Ich danke dir, Saleiman, ich
danke dir für alles; aber ich kann nicht zurück.«Saleiman sagte nichts mehr. Er hielt das kleine
Haupt hoch erhoben, und eine Träne glänzte in seinen großen Augen.
Die andern gingen über die Brücke. Es war schwer, sich mit Paddes Bahre im Gleichgewicht zu halten, da die Brücke heftig schaukelte. Als sie an der gegenüberliegenden Seite waren, kappte Harmen die Hauptstränge. Da fiel der Boden aus der Brücke und schlug in weitem Bogen gegen die andere Wand; ein paar Bambusstöcke glitten heraus und schossen gleich Pfeilen in den Strom dort unten. Der Weg war abgeschnitten. An der gegenüberliegenden Seite stand Saleiman im Mondlicht. Er schien dürrer und magerer denn je, und seine Ohren schienen noch größer als gewöhnlich. »Leb wohl, Saleiman!« Keine Antwort. Erst als die Jungen sich umgedreht hatten und, ihren Kurs nach den Sternen einstellend, in südlicher Richtung ihren Weg fortsetzen wollten, rief Saleiman: »Bis zum Neumond, Dolimah, bis zum Beginn des Puasah (Fastenmonat) werde ich jeden Abend hier warten!« »Aber ich werde nicht kommen, Saleiman«, antwortete Dolimah. Saleiman schwieg. Solange die Jungen in der Mondnacht den Fleck sehen konnten, wo die Brücke gehangen, so lange sahen sie auch Saleiman stehen, einsam und starr wie eine Statuette. Nun, wo die Angst vor der Verfolgung vorbei war, fühlten sie, wie müde sie waren. Die Füße taten weh von den spitzen Steinen. Bei ein paar Sträuchern legten sie sich nieder und schliefen ein unter dem vollgestirnten Himmel. Am andern Morgen beim Erwachen schien die Sonne ihnen gerade ins Gesicht. Die Jungen sahen sich um. Kein Vogel, kein Schmetterling, kein Eichhörnchen, alles starres, lebloses Gestein. Da, weit vor ihnen, die blauen Berge! Padde schlief noch immer. Sie schützten ihm mit Farnkraut das Gesicht. Wieder weiter! Sie aßen eine Handvoll Reis mit getrocknetem Fisch, dann packten sie ihre Sachen. Das Ferkel wurde nun, mit den Beinen nach unten, in den Pikolan gehängt und versuchte sich zu befreien. Hajo und Rolf nahmen die Bahre auf ihre Rechnung. »Alle Wetter, der schläft fest!« sagte Rolf, zufrieden, daß Padde noch immer so ruhig atmete und nichts davon merkte, daß sie ihn aushoben. »Ja, der Dukun ist ein Tausendsasa!« meinte Hajo. »Wir haben ihm seine Dienste schlecht genug belohnt.« »Junge, Junge, das wird heiß heute!« versicherte Harmen mit lauter Stimme. Die andern blickten in die Höhe, am Himmel war kein Wölkchen zu entdecken. Jetzt stand die Sonne noch nicht hoch, und trotzdem brannte sie schon tüchtig. Dolimah war heute morgen sehr still. Sie trällerte nicht wie sonst, wenn sie so mit den Jungen marschierte. »Du bist so still, Dolimah?« fragte Rolf. »Denkst du an irgend etwas?« Das Mädchen schüttelte, aus Grübeleien aufgeschreckt, den Kopf. Aber nach einer Weile sagte sie aus sich selber heraus, mit zu Boden gerichteten Augen: »Ich denke daran, was wohl meine kleinen Geschwister tun mögen. Sie werden nun wohl im Fluß gebadet haben, und Dajik und Ung gehen mit Karidien in die Felder, um mit unsern Karbauen zu pflügen. Nachher, wenn der junge Reis aus den Zuchtbeeten in die Felder verpflanzt wird, helfen wir Mädchen auch, und später wieder, beim Binden der Reisgarben. Nun ja, Kartina nicht; die kann so schön batiken, daß sie nichts anderes tut und nie mitgeht in die Reisfelder.« Dolimah seufzte. »Dajik, mein jüngstes Brüderchen, wird betrübt sein, daß ich weg bin. Er liebt alle Menschen und auch alle Tiere und Vögel. Und die Bäume liebt Dajik und die Blumen; er kennt sie alle. Und schöne Steine liebt er und die Wolken. Als er noch ganz klein war und ich ihn manchmal auf den Armen trug, war er schon so.« Dolimah starrte traumverloren nach den Bergen in der Ferne und sagte dann plötzlich: »Wenn — wenn ich jemals wieder in mein Dorf zurückkehrte, würde Dajik sagen: >Ich wußte es wohl.<«
Die Sonne begann so zu stechen, daß die Jungen taumelig wurden und sich mit glühenden Köpfen und klopfenden Schläfen unter ein paar einsame Büsche legten, wobei sie Sorge trugen, daß vor allem Padde soviel wie möglich Schatten hatte. Die Luft zitterte vor Hitze. Keiner hatte Lust zum Essen. Mit trockener Kehle schliefen sie ein. Als sie erwachten, hatte die Hitze nachgelassen. Harmen stand auf, machte das Huhn von dem Pikolan los, schnitt ihm die Kehle ab und machte sich ans Rupfen. Dolimah gelang es nach einiger Mühe, ein kleines Feuer zu entflammen. Das Huhn wurde gebraten und war herrlich zart. Ein wenig erquickt, setzten die Jungen die Wanderung wieder fort. Padde schlief immer noch, so daß Harmen ihn im Verdacht hatte, er halte nur die Augen geschlossen, um nicht laufen zu müssen. Die Felsenplatte schien kein Ende nehmen zu wollen, die Berge waren noch ebenso weit wie am Morgen. Hoch in der Luft kreiste ein Adler. Sie liefen bis zur Dämmerung weiter, in der Hoffnung, weicheren Boden zu finden für ihr Nachtlager. Vergebens, alles Stein und wieder Stein. Und mochte der Boden tagsüber noch so glühend heiß gewesen sein, daß die Jungen fast ihre Füße daran verbrannten, nun war er feuchtkalt und alles andere eher als ein gutes Bett. Harmen machte ein großes Feuer an. Durch den rötlichen Schein herbeigelockt, kamen Fledermäuse herzugeflattert, und still beieinanderhockend folgten die Jungen mit den Augen dem launischen Spiel der Fittiche. »Saleiman hat gesagt«, begann Dolimah ganz unvermittelt, »daß am Neumond der Puasah beginnt. Dann ist Festzeit in unserm Dorf. Und Dajik wird fragen: >Wo ist Dolimah? Weiß sie nicht, daß es Puasah ist?<« Es zitterte etwas in Dolimahs Stimme. Die Jungen hatten kaum verstanden, was Dolimah sagte; sie hatten jetzt keine Lust, sich anzustrengen mit Zuhören. Aber alle hörten daraus, was auch sie heute abend wieder heftiger quälte. »Sie sehnt sich nach Muttern«, sagte Harmen. Die andern nickten stumm dazu. Auf einmal wies Hajo mit der Hand gen Westen. »Seht mal da! Möwen!« Überrascht sahen sich die andern um. Der Klang des Wortes hatte in ihnen allen eine empfindliche Seite berührt. Möwen! Dort, weit im Westen schwebten sie, machten ihren Abendflug. Wie im Nachdenken schlugen sie, während sie sich durch die ruhige Luft schwangen, hin und wieder kurz mit den Flügeln, wünschten einander im Vorbeistreichen gute Nacht. Still! Wenn man den Atem anhielt, hörte man es: »Tschie... iep!« Eine kam näher, reihte Achten zu einer langen Kette aneinander und winkte mit ihren Flügeln den Jungen. »Tschiep, das Meer ist noch da! Es läßt grüßen und fragt, tschiep!, wo ihr bleibt.« Noch einmal winkte die Möwe, dann zog sie wieder weiter. »Tschiep!« Die Nacht war schleichend näher geschritten und hatte ihren diamantgefüttertenMantel weit über den Himmel ausgebreitet. Der weißgefiederte Bote des Meeres löste sich in Dunkel auf. Aber in den Herzen der Jungen hatte er eine große Freude hinterlassen. Die See! Dort im Westen, nicht weit ab, war die See! Nun fühlten sie, wie oft sie sich nach ihr gesehnt hatten, wenn sie, beklemmt durch die Mauer von Grün ringsum, schweigend beieinandergesessen hatten. Manchmal waren sie, wild verlangend, wieder einmal frei zu atmen, voll verbissener Wut gegen das Grün vorwärts gedrungen, Blumen, Zweige, Wurzeln, Schlingpflanzen wegmetzelnd, und wenn sie zum Schluß keuchend niedersanken, waren sie von einer neuen Mauer umschlossen gewesen, ebenso drückend und undurchdringlich wie die erste. Und während sie zwischen den Bäumen Geister spottend flüstern hörten, hatten sie im Verborgenen, ohne es einander merken
zu lassen, vor Sehnsucht nach der Heimat geschluchzt, daß die Tränen über ihre braunen Wangen auf die Farne tropften. Aber nun hatte die See sich wieder angekündigt. Nun, morgen früh würden sie nicht mehr gen Süden, sondern gen Westen ziehen. Nicht wahr, Rolf? Sie würden den Blick wieder frei schweifen lassen, die frische salzige Luft wieder mit vollen Zügen einsaugen. Morgen gen Westen! Morgen ans Meer! Manchmal fuhr ein Windstoß über die Ebene und schenkte den Jungen süße Bilder des fernen, verschwommenen Rauschens der Brandung. Von ihrem Vorhaben träumend, vergaßen die Jungen die harten Steine unter ihrem Körper.
Der Bijawak Als sie am nächsten Morgen bereits in aller Frühe die Tragbahre wieder aufnahmen, erwachte Padde und blickte erstaunt, mit mattem Augenaufschlag, nach oben. »W—was ist denn nun los?« stammelte er. »Padde! Geht's dir wieder besser? Wie fühlst du dich?« »Gut. Ich habe prächtig geschlafen. Aber ich fühle mich noch — so matt. Tragt ihr mich?« »Wir erzählen dir alles später, wenn du wieder gesund bist. Wir gehen an die See, Padde, nach Westen! Dahin ist es nicht weit.« Padde lächelte. »Na, mir ist es recht! Ich bin froh, wenn ich die See wiedersehe.« Und vergnüglich ließ er sich weitertragen. »Die liebe Sonne meint es gut. Ich werde mir lieber einen Zweig über den Kopf halten.« Und zu Harmen: »Na, jetzt kannst du mal wieder ein Stückchen tragen, Harmen! Sieh mal, wie Hajo auf dem Rücken schwitzt!« »Wenn wir dich alle zehn Schritte übertakeln würden, dann lägen wir im Handumdrehen allesamt an Lee«, meinte Harmen. »Alle zehn Schritte!« entrüstete sich Padde. »Wie lange trägst du nun schon, Hajo? Doch mindestens eine Stunde?« »Ich kann aber noch«, brummte Hajo, gereizt durch Paddes unerwünschte Einmischung. »Ja, das sehe ich an deinem Rücken«, höhnte Padde. »Da sieht es aus, als ob gerade aufgewischt wäre. — Vorwärts, Harmen, sei nicht so faul! Du hast doch nichts zu tun.« »Ja, Kuchen, nichts zu tun!« brummte Harmen. Und plötzlich feixend, fügte er hinzu, auf das Ferkel an seinem Pikolan zeigend: »Ich trage doch schon ein Ferkel!« Padde suchte grimmig nach einer spitzigen Antwort, fand aber keine. Doch schnell hatte er die Beleidigung wieder vergessen. Er begann leise zu pfeifen, mit gegen die Sonne geschlossenen Augen. »Ich liege hier herrlich«, beruhigte er die andern, »wie in einer Kutsche. Du bist der Lakai, Rolf, und Harmen ist das Pferd. Hottehü, Pferd!« Padde schnalzte mit der Zunge. Harmen, der nun doch Hajos Platz eingenommen hatte, drehte sich um. »Sag mal, du machst da solchen Radau; kannst du noch nicht laufen?« Padde machte ein langes Gesicht. »Ich will's versuchen!« seufzte er und richtete sich auf. Aber schon diese Bewegung kostete ihn so viel Anstrengung, daß er leichenblaß, mit geschlossenen Augen, wieder hintenüberfiel. Harmen sah, daß es nicht erheuchelt war. »Na, dann nur weiter!« seufzte er. Rolf tadelte: »Du mußt dich ruhig verhalten, Padde, auch nicht pfeifen! Je schneller du gesund wirst, desto besser ist es für uns alle.« »Rutsch mir!« knirschte Padde. Unverhofft zeigte sich vor ihren Augen ein breiter Riß in den Felsen, und näherkommend hörten sie, daß in der Tiefe ein Bach strömte, wahrscheinlich derselbe, über den die Rotangbrücke geführt hatte. Auch hier war die Schlucht unheimlich tief und von Überschreiten keine Rede. Nun, wenn sie nur dem Bach folgten, kamen sie von selbst ans Meer. Aus der Tiefe stieg angenehme Kühle auf. Auch der klare Wildbach drunten lockte. Die Kokosnüsse, die sie hauptsächlich der Milch wegen mitschleppten, waren beinahe zu Ende. »Es wäre da im Schatten besser auszuhalten als hier oben«, meinte Rolf, während er über den Rand guckte. »Vielleicht können wir ein Stück weiter irgendwo hinunterklettern.« Schweigend, hin und wieder einen Blick in die Schlucht werfend, gingen die Jungen weiter. Sie waren noch keine halbe Stunde gelaufen, da fanden sie eine rohe, von der Natur gebildete
Treppe. Mit aller Vorsicht und begleitet von hundert Warnungen und Ratschlägen Paddes, der mit dem Kopf schräg aus der Tragbahre hing, kletterten die Jungen hinab in die herrliche Kühle. Ihre erste Tat bestand darin, aus den Händen einen Becher zu formen und gierig das frische, klare Bergwasser zu schlürfen. Dann wurde darüber beratschlagt, was nun geschehen sollte. Wenn sie ihre Wanderung durch die Schlucht fortsetzen wollten, so mußten sie durch den Bach waten. Nun, alles war besser, als droben in der glühenden Sonne zu laufen. Hier war auch Pflanzenwuchs; weiter stromabwärts schien es sogar, als würden sie durch die überhängenden Büsche Bahn brechen müssen. Aber würden sie einen trockenen Fleck finden für die Nacht? Vorwärts! Sie nahmen Padde auf und setzten ihren Marsch fort, nun in der Schlucht. Es ging besser, als sie erwartet hatten. Wohl lagen im Wasser Steine, aber sie waren alle vom Wasser abgerundet und hatten keine scharfen Kanten. Ein wohltuendes Gefühl überkam die Jungen, als sie sich durch das überhängende Grün zwängten; es saßen keine Stacheln an den Zweigen, und die Blätter waren frisch und weich. Auf einen großen, platten Felsvorsprung legten sie Padde einen Augenblick nieder und nahmen ein Bad. Nach einem Stündchen gingen sie wieder weiter, und siehe, hier lief am Wasser entlang ein Fußweg! Das erleichterte das Wandern sehr. Allgemach begann es zu dämmern, so daß die Jungen nach einem Platz ausschauen mußten, wo sie die Nacht zubringen konnten. »Wir wollen uns irgendwo an die Seite legen«, sagte Harmen. Das war nicht sehr anziehend. Zögernd hielten die andern inne und blickten durch die im Dämmerlicht wunderlich geheimnisvolle Schlucht. »Wenn wir noch bis zur Biegung weiterliefen?« fragte Hajo. Ohne viel Hoffnung gingen die Jungen weiter und trauten ihren Augen nicht: gleich einem Vorhang hingen ein paar blattreiche Zweige nieder, und als sie die beiseite schoben, standen sie vor einem prächtigen sandigen Fleck neben dem Wasser. Die Felswände waren hier ganz bewachsen; Bäumchen, bedeckt mit duftenden Blüten, hingen über dies traute natürliche Stübchen, und sanftgrüne Farnkräuter standen darunter. »Das ist ein anderer Kuchen!« rief Harmen. Padde reckte sich den Hals aus. »Geh beiseite! Ich kann nichts sehen.« »Zu Befehl, Radscha Schrubberstiel!« sagte Harmen. »Können Hochdero so besser sehen?« »Ja. — Was liegt da für ein Tier? Ein — ein — Krokodil!« »Wo?« »Da, unter dem Baum mit den roten Blüten.« Harmen sprang darauf zu. Und sieh, da rannte mit schlangenartigen Leibeswindungen eine furchtbar große Eidechse weg. Das Tier schoß, da ihm kein anderer Ausweg blieb, zwischen Harmens Beinen hindurch und warf ihn durch einen tüchtigen Schlag mit dem Schwanz in den Sand. Nun wollte Hajo dem Tier den Weg versperren, aber es bäumte sich auf. Ein gelbweißer Bauch glänzte Hajo entgegen, und als er hastig beiseite sprang, fuhr eine schwarze Kralle mit langen, scharfen Nägeln jäh an seinem Gesicht vorbei. Mit einem Plumps stürzte das Tier sich ins Wasser, das hoch aufspritzte, und war verschwunden. Die Jungen waren verblüfft. »Ein Bijawak!« stammelte Dolimah. »War es kein Krokodil?« fragte Rolf. »Nein«, sagte Dolimah, »es war nur ein Bijawak, aber ein ganz großer. Er raubt viele Hühner und Eier.«
»Der Teufel soll ihn holen!« rief Harmen, der wieder aufgestanden war, ärgerlich. »Kommt, Jungens, hier ist es fein, soviel ist gewiß!« Und die Jungen nahmen das idyllische Fleckchen für die Nacht in Besitz. Ein Bett aus Farnkraut war schnell bereitet. Dolimah gelang es, ein paar trockene Zweige Feuer fangen zu lassen. Viel dürres Holz war nicht zu finden, obgleich genug Bäume droben die Schlucht überwölbten; der Regen hatte es wohl weggespült. Sie mußten also grünes Holz brennen, das erstaunlich knisterte, aber schließlich doch Feuer fing. »Tja«, sagte Harmen, »zum Aussuchen haben wir's nicht, und von der Luft können wir nicht leben; also halte dich bereit, alter Freund!« Harmen sprach mit dem Ferkel. »Daß es dir keinen bannigen Spaß macht, kann ich deiner Schnute ansehen, aber du mußt eben denken: Lieber gut gebraten als halbgar gekocht!« »Chrrrrr!« grunzte das arme Tierchen. »Geduld!« sagte Harmen. Und er begann auf einem flachen Stein sein Messer zu wetzen. Dann ging er mit dem Ringelschwänzchen um einen Felsvorsprung. Nach einer Weile kehrte er mit dem bereits abgezogenen Ferkel zurück. »Da habt ihr den Kerl!« rief er vergnügt. »Wir haben für morgen auch noch genug daran. Er sagte noch, daß seine Pfötchen das Leckerste wären. Na, gib mir dann mal meinen Spieß, Hajo! Wir wollen sehen, ob er die Wahrheit geredet hat.« Mit dem roten Widerschein der auflodernden Flammen auf seinem nackten Oberkörper stand Harmen da und briet sein Ferkel. Er schien ein wahrer Teufel, wie er da grinsend den Speer mit dem zischenden, fetttriefenden Braten an der Spitze in den Flammen drehte.
Entronnen Am nächsten Morgen wurden die Wanderer in aller Frühe geweckt durch das wütende Gekreisch aus einigen Dutzend kleiner Affenkehlen. Die Schreihälse schnellten an der Felswand gegenüber auf und nieder, wobei sie sich mit Händen und Füßen an Gesteinsvorsprüngen festhielten. Auch in den Bäumen droben wimmelte es von ihnen. Die Sonne war noch nicht da. Am hellgrauen Himmel glühten ein paar rotgraue Wölkchen. Im Süden zogen Kalongs vorbei in der Richtung der Küste. Trag, noch träger als des Abends, wenn sie auf Plünderungen auszogen, flogen die riesigen Fledermäuse, nun gesättigt, hintereinander her, nach ihren Schlafplätzen zurück. Nun kamen von Westen her, in entgegengesetzter Richtung, schwarze Wolken herauf. Unheilverkündend drohten sie hinter der Felswand gegenüber; doch, über der Schlucht angekommen, fingen ihre Köpfe an zu glühen, und es war, als zögerten sie, weiterzuziehen. Von hinten aber drängten andere nach, und so schob sich allmählich eine massige schwarze Wand über den engen Spalt, der nun etwas von einem gruseligen Grabgewölbe bekam. Die Jungen lagen rücklings auf ihrem Bett von Farnkraut und starrten halb wach nach oben. Alles war düster und geheimnisvoll. Das schäumende Wasser leuchtete hell auf aus all der Dunkelheit, und das Geräusch schien anzuschwellen, je mehr der Druck in der Natur die andern Laute verstummen ließ. Die Äffchen kreischten nun nicht mehr, sondern sprangen schweigend hastig auf und nieder, manchmal von einem Felsgrat her, wie bösartige Teufelchen die Jungen mit blitzenden Augen belauernd oder das Maul aufsperrend. Ganz unerwartet, als würde plötzlich eine riesenhafte Diebslaterne geöffnet, schlug ein fahles, goldenes Licht von unten gegen die schwarzen Wolken. Und es wurde noch stiller. Das Rauschen des Wassers bekam solche Macht über die Jungen, daß es ihnen schien, als hätten sie nie etwas anderes gehört und sollten auch nichts anderes mehr hören. In seinem Bann lagen sie kraftlos da, und ihre Gedanken konnten sie nicht über das Rauschen hinausheben. Aber da begann es aus dem Himmel zu lecken. Warme Regentropfen fielen ihnen auf den Körper und weckten sie aus ihrem dumpfen Lauschen. Während das Affenvölkchen mit hastigen Sprüngen nach seinen Nestern hoch in den Bäumen flüchtete, richtete Rolf sich plötzlich auf und blickte die andern erschrocken an. »Es fängt an zu regnen! Und der Fluß — wird anschwellen!« Harmen, Hajo und Joppie waren mit einem Sprung auf. Sie mußten hierweg, das begriffen alle, und Hals über Kopf wurde alles zusammengepackt. Die übriggebliebene Ferkelhälfte war spurlos verschwunden. Harmen fand noch gerade Zeit, den Bijawak des Raubes zu bezichtigen und im allgemeinen seine Meinung über Bijawaks auseinanderzusetzen. Dann wurde Padde aufgenommen, und fort ging es. »War' nicht zum Lachen, wenn wir ersaufen würden!« meinte Harmen. »Alle Mühe und Kosten umsonst gehabt, nicht wahr?« Aus den fallenden Tropfen wurde ein Regenschauer. Von beiden Felswänden floß das Wasser hernieder. Nach einer halben Stunde hatte sich der Flußlauf so verbreitert, daß der Pfad an der Seite unter Wasser stand. »Wären wir bloß nie in die eklige Kluft gestiegen!« jammerte Padde. »Ich habe mir gleich so was gedacht.« Die andern hörten nicht auf Paddes hinterherhinkende Weisheit. Der Himmel wurde etwas heller, der Regen nahm an Heftigkeit ab. Aber das Wasser stieg, stieg mit beängstigender
Gleichmäßigkeit. Es reichte ihnen schon über die Knie, und Paddes Tragbahre tauchte jedesmal unter, wenn Hajo oder Rolf in ein Loch traten. Dann hob Padde schnell seinen Kopf, um wenigstens den über Wasser zu halten. Gewöhnlich tat er es aber zu spät. Es fing an spannend zu werden. Noch immer ragten die mitleidlosen Wände gleich steil und unersteiglich in die Höhe, und das Wasser reichte den Jungen schon bis zum Bauch, so daß Padde sich aufsetzen mußte. Sie kamen an Stromschnellen. Das wurde mühevoll. Ungestüm tanzte das Wasser zwischen den Steinen. Während sie sich vorsichtig mühten, Padde über die gefährliche Stelle hinwegzubringen, stolperte Rolf. Dadurch entglitt die Tragbahre Hajos Händen, und Padde verschwand zusammen mit Rolf von der Bildfläche. Sie kamen wieder herauf und kreiselten im Wasser fort. Rolf trieb gegen einen großen Stein; es gelang ihm, sich hinaufzuziehen, und er sah sich verwirrt nach den andern um. Padde trieb weiter, mit Armen und Beinen zappelnd. Im selben Augenblick hatte Hajo sich kopfüber ins Wasser geworfen und schwamm nun mit kräftigen Stößen hinter Padde her. Er gewann Boden, bekam den zappelnden Padde bei den Beinen zu fassen, zog ihn schwimmend nach links, wo das Wasser am seichtesten war, kam dort auf die Füße und half auch Padde auf die Beine. Hilflos und erschrocken, sich nur mühsam aufrecht haltend, klammerte Padde sich an seinen Gefährten. »Pack uns beim Arm, Padde!« sagte Rolf, der keuchend heranwatete. »Es läuft sich nicht schwer mit dem Strom. Die Tragbahre ist weggeschwommen.« Mit Angst im Herzen setzten die Jungen ihren Weg fort, Padde stolpernd und fallend; aber die andern hielten ihn fest, obgleich sie selbst mit zitternden Knien vorwärts eilten. Sie kamen um eine Biegung, und Harmen stieß einen Schrei aus. Die Schlucht schloß sich von oben, das Wasser strömte in eine dunkle Grotte. Was tun? Die Jungen hielten entsetzt inne. Hinauf konnten sie nirgends, es gab nur einen Ausweg. »In die Grotte!« befahl Rolf. »Ich trau' mich nicht!« schluchzte Padde. »Mitkommen!« sagte Rolf unerbittlich. Und die Jungen liefen in die Grotte hinein. Dolimah zauderte einen Augenblick; da drängte der Strom sie in die Grotte. Auch Joppie in Harmens Armen wurde es schwül. Die Decke und die Seitenwände der Grotte waren glänzend schwarz vom Wasser, das an ihnen niederfloß, und hie und da war die Grotte so niedrig, daß die Jungen nur mit gebücktem Haupt laufen konnten. Übrigens schien sie als Versammlungssaal für Fledermäuse zu dienen, die bei dem unerwarteten Besuch unruhig piepsten. Aber die Jungen bemerkten sie kaum, erschraken höchstens, wenn ihnen eine am Gesicht vorbeiflatterte. Vorwärts! Gejagt, ab und zu den Kopf in der Finsternis anstoßend, stolperten sie durch das Wasser, mit starr vorwärts gerichtetem Blick, ob noch kein Lichtschimmer das Ende der Grotte ankündigte. Padde konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten, er wurde halb getragen. Wurde die Grotte noch dunkler? Padde schluchzte, lehnte sein Haupt an Hajos Schultern und bewegte kaum noch die Beine. Da — »Licht!« rief Hajo. »Es wird wieder Licht!« Das stählte die Muskel. Keuchend, mit hochgezogenen Schultern, als laste die Finsternis auf ihnen, entflohen die Jungen der unheimlichen Grotte mit ihrer muffigen Luft und ihren Fledermäusen. Ja, dort war der Ausgang, da war das Tageslicht wieder, herrliches Tageslicht! Die Felswände waren spurlos verschwunden, wie weggezaubert von einer gütigen Fee, und an beiden flachen Ufern standen Bäume. In einer plötzlichen Aufwallung warfen die Jungen mit einem Freudenschluchzen sich vornüber, Rolf und Hajo mit Padde an der Hand, Harmen Joppie an seinem Nackenfell vor sich her haltend, und schwammen ans Ufer.
Sie krochen hinauf und halfen Dolimah dabei. Dann liefen sie ein Stückchen zurück, wankten die Berglehne seitlich der Grotte hinan, suchten sich ein weiches Plätzchen und sanken nieder. Übermüdet schliefen die Jungen ein. Der Regen pladderte.
Harmen und Padde auf Fischfang Als die Jungen erwachten, war es trocken. Und nicht allein das, ein strahlend blauer Himmel
stand wie eine Kuppel über ihnen, und mitten darin hing ein kostbarer goldener Kronleuchter:
die Sonne.
Erquickende Düfte entstiegen dem Boden. Die nassen, glänzenden Bäume, die
schwarzgeregneten Äste wiesen wieder grellgrüne Flecken auf, und die Luft war erfüllt von
Vogellärm und buntem Flügelglänzen.
Sieh, da kam der Strom aus der Schlucht herausgetanzt, holterdiepolter über die Steine, daß das
Wasser hoch aufstob, alle Farben widerspiegelnd, nun die Sonne draufschien. Der Eingang der
Grotte war festlich verziert mit Blumen und Farnkraut und sah so lockend geheimnisvoll aus,
daß man beinahe Lust bekam, wieder hineinzugehen.
Während Dolimah mit Padde sitzen blieb, hielten die andern Umschau nach etwas, das wie ein
Weg aussähe, auf dem sie ihre Wanderung fortsetzen könnten. Aber alles war mit dichtem
Gesträuch bewachsen, und dazwischen standen als grimmige Recken die Bäume und rangen um
Licht und Leben. Wie sollten sie da hindurchdringen?
Harmen dachte nur vorläufig an seinen Magen, fand einige eßbare Früchte und kehrte damit
spornstreichs zurück, um ein Feuer anzumachen, in dem er sie rösten könne. Nach vieler Mühe
gelang es ihm, aus ein paar Splittern ein Flämmchen hervorzuzaubern. »Hajo«, rief er, »könntest
du nicht der Kambüse ein paar fette Tauben besorgen? Sie sitzen hier in Hülle und Fülle; du
brauchst ihnen bloß zu pfeifen.«
Hajo kam gerade mit Rolf angelaufen. »Ich habe keine Zeit«, rief er aufgeregt. »Rolf weiß, wie
wir ans Meer kommen können. Wir lassen uns den Fluß hinabtreiben — mit einem Floß.«
Harmen vergaß die Tauben und sperrte überrascht den Mund auf. »Das lasse ich mir gefallen!«
gestand er. Und ohne Zaudern machte er sich mit seinen Gefährten an die Arbeit.
Sie fällten erst zwanzig stämmige Bambusstengel, die sie bis auf fünfzehn Fuß verkürzten,
darauf noch ebenso viele von zehn Fuß Länge und fertigten daraus den Unterbau.
Glücklicherweise gedieh hier üppig Rotang. Die Jungen befreiten die biegsamen, zähen Stengel
von den Dornen und gebrauchten sie dazu, die Bambusquerstäbe fest über die andern zu
schnüren. Dolimah kam herzu und sah sich die Arbeit an. »Bekin apah?« fragte sie. »Was wird
hier gemacht?«
»Wir bauen ein Floß, um darauf den Fluß hinunterzufahren.« Dolimah sah nachdenklich zu,
während die Jungen keuchend über das Floßgerippe krochen und zerrten und sich abrackerten,
daß der Schweiß ihnen aus den Haaren troff.
»Der Fluß mündet ins Meer«, sagte sie nach einigem Schweigen.
»Alle Flüsse münden ins Meer.« »Nun, dahin wollen wir ja!« meinte Rolf.
»Und dann?« fragte Dolimah leise. »Wenn ihr am Meer seid ...?«
»Dann fahren wir nach Bantem. Wir werden schon irgendwo ein Boot finden.«
Dolimah sagte nichts mehr, sie setzte sich schweigend zu Padde. Nach ein paar Stunden war das
Gerüst des Floßes fertig.
»Nun müssen wir auch an die obere Lage denken«, sagte Rolf. »Wie, wenn wir halbgespaltene
Bambusstäbe darüberbänden?«
»Du kannst für mein Teil daraufbinden, was dir in den Sinn kommt«, versicherte Harmen; »aber
erst wollen wir mal sehen, ob es nichts zu futtern gibt!«
»Wir könnten ein bißchen angeln gehen«, meinte Padde von seiner Anhöhe herab.
Padde war manchmal schlauer, als man dachte, vor allem, wenn es galt, Essensprobleme zu
lösen.
»Ob es hier im Wasser Fische gibt?« fragte Hajo.
»Im Wasser eher als auf den Bäumen«, versicherte Harmen. »Du kannst ja mal eine Angel
auswerfen. Und wenn sie nicht anbeißen wollen, spuckst du einfach ins Wasser, dann kommen
sie. Lege dich da in die kleine Bucht, Padde! Da liegst du gut.«
»Wie komme ich zu einer Spule?« fragte Padde.
»Hätte ich nur meine Büx noch an!« seufzte Harmen. »Da waren Haken genug drin; ich konnte
meine Hand nicht in die Tasche stecken, ohne daß ein paar an meinen Fingern hängenblieben.
Ich habe immer gern geangelt.«
»Ein Häkchen aus Bambus ist auch hart genug«, meinte Rolf.
»Und ich habe noch Pechdraht in meiner Tasche«, sagte Hajo.
»Her damit!« befahl Padde, der herbeitrottete und wieder leidlich zu Fuß zu sein schien. Fischen
war stets seine Lieblingsbeschäftigung gewesen. »So, baut ihr ruhig das Floß weiter, dann sorge
ich für eine leckere Fischmahlzeit.«
»Laß mich erst eine gute Stelle suchen!« sagte Harmen. »Sonst fängst du doch nichts.«
»Ich kann die guten Stellen selbst finden«, versicherte Padde.
»Ja, zum Pennen«, schimpfte Harmen. »Komm mit!«
Während Harmen und Padde auf den Fischfang zogen, wobei Padde sich brummend gegen
Harmens herrisches Auftreten wehrte, teilten Hajo und Rolf dünne Bambusstäbe in zwei Hälften
und legten sie mit der runden Hälfte nach oben über das Floßgerippe. Mit dünnen, gespaltenen
Rotangstengeln wurden sie festgeschnürt.
Die Arbeit erforderte viel Zeit. Nach ein paar Stunden war kaum die Hälfte des Floßes bedeckt.
»Komm«, sagte Rolf, »die Sonne geht schon unter! Wir wollen nachsehen, was die Fischerei
eingebracht hat.«
»Padde kann es gut«, versicherte Hajo. »Er kam immer mit dem besten Fang nach Hause.«
»Na, mein Magen juckt mir«, sagte Rolf. Und beide Freunde begaben sich nach der Bucht, wo
Harmen und Padde schweigend saßen und nach einem Bambuskork spähten. Padde war
pitschnaß. »Wollen sie beißen?« fragte Hajo.
Erst keine Antwort, dann murrte Padde: »Wenn Harmen seine Finger davon ließe!«
»Willst du ins Wasser fliegen?« drohte Harmen. Padde schwieg, fuchswild.
Als die beiden Angler nach der Bucht gezogen waren, hatte Harmen eine Angelrute geschnitten,
einen feinen »Schwimmer« daran befestigt und als Lockspeise an einem Bambushäkchen einen
fetten Regenwurm, den sie aus dem Boden geklopft hatten. »So, nun noch eine gute Stelle! Da
unter dem Baum liegst du gut; unter einem Baum liegt man immer gut«, sagte Harmen. »Ich will
fischen«, erklärte Padde; »ich bin zuerst auf diesen Gedanken gekommen!«
»Sieh zu, daß du wieder herunterkommst!« riet Harmen. »Du kannst mit deinen Zwinkeraugen
nicht mal sehen, ob du einen dran hast.«
»Vielleicht besser als du«, schimpfte Padde entrüstet. »Ich bin schon mal mit fünfzehn fetten
Aalen nach Hause gekommen.«
»Da hattest du sicher in eine Reuse gegriffen«, meinte Harmen. »Na, werde man nicht fuchtig,
Baron! Wir lassen uns hier hübsch nieder. Nicht zu tief und am Rand! Da halten sie sich auf.«
Einige Zeit herrschte Stillschweigen. Beide Jungen starrten unverwandt auf den Schwimmer,
Padde trotzig, eifersüchtig, daß Harmen die Angel hielt, Harmen voll ruhigen Vertrauens, daß er
bald »einen dran haben« werde.
Aber es kam keiner »dran«. Der Schwimmer drehte sich im Kreis und trieb gegen das Schilf.
Harmen zog ihn wieder etwas vom Rand weg und warf eine Handvoll Sand und Kieselsteine ins
Wasser. »Das zieht sie an«, erläuterte er. »Oder es jagt sie weg«, sagte Padde.
»Ich wünsche, es jagt dich auch weg!« versicherte Harmen. Schweigen. Beide Jungen spähten
nach dem Kork, der wieder langsam dem Rand zuschwamm.»Spuck mal ins Wasser!« befahl
Harmen. »Zum Anlocken.« Padde spuckte ein besonders verlockendes weißes Fleckchen auf das
Wasser. »Spuck noch mal!«
»Habe keine Spucke mehr«, sagte Padde, nicht gewillt, zu Harmens Erfolg beizutragen.
»Du bist ein Hauptkerl!« sagte Harmen verächtlich. Er räusperte sich und spuckte fünfmal
hintereinander in verschiedene Richtungen auf das Wasser, daß die Fische selbst nicht wußten,
nach welcher Seite sie sich gelockt fühlten. Pause. Schweigen. Spähen.
»Harmen, du hast einen dran!« flüsterte Padde auf einmal.
Der Schwimmer wippte flüchtig in die Höhe und blieb wieder still liegen. Zwei Paar Augen
blickten starr auf das hölzerne Scheibchen da im Wasser. »Soll ich nicht merken, wenn ich einen
dranhabe!« sagte Harmen nach einem tiefen Seufzer.
Wieder bewegte sich der Kork hin und her und ließ Harmen verstummen. »Hol auf!« schrie
Padde mit unterdrückter Stimme.
Harmen schüttelte den Kopf, ohne eine Sekunde den Blick vom Kork abzuwenden. »Er saugt
doch erst!«
»Hol auf!« raste Padde. »Er frißt dir deinen Haken leer.« »Es ist kein Fressen«, erklärte Harmen
dickköpfig, »es ist Saugen.« Langes Schweigen. Hin und wieder rührte sich der Schwimmer
kaum merklich. Die Augen taten weh vom Starren. Der Kork rührte sich jetzt ganz und gar nicht
mehr und lag wieder am Schilf.
»So ein Tückebold!« sagte Harmen. »Bloß saugen, weiter konnte der nix!« »Wetten, daß er den
Haken leergefressen hat?« schlug Padde vor. Harmen bedachte sich noch etwas und holte dann
mit einer Verwünschung den Haken leer auf.
»Siehst du wohl?« triumphierte Padde. »Ich sah es ja, daß er ihn ableckte! Wenn du ihn
aufgeholt hättest, als ich es sagte, dann hätten wir ihn gehabt.« »Vorwärts, fang du ihn also!«
sagte Harmen geringschätzig und reichte Padde die Angelrute.
Padde drechselte schweigend einen Wurm an den Haken. »Ich lege mich drüben hin«, erklärte
er. »Wo du gelegen hast, das ist ein Dreckfleck.«
»Du suchst sicher wieder den seekrankfreien Fleck?« fragte Harmen höhnisch. Schweigen. Die
Jungen waren auf Paddes auserkorenem Fleck angelangt. Mit Überlegung lotete Padde die
Wassertiefe, »legte« sich dann eine Handbreite über den Boden. Die Jungen warteten einige
Zeit. An dem Schwimmer zeigte sich noch keinerlei Bewegung.
»Auf meinem >Dreckfleck< hatte ich wenigstens einen dran«, bemerkte Harmen.
»Ich habe lieber keinen dran als so einen hundsmiserablen«, erklärte Padde.
»Was fehlt denn meinem?« fragte Harmen beleidigt.
»Na, du hast doch selbst gesehen, daß er bloß sog!«
»Kotzdonnerschock!« stammelte Harmen. »Und vorhin sagtest du ...«
»Es kann schon darum keiner richtig drangewesen sein«, sagte Padde, »weil du viel zu hoch lagst. Der eine, das war sicher ein miesepetriger Fisch, der nach oben kam, um Luft zu schnappen. Darum biß er auch so schlecht.« »Und doch wärst du froh, wenn du ihn bloß hättest, den miesepetrigen Saugefisch«, sagte Harmen. Schweigen. Lauern. Endlich — da rührte sich etwas! Harmen greift, die Augen nicht von dem Schwimmer wendend, nach der Angelrute. »Läßt du los?« droht Padde. »Bst, ich helfe dir doch bloß!« »Du hast gesagt, ich darf allein fischen.« »Na gut, dann fischen wir jeder allein!« Und Harmen riß Padde die Angel aus den Händen. »Nun hast du deinen Willen, Dösbaddel!« Patsch! Die hatte Harmen weg. Seine Backe schwoll davon. »Die ist für dich«, klärte Padde ihn zum Überfluß auf. Harmens Augen rollten. Er konnte des Anbeißers wegen seine Angel nicht loslassen, und daraus schloß Padde wohl etwas vorschnell, daß Harmen die Backpfeife dankend angenommen habe. Paddes eigenes Gemüt hatte sich entladen, und damit war sein Groll gewichen. »Es ist ein großer!« flüsterte er Harmen vertraulich zu. »Hol nicht zu früh auf! Ich sehe an deinem Schwimmer, daß es ein großer ist.« Harmen schwieg, er starrte nach dem Schwimmer wie nach einem Todfeind. Flupp, da schoß das Dingelchen unter Wasser! Harmen schlug auf und brachte einen großen Fisch zum Vorschein; aber halb heraus, gelang es dem listigen Wasserbewohner gerade noch, sich vom Haken zu befreien, und er zappelte nach Fischart wieder zurück in sein Element. Die Jungen hatten das Nachsehen. »Viel zu wild aufgeholt!« stellte Padde fest. »Du hättest...« Es war Harmens eigene Schuld, daß er nicht mehr erfuhr, was er hätte tun sollen, um den Fisch ganz ans Ufer zu bringen. Denn noch bevor Padde ausgeredet hatte, warf Harmen die Angel nieder, sprang auf Padde zu, hob ihn halb über den Kopf und schleuderte den armen, sich gar keiner Schuld bewußten Jungen hinter dem Fisch her. Hoch spritzte das Wasser auf, Padde ging koppheister, kam wieder hoch, blickte verwirrt zwischen seinen langen Haaren durch, die ihm vor dem Gesicht hingen, und kroch ans Ufer, wo er in grimmigem Schweigen vergebens nach einem Kleidungsstück suchte, um es auszuwringen. Diesmal war es Harmen, der sein Gemüt erleichtert fühlte. »Ja, Padde, wenn du im Wasser herumzappelst und alle Fische erschreckst, müssen wir ein anderes Fleckchen suchen!« wies er ihn freundlich zurecht, während er einem frischen Regenwurm ein Rückgrat aus Bambus schenkte. »Dabei hatte ich ihn um ein Haar! Ob es ein Karpfen gewesen ist?« Padde kochte innerlich. In Ermangelung eines Besseren hatte er angefangen, sein Haar auszuwringen, das infolgedessen in Vesuvform auf seinem Haupt stehen blieb. »Es war kein Karpfen!« schnaubte er. »Es war ein ganz gemeiner Dreckblei!« »Na, du mußt es wissen!« sagte Harmen. »Du hast ihn aus der Nähe gesehen.« Und er fing an zu wiehern. Harmen lief ein Stückchen um die Bucht. Padde zauderte; er wollte zu den andern zurückkehren, aber sein Anglerherz machte ihn schwach: er kehrte um und setzte sich traurig und schweigend neben Harmen. So trafen Hajo und Rolf die beiden. Und sie schienen das Glück mitzubringen: der Schwimmer schoß weg, Harmen holte auf, und am Haken zappelte ein großer, karpfenartiger Fisch. »Vorsichtig einholen!« rief Padde, in hohem Grad aufgeregt. Und so kam der Fisch glücklich
aufs Trockene.Eine halbe Stunde später zischte und knisterte er in den Flammen. Denn wenn Harmen was zu braten hatte, siegte der Koch über den Fischer, und Padde konnte ungestört allein weiterangeln. »Na«, sagte Harmen, »nun können wir päppeln! Fett werden wir gerade nicht davon, aber wenn der Magen weiß, daß er nicht vergessen wird, ist er schon halb zufrieden, der Schlampamper.« »Vielleicht fängt Padde noch was dazu«, meinte Hajo. »Der soll sich lieber vorsehen!« sagte Harmen besorgt. »Am Ende fällt er noch selbst ins Wasser.« Gleich darauf kam Padde mit zwei schweren Fischen angetrabt. »Die hast du bestimmt mit deinen Zwinkeräuglein beschubbst«, sagte Harmen, packte die Fische und wog sie in der Hand. »Zusammen acht Pfund!« stellte er fest. Und die Schuppen stoben bereits in der Runde, klebten ihm an den Handgelenken, im Haar, auf den Backen, in den Augenbrauen, bis Harmen schließlich selbst einem Fisch ähnlich sah.
Dolimahs Heimweh Nach dem Essen setzten sich die Jungen gemütlich zusammen; sie waren mit
ihrem Tagewerk zufrieden.
»Morgen früh wird wohl das Deck fertig werden«, sagte Rolf. »Dann müssen
wir noch irgendein Steuer daran befestigen.«
»Und vorn kommt die Kambüse hin«, rief Harmen aus.
»Und dann lassen wir es vom Stapel laufen«, sagte Hajo. »Ob das geht?«
»O ja!« sagte Rolf. »Wenn Padde auch ein bißchen hilft...«
»Ja, wenn Padde hilft, kriegen wir es bestimmt ins Wasser«, höhnte Harmen.
»Wißt ihr, was nett wäre?« fragte Hajo. »Wenn wir für Dolimah ein kleines
Roof darauf bauten.«
Das Mädchen schreckte auf, als es seinen Namen hörte.
»Woran denkst du?« fragte Rolf. »Du bist schon den ganzen Abend so still.«
Dolimah schwieg erst, dann zuckte es um ihren Mund; sie wollte etwas sagen,
konnte sich aber nicht ausdrücken. Eine große Träne quoll in ihrem Auge auf.
Harmen sah sie mitleidig an. »Sie will wieder nach ihrem Menschenfresserdorf
zurück«, sagte er.
»Willst du wieder in deinen Kampong zurück, Dolimah?« fragte Rolf leise.
Das Mädchen schlug die langen Wimpern nieder und nickte schweigend.
Die fröhliche Stimmung war mit einem Schlag zerstört.
»Wie wolltest du zurückkehren?« fragte Rolf mit nicht ganz fester Stimme.
»Doch nicht wieder durch die Schlucht?«
»Nein«, sagte Dolimah, »ich überschreite hier den Fluß und folge der Schlucht
auf der andern Seite. Saleiman hat versprochen, mich weiterzubringen.«
»Und wenn du nach Hause kommst, was wird dort mit dir geschehen?«
»Ich weiß es nicht; ich wage nicht daran zu denken.«
Rolf sah grübelnd vor sich hin und wandte sich dann zu seinen Gefährten.
»Jungens, wir — wir müssen sie zurückbringen.«
»Guten Morgen!« stammelte Harmen.
»Ja, es handelt sich hier nicht darum, ob uns das Spaß macht oder nicht«, sagte Rolf plötzlich
zornig. »Wir dürfen sie nicht allein gehen lassen! Und wenn du keine Lust dazu hast, bleibst du
eben hier.«
»Keine Lust!« schnauzte Harmen. »Daß wir sie nicht ihrem Schicksal überlassen können,
nachdem sie uns aus der Patsche geholfen hat, brauchst du Harmen nicht zu erzählen. Aber
deswegen brauchst du auch nicht zu fragen, ob ich Lust dazu habe.« Harmens Stimme erstickte,
Tränen sprangen ihm in die Augen, und er schlug mit der Faust auf den Erdboden.
Da sagte Padde leise, mit abgewandtem Gesicht: »Ich gehe nicht mit.«
»Spritze Nummer dreizehn!« schimpfte Harmen zornig. »Schämst du dich nicht?«
Padde gab keine Antwort. Tief atmend sagte er schließlich: »Ich möchte schon, aber ich — ich
kann nicht mehr zurück.« Und plötzlich in Schluchzen ausbrechend: »Ich will zu meiner
Mutter!«
»Oh, da zieht es einen zu seiner Mutti! Möchtest du nicht lieber einen Saugpropfen haben?«
Aber Harmens Stimme klang verdächtig heiser, gerade als ob auch er...
Dolimah hatte erschrocken mit angesehen, was für eine Wirkung ihre Worte hatten. »Ich will nicht, daß ihr mit zurückkommt!« stammelte sie. »Das will ich nicht! Ich finde den Weg allein.« Rolf schüttelte den Kopf. »Wir bringen dich bis zu Saleiman, Dolimah.« »Oh, aber dann — dann gehe ich nicht weg! Dann bleibe ich bei euch!« »Sei verständig, Dolimah!« sagte Rolf. »Du würdest dir die Rückkehr nur immer mehr erschweren, denn über kurz oder lang wird deine Sehnsucht doch zu mächtig.« Dolimah kämpfte gegen ihre Tränen, dann begann sie leise zu schluchzen. »Tja, was machen wir nun?« fragte Harmen trübselig. Rolf zuckte die Achseln. »Heute abend können wir hier auf kein Fall weg. Wir wollen morgen früh zusehen.« Schweigend blieben die Jungen sitzen. Sie fühlten wohl, daß Dolimahs Scheiden unvermeidlich war. Wenn sie morgen auch beschlösse, mit ihnen weiterzuziehen, es würde doch der Augenblick kommen, daß die Sehnsucht nach daheim sie überwältigte. Sie fühlten es als ihre Ritterpflicht, sie zurückzubringen; aber der Gedanke, sich wieder von der See zu entfernen, die sie nun so in ihrer Nähe wußten, wieder in dieses Land hineinzudringen, das ihnen noch ebenso fremd war wie damals, als sie es zum erstenmal betraten, und das ihnen von Tag .zu Tag angsterregender und mitleidloser schien, jagte ihnen einen Schauder durch die Glieder. Aber allmählich schwanden diese Gedanken beim Gesang der Heimchen und dem freundlichen Rauschen des Bergstromes. Harmen stand auf und warf etwas feuchtes Holz aufs Feuer, um durch den Rauch die Stechmücken zu vertreiben. Wartet nur, morgen würde Dolimah voll Mut sein! Sie hatte ihr Verlangen nach daheim ausgesprochen, das tat einem Menschen gut. Sie würden allesamt lieb zu ihr sein, dann vergaß sie wohl ihr Dörfchen. Und morgen würden sie auf dem Floß für sie ein hübsches Roof bauen, gerade als wäre sie der Schiffer an Bord. Mit solchen Plänen schliefen die Jungen ein. Dolimah schluchzte noch lange. Sacht flössen die Tränen ihr über die Wangen. Endlich hatte sie all ihr aufgehäuftes Leid und Verlangen ausgeschluchzt undkam zur Ruhe. Sie hörte, daß alle vier Jungen schliefen. Deutlich unterschied sie Rolfs und Hajos ruhige Atemzüge, Harmens Schnarchen, Paddes kurzatmiges Blasen. Der Mond kam zwischen den Bäumen empor. Er war beinahe voll. Ruhig überlegte Dolimah, was sie zu tun habe. Und nach einigem Nachsinnen hatte sie einen Entschluß gefaßt. Vorsichtig stand sie auf, spähte umher und begab sich zum Waldrand, wo weiße Blumen leuchteten. Sie pflückte die schönsten, die sie finden konnte, und kam gleich darauf mit den Armen voll Blumen zurück. Und nun führte sie ihren Plan aus: sie legte neben Harmens Antlitz eine Blume nieder, so daß der Duft ihm in die Nase dringen mußte. Nach einigem Zögern legte sie eine vor Padde nieder und dann bei den andern. Der Mond war ein wenig gestiegen und beschien die Schlafenden. Dolimah sah sie lange an, und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. Da schreckte der heisere Ruf eines Waldpfaus sie aus ihrem Grübeln; sie öffnete ihre Arme, daß die Blumen, die sie noch umklammerte, zu Füßen der Jungen niederfielen. »Wirst du mich geleiten, lieber, süßer Mond?« fragte Dolimah. »Wirst du mich vor den bösen Geistern beschützen?« Sie schürzte ihren Sarong bis über die Knie und watete, mit den Füßen tastend, wie eine Wasserfee durch eine seichte Stelle des Flusses. Bevor sie an der gegenüberliegenden Seite die Anhöhe erstieg, sah sie sich noch einmal nach den Jungen um. Leise schluchzend kam sie oben auf der Anhöhe an, warf noch einen letzten Blick zurück und schlug dann mit hastigen Schritten die Richtung nach der Grotte ein.
Padde stößt auf einen Menschenfresser Als die Jungen am folgenden Morgen merkten, daß sie inmitten von Blumen lagen und Dolimahs Schlafplatz verlassen war, begriffen sie. Sie konnten ihre Tränen nicht zurückdrängen und schämten sich ihrer nicht. »Was sollen wir tun?« fragte Harmen. »Nichts«, sagte Rolf. »Wir können sie doch nicht mehr einholen.« Die Jungen schwiegen eine Weile. »So eine liebe Deern!« rief Harmen plötzlich aus. »Hier die Blumen herzulegen!« Rolf schöpfte tief Atem, als drücke ihn etwas auf der Brust. »Wir müssen hier weg«, sagte er. »Ich — ich halte es hier nicht mehr aus!« »Rolf!« schluchzte Padde. »Ich auch nicht! Manchmal fühle ich es mit einem Male. Nun, wo Dolimah weg ist...« Mit einem Ruck sprangen die Jungen auf. Mit wildem Eifer setzten sie den Bau des Floßes fort. Die Zähne zusammengebissen, arbeiteten sie, ohne Scherzwort, ohne die sonst unter ihnen üblichen kleinen Katzbalgereien. Padde setzte sich wieder in die Bucht zum Angeln, um Wegzehrung zu beschaffen, Hajo hackte Rotangseile für das Floß. Harmen und Rolf spalteten Bambusstäbe und schnürten sie fest auf das hölzerne Gerüst. Im Laufe des Nachmittags wurde das Floß fertig. Hinten war eine Öffnung gelassen, um eine Bambusstange hindurchzustecken, die als Steuer verwendet werden sollte. »So«, sagte Rolf, »nun müssen wir sehen, wie wir es ins Wasser kriegen. Kommst du helfen, Hajo? Und du auch, Padde?« Mit vereinten Kräften, nach vielem Wricken und Stoßen, brachten sie das Floß zum Schwimmen und vertäuten es mit ein paar Rotangseilen am Ufer. Als die Jungen an Bord sprangen, schien es dadurch kaum etwas zu sinken. »Hast du noch etwas gefangen, Padde?« fragte Rolf. »Einen ganzen Haufen«, sagte Padde. »Halt, wir wollen das Feuer nicht vergessen!« rief Harmen. Auf das Vorderdeck wurde eine Schicht Lehm im Bambus festgestampft, und Harmen brachte ein paar brennende Stückchen Holz herüber, mit denen er ein neues Feuer anlegte. Dann hackten die Jungen noch ein paar Bambusstengel ab, um sie als Staken zu verwenden. »Alles klar?« »Ja. Komm, Joppie!« Joppie sprang an Bord, und die Kabel wurden gelöst. Die Jungen steuerten der Flußmitte zu. Harmen stellte sich mit einer Stake an die Spitze, Hajo und Rolf hintenauf; so hatten sie das Floß gut in der Gewalt. Padde und Joppie sahen zu, ob alles ging, wie es sich gehörte. Der Strom war stark, aber glücklicherweise lagen keine großen Steine im Wasser. Schließlich war das Floß doch nur mit Tauen zusammengefügt, und es konnte bedenklich werden, wenn es mit großer Geschwindigkeit gegen einen Felsen rannte. Doch nun glitt es schnell und sicher auf dem Fluß dahin, der sich bei einer Biegung noch verbreiterte. Sonnenhitze sengte den Jungen Rücken und Schultern. Keiner von ihnen hatte Gelegenheit gehabt, sich noch einmal umzusehen und Abschied zu nehmen von dem Platz, wo sie gestern abend noch mit Dolimah gesessen hatten. Sie wollten ja auch nicht zurückblicken. Vorwärts! Nach Bantem! Ans Meer! Bei einer neuen Biegung schoß das Floß unerwartet unter einem Baum durch, der dicht übers Wasser hing. Die Jungen waren nicht mehr imstande, die Schnelligkeit zu vermindern, und wußten sich nicht anders zu helfen, als schnell durch die Zweige zu klettern. Alle, auch Joppie, standen wieder auf dem Floß, bevor es ganz und gar unter dem Baume hervorgeglitten war, alle
— außer Padde. Der kam zu spät. Aus Kameradschaftlichkeit zog Harmen sich auch wieder an einem Ast hoch. Das Floß glitt mit den andern fort. Diese steuerten es zum Ufer und machten es fest. Padde, weit davon entfernt, für Harmens Hilfsbereitschaft dankbar zu sein, empfing ihn mit Vorwürfen. »Da«, sagte er aufgebracht, »da geht das Floß hin! Konntest du es nicht festhalten?« »Ich glaube, daß du wieder ins Wasser willst, du aufgepustete Pfeffernuß!« schalt Harmen. »Bloß um dir zu helfen, bin ich in den Baum geklettert. Ich stände sonst schon längst wieder auf dem Floß.« »Meinetwegen könntest du sonstwo stehen!« versicherte Padde ihm. »Ich brauche deine Hilfe nicht, ich komme allein ans Ufer.« Dann schnüffelte er. »Findest du nicht, daß es hier wieder so nach der Frucht stinkt, du weißt doch, die Hajo und Rolf gegessen haben?« »Ich rieche nichts«, sagte Harmen. »Aber dir geschieht ganz recht, wenn es so stinkt, daß du vor Übelkeit aus dem Baum rollst. — Was hast du?« fragte Harmen erstaunt, als er sah, daß Padde mit entsetzten Augen nach etwas starrte.Keine Antwort. Harmen spähte in der Richtung, die Paddes starrer Blick andeutete, und ... Auf einem dicken Ast, behaglich nach hinten gelehnt, saß ein rotbrauner, schwanzloser Affe, so groß, wie Harmen sich nie einen gedacht hätte. Das Tier, das mit dem haarigen Arm einen geöffneten Durian umklammerte und daraus ganz gemütlich schmauste, hatte den kauenden, beängstigend menschlichen Kopf den Jungen zugekehrt, als ob er sagen wollte: »So, seid ihr auch wieder da?« Es hielt zwischen den Fingern der rechten Hand ein sahniges Stück Durianfleisch. Eins der kurzen Beine hatte es faul ausgestreckt. Es schwindelte Harmen. Er starrte, gerade wie Padde, wie versteinert nach dem vergnügt schmatzenden Menschenaffen. Plötzlich schien das Tier sich zu erzürnen. Es ließ den Durian ins Wasser plumpsen und zog grimmig die Oberlippe hoch, so daß die schwarzen Zähne sich entblößten. Dann stieß das Ungeheuer ein tiefes, dunkles Gebrüll aus, richtete sich in seiner ganzen Länge auf — und zwei holländische Schlingel fielen kopfüber ins Wasser. Der Affe kletterte träge und schwerfällig an wuchtigen Ästen hinauf bis in den Wipfel des Baumes. »Ein Orang-Utan!« rief Rolf, während er zusammen mit Hajo die ins Wasser Geratenen auf das Floß zog. »Alle Wetter noch einmal!« stammelte Harmen. Paddes Zunge war vor Schrecken noch gelähmt. »Wollte er euch was tun?« fragte Hajo. »Er wollte uns sein Händchen geben«, sagte Harmen. Padde überlief es. »Ich hätte ihm noch schnell einen Rippenstoß versetzen können, bevor ich untertauchte«, schnitt Harmen auf, »aber ich war bange, daß Padde es ausbaden müßte. Kannst du dir vorstellen, daß ich ihn erst für einen Wilden hielt?« Padde fand die Sprache wieder. »War es denn kein Wilder?« stotterte er. »Ich dachte — ein M-menschenfresser.« »Ein Menschenfresser?« fragte Harmen. »Ein ganz gewöhnlicher Dreckaffe!« »Hätte ich das gewußt!« seufzte Padde. »Na, was dann?« fragte Harmen. »Hättest du dann deine Hose zurückverlangt?« »Kommt, Jungs! Wir müssen weiter!« mahnte Rolf. Sie stießen das Floß wieder vom Ufer ab und fuhren flußabwärts, bis die Sonne sank und sie für die Nacht einen geeigneten »Ankerplatz« gefunden hatten. Während die andern drei Jungen ihre Kräfte der Anfertigung etlicher Angelruten widmeten, schuppte Harmen Paddes Fang vom Morgen. Nach der Mahlzeit setzten sich die Flößer wie gewöhnlich zueinander. Aber Dolimahs Abwesenheit bedrückte sie. Sie sprangen auf, suchten ein wenig Gras zu Kopfkissen zusammen,
warfen Holz aufs Feuer und legten sich zur Ruhe, dicht beim Feuer, wo die Stechmücken nicht so summten. Erst spät schliefen sie ein. Ihre Gedanken waren bei Dolimah. Wie weit mochte sie schon gekommen sein? Sie sahen ihre schmächtige Gestalt einsam über die im Sonnenbrand glühende Hochfläche irren. Was hätten sie darum gegeben, zu wissen, ob ihre kleine untreue Schutzheilige wohlbehalten bei Saleiman anlangen würde! Ihre Herzen wurden schwer. In trübem Sinnen schliefen sie ein. Der Morgen schenkte neue Lebensfreude. Als die Jungen erwachten, hing noch ein leichter Nebel über dem Wasser; es war ein wenig kühl. Aber als sie schnell untergetaucht waren, geplätschert und geschwommen hatten, wurde ihnen herrlich warm. Nach dem Frühstück, für das der Angler Padde gesorgt hatte, warfen sie die Taue los und steuerten wieder der Flußmitte zu. Die Sonne funkelte schon zwischen den Bäumen; es war nun herrlich auf dem Wasser. Harmen begann zu singen; Hajo und Rolf stimmten mit ein, und Padde, der in der Mitte des Floßes mit hochgezogenen Knien der Länge nach dalag und zum Himmel starrte, ahmten einen tiefen Baß nach und trommelte mit den Fäusten auf das Deck. »So ein Floß ist das einzig Wahre!« seufzte er. »Man kommt vorwärts und tut nichts dazu. Und es liegt sich hier noch viel besser als auf eurer elenden Tragbahre. Die hatte so einen scheußlichen Gestank an sich.« Die andern fanden Padde wohl etwas undankbar; aber sie konnten ihm das jetzt nicht so unter die Nase reiben, da sie gerade ganz in Anspruch genommen wurden. Der Fluß machte wieder eine Biegung, und hie und da lagen große Steine, denen nur mit großer Steuermannskunst ausgewichen werden konnte. »Ich wünschte, es regnete mal wieder, und das Wasser stiege ein bißchen!« sagte Harmen. Doch gleichzeitig ließ er mit kräftigem Stoß das Floß nach dem Ufer schwimmen. »Achtung!« flüsterte er, als es sicher hinter einem schweren Baum lag. »Seht mal dorthin!« Die andern folgten mit den Augen der Richtung zwischen den Bäumen. Ein Stück weiter an der gegenüberliegenden Seite stieg ein bläuliches Rauchwölkchen auf, und als die Jungen scharf hinäugten, sahen sie ein Dach zwischen den Blättern schimmern. Wie dort vorbeikommen, ohne bemerkt zu werden? »Wollen wir bis zum Anbruch der Dunkelheit warten?« fragte Rolf. »Und hier den ganzen Tag herumlungern?« Harmen rümpfte verächtlich die Nase. »Wie, wenn wir das Floß nun ohne uns leer vorbeitreiben ließen?« fragte Hajo. »Dann bemerken sie es nicht so leicht. Ich bin bloß bange, daß es zu früh hängenbleibt; bevor es am Dorf vorbei ist, meine ich.« »Das können wir doch vorher sehen«, meinte Rolf. »Wir wollen einmal ein Stück Holz ins Wasser werfen und sehen, welchen Weg es nimmt.« Alle, bis auf Padde, durchschauten Rolfs Plan. Harmen warf ein Stück Holz in den Fluß. Die Jungen verfolgten es mit den Augen. Es kam bis ans Dorf, geriet da in eine Seitenströmung, trieb dicht am Ufer entlang und blieb endlich stecken. »Nicht weit genug«, meinte Rolf. »Wirf mal nach der Mitte des Wassers!« Nun schien das Stück Holz den richtigen Weg nehmen zu wollen. Aber plötzlich schoß es in dieselbe Seitenströmung wie das vorige. Der Fluß glitzerte im Sonnenlicht, die Augen schmerzten davon. Harmen nahm ein drittes Stück Holz und warf es mit aller Kraft bis dicht an die gegenüberliegende Seite des Flusses. Dies schien die Stelle zu sein, wo das Floß abgestoßen werden mußte, denn soweit das Auge dem Stück Bambus folgen konnte, kam es dem Ufer nicht zu nahe.
»Gut, dann ist uns geholfen!« sagte Harmen erfreut. »Wir fahren mit dem Floß auf die andere Seite, lassen es da treiben und folgen ihm. Komm, Hajo, wir beide nehmen die Dorfseite! Da sieht man wenigstens noch was. Wenn du mit Padde an diesem Ufer bleibst, Rolf, braucht auf keinen Fall jemand hinüberzuschwimmen, um das Floß wiederzuholen.« »Wenn du am Dorf entlanggehst, Harmen, gibt es ein Unglück«, meinte Rolf. »Ach, Unsinn!« sagte Harmen. »Ich bin so vorsichtig wie meine Tante; die läuft den ganzen Tag mit der Schlafmütze herum, aus Angst, daß sie sie abends vergessen könnte.« »Auf jeden Fall will ich bei dir sein«, stellte Rolf fest. »Geh du mit Padde an diesem Ufer entlang, Hajo.« So verabredeten sie sich. Joppie beschloß nach einigem Schwanken, Rolf und Harmen seine Dienste anzubieten. Diese schleppten das Floß ein Endchen stromaufwärts, so daß es beim Hinübertreiben ungefähr auf derselben Stelle anlangte, wo der Bambusstab seine Reise begonnen hatte. »Wenn sie es nun bloß nicht kapern!« seufzte Rolf. Harmen hatte nachdenklich einen Augenblick geschwiegen. »Wißt ihr was?« sagte er. »Ich fahre mit, um es wieder loszubinden, wenn die Nigger es festmachen.« »Harmen!« »Ich werde mich nicht obendrauf setzen; ich krieche darunter. Dann sehen sie mich nicht.« »Da kriegst du doch keine Luft!« »Harmen lebt von der Liebe«, stellte Harmen fest. »Das Floß liegt hoch. Wenn ich meinen Kopf zwischen den Bambus stecke, kriege ich Luft genug. — Kommst du mit, Joppie?« Harmen stieß das Floß ab, ließ Joppie mit einem tüchtigen Schwung auf das Bambusstück übersiedeln, sprang selbst ins Wasser und tauchte unter dem Floß durch. »Adjüs!« tönte es gleich darauf unter dem abtreibenden Fahrzeug hervor, und um die Stelle anzudeuten, an der er sich befand, spie Harmen durch eine Deckspalte einen feinen Wasserstrahl in die Höhe, so daß Joppie, der sowieso schon ganz verwirrt war, erschrocken davor zurücksprang. Während Rolf den vierfüßigen Schiffer wegfahren sah, gestand er sich ein, daß er sich von Harmen habe überrumpeln lassen. Das Gewagte an Harmens törichtem Einfall hatte ihn gereizt, aber wenn er nun dem Floß nachsprang und es wieder ans Ufer brachte, würde er die Gefahr nur vergrößern. Joppie jammerte zum Herzbrechen. »Halt die Schnauze, Joppie!« ertönte es unter dem Bambusdeck. »Harmen ist doch bei dir!« Aber Joppie blieb trübselig gestimmt. Er schnüffelte ängstlich rund herum das Floß ab, setzte sich schließlich auf seine Hinterpfoten, sperrte das Maul auf und begann mit hocherhobenem Kopf erbärmlich zu heulen, immer in ein und demselben langgezogenen Ton, wie eben nur ein indischer Kampongköter heulen kann. Äußerst unruhig folgte Rolf mit den Augen dem Floß. Sieh, da glitt es am Dorf e vorbei, und — gütiger Himmel! — hinter den Uferbäumen stach eine Prau voll nackter Jungen in den Fluß. Sie paddelten unter aufgeregtem Geschrei auf das Floß zu und sprangen hinauf.
Bung von Bapah-Lolleh Voll guten Mutes war Harmen »ausgefahren«. Er schlang die Arme um zwei Bambusstengel und faltete behaglich die Hände. Durch die hohe Lage des Decks hatte er Luft genug. Soll mich wundern, wie die Sache abläuft, dachte er. Geschehen wird bestimmt was, wenn Joppie seine Klappe nicht hält. Nun, so sah es nicht aus; Joppie jaulte unentwegt weiter. Ob wir schon am Dorfe vorbei sind? hätte Harmen gern gewußt. — Warum hielt Joppie auf einmal den Schnabel? Harmen spähte durch die Ritzen. »Er wedelt mit dem Schwanz. So ein Biest!« Harmen spitzte die Ohren, fing Stimmen auf und hörte das Plätschern von Rudern. Es stieß etwas gegen das Floß, und wuppdich — da sprang ein Junge hinauf, splitternackt. Und Joppie, dieser Kaffer, schwänzelte um ihn herum und leckte den braunen Bengel die Knöchel sauber. Hoppla, da hüpfte noch einer an Deck, und noch einer! Im Nu stand das Floß voll brauner Leiber. Na, dachte Harmen, wollen mal sehen, was sie tun, die verflixten Seeräuber! Ob sie kitzlig sind? Wenn ich bloß meinen Finger zwischen den Bambusstäben durchzwängen könnte, dann würde ich einen unter den Fußsohlen krabbeln. Der würde Sprünge machen! Und Harmen begann leise zu wiehern. Aber seine Fröhlichkeit nahm ein Ende, als alle plötzlich auf die Seite kamen, unter der Harmen lag. Bevor der Kochsmaat es sich versah, wieherte er anstatt Luft Wasser in sich hinein. Das wurde ihm zu bunt. Er tauchte hinter dem Floß hervor, klammerte seine Hände um den Rand, steckte seine triefenden Haare und seinen Kopf, der vor Luftmangel blau geworden war, aus dem Wasser heraus und brüllte verdrossen: »Potzdonnerrrrwetterrrr!« Wie an Deck genagelt, starrte die ganze braune Versammlung da oben das grauenvolle Wasserungeheuer an, dann flogen sie alle auf die andere Seite des Floßes und ließen sich wie Frösche ins Wasser plumpsen. Harmen aber tauchte wieder an seinen alten Platz zurück, wo jetzt so viel Luft war, wie er sich nur wünschen konnte. Und gerade dieses plötzliche Verschwinden bestärkte die braune Gesellschaft in der Meinung, daß das Floß vom Teufel besessen sei. Sie schwangen sich in ihre Prau — wo Joppie sie freundlich empfing —, packten den Satanshund beim Schlafittchen und ließen ihn mit einem Schwung wieder auf das verhexte Deck zurücksausen, wo er hingehörte. Dann paddelten sie eiligst zum Ufer. Harmen hatte sich von seinem Zorn und Schreck erholt und konnte mit dem Verlauf der Dinge zufrieden sein. Nach einer Weile fragte er sich, wie weit er nun schon vom Dorf entfernt sein möge und ob die Jungen dem Floß gefolgt wären. Er tauchte wieder auf und spähte übers Deck. Ja, da in der Ferne bei den Häuschen und den blauen Rauchwirbeln stand der ganze Trupp und sah dem Floß nach. Joppie saß mit dem Rücken gegen Harmen und starrte wehmütig stromaufwärts. Wenn ich um die Biegung bin, sehen sie mich nicht mehr, dachte Harmen. Er tauchte wieder in sein Versteck zurück, und als er aufs neue hervorlugte, war das Dörfchen ihm aus den Augen. Wupp! Harmen saß wieder auf dem Floß, wurde schwanzwedelnd von Joppie willkommen geheißen und beantwortete die Begrüßung ziemlich lebhaft mit seinem Fuß, so daß Joppie sich scheu auf die andere Seite verzog. »Na, ich werde lieber noch nicht anlegen!« sagte Harmen zu sich selbst. »Die andern können getrost ein Endchen laufen, das schadet ihnen nichts.« Und überaus zufrieden mit sich selbst setzte er sich und starrte in die Berge von Grün am Ufer. Harmen tat die Augen zu und träumte. Es war hier auf Sumatra doch auch ab und zu ganz spaßhaft. Er seufzte tief, dehnte die Lungen, um einmal ein paar Scheffel voll der berauschend süß warmen Luft einzuatmen. Bums! Das Floß
stieß gegen das Ufer. Harmen sprang auf und legte es fest. Es lag herrlich an einer schattenreichen Stelle mitten zwischen den Wasserlilien. Na, sie werden mich schon finden! dachte Harmen. Er streckte sich der Länge nach auf das Deck und schlief ein. Hajo und Padde waren aus der Entfernung Augenzeugen der Wirkung gewesen, die Harmens unerwartetes Auftauchen auf die braunen Kaper ausübte. Dieser Harmen wußte wirklich nicht, was er angeben sollte, um Verwicklungen heraufzubeschwören! Zum Glück war es diesmal gut abgegangen. Dann begannen die beiden ihre Wanderung, indem sie sich mit Mühe einen Weg durch das Unterholz bahnten. Diese häßlichen Dornen überall! Sie gelangten an einen Querweg, der zum Fluß führte. Nachdem sie ihn hinuntergespäht hatten, überschritten sie ihn schnell und drangen wieder in den Büschen weiter, dem Fluß in einiger Entfernung folgend. Ab und zu kamen sie bis dicht an den Rand vor, um nach dem Floß Ausschau zu halten, und als sie schließlich eine leichte Rauchsäule sahen, schlossen sie daraus, daß diese von Harmens Feuer stammen müsse. So war es denn auch, und das Floß lag auf ihrer Seite. Sie streckten sich neben Harmen nieder und warteten, bald ebenfalls schlafend, auf Rolfs Ankunft. Harmen schnarchte, daß das Floß davon zitterte und die dürren Blätter von den Bäumen fielen. Joppie half noch ein wenig nach. — Aber mit einem Mal schreckten alle auf. Was war das für ein Geschrei da drüben? Rolf hatte nach dem wunderbar glücklichen Ausgang von Harmens Seeräuberabenteuer einen schmalen, gekrümmten Pfad gefunden, der zum Dorf führte. Mit aller Vorsicht schlug er ihn ein, von Strauch zu Strauch schleichend. Da — Rolf verbarg sich schnell — kam mit schwerfälligen Schritten ein Karbau um die Ecke, und oben auf dem grauen Koloß thronte ein nacktes Kerlchen. Noch ein Karbau folgte, den Kopf mit den schweren, nach hinten gebogenen Hörnern leicht erhoben und ebenfalls auf seinem breiten Rücken einen »Katjong« tragend. »Ah, Simin, weißt du, was Bung von Bapah-Lolleh gesagt hat?« rief der hintere Reiter. »Nein, aber es wird wohl eine Lüge sein«, antwortete der andere. »Was sagte er denn?« »Daß er nachsehen wolle, wo das Floß geblieben ist.« »Das traut er sich doch nicht. Er schneidet immer auf.« »Ja, aber nun ist er doch wirklich auf die Suche nach dem Floß gegangen. Er hat gestern die Haut von einem Ular-belang 1 gefunden. Mit so einem Djimat2 wagt er alles, sagt er.« »Und warum ist er dann nicht stehengeblieben, als der Geist aus dem Wasser auftauchte?« Die Karbauen gingen wieder um die Biegung, und die Stimmen der Jungen verhallten. Rolf kam vorsichtig wieder zum Vorschein. Der Bung von Bapah-Lolleh kann noch viel Unheil anrichten mit seinem Djimat, dachte er. Da müssen wir einen Riegel vorschieben. Er stand plötzlich vor einem Kokosgarten. Zwischen den Sträuchern hindurch sah er zu seinem Erstaunen, daß in einem der Bäume ein ziemlich großer Affe damit beschäftigt war, Nüsse loszudrehen und sie herunterzuwerfen. Unten stand ein Eingeborener und sammelte die Nüsse. Das ist doch bequem! dachte Rolf. So einen abgerichteten Affen müßten wir auch haben! ( 1 Ular-belang: die giftigste Schlange, die es gibt, die Reisfeldschlange, deren Biß in kurzer Zeit tötet. 2 Djimat: Talisman.)
Und in weitem Bogen umschlich er das Dorf. Irgendwo war ein Mann beim Grasschneiden. Ein Hund lag auf einem Heuhaufen. Glücklicherweise wurde keiner von beiden auf ihn aufmerksam. — Sie werden hier wohl hauptsächlich vom Fischfang leben, dachte Rolf, als er wieder am Fluß stand, wo überall Netze zum Trocknen hingen. Er betrat nun wieder einen schmalen Uferpfad, entdeckte endlich das Floß auf der andern Seite und wollte sich durch die Büsche einen Weg zum Ufer bahnen. Da stand mit dem Rücken gegen ihn ein eingeborener Junge und spähte nach dem Floß. Der braune Spion hatte nichts kommen hören. »Ah, Bung!« rief Rolf mit lauter Stimme, die in der Stille widerhallte. Der Junge hätte nicht mehr erschrecken können, wenn der Blitz neben ihm eingeschlagen wäre. Er fuhr zusammen, wandte sich um und starrte entgeistert seinem weißen Gegenüber ins Antlitz. Dann wollte er sich aus dem Staub machen, aber Rolf holte ihn mit ein paar Sprüngen ein und hielt ihn fest. Bung biß, stieß und schrie aus Leibeskräften. »Diam! Still!« murrte Rolf. »Du siehst doch, daß gegen die Weißen kein Djimat hilft, auch wenn es ein Ular-belang ist!« »Ampun! Gnade!« flehte Bung. »Wirst du stehenbleiben und hören, was ich dir sage?« »Saja, tuan!« versprach Bung mit bebenden Lippen. »Nun, dann«, Rolf ließ ihn los, »dann gehst du nachher zu Bapah-Lolleh und sagst ihm, daß euer Kampong in Gefahr ist. Stromauf streift eine Bande Djahats1 umher. Sag es nach!« Bebend an allen Gliedern gehorchte Bung. »Gut so. Sage Bapah-Lolleh, daß die Bande aus achtzig Mann besteht und stark bewaffnet ist! Wirst du es tun?« »Saja, tuan.« »Dann noch etwas: Ist das Meer weit von hier?« »Nicht weit, Herr.« »Wie weit?« »Von Sonnenaufgang bis Dunkelwerden, Herr.« »Gibt es noch mehr Kampongs an diesem Fluß?« »Noch einen, Herr, einen großen Kampong, dicht am Meer.« In diesem Augenblick erklangen vom Ufer her die Stimmen der andern Jungen. Und bevor der arme Bung wußte, wie ihm geschah, hatte Harmen ihm ein Bein gestellt und ihm die Knöchel mit Rotang zusammengeschnürt. »Wir nehmen ihn mit«, sagte Harmen. »Wenn der in seinem Kampong erzählt, was er gesehen hat, geht es uns an den Kragen.« »Sei nicht bange!« sagte Rolf. »Ich habe ihn weisgemacht, daß wildernde Banden den Kampong überfallen wollen. Sie haben nun Besseres zu tun, als uns nachzusetzen.« Harmen löste feixend die Schlinge. »Auch gut!« Bung sprang hastig in die Höhe, sah sich scheu nach Harmen um und wandte sich zur Flucht. »Warte noch, Bung!« sagte Rolf. »Hast du schon mal von Java gehört? Und von Bantem?« Bung nickte. »Sie kommen von Bantem mit Kaufwaren her.« Rolf blickte seine Freunde an. »Hört ihr das? Jungs, Bantem kann nicht mehr fern sein!« »Na, dann vorwärts!« sagte Harmen mit einem Freudenzittern in der Stimme. Und übermütig sprangen sie wieder an Bord und stießen ab. Bung rannte wie ein Hase, dem die Hunde auf den Fersen sind. Die Jungen steuerten das Floß nach der Mitte des Stromes. Nach Bantem! Bantem war nicht mehr weit. ( 1 Djahats: Räuber.)
Es war ziemlich spät geworden, und Harmen verspürte Hunger. »Wollen wir anlegen?« fragte er. »Ich habe solches Kribbeln im Msgen.« »Wir wollen warten, bis die Sonne hinunter ist«, sagte Rolf. »Dann bin ich eine Leiche«, versicherte Harmen. »Na, wenn wir Fische braten, wirst du schon wieder lebendig!« beruhigte Rolf ihn. So war es auch. Als die Jungen in der Dämmerung das Floß vertäuten und ein paar Fische lustig knisternd sich in den Flammen wälzten, stand Harmen vom Hungertod wieder auf. Die Jungen ließen sich die herrlichen Fischrücken munden, und Joppie fand die Gräten noch leckerer. Das Floß lag in einem düsteren Becken. Die Jungen hatten durch eine dichte Laubpforte die Aussicht auf den Fluß, der nun flüssiges Silber war. Plötzlich stößt Harmen seine Gefährten an; ein dunkles Ding im Wasser hält geradewegs auf das Floß zu, auf dem die Jungen sitzen. Drei Buckel ragen hervor. Das schwimmende Etwas macht ab und zu halt, dann kommt es wieder näher. Ein Krokodil! Mit angehaltenem Atem sehen die Jungen zu. Keiner von ihnen sagt ein Wort. Das Krokodil, am äußersten Ende des Floßes angekommen, ist nun gerade nicht zu sehen, da das Deck von Bambus ziemlich hoch übers Wasser ragt. Die Jungen, die in Spannung, aber eigentlich ohne eine Spur von Angst zugesehen haben, fühlen auf einmal Unruhe in sich aufsteigen. Wo ist das Tier? Unter dem Floß? Sie wollen aufspringen, doch da schiebt sich von der andern Seite ein platter Unterkopf mit grüngelben Augen und nach allen Seiten hervorstehenden krummen Zähnen auf das Deck. Und mit den beiden Vorderfüßen, die hoch neben dem Rücken herausquellen, sucht das Krokodil sich heraufzuziehen. Mit einem Sprung stehen die Jungen da, wollen ihre Speere ergreifen. Aber das Krokodil, das auf dem Floß einen ruhigen Liegeplatz suchte, fällt schon, tödlich erschrocken, mit einem schweren Plumps wieder ins Wasser zurück. Sieh, dort drüben schwimmt der Racker! Nun verschwindet er. »Wir müssen an Land schlafen«, sagt Rolf. »Hier auf dem Floß ist es nicht sicher.« Schweigend treten sie in den stillen Wald und suchen ein Stück vom Ufer entfernt ein weiches Plätzchen. Aber die Stechmücken verhindern das Einschlafen. Es ist zum Tollwerden. Keuchend liegen die Jungen auf dem Rücken, nachdem sie sich ganz und gar mit Blättern zugedeckt haben. Über ihren Häuptern spielt der Mond ein unheimliches Spiel mit Ästen und Zweigen. Da, was tönt dort in der Ferne? Ding-dang-dong-ding-klung ... Das Dorf, von dem Bung sprach! Da mußten sie heute nacht noch vorbeizukommen suchen. Die Jungen springen auf und reiben sich die juckenden Mückenstiche. Schnell werfen sie die Taue los und steuern durch die Laubpforte zur Mitte des Stroms. Nun sehen sie am rechten Ufer einen Lichtschein zwischen den Bäumen. Sie halten sich also auf der linken Seite. Hier ist Schatten. Fortwährend hakt sich das Floß in die Wasserpflanzen ein. »Padde, setz dich vor das Feuer und wirf etwas Holz hinaus, bis der Rest nur noch glimmt!« befiehlt Harmen. Die Jungen tun ihr Bestes, mit den Staken sowenig wie möglich zu plätschern. Die Klänge der Musik werden lauter: Ding-dong-dang-klung-ping-toktak-dung-dung... »Meine Geige!« seufzt Harmen. »Von meinem ersten Geld kaufe ich mir wieder eine.« »Bst!« »Einen harten Gulden hat sich mich gekostet!« fährt Harmen trotzdem fort. »Paß auf mit dem Meerwasser!« sagte der Mann. Harmens Stimme wurde bitter. »Paß auf mit dem Meerwasser, jawohl!« »Na, und meine schöne Kaffeemühle erst!« klagte Padde.
Hajo und Rolf konnten — ungeachtet des heiklen Augenblicks — das Lachen nicht bezwingen.
»Ja, lacht ihr nur!« brummte Padde. »Aber damit hat das Elend angefangen. Wer weiß, wenn die
Kaffeemühle nicht über Bord gefallen wäre...« Padde schwieg; er suchte den Zusammenhang
zwischen seiner Kaffeemühle, die vor Texel auf so traurige Weise verunglückt war, und den
späteren Mißgeschicken, die der »Nieuw-Hoorn« zugestoßen waren.
Harmen hatte schweigend zugehört. »Ist eine Kaffeemühle über Bord gefallen?« fragte er dann.
»Ja«, sagte Padde, durch Harmens Teilnahme geschmeichelt. Und flüsternd — das Floß befand
sich keine hundert Ellen vom Dorf — erzählte er, wie sich die Sache zugetragen hatte.
Harmen nickte bedächtig mit dem Kopf, als Padde sein Gemüt erleichtert hatte. Darauf sagte er
nachdenklich: »Ich glaube auch, daß es für uns alle das beste gewesen wäre, wenn du hinter der
Kaffeemühle hergesprungen wärst.« »Aber ich kann ja fast gar nicht schwimmen!« »Das weiß
ich«, beruhigte Harmen ihn.
Padde dachte über Harmens Worte nach, bis er deren Sinn erfaßt hatte. Dann wandte er das
Gesicht ab und legte sich mit dem Kopf auf den Armen neben Joppie.
»Da heult einer!« höhnte Harmen. »Aber na, es ist bloß Wasser! Wenn es was anderes wäre,
würde ich sagen: Schade drum!«
Mit einem Wutschrei sprang Padde auf Harmen los. Dieser stellte ihm ein Bein, so daß Padde
auf dem Rücken landete. Er packte Harmen wütend bei den Beinen und wollte ihn zu Fall
bringen.Aber Rolf kam dazwischen. »Seid ihr verrückt geworden? Hier beim Dorf!« »Warum
fängt er an!« zischte Padde mit tränendurchsetzter Stimme. »Ganz was Neues!« bemerkte
Harmen trocken. »Wer ist mir an die Kehle geflogen? Er hat mich in die Wade gebissen, der
Schuft! Komm du mir ans Ufer! Da werde ich dich eine Stunde lang vornehmen, und dann darfst
du >Danke schön, Harmen!< sagen.«
»Habe dich nicht gebissen!« schnaubte Padde und drehte ihm den Rücken zu. »Doch!« sagte
Harmen giftig.
»Nicht wahr!«
»Doch wahr!«
So kamen die Jungen wunderbarerweise unbemerkt am Kampong vorbei. Nun wagten sie, das
Floß wieder nach der Mitte des Flusses zu steuern, in den Mondenschein.
Paddes Zorn kühlte ab, und er fing an, sich vor dem morgigen Tag zu ängstigen, besonders vor
dem Stündchen, für das er »Danke schön, Harmen!« sagen sollte. Um Mitleid zu erregen, legte
er sich wieder und schluchzte weiter. Und wirklich wurde Harmen hierdurch erweicht. »Komm,
hör doch auf zu jaulen!« sagte er, während er sein Feuer anblies. »Hilf mir lieber blasen!« Padde,
froh, daß sich eine Gelegenheit zur Versöhnung darbot, richtete sich stöhnend auf, schluchzte
noch einmal und blies dann unter Tränen.
»Du spuckst mehr, als daß du bläst«, fand Harmen. »Und alles mir ins Gesicht!«
»Ich werde von der andern Seite blasen«, versprach Padde. »Bitte darum.«
So bliesen sie einträchtig, bis die Flammen wieder munter züngelten.
»Na gut!« sagte Harmen aufstehend. »Wirst du nun auch kein Schiff mehr in Brand stecken?«
Hajo und Rolf lachten, Padde auch so halb und halb.
Ein wenig verlegen nahm Harmen seinen Staken wieder auf. »Ich hätte nicht davon angefangen;
aber er braucht mich nicht ins Bein zu beißen. Wenn er sagt: >Harmen, ich will dich nicht mehr
ins Bein beißen !<, dann werde ich ihm nichts tun.«
»Ich hab' dich nicht ins Bein gebissen!«
»Doch wahr!«
»Nicht wahr!«
Bst!« beschwichtigte Rolf.
Harmen schwieg, und Padde fühlte sich Sieger. Er nahm Joppie in den Arm und gleich darauf
schnarchten sie um die Wette.
Nach einer halben Stunde vertäuten die andern das Floß in einer Uferhöhlung, ganz zwischen
den Wasserpflanzen.
»Padde, wach auf! Wir gehen an Land.«
Keine Antwort, Padde lag in tiefem Schlaf.
»Heda, Padde!« rief Harmen. »Ein Krokodil!«
Hopp, da stand Padde! Auch Joppie kroch auf seine vier schläfrigen Pfoten.
»Wo?« stammelte Padde.
»In meiner Nase«, sagte Harmen. »Komm mit, wir müssen an Land schlafen!«
Alle gingen ans Ufer und deckten sich mit Blättern zu. Die Stechmücken feierten ein Fest.
Joppie macht eine Entdeckung Als Joppie am nächsten Morgen ein paar Züge des frischen Flußwassers in sich hineinschlürfen wollte, spie er alles wieder aus, wobei er deutlich großen Ekel kundgab. »Was mag er haben?« fragten sich die Jungen. Aber Harmen flog in die Höhe, warf sich platt an Deck des Floßes und steckte die Lippen ins Wasser. »Brackwasser!« Eine ungeheure Freude offenbarte sich in seinem Schrei. Die andern eilten herbei und tranken. Und während sie das schlecht schmeckende Wasser wieder ausspuckten, sahen sie einander freudestrahlend an. »Es ist brack, Jungs! Wir sind dicht am Meer!« Hajo warf bereits das Floß los, und Harmen griff nach einer Stake, um abzustoßen, als Rolf sie anhielt. »Jungens, wir wollen nichts Hals über Kopf tun! Wir müssen erst wissen, was wir wollen.« »Na, das wissen wir doch, Federfuchser!« schnauzte Harmen. »Wir wollen ans Meer.« »Ohne Segel? Ohne Mundvorrat?« »Was, willst du vielleicht mit diesem Floß in See stechen?« »Das will ich; ich bilde mir ein, daß wir uns bei nicht allzu schlechtem Wetter auf dem Meer halten können.« »Potztausend!« stotterte Harmen. Aber das Abenteuer reizte ihn. Rolf war doch nicht so ein Federfuchser, wie er gedacht hatte. »Und wenn ein Sturm kommt?« fragte Padde. »Es kommt kein Sturm«, sagte Harmen aufgeregt. »Wollen wir uns nicht gleich an die Arbeit machen?« fragte Hajo, dessen Augen strahlten. »Wir wollen erst sehen, wie weit wir noch vom Meer entfernt sind«, schlug Rolf vor. »Vielleicht finden wir auch noch einen besseren Liegeplatz für das Floß; wir liegen hier so in Sehweite. Laßt uns vorläufig Zweige darauf werfen!« Das taten sie denn, und als das Floß dem Auge gut verborgen war, hieben sie sich längs des Ufers einen Weg, um an die See zu gelangen. »Wir müssen das Floß noch tüchtig verstärken und erhöhen«, sagte Rolf. »Ein Mast ist leicht zu machen. Aber ein Segel?« »Ich werde schon eins stibitzen!« versprach Harmen. »Da in dem Kampong.« Hajo machte ein bedenkliches Gesicht. »Das ist Stehlen, Harmen.« »Ja, ich stehle auch nicht gern, wenn der Hund nicht an der Kette liegt und der Bauer mit dem Knüppel hinterm Hause lauert«, sagte Harmen. »Aber die Frauen liegen außerhalb des Dorfes, am Wasser, und die Segel hängen lose daneben; ich brauche sie bloß mitzunehmen. — Seht mal, Jungens! Ist das kein schöner Platz für unser Floß?« Die Jungen standen vor einer hübschen Bucht. Ringsherum wuchs Bambus; das traf sich ebenfalls gut. »Sowie es dunkel ist, bringen wir das Floß hierher«, sagte Rolf. »Dieser Teil des Flusses wird wohl zuviel befahren sein, als daß wir es am hellichten Tage wagen könnten.« »Hört doch mal!« sagte Hajo plötzlich. »Ich höre — das Meer!« Da bahnten sich alle wie besessen einen Weg durch das dichte Buschwerk, schrammten sich, daß das Blut ihnen auf der Haut perlte, standen plötzlich keuchend still und starrten ...Da lag weit und blau der Ozean! Tief atmend sogen sie den frischen, salzigen Wind ein. Betäubend wirkte auf sie die süß rauschende Musik der glitzernden, schäumenden Brandung. Lange standen die Jungen still und weideten gerührt ihren Blick an dem großen, vertrauten Freunde. Er würde sie auf seinen starken Armen sicher tragen. Er würde sie nach Bantem und dann wieder nach Holland führen. Sie liefen in die
Brandung hinein und seufzten vor tiefgefühltem Glück. Wie frei fühlten sie sich mit der weiten
See vor sich!
»Wir sind hier in einer Bucht«, stellte Rolf fest. »Soweit man sehen kann, läuft der Strand im
Bogen. Und das kann stimmen; an der Südseite von Sumatra liegen zwei große Buchten.«
»Und wann ungefähr können wir in Bantem sein?« fragte Hajo, indem er Rolf gespannt ansah.
»Wenn wir günstigen Wind haben, vielleicht in einer Woche.« Die Jungen mußten das erst
verarbeiten. In einer Woche! In einer Woche würden sie Bontekoe wieder die Hand drücken?
Daß Bontekoe mit seinen sechzig Mannen schon längst in Bantem angekommen sei, das stand
für sie fest. »Aber dann müssen wir doch wohl für zehn Tage Mundvorrat mitnehmen, Rolf!«
»Wir werden mitnehmen, was wir kriegen können. Sieh dich um! Kokosbäume im Überfluß.
Kommt Jungs, an die Arbeit! Wir haben den ganzen Tag noch vor uns.«
»Ich gehe fischen«, versprach Padde.
»Lege ein paar Setzhaken aus!« riet Harmen. »Dann fängst du auch noch Aale.«
»Ich weiß noch was Besseres«, sagte Padde. »Ich laufe die Löcher am Strand ab; da sitzen sie
drin. Wenn man die Hände von beiden Seiten hineinsteckt, können sie nicht mehr ausreißen.«
»Es wäre aber gar nicht so dumm, auch ein paar Setzhaken auszulegen«, meinte Rolf.
»Natürlich ist das nicht so dumm!« stimmte Harmen ein. »Aber wenn man zu Padde sagt:
Linsensuppe, dann sagt er: Rotkohl. Und sagt man: Rotkohl, dann sagt er: Erbsen mit Speck.«
Hajo war in einen Kokosbaum geklettert und begann Nüsse loszudrehen. »Wir wollen unsere
Vorräte bei der Bucht aufstapeln«, sagte Rolf. »Hajo und ich sorgen für Nüsse, Padde geht
fischen, und du, Harmen, könntest Holz hacken zum Verstärken des Floßes. Dann kommen wir
vorwärts.«
»Gut«, sagte Harmen. »Ich werde dicke Stämme aussuchen. Könnte Hajo nicht noch was
schießen? Dann haben wir noch was anderes als Fisch und Kokosnüsse.«
»Gewiß«, sagte Rolf. »Dann sorge ich allein für die Nüsse.« So trennten sich die Freunde.
Um die Mittagszeit fanden sich die Jungen wieder zusammen. Es lag schon ein tüchtiger Haufen
Nüsse da. Padde hatte acht große und zwölf kleinere Fische gefangen, von denen ein paar
gebraten wurden. Hajo kam mit zwei Tauben zurück.
»Das macht den Kohl nicht fett«, fand Harmen. »Dann kommst du heute nachmittag lieber mit
angeln. Die Fische hängen wir nachher zum Trocknen auf, mit offenen Jäckchen, daß der Wind
hineinbläst.«
Rolf stand auf. »Schneidet ihr noch ein paar Rotangs für die Masttaue?«
»Gewiß, Bootsmann«, sagte Harmen höflich.
Und die Arbeit wurde fortgesetzt. Harmen suchte einen schönen Bambus aus, um ihn als Mast zu
verwenden, hackte eine Gaffel und einen Querbaum für das Segel, das noch gekapert werden
mußte. Dann fing er an, Fische vorzubereiten, schnitt sie auf, klemmte Stöckchen hinein, hängte
sie »mit offenen Jäckchen« auf eine Leine und machte ein langgestrecktes Feuer darunter an, so
daß die Fische sich im Rauch drehten.
Da kam Hajo herbeigestürzt. »Tritt das Feuer aus, schnell!« »Ja Pustekuchen!« sagte Harmen.
»Schnell, Harmen! Da kommt eine Prau an. Gleich sehen sie den Rauch.« Und Hajo trat das
Feuer auseinander, wobei er sich tüchtig die Füße verbrannte.
»Herrje, da sitzt Padde noch und fischt! — Padde!«
»Bst, gerade beißt einer!« flüsterte Padde.
Harmen eilte hinzu, packte den eifrigen Angler beim Kragen und schleifte ihn mit.
Eine Prau kam den Fluß herab. Es war ein kleines Boot mit einem hohen, geflickten Segel
darauf. Vorn saß, mit dem Rücken zum Bug, ein Eingeborener und entwirrte ein Netz. In der
Mitte lag jemand, von dem nur die Beine zu sehen waren, hoch gegen den Mast hinaufgestreckt.
Ein dritter Malaie saß am Steuer und war halb eingenickt. Eintöniger Singsang stieg aus der Prau
auf. »Wenn wir sie nun ans Ufer locken und ihnen inzwischen das Segel abspenstig machten?«
fragte Harmen. »Soll ich mal pfeifen?«
»Harmen!«
»Na, ich werde es lassen!« sagte Harmen. »Es ist ein Drecksegel, das sehe ich von hier aus.«
Hajo seufzte erleichtert auf und äugte dem Schiff nach. »Sie gehen aufs Meer, es sind Fischer.«
»So, ich werde auf derselben Stelle wieder auswerfen«, sagte Padde. »Jammerschade um meinen
Anbeißer!«
»Tu, als ob du nicht weggelaufen wärst!« riet Harmen. Er zündete sein Feuer wieder an, und
Hajo und Padde fischten. Sie hatten nun einen günstigen Ort gefunden, bei einem Einschnitt. Ein
Fisch nach dem andern ließ sich verführen, und es waren mehrere von Fußeslänge dabei, die die
Jungen nur mit Mühe aufs Trockene bekamen.
Als die Dämmerung sank, hatten sie für lange Zeit Wegzehrung: mehr als hundert Kokosnüsse,
dutzendweise fest aneinandergebunden, und an die sechzig gute Fische. Sie hatten auch Behälter
für Trinkwasser, Rotang und Bambusstöße zur Verstärkung des Floßes.
Nun machten die Jungen sich auf, um das Floß in die Bucht zu bringen. Sie nahmen die
Bambusröhren mit, um sie weiter oben mit Wasser zu füllen, und im Gänsemarsch ging es den
Pfad entlang, den sie sich heute morgen gebaut hatten, zum Floß zurück.
Im Nu waren die Zweige abgeräumt, und Harmen und Hajo stießen vom Land. Der Himmel war
heute abend bewölkt, das kam ihnen zustatten. Eine Viertelstunde später fuhren sie in die Bucht
hinein.
»Na«, sagte Harmen, »während ihr nun an dem Floß arbeitet, gehe ich auf mein Segel aus.«
»Wirst du's nicht zu bunt machen?«
»Das kann ich nicht versprechen«, sagte Harmen. »Aber wenn ihr mich wiederseht, habe ich ein
Segel bei mir, oder ich will Federn kriegen und Eier legen!«
»Na, dann schieb ab!« lachte Rolf. Und Harmen schob ab.
Harmen kapert ein Segel »Womit wollen wir anfangen?« fragte Rolf. »Kommt, wir wollen erst noch eine Reihe dicker Bambusstämme unter dem Floß durchstecken! Sie passen gerade gut in die Spalten zwischen den andern. Nachher schnüren wir die ganze Geschichte gut fest.« Das Floß stieg merklich, als noch zehn lange, dicke Bambusstäbe daruntergeschoben wurden. Die Jungen schnürten Rotangseile rundherum und zogen sie fest. Dergleichen hatten sie an Bord der »Nieuw-Hoorn« gelernt. »Das genügt«, meinte Rolf. »Wenn wir Sturm kriegen, werden wir doch herunterschlagen, und das Floß ist stark genug, um einer tüchtigen Welle zu trotzen. Wir wollen mal überlegen, wie wir den Mast auf dem Deck festmachen. Es scheint mir das beste, ihn von unten in eine Schlinge zu zwängen, die wir nach vier Seiten hin befestigen. Aber das können wir besser auf offener See tun. Wir wollen ihn jetzt auf das Floß binden und warten, ob Harmen wirklich Erfolg hat.« »Deswegen bin ich nicht bang«, sagte Hajo. »Aber wenn er das ganze Dorf dabei auf die Fersen kriegt, wundere ich mich auch nicht.« »Jedenfalls könnten wir dann gleich Reißaus nehmen«, meinte Rolf. »Kommst du mit an Land? Padde schläft; hörst du ihn schnarchen?« Harmen schritt den Uferpfad entlang. Er befand sich an der Seite des Dorfes, brauchte also zum Glück nicht hinüberzuschwimmen. Als er am früheren Liegeplatz des Floßes vorbei war, mußte er sich den Weg durch das Baumgewirr bahnen, in der schwarzen Nacht eine gruselige Arbeit, wobei Harmens Blut schneller klopfte. Endlich geriet er auf einen Fußweg, beschritt ihn und sah eine halbe Stunde später zwischen den Bäumen das Dorf. Am Ufer lagen Prauen, wohl zwanzig beieinander, deren Segel um die Masten geschnürt waren. Wie an sie herankommen? Alles war beinahe offenes Gelände: der Kampong lag dicht am Ufer. Harmen sah nach dem Himmel. Der war dunkel; aber zwischen den Wolken waren helle Flecken, durch die der Mond manchmal hindurchschien. Da — nun wurde es gerade hell! Gleich würde die schwere Wolke vorbeiziehen; das wollte Harmen sich zunutze machen. Und als die Wolke, die Harmen auf dem Kieker hatte, sich vor den Mond schob, kroch er schnell wie eine Ratte nach der nächstliegenden Prau. Keuchend blieb er sitzten. So, hier hinter dieser »Schaluppe« war er sicher. Welches Segel sollte er nehmen? Dort drüben lag ein loses; das war bequem zu kapern. Schnell schlich er hin, zog das Segel zu sich heran und untersuchte es. »Hm«, knurrte er, »Berentsz dürfte es nicht in die Finger kriegen! Aber wir müssen uns schon damit behelfen.« Und so wollte er mit seiner Beute den Rückzug antreten. — O weh, da kam so ein Geselle heran! Was wollte der? Er hatte ein Messer im Gürtel stecken, Harmen aber auch. Der Eingeborene schritt, mit einer Laterne in der Hand, geradewegs auf Harmen zu. Aber näher gekommen, bog er ein wenig nach rechts ab, so daß Harmen sitzenbleiben konnte. An dem Fahrzeug, hinter dem er sich verborgen hielt, entlangspähend, sah er, daß der Eingeborene an einer der Prauen herumhantierte und seine Laterne auf den Boden setzte. »Die Laterne gefällt mir nicht schlecht«, bekannte Harmen sich selber. »Die können wir gebrauchen. Weißt du was, Harmen? Du kriechst darauf zu, bläst sie aus und nimmst die Beine in die Hand, mit dem Segel und mit der Laterne natürlich.« — Und während der Eingeborene, der auf den Fischfang gehen zu wollen schien, den Mast aufrichtete und seine Netze nachsah,
schlich Harmen zu der Laterne hin. Ach, da war der dumme Mond wieder! Warten! Daß der auch gerade scheinen mußte, wenn Harmen ... Schob sich denn gar keine Wolke vor? Ah, endlich! Harmen schlich näher, bis er bei der Laterne war, und als der Eingeborene sich abwandte, blies er sie aus. Aber wie der Wind zog er seinen Kopf wieder zurück; der Eingeborene hatte bemerkt, daß die Laterne ausgegangen war, bückte sich und hob sie brummend auf. Dann hörte Harmen, der ganz und gar in den Schatten zurückgekrochen war, Feuer schlagen und sah den Lichtschein der Laterne wieder. Er machte sich bittere Vorwürfe, daß er nicht sogleich mit der Laterne davongerannt sei, bevor der Eingeborene sich wieder umgedreht hatte. »Na, es ist doch zu etwas gut gewesen«, tröstete er sich; »ich weiß jetzt, daß er ein Feuerzeug hat. Das kann Harmen auch gebrauchen. Weißt du was? Ich werfe mein Segel über ihn, dann hab' ich ihn.« Und mit mehr Eile als Vorsicht schlich Harmen nach seinem Segel. Der Eingeborene hob den Kopf, horchte auf, nahm seine Laterne und lief dem Geräusch nach, das er vernommen hatte. Flupp, saß Harmen unter seinem Segel verborgen! Der Eingeborene sah ihn nicht, kehrte wieder zurück, setzte die Laterne auf den Vordersteven seiner Prau und begann das leichte Fahrzeug ins Wasser zu stoßen. »Warte, dabei werde ich dir helfen!« flüsterte Harmen. Er richtete sich auf und schlich, das Segel vor sich her tragend, geräuschlos hinter dem Malaien her, der mit aller Kraft stieß und nichts merkte von dem drohenden Spuk, der in der finsteren Nacht hinter ihm stand. Der Vordersteven der Prau schob sich ins Wasser. Nun ging das Stoßen schneller; der Eingeborene schoß plötzlich vorwärts. In derselben Sekunde warf Harmen sich wie eine große Fledermaus auf seinen Rücken, so daß die Prau vom Ufer gestoßen wurde und der Malaie vornüber ins Wasser schlug, Harmen über ihn hin. »Das mußte ich erreichen!« keuchte Harmen. »Unter Wasser kann er nicht schreien.« Wipp! Harmen schwenkte herum und drückte, selber halb im Wasser sitzend, die Knie kräftig auf die nach vorn gestreckten Arme seines Schlachtopfers. Sein erstes Werk war, dem Mann das Messer aus dem Gürtel zu reißen und es auf den Sand zu werfen. Dann drehte er sich wieder um, zog das Segel wie einen Sack um des Mannes Kopf, zwängte ihm die Hände auf den Rücken, umklammerte sie mit eisernem Griff, preßte die rechte Hand vor den Mund des Überfallenen, um ihn am Schreien zu hindern, und ließ dann seinen Gefangenen aufstehen, wovon der Mann dankbar Gebrauch machte. Dann, am Strand, entstand ein erneutes Ringen, wobei Harmen es nicht leicht hatte, da er den Mann nicht nur im Zaum halten, sondern ihn obendrein amSchreien hindern mußte. Es sah einen Augenblick böse für Harmen aus; der Eingeborene biß ihn wie ein rasendes Tier in die Hand, so daß er selbst hätte schreien mögen vor Schmerz. Wie, sollte ein Janmaat sich von solch einem Nigger . . .? In sinnloser Wut drückte Harmen den Malaien hintenüber, befreite seine Hand, indem er dem Mann mit der andern Faust ein paar tüchtige Schläge versetzte, und stopfte ihm einen Knebel aus Segeltuch in den Mund. »So, da liegst du!« sagte Harmen bitter und leckte sich die blutende Hand. »Beißen, was? Ich hätte dich unter Wasser halten sollen, dann hättest du nicht den Mund so voll genommen.« Harmen zog sein Schlachtopfer nach einer Prau, band ihm mit einem Tau, das im Boot lag, Handgelenke und Knöchel fest, so daß der Eingeborene sich nicht von dem Knebel befreien konnte. Dann rollte er ihn ganz in den Schatten einer Prau und hob des Mannes Messer auf. »Sie haben nichts gemerkt«, stellte Harmen fest. »Nun wünschte ich bloß, der hätte sein Boot nicht so weit weggestoßen. Warte, da liegt es ja!« Die Prau war ein Stück weiter wieder ans Ufer gestoßen. Der Malaie rang noch um seine Freiheit und versuchte zu schreien.
»Still! Ich weiß, was du sagen willst«, tröstete Harmen, schlich auf Händen und Füßen nach der
Prau mit der Laterne auf dem Steven, kroch hinein, stieß vom Ufer und warf das Segel aus. »Na,
nun fahre ich wie ein Radscha!« Harmen kicherte und blickte mit Wohlgefallen nach dem
fröhlichen Lichtschein der Laterne da vorn. »Die werden Augen machen!«
Eine Brise blähte das Segel, und leicht und zierlich glitt das Fahrzeug, von Harmens kundiger
Hand gesteuert, über das Wasser.
Eine halbe Stunde später schwenkte Harmen in die Bucht hinein, legte seine Prau fest und sprang
ans Land. »Aufstehen, Jungens!« »Harmen, verfolgen sie dich?«
»Nicht daß ich wüßte! Aber wir tun doch gut, uns aus dem Staub zu machen. Ich habe eine ganze
Prau erwischt.«
»Eine Prau? Wäre es nicht besser, mit der Prau in See zu gehen?« fragte Padde. »Ja,
Pustekuchen!« sagte Harmen verächtlich. »Eine Welle, und die ganze Geschichte schlägt um.«
»Ja, ich glaube auch, daß das Floß wenigstens ebenso sicher ist«, meinte Rolf. »Und wir wollen
nicht mehr stehlen als nötig. Kommt mit, Jungens, an die Arbeit!«
Das Segel wurde gelöst und auf das Floß geworfen. Trinkwasser war schon an Bord. Die
Kokosnüsse, die Waffen, das Fischgerät und die halbgetrockneten Fische folgten. Mit vereinten
Kräften stießen die Jungen vom Ufer. Auf einmal hielt Harmen inne und blickte erschrocken
nach dem Ufer. »Meine Setzhaken, Jungens!« stammelte er. Und mit aller Gewalt arbeitete er
das Floß wieder zurück. »Beeile dich aber.«
Dieser Rat war überflüssig. Harmen eilte mit großen Sprüngen nach der Stelle, wo die Setzhaken
ausgelegt waren. »Ich habe schon einen!« schrie er. »Herrjemine, so ein fettes Biest! Nun seht
bloß, wie er sich schlängelt! Und hier sitzt auch einer dran. Und an meinem dritten Haken —
wieder einer! Jungens, wir bleiben hier noch bis morgen früh! Eher suchen sie uns doch nicht.
Ich bin versessen auf Aal.«
»Kommst du oder kommst du nicht?«
»Nein, ich komme nicht!«
»Stoß ab, Hajo!« befahl Rolf. Und er selbst gab dem Floß einen tüchtigen Stoß.
»Warte!« schrie Harmen, rannte herbei und landete mit einem gewaltigen Sprunan Bord.
Und er fuhr Rolf an: »Du weißt, daß du in Bantem noch eine Tracht Prügel von mir guthast,
nicht wahr?« »Wen bringst du mit?« fragte Rolf.
»Mich selbst!« schrie Harmen. Zornig packte er seinen Staken und half das Floß nach der
Flußmitte stoßen.
Der Mond brach wieder durch. Sanft glitt das Floß stromab. Und so kam es bald dahin, wo die
Bäume am Ufer aufhörten und zu beiden Seiten der Meeresstrand glänzte.
»Jungs, jetzt durch die Brandung! Padde, setze dich aufs Segel und halt Joppie fest! Harmen,
sorge du für die Wasserbehälter und das übrige! Dann können Hajo und ich ...«
Das Floß wurde hoch aufgehoben, klatschte nieder, sich in Schaum tauchend. Ein anderer
Seeteufel setzte seinen Rücken darunter. Die Bambusstäbe knackten, das Wasser flog den
Jungen über die Köpfe, aber sie hielten sich aufrecht. Rolf und Hajo stießen aus Leibeskräften
von dem seichten Boden ab, und plötzlich schoß das Floß geschmeidig aus der Brandung heraus
und lag still auf der ruhigen Dünung.
»Ein guter Kasten!« lobte Harmen. »Wollen wir ihn taufen?« »Er ist bereits getauft«, sagte Rolf
lachend.
»Aber einen Namen muß er doch haben«, meinte Hajo. »>Dolimah< ist ein schöner Name.«
Die Jungen nickten schweigend. »Dolimah!« Sie sahen sich um nach dem Lande, das sie nun verließen. Der Strand, die Wälder, die Berge in der Ferne, alles bidete sich im Mondenlicht. Und nun, wo die Jungen den grünen Wäldern, den Bergen Lebewohl sagten, fühlten sie, daß sie damit auch für immer Dolimah verließen, und es war ihnen, als würde ein Stück ihrer selbst abgerissen. Im Geiste sahen sie Dolimah mit Saleiman ihr Dörfchen suchen, hörten Saleiman geheimnisvoll auf seiner Zauberflöte aus Bambus spielen, fühlten Dolimahs schweigende, angstvolle Sorge um das, was daheim ihrer wartete. Leise schaukelnd auf den stillen Wogen schwamm die »Dolimah« dahin in der silbernen Unendlichkeit aus Mond, Sternen, Wolken, Meer und Himmel.
Auf offenem Meer »Nun, Jungs, das Segel aufgerichtet!« rief Rolf. Mit Hajo zusammen begann
er an allen vier Seiten des Floßes ein Rotangseil zu befestigen.
»Jetzt geht mir ein Licht auf«, sagte Harmen. »Nun noch in den Mast unten ein paar Löcher und
dann den Rotang durchziehen? Ich werde die Löcher machen!«
»Paß auf, daß du sie nicht zu groß machst!«
»Das kannst du Harmen überlassen«, knurrte dieser. »Hier, Padde, paß du auf die Aale auf und
laß sie nicht wegglibbern! Sonst dreh ich dir das Genick um.« Harmen reichte Padde seine drei
Hätscheltiere, die noch an den Schnüren der Setzhaken zusammengebunden waren, und begann
den Mast vorzubereiten.
»Ich wünschte«, sagte er, »wir hätten einen Flaschenzug, dann könnten wir reffen und hissen. —
Halt, ich weiß was! Ich mache oben in den Mast noch ein Loch, dann ziehen wir da ein
Rotangseil durch, und an den Rotang knüpfen wir die Gaffel. Nicht wahr?«
»Wenn du nun dafür sorgst, daß die Gaffel sich frei drehen kann.«
»Das begreift ein Kind«, sagte Harmen.
So wurde der Mast ausgerichtet. Das »laufende Tauwerk« lief wie geschmiert, wenn man etwas
kräftiger daran zog, und der Mast stand wirklich ziemlich fest.
»Na, wollen wir die Laterne nun auch noch hissen?« fragte Harmen. »Um eine Prau mit
Eingeborenen heranzulocken?«
»Ich begreife nicht, warum die Malaien es alle auf uns abgesehen haben«, seufzte Harmen. Und
gähnend fügte er hinzu: »Ich bin hundemüde!«
»Dann gehst du schlafen«, riet Rolf.
»Muß denn nicht einer aufbleiben?«
»Das werde ich tun.«
»Warum du?«
»Weil ihr nichts von den Sternen wißt.«
»Aber du vielleicht!«
»Allerdings.«
»Welchen Kurs hältst du?« brummte Harmen.
»Nordost.«
»Warum Nordost?«
»Weil da Bantem liegt.«
»Woher weißt du das?«
»Leg dich doch schlafen!« sagte Rolf. »Du langweilst mich.«
Harmen warf sich hin und schnarchte.
»Wollen wir die Wasserbehälter nicht noch gegen den Mast binden?« fragte Hajo.
Rolf sprang auf, und gemeinsam banden sie sie fest. Der Querbaum lag zum Glück so hoch, daß
er sich frei drehen konnte. »So«, sagte Rolf, »geht ihr jetzt schlafen!«
»Weckst du mich, wenn es hell wird?« fragte Hajo. »Dann übernehme ich das Steuer.«
»Ich werde es tun.« Und während die andern sich auf das Deck legten, blieb Rolf schweigend
sitzen und wachte, mit der Schote des Segels in der einen Hand und dem Steuer in der andern,
das dank seiner Länge besser zu gebrauchen war, als man denken sollte. Der Junge sorgte dafür,
daß er das Kreuz des Südens gerade an Steuerbord hielt. Es wehte Landwind, gerade genug, um
das Segel zu blähen.
Die andern sahen einander überrascht an, als sie am darauffolgenden Morgen die Augen
aufschlugen und ringsherum nichts als Meer sahen, mit Ausnahme der blauen Gebirgsketten von
Sumatra, nun schon weit im Westen. Still genießend ließen sie sich den frischen Seewind um die
Köpfe wehen.
»Bist du müde, Rolf?«
»Ja, ich möchte gern ein wenig schlafen. Halte Ost oder Nordost! Es kommt
nicht so genau darauf an.«
»Willst du nicht erst noch was futtern, bevor du dich hinlegst und pennst?« fragte Harmen, der
seine Fehde vergaß, nachdem Rolf die ganze Nacht für ihn gewacht hatte.
»Ich habe schon ein Fischchen gegessen«, sagte Rolf. »Ich geh' jetzt lieber
schlafen.«
Er streckte sich auf das Deck aus und schlief beinahe augenblicklich ein.
»Ich sorge für die Futterei!« sagte Harmen, hackte ein paar Kokosnüsse auf und reichte die
Stücke herum.
»So, wenn du auf deiner Seite eine Stange in das Deck zwängst, Padde, tue ich es auf meiner,
und dann hängen wir die Fische wieder hübsch zum Trocknen auf.«
So geschah es. Eine Viertelstunde später hing auf dem »Vorschiff« der ganze Fischvorrat
schaukelnd im Wind. »Jungens, das wird warm heute!« meinte Harmen. »Wir setzen uns
nachher auf das Achterdeck, da haben wir den Schatten vom Segel.«
»Ja, ich steuere vorläufig genau in die Sonne«, sagte Hajo lachend.
»Steuere ruhig aufs Geratewohl!« sagte Harmen. »Wir werden schon hinkommen. Ob noch
etwas Holz für ein Feuer da ist? An alles haben wir gedacht, bloß nicht an Holz fürs Feuer. Halt,
ich kann auch Kokosschalen nehmen!«
Eine Viertelstunde später flammte, dank dem Feuerzeug, ein gutes Feuer auf.
»Na, wo sind meine Aale jetzt?« »Im Wasser«, sagte Padde. Harmen erbleichte.
»Festgebunden«, klärte Padde ihn hastig auf. »Sie sitzen noch an den Häkchen vorn am Floß.«
Harmen tat einen Sprung und holte mit einem Seufzer die Aale herauf. »Die hätten zwanzigmal
weggeschnappt werden können. Warum hast du sie nicht im Trinkwasser aufbewahrt?«
»Mir zu unappetitlich.« Padde rümpfte die Nase.
Harmen war grenzenlos erstaunt. »Was, du elendiger Bauchredner, aus demselben Wasser habe
ich sie doch gefangen!« Und Harmen warf zwei von den Aalen in die Trinkwasserbehälter. »So,
dieser hier soll in unsere Mägen übersiedeln! Halte du ihn fest, Padde, dann werde ich ihn
abziehen. Sieh bloß, wie der sich windet! Ich kenne kein Tier, das sich so ekelt vor dem
Totgehen wie ein Aal. Es ist ein fetter, Jungs!«
Der Aal schmeckte herrlich. Ob die eigentlich selbst wissen, daß sie so lecker sind?« fragte
Harmen, während er sich schmatzend die Finger leckte.
Die Jungen setzten sich im hinteren Teil des Floßes nieder, in den Schatten des Segels, und
blickten über das tiefblaue Wasser, auf dem kein Schaumkopf leuchtete. »Wir sitzen in einer
Seitenströmung«, sagte Harmen. »Das fühle ich am Schaukeln.«
»Das wird die Strömung der Sundastraße sein.«
»Ja Pustekuchen!« entgegnete Harmen.
»Rolf hatte es doch gesagt«, verteidigte Hajo, »daß wir in die Sundastraße kommen würden.« »Ach so!« sagte Harmen. »Wenn Rolf morgen sagt: Harmen kriegt Schuppen,dann trifft es auch ein. Er ist noch nie in diesem Chinesenland gewesen, und doch will er alles wissen. Aber auf Ältere hören«, Harmen schlug sich auf die Brust, »die in Indien gewesen sind — keine Spur! Ich will ein Araber werden, wenn dies die Sundastraße ist!« »Na, was ist es sonst?« »Fall mir nicht auf die Nerven!« sagte Harmen. »Seht mal da, Jungs, eine Insel!« Hajo, Padde und Joppie sprangen auf. Am östlichen Gesichtskreis tauchten verschwommene Umrisse auf. »Was soll ich tun, Harmen? Darauf zuhalten?« »Natürlich! Sie liegt übrigens auf dem Kurs.« Schweigend sahen die Jungen zu, wie die Umrisse allmählich weniger undeutlich wurden und von Blau in Grün übergingen. Die Augen taten ihnen schließlich weh vom Starren über das glitzernde Wasser. Gegen Mittag waren sie so nahe herangekommen, daß sie deutlich die Bäume unterscheiden konnten. Die Jungen stellten fest, daß das Floß doch noch ziemlich viel Fahrt machte. Nun, alles war auch günstig: der Wind saß flott im Segel. Hin und wieder quietschte der Mast, und die Rotangseile, die nach dem Achtersteven liefen, spannten sich straff wie Geigensaiten. »Wir wollen landen«, sagte Harmen. »Ich brauche Holz fürs Feuer.« »Wenn wir landen, kommen wir in Splittern auf den Felsen an«, weissagte Hajo. Harmen wollte widersprechen. Aber er war Seemann genug, um einzusehen, daß Hajo recht hatte. »Gut, du sollst deinen Willen haben!« knurrte er darum. »Aber wenn du denkst, daß ich meine Aale roh esse, irrst du dich! Dann hacke ich noch lieber ein Stück vom Floß ab.« Er spähte in die Bambusröhren. »Sie sind noch da, meine Älekens. Und so munter! — Zurück du da!« Harmen gab einem Aal einen Klaps auf den Kopf, machte aus seinen Händen einen Becher und trank. »Lauwarm! — Seht mal die schmutzigen Wolken da!« Hajo sah sich um. Im Westen tauchten hinter den Bergen schmutzigschwarze Wolken auf, ungebetene Gäste, die mürrisch und unverfroren den blauen Festsaal droben betraten. »Ich werde mal niesen«, sagte Harmen, der mit feuchten Augen und unglaublich dummem Gesicht nach oben blickte. »Hatschi! Dann erschrecken sie vielleicht, die Wolken.« Aber die Wolken erschraken nicht. Über den ganzen Westen hin reckten sie ihre häßlichen Köpfe, und hinter den Köpfen her wanden sich aschgraue, mißgestaltete Leiber. Das Inselchen, an dem die Jungen vorbeifuhren, badete noch in Sonnenüppigkeit. Es war ganz klein, konnte wohl in einer halben Stunde umgangen werden. Hie und da fielen die grauen, moosgefleckten Felsen steil in das noch blaue Wasser, das weiß aufschäumte. An den Felsen entlang sprangen kleine Affen. Als die Jungen an der Insel vorbei waren und sich noch einmal nach ihr umsahen, stand sie wie ein großer, bunter Brocken Erz funkelnd gegen den drohendschwarzen Himmel dort im Westen, und das Meer hinter dem Eiland schien auch schon mit Tinte getränkt; es erschienen weiße Schaumköpfe darauf, erstaunte Meerungeheuer, die ihre häßlichen Häupter mit den krausen Haaren aus dem Wasser herausstreckten, um zu sehen, wo die plötzliche Finsternis herkomme. Und siehe, ein schwarzer Schatten glitt über das Eiland, raubte ihm seine bunte Pracht, und bevor die Jungen es recht wußten, saßen sie selbst auch schon im Dunkeln. Dort im Osten erlosch das grüne Funkeln. Das sonnige Inselchen lag nun als eine düstere, von schauerlichen Sagen umsponnene Räuberfeste im silbernen Kranz der Brandung.
Horch, da kam der Wind! Er zerrte am Segel, daß der Mast davon quietschte und das Floß einen Ruck bekam. Rolf erwachte und schlug erstaunt die Augen auf. »Dreckwetter«, klärte Harmen ihn auf. »Und das Inselchen da?« »Können wir nicht mehr erreichen. Wir hätten vorhin landen sollen, aber Hajo ißt die Aale lieber roh als geröstet.« »Da war zuviel Brandung«, erklärte Hajo. Ein neuer Windstoß riß am Mast, und von hinten schlug das Wasser übers Deck. Nun klatschte es unter dem Floß. »Wollen wir das Segel nicht herunterholen?« fragte Rolf. »Du bist wohl...?« fragte Harmen. »Es fährt sich grade so gut. Sieh mal, was wir für ein Kielwasser machen!« Und Harmen rieb sich vergnügt die Hände. »Verflixt und zugenäht, was bist du grün, Padde. Brauchst du wieder den seekrankfreien Fleck?« In diesem Augenblick, noch bevor Padde »Rutsch mir!« hatte erwidern können, riß eine Windsbraut gewaltig am Segel. Die Unterschote glitt Hajo aus den Fingern, so daß der Querbaum mit voller Wucht nach vorne ausholte und ein paarmal hin und her wrikte, dann sprang ein linkes Hintertau los, der Mast schlug nach rechts über und blieb schräg hängen. »Meine Aale!« schrie Harmen entsetzt. Die schlauen Tiere hatten sich das Schrägfallen des Mastes zunutze gemacht; sie waren aus den Röhren geglitten, die sich mitgeneigt hatten. Harmen schoß darauf zu, aber der klappernde Baum des Segels schlug ihm gegen die Brust, so daß er auf seinem Rücken landete. Und als er auf gekrabbelt war, sah er noch gerade, wie die beiden Aale, sich über das Deck schlangelnd, im Wasser ihre Zuflucht suchten — und fanden. Die Tränen schossen Harmen in die Augen. »Da gehen sie hin!« jammerte er. Und sich wütend umkehrend: »Wer hat den hintersten Rotang so erbärmlich schlecht festgeknotet?« »Ich habe einen Altweiberknoten darauf gemacht«, stammelte Padde. »Du bist selber ein altes Weib!« raste Harmen. »Was tust du eigentlich auf einem Schiff?« »Wer sagt dir, daß ich auf ein Schiff wollte? Ich sollte zu meinem Oheim in die Bierbrauerei.« »Könnte ich dich doch dahin boxen!« schrie Harmen, noch mit Zorneszittern in der Stimme, während Padde wehmütig aufseufzte: »Da weiß man, was man hat...« Rolf war aufgesprungen und band das Segel auf. Hajo lief nach dem Vorderdeck, wo der losgerissene Rotang durch die Luft wirbelte, und zog den Mast wieder gerade. »So, dieser Knoten löst sich nicht mehr!« Und er zog auch die anderen Knoten fest an. Das Floß glitt einen Augenblick so schräg an einem Wellenhügel hinauf, daß sich alle an etwas festklammerten, um nicht abzugleiten. Harmen band den armen Joppie, der auf seinen mageren Pfoten bibberte und mit angsterfüllten Augen umhersah, an den Mast. »Und doch sitze ich lieber auf diesem Floß als mit siebzig andern in einer Jolle«, sagte Harmen. »Wenn man sich gut festhält...« Plauz, da warf Harmen sich aufs Deck mit weitgespreizten Beinen und den Händen um die Deckpfeiler! Padde rollte gegen ihn an; Hajo und Rolf schlugen hin und hielten sich am Mast. Dann kam das Floß wieder einigermaßen in ebene Lage, und Harmen konnte seinen Satz vollenden: »... kann einem nichts geschehen.« Alle vier trieften. Als sie wieder aufstanden, fing es an zu regnen. Ein dichter Schleier strich über das Eiland hinter ihnen und entzog es den Blicken; von allen Seiten kamen Regenschleier und falteten sich über dem Floß zusammen. Der Regen prasselte auf das Deck, und so schwer drückte er auf die Meeresoberfläche, daß das Wasser sofort viel ruhiger wurde. Der Wind rang noch mit dem Regen, sank dann keuchend, abgemattet nieder.
Die Jungen saßen traurig beieinander. »Wie sollen wir jetzt Kurs halten?« fragte Harmen
grollend, weil sein schönes Feuer schon wieder aus war. »Man sieht keine Sonne, keine Sterne
...«
»Dann halten wir Kurs nach dem Wind«, schlug Hajo vor. »Den Wind links hinten halten!«
»Den Wind, der nicht da ist«, brummte Harmen. »Das wird ein schöner Kurs werden!«
Hajo und Rolf setzten das Segel bei. Es blieb schlaff hängen, in Falten und Fältchen.
»Wollen wir was futtern?« fragte Harmen. »Gib her!« sagte Padde.
»Was wollen Euer Gnaden haben?« erkundigte sich Harmen. »Gebratenes Huhn? Warme
ölbollen?«
An einem Fisch kauend, der noch vom Meerwasser troff, saßen die Jungen in trübem Schweigen
beieinander auf dem steuerlos treibenden Floß. Sachte senkte sich die Dämmerung herab.
In der Nacht zerrte der Wind plötzlich wieder am Segel. Rolf und Harmen wurden dadurch
wach.
Es regnte noch ein wenig, in Huschen. Auch der Wind war nur ein Husch gewesen. Droben,
hoch in der Luft, schien er freies Spiel zu haben: er ritt auf den schwarzen Wolken und peitschte
sie zu wildem Galopp. Es glänzten einige Sterne hindurch.
»Laßt mich heute nacht einmal Kurs halten!« sagte Harmen. »Ich nehme die Wolken als
Peilpunkt.« Er stand träge auf, reckte seine erstarrten Glieder und setzte sich fröstelnd ans
Steuer.
»Es weht kein Wind«, sagte Rolf. »Das war nur ein Luftzug soeben.« »Ich werde mal pfeifen,
dann kommt der Wind«, versicherte Harmen. »Leg du dich nur schlafen!«
Die See war noch aufgewühlt und schwärzlich, aber das Floß dünte regelmäßig, in breitem
Schwung, ohne Stöße. Allgemach kam der Wind herangeschlichen, legte sich ins Segel und stieß
es vor sich her durch die Wogen, die weiße, schäumende Wunden aufwiesen. Das Wasser floß
übers Deck bis zu dem Platz, wo die Jungen schliefen. Sie merkten es nicht. Aber Harmen nickte
zufrieden mit dem Kopf. »Es sitzt wieder Zug drin. Ich werde das Segel noch ein bißchen
straffen, daß ich keinen Hauch von dem Wind verliere.«
So schwoll der Wind langsam, aber sicher an, und als der Morgen graute, stieß der Wind mit
gekrümmten Rücken in das Segel. Harmen hing mit den Armen über dem Steuer und schnarchte
wie ein Siebenschläfer. Aber Kurs hielt er, das konnte Harmen noch im Schlaf und ohne Sterne.
Java! In wilder Jagd zog das Gewölk den ganzen Tag. Erst gegen Abend wurde es träger und schien sich schließlich nur noch mit Mühe weiterzuschleppen. Hie und da erschienen große Flecken Blau mit hell funkelnden Sternen. Der Wind schlug nach Süden um; nun blieben die Wolken betreten stehen, stießen aufeinander und flohen schließlich wie eine Herde aufgejagter Schafe gen Norden. Nach einer Weile war weit und breit nicht eine mehr zu finden, und der Himmel stand blankgescheuert wie nach dem Großreinemachen. »Morgen trockenes Wetter«, prophezeite Harmen und rieb sich die Fäuste. »Ich hätte lieber bedeckten Himmel«, sagte Rolf. »Ich aber nicht«, versicherte Harmen. »Warte nur, morgen haben wir wieder ein Feuer!« »Es wird auch ohne Feuer warm genug werden«, meinte Rolf. »Wann können wir Java ungefähr in Sicht kriegen?« fragte Hajo. »Vielleicht haben wir die Hälfte hinter uns«, sagte Rolf. »Wir sind heute ein gutes Stück vorwärts gekommen.« Gespannt auf den morgigen Tag, begaben die Jungen sich zur Ruhe. Der Morgen war berauschend. Es lag ein blaugrauer Nebel über dem Wasser, und in dem Grau stand die Sonne wie eine rote Papierlaterne. Erst später wurde sie Gold; nun lief übers Wasser ein glühender Pfad bis an den Horizont, und die feuchten Nebel spiegelten das Sonnenlicht wider, so daß die Luft sich mit goldener Dämmerung füllte. Harmen konnte der Verlockung nicht widerstehen, er tauchte in das frische Wasser. »Ich kann kaum Schritt halten«, pustete er, als er atemlos wieder an Deck kroch. »Schwimme lieber nicht mehr, Harmen!« sagte Rolf. »Du weißt nicht, ob es hier nicht vielleicht Haie gibt.« »Denen schmecke ich nicht«, versicherte Harmen. »Denen schmecken bloß Landratten wie Padde.« Der wollte gerade nach dem Vordeck übersiedeln, als er plötzlich einen Schrei ausstieß und ins Wasser starrte. Dicht unter der Oberfläche schoß der weiße Bauch eines Haifisches vorbei. Deutlich sah Padde das dreieckige Maul. Die andern waren aufgesprungen. Harmen griff nach einem der Speere und stellte sich am Rand des Floßes auf. »Wenn ich ihm den Speer in seinen Wanst pieken kann, werde ich es nicht unterlassen.« Gespannt warteten die Jungen. Alle Scherze waren verflogen; die Wut auf den tückischen Feind hielt sie im Bann. Da tauchte das Ungetüm wieder unter dem. Floß hervor. Ein Zittern des Abscheus fuhr den Jungen durch die Glieder. Harmen holte mit dem Speer weit nach hinten aus und schleuderte die Waffe mit aller Kraft nach dem Hai. Die Jungen sahen, wie der Speer in dessen Leibeindrang. Gleichzeitig wälzte der Hai sich herum, der gekerbte Schwanz tauchte aus den Wellen auf und klappte wieder herunter, daß das Wasser den Jungen um die Ohren spritzte. Dann tauchte das Tier in die Tiefe. »Den hat er weg!« keuchte Harmen. Die Jungen spähten noch einige Zeit aus, aber es tauchte nichts mehr auf. »Kommt, wir wollen wieder hinter das Segel gehen!« sagte Hajo. »Es ist hier in der Sonne nicht auszuhalten.« »Nachher wird das Segel nicht mehr viel Schatten geben«, meinte Rolf. »Du — sieh doch mal in dieser Richtung! Ist das nicht...?« »Land?« rief Harmen aus. »Wieder ein Inselchen!«
»Schon möglich«, sagte Rolf. »Die Sundastraße liegt voller Inseln. Da landen wir, Jungs. Wir
haben beinahe kein Trinkwasser mehr an Bord.«
Wenn sie nun bloß landen konnten! Darum handelt es sich. Vorläufig mußten sie noch ein paar
Stunden warten, bevor sie so weit waren, und allmählich breitete sich glühende Hitze über das
Wasser. Die Jungen rückten immer dichter an den Mast, je mehr der Schatten des Segels
einschrumpfte, Joppie jedesmal mit. Der Reihe nach nahmen sie den Platz am Steuer ein.
Der Wind wehte stetig von Süden her; er blies nun glühende, vor der Hitze zitternde Luft vor
sich her, die die Kehlen sengte.
Harmen hielt es am Steuer nicht mehr aus, und Hajo löste ihn ab. Der Kochsmaat kroch in den
Schatten und hackte eine junge Kokosnuß auf. Mit gieriger Hast ließ er die Flüssigkeit durch die
Kehle glucksen.
Am Nachmittag, nachdem sie abwechselnd am Steuer gestanden hatten, kamen die Jungen an die
Insel. Vorläufig war von Landen keine Rede; eine hohe Felswand fiel steil in die Brandung
nieder. Die Jungen beschlossen, rechtsum zu schwenken, da schien die Küste flacher zu werden.
Hajo warf das Steuer herum und zog die Schote an. Gottlob, auf dieser Seite nahm die Bergwand
schnell ab! Es folgte eine schmale Strandfläche mit Waldrand und plötzlich eine schmale Bucht,
vor der fast keine Brandung stand, so daß sie ruhig hineinfahren konnten.
Aber nun, bei Annäherung an die Bucht, was schob sich da, fern am Horizont, verschwommen
und grau hinter den Bäumen hervor?
»Java!« rief Harmen. »Woher weißt du das?«
»Soll ich nicht sehen?« Freudiges Schluchzen zitterte durch Harmens Stimme. »Die beiden
Berge, mit dem Loch links davon, das ist Java! Ich habe es doch auf meiner vorigen Reise
gesehen!«
»Was machen wir nun?« fragte Hajo, nach Atem schnappend. Harmen sprang auf das Steuer zu,
er wollte es herumreißen. Rolf kam ihm zuvor. »Harmen, wir müssen erst in die Bucht!«
»Läßt du das Steuer los!« schrie Harmen.
»Hör doch zu!« rief Rolf zornig aus. »Wenn das auch Java ist, so sind wir doch noch nicht bei
den andern. Wir müssen morgen was zu trinken haben. Alle jungen Nüsse sind uns
ausgegangen.«
»Aber morgen früh sind wir doch an der andern Küste!« schrie Harmen.
»Rolf hat recht, Harmen«, sagte Hajo. »Hier können wir landen; drüben aber besteht die Küste
vielleicht aus steilen Felsen.«
»Ja, laß uns erst an Land gehen, Harmen!« unterstützte Padde seinen Freund.
»Wenn Joppie nun auch noch zu jaulen anfängt, sind wir fertig«, schimpfte Harmen.
Und siehe, bei Nennung seines Namens sperrte Joppie seine liebliche Schnauze auf und tat laut
seinen Beifall kund!
Inzwischen war das Floß, nachdem es kurze Zeit auf und nieder getanzt hatte, in die Bucht
hineingeglitten. Sie erwies sich als Brutplatz für Möwen und war von Kokosbäumen umsäumt.
Die Jungen zogen das Floß halb auf den Strand, wobei die Möwen ihnen kreischend um die
Ohren flogen.
»Kommt, Jungs«, sagte Rolf, »wir wollen schnell ein paar Nüsse pflücken!«
Harmen kletterte auf einen Kokosbaum hinauf. »Riesennüsse, Jungens! Halte mal deinen Kopf
drunter, Padde!« — Und als Padde keine Lust dazu zeigte: »Joppie! Joppie! Komm mal zu
Harmen!« Winselnd vor freudvoller Aufregung sprang Joppie um den Stamm. Aber als Harmen
mit Nüssen zu kegeln anfing, trabte Joppie davon, mit eingeklemmtem Schwanz.
Hajo und Rolf saßen schon in einem andern Baum, und Padde rollte die gepflückten Nüsse über den Strand nach dem Floß. Die Jungen pflückten nichts als junge Nüsse; alte hatten sie noch hinreichend. Es war ihnen um die Milch zu tun. Als sie genug zu haben meinten, wurde Brennholz gesammelt. Rolf hatte auch eine Anzahl Palmblätter abgehackt und schleppte sie nach dem Floß. »Daraus flechten wir ein Sonnenzelt, Jungens.« »So, nun können wir doch wohl gehen?« meinte Harmen. Und so stachen sie wieder in See, von einem dichten Schwarm Möwen verfolgt, der erst zurückkehrte, als die Dämmerung hereinbrach. Der Abend war außerordentlich schön. Als die Sonne blutrot im Meer versunken war, kamen aus dem Osten die Nachtnebel herangeschwebt. »Gleich sieht man nix mehr davon«, murrte Harmen. »Dann müssen wir uns wieder nach den Sternen richten.« Aber das war nicht nötig; als die Sterne am Himmel erschienen und zu glitzern begannen, flüchteten die Nebel wieder, und dunkel lagen die Berge am östlichen Gesichtskreis. Java! Java!
Das erste Wiedersehen Wer sprang wohl am nächsten Morgen am höchsten vor Vergnügen? Da, ganz in der Nähe lag die Küste, Javas lachende, sonnige Küste! Die Jungen betrachteten sie wie verzaubert. Dies war nun Java, wovon sie so viel gehört hatten. Auf diesen großen, schönen Inseln wohnten die Fürsten, die unter goldenen Sonnenschirmen wandelten in ihren Lusthöfen, durch breite Alleen voll Blumenduftes. Ihre Gewänder waren schwer von Edelsteinen; sie trugen flammende Dolche mit kostbaren Griffen und ... Was hatte Vater Langjacke ihnen während der Reise nicht noch alles erzählt! Die Sonne versteckte sich noch hinter den Bergen, und die Felsen, die ins Meer abfielen, das Meer selber und die grünen Wälder hinter den Felsen dämmerten in einem feinen, blaugrauen Dunst. Wie still war es auf dem Wasser, wie milde war die Luft! Das süße Rauschen gegen die Felsen klang so festlich. Sieh, da lugte die Sonne über das Gebirge! Mit einem Male schossen allerleiwunderliche, goldgekerbte Formen in die Felsen des Gestades, und ein blauer Schatten fiel aufs Meer nieder. Nun spähte die Sonne neugierig über den Abhang. Einsame Bäumchen richteten sich hochmütig auf, stolz, daß sie einen Schatten besaßen, zehnmal länger als sie selbst. »Gehen wir nicht an Land?« fragte Padde. Rolf schüttelte den Kopf. »Wir fahren die Küste entlang, bis wir auf holländische Schiffe stoßen.« Rolf und Hajo begannen an ihrem Sonnenzelt, indem sie zuerst ein dünnes Gestell aus Bambus machten. »Laßt ihr mir ein paar Blätter für ein neues Röckchen übrig?« fragte Harmen. »Mit dem, das ich anhabe, traue ich mich keinem Menschen mehr unter die Augen zu kommen, — Du könntest auch was Neues gebrauchen, Padde.« »Ja, es ist eine Schande, wie ich herumlaufe«, gab Padde zu. Gleich darauf saßen die Jungen schweigend beieinander und arbeiteten. Harmen hatte das Steuerruder in den Arm geklemmt, flocht eifrig dabei und hielt doch Kurs. So folgten die Jungen in ziemlich großer Entfernung der Küste, die nach Osten abbog. »Eine Prau!« rief Hajo plötzlich. »Da kommt eine Prau an!« Beim Umschiffen eines im Meer vorspringenden Felsens war ein Segel aufgetaucht. Es war eine große Prau, und es saßen fünf Eingeborene darin. »Sie kommen geradewegs auf uns zu«, sagte Rolf. »Laß sie nur kommen!« sagte Harmen. »Wir sind auch zu fünfen. Nicht wahr, Joppie?« »Wau!« bestätigte Joppie aufgeregt. »Vielleicht ist es nur Neugierde«, meinte Rolf. »Sind wir solche Sehenswürdigkeiten?« fragte Harmen. »Hier, Hajo, nimm einen Speer! Und du auch, Rolf!« »Und ich?« fragte Padde bebend, mit heiserer Stimme. »Du tust einfach, als ob du nicht dazugehörst«, rief Harmen. Aufgeregt warteten die Jungen die Prau ab, bereit, ihr Leben möglichst teuer zu verkaufen. Aber als das Fahrzeug sich näherte und die Jungen die verwunderten, arglosen Gesichtszüge der Eingeborenen sahen, ließen sie die Waffen sinken. »Tabeh!« rief Harmen.
Ein Gemurmel stieg aus der Prau auf. Die Eingeborenen refften die Segel, legten sich längsseits
gegen das Floß und klammerten sich mit den Händen daran. »Ist dies Java?« fragte Rolf und
wies nach der Küste.
Die Eingeborenen nickten und sahen noch erstaunter von einem zum andern. »Und sind hier
auch irgendwo holländische Schiffe?« Die Braunen zeigten nach Osten.
Rolf holte tief Atem. »Massi djahu? Noch weit von hier?«
Verneinendes Kopfschütteln. »Können — können wir heute noch hinkommen?«
»Bissa, tuan. Gewiß, Herr.« »Was sagt der?« fragte Harmen.
Rolf traten Freudentränen in die Augen. »Daß wir — wir heute noch zu den Schiffen kommen.«
Erst sahen die andern ihn an, als hätten sie ihn nicht begriffen. Dann stieg aus
Harmens Kehle ein heiseres Schluchzen. »Tabeh!« schrie er, stieß die Prau von dem Floß ab und
führte einen tollen Tanz auf, wobei er die bloßen Beine weit herumschwang. Und dicke Tränen
kugelten ihm über die Backen.
Die Eingeborenen sahen mit weit aufgerissen Augen zu. »Mabok. Betrunken!« stellten sie fest.
Doch Harmen stand schon wieder nüchtern auf seinen zwei Beinen, riß das Steuer herum und
holte die Schote an. »Ich wünschte, ich könnte fliegen!« sagte er noch atemlos. »Rolf, ich bin in
dich verschossen!«
Rolf konnte sein Lachen nicht zurückhalten. »Wenn sie bloß die Wahrheit gesagt haben!«
»Jungs«, schrie Harmen, »Rolf soll leben! Hoch der Federfuchser! — Ich könnte dich
auswringen vor Freude.«
Ja, so viel Glück auf einmal war kaum zu fassen.
»Kommt, Kinder, nun wieder zusammennehmen!« sagte Rolf. »Ich sehe noch nichts von den
Schiffen, und wir haben noch einen stickheißen Tag vor uns. Wenn wir in einer Stunde das Zelt
nicht fertig haben, sitzen wir in der grellen Sonne, und dazu habe ich wenig Lust.«
Eine Viertelstunde später hatten sie ein Sonnenzelt von zwei Ellen im Viereck. Sie setzten die
Matte auf vier Staken; so konnten sie gerade daruntersitzen. Der Mittag kam, die Hitze wurde
beinahe unerträglich. Lustlos aßen die Jungen ein Fischchen. Zum Schlafen hatte heute mittag
niemand Lust, außer Joppie. Alle spähten in östlicher Richtung übers Wasser nach dem
zitternden Horizont. Harmen und Padde hatten ihren Schurz fertig und waren ebenso stolz darauf
wie früher, wenn sie zum erstenmal eine neue Hose anhatten. Am Nachmittag wurde es kühler,
der Himmel bezog sich. Die Jungen setzten sich vorn aufs Floß. Joppie und Padde hielten die
Wache beim Steuer.
»Was guckst du so, Hajo?« fragte Rolf.
Hajo starrte noch eine Minute geradeaus. Er antwortete erst nicht und sagte dann, mühsam
sprechend: »Ich glaube — ich sehe — ein Schiff!«
»Wo?«
Mit bebender Hand wies Hajo nach vorn. »Unter der Wolke da mit der spitzen Zacke.«
Die Jungen waren aufgesprungen und spähten schweigend in östlicher Richtung. Padde hatte das
Steuer losgelassen und kam, über ein Rotangseil stolpernd, nach vorn. Spannendes Schweigen.
Dann stieß Harmen einen Schrei aus. »Ich sehe es!«
Die andern reckten die Hälse.
»Ja«, rief Rolf aus, »nun sehe ich es auch.«
»Vorwärts!« rief Harmen. »Wir machen keine Fahrt. Warum bläst der Wind rieht stärker?«
»Hab nur Geduld!« sagte Rolf. »Gleich kriegen wir noch stürmisches Wetter. Sieh nur die
Wolken!«
»Was habe ich von den Wolken? Wind muß ich haben! — So, das lasse ich mir schon eher
gefallen«, lobte Harmen, als ein starker Stoß ins Segel fuhr und das Floß einen Ruck vorwärts
machte. Harmen lud sich die Arme voll Kokosnüsse und warf sie über Bord. »Weg mit dem
Zeug! Das hindert nur die Fahrt. Und aus der Matte machen wir eine Fock.«
Die Jungen setzten das Sonnenzelt aufs Vorderdeck. Das Segel bläht sich mit einem Schlag,
knarrend biegt sich der Mast. Harmen reibt sich die Fäuste. »Jetzt geht's wie geschmiert.« Aber
auf einmal verfinsterte sich sein Gesicht. »Mir ist bloß vor einem Ding bange, Jungens: daß die
dort drüben bei diesem Wetter nicht vor Anker zu bleiben wagen und von der Küste wegsegeln.«
Die andern wissen keine Antwort. Allen leuchtet diese Gefahr ein. Sie hissen schweigend die
Laterne in den Mast, denn es wird in einer halben Stunde dunkel sein. Jungens, wie schießt das
Floß durch die Wogen!
Plötzlich fliegen durch einen unverhofften Stoßwind die Holzstücke aus dem glimmenden Feuer
und wirbeln, kurz aufzischend, in die Wellen. Und das mattengeflochtene »Focksegel« saust
kreiselnd in die Luft, überschlägt sich plötzlich und schießt ins Wasser.
»Hol's der Teufel!« ruft Harmen enttäuscht und untersucht, ob Mast und Segel festsitzen.
Das Floß fährt ohne »Fock« nicht langsamer. Kräftig taucht es den Kopf in die Wogen.
»Licht!« ruft Hajo plötzlich aus.
»Ha! — Zieh die Schote an, Rolf! Es liegt beinahe auf dem Kurs.« Und Harmen schreit schon:
»Schiff ahoi! Schiff ahoi!«
So schnell fährt das Floß, daß das Licht mit jeder Viertelstunde größer und heller wird. Dort,
links, ist noch ein Licht. Und rechts noch eins. »Haltet auf das mittlere zu, Jungens!«
Nun sind sie keine fünfhundert Ellen mehr entfernt. Deutlich sehen sie den dunklen Umriß eines
Ostindienfahrers. »Wollen wir rufen, Jungs?« fragt Harmen aufgeregt.
»Ja, alle zugleich. Eins — zwei — drei. ..«
»Schiff ahoi!« schreien sie zu vieren. Joppie heult mit.
»Noch einmal! Eins — zwei — drei...«
»Schiff ahoi!«
»Es liegt mit der Breitseite nach hier. Wir laufen mit aller Wucht dagegen«. »Gut so, aber zieh
das Segel in die Höhe! Sonst fahren wir das Floß in Splitter. Tu du es, Hajo! Ich muß das Steuer
festhal. ..« Mit einem scharfen Geräusch reißt das Segel vom Mastbaum ab. Schwer in der Luft
flatternd reißt es die Gaffel mit und fliegt als eine weiße Möwe weg. — »So ein Drecksegel!«
schilt Harmen.
»Ich sehe Menschen«, ruft Rolf. »Sie lassen Stoßbälle nieder, Jungens.«
Hoch liegt das Schiff, sanft dünend auf der hohlgehenden See; der Wellenschlag klatscht und
patscht unter den Spiegel. Nun stößt das Floß gegen die hölzerne Wand des Ostindienfahrers.
»Ein Fallreep!« schreit Harmen drängend hinauf.
Oben schimmern undeutlich Köpfe. Da fliegt eine Strickleiter über Bord. Mit einem wilden Ruf
packt Harmen das Ding und will den Fuß hineinsetzen, bedenkt sich aber. »Padde, du erst! Na
vorwärts!« Und Harmen stößt ihn auf die Leiter und gibt ihm noch einen Schub nach. »Nun du,
Hajo. Keine Widerrede! Laß gut sein! — Und nun du, Rolf!«
»Nein, ich gehe zuletzt«, sagt Rolf, als ob er schon Schiffer wäre und seinen Grund und
Schiffsboden verlassen müßte. »Aber wie kriegen wir Joppie mit?«
Harmen weiß Rat. Er packt Joppie, der demütiger ist denn je, beim Kragen, und wie eine
Hundemutter trägt er Joppie zwischen den Zähnen das Fallreep hinauf.
Als letzter verläßt Rolf das Floß. So kommt er oben an, wo Harmen eben die Hundehaare ausspuckt. Wer steht denn da und schließt sie alle vier zugleich, lachend und weinend, in seine Siebenmeilenarme? — Hilke Jopkins.
Beim Braunfisch an Bord »Meine lieben Jungens! Hajo, Rolf, Harmen! Padde, du guter Tropf! Ich dachte, daß ihr alle
miteinander zum Teufel wäret.« Und die Tränen sprangen nur so aus Hilkes Augen. »Leute, holt
Bolle her!«
Da kam Bolle schon herbeigestürzt. »Gnädiger Strohsack, Jungs, seid ihr wieder da?« Bolle
wischte seine fettigen Hände an seinem weißen Schurz ab. »Wie habt ihr das fertiggekriegt?«
»Tja, Bolle«, sagte Harmen, »wenn ich davon erzählen soll, dann muß ich erst einmal einen Napf
braune Bohnen mit Speck hinter den Zähnen haben, sonst falle ich unterwegs vom Stengel.«
»Ich werde gleich was kochen«, versprach Bolle gerührt. »Möchtet ihr auch einen Napf Grütze
hinterher?«
»Hör bloß auf, Bolle!« seufzte Harmen. »Grütze! Gütiger Himmel!«
Bolle sputete sich nach der Kombüse. Und Harmen schrie ihm nach: »Vergiß nicht den
Basterzucker!«
Hilke sah die Jungen noch kopfschüttelnd an. »Ich kann es noch nicht glauben, Jungens. Da steht
ihr wieder lebendig vor mir, und ... Was für Röckchen habt ihr eigentlich an?«
»Gib mir nachher eine Hose von dir, Hilke!« sagte Harmen. »Auf wessen Kahn stehe ich?«
»Du bist auf der >Nieuw-Zeeland<, beim Braunfisch.«
»Auf dem elenden Kahn?« fragte Harmen.
»Holla!« schrien ein paar Matrosen. »Sachte, sachte!«
»Hab' ich euch gefragt?« erkundigte sich Harmen. »Du, Hilke, wo ist der Schiffer? Unsern
Schiffer meine ich natürlich.«
»Bontekoe hat einen neuen Kahn, das >Berger Boot<. Der liegt weit oben, vor Batavia.«
»Und du und Bolle, ihr sitzt hier? Ihr verlaßt doch euren Alten nicht?«
»Was bleibt uns anders übrig«, fragte Hilke, »wenn der Schiffer nicht zurückgeht?«
»Nun fällt mir mein Hütchen ab!« sagte Harmen. »Wo geht er denn hin?«
»Was weiß ich? Sich mit den Chinesen herumprügeln.«
»Ich tue mit«, stellte Harmen fest. »Ich lasse den Schiffer nicht im Stich.«
»Na, komm jetzt nur erst in den Mannschaftsraum!« beschwichtigte Hilke. »Da kriegst du eine
Büx von mir, und dann müßt ihr alles erzählen.«
»Jungens, wir werden erst nach der Kajüte müssen«, sagte Rolf.
»Ich in meinem Röckchen?« fragte Harmen.
»Der Braunfisch ist nicht an Bord«, brummte einer der Matrosen. »Sonst hätte er euch schon
lange gesichtet.«
»Ist der Steuermann an Bord?«
»Der Erste ist mit dem Braunfisch fort, und der Zweite liegt in seiner Koje. Wäre er nur an Bord,
der Braunfisch! Dann würden wir von der Küste wegsegeln; es ist hier ein gefährliches Liegen
bei diesem Wetter. Aber wenn der Alte heute nacht zurückkommt und muß sich erst blau und
grün suchen nach seinem Kahn, dann wettert er morgen die Segel vom Mast.«
»Er ist nach der >Maegd van Dordrecht< bei Jan Coen auf Besuch«, klärte Hilke sie auf.
Im Gänsemarsch stieg man nun in den Mannschaftsraum hinunter. »Alle Wetter, der Hund, den
ihr da habt«, rief Hilke aus, »das ist ja niemand anders als — Joppie!«
»Wau!« schrie Joppie und flog an Hilke hinauf, der ihn in seinen Armen auffing.
»Joppie! Hast du darum so an mir herumgeschnüffelt? Hast du den ganzen Marsch auch
mitgemacht, alter Junge? — Kommt, ihr müßt erst was Ordentliches auf dem Leibe haben! Hier,
Harmen, versuch es mal mit dieser Hose!«
»Sie wird mir wohl ein bißchen lang sein«, meinte Harmen unschlüssig. Seine Annahme erwies
sich als richtig; die Kniehose, die Hilke ihm angeboten hatte, reichte ihm bis zu den Knöcheln.
»Na, eine Hose ist es!« tröstete er sich. »Und ich brauche damit ja nicht zu meinem Schatz. Wir
werden die Beine eben ein bißchen umkrempeln.«
Das tat Harmen. Auch Padde bekam eine Hose; ein gutherziger Ohme trat ihm ein solches
Kleidungsstück ab.
»Sie ist nicht weit her«, meinte Padde.
»Immer besser als so 'n Röckchen«, entschuldigte sich der Ohme.
Padde war im Zweifel. »Sieh mal, wie der Hosenboden schon zerschlissen ist!« »Warte nur«,
trösteten die andern Matrosen, »wenn du hier an Bord bleibst, wird er schon noch dünner
werden! Jungfer Dreisträng liegt immer bereit.«
»Dachtet ihr, daß ich auf diesem dreckigen Kahn bliebe?« fragte Padde. Er zog die Hose an. Sie
war ihm um die Mitte ein bißchen eng; aber Padde bohrte ein paar Löcher in den Gurt und zog
einen Bindfaden hindurch, da paßte sie ihm so ungefähr.
»Na, Hilke«, sagte Harmen, »nun mußt du mir erst mal erzählen, wo die aridem sind! Wo ist der
Bootsmann? Und der Schielige und Bokje und Gerretje und Diede Dudes und ...«
»Die meisten sind bei dem Schiffer geblieben«, antwortete Hilke. »Ich hätte es auch gerne getan,
aber äh, Sytje, weißt du ...? Na, und der Schielige ist tot.«
»T—tot?« stammelte Padde.
»Tot«, sagte Hilke trübselig. »Damals gleichzeitig mit... Halt, das wißt ihr ja noch gar nicht! Wir
sind überfallen worden. Floorke und Nase und ...«
»Hör bloß auf!« seufzte Harmen. »Wir haben sie begraben, Hilke.«
»Ist wohl nicht wahr...? — Das war eine böse Geschichte, Jungens! — Na, der Bottler ist also
tot; er bekam einen vergifteten Pfeil in die Schulter. Wir haben ihn später über Bord setzen
müssen. Und Gerretje ist verheiratet.«
»Verheiratet?«
»Mit einer javanischen Deern.«
»Und sein Schatz in Hoorn?«
»Tja! Mir kugeln die Tränen über die Backen, wenn ich daran denke. Er sagt, daß ihm der Spaß
am Seefahren vergangen ist, seit Floorke dran glauben mußte.«
»Wetten, daß ich ihn wieder auf ein Schiff kriege?« fragte Harmen. »Schämen sollte er sich!«
Da kam Bolle herbei mit einem Topf voll brauner Bohnen und einem Schälchen ausgelassenen
Fettes mit Speckschwarten darin. Und die Jungen schmausten, daß es eine Art hatte. Bolle
brachte noch ein wenig Mostrich; das schmeckte weitaus herzhafter als das salzlose Zeug, das
sie die ganze Zeit hatten schlucken müssen. Ein großer Napf Grütze beschloß das königliche
Mahl. Andächtig streuten die Jungen Basterzucker darüber, und Padde warf so viel hinein, daß
die Grütze ganz braun davon wurde. Aber Bolle nahm es heute nicht so genau.
»So«, sagte Harmen, »wenn ihr mir jetzt ein Pfeifchen und eine Handvoll Tabak gebt und ein
bißchen Feuer, dann werde ich euch mal erzählen, was wir alles erlebt haben.«
Sein bescheidener Wunsch wurde geschwind erfüllt, denn alle waren gleich neugierig, die
Schicksale der Jungen zu vernehmen.
»Na, wollt ihr zuhören?« fragte Harmen, nachdem er schmunzelnd ein paar Züge aus seinem Pfeifchen getan hatte. Und dann begann er unter Zuhilfenahme seiner blühendsten Phantasie zu erzählen, zu erzählen ...! So wurde es elf Uhr. Dann erst begaben sich die Männer zur Ruhe, alle noch aufgeregt weiterplaudernd über die Abenteuer der Helden dieses Tages, denen ein paar feine Kojen eingeräumt worden waren. Während die Ohmes sich breitbeinig, um nicht hinzuschlagen, auskleideten, tönte draußen plötzlich eine Stimme wie eine Kanone. »Der Braunfisch!« stammelten die Matrosen und schlüpften eiligst wieder in ihre Hosen. Auch die Jungen, die bereits warm und trocken in ihren Kojen lagen, flogen in die Höhe. »Bleibt liegen!« riet Hilke. »Ihr liegt da ganz gut. Wenn ihr bei ihm anheuern solltet, werdet ihr noch genug zu rennen haben; Arbeiten ist die Losung hier an Bord. Jetzt muß ich aber mal nachsehen, was es gibt.« Und mit langen Schritten stieg er hinter den andern her. Schweigend saßen die Jungen in dem ausgestorbenen Mannschaftsraum und lauschten den Befehlen des Braunfisches. »Holt die Anker auf! Die Fock aufgeien! Himmel und Hölle, wenn ich eine Stunde später gekommen wäre, hätte der Kahn in Scherben gelegen!« Verteufelt! Sie tanzten recht hübsch — das stimmte. Hoch, die Ankerwinde rasselt! Nun wurde gewiß ein Segel beigesetzt. Wie der Wind hineinschlug! Pang! Hilke kam pitschnaß wieder herein und schüttelte sich. »Ich bin durch eine Sturzsee gelaufen«, erklärte er. »Wir gehen erst ein Stück vom Ufer weg und fahren dann auf Batavia zu. Dann sprecht ihr morgen auch gleich den Schiffer. So, ich muß wieder helfen gehen. Schlaft wohl, Jungs!« Und Hilke verschwand wieder mit freundlichem Kopfnicken. »Gute Nacht, Hilke!« — Aber die Jungen konnten nicht gleich wieder einschlafen. Schweigend lagen sie in ihren Kojen, still beglückt in dem herrlichen Bewußtsein, wieder bei Freunden zu sein. Morgen würden sie Bontekoe die Hand drücken; der lag mit seinem Schiff vor Batavia. War das ein Eiland? Rolf hatte nie davon gehört. Und der Schiffer wollte sich mit den Chinesen raufen? Was sollten sie dann anfangen? Sie wollten wohl mit, aber... Ob der Schiffer lange in Indien bliebe, bevor er wieder zurückfuhr nach — nach Hoorn? — Schadete nichts. Sie kannten ihre Pflicht und wußten, wo ihr Platz war. Aber doch... Die Jungen seufzten. Jemine, wie flog die Lampe hin und her, wie krachten die Masten! In kleinen Gruppen kamen die Maats wieder zurück. Die Hälfte von ihnen mußte aufbleiben. Der Braunfisch selbst ging auch nicht in die Koje. Dabei fiel den Jungen ein, was Bontekoe einmal vom Braunfisch gesagt hatte: »Und doch ein wackerer Seemann!« Rolf lag am längsten wach. Er dachte an den Augenblick, in dem er von Hajo würde Abschied nehmen müssen. Ihre Wege gingen auseinander, dessen war Rolf nun sicher.
Ab- und Anmustern Als die Jungen am nächsten Morgen erwachten, erschauerten sie vor Glück. Die Sonne schien
durch die Pforten an Backbord. Der Sturm hatte aufgehört, wenn auch der Kahn noch ein wenig
stampfte. Die Ohmes waren dabei, in ihre Hosen zu fahren, und nickten den Jungen von allen
Seiten zu: »Morgen!« »Der Braunfisch weiß schon, daß ihr da seid«, sagte ein Maat. »Er hat die
Schaluppe so gut wie kapores gefahren gegen euer Floß. Er war sehr ungemütlich, als er an Bord
kam, und sagt, ihr sollt zu ihm ins Leichenhaus kommen.« »Ins Leichenhaus?«
»In die Kajüte. Ihr werdet schon sehen. Aber ihr braucht erst zu kommen, wenn ihr wach seid.«
»Selbstmurmelnd«, sagte Harmen, »wir sind keine Schlafwandler.«
Die Jungen begaben sich nach der Kambüse, wo Bolle sie mit einer Schale dampfenden Kaffees
bewillkommnete. Es war alles noch zu schön, um wahr zu sein. Bedächtig, im Vollgenuß,
schlürften sie die braune Flüssigkeit.
»Wir fahren nach Batavia, was, Bolle?« fragte Hajo. »Ist das ein Inselchen oder so?«
»Aber nein«, sagte Bolle, »das wird eine neue Stadt, die noch kein Jahr lang besteht. Während
wir auf See fuhren, haben sie sich hier herumgehauen. Was früher Jacatra hieß, heißt jetzt
Batavia. Furchtbar einfach.«
»Na, da bin ich gespannt!« sagte Harmen. »Wir wollen erst mal ins Leichenhaus gehen, zum
Braunfisch. Es liegt voll von aufgeblasenen Krokodilen, hat man mir erzählt.« Und im
Gänsemarsch begab sich das Viergespann nach der großen Kajüte.
Sie klopften an. »Herein!« donnerte eine Stimme.
Da saß der Braunfisch. Die Jungen blickten nach seinem kupferfarbigen Kopf mit den
dunkelroten Wangen eines Weihnachtsapfels und den widerborstigen kleinen Löckchen. Auf
allen Seiten umgaben ihn ausgestopfte Tiere. Zögernd waren die vier in die Zauberhöhle
eingetreten, darin der Braunfisch wie ein gefährlicher Hexenmeister thronte. Joppie, der ihnen
auf Schritt und Tritt folgte, hatte alle Haare gesträubt und war diesmal draußen stehengeblieben.
»Ihr habt mich heute nacht mit eurem Floß beinahe zum Teufel gejagt«, polterte der Braunfisch.
»Wie heißt du?«
»Harmen van Kniphuizen, Schiffer.«
»Und du, wie heißt du?« donnerte der Braunfisch Hajo an.
»Peter Hajo, Schiffer«, antwortete der Gefragte.
Der Braunfisch sah Rolf an.
»Rolf Romeyn, Schiffer.«
»Und ich bin Padde Kelemeyn vom Appelhafen«, unterrichtete Padde den Braunfisch.
»Frage ich dich was?« sagte dieser. Und zu Rolf: »Bist du Bontekoes Neffe? Wenn du zu mir
kommst, bist du übers Jahr Vollmatrose.«
»Ich danke euch, Schiffer; aber ich will bei meinem Oheim bleiben.«
»Wirst du etwa zum Steuermann ausgebildet?« fragte der Braunfisch unwirsch.
»Jawohl, Schiffer.«
»Hm!« Der Braunfisch brummte noch was und gönnte Rolf keinen Blick mehr. »Und ihr?«
wandte er sich zu Hajo und Harmen. »Ich hab' für euch auch noch ein Plätzchen übrig.«
Harmen starrte noch gedankenversunken nach der ausgestopften Menagerie.
»Holla!« brüllte der Braunfisch. »Verstehst du mich nicht?«
Harmen schrak auf. »Zuerst nicht, Schiffer. Du sprichst so leise...« Der Braunfisch rollte die
Augen. »Ich frage, ob du zu mir kommen willst.« »Na, Schiffer, das muß ich mir erst noch
beschlafen«, zauderte Harmen. »Ich weiß noch nicht, ob unser Schiffer mich entbehren will.«
»Er wird dich unter einen Glassturz setzen«, versicherte der Braunfisch.
Harmen wies grinsend auf die Schlangen und Eidechsen in den Fläschchen. »Ich bin kein
Salamander, Schiffer.«
Es herrschte kurzes Schweigen Der Braunfisch schien darüber nachzudenken, ob er Harmen
kielholen lassen, in Spiritus setzen oder ausstopfen und an der Decke aufhängen sollte. »Wenn
du auf meiner Musterrolle stündest, gäbe ich dir Jungfer Dreisträng zu kosten«, brummte er
schließlich.
Rolf hielt es für ratsam, der Unterhaltung ein Ende zu machen. »Können wir gehen, Schiffer?«
»Ja, packt euch!« polterte der Braunfisch.
»Na«, sagte Harmen draußen, »mich kriegt keiner so bald wieder in die Schreckenskammer
hinein! Was, Joppie? Du bist auch nicht so wild darauf.«
»Er wollte uns gerne anmustern, nicht?« feixte Padde. »Aber das ging nicht so einfach.«
Harmen sah Padde verblüfft an. »Zu dir hat er doch bloß gesagt: Ich frag' dich nix!«
Padde schwieg erst. »Rutsch mir!« sagte er dann.
So kam der große Nachmittag, an dem die vier an Bord des »Berger Bootes«, das auf der Reede
des neugegründeten Batavia vor Anker lag, ihrem Schiffer, ihrem allerbesten Schiffer wieder die
Hand drückten und dem braven Vater Langjacke. Das gab eine Freude! Die Tränen sprangen
ihnen in die Augen, Vater Langjackes Stimme zitterte auch, und Bontekoe schlug ihnen auf die
Schulter, daß die Knochen krachten.
Die Jungen gingen mit nach der Kajüte. Da bekamen sie einen großen Stuhl, gerade wie große
Herren, und Bontekoe ließ Kaffee bringen mit einer Schnitte Kuchen und Zuckerstückchen dazu.
Dann mußten die Jungen erzählen. Schief und krumm ging es, und Rolf hielt mit Mühe
einigermaßen die Reihenfolge fest.Harmen schmückte diesmal nicht aus; er wollte seinem
Schiffer doch nichts vorlügen.
Und als sie von Anfang bis zu Ende alles ausgekramt und der Schiffer und Vater Langjacke
ihnen erzählt hatten, wie die Jolle schließlich auf der Reede von Bantem angekommen war, da
kam Bontekoe mit der Frage: »Und, Jungens, was gedenkt ihr jetzt zu tun?«
Die Freunde sahen sich an. Harmen verschluckte sich mit seinem Kaffee und wurde von Vater
Langjacke auf den Rücken geklopft, bis er es überwunden hatte. Dann sagte er: »Ist es wahr,
Schiffer, daß du dich mit den Chinesen herumprügeln willst?«
Bontekoe lächelte. »Vorläufig nicht, Harmen. Aber ich reise nächste Woche nach Ternate ab und
werde hier in diesen Breiten wohl noch ein paar Jahre umherschiffen.«
»Ein paar Jahre, Schiffer ...?«
»Seine Exzellenz der Generalgouverneur hat mich auf ein paar Jahre vorbereitet, Jungens.«
Die Jungen seufzten. Sie hatten immer gedacht, daß es nichts Höheres als ihren Schiffer gäbe,
und nun auf einmal hörten sie, daß auch der Schiffer jemandem gehorchen mußte.
Bontekoe sah ihr Erstaunen und lächelte. »Ich rate euch, Kinder, auch bei Schiffer Pieter Thysz
von Amsterdam anheuern zu lassen.«
»Beim Braunfisch!« verbesserte Harmen knurrig. »Wenn ich nicht unter dir fahren kann,
Schiffer, dann vergeht mir die Lust.« Harmens Stimme zitterte; er holte tief Atem. »Was hätte es
mir bannigen Spaß gemacht, mit dir zurückzufahren, Schiffer!«
»Ach, aber Harmen!« munterte Bontekoe ihn auf. »Vielleicht stehst du über zehn Jahre noch mal
als voller Koch auf meiner Musterrolle.« »Hoffentlich erlebe ich es, Schiffer!« Über Harmens
Wange rollte eine Träne. »Na, siehst du!« sagte Bontekoe. »Ihr mustert also gleich bei... beim
Braunfisch an. Er wird euch schon gefallen. Am Ende fahrt ihr noch lieber unter ihm als unter
Schiffer Bontekoe.«
»Schiffer!« riefen die Jungen.
»Auf jeden Fall bleibt euch keine andere Wahl«, sagte Bontekoe. »Wann sollte das
nächstfolgende Schiff nach Holland zurückkehren? Alles, was einläuft, wird festgehalten, denn
hier ist überall Unruhe seit der Eroberung von Jacatra.« Der Schiffer wandte sich an Hajo. »Dir
will ich noch was sagen, Hajo. Du hast einen guten Kopf; du mußt dich zum Steuermann
ausbilden.«
»Schiffer!« stammelte Hajo.
»Möchtest du gern?«
Es schwindelte Peter Hajo. »Ob ich gern möchte, Schiffer?«
»Dann werde ich dir einen Brief mitgeben für die Herren der Indischen Compagnie.«
Tränen schossen in Hajos Augen. »Ja — jawohl, Schiffer.«
»Und du, Padde?« fragte Bontekoe heiter den kleinen Dicken. »Was fängst du an?«
Padde zwinkerte mit den Äuglein, wollte etwas sagen, schluckte seine Worte aber wieder
hinunter. Er wurde rot wie ein Krebs, seufzte tief, zuckte dann die Achseln und sah zu Boden.
Um seine Mundwinkel zitterte es verdächtig.
»Der Braunfisch ist nicht happig auf ihn«, klärte Harmen den Schiffer auf. Ein mitleidiges
Lächeln erschien auf Bontekoes Antlitz. »Habt ihr ihn denn ohne Umschweife gefragt?«
»Nein, Schiffer«, beeilte sich Harmen zu versichern. »Wir haben doch noch nicht bei ihm
angemustert.«
»Nun, seht dann zu, daß ihr es gemeinsam fertigbringt, daß Padde mitfährt!« sagte Bontekoe.
»Im Notfall werde ich ein gutes Wort einlegen.«
»Gott soll es dir lohnen, Schiffer!« schluchzte Padde.
Bontekoe wandte sich zu seinem Neffen und blickte ihm in die Augen. »Und — du, Rolf? Was
tust du?«
»Ich gehe mit Euch, Oheim«, sagte Rolf leise. »Das ist doch selbstverständlich!«
»Rolf!« stammelte Hajo.
Bontekoe blickte mit einem Lächeln die beiden Freunde an. »Die Welt ist klein, Jungens«, sagte
er tröstend. »Ihr lauft einander schon wieder in die Quere, ehe ihr es euch verseht. — Kommt,
nun müssen wir abrechnen!«
»Abrechnen?« Padde wurde unruhig und stieß Hajo an.
»Um die erlittenen Verluste meiner Mannschaft etwas auszugleichen, hat die Indische
Compagnie mir zugestanden, doppelte Heuer auszubezahlen«, sagte er. Ein Schauer fuhr den
Jungen durch die Glieder. Bontekoe trat an seinen Tisch und zog eine Schublade auf.
»Harmen van Kniphuizen!« tönte es. »Vierzehn Monate Heuer: vierzehn mal vier ist
sechsundfünfzig, weniger drei Gulden Anmusterungsgeld, plus zwei Gulden für zweite Ankunft
in Ostindien — macht fünfundfünfzig Gulden.«
Harmen räusperte sich, wurde abwechselnd bleich und rot und trat wichtig heran. Ruhig und
würdevoll, doch mit bebenden Händen, schob er die Häufchen Silber zu sich heran. »Schönen
Dank, Schiffer!« sagte er barsch und ließ das Geld in seine Hosentasche gleiten. Aber klimpernd
kam es zum Hosenbein wieder heraus und rollte nach allen Seiten über den Boden. »Tja«,
stotterte Harmen, »das kommt daher; es ist nicht meine Hose! Ich konnte nicht wissen, daß sie
ein Loch hat, nicht wahr?« Und mit Paddes Hilfe begann er zu suchen. »Ich werde es lieber in
der Hand halten«, beruhigte er die andern.
»Peter Hajo!« rief Bontekoe. »Vierzehn Monate Heuer, macht vierzehn mal drei, gleich
zweiundvierzig. — Hast du Anmusterungsgeld erhalten, Peter?«
»Nein, Schiffer.«
»Ich kann es nicht mehr nachschlagen, weil die meisten Papiere verlorengegangen sind«,
erklärte Bontekoe. »Also zweiundvierzig. Dazu einen Gulden für erste Ankunft in Ostindien, das
macht dreiundvierzig. — Warte mal, Harmen, sollte ich dir nicht noch die Heuer von Lysken
Cocs ausbezahlen? Fünfundfünfzig Gulden. Gib es dem Schiffer der >Nieuw-Zeeland< zur
Aufbewahrung, bevor du es verlierst, Harmen!«
»Jawohl, Schiffer«, sagte Harmen, »fünfundfünfzig Gulden. — Was wird sich seine Mutter
freuen!«
Bontekoe sah Harmen freundlich an und nickte nachdenklich. Aber wer den Schiffer kannte, sah
seinem Gesicht an, daß er der Freude von Lyskens Mutter, wenn Harmen ihr das Säckchen mit
Geld bringen würde, nicht so sicher war. —
»Padde Kelemeyn!« rief er.
Padde kroch eifrig auf die Füße, die Hände noch voller Silberstücke, die er für Harmen
zusammengesucht hatte.
»Gib her!« befahl Harmen. »Sonst kommt es durcheinander.« Bontekoe zählte Paddes Heuer auf
den Tisch. »Vierzehn mal drei ist zweiundvierzig.«
»Kein Anmusterungsgeld empfangen«, sagte Padde.
Bontekoe lächelte. »Ja, dessen erinnere ich mich. Deine Anmusterung weiß ich noch wie
gestern. Also: zweiundvierzig Gulden plus einen Gulden für erste Ankunft in Ostindien,
macht...«
»Dreiundvierzig Gulden«, rechnete Padde schnell aus.
»Gut so!« lobte Bontekoe. »Da liegen sie.«
Padde zählte das Geld nach. »Eins — zwei — drei — vier. .. dreiundvierzig. Schönen Dank,
Schiffer!« Und Harmens Vorbild folgend, behielt er das Geld in der Hand.
»Willst du auch dein Geld haben, Rolf?« fragte der Schiffer.
»Hebt es mir nur auf, Ohm!« sagte Rolf. »Wenn Ihr mir nur fünfzehn Gulden geben wollt, damit
ich Kleider und eine Kiste kaufen kann.«
»Hier hast du sie. — So, wartet noch einen Augenblick! Dann werde ich den Brief für Hajo
schreiben.« Und während die Jungens schweigend zusahen, nahm Bontekoe einen Bogen Papier
und einen weißen Gänsekiel und schrieb den Brief. Zum Schluß setzte er schwungvoll seinen
Namen darunter und bestreute den Brief mit weißem Sand, um die Tinte zu trocknen. »Lies mal
vor, Peter Hajo!«
Hajo trat näher. »An die Herren Bevollmächtigten der.. .«, buchstabierte er.
»So. Also du kannst ein wenig lesen«, sagte Bontekoe. »Rolf hat es mich gelehrt, Schiffer.«
Der Schiffer warf seinem Neffen einen Blick des Wohlgefallens zu. Dann wandte er sich wieder
an Hajo. »Denke dran, es muß noch flotter gehen!«
»Ja — jawohl, Schiffer!« Hajo wurde über die Ohren rot.
Dann faltete Bontekoe den Brief zusammen. »Gib ihn nachher dem Schiffer der >Nieuw-
Zeeland< ab; sonst ist er schon schmutzig, bevor die Herren von der Compagnie ihn in die
Hände kriegen. Der Braunfisch« — Bontekoe konnte ein Lächeln nicht unterdrücken — »wird
dir dann sagen, was du damit anfangen mußt. Begriffen?«
»Jawohl, Schiffer«, sagte Hajo strahlend.
Und dann kam der Abschied. Harmen und Hajo faßten jeder eine Hand des Schiffers. »So einen
wie dich kriegen wir niemals wieder, Schiffer«, versicherte Harmen mit heiserer Stimme, »so
einen piekfeinen Schiffer! Was, Hajo?«
Bontekoe klopfte die Jungen lachend auf die Schultern, während er sie zum Fallreep geleitete.
»Jungs«, sagte er, »wir werden einige Jahre einander nicht sehen. Grüßt Hoorn von mir! Betragt
euch so, wie ich es von euch gewöhnt bin, und — Glück auf den Weg!«
»Guten Tag, Schiffer, lieber Schiffer; Ganz das gleiche!«
Mit derselben Jolle, die sie schon durch so viele Gefahren getragen hatte, wurden die Jungen
wieder nach der »Nieuw-Zeeland« gebracht.
Als die Dämmerung hereinbrach, standen die Jungens wieder im »Leichenhaus«, wo es nun noch
gruseliger war als heute früh. Von allen Seiten lauerten teufelsgleiche Köpfe aus dem Dunkel;
die gläsernen Augen funkelten im Licht einer Kerze, die vor dem Braunfisch auf dem Tisch
stand. Davor wiederum sah man eine Batterie Flaschen Rotwein, von denen zwei leergetrunken
und eine dritte angebrochen war. Das Kerzenlicht verlieh dem Wein solch eine hellrote Farbe,
daß es schien, als wären die Flaschen mit Blut gefüllt.
»So - so«, sagte der Braunfisch mit etwas schwerer Zunge, während er sich einschenkte und
aufmerksam zusah, wie das Kerzenlicht den aus der Flasche glucksenden Wein funkeln ließ,
»kommt ihr zu Kreuz gekrochen? — Dich mache ich — mache ich ... Wie alt bist du?«
Die Frage war an Peter Hajo gerichtet. »Fünfzehn geworden, Schiffer.«
»So«, sagte der Braunfisch, hinter dem Tisch eine andere Flasche mit noch dunklerem Wein
hervorholend, »so, fünfzehn bist du?« Er hatte den Becher aus der ersten Flasche halbvoll
geschenkt und füllte nun aus der zweiten Flasche dazu.
»Du siehst aus wie siebzehn. Ich mache dich — mache dich — zum Leichtmatrosen.« Dann
korkte er die Flasche zu und leerte den Becher in einem einzigen Zuge.
»Und du da« — damit war Harmen gemeint — »du wirst Vollmatrose.«
»Pustekuchen!« sagte Harmen. »Ich bin stets Kochsmaat gewesen.«
»So«, sagte der Braunfisch und schenkte sich wieder aus den beiden Flaschen ein. »Dann —
dann mache ich dich — mache ich dich zum Beikoch. Ja, und Jungfer Dreisträng liegt immer
bereit.«
»Und ich?« fragte Padde ängstlich. »Was werde ich?«
Der Braunfisch hob den Becher zum Mund, setzte ihn aber wieder hin und sah Padde an. »Was
du wirst? Ein Dickwanst, wenn du so fortfährst. Dich kann ich nicht gebrauchen.«
»Na, Schiffer«, sagte Harmen, »dann mußt du dich bei Schiffer Bontekoe mal nach ihm
erkundigen. Der hat ihn sogar äh — extra angemustert. Sieh mal, Schiffer, schnell ist er nicht,
und wenn er irgendwo einen Altweiberknoten hineinlegt, dann zieht man ihn mit einem Ruck
auseinander. Aber weißt du, wozu er gut ist? Zum Bottlersmaat. Überleg dir mal, Schiffer,
warum haben wir auf der >Nieuw-Hoorn< so ein Elend gekriegt? Weil der Bottlersmaat damals,
der dumme Pfeifenkopf, eine brennende Kerze neben ein Geneverfaß gesetzt hat. Patsch, der
ganze Kahn in Fetzen! So was kann Padde nicht vorkommen, Schiffer.«
Padde atmete tief auf.
»Schiffer«, flehte Hajo, »wir sind zusammen ausgefahren, Schiffer, und...«
Der Braunfisch guckte Padde an, dann Hajo, dann Harmen. Er räusperte sich und bullerte: »Was
warst du auf der Herreise?«
Die Frage war peinlich. Padde hüstelte und erbleichte. Aber Harmen sprang in die Bresche. »Er
war Hansdampf in allen Gassen, Schiffer. Er kann Rüben schaben, Töpfe auskratzen, Flaschen
spülen ...«
»Vorwärts denn!« brüllte der Braunfisch. »Bottlersmaat! Nun zufrieden?«
»Danke schön, Schiffer!« sagten die Jungen wie aus einem Munde.
Dann brachte Hajo seinen Brief zum Vorschein. »Schiffer«, sagte er, »Schiffer Bontekoe hat mir
einen Brief mitgegeben, daß ich zum Steuermann« — Hajo errötete und schluckte etwas hinunter
— »zum Steuermann ausgebildet werden soll. Und ...« »So, ist es dir auch schon zu Kopf gestiegen?« brummte der Braunfisch. »Die Compagnie wird nächstens Schiffe mit lauter Steuerleuten drauf nach Jan Ost1 senden. Gib den Brief nur her! Sonst machst du ihn schmutzig.« Der Braunfisch legte den Brief vor sich auf den Tisch und griff, bereits lesend, ohne hinzusehen, nach dem Leuchter, um ihn heranzuholen. Dabei stieß er versehentlich den Becher Wein um. Der Schiffer erbleichte und wischte mit seinem Ärmel den Wein von dem Brief. Hajo sprang herzu und suchte vergebens einen Stoß Papiere, die der Becher im Fallen berührt hatte, noch zu retten. »Gewiß alles naß geworden?« fragte der Braunfisch mit heiserer Flüsterstimme. »Die Herren werden wohl denken... Hm!« Mit seinem Sacktuch begann er die Papiere zu betupfen. Hajo half ihm. »Danke«, brummte der Braunfisch, »danke!« Inzwischen hatte Harmen seine Aufmerksamkeit auf etwas ganz anderes gerichtet. Was stand dort auf dem untersten Brett des Schrankes? Ein — ein Totenkopf? Harmen hatte doch nicht etwa auf einem Schiff angeheuert, dessen Kajüte einen Totenkopf barg? Während er das bleiche Ding mit den schwarzen Augenhöhlen, dem ekligen Nasenloch und den blitzendweißen Zähnen anstarrte, sprach er kurz und deutlich seine Meinung aus: »Schiffer, wenn das da ein menschlicher Totenkopf ist, bin ich dein Kochsmaat nicht mehr!« Der Braunfisch sah von seiner Arbeit auf, und einen Ausweg suchend für seinen Ärger über die beschmutzten Papiere, donnerte er füßestampfend: »Hinaus! Hinaus! sage ich. Alle drei!« Die Jungen verschwanden mit angemessener Eile. Sie fanden draußen Joppie und Rolf, der voller Interesse nach dem Ergebnis der Anmusterung fragte. »Ich kehre wieder um«, sagte Harmen. »Ich heuere nicht an auf einem Schiff mit einem Totenkopf. Daran wage ich meine Haut nicht und Joppies Haut auch nicht.« Harmen nahm Joppie beim Nackenfell und kurste mit seinem stichelhaarigen Gefährten wieder in die Kajüte hinein. »Harmen!« Der aber hatte die Tür schon wieder hinter sich geschlossen. Lautes Reden klang aus der Kajüte, dann wurde es wieder still. Nach einem Stündchen — die Jungen spazierten mit Hilke auf dem Vorderdeck umher — kam Harmen wieder zum Vorschein, Joppie freundlich schwanzwedelnd vor ihm her. »Na«, sagte Harmen, sein Pfeifchen hervorziehend und eine Handvoll Tabak aus der Dose nehmend, die Hilke ihm anbot, »na, der Braunfisch ist bei all seinem Gedonner so sanft wie ein Lamm, und Harmen windet ihn um dieses« — Harmen streckte seinen kleinen Finger aus —, »dieses kleine Fingerchen. Der Kopf da war nicht von einem Menschen, der war von einem Araber. ( 1Jan Ost: altholländischer Seemannsausdruck für Ostindien.)
Er hat mich auch in die Schubladen gucken lassen. Du liebe Zeit, was steckt da bloß alles für Zeug drin! Na, und Joppie ist auch angemustert, und ich habe dem Braunfisch das Geld für Lyskens Mutter zur Aufbewahrung gegeben. — Du, Padde, dich haben wir fein durchgelotst. Du hättest eigentlich ganz gut >Danke schön< sagen können.« »Wofür?« fragte Padde von oben herab. »Na, wenn du nicht kapierst wofür, dann will ich dir doch eins sagen, du nichtswürdiger Brandstifter!« fuhr Harmen ihn an. »Das erstemal, daß ich dich wieder mit einer Kerze in den Keller gehen sehe, nehme ich dich beim Schlafittchen und schmeiße dich über Bord; dann kannst du den Haien erzählen, was Harmen für ein gemeiner Kerl ist. Es würde dir wohl bannigen Spaß machen, die >Nieuw-Zeeland< auch wieder in die Luft fliegen zu lassen! Aber diesmal werde ich einen Riegel vorschieben, kapiert?« Harmen kehrte ihm den Rücken, lehnte sich, zornig an seiner Pfeife saugend, neben Hilke über die Verschanzung und starrte nach den Lichtern am Ufer. Eine Weile herrschte Schweigen. Jeder hatte seine eigenen Gedanken. Padde war grollend weggegangen, um von einem der Matrosen eine Socke zu erbitten. Dahinein wollte er sein Geld stopfen, und die Socke mit Geld wollte er so sicher verbergen, daß kein Mensch sie finden könne. Er hatte schon einen schönen Platz dafür. Wo, das wollte er nicht sagen. Harmen brach mit einem tiefen Seufzer das Schweigen. »Morgen sehe ich zu, ob ich eine Geige erwische. Ein schönes Taschenmesser will ich auch haben und ein Spiegelchen und einen Kamm. Und für meine Mutter nehme ich auch was mit. Und für meinen Vater ein paar Krise; die hab' ich ihm versprochen. Und meinem Schatz kaufe ich was aus Silber, was sie sich umhängen kann.« Das Ufer sah verlockend aus. Lichter funkelten zwischen den Palmen, und die weißen Mauern der neugebauten Häuser leuchteten aus dem Dunkel auf. Rechts, in einem kleinen Meereseinschnitt, lagen auf dem Strand einheimische Fischerprauen, und ein Stückchen ins Wasser hinein stand ein Häuschen auf Pfählen, worin einsam ein Eingeborener sein Netz heraufholte. Die Fische glitzerten wie Silber im Licht des aufgehenden Mondes. Es war still auf dem Wasser geworden. Brandung gab es hier beinahe nicht. Sieh, dort etwas tiefer in See lag die »Maegd van Dordrecht«, auf der der Generalgouverneur Jan Pieterszoon Coen sich aufhielt! Nicht weit davon lag der »Neptunus«, auch ein schöner Kasten und tüchtig bewaffnet. Der »Morgenstern«, ein leicht gebauter Schoner, lag halb übergetakelt; er wurde gewiß gescheuert. Und dort, weiter im Norden, funkelten die Lichter des »Berger Bootes«, auf dem ihr geliebter Schiffer saß. Glückliche Fahrt, Schiffer! Und paß gut auf, wenn du dich einmal mit den Chinesen raufen solltest! Dann läutete die Essensglocke. Sie aßen bei Laternen auf offenem Deck, denn im Mannschaftsraum war es zum Ersticken. Summend tanzten ihnen die Stechmücken um die Köpfe.
Mit Gerretje zu Loa Hok Sen Es war noch früh, als die Jungen am nächsten Morgen mit ein paar Maaten ans
Ufer ruderten. Der heiße Kaffee hatte ihnen vortrefflich gemundet, die Sonne
schien herrlich. Sie machten die Schaluppe an einem hölzernen Kai fest, sprangen
an Land und wußten nicht, wohin sie zuerst gucken sollten in dem Wirrwarr
von buntgekleideten Morgenlandern. Aber wer stand dort, strahlend vor Freude,
und drückte alle vier zugleich in die Arme? — Gerretje!
»Ich hab' gestern von Bolle gehört, daß ihr wieder an Bord seid«, rief Gerretje
begeistert. »Und wenn Bolle nicht gelogen hat, Junge, Junge, dann ist es euch
schlimm ergangen!«
»Ist es wahr, daß du verheiratet bist?« fragte Harmen. »Mit einer javanischen
Deern?«
»Na, und was weiter?«
»Was weiter?« sagte Harmen giftig. »Daß du dich schämen solltest! Mit so einer
lieben Deern in Hoorn!«
»Na, langweile mich nur nicht damit!« brummte Gerretje halb verlegen, halb gereizt. »Habe ich
euch dazu abgeholt?« Er führte sie zu einer Art Gefährt, das an eine große Kiste auf Rädern
erinnerte. Ein paar klapperdürre Klepper standen davor, und auf dem Bock saß ein eingeborener
Kutscher, der auf seinem Kopftuch einen Strohhut in Form eines Pilzes trug. »Steigt nur ein, ihr
Herren!« lud Gerretje ein.
Mit stummem Staunen sahen die andern ihn an. »Ist es dir zu Kopf gestiegen?«
»Und wenn ich euch sage, daß der Wagen mir gehört?«
»Dir?«
»Na ja, einem Freund von mir, einem Araber! Kann auch sein, daß er ein Chinese ist.«
»Hat er einen Zopf?« fragte Harmen.
»Woher soll ich wissen, ob er einen Zopf hat?« sagte Gerretje. »Ich habe ihn erst einmal
gesehen. Da hatte er einen Turban auf. Vorwärts! Steigt ein!«
»Wenn bloß Platz genug ist!« sagte Harmen, während er in die krachende farblose Kutsche
stieg.
»Platz mehr als dicke«, meinte Gerretje. »Wir haben neulich zu siebt drin gesessen. Muß der
schmierige Köter auch mit?«
»Das ist kein schmieriger Köter«, sagte Harmen entrüstet, »das ist Joppie.«
»Was, ist der auch mitgekommen? — Joppie, kennst du Gerretje noch?«
»Wau!« kläffte Joppie und sprang an Gerretje in die Höhe.
»Er hat mich noch nicht vergessen«, sagte Gerretje. »Weg, leck deine Großmutter, aber mich
nicht!«
Unter großem Jubel von eingeborenen Kindern und Chineslein verstauten die Jungen sich in das
Gefährt.
»Muß Padde auch mit?« fragte Gerretje.
»Natürlich!« sagte Padde beleidigt. »Ich gehöre auch dazu.«
»Na, dann müssen wir den blauen Nigger eben herunterholen«, meinte Gerretje. Und bevor der
Kutscher, der schläfrig auf die mageren, mit Peitschenstriemen gezeichneten Pferderücken
starrte, sich's versah, hatte Gerretje ihn vom Bock gezogen. »Sage nur, daß Tuan Gerretje die
Kudas1 selbst zurückbringe!« schrie Tuan Gerretje dem verblüfften Mann zu.
»Ob der das versteht?« fragte Harmen.
»Warum nicht? Er ist doch nicht taub!« meinte Gerretje.
»Na, dann werde ich kutschieren«, erbot sich Harmen. »Ich kann gut mit Pferden umgehen.«
»Laß mich lieber ans Steuer!« widerstrebte Gerretje. »Sie sind furchtbar wild.«
Gerretje schnalzte mit der Zunge. »Tschk! Vorwärts!«
»Halt!« rief Harmen. »Joppie und Padde müssen noch mit.«
»Na, sie laufen ja noch gar nicht, die Gäule!« sagte Gerretje. »Man muß sie immer erst wach
machen. Und dann einen Tritt vor den Hintern, dann laufen sie los.«
Gerretje schien damit vertraut. Nach einigen ermutigenden Püffen wandten die Rosinanten ihre
Köpfe, wie um sich zu vergewissern, daß Padde auf dem Bock neben Gerretje saß und daß
Joppie sicher geborgen zwischen Harmens Knien lag; dann ratterte der Wagen den Kai hinunter
an kleinen Läden entlang, wo die grundverschiedensten Dinge in bunter Farbenmischung zur
Schau lagen. Vor den offenen Türen und Fenstern saßen arbeitende Chinesen in ihren weiten
Hosen und enganschließenden Jäckchen, soweit ihr Oberleib nicht bloß war. Sie trugen ihren
Zopf in einem Knoten auf dem kahlgeschorenen Schädel oder als eine Schnur um das Haupt
gewunden oder über die Schulter mit dem Ende in der Tasche.
»Begreift ihr das?« fragte Harmen kopfschüttelnd. »Sagt mal, Jungs, wenn wir hier gleich mal
was kauften?« Er tastete in die Tasche, wo die Gulden steckten.
»Sonst verliere ich mein Geld womöglich noch, ehe ich was dafür gekauft habe.«
»Bist du übergeschnappt?« fragte Gerretje. »Wir fahren erst nach meinem Haus. Heute
nachmittag können wir Einkäufe machen. Und heute abend ist Pasar malem. Da wollen wir uns
mal ordentlich amüsieren.«
»Was ist das: Pasar malem?«
»So was wie Kirmes.«
»Fein!« sagte Padde. »Und wo werden wir essen?«
»Bei mir natürlich!« sagte Gerretje. »Reistafel. Hilke kommt auch. — Was guckst du sauer,
Harmen?«
»Ach, gar nix!« sagte Harmen. »Aber ich mache mir nichts aus dem Zeug.«
Gerretje sperrte die Augen weit auf und hielt die Zügel an. »Machst du dir nichts aus Reistafel?«
»Als ob das' lecker wäre!« sagte Harmen verächtlich. »Wer weiß, was sie da alles hineintun!
Gespickte Skorpione, gemahlene Wanzen ...! Vorwärts, fahr weiter!« Padde schauderte. »Ich
esse auch keine Reistafel, du!«
»Ihr seid nicht recht bei Trost!« schimpfte Gerretje. »Es schmeckt herrlich. Ich esse es jeden
Tag.«
»Geschmacksache!« sagte Harmen. »Wie muß ich nachher deine Frau anreden? Madam?«
Gerretje errötete. »Nein, nein; du sagst einfach: Mina. Tja, wie sie zu dem holländischen Namen
kommt, weiß ich auch nicht. Vor ein paar Tagen fragte ich sie: >Wie heißt du?< — >Mina<,
sagte sie. — Kommt, Jungs, wir wollen den Kahn wieder flott machen! Die Gäule haben es satt.«
Harmen und Gerretje rollten gemeinsam das Gefährt ein Stück vorwärts, Gerretje in einer Hand
Zügel und Peitsche und mit allerlei Tönen das Rossepaar anfeuernd. So kam es wieder in
Schwung, und Harmen und Gerretje sprangen »an Bord«.
»Ich bin mir meiner Lebtage noch nie so vornehm vorgekommen«, bekannte Harmen, behaglich
hintenübergelehnt, und stopfte sein Pfeifchen in der flachen Hand aus. Aber die Rückenlehne
ruckelte so, daß Harmen sich gerade hinsetzte. Sie waren nun vom Kai herunter und aus dem
Gewühl der Eingeborenen und Chinesen heraus, die Lasten trugen, ihre Prauen vertäuten, vor
den Lädchen hockend Einkäufe machten, eine Frucht verzehrten.
Der Wagen rollte über eine hölzerne Brücke. Hohl klang das Rädergerassel und das Klipp-klapp
der Hufe. Unten strömte ein Fluß, der sein braunes Schlammwasser ins Meer ergoß. »Wie heißt
diese Kloake doch gleich?« fragte Harmen.
»Der Tji Liwong«, belehrte Gerretje. »Man kann nicht mal ordentlich drin baden, denn er
wimmelt von Kaimans.«
»Aber da drüben baden doch Eingeborene?«
»Na ja«, sagte Gerretje, »diese Kaffeeneger sehen sie in dem braunen Wasser nicht! Aber einen
Weißen haben sie gleich auf dem Kieker.«
»'n hübsches Land!« sagte Harmen verächtlich.
»Och, ich bin ganz gerne hier!«
»Na ja«, sagte Harmen, »du bist selbst ein halber Araber, du mit deiner javanischen Deern!«
»Fängst du wieder an?« fragte Gerretje. »Warte nur, nachher bei der Reistafel wird dir das
Gebrumm schon vergehen! Wir nehmen ein Schnäpschen dazu. Arrak nennen sie das. Es ist
herrlich süß und doch herzhaft.«
Befangen, wie im Traum, sahen die andern Jungen sich um. Gerretje bog nun in eine breite Allee
mit hohen Bäumen zu beiden Seiten ein. Hier im Schatten war es herrlich.
»Na, kannst du uns nicht noch einen javanischen Radscha zeigen?« fragte Harmen.
»Die laufen hier nicht wie die Hühner über die Straße«, sagte Gerretje. »Wir kommen nachher
bei den Festungswerken von Jacatra vorbei. Darin haben wir uns fünf Monate lang gegen die
Papuas halten müssen. — Seht ihr da das Haus mit dem Teich davor? Das ist eine javanische
Kirche.«
»Eine Kirche? Und es sitzt nicht mal ein Wetterhahn drauf!« rief Harmen aus.
»Na ja«, sagte Gerretje, »was sie hier eine Kirche nennen! Wenn die Leute hineingehen, ziehen
sie ihre Pantoffel aus. Und den Hut darf man aufbehalten. Das kann doch nicht das Richtige
sein?«
»Bist du schon mal drin gewesen?« fragte Harmen. »Nicht? Du bist mir einer!«
»Ich kann mich beherrschen«, sagte Gerretje; »dann säße ich hier nicht mehr lebend auf dem
Bock.«
Allmählich wurden alle still, sie gerieten in den Zauberbann des herrlichen indischen Morgens,
der Vogelstimmen in den Bäumen, der süßen Blumendüfte, die über den Weg hingen. Ab und zu
begegneten sie ein paar Frauen in farbenfrohen Sarongs und langen Badjus 1 mit schönen Nadeln,
die einen flachen Sonnenschirm anmutig über die Schulter hielten, oder einen Grasmäher, mit
nur einem schmalen Lendentüchlein bekleidet, der seine Last gemähten Grases in schnellem,
wiegendem Gang dahintrug, oder einem chinesischen Kaufmann, der einen »Klontong« in der
Hand hielt, eine mit einer Schweinsblase bespannte Trommel, gegen die, bei geschwindem
Drehen, zwei Kügelchen schlagen und so einen Wirbel verursachen, der die Ankunft des
Klontongchinesen schon von weitem ankündigt.
( 1 Badju: Oberkleid.)
Unsere Freunde holten auch Eingeborene ein, die vom Markt zurückkehrten und es ihren Frauen,
die einige Schritte hinter ihren Herrn und Gebietern herliefen, überließen, die eingekauften
Hühner zu befördern. Die Jungen machten die Entdeckung, daß Indien das Land ist, in dem
selbst der Allerärmste noch ein Gefolge hat, und wenn es nur seine Frau ist.
So langten sie bei der Festung an. Alle Spuren der monatelangen Belagerung waren bereits
wieder verwischt durch die üppig wuchernde tropische Natur. Überall Büsche und Blumen. Als
die Jungen an den Festungswerken vorüber waren, breiteten sich auf der linken Wegseite
Grundstücke aus, die mit Kokospalmen, Papajos, Bananen-und Pinangbäumen bepflanzt waren,
und hinten auf den Grundstücken standen Bambushäuser mit Veranden, an denen Orchideen
hingen und Stangen mit Sperlingspapageien darauf. In den Bäumen wimmelte es von kleinen
Vöglein, die »priet-priet« und »tiep-tiep« riefen und in bunten Kleidern steckten. »So«, sagte
Gerretje, während er die Zügel anzog, so daß der Wagen mit einem Ruck stillstand, »hier wären
wir. Nun werde ich euch noch vorfahren.«
»Über die kleine Brücke da?« fragte Harmen, sich mißtrauisch aus dem Wagen beugend. Vor
Gerretjes Garten lief ein breites Rinnsal mit einer kleinen Bambusbrücke darüber.
»Worüber sonst? Ich bin gestern auch noch hinübergefahren. — Tschk!« Und Gerretje suchte
die Pferde zum Betreten der Brücke zu überreden.
Nach vieler Mühe gelang es. Erst mit den Hufen tastend, um die Zuverlässigkeit des
Bambusbodens zu untersuchen, wagten die Tiere sich auf die Brücke. Dann plötzlich ein
scharfes Krachen; mit einem dumpfen Schlag sanken die Hinterräder in das Rinnsal, und die
beiden Pferdchen hingen mit den Vorderbeinen in der Luft.
»So, nun liegen wir vor Anker!« stellte Harmen fest.
Gerretje, der schräg auf dem Bock lag, arbeitete sich auf die Böschung hinauf. »Hier Jungs«, rief
er, »faßt Gerretje bei der Hand! Ein Glück, daß kein Wasser drin steht!«
»Sieh bloß, wie die Gäule dahängen!« sagte Harmen, während er sich von Gerretje aus dem
Wagen hissen lies. »Als ob sie stiegen!«
»Na, ich hab' doch gleich gesagt, daß sie wild sind! Kommt, Jungs, greift mit in die Speichen!
Wir werden den Wagen wieder hübsch aufs Flache setzen.«
Und gemeinsam zogen und stießen sie die Kutsche aus dem Rinnsal heraus, so daß die feurigen
Rösser wieder auf ihre acht Beine zu stehen kamen und vertraulich gegeneinander lehnten.
»Steigt nur wieder ein, ihr Herren!« lud Gerretje ein. »Wenn ich sage: ich fahre euch vor, dann
fahre ich euch auch vor.« Und so geschah es. Sie hielten nun vor dem Haus. Das war ganz und
gar aus Bambus. Die offene Vorderveranda, in der ein Tisch mit einigen Schaukelstühlen aus
Rohr stand, war an den Seiten durch Palmen in Kübeln abgeschlossen, und zwischen den
Stengeln der Palmen hindurch spähten ein paar braune Knirpse.
»Was sind das für welche?« begehrte Harmen zu wissen.
»Das Kleinzeug ist sämtlich mit meiner Frau ins Haus gekommen«, sagte Gerretje ärgerlich.
»Und ihre Mutter und Tante und alles, was dazu gehört. Das ist hier immer so; ich habe mich
erkundigt.«
»Also du sitzt sozusagen schon mitten in deiner arabischen Familie!« höhnte Harmen.
»Hör bloß auf!« seufzte Gerretje. »Wenn ich das gewußt hätte...! Sie quengeln mir den lieben
langen Tag alle siebenundsiebzig was vor, und meine Cente fliegen weg, ehe ich sie selbst
gesehen habe. — Ajo!« fuhr er die Knirpse an. »Pigi! Packt euch! Lekas 1!« Die braunen
Schnuten verschwanden.
( 1 Schnell.)
»Deine Cente?« fragte Harmen. »Verdienst du denn was?«
»Natürlich! Erst habe ich meine Heuer ausgezahlt bekommen: sechsundachtzig Gulden. Davon
habe ich diese Stühle und den Tisch gekauft. Wo der Rest geblieben ist, mag der Teufel wissen.
Nun ja, ich habe auch noch Unkosten gehabt mit meiner Hochzeitsfeier. Die Musik und die
Tanzmädchen und das Hadji fürs Beten; das wollte meine Frau so haben. Und nun gebe ich
einem Chinesen Unterricht, demselben, der mir die Pferde und den Dreckwagen geliehen hat. Er
zeigt auf etwas, dann sage ich, wie es auf Holländisch heißt, und ich bringe ihm auch bei, wie er
sich benehmen muß. — Nehmt Platz, ihr Herren! Dann werde ich die Gäule in den Schatten
stellen, sonst trocknen sie aus.«
Und während Gerretje die Pferde dazu zu bringen suchte, ihm in den Schatten eines hohen
Tamarindenbaumes zu folgen, ließen die »Herren« sich behaglich in den Schaukelstühlen nieder
und sahen sich um. Die Bambuswände waren mit einigen seltsamen, aber feingeschnitzten
Puppen verziert; im Hintergrund hing eine Gardine, die den Abschluß eines andern Gemaches
bildet.
»Rauchen die Herren?« fragte Gerretje zurückkehrend und zog aus seiner Tasche ein Bündel
»Strohhalme« hervor.
»Was sollen wir damit?« fragte Harmen, der gedacht hatte, daß ihm Tabak angeboten würde, und
in Erwartung dessen bereits sein Pfeifchen ausklopfen wollte.
»Man raucht hier keine Pfeifen«, belehrte Gerretje. »Habt ihr sie nicht an diesen Strohhalmen
ziehen sehen?«
Darauf bedienten sich Harmen und Gerretje tapfer der Strohhalme. »Sie sind fein scharf!« lobte
Harmen. »Schade, daß man so schnell damit fertig ist!«
»Dann steckst du dir eben wieder einen neuen an«, meinte Gerretje. »Der Warong 1 liegt
nebenan.«
Träumerisch blickten die Jungen über das Grundstück nach dem Weg mit den hohen
Kanaribäumen, unter denen sich hin und wieder ein Eingeborener vorbeischob. Die ausgelassene
Freude, die vorhin überall geherrscht, hatte der feierlichen Mittagsstille Platz gemacht. In den
Bäumen schwieg nun alles; die süßen Düfte in der Luft schienen noch süßer und stärker zu
werden.
»Na«, sagte Gerretje, »wollt ihr nun auch meine Frau kennenlernen? Ihr sagt ganz einfach zu ihr:
>Tabeh, Mina
»Na, hole sie nur her!« sagte Harmen kichernd.
Gerretje machte aus seinen Händen ein Nebelhorn. »Mina! Minaaaah!« Keine Antwort. Hinten
auf dem Grundstück begann ein Hund zu jaulen, und aus dem Raum, der durch einen Vorhang
von der Vorderveranda getrennt war, tönte plötzlich das Gackern einer Henne.
»Nun sage bloß einer an, wie kommt das Biest in mein Schlafzimmer!« brummte Gerretje. Er
verschwand, und unsere Freunde hörten ihn schelten: »Was wollt ihr hier? — Ajo! Raus!« Drei
eingeborene Knäblein tauchten hinter dem Vorhang auf und flüchteten mit ängstlichem Blick
nach den »Gästen« über die Veranda in den Garten. Das Huhn ließ sich schwerer vertreiben.
Gerretje tobte und wütete, und das Huhn gackerte. Aber endlich schlüpfte es unter dem Vorhang
hindurch, flüchtete mit schlagenden Flügeln und gestreckten Füßen schreiend nach dem
Hintergarten, und Gerretje erschien mit einer Art Besen bewaffnet auf der Bildfläche, sich den
Schweiß von der Stirn wischend.
( 1 Warong: Laden der Eingeborenen.)
»Mein ganzes Schlafzimmer schmierig und durcheinandergewirtschaftet! Und die Bengels haben
da Durian gegessen. Geht mal hinein! Ihr fallt um von dem Gestank.«
»Nix neugierig«, versicherte Harmen. »Na, ist deine Frau nicht zu Hause?« »Vielleicht ist sie
noch auf dem Pasar 1«, sagte Gerretje. »Ich rieche noch nichts von Braten oder so. — Kommt ihr
euch den Garten ansehen?«
Die Jungen standen auf und folgten Gerretje, der sie zum hinteren Garten führte. Hier war ein
Wirrwarr von Frauen und Kindern, die erstaunt und argwöhnisch nach den Gästen von »Tuan
Gerretje« schielten.
»Sind das nun alles deine Basen und Vettern?« fragte Harmen wiehernd.
»Hör doch endlich auf!« brummte Gerretje. Er steuerte auf ein altes Weiblein zu, das hockend
Kräuter stampfte. »Heda, Omama, wo steckt Mina nun wieder?«
Das Weiblein hob das alte Haupt mit den dünngesäten, silberweißen Haaren, die in einen Knoten
zusammengedreht waren, und sah Gerretje mit blinden Augen an. »'nga tauw — ich weiß es
nicht.«
»Da hört sich doch alles auf! Und wann kommt sie kemball2 ?«
Die Alte setzte das Stampfen fort. »Belon tentu. Berengkali bessok .. .3 «
»Gerechter Strohsack!« stammelte Gerretje. »Nun sagt sie, daß Mina erst morgen wiederkommt.
Davon hat sie mir nichts erzählt.«
»Und — wo essen wir nun?« fragte Padde bestürzt.
Gerretje überlegte. »Wenn ich Cente hätte, würde ich sagen: Kommt, Jungs, Gerretje hat Geld;
wir gehn Bami 4 futtern bei Loa Hok Sen! — Das ist ein Chinese.«
»Oh, nun wieder chinesisches Essen!« schimpfte Harmen. »Würmer und getrocknete
Schlangendärme!«
»Na ja«, sagte Gerretje, »wir können dort auch reistafeln!«
»Dann bezahlen wir zusammen für Gerretje«, schlug Hajo vor. »Was, Rolf?«
»Klappe halten!« befahl Harmen. »Ich werde bezahlen — Cente im Überfluß!«
Und Harmen klimperte mit den Gulden in seiner Hosentasche. »Dann kann ich später wenigstens
erzählen, daß ich zwei Steuerleute freigehalten habe.« Harmen sah Hajo und Rolf verächtlich an.
»Steuerleute?« fragte Gerretje.
»Und was für welche!« sagte Harmen. »Gewöhnliche Matrosen wollen sie nicht werden. Dazu
sind sie zu fein gebaut.« Vom Vorgarten her tönte eine kräftige Stimme: »Spadah 5!« »Das wird
Hilke sein«, meinte Gerretje, riß ein paar Bananen von einem Baum und verteilte sie. »Hier; für
die Gäule nehmen wir auch ein paar mit.« Da stand Hilke, in Gala, mit einem Strohhut auf.
»Gut, daß du da bist, Hilke!« sagte Gerretje. »Wir gehen zu Loa Hok Sen essen. Mina ist
weggelaufen; gewiß sucht sie wieder die eine oder andere alte Tante auf.« Gerretje verschwand
hinter der Gardine, um gleich darauf mit einer Kruke
( 1 Pasar: Markt.
2 zurück.
3 »Noch unbestimmt. Morgen vielleicht.«
4 Chinesisches Gericht.
5 Spadah: Ruf, mit dem man sich im indischen Wohnhaus, wo alles von allen Seiten offen ist, beim Eintreten
ankündigt.)
zurückzukehren. »Jandudel kommt mit, Jungs«, sagte er und schlug aufgeregt auf die Kruke. »O warte mal!« wies Hilke ihn zur Rede. »Wenn du dich betrinken willst, danke ich für deine Gesellschaft.«
»Komm, predige nicht, alter Herr!« sagte Gerretje. »Ich bin keine Krabbe; ich brauche auch mal was anderes als Meerwasser.« Er stopfte die Kruke unter das Wagenbänkchen. »Wie kriegen wir die Leichenkutsche nun wieder über die kaputte Brücke?« »Wenn wir die Gäule ausspannen, ist es eine Kleinigkeit, sie über das Rinnsal zu wippen«, weissagte Harmen. Und so war es auch: als Hilke seine Fäuste unter den Wagenrumpf setzte, Harmen und Gerretje jeder ein Rad nahmen und die Jungen oben an der Deichsel zogen, schoß der Wagen so leicht wie eine Feder gegen die Straßenböschung hinauf. Sie spannten die Klepper wieder ein. »Das wäre das«, sagte Gerretje. »Wie kommen wir nun allesamt hinein?« »Padde setzen wir auf den einen Gaul«, schlug Harmen vor. »Das macht sich gut.« »Tue ich nicht«, sagte Padde fest entschlossen. »Na, dann eben aufs Trittbrett!« meinte Gerretje. »Ihr seid blödsinnig«, sagte Hilke. »Padde kann auf meinen Knien sitzen.« »Er kann auch hinterher laufen«, sagte Harmen. Aber Hilke blieb dabei, und als gleich darauf das schwerbeladene Gefährt unter den anstachelnden Zurufen Gerretjes wieder fortrollte, drehte Harmen sich grinsend um. »Jungs, das ist ja gerade wie damals, als wir zu siebzigen in der Jolle saßen!« »Wahrhaftig!« Der Weg wurde belebter; an der Seite standen Warongs und wandernde Lädchen. »Seht ihr dort an Backbord das Haus?« fragte Gerretje und wies auf ein chinesisches Gebäude mit einem geschweiften Dach, dessen Spitzen in hölzerne Drachen ausliefen. »Da müssen wir hin.« Und Gerretje hielt vor Loa Hok Sens gastfreier Wohnung an und sprang vom Bock. »Holla!« schrie er. »Tuan Gerretje ist wieder da!« Ein untertäniger Chinese kam mit fliegendem Zopf herausgestürzt und packte die Pferde beim Zaum. Die Gesellschaft stieg aus, blickte noch einmal nach dem spaßigen Dach und nach den langen Fahnen zu beiden Seiten mit den wunderlichen chinesischen Schriftzeichen und bestieg im Gänsemarsch die Treppe zu der offenen Veranda. Oben empfing sie unter vielen Bücklingen ein unglaublich dicker Sohn des himmlischen Reiches: Loa Hok Sen in eigener Person. Der fette Oberkörper war nackt, der gewaltige Bauch in ein kurzes Höschen gezwängt. In sehr sonderbar klingendem Malaiisch, nasal, singsangartig, langgezogen und fortwährend das r als l aussprechend, hieß er seine Gäste willkommen. »Tabeh, baba1 !« sagte Gerretje jovial. »Tabeh, tuwan basál (großer Herr)!« Und der Chinese schob Stühle heran. »Setzt euch, ihr Herren!« lud Gerretje ein. Und zu dem Chinesen: »Wir wollen Nassi. Und ein bißchen lekas, verstehst du, denn wir haben Hunger!« »Buwat balapah holang, tuwan basál?« »Was faselst du nun noch?« fragte Gerretje. Rolf lächelte. »Er fragt, für wieviel Menschen Essen gebracht werden soll.« »Na, das sieht er doch!« meinte Gerretje. »Ich, das macht eins: satu; Harmen und Hilke und Rolf, das sind vier: ampat; und Hajo und Padde, macht sechs: anam. Anam orangs und für Joppie, den Andjing2 , auch was. Begriffen?« Der Chinese nickte und rief in hohem Kreischten etwas nach hinten. ( 1 Baba: Bezeichnung für den in Indien geborenen Chinesen, zum Unterschied von dem Singkeh, dem
zugewanderten Chinesen.
2 Andjing: Hund.)
»Komische Sprache, was, das Chinesische?« kicherte Gerretje. »Na«, sagte Harmen, »ha-tschi-
tscha-tschu. Gerade, als ob sie fortwährend niesten.«
Der Chinese wandte sich jetzt zögernd an Gerretje, den er für den Anführer der Gesellschaft
hielt, nickte freundlich ein paarmal hintereinander und begann: »Tuwan basál, djangan maláh!
Loa Hok Sen talalu miskin; buwat ini Loa Hok Sen mintah: apa tuwan basál ada ... ada duwit 2?«
»Aha, Duwit! — Zeig mal, Harmen, daß du Cente hast! Er will Butter zum Fisch haben.«
»Mußte er dazu die lange Rede halten?« fragte Harmen und klimperte mit seinem Geld.
»Oah!« sprach der Chinese erfreut, und er watschelte nach hinten.
»Das reine Mastferkel!« grinste Harmen.
Hajo, Rolf und Padde sahen sich befremdet und — vor allem letzterer — nicht ohne Mißtrauen
um. Gut, daß Gerretje hier Bescheid wußte! »Schockschwerenot«, rief dieser gerade aus, »nun
habe ich den Arrak im Wagen liegenlassen! Meinen Kopf ab, wenn die Langschwänze nicht
schon daran gesessen haben!« Und er eilte hinweg.
Zurückgekehrt, setzte er die Kruke mit einem Schlag auf den Tisch. »Sie hatten ihn noch nicht
gefunden. Kommt, wir wollen vor dem Essen ein Schnäpschen genehmigen! Dann schmeckt das
Zeug nachher noch einmal so lecker. Hilke, du bist der Älteste. Bediene dich!«
Aber der Friese wehrte ab. »Weg mit dem schmierigen Arrak!«
»Schmieriger Arrak?« stammelte Gerretje verblüfft. »Du bist von deinem Kuhland her sicher
nichts als Milch und Grabenwasser gewöhnt. Komm, Harmen, du weißt besser, was gut
schmeckt!«
»Ich trinke auch nicht«, sagte Harmen. »Nachher schaffe ich mir eine Fiedel an zum Spielen,
und dann will ich gerade auf meinen Beinen stehen. Trink du lieber darauf, daß du eine gute
Landratte wirst!«
Gerretje antwortete nicht, er bot mit grimmigem Gesicht den andern an. Als er überall einen
Korb bekam, nahm er einen herzhaften Schluck, korkte die Kruke zu uns sagte: »Ich danke
dafür, auf eurem Dreckkahn anzuheuern!«
»Dreck—kahn? Er liegt wie eine Möwe auf dem Wasser«, versicherte Harmen, der von einem
Schiff, zu dessen Bemannung er gehörte, nichts Schlechtes hören konnte. »Aber mir geht ein
Licht auf: der Braunfisch macht sich nichts aus einem Saufbold wie dir.«
Das war stark. Gerretje erbleichte, rollte die Augen und machte eine Bewegung, als wolle er
Harmen zu Leibe. »Das sollst du mir beweisen!«
»Na, still, still!« beschwichtigte Hilke und zog ihn wieder auf seinen Stuhl. »Harmen meint es
nicht so böse. Aber es ist auch unrecht, seine Kameraden im Stich zu lassen. — Sieh dir mal die
Gesellschaft da an!« Er zeigte auf ein Trüppchen Chinesen, die, alle durcheinanderschwatzend,
die Treppe heraufkamen, um einen Tisch herum Platz nahmen, auf Chinesisch etwas nach hinten
schrien, von dort auch wieder Antwort bekamen, und weiterplapperten.
Gerretje machte seiner verbissenen Wut Luft. »Holla, wollt ihr wohl die Schnauze halten, ihr
Tintenfische! — Wenn die Kruke leer wäre, kriegten sie sie an den Kopf. — Kommt!« Und
Gerretje entkorkte die Flasche wieder. »Laß das Trinken jetzt, Gerretje!« sagte Hilke zornig.
Gerretje sah ihn herausfordernd an. »In was mischst du dich hinein, Butterbäuerlein?«
Hilke atmet tief. »Ich gebe dir den Rat, die Kruke wieder zuzumachen, sonst...»
»Was sonst? Ich möchte doch mal sehen, wer mir verbietet, meinen eigenen Jandudel zu
trinken?«
( 2 Duwit: Geld.)
»Noch einmal!« sagte Hilke und legte seine beiden Hände auf den Tisch. »Stellst du die Kruke hin, ja oder ...?« »Nein!« rief Gerretje und brachte die Kruke an den Mund. Da riß Hilke sie ihm mit zornrotem Kopf aus den Fingern und schlug sie mit einem tüchtigen Hieb in Scherben. Der Arrak floß über den Tisch. Mit einem Fluch, keuchend vor Wut, sprang Gerretje auf. Und da kam ein häßliches Ding zum Vorschein, mit dem die Janmaate viel zu schnell bei der Hand sind: der Dreidaumenhieber. Aber im gleichen Augenblick war Harmen herzugesprungen und hatte Gerretje das Messer entwunden. Es fiel auf die Erde: patsch! Hilkes Fuß stand darauf. Gerretje sprangen die Tränen in die Augen. »Warum reizt ihr einen auch?« flennte er. Und in einem neuen Wutanfall drehte er sich um, zog einem Chinesen den Stuhl unter dem Hosenboden weg und schleuderte Hilke dieses Möbelstück an den Kopf. Hilke, schnell wie der Blitz, bückte sich; der Stuhl flog gegen den Perlvorhang und fiel in das Hinterzimmer. Aber mit einem Zischlaut war der Chinese, den Gerretje so unsanft auf den Boden gesetzt hatte, wieder auf und gab Gerretje einen Stoß in den Rücken. Mit einem Ruck kehrte Gerretje sich um, packte ihn um die Mitte, hob ihn hoch und warf sein zappelndes Schlachtopfer auf den Tisch, mitten zwischen die schnatternde Chinesengesellschaft. Die wollten nun allesamt über Gerretje herfallen, aber da hatten sie doch nicht mit dessen Freunden gerechnet, die jetzt, alle inneren Zwistigkeiten vergessend, sich wie ein Mann gegen den äußeren Feind kehrten. Hilke teilte mit seinen Tatzen Streiche aus, daß die Chinesen alle zugleich die Treppe hinunterpurzelten, verfolgt von Joppie, der ihnen die Fetzen aus der Hose schnappen wollte. Auf der Straße angekommen, brachen sie in eine wahre Sturzsee von Segenswünschen aus. Aber die Söhne des himmlischen Reiches machten von Gerretjes Einladung, zurückzukehren, keinen Gebrauch. Loa Hok Sen war inzwischen mit einer Platte voll Gerichten, deren Rand er gegen seine Bauchfalten stützte, auf der Bildfläche erschienen. Mit wehmütigem Augenaufschlag übersah er die Sachlage. »Da — ahah, tuwan basá — áál! Kassian sama Loa Hok Sen! Hab Mitleid mit dem armen Loa Hok Sen, großer Herr!« Harmen warf ihm mit großartiger Gebärde einen Gulden zu. »Und halte nun die Klappe, wenn's irgend geht!« Diese Tat rührte Loa Hok Sen wiederum so, daß die Tränen ihm beinahe über die Wangen rollten. Ein Schwall von Dankesworten entwich seinem stammelnden Munde. »Vorwärts, Jungens!« sagte Harmen. »Vergeßt die Geschichte wieder! Wir sind doch zusammen ausgezogen.« »Der gute Arrak!« grollte Gerretje. »Tuwan basal mau minum alak 1?« fragte der Baba eifrig, die Schale hinsetzend. »Nein, wahrhaftig nicht!« rief Harmen. »Wir haben deinen stinkenden Arrak nicht nötig.« »Na, Gerretje, erkläre uns mal, wie wir diesen Kram essen müssen!« sagte Hilke. »Du weißt damit besser Bescheid als wir.« Gerretje brummte. Dann streckte er die Hand aus. »Vorwärts, die Sache soll begraben sein!« Hilke schlug seine Hand in die von Gerretje. »Wir dürfen uns doch nicht zanken, Gerretje! Dazu sind wir doch zu lange Freunde gewesen.« ( 1 Will der große Herr Arrak trinken?)
»Ich habe auch keinen Streit angefangen«, sagte Gerretje. »Wenn du meinen Arrak nicht. . .« »Bst!« beschwichtigte Harmen. »Sag mal, was müssen wir mit der Suppe machen?« »Das ist keine Suppe«, versetzte Gerretje, »das ist >Sajur<; daß gießt du drüber. Und dies hier ist >Krupuk<; das mußt du dazu essen; es knuspert fein zwischen den Zähnen. Die Fleischstücke an dem Stöckchen nennen sie >Sesate<; das müßt ihr mit den Zähnen herunterziehen, und das schwarze Fleisch ist >Deng-deng<. Das kann ich euch auch empfehlen. Na, aus diesen Töpfchen müßt ihr nicht zuviel nehmen, sonst verbrennt ihr euch den Gaumen! Und das da ist >Pisang goreng<, gebackene Banane. Und vom übrigen weiß ich die Namen auch nicht. Was wollen wir dazu trinken? Wartet! Fruchtsaft mit Glibber drin ist fein. — Heda, baba! Ajer buwah mit Selase 2!« »Saja, tuwan basál!« Und die Mahlzeit nahm ihren Anfang. Die Jungen hatten tüchtig Hunger bekommen und arbeiteten sich mit Löwenkraft hindurch. Ob es schmeckte? Sie hätten nie gedacht, daß Chinesen solch leckeres Essen bereiten könnten. -Und die Früchte hinterher! Manggah, Mangistan, Rambutan, Duku, soviel sie wollten. Endlich wurden die Mühlen stumpf und mahlten träger. Es wurde still an ihrem Tisch. Und heiß war es! »Können wir hier nicht unser Mittagschläfchen halten?« fragte Harmen. »Warum nicht?« meinte Gerretje. »Auf dem Fußboden.« Da rollten alle von ihren Stühlen und nickten ein.
( 2 Ajer: Wasser; Buwah: Frucht; Ajer buwah: Fruchtsaft; Selase: Glibber.)
Der Pasar malem Als unsere Freunde erwachten, war die größte Hitze vorbei. »Was wollen wir machen?« fragte Gerretje, sich ausstreckend und laut gähnend. »Für den Pasar ist es noch zu früh.« »Das schadet nichts«, sagte Harmen. »Dann gehen wir erst Einkäufe machen. Wir müssen Hosen, Hemden, Socken und eine Schiffskiste haben, überhaupt alles, was man braucht.« »Dann fahren wir zum Toko1 Bombay«, sagte Gerretje. »Was ist das: Tokobombee?« fragte Harmen. »Ob ich da eine Fiedel bekommen kann?« »Bekommen, nein; kaufen, ja«, erwiderte Gerretje. »Sie haben da alles.« »Denn man los!« Harmen sprang auf. Da erschien, liebenswürdig lächelnd, die Hände auf dem fetten Bauch, Loa Hok Sen wieder. »Tabeh, tuwan basál! Tuwan basál tidol bai? — Hast du gut geschlafen, großer Herr?« »Der kommt sein Geld holen«, sagte Gerretje. Und zum Chinesen: »Brapa? Wieviel?« »Oa — ah, tuwan basál!« stammelte der Chinese in dankbarem Ton. Und an seinen Fingern herzählend, halb singend, begann er eine ellenlange Berechnung, bis er schließlich eine Summe von zwei Gulden zusammengesungen hatte und freundlich die Hand aufhielt. »So ein Betrüger!« raste Gerretje. Aber Harmen tastete in seine Hosentasche wie ein Zauberer in seine Schatzkiste und warf Loa Hok Sen mit Schwung die Gulden zu. Dieser schien, nach dem Übermaß seiner Freude zu beurteilen, noch nicht auf die Hälfte gerechnet zu haben und überschüttete Harmen nun mit Segenswünschen. »Vorwärts, lekas, Schubjack!« befahl Gerretje. »Hol den Wagen und die Kudas her!« Loa Hok Sen rief etwas nach hinten, und gleich darauf fuhr ächzend der Wagen vor. Der chinesische Gastwirt verbeugte sich, so tief sein Schmerbauch es gestattete, und war ganz und gar Lächeln; sogar die Falten seines Bauches schienen zu lachen. Als Joppie beim Schlafittchen binnenbords gezogen war, ging die Reise wieder weiter. Toko Bombay erwies sich als ein unansehnlicher kleiner Laden, nicht weit vom Hafen. Mit gebücktem Kopf traten die Jungen ins Dunkel. »Du solltest dich zusammenklappen, Hilke«, meinte Harmen. In dem Laden hing ein betäubender Duft von Weihrauch, Blumen, Riechwaren. So grau das Lädchen von außen schien, so farbenfreudig war es von innen: es glich einer Schatzkammer. Schimmernde, glänzende, funkelnde Dinge lagen über- und nebeneinandergestapelt, und zu all dem buntscheckigen, sonderbaren Kram tauchte aus dem Halbdunkel noch ein ebenso buntes und sonderbares Wesen auf: der Kaufmann des Toko Bombay. Er trug ein goldgesticktes Käppchen, ein langes grauweißes Hemd und darüber eine offene Weste mit goldgewirkten Figuren. Unter dem Hemd guckte eine weite Hose von derselben Farbe hervor, und die nackten Füße staken in schwarzsamtenen Sandalen, die ebenfalls von Goldfäden schimmerten. Mit einem leichten Neigen des Kopfes und einer vornehmen Armbewegung hieß er seine Gäste willkommen und wartete, schweigend und sie mit seinen leuchtendschwarzen Perlenaugen klug ansehend, ihre Wünsche ab.
( 1 Toko: größerer Laden.)
»Tabeh, bang1!« sagte Gerretje. »Ja, Jungs, was wollt ihr kaufen?« Ein wenig befangen sahen die Jungen umher. Was für prachtvolle Dinge gab es hier! Harmen bekam eine Wasserpfeife in die Hände. »Was ist das für ein Ding?« fragte er. »Das ist eine Pfeife«, gab Gerretje Auskunft. »So eine hat mein Freund, dem ich Unterricht gebe, auch zu Hause.« »Und wozu ist der Schlauch dran?« »Was weiß ich?« sagte Gerretje. »Vielleicht, um die Pfeife unterwegs auf den Rücken zu nehmen.« Padde fing an zu kichern. »Sie ist gekauft!« rief Harmen. »Wenn du daraus rauchst, kugeln sie sich«, meinte Hilke fröhlich. »Wenn sie sich nicht auf meine Pfeife kugeln, meinetwegen«, sagte Harmen und legte die Pfeife für sich beiseite. »Sieh mal die schönen Quasten, die dranhängen! Nun muß ich noch eine Fiedel haben.« Und er machte dem Kaufmann sein Begehren deutlich, indem er den Kopf schräg legte und mit den Armen durch die Luft fiedelte. Der Mann nickte, wandte sich um und rief etwas in einer scharfklingenden Sprache. Ein kleiner Junge mit mattgelber Hautfarbe und ebensolchem orientalischen Anzug tauchte aus dem Halbdunkel auf und setzte auf den Ladentisch einen schwarzen Geigenkasten nieder, dann verschwand er wieder. Der Mann öffnete den Kasten, hob das Tüchlein auf und... Harmen rollten die dicken Tränen über die Wangen. Schweigend, ohne die Hände auszustrecken, starrte er das Wunder an. Dann hob er die Geige mit bebenden Händen aus dem Kasten und hakte den Bogen ab. »Na, Jungs...« Harmen holte tief Atem, »was soll ich spielen?« »Das von dem Begräbnis«, sagte Hajo. »Warte! Ich weiß schon ein schönes Stück«, rief Harmen aus. Und er begann zu fiedeln, anfänglich noch zögernd und zittrig, aber allmählich wieder mit dem alten Schwung, mit Trillern und Läufen, oder furchtbar traurig schleppend vom einen Ton in den andern. »Verflixt schön!« pries Hilke. Ritsch, da glitt der Bogen kratzend aus! »Ich bin die Geige noch nicht gewöhnt«, entschuldigte sich Harmen. »Darf ich auch mal?« fragte Hajo, während er sich vor Aufregung verschluckte. »Jawohl«, sagte Harmen gnädig, »nachher darfst du. Erst mußt du zuhören. Und gib Joppie mal einen Tritt, damit er aufhört mit seinem Gejaule!« Joppie wurde zur Ruhe verwiesen, und nun machte Harmen sich mit aller Kraft an das Begräbnis. Vor dem Toko blieb nach und nach ein Haufe von Gaffern stehen. Harmen glühte vor Stolz und unternahm mit Fingern und Geigenbogen die gewagtesten Kletterkünste. Inzwischen machten sich die andern ans Einkaufen. Keinei von ihnen entging dem Zauber, der von all diesen wundersamen Dingen ausstrahlte. Gerretje, der selbst kein Geld zum Ausgeben hatte, half dem Kaufmann, indem er aus Ecken und Winkeln glitzernde Dinge hervorzog, eins immer schöner als das andere, und sie den im Kaufrausch schwelgenden Jungen vorlegte, so daß sie sich, noch ehe sie an die Anschaffung einer gediegenen Hose dachten, schon beinahe arm gekauft hatten an gestickten Pantoffeln, versilberten Riechdöschen mit schönen Verzierungen darauf, Fächern, Ringen, elfenbeinernen Elefanten, hübschen Püppchen, seidenen Tüchern, Dolchen, Armbandern. Padde war gerade in Unterhandlung wegen eines bemalten ( 1 Bruder.)
Sonnenschirms mit schöngeschnitztem Stock, als Rolf endlich auf den guten Gedanken geriet, zu
fragen, was ein paar starke Schiffskisten kosteten.
Der Mann nannte den Preis und sagte, daß sie in zwei Tagen fertig sein könnten.
»Wann segelt die >Nieuw-Zeeland« fragte Rolf die andern.
»Nächste Woche, wenn der Wind günstig ist«, sagte Harmen, indem er die Fiedel hinlegte. »Ich
möchte gern im tiefsten Winter ankommen; mir ist es nun lange genug Sommer gewesen. Und
du, Hilke, was? Die Deern wird sich nicht schlecht freuen, du!«
»Hör bloß davon auf!« seufzte Hilke, der plötzlich feuerrot wurde.
»Zu Weihnachten sind wir zu Hause«, meinte Harmen. »Wird das gemütlich sein, Jungs! Des
Abends beim Feuer einen Becher heiße Kräutermilch, und dann von der Reise erzählen!«
Gerretje war still geworden, und Harmen merkte es. »Ja, Dummerjan, da kannst du natürlich
nicht mitmachen! Laß du dich man garschmoren in deinem Niggerland! — Seine Kameraden im
Stich lassen — so einer!«
»Halt den Schnabel!« schalt Gerretje.
»Bst!« begütigte Rolf. Und zum Kaufmann: »Mach die Kisten für uns! Vier Stück.«
»Sag ihm, daß er Plättchen über die Ecken hämmert!« riet Padde.
Es war ein sonderbares Trüpplein, das eine halbe Stunde später in den Wagen kletterte. Harmen,
unter einem Arm seine Fiedel, unter dem andern seine Wasserpfeife, hatte einen roten Fes auf
und mit einer schwarzen Quaste dran, trug einen protzigen Javanerdolch hinten im Gürtel und
schlurfte auf goldgestickten Sandalen. Die andern waren nicht minder bepackt mit farben- und
formenreichen Gegenständen.
»Alles unter die Bank!« riet Gerretje.
»Guten Morgen!« sagte Harmen. »Da kann gerade meine Pfeife stehen und mehr nicht.«
»Na«, meinte Hilke, »dann nehmen wir den Krimskrams auf den Schoß und bringen erst alles an
Bord!«
Das wurde beschlossen. Harmen schwang sich auf den Bock neben Gerretje; die andern setzten
sich mit dem gekauften Kram in den Wagen. Und als alles gut untergebracht war, nahm Harmen
seine Fiedel und begann so feurig zu spielen, daß die Pferdchen einen gestreckten Trab
anschlugen.
»Sieh bloß, wie die laufen!« sagte Gerretje. »Die sind bange vor der Musik.«
»Wie kommen wir nun an Bord?« fragte Hilke, als sie am Hafen waren. »Mit einer Prau. Da
liegt schon eine mit einem Segel.«
»Und wenn der Eigentümer nun kommt?«
»Der kommt nicht«, sagte Gerretje. »Laßt Harmen und mich das Gerümpel schnell an Bord
bringen, denn wir können nicht alle miteinander in die dreckige Prau! — Leg doch endlich die
Fiedel weg, Harmen!«
Harmen stellte sein Spiel ein und sprang in die Prau.
Gleich darauf segelten die beiden Janmaate weg, nach der »Nieuw-Zeeland«. Harmen fiedelte
schon wieder. Die andern gingen in einen der Warongs, die sich am Kai befanden, hinein und
aßen ein paar in Bananenblätter gewickelte Süßigkeiten. Die Sonne glitt gerade ins Meer, die
kurze indische Dämmerung brach an.
Es dauerte wohl eine Stunde, bis Gerretje und Harmen zurückkehrten. Bereits von ferne erklang
Harmens Geigenspiel wieder übers Wasser. Die andern bezahlten, was sie verzehrt hatten, und
gingen hinaus.
Die Reede bot nun einen hübschen Anblick. Überall wurden kleine Prauen losgeworfen; ein paar
Eingeborene sprangen hinein, steckten eine Fackel auf den Vorderteil und zogen auf den
Fischfang. Der Widerschein der Lichter huschte über die Wellen.
»Jungs, ich hab' eine Neuigkeit!« rief Harmen schon von der Prau aus. »Gerretje hat beim
Braunfisch angemustert.«
»Das ist sehr vernünftig«, lobte Hilke. Und die andern lachten.
»Vorwärts, quaßle nicht!« brummte Gerretje, ans Land springend. »Wir gehen auf den Pasar
malem.«
»Und meine Fiedel geht mit, Jungs!« schrie Harmen. »Zur Kirmes gehört Musik!«
Aufgeregt schwangen sich alle wieder in den Wagen. Auf zum Pasar malern!
Es war dunkel geworden. Wohl funkelten ein paar Sterne, aber der Mond war noch nirgends zu
entdecken. Die Jungen fuhren wieder über die Brücke und dann in die Allee von vorhin. Hier
unter den hohen, schweren Laubbäumen war es so stockfinster, daß man keine Böschung
unterscheiden konnte. Aber weiter vorn tanzten die Fackeln wandelnder Lädchen, und nach
diesen Leuchtbojen richtete Gerretje seinen Kurs. Er hatte angefangen, zu Harmens Gefiedel zu
singen, knallte mit der Peitsche und schrie seine Freude über seine Anmusterung heraus.
»Gerretje lebe hoch!« rief Harmen.
»Hipp-hipp-hurra!« fielen die andern Jungen ein, und Gerretje selbst schrie am lautesten.
So langten sie beim Pasar malem an. Sie stellten ihren Gesang ein, als das Marktgesumm zu
ihnen drang, und spähten aus dem Wagen nach all dem Lichtgefunkel.
»So, hier machen wir den Kahn fest«, schlug Gerretje vor.
Als der Kahn festgemacht war, stiegen alle aus und gingen auf den Marktplatz. Überall Zelte,
Buden mit qualmenden Ölfunzeln und Fackeln, vorbeischiebende Gestalten in bunten Wamsen
und Sarongs, zitternde Schatten nach drei, vier Seiten zugleich werfend. Merkwürdig war, daß
nirgends geschrien, gesungen oder gestritten wurde. Die Markthändler saßen schweigend, einen
Strohhalm rauchend, bei ihren Waren und sprachen nur einige Worte, wenn ein Kauflustiger bei
ihrem Stand stehenblieb. »Ist das eine öde Geschichte hier!« seufzte Harmen. »Ich höre noch
kein Karussell, ich sehe keinen Zirkus — nix.«
Halt, dort in der Ferne ertönte lallender, grölender Gesang. Janmaate! »Da müssen wir hin,
Jungs!« befahl Harmen. Der erregte Aufsehen mit seinem roten Fes, seinem Dolch und seiner
Fiedel.
Die Jungen liefen weiter und fanden in der Mitte des Marktplatzes unter einem riesigen
Waringin die Sängergesellschaft. Ein Kreis von Eingeborenen sah schmunzelnd zu.
Die Maate schrien und tobten und klatschten in die Hände, und in ihrer Mitte tanzten zwei mit
sonderbaren Körperverrenkungen. »Schiff ahoi!« schrie Gerretje. »Was macht ihr da für Jux?«
»Wir tanzen, auf javanisch. Heda, spielst du dazu, du?«
Harmen wurde in ihre Mitte gestoßen, zu den »Tänzern«, und machte sich ans Fiedeln.
»Jungs«, überschrie Gerretje das Gebrüll und Gejohle der Janmaate, »Gerretje hat wieder
angeheuert und die Tasche voll Geld!« Und er klimperte mit den soeben empfangenen
Silberstücken in der Hosentasche.
»Hoch, Gerretje! Hurra!« rief die Schar.
Einer kam mit einem Eingeborenen ins Handgemenge, dem er gegen den Leib gefallen war.
»Blauer Nigger!« schalt er. »Dich werde ich...!«
Hilke zog Rolf, Hajo und Padde mit sich fort. »Jungs, es artet hier wieder aus. Kommt mit mir!
Dort drüben können wir richtig javanisch tanzen sehen.«
Und Hilke ging voran; er wandelte wie ein Goliath zwischen den klein gebauten Eingeborenen und den niedrigen Zelten. Die Jungen staunten über die Menge der verschiedenen Rassen von Morgenländern, die sie beisammen sahen. In einer Bude kauften sie ein paar Manggahs und tranken grünen Fruchtsaft dazu, voll von Glibberkörnchen. Die Eingeborenen waren in ihren besten Kleidern. Kinder trugen silberne Knöchelbänder, und an den braunen Fingerchen glänzten Ringe. Die Frauen hatten ihr schwarzes, glänzendes, eingeöltes Haar noch untadeliger nach hinten gekämmt als sonst; der Knoten lag noch zierlicher, anmutiger, und es prangten schneeweiße Melatiblümchen darin, die einen herrlichen starken Geruch verbreiteten. Die glattgefalteten Kopftücher der Männer standen vornehm über dem braunen Antlitz. Überall hing ein süßer Duft von Blumen, Leckereien, Früchten, vermischt mit dem Dunst von Gekochtem und Gesottenem, von Fisch, Durian und dem Qualm der Ölfunzeln, die dem Ganzen ein festliches, märchenhaftes Aussehen verliehen. Über all das Geplauder und Gesumm triumphierten drüben Harmens Fiedelkunst und der Gesang der Janmaate. So fanden die Jungen den Platz, wo getanzt wurde, und wohl eine Stunde lang starrten sie verwundert, befangen und traumverloren nach den wunderlichen Bewegungen der »Ronggengs«, der javanischen Tänzerinnen. So wollten sie ihr Leben lang wohl tanzen sehen. Was für einen schönen goldenen Helm trug die eine! Das war gewiß eine Königin. Allmählich gewöhnten sich die Jungen an den scheinbar so eintönigen Klingklang des Gamelang; sie fühlten, daß die Musik eins war mit dem Tanz und daß die Tänzerinnen bei jeder neuen Weise wieder andere wundersam schöne Figuren beschrieben. Sie sahen an diesem Abend auch noch eine Theatervorstellung mit Puppen, die spaßige Gesichter hatten und wunderlich dünne Arme, und es saß jemand dabei, der alles erzählte. Hu, das da war gewiß der Teufel! Und das der König. Schade, daß sie beinahe nichts verstanden! Und von dem »Wajang-wong«, dem Puppentheater, spazierten die Jungen nach der Stelle, wo ein Hahnenkampf abgehalten wurde. Zornig, die Brustfedern zu goldenen Harnischen gesträubt, flogen die Tiere aufeinander zu und brachten einander blutige Wunden bei mit den stählernen Sporen, die man ihnen angebunden hatte. Schweigend sahen die Eingeborenen zu; vor ihnen lagen Häufchen Silber, die darauf deuteten, daß auf die Hähne gewettet wurde. Die Jungen fühlten sich durch dies grausame Spiel abgestoßen und gingen wieder weiter. Was war das doch für ein eigentümliches Volk, das so viel Kultur paarte mit so tief stehenden Neigungen! Es war spät geworden, und unsere Freunde beschlossen, heimzukehren. Zu zweien, Hilke und Padde voraus und hinterdrein Hajo und Rolf, schlenderten sie durch die breite Allee. Hin und wieder überholte sie mit leichten, schnellen Schritten ein Lastträger mit einer Fackel an seinem Korb, der sich scheu und flüchtig nach ihnen umsah. »Nun, Hajo«, sagte Rolf plötzlich, »in ein paar Tagen ist es vorbei.« Hajo holte tief Atem und blickte aufwärts, wo zwischen den Baumwipfeln die Sterne funkelten. Dann sagte er: »Rolf, ich weiß nicht, ob ich dich jemals wiedersehe, aber vergessen werde ich dich nie. Du bist — du bist...« Hajo konnte keine Worte finden. »Ein Federfuchser«, sagte Rolf mit einem halb neckischen, halb trüben Lächeln. Hajo kamen die Tränen, und er umklammerte Rolfs Arm. »Still, still!« sagte Rolf. »Wenn du übers Jahr wieder hierher nach Indien zurückkommst, mustern wir noch auf demselben Schiff an und segeln zusammen nach Holland zurück. Das wird herrlich sein, nicht wahr?« »Na und ob!«
»Und dann arbeite ich auf einer Schiffswerft, das habe ich schon immer gewollt.«
»Ja«, sagte Hajo, »das weiß ich noch von früher, vom Italienischen Deich. Hättest du damals
gedacht, daß wir je noch einmal so dicke Freunde werden würden?«
Rolf nickte. »Ich sah dich, und gleich gefielst du mir. Wenn du mir einen unangenehmen
Eindruck gemacht hättest, dann hätte ich dich bei dem Ringkampf ganz anders angepackt. Und
Padde schien mir auch gleich so ein gemütlicher Trottel zu sein.«
»Du, Rolf«, sagte Hajo und kniff Rolf in den Arm, »vielleicht — vielleicht werde ich einmal
Steuermann« (Hajo sprach das Wort hastig aus) »auf einem Schiff, auf dem du Schiffer bist.«
»Oder du wirst noch einmal Schiffer auf einem Kahn, den ich gebaut habe. Ich werde auf alle
Fälle einmal ein Modell für dich aussuchen. Und wenn ich kein Modell finde, das mir gefällt,
entwerfe ich selbst eins.«
Hajo war stehengeblieben. »Ist das dein Ernst Rolf?« stammelte er. »Könnte ich einmal —
einmal Schiffer werden?«
»Warum nicht?« fragte Rolf. »Wenn du dich nur ins Zeug legst! Sieh dir so einen Braunfisch
mal an! Solltest du nicht lernen können, was der gelernt hat?«
»Rolf!«
Die Jungen schwiegen; Hajo mußte noch einmal reiflich überdenken, was Rolf gesagt hatte. Er,
Peter Hajo, sollte Schiffer werden können? Schiffer mit einem Ersten und einem Zweiten
Steuermann und einem Bootsmann unter sich?
Ein eigenes Schiff haben, ein eigenes Schiff mit einer Bemannung?
Schiffer Hajo — wie fein das klang! — Dafür mußte gearbeitet werden, hart gearbeitet,
jahrelang. Nun wohl, Hajo würde arbeiten mit zusammengebissenen Zähnen. Er würde lesen und
schreiben lernen, er würde ein Buch nach dem andern verschlingen, Zeile für Zeile, bis er es
auswendig konnte. Er würde über Sternkarten gebeugt sitzen, Abend für Abend, bis kein Öl
mehr in der Lampe war. Des Nachts im Bett würde er Berechnungen machen. Er würde nach
Zaandam laufen und nach Amsterdam, wo die großen Schiffswerften waren. Er würde warten,
bis er ein Mann wäre, und sich einen Bart stehen lassen, gerade wie Schiffer Bontekoe. Jetzt
schon, auf dieser Reise, würde er dahinterzukommen suchen, was der Braunfisch so Tag für Tag
tat, ob es sehr schwer war, das Schiffersein?
Da tönte in der Ferne Harmens Fiedel wieder. Die Jungen drehten sich um und sahen den Wagen
ankommen, der heftig schwankte, nach dem Licht auf dem Bock zu urteilen. Und als die Ohmes
wieder in Harmens Gefiedel mit einstimmten, hörten die Jungen, daß der Arrak gesiegt hatte.
»Am Ende kippen sie noch um«, sagte Rolf.
Danach sah es wirklich aus; der Wagen schwankte von einer Wegböschung zur andern hinüber.
Die Jungen kamen auf dem Kai an, wo die andern bereits in der Schaluppe saßen und sich die
Zeit damit vertrieben, das kleine Boot so zum Schaukeln zu bringen, daß es fortwährend Wasser
schöpfte. Oben stand der verlassene Wagen. Die Pferdchen lehnten trübselig und schläfrig
gegeneinander. Tutan Gerretje hatte keine Lust mehr, sie nach Hause zu bringen.
»Spanne sie dann wenigstens aus!« brummte Rolf und befreite die Tiere vom Zaumzeug. Die
Pferdchen machten dankbar Gebrauch von ihrer Freiheit, indem sie sogleich wegtrotteten,
vermutlich nach ihrem Stall.
Schließlich legte die Schaluppe sich längsseits der »Nieuw-Zeeland«, und die Maate kletterten
an Bord. Keiner von ihnen fiel vom Fallreep; denn so viel Arrak kann ein holländischer Janmaat
nicht durch die Kehle gießen, daß er ein Tau losläßt, wenn er es einmal in der Hand hält.
Die Heimkehr Am 8. März des Jahres 1620 lichtete die »Nieuw-Zeeland« die Anker, und am 28. Dezember desselben Jahres ließ sie diese nach einer günstigen Reise wieder fallen auf der sandigen Reede von Vlissingen. Mit Tränen in den Augen hatten die Gefährten Rolf Lebewohl gewinkt, als ein steifer Südost die Segel blähte und die »Nieuw-Zeeland« stattlich forttrieb von Javas grüner Küste, und mit Tränen in den Augen hatten sie am 28. Dezember in der Frühe, zitternd vor Kälte, im grauen Nebel die Dünen von Walcheren schimmern sehen. Da standen sie, einer neben dem andern, die Kragen hochgeschlagen, die Hände in den Hosentaschen, Hajo und Harmen und Hilke und Gerretje und Padde und hundert andere Maate, und schwatzten alle durcheinander und winkten und schrien oder hauchten sich in die Hände. Seht, dort lag Vlissingen mit seinen roten Dächern und seinem stumpfen Turm, aus dem die Flagge heraushing, weil ein Ostindienfahrer, die »Nieuw-Zeeland«, aus dem fernen Menschenfresserlande eingelaufen war, den Kielraum voll Pfeffer, Gewürznelken, Kaffee, Tabak! Nun lief alles aus der Werkstätte weg, und durch die kleinen Fenster der Hafenkanzleien spähten die Schreiber, auf ihren Gänsekielen kauend. Der Reeder vornehm in Schwarz, mit weißem Kragen und Handschuhen, begleitet von den Herren der Schreiberei, nahm würdevoll in seiner Schaluppe Platz, um sich an Bord rudern zu lassen. Und die Gassenschlingel? Herrje, diese Gassenschlingel! Überall klapperten ihre Holzschuhe über die Pflastersteine. Sie bahnten sich mit dem Ellbogen einen Weg durch die Menschenmenge und fuhren in vollgepfropften Bötchen Hals über Kopf zu dem Ostindienfahrer hin. Grinsend hingen die Maate über die Reling, sahen zu, welche dieser kleinen Seeräuberbanden den Lorbeer davontragen würde, zuerst bei dem Ostindienfahrer angekommen zu sein, zuerst »Hurra!« geschrien, die Mützen geschwenkt zu haben und zu fragen: »Gute Fahrt gehabt? Wirf mal ein bißchen Indisch herunter!« Dafür tauchten sie zur Not in das eiskalte Wasser, die Bengels, die nun, an den Rudern ziehend wie Besessene, näher schaukelten. Und drüben am Kai, seht bloß, was für Volk da zuläuft! Und wie die Fahnen nun leuchteten in der hellen Sonne! Ja, sie waren wieder in ihrem lieben Froschländchen! Und all die Fahnen, all das Volk, all die Aufregung galten ihnen. Zwei Stunden später begann die Abmusterung. Harmen kam in die Kambüse, packte Joppie beim Schlafittchen und scharte sich in die Reihen der Wartenden vor der Kajüte. Joppie winselte, an allen Gliedern bibbernd vor Kälte. »Wir mustern ab, Joppie«, sagte Harmen. Und so kamen die Jungen auch an die Reihe und schoben sich zu dritt in die Kajüte, Joppie auch, verdeckt hinter Harmens Rücken. Ob der Braunfisch zufrieden war mit seinen Schiffsjungen? Erst wandte er sich an Harmen. »Du machst die nächste Reise wieder mit.« »Ich will nicht mehr seefahren«, sagte Harmen. »Dann kenne ich dich besser als du dich selbst«, meinte der Braunfisch. »Na«, sagte Harmen, »ich will ein Braunfisch sein, wenn ich jemals wieder auf so einem dreckigen Ostindienfahrer anheuere!« Es herrschte einen Augenblick Stille in der Kajüte. Der Braunfisch blickte mit gefahrdrohenden Augen in Harmens Züge, auf denen nichts als bitterer Ernst zu lesen war. »Hier, nimm deine Heuer!« donnerte der Braunfisch.
»Danke schön, Schiffer!« sagte Harmen untertänig. Um das Geld einstreichen zu können, mußte
er Joppie loslassen. Das wackere Tier verstauchte sich beinahe seine vier Pfoten, gewahrte einen
ausgestopften Tiger, und alle Haare sträubten sich ihm.
Der Braunfisch ließ die Augen rollen. »Was soll der Hund hier in der Kajüte?«
»Abmustern und sich seine Heuer holen«, erklärte Harmen. Dann konnte er nicht länger ernst
bleiben, begann zu kichern, strich hastig sein Geld ein und ließ es in die Hosentasche gleiten.
»Na, schönen guten Tag, Schiffer! Laß dir's gut gehen!« Und Harmen verließ mit unziemlicher
Hast die Kajüte, Joppie hinter ihm her, den Schwanz zwischen den Beinen.
Der Braunfisch japste nach Atem. »Nun du!« wandte er sich barsch an Hajo. »Ich werde deinen
Brief in Amsterdam abgeben und noch ein Wort beifügen. Wo mußt du hin? Nach Hoorn? Na,
dann bist du nicht weit weg! Hier ist meine Adresse. Siehst du, die habe ich dir aufgeschrieben.
Und Montag in acht Tagen kommst du zu mir, dann nehme ich dich zu den Herren der
Compagnie. Begriffen?«
Ob Hajo begriffen hatte! »Wie kommst du nun nach Hoorn? Zu Fuß?«
»Ja, Schiffer. Aber Harmen hat gesagt...«
»Harmen? Frage ich dich, was Harmen gesagt hat? Du kannst bis nach Dordrecht in der Jolle
mit; die ist für das Schiffsvolk, das nach der Gegend muß. Und von da läufst du eben, das ist
gesund. Und laß dir unterwegs nicht dein Geld wegstehlen! Landratten soll man nie vertrauen!
Hier ist es; mit dem, was du mir zur Aufbewahrung gegeben hast, zusammen dreiundsiebzig
Gulden. —
Und nun du!« Das galt Padde. »Warum Schiffer Bontekoe dich noch besonders angemustert hat,
wird mir ewig ein Rätsel bleiben. Weißt du, was du bist? Ein Nichtsnutz, eine Landratte!«
»Na, ich wollte auch gar nicht zur See gehen!« sagte Padde aufgebracht. »Ich wollte zu meinem
Oheim in die Bierbrauerei.«
Der Braunfisch sah ihn erstaunt an. »Und warum bist du dann nach Ostindien gegangen?«
»Ich habe — ich habe es verschlafen!«
»Was? — Na, daß du eine Schlafmütze bist, habe ich gemerkt! Hier ist dein Geld,
vierundsechzig Gulden. Neununddreißig und siebenundzwanzig ...«
»Macht Sechsundsechzig und nicht vierundsechzig«, berichtigte Padde. »Zwei Gulden
zuwenig.«
»Was!« Der Braunfisch machte sich ans Rechnen und erkannte, daß Padde recht hatte. »Da!«
brummte er, indem er seine Schublade öffnete und noch zwei Gulden auf den Tisch warf. »Ich
dachte gerade, daß meine Bücher endlich stimmten.«
Gleich darauf standen die Jungen draußen. »Da wollte der mir zwei Gulden abknapsen!« sagte
Padde entrüstet. »Ich würde ja nichts sagen, aber diese Schiffer verdienen genug, nicht wahr,
Harmen?«
»Und ob!« stimmte Harmen ihm bei.
Des Nachmittags fuhr die Jolle weg. Das gab einen Abschied zwischen den Ohmes! Die Tränen
flossen — eimerweise! Alle wußten, daß sie einander binnen wenigen Wochen wiedersehen
würden; aber sie nahmen Abschied für ewig und winkten, solange sie noch eine Mütze
schwenken konnten.
Der Wind saß prall im Norden, so daß die Jolle zwischen Walcheren und Südheveland tüchtig
kreuzen mußte. Und es war so eiskalt auf dem Wasser, daß alle in der Höhlung des Bootes dicht
zusammenkrochen und ein Segel über die Ränder spannten. Gegen Dunkelwerden vertäuten sie
die Jolle am Süderdeich von Nordbeveland, wo ein Bauernhaus auftauchte. Sie kletterten mit
steifen Beinen, eingeschlafenen Füßen und verklammten Fingern den Deich in die Höhe und
krochen alle zusammen auf den warmen Heuboden, der ihnen von dem Bauern bereitwillig
abgetreten wurde.
»Wo kommt ihr her?« fragte der Bauer, während er ihnen mit einer Kerze voranging zur Leiter,
die zum Boden hinaufführte.
»Von Batavia«, sagte Padde.
»Wo liegt das?«
»Dicht bei, wenn man erst da ist«, klärte Harmen ihn auf. »Komm, Joppie!«
Und Joppie wurde zum soundsovielten Mal beim Nackenfell gepackt.
»Muß der Hund mit auf den Boden?« fragte der Bauer.
»Natürlich!« sagte Harmen. »Der hat schon mehr gesehen als fünfzig Bauernkäseköpfe.«
»Na, es ist ein häßliches Biest!« brummte der Bauer.
»Sag ihm das malaiisch!« sagte Harmen. »Dann fliegt er dir an die Waden.«
Da waren alle oben. Der Bauer klappte die Luke zu und zog die Leiter weg,
so daß die Männer eingesperrt waren.
»Der traut uns für keinen Priem Tabak«, meinte ein Ohme.
»Ob es hier kein Hühnchen zu rupfen gibt für Silvesterabend?« fragte Gerretje und tastete an den
Dachbalken entlang. Da flatterte ein Hahn laut gackernd weg. »So ein Biest!« schalt Gerretje.
»Er hat mich gepickt.«
Ach, war das hier schön warm auf dem Boden! Sogar Joppie taute auf. Die Männer rollten sich
ins Heu und durchkosteten noch einmal so recht von Herzen das Gefühl, wieder in ihrem lieben
Heimatland zu sein. Wie mochte es daheim aussehen? Doch alles gut? Eine kleine Unruhe, die
sie beschlich, wurde wieder hinausgefegt. Und gleich darauf schnarchten sie alle so, daß der
Bauer und seine Frau erstaunt ihre Nase über die Decke steckten und sich fragten, warum die
Schweine heute nacht so unruhig wären.
Bereits früh wurden die Janmaate wieder wach durch das Gackern einer Henne, die weit und
breit verkündete, daß sie, obwohl es Winter sei, dem Bauern doch noch ein Ei gelegt hätte.
Gerretje brach es auf und schlürfte es aus. »Noch warm!« Andere rüttelten an der Falltür, aber
die saß von unten fest.
Endlich kam der Bauer und öffnete. »Schönen guten Morgen!« wünschten die Maate dem
schlaftrunkenen Kopf mit der bunten Nachtmütze.
»Was seid ihr früh auf!« grollte der Bauer. »Es ist noch so kalt.«
»Hat es gefroren?«
»Und ob! Der Brunnen wird wohl eingefroren sein.«
»Hast du dann vielleicht ein Täßchen heißen Kaffee für uns?«
Der Bauer brummte was. »Kommt erst mal herunter!«
»Die große weiße Henne hat ein Ei gelegt«, berichtete Gerretje während des Abstieges.
»Ja, das ist keine schlechte!« meinte der Bauer zufrieden. »Ich werde es nachher holen. — Was
habt ihr in den Käfigen da?«
»Junge Löwen«, erteilte Gerretje Auskunft.
»Na, ihr seid die Richtigen!« grinste der Bauer.
»Hast du nichts zu futtern, Hannes?« fragte Harmen.
»Ja, ich hab' noch einen Laib Brot für euch«, erwiderte der Bauer. »Den wollte ich den
Schweinen geben, weil er so hart ist.«
Nach einer Weile kauten alle auf dem steinharten Brot.
Die Frau des Bauern kam auch, ein mürrisches, dickes Weib in Nachtmütze und Unterrock, und machte sich, ohne zu grüßen, ans Kaffeekochen, wobei sie ins Feuer blies, als ob sie den ganzen Herd wegblasen wolle und ihren Mann und die Gäste dazu. Auf die Höflichkeiten der galanten Matrosen erwiderte sie kein Buh und kein Bah. Der Bauer war in den Stall gegangen.Der Kaffee erwies sich als schlapp und nicht vom besten; aber er war warm, das machte alles gut. Es waren nur zwei Tassen da, so daß die Ohmes sie kreisen ließen. Als die Ohmes ihren Kaffee geschlürft hatten, standen sie auf. »Na, Hannes«, sagte Harmen und streckte ihm die Hand hin, »schönen Dank für deinen elenden Kaffee!« Der Bauer feixte. »Glückliche Reise!« »Vergiß nicht, das Ei vom Boden zu holen!« rief Gerretje. »Ich gehe gleich«, antwortete der Bauer. Und die Janmaate stießen wieder vom Lande. Alles war in graue Morgennebel gehüllt. Der Wind saß noch ebenso verflixt im Norden und blies grimmig die Nebel übers Wasser, so daß die Matrosen rote Ohren und Nasen bekamen. Sie setzten über die breite Ostschelde. In der Mitte war es so entsetzlich kalt, daß einem der Atem gefroren auf die Lippen schlug. Joppie lag zitternd in Harmens Armen; die Käfige mit den Äffchen waren am Aufbewahrungsort des Mundvorrats verstaut. Nun segelten die Maate zwischen Duiveland und Tholen in das Mastgat, durch die Zype, dann um Overflakkee herum durch das Volkerak in das Hollandsch Diep. Beim Dordrechtschen Kil wartete ihrer eine Enttäuschung: es war zugefroren. Laufen fanden sie nicht beschwerlich; aber was sollten sie mit ihren Kisten anfangen? Sie vertäuten die Jolle vor einer Herberge und besprachen die Sache bei einem Krug spanischen Glühweins. »Ich will euch wohl meinen Schlitten verkaufen«, sagte der Wirt, ein häßlicher, schieliger Kerl. »Ist das Eis denn dick genug?« »Vorhin ist einer auf Schlittschuhen aus Rotterdam gekommen«, sagte der Wirt. »Zeig mal deinen Schlitten!« Im Gänsemarsch folgte die ganze Gesellschaft dem Wirt, der ihnen in der Scheune einen großen grünen Trogschlitten wies. »Was soll der alte Waschzuber kosten?« fragte Harmen. »Einen Gulden.« »Du meinst wohl, wenn wir dich und die ganze Herberge dazukaufen?« Der Wirt zuckte die Achseln. »Niemand zwingt dich, den Schlitten zu kaufen. Ich will ihn für weniger nicht abgeben. Ihr könnt den ganzen Krempel hineinladen.« »Vorwärts!« sagte Hilke. »Er ist gekauft.« Harmen brummte noch etwas. »Na gut!« sagte er dann. »Wißt ihr was, Jungs? Ich gehe nach Dord und sehe zu, ob ich in einem Alteisenladen Schlittschuhe auftreiben kann. Dann ziehen wir den Schlitten. — Du, Halsabschneider, leih mir mal deine Schlittschuhe bis Dordrecht! Ich bin gleich wieder zurück.« Brummend ging der Wirt in die Scheune und brachte Harmen ein Paar verrostete Schlittschuhe. Harmen schnallte sie, seufzend vor Vergnügen, an, rannte damit weg und sprang aufs Eis. Da machte er, um zu zeigen, daß er das Schlittschuhlaufen noch nicht verlernt habe, einen Kreuzsprung und begann dann mit weit vorgeneigtem Rücken und den Händen in den Taschen gegen den Wind zu laufen in der Richtung nach Dordrecht. Die andern gingen wieder in die Herberge hinein und tranken noch einen Krug Wein gegen die Kälte. Sie wurden duselig und schläfrig; die Dämmerung senkte sich bereits herab. »Wir müssen hier pennen«, meinte Gerretje. »Oder hat jemand Lust, heut nacht in eine Wacke zu laufen?« Er blickte in die Runde, aber als sich keine Liebhaber für die Wacke zeigten, trat er mit dem Wirt in Unterhandlung über den Preis des Nachtlagers. Mit acht Steuver für den Mann mit Abendessen dazu und nach einer Deckelkanne spanischen Weins wurden sie schließlich
handelseinig. Mit Dunkelwerden kam Harmen wieder angesaust, ein Bündel Schlittschuhe über dem Rücken. »Davon wird einem schön warm!« rief er, während er den Deich heraufkrabbelte. Und mit den Schlittschuhen noch an den Füßen kam er ins Schenkzimmer hinein. »Es muß heut nacht noch ein bißchen frieren, Jungs, denn das Eis knackt eklig; ich habe zwei einbrechen sehen.« Während die Matrosen die Schlittschuhe untereinander verteilten und die rostigen Läufe ein wenig auf dem sandbestreuten Fußboden rieben, kam der Wirt mit einer dampfenden Schüssel Wassergraupen herein. Das schmeckte! Die Maate schlemmten, als hätten sie eine Woche lang gefastet. »Das hast du schnell besorgt, Harmen«, lobte Gerretje. »Was hast du für das Alteisen bezahlt?« »Alteisen?« fragte Harmen beleidigt. »Wenn du ein bißchen laufen kannst, hast den den Rost in zwei Stößen ab. Ich habe drei Steuver für das Stück bezahlt.« »Nur zu, das Geld kann nicht schnell genug alle werden!« meinte ein Sparsamer. »Na, du brauchst sie mir nicht abzukaufen«, sagte Harmen. »Geh du nur zu Fuß, wenn du das lieber willst!« Des Abends beim Herd, an dem sie sich gesellig zusammengesetzt hatten, banden sie den Bauern aus der Umgegend die gewagtesten Abenteuer auf. Als die Bauern spät am Abend mit schwerem Haarbeutel heimwärts kehrten, schwindelte es ihnen nur so von Tigern, Krokodilen, Riesenschlangen und Menschenfressern, daß zwei von ihnen Arm in Arm in einen Graben fielen. Glücklicherweise lag steinhartes Eis darüber. Mit dem Hahnenschrei saßen die Maate schon im bereiften Schilf und schnallten ihre Schlittschuhe fest. Und mit einem Stück Brot in der Faust liefen sie drauflos, ein Tau um ihre Mitte, an dem sie den Schlitten zogen, der gleich einer Feder übers Eis flog. Padde saß mit Joppie bibbernd darin; für die beiden hatte Harmen keine Schlittschuhe mitgebracht. Und wie es heute nacht gefroren hatte! Das Eis war pechschwarz mit weißen Münzen darin. Wie ein Wirbelwind jagte der Trupp Matrosen daher, und bei der ersten Krümmung wurde der Schlitten beinahe gegen die knorrigen Weiden am Ufer geschleudert. Joppie stiegen die Haare zu Berge, und Padde, dessen grünblaues Antlitz vor Schrecken violett wurde, schrie: »Hallo, nicht so wild!« Aber die Janmaate hörten nicht. Wie herrlich warm wurde ihnen schon! Je länger, desto toller ging es. In einer kleinen halben Stunde hatten sie Dordrecht erreicht. Sie kauften sich ein paar frische Weißbrötchen, warm aus dem Backofen, und zogen kauend weiter, nun in der Richtung Rotterdam. Bei der Yssel schwenkten sie rechts ab, und noch vor Mittag waren sie in Gouda. Es war ein prachtvoller, sonniger Frosttag, und auf der Gouwe wimmelte es von Schlittschuhläufern. »Hu-u!« schrien die Ohmes schon von weitem, um sichdie Bahn frei zu machen. Hand in Hand schwirrten sie über die Eisfläche und der Schlitten flog lustig hin und her. Sie konnten sich nicht beklagen, daß die Landratten ihnen nicht Platz machten. Jeder, der den Trupp ungehobelter Gesellen mit ihrem Schlitten an der Kimme auftauchen sah, ging bedächtig beiseite und blickte fröhlich nach der tollen Bande und nach dem dicken, ängstlichen, verklammten Jungen im Schlitten und dem mageren, haarsträubenden Hund, der hin und wieder sein Heimweh nach seinem sonnigen Sumatra hinausjammerte. Die Maate folgten der Gouwe, der Aar, der Drecht und kamen an die Amstel. Da winkten ihnen Mädchen zu und die Ohmes winkten wieder und schrien »Hurra!«, weil die Lebenslust nun
einmal heraus wollte. Noch vor Einbruch der Dämmerung fuhren sie mit ihrem Schlitten in Amsterdam ein. Gerretje hatte dort noch eine alte Muhme. Die wohnte an der Ykante und würde Gerretje und seine Gefährten gerne beherbergen und bewirten. Nach dreistündigem Hinundherwandern war die Muhme gefunden. Gerretje klopfte an die niedrige Tür. »Wir wollen uns gütlich tun, Jungs«, sagte er. »Sie ist ein bißchen knauserig, aber für mich hat sie eine Schwäche.« Die Muhme guckte jedoch nichts weniger als freundlich, als sie das Altweiberköpfchen mit dem weißen Spitzenhäubchen aus dem Oberfenster steckte und ihr teures Familienglied und seine zwanzig Gefährten gewahrte. »Was soll das heißen?« fragte sie kreischend. »Guten Abend, Muhme!« wünschte Gerretje. »Kannst du uns heut nacht beherbergen? Ich bin Gerretje, dein Neffe. Und dies sein meine Freunde.« Die Muhme überlegte. »Wo kommst du her?« fragte sie dann. »Aus dem Osten«, schrie Harmen hinauf. »Wir kommen gerade aus dem Osten, Muhme.« »Doch nicht auf Schlittschuhen?« »Ja, gewiß, auf Schlittschuhen«, rief Gerretje. »Davon können wir dir was erzählen, Muhme!« »Na«, sagte die Muhme nach einigem Zögern, »du darfst hereinkommen, weil du mein Neffe bist.« »Und die andern nicht?« sagte Gerretje wehmütig. »Bedenke doch nur, Muhme, was für eine Fahrt wir hinterm Rücken haben! Gib uns wenigstens ein Schnäpschen! Wir sind halb erfroren.« »Ich hab' nichts im Haus«, erklärte die Muhme. »Aber zwei Häuser weiter ist das >Fette Ferkel<, da könnt ihr auch gleich schlafen.« »Muhme, was bist du wieder knickerig!« klagte Gerretje. »Laß mich doch mal suchen! Ich werde schon irgendwo eine Kruke finden.« »Ich sage dir, daß ich nichts im Hause habe!« antwortete die Muhme bissig. »Wohl hast du was, alte Knusperhexe!« rief Gerretje erbost. Das Fenster wurde zugeschlagen. Gerretje wollte die Tür bearbeiten, aber die Maate besänftigten ihn. »Komm, Gerretje, rege dich nicht auf! Laß sie mitsamt ihrem Schnäpschen zur Hölle fahren!« »Hat man dazu eine Muhme?« jammerte Gerretje kläglich. »Vorwärts«, sagte Harmen. »Wir gehen ins >Fette Ferke< Harmen bezahlt.« So begab man sich im Gänsemarsch am Kanal entlang nach der Herberge, wo sich das Unterkommen als ziemlich teuer erwies. Ein paar Maate wollten die Nacht durchlaufen; aber die meisten verspürten keine Lust dazu, setzten ihren Verdruß über Gerretjes knauserige Muhme unter einen Schnaps und wollten den Stammgästen hier auch mal einen Bären aufbinden. Aber die schlauen Amsterdamer glaubten ihnen nicht so ohne weiteres. Verdrießlich suchten die Maate ihr Nachtlager auf. »Es sitzt Tauwetter in der Luft«, sagte Hilke; »der Wind ist Süd geworden.« Als sie am nächsten Morgen ihre Köpfe aus dem Dachfenster steckten, lagen große Pfützen auf dem Eis. »Nasse Füße!« meinte Gerretje. »Ganz gleich, in ein paar Stunden sind wir daheim!« Daheim! Das Wort schlug ein. Sie wollten heute gute Fahrt machen. Padde zog ein bedenkliches Gesicht, als er diesen Entschluß vernahm. »Wenn ihr noch wilder saust als gestern, geht es schief«, meinte er. »Sieh mal an! Sitzt der den ganzen Weg geruhsam im Schlitten und hat noch 'n großes Maul obendrein!« schimpften die Ohmes.
Nachdem das Frühstück mit glühendem Kaffee eingenommen war, rechnete Harmen mit dem Wirt ab. Dieser hatte sie tüchtig gerupft. Das war so Sitte; Janmaaten kam es doch nicht auf einen Steuver an. »Gefährliches Vergnügen bei der Nässe!« meinte der Wirt, indem er das Geld einstrich. »Ja, du sorgst schon dafür, daß du im Trockenen bleibst!« fuhr Harmen ihn grimmig an. Und dann ging es in toller Fahrt wieder davon. So heftig schwenkten die Maate durch das Wasser, daß sie durch und durch naß wurden. Es gab kaum einen Schlittschuhläufer weit und breit. Da geschah es. Beim Umschwenken, die Zaan hinauf, nahmen sie die Biegung zu kurz. Der Schlitten prallte gegen das Ufer, segelte über das Eis zurück, so daß der rechte Flügelmann umgerissen wurde, schlug dann gegen das andere Ufer, gerade gegen die Landungsbrücke einer Mühle, und flog in Stücke. Joppie war ans Ufer gesprungen; Padde holte sich eine gewaltige Beule; die Kisten lagen auf dem Eis verstreut. »So ein Dreckschlitten!« schimpfte Gerretje, der auch auf sein Hinterteil gepurzelt war und nun heranhinkte, mit den Händen auf dem Hosenboden. »Hast du dir weh getan, Padde?« »Nicht so knapp!« klagte der Junge, noch weiß vor Schreck. Der Müller war herausgekommen, mit einem wollenen Tuch um den Hals, und sah sich mit den Händen in den Taschen die Geschichte an. »Jungens«, philosophierte er, »ihr seid sicher zu wild gelaufen! Müßt ihr nach Hoorn? Dahin könnt ihr auf Schlittschuhen nicht kommen.« »Und warum nicht?« fragte Gerretje herausfordernd. »Wir ziehen jeder seine eigene Kiste.« »Dann könnt ihr auch gleich euren Sarg mitziehen«, sagte der Müller. »Weiter hinauf ist das Eis voller Wacken, und durch die Wasserlachen sieht man sie nicht. Aber wißt ihr was? Nehmt meinen Wagen!« »Und dann natürlich bezahlen, daß uns die Augen übergehen!« meinte Harmen. »Wie kommst du darauf?« fragte der Müller. »Ihr fahrt für nix.« Und sich umwendend: »Jan, spann den Wagen an!« »Ja, Vater«, tönte es aus der Mühle.»Mann«, stammelte Harmen entzückt, »du müßtest in einen goldenen Rahmen!« Der Müller feixte: »Nehmt eure Kisten und kommt herein! Meine Frau hat Pfannkuchen für Neujahr.« »Du liebe Güte, heute ist der einunddreißigste!« sagte Hilke. »Na, ihr könnt bequem heut abend zu Hause sein«, meinte der Müller. »Wir nicht mehr«, sagten ein paar Matrosen. »Wir müssen weiter, nach Enkhuizen.« »Ich kann den Karren nicht so lange entbehren«, sagte der Müller, »und morgen früh muß ich meinen Jungen auch zurückhaben. Der geht mit euch, um den Karren zurückzubringen. Wißt ihr vielleicht, wo er unterkommen kann?« »Im >Silbernen Anker<, sagte Harmen, »auf meine Kosten.« »Na, kommt nur herein! Wo kommt ihr eigentlich her?« »Aus Ostindien.« »Was du sagst! Und der Hund?« »Der kommt von Pulupulupatschi«, sagte Harmen. »Dann wird er nun wohl frieren«, meinte der Müller. »Sieh bloß, wie er zittert!« Und sie gingen in die Mühle hinein. »Frau, ich bringe dir ein Trüpplein Javaner mit«, rief der gastfreie Müller. »Komm ruhig her! Sie beißen nicht, außer in deine Pfannkuchen.« Die Frau, eine lachlustige, gemütliche Müllerin, kam mit duftenden Pfannkuchen herein und schien durchaus nicht bange von der »Javanern«.
»Macht ihr euch was aus Bauernjungen 1?« fragte sie.
»Vor Bauernmädchen haben wir auch keine Bange«, erklärte Gerretje, sich in die Brust werfend.
»Sei du man still!« höhnte Harmen. »Du bist mit einer Menschenfressersfrau verheiratet!«
»Ist das wahr?« fragte die Müllerin, die gerade die Pfannkuchen bezuckerte.
Gerretje war feuerrot geworden. »Ich möchte dir das Genick umdrehen!« zischte er Harmen zu.
»Das sagst du bloß so«, gab Harmen zurück.
Gerretje suchte wütend nach einer Antwort, aber gerade in diesem Augenblick setzte die
Müllersfrau ihm den dicksten Pfannkuchen vor, und Gerretje vergaß seinen Zorn. »Ja-ha«, lachte
der Müller, »so macht sie es mit mir auch! Wenn ich wütend bin, setzt sie mir was Leckeres vor
die Nase.« Und er trommelte zufrieden auf seinem runden Bäuchlein.
Jungens, die Pfannkuchen schmeckten! Sie zergingen einem im Munde. Da obendrauf noch die
Bauernjungens und ein Stück Rosinenbrot mit Zuckerfiguren. Der Müller packte nicht schlecht
aus. Er und seine gemütliche Frau lachten nur, und die Maate fühlten sich ganz zu Hause.
»Kommt, Jungs!« machte Hilke. »Wenn wir vor Anbruch der Dunkelheit in Hoorn sein
wollen ..«
Aber er mußte ein paarmal drängen, bevor die andern aufstanden.
»Guck«, sagte Gerretje, gerührt durch die gastfreie Bewirtung, »dieser Papagei ist für dich! Er
kann >Dunnerkiel< sagen, aber wenn du ihn pisackst, beißt er.«
Da fühlte sich Harmen bewogen, dem Müller zur Erinnerung ein Äffchen dazulassen. Aber als er
den Käfig öffnete, lag das Äffchen steif und kalt auf dem Boden. Sie waren alle ganz betroffen
davon.
»Begreife ich nicht«, sagte Harmen; »gestern war er noch so putzmunter.«
»Armes Tier!« sagte der Müller mitleidig.
Einer der andern Matrosen gab ihm darauf ein Äffchen, das noch nicht tot war.
»Wir werden ihn ans Feuer hängen«, schlug die Müllerin vor.
»Je näher, desto lieber«, sagte Harmen. »Da denkt er, daß er in Java ist.« Und dann kletterten
unsere Freunde nach vielen Händedrücken und Neujahrswünschen in den Wagen. Im Westen
zog eine rötliche Schneewolke herauf.
»Hast du dich warm eingepackt, Jan?« fragte der Müller.
»Ja, Vater«, antwortete ein stilles rundliches Bürschchen mit strohgelben Haaren unter der
Mütze, das breitbeinig auf dem Bock saß, mit den Zügeln in der Hand.
»Und hast du eine Laterne bei dir für nachher, wenn es dunkel ist?«
»Ja, Vater.«
Und ist Öl darin?«
»Ja, Vater.«
»Und hast du dein Butterbrot bei dir? Und deine Börse?«
»Ja, Mutter.« Bei jeder Bestätigung nickte das Bürschchen und blickte träumerisch vor sich hin.
»Jan denkt auch an alles!« lobte der Müller.
Und der Wagen setzte sich in Bewegung. Die Maate winkten um die Wette und schrien »hurra!«
Der Müller und seine Frau winkten zurück.
Es begann leise zu schneien; bald war die gastfreie Mühle gleich einem Spuk im Grau
verschwunden. Die Maate saßen in dem anfangs heftig stoßenden, doch schließlich im Schnee
beinahe geräuschlos fortrollenden Karren dicht zusammengedrängt, Joppie zwischen ihren
Knien. Noch heut abend würden sie daheim sein. War es zu fassen? Padde und Hajo blickten
einander still-glücklich an; Harmen starrte schweigend auf den Karrenboden. Plötzlich drückte
er Hajo eine Handvoll Gulden in die Hand. »Tu du es lieber!« sagte er und seufzte.
»Was?«
»Das Geld Lyskens Mutter geben. Sie wohnt am Markt.« Und als er Hajos Zaudern sah: »Ach, tu
mir den Gefallen! Geh mit deiner Mutter zusammen!«
»Sieh bloß, wie der Junge lenkt!« lobte ein Maat.
Gerretje nickte. »Ein guter Junge, und ein artiger Junge!«
»Und der Gaul läuft auch mit vollen Segeln.«
»Na«, bestätigte Gerretje, »laß mich mal lenken, Jannemann!«
Der Junge antwortete nicht, drehte sich auch nicht um, schüttelte nur abwehrend den Kopf.
»Denkst du, daß ich nicht mit Gäulen umgehen kann?« fragte Gerretje.
»Mit diesem nicht«, sagte der Junge.
Gerretje wurde böse. »Vorwärts, vom Bock runter!«
»Gerretje!« tadelte Hilke. »Der Junge steuert gut.«
»Das bestreite ich auch nicht. Aber ich will jetzt mal lenken. Los, Rotznase!Runter vom Bock!«
Der Junge schüttelte wieder den Kopf, ohne sich umzusehen.
»Hol's der Kuckuck!« schalt Gerretje.
Nun kehrte der Junge sich um und hielt das Pferd an. »Wenn du mich langweilst, lasse ich das
Pferd stillstehen, dann kannst du hundertmal >hü< rufen; es läuft doch nur, wenn ich es will.«
»Gib doch Ruhe, Gerretje!« murrten auch die andern.
Gerretje brummte vor sich hin, sank auf den Boden des Wagens und starrte wütend ins Leere.
»Hü!« rief der Knirps auf dem Bock. Und das Pferd lief weiter.
Die Maate fingen an zu singen und schwenkten die Mützen, wenn sie durch ein Dörflein fuhren.
Der Schnee begann immer dichter zu fallen; die Räder zogen bereits tiefe Furchen in den weißen
Landweg, und schwarz standen die Kopfweiden längs der gelbbraunen Gräben.
»Wir kriegen noch viel mehr«, meinten die Matrosen. Und als sie sich heiser gesungen hatten,
spähten sie über die weißen Felder, und die wunderliche Schönheit fallenden Schnees drang leise
hindurch bis in ihre Seemannsseele.
Endlich — sahen sie recht? — da schimmerte im Nordosten ein bekannter Umriß — der große
Turm von Hoorn.
Toll wurden sie. Wild, rasend vor Freude begannen sie im Wagen zu tanzen, fielen einander in
die Arme. »Hurra! Hipp-hipp-hurra! Hurra!«
Und winkend, schwankend, johlend und schreiend fuhren sie eine Viertelstunde später zum
Westertor hinein. »Wir kommen aus Indien!« riefen sie den erstaunt Vorübergehenden zu und
hoben ihre Käfige mit Papageien und Äffchen in die Höhe. So hatten sie im Handumdrehen ein
großes Gefolge.
»Halt, da läuft mein Bruder! Krelis, halt doch an! Krelis! Auf Wiedersehen, Jungs! Ich muß...
Krelis! Krelis!« Schon war der Ohme mit Kiste und Papagei aus dem Wagen gesprungen und
rannte mit großen Sprüngen auf seinen Bruder zu. Die andern sahen, während sie weitertanzten,
holterdiepolter über die Pflastersteine, wie die Brüder einander in die Arme fielen.
Auf dem Großen Markt hielt der Wagen. Alle sprangen heraus, drückten einander die Hand und
schleppten ihr Hab und Gut durch den Schnee nach Haus. Nun, wo sie allein waren, wich die
Freude auf ihrem Gesicht einem besorgten Ausdruck. Ob daheim alles gut aussah?
Da stand Hajos Häuschen. War es so klein? Keuchend riß Hajo die niedrige Tür auf und stürzte
hinein. »Mutter! Mutter! Mutting!«
Da lag er in ihren Armen, in den Armen seines Mütterchens. Und beide schluchzten und lachten
und drückten einander ans Herz. War sein Mütterchen so klein und so zart? Wie war sie sanft!
»Mutter! Mein Mutting!«
»Peter! Mein Junge!«
Die Mutter nahm sein Haupt zwischen ihre Hände, wollte es begucken, begann dann aber wieder
zu weinen und zu lachen und bedeckte es mit Küssen, ohne etwas anderes sagen zu können als:
»Junge! Mein Junge! Bist du wieder da? Wie ist es möglich? Mein Peter!«
Aus dem Hinterzimmer waren die andern Kinder gekommen, verwundert, nicht recht wissend,
wie sie sich verhalten sollten. Hajo sprang auf und drückte sie ans Herz und wußte nicht, wohin
er zuerst gucken solle und wen er zuerst küssen wolle. »Antje! Maartje! Was seid ihr groß
geworden! O wie herrlich! Und Hein! Kennst du mich nicht mehr? Kennst du Peter nicht mehr?«
Hajo kniete vor Hein, der verschüchtert in einer Ecke stand und Hajo mit großen Augen ansah.
»W—wo ist der Elefant?« fragte Hein stammelnd.
Hajo küßte ihn von allen Seiten. »Er kennt mich noch! Hier, hier ist der Elefant!« Hajo sprang
auf, blickte sich in Verzückung um, fiel seiner Mutter wieder um den Hals, die ihn mit
strahlenden Augen ansah, riß dann seine Kiste auf und warf alles drunter und drüber. »Hier!«
rief er, während die dicken Tränen ihm über die Backen rollten. »Hier, Antje, eine Puppe für
dich, mit chinesischen Augen! Ist die nicht hübsch? Und ein Fächer! Für dich, Maartje! Riech
mal dran, wie fein! Mutting, ich werde zum Steuermann ausgebildet! Und später Schiffer! Hier,
wer soll das Armband haben? Und sieh mal, Hein! Na, was habe ich hier? Was habe ich hier für
dich?« Hajo kroch auf den Knien auf Hein zu, umfaßte ihn und hielt ihm ein weißes
Elfenbeinelefäntchen unter die Nase.
»Sieh mal seinen Rüssel! Und seine Stoßzähne!«
»Und — und der Menschenfresser?« fragte Hein, mit frohem Ausdruck auf seinem runden
Kindergesicht den Elefanten betrachtend.
»Der Menschenfresser? Hier ist der Menschenfresser. Hau-hau!« Und Hajo machte ein
Menschenfressergesicht und schnappte nach Hein, der kreischend vor Vergnügen flüchtete und
von Antje hochgehoben wurde. Hajo schloß sie beide in die Arme. »Antje, bist du eine Deern
geworden!«
»Dachtest du, daß ich immer so klein bliebe?« fragte Antje. »Du bist auch groß geworden. Nicht
wahr, Mutter?«
Mutter nickte, ohne sprechen zu können. Und als Hajo sich ihr aufs neue in die Arme warf,
schluchzte sie wieder heraus: »Mein Junge, sei nicht böse, daß ich noch heule! Ich bin so froh,
daß du zurück bist. Es ist alles so unerwartet gekommen. Und — hast — hast du eine gute Reise
gehabt?«
»Zurück wohl, Mutting. Aber die >Nieuw-Hoorn< ist untergegangen.« »Untergeg...?«
»Ja, durch Paddes Schuld. Ich habe Geld bei mir, Mutting, sieh mal!« Er legte Hände voll
Gulden seiner Mutter in den Schoß. »Ist es nicht viel? Zweiundsiebzig Gulden und sieben
Steuver. Hier habe ich noch mehr Geld, aber das ist für Lyskens Mutter. Lysken ist unterwegs
am Skorbut...«
Und dann begann Hajo zu erzählen, in Stücken und Brocken. Vom Brand an Bord, von der Fahrt
mit der Jolle, von Dolimah, dem Panther, Pa-Samirah, von dem Floß und daß er zum Braunfisch
nach Amsterdam kommen müsse.
Während seiner aufgeregten, verwirrten Erzählung fiel der Klopfer. Padde stand vor der Tür.
»Padde!« Und auch der brave Dicke wurde von Hajos Mutter umarmt und geküßt, und er selbst schluchzte, als ob Hajos Mutter auch die seine wäre. »Junge, was für einen Kummer hast du deiner Mutter bereitet!« »Ich habe ihr fünfundsiebzig Gulden und sieben Steuver mitgebracht«, sagte Padde. »Sie läßt fragen, ob ihr heut abend zu uns kommt, Maartje auch. — Guten Tag, Maartje! Was seid ihr allesamt groß geworden! Bei mir zu Hause auch. Ich hab' noch ein Schwesterchen dazugekriegt.« »Und ist daheim alles gut?« fragte Hajo. »Sehr gut. Und mein Vater — der ist vor einem halben Jahr ertrunken.« Es trat Stille ein in dem Gemach. Padde holte tief Atem und räusperte sich. »Im Graben hinter dem Südwall«, sagte er dann hinterher. Und plötzlich, gesenkten Hauptes und in hartem Ton, der sonst niemals über seine Lippen kam: »Es ist seine eigene Schuld; er war wieder betrunken, der — der — der Trunkenbold!« »Padde«, sagte Hajos Mutter sanft, »du darfst nicht so über deinen Vater sprechen!« Padde schüttelte zornig den Kopf. »Warum schlägt er meine Mutter? Und vertrinkt das Geld? Und verkauft die Möbel?« »Aber — aber nun ist er doch tot, Padde.« Padde rang mit etwas. Hajos Mutter stand mit trübem Lächeln auf, nahm Padde in die Arme und küßte ihn. »Sag deiner Mutter, daß wir kommen!« Und Padde ging, weinend. »Nun, mein Junge«, sagte Hajos Mutter, »nun haben wir beide noch einen Weg. Hast du — hast du das Geld da von deinem verstorbenen Freund? Wir bringen keine frohe Botschaft, mein Junge, aber — es muß sein.« Sie ging zum Schrank und schlug ein Tuch um. Gleich darauf ging Hajo mit seiner Mutter am Arm aus der Tür. Dicht aneinandergeschmiegt schritten sie durch die beschneiten Straßen. »Mein Junge, was bist du groß geworden!« seufzte seine Mutter. »Ich muß ganz und gar zu dir aufblicken.« »Aber ich bin auch schon sechzehn, Mutting! Ist die Zeit nicht geflogen?« Seine Mutter lächelte. »Nicht — nicht immer, Peter.« Dann wurde sie still und ihre Gedanken schienen abwesend. Hajo trug das Geld für Lyskens Mutter in ein Sacktuch geknüpft. Es hatte zu dämmern begonnen. Die hellen Fenster leuchteten nieder auf den Schnee. Aus der rötlichgrauen Luft wirbelte es immerfort. Bei der Waage sahen sie zwei bekannte Gestalten: Harmen und Gerretje, mit ihren Kisten auf den Nacken. Gerretje trug obendrein noch Harmens Wasserpfeife, und Harmen preßte unter den linken Arm seine geliebte Fiedel. Joppie trippelte mit hochgezogenen Pfoten zwischen ihnen. »Schiff ahoi!« rief Hajo. Die beiden Gestalten hielten an. »Hallo, Hajo!« »Wo geht ihr hin?« fragte Hajo. »Seid ihr schon zu Hause gewesen?« »Jawohl«, sagte Harmen mit einem unsicheren Blick auf Hajos Mutter, »aber sie sind umgezogen. Nach Alkmaar, sagen die Nachbarn. Tja! Wir gehen nun erst nach dem >Silbernen Anker<.« »Dies ist Harmen, Mutter«, sagte Hajo stolz. »Der hat mit mir zusammen den Panther ... Du weißt doch?« Hajos Mutter streckte Harmen die Hand hin. »Harmen, ich danke dir für das, was du an meinem Jungen getan hast. Für alles, hörst du, für alles danke ich dir!«
Harmen wurde verlegen. »Kleinigkeit, Frau Hajo! Na ja, es hätte schlimm gehen können! Wenn
man nun bedenkt, der arme Floorke! Wir gehen seinem Schatz im >Silbernen Anken nun sagen,
was mit ihm geschehen ist.«
»Arme Deern!« seufzte Gerretje.
»Das sage ich auch«, stimmte Harmen in trübem Ton bei. Und abgewandten Blickes schlug er
auf seinen schwarzen Geigenkasten und räusperte sich. »Hilke ist bei seinem Schatz. Die hat
sich aber gefreut!«
»Nicht so knapp! Sie drückten einander beinahe platt«, kicherte Gerretje.
»Guck, Mutting, dies ist Joppie! Der ist auch mit durch Sumatra gelaufen.«
»Armes Tier!« sagte Hajos Mutter, als der Hund zitternd zwischen Harmens Beine kroch.
»Er wird sich schon hergewöhnen«, beruhigte Harmen sie. »Na, guten Abend,Frau Hajo! Adjüs,
Hajo!«
Und das Dreigespann eilte über den verlassenen Marktplatz dem »Silbernen Anker« zu.
Lyskens Mutter, ein bleiches, mageres Frauchen mit großen Leidensaugen, nahm stillschweigend
die Silbergulden in Empfang und legte sie weg in eine alte, abgenutzte Truhe. »Ich fürchtete es
schon ...« Das war alles, was sie sagte. Als Hajos Mutter sie küßte, weinte sie.
So feierten alle die Neujahrsnacht noch in Hoorn. Und die Maate, die morgen weiter mußten,
nach Enkhuizen, saßen bei ihren Gefährten am Herd und halfen aufschneiden.
Draußen fielen die Flocken ununterbrochen. Wie eine gute Mutterhand legte der Schnee sich
über das Städtchen; es galt viele brennende Wunden zu bedecken.
Vertraut, gleich guten Ratgebern, tönten um Mitternacht zwölf Glockenschläge über den Schnee.
Da suchten die Hände einander in tiefempfindender Freude.
Inhalt Erster Teil
Seewind 5 Schiffer Bontekoe 13 Mutter 16
Der große Abschied 18 Padde gibt seinem Freund das Geleit 26 Auf der Suche nach dem Bottler 33 Reisegeschichten 39
Silvester 46
Sturm 54 Padde lernt bauchreden 58 Padde sieht durch einen Nebelkieker 65 Rolf 67 Land! Land! 72 Windstille 76
Albatrosse 78 Der gefürchtete Feind 83 Nächtliche Ruderfahrt 86
Das Füllhorn der Tropen 90 Seltsame Tiere 91
Tauschhandel 97 Nase feuert eine Muskete ab 104 Feuer! 111 In den Booten 118 Haifische 121
Joppie der Dritte 124
Sumatra 126 Nach der Dessah 131 Verlassen 139
Zweiter Teil
Die Wanderer 145 Paddes Hose 146 Ein Nest mit Katzen 150 »Tabeh!« 153 Padde ist weg 156 Dolimah 159 Der Kampf um die Höhle 163 Der Regen 169 Si-Kampret 173 Saleiman und seine Flöte 176 Harmen findet ein Zicklein 179 Pa-Samirah, der Zauberer 183 Die Flucht 188 Der Bijawak 192 Entronnen 195 Harmen und Padde auf Fischfang 197 Dolimahs Heimweh 202
Padde stößt auf einen Menschenfresser 204 Bung von Bapah-Lolleh 209 Joppie macht eine Entdeckung 215 Harmen kapert ein Segel 218 Auf offenem Meer 221 Java! 227 Das erste Wiedersehen 229
Beim Braunfisch an Bord 233 Ab- und Anmustern 236 Mit Gerretje zu Loa Hok Sen 243 Der Pasar malern 254 Die Heimkehr 260