Inhaltsverzeichnis Kaspar Hauser - Kein Rätsel unserer Zeit
1. Ankunft in Nürnberg Gehörte Schuhmachermeister Weickman...
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Inhaltsverzeichnis Kaspar Hauser - Kein Rätsel unserer Zeit
1. Ankunft in Nürnberg Gehörte Schuhmachermeister Weickmann zur Rotte? Ein Seitensprung des Herrn Rittmeisters? - Geleitbrief und Mägdleinswisch "... so müßen Sie im abschlagen oder in Raufang auf henggen" "Sein Zustand glich dem eines halb wilden Menschen ..." Die Präzision der Geheimdienstgilde Als Mitbringsel: Literatur aus dem Knast Auf den Luginsland mit dem Kerl! -- Der bedeutendste Kriminalist greift ein "... weder verrückt noch blödsinnig ..." Lebt bloß von "schwarzem Brod und Wasser" War von aller menschlichen und gesellschaftlichen Bildung gewaltsam entfernt gehalten Die "Bekanntmachung" des Nürnberger Bürgermeisters "Tiermensch" mit Impfzeichen - Attraktion für den Nürnberger Fremdenverkehr Aus Ansbach kommt die kalte Dusche - Ein Prinz?
2. Der mediale Mensch Kerkerlegende greift um sich - Bei Professor Daumer Klavierspieler aus der Katakombe Terroristische Kriminalität auch damals schon Das Phänomen Kaspar Hauser - Animalischer Magnetismus und Hellsehen Sehen bei Nacht - Hauser als Versuchskaninchen - Der Fall Oetker und die Hypnose Merkwürdige Träumereien - Verheißung und Drohung Erinnerungsfetzen durchbrechen die Gedächtnissperre Zeichnung im Wachtraum - Hauser und Virgil Suppenkasparei - Geheime Mächte der Hypnose und Suggestion Die Doktoren Preu und Osterhausen machen erstaunliche Feststellungen Fleischbrühe tröpfchenweise
3. Das Attentat Ein Lehrgang in Hypnose - Schlaflos wird, wer Schlaf erzwingen will Somnambulismus und Posthypnose - Positive und negative Sinnestäuschungen Professor Schultz und die Termineingebung Kaspar Hausers Autobiographie - Das Unheil naht mit Riesenschritten Die Hintergrundakteure pokerten um Kopf und Kragen Höhere Politik, nennt man so etwas - Ungewöhnliche Aufregung Zwei dunkle Gestalten und ein schwarzer Mann Der Rasiermesserheld schlägt zu - Flucht in die Einsamkeit "Du mußt doch noch sterben ..." - Fremde zur Tatzeit in Nürnberg gesehen Hauser wird tobsüchtig - Lord Stanhope nimmt keine Notiz "Kartusch geben" und andere Rotwelschbrocken Erlangens "Wallfisch" - Sprachtests mit Kaspar Hauser Ungarische Grafen und preußischer Offizier Ein Pistolenschuß schreckt Nürnberg auf Kaspar Hauser wird plötzlich zum "Kind Europas"
4. Die Abstammung Aufstieg der Zähringer - Der Markgraf und seine "Gartenmägdleins" Alter Freier heiratet eine 19jährige - War es Unfall oder Mord? Aufstieg der Gräfin Hochberg Napoleon gibt einen Befehl und verteilt ganze Landstriche wie reife Pflaumen Baden und Bayern im Kalten Krieg Der versoffene Großherzog Karl und Napoleons Stieftochter Stephanie 29. September 1812: Erbprinz wird geboren Der Kaspar-Hauser-Fall beginnt - Ein kerngesundes Büblein stirbt plötzlich Die Sektion - Vertauschungsaktion in der Wiege Ein Ersatzkind namens Blochmann - Gen Moskau aber reist ein gewisser Hennenhofer Mütterchen Rußland schlägt zurück - Die Beresina in Flammen Ehestreit um den Namen Gaspard - Schwarzgefrorene Leichen im Schnee Wer hat Interesse am Aussterben der Zähringer? Ein badischer Diener erschießt sich - Giftanschlag auf Großherzog Karl? Die Flucht des Karlsruher Polizeidirektors
5. Als der Kongreß tanzte Adolf Hitler und Napoleon Restaurative Süppchen aus des Korsen Konkursmasse Großherzog Karl tobt sich aus - An der schönen blauen Donau Der Zar hat das große Sagen - Markgraf Ludwig und der "Sauriemen" Kaspar zieht nach Beuggen um - Eine Gouvernante namens Dalbonne Angst vor dem Schafott Metternich und der Kaiser schalten sich ein Die Maid aus Triest - Bayerns Königin Karoline und ihre badische Heimat Minister von Reitzenstein führt Regie Hochberg-Söhne lassen ihre total verschuldete Mutter entmündigen Rätselhafte Flaschenpost - Der tote Bandit im Rhein Anagramm wird dechiffriert Markgräfin Amalie von Baden haßt ihre Schwiegertochter Stephanie mal anders gesehen - Arbeiterkind in der Fürstengruft "Kaspar Hauser, eheliches Kind fürstlicher Eltern" Großherzog Karl stirbt - Die Marotten eines Fürsten
6. Verlies im Fastenhaus Kaspar in Beuggen nicht mehr sicher - Exodus von Südbaden nach Nordbayern Lichtet sich die Erinnerung? - Wieder ein Schloßtraum Das Falkenhaus in Triesdorf und Fürst Wrede auf Schloß Ellingen Leichte Reiter und viel Lametta - Der Oberst mit dem goldenen Helm Die Dichterin Klara Hofer und das Schicksal einer Seele Kaspars Verlies wird gefunden - König Ludwig und die Hauserei Der Hypnosetheoretiker Carl du Prel und das Schloß zu Pilsach bei Neumarkt Förster als "Kerkermeister" "Professor" Lutz als Geleitbriefschreiber - Dorfbewohner erinnern sich Gendarmerieoffizier Hickel schleicht sich an Pilsach vorbei Besuch im Kerker - Kaspars Aussetzung wird hypnotisch vorbereitet Okkulte Sitzungen am Hof der Königin? - Die Urlaube des Schloßbesitzers Hickels Gendarmeriekamerad bringt's zum General Auf dem Weg nach Nürnberg
7. Akteure und ihr Hintergrund Major von Hennenhofer wird geadelt Politische Umtriebe und verkrachte Existenzen - Student Lessing wird ermordet Agenten in badischem Auftrag Hennenhofer verspricht "spezielle Aufschlüsse über Kaspar Hauser" Der Säuferwahn des Großherzogs Leopold - Eine Type namens Garnier Lord Stanhope und sein "Jünglingskind" Kaspar Kreditbriefe aus Karlsruhe - Die Großherzogin und ihr Liebhaber Beim Anblick der Mutter kam er in Raserei Spurenverwischung in vollem Gange Stanhope und Hausers Vormund Baron von Tucher streiten Kaspar kommt nach Ansbach - Gerichtspräsident von Feuerbach und der Dunkellord Stanhope und der "Goldene Stern" - Abschied für immer In sexueller Hinsicht noch ein Kind - Ein ekelhafter Rohrstockakrobat Der Tod des großen Juristen und Kriminalisten Feuerbach Kaspars Mutter und seine Schwestern kommen inkognito nach Ansbach Hausers Ähnlichkeit mit seinen Schwestern Die treibende Kraft: Großherzogin Sophie
8. Mord in Ansbach Ewig geschundener Kaspar - Die fixe Idee des Lehrers Meyer Mordrotte formiert sich - Verrat für 200 Louisdors Der Herrschaftsdiener Horn und sein Sommersdorfer Liebchen Johanna Cramer Regisseur Hennenhofer und sein Gehilfe Müller Zocker Friedrich Müller wird als Dolchführer auserkoren - Die Ruhe vor dem Sturm Kaspar als Gerichtsschreiber - Hausers Todesengel Horn lauert im Gerichtstennen Präsidententöchterlein verliebt sich in Kaspar Rottenmitglied Sailer nimmt Verbindung mit Hauser auf Die Mordclique reist an - Ein Diplomat aus Baden wird angekündigt Vorweihnachtszeit in Ansbach - Die Hohe Fichte und ihr Geheimnis Bestellung in den Hofgarten Hausers letzter Ball beim Regierungspräsidenten Müllers Banditendolch stößt zu - Kaspar Hauser auf den Tod verwundet Tiefreligiöser Mensch - Das Ende Obduktion im Wohnzimmer - Graf Stanhope läßt seine Maske fallen
1. Ankunft in Nürnberg Gehörte Schuhmachermeister Weickmann zur Rotte? Ein Seitensprung des Herrn Rittmeisters? - Geleitbrief und Mägdleinswisch "... so müßten Sie im abschlagen oder in Raufang auf henggen" "Sein Zustand glich dem eines halb wilden Menschen" Die Präzision der Geheimdienstgilde Als Mitbringsel: Literatur aus dem Knast Auf den Luginsland mit dem Kerl! - Der bedeutendste Kriminalist greift ein "... weder verrückt noch blödsinnig ..." Lebt bloß von "schwarzem Brod und Wasser" War von aller menschlichen und gesellschaftlichen Bildung gewaltsam entfernt gehalten Die "Bekanntmachung" des Nürnberger Bürgermeisters "Tiermensch" mit Impfzeichen - Attraktion für den Nürnberger Fremdenverkehr Aus Ansbach kommt die kalte Dusche - Ein Prinz? Des Reiches "Schatzkästlein" lag unter einem azurblauen Himmel, als eine gar seltsam anmutende Gestalt den Bärleinhuter Berg zum Unschlittplatz mehr hinuntertaumelte denn ging. Nürnberg war an diesem Pfingstmontag Anno 1828 wie ausgestorben. Was fahren und laufen konnte, war außerhalb der Norismauern; die zahlreichen Wirtshäuser der Umgebung luden ein zu einem Glas Rauchbier nebst Preßack oder Bratwürste. Auch der Unschlittplatz mit seinen Lebkuchenhäusern, kündend von behaglichem Kleinbürgertum, von Fleiß, Rechtschaffenheit und Händlerblut, lag leer und warm unter der Sonne dieses 26. Mai. Lediglich zwei Männer standen plaudernd auf dem
noch heute so benannten Unschlittplatz, und zwar an der Ecke zur Mittleren Kreuzgasse. Sie sahen bieder aus, die beiden; ob sie es aber tatsächlich waren, wird nie mehr zu ergründen sein. Auch dürfte es nach menschlichem Ermessen kaum mehr erforschbar sein, ob diese beiden Herren just zu dieser Stunde rein zufällig dort standen oder in einem bestimmten Auftrag. Beide waren Schuhmacher. Georg Leonhard Weickmann, ein geborener Nürnberger, auf dem Unschlittplatz wohnend, war der ältere von beiden: gestandene 53 Jahre alt. Sein jüngerer Kollege, mit dem er ratschte, zählte ganze 38 Sommer an diesem Pfingstmontag des Jahres 1828. Er war zu Hunsheim geboren, aber in Nürnberg wohnhaft und Hausbesitzer. Sein Name: Jakob Beck. Beide sind aus der Hauser-Geschichte nicht mehr wegzudenken. Diese zwei Handwerker der Meistersingerstadt waren die ersten Zeugen, die jenen jungen Menschen sahen, der später als Kaspar Hauser in die Geschichte eingehen sollte. Denn eigenartigerweise konnte es bis zum heutigen Tag nicht in Erfahrung gebracht werden, wie dieser damals l6jährige Bursche in die von Mauern umgebene und mit bewachten Toren umsäumte Stadt gelang. Er war einfach und plötzlich da und tappte den Bärleinshuter Berg zum Unschlittplatz hinunter - gerade so, als wäre er vom Himmel gefallen, was aber mit Sicherheit nicht der Fall war. Das war zwischen 16 und 16.30 Uhr; eine minutengenaue Zeitangabe hat sich auch bei den Verhören nicht mehr ermitteln lassen. Aber festgehalten darf werden, daß niemand diesen jungen Mann zwischen dem nächstgelegenen Stadtmauertor und dem Unschlittplatz gesehen hat. Es gibt darüber keinerlei Zeugenaussagen; dies trotz aller Bitten, Ermahnungen und in Aussicht gestellten Belohnungen seitens der Behörden von damals. Aber wie gesagt, vom Himmel konnte er nicht gefallen sein. So bleibt nur die Hypothese übrig, der auszusetzende Kaspar Hauser war schon einige Zeit vor seinem "Auftritt" in die Stadt gebracht worden: als schlafender Handwerksbursche vielleicht oder als Bauernknecht, der angeblich einige Halbe über den Durst getrunken hatte - wenn nicht alles täuscht, in einem Planwagen. Alles andere wäre für die Hintermänner viel zu gefährlich gewesen. Und zusätzliche Risiken werden auch
solche Leute nicht eingehen, die hinter sich Auftraggeber wissen, deren Machtmöglichkeiten mit jenen von gewöhnlich Sterblichen nicht zu vergleichen sind. Nachrichten- und Geheimdienste hatten auch schon in der damaligen Zeit ihre spezifischen Arbeitsweisen. So gesehen ist es noch heute unverständlich, daß sich die Nürnberger Polizei- und Justizbehörden, aber auch Staatsrat Anselm v. Feuerbach aus Ansbach, Mittelfrankens oberster Jurist, der noch heute als der bedeutendste deutsche Kriminalist des vorigen Jahrhunderts gilt daß sie sich alle nicht ausführlicher als geschehen um die beiden ersten Zeugen Weickmann und Beck gekümmert haben. Und: Warum wurde nicht in den Häusern des Unschlittplatzes und näherer Umgebung sorgfältig recherchiert? Oder ließ Staatsrat Anselm von Feuerbach, sozusagen unter der Hand, doch gründlicher observieren und kundschaften als publik wurde, und hat dann das Ergebnis aus Gründen der Staatsraison für sich behalten oder behalten müssen? Manches, worauf wir noch kommen werden, deutet darauf hin. Um bei der Hypothese noch etwas zu verweilen: Es ist durchaus wahrscheinlich, daß Kaspar Hauser, das bedauernswerte Opfer politischen Machtstrebens, die letzten 24 oder 48 Stunden vor dem "Auftritt" in unmittelbarer Nähe des Unschlittplatzes zubringen mußte, damit die Regie generalstabsmäßig klappt und keinerlei Panne passieren konnte, jedenfalls nach menschlichem Ermessen. Daß dann später doch Pannen der angedeuteten Art vorkamen, liegt im Bereich des menschlich-allzumenschlichen - einem Naturgesetz, dem sich auch die Mächtigen dieser Erde und ihre Handlanger nicht entziehen können. Tatsache ist jedoch: die Nürnberger Schuhmacher Weickmann und Beck sahen als erste diesen jungen Mann, den man später romantischerweise das "Kind Europas" zu nennen pflegte. Er war bekleidet mit einer Jacke von grauem Tuch, desgleich langen Beinkleidern, einer Weste von gestreiftem Zeug, kurzen Stiefeln und einem Herrenhut auf dem Kopf,
wie’s später im Protokoll hieß. Die "Jacke", das darf vermerkt werden, war bei näherem Hinsehen ursprünglich ein Frack gewesen, wie er in Herrschaftshäusern getragen wurde, beispielsweise von einem Kammerdiener. Der Einkleider des Kaspar hatte allerdings vor dem "Auftritt" kurzerhand die Rockschöße abgeschnitten. Verständlich bei diesem Aufzug, wenn Beck den Jungen bei einer Zeugenvernehmung sechs Jahre später als "pudelnärrisch" einstufte. Im gleichen Protokoll von 1834, im Jahre nach der Ermordung des Kaspar Hausers, gab Beck an, der Jüngling sei ihm damals, also bei seiner Ankunft auf dem Unschlittplatz, gleichgültig erschienen. Ihm, dem Beck, sei nichts besonderes am Kaspar aufgefallen - was nun wirklich im Widerspruch steht zu "pudelnärrisch". Sei’s wie’s mag: nach dem mißglückten Konversationsversuch machte er sich jedenfalls aus dem Staube. Ob er heimlief oder auf eine Halbe die nächste Kneipe ansteuerte - niemand weiß es; niemand hat den Schuhmacher je danach gefragt, auch nicht nach dem Widerspruch zwischen "pudelnärrischem" und "gleichgültigem" Aussehen. Vor seinem Weggang aber hat Jakob Beck seinem Zunftgenossen Weickmann empfohlen, den Burschen, der etwas von "Neutorstraße" lallte, zum Neuen Tor zu bringen, da Weickmann ja angeblich eh in die Richtung Neues Tor wollte. Weickmann, so gab dieser später zu Protokoll, stellte "gar bald" fest, daß der Junge "weder vom Krieg einen Begriff gehabt, noch das, was ich ihn gefragt verstanden" habe. Zur Erläuterung: Eine Art Kalter Krieg zwischen Rußland und der Türkei, jener von 1828/29, war kurz vor der heißen Phase. Ja, zwei Wochen vor Hausers "Auftritt" war es schon zu Kampfhandlungen gekommen - was aber bei der damaligen Möglichkeit von Nachrichtenübermittlung im Frankenland keiner wissen konnte, erst recht nicht Hauser. Die Nürnberger Biedermeier hat dieses Thema natürlich beschäftigt; alle Welt sprach davon. Und deshalb ist es auch selbstverständlich, wenn Meister Weickmann von dem fremden Burschen Neuigkeiten erfahren wollte. Aber Weickmanns Aussage zufolge hat Kaspar weder von einem Krieg etwas gewußt noch den Begriff "Krieg" schlechthin gekannt.
Weickmann sah sich also nach wenigen Sprachversuchen mit dem Jüngling alleine auf dem Unschlittplatz. Was tun? Wäre es nicht das Klügste, ebenfalls das Weite zu suchen und dem Buben anzudeuten, er möge immer geradeaus in Richtung Innenstadt weiterlatschen? Fast sollte man es glauben. Denn Reden konnte man mit dem Fremdling nicht; er plapperte immer nur die Worte und Wortfetzen nach. Wie’s Kinder tun: "Regensburg" - "Regensburg", "Krieg" - "Krieg". Eigenartig. Aber nach Alkohol roch das Bürschlein nicht. Weder nach Fusel noch nach besseren Sachen. Aber recht auffällig zusammengestellt war er: derbe Stiefel und abgetragener Herrenhut, zum Janker umfunktionierter Frack und "Weste von gestreiftem Zeug", wie es die Bauern tragen. Dazu das ganze Benehmen, die torkelnde Gangart und dennoch nicht "blau". Potzelement, da kenne sich einer aus! Aber was soll das schließlich einem reputierten Nürnberger Handwerksmeister von 53 Jahren jucken. Was denken die Leute, wenn sie einem begegnen, und ihn, den Weickmann, in Gesellschaft so eines Halbdeppen sehen! Soll es da nicht angeratener erscheinen, den Kerl seine Wege ziehen zu lassen und schleunigst zu verduften? Es wäre nur natürlich gewesen. Weickmann jedoch machte sich auf den Weg in die Innenstadt, gemeinsam mit dem Kaspar, dem "pudelnärrischen" Fremdling. War es wirklich bloßes Mitleid, das den Handwerker bewegte, oder handelte er im Auftrag der Hintermänner und ihrer Handlanger? Nun, das ungleiche Paar schlug den Weg zur Neutorstraße ein. Dies, obgleich der Kaspar kurz vorher, bei seinem Näherkommen, die beiden Schuhmacher mit "He Bue! Neue-Tor-Straß!" quasi begrüßt hatte. Angesehene Handwerksleute, dazu gestandene Mannsbilder, so vertraulichplump anzureden, wird selbst heute als eine Frechheit betrachtet, erst recht in der Biedermeierzeit zu Nürnberg. Aber scheinbar hat es Weickmann nichts ausgemacht, Beck vielleicht. Aber der hat sich ja auf französisch empfohlen. Doch nun wird’s erst spannend. Während Dr. Hermann Pies, der wohl bedeutendste Hauser-Forscher überhaupt, in seinem Buch "Kaspar Hauser - Eine Dokumentation" (1966, Seite 9 und 10) darüber
schreibt, daß Hauser bereits bei seiner Ankunft auf dem Unschlittplatz einen Brief in Händen gehalten hat, den Weickmann wie Beck gesehen haben soll, gab Weickmann etwas ganz anderes zu Protokoll. Vor dem Königlichen Kreis- und Stadtgericht Nürnberg vernommen, gibt Weickmann 1829 zu Protokoll: ... Ich vermutete, daß dieser Mensch zu irgend jemand in der Neuethorstraße verlange, und erbot mich daher, ihn dahin zu führen. Ich ging mit dem H. hierauf über die Max-Brücke gegen die Neuethorstraße zu, wo er ohnfern der Maxbrücke in die Seitentasche seiner Jacke griff und einen versiegelten großen Brief daraus hervorzog. Er behändigte mir diesen Brief auf welchem ich die Aufschrift las: "An den Herrn Rittmeister der 4. Esgataron." Da ich über den bezeichneten Herrn keine Auskunft zu geben vermochte, so äußerte ich: "nun wirds Beste sein, wir gehen an die Wache zum neuen Tore ..." So, so! Weickmann konnte also über den "bezeichneten Herrn" keine Auskunft geben. Das konnte er freilich nicht, es sei denn, er wäre Schuster und Hellseher dazu gewesen. Denn es stand auf der Briefanschrift kein Name. Wortlaut der Briefanschrift: An Tit. Hr. Wohlgebohner Rittmeister bey der 4ten Esgataron bey 6ten Schwolische Regiment in Nierberg. Aber es kommt noch dicker oder sonderbarer - wie man’s nimmt. Vom Unschlittplatz, über den Maximiliansplatz und die Maxbrücke, bis hin zum Neuen Tor, sei dem komischen Paar keine Menschenseele begegnet. So Weickmann beim Verhör. Das ist einfach nicht erklärbar, ja beinahe unfaßlich! Schließlich hatte Nürnberg damals an die 30000 Einwohner hinter seinen Mauern gehabt; und alle werden sie ja nicht zum Pfingstausflug die Stadt verlassen haben. Gut, sei es als aktenkundige Tatsache registriert! Eines muß den Drahtziehern jedenfalls gelassen werden, daß sie nämlich ihr dunkles Handwerk meisterhaft verstanden haben. Aus ihrer Sicht betrachtet, haben sie hervorragende Arbeit geleistet, ganz gleich nun, ob der bieder wirkende Schuster zu ihrer Rotte gehört hat oder nicht. Einen besseren Zeitpunkt als diesen Pfingstmontag mit seinem vorsommerlichen,
zum Ausflug reizenden Wetter hätten sie gar nicht finden können. Natürlich gehörte auch Glück dazu - Ganovenglück oder Geheimdienstglück? Vielleicht beides. Und sie konnten es ja auch gebrauchen. Aber was sagte Kaspar Hauser dazu, später, als er sich besser verständlich machen konnte? Nichts, kein Wörtchen, keine Silbe. Sein Erinnerungsvermögen, wann, wo und wie er in die Stadt gekommen ist, war gelöscht. Er konnte sich an nichts mehr erinnern. Für die Hauserianer war dies immer recht peinlich, daß ihr Halbgott so gar nichts darüber sagen konnte. Aber mittlerweile scheinen wir zu wissen, warum das so war. Und dann wird verständlich, daß der Hauser Kaspar, wie ihn die Hintermänner sinnigerweise genannt haben, tatsächlich kein Erinnerungsvermögen haben konnte. Alles deutet nämlich darauf hin, daß er "high" war, wie wir heute sagen würden. Aber darauf kommen wir noch ausführlich zu sprechen. Schuhmacher Weickmann und der Fremdling kamen also gegen 17.20 Uhr am Neuen Tor an. Das heißt mit anderen Worten: Für die rund 1000 Meter vom Unschlittplatz bis zum Neuen Tor haben sie ungefähr eine Stunde gebraucht. Wiederum sonderbar, besonders was unseren Meister Weickmann betrifft. Man stelle sich vor: Ein Handwerksmeister der einstigen freien Reichsstadt Nürnberg, ein Bürger der Meistersingerstadt, an Traditionen hängend, hierarchisch erzogen, trottet neben einem ihm wildfremden Bürschlein treu und brav durch Nürnbergs Kernstadt. Beide "marschieren" durchs Tor hinaus, grabenüber zum Häuschen, in dem Torexaminator Carl seinen pfingstmontäglichen Dienst versah. Angeblich fragte dieser nach dem "Wanderbuch" des Schützlings von Weickmann. Carl begnügte sich aber, wenn man den kleinkarierten Zeugenvernehmungen der Jahre 1828 und 1829 glauben darf, mit Weickmanns Hinweis: der komische Kauz da, der hätte keins. Eine lasche Dienstauffassung? Ach, wer wird am Pfingstmontag so beamtenstreng sein! Andererseits: Woher überhaupt sollte der Schuhmacher wissen, daß sein Protege kein Wanderbuch hat? "Grad hinein!" winkte der Torexaminator in Richtung Kernstadt, von wo Kaspar und der Schuhmacher eben grabenüber gekommen waren. Also wieder hinüber zum eigentlichen Neuen Tor, einem der acht Nürnberger Stadttore. Dort aber hatten ein Korporal und zwei Rekru-
ten Wachdienst. Glaubt man den miserabel geführten Vernehmungen der beiden ersten Jahre nach Hausers Ankunft in Nürnberg, so hat der Fremdling vor dem Korporal respektvoll den Hut gezogen, unter seinen Arm geklemmt und den auffällig großen, versiegelten Brief dem Herrn Unteroffizier vorgewiesen. Es gibt nun Autoren in der Hauser-Sache, die glauben, Kaspar müsse aufgrund dessen eine zumindest unterbewußte Ahnung von Uniformen schlechthin gehabt haben. Das kann, muß aber nicht so gewesen sein. Der Jüngling gab nämlich später an, sein Absetzer in der Noris hätte ihm eingeschärft, ja nur immer den Hut zu ziehen, wenn er auf Menschen träfe, und so einem "Bue" auch den Brief vorzuweisen sowie nach der Neutorstraße zu fragen. Also muß der gute Kaspar doch eine Ahnung von Menschen gehabt haben, was aber nicht in Einklang zu bringen ist mit der Verlies-Legende, wonach er die Zeit seines einigermaßen bewußten Lebens in einem Kerker bei Wasser und Brot verbracht haben soll. Wie gesagt, gegen 17.20 Uhr verließ, den unter Eid ausgesagten Beteuerungen zufolge, Schuhmacher Weickmann seinen Begleiter, der bis dahin sozusagen ohne Namen war. Kein Protokoll hat je verlauten lassen, wie dieser Abschied tatsächlich vor sich gegangen ist. Kaspar Hauser jedenfalls, so war es ihm eingedrillt worden, sich zu schreiben, ging wieder zurück in die City, in Richtung jenes Hauses, das Torexaminator Carl ihm gewiesen hat: "Grad hinein!" Gemeint war damit das Haus des Rittmeisters Freiherr von Wessenig, eben jenes Mannes, dessen militärische Funktion zwar auf dem Geleitbrief korrekt angegeben war, jedoch ohne Namensangabe; die primitive Orthographie der Adresse und des Inhalts sei hier zunächst einmal außeracht gelassen. Nur runde 100 Meter waren es bis dorthin, in die Neutorstraße, in das Anwesen "Zum schwarzen Kreuz", in welchem der Rittmeister Freiherr von Wessenig, 52 Jahre alt, sein Domizil hatte. Er war der Chef der 4. " Esgataron" (Eskatron) des 6. "Schwolische" (Chevaulégers) "Regiments in "Nierberg" (Nürnberg). Angekommen dortselbst ist das bei seiner Ankunft vier Schuh und neun Zoll, also runde anderthalb Meter groß gewesene Bürschlein gegen 19
Uhr! Kaspar soll also für den läppischen Weg von 100 Metern sage und schreibe volle 100 Minuten gebraucht haben; für den Meter quasi eine Minute. Das glaube, wer will. Und noch etwas kommt hinzu: der gute Kaspar soll auch dabei von keiner Menschenseele gesehen worden sein. Er war geschlagene 100 Minuten lang einfach weg, wie aufgelöst. Ein Rätsel? Ein Mysterium? Ein Phänomen? Unsinn! Schließlich kann er sich nicht für runde anderthalb Stunden in eine andere Dimension verwandelt haben. Kaspar mit Tarnkappe - das fehlte gerade noch! Nein, es gibt nur drei Möglichkeiten zur Erklärung: 1. Kaspar Hauser ist einfach vor Müdigkeit und allein mit sich irgendwo im Gewinkel des Neuen Tores eingeschlafen. Dafür spricht sein allgemeiner körperlicher Zustand bei seiner Ankunft, wie alle Erstzeugen übereinstimmend ausgesagt haben. Auch darf an dieser Stelle der Hauser-Geschichte vorgegriffen und darauf verwiesen werden, daß Kaspar in Not und Gefahr instinktiv dunkle Plätze und Nischen aufsuchte, um sich dort zu verstecken. Besonders augenfällig war dies der Fall unmittelbar nach dem Attentat vom 17. Oktober 1829, als er sich in der hintersten Ecke des Kellers im Hause seines Erziehers Daumer verkroch. Auch dies ist ein Verhalten abseits menschlicher Norm. Warum soll der arme Kerl, der kaum mehr auf den Beinen stehen konnte, gleich nach dem "Auftritt" nicht ebenfalls so gehandelt haben? Hat er sich in so einen hintersten Winkel verkrochen, dann wäre sein Entdecktwerden wirklich ein Zufall gewesen. 2. Die Zeitangabe des Zeugen Weickmann stimmt nicht. Dann müßte allerdings auch die des Zeugen Merk, Stallbursche beim Rittmeister Wessenig, falsch sein. Dieser gab an, daß gegen 19 Uhr am Hause des Rittmeisters geläutet wurde und er beim Öffnen der Tür den Kaspar davor stehen sah - wohlgemerkt: den Kaspar alleine auf weiter Flur. Dies sei unterstrichen, da Hauser später angab, Weickmann hätte ihn bis vor die Tür des Hauses "Zum schwarzen Kreuz" gebracht und habe auch die Türglocke betätigt. Hier sei vermerkt, daß Hauser bei seinem Auftauchen in Nürnberg höchstenfalls 50 Wörter sprechen konnte und von Begriffen kaum eine Ahnung hatte. Sämtliche Erstzeugen, gebildet wie weniger gebildet, waren sich darin einig. Einen
solchen Menschen polizeilich zu vernehmen, dürfte nicht nur ein Kunststück sein, sondern eine Unmöglichkeit schlechthin. Man wird halt dem sonderbaren Fremdling gewisse Dinge einfach unterjubelt haben, um die Protokollseiten vollzukriegen. Punktum. Streusand drüber. Wer konnte ahnen, daß sich daraus der seltsamste Kriminalfall aller Zeiten entwickelt? Am Anfang vielleicht nicht einmal der Gerichtsherr und Kriminalist Anselm von Feuerbach, der Ritter und Staatsrat aus Ansbach, der Präsident des Appellationsgerichtshofes. Die dritte der Möglichkeiten wäre: Schuhmacher Weickmann arbeitete im Auftrag und für die Rotte, und seine Order hätte gelautet, den Buben in einen Winkel zu führen, damit er sich dort ausruhen konnte, gleichsam vorm nächsten Auftritt bei Rittmeister von Wessenig, vor der zweiten Szene sozusagen. Absicht des Planspieles in diesem Fall könnte gewesen sein, Verwirrung zu stiften, gleich von Anfang an. Allerdings, das darf eingeflochten werden, ist dies den Dunkelmännern auch gelungen, fabelhaft gelungen sogar. Natürlich konnte Weickmann Rottenmitglied auch ohne diese Hypothese gewesen sein, ob er Hauser am Neuen Tor nun verlassen oder den Klingelzug am Hause des Rittmeisters gezogen hat. An der an Abstrusitäten so reichen Hauser-Geschichte sind jedenfalls diese fehlenden 100 Minuten - die Zeit von ca. 17.20 Uhr bis ca. 19 Uhr - eine besonders provozierende Herausforderung an das normale, realistische Verhaltens- und Denkvermögen, das zugestandenermaßen in vielem einer gewissen gesellschaftlichen Normierung unterliegt, die bei Kaspar allerdings nicht vorhanden sein konnte. Bevor wir uns näher mit dem Stallburschen Merk und seinem Herrn, dem Rittmeister von Wessenig, beschäftigen, sei auf einen Fakt verwiesen, jedenfalls eine aktenkundige Tatsache - und nur an die können wir uns zunächst einmal halten, wie sehr der historische und juristische Wert dieser Erstakten mitunter auch angezweifelt werden darf. Demnach hat Meister Weickmann ebensowenig wie sein Zunftgenosse Beck gewußt, wer in Nürnberg Chef der 4. Eskatron des 6. Reiterregiments ist. Hausers Absetzer aber scheinen genau Bescheid ge-
wußt zu haben. Schließlich hatten sie ihn auch mit dem Wort "Neuethorstraße" traktiert, es ihm eingebleut. Lallend verzapfte er es denn auch den beiden "Buem" Weickmann und Beck. Just in der Neutorstraße aber wohnte der Rittmeister von Wessenig. "Man" wußte also sehr wohl, wo der Eskatronchef zu finden ist. Es soll also gegen 19 Uhr gewesen sein, als die Schelle im Hause des Rittmeisters von Wessenig bimmelte. Des Königs Offizier war aber nicht da, sondern in der Kutsche mit Bekannten nach Erlangen gefahren, wo er zwar nicht "das Himmelreich zu erlangen" suchte, dafür bergkirchweihliche Abwechslung vom tristen Barrasalltag. Die geräumige Wohnung bewachte derweilen des Rittmeisters Bursche, sein Faktotum - Mädchen für alles im Hause der von Wessenigs. Sein Name: Johann Mathias Merk, 30 Jahre alt, evangelisch, geboren in Markt Erlbach, zwischen Ansbach und Neustadt an der Aisch - zu letzterem Karpfenstädtchen näher gelegen als zur einstigen Residenz der Hohenzollernmarkgrafen in Ansbach. Dieser Merk war einst selber Reitersoldat, Chevauléger, dann Arbeiter in einer Tabakwarenfabrik, später von Wessenigs Hausbursche und Heimarbeiter fürs alte Gewerbe: er rollte, wenn Wessenigs ihn nicht gerade brauchten, Zigarren, vielleicht auch Krumme Hunde, in des Offiziers Haus. Dieser 30jährige war nicht eben eine geistige Leuchte, aber auch nicht ganz deppert. Seine Aussagen blieben jedenfalls aufgrund seines Intelligenzquotienten, wie es heute, in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts heißen würde, unvereidigt. Schlicht, einfach und wahr gesagt: der Merk Hanni war intelligenzmäßig minderbemittelt - ein armer Hund. Als es schellte an diesem Pfingstmontag Anno 1828, da schlurfte der noch eben zigarrenrollende Merk durch den Hof und Gang zur Tür in der Neutorstraße (die Wageneinfahrt war parallel, von der Irrerstraße her). "Draußen vor der Tür "aber stand eine komische Type, die vor zweieinhalb Stunden auf dem Unschlittplatz "gelandet" war: unser Kaspar. Er schnurrte ein gar eigenartig Sprüchlein ab: "Ein Reiter möchte ich werden, wie mein Vater einer war!" Dies angeblich in altbayerischem Dialekt. Merk, der Pfingstochse, kratzte sich hinterm Ohr und wußte zunächst nicht recht, was er mit dem Pfingstochsen da
vor ihm anfangen sollte. Letzterer zeigte, noch während er sein Sprüchlein sagte, einen großformatigen Brief vor, einen mit Siegel. Und das beeindruckte den Merk Hans, den gewesenen Chevauléger, der die Haken schon zusammenknallen ließ, wenn sein Chef noch eine halbe Meile entfernt im Anritt war. Er führte ihn in den Stall, hinten im Hof. Also nicht in seine, Merks, Kammer oder gleich gar in die Wohnung des Herrn Offiziers. Merk hat ihn also für etwas ganz Gewöhnliches gehalten: für einen Boten oder dergleichen. Ohne Brief mit Siegel hätte er ihn wahrscheinlich von des Rittmeisters Miettür gewiesen. Hören wir aus Merks Aussage vor dem Königlichen Kreis- und Stadtgericht der Lebkuchenstadt, und zwar von 1829, nachdem am 17. Oktober dieses Jahres auf Kaspar Hauser ein Attentat verübt worden war. Untersucht wurde wegen Mordversuchs und Aussetzung auf Befehl des Königs von Bayern! Hören wir also auszugsweise: Am Montage des Pfingstfestes 1828 war meine Herrschaft, sowie sämtliche Hausgenossen des Herrn v. Wessenig abwesend - und ich schon im Hause allein, - wo gegen 7 Uhr an der Haustüre angeläutet wurde. Ich ging vom Stall aus an die Haustüre und traf nach deren Eröffnung denjenigen jungen Menschen, der mir nachmals noch oft unter dem Namen K. H. zu Gesicht gekommen ist. Er hatte einen grauen Schalk und dergleichen Beinkleider am Leibe, auch einen runden Hut auf dem Kopf, und indem er einen in Händen habenden Brief vorzeigte, äußerte er wörtlich: "a söchtener Reiter möcht ih wern, wi mei Voter gwen" und daß er hieher an das Haus gewiesen worden sei. Ich frug den H., wo er hergekommen, an wen der Brief adressiert sei u.s.w.- konnte aber nichts weiteres von ihm herausbringen, als die Worte: "dös woaß ih nit". Der junge H. war äußerst ermattet, dergestalt, daß er nur herumschweifte, und verriet durch Deuten auf die Füße Schmerzen in letzterem ... Merk führte den vor Müdigkeit wankenden Fremden also in den Stall, wo Kaspar wie ein gefällter Blitz auf dem Stroh landete. Sicher machte sich auch der Merk Johann seine bescheidenen Gedanken über den
seltsamen Vogel, der ihm da zugeflattert ist. Denn aus dem Gestammele des Jungen wären auch gescheitere Kaliber als Merk nicht klüger geworden. Rausbekommen hat er von diesem sonderbaren Briefträger eh nicht viel. Und daß dieser Kerl für die Reiterei nichts ist, das konnte sich selbst ein Merk an den fünf zigarrengewohnten Fingern abreimen. Lange Zeit zum Grübeln hatte der langsame Denker auch nicht, denn "gegen 8 Uhr" kam der Boß von der Erlanger Bergkirchweih zurück: mit seinen zwei engen Bekannten, dem Polizeiaktuar von Scheurl und dem Leutnant von Hugenpoët nebst des Rittmeisters Kutscher Johann Hacker. Hier nun sei in dem komplizierten Hauser-Dickicht wieder einmal ein Hinweis gestattet, der zeigen soll, wie naiv die Nürnberger Behörden den "Fall Hauser" selbst dann noch behandelten als schon alle Welt von ihm sprach. Erinnern wir uns: Merk sagte in seiner Vernehmung nach dem Attentat vom Oktober 1829 - jenem Vorfall, der Hauser bekannt machte in ganz Europa, ihn zum "Kind Europas" stempelte: Am Montag des Pfingstfestes 1828 war meine Herrschaft, sowie sämtliche Hausgenossen des Herrn v. Wessenig abwesend - und ich sohin im Hause allein ... Der 36 Jahre alte Polizeiaktuar Christoph Joachim Wilhelm von Scheurl aber, evangelisch, geborener Nürnberger und dort auch noch wohnhaft, sagte in seinem Verhör von 1829: Bei unserem Eintreffen kam die Tochter des Herrn von Wessenig, ein Mädchen von 8 bis 9 Jahren ihrem Herrn Vater mit der Äußerung entgegen, "ein wilder Mensch ist in deinem Stall und ließ sich durchaus nicht abweisen" ... Der Bediente des Herrn Rittmeisters [gemeint ist Merk - d. Verf.] hatte übrigens schon bei unserem Eintreffen einen versiegelten Brief übergeben, welchen Kaspar Hauser bei seinem Erscheinen abgegeben ...
Was nun? sei erlaubt, die Frage zu stellen. War Merk alleine daheim oder nicht? Wer hat nun die Wahrheit gesagt: Merk oder von Scheurl? Den Nürnberger Leuteausfragern scheinen solche "Kleinigkeiten" piepegal gewesen zu sein. Und dies bei einem Kriminalfall, von dem die ganze Welt redete! Irgendwie erinnert das an Mozarts Frau Konstanze, Mozarts "Stanzerl", das noch Jahre nach dem Tode ihres Gatten, als er in gebildeten Musikkreisen schon weltberühmt war, noch nicht einmal eine Ahnung hatte, mit welch einem außergewöhnlichen Künstlermenschen sie verheiratet gewesen war. Armer Wolfgang Amade! Schwamm drüber und Streusand drauf! Aber es geht ja im Fall Hauser nicht darum, wer nun recht hat, der Herr von Scheurl oder der naive Merk. Nein, es ist noch heute, 150 Jahre nach Hausers Debüt in dieser Welt, um einfach an den Kopf zu greifen, wie dilettantisch in der Hans-Sachs-Stadt - gemeint ist der "Schuster und Poet dazu"‚ nicht sein nachmaliger Namensvetter, Oberstaatsanwalt und Fernsehstar - wie dilettantisch in dieser Stadt eruiert und recherchiert und protokolliert wurde. Widersprüche wurden nicht erkannt oder einfach nicht zu Kenntnis genommen. Die einstige freie und stolze Reichsstadt, der Deutschen Schatzkästlein, war seit 1806 bayerisch geworden; auch ein Werk des Großen Korsen, dessen Stieftochter Hausers leibliche Mutter war. Nun war also die noch vor 22 Jahren Freie Reichsstadt gewesene Noris bayerisch - als "Beutebayern" betrachten sich noch heute viele Franken. Jetzt war sie halt eine Stadt unter vielen im Bayernland, dazu noch hoch verschuldet. Aus der Traum von Größe und Macht und Selbständigkeit. Und geschrumpft ist die Noris dazu: gebietsmäßig wie von der Einwohnerzahl her, von 40000 auf 30000 "Nierberger". Geblieben aber war die für Nürnberg einmalige Architektur und das stolze Bewußtsein einer großen Vergangenheit. Geblieben waren die Butzenscheiben, die Burg und ihre Kaiserstallung und die Reminiszenzen an Große, wie Albrecht Dürer oder Peter Henlein. Geblieben auch waren die verträumten Gassen und ihre Wirtshäuser, die Fachwerke und Lebkuchenbäckereien, der Christkindlesmarkt und der Nürnberger Tand, gehend in alle Land. Ein gut Stück dieser Einmaligkeit hat sich noch erhalten bis in den Dezember 1944 hinein. Dann allerdings setzten die
alliierten Bomber zum Finale an und ließen nicht mehr allzuviel stehen vom Schatzkästlein. Aber zu Hausers Zeiten war Nürnbergs Altstadt noch umgeben von einer stattlichen Mauer, an die 5000 Meter Umfang und bewehrt mit über 100 Türmen. Freilich bedrückte der Verlust der Freien Reichsstadt die Nürnberger. Aus solcher Gemütsverfassung entsprießt dann oft genug Lethargie. Steigt mer doch affn Frack, ihr Münchner Lackaffen! Wenn‘s eich nedd paßt, daß mer mit dem Kaschper nedd weiterkumma, dann probiert‘s selber odder laßt‘s die ganze Sach die suberschlaua Anschbacher machn ... Der eine oder andere Nürnberger Behördenmensch mag solche Anwandlungen häufig genug gehabt haben - und nicht nur in der Hauser-Sache. Dem Merk schien das Bürschlein auf dem Stroh zu dauern. Gutmütig wie er war, holte er ihm aus der Küche seiner Herrschaft ein Stück kalten Braten, Brot und ein Krüglein Bier. Mit den Gesten von Widerwillen, ja Abscheu wies Kaspar die Mahlzeit zurück. Das Brot jedoch verschlang er, als hätte er solches seit Tagen nicht mehr gesehen, geschweige denn gekostet. Und saufen erst konnte der Kumpan! Das konnte Merk mit dem Erstaunen des einfachen Mannes beobachten, nachdem er das Bier wieder in die Küche zurückgetragen hatte und dafür mit einem Humpen Wasser kurz danach auftauchte. Kaspar ließ das Wasser runterlaufen wie ein Reisender in der Wüste, dem vor Durst die Zunge zum Mund heraushängt. Und dann rollte sich der Kaspar wie ein Fragezeichen zusammen - die Knie am Kinn - und war im Nu weg. Ein knappes Stündlein danach kam der Rittmeister mit seinem Gefolge. Aus dem Protokoll seines Begleiters von Scheurl wissen wir, was angeblich danach kam. Merk jedenfalls hat seinem Herrn den versiegelten Brief überreicht. Im Stall, vor dem schlafenden Hauser Kaspar. Und im Siegel soll sogar eine Petschaft eingedrückt gewesen sein: G.F.R. oder G.J.R. oder G.T.R. Das "G." vorne und das "R." hinten scheinen sich erinnerungsmäßig besonders eingeprägt zu haben. Aber was die Mitte der Petschaft betrifft, so ist die Erinnerung daran nicht so eindeutig "F.", "J." oder "T." - man kann sich’s raussuchen. Auf jeden Fall ist das Siegel beim Aufmachen des Briefes zerbrochen und
dabei auch die Petschaft, falls tatsächlich eine eingeprägt war, unkenntlich gemacht worden. Oder sollte sie schon vorher unleserlich gewesen sein? Dann sei allerdings die Frage erlaubt: Ja warum haben die Dunkelmänner, die Absetzer, überhaupt das ganze Kasperletheater mit der Petschaft gemacht? Komisch überhaupt diese Sache mit dem Brief und dem Siegel. Die Originale gingen später mitsamt den Magistratsakten verloren, waren einfach nicht mehr auffindbar, bis zum heutigen Tag. Eine heillose Schlamperei also auch hier. Oder wurden sie von bestimmter Seite, auf eine entsprechende Order hin auf Nimmerwiedersehen weggeschafft? Vieles spricht dafür. Merk und Kutschergehilfe Hacker rüttelten derweilen den wie einen "Bauernburschen" - so von Wessenig 1834 - aussehenden Kaspar aus dem Schlafe. Übrigens: Meister Weickmann hat, ebenfalls 1834, unseren Hauser, dem Äußeren nach zu schließen, für einen "Kutschergehilfen" gehalten und sein Zunftbruder Jakob Beck für einen "Schneidergesellen". Wiederum, wie so häufig in der HauserGeschichte, ist die Auswahl der Deutungen groß. Man kann sich’s raussuchen. Und dies ist in der Hauserei geblieben bis zum heutigen Tag, gehört irgendwie dazu. Eine Ursache dazu gibt es natürlich. Hauser aufzuwecken, war keine leichte Arbeit. Sie mußten ihn tüchtig schütteln und rütteln. Schließlich hatten sie den Kerl soweit. Der aber war nicht faul, sondern stierte zunächst den Rittmeister in seiner Ausgehuniform an, kauderwelschte etwas durcheinander, was von allen als übermäßige Freude verstanden wurde, und fummelte dann an des Offiziers Portepee ganz ungeniert herum. Dabei stammelte er, allem Anschein nach überglücklich - so wurde es jedenfalls von allen Anwesenden gedeutet: "a söchtener möcht ih wern." Verständlich, daß der Rittmeister peinlich berührt war und finster dreinblickte. Mit beherrschtem Zorn las der Reitersmann weiter. Je mehr er las, umso finsterer wurde sein Blick. Und dazu kam noch der an seiner Uniform herumgriffelnde Bauerntrottel, für den er Kaspar hielt und um den es in diesen beiden Briefen offensichtlich ging. Denn im Brief lag noch so ein Wisch, angeblich aus des Herren Jahr 1812. Aber das war ein
so eindeutiges Falsifikat, daß selbst die Nürnberger Behördenleute es alsbald für eine grobe Fälschung hielten. Von Wessenig genierte sich vor Scheurl und Hugenpoët. Das war ganz natürlich, angesichts der peinlichen Situation. Und von Wessenig, der alte Schwadroneur und Weiberheld, hatte auch allen Grund dazu. Aufgrund seiner "Vergangenheit" war es durchaus im Bereich des Möglichen, daß er annehmen mußte, man versuche, ihm einen bösen Streich zu spielen, indem man das leibhaftige Resultat eines amourösen Abenteuers ihm sozusagen ins eheliche Haus lieferte. Doch vernehmen wir die beiden Briefe im originalen Wortlaut, mitsamt den orthographischen Fehlern und dem primitiven Stil, der aber sicher nur vorgetäuscht war: Von der Bäiernschen Gränz - Daß Orte ist unbenannt -1828 Hochwohlgebohner Hr. Rittmeister! Ich schücke ihner ein Knaben der möchte seinen König getreu dienen Verlangte Er, dieser Knabe ist mir gelegt worden. 1812 den 7 Okkober, und ich selber ein armer Taglöhner, ich habe auch selber 10 Kinder, ich habe selber genug zu thun daß ich mich fortbringe, und seine Mutter hat mir um Die erziehung daß Kind gelegt, aber ich habe sein Mutter nicht erfragen Könen, jetz habe ich auch nichts gesagt, daß mir der Knabe gelegt ist worden, auf den Landgericht. Ich habe mir gedenckt ich müßte ihm für mein Sohn haben, ich habe ihm Christlichen Erzogen, und habe ihm Zeit 1812 Keinen Schrit weit aus dem Haus gelaßen daß Kein Mensch nicht weiß da von wo Er auferzogen ist worden, und Er selber weiß nichts wie mein Hauß Heißt und daß ort weiß er auch micht, sie derfen ihm schon fragen er kan es aber nicht sagen, daß lessen und schreiben Habe ich ihm schon gelehrte er kan auch mein Schrift schreiben wie ich schreibe, und wan wir ihm fragen was er werde so sagte er will auch ein
Schwolische werden waß sein Vater gewessen ist, Will er auch werden, wer er Eltern häte wir er keine hate wer er ein gelehrter bursche worden. Sie derfen im nur was zeigen so kan er es schon. Ich habe im nur bis Neumark geweißt da hat erselber zu ihnen hingehen müßen ich habe zu ihm gesagt wen er einmal Soldat ist, kome ich gleich und suche ihm Heim sonst häte ich mich Von mein Hals gebracht Bester Hr. Rittmeister sie derfen ihm gar nicht tragtiren er weiß mein Orte nicht wo ich bin, ich habe im mitten bei der nacht fortgeführth er weiß nicht mehr zu Hauß, Ich empfehle mich gehorsamt Ich mache mein Namen nicht Kuntbar den ich Konte gestraft werden, Und er hat Kein Kreuzer geld nicht bey ihm weil ich selber nichts habe wen Sie im nicht Kalten so müßen Sie im abschlagen oder in Raufang auf henggen So, und nun zu dem sogenannten Mägdleinszettel, der obigem Brief beigefügt war und angeblich als Verfasserin eine anonyme ledige Mutter hat. Er soll aus dem Geburtsjahr des Knaben stammen, also von 1812. Im Gegensatz zum "Geleitbrief", in gotischer Schrift verfaßt, war der "Mägdleinsbrief" in lateinischer Schrift gehalten. Doch lesen wir ihn zunächst einmal: Das Kind ist schon getauft - Sie Heist Kasper in Schreib - name misen sie im selber -geben. Das Kind möchten - Sie auf Zihen Sein Vater - ist ein Schwolische gewesen - wen er 17 Jahr alt ist So schicken Sie im nach Nirnberg - zu 6ten Schwolische - Begiment da ist auch sein - Vater gewesen ich bitte um - die erzikung bis 17 Jahre - gebohren ist er im 30 Aperil - 1812 im Jaher ich bin ein - armes Mägdlein ich kann - Das Kind nicht ernehren - Sein Vater ist gestorben.
Wie schon angedeutet: die beiden Briefe sind hier so wiedergegeben, wie sie im Original waren, samt allen orthographischen- und interpunktionellen Fehlern. Lediglich im "Geleitbrief" stammen die Trennungen vom Verfasser dieses Buches. Der "Mägdleinsbrief" hingegen wurde hier in der gleichen Versform abgedruckt wie er im Original zu lesen war. Auch die Originale gingen verloren. Die Nürnberger Behörden haben aber lithographische Faksimile herstellen lassen, die damals, als Vergleiche noch möglich waren, allgemein als hervorragende Arbeiten angesehen wurden. Wir dürfen uns also auf sie verlassen. Die Nürnberger haben ferner, wie dies die amtliche "Bekanntmachung" des Bürgermeisters Binder bezeugt, durch "Vergleichung der Handschrift des in dem Brief selbst eingeschlossenen auf einem Octavblättchen geschriebenen Zettels mit der Handschrift des Briefes" herausgefunden, daß "wenngleich jener mit lateinischen, dieser mit deutschen Buchstaben geschrieben ist, eine große Ähnlichkeit zwischen beiden Schriftzügen" einwandfrei erkennbar war. Außerdem waren beide Wische mit ein und derselben Tinte geschrieben. Was sagen will: Der "Mägdleinsbrief", der ja 16 Jahre alt hätte sein müssen, war nicht etwa vergilbt, sondern genauso taufrisch wie der Hauptbrief, also der "Geleitbrief". Und noch etwas fiel den Nürnbergern auf: "Das Wasserzeichen im Papier heißt J. Reindel, welcher eine Papiermühle in Mühldorf im königl. Landgericht Schwabach im Rezatkreise des Königreiches besitzt." Nun geht daraus leider nicht hervor, welcher von beiden Briefen dieses Wasserzeichen besaß: der Mägdleinsbrief oder der Geleitbrief? Sei’s drum. Die beiden Wische wurden auch in unserer Zeit graphologisch untersucht und dabei die Richtigkeit der Nürnberger Vermutungen beziehungsweise vielleicht sogar der Erkenntnisse bestätigt. Beide Briefe sind demnach von ein und derselben Hand verfertigt worden, und zwar von einem Erwachsenen, der allem Anschein nach beide Briefe von einem Konzept abgeschrieben hat. Etwas in Eile, wie mit Recht vermutet werden darf. So, und nun beschäftigen wir uns etwas mit dem Geschreibsel des angeblich armen Mägdleins aus dem Jahre 1812. In lateinischer
Schrift will das arme Hascherl den Schrieb verfertigt haben! Dabei hat es wohl damals kaum eine einzige Volksschule gegeben, in der diese Schriftart gelehrt wurde; es wurde den Kindern nur die deutsche Schrift beigebracht. Aber es fällt noch etwas Wesentliches auf. 1812 will also der Brief geschrieben worden sein. Wäre dem so, dann hätte die junge, ledige Mutter die besondere Gabe des Hellsehens haben müssen. Denn: 1812 lag nicht ein einziges Pferd des 6. ChevaulégersRegiment in Nürnberg. Das "arme Mägdlein" hätte voraussehen müssen, daß 16 Jahre später, also 1828, Teile dieses Regiments in "Nierberg" garnisoniert sein werden. Wer aber eine solche Gabe hat - ein solcher Mensch wäre kein "armes Mägdlein"‚ das vor Armut ihr Kind aussetzen muß. Der Wisch ist also Krampf, ausgemachter Schwindel, dazu nicht einmal besonders intelligent angelegt. Auffällig in beiden Schrieben ist das Wörtchen "selber". Im Geleitbrief kommt "selber" sechsmal vor, im Mägdleinsbrief einmal; nie aber "selbst". Beide Briefe haben ferner "kan" statt "kann" und "im" statt "ihm" gemeinsam. Und Soldat will der Dreikäsehoch werden? So einer wie sein Vater angeblich gewesen sein soll. Nun, sein Vater war selbstverständlich zugleich auch ein Soldat, aber kein "Schwolische". Throninhaber waren zu jener Zeit gleichzeitig auch die obersten Soldaten ihres Landes. Und freilich haben sich die hohen Herren mitunter auch mit "armen Mägdleins" eingelassen, beileibe aber nicht, um die Volksseele zu studieren. Die Produkte ihrer "Einlassung" brauchten sie natürlich nicht auf so simple Art vor der Welt zu verstecken und nach 16 Jahren auf dem Nürnberger Unschlittplatz hinstellen mit der schriftlichen Bitte, den Kegel da zu den Soldaten zu stecken. Mein Gott, in der absolutistischen Ära gab es Möglichkeiten "noch und nöcher". Man pflegte mit Geld, Titeln und Pfründen die Mäuler zu stopfen. Und wem das immer noch nicht genügen sollte in der Zeit des "Jus primae noctis", dem zeigte man schon, wo der Bartel den Most zu holen hat. Ein Wink von oben und die Sache war geritzt.
Aber weshalb dann überhaupt der ganze Nonsens mit der Aussetzerei in Nürnberg, mit Geleitbrief und Mägdleinswisch? Weshalb dieses ganze auffällige Getue wegen eines angeblichen Kegels? Weshalb den Jungen angeblich 16 Jahre hindurch einsperren bei unserem anonymen Taglöhner, der "selber" zehn Kinder zu ernähren hatte? Ach, es kann nicht anders sein, wie noch zu beweisen sein wird, als daß die Absetzer ganz bewußt auf den Aussetzling aufmerksam machen wollten. Der Junge sollte ins Rampenlicht kommen. Und das konnte er am ehesten auf die Art, wie es seine Regisseure wollten und auch meisterhaft fertiggebracht haben: durch Verwirrungen, Irrungen, Legenden, Gerüchte und Hokuspokus. Und das mitten in der Dürerstadt, einer der größten Städte des Bayernlandes, im Einzugsbereich des bedeutendsten Juristen und Kriminologen des Jahrhunderts gelegen, im Amtsbereich des Gerichtspräsidenten Dr. phil. et Dr. jur. Paul Anselm von Feuerbach. Die beiden Ankunftsbriefe können also nach menschlichem Ermessen in erster Linie nur dazu gedient haben, um Aufmerksamkeit zu erregen und Verwirrung zu stiften. Beides ist in vollem Maße ja auch gelungen - bis in unsere Zeit hinein. Um das Maß der Verwirrung voll zu machen, wurde in eine gewisse Richtung gedeutet. Auffallend ist jedenfalls der Hinweis "Von der Bäiernschen Gränz" und die Namensnennung des Städtchens Neumarkt: "Ich habe im nur bis Neumark geweißt ..." Auch der Spiegelschriftzettel, der nach dem letzten Attentat auf Hauser am Tatort im Ansbacher Hofgarten in einem lila Beutelchen gefunden wurde, weist sinnigerweise auf die bayerische Grenze hin: "... Ich komme von - - - der bayr. Grenze - - am Flusse - - - ..." Mit anderen Worten: alle die drei ominösen Schriftstücke, die den fünfjährigen öffentlichen Lebensweg des Kaspar Hausers begleitet haben, von seinem Auftauchen im Mai 1828 bis zu seinem tragischen Ende im Dezember 1833, können nur als Aufmerksamkeitserreger und Verwirrungsstifter angesehen werden. Da nun keine Macht der Welt jemals mit eigenen Fingern auf eigene dunkle oder gleich gar schmutzige Flecken gezeigt hat, dürften die eigentlichen, die ursprünglichen Drahtzieher mit an Sicherheit gren-
zender Wahrscheinlichkeit außerhalb Bayerns zu suchen sein. Dabei darf nicht vergessen werden: Regisseure dieses Formats und ausgestattet mit solchen Machtmöglichkeiten konnten sich erlauben, mit der politischen und gesellschaftlichen Logik nach ihrem Gutdünken umzuspringen. Sie haben davon reichlich Gebrauch gemacht. Ohne Hemmungen und Rücksicht auf Verluste. Und aus diesem Grunde auch wird ein rein juristischer Nachweis des Verbrechens an Kaspar Hauser nie mehr zu erbringen sein. Aber die Indizienbeweise könnten heute ohne weiteres für eine Verurteilung der Dunkelmänner und ihrer Werkzeuge ausreichen. Dazu brauchte es allerdings runde 150 Jahre, da es sich, wie schon Feuerbach zu seiner Zeit andeutete, um ein gelungenes Staatsverbrechen handelte - allerdings mit "kleinen Regiefehlern". Denn ohne diese und einer gewissen geschichtlichen Zeitreife, einer geistig-politischen Umbruchepoche, die ja die Regisseure und ihre Auftraggeber erst veranlaßt haben, den "Fall Hauser" in die Welt zu setzen, wäre die Historie aus Unkenntnis darüber hinweggegangen. Das wäre bis in unsere Tage hinein nichts Neues gewesen. Aber wehe, wenn von denen, die Moral und Tugend für ihre Interessen gesellschaftlich installieren - wenn gerade von jenen Kreisen Taten ruchbar werden, die das bürgerliche Tageslicht zu scheuen haben! Dazu gehört der "Fall Hauser" des vorigen Jahrhunderts genauso wie der "Fall John. F. Kennedy" unseres Säkulums. So etwas kommt nicht zur Ruhe. Zu viel Hoffen und Sehnen nach einer gerechteren Welt verbindet sich unbewußt damit. Und somit ein Stückchen Menschentum schlechthin. Das ist‘s wohl ... Wieviel zynischer Intellektualismus steckt in den drei Schriftstükken, die Hausers kurzen Lebensweg gleichsam markieren! Nehmen wir den "Geleitbrief": Der Briefschreiber ist angeblich ein "armer Taglöhner" mit zehn Kindern. Auf dem "Landgericht" will er den Kaspar als Baby gefunden haben. Und da hat er dann gedacht, der arme Prolet, er müßte ihn an Sohnes statt annehmen - wie‘s halt so ist, wenn man "nur" zehn eigene Kinder hat. Selbstredend hat er ihn "Christlichen Erzogen", den Hauser Kaspar, und natürlich "Zeit 1812 Keinen Schrit weit aus dem Haus gelaßen". Und deshalb sollte auch kein Mensch wissen, wo er auferzogen worden ist - selbstverständlich
auch der Kaspar nicht und die anderen zehn Buben und Mädchen des vorgegebenen Taglöhners. Aber der Clou kommt dann, wenn der angebliche "Taglöhner" in seinem Wisch treuherzig und bieder davon erzählt, der Kaspar könne nicht wissen, wie das Haus des Taglöhners heiße und er kenne auch nicht den Namen des Ortes. Was muß das für eine segensreiche Gesellschaftsform gewesen sein, in der selbst Taglöhner ein Haus mit Namen besaßen, das anders lautete als der des Ortes! Haus- und Ortsname waren demzufolge also zweierlei. Das gab es damals im ausgehenden Absolutismus nur bei Schlössern und Gütern, und so ist es auch bis heute geblieben. Andererseits scheint der Kerl von einem Geleitbriefaufsetzer den Kaspar und seine Talente recht gut gekannt zu haben: "Sie derfen im nur was zeigen so kan er es schon." In der Tat, das hat sich dann später auch bestätigt, wie wir noch erfahren werden. Rührend direkt dann der drittletzte Absatz des "Geleitbriefes": Der Herr Rittmeister möge den guten Kaspar nicht "tragtiren". Dunnerlutsch noch einmal und Feuerbach hin, Feuerbach her: Seit wann werden Leute sentimental, zeigen Gefühle, die ansonsten über Leichen steigen! Der Herr von Wessenig soll ihn nicht traktieren dürfen! Nur der Herr "Taglöhner" durfte dies scheinbar. Oder war das ein Honiglecken, den Kaspar 16 Jahre hindurch, wie angegeben wird, "Kein Schrit weit aus dem Haus gelaßen" zu haben? Eine solche Tat aber war nach dem Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 strafbar. Es galt als Verbrechen! Und gerade an dieser Stelle sei ganz bewußt noch einmal die Frage in den Raum gestellt: Warum soll der Taglöhner den Findling 16 Jahre hindurch eingesperrt haben? Wo ist hier ein Motiv? Daß er sich aus christlicher Barmherzigkeit des ausgesetzten Säuglings angenommen hat, hätte ihm bei Gott doch niemand zum Vorwurf gemacht. Ganz im Gegenteil! Freilich hätte der Herr "Taglöhner" das Büblein bei den zuständigen Behörden anmelden müssen. Andererseits: ein Mann, der "selber" von der Hand in den Mund lebt und dabei noch zehn eigene Kinder zu "ernehren" hat, wie will justament so ein Mensch ein Baby vor allen anderen Familienangehörigen, Nachbarn, Verwandten und Bekannten versteckt halten - und dies 16 Jahre hindurch, ohne daß irgendwer dies je bemerkte? Dem
müßte aber so gewesen sein, da sich zu keiner Zeit jemand gemeldet hat, der über ein versteckt gehaltenes Kind zu berichten wußte. Gegen Schluß seines Briefes empfahl sich, wie wir im Wortlaut gelesen haben, der Anonymus "gehorsamt", also gehorsamst. Das aber ist ein typisches Wort aus dem militärischen Sprachschatz - damals wie heute. Überhaupt verrät die Schreibe, wenn nicht alles täuscht, die Hand eines Militärs. Darauf hingewiesen hat schon Anselm von Feuerbach und in unserem Jahrhundert, in den 20er Jahren, der verdienstvolle Hauser-Forscher, Rechtsanwalt Bartning (†) aus Hamburg. Auch Professor Dr. Klee (†) aus Nürnberg, der wohl am tiefsten in das Gewirr der Kulissen eingedrungen ist, deutet in diese Richtung. Und dann kommt der Schlußsatz des "Geleitbriefes", der ohne Punkt endet. Lesen wir ihn noch einmal im Originaltext: Und er hat Kein Kreuzer geld nicht bey ihm weil ich selber nichts habe wen Sie im nicht Kalten so müßen Sie im abschlagen oder in Raufang auf henggen. Der Verfasser dieses Buches darf seine freie Übersetzung hinzufügen: Auch hat er keinen Pfennig Geld bei sich, da ich selbst nichts habe. Wenn Sie ihn nicht behalten wollen, dann müssen Sie ihn halt wieder ohne Tritt weiterziehen lassen oder wegen mir in den Schlot hängen. Frecher, unverschämter geht’s nicht. Vielleicht aber sollte es bloß soldatisch-salopp klingen. Wer weiß! Auf jeden Fall haben sich an dem "... so müßen Sie im abschlagen oder in Rauhfang auf henggen..." die Hauserianer aller Zeiten emotional aufgespult. Sie nahmen halt die Verben "abschlagen" und "auf henggen" zu wörtlich. Für die Hauserer war es ein "abschlachten und in den Rauchfang aufhängen": die Empfehlung, den armen Kerl zu einer Art Räucherkaspar zu machen, so makaber dies sich anhört.
Der Nürnberger Professor Fritz Klee war es, wenn die Erinnerung keinen Streich spielt, der sich auch sprachlich mit dem Geleitbrief fundiert auseinandergesetzt hat und zum Vergleich eine altbayerische Redensart zitierte, die in diesem Landstrich der Bundesrepublik Deutschland beileibe keine furchteinflößende Androhung war und ist. Diese altbayerische Redensart lautet: "Glei schlog i di oh und häng di in Raufang aufi!" Und der Hauser-Autor Hans Scholz, der Berliner Journalist, Schriftsteller und Dichter war es, der auf ein Militärwörterbuch aus dem vorigen Jahrhundert hinwies, in dem es heißt: "... wird bei der Infanterie das Signal ‚Abschlagen‘ gegeben, dann darf ohne Tritt marschiert, geraucht etc. werden ...!" Also so barbarisch, wie es den Anschein hat, ist die Sache eben nicht. Kommen wir also endlich wieder zurück auf den aller Wahrscheinlichkeit nach harmlosen Schürzenjäger und Rittmeister der 4. Eskatron des 6. Regiments der Königlichen Leichten Reiterei, auf von Wessenig. Er gehörte einer Truppe an, die keinen allzu guten Ruf genoß, da die Leichten Reiter in punkto Sauferei, Mädchen und sonstigen außerkasernlichen Freizeitbeschäftigungen vielleicht doch etwas zu leicht waren. Sicher ein übernommenes Kollektivurteil, aber auch daran wird ein Stück Wahrheit sein. Herr von Wessenig hat also ganz schön belemmert dreingeblickt beim Lesen der beiden beschriebenen Blätter. Mag sein, ja wahrscheinlich sogar, daß ihn vergangene Reitersünden knallhart in seinem pfingstmontäglich gestimmten Kopf eingefallen sind. Verdammt noch mal! Was soll diese komische Überraschung! Und das in Gegenwart seiner nahen Bekannten und Untergebenen! Und der Halbidiot da vor ihm im Stall fummelt immer wieder an seinen blitzenden Uniformknöpfen, an seinem ganzen reiterlichen Lametta herum, machte dann wieder eine Art Kehrtwendung und verfiel ein übers andere Mal in Verzückung über die paar Pferde im Stall. "Roß, Roß!" lamentierte er dabei, streichelte immer wieder die Pferde und lallte sein Sprüchlein: "A söchtener möcht ih wern ..."
Für den Herrn Rittmeister sicher eine peinliche, ja widerliche Szene. Immerhin wußte er nur zu genau die Anspielung im Geleitbrief zu deuten: die Anspielung auf Neumarkt. Als Oberleutnant war er noch vor zwei Jahren mit seiner 4. Eskadron in Neumarkt garnisoniert. Und eine Alimentengeschichte soll der Eskatronschef auch gehabt haben in diesem oberpfälzischen Städtchen. Potzblitz! mag sich der Schwadroneur gedacht haben. Die ganze Sache kann doch kein Zufall sein! Und der anonyme Schreiber wußte schließlich auch, daß er, von Wessenig, mittlerweile in Nürnberg in Garnison liegt, samt seiner 4. Eskatron von den 6. Leichten Reitern. Peinlich, peinlich. Was tun? In seiner Verlegenheit verstieß des Königs Offizier gegen das Gebot der Menschlichkeit. Statt den vor Müdigkeit herumtaumelnden Kaspar weiterschlafen zu lassen, befahl er dem neben ihm stehenden Polizeimenschen von Scheurl, die Sache dienstlich in die Hände zu nehmen. Da aber Kaspar, wie gesagt, vor Entkräftung kaum mehr stehen konnte, geschweige denn gehen, wurde der Vizehausknecht des "Schwarzen Kreuz" geholt. Dieser packte den armen Kaspar am Kragerl und zog und schleppte und zerrte ihn, vorbei am Weinmarkt, zur Polizeiwache im Rathaus. Hinter Kaspar und dem Hausknecht marschierte verdrießlich der Herr Polizeiaktuar Christoph Joachim Wilhelm Scheurl von Defersdorf, um den Sproß eines alten fränkischem Geschlechts einmal voll beim Namen zu nennen. Für ihn war der Rest des Feiertages futsch. Und dieser fade Ausklang des Pfingstfestes wegen eines hergelaufenen Buben ... Doch irgendwie tat er ihm leid. Mein Gott, der Junge wankt ja nur noch. Kommt denn noch immer nicht die Wache in Sicht! Endlich war es soweit. von Scheurl schnaufte auf. Und auch der Hausknecht, vom "Schwarzen Kreuz", der ja, Hauser einmal ausgenommen, den schwierigsten Part zu erledigen hatte. Es war gegen 21 Uhr, als das Dreiergespann dort ankam. Viereinhalb bis fünf Stunden waren seit Hausers Ankunft auf dem Unschlittplatz mittlerweile vergangen. Aber Kaspars Leiden sollten für diesen Tag noch nicht zu Ende sein. Runde anderthalb Stunden wurde nun auf der Polizeiwache versucht, aus dem aufgegriffenen Jungen etwas über seine Herkunft zu erfahren. Vergebens, wie sich zeigen wird. Und die Vernehmung erfolgt natürlich routinemäßig, mit
den herkömmlichen polizeilichen Mitteln und Möglichkeiten. Verargen darf man das den Polizeileuten nicht. Für den Kriminalfall, der sich da anbahnte, wären sogar ganz andere Kaliber als diese Feiertagsdienstler weit überfordert gewesen. Und hintennach kann man ja leicht darüber rechten - jetzt, 150 Jahre danach. Den überkommenen Akten zufolge waren es insgesamt sechs Polizeileute, die sich auf der Wache um Kaspar bemühten; freilich auf ihre Art: 1. Polizeiaktuar von Scheurl, den wir schon kennen, jedenfalls einigermaßen, und der im Auftrag von Wessenigs den Kaspar unter Zuhilfenahme des Vizehausknechts hat herschaffen lassen. Aktuar von Scheurl hat dann allerdings nach ungefähr einer halben Stunde der Wachstube Adieu gesagt und sich verzogen. 2. Der Beamte vom Dienst: Johann Adam Röder, 30 Jährlein alt, evangelisch getauft, ein geborener Rothenburger. 3. Der Polizeirottmeister Johann Christoph Wüst (41). 4 und 5. die Polizeisoldaten Joseph Blaimer und Jean Jaques Lemariér und schließlich der Polizeiaktuar Hüftlein Rangkollege des von Scheurl. Nach Weickmann und Beck sowie Haus Wessenig samt Anhang bilden diese Männer also die dritte Zeugengruppe an diesem 26. Mai 1828, dem Pfingstmontag dieses Biedermeierjahres. Übereinstimmend hielten sie alle den Jungen, zunächst jedenfalls, für einen Vaganten, für einen Tippelbruder, einen Fahrenden also, einen Kochemer. Die Routinefragerei nach Name, Alter, Herkunft, Papiere, Elternhaus, Beruf und Reiseziel begannen. Den Anfang der Ausfragerei schien der Beamte vom Dienst gemacht zu haben: Offiziant Röder. Er vernahm den Kaspar formlos, also mündlich, brachte aber aus ihm nichts heraus. Aktuar von Scheurl bei seiner Vernehmung: "Sein Zustand glich dem eines halb wilden Menschen, der auf alle Fragen ‚dös woaß ih nit’ antwortete." Auch "hoamweißn" soll er des öfteren gesagt haben, wahrscheinlich völlig unmotiviert. Röders später schriftlich fixierter Bericht ging im Nürnberger Aktenwust unter, ging mit den Magistratsakten, die 207 Folianten umfaßten, verloren. Der Inhalt dieser schriftlichen Anzeige vom 17. Dezember 1828 hat sich jedoch in einem Brief Röders an Professor Daumer erhalten. Demzu-
folge hat Kaspar die an ihn gerichteten Fragen nicht beantwortet beziehungsweise sie waren "unverständlich". Hauser hat aber wie ein lernbegieriges Kind viele Wörter der Fragesteller einfach nachgeplappert, wie er dies schon bei Beck und Weickmann und danach bei Merk und von Wessenig getan hatte, später sicher auch auf dem Turm bei Hiltel sowie bei Daumer, bei dem er in Pflege war. Auf die Frage Röders, was für eine Lagerstätte das Jüngelchen daheim gehabt habe, faselte er etwas von "Akobifedern", womit sicher "Jakobifedern" gemeint waren. Und dies ist wieder ein Wort aus dem Kasernenbereich, aus dem Militärischen also, sprachlich aber herkommend aus dem Rotwelschen. Des Bayernkönigs Soldaten verstanden nämlich darunter Bettstroh, Strohsäcke. Vielleicht war’s Röder selbst oder einer der anderen Polizisten, der halt gesagt haben wird: Kerl, hast wohl auf Jakobifedern geschlafen, he? Und Kaspar wird dann nachgelallt haben: "Akobifedern, Akobifedern!" Ähnlich war es nämlich auch, als dem Offizianten Röder der Geduldsfaden riß und er das Bürschlein anschrie: "Wenn du jetzt nicht sprichst, so laß ich Dich in den Wald zurückführen!" Wobei der Einwand erlaubt sein soll: Was heißt hier "zurückführen"? Kam er denn aus dem Wald? Und woher soll das unser Polizeimann wissen? Verständlich jedenfalls, wenn Kaspar, weniger wohl wegen der Androhung "Wald", dafür aber ob des Offiziantens Brüllen wie vom Blitz berührt zusammenzuckte, in Schrecken geriet, zitterte, gar weinte und dem Protokoll zufolge flehte: "nit Wald, nit Wald!" Viel wahrscheinlicher ist’s, daß Kaspar das vielleicht am stärksten hinausgebrüllte Wort "Wald", sicher begleitet von einer entsprechenden Gestik des Herrn Offizianten, einfach erschreckt nachplapperte: "Wald, Wald!" Angesichts der Dümmlichkeit, mit der gerade die Vernehmungen der Erstzeit geführt wurden, darf man ruhig unterstellen, daß die Verneinung "nit ... nit ..." von den berufsmäßigen und später selbst befragten Protokollisten einfach erfunden, "hineingehört" wurde, um die Sache wenigsten einigermaßen plausibel zu gestalten. Denn ausgekannt hat sich mit dem raren Vogel da keiner. Weniger wahrscheinlich ist, daß Kaspar noch Erinnerungsfetzen besaß und er den Begriff
"Wald" einigermaßen verstand. Aber letztlich, das sei bemerkt, muß sich doch mit dem Substantivum "Wald" nicht unbedingt etwas Negatives, etwas Angsterzeugendes verbinden. Ganz im Gegenteil! werden manche sagen. Und dies mit Recht! Gegen Erinnerungsfetzen spricht die Präzision der Dunkelmänner, die den Kaspar mit Sicherheit vor seinem "Auftritt" auf eine Art präpariert hatten, daß Pannen dieser Art erst gar nicht passieren konnten. Die Präzision der nachrichtendienstlichen Gilde war ja so perfekt, daß runde 100 Jahre vergingen, bis einigermaßen Licht in das Dunkle der Geschehnisse kam. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Erst nachdem in Deutschland die Todesstunde der Monarchie und der Dynastien geschlagen hatte, 1918, wurde gleichzeitig das Tor einer halbwegs sachlichen Ventilation auch in der Hauser-Affäre aufgetan. Bis 1918 jedoch verdienten sich in erster Linie jene Hauser- "Forscher" die ersehnten Sporen, die die Dynastien, also die herrschende Gesellschaftsform schlechthin, verteidigten. Dazu gehörte übrigens auch Ansbachs Ehrenbürger Dr. Julius Meyer, nach dem noch in Zeiten der Bundesrepublik Deutschland eine Straße der mittelfränkischen Bezirkshauptstadt benannt worden ist. Für seine "Hauser-Forschung" bekam er seinerzeit übrigens einen hohen badischen Orden. Staatsrat Dr. Dr. Anselm von Feuerbach - Dr. Meyers Pendant - war, wie in so vielen Dingen, so auch in der Hauser-Sache die rühmliche Ausnahme von den Gepflogenheiten der damaligen Staats- und damit Machtdiener. Er war eben eine Persönlichkeit von außergewöhnlichem Format: liberal, progressiv und dennoch staatstreu bis zur Todesstunde: ein überragender Mensch in jeder Beziehung. Er ist mit dem Kriminalfall Hauser auf immer zutiefst verbunden, genauso wie Amerikas oberster Richter Warren mit dem Kennedy-Mord 1963. Und zwar im Sinne oberster Wisser, im Sinne von Leuten, die um der Staatsraison willen zu schweigen haben. Heute wissen wir doch längst, daß politische Verbrechen keine typischen Merkmale von Dynastien sind. Hektakomben an Blutopfern sind es mittlerweile, für die sogenannte sozialistische und auch sogenannte bürgerliche Systeme die Verantwortung zu tragen haben. Mein Gott, was hat die Welt und damit die
Menschen dieses Planeten in der Zwischenzeit nicht alles erdulden müssen! Allerdings blieb das Politverbrechen an Kaspar Hauser in jeder Beziehung einmalig. Wahrscheinlich liegt das auch daran, daß sich an der Person dieses Jungen politische Funken hätten entzünden können, die im systemverändernden Sinne ganz Europa, das Europa nach Napoleon, zu einem Pulverfaß gemacht hätten. Glaube keiner, es ginge damals lediglich um die Thronfolge irgend eines kleinen Markgrafen, eines Fürsten unter vielen! Wäre dem so gewesen: kein Mensch würde mehr von einem Kaspar Hauser sprechen! Wie wir noch sehen werden, ging es um ganz andere Beträge. Ein Metternich kümmerte sich nicht um dynastischen Kleinkram - es sei denn, es ginge um den Bestand der Dynastien als solche. Und das dürfte hier der Fall gewesen sein. Den Nürnberger Peterlaspolizisten jedenfalls dämmerte es langsam, daß mit der schrägen Type auf herkömmliche Art nichts zu machen ist. Da soll doch der Deibel reinfahren! mag sich auch der Herr Polizeiaktuar Hüftlein gedacht haben, der den Kaspar quasi unter vier Augen "vernahm" und letztlich hintennach genauso klug war wie seine Untergebenen auf der Wache. Also muß die Sache anders aufgezogen werden! Offiziant Röder zeigte dem Kaspar ein 24-KreuzerStück. Seine Frage dürfte dabei gelautet haben: Ist das ein 24- oder ein 12-Kreuzer-Stück? Und der Kaspar wird halt nachgeratscht haben: 12-Kreuzer-Stück, 12-Kreutzer! Protokollarisch hört sich das bei der Vernehmung von Scheurls so an: "Für Geld schien H. einen Begriff im allgemeinen zu haben, nur bezeichnete er die ihm von Polizeioffizianten Röder vorgehaltene Münze falsch, indem er ein ihm vorgezeigtes 24 Kr.-Stiick für ein 12 Kr.Stück bezeichnete." Auch Rottmeister Wüst bemühte sich um den Kaspar - auf seine ihm ureigenste Art. Es liegt nahe, daß der Subalterne es dem Offizianten und dem Aktuar schon zeigen wollte, also den Herren, die immer glaubten, sie stünden über unsereinem, der ja schließlich auch
etwas im Schädel hat. Und also "vernahm" ihn der Rottmeister - und erzielte gleichsam auf Anhieb einen Erfolg, der alle staunen ließ. Wüst nahm nämlich ein Blatt Papier, auf das er kritzelte, der Tippelbruder möge darauf seinen Namen schreiben und den Ort, von dem er komme. Es war zwischenzeitlich dämmrig geworden, weshalb in der Wachstube ein Kerzenlicht angezündet worden war. Rottmeister Wüst bei seiner Vernehmung ein Jahr nach Hausers Ermordung im Ansbacher Hofgarten, also 1834: "Als das Licht angezündet wurde, hat er sich vor solchem gar nicht furchtsam gezeigt und seine Augen schienen auch nicht für das Licht empfindlich zu sein ..." Wüst taucht dann jedenfalls seinen Gänsekiel in Tinte, holte Kaspar an den Tisch, auf dem das Kerzenlicht stand, und drückte ihm die Feder in die Hand: "... er kam ganz in die Nähe des brennenden Lichts, äußerte darüber auch nicht das geringste Mißbehagen" - ja und dann schrieb unser Kaspar ganz manierlich zwei Worte auf das Papier: "Kaspar hauser", den Familiennamen allerdings mit kleinem "h". Aha! Endlich wußten die Polizisten wie der Junge heißt! Wüst strahlte vor Stolz. Aber alles Drängen und Bitten, auch seinen Heimatort aufzuschreiben, blieb wirkungslos. Wüst bei seiner Vernehmung von 1834, aus der wir schon zitiert haben: ... und er antwortete hierauf mit deutlicher Stimme und ohne sich zu besinnen "dös därf ih nit sogn". Ich frug ihn hierauf mündlich, warum er es nicht sagen dürfe, und K.H. antwortete hierauf ganz bestimmt und deutlich: "weil ich‘s nit woaß". Der Polizeirottmeister Wüst behauptete dann noch, er habe seinem Vorgesetzten, dem Offizianten Röder, dem Beamten vom Dienst, Mitteilung darüber gemacht, daß der Kaspar Hauser gesagt habe, er "dürfe" seinen Herkunftsort nicht sagen. Offiziant Röder, dazu vernommen, sagte wörtlich: Ich bezeuge, daß mir weder von einer dergleichen Äußerung des H. noch davon, daß mir Wüst hierüber Anzeige gemacht hätte, das mindeste bekannt ist.
Nun ist es ein Riesenunterschied, ob ich etwas nicht weiß oder aber, ob ich etwas weiß, es aber nicht sagen darf, da man es mir verboten hat. Hier steht also Aussage gegen Aussage. Da aber die Drahtzieher kaum ein Interesse daran gehabt haben werden, dem Kaspar einzutrichtern: Du stammst aus Hinzbach oder Kunzdorf, aber das darfst du niemandem verraten - aus diesem realistischen Blickwinkel heraus betrachtet, sollte man dem gebildeteren Röder mehr Glauben schenken. Röder hat den Kaspar an diesem Tag immerhin am längsten in der Mangel gehabt und außerdem nach seiner eigenen Bekundung nie etwas von wegen "nicht sagen dürfen" gehört. Gerade dieses Röder‘sche Dementi dürfte für Wüst der Anlaß gewesen sein, später ein sogenannter Hauser-Gegner geworden zu sein, indem der ehrgeizige Wüst durchblicken ließ, er habe Hauser von Anfang an für einen Betrüger gehalten. Doch apropos Betrüger! Jetzt haben wir schon fünf Bezeichnungen von fünf verschiedenen Zeugen für Kaspar Hauser - fünf innerhalb von ca. sechs Stunden seit seiner Ankunft auf dem Unschlittplatz: Kutschergehilfe, Schneidergeselle, Bauernbursche, Vagant (so Röder) und nun auch noch Betrüger. Eine tolle Auswahl also! Die Vieldeutigkeit scheint ein spezifisches Merkmal der gesamten Hauserei zu sein. Das charakterlich-seelische Pendant zu Wüst dürfte der Polizeisoldat Jean Jaques Lemariér gewesen sein. Die überkommenen Protokolle beweisen einen Mann von keinerlei Voreingenommenheit, der dazu noch ausgestattet ist mit einem guten Herzen. Er wollte dem Ausgesetzten "etwas Fleisch und ein weißes Brot" geben. Aber wie schon bei Merk im Stall des Rittmeisters, so auch hier: der Kaspar hat die Mahlzeit mit dem Ausdruck von Abscheu zurückgewiesen. "... jedoch schwarzes Brot verzehrt, das wir ihm gegeben haben." So Lemariér, der bei seiner Vernehmung auch noch sagte, er habe wiederholt den Eindruck gehabt, der Kaspar habe gar nicht verstanden, was die Männer um ihn herum eigentlich wollten. Und für einen Schwindler habe er Kaspar keinesfalls gehalten "weil ich mir nicht denken kann, daß sich ein Mensch so sehr verstellen könne". Dabei habe er, Lemariér,
auf der Wache zwei Stunden "ohngefähr" Zeit gehabt, das sich entpuppende Weltwunder von einem Kaspar zu beobachten. Zwei Stunden, wohlgemerkt! Denn der Rottmeister Wüst haut großzügig noch eine Stunde drauf. Aus Wüsts Protokoll: "Ich war ungefähr drei Stunden mit K.H. in dieser Stube" (Wachstube). Wir wissen aber von Polizeiaktuar von Scheurl, daß er Hauser gegen 21 Uhr in die Wachstube gebracht hat und daß um 22.30 Uhr der Hauser Kaspar auf den Luginsland neben dem Vestner Turm geschleppt wurde mit der Weisung an den Gefangenenwärter Hiltel, ihn nicht mit gewöhnlichen Bettlern und Vaganten zu vermengen, sondern zu einem einzelnen ordentlichen Strafgefangenen zu legen, der ihn vielleicht ausholen könnte, wonach dieser zu instruieren sei. Hauser dürfte also höchstens eindreiviertel Stunden in der Polizeiwachstube im Rathaus aufgehalten worden sein. Noch nachträglich muß man Mitleid haben mit dem armen Kerl ... Rottmeister Wüst aber scheint zu Übertreibungen geneigt zu haben - ein Psychologikum, das sich mit seinen sonstigen Auslassungen deckt. Polizeioffiziant Röder hatte also den Entschluß gefaßt, Kaspar Hauser zunächst einmal einlochen zu lassen. Polizeisoldat Joseph Blaimer jedoch, katholisch, 33 Jahre alt, zu Ober-Islingen, Landgericht Stadtamhof, geboren, bekam von Röder den Auftrag, den Buben auf den Luginsland zu bringen, zu Hiltel, den Gefangenenwärter. Hauser zukkelte also mit Blaimer los. Zurück auf der Wache blieben die Asservate. Hausers Mitbringsel aus jener Welt, in der er angeblich "immer geweßt". Zu diesen Asservaten gehörten neben den beiden Schriftstücken, dem Mägdleinsbrief also und dem Geleitbrief, einige religiöse Heftchen, Broschüren und Traktate. Meistens Druckwerke, aber auch geschriebene Gebete. "Geistliches Vergißmeinnicht" hieß ein in Leder gebundenes Gebetbüchlein, das man Kaspar aus seinen Taschen genommen hatte. "... Vergißmeinnicht" - wieder so eine dummdreiste Anspielung? Verlegt wurde die Druckschrift bei "Johann Michael Seidl, bürgerl. Buchbinder" in Altötting. Auch einen Rosenkranz mit einem metallenen
Kreuz hatte er bei sich. Eines der Traktate hieß sinnigerweise "Kunst die verlorene zeit und übel zugebrachten Jahre zu ersetzen"‚ gedruckt in Burghausen. Andere Gebetsbroschüren hatten als Druckorte Prag und Salzburg aufzuweisen. In der sensationellen Bekanntmachung der Stadt Nürnberg vom 7. Juli 1828 heißt es unter "III. Beschreibung der übrigen Gegenstände, welche Kaspar Hauser bey sich hatte: ... Alle sowohl gedruckte als geschriebene Gebete, dem Anschein nach, alt und lange aufbewahrt ..." Das Zeug war also zerfleddert und zerlesen - aber sicher nicht vom Kaspar, sondern von Ganoven und Gaunern, von Zinkenbrüdern und Tippelkumpanen, die einst in Kaspars letztem Aufbewahrungsort einsaßen; Knastliteratur für Gefangene, von Seelsorgern dort zurückgelassen. Erbauungsschriften also, um verirrte Schäflein wieder auf den rechten Weg zu führen. Kaspar hatte gar keine Ahnung von alldem. Bei seiner dritten Vernehmung in Nürnberg sagte Kaspar Hauser folgendes aus, und zwar am 9. November 1829, nach dem ersten Attentat auf ihn: Wie ich aus dem Munde des Herrn Bürgermeisters Binder vernommen, so fanden sich in den Kleidern, die ich am Leibe hieher gebracht habe, ein Gebetbuch, ein Rosenkranz und ein Schlüssel vor; ich weiß jedoch nicht, wie diese Stücke in meine Kleider gekommen sind, noch wie es sich desfalls überhaupt verhält. Lediglich an das Gebetbüchlein "Geistliches Vergißmeinnicht" konnte er sich erinnern. Hausers Betreuer hatte es dem Kaspar ins sogenannte Verlies gebracht und dort zurückgelassen. Wir kommen darauf noch ausführlich zurück. Was aber der zum Kaspar Hauser gemachte junge Mann noch bei sich hatte, war eigenartigerweise "eine kleine Quantität Goldsand", kuvertartig eingeschlagen in Papier. Und noch etwas: Kaspar hatte auch einige Lumpen bei sich, Stoffetzen, die weiß und blau geblümt waren. Weiß und blau aber sind die bayerischen Landesfarben. Zufall? Kann sein, aber in diesem Fall schwer denklich. Manches spricht dafür, daß auch dieser neckisch-boshafte Firlefanz bewußt auf Bayern
hindeuten soll. Einer der hämischen und banalen Tricks der Regisseure. All dieser kasparlicher Krimskrams ging mitsamt seinen Antrittsklamotten und den Magistratsakten verloren - war später einfach nicht mehr auffindbar! Kaspars Kleidung am Tag des Attentats im Ansbacher Hofgarten sind allerdings erhalten geblieben. Im dortigen Museum liegen sie in einer Vitrine, von Motten arg zerflettert, aber dennoch alljährlich Anziehungspunkt für viele Fremde. Was die Nürnberger Polizei allerdings unter "Goldsand" verstand, darüber gingen die schon etwas bejahrten Peterlasboum nonchalant hinweg. Einer der bedeutenden Hauser-Autoren der Gegenwart vermutet, es könnte sich dabei weniger um glimmrigen Quarzsand gehandelt haben, als vielmehr um gestoßenes Opium, das ähnlich aussieht. Wer nun aber berechtigterweise fragt, wozu um alles in der Welt die Aussetzer dem Kaspar auch noch Opium hätten mitgeben sollen, dem kann keine befriedigende Antwort erteilt werden. Man darf vielmehr fragen: Weshalb überhaupt diese eigenartig zusammengestellten Mitbringsel: katholische Gebete, Rosenkranz, blau und weiß geblümte Lumpen, dazu noch ein "deutscher Schlüssel" - warum dann die Mixtur nicht noch garnieren mit etwas Opium? Bei so viel Ganovengezink kommt‘s darauf wahrlich auch nicht mehr an. Natürlich ist das mit dem Opium nur eine Vermutung - aber eine begründete! Am armen Kaspar wurde ja gerade in Nürnberg viel herumgedoktert; fast jede Fakultät versuchte sich an ihm, auch solche Wissenszweige, die nicht gerade zu den klassischen Fächern an den Universitäten zählten. Es war eben die Zeit der großen Experimente, übrigens auch die der Attentate - eine Übergangszeit. Die 48er Jahre des vorigen Jahrhunderts warfen ihre Schatten voraus. Die Throne wankten, das Bürgertum war im Aufbruch begriffen. In diese experimentierfreudige Zeit wurde Kaspar hineingestoßen. Und bei einem der vorhin angedeuteten Versuche hatte man in Hausers Wasser, und zwar ohne dessen Wissen, einige winzige Tröpflein Opium getan. Kaspars unaufgeforderte Bemerkung nach dem Genuß
dieses Wassers: Er wisse nicht wieso, aber dieses Wasser hier schmecke gerade so wie jenes, das ihm in seinem Verlies manchmal gereicht worden war. Kaspar bei seiner ersten Vernehmung in Nürnberg am 6. November 1829: Die Beschaffenheit des Wassers war meist rein, doch fand ich dann und wann auch Wasser, das mir durchaus nicht schmeckte und auf welches ich, statt erquickt und erfrischt zu werden, besonderen Hang zum Schlafen fühlte. Der Junge hatte überhaupt einen unwahrscheinlich tiefen Schlaf gehabt - zeit seines kurzen Lebens. Mehrere gebildete Zeugen, aber auch Praktiker von gesundem Menschenverstand, wie der Gefangenenwärter Hiltel, haben dies bestätigt. Fest steht jedenfalls, daß Kaspar nicht süchtig war. Sein totaler Erinnerungsverlust für wesentliche Dinge, auf die wir noch eingehend zu sprechen kommen, hat andere Ursachen. Aber es könnte dennoch ab und an auch noch etwas nachgeholfen worden sein: mit Opium beispielsweise. Sozusagen zur Verstärkung. Doch noch einmal zurück zur Hauptfrage: Warum das ganze Kasperletheater mit den in diesem Fall läppischen, ja zynischen Mitbringseln? Es kann nicht anders sein, denn jegliche Vernunft spricht dagegen: Auch dieser ganze Schnickschnack konnte nur der Irreführung, der Ablenkung, der Verunsicherung und damit der Verwirrung dienen. Nürnberg, die gewesene Freie Reichsstadt, sollte die Tribüne für ein größeres Forum, ein größeres Publikum werden - Nürnberg, das im amtlichen Einzugsbereich des Präsidenten Anselm von Feuerbach in Ansbach lag. Denn was sagten Mägdleins- und Geleitbrief anderes aus, als daß der angehende Mann "Kasper"(- "in Schreib name misen sie im selber geben") zu nichts anderem bestimmt war, als bei den Soldaten untergebracht zu werden. Und deshalb der ganze Aufwand, der ganze Unfug? Da muß doch selbst ein Naivling lachen! Nochmals schlicht und einfach gesagt: Kaspar sollte auffallen! Er sollte einen Wirbel veranstalten! Nur so konnte er eine politische Trumpfkarte werden, ein Blatt, das sticht, ein Druckmittel, eine Art Watergate des
vorigen Jahrhunderts, nur mit eventuell weitaus größeren Folgen betrachtet aus der Sicht der damaligen gesellschaftspolitischen Verhältnisse. Gegen 22.45 Uhr wird es also gewesen sein, als Polizeisoldat Blaimer mit seiner seltsamen Fracht beim Luginsland, dem Gefängnisturm, ankam. Beschwerlich genug war der Weg durch das Gewinkle der Gassen gewesen, die wie leergefegt waren. Überall flackerten die Lichter hinter den Butzenscheiben, als das Duo Blaimer-Hauser mühsam bergan zur Burg ging. Da und dort Lärm und Gesang aus Wirtshäusern. Der Geruch von Bratwürsten, Kraut und Tabaksqualm vermengte sich mit der Kühle der Maiennacht. Blaimer fröstelte. Er blickte zu seinem Nebenmann. Aber wie schon vom Unschlittplatz zum Neuen Tor und von Rittmeister Wessenig zur Polizeiwache, so stapfte und tappte der Kaspar auch jetzt mit gesenktem Kopf, stur auf das Kopfsteinpflaster schauend, an der Seite des Polizeisoldaten Blaimer. Das Gelaufe des Delinquenten, dem man nichts anderes vorwerfen konnte als seine Illegitimität, sein Nichtwissen, woher er kommt, seine Ausweislosigkeit - dies Gelaufe erinnert an Kinder, die auf die Straße einen Kreidestrich ziehen und darauf "seiltanzen". Von St. Sebald her - oder war’s die Glocke von St. Lorenz? - wummerte es dumpf, als die beiden am Luginsland um Einlaß läuteten. War es Viertel vor elf oder schon elf Uhr? Kaspar hat sicher gar nichts vernommen - zuviel Eindrücke in wenigen Stunden sind auf ihn eingeströmt - und Blaimer achtete nicht darauf. Er hat Feiertagsdienst hinter sich und beneidete die Kollegen, die daheim waren am häuslichen Herd oder am Stammtisch in einem der putzigen Wirtshäuser, von denen es in Nürnberg eine Menge gab. Beispielsweise in so einem, wie dem "Zum Bärleinhuter" am Unschlittplatz. Es steht noch heute am gleichen Platz. Und noch immer hat es Fensterläden mit schräg aufgemalten Balken in weißer und rotbrauner Farbe. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit stand es einst in Bezug zu Hauser. Wenn nicht alles trügt, war es Kaspars erstes Quartier in der Stadt "Nierberg" und damit der unmittelbar letz-
te Ort, von wo aus er seinen eigentlichen Weg in diese Welt starten mußte. Stand der Schuhmacher Weickmann in Bezug und Verbindung mit der "Bärleinhuter" Kneipe? Mit dem Aussetzer, vielleicht korrekter gesagt dem Absetzer, der von dort die Szene auf dem Unschlittplatz beobachtet hat? Das Wirtshaus ist ja nur zwei Steinwürfe weit weg von der Stelle, wo Kaspar bei seiner Ankunft auf dem Unschlittplatz die beiden Schuhmacher traf. Ein Faktum ist jedenfalls, daß die Akten darüber schweigen, weil sich nie eine Behörde damit beschäftigt hat. O heiliger Sankt Bürokratius! Was hast du für Diener unter deinen Polizeibeamten und Juristen! Das Wirtshäuslein "Zum Bärleinhuter" und dessen Besitzer oder Pächter blieben unbehelligt. Keiner ist gefragt, geschweige denn vernommen worden. Nie hat eine Behörde Ermittlungen angestellt, und wenn, dann wurde es nicht aktenkundig. Keiner weiß offiziell näheres über den damaligen Wirt und seinen Umgang. Verkehrten dort auch schräge Typen? Doch zurück zum Luginsland. Gefangenenwärter Hiltel, der mit seiner neunköpfigen Familie in einer der unteren Etagen wohnte, kam gleich nach dem Läuten zum Eingang, wo er den Kaspar samt Blaimer in Empfang nahm. Blaimer erledigte seinen Auftrag und flüsterte dem Wachtel vom Turm zu, was ihm Röder aufgetragen hat. Zur geistigen Illustration darf gesagt werden, daß der Luginsland einer der fünf Türme der Nürnberger Burg ist. Genaugenommen ist er der östliche Eckpfeiler der Festungsanlage. Weit geht von oben der Blick just in östliche Richtung. Bei klarer Sicht bis zum Ottenberg in der Nähe von Pilsach, einer der Stationen unseres Kaspar. Die Gegend dort dürfte er einst gekannt haben. Nun aber stapft, nein torkelt er nahezu 100 Stufen hinauf in eine der Zellen des Gefängnisturms, Hiltel mit der Laterne voraus, Blaimer pflichtgemäß hintennach. Kaspar quatschte zwar zum Gotterbarmen, er muß aber die Funktion von Stufen gekannt haben - und wenn’s Erinnerungsfetzen aus vergangener Zeit waren. Anders ist es nicht zu erklären, daß er die vielen Stufen schaffte. Eine Zivilisationseinrichtung wie Treppen und ihre Stufen zu benutzen: dazu gehört Erfahrung und Übung. Kaspar muß bei-
des gekannt haben. Träfe es zu, daß er ab ungefähr dem dritten Lebensjahr einsam in einem Kerker eingesperrt gewesen wäre, wie es Nürnbergs Bürgermeister Binder in seiner Bekanntmachung in die Welt hat verbreiten lassen, ohne je die Glieder in Übung bringen zu können: nie und nimmer hätte der Kaspar die rund zwei Kilometer vom Unschlittplatz zur Burg gehen können. So schnell lernt man das Laufen nicht! Aber er ist sie gegangen, wenngleich, wie alle Erstzeugen übereinstimmend ausgesagt haben, mit unsäglicher Mühe. Keinesfalls aber hätte er die vielen Stufen des Turmes ersteigen können, wie er‘s aber tatsächlich tat. Wer es nicht glaubt, der beobachte einmal Kinder, wie mühsam sie das Treppensteigen erlernen: Anfangs krabbeln sie auf allen Vieren die Stufen hinauf, und es dauert eine geraume Weile, bis sie einigermaßen aufrecht eine Treppe hochzusteigen in der Lage sind. Nein, mit dem Kaspar wurde in jeder Beziehung Schindluder getrieben, auch von seinen sogenannten Freunden, den Hauserianern. Er war in jeder Beziehung, ohne seines Dazutuns, zugleich Argument und Gegenargument der sich bildenden Meinungsparteien - und dies vom ersten Tag seines Erscheinens an. Ungewollt hat er etwas demonstriert, das Kurt Tucholsky in den Satz geformt hat: Anderssein ist unanständig. Und Kaspar war nun einmal anders. Da beißt die Maus keinen Faden ab! Polizeisoldat Blaimer gab also die Order seines Vorgesetzten Röder weiter an Luginsland-Chef Hiltel. Amtsdeutsch gesagt: an Andreas Hiltel, 51 Jahre alt, zu Herzogenaurach geboren, katholisch, in Nürnberg wohnhaft, "magistratischer Gefangenenwärter des Turms auf der Veste". Die Order aber lautete, wie schon gesagt, den Vaganten, also den Jungen ohne festen Wohnsitz, zu einem Gefangenen zu legen, der einigermaßen harmlos war, also nicht gleich ein Galgenvogel, und der den Kaspar aushorchen sollte. Hiltel gehorchte pflichtgemäß und wies den Neuankömmling in eine Zelle ein, in der bereits ein "Metzgerknecht" aus dem bayerischen Schwaben einsaß. Wegen "Exzesse" muß der Kumpan 48 Stunden brummen; wahrscheinlich hatte der altbayerische Kerl in einem der Noris-Wirtshäuser im Suff herumgetobt und geschlägert, was den Luginsland zur Folge hatte. Daß Hiltel seinen Probanten ausgerechnet zu diesem bayerischen
Schwaben legte, spricht für seine Menschenkenntnisse, für seinen Scharfblick und seine Erfahrung. Es spricht aber auch dafür, daß es zutreffen muß, Hauser habe die paar Brocken, die er sprechen konnte, im alt-bayerischen Dialekt heruntergeleiert. Hiltel, der in Ehren schon angegraute Gefängniswärter, muß das sogleich erfaßt haben. Und deshalb sperrte er ihn in die Zelle des vermutlichen Landsmannes von Kaspar. Wer hätte in diesem Fall besser geeignet sein können, den Hauser "auszuholen" als der Metzgerbursche aus Schwaben. Des Naivlings versuchte Aushorcherei führte bei Hauser zu keinem Ergebnis -konnte es natürlich auch nicht. Das hinderte den Metzgerknecht aber nicht, anderntags das pfingstdienstägliche Mittagessen Rindfleisch mit Nudeln - genüßlich zu futtern: seines und des Kaspars. Nach Hiltels Darstellung, protokollarisch aufgezeichnet, erfuhr er erst nach "angestellten Recherchen", daß der Hiasl auch Kaspars Napfinhalt mit aufgefuttert hat. Hiltel in seinem Verhör von 1829: Nach dem Eintreffen des H. im Gefängnis setzte er sich auf sein Lager, wo er meistens still war und nur dann und wann weinte, ohne daß ein Wort von ihm geäußert worden. Der in die Denunziantenrolle gepreßte Metzger konnte nichts machen und sagte mir daher auch des anderen Tages, daß K.H. ein Ochs wäre, aus dem nichts herauszubringen wäre". Vox populi anno 1828 - und sie muß nicht immer stimmen, Demokratie hin, Republik her. Und es ist immer wieder interessant festzustellen, wie sehr der Mensch durch seinen Beruf sprachlich geformt wird. Für den Metzger war der Kaspar also ein "Ochs". Und die ausführenden Organe der Dunkelpartei, deren Sprache war geformt vom Barras - siehe Mägdleins- und Geleitbrief, siehe Hausers "Jakobifedern" und sein "Reiter werden wie mein Vater". Jedenfalls blieb Kaspar Hauser volle 53 Tage, also fast acht Wochen bei Hiltels auf dem Luginsland: vom 26. Mai bis zum 18. Juli 1828. In dieser Zeit wurde der Gefängnisturm, des Kaspars wegen, zu einer Pilgerstätte der Neugierde und des Sensationshungers. Heimische und fremde Besucher strömten in Massen zum Luginsland, um den selt-
samen Vogel, das "Wunderwesen", den "Tiermenschen", das "Burschenkind". ja den "Wilden" in Augenschein zu nehmen. Der Kaspar wurde Nürnbergs Kaspar, eine Art magistratisches Eigentum, das die nachmalige Stadt der Reichsparteitage allen anderen "teutschen" Städten voraushatte. Die Legendenbildung begann. Bald schon sollte der Junge ohne Herkunft zum "Kind Europas" avancieren. Mein Gott, wer versuchte sich in dieser Zeit nicht alles am Kaspar! Gebildete und Ungebildete, Halbgebildete (die schlimmste aller Sorten) und Trottel, Kompetente und bloße Gaffer, die ihr Schauermärchen-Repertoire auffüllen wollten. Und sie brachten fast alle etwas mit für den Kaspar: Puppen und Kleidungsstücke, Bilder, Spielzeug, Tand und Bleisoldaten, die sich im Laufe der Wochen in Bataillonsstärke ansammelten. Auch Geld wurde dem Kaspar zugeschoben, das dieser aber nicht dem Wert nach bemaß, sondern danach, wie schön es glitzerte. Natürlich für diesen Rummel ist, daß in seiner Gegenwart ungeniert die seltsamsten Vermutungen über seine Herkunft angestellt und geäußert wurden. Das Legendenkraut wucherte und wucherte, schoß in die Höhe und trieb Blüten. Nürnberg wurde zum Tollhaus, der Luginsland zum Zirkusunternehmen. Und der Kaspar, Mittelpunkt all der Aufmerksamkeit, der Magnet vom Gefängnisturm? Den l6jährigen Jungen, wie er damals schon geschätzt wurde und was sich dann auch als Faktum herausstellte den Kaspar kümmerte der ganze Rummel nicht. Er war viel zu sehr mit seinen Spielsachen beschäftigt, und wenn er bei dieser für ihn wichtigen Tätigkeit war, dann war alles sonstige um ihn herum Luft. Meist hockte er im Schneidersitz auf dem Boden und spielte mit den Bleikriegern und all dem anderen Tand der Nürnberger. Auf packweise geschenkt erhaltenem Schreibpapier kritzelte er mit dem Bleistift sein "Kaspar hauser" und einzelne Buchstaben des Alphabets ungezählte Male, klebte die erhaltenen Drucke von Gemälden mit seinem Speichel an die Knastwohnungswand und sammelte am Abend das ganze Zeug ordnungsliebend wieder ein. Er hatte also nicht nur eine Ahnung vom Wesen eines Klingelzuges (Haustüre von Wessenig Sie erinnern sich?), von Pferden und vom Treppensteigen, sondern auch von der Einhaltung einer gewissen Ordnung. Unsere Mengen-
lehre-Mathematiker unter den Schulleuten hätten ihre helle Freude daran gehabt. Kaspar ordnete nämlich seine Soldaten genau nach Größe und Uniform, nach Farben dazu. Und auch seine Bilder hängte er nach Schema auf. Dabei aß er nichts anderes als Brot, je dunkler, desto lieber, und zwar die ganzen siebeneinhalb Wochen, die er auf dem Turm war; und auch noch die erste Zeit bei Professor Daumer, zu dem er vom Turm weg übersiedelte. Hören wir den erfahrenen 51 jährigen Gefängnisbeamten Hiltel, der 1834 zu Protokoll gab: So lange K.H. bei mir war, hatte er nichts als Brot gegessen und Wasser getrunken. Die erste Zeit aß er täglich 1 Œ Pfund und später gegen 2 Pfund Brot, und dreimal des Tags erhielt er frisches Wasser, von dem er jedesmal zirka 1 œ Maß getrunken hat. Prost! kann man da nur sagen. Der Kaspar hat also einen ganz schönen Zug draufgehabt. Doch noch einmal retour zu Hausers Bilderkleberei. Es dürfte physiologisch von Interesse sein. Hören wir, was Anselm von Feuerbach in seinem Buch "Kaspar Hauser oder Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben eines Menschen"‚ 1832 erschienen, schreibt (es war des Appellationsgerichtspräsidenten erster Besuch bei Hauser auf dem Turm): Die Wände des Zimmers, soweit man reichen konnte, hatte sich Kaspar mit gemalten Bilderbogen, Geschenke der vielen Besuchenden, ausgeschmückt. Er klebte sie jeden Morgen von neuem mit seinem damals wie Leim zähen Speichel (Anm. Feuerbachs: Der Speichel war so sehr leimartig, daß beim Wegnehmen der Blätter entweder Stückchen von diesen an der Wand oder Teile vom Bewurf der Wand an dem Papier hängen blieben) an die Wand und nahm sie, sobald es dämmerig wurde, wieder herab, um sie neben sich zusammenzulegen. Kaspars Ordnungsliebe schildert der große Jurist seiner Freundin Gräfin Elise von der Recke am 20. September 1828 in einem Brief so:
Alle die unzähligen Dinge, womit ihn die Nürnberger beschenkt hatten, Spielsachen, Kleidungsstücke usw., standen in seinem Zimmerchen [Hauser saß die erste Zeit in einer der Zellen der oberen Etagen, wurde dann aber runter geschafft zu Hiltels, in deren Wohnung er ein Zimmer bekam] auf das schönste symmetrisch geordnet da, als ich ihn besuchte, jedes Papierchen, das auf dem Boden lag, war ihm zuwider und wurde sorgfältig aufgehoben; an seinen oder eines andern Kleidern bemerkte er jeden Schmutzfleck, jedes Stäubchen ... Was sind das nur für Sachen! Pedantische Ordnungsliebe eines Menschen, der seit seiner Kindheit bei Wasser und Brot in einem dunklen Verlies zugebracht haben soll. Dann noch solche bestimmt nicht alltäglich zu bemerkenden Abnormitäten wie die Sache mit dem Speichel, der wie Leim war. von Feuerbach hat es registriert und seine taufrischen Eindrücke der Gräfin von der Recke geschrieben. Ob sich unsere Nürnberger etwas dabei gedacht haben? Kaum. Jedenfalls ist nichts aktenkundig geworden. Aber es ist auch nicht bekannt geworden, welche Rückschlüsse ein Mann wie Feuerbach daraus gezogen hat, welche Nachforschungen er diesbezüglich hat anstellen lassen. Glaube doch keiner, daß eine Persönlichkeit wie der Strafrechtsreformer von Feuerbach, ein Mann umfassender Bildung, nicht erfaßt hat, daß mit der ganzen Schilderung der subalternen Nürnberger Lebkuchenbürokratie nicht nur etwas nicht gestimmt hat, sondern vieles nicht in Ordnung war! Alleine schon diese biedermeierischevorromantische Art, wie die Hauseriade angepackt wurde, ist altbakkener Lebkuchenstil, kleinbürgerliches Engagement, wobei das Unwesentliche die Stelle des Wesentlichen einnimmt. Das hat sich ja dann später auch gezeigt - später, unmittelbar nach Hausers Tod. Dabei soll das Kleinbürgerengagement nicht in jeder Beziehung verrissen werden. Ganz im Gegenteil, zeigt es gerade im Nürnberg der Hauser-Zeit eine Blüte menschlichen Mitleids. Aber das gewisse Etwas hat halt gefehlt in der offiziellen und damit repräsentativen Nürnbergerei. Und es dürfte heute keinen Zweifel mehr darüber geben, daß Hausers Regisseure all dies genau in ihr nachrichtendienst-
lich-dunkles Kalkül gezogen haben; sie kannten ihre Pappenheimer, sprich Nürnberger. Es war eben kein Zufall, daß die Absetzerpartei den Kaspar auf den Nürnberger Unschlittplatz gestellt hat. Wer so lange Jahre sich Zeit nehmen darf, eine "Zeitbombe Kaspar Hauser" ticken zu lassen, der hat auch Muse zum Überlegen und zur generalstabsmäßigen Vorbereitung des Coups. Zeit jedoch plus Macht ergibt in den meisten Fällen annähernd Absolutes - menschlichallzumenschliches, Nichtvorhersehbares einmal ausgenommen; sonst wäre Historie ein Vabanquespiel. Kaspar Hauser war also zunächst einmal Ausstellungsstück der Nürnberger, gleichzeitig aber auch Gegenstand polizeilicher Recherchen. An der Spitze der Magistrats-, also Stadtpolizei, stand Bürgermeister Binder, ein Jurist, grundgütig und gerechtdenkend, ein Humanist, dazu ein Mann mit einem breitgefächerten Wissen. So wird er von den meisten seiner Zeitgenossen beschrieben. Der pflichtgetreue und den Wissenschaften zugeneigte Binder ließ es sich nicht nehmen, Kaspar einige Male höchstpersönlich zu vernehmen, wenn das Wort "vernehmen" in diesem Zusammenhang, bei diesem speziellen Fall überhaupt angebracht ist. Aber was tun, wenn man einen jungen Mann vor sich hat, der angeblich zur Leichten Reiterei möchte und auch Größe und Gewicht dazu hätte, was übrigens von vielen HauserAutoren in Abrede gestellt wurde. Aber vielleicht hatten diese nie die Gelegenheit gehabt, mit 80jährigen und noch älteren ehemaligen Reitersoldaten der Monarchie Gespräche zu führen. Der Autor dieses Buches denkt dabei an das Traditionslokal "Zur Burg" der einst berühmten, weil soldatisch tapferen Reiter des 2. Ulanenregiments im fränkisch-bayerischen Ansbach -einem Eliteregiment, das den Namen "König" führen durfte. Mehr als die geforderte Mindestgröße und das entsprechende Gewicht hatte der Kaspar nicht. Das war alles, was er zu bieten hatte. Was tun also mit so einem Burschen, der nur einige Sätze und Worte sprechen konnte, deren Sinn er allem Anschein nach gar nicht begriff? Was tun mit einem Jungen, der nicht einmal richtig gehen konnte und dessen Muskeln schlaff und deshalb schwach waren?
Nun, Bürgermeister Binder ordnete zunächst einmal an, und das war gleich am Dienstag nach dem Pfingstmontag, also Kaspars erstem Tag auf dem Turm, den Buben vom Stadtgerichtsarzt Dr. Preu gründlich untersuchen zu lassen. Vor allem sollte der Jünger des Äskulap herausbringen, ob Kaspar verblödet ist oder ob er sich gleich gar verstellte, aus welchen Gründen auch immer. Dr. Preu, Amtsarzt der Noris, machte sich gleich am nächsten Tag ans Werk. Ergebnis der amtsärztlichen Untersuchung: Dieser Mensch sei weder verrückt, noch blödsinnig, aber offenbar auf die heilloseste Weise von aller menschlichen und gesellschaftlichen Bildung gewaltsam entfernt, wie ein halb wilder Mensch erzogen worden, zur ordentlichen Kost nicht zu bewegen ... Er lebe bloß von schwarzem Brod und Wasser. Dieses ärztliche Gutachten wurde -wohlgemerkt! - am 28. Mai 1828 erstellt und sechs Tage darauf schriftlich an den Magistrat weitergeleitet. Und diesem ersten Fachgutachten schlossen sich in ähnlicher Überzeugung viele andere Gebildete an: Bürgermeister Binder, Fachkollegen des Dr. Preu, "Lehrer, Erzieher, Psychologen, Polizei- und Gerichtsbeamte". Mag der eine oder andere in Details irren, sich täuschen. Aber alle diese vielen Beobachter und Gutachter werden sich doch nicht wegen eines ausgesetzten Jungen zu einer einzigen gewaltigen Lüge verschworen haben? Weshalb auch? Wo sollte hier ein Motiv sein? Ganz abgesehen davon, daß es solche Übereinstimmungen gerade in der Wissenschaft nur dann gibt, wenn etwas - salopp gesagt - sonnenklar ist. Nein, so einfach, wie sich das die HauserGegner gemacht haben, deren namhafte Vertreter den Findling nie gesehen, geschweige denn erlebt haben - nein, so einfach und unkompliziert ist das Leben schlechthin nicht. Ganz besonders aber nicht ein Kriminalfall, wie ihn die Welt bis dahin noch nie erlebt hat vielleicht, ja wahrscheinlich sogar, bis heute nicht. Dr. Preus medizinisches Gutachten richtete sich also zunächst und auftragsgemäß danach, ob der Findling blöd oder verrückt ist oder gleich gar ein Gauner, ein Simulant sein könnte, wenngleich hierfür
keinerlei Motive vorlagen. Denn wie schon gesagt: Ganoventricks war man auch damals schon gewohnt, wenn einer sich vom Militärdienst drücken wollte. Aber krumme Touren, nur um zum Barras zu kommen, und dazu noch Tricks von dieser Art - nein, das waren und sind keine Motive! Kurz nach dieser amtsärztlichen Untersuchung mußte sich Dr. Preu aufgrund seines angegriffenen Gesundheitszustandes einer Kur in Karlsbad unterziehen. Des Dr. Preus Vertreter in dieser Zeit war der frei praktizierende Nürnberger Arzt Dr. Osterhausen, der Kaspar Hauser ungefähr drei Wochen nach dem Pfingstmontag persönlich kennenlernte. Auch er untersuchte den eigenartigen Insassen des Luginsland - und kam zum gleichen Ergebnis wie sein Kollege Dr. Preu. Ja, im Unterschied zu des strengen Amtsarztes Attest war er für unsere heutigen Begriffe, jedenfalls in seiner gutachterlichen Schreibe, feuilletonistischer, nicht so arg wissenschaftlich - sicher auch eine Frage des Stils. Aber es war nun einmal so. Ob Hauser ein Betrüger sein könnte, diese Frage schien den Erstzeugen nicht einmal im Traume gekommen zu sein; auch nicht dem Polizeirottmeister Wüst. Also war nicht der geringste Anlaß dazu gegeben. Aber Binder wollte ganz sicher gehen. Kaspar Hauser wurde im Verlauf der nächsten anderthalb Jahre, also von 1828/29, noch des öfteren medizinisch untersucht. Von Dr. Preu und Dr. Osterhausen. Auch andere Medizinmänner haben sich am Kaspar versucht. Es blieb, im Grunde genommen, beim Erstgutachten des Dr. Preu. Eine Generaluntersuchung unseres Findlings schien allerdings erst am 3. Dezember 1830 gemacht worden zu sein. Anlaß dazu war ein neunmalkluger Berliner: der Polizeirat Merker, der Hauser - ohne ihn je persönlich gesehen zu haben - in einer Zeitschrift des Betrugs bezichtigt hatte. Der preußische Polizeimann ging nämlich davon aus, daß es so etwas wie den Fall "Kaspar Hauser" gar nicht geben kann. Und zwar deshalb nicht, weil so etwas seit Menschengedenken noch nicht da war auf dieser Welt. Und was noch nicht da war, kann folglich auch nicht sein. So des braven Teutonen Meinung. Klar, daß das wirklich läppische Geschreibsel des wichtigtuerischen
und ehrgeizig nach Profil strebenden Berliner Polizisten bei jenen Leuten, die seit anderthalb Jahren mit Hauser beruflich oder aus Anteilnahme oder aus beiden Gründen zu tun hatten - daß Merkers Krimi der vorromantischen Jahre die gebildeten Nürnberger auf die Palme bringen mußte, ja letztlich einen Angriff auf ihre Berufsehre, auf ihre Reputation als Gebildete darstellen mußte. Das Ansbacher Appellationsgericht fühlte sich nun verpflichtet, dem Berliner Polizeimann insofern energisch gegenüberzutreten als es noch einmal beide Ärzte, Dr. Preu wie seinen Kollegen Dr. Osterhausen, vom Königlichen Kreis- und Stadtgericht bitten ließ, über Hauser ein ausführliches Gutachten zu erstellen. Und dies geschah, wie bereits gesagt, im Dezember 1830. Kaspar maß zu diesem Zeitpunkt, wie aus beiden Attesten hervorgeht, "5 Bayerische Fuß und 4 Zoll". Das sind umgerechnet runde 157 Zentimeter. Zum Vergleich darf in Erinnerung gebracht werden, daß der Findling bei seiner Ankunft gut 145 Zentimeter groß war. Im Verlauf von anderthalb Jahren hat er also um zwölf Zentimeter zugenommen. Anno 1828 beschrieben die Erstzeugen Kaspars Aussehen übereinstimmend als gesund. Vom Schuhmacher Weickmann bis hin zu Staatsrat von Feuerbach. Das sind Tatsachen, die in der Hauserei in Dezennien einfach übergangen worden sind, ganz besonders natürlich von den Hauserianern, die in Kaspar einen Religionsersatz sahen, einen Ersatzgott. Umgekehrt haben Hausers Feinde, die dem armen Kerl unbedingt eine Betrügerrolle unterjubeln wollten, die Tatsache vom gesunden Aussehen des Findlings rücksichtslos für ihre Betrügertheorie ausgenutzt. Aber ihre Psychologie stimmte hinten und vorne nicht. Vor allem konnten sie bis zum heutigen Tag kein fundiertes Motiv beibringen, weshalb der Junge einen so gewaltigen öffentlichen Apparat in Bewegung bringen sollte, nur um lediglich zum Barras zu kommen. Doch greifen wir wieder einmal der "Bekanntmachung" des Nürnberger Magistrats vom 7. Juli 1928, mit der wir uns noch näher befassen werden, ein wenig voraus. Binder selbst hat sie abgefaßt und unterschrieben. Es heißt dort: "... die einfache Kost, die er bey äußerem gesundem Ansehen und wohlgenährtem Körper ..." Hier darf eingeflochten werden: der Brot-und-Wasser-Kaspar wog, so
befunden auf dem Luginsland, an die 140 Pfund! Polizeirottmeister Wüst bei seiner Vernehmung vom 5. Mai 1834, wieder einmal befragt nach seinen Eindrücken bei Kaspars Ankunft in Nürnberg: Er sah ganz tappig aus, hatte eine sehr gesunde Gesichtsfarbe und war sehr wohl beleibt. Keineswegs sah er aber zart oder blaß aus, und mir hat vielmehr geschienen, daß Kaspar Hauser eher sehr viel in der Luft, als daß er eine zeitlang eingesperrt gewesen wäre ... Hören wir weiter den erfahrenen Gefängniswärter Hiltel. Bei seinem Verhör im Jahre des Herrn 1829 sagte er über den physischen und geistigen Zustand des Hauser zur Zeit seines Eintreffens dahier: Hausers Aussehen war gesund, seine Gesichtsfarbe frisch, sein Körper, soweit es nicht Folge einer Fußreise mit sich brachte, reinlich gehalten ... Der gleiche Zeuge fünf Jahre später, 1834, wörtlich aus dem Gerichtsprotokoll zitiert: Als ich den Hauser gleich nach seiner hiesigen Ankunft das erstemal sah, hatte er eine sehr gesunde Menschenfarbe ... Kurz und gut: der Kaspar sah komplett anders aus als ein Mensch, der nach 12 oder 13 Jahren aus einem dunklen Verlies das Licht der Welt erblickte, wie es Bürgermeister Binder mit seinem Bekanntmachungsroman einem gänsehautüberzogenem Publikum unterbreitete. Aber hören wir dessen ungeachtet noch zwei weitere Erstzeugen über Hausers Aussehen bei seiner Ankunft im Wonnemonat des Jahres 1828. Der Polizist Blaimer, einer der wichtigsten Zeugen überhaupt, der Kaspar von der Wache im Rathaus zum Luginsland brachte und ihn von dort aus täglich, und zwar Wochen hindurch, ausführen mußte dieser Polizeisoldat Blaimer erklärte in seinem Protokoll von 1834: "Als Hauser hier angekommen ist, sah solcher wohl blaß aus, hatte jedoch frische Augen ..." Und Polizeiaktuar Hüftlein, der bei den "Vernehmungen" des Kaspar durch Bürgermeister Binder als Protokollführer fungierte, sagte in seinem Verhör von 1834:
... daß ich den Hauser nach seinem Erscheinen in Nürnberg in der Polizeistube allein vernommen habe und daß er ganz gesund ausgesehen, aber doch eine bleiche Gesichtsfarbe gehabt habe. Der gute Kaspar sah also keinesfalls krank oder physisch gebrochen aus, wie einer aussehen müßte, der so viele Jahre in einem dunklen Kerker verbrachte - falls er dies überhaupt lebend überstanden hätte. Er war zwar nicht gerade ein Dickerchen, aber wohlbeleibt bei seiner Ankunft - an die 140 Pfund, wie gesagt. Aber verständlicherweise war er sterbensmüde, "tappig", also unbeholfen und der Sprache nicht mächtig. Er konnte kaum gehen, sondern "quatschte". Aber er sah und das sei noch einmal festgehalten - keineswegs aus wie ein Mensch, der justament nach 12 Jahren aus einer Gruft auferstanden ist. Da hilft nun alles nichts! Und Kaspar konnte auch gar nicht so ausgesehen haben, da er nie und nimmer so lange in einem Verlies zugebracht hat. Wenn es hoch kommt, dann waren es allenfalls sechs Wochen, die er in totaler Klausur zubrachte, vielleicht aber nur wenige Tage. Und wenn der eine Zeuge davon spricht, Hauser habe blaß ausgesehen, der andere aber sagt, sein Teint sei frisch gewesen, gerade so, als hätte er die meiste Zeit seiner vornürnbergischen Jahre in Wäldern herumgehopst, dann darf man diese Sache getrost etwas differenzierter betrachten. Ja, man muß es wohl, will man den realen Tatsachen Rechnung tragen. Einzig und alleine aber darauf soll es uns ankommen in der Hauser-Geschichte. Zwei hauptsächliche Faktoren sind dabei zu beachten: Erstens einmal ist die Betrachtungsweise des Teints eines Gegenübers recht individuell. Was der eine für blaß erachtet, hält der andere für weniger blaß, ja vielleicht sogar für relativ frisch. Diese individuelle Betrachtungsweise kann man im täglichen Menschenumgang beobachten. Zweitens hängt es gerade im Fall "Kaspar Hauser" von der inneren Einstellung der einzelnen Zeugen gegenüber Hauser ab. Diese subjektive Färbung von objektiven Tatsachen ist menschlich, allzumenschlich. Jeder, der unmittelbar mit Menschen zu tun hat, weiß darüber ein Liedlein zu singen: ganz besonders Polizeibeamte,
Richter oder Staatsanwälte. Überaus signifikant ist dies beim Zeugen Wüst, der im Gegensatz zu allen anderen seiner Kollegen, sozusagen von Anfang an, dazu geneigt hat - weiß Gott aus welchen Gründen auch immer -, mehr zur Anti-Hauserei zu gehen. Auch Tendenzen sind eben menschliche Realitäten. Ganz allgemein aber darf man so "kleine Unterschiede" in den Zeugenaussagen, angesichts der Nürnberger Verhörmethoden, nicht unbedingt buchstabengetreu nehmen. Weit relevantere Widersprüche wurden kommentarlos entgegengenommen. Es geht jedoch - und darauf kommt es an - aus allen Protokollen hervor, daß der Kaspar keinesfalls auffällig schlecht ausgesehen hat, sondern im Gegenteil respektabel gesund. Hausers Signalement bei seinem Auftauchen ist aktenmäßig überliefert worden. Aus der Binder’schen "Bekanntmachung" wissen wir es darf wörtlich zitiert werden: Er ist mittlerer Statur, wohlgewachsen, hat hellbraune, fast ins Blonde fallende Haare, ein ovales Gesicht, breite hohe Stirn, braune Augenbrauen, graue Augen [mehr ins Blaue gehend, wie spätere Zeugen versichert haben - Anm. des Autors], eine mittelgroße, etwas breite Nase, einen proportionierten Mund mit etwas aufgeworfener Unterlippe, ein rundes Kinn, einen hellen wie an den Backen schwach hervorkeimenden Bart, gute Zähne, eine gesunde Gesichtsfarbe, eine angenehme Gesichtsbildung und außer dem Impfzeichen am rechten Arm, kein besonderes Zeichen ... Dieses "Signalement" stammt im wesentlichen von der Erstuntersuchung Kaspars durch Dr. Preu am 28. Mai 1828. Dr. Preu war damals 54 Jahre alt und 19 Jahre bereits im öffentlichen Dienst als Amtsarzt. Er war ein erfahrener Mann, dieser Paul Sigmund Carl Preu, Jahrgang 1774, also vier Jahre jünger als Beethoven, Sohn eines Arztes aus Lauf und Bruder eines Nürnberger Rechtsanwaltes. Er hatte einst in Altdorf studiert - Vorgängerin der Universität Erlangen-Nürnberg. Und selbstredend konnten sich alle, die Hauser damals sahen, von der Richtigkeit der äußeren Beschreibung überzeugen. Interessant, daß auch hier wieder seine gesunde Gesichtsfarbe und Kaspars gute Zäh-
ne extra erwähnt sind. "Gute Zähne" bei einem Jüngling, der angeblich über zehn Jahre hindurch bei Wasser und Brot im dunklen Kerker schmachten mußte - "gute Zähne" in einem solchen Fall: das ist ein Naturwunder. Das glaube wer will! Etwas anderes ist die Sache mit dem "Impfzeichen" am rechten Arm. Bei der Generaluntersuchung anderthalb Jahre später wurde nämlich eine Impfnarbe auch auf dem linken Oberarm festgestellt: An den Oberarmen sieht man rechts an der Einsenkung des Deltamuskels eine unverkennbare Schutzpocken-Impfnarbe; links an der nämlichen Stelle nur eine leichte Spur davon. So bei Dr. Preus ausführlichem Attest. Sein Kollege Dr. Osterhausen, dessen Gutachten noch ausführlicher ist, stellt ebenfalls Impfnarben an beiden Oberarmen fest: "... an der nämlichen Stelle, eine aber nur sehr undeutliche Spur davon." Die Impfnarben dürften den beiden Ärzten, dem Bürgermeister Binder und auch anderen gebildeten Beobachtern besonders aufgefallen sein und sie nachdenklich gestimmt haben. Denn Schutzpockenimpfung zu Anfang des 19. Jahrhunderts blieb nur den oberen Ständen vorbehalten. Es war einfach undenkbar, daß ein Tippelbruder, ein Stromer, ein Vagant, für den man Hauser anfangs halten mußte, je geimpft wurde. In Bayern war die Schutzpockenimpfung offiziell seit 1807 eingeführt. Sie war kostenpflichtig. Ein Muß gab es nicht. Schutzpockenimpfung für jeden Bürger gab es erst mit dem Impfgesetz von 1874 - ein Reichsgesetz. Mag sein, daß just diese Impfnarben plus einem anonymen Schreiben aus Baden, das dem Herrn Bürgermeister von Nürnberg kurz nach Hausers Ankunft auf den Tisch flatterte, die Keimzelle zur Vermutung einer Abstammung aus hochgestellten Kreisen war. Die Nürnberger Oberschicht mag sich ihren Teil gedacht haben; die Damen der Gesellschaft tuschelten hinterm Fächer; die Fäden der Legende verwoben sich; die Sage fing an zu plätschern. Bekleidet war der Heranwachsende bei seinem "Auftritt" in Nürnberg mit einem
groben runden schwarzen mit gelber Seide gefütterten und mit rothem Leder besetzten Filzhut von der Form, in der er von den mittleren und höheren Ständen getragen wird. Auf dem Boden des Hutes hat die Nürnberger Polizeibehörde eine Abbildung festgestellt, die ohne Zweifel die Landeshauptstadt München stilisierte. Die Abbildung war auf dem Hutboden aufgeklebt. Die Anschrift des Hutherstellers war jedoch herausgekratzt. Im "Signalement" hieß es: "Wahrscheinlich waren beide [Name und Ort des Fabrikanten oder einfachen Hutmachers - Anm. d. Autors] in der Form eines Herzens aufgedruckt oder geschrieben, denn man sieht deutlich, daß etwas herausgekratzt ist." Also wieder ein deutlicher Hinweis auf Bayern, auf die Residenzstadt der Wittelsbacher Dynastie. Der Fingerzeig, der bewußt gewollte! Und nie hat sich jemand auf dieses "Signalement", das Anhang war der Binder‘schen "Bekanntmachung", gemeldet. Bis zum heutigen Tag nicht. So viele Hutfabrikanten hat es damals in Bayern nicht gegeben, als daß man Fabrikant, Hutgeschäft (vielleicht war sogar beides miteinander identisch) und Käufer nicht hätte ermitteln können. Der Hut war übrigens, im Gegensatz etwa zur Weste, modisch. Aber wir wissen längst, daß keine der Behörden danach geforscht hat. Und wenn es dennoch eine tat - vielleicht Appellationsgerichtspräsident von Feuerbach in Ansbach - dann wurde das Ergebnis solcher Recherchen nie publik gemacht. Es durfte eben nicht an die Öffentlichkeit kommen. Mächtige Interessen standen auf dem Spiel. Der so genannte, der angebliche Kaspar Hauser war im Spiel dieser Mächte nur ein Joker. Er mußte eine Rolle spielen, ohne von alldem eine Ahnung zu haben. Hauser war bei seiner Ankunft ferner bekleidet mit einem schwarzseidenen Halstuch, einer alten, ausgewaschenen und "rothgetupften zeugenen" Weste, die um 1815, also vor rund 13 Jahren, Mode war. Dann hatte er einen "dunkelgrautuchenen Kittel (auch Schalk, Jankerl genannt) mit tuchenen Knöpfen" an: einen ausgedienten Frack, dem die Schöße abgeschnitten waren, die wiederum auf die "Pantalons", also weiten, langen Hosen, von gleichem Tuch und gleicher Farbe, als Reiterbesatz aufgenäht worden waren. Ein Schneidermeister wurde
später als Sachverständiger deswegen vernommen. Die im Gewahrsam der Magistratspolizei befindlichen Pantalons wurden ihm gezeigt. Er konstatierte, daß der Reiterbesatz, also die aufgenähten Rockschöße, von Laienhand gemacht worden sind. An den Nähten habe er dies sogleich erkannt. An Schuhwerk hatte Kaspar kalbslederne Halbstiefel an, die für seine Füße viel zu eng waren und ihm "daher wehe thaten". Sie hatten hohe Absätze mit Hufeisen; die Sohlen waren mit Nägeln beschlagen. Außerdem - und das stand nicht in der magistratischen Bekanntmachung - hatte Hauser gleich zwei Hemden übereinander an, verstaubt zwar (im Planwagen zieht‘s), aber nicht schmutzig. Beide Hemden waren mit einem "C" oder eine " G" gezeichnet. Genaues läßt sich darüber nicht mehr sagen. Die Rückerinnerungen waren schon zu Hausers Zeit in Nürnberg verschieden. Fest steht aber, daß sein Schnupftuch, rotweiß gestreift, mit K.H. gekennzeichnet war. Es war noch in Hausers Besitz, als er am 9. November 1829 verhört worden ist. Auf Bitte des Gerichts übergab er sein "Sacktuch" dem Vernehmungsbeamten. Kaspar hatte dann noch "Hosenträger aus gewirkten Bändern mit Schnallen" getragen sowie blauwollene Strümpfe. Aber wie schon einmal gesagt, gingen alle diese wichtigen Zeugnisse im allgemeinen Nürnberger Bürokratenschlendrian verschütt. Sie wurden einfach weggeworfen, die ausgelatschten Halbstiefel aus Kalbsleder zuallererst. Um das Dickicht, den Kriminaldschungel um Kaspar Hauser bedächtig zu entwirren, noch einmal zurück zu den beiden Gutachten der Generaluntersuchung vom Dezember 1830. Beschäftigen wir uns zuerst noch mal kurz mit Dr. Preus Attest vom 3. Dezember 1830 und schon ist zu merken, wie sehr detaillierte Aussagen von individuellen Augenblicken abhängig sind. Aufgrund seiner Erstuntersuchung vom 28. Mai 1828, zwei Tage nach Hausers Auftauchen, schrieb Binder in seiner Bekanntmachung vom 7. Juli des gleichen Jahres: "Er ist mittlerer Statur ... (hat) ein ovales Gesicht ... graue Augen, eine mittelgroße, etwas breite Nase ..." Und nun, in der Generaluntersuchung, heißt es bei Dr. Preu: "... hat lichtbraune Haare, ein rundes, aber plattgeformtes Gesicht, eine kleine Nase, blaue Augen ..."
Aber bei allem Respekt: es ist selbst bei Kaspar, über den wir zu hören ja allerhand gewohnt sind, anzuzweifeln. daß er sich in wenigen Jahren so verändert haben soll: vom ovalen Gesicht 1828 zum runden, aber plattgeformten Gesicht des Jahres 1830, dann von grauen Augen und einer mittelgroßen, etwas breiten Nase des Jahres 1828 zu einer kleinen Nase und blauen Augen des Herren Jahr 1830. Kaspar müßte sich ja, was seine Nase betrifft, regelrecht zurückentwickelt haben. Doch lassen wir das. Viel wesentlicher ist Punkt sechs des Preu‘schen Attestes von 1830: "Im Nacken, rechts am Anfang des Schulterblattes, ein kleines, warzenähnliches Muttermal von gelber Farbe, im Durchschnitt zwei Linien haltend." Auch Dr. Osterhausen erwähnt dieses warzenähnliche Muttermal in seinem Generalgutachten vom Silvestertag des Jahres 1830: "Rechts am Nacken, am Anfang des Schulterblattes, findet sich ein warziges Muttermal von 2 Linien im Durchschnitt und gelblich von Farbe." Des geneigten Lesers Aufmerksamkeit sei auf dieses warzenähnliche Muttermal, das erst bei dieser Untersuchung entdeckt wurde, gelenkt. Wir kommen im Verlauf der Hauser-Geschichte noch darauf zurück. Eigenartig auch die Sache mit einer Narbe am rechten Ellbogen des Kaspars. Beide Ärzte haben sie mit ihrem Generalgutachten überliefert. Es handelt sich um eine breite, irreguläre Narbe "von einer länger andauernden Vereiterung zeugend" (Dr. Preu). Bei Dr. Osterhausen heißt es darüber: "dergleichen nach Verletzungen sich zu bilden pflegen, welche lange geeitert und sich langsam verheilt haben." Bei Hausers Ankunft war noch Schorf auf der Wunde, den aber des Gefängniswärters Hiltel Ehefrau zehn Tage nach Hausers Antritt auf dem Luginsland weggewaschen hat. Bei einer seiner eigenen Vernehmungen, 1829, hatte Kaspar erklärt, er habe in den letzten Tagen seines Verliesaufenthaltes einen Stockschlag auf den rechten Ellbogen bekommen, angeblich weil er zu laut mit seinen beiden hölzernen Rossen gespielt habe. Daher rühre die Narbe. So Kaspars "Einlassungen" dazu. Wäre dem aber so, dann hätte der Junge den rohen Stockhieb um den 20. Mai 1828 erhalten. Der Schorf wurde aber laut Hil-
tels Zeugenaussage so um den 5. Juni herum "weggewaschen". Kaspars Aussage kann also nicht stimmen. Sie stimmt nicht überein mit den beiden ärztlichen Gutachten, wonach die Narbe typisch sei für eine "länger angedauerten Vereiterung". Nach Kaspars Aussage wäre zwischen Stockschlag und Schorfwegwaschung eine Zeitdauer von 15, maximal 20 Tagen gewesen. Kaspar muß den Stockschlag viel früher bekommen haben. Weder den Magistratsleuten noch dem Ausfrager des Königlichen Kreis- und Stadtgerichts Nürnberg, dem Gerichtsrat Freiherrn von Roeder (nicht zu verwechseln mit dem Polizeioffizianten Röder), fiel dieser Widerspruch auf. Dies ist typisch. Typisch ist dies aber auch für den Wert von Kaspars Aussagen. Es wurde halt doch, um die "Bekanntmachung" möglichst schnell in die Welt setzen zu können, mehr in ihn hineingefragt, mehr erraten und gedeutet denn aus Kaspar tatsächlich herausgefragt. Aber was heißt schon "herausfragen"‚ wenn einer wirklich nichts weiß! Denn Hausers ganzes Erinnerungsvermögen beruhte nur auf der relativ kurzen Verliesdauer und dann schemenhaft, schließlich immer klarer, auf den Eindrücken danach. Aber was vor dem Verliesaufenthalt lag: darüber schwieg Kaspar. Er mußte schweigen, er konnte gar nicht anders, weil die Zeit vor seiner Einkerkerung einer totalen Erinnerungssperre unterlag. Diese konnte er nicht durchbrechen. Es hat aber den berechtigten Anschein, daß er Teile dieser totalen Amnesie der Vorkerkerzeit besonders in den letzten Monaten seines kurzen Erdenlebens durchbrach, wenngleich die Erinnerungsfetzen wie in Dunst oder Nebel gehüllt waren und sicher auch zusammenhanglos. "Ich meine immer, ich mußte mich auf etwas besinnen." Wie oft sagte dies Kaspar, noch zu seiner Nürnberger Zeit. Unbewußt hat der Junge damit den Kern seiner Sache angesprochen. Das war’s eben: er wollte sich auf etwas besinnen, er konnte es aber nicht. Die Sperre hielt. Doch vor Abschluß dieses Kapitels, das sich vorwiegend mit Hausers "Ankunft in Nürnberg" beschäftigt, noch zwei Themen dazu. Nämlich Kaspars Sprache zur Ankunftszeit und Bürgermeister Binders "Bekanntmachung" , welche die Keimzelle der Kerkerlegende ist und welche Generationen hindurch der Nährboden war, das Dickicht
um Hauser noch undurchdringlicher, noch dschungelhafter zu machen. Hausers Sprachschatz bei der Ankunft wird übereinstimmend von den Erstzeugen auf runde 50 Wörter beziffert. Wahrscheinlich ist aber selbst diese mehr als dürftige Zahl schon übertrieben. Man wird halt sein Nachgeplappere und seinen auf dem Turm rasch zugenommenen Wortschatz hinzuaddiert haben. Im schon oft zitierten Generalattest vom Dezember 1830 schrieb der untersuchende Arzt Dr. Osterhausen: Hauser wußte, als er hierher kam, von der Sprache kaum 50 Worte. Er machte zwar bald schnelle Fortschritte im Sprechen und hat gegenwärtig die Sprache so ziemlich in seiner Gewalt, nur bemerkt man noch häufig eine eigene Wortverbindung und den Gebrauch der unbestimmten Zeit. Und Kollege Dr. Preu darüber: Seine Sprache und seine Redefügungen haben immer noch viel Eigentümliches und Kindliches (1830). Anfänglich hatte er bloß den Infinitiv in seiner Gewalt. Er sprach z. B. "Du mir Brot geben", "Hauser gut schmekken". Lange redete er von sich in der dritten Person. Noch jetzt schiebt er in seiner Rede gern die Zeitwörter unter allen Wendungen der Sprache den Sachwörtern vor, ungefähr so, wie man es von den Juden zu hören gewohnt ist. Kaspars hauptsächliche und protokollarisch überlieferten Worte und Sätze, die er begriffslos dahinquasselte, waren in den ersten Tagen: "A sechtener Reiter möcht ih wärn, wie moi Vater g‘wen!" - Dös woaß ih nit! - Hamweisen, da wo ih allewal g‘wen bin!" Diese Sprachgebilde plapperte er fortwährend, "ohne den eigentlichen Sinn dieser Worte zu kennen" . So Zeuge Blaimer, der Polizeisoldat, 33 Jahre alt, bei seiner Vernehmung 1829. Neben Hiltel dürfte er einer der wichtigsten aller Erstzeugen sein, wie schon gesagt. Denn vom zweiten Tag an nach Hausers Ankunft mußte er den Findling täglich ausführen, vom Luginsland in die Stadt, "und insonderheit an öffentliche Plätze begleiten". Die Magistratspolizei zog nämlich in ihr Kalkül: Vielleicht könnte sich Kaspar an gewisse Lokalitäten erinnern, die er
bei seinem Eintreffen in "Nierberg" passiert hat. Doch auch diese Mühen waren vergebens. Kaspar konnte sich an nichts erinnern. Die wochenlange tägliche Spazierenführerei hatte aber auch ihr Gutes. Zum einen bekam Kaspar dadurch Bewegung, konnte also seine Gehwerkzeuge in Übung bringen, und zum anderen hatte Blaimer die Möglichkeit, den Findling Tag für Tag zu beobachten. Und dieser Blaimer war ein guter Beobachter, wie die Protokolle seiner Vernehmung zeigen. Dazu war der Polizeisoldat ein gutmütiger, leutseliger Kerl: ein einfacher, unverbildeter Mann mit einem gesunden Menschenverstand ausgerüstet. Während der rund sechs Wochen, die er Hauser in Nürnberg herumführte, täglich, wie er mehrmals bei den Verhören betonte, hat er den Kaspar nie eigentlich zu führen gebraucht. Nach seinen Beobachtungen und Erfahrungen quatschte Kaspar zwar langsam, aber ohne fremde Hilfe über das Pflaster der Noris. Dabei schaute er immer starr auf den Boden und setzte Fuß vor Fuß, gerade wie ein Mensch, der an Hühneraugen leidet. Was das für die Nürnberger Gassenbuben für eine Gaudi war, kann man sich noch 150 Jahre nach seinem Erscheinen vorstellen. Äußerlich ein stämmiger, untersetzter junger Mann, einigermaßen modisch gekleidet von den vielen Spenden, aber ansonsten auf der Stufe eines dreijährigen Buben, der laufen und reden lernt, sein Reitersprüchlein herunterrasselnd, wenn er angesprochen wird und einfach weint, wenn ihm der ganze Zauber zu bunt wird. Verweilen wir bei Blaimer noch ein wenig. Im schon zitierten Protokoll von 1829 sagte er aus: Dem Hauser fehlten bei seiner Ankunft die Worte, sich mitzuteilen, und er äußerte lediglich, wenn er von Menschen sprach, "Bue", und alle Tiere nannte er "Rosse". Er bewies gegen Tiere aller Art Furcht, und daß er von garnichts Begriffe hatte, ja nicht einmal die Wirkung des Feuers kannte, davon überzeugte ich mich täglich, und namentlich als er bei dem Wirt Schmidt zu Gostenhof ins brennende Licht griff. Also wurde Kaspar auch mit ins Wirtshaus genommen vom Herrn Polizeisoldaten. Spazierengehen macht halt durstig. Eine gemütliche Zeit damals, und für Blaimer ein ruhiger Job, die Ausführerei. Man
braucht keine besonders ausgeprägte Phantasie zu haben, um sich die Wirtshausszenen vorzustellen. Mit allen möglichen Essereien und Saufereien haben besoffene Lackeln und sicher mitunter auch gutmeinende Gäste den armen Kaspar, den "Wundermenschen" traktiert. Dabei wurde er schon halb ohnmächtig, wenn in seiner Nähe nur eine Flasche Schnaps aufgemacht wurde. Zurück zu Hausers Sprache bei der Ankunftszeit. Angeblich hätte er bei seiner ersten mündlichen "Vernehmung" auf der Polizeiwache auch gesagt: "Dös därf ih nit sogn!" (Das darf ich nicht sagen!) So behauptet es jedenfalls der Zeuge Wüst, der Polizeirottmeister, den wir schon kennen, und berief sich dabei auf seinen Vorgesetzten Röder, den Offizianten und ersten Vernehmer Hausers. Röder aber dementierte vor Gericht ganz energisch, je von Hauser gehört zu haben, er dürfe etwas nicht sagen. Der Leser wird sich daran erinnern. Was hat uns nun der Appellationsgerichtspräsident von Feuerbach über Kaspars Sprache gesagt? "Kaspar Hauser oder Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben eines Menschen" heißt von Feuerbachs Büchlein von 1832. Der Gerichtsherr, übrigens Vater des bedeutenden Philosophen Ludwig Feuerbach, schildert in diesem Buch auf eine recht plastische Art seinen ersten Besuch bei Kaspar auf dem Luginsland. Das war am 11. Juli 1828, also wenige Wochen nach Hausers Ankunft. Der berühmte Jurist und Kriminalist war damals 53 Jahre alt und stand auf dem Höhepunkt seiner Berufslaufbahn. Seine Einstellung zum Fall "Kaspar Hauser" geht aus einem Brief vom 15. Mai 1830 hervor. Dieser Brief war gerichtet an seinen Freund, den Kriminalrat Hitzig in Berlin, dem Herausgeber des "Neuen Pitaval". von Feuerbach rechtfertigt in seinem Schreiben die Aufnahme des Falles "Kaspar Hauser" in die Reihe der "Merkwürdigen Verbrechen" mit folgenden Worten: Wenn ich Sie nur noch einmal wiedersehe, was wollten wir beide nicht über den allermerkwürdigsten aller merkwürdigen Kriminalprozesse, dergleichen in Jahrtausenden vielleicht noch nicht ein einziges Mal vorgekommen, über meinen lieben, wunderbar rätselhaften Find-
ling Kaspar Hauser verhandeln! Seit Jahren ist er der erste und wichtigste Gegenstand meines Beobachtens, Forschens und Sorgens, meiner höchsten Teilnahme als Mensch, Gelehrter und Staatsbeamter. Am 11. Juli also besuchte dieser Feuerbach in Begleitung eines Obersten, zweier Damen und zweier Kinder den Kaspar auf dem Luginsland. Über Kaspars Sprache berichtet Präsident von Feuerbach: Die wenigen Worte, die er sagen konnte, habe der Findling "bestimmt und deutlich, ohne Stocken oder Stammeln" gesprochen. An eine zusammenhängende Rede sei jedoch bei ihm nicht zu denken gewesen. Kaspars Sprache "war so dürftig wie der Vorrat seiner Begriffe". Es sei unerhört schwer gewesen, dem Turminsassen etwas verständlich zu machen. Kaum hatte man ein paar Sätze zu ihm gesagt, die er zu verstehen schien, so hatte man etwas ihm Fremdes beigemischt, wobei er dann, wenn er es zu begreifen wünschte, sogleich wieder in seine Zuckungen verfiel. Und wie schon die beiden Nürnberger Ärzte, so stellte auch Feuerbach fest, daß der ausgesetzte Junge durchwegs im Infinitivum redete - wie Kinder, die zu sprechen anfangen. Vor allem fehlten ihm nach von Feuerbach die Bindewörter, die Partikel und Hilfszeitwörter. Und das "ich" kam nur ganz selten vor. Zumeist sprach Kaspar von sich in der dritten Person. Feuerbach führte als Beispiel an: "Kaspar sehr brav", statt: ich bin sehr brav, "Kaspar scho Juli sage", statt: ich will es dem Julius (Sohn des Gefangenenwärters) sagen, war seine durchgängige Redeweise. Dann stellte von Feuerbach, Mittelfrankens oberster Gerichtsherr, noch fest, daß Kaspar ein und dasselbe Wort häufig in den verschiedensten Bedeutungen gebraucht, was vor allem für die Damenwelt recht possierlich und putzig klang und entsprechende Gefühle weckte: ganz besonders bei Johanna Binder, des Bürgermeisters Gattin.
Viele bloß eine Spezies bezeichnende Worte gebrauchte er für die ganze Gattung! schreibt von Feuerbach in seinem Büchlein und fährt fort:: So z.B. galt ihm das Wort Berg für jede Wölbung oder Erhöhung, weshalb er einen dickbauchigen Herrn, dessen Name ihm entfallen war, als den "Mann mit dem großen Berg" bezeichnete; eine Dame, deren Schal hinten so tief herabhing, daß der Zipfel auf dem Boden schleifte, hieß er "die Frau mit dem schönen Schweif". von Feuerbachs Resümee, was Hausers Sprache zur Ankunftszeit betrifft: ... alles, was ich aus ihm herausbringen konnte, war ein so kauderwelsches, verworrenes, unbestimmtes Zeug, daß ich, mit seiner Sprechweise noch nicht vertraut, das meiste nur erraten, vieles gar nicht ‚verstehen konnte. Vor diesem Hintergrund muß man Kaspars "Vernehmung" durch Bürgermeister Binder, die Polizei und die beiden Ärzte sehen. Es soll einmal deutlich und klar gesagt werden: Für diesen außergewöhnlichen Fall, der sich da anbahnte, dessen Außergewöhnlichkeit zugestandenermaßen anfangs allenfalls geahnt werden konnte, war Johann Friedrich Binder, beider Rechte Doktor, mitsamt seinen Mitarbeitern eine Schuhnummer zu klein. Rechnet man hinzu, daß Anselm Ritter von Feuerbach den Kaspar Hauser erstmals bei seinem Besuch auf dem Turm am 11. Juli sah und erlebte, also einige Zeit nach Kaspars "Vernehmung" durch Binder und dessen "Bekanntmachung" vom 7. Juli - dies alles hinzugerechnet kann man sich ein Bild machen, wie diese "Vernehmungen" stattgefunden haben, was von ihnen und der daraus resultierenden "Bekanntmachung" zu halten ist. Sie hat der Wahrheitsfindung mehr geschadet als genutzt. Aus einer erratenen und gedeuteten Hypothese wurde etwas Authentisches! Die Hintermänner des Komplotts konnten sich ins Fäustchen lachen. Von nun an war die Spur in eine Richtung festgelegt, in eine 12- oder 13jährige Kerkerzeit bei Wasser und Brot, und damit in die verkehrte Richtung. Und noch etwas ist den Hintermännern gelungen: Sie haben das geplante und gewollte Aufsehen erreicht. Die Trumpfkarte "Kaspar" sollte schon bald das "Kind Europas" werden.
Was Hausers Sprache noch betrifft, soll ein wichtiges Faktum nicht übersehen werden, nämlich Hausers altbayerischer Dialekt. Was er an Mundartbrocken dieser Art mitbrachte, das wissen wir aus den Zeugenvernehmungen; wenigstens im großen und ganzen. Aber: des Gefangenenwärters Hiltel Eheweib stammte aus Altbayern. Und Kaspar hängte an ihr, nannte sie Mutter, was er sicher vom elfjährigen Julius, Sprößling der Hiltels und Kaspars Spielgenosse, und dessen dreijähriger Schwester Margarethe gelernt hatte. Diese biedere und allem Anschein nach herzensgute Frau sprach natürlich altbayerischen Dialekt - und ihre Kinder sicher auch. Das will heißen: Ganz genau wissen wir wahrscheinlich nicht, was Kaspar an altbayerischen Sprachergüssen nach Nürnberg mitbrachte, da er sicher viele altbayerische Brocken von "Mutter Hiltel" und seinem ihm haushoch überlegenen Spezi "Juli", wie er ihn nannte, übernommen hat. Und gelehrig war er ja, der Kaspar, wie die Zeugen übereinstimmend überliefert haben. Ja, seine Gelehrigkeit war bereits im Geleitbrief apostrophiert: "... wer er ein gelehrter bursche worden. Sie derfen im nur was zeigen so kan er es schon ..." Kaspar lernte also im Nu. Das ist ein Fakt. Sogar auf dem Klavier konnte er klimpern - kaum gehört und schon spielte er das kleine Stückchen nach. Recht artig und hörbar sogar. Hiltels hatten nämlich in ihrer Dienstwohnung ein Fortepiano, ein Erbstück. Ein "Halbwilder" , der Klavier spielt! Hat denn Nürnberg schon so etwas gesehen! Nürnberg kochte und fieberte. Kaspar auf dem Luginsland war der Norisleute höchstpersönliches Eigentum geworden: "ihr" Kaspar, "ihre" Fremdenverkehrsattraktion. Aus den schlangestehenden Besuchern wurden Wallfahrer. Was gehen und laufen konnte, pilgerte hinauf zum Luginsland. Und dies wurde noch schlimmer, als Dr. Binders "Bekanntmachung" in den Zeitungen veröffentlicht wurde - erstmals am 14. Juli; andere Blätter in ganz Deutschland und Europa druckten nach. Jetzt wurde aus dem Geäste der Legende ein Dickicht. Und die Wahrheit lag hinter diesem Dickicht aus Legenden und Sagen. Die Wahrheit um den Findling Kaspar Hauser wurde vom Dschungel der zu etwas Authentischem erhobenen Vermutungen und Hypothesen überwuchert.
Bürgermeister Dr. Binders "Bekanntmachung" ist datiert vom 7. Juli 1828, wurde aber erst eine Woche später, am 14. Juli, veröffentlicht: im "Nürnberger Intelligenzblatt" und im "Friedens- und Kriegskurier". Von diesen beiden Blättern aus wurde der Fall "Kaspar Hauser" durch Nachdrucke in ganz Deutschland ja in Europa und sogar in Übersee bekannt. Um eine Ahnung zu vermitteln, wie sehr das Schicksal dieses Findlings die Menschen bewegte, darf aus dem "Conversations-Lexicon der neuesten Zeit und Literatur" , Band 2, Leipzig, 1833, Brockhaus, zitiert werden: Hauser (Kaspar). Es gibt vielleicht in Deutschland kein Dörfchen und in den benachbarten Ländern keine Stadt, worin nicht der Name dieses Findlings und etwas von seiner Lebensgeschichte bekannt wäre ... Und wie wir heute längst wissen, ist die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Kaspar Hauser noch im Gange - 150 Jahre nach seinem Auftauchen auf dem Nürnberger Unschlittplatz. "Einen in widerrechtlicher Gefangenschaft aufgezogenen und gänzlich verwahrlosten, dann aber ausgesetzten jungen Menschen betr." beginnt die ominöse "Bekanntmachung" Binders, die genau 50 Tage nach Kaspars Ankunft veröffentlicht wurde. Wir können es uns ersparen, dieses langatmige Binder‘sche Werk im Wortlaut abzudrucken. Festgehalten aber soll werden: Wenn nicht alles trügt, dann trägt diese Mitteilung an wesentlichen Stellen die Meinungszüge der Johanna Binder, des Bürgermeisters Gattin also. Sie war von Anfang an eine gläubige Hauserianerin. Ihr mütterlicher Instinkt keimt aus so vielen Sätzen hervor, ja er begleitet die ganze "Bekanntmachung" . Für die First Lady des Reiches Schatzkästleins stand von Beginn an fest, daß es mit diesem Jungen eine besondere Bewandtnis hat, daß er aus hochgestellten Kreisen kam, vielleicht sogar ein Prinz ist. Nun, ihr Gespür hat diese ehrenwerte, von Zeitgenossen als liebenswerte, biedermeierisch-gebildete Dame geschildert, letztlich nicht betrogen. Aber durch Gefühlsengagement, durch ihre Gabe der Einflußnahme auf ihren Mann, kam das Kriminalistische zu kurz. Darauf aber wäre
es angekommen! Und noch etwas darf festgehalten werden: Kaspars Aussehen und Benehmen muß so beschaffen gewesen sein, daß er, ohne sein direktes Zutun, die Herzen gerade auch der Gebildeten rühren konnte. Abgesehen von einer so engherzig-subalternen und rechthaberischen Type wie den Polizeirottmeister Wüst, hat Kaspar ja alle, die mit ihm zu tun hatten, für sich eingenommen. Vom Polizeisoldaten Blaimer, über Binders, bis hin zu Staatsrat von Feuerbach, der im September 1828 an die Gräfin von der Recke schrieb: "Wer ihm naht, gewinnt ihn sogleich lieb." Wie wir gesehen haben, wird schon im ersten Satz des offiziellen Wisches aus Nürnberg keine Vermutung geäußert, sondern eine handfeste Behauptung aufgestellt. Und dann lesen wir, was Stadtgerichtsarzt Dr. Preu innerhalb einer Woche, gerechnet von Hausers Antrittstag, ärztlich recherchiert hat: ...daß dieser Mensch weder verrückt, noch blödsinnig, aber offenbar auf die heilloseste Weise von aller menschlichen und gesellschaftlichen Bildung gemeinsam entfernt, wie ein halb wilder Mensch erzogen worden, zur ordentlichen Kost nicht zu bewegen sei, sondern blos von schwarzem Brod und Wasser lebe. Dr. Binder folgert daraus, daß dieser junge Mensch von seiner Kindheit an, mit Entbehrung aller menschlichen Gesellschaft, auf die unmenschlichste Weise in einem thierähnlichen Zustande einsam gefangen gehalten worden sey ... Da haben wir das Krimiei, die Legende im Amtskleid des Authentischen! Was dann noch kommt, sind in Kaspar hineingefragte Details und sicher auch viel erratenes Zeug. Das soll aber nicht heißen, daß nun alles ein Phantasiegebilde ist. Die Wahrheit wird auch hier in der Mitte liegen, und Kaspars Kerkererinnerungen werden im großen und ganzen stimmen. Aber nie und nimmer Binders Rückschlüsse auf eine 12 oder 13 Jahre lange Einkerkerung zutreffen. Kaspar Hauser selbst hat dies auch nie in seinem Leben behauptet, sondern immer wieder darauf hingewiesen, daß seine Erinnerung nur bis zur Verlieszeit reicht.
Der zeit meiner Jugend, welche ich außer der Gefangenschaft verlebt, bin ich mir nicht bewußt; alle meine Erinnerungen rühren aus der Zeit her, wo ich in einem engen Raum und von aller menschlichen Gesellschaft entfernt gehalten worden bin. So Kaspar bei seinem Verhör vom 6. November des Jahres 1829. Doch hören wir nun einen Auszug aus der Binder‘schen "Bekanntmachung" , und zwar jenen Teil, der aller Wahrscheinlichkeit nach noch am ehesten der Wahrheit nahe kommt. Jedenfalls werden hier Details angepackt, die nicht erfunden werden konnten, so wahr es eine Psychologie gibt. Hören wir also: Kaspar Hauser - so nennt sich das Opfer unmenschlicher Behandlung ... war immer ganz allein eingesperrt und sah und hörte Niemand anders als das Ungeheuer, das ihm seine einzige Nahrung, Brod und Wasser reichte. Er befand sich stets in einem kleinen, engen niedrigen Raum zu ebner Erde, dessen Boden nicht gebrettert war, sondern wie es scheint, aus festgeschlagener Erde, dessen Dekke aber aus ineinandergeschobenen und befestigten Brettern bestand. Zwei kleine längliche Fenster waren mit holzstößen verschlichtet, und durch sie drang daher nur ein schwaches dämmerndes licht: niemals sah er die Sonne. Er saß in einem Hemd, und kurzen, am Knie gebundenen wahrscheinlich dunkelfarbigen und durch einen Hosenträger [nach bayerischer Mundart Halfter] gehaltenen Hosen, ohne alle weitere Bekleidung, auf dem Boden und spielte mit zwei weißen hölzernen Pferden, die er sonst Rosse nannte und einem weißen hölzernen Hund, hing ihnen verschiedene kleine Spielsachen um den Hals und sprach mit ihnen soviel, als ihm der Mangel an Wörtern und somit die Armuth an Begriffen gestattete. Das eine dieser Pferde war kleiner als das andere, keines höher als ohngefähr 1 bis 1 Œ Schuh und der Hund viel kleiner als beide demnach gewöhnliche Kinderspielwerke. Im Boden seines Behälters stand, wie es scheint, mit ausgehöhlter Vertiefung, ein Hafen oder ein ähnliches Gefäß mit einem Deckel, in welchen er seine körperlichen Bedürfnisse verrichtete; nicht weit davon lag auf der Erde ein Strohsack, welchen er zuerst sein Bett nannte. Da er wegen
Mangel an Übung fast gar nicht stehen und gehen konnte, sondern, wenn er sich aufrichtete, fiel, so rutschte er auf dem Boden bei seinen Pferden herum, von diesen zum Hafen, und von da zum Strohsack, auf welchem er schlief. Dieß geschah immer, sobald die Nacht einbrach. Der frühe Morgen traf ihn schon wieder wach. Beim Erwachen fand er vor seinem Lager schwarzes Brod und frisches Wasser, und den oben gedachten Hafen geleert; er schließt daraus mit Recht, daß statt der Nahrungsmittel, welche er immer Tags zuvor verzehrt hatte, während des Schlafs ihm neue gebracht worden sind, und auf gleiche Weise die Reinigung des Hafens erfolgt ist. Ein gleiches behauptet er auch hinsichtlich des Beschneidens der Nägel und Haare. Sein Hemd wechselte er sehr selten und da er nicht weiß, wie es geschah, so behauptet er, daß es ebenfalls, während des Schlafes, der gut und fest war, geschehen seyn müsse. Das Brod, das er genoß, war ihm zureichend, an Wasser hingegen hatte er nicht immer Vorrath nach Durst. Der Eingang zu seinem Kerker war mit einer kleinen niedrigen Thüre verwahrt und diese von außen verriegelt. Der Ofen darin war weißfarbig, klein, rund, wie etwa ein großer Bienenkorb geformt und wurde von außen geheizt (oder wie er sich ausdrückte "einkenten"). Lang, lang, aber wie lange, das weiß er nicht, weil er keinen Begriff von der Eintheilung der Zeit hatte, war er in diesem Kerker gewesen. Niemand hatte er darin gesehen, keinen Strahl der Sonne, keinen Schimmer des Mondes . . . Da öffnete sich endlich die Thüre des Kerkers, und der Unbekannte, welcher ihn bis Nürnberg geführt, trat ein, barfuß und fast ebenso, wie er, dürftig gekleidet und gebückt, um nicht anzustoßen, so, daß obschon er nur mittlerer Größe war, beinahe die Decke des Kerkers auf ihm ruhte, und gab sich ihm als denjenigen zu erkennen, der ihm immer Brod und Wasser gebracht und die Pferde geschenkt habe. Derselbe gab ihm die unten unter Beilage III. verzeichneten Bücher, sagte ihm, daß er nun lesen und schreiben lernen müsse, und dann zu seinem Vater komme, der ein Reiter gewesen sey und daß er auch ein solcher werden solle. Bei seinen außerordentlichen, durch die langwierige und furchtbare Einkerkerung dennoch nicht in
Stumpfsinn übergegangenen geistigen Anlagen, fand die Bemühung des Unbekannten leicht Eingang. Er lernte, wie er sagte, und ihm auch nach seinen jetzigen sichtbaren Fortschritten ebenfalls zu glauben ist, schnell und leicht, aber doch nicht viel, sondern nur notdürftig lesen und seinen Namen schreiben, weil der Unbekannte immer nur nach vier Tagen, am fünften Tage wieder zu ihm kam und ihn unterrichtete. Immer kam er in derselben Kleidung barfuß, und Hauser hörte ihn nicht eher kommen, als bis er die Türe geöffnet hatte. Um seine Lernbegierde zu vermehren, versprach ihm derselbe zu erlauben, daß, wenn er gut lernte, er mit den Rossen in seinem Kerker herumfahren dürfe; aber noch beklagte er es bitter, daß, obschon er jene Bedingung erfüllt habe, und dann herumgefahren sey, der Unbekannte nicht Wort gehalten, sondern ihn mit einem Stecken dafür, und wenn er weinte, gezüchtigt habe, (wovon auch noch die Spuren am rechten Ellenbogen sichtbar sind) und daß er ihm das Fahren ernstlich verboten habe. Zum Schreiben bediente er sich eines Bleystifts, welchen der Unbekannte für eine Feder ausgab. So verging wieder eine geraume Zeit ... da wurde er auf einmal Nachts geweckt. Der Unbekannte stand wieder vor ihm und sagte ihm, daß er ihn jetzt fortführen wolle. Er weinte darüber, ließ sich aber durch die ihn inzwischen oft vorgesagte, wahrscheinlich auch erklärte, und liebgewordene Vorstellung, daß er zu seinem Vater komme, und daß er wie dieser, ein Reiter werde, bald beruhigen. Der Unbekannte, der bis dahin immer nur in blosen Hemdärmeln, kurzen gebundenen Hosen und barfuß zu ihm gekommen war, habe sich nun außerdem auch noch in einen kurzen Schalk [auch Jankerl, Kittel genannt] gekleidet, Stiefel angezogen, einen groben, runden, schwarzen Herrenhut aufgesetzt und blaue Strümpfe an. Er nahm Kaspar Hauser, wie er war, auf den Rücken und trug ihn, blos mit einem Hemd und kurzen gebundenen Hosen bekleidet, und mit einem großen schwarzen breiten runden Bauernhut mit hohem Kopf bedeckt, gleich von seinem Kerker aus ins Freye, und unmittelbar
darauf einen langen hohen Berg hinauf, immer weiter fort, bis es Tag wurde. Er war indeß wieder eingeschlafen, und erwachte erst, als er auf dem Boden niedergesetzt wurde; da lehrte ihn der Unbekannte gehen, was ihm sehr schwer fiel, denn er war barfuß und seine Fußsohlen sehr weich. Er mußte daher sich oft niedersetzen, endlich konnte er aber doch besser gehen, und abwechselnd, unter Gehen und Ausruhen, trat die zweite Nacht ein. Sie legten sich im Freien auf die Erde nieder, es regnete heftig, oder wie er sich früher ausdrückte, schüttete vom Himmel herunter, und den armen Kaspar fror es stark. Er schlief indessen doch ein, und setzte mit Anbruch des zweiten Tages, in Begleitung des Unbekannten auf gleiche Weise die Reise weiter fort. Das Gehen war ihm leichter geworden, aber die Beine und Lenden schmerzten ihn um so heftiger. Mit einbrechender dritter Nacht lagerten sie sich wieder auf der Erde im Freien; diesmal regnete es zwar nicht, doch war es sehr kalt und es fror ihn heftig. Mit der ersten Helle des dritten Tages setzten sie ihre Reise in der vorigen Weise fort, und als es noch weit von hier war, nahm der Unbekannte aus einem in ein Tuch eingebundenen Bündel, das er mit sich trug, die unten in der Beilage Nr. II. beschriebenen Kleider, bis auf die blauen Strümpfe, welche er selbst von den Füßen zog, und zog ihm, Alles an. Derselbe vertauschte alsdann seinen Hut, der ein grober schwarzer Herrenhut war, gegen denjenigen, welchen er ihm bei dem Weggang aus dem Kerker gegeben hatte, zog barfüßig seine Stiefel wieder an, die nach Hausers Meinung weit schöner waren, als die schlechten Stiefel, die er hatte anziehen müssen, und nahm dessen im Kerker getragene Hosen an sich. So verändert setzten sie ihre Reise weiter fort. Ihre Nahrung auf dem ganzen Weg blieb diesselbe, welche Hauser im Kerker genossen hatte; das Brod, in einem großen Laib bestehend und das Wasser in einer Bouteille, trug der Unbekannte in der Tasche bei sich. Derselbe beschäftigte sich auf dem ganzen Wege damit, ihm nach einem Rosenkranz, den
er damals zum erstenmal sah und von jenem erhielt, das Vater Unser und noch ein anderes Gebet zu lehren, welche beide er früher nie gehört hatte, und jetzt noch gut vorsagen kann. Auch unterhielt derselbe ihn stets mit der Erzählung, daß er zu seinem Vater komme und ein Reiter werde, der dieser gewesen sey, was ihm immer Freude machte. Sie kamen auf dem ganzen Weg in kein Haus, wohl aber an Häusern und Menschen vorbei, die aber natürlich Hauser nicht beschreiben kann. Der Unbekannte ermahnte ihn hiebey immer nur auf den Boden zu sehen, damit er ordentlich gehen könne, wahrscheinlich aber mehr noch deßwegen, damit er keine Eindrücke von den Umgebungen aufnähme, an welchen er sich dereinst wieder zu erkennen im Stande wäre. Er that dies auch pünktlich. Als sie endlich Nürnberg, welches der Unbekannte mit dem Namen des "großen Dorfs" bezeichnete, sich genähert hatten, zog derselbe den bereits erwähnten Brief aus der Tasche, und übergab ihn dem Kaspar Hauser, mit dem Auftrag, solchen in das große Dorf hinein zu tragen, einem Buben zu zeigen und zu geben, der ihn weiter führen würde. Er bezeichnete ihm, wie es scheint, oft und genau den Weg, den er allein zu gehen habe, und versprach ihm, als Hauser sich ungern von ihm trennte, gleich nachzukommen. Hauser ging, wie ihm geheißen worden war, immer gerade vor sich hin, kam so zum Thor, ohne mehr zu wissen, zu welchem, herein, und wahrscheinlich bald nachher zu dem Bürger, der ihm den Weg zeigte. Soweit aus der "Bekanntmachung" . Der aufmerksame Leser wird gemerkt haben, daß hier Dinge angesprochen wurden, die weder erraten noch erfunden sein konnten. Beispielsweise die Sache mit dem Regen oder den kalten Maiennächten auf dem Weg nach Nürnberg. Den Kaspar fror es erbärmlich, und das hat er nicht vergessen. Das ist echt! Weit weniger echt ist die Behauptung, "als es noch weit von hier war" , also von Nürnberg, da habe der Unbekannte den Kaspar umgezogen. Wie will ein Mensch, dem fast alle Begriffe mangelten,
so eine Feststellung treffen! Aufhorchen läßt die Order des Kerkermeisters, der Kaspar möge den Brief einem "Buben" zeigen und geben, "der ihn weiterführen würde". Woher sollte der Unbekannte wissen, daß der "Bub" den Kaspar auch tatsächlich "weiterführen" würde? In der Tat hat Schuhmacher Weickmann den Kaspar auch bis zum Neuen Tor begleitet. So Weickmanns Aussage. Kaspar jedoch behauptete wiederholt, Weickmann hätte ihn bis vor das Haus des Rittmeisters von Wessenig geführt, dort den Klingelzug gezogen, also geläutet, und sei erst dann verschwunden. Ich weiß es wohl, daß der Schuhmacher Weickmann angibt, er habe mich nur bis an das Neue Tor geleitet; es verhält sich aber nicht so, und ich kann mit Bestimmtheit versichern, daß ich durch ihn, den Weickmann, unmittelbar an das Haus des Herrn Rittmeisters v. Wesenich [muß heißen Wessenig - der Autor] geführt wurde. So unser Kaspar bei seiner Vernehmung am 6. November 1829. Kaspar gibt also "mit Bestimmtheit" an, daß es anders gewesen war, als der Herr Schuhmachermeister erzählt und zu Protokoll gegeben hatte. Es steht hier Aussage gegen Aussage. Und es wird nie mehr feststellbar sein, welche Rolle Weickmann gespielt hat. Aber wenn nicht alles täuscht, war es eine recht dunkle Rolle. Es wird kein Zufall gewesen sein, daß er zur betreffenden Viertelstunde auf dem Unschlittplatz in unmittelbarer Nähe seiner Wohnung und Werkstatt stand. Und wie der Unbekannte dem Kaspar sagte, so war es auch: der "Bub" Weickmann führte den Kaspar durch die Stadt, hin zum vorläufigen Ziel. Daß Weickmann zur Rotte gehört hat, ist zugestandenermaßen eine Kombination, aber eben eine begründete. Es wäre auch kaum vorstellbar, wenn die Dunkelmänner keinen Mitarbeiter, keinen Spitzel in Nürnberg gehabt hätten, einen Mann, der sie auch künftig auf dem laufenden halten würde. Wie sehr sich Dr. Binder schon auf eine Linie festgelegt hatte, gleichsam in eine Richtung eingerastet war, davon zeugt folgende Kombination des Bürgermeisters:
Der Umstand, daß er im Kerker mit seinen Spielsachen sprechen konnte, ehe er den Unbekannten gesehen und von ihm Unterricht in der Sprache erhalten hat, beweißt aber auch zugleich, daß das Verbrechen an ihm schon in den ersten Jahren der Kindheit, vielleicht im zweiten bis vierten Jahre seines Alters und daher zu einer Zeit angefangen wurde, wo er schon sprechen konnte, und vielleicht schon der Grund zu einer edlen Erziehung gelegt war ... Ersparen wir uns den Rest seiner ihm von Johanna eingeflüsterten Vermutungen. Freilich stimmt es, daß Kaspar schon reden konnte und auch schreiben und wahrscheinlich auch etwas Klavier spielen, als er Einzug halten mußte in das Verlies. Daraus zu schließen, daß seine Einkerkerung ungefähr ab dem dritten Lebensjahr begann, ist falsch. Was die Regieführung geplant hatte, trat ein: der Wirbel um Kaspar Hauser. Die Zeitungspressen bekamen Arbeit. Kaspar war über Nacht eine Berühmtheit geworden. Überall redete man von ihm. Die tollsten Vermutungen geisterten über die deutschen Lande. Ein Fürstensohn als Wundermensch, ein "Menschenthier". Und Nürnberg war die Stadt seiner "Erscheinung", Nürnberg, die Dürerstadt, die gewesene Freie Reichsstadt! Mancher brave Nürnberger mag eine Gänsehaut vor Eigenrührung bekommen haben. Aber dann kam die kalte Dusche. Sie kam von Ansbach herüber, der Königlichen Regierungshauptstadt für den Rezatkreis, heute Mittelfranken. Ritter Anselm von Feuerbach tobte. Und die Ursache war Binders "Bekanntmachung" . Das Nürnberger Faß war am Überlaufen. Diese "Nürnberger Philister" , schimpfte Feuerbach. In der Geschichte seiner Gefangenhaltung und Transportierung nach Nürnberg ist manches unglaublich oder rätselhaft, gewiß auch manches unwahr, schreibt von Feuerbach der mit ihm befreundeten Gräfin von der Recke und fährt fort: Diese Geschichte wurde ihm abgefragt zu einer Zeit, wo er fast gar keine Begriffe, keine Vorstellungen von der Natur und menschlichen Dingen, am wenigsten die gehörigen Worte dafür hatte, wo er also öfter in seinem verworrenen, dunklen
Kauderwelsch etwas anderes sagte, als er sagen wollte ... Er sprach ferner von einer ganz ungeeigneten, voreiligen Bekanntmachung. Aber nicht nur Präsident von Feuerbach ward in Rage gekommen, auch die Königliche Kreisregierung in Ansbach, an deren Spitze Präsident von Mieg stand, war hell empört. Die Regierung wußte nämlich seit spätestens 9. Juli, daß die Nürnberger eine Bekanntmachung loslassen wollen, ja im Ansbacher Schloß hatte man sogar "nähere Kognition" über den Inhalt. Und nun hat der Magistrat von Nürnberg es doch gewagt, diese "Bekanntmachung" zu veröffentlichen, obgleich er seitens der Regierung davor gewarnt worden war. Also schon wieder so eine Eigenmächtigkeit der Norisleute, die sich scheinbar einbildeten, noch immer Freie Reichsstadt zu sein, grollte es im königlich-bayerischen Ansbach. Jetzt wurde aber gehandelt und den Nürnbergern die Nägel geschnitten - sollte man meinen. Jedoch weit gefehlt. Zwar wurden alle Zeitungsexemplare, soweit man ihrer habhaft werden konnte, beschlagnahmt. Jedoch es waren schon genug Blättchen in Umlauf gesetzt worden. Die Nachdruckerei begann. Deutschland, ja Europa blickte auf Nürnberg, auf den Luginsland, während sich nun auch das Münchner Innenministerium einschaltete und Ihro Majestät dem König Ludwig I. Bericht erstattete. Der Staatsapparat kam in Bewegung. Es wurden Noten gewechselt, Kuriere fetzten durch die Gegend - und dann wurde es plötzlich still um die ganze Sache. Sicher ein Wink von oben, von ganz oben. Vom König höchstpersönlich, wenn nicht alles trügt. Dr. Binder und sein Magistrat waren mit einem blauen Auge davongekommen. Die Staatsraison hatte über dem Verlangen obsiegt, der ganzen Binderei gehörig die Leviten zu lesen. Es ging um ganz andere Beträge, um sogenannte hohe Politik, und da wird mit anderen Maßstäben gemessen. Die Klugheit gebot nun, die Hauserei vergessen zu machen. Schwamm drüber. Sollen die Nürnberger ihre Attraktion haben. Nur sollen sie die Sache gefälligst für sich behalten und nicht außerhalb ihrer Mauern Trara machen. Wie schrieb doch Binder:
... die Gemeinde, die ihn in ihren Schoß aufgenommen, liebt ihn, und betrachtet ihn als ein ihr von der Vorsehung zugeführtes Pfand der Liebe, das sie ohne den vollen Beweis der Ansprüche anderer auf ihn nicht abtreten wird ... O kasparlicher Strohsack! Schlimmer kann’s bei einem Juristen nicht ausfallen. Oder noch eine Kostprobe, um zu verstehen, weshalb die Ansbacher vorgesetzten Behörden so sauer waren: Sein reiner, offener schuldloser Blick dagegen, die breite hohe Stirn, die höchste Unschuld der Natur, die keinen Geschlechtsunterschied kennt, nicht einmal ahnet ... O lieber Bürgermeister Binder seligen Angedenkens! Was muß deine Frau für eine starke Hand gehabt haben, um deine zarte Juristenhand so schreiben zu lassen. Ganz ohne einen Schuß, einen schauerlich-schönen aus dem Grenzgebiet der Erotik ging’s also auch damals nicht. "Leit, habt er‘s köhrt, der Bou droben vom Luchinsland, der Hauserla, der wahs nedd amol den Unterschied zwischen an Burschn und an Frauerzimmer - hähähä!" Die Marktfrauen und die Bader verzapften es ihrer Kundschaft, die Wirtshausbrüder klatschten sich vor Vergnügen auf die Schenkel. "Reserla! bring no a Häferla Bier. Derauf missmer ans trinken." Es wurde also behördlich still um die Hauserei. Anlaß dazu war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Brief, der kurz nach Veröffentlichung der "Bekanntmachung" dem Herrn Bürgermeister Binder auf den Tisch flatterte. Der Wisch war anonym und aus Karlsruhe adressiert. "Anonyme Anzeigen dagegen können nicht berücksichtigt werden" , war der letzte Satz der "Bekanntmachung" . Der Bürgermeister hielt sich jedoch nicht an seine Worte. Er warf das Schreiben nicht in den obligatorischen Papierkorb. Er meldete vielmehr den Inhalt nach Ansbach. Und von dort fand es seinen Weg nach München in das Innenministerium und von da in die Residenz. Was aber war der Inhalt des Schreibens? Was stand in diesem Brief? Nicht mehr und nicht weniger, als daß Kaspar Hauser in Wahrheit ein deutscher Fürstensohn sei.
Es besteht nun kein Zweifel darüber, daß es mit diesem Wisch einiges auf sich hat. Hier war nicht irgend ein Hinterwäldler an der Arbeit, um dem Nürnberger Behördenapparat quasi einige biedermeierische Schmankerln zu servieren. Sozusagen eine reichsstädtische Gaudi. Nein, hinter dieser Aktion stand Absicht, stand ein wohleinkalkuliertes Mitteilungsbedürfnis. Die Frage ist bloß, was damit bezweckt werden sollte. Und noch etwas: Der Anonymus hatte Kenntnisse, die den Nürnberger Stadtspitzen bis dahin noch fehlten. Er gehörte zur Dunkelpartei.
2. Der mediale Mensch Kerkerlegende greift um sich - Bei Professor Daumer Klavierspieler aus der Katakombe Terroristische Kriminalität auch damals schon Das Phänomen Kaspar Hauser - Animalischer Magnetismus und Hellsehen Sehen bei Nacht - Hauser als Versuchskaninchen - Der Fall Oetker und die Hypnose Merkwürdige Träumereien - Verheißung und Drohung Erinnerungsfetzen durchbrechen die Gedächtnissperre Zeichnung im Wachtraum - Hauser und Virgil Suppenkasparei - Geheime Mächte der Hypnose und Suggestion Die Doktoren Preu und Osterhausen machen erstaunliche Feststellungen Fleischbrühe tröpfchenweise Rekapitulieren wir kurz: Spätestens seit 9. Juli wußte man im Ansbacher Schloß, dem Regierungssitz, daß die Nürnberger eine Bekanntmachung des Falles "Kaspar Hauser" vorhaben. "Man" wußte sogar, in welcher Form die Sache veröffentlicht werden sollte und warnte den Magistrat mit erhobenem Zeigefinger "So nicht!" Zwei Tage später, am 11. Juli, besuchte Gerichtspräsident von Feuerbach in Begleitung zweier Damen, zweier Kinder und einem Oberst den Kaspar auf dem Turm. Angeblich, so Feuerbach selbst, sei er nicht dienstlich gekommen, sondern als Privatmann: aus Anteilnahme am Schicksal des Findlings. Wer’s glaubt, wird selig, da Männer in solchen Positionen genaugenommen immer im Dienst sind. Und kaum war das Hufgeklappere der Feuerbach’schen Kutsche verhallt, da erschien am
14. Juli die Erstveröffentlichung der Binder’schen "Bekanntmachung", datiert vom 7. Juli. Präsident von Feuerbach aber brachte von seinem Ausflug nach Nürnberg die Überzeugung mit ins heimatliche Ansbach, der Junge auf dem Luginsland würde "entweder an einem Nervenfieber sterben oder in Wahnsinn oder Blödsinn untergehen", falls seine Lage nicht schleunigst geändert würde. Kaum daheim, wurde er deshalb bei seinem Juristenkollegen, dem Generalkommissär (Regierungspräsidenten) von Mieg vorstellig. Er schilderte diesem seine Eindrücke und empfahl, sich den Kaspar selbst anzuschauen, sich an Ort und Stelle also zu überzeugen. von Feuerbachs konkreter Vorschlag: Den Jungen sofort aus dem Turm zu nehmen und ihn in die Obhut einer verständnisvollen und gebildeten Familie zu geben. Des Gerichtsherren Befürchtung trat ein, noch ehe Hausers Lage geändert wurde. Es war in der sechsten Woche seines Aufenthaltes auf dem Turm, als sich Hausers Gesundheitszustand rapide verschlechterte: Der Kaspar wurde krank. In Vertretung Dr. Preus, des Stadtgerichtsphysikus, der zur Kur weilte, eilte Dr. Johann Karl Osterhausen, bereits 63 Jahre alt, zu Kaspar auf den Turm. Er untersuchte das nachmalige "Kind Europas" und erstattete dem Magistrat darüber ein gerichtsärztliches Gutachten. Es darf daraus wörtlich zitiert werden: Die mannigfaltigen Eindrücke, welche den bisher in einem Kerker lebendig begrabenen, von aller Welt abgeschiedenen, sich selbst überlassenen Kaspar Hauser ringsum bestürmten, als er mit einenmal in die Welt und unter die Menschen hineingeworfen wurde, und welche nicht einzeln, sondern in Massen auf ihn einwirkten, die verschiedenartigsten Eindrücke der freien Luft, des Lichts, der ihn umgebenden Gegenstände, die ihm alle neu waren, dann das Erwachen seines geistigen Ichs, seine aufgeregte Lern- und Wißbegierde, seine veränderte Lebensweise usw., alle diese Eindrücke mußten ihn Notwendig gewaltsam erschüttern, und endlich, zumal bei seinem so sehr empfindlichen Nervensystem, seiner Gesundheit nachteilig werden.
Ich fand ihn, als ich ihn wiedersah, ganz verändert. Er war traurig, sehr niedergeschlagen und ermattet. Die Reizbarkeit seiner Nerven war krankhaft erhöht. Seine Gesichtsmuskeln zuckten beständig. Seine Hände zitterten so sehr, daß er kaum etwas halten konnte. Seine Augen waren entzündet, konnten das Licht nicht ertragen und schmerzten ihn bedeutend, wenn er lesen oder einen Gegenstand aufmerksam betrachten wollte. Sein Gehör war so empfindlich, daß schon jedes laute Sprechen ihm heftige Schmerzen verursachte und er daher die Musik, die er so leidenschaftlich liebte, nicht mehr hören konnte. Er hatte mangel an Eßlust, mangelhaften, erschwerten Stuhlgang, klagte über Beschwerden im Unterleib und fühlte sich durchaus unbehaglich. Ich war nicht wenig wegen seines Zustandes besorgt, da es nicht möglich war, ihm mit Arzneien beizukommen teils weil er einen unbezwingbaren Abscheu vor allem, Wasser und Brot ausgenommen, hatte, teils weil, wenn er auch welche hätte nehmen können, zu befürchten war, es möchte selbst das indifferenteste Mittel zu heftig auf seine so sehr gereizten Nerven einwirken ... Wie zu bemerken war, saß die Kerkerlegende schon knochentief in den Gemütern selbst von medizinischen Fachleuten. Aber wir kommen darauf noch ausführlich zu sprechen. Regierungspräsident von Mieg war also mittlerweile ebenfalls auf dem Luginsland bei Kaspar gewesen. Er fand von Feuerbachs Ansicht bestätigt. Und es ist nicht auszuschließen, daß er bei dieser Gelegenheit dem Nürnberger Bürgermeister nicht schlecht die Leviten gelesen hat. Jedenfalls wurde Kaspar Hauser von seinem Turmaufenthalt erlöst und zur weiteren Erziehung in die Familie des Nürnberger Gymnasialprofessors Georg Friedrich Daumer aufgenommen. Daumer, ein fortschrittsgläubiger Mensch, Humanist aus philosophischer Überzeugung, Anthroposoph, Anhänger der homöopathischen Lehre, interessierte sieh auch für parapsychologische Phänomene, ein subtiler Poet - Brahms vertonte an die 50 seiner Gedichte! - war damals 28 Jahre jung. Der geborene Nürnberger war wegen "Heißerkeit" und entzündeten Augen vom Schuldienst "quiesziert", wie er überhaupt zeit seines Lebens ein
kränklicher Mensch war, der es dessenungeachtet aufgestandene 75 Lebensjahre bringen sollte - wie’s oft so ist mit Leuten, die immer kränkeln. Professor Daumer war Junggeselle und lebte mit seiner Mutter und Schwester in einem Altbau auf der Insel Schütt im nach dem Besitzer so benannten Haubenstricker’schen Haus in Miete. Diese mittelalterliche Hinterhofidylle sollte nun Hausers Heimat bis Januar 1830 werden, also etwas über anderthalb Jahre lang. Am HauserFall interessierte Touristen der Noris brauchen sich aber nicht mehr um das Haubenstricker’sche Anwesen bemühen. Die Bomber der Alliierten haben auch die Insel Schütt im Herzen Nürnbergs kurz und klein geschlagen. Wo sich einst das Gewinkel der windschiefen Häuschen und die ineinander verzahnten Gärtchen der Schüttbewohner auf den Pelz rückten, nimmt heute eine moderne Volksschule und ein riesiger Parkplatz den meisten Platz ein. Aber zu Hausers Zeiten wehte dort noch Nürnberger Bürgerluft aus dem Mittelalter herüber. In diese Umgebung also kam der kranke Turmbewohner. Das war, korrekt gesagt. am 18. Juli des Herren Jahr 1828. Professor Daumer, der später ein leidenschaftlicher Streiter für den zur "Hauser-Sache" gewordenen politischen Coup werden sollte und sich dabei die Finger wund schrieb, um immer wieder Beweise zu erbringen, daß sein Zögling unmöglich ein Betrüger gewesen sein kann - dieser vortreffliche Erzieher hatte Kaspar ungefähr drei Wochen vor dessen Übersiedlung auf die Schütt im Luginsland kennengelernt. Seit diesem ersten Besuchstag kam Daumer täglich zu Kaspar auf den Turm und unterrichtete diesen eigenartigen Schüler völlig unentgeltlich im Lesen, Schreiben und Rechnen sowie allem Anschein nach auch zusätzlich noch etwas auf dem Klavier. In all diesen Fächern lernte Kaspar unwahrscheinlich schnell, was für unsere guten Nürnberger als ein weiterer Beweis dafür galt, eben in Kaspar doch einen "Wundermenschen" aufgegabelt zu haben. Unerklärliche Phänomene werden von Menschen. mangels intellektueller Erfassung bequemerweise schnell ins Wundersame abgeschoben. Eine uralte Tatsache. Doch wie sehr sollten sich die Nürnberger und alle Wundergläubigen irren, wie wir noch sehen werden!
Aus einem Bericht Daumers an den Nürnberger Magistrat, datiert vom 11. September 1828, entnehmen wir: Aber schon in der dritten Woche mußte ich fast ganz aufhören, ihn zu unterrichten, weil nicht lange nach dem Anfang des Unterrichts Schweiß auf Hausers Stirn trat und Kopfschmerz sich einstellte. Die Zuckungen, die er fast bei jeder Erregung im Gesicht bekam, wurden stärker; endlich zu eben der Zeit, da er mir zur Verpflegung übergeben wurde, erkrankte er so völlig, daß er sich kaum mehr aufrecht erhalten konnte ... sein Nervensystem war in der größten Zerrüttung. Die konvulsivischen Bewegungen waren von erschreckender Art; jedes laute Wort, jeder Griff auf dem Klavier tat seinem Ohre, ein paar Worte, die er las oder schrieb, alles Weiße und Helle, auf welches er einblickte, seinem Auge weh; er zitterte mit der Hand, wenn sie einen Gegenstand hielt, wie ein Greis ..." Nur langsam besserte sich der Gesundheitszustand des armen Kaspar. Professor Daumer hatte so lange den regulären Unterricht ausfallen lassen müssen. Dafür lehrte er dem Kaspar durch legere "Unterhaltung" die Sprache, erweiterte also dessen Wortschatz, beschäftigte ihn. mit Papp-, Tischler- und Gartenarbeit und ließ ihn viel im Freien bewegen. Auch bekam Hauser nun Reitunterricht bei Stallmeister von Rumpler. Zum Schaden von Kaspars Gesundheit überboten sich halt die gutmütigen Nürnberger, "ihren Kaspar" tunlichst auf die Schnelle alles nachlernen zu lassen, was er angeblich oder tatsächlich bislang versäumt hatte. Das Reiten aber machte unserem Kaspar richtiggehend Spaß. Zwar kostete es viel Schweiß, den wohlbeleibten Jungen auf ein gut eingerittenes Pferd zu bringen und ihn darauf zu halten, wobei Kaspar anfangs von zwei Pferdeknechten links und rechts gestützt wurde - aber Kaspar war zähe und ausdauernd, wie bei allen Arbeiten, die ihn interessierten. Und so sollten ihn schon Monate später die verdutzten Nürnberger hoch zu Roß zum Stadttor hinausreiten sehen. Kaspars Hobbyreiterei wurde dann Anlaß zu neuen Gerüchten und Legenden. "Schaut nur hin, wie der Hauserla affn Gaul hockt! Wie a richtiger Reiter. Der Kerl hat‘s schee. A Kaschber müßt‘ mer halt sei, dann lernert mer a umsonst das Reiten ..." So hörte man es in
den Gassen und Wirtshäusern. In. den Salons aber tuschelte man. Nur ein leibhaftiger Prinz könne so stolz daherreiten. Oder sollte er gar aus einem Zirkus entsprungen sein? Vielleicht ein gewesener Kunstreiter? Der Fehltritt eines ungarischen Magnaten? Ach, die Nürnberger wurden nicht satt, sich in den seltsamsten Vermutungen zu ergehen. Die Rederei brachte es gar zuwege, daß der Stallmeister von Rumpler behördlich vernommen wurde. Er mußte aussagen, was er von den Reitkünsten seines Schülers halte. Und da zeigte sich, daß justament von Rumpler, der Reiterfachmann, herzlich lachen mußte, als ihm die Vernehmer fragten, ob Hauser eventuell ein entsprungener Zirkusreiter sein könnte. Bei Gott, nie und nimmer! Der Kaspar habe zwar unendlich viel Freude mit den Pferden und beim Reiten, aber dessenungeachtet sei er, auch vom Talent her, ein ganz gewöhnlicher, mittelmäßiger Reiter und werde dies auch bleiben. Was ihm aber zustatten gekommen ist, dem Kaspar, das war die Tatsache, daß er keinerlei Angst vor Pferden hatte. Er hatte keine Angst, weil er Gefahren nicht kannte, nicht kennen konnte. Kurzum, im September des Ankunftsjahres, nach wochenlanger und geduldiger Fürsorge durch die Daumers, genas Kaspar zusehends. Die eigenartigen konvulsischen Bewegungen, das Zittern und überhaupt die Folgen der nervlichen Überreizung, fingen sichtlich an, zu verschwinden. Kaspar Hauser war nun genau 108 Tage auf jener Welt, in der gottlob auch heute noch "Unser täglich Brot gib uns heute" gebetet wird. Und siehe da: seit einiger Zeit genießt unser Kaspar, der Wasser-undBrot-Kaspar, auch eine mit etwas Mehl angemachte Wassersuppe, und zwar, laut Daumer, mit großem Appetit. Auch "ungewürzte Schokolade", weißes Brot gar und Milchspeisen fingen an, dem wohl seltsamsten Findling aller Zeiten zu schmecken. Ja und denke sich einer: der Kaspar fing an, das weiße Brot viel leichter zu verdauen als das schwarze, das allein er angeblich runde 12 Jahre "genoß". Auch sein Aussehen, das von Anfang an nicht schlecht war, verbesserte sich, so Daumer in seinem Bericht vom 11. September Anno 28, "auffallend, und er wächst mit ungewöhnlicher Schnelligkeit; er ist in den
letzten 4 Wochen fast um 2 Zoll [= 5,8 cm - der Autor] größer geworden ..." Was sind das nur für merkwürdige Kaspareien! Festgehalten soll aber noch einmal werden: Von seinem ersten Tag an in Nürnberg bis in den Juli hinein, an die sieben oder acht Wochen also, hat Kaspar Hauser nur von Brot und Wasser gelebt, das er dreimal täglich bekam. Das ist ein unumstößlicher Fakt. Denn Kaspar wurde während all seiner Tage auf dem Luginsland quasi keine zehn Minuten täglich alleine gelassen; er stand sozusagen permanent unter Beobachtung. Hören wir noch einmal Daumer über seinen 108 Tage in Nürnberg weilenden Zögling: Zur Bezeichnung seiner physischen Beschaffenheit überhaupt bemerkte ich folgendes: Er ist, solange ich ihn kenne, hauptsächlich aber gegenwärtig, von gutem Aussehen und gesunder Gesichtsfarbe, aber sein Körper ist in Hinsicht auf Leistungen und äußere Einflüsse von kaum glaublicher Empfindlichkeit, Schwäche und Reizbarkeit. Eine gelinde Berührung mit der Hand macht die Wirkung eines Schlages auf ihn: wenn er einige Zeit lang gegen den Wind geht, wird er heiser; vom kleinsten Spaziergang wurde er früher bis zum Hinsinken müde, seit kurzem jedoch kann er stundenlang gehen, ohne sich gänzlich erschöpft zu fühlen. Er stand und ging früher mit eingekehrten Füßen und war in beständiger Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren; er konnte nicht den kleinsten Sprung machen, ohne umzufallen; jetzt ist sein Gang [Anfang September 1828! - der Autor] wenig mehr von dem anderer Menschen unterschieden ... Diese wenigen Zeilen charakterisieren die Forschernatur Daumers, dazu den kreuzbraven Erzieher und Professor weit besser, als die Abhandlungen und bösartigen Unterstellungen einiger seiner Zeitgenossen, die sich als Apologeten der damaligen Machthaber zu profilieren versuchten - verständlicherweise zumeist mit Erfolg, wenn sie nicht gerade von zu Hause aus Ganoven oder Abenteurernaturen waren, deren sich selbst die Mächtigen nur hintergründig bedienen können, damals wie heute. Wäre Professor Daumer jemals der kritiklose Halbtrottel von einem Kaspar-Hauser-Fan gewesen, wie ihn selbst in die-
sem Jahrhundert noch einige einschlägige Autoren glaubten hinstellen zu müssen: nie hätte er so objektiv beobachten und schreiben können. Es ist doch sicher auch einem Mann wie Daumer der Widerspruch zwischen Binders "Bekanntmachung" und der Tatsache aufgefallen, daß Hausers Aussehen von Anfang an gesund war. Ähnlich bestellt sein dürfte es mit der Legende von wegen 12jähriger Wasser-undBrot-Nahrung. Wenn den Hauser einer gekannt hat, gleich in der Anfangszeit, und zwar besser als jeder andere, dann war dies ohne Zweifel Daumer. Heute, nach einem 150jährigen Abstand und dank der grundlegenden Forschungen der Professoren Dr. Pies und Dr. Klee, die erst die wissenschaftlichen Grundlagen einer objektiven HauserForschung erarbeitet haben, können wir verstehen, wie lauter ein Professor Daumer war. Nicht der Dichter so vieler Brahms’scher Lieder wird als Scharlatan entlarvt, wie ihn wortgewaltige Verteidiger der seinerzeitigen Machtinhaber hinzustellen versuchten, sondern die Speichellecker der Herrschenden haben sich selbst enttarnt, um ein Wort aus der Terminologie der Geheimdienstler zu gebrauchen. Denn: die grundlegenden Forschungen des Professors Dr. Hermann Pies aus Saarbrücken, ob seiner lebenslangen Arbeit in der HauserSache vor wenigen Jahren zum Ehrenbürger der Stadt Ansbach ernannt, decken sich vollendet mit Daumers Aussagen, Schriften und Bücher über seinen Zögling Kaspar Hauser. Was sich im September 1828 noch recht widersprüchlich, ja mysteriös anhörte und anhören mußte, das ist im Licht der heutigen Wissenschaft, speziell der auf Hauser bezogenen, eine klare und objektive Aussage ohne jegliche Wertung. Eine Aussage, die durch den heutigen Wissensstand erklärbar und dadurch erhärtet wird. Analysieren wir kurz die wenigen zitierten Sätze aus Daumers Bericht an den Magistrat seiner Heimatstadt. Daumer schildert uns hier einen jungen Mann, den er nie anders denn "von gutem Aussehen und gesunder Gesichtsfarbe" gesehen hat. Nur fiel dem wissenschaftlich geschulten Mann auf, daß der Kaspar von immenser Empfindlichkeit ist. Seinem Bericht zufolge, der sich mit den Aussagen anderer gebildeter Menschen deckt, die Hauser persönlich kannten und erlebten, würden wir heute konstatieren: Der Junge war immunschwach. Das
muß aber beileibe nicht von einer längeren Kerkerhaft herrühren, auf was einige Zeilen weiter oben bezüglich der Binder’schen "Bekanntmachung" angespielt wurde. Diese Immunschwäche wird vielmehr die Folge einer gewissen Isolation sein, die begrenzt war, vielleicht allenfalls ein Jahr dauerte, während die sogenannte Verlieszeit wahrscheinlich nur wenige Wochen, wenn nicht gar nur Tage währte. Isolationszeit hat aber mit Kerkerzeit unter der Erde bei Wasser und Brot nicht viel zu tun. Aber wenig Bewegungsfreiheit und Abkapselung von dem, was wir heute Gesellschaft nennen, das kann bereits nach einigen Monaten zu den Symptomen führen, die Daumer schilderte. Und vergessen wir nicht: nach rund 100 Tagen "Nürnberg-Dasein" hat sich das Ganze ja gegeben, wurde jedenfalls wesentlich und sichtbar besser, und zwar von Woche zu Woche. Nein, sage einer was er will: dieser Professor Daumer, ein Fortschrittler seiner Zeit, aber nie und nimmer zu verwechseln mit unseren heutigen, deren fortschrittgläubigsten Interpreten die Geschlechtsbestimmung des Menschen möglichst noch im Mutterleib per Abstimmung reglementieren möchten - dieser Wissenschaftler und Poet dazu gehörte einer anderen Zeit der Progressivität an. Die Methoden der Progressiven von damals können nicht mit heutigen Maßstäben gemessen werden. Dessenungeachtet gab es auch zu Daumers Zeiten einige Hauser-Narren, Fans des Findlings, für die der Junge eine höchst willkommene Erscheinung war, der Monarchie eins auszuwischen. Es waren dies durchwegs fanatische Republikaner, die ihre halbreligiösen Vorstellungen von einer neuen, einer besseren Welt glaubten, notfalls auch mit Lug, Trug, Dolch und Pistole erkämpfen zu müssen. Ihre politische Geilheit, ihr Sendungsbewußtsein schreckte vor nichts zurück - auch nicht vor Mord. Man denke an Kotzebue und den mörderischen Lausbuben von einem Studenten, der ihm beim Lesen eines Briefes, den er ihm Sekunden zuvor überreicht hatte - an Kotzebue, der von diesem grünen Jungen erdolcht wurde. Attentate dieser Art ziehen sich durch die ganze erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, und zwar viele. Die zweite Hälfte dieses Säkulums und der Anfang des unsrigen waren zwar bei weitem nicht mehr so fanatisch, aber es reichte immerhin aus, daß wiederum ein ebenso ver-
blendeter wie unerfahrener Junge durch den Doppelmord von Sarajewo den Auslöseknopf zum Ersten Weltkrieg gedrückt hat. Und wie ist es heute? Gibt es nicht gewisse Parallelen in der Methode der politischen Kriminalität, gewisse Ähnlichkeiten? Mein Gott, was muß das für ein "Fortschritt" sein, der sich seinen Weg mit Maschinenpistolen und Sprengstoffpaketen bahnt, der Leute in seinen Namen auf offener Straße umbringen läßt. Andererseits war es eine wirklich große Zeit, in die Hauser hineingestoßen wurde. Als Kaspar in Nürnberg auftauchte, war Beethoven gerade ein Jahr unter der Erde. Franz Schubert, der erst in unseren Tagen eine zunehmende Bedeutung als großer Symphoniker erfährt, lebte und schaffte noch in seiner Geburtsstadt Wien, die seine schlesischen Eltern als zweite Heimat auserkoren hatten. Er war 31 Jahre alt und sollte nicht älter werden. Denn im November von Hausers Antrittsjahr starb er. Franz List, der die Klaviermusik revolutionieren sollte, hat im Jahr vor Kaspar Hauser das Licht unserer Sonne erblickt, 1811. Und auch Chopin und der Schaugeiger und Wundermann Paganini beehrten schon diesen Planeten. Richard Wagner, der geniale Umgestalter des Orchesters, der auch von seiner Weltanschauung her revolutionär war und deswegen das Vaterland verlassen mußte, komponierte schon fleißig und bastelte seine germanische Götterwelt zusammen. Er war ein Jahr nach unseren Kaspar geboren: 1813. In der Tat war es in jeder Beziehung ein Jahrhundert, das überragende Persönlichkeiten hervorbringen sollte: in der Kunst, in der Philosophie, in der Wissenschaft, in der Politik und gerade auch auf dem wirtschaftlichen Sektor. Erinnert sei nur an das Bankgenie Rothschild. Ja, es war ein bewegtes Century, in dem Großes neben Banalem gleichsam auf Tuchfühlung war. Es war das Jahrhundert bedeutender Umwälzungen, in dem die Grundlagen unseres heutigen technischen Fortschritts gelegt wurden. Es war das Jahrhundert der Attentate und der großen Geister. In der Kriminalistik aber war es die Epoche, in der sich der rätselhafteste und bedeutendste Kriminalfall aller Zeilen abspielte. Es war das Jahrhundert Kaspar Hausers.
An diesem Jungen aber stellten Professor Daumer und viele andere Zeitgenossen merkwürdige Phänomene fest. Diese Phänomene jedoch paßten so gar nicht recht ins erste Drittel des vorigen Jahrhunderts, in die Zeit der ausgehenden Aufklärung, der gewesenen Enzyklopädisten, in die Anfänge des Materialismus, in der Unerklärliches, wissenschaftlich nicht mehr Faßbares keinerlei Stellenwert mehr besaß. Die Zeit eines Mesmer und seiner Lehre vom belebten, vom "tierischen Magnetismus" war vorbei. Männer wie Braid, Coué oder Forel waren erst im Kommen. Und wer sich beispielsweise mit Hahnemann und seiner Lehre der Homöopathie beschäftigte, mußte es sich gefallen, lassen, von der offiziellen Wissenschaft verspottet, ja angefeindet zu werden. Das kommunistische Manifest von Marx und Engels war zwar noch nicht geboren, aber geistig war es in der Zeugung. Und auch Ludwig Feuerbach, einer der Söhne des großen Ansbacher Rechtsgelehrten und Kriminalisten von Ruf, wetzte schon sein geistiges Messer; er sollte der Philosoph des Materialismus schlechthin werden. Im Bruckberger Schloß bei Ansbach schrieb er später seine hauptsächlichen Werke. Er kannte Hauser noch persönlich und hat sich sein Leben lang mit ihm beschäftigt. Viele Jahre nach Hausers und seines Vaters Tod hat er aus dessen Nachlaß das an die bayerische Königin Caroline gerichtete und streng geheime Mémoire veröffentlicht. Der provozierte Sturm blieb nicht aus. Wieder einmal schlugen die Hauser-Wellen haushoch in Deutschland und Europa. Doch nun zu den. Phänomenen, die an Kaspar bemerkt wurden und seine Umgebung verblüfften. "Alle seine Sinne," notierte Daumer, "sind von ungeheuerer Schärfe und Feinheit." Kaspar roch beispielsweise Dinge, die für ein gewöhnliches Organ völlig geruchlos sind, und zwar schon in beträchtlicher Entfernung. In stockfinsterer Nacht konnte Hauser noch dunkle Farbnuancen unterscheiden; und Daumer, dessen Mutter und Schwester staunten nicht schlecht, wie sich der Kaspar bei Nacht im Hause ohne jede Lichtquelle zurechtfand. Die Finsternis schien sein Metier zu sein, aber in der Dämmerung sah er am besten, während das Tageslicht ihm wehe tat; er blinzelte in einem fort und hatte die erste Zeit ständig entzündete Augen. Zudem waren. in seiner Anfangszeit bei Daumer die Vorhänge seines Zimmers auch
am Tage zugezogen. In leichter Dämmerung fühlte er sich am wohlsten. Beinahe etwas verschämt schreibt Daumer: Am merkwürdigsten sind die bei ihm vorkommenden Erscheinungen, die in das Gebiet des animalischen Magnetismus und des Hellsehens hinüber streifen. Wenn sich dein Kaspar von hinten jemand ungesehen und ungehört näherte, so weiß er es vermöge einer ganz eigentümlichen Empfindung, welche ihm die Nähe lebendiger Wesen erregt. Hören wir weiter bei Daumer: Wenn man die Hand gegen ihn richtet, so fühlt er eine Strömung von ihr ausgehen, die er mit dem Ausdruck "Anblasen" belegt; beim Anfassen einer Hand befällt ihn mit wenigen Ausnahmen (bei alternden Personen) ein kalter Schauder. Die meiste Empfänglichkeit für solche Eindrücke zeigt er (aus unbekannten Gründen) in Beziehung auf mich. Er empfindet es, rückwärts gekehrt, wenn ich in einer Entfernung von 125 Schritten die Hand gegen ihn ausstrecke. Eine ähnliche Empfindlichkeit äußert er gegen Metall: er fühlt und unterscheidet durch die Stärke des Zuges Metalle, die man, ohne daß er es gesehen oder weiß, unter Papier verborgen hat. Diese Erscheinungen, schreibt Daumer im September 1828, vermindern sich jedoch, sowie er jetzt kräftiger und gesunder wird. Der gute Daumer notierte alle an Kaspar bemerkten Phänomene und Verlauf und Resultat seiner Versuche an ihm und mit ihm. Er war eben doch "Kind seiner Zeit": der auslaufenden Aufklärung, einer experimentierfreudigen Epoche. Mag sein wissenschaftlicher Eifer mitunter etwas übertrieben gewesen sein, vergessen sollte jedoch nicht werden, daß wir speziell dem Professor Daumer das Wissen um die an Hauser bemerkten Phänomene verdanken. Daumer veröffentlichte nämlich seine umfangreichen Notizen in zahlreichen Aufsätzen, Broschüren und Büchern. Dafür wurde er von seinen Gegnern, eben jenen Leuten, die Hauser partout zum Betrüger stempeln wollten, heftig angefeindet. Der Professor mußte auch Schläge unter die Gürtellinie einstecken, wie beispielsweise von dem Bibliothekar van der
Linde, der Hauser selbst nie gesehen oder erlebt hatte; das hat er übrigens gemeinsam mit allen Hauser-Feinden, was alleine schon auffällig ist. Daumer wurde als Phantast und Spinner hingestellt, der in so eine fortschrittliche Zeit angeblich gar nicht recht hineinpasse. Dabei aber haben alle diese Kritiker und Feinde eines vergessen: daß nämlich Daumer nicht der einzige Zeuge war, der die vielen Merkwürdigkeiten an Kaspar bemerkt hat, ja diese rational nicht erfaßbaren Sonderbarkeiten studiert und an ihnen und mit ihnen experimentiert hat. Schriftliche Zeugenaussagen sind außer von Daumer auch von anderen Zeitgenossen auf uns gekommen, zum Teil eidlich erhärtet. So von dem Nürnberger Juristen Freiherrn von Tucher und den beiden Ärzten Dr. Preu und Dr. Osterhausen. Und auch diese Männer wurden von den mächtigen Hauser-Feinden des vorigen Jahrhunderts angefeindet, verleumdet und verspottet - selbst ein so kühler juristischer Kopf wie Gottfried von Tucher. Doch bleiben wir bei den Phänomenen, die alle seine Betreuer und Interessenten an diesen "Nürnberger Pfingstwunder" in Hülle und Fülle erlebten. Kehren wir wieder einmal zurück zu Dr. Preu, den Nürnberger Stadtgerichtsarzt, den Jünger Hahnemanns und seiner Lehre von der Homöopathie - zu Dr. Preu, der den Kaspar nur um eine kurze Zeitspanne überleben sollte. In seinem Gutachten vom Dezember 1830, mit dem wir uns wiederholt schon auseinandergesetzt haben, schildert dieser Arzt den Findling vom Unschlittplatz als einen Menschen, dessen Sinne im Vergleich zu anderen auch jetzt noch, also zweieinhalb Jahre nach seinem Auftauchen, "auffallend geschärft" sind. Und dies, obgleich und jetzt bricht in Dr. Preu der Homöopath durch - Kaspar mittlerweile an Fleischkost gewöhnt werden konnte. Im Vergleich zur Anfangszeit Hausers, seien diese "auffallend geschärften" Sinne "beträchtlich stumpfer" geworden. Anfänglich, attestierte Dr. Preu, sah er in vollkommener Nachtfinsternis so gut, daß er Geschriebenes und Gedrucktes lesen konnte, nachdem er lesen gelernt hatte; b) war sein Gehör so reizbar, daß er vom Anhören der Regimentsmu-
sik aus einem benachbarten Hause 2 Tage lang nervenkrank darniederlag; c) roch er z.B. tierische verweste Substanzen oder ausgetrocknete Knochen auf eine weite Entfernung, sogar die Ausdünstung des Gottesackers vom Garten des Herrn Kaufmanns Scharrer, also über 400 Schritte weit. Schon in viel späterer Zeit wirkte der Geruch des Terpentinfirnisses so nachteilig auf ihn, daß er auf der Stelle Erstickungsanfälle bekam und nach 12 Stunden am ganzen Körper gelbsüchtig war. Noch jetzt riecht er es, wenn in einem Zimmer zweierlei Weine, obwohl in verschiedenen Flaschen, stehen, und er bekommt davon Kopfweh. Den Geruch einer einzigen Sorte verträgt er gut. d) Gegenwärtig noch fühlt er gegen eine Menge Genüsse wahren Abscheu, welche im gewöhnlichen Leben von anderen Menschen für wohlschmeckend gehalten werden. Er verschmäht Kaffee, Bier, Wein; alles Gewürzartige, auch in der kleinsten Quantität den Speisen beigemischt, wirkt nicht allein widerlich auf seinen Geschmack. sondern auch nachteilig auf seine Nerven. Es macht ihn wahrhaft krank. - Doch sind hiervon ausgenommen Kümmel, Koriander, Anis und Fenchel, welche zusammengemischt, er als höchst wohlschmeckend und wohltätig in dem eigens für ihn so gebackenen Brote genießt und versichert, daß dem Brote, welches er an seinem früheren Aufenthaltsorte genossen habe, die nämlichen Substanzen beigemischt gewesen seien ... e) Nicht allein aber geschärft, sondern auch krankhaft reizbar sind seine Sinne, was zum Teil schon aus a) bis d) hervorgeht. Am reizbarsten ist sein Gesicht. Bei schon geringer Anstrengung seiner Augen durch Lesen, Schreiben, Zeichnen entzünden sie sich und erregen zugleich allgemeines krankhaftes Leiden. Dr. Preu berichtet dann dem Gericht weiter, daß nicht nur Kaspars Sinne hypersensibel sind, sondern sein ganzes Nervensystem. Als Beweis führte der Arzt folgende Beobachtung an: Schon beim Genuß einiger Weinbeeren, Rosinen also, werde Kaspar halb betrunken davon. Und wie mußte es dem Hahnemann-Anhänger geraucht haben, daß sein diesbezügliches Versuchskaninchen Casparus Hauser durch den bloßen Geruch einiger "höchst verdünnter" homöopathischer Arzneien, die dazu noch einige Schritte weit vom Versuchsobjekt
entfernt waren, beim Kaspar "sogleich Betäubung, Zittern und auf der Stirn Schweiß" bewirkten. Man kann sich noch heute vorstellen., wie die Nürnberger diese Phänomene zur Kenntnis nahmen, darüber ratschten und wohl auch ein wenig übertrieben. Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht, würde ein Spötter sagen. Aber, wie gesagt, diese Phänomene wurden auch von vielen anderen beobachtet, bestaunt und kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen. Man muß sie also als Faktum betrachten oder konsequenterweise an überhaupt nichts mehr glauben. Eine andere gedankliche Möglichkeit wäre die, daß die Nürnberger allesamt einer Massensuggestion unterlegen gewesen wären - ein Vorflair der nachmaligen Reichsparteitage. Aber, um’s noch einmal zu sagen: Aus welchem Grunde wohl? Wo soll der Sinn und Zweck sein, das Motiv? Ach nein! Das ist alles Unsinn. Es war so, es wird so gewesen sein, wie es die Zeugen glaubhaft überliefert haben. Und wir wissen heute auch einleuchtend warum. Denn das Phänomenale an Kaspar war seine mediale Veranlagung. Kaspar war ein Medium par excellence, wie aus dem hypnotischem. Unterrichtsbuch geschnitten. Wir kommen noch ausführlich darauf zu sprechen. Die Doktoren Preu und Osterhausen meinten nun, mangels anderer Erfahrungen und Deutungsmöglichkeiten (und wo auch sollten sie die her haben bei der Einmaligkeit des Falles?), dies alles seien Beweise für Kaspars angeblich dunkle und zwölfjährige Kerkerhaft. Dr. Preu schreibt denn auch weiter: Einen doppelt bündigen Beweis für sein Nachtleben [hic!] gab früher die so lange an ihm bemerkbare Eigenschaft des tierischen Magnetismus und des Einwirkens der Metalle aus der Entfernung auf sein Gefühlsvermögen und so manches andere, von sorgsamen Beobachtern an ihm wahrgenommen, welches alles die Übergewalt des Tellurischen über das Siderische bekundete, aber bald sich vermindert und endlich ganz verlorenging, nachdem Hauser an Fleischkost war gewöhnt worden. Da nun gegenwärtig nichts mehr von dieser
Eigentümlichkeit an Hauser zu bemerken ist so dürfte sie auch nicht in die obige Schilderung aufgenommen werden ... Man muß sich noch heute wundern, warum Dr. Preu und auch sein Kollege Osterhausen bei dieser Erkenntnis sozusagen stehengeblieben. sind. Warum nicht einen Schritt weiter in dieser Richtung, weiter auf dem Pfad des "tierischen Magnetismus"? Die Zeit war’s, die Zeit, die solche Hypothesen nicht mehr zuließ. Mesmer und sein Mesmerismus waren zunächst einmal erledigt. Die "Aufklärer" hatten das Sagen. Wer sich nicht blamieren wollte, der schwieg darüber, tuschelte allenfalls über das Phänomen der Hypnose. Preu und Osterhausen hatten einen wissenschaftlichen Ruf zu verlieren. Es mußten erst viele Dezennien ins Land ziehen, bis Hypnose und andere Phänomene des angeblich Übersinnlichen wieder gesellschaftsfähig wurden. Zu Hausers Zeiten galt das alles als Hokuspokus, als Schnickschnack, den die aufbrechende neue Zeit glaubte, überwunden zu haben. Sie irrte sich, die neue Zeit, wie sich "neue Zeiten" überhaupt manchmal gründlich irren. Wer hätte zu Hausers Zeiten gedacht, daß 150 Jahre später die Hypnose im Dienste der Medizin steht, ja mitunter sogar der Kriminalistik! Wer von uns Zeitgenossen erinnert sich nicht des millionenschweren Richard Oetker, der im Dezember 1976 von Gangstern entführt worden war und schwerverletzt nach zwei Tagen gegen ein Lösegeld von 21 Millionen Mark freigelassen wurde. Wer erinnert sich nicht daran, daß just dieser 25jährige Oetker mit seinem Einverständnis von einem Hypnotiseur in Tiefschlaf versetzt wurde und in Gegenwart von Beamten des Sonderdezernats der Kripo über seine Erlebnisse bei der Entführung aussagte! Tiefschlaf aber, auch Somnambulismus genannt, ist der höchste erreichbare Grad der Hypnose, mit der wir uns noch genau beschäftigen werden, da sie im Falle Kaspar Hauser eine wesentliche Rolle spielt. Bei Hauser war nämlich die Hypnose, der "tierische Magnetismus", im Dienste eines politischen Kriminalfalles gestanden. Hören wir nun den Nürnberger Arzt Dr. Osterhausen, der den Kaspar ebenfalls ungezählte Male untersucht und behandelt hat. Dr. Osterhausen, ein in Ehren ergrauter Mediziner, war im Gegensatz zu
Dr. Preu kein Amtsarzt, sondern frei praktizierend und soweit ersichtlich auch kein Anhänger Hahnemanns. Wir wissen, daß auch er im Dezember 1830 ein Gutachten dem Nürnberger Kreis- und Stadtgericht auf Bitte des Ansbacher Appellationsgerichtes vorlegte. Hören wir daraus: Seine Nerven befanden sich in dem ersten Zeitraum seines Hiersein in dem Zustand einer krankhaften erhöhten Reizbarkeit und sind auch jetzt noch sehr reizbar und für jeden Eindruck leicht empfindlich. Ebenso waren auch die Sinnesorgane Hausers in einem ungewöhnlich hohen Grade reizbar und empfindlich. Was Hausers Gehör betraf, so sei dies anfänglich derart hochgradig empfindlich gewesen, daß ihm jeder laute Schall Schmerzen im Ohr verursachte, wie beispielsweise das Spiel auf einem Flügel; "ungeachtet er an der Musik ungemein viel Vergnügen fand, und er sich darin zu üben suchte, so konnte er es nicht aushalten". Wie wir auch aus anderen Quellen wissen, war Kaspar musikalisch und auch recht begabt was die Malerei und das Zeichnen betrifft. Schon Ritter von Feuerbach hatte das festgestellt: "Ganz für sich selbst fing er zu zeichnen an und machte darin bald ebenfalls bewundernswürdige Fortschritte." Und wer sich ein eigenes kritisches Urteil bilden möchte, dem sei der Gang ins Ansbacher Museum angeraten. Kustos Kilian mit Namen wird einem interessierten Besucher gerne die dort ausgestellten Originalzeichnungen und Aquarelle des Kaspar Hauser zeigen und erläutern. Dr. Osterhausen bestätigte dann die Sache mit der Regimentsmusik, die auf Kaspar so nachteilig eingewirkt hatte, daß er daraufhin zwei Tage lang krank wurde. Leider versäumte es der Medicus - übrigens auch Kollege Dr. Preu -‚ die näheren Symptome dieser zweitägigen Krankheit zu schildern. Dr. Osterhausen fährt aber fort: Auch noch gegenwärtig hat sich diese Empfindlichkeit nicht ganz verloren. Helle und schmetternde Klänge, z.b. das Klingen an einem Glas, der Schall einer Trompete verursachen ihm die unangenehm-
ste Empfindung. Es steigt ihm eine Röte ins Gesicht auf, und auf der Stirn bricht Schweiß aus. Es bleibt also nur die Vermutung, daß Hausers Krankheitssymptome bezüglich der Regimentsmusik von ähnlicher, vielleicht schlimmerer Beschaffenheit waren. Vielleicht können medizinische Fachleute daraus noch heute mit einiger Bestimmtheit eine Diagnose stellen. Das wäre natürlich hochinteressant und würde uns den Hauser-Fall, der in mancher Beziehung noch gewisser Klärungen harrt, auch von dieser Seile erhellen. Und was Kaspars Sehorgan in erster Zeit betrifft, so berichtet auch Gutachter Dr. Osterhausen darüber als von einem Phänomen. Es sei so scharf gewesen, daß er bei Nacht lesen und die entferntesten Gegenstände deutlich unterscheiden konnte. Als Beispiel fügte er an, daß Kaspar einmal bei stockfinsterer Nacht an einem Tuch die dunkelblaue Farbe von der dunkelgrünen richtig zu unterscheiden wußte. Nürnberg staunte und flüsterte und raunte. Und es hat nicht nur den Anschein, sondern es war so, daß die Crème de la Crème der Nürnberger Intellektuellen am Kaspar herumdokterte und experimentierte, und dies nach Herzenslust. Aber auch dieser Umstand konnte den Aussetzern nur recht sein. Durch all die Probierereien wurde nämlich von der kriminalistischen Seite des Falles kräftig abgelenkt, sicher unbewußt, und die Phänomene in den Vordergrund gerückt. Dies ist eine Tatsache. Eine Besserung in dieser Beziehung trat erst ein, nachdem auf Kaspar ein Attentat verübt worden war: am 17. Oktober 1829. Im Hause Daumers. Am hellichten Tag. An einen Samstag übrigens, wie auch das Attentat Nummer zwei im Ansbacher Hofgarten, das er nicht überleben, sollte. Es war dies möglich, weil sich die Unsitte eingebürgert hatte, alle möglichen Leute an Hauser heranzulassen. Wer einigermaßen von Bildungsgraden war oder so tat als ob, der durfte ihn besuchen, ihn aushorchen und mit ihm und an ihn, experimentieren. Eine Besucherliste, in die sich diese oft wildfremden Leute einzutragen gehabt hätten, hat es nie gegeben. Leider. Jedenfalls wurde es der Rotte recht leicht gemacht bei ihrem dunklem, lichtscheuen Spiel. "Um ihn zu prüfen", fährt Dr. Osterhausen fort,
"wurde ihm einmal ein gemalter Bilderbogen, jedoch ohne daß er es bemerken konnte, umgekehrt vorgelegt und ihm aufgegeben zu sagen, welche Bilder darauf seien." Dies natürlich bei Nacht und ohne jegliche Beleuchtung. Der gute Kaspar aber sagte den verblüfften Herren Gelehrten: Wie könne er, der Kaspar, dies sagen, da der Bogen ja umgekehrt liege. Die Herren sahen sich mit vielsagenden Blicken an, kann man nachempfinden. Ihre Kerkertheorie war noch mehr gefestigt geworden als zuvor. Denn natürlich hat Kaspar ihrer felsenfesten Überzeugung nach diese phänomenale Eigenschaft quasi als Andenken aus seinen Gruftjahren mit in die schnöde Oberwelt gebracht. Armer Kaspar! Du hattest viele Feinde, die dich zur Strecke brachten. Du hattest aber auch viele Narren unter deinen Freunden gehabt. Ganz allgemein konstatierte auch Osterhausen, daß dem Hauser Kaspar das Tageslicht wehe tat und er das helle Sonnenlicht nicht vertragen konnte. Häufig litt er deshalb an Augenentzündungen und mußte gar beständig einen Lichtschirm und beim Ausgehen eine Mütze mit Schirm tragen. Und in seinem Zimmer bei Daumer blieben die Vorhänge meist zu, denn im Dämmerigen fühlte sich der Aussetzling am wohlsten. Nach und nach aber habe sich, so Dr. Osterhausen, aber auch Dr. Preu, diese Art "Tagblindheit", diese Lichtscheue verloren. Nun, im Dezember 1830, könne er nicht mehr im Finsteren lesen oder Farben unterscheiden. "Seine Augen sind aber noch immer sehr empfindlich." Die meisten Beschwerden hatte unser Kaspar, Dr. Osterhausen zufolge, durch "die Feinheit und Schärft seines Geruchsorgans". Er wurde nämlich "von den feinsten, jedem anderen unbemerkbaren Gerüchen affiziert". Beispielsweise war ihm der Geruch von den Ausdünstungen der Blätter eines Nußbaums in einem Nachbargarten so widrig, daß der Kaspar davon starke Kopfschmerzen bekam. In die Nähe des Friedhofes gekommen, plagte ihn die Ausdünstung des Gottesackers bereits in einer Entfernung von 100 Schritten. Dem Kaspar wurde es übel, am ganzen Körper brach Schweiß aus, er fing zu zittern und zu zucken an. Dr. Osterhausen wörtlich: "... und er wurde davon krank." Gegenwärtig seien aber diese Sinne noch überaus fein,
jedoch bei weitem nicht mehr so, wie anfangs. "... er kann nun Gerüche jeder Art vertragen ..." Sein Geschmackssinn hat bekanntlich und nachweisbar die ersten Wochen nach der Ankunft auf dem Unschlittplatz nichts anderes denn Wasser und Brot vertragen. Alles andere war ihm ekelhaft. Auch diese abnorme Eigenschaft hat sich nach einiger Zeit verloren. Dr. Osterhausen schreibt: Sein Geschmackssinn hat aber noch dieses Besondere, daß er durch denselben sowie durch den Geruch bestimmen kann, was ihm schädlich ist. Denn genießt er etwas, was ihm widrig schmeckt oder riecht, so wird er sicher davon krank. Ein ganz besonderes Phänomen aber war Kaspars Tastsinn: Er konnte z. B. alle ihm bereits bekannten Metalle, wenn sie unter einem Bogen Papier verdeckt lagen und er in einiger, etwa 2 - 3 Zoll betreffenden Entfernung den Zeigefinger über den Bogen Papier hin und her bewegte, durch den Eindruck, den das Metall auf sein Gefühl machte, richtig unterscheiden. Das Gold, wie er sich auszudrücken pflegte, zog ihn am meisten an und verursachte ihm unangenehme Empfindungen. Wenn ihn jemand bei der Hand faßte, so erregte diese Berührung in seiner Hand fast von jeder Person ein eigenes, von den meisten aber ein widriges Gefühl. Seitdem er sich an Fleischspeisen gewöhnt hat, haben sich diese Eigenheiten gänzlich verloren. Er trägt jetzt, ohne einen besonderen Eindruck auf sein Gefühl zu verspüren, einen goldenen Ring am Finger, und der Händedruck eines anderen erregt ihm nicht mehr jene unangenehme Empfindung. In seinem ausführlichen Gutachten kommt gerade Dr. Osterhausen der Wahrheit am nächsten. Er tippte sie aber nur an, um sozusagen schleunigst wieder kehrt zu machen. Er stellt nämlich die Behauptung auf, die schnellen Fortschritte, die Kaspar in seiner geistigen Ausbildung zu machen schien, sowie die Phänomene an ihm "erkläre ich für einen krankhaften Zustand". Aber kaum hatte der erfahrene Arzt dies
geschrieben, fing er im nächsten Satz sogleich wieder an, die Verliestheorie zu zementieren. Weiter unten, nachdem er sich über die Kerkerei engagiert ausgelassen hatte, traf er dann direkt ins Schwarze. Er traf den Punkt, ohne ihn weiter zu verfolgen. Dr. Osterhausen brachte zu Papier: Sein krankhafter Zustand hatte mit dem des Somnambulismus die größte Ähnlichkeit, wie z. B. die erhöhte Empfindlichkeit seiner Sinnesorgane, besonders des Tastsinns, die besonderen oft widrigen Gefühle, die ihm die Ausdünstung und Berührungen der ihn besuchenden Personen verursachten und dergleichen mehr. Noch etwas soll an dieser Stelle um der historischen Wahrhaftigkeit nicht unerwähnt bleiben. Gemeint ist eine Anomalie, eine regelwidrige Bildung an Kaspars Knien. Sowohl Dr. Preu als auch Dr. Osterhausen berichteten darüber in ihren Attesten. Aber eigenartigerweise findet diese Regelwidrigkeit im späteren Sektionsprotokoll der Ansbacher Ärzte nicht die geringste Erwähnung. Das ist, wie gesagt, sonderbar und Bestandteil der vielen Hauser-Rätsel geworden. Entweder haben die beiden Nürnberger Doktoren, deren Befunde einander dekken, zu dick aufgetragen, nur um Hausers angebliche Verlieszeit vom dritten oder vierten Lebensjahre ab zu untermauern, nämlich die ewige Hockerei des Kaspars mit ausgestreckten Beinen, oder aber die Ansbacher Ärzte, die Hauser unter ihren Messern hatten, waren stellenweise blind. Die Wahrheit wird jedoch auch hier in der Mitte liegen. Will heißen, die Nürnberger Doktoren konnten sich eine solche Anomalie schließlich nicht aus den Fingern saugen. Kaspar wird sie also gehabt haben. Andererseits wollten sie, wie wir schon gesehen haben, ihre Verliestheorie erhärten und beweisen und schenken deshalb dieser Tatsache einen entsprechenden Raum in ihren Gutachten. Und die Ansbacher Ärzte werden halt ihr Augenmerk pflichtgemäß in erster Linie auf die Stichwunde und den Wundkanal gerichtet haben, als sie den armen Kaspar im Wohnzimmer seines letzten Kostgebers und Erziehers seziert haben. Auch Ärzte sind nur Menschen. Im Sektionsprotokoll steht übrigens auch kein Sterbenswörtchen von einem "warzigen Muttermal von 2 Linien im Durchschnitt und gelblich von
Farbe", wie dies die Nürnberger Medizinmänner übereinstimmend bemerkt und attestiert haben. Amtsarzt Dr. Preu gutachtet über Hausers Knie so: Beide Knie zeigen eine eigentümliche Bildung. Die Gelenkköpfe der Ober- und Unterschenkel treten stark nach hinten zurück und sinken dagegen vorn samt der Kniescheibe beträchtlich hinein; daher liegen, wenn Hauser sich auf die platte Erde setzt, die Füße in der Kniegelenkgegend so scharf auf, daß auch nicht ein Blättchen Papier durchgezogen werden kann, während bei anderen Menschen man füglich eine geballte Faust durchbringt. Der gute Mann folgert daraus: Er hat viel und lange Zeit in der nämlichen Richtung des Körpers auf flachem Boden gesessen. Na also, da haben wir es wieder! Was immer imstande war, die Verliestheorie zu stützen, wurde in den Gutachten sorgfältig herausgearbeitet. Man hatte sich in diese Idee, in diese Hypothese völlig hineingefressen, verrannt. Doch es kommt noch direkter bei Dr. Preu und auch bei seinem Kollegen Osterhausen. Hören wir Dr. Preus Fazit, seine "allgemeine Schlußfolge", wie er sich ausdrückte: ... daß Hauser wirklich von seiner frühesten Kindheit an aus der menschlichen Gesellschaft entfernt und an einem Orte, zu welchem das Tageslicht nicht zu dringen vermochte, verborgen aufgezogen worden und in diesem Zustande bis an jenen Zeitpunkt hin verblieben ist, wo er mit einem Mal, wie aus den Wolken gefallen, unter uns erschien. Und somit wäre anatomisch-physiologisch erwiesen, daß Kaspar Hauser nicht als ein Betrüger zu uns gekommen ist. Amen! könnt’s einem fast entschlüpfen. Weniger salopp ausgedrückt: Eine etwas verwegene Schlußfolgerung, wobei er mit dem letzten Satz vollinhaltlich recht hat. Jedoch die Sache mit dem Kerkertum, mit dem Gruftaufenthalt ist Unsinn. Und dies von einem Arzt mit naturwissenschaftlicher Ausbildung, der doch eigentlich wissen. müßte, daß kein Mensch auf der ganzen Welt imstande wäre, eine so lange Dunkelhaftzeit bei Wasser und Brot lebend durchzustehen. Herr
Stadtgerichtsphysikus Dr. Preu scheint mitsamt seinem freipraktizierenden Kollegen Dr. Osterhausen noch nie etwas von Skorbut oder Avitaminose gehört zu haben. Das ist hart, aber wahr. Klar, daß Hauser-Fans dieser Art die Anti-Hauser in Scharen angelockt und ihnen Angriffsflächen in Hülle und Fülle geboten haben. Der Kaspar aber stand in seiner erbarmungswürdigen Unbeholfenheit mittendrin zwischen Pro und Contra. Doch noch etwas, was in der umfangreichen Hauser-Literatur, soweit erinnerlich, mehr oder weniger am Rande vermerkt wurde. Bei Dr. Preu heißt es: Außerdem befinden sich an beiden Knien, und zwar überall auswärts, Narben von früheren unbedeutenden Verletzungen vor. Am rechten Knie scheint die Narbe halb verwischt und von rundlicher Gestalt; am linken sind zwei, jede von der Größe eines Kreuzers, deutlich markiert durch die hellere Farbe als die der übrigen Haut, und zwar wie gewöhnlich nach einer Verbrennung sich Narben bilden. Leider wird in diesem Gutachten mit keiner Silbe darauf eingegangen, wie alt diese von einer Verbrennung herrührenden Narben gewesen sein könnten. Das ist, aus kriminalistischer Sicht betrachtet, schade, wenn nicht gar unverzeihlich. Wenn bedacht wird, wie überaus sorgfältig die beiden Nürnberger Doktoren dort waren, wo es ihrer Überzeugung nach darum ging, ihres Bürgermeisters "Bekanntmachung" und damit die Kerkertheorie zu beweisen - wenn dies bedacht wird, dann muß man sich noch heute wundern, warum sie an jenen Stellen, die vielleicht etwas Licht in das Dunkel gebracht hätten, so jämmerlich unbekümmert waren. Angenommen, Dr. Preu hätte attestieren können, Kaspar habe sich die Brandverletzungen vor drei oder vier Jahren zugezogen, dann wäre die zwölfjährige Verliestheorie zumindest stark angeschlagen gewesen. Denn in Kaspars Kerker, so seine eigenen Aussagen, gab es kein Feuer und kein Licht, womit er sich hätte verbrennen können.
Doch noch einmal ein kurzer Abstecher ins Reich der Phänomene, deren es bei Kaspar nicht eben wenige gab und von denen auch Gottlieb Freiherr von Tucher, 1830 gerade 32 Jahre alt gewesen und Ratsakzessist beim Nürnberger Kreis- und Stadtgericht, berichtet hat. In seinem Verhör vom 5. Dezember 1830 bestätigte der Jurist die Beobachtungen des Dr. Preu. Ausführlich berichtete von Tucher über Kaspars erstaunliche Phänomene. Vernehmen wir abschließend zu diesen Thema einen Auszug aus seinem Vernehmungsprotokoll: In Beziehung auf den Geruch muß ich noch nachtragen, daß er [Kaspar] durch das Öffnen einer Champagnerbouteille in seiner Gegenwart, und in einer Entfernung von 4 bis 5 Schritten nach ca. 5 Minuten wie betrunken und taumelnd aus dem Zimmer geführt werden mußte. Das sei im Februar 1829 gewesen, also fast zwei Jahre vor oben erwähnter Vernehmung des Barons von Tucher, dem Sproß einer alten Nürnberger Patrizierfamilie. von Tucher führte in diesem Protokoll, quasi als Zeugen eines Teiles der beobachteten, der festgestellten Phänomene, den Nürnberger Professor Herrmann an, einen Kollegen des Gymnasialprofessors Daumer, unseres Findlings Pflegevater und Erzieher. Wer aber nun glaubt, diese Merkwürdigkeit seien eine Einmaligkeit und nur beim Kaspar Hauser anzutreffen gewesen, der irrt gewaltig. Sicher, es gibt nur relativ wenige Menschen mit dieser Veranlagung, aber Hauser hat sie nicht alleine gehabt. Kaspar hat, wie wir noch sehen werden, diese Phänomene gemeinsam mit vielen anderen Sensitiven, Somnambulen oder einfach auch Medien genannt. Es handelt sich bei so ausgeprägten, so hochgradig Sensitiven um Menschen, die diese Anlage vererbt bekamen, sie also nicht erworben haben. Selbst im Hypnotismus sind Medien dieser hochempfindlichen Art eine Seltenheit. Und Kaspar war so ein Medium, ein überaus medial veranlagter Mensch. Auch seine Mutter, die Großherzogin Stephanie, und eine seiner drei Schwestern waren somnambul. Marie, so ist’s überliefert, war einmal bei einer Seánce zugegen, als Zuschauerin, als Beobachte-
rin. Und siehe da, als der Hypnotiseur, damals Magnetiseur genannt, sein mitgebrachtes Medium begann in Tiefschlaf zu versetzen, da schlief die Prinzessin, Kaspars Schwester, gleich mit ein, obgleich sie der Hypnotiseur gar nicht im Auge hatte. So sensitiv war die junge Dame. Vielleicht darf an dieser Stelle, wo es um ererbte Veranlagung geht, erwähnt werden, daß Hauser die Begabung zum Zeichnen und Malen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von seiner Mutter vererbt bekommen hat. Großherzogin Stephanie malte ebenfalls sehr gerne und gut. Im Mannheimer Schloß soll noch vor wenigen Dezennien eines ihrer Aquarelle gehangen haben. In den Bereich des Hypnotismus und der Hellseherei gehört eine weitere Merkwürdigkeit: Kaspars Träume und Gesichte. Der Kriminalist und Rechtsgelehrte Anselm von Feuerbach maß ihnen eine hohe Bedeutung zu. Und nicht nur er. In der Tat dürfte es sich um eine partielle Durchbrechung einer hypnotischen Sperre gehandelt haben. Nicht unbedeutend ist dabei, daß Hauser den gleichen Traum zweimal gehabt hat: am 15. August 1828 und in der Nacht vom 30. auf den 31. August des gleichen Jahres, also zwei Wochen darauf. Freiherr von Tucher wurde darüber am 29. Januar 1831 eidlich vernommen. Für so wichtig erachtete also auch das Gericht Kaspars Träumerei. Und das war gut so. Bevor wir aber das Protokoll im Wortlaut vernehmen kurz, und um eines tieferen Einblickes willen, die Vorgeschichte. Demnach berichtete von Tucher in einem Brief an von Feuerbach, datiert vom 6. Dezember 1828, von Hausers Traum, den dieser in der Nacht zum 31. August des gleichen Jahres hatte. Diesen Traum aber hatte Hauser seinem Pflegevater Daumer erzählt, als dieser am 14. September 1828 mit seinem Zögling die Nürnberger Burg besichtigte. Ziel des Ausflugs auf die Burg war die dortige Gemäldegalerie gewesen. Diese wollte Daumer dem Kaspar zeigen. Just bei dieser Gelegenheit brach bei Hauser ein Stückchen Unterbewußtsein ins Oberbewußtsein durch. Oder mit anderen Worte: Beim Anblick einer bestimmten renaissancenen Flügeltür kam ihm die Erinnerung an den Traum. Ver-
nehmen wir nun Baron von Tuchers eidliche Einvernahme, die etwas über zwei Jahre nach dem Burgbesuch stattgefunden hat: ... wurde heute der Vormund des Kaspar Hauser, Freiherr v. Tucher (evangelisch, 32 Jahre alt, in Nürnberg geboren und wohnhaft, Ratsakzessist beim Kreis- und Stadtgericht) seines bereits geleisteten Eides erinnert und sodann anderweit vernommen wie folgt: Frage: Gesprächsweise ward in Erfahrung gebracht, daß Kaspar Hauser mit solcher Lebhaftigkeit von einem Schlosse, in welchem er sich aufgehalten, geträumt habe, daß, als er zum ersten Male auf das hiesige Schloß, die sogenannte Veste, gekommen, er in dieser Ähnlichkeit mit dem im Traum gesehenen Schlosse bemerkt habe. Antwort: Kaspar Hauser erzählte mir von einem Traume, den er in der Nacht vorn 30. auf 31. August 1828, also 3 Monate nach seiner Ankunft dahier, gehabt habe. Ich habe mir dessen Erzählung sogleich aufgeschrieben und kann sie nun ganz genau wiedergeben. Die Erinnerung an diesen Traum kam ihm erst dann ganz deutlich, als er am 14. September 1828 auf das hiesige Schloß zum ersten Male gekommen war. Vorher erinnere ich mich wohl ihn davon reden gehört zu haben, ich weiß aber nicht, wie es kam, daß man seiner Erzählung nicht sogleich die vollste Aufmerksamkeit schenkte, da man doch nichts, auch nicht das Geringfügigste, unbemerkt ließ. Am 14. September 128 also kam er zum ersten Male auf die hiesige Burg. Sogleich beim unteren Eingang zu dieser, ehe man zur Haupttreppe gelangt, sieht man die Flügeltüren eines Zimmers, bei deren Anblick Hauser sich plötzlich betroffen fühlte. Er hatte nach seiner bestimmten und wiederholten Versicherung eine solche Zimmertüre in Nürnberg niemals gesehen gehabt, dieser Art aber waren die Türen des "Großhauses", in welchem er sich in der Nacht zwischen dem 30. und 31. August träumend zu befinden geglaubt. Er blieb lange Zeit vor dieser Tür sinnend stehen; er sah sich um, ob er hier noch eine andere Ähnlichkeit mit dem im Traume Gesehenen finden könne. Als er die Treppe hinaufstieg, sagte er, so eine Treppe sei er
hinaufgegangen, aber mit schöneren Stufen. Oben in der Galerie angelangt, stand er wieder, ohne die Bilder zu besehen, sinnend unter konvulsischen Bewegungen, wie sie immer bei tiefem Nachsinnen vorkommen. Seine Erinnerung an den Traum wurde lebhafter und bestimmter; er erinnerte sich, sagte er, eines großen Platzes, in dessen Mitte ein Röhrbrunnen gewesen, rund um diesen Platz seien die Zimmer des Hauses herumgebaut gewesen; wenn man die Tür aufgemacht, habe man durch mehrere Zimmer hindurch sehen können, auch habe man durch sie ganz in der Runde herumgehen können. Altdeutsche Ritter- und Fürstenbilder in der Galerie erinnerten ihn an eine Statue, die an der Treppe mit dem Schwert in der Hand gestanden. Der Knopf dieses Schwertes sei ein Löwenkopf gewesen; er sagte mit großer Bewegung, es sei ihm, als habe er einmal so ein Haus gehabt (ausdrücklich so!), und er wisse nicht, was er davon denken soll. Späterhin gab er noch folgendes an: An den äußeren Wänden dieses Gebäudes waren Säulen mit Steinbildern. Der Brunnen war wie der im Hofe des Nürnberger Rathauses, aber größer und mit stärkerer Wasserströmung. Vom Schloßhofe (denn dies scheint jener Platz zu sein) führten keine Treppen zu den Türen des Gebäudes. Die Zahl der Türen oder Tore, durch welche man in das Gebäude kam, weiß er nicht genau anzugeben; es mögen, sagte er, 4 oder 5 gewesen sein, zum Teil groß und offen, alle oben rund. Inwendig im Gebäude ging eine große breite Treppe hinauf, vier- oder fünfmal gebrochen (man ging einmal so, zeigte er, immer unter rechtem Winkel sich wendend). Unten neben der Treppe stand eine weiße, steinerne Bildsäule mit Schnurr- und Knebelbart und Halskragen, in der Hand ein bloßes, gegen die Erde gestütztes Schwert. Zwei Reihen von Zimmern befanden sich im Innern des Gebäudes, die eine Reihe war unten, zu der anderen mußte man die Treppen hinaufsteigen. Unten konnte man ganz herumgehen, so daß man durch die Tore auf den Brunnen hinaussehen konnte. Zu der untern Reihe der Zimmer führten Flügeltüren, dergleichen eine Hauser auf
der hiesigen Burg gesehen. Auch oben waren die Türen von dieser Art. In jedem Zimmer der oberen Reihe waren zwölf Sessel, drei Kommoden, zwei Tische, einer in der Mitte und einer an der Wand; nur im Bibliothekszimmer waren keine Kommoden. Die Tische waren nicht alle gleich, wohl aber die Kommoden und die Sessel. Eines der Zimmer war das größte, es war das erste, in welches man eintrat. Das daneben befindliche war noch schöner. In allen Zimmern waren große Spiegel mit goldenen Rahmen, auch kleinere mit solchen Rahmen; in vieren der Zimmer, dem Silber- und Bibliothekszimmer und in den beiden vorhin genannten, hing von der Decke ein Lüster. Im größten Zimmer war der Tisch länglich rund, Kommoden und Sessel waren von einer Art, die er vorher noch nie gesehen hatte. Die Kommoden hatten in der Mitte der vorderen Seite eine hervortretende Rundung (nach altfranzösischer Mode,), jede Schublade hatte zwei Löwenköpfe, an welchen man sie herauszog, in der Mitte waren Schlüssellöcher. Viele Bilder hingen an den Zimmerwänden. Im Bibliothekszimmer waren zwei Spiegel und ein großer Tisch. In einem der Zimmer waren silberne Schüsseln, Teller, Gabeln und Messer, auch Kaffeetassen, jede dieser Gerätschaften besonders, und alles hinter Glastüren. Unter den Glasschränken waren hölzerne Schränke mit Flügeltüren, in welchen die meisten und schönsten Tassen standen. In dem großen Zimmer lag Hauser in einem Bette, da trat eine Frau zur Tür herein, mit gelbem Hute und weißen dicken Federn darauf. Hinter ihr trat ein Mann herein, in schwarzen Kleidern (der Rock war ein Frack,), einen länglichen Hut auf dem Kopfe, einen Degen an der Seite und auf der Brust ein Kreuz an einem blauen Bande. Die Frau trat an Hausers Bett und blieb stehen, der Mann blieb ein wenig hinter der Frau zurück. Hauser fragte die Frau, was sie wolle; sie antwortete nichts; er wiederholte die Frage; sie gab wieder keine Antwort. Sie hielt ein weißes Sacktuch in der Hand gegen ihn hin,
was er erst bei der zweiten Frage bemerkte. Hierauf ging der Mann und hinter ihm die Frau zur Türe hinaus. Soweit dessen Erzählung von diesem Traume. Ich will bei dieser Gelegenheit eines anderen Traumes, welchen er vom 10. auf 11. November 1828 hatte, erwähnen. Es träumte ihm nämlich, seine Mutter käme vor sein Bett, begieße sein Gesicht mit heißen Tränen und nannte ihn Gottfried, welchen Namen er niemals gehört zu haben wiederholt und auf das Bestimmteste versicherte. Er erkannte diese Frau, ohne daß sie sich besonders zu erkennen gab, als seine Mutter. Es war das aber eine andere Person, als die im ersten Traum erschienene. Ich habe den ersten Traum besonders um deswillen mit einer ganzen Ausführlichkeit hierher erzählt, um damit zugleich auch die Vermutung zu begründen, daß diesem Traume wohl mehr zu Grunde liege als einem gewöhnlichen Traumbilde. Es unterscheidet sich dieser Traum von vielen anderen, die er außerdem hatte, durch die Bestimmtheit, Klarheit der Züge und deren großes Detail. Auch sind es fast lauter Erscheinungen, von deren wirklicher Existenz er kaum noch damals etwas gewußt hat noch gewußt haben konnte. Ich kann also meine Überzeugung aussprechen, daß diesem Traume alte, seinem wachenden Bewußtsein entschwundene, in seiner Seel nur schlummernde Erinnerungen zu Grunde liegen mögen; es ist hierbei der Zug, daß er sich in diesem Schlosse als in seinem Eigentum gewußt habe, nicht der unbedeutendste. Was nun Kaspars Träume in der ersten Zeit seines Nürnberger Daseins ganz allgemein betrifft, so darf festgehalten werden, daß er Wachsein und Traum nicht voneinander unterscheiden konnte. Professor Daumer, der seinen Zögling in der Religion, der deutschen und lateinischen Sprache sowie in Geographie, Naturgeschichte und "gemeinnützigen Gegenständen" unterrichtete, hatte seine liebe Not, dem Kaspar das für ihn Unbegreifliche verständlich zu machen. Einmal träumte dem Kaspar, des Bürgermeisters Gattin, Johanna Binder, sei nächtens an seinem Bett gesessen oder gestanden. Er wollte und woll-
te es dem Professor Daumer nicht glauben, daß dies ein Traum und somit Schaum gewesen sei. Und auch die Frau Bürgermeisterin mußte ihm eloquent schildern, daß sie nicht bei ihm am Bett war. Erst nach und nach begriff der Findling vom Unschlittplatz, daß im Traume andere Kräfte walten. Aber soweit sind wir noch nicht. Wie nun schon weiter oben angedeutet, hat Hauser den gleichen Traum schon zwei Wochen vorher einmal geträumt. Und auch das ist nicht alltäglich, entspricht gleichsam nicht den Traumregeln. Es wird wohl so gewesen sein, daß das Schloßerlebnis, das er wahrscheinlich im Alter von acht Jahren hatte, also um 1820, für ihn ein faszinierendes Erlebnis war. Der Traum dürfte den ersten Tag in diesem Schloß wiedergeben. Wie er aber dazu kam, sich in diesem "Großhaus", wie er’s nannte, als Eigentümer zu fühlen, bleibt nur eine Vermutung. Anzunehmen bleibt, daß man ihm bei der Ankunft sagte: So, das ist nun dein Zuhause; hier bist du daheim. Professor Daumer hat nun Kaspar angeregt, den ersten Traum vom 15. August selbst niederzuschreiben, was der folgsame Kaspar denn auch tat. Ritter von Feuerbach hat später Hausers Traumerlebnis in seinem streng geheimen Mémoire an die bayerische Königin Karoline zitiert. Das Medium Kaspar Hauser, das seinen Nürnberger Weg unter Hypnose angetreten hat und vordem sicher schon lesen und schreiben konnte, war mittlerweile in der Wiedererlernung der Sprache, des Lesens und des Schreibens soweit gediehen, daß er seinen Traum auch tatsächlich selbst aufschreiben konnte. Bei dieser Gelegenheit: Kaspar bekam vielfältigen Privatunterricht. So Unterricht im Rechnen und in der Musik bei Oberlehrer Emmerling, einem hochangesehenen Nürnberger Volksschullehrer, während der Lehrer, Zeichner und Kupferstecher an der polytechnischen Schule, ein gewisser Kirchner, unseren Kaspar im Malen und Zeichnen ausbildete. Alle diese Lehrer lobten des Findlings Eifer, Fleiß und Ausdauer sowie dessen Fortschritte, die stellenweise galoppartig vor sich gingen. Dies dürfte erklärlich sein dadurch, daß er in den Jahren vor seinem Antritt in Nürnberg schon Unterricht genossen hat, er also gewisse Fähigkeiten bereits besaß, einschließlich Latein- und Klavierstunden.
Wie noch zu beweisen sein wird, hat der Kaspar vor seinem Aussetzen den hypnotischen Befehl erhalten, alle diese Fähigkeiten zu vergessen, so als habe er sie nie gehabt. Im Unterbewußten schlummerten diese Kenntnisse natürlich weiter, da keine Hypnose der Welt imstande ist, Geschehenes gleichsam ungeschehen zu machen. Wer dies glaubt, überschätzt den Hypnotismus. Allerdings soll man ihn auch nicht unterschätzen. Wer glaubt, Hypnotismus sei Krampf, Einbildung, Kirmesrummel, der müßte sich auch weigern, an die Atombombe zu glauben. Die Hypnose kann also Kenntnisse nicht austilgen, sondern quasi nur in den tiefsten Bereich des Unterbewußtseins verdrängen, aber von dort auch wieder hervorholen. Wird die Sprache oder das Lesen und das Schreiben wieder erlernt, so können sich diese unterbewußten Kräfte durch überaus schnelles Auffassen bemerkbar machen. Jedenfalls dürfte es bei Kaspar so gewesen sein. Denn als er jenen Wissensstand von einst wieder erreicht hat, da wurde aus dem "Wunderkind Kaspar" ein ganz mittelmäßiger Schüler, wie wir noch sehen werden. Doch nun im Wortlaut Kaspars von ihm selbst niedergeschriebener Traum: Am 15. August 1828 hatte ich nachstehenden Traum. Es kam mir vor, als wäre ich in einem sehr großen, großen Hause. Da schlief ich in einem sehr kleinen Bette. Als ich aufstand, kleidete mich ein Frauenzimmer an. Nachdem ich angekleidet war, führte sie mich in ein anderes großes Zimmer, in welchem ich eine sehr schöne Kommode, Sessel und ein Sofa sah. Von da führte sie mich in ein anderes großes Zimmer, worin Kaffeetassen, Schüsseln und Teller waren, die wie Silber aussahen. Von diesem Zimmer aus führte sie mich einen langen Gang vor und über eine Treppe hinab. Nachdem wir diese Treppe hinuntergegangen waren, gingen wir im Innern des Gebäudes einen Gang herum, an dessen Wand Portraits hingen. Aus den Bogen dieses Ganges konnte man in den Hof hinaussehen. Ehe wir den Gang ganz umgangen hatten, führte sie mich zu einem mitten im Hof befindlichen Springbrunnen hin, an welchem ich eine sehr große Freude hatte. Von da führte sie mich wieder zu demselben Bogen, durch welchen wir zu dem Springbrunnen herausgegan-
gen waren, hin, und danach kehrten wir auf dem Bogengang denselben Weg wieder zurück bis zur Treppe. Als wir zur Treppe kamen, sah ich ein Bildnis stehen, welches in Ritterkleidung ausgeschnitten oder ausgehauen war. Das Bildnis hatte auch ein Schwert in der linken Hand. Oben am Handgriff war ein Löwenkopf angebracht. Dieser Ritter stand auf einer viereckigen Säule, welche mit der Treppe verbunden und angemacht ist. Nachdem ich den Ritter eine Zeitlang angesehen hatte, führte mich das Frauenzimmer die Treppe hinauf, den langen Gang vor und wollte mit mir zu einer Türe hineingehen. Diese Tür war aber verschlossen. Sie klopfte an, allein man machte nicht auf. Darauf ging sie mit mir schnell zu einer anderen Tür, und während sie dieselbe öffnete, erwachte ich. Das "Frauenzimmer" dürfte Kaspars Gouvernante gewesen sein, die dem Ankömmling das Schloß gezeigt hat. Vielleicht war sie es, die bei dieser Gelegenheit gesagt hat, das sei nun sein Zuhause, das gehöre ihm. Wir glauben sogar, die Gouvernante zu kennen, die da dem kleinen Gottfried oder Kaspar den Springbrunnen zeigte. Wir werden uns mit dieser Dame später noch beschäftigen. Sicher dürfte jedenfalls sein, daß Kaspar nicht immer Kaspar hieß, sondern in seiner Zeit vor Nürnberg und der Hypnose unter einem anderen, wahrscheinlich sogar mehreren Namen, die von Aufenthaltsort zu Aufenthaltsort wechselten, gelebt hat. Als Kaspar hat er sich übrigens nie so richtig gefühlt. Es war keine so rechte Identifikation mit seinem Namen ab Nürnberg da. Wiederholt klagte Kaspar, es sei ihm immer, als müßte er sich auf einen ganz bestimmten Namen besinnen - leider vergebens. Und wenn er sich eines Tages darauf besann, dann hat er darüber geschwiegen und sein Geheimnis mit ins Grab genommen. In der Tat dürfte er so einiges mit ins Grab genommen haben. Denn mit einigen posthypnotischen Befehlen werden ihm auch Verheißungen und Drohungen mit auf den Weg gegeben worden sein. Und nicht nur der Geleitbrief nebst Mägdleinswisch. Feuerbach, der scharfe Denker, schien da einiges spitz bekommen zu haben. Der Gräfin Elise von der Reck schrieb er:
Außerdem aber habe ich Ursache zu glauben, daß der Barbar, in dessen Gewalt Hauser gewesen, ihm durch fürchterliche Drohungen über gewisse Punkte eine Lektion eingeprägt hat ... Dieser Präsident Feuerbach war sich auch im klaren darüber, daß es sich hier um keine gewöhnlichen Träumereien handelte, sondern um ein Stück Erinnerung, das da an den Tag kam. Kaspar Hauser war, als er dies alles träumte, an die drei Monate in Nürnberg. Nachweislich hatte er vordem noch nie in dieser Stadt die Gelegenheit gehabt, irgendein Schloß oder eine Burg zu besichtigen, schon gar nicht von innen. Der erste Besuch der Nürnberger Burg war mit seinem Erzieher Daumer am 14. September 1828. Die Klarheit von Kaspars Traumschilderung verblüfft ebenso wie die Details. Was da aus den tiefsten Winkeln seines Unterbewußtseins kurz aufleuchtete, muß Hauser schon einmal gesehen, muß er schon einmal erlebt haben. Von nichts kommt nichts. Alle unsere Träume sind doch nichts anderes als Reproduktion und Verarbeitungen von Erlebnissen oder Eindrücken, die wir schon einmal hatten und die im Unterbewußtsein gleichsam abgelagert, gehortet sind. Gerichtspräsident Anselm von Feuerbach meinte in seinem Mémoire denn auch, "daß ein Baukünstler einen Riß danach entwerfen könnte". Aber es wurde nie so ein Riß gemacht, der, vervielfältigt der Öffentlichkeit übergeben, sehr wohl Erfolg gehabt haben könnte. Das heißt: noch zu Hausers Lebzeiten wäre mit Sicherheit das Schloß gefunden worden. Dieses "Traumschloß" aber wäre ohne jeden Zweifel eine heiße Spur gewesen. Eine sehr heiße sogar. Aber nichts geschah, da vor den Schloßtoren der Arm bürgerlicher Gerechtigkeit machtlos war. Wie leicht hätte sich an diesem einen Schloß und an Kaspar Hauser der Brand aller Schlösser und Throne entzünden können. Die Revolutionswirren von 1848 warfen ihre Schatten voraus. In Deutschland gärte es. Revolutionen werden ja schließlich nicht gemacht, sondern sie reifen heran. Putsche - ja, die werden gemacht. Nie und nimmer aber Revolutionen. Das alles wußten natürlich auch die Mächtigen von damals. Auch wenn sie ansonsten miteinander spinnefeind waren in ihren ewigen Streitereien um
noch mehr Land und Geld und Macht: wenn es um den Bestand des monarchischen Gedankens an sich ging, um die dynastische Gesellschaftsform, dann waltete die politische Vernunft, manchmal auch als Staatsraison bezeichnet. Mochten Baden und Bayern wegen der Pfalz noch so sehr wie Hund und Katz aufeinander sein: wegen eines Kaspar Hauser, und wenn er tausendmal der Erbprinz des badischen Großherzogtums war - an diesem Feuer durfte sich keine Revolution entzünden. Der Schreck der Großen Französischen Revolution steckte noch allen in den Kniekehlen. Wenn’s um’s Ganze ging oder bloß gehen könnte, dann, haben eben alle Schranken zu verschwinden. Das war so und ist so. Auch in der Republik. Das alles muß bedacht werden, um den Hauser-Fall zu erfassen. Fest dürfte jedenfalls stehen, daß das "Traumschloß" existent war und es wahrscheinlich auch noch ist. Es gibt übrigens Hauser-Forscher, die es mit einiger Sicherheit im Fränkischen vermuten. Sie werden nicht ganz unrecht haben. Und sicher wird es beim Lesen dieser Zeilen einige Leute geben, die nachdenklich dreinschauen, wenn die Sprache auf dieses Schloß kommt. Für Hauser selbst aber mußten Erinnerungen dieser Art, die, fortgesetzt, ein Erinnerungsmosaik bilden könnten, überaus gefährlich sein. Freilich war es nicht so, daß die Protokolle veröffentlicht wurden. Das war natürlich nicht möglich. Aber Dinge, die einer amtlichen Schweigepflicht unterliegen und von solchem Interesse sind, daß ganz Europa davon sprach und schrieb, ja selbst Gazetten im damals noch unendlich fernen Amerika - Dinge diese Art sickern durch und machen die Runde. Und natürlich vernahmen es auch jene Leute, die berechtigt Angst haben mußten, Kaspar könnte eines schönen Tages soweit sein, sich an noch weit mehr Dinge zum erinnern. Ob allerdings Gedanken dieser Art den Nürnberger Biedermännern gekommen sind, ist zu bezweifeln. Jedenfalls kamen sie nicht vor jenem Samstag, 17. Oktober 1829, als Kaspar mit einem Rasiermesser oder ähnlichem Instrumentarium, wie es heute noch Unter- und Halbwelttypen benutzen, von einem unbekannt gebliebenen Attentäter verletzt wurde.
Verweilen wir noch etwas bei den "Träumereien" des Casparus Hauser, deren ganze Art typisch ist für Mediale, wie wir noch eingehend sehen werden. In diesen Bereich gehören ohne Zweifel auch die sogenannten Wappenzeichnungen unseres Helden. Professor Daumer war es, der durch Hausers Traumerzählungen auf die Idee kam, seinen Schützling zu fragen, ob er sich denn keines Wappens erinnere. Nach des Professors Dafürhalten hat ein rechtes Schloß gefälligst auch ein Wappen zu führen, das an irgendeiner bevorzugten Stelle zu sehen ist. Kaspar guckte daraufhin wenig geistreich im Zimmer herum. Er konnte damit nichts anfangen, hat das Wort "Wappen" nie gehört. Jetzt lag es an Daumer, zu begreifen. Umständlich erläuterte er seinem Scholaren, was darunter zu verstehen sei. In Kaspar aber begann es zu arbeiten. Wie immer bei solchen und ähnlichen Anlässen, fing er an, starr vor sich hinzusehen. Dabei zuckte seine linke Gesichtshälfte und schließlich auch die linken Gliedmaßen. Der Blick ging mehr und mehr ins Weite. Er war in so einer Situation. nicht mehr ansprechbar. So wird es wiederholt von den Erstzeugen geschildert. Auch von Präsident und Staatsrat von Feuerbach. Eigenartig, daß nie einer daraufkam, Kaspar könnte sich in solchen Momenten in einem tranceartigen Zustand befunden haben. Und das dürfte in der Tat so gewesen sein. Auch diese Anomalie hat Kaspar mit hypersensitiven Medien gemeinsam. Es handelt sich also aller Wahrscheinlichkeit nach nicht um die bloße Gabe eines phantastischen Erinnerungsvermögens, sondern um eine überaus mediale Veranlagung, die ein in der hintersten Gehirnecke lagerndes Stückchen Unterbewußtsein an die Oberfläche zu bringen in der Lage ist. So war es also damals im Wohnzimmer des Professors Daumer. Kaspar nach einer Weile: Es sei "inwendig über der Türe in der Mauer ein Bild zu sehen gewesen ..." Und dann fing Kaspar an zu zeichnen. Ja, er kritzelte tatsächlich auf dem Papier. Und was er dabei herausbrachte war, so Daumer, "gleichwohl nichts anderes als ein nur mangelhaft dargestelltes Wappen". Es befand sich in dieser Wappenkritzelei ein Quadrat und in diesem ein auf den Hinterläufen stehendes Tier von nicht definierbarer Gattung. Kaspar machte zusätzlich noch drei mit ihren Spitzen zusammenlaufende Dreiecke hinein.
Dann war unser Kaspar zunächst einmal mit seinem Wappenlatein am Ende. Daumer, der unermüdliche Experimentator, gab nicht nach. Flugs zeigte er seinem Zögling das Bild eines Wappens "mit zwei Löwen, die zwei Schwerter kreuzweise gegen einander hielten". Kaspar betrachtete das Wappenbild einige Zeit und meinte schließlich, "ja so kämen die Spitzen wohl heraus, die ihm im Sinne lägen ..." Aber oben auf dem Wappen, fügte Kaspar sinnend hinzu, da oben sei noch etwas gewesen, das er aber nicht näher bezeichnen könne. Und dann kritzelte Hauser etwas, das Ähnlichkeit hat mit einer Krone. Des Experimentators Pulsschlag ging schneller, seine Augen glühten, kann man sich vorstellen. Und Kaspar, o Wunder, setzte in das vage Kronengebilde auch noch ein Zepter hinein, ohne zu wissen, was er überhaupt zeichnete, was das für Gegenstände sind und was sie für eine Bedeutung haben. Nach und nach brachte der Findling auf diese Weise, ähnlich wie heutzutage ein sogenanntes Phantombild der Kripo entsteht, eine zweite Zeichnung zustande. Der gute Professor, bewegt und entflammt: Hauser habe bei diesem Experiment dann noch angegeben, das Wappen sei durch eine in der Mauer herablaufende Vertiefung in zwei Hälften geteilt, und in dieser Vertiefung seien Querstreifen gewesen; senkrecht herab sei das Szepter gegangen, wofür er aber das Wort nicht wußte. Auf die eine Seite setzte er das aufrechtstehende Tier, auf die andere ein Quadrat mit drei Querstreifen; auf dieser Seite, sagte er, sei noch mehr gewesen, was ihm aber nicht mehr deutlich sei ... Ganz klappte der Wappentest also nicht. Aber Daumer zweifelte nicht im geringsten, "daß auch hier eine echte Erinnerung zu Grunde liege". Daumer wie Hauser, Lehrer wie Schüler täuschten sich aber, wenn sie glaubten, was ja der Fall war, dieses Wappen habe sich im "Traumschloß" befunden. Professor Daumer war schon, über einem halben Jahrhundert unter der Erde, als ein anderer Nürnberger Professor, Dr. Klee, das von Hauser gezeichnete Wappen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit identifizierte. Klee ging nämlich jeder
Spur nach, deren es im Hauser-Fall eine Menge gab und gibt. So forschte der nimmermüde Hauserianer auch in Beuggen bei Laufenburg am Rhein. Die Fama hatte dort schon in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts, also zu Hausers Zeiten, sich angesetzt zu ranken. Es ging das Gerücht und hielt sich beharrlich bis in unsere Tage hinein, im dortigen Schloß sei einst ein Prinz gefangengehalten worden. Wie gesagt, Klee folgte auch dieser Spur, zäh und ausdauernd wie er war. Und siehe da, im Schloß Beuggen fand er Wappenschilder des Deutschherrenordenskomturs Johann Ferdinand Frantz von Rainach. Diese aber hatten mit der Hauser’schen Wappenzeichnung "auffallend viel gemeinsames". Dr. Pies, Nestor der HauserForschung, war in den dreißiger Jahren unseres Säkulums mit dem Züricher Graphologen Brunner ebenfalls in Beuggen und machte die gleiche Beobachtung. Das alles kann kaum ein Zufall sein! Hauser mußte irgendwann und irgendwo das von ihm auf Papier gebrachte wappenähnliche Gebilde gesehen, haben. Wie schon einmal gesagt: von nichts, kommt nichts. Das Medium Kaspar hat da etwas hervorgekramt aus seinem Unterbewußtsein, das einst auf ihn Eindruck gemacht hatte. Durch hypnotischen Befehl, alles was vor seiner Nürnberger Zeit war, habe er total zu vergessen, sei Bestand einer retrograden Amnesie, unterlag er einer Erinnerungssperre. Doch scheint diese retrograde Amnesie, worunter man einen totalen Erinnerungsverlust für Erlebnisse vor der Hypnose zu verstehen hat, einigemale brüchig geworden zu sein. Hypnosefachleute auch neuester Zeit sprechen in so einem Falle von einem Zerfall der Anekphorie, wobei "Anekphorie" die Unfähigkeit ist, Erlebnisinhalte zu reproduzieren und mitzuteilen. So war es mit Kaspars Träumereien, aber auch mit den Wappenzeichnungen und seinen Tagträumen, die er gehabt hat. Diese aber sind nichts anderes, als hypnotische Dämmerzustände. So manches angebliche Rätsel, das im Verlauf der Generationen nach Kaspars Tod, immer mysteriöser gemacht wurde, hat darin seine Ursache. Professor Dr. med. habil. Alfred Brauchle im Jahre 1960:
Als leichte Hypnose bezeichnet man den ersten Grad der Beeinflussung, dessen körperliche Grundlage eine Entspannung der quergestreiften Muskulatur ist. Weiter heißt es bei diesem Hypnosefachmann von internationalem Rang: Mit den oben beschriebenen leichten hypnotischen Dämmerzuständen haben die Perioden des Tagträumens Ähnlichkeit ... Diese Tagträume sind im seelischen Geschehen hochwirksam, sie kommen aus dem Unterbewußtsein und sinken wieder an den Ort ihres Ausgangs zurück. Was die Sache mit Beuggen betrifft, so dürfte es feststehen, daß das dortige Deutschherrenschloß einst Aufenthaltsort des Kaspar war, vielleicht unter einem anderen Namen. Im Schloßareal befindet sich ein Gartenhaus, allerdings außerhalb der gewesenen Befestigungsanlage. Über den Eingang dieses barocken Häuschens fanden Klee, Pies und Brunner das aus Stein gemeißelte Wappen der Barone von Rainach. Man vergleiche nun Kaspars Aussage gegenüber seinem Pflegevater Daumer: "... inwendig über der Türe in der Mauer ein Bild zu sehen gewesen ..." Sie erinnern sich! Kaspar muß sich also geirrt haben. Das Wappen war außen, oberhalb der Tür und nicht innen. Und noch so ein Wappen gibt es in Beuggen, allerdings gemalt: in der Kirche, und zwar oberhalb der Chorherrenstühle, sieben an der Zahl, mitten unter anderen Wappen, ebenfalls gemalten. Nirgendwo sonst auf der Welt wurde bisher ein weiteres Wappen der Freiherren von Rainach gefunden. Also kann Kaspar es nur dort gesehen haben, wenn die ganze Wappenzeichnerei nicht von vornherein ausgemachter Schmarren war. Dies aber nur in Betracht zu ziehen, fehlt die Logik. Es sei denn, Daumer habe dem Kaspar die ganze Sache einsuggeriert. Das wagten aber nicht einmal die schlimmsten Hauser-Feinde zu behaupten: kein van der Linde, kein Dr. Mittelstädt und auch kein Merker. Das Gartenhaus hat kein Obergeschoß; die beiden Zimmer liegen ebenerdig. Man konnte es dort aushalten: Fenster nach allen Seiten
hin, hübsche Umgebung, schattige Bäume, Licht, Luft und Sonne, und unten im Tal der meistbesungene Strom Deutschlands, der Vater Rhein. Es war genügend Platz vorhanden für einen Buben und seine Gouvernante. Anzunehmen, daß es im Schloßareal zu Beuggen auch ein Verlies gab und vielleicht noch gibt. Aber hüten wir uns doch, so einen Raum als früheren Aufenthaltsort des Hauser Kaspar anzusehen. Bei Gott, warum soll der Junge umständlich in so einen Kerker gesteckt worden sein? Weshalb so eine Geheimniskrämerei? Weshalb so viel Operette? Niemand kannte doch den Jungen! Und es war doch viel einfacher, den Buben von seiner Gouvernante ganz normal aufziehen zu lassen, in völliger Freiheit. Daß sich darüber Mäuler alterierten, daß darüber geredet wurde niemand konnte das verhindern. Es war doch leicht, das Gerücht zu verbreiten, die Gouvernante hege da irgendeinen halbadeligen Kegel, den Sproß eines unerlaubten Verhältnisses. Ja, die Gouvernante wird es selbst nicht gewußt haben, welch seltsamen Vogel man ihr da anvertraut hat. Es genügte doch dazumal ein vielsagendes, will sagen nichtssagendes Blinzeln eines vorgeschobenen Auftraggebers, um Herrschaftspersonal wie eine Gouvernante gleichsam zum Pseudomitwisser einer delikaten Affäre zu machen. Personal hatte zu schweigen und zu gehorchen. So war die Zeit damals. Überflüssiges Wissen konnte gefährlich werden. Was alles nicht ausschließt, daß Kaspars Gouvernante eines Tages doch erfahren hat, wem sie da ihre Fürsorge angedeihen ließ. Ja, es hat nicht nur den Anschein, sondern es dürfte mit ziemlicher Sicherheit so gewesen sein, wie wir noch sehen werden. Kurzum, auch eine Beuggener Verliestheorie ist Nonsens und entbehrt jeglicher logischer Grundlage. Es ist viel leichter und glaubwürdiger, einen Jungen unter anderem Namen und Stand in Freiheit aufzuziehen, als das unlogische Spiel mit einer Kerkerhaft zu wagen. Geredet wird eh. Aber sicher hätte man ein Kind im Kerker nicht geheimhalten können. Und damit wäre die Sache weitaus publiker geworden, weil spannender und überzogen mit dem Hauch einer Gänsehautromantik. Bevor wir Beuggen verlassen, das aber noch öfter und nachhaltig angesprochen wird, einige Daten. Dieses Beuggen mit seinem einsti-
gen Deutschherrenschloß, das aber von der baulichen Anlage her nie Kaspars "Traumschloß" gewesen sein konnte, liegt an der äußersten Grenze des damaligen Großherzogtums Baden, in Südbaden. Zu Hausers Zeiten war Beuggen eine staatliche Domäne und die katholische Pfarrei darin eine nichtstaatliche Enklave. Das Schloß hatte bis 1814 dem österreichischen Barras als Seuchenlazarett gedient, wie Professor Klee eruiert hat. Viele Soldaten starben an Typhus, wie einem noch heute erhaltenem Gedenkstein zu entnehmen ist. Auch der katholische Pfarrer segnete das Zeitliche an dieser im Gefolge der Kriegsmeute ziehenden Krankheit. Daraufhin übernahm ein gewisser Karl Eschbach die Pfarrei. Das war am 27. September 1814. Als der kleine Kaspar, der dazumal vielleicht noch Ernst geheißen hat, eines Tages mit seiner Gouvernante in Beuggen eintraf - wenn nicht alles trügt im Frühjahr 1815 -‚ dürfte Pfarrer Eschbach schon eine Weile an der Spitze der Pfarrei gestanden haben. Irgendwann auch, wie rückzuvermuten ist, hat er erfahren, was es mit dem Kind im Gartenhaus auf sich hat. Vielleicht war es auch bloß eine Vermutung, das heißt, er wußte nicht mit voller Sicherheit, ob der Bub da tatsächlich Badens Erbprinz war. Wir kommen noch darauf zurück. Jedenfalls hat Großherzog Ludwig, der 1818 den badischen Thron erklommen hat - streng genommen der vorletzte der ZähringerLinie, die dann von der Hochberg-Linie abgelöst wurde -, die staatliche Domäne Beuggen versilbert. Er hat sie an eine Baseler Missionsgesellschaft verkauft. Diese zog daraufhin 1819 auf 20 in die alte Komturei ein. Dies dürfte der späteste Termin gewesen sein, daß Kaspar samt Gouvernante wieder einmal das Domizil gewechselt hat - natürlich bevor die Missionsleute kamen. Höchstens vier Jahre wird also sein dortiger Aufenthalt gedauert haben; sehr wahrscheinlich aber nur zwei Jahre. Die Missionsgesellschaft blieb übrigens lange in Beuggen. Bis in die 50er Jahre unseres Jahrhunderts. Dann erst hat die Missionsgesellschaft ihr Besitztum der evangelischen Landeskirche Badens vermacht, ihr gehört das stattliche Anwesen noch heute.
Doch zunächst einmal Pause mit der ganzen Beuggenerei. Es gilt jetzt, und auch noch auf vielen anderen Stationen der Hauserei, der Versuch, Kaspars mediale Veranlagung zu beweisen - jetzt, 150 Jahre nach seinem Auftauchen: in einer Zeit, in der auch die Pharmazie mehr und mehr erkennen muß, daß in ihren Synthetica die gleichen Wirkstoffe vorhanden sind wie in den Wurzeln und Kräutern davon lebender Weiblein des Mittelalters. In so einer Zeit sollte es nicht schwer sein, gewisse, aus der materialistischen Epoche zurückgebliebene Scheuklappen über Bord zu werfen. Oder kann jemand erklären, weshalb ausgerechnet die philosophisch materialistisch ausgerichtete Sowjetunion mit führend ist in der Welt auf dem Sektor der Parapsychologie und der medizinischen Teildisziplin des Hypnotismus? Kehren wir also zurück zu einem weiteren Phänomen der Persönlichkeit des Kaspar Hauser. Es betrifft ein Phänomen im Grenzgebiet zwischen Parapsychologie und Hypnotismus. Es geht um eine Hauser’sche Porträtzeichnung. Gegen Ende seines Ankunftsjahres 1828 war es, und zwar bei Professor Daumer, als Kaspar sich hellsichtig zeigte. Er sah etwas, was außer ihm niemand sah. Eine Halluzination. Er nahm einen Jünglingskopf wahr. Er ganz alleine. Und den zeichnete er ab. Daumer kam hinzu, als Kaspar im tranceartigen Zustand beim Werkeln war. Er ließ sich nicht stören, sondern starrte nur in die Ecke seiner Halluzination und von da auf das Zeichenpapier. Daumer ließ ihn gewähren. Und was Hauser zu Papier brachte, das war, wie gesagt, der Kopf eines Jünglings mit langem, gelockten Haar. Eine mysteriöse Sache. Wen es darstellen soll? Niemand weiß es. Bis zum heutigen Tag nicht. Vernehmen wir dazu ein Schreiben des Appellationsgerichtspräsidenten von Feuerbach an keinen geringeren als den bayerischen König Ludwig I. Unterm 8. April 1830 schreibt Ritter von Feuerbach: Den sogenannten Kaspar Hauser betreffend. Allerdurchlauchtigster, großmächtigster König, Allergnädigster König und Herr! Das rätselhafte Dunkel, das über dem früheren Schicksal des geheimnisvollen Jünglings verbreitet liegt, welcher die Teilnahme von Europa,
selbst des gebildeten Teils der Neuen Welt erregt hat, scheint, weit entfernt, sich allmählich zu zerstreuen, (sich) nur immer mehr verdichten zu wollen ... daß Kaspar Hauser, ein in physischer und psychologischer Hinsicht außerordentliches, dabei aber höchst einfaches und zugleich unbeholfenes Wesen, seiner fortgeschrittenen Bildung ungeachtet noch immer als ein unschuldiges, unmündiges Kind zu betrachten ist und bezüglich seines früheren Lebens als ein Mensch, der sich wohl erinnert, einen langen Traum geträumt zu haben, aber sich vergebens anstrengt, der geträumten Begebenheit, ihrer Gegenstände von deren Zusammenhangs wieder bewußt zu werden, während ihm gleichwohl zuweilen auf äußere Anregung, ungesucht, unerwartet und ihm selbst unerklärbar, einzelne Bruchstücke des düsteren Traumes aus den dunklen Tiefen der Seele auftauchen ... Der Seltenheit wegen legt zugleich der alleruntertänigste Unterzeichnete aus seinen über Kaspar Hauser gesammelten Privatakten eine getreue Kopie der in gedachtem Brief erwähnten, von der ungeübten Kinderhand Hausers in einer Art Extase entworfenen, aber wegen ihrer offenbaren Porträtähnlichkeit um so merkwürdigeren Zeichnung, hiermit bei ... Präsident von Feuerbach hat also seinem König in einem langen und ausführlichen Schreiben von Kaspars Porträtzeichnung und wie es dazu kam berichtet. Wegen eines faulen Zaubers wird es eine Persönlichkeit wie Feuerbach wohl nicht gewagt haben, damit seinem König zu kommen. Anselm von Feuerbach legte seinem Brief auch noch "eine getreue Kopie" der Hauser’schen Porträtzeichnung bei. Hellgesichtig scheint auch ein weiterer Traum unseres Kaspar gewesen zu sein, den er Monate danach hatte, am 2. April 1829. Es war ein schrecklicher, visionsartiger Traum, in dem Kaspars Ende gleichsam vorweggenommen wurde. Hauser mußte auch diesen Traum auf Daumers Bitte hin niederschreiben. Hier der Wortlaut: Am 2. April nachts hatte ich einen Traum, als hätte ich wirklich einen Mann gesehen, er hat ein weißes Tuch um den Leib hängen, seine Hände und Füße waren bloß, und wunderschön hatte er ausge-
sehen. Dann reichte er mir die Hand mit etwas, das einem Kranz gleicht; dann sagte er, ich sollte ihn nehmen; dann wollte ich ihn nehmen; dann gab er mir zur Antwort, in vierzehn Tagen mußt du sterben; dann gab ich ihm zur Antwort, ich mag noch nicht sterben, weil ich nicht lange auf der Welt bin, und nahm den Kranz nicht, als er mir zur Antwort giebt: es ist desto besser. Dann stund er eine Zeitlang vor mir, als ich den Kranz nicht nahm, ging er rückwärts gegen den Tisch zu, legte ihn auf den Tisch; sobald er ihn auf den Tisch gelegt hatte, stund ich auf, und als ich näher kam, hatte er einen herrlichen Glanz bekommen. Dann nahm ich ihn und ging auf mein Bett zu, als ich näher dem Bette zu kam, bekam er einen immer stärkeren Glanz, dann sagte ich: ich will sterben; dann war er fort; ich wollte in das Bett hineinsteigen, dann wurde ich wach. Ganz eigenartig war auch die Sache mit den Träumen von lateinischen Texten. Kaspar mußte, wie schon gesagt, bei den Nürnbergern auch die Sprache Virgils erlernen. Und auch sein laboro, laboras, laborat, laborasmus etc, rasselte er, kaum gehört, wie ein altgedienter Gymnasiast herunter, was heißen will: auch hierbei lernte er leicht und schnell. Anfangs unterrichtete ihn Daumer in Latein, später der Herr Lehramtskandidat Bäumler, nicht eben viel älter als Hauser. Für 20 Pfennig die Stunde. Der Jurist Gottlieb Freiherr von Tucher, der am 31. Dezember 1829, zwei Monate nach dem Attentat auf Hauser, mit der Vormundschaft über Kaspar beauftragt wurde, hat da etwas Sonderbares der Nachwelt hinterlassen. Am 5. April 1830 gab der 32jährige Baron zu den Akten, sein Mündel habe unlängst wieder einmal einen überaus nachdenklich stimmenden Traum gehabt. Kaspar träumte, er sehe einen Mann, der ihm eine Schrift mit lateinischem Text vorgehalten habe. Aufgewacht war Hauser in der Lage, die lateinischen Worte aufzuschreiben. Am nächsten Tag aber zeigte er das Aufgeschriebene seinem Lehrer, dem Kandidaten Bäumler. Nach einigem Nachdenken und Nachsuchen erkannte Bäumler in diesem Text einen Vers aus Virgil. Alles war baff vor Staunen, und mancher mag eine leichte Gänsehaut bekommen haben. Ein anderes Mal träumte unserem Kas-
par, ein Mann sei zu ihm getreten, der ihm Säbel und Degen hinhielt und gleichzeitig ein Blatt Papier mit folgendem lateinischen Text: "Tua res est magno momento et magno ambitu in hoc vitam excipit alius." Und auch diesen Satz - man höre und staune - konnte Kaspar nach dem Erwachen aufschreiben. Man höre und staune deshalb, weil dazumal Kaspars Lateinkenntnisse noch nicht im entferntesten so weit gediehen waren, um eine solche Satzkonstruktion zu behalten oder gleich gar übersetzen zu können. Baron von Tucher schreibt in der oben erwähnten Vernehmung: Kaspar, welcher lateinisch angefangen hat zu lernen, versteht bei weitem noch nicht so viel, um selbst mit Hülfe eines Lexicons diese Verse [gemeint ist Virgil - d. Autor] übersetzen zu können, auch hat sich Herr Bäumler die Mühe gegeben, alle Bücher Kaspars zu durchsuchen, um sich zu überzeugen, ob er nicht dieselben vielleicht könnte irgendwo gelesen haben. Das komische, um nicht zu sagen verquere Latein des Satzes "Tua res est magno momento ..."‚ so wie es Kaspar also niedergeschrieben hat, haben Daumer und Bäumler so übersetzt, allen Anschein nach in einer Art Teamarbeit: "Deine Sache ist von großer Bedeutung und darum hat es ein anderer in großem Ehrgeiz auf das Leben abgesehen." Ein Rätsel mehr in der Hauserei. Hat Kaspar einst in seiner vornürnbergischen Zeit diesen Satz lernen müssen, ihn eingedrillt bekommen? Wollte jemand dem Jungen gleichsam etwas ins Gehirn prägen, was später, bei einem etwas höheren Bildungsgrad, auf seine Abstammung hinweisen sollte? "Duodeviginti" war übrigens unter dem Satz noch gestanden, in etwas kleinerer Schrift, wie Kaspar behauptete. "Duodeviginti" aber heißt "achtzehn". War damit 1818 gemeint, also ein Datum? Kaspar war dazumal sechs Jahre jung. Ein Relikt aus Beuggen? Pfarrer Eschbach? Es scheint jedenfalls, daß Hauser schon früher Lateinunterricht hatte. Und auch in diesem Fall dürfte es so sein, daß die hypnotische Sperre, die Anekphorie - Sie erinnern sich! - durchlöchert worden ist und aus den Tiefen des Unterbewußtseins Dinge an den Tag kamen, die für Außenstehende ein-
fach rätselhaft sein mußten. Aber Kaspar konjungierte nicht nur im Traum, das Bürschlein deklinierte auch: "Virgilius, Virgilii, Virglio ..." Dabei wußte er im Wachzustand gar nicht, was das alles bedeutet. Zeit seines bewußten Lebens, erklärte er, habe er nie etwas von einem Virgil gehört. Er mußte sich erst bei seinem Lehrer, dem Kandidaten, danach erkundigen. Ob ihm das Latein schwer falle, wurde er einst gefragt und gab darauf die Antwort: "Manches gar nicht, aber vieles ist mir so, als ob ich es schon gewußt hätte." Nun, das spricht doch Bände! Sage da einer was er will. Ja, und dann träumte dem Jungen auch noch, daß er lateinische Worte lese, wobei sich dann herausstellte, daß es zwei Zeilen aus der unter Lateinern bekannten Ode "Diffugere naves" des Dichters Horaz waren. Dabei sah er gleichzeitig den Inhalt dieser Worte als ein Bild im Traum. Sachen sind das, die gibt’s gar nicht, ist man beinahe geneigt zu sagen. Aber es war eben so. Und es ist nur erklärlich mit dem Gedankenspiel, daß Hauser einst schon Lateinunterricht gehabt und man ihm dieses Wissen gelöscht hat, was möglich ist, wie ungezählte hypnotische Versuche bewiesen haben. Löschen - wohlgemerkt löschen! - aber kann man nur mit Hilfe von Hypnose, bestimmten Drogen oder im Zusammenwirken beider Möglichkeiten. Etwas nehmen, ungeschehen machen, das geht nicht. Was einmal vorhanden war, das bleibt. Im Hypnosezustand wird nur etwas verdrängt, ins Unterbewußtsein abgeschoben, wie in diesem speziellen Fall. Wird die Sperre durch irgendeinen äußeren Anlaß durchbrochen, durchlöchert, gleichsam angeknabbert, dann kann das passieren, was dazumal bei Hauser als ein wundersames Rätsel angesehen wurde. Dies alles und auch "die heiligsten Versicherungen geben die bestimmte Gewißheit", gab Baron von Tucher unter Eid an, "daß diese Verse und Worte Traumgeschichte sind." Der aufmerksame Leser wird schon gemerkt haben, daß sich in der Hauser-Geschichte nicht immer eine chronologische Reihenfolge hat einhalten lassen. Um den Leser Stück für Stück, Zug um Zug in die komplizierte Materie dieses einmaligen Kriminalfalles einzuführen, ihn damit vertraut zu machen, geht es leider nicht anders. Deshalb,
um der Übersichtlichkeit willen, eine kurze, chronologische Rekapitulation wesentlicher Tatsachen:
26. Mai 1828: Pfingstmontag: Ankunft Hausers auf dem Nürnberger Unschlittplatz. Kaspar wird noch am gleichen Tag zu Gefängniswärter Hiltel auf den Luginsland gebracht. •
• 7. Juli 1828: Binders "Bekanntmachung" wird fertiggestellt und vom Bürgermeister unterzeichnet. • 9. Juli 1828: Die Königliche Regierung für den Rezatkreis (heute Mittelfranken) in Ansbach bekam Wind von Binders "Bekanntmachung". Dr. Binder wird deshalb verwarnt, sie in der abgefaßten Form zu veröffentlichen.
11. Juli 1828: Staatsrat von Feuerbach, Mittelfrankens oberster Gerichtsherr, besucht Hauser auf dem Turm "Luginsland", angeblich rein privat. •
14. Juli 1828: Dr. Binders "Bekanntmachung" wird im Friedens- und Kriegskurier sowie im Nürnberger Intelligenzblatt veröffentlicht. Kurz darauf bekam Binder einen anonymen Brief des Inhalts, Kaspar sei ein deutscher Prinz. Der Brief war in Karlsruhe von der Post abgestempelt worden. •
• 18. Juli 1828: Kaspar Hauser wird umquartiert. Er kommt zu Professor Daumer in das Haubenstricker’sche Anwesen auf der Insel Schütt. • 15. August 1828: Kaspar Hausers "Schloßtraum" Nummer eins, später von ihm selbst niedergeschrieben.
30./31. August 1828: Kaspars "Schloßtraum" Nummer zwei, den Freiherr von Tucher nach Hausers Erzählung aufschrieb. •
• 14. September 1828: Besuch auf der Nürnberger Burg ruft bei Kaspar die Erinnerung an die "Schloßträume" wach.
Zum Abschluß dieses Kapitels sei noch dargestellt, wie Hauser von Professor Daumer an normale Kost gewöhnt wurde. Daumer, der große Sucher, der von Kaspar als einem Menschen "von ganz außerordentlicher Beschaffenheit" sprach, und zwar im Vorwort seines Kaspar-Hauser-Buches von 1873 - dieser Daumer berichtete über die dabei gemachten Erfahrungen pedantisch genau. Nun, Hauser war sicher ein Mensch "von außerordentlicher Beschaffenheit". Daumer irrte aber, wenn er glaubte, sein Wasser-und-Brot-Kaspar sei diesbezüglich von einmaliger Beschaffenheit gewesen. Kaspar war zwar "außerordentlich" auch als Medium, er war besonders sensibel, hypersensibel und außergewöhnlich somnambul veranlagt -eine Laune der Natur -‚ aber einmalig war er keineswegs, wie wir noch sehen werden. Es gab und gibt Medien, die sich zu gewissen Zeiten und auf gewisse Dauer Nahrungsbeschränkungen unterwerfen oder selbst auferlegen. Man denke nur an den Fall der Therese von Konnersreuth, der berühmten Stigmatisierten, die über lange Zeit hinweg nur von Wasser lebte und vermöge ihrer außergewöhnlichen Autosuggestionskraft das Leiden Jesu Christi nachempfand, einschließlich der Wundmale des Herrn. Wobei an dieser Stelle eingeflochten werden darf, daß die Wundmale nie aufgebrochen sind, Therese von Konnersreuth also niemals offene Wunden an Händen und Füßen oder an der Thoraxseite hatte. Das Blut preßte sich gleichsam durch die Poren nach außen. Daumer glaubte nun, Kaspars abnorme Sensibilität für die Eindrücke der Außenwelt - "ein Quell unaufhörlicher Schmerzen und Leiden" - dadurch wenigstens mindern zu können, daß er seinen Zögling systematisch an die sogenannte normale Kost gewöhnte. Lassen wir den Nürnberger Professor selbst zu Wort kommen. In seinem schon erwähnten Buch von 1873 schreibt Daumer:
Über die Gewöhnung an Wassersuppen, ungewürzte Schokolade, Milchbreie und zuletzt an Fleischkost findet sich in meinen Papieren folgendes: Mit dem Genusse von Wassersuppe fing er im Juli 1828 an. Bei achtmaligen Versuchen war sie ihm widrig, erst das neuntemal kam sie ihm gut vor. Er aß sie fast kalt, da sie ihm sonst das von ihm so genannte "Laufen" verursachte, eine eigentümliche Empfindung im Leibe, mit welcher Zuckungen im linken Arme und unwillkürliche Bewegung des kleinen Fingers der linken Hand verbunden war. Viermal verursachte ihm aber selbst die kühle Suppe dieses "Laufen". (Anmerkung Daumers: "es ist noch besonders bemerkt: Seine Wassersuppe mit Mehl und Kümmel verursacht das sog. Laufen anfangs nur wegen der Wärme: wenn er sie kalt werden ließ, empfand er nichts derart. Das Baden in lauem Wasser brachte die ersten Male dieselbe Wirkung hervor. Es ist wohl daraus abzunehmen, daß er in seinem früheren Zustand weder etwas Warmes genossen, noch gebadet worden.") Das dreizehntemal aß er sie ziemlich warm. Er verspürte infolge dieses Genusses Erleichterung seines krankhaften Zustandes im Unterleibe. Den 30. Juli fing er an, ungewürzte Schokolade zu genießen. Sie verursachte ihm dreizehnmal das "Laufen", zwanzigmal war sie ihm widrig, erst das einundzwanzigstemal behagte sie ihm, und da fühlte er sich durch sie auch gestärkt; es sei ihm gewesen, sagte er, als ginge eine Kraft durch alle Teile seines Leibes; Kopf und Leib wurden bedeutend erleichtert. Die größte Müdigkeit und Erschöpfung wurde von der Zeit an durch dies Getränk hinweggenommen. Das dreißigstemal kam es ihm noch besser vor, und die Kraft, die in seine Glieder kam, war noch fühlbarer; es zeigte sich bei den Versuchen körperlicher Leistungen, daß er weit mehr vermöge als früher. Das vierzigstemal waren Wohlgeschmack und Kräftigung noch mehr erhöht; dabei blieb es seitdem ...
Den 15. August fing er an, Milchbrei zu essen. Diese verursachten ihm kein "Laufen" oder sonst etwas Auffallendes, vielleicht weil er schon durch die Schokolade gekräftigt war. Von Hirsebrei empfand er mehr stärkende Wirkungen als von Mehl-, Reis- und Griesbrei. Mehlbrei war ihm zu süß. Zu dem äußerst wenigen was ihm nichts Unangenehmes verursachte, gehörte ein Stückchen von einer mehligen Kartoffel. Die Kartoffeln, die er mittags zu seinen Milchbreien genoß, aß er ohne Salz und Butter, Salz das nicht in den Speisen verkocht oder aufgelöst war, vertrug er nicht. In der letzten Woche des August genoß er als Frühstück und Abendkost Schokolade, zu Mittag Milchbrei. In dieser Woche kam er sehr zu Kräften. Auch wurde seine früher nicht mehr ordentlich gewesene Leibesöffnung normal. Es war ihm nun verhältnismäßig leicht und wohl. Nachdem er sich an den täglichen Genuß von Milchspeisen, Kartoffeln und Gesundheitsschokolade gewöhnt hatte, versuchte ich, ihn auf die behutsamste Art an Fleischnahrung zu gewöhnen, hauptsächlich in der Absicht, dadurch seine krankhafte Empfindlichkeit, die ihm so sehr zur Qual gereichte, aufzuheben oder zu mindern. Ihn selbst machte ich hierzu willig, daß ich ihm sagte, wenn der Versuch gelänge, so würde ihm nicht mehr alles so wehe tun wie jetzt; er werde dann wie andere Menschen werden. Ich fing damit an, ihn unmittelbar vor dem Einnehmen seines Mittagsmahles einen Tropfen Fleischbrühe auf einem Bissen Brot und etwas eingetrocknet auf demselben nehmen zu lassen. Es dauerte über vierzehn Tage, bis dieser Tropfen ihm die Empfindung im Leibe, die er das "Laufen" nannte, zu verursachen aufhörte. Am siebenundzwanzigsten Tage konnte er einen Eßlöffel von Fleischbrühe, ohne etwas zu verspüren, genießen; ein paar Tage nachher zwei; noch ein paar Tage später drei. Jene Voraussagung, daß sich mit der Gewöhnung an Fleischkost seine Empfänglichkeit vermindern werde, wurde in vollerem Maße erfüllt, als ich selbst gehofft hatte. So wie der Tropfen spürbar zu sein aufhörte, war die Heftigkeit vieler unangenehmer Einwirkun-
gen gebrochen; auf Spaziergängen taten ihm die vegetabilischen Gerüche nicht mehr weh; das Animalische und Mineralische griff ihn ebenfalls weniger an, als er einen Eßlöffel voll Fleischbrühe vertragen gelernt hatte, liefen ihm z. B. die Adern der Hand nach Annähern des Fingers an Metalle oder Edelsteine nicht mehr auf; die Ohren vertrugen starkes Geräusch und helle Töne. Soweit Daumer, der Experimentator. Kaspars Hypersensibilität hat also im Verlauf der Gewöhnung an normale Kost nachgelassen. Man muß dies als Tatsache betrachten oder den Erstzeugen überhaupt keinen Glauben schenken. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Beim besten Willen nicht. Interessant auch hier die längst schon zementierte Verliestheorie. Kaspar bekam das "Laufen", jedenfalls am Anfang des Gewöhnungsexperiments, sobald seine Wassersuppe mit Mehl und Kümmel etwas angewärmt war. Auch das Baden in nur lauem Wasser brachte ihn zum "Laufen". Und Daumer folgert daraus, daß der Hauser Kaspar in seiner vornürnbergischen Zeit "weder etwas Warmes genossen, noch jemals gebadet worden". Noch nachträglich muß man da die Frage stellen, wie Daumer es sich wohl erklärt haben mag, daß sein Kaspar relativ reinlich in Nürnberg ankam, wie alle Erstzeugen übereinstimmend bestätigten und daß Hauser einen ausgesprochenen Reinlichkeitsfimmel hatte. Von einem Schüsselchen Wasser im dunklen Kerker wird dies wohl nicht gekommen sein. Und im übrigen hat Kaspar auch das "Laufen" mit vielen anderen Medien gemeinsam. Professor Daumer schildert ja eingehend, was unter diesem "Laufen" zu verstehen sei: nämlich eine eigentümliche Empfindung im Leibe, mit welcher Zuckungen im linken Arme und unwillkürliche Bewegungen des kleinen Fingers der linken Hand verbunden war. Diese Symptome aber sind typisch, wie gesagt, für hochmedial veranlagte Menschen und treten dann auf, wenn so ein Medium im Stadium des Übergangs zur Hypnose ist. Wobei an dieser Stelle schon gesagt werden darf, daß die Wissenschaft verschiedene Stärkegrade des hypnotischen Schlafzustandes unterscheidet. Von Somnolenz (Schläf-
rigkeit, Benommenheit), bis hin zum Somnambulismus, dem Tiefschlaf. In jedem Fall handelt es sich bei Hypnose um einen "künstlich erzeugten Schlafzustand von größerer oder geringerer Tiefe, in dem der Wille von äußeren und inneren Einflüssen möglichst befreit, lediglich dem Einfluß des Arztes unterworfen ist" (Dr. Ewans Gordon). Hypnose ist also nichts anderes, als ein veränderter Zustand der Gehirntätigkeit des Menschen. Ist der Hypnotisierte aber in diesen Zustand eingetreten, dann vermag der Hypnotiseur seinem Medium Vorstellungen und Gefühle einzugeben, sie ihm zu "suggerieren", wie der Fachausdruck dazu lautet. Dessenungeachtet ist es der Wissenschaft bis jetzt nicht gelungen, das Wesen, den inneren Kern des Phänomens "Hypnose" zu erfassen. Vieles liegt auch heute noch im dunkeln. Kaspar Hauser war ohne Zweifel ein so hochgradiges Medium, daß er sozusagen von einem Augenblick auf den anderen in einen hypnotischen Zustand übertreten konnte. Die Intensität seiner medialen Veranlagung dürfte auf eine Art ausgeprägt gewesen sein, daß sein Habitus nahe der Schwelle zur Hysterie gelagert war. Und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit haben die Hintermänner des in Szene gesetzten Komplotts von dieser Hauser’schen Veranlagung gewußt und sich diese zunutze gemacht. Wie wir aber immer wieder sehen werden, war Hauser keinesfalls ein Hysteriker ebensowenig wie eine schizoide Persönlichkeit noch lange kein Schizophrener ist. Eine Nähe zur Schwelle der Hysterie heißt nicht, sie überschritten zu haben. Wäre Kaspar im Sinne der Krankheitslehre ein Hysteriker gewesen, dann. würde er schwerlich zu hypnotisieren gewesen sein. Wenn überhaupt, dann lassen sich hysterische Personen nur ganz schwer hypnotisieren, und selbst in diesem Fall kommt es nur äußerst selten zum Tiefschlaf, zum Somnambulismus, wo der Mensch beinahe völlig unkritisch ist und frei für Suggestionen aller Art. Allgemein sind sich die Experten des Hypnotismus einig, daß ausgesprochene Geisteskranke überhaupt nicht hypnotisierbar sind, wohingegen Epileptiker und hochgradig nervöse Menschen, wie unge-
zählte Versuche gezeigt haben, nur zu einem winzigen Prozentsatz in einen somnambulen Zustand zu bringen sind. Wenn nun die Erstzeugen immer wieder geschildert haben, ja sogar unter Eid zu Protokoll gaben, der Kaspar sei bei dieser oder jener Gelegenheit in einen ganz eigenartigen Zustand gekommen, wobei er mal blaß, mal hochrot wurde, starre Augen hatte, nicht ansprechbar war und die linke Seite konvulsivisch sich bewegte - ja, dann war er just im Zustand der Hypnose, bis hin zum Somnambulismus und Hellsichtigkeit, also zur Halluzination. Erinnert sei hier an die in die Hauser-Geschichte eingegangene Porträtzeichnung- Sie erinnern sich! Da er aber mit Sicherheit von keinem seiner Lehrer und Gönner bewußt hypnotisiert wurde, wird es bei Kaspar so gewesen sein, daß gewisse äußere Reize genügten, ihn hypnotisch zu machen. Und was nun die Sache mit den häufigen Schweißausbrüchen bedeutet, so hören wir darüber einmal einen Fachmann auf dem Gebiet der Hypnose: Dr. Ewans Gordon. In seinem von Dr. L. Roser neubearbeiteten Buch "Die geheimen Mächte der Hypnose und Suggestion", 1970, ist auf Seite 40 zu lesen: Der Eintritt hypnotischer Zustände kennzeichnet sich physiologisch durch verschiedene Veränderungen des Normalzustandes. So erleidet die Blutzirkulation mannigfache Veränderungen; es findet eine Auffüllung der Hauptblutgefäße des Gesichtes, Halses und Kopfes statt, aber es wird andererseits auch große Blässe, die sich bis zu wächserner Totenblässe steigern kann, beobachtet. Man darf in vielen Fällen das Vorhandensein von Gehirnanämie (Gehirnblutleere) vermuten. Die Atmung ist ebenfalls von der normalen sehr verschieden, bald schneller, bald verlangsamt; auch S c h w e i ß a b s o n d e r u n g e n [!] werden häufig selbst bei solchen beobachtet, die früher nicht daran litten ... Dr. Cordon spricht in diesem Zusammenhang von "hypnoiden Zuständen".
Von hypnoider Verhaltensweise aber darf gesprochen werden, was Hausers Wasser-und-Brot-Ernährung anbelangt. Es wird wohl so gewesen sein, daß die Aussetzer dem Kaspar in Hypnose befahlen, auf eine gewisse Dauer - vielleicht auf ein halbes Jahr als Maximum lediglich Wasser und Brot als Nahrung aufzunehmen. Gleichzeitig wird ihm ein ausgesprochener Ekel vor allen anderen Speisen mit einsuggeriert worden sein. Dies zum Zwecke, den Kaspar eine beträchtlich lange Zeit gleichsam in hypnoider Hochspannung zu halten und die Erinnerungssperre an seine Jahre vor Nürnberg zu festigen womit gleichzeitig ein Sicherheitshöchstmaß für die Aussetzer zu erreichen war. Andererseits konnte als Nebeneffekt bewirkt werden, daß ein auf diese Weise präparierter Mensch das nötige Aufsehen bewirkt. Und das sollte ja bezweckt werden, um ihn als politischen Trumpf ausspielen zu können. Hätte die Dunkelpartei ihn verschwinden lassen wollen, sie hätte nicht den Umweg über die läppische Fatzkerei zu machen brauchen, den Kaspar bei der Reitertruppe unterbringen zu wollen. Kein Hahn hätte danach gekräht, wenn sie ihn umgebracht hätten. Später, 1833 im Ansbacher Hofgarten, haben sie ja auch nicht vor Mord zurückgeschreckt ... Auch damals waren schon Fälle bekannt, genügend sogar, wo Medien durch eine ausgesprochene asketische Ernährungsweise - man denke bloß an das vielgerühmte "magnetische" Wasser oder an indische Fakire - mediale Hochleistungen vollbrachten. Nur so läßt sich auf eine vernünftige Art erklären, weshalb Kaspar anfangs partout nur Wasser und Brot zu sich nahm, und zwar mit größtem Appetit, und er andererseits panischen Ekel vor anderen Speisen zeigte. Keinesfalls jedoch kann es stimmen, Hauser hätte zeit seines dritten oder vierten Lebensjahres in einem dunklen Kerker gehockt, bei Wasser und Brot. Diese Verliestheorie stimmt hinten und vorne nicht, ist so unlogisch wie die Behauptung, Wasser könnte von sich aus bergauf fließen. Man kann es gar nicht oft genug sagen: Kein Mensch könnte dies 12 oder 13 Jahre durchstehen. Er würde eingehen wie ein Primelchen, an Skorbut oder anderen Mangelkrankheiten zugrunde gehen und vielleicht vorher noch wahnsinnig werden. Einige Monate bei Wasser und Brot, das könnte gerade noch gehen. Und wie wir ja erfahren
haben, fing der Kaspar nach rund zehn Wochen Dasein in Nürnberg auch an, langsam zwar und Zug um Zug, andere Speisen zu sich zu nehmen. Je mehr er sich allerdings durch den sanften Druck Daumers an normale Kost gewöhnen mußte, desto eher ließen seine medialen Hochleistungen nach. Und das ist ja von mehreren Zeugen, auch ärztlichen Fachleuten, bewiesen worden, wie wir bereits wissen. Gleichzeitig einher ging mit diesem Nachlassen eines übermäßigen hypnoiden Zustandes die da und dort spärlich zu beobachtende Durchbrechung der hypnotischen Erinnerungssperre an sein früheres Dasein. Wahrhaftig, von Feuerbach hatte recht, wenn er von einem Verbrechen am Seelenleben eines Menschen. sprach. Was nun aber Kaspars Phänomene in Bezug auf Metalle und Edelsteine betrifft, so können auch diese mit Hilfe des Hypnotismus erklärbar gemacht werden. Aber eben nur damit. Eine andere Erklärung, eine andere Alternative gibt es nicht, es sei denn, man würde auf das Gebiet der Märchen und Legenden ausweichen. Léon Chertok, Chefarzt am Centre de médecine psychosomatique Dejerine in Paris, ein international bekannter Experte auf dem Gebiet des Hypnotismus, schreibt in seinem Buch "Geist und Psyche - Hypnose", 1973, auf Seite 24 über die "Metalloskopie": Die Wirkung von Metallen auf Hysteriker wurde um 1850 von Burq entdeckt: Er hatte beobachtet, daß bei einer Somnambulen, die einen kupfernen Türknauf berührte Katalepsie eintrat. Das Phänomen blieb aus, wenn man den Knauf mit einem Stück Handschuhleder abdeckte. Hätte Burq Näheres über die an Kaspar Hauser bemerkten Phänomene gewußt, dann hätte er nicht bis 1850 warten brauchen, um die Wirkung von Metallen auf gewisse Menschen zu entdecken - und bei Gott nicht nur auf Hysteriker, wie wir bei Kaspar gesehen haben. Es ist ja überliefert, zum Teil durch eidliche Aussagen, welches Phänomen Kaspar auf diesem Gebiet 1828 war, also 22 Jahre vor Burqs Entdeckung der Wirkung von Metallen auf tatsächliche oder angebliche Hysteriker. Und keiner kam in diesem ganzen vorigen Jahrhundert darauf, bei Kaspar handele es sich um ein außergewöhnliches
Medium, dessen Nürnberger Auftritt die Folge hypnotischer Behandlung war. Und wenn vielleicht Daumer und auch von Feuerbach sich in dieser Richtung ihre eigenen Gedanken gemacht haben, vielleicht auch der Homöopath Dr. Preu, dann ist ihnen darüber nichts Schriftliches oder Aktenkundiges entschlüpft. Zwar wurde in medizinischpsychiatrischen Fachkreisen darüber diskutiert und experimentiert, ja sogar wissenschaftliche Kongresse gehalten - aber es spielte sich dies alles jenseits der Öffentlichkeit ab, intern sozusagen. In der großen Öffentlichkeit der Epoche des Materialismus war der Hypnotismus mit einem gesellschaftlichen Tabu belegt, galt als Zirkusrummel, als Schaubudenkniff. So war eben damals die Zeit. "Es kommt hinzu", lese ich da bei Dr. med. habil. Ludwig Mayer aus Heidelberg, daß der Mensch, im Wege generativer Gewöhnung, in einer Art Nerventradition, mit der Zeit auf gewisse Reizungen seiner Epoche besonders intensiv reagiert, sich also auch in diesem Sinne jeweils als ein Produkt seiner Zeit erweist und dieser Gesamtsituation entsprechend einstellt. Das Image einer ganzen Epoche! Ja, so wird’s gewesen sein. Burqs Somnambule von 1850 langte also einen kupfernen Türknopf an, worauf bei dieser Dame prompt ein kataleptischer Zustand eintrat. Katalepsie aber ist nach Liébeault, auch nach Altmeister Professor Dr. Forel, ein Hauptkennzeichen jenes Schlafgrades zwischen Somnolenz (Schläfrigkeit), also Grad eins, und Somnambulismus, dem höchsten Grad. Und dieses Hauptkennzeichen heißt Katalepsie. Das ist ein durch Suggestion bewirkter Starrkrampf, ein Spannungszustand der Muskeln, die aktiv nicht mehr bewegt werden können. Hören wir noch einmal den Hypnosespezialisten Dr. Gordon hierzu: ... Katalepsie, d.i. ein starrkrampfähnlicher Zustand. Es können in diesem Zustande den Gliedern des Körpers sowohl wie dem Körper überhaupt Stellungen gegeben werden, die außerordentlich lange, selbst mehrere Stunden hindurch, anhalten, obwohl sie, wenn sie im wachen Zustande innegehalten würden, dann mit allergrößter Anstrengung verknüpft oder überhaupt unmöglich sein dürften. Als man
seinerzeit der Öffentlichkeit zuerst hypnotische Experimente vorzuführen begann - wir erinnern an die Vorstellungen des Herrn Hansen in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts -‚ erregte allermeist das Staunen der Zuschauenden, daß z.B. der Kopf und die Füße - und diese fast nur gerade noch mit den Hacken - des Hypnotisierten auf zwei Stühle gelegt werden konnte, während der ganze Rumpf, die Arme und die Beine frei schwebten. Ja man konnte sogar noch schwere Gewichte auf den frei schwebenden Rumpf setzen und diese ganze Körperstellung nach dem Belieben des Hypnotiseurs lange Zeit andauern lassen. Charakteristisch ist, daß nach Aufheben dieses Zustandes und dieser Lage weder Müdigkeit noch Schmerzgefühl in den so stark angespannten Muskeln beobachtet werden konnten. So kann man den Grundcharakter der Katalepsie einen tonischen Krampf nennen.
3. Das Attentat Ein Lehrgang in Hypnose - Schlaflos wird, wer Schlaf erzwingen will Somnambulismus und Posthypnose - Positive und negative Sinnestäuschungen Professor Schultz und die Termineingebung Kaspar Hausers Autobiographie - Das Unheil naht mit Riesenschritten Die Hintergrundakteure pokerten um Kopf und Kragen Höhere Politik, nennt man so etwas - Ungewöhnliche Aufregung Zwei dunkle Gestalten und ein schwarzer Mann Der Rasiermesserheld schlägt zu - Flucht in die Einsamkeit "Du mußt doch noch sterben ..." - Fremde zur Tatzeit in Nürnberg gesehen Hauser wird tobsüchtig - Lord Stanhope nimmt keine Notiz "Kartusch geben" und andere Rotwelschbrocken Erlangens "Wallfisch" - Sprachtests mit Kaspar Hauser Ungarische Grafen und preußischer Offizier Ein Pistolenschuß schreckt Nürnberg auf Kaspar Hauser wird plötzlich zum "Kind Europas" Verweilen wir noch etwas bei der Hypnose, weil sie in der HauserGeschichte eine so wesentliche Rolle spielt. Gemeint ist in diesem speziellen Fall der tiefste Hypnosegrad, der Somnambulismus. Denn nur aus diesem heraus scheinen Kaspars Phänomene erklärlich. Professor Dr. med. habil. Alfred Brauchle schreibt in seinem Werk "Hypnose und Autosuggestion": Jeder Gedanke ist bestrebt, sich auf dem Umweg über das Unterbewußtsein zu verwirklichen, sofern wir nicht unter dem Eindruck einer
vorliegenden Schwierigkeit um die Verwirklichung dieses Gedankens nachdrücklich bemüht sind. Mit diesen Worten faßte Dr. Brauchle die beiden von Coué aufgestellten Gesetze der Suggestion in einem Satz zusammen. Dieser französische Apotheker Emile Coué aber war im vorigen Jahrhundert einer der bedeutendsten Hypnotiseure. Mit Hilfe der Hypnose hat er Tausenden von Kranken geholfen. In ärztlichen Fachkreisen hat sein Name noch heute einen hohen Klang. Coués Erfolge beruhten darauf, daß er seine Patienten, die aus ganz Frankreich und auch aus dem Ausland zu ihm strömten, zur Anwendung der Selbstsuggestion erzog. Er war also in erster Linie ein hervorragender Lehrer, wobei er suggestiv vorging und die Hypnose zu seiner ureigenen Methodik machte. Die nun von Coué aufgestellten beiden Grundgesetze einer seelischen Beeinflussung, also der Suggestion, lauten sinngemäß so: 1. Jeder Gedanke ist bestrebt, sich auf dem Umwege über das Unterbewußtsein zu verwirklichen. (Just diesen Vorgang einer unterbewußten Gedankenverwirklichung nennen wir Suggestion.) 2. Was man mit einer leichten Anstrengung erreicht, verdirbt man sich mit einer großen Anstrengung. Professor Dr. Brauchle schreibt erläuternd dazu: "Wer weiß nicht, daß man erst recht schlaflos wird, wenn man den Schlaf erzwingen will?" Nichts anderes aber beinhaltet dieses 2. Gesetz, das Brauchle zusammen mit dem 1. Gesetz von Coué zu seiner Definition der Suggestion, zu seiner Suggestionsmaxime aufgestellt hat. Was nun die Einbildung betrifft, die von der Suggestion ja nicht zu trennen ist, so spielt diese im menschlichen Leben eine immense Rolle. Ganz allgemein darf festgestellt werden, daß jeder Mensch beeinflußbar ist. Der eine mehr, der andere weniger. Einen Menschen, der überhaupt nicht beeinflußbar ist, den gibt es nicht! Nur Ignoranten und Halbgebildete glauben von sich, ausgerechnet sie könnten nicht
beeinflußt werden. Von der Erkenntnis der Beeinflußbarkeit des Menschen leben heutzutage ganze Industriezweige. Man denke nur an die Werbung, vom Waschmittel bis hin zu den politischen Parteien und ihren Repräsentanten. Einflußnahme aber ist untrennbar verbunden mit der Hypnose. Coué war es, der sagte: "Kommen (bewußter) Wille und (unterbewußte) Einbildungskraft miteinander in Konflikt, dann siegt immer die Einbildungskraft, und der Wille unterliegt." Beispielsweise folgerte Coué daraus - und seine Erfolge gaben ihm recht: Ein Stotterer könne sich mit der ganzen Willenskraft bemühen, ruhig zu sprechen die Mühe wird vergeblich sein; die Krankheit wird eher noch schlimmer. Diese Einbildungen, von denen hier die Rede ist, haben ihren Sitz im Unterbewußtsein, dem beim Somnambulismus eine dominierende Rolle zukommt. Hören wir nochmals Professor Brauchle: Wenn nun diese Einbildungen im Unterbewußtsein sitzen, lohnt es sich, dieses Unterbewußtsein etwas näher zu betrachten. Wir wissen, alle modernen Methoden der seelischen Behandlung, sowohl Suggestionsmethoden wie Analyse, arbeiten mit dem Begriff des Unterbewußtseins. Doch scheint mir, daß nur das Studium der Hypnose es vermag, einen raschen und plastischen Begriff von dem zu geben, was wir unter dem Unterbewußtsein zu verstehen haben. Auf den Befehl des Hypnotiseurs verfällt mancher Patient in einen schlafähnlichen Zustand, der sich vom natürlichen Nachtschlaf nur durch die Verbindung, den R a p p o r t, unterscheidet, der zwischen Hypnotisiertem und Hypnotiseur bestehen bleibt. Während der tiefen Hypnose kann man mit dem Patienten sprechen, man kann bewußt vergessene Erinnerungen und Traumbilder wecken [Hausers Schloßträume, Latein im Traum etc. - der Autor], man kann funktionelle (im Gegensatz zu organischen) Lähmungen, Erblindungen, Ertaubungen bewirken, ja man kann operieren, ohne daß der Patient Schmerzen empfindet. Nach dem Erwachen aus tiefer Hypnose weiß der Patient von allem, was sich während der Hypnose ereignet
hat, nichts. Das Erwachen ist charakterisiert durch die totale Erinnerungslosigkeit für alle Vorgänge während der Hypnose. Diese Erinnerungslosigkeit ist meist für das ganze Leben dauernd, in manchen Fällen lüftet sich der Schleier etwas, der über dem Unterbewußtsein liegt, um manche hypnotische Einzelheiten dem Bewußtsein freizugeben ... - wie wir es bei Kaspar Hauser nun schon einige mal gehört haben, wäre an dieser Stelle einzuflechten. Was hypnotische Suggestionen zu vollbringen vermögen, sei kurz dargestellt an den Versuchen der Doktoren Professor Henry Marcus und E. Sahlgren in Stockholm. Die beiden Wissenschaftler haben Untersuchungen angestellt über die Einwirkung hypnotischer Suggestion auf die Leistungen der Darmnerven. Dabei haben sie den Blutzuckerspiegel als Ausdruck für die Tätigkeit des OrganischUnbewußten benutzt. So beobachteten Marcus und Sahlgren nach Injektionen von einem halben bis zwei Milligramm Adrenalin bei einer nicht hypnotisierten Versuchsperson, also im Wachzustand, Zunahmen des Blutzuckers, Pulssteigerung, Zittern und Blässe. Beim gleichen Versuch in Hypnose, unter gleichzeitiger Gegenbeeinflußung, die lautete: man habe nur Wasser und nicht Adrenalin eingespritzt, blieben die organischen Wirkungen aus. Korrekt wiedergegeben: der Blutzucker stieg nur von 0,10 auf 0,12 statt wie vordem auf 0,15. Spritzten die beiden Ärzte nun einer Versuchsperson, der die Adrenalinwirkung bekannt war, unter der Suggestion, daß es Adrenalin sei, einen halben Kubikzentimeter Kochsalzlösung ein, so kam es zu einer gewaltigen Pulserhöhung, zu Zittern und Ausbruch von kaltem Schweiß, während eine genaue Blutzuckersteigerung nicht nachgewiesen werden konnte. Es wurden also die Symptome wie bei Adrenalin erreicht. Wurden zwei bis drei Insulineinheiten eingespritzt, so kam es zu einem Insulinunterblutzuckergehalt. Unter der Suggestion in Hypnose, es werde nun Wasser injiziert, obgleich es tatsächlich Insulin war wie beim vorherigen Versuch im Wachzustand, war die-
ser Unterblutzuckergehalt bedeutend geringer. Professor Brauchle berichtet weiter darüber: Ähnliche Erfahrungen wie mit dem Adrenalin hätten Marcus und Sahlgren auch mit Pilokarpin und Atropin gemacht. Das Ergebnis dieser Experimente deckt sich mit den Schlüssen, die wir schon aus den Beobachtungen von Geßler und Hansen gezogen haben, daß der seelische Reiz wohl an der Zentralstelle des Organisch-Unbewußten dem materiellen Reiz begegnet und ihn dort aufhebt. Eine weitere augenscheinliche Veränderung, die in der Hypnose herbeigeführt werden kann, sind die sogenannten Sinneswahrnehmungen. In welchem Grad diese Sinneswahrnehmungen zum Durchbruch kommen, hängt von der medialen Begabung der Hypnotisierten ab, natürlich auch von der Persönlichkeit des Hypnotiseurs. Wie Versuche gezeigt haben, können Täuschungen und eingebildete Vorstellungen für alle Sinne geschaffen werden. Dr. Gordon berichtet darüber: ... der Hypnotisierte fühlt, hört, riecht, sieht Dinge, die nicht da sind, er empfindet von den tatsächlich vorhandenen Gegenständen die ihm vorgespiegelten Eigenschaften derselben, die ihnen in Wahrheit nicht anhaften. So zähle er auf Suggestion beispielsweise so viele Personen im Raum als ihm angegeben werden, und der Hypnotisierte lausche entzückt einem imaginären Konzert oder er streicht über ein Blatt Papier, das ihm für Samt angegeben wird, mit allen Merkmalen der entsprechenden Empfindungen. Aus einem vorgehaltenen Stück Käse riecht er das feinste Parfüm oder der Hypnotisierte steigt über nicht vorhandene Stufen. Beispiele dieser Art könnten noch seitenweise fortgeführt werden. Aber es soll uns hier nur darauf ankommen zu zeigen, daß so viele an
Hauser bemerkte und beobachtete Phänomene, die heute noch als Rätsel gelten, keineswegs von dieser Art, also keine Rätsel sind. Kaspar Hauser war ein Medium. Das ist der Schlüssel zu den meisten "Rätseln". Es bleiben dessenungeachtet noch einige wenige Merkwürdigkeiten, die mangels faßbarer Begriffe auch heute noch als Rätsel bezeichnet werden mögen. Vielleicht kommt eines Tages in die eine oder andere noch heute dunkle Stelle der Hauser-Geschichte etwas mehr Licht; vielleicht auch bleibt manches Merkwürdige auf ewig ein Rätsel. Wir haben nun einen kleinen Einblick bekommen von einem der größten Rätsel des Menschseins, von der Macht und Kraft der Einbildung, der Suggestion. Doch lassen wir nun zunächst einmal die "Sinneswahrnehmungen" und wenden uns statt dessen noch kurz den sogenannten "positiven Sinnestäuschungen" zu und den "negativen Sinnestäuschungen", bevor wir uns mit der Posthypnose beschäftigen. Einiges Wissen um Posthypnose, ihre Wirkung und Möglichkeiten, werden uns die Person Kaspar Hauser in einem anderen Licht als bisher zeigen. Bei den sogenannten positiven Sinnestäuschungen, schreibt Dr. Ewans Gordon, treten aber auch Erscheinungen rein physiologischer Natur auf, die vom Wollen des Hypnotiseurs und somit auch von dem daraufhin autohypnotisch sich entfaltenden Willen des Hypnotisierten unabhängig zu sein scheinen, die auch beim Befehlen und Suggerieren gar nicht besonders suggeriert zu werden brauchen und dennoch eintreten. Ein Beispiel, in ungezählten Versuchen erhärtet, soll dies beweisen. Wenn einem Hypnotisierten einsuggeriert wird, die rohe Kartoffel, die ihm der Hypnotiseur in die Hand gedrückt hat - diese rohe Kartoffel sei eine Zwiebel, er möge daran riechen, dann ist die Versuchsperson nicht nur im festen Glauben, eine Zwiebel mitsamt ihrem spezifischen Geruch in der Hand zu haben: auch die Augen fangen zu tränen an. Die Einbildungskraft ist also so groß, daß eine Tränenresektion eintritt!
Du Prel, auf den wir noch ganz besonders kommen, zitierte folgenden Fall: Man suggerierte einer Versuchsperson, die Temperatur des Zimmers sei außerordentlich heiß, und sie schwitzte in der Tat; sodann suggerierte man ihr, es sei kalt, und sogleich knöpfte sie ihren Rock zu, begann herumzugehen und sich die Hände zu reiben. In etwa fünf Minuten wurden wirklich ihre Hände eisig wie die einer der Kälte ausgesetzten Person. Also auch hier Erscheinungen rein physiologischer Natur! Das Pendant zu diesen "positiven Sinnestäuschungen" sind die "negativen Sinnestäuschungen". Hier werden bestimmte, tatsächlich vorhandene Personen oder Gegenstände vom Hypnotisierten nicht wahrgenommen. Dr. Gordon schreibt: So kann der Versuchsperson suggeriert werden, sie befände sich in einem Raume, wo zwei Stühle (tatsächlich vorhanden), aber kein Tisch stehe, der aber in Wirklichkeit vorhanden ist. Der Hypnotisierte geht durchs Zimmer und stößt sich prompt an dem für ihn nicht vorhandenen Tisch. Man suggerierte, es wären nur drei Personen anwesend, während in Wirklichkeit fünf Personen da sind, und die beiden Herren X und Y (Nr. 4 und 5) wären jetzt hinausgegangen. Der Suggestionierte nimmt diese beiden doch anwesenden Personen für Luft; wirft jedoch einer dieser Herren ein Taschentuch auf den Stuhl, so wundert sich die Versuchsperson, wieso durch die Luft das Taschentuch geflogen kommt. Dieses "Wegsuggerieren" von Gegenständen und Personen kann sich - allerdings wohl nur bei ganz besonders suggestiblen Personen - auf mehrere Tage erstrecken. So hat Prof. Dr. v. Krafft-Ebingen einer Patientin einmal suggeriert, Dr. H. verreise auf drei Tage. Als Dr. H. nun während dieser Zeit einmal mit brennender Zigarre bei der Patientin eintritt, ist sie ganz entsetzt über die Rauchwolke, das Leuchten der Zigarre und kann sich diese geisterhaften Phänomene gar nicht erklären. Man kann ferner auch einen Hypnotisierten zeitweilig vollkommen blind und taub machen. (Natürlich, ohne daß dann wirk-
liche Blindheit oder Taubheit rein organisch im Sinne des gewohnten Krankheitsbildes einträte.) Ein interessantes Beispiel ist in Kronfelds Buch "Psychotherapie, Charakterlehre, Psychoanalyse, Hypnose, Psychologik" (Berlin 1925) geschildert: Es ist mir einige Male bei besonders beeinflußbaren Persönlichkeiten durch eine Folge sehr intensiv beschreibender Suggestion gelungen, eine Ertaubung zu erzielen. Es ist mir dies immer nur auf beiden Ohren, niemals einseitig, geglückt. Jedesmal machte ich dann folgende Wahrnehmung. Ich sagte dem Hypnotisierten: "Alles um Sie herum wird immer leiser und leiser zu Ihren Ohren dringen; es wird sich wie dicke Pfropfen von Watte in Ihre Ohren legen; alles wird immer stiller; Sie hören gar nichts mehr; Sie sind von absoluter Stille umgeben; selbst nicht der lauteste Donner dringt mehr zu Ihnen; Sie sind völlig taub." Dabei streiche ich irgendwie rhythmisch über die Gegend des Ohres und der Schläfenschuppe. Tatsächlich hörten dann die Betreffenden angeblich gar nichts mehr. Sie hörten nicht, wenn ich mit Dritten über sie sprach, selbst wenn ich absichtlich Irrtümer über sie vorbrachte. Sie zuckten mit keiner Wimper, wenn unvermutet krachende Geräusche dicht neben ihnen erzeugt wurden. Sobald ich aber mit leiser Stimme sagte: "So, jetzt beginnt langsam das Ohr wieder zu arbeiten, die Außenwelt dringt deutlicher an Ihr Ohr, Sie hören besser, die Kraft des Gehörs stellt sich völlig wieder her usw.", wirkte bei den völlig "tauben" Menschen diese Suggestion auf das prompteste. Sie hatten also die wörtliche Suggestion gerade mit dem angeblich ausgeschalteten Sinnesorgan wahrgenommen. Als eine besondere Merkwürdigkeit in der Hauserei galt immer Kaspars Beteuerung, er könne das Gesicht seines angeblichen Kerkermeisters nicht schildern; er habe es nie wahrgenommen, weder im Verlies bei den Schreibübungen noch auf dem Weg nach Nürnberg. Die Hauser-Feinde triumphierten darüber. Sie sahen ihre Betrügertheorie gefestigt. Der Schlingel Kaspar Hauser wolle also bloß die Visage des
Mannes nicht angeben, weil sich dann alles als gewaltiger Schwindel herausgestellt hätte: die Sache mit dem Kerker, die Abstammung von "hohen" Eltern im Sinne von reichen und so weiter und so fort. Seine Freunde und Anhänger aber, die Hauserer, zogen lange Gesichter und gingen mehr oder weniger schweigend darüber hinweg. Sie konnten sich nicht erklären, weshalb Kaspar ausgerechnet das Gesicht nie gesehen hat - auch nicht auf dem Weg nach Nürnberg. Selbst dieser Erklärungsmangel wurde so zum Rätsel. Hauser konnte zwar die Klamotten seines Betreuers haargenau schildern, bis ins Detail, auch die Statur des Mannes, aber eigenartigerweise keine Angaben über dessen Gesicht machen. Die Frage ist nun, ob man einem Medium in Hypnose einsuggerieren kann, es sei nicht in der Lage, das oder jenes Gesicht zu sehen, es habe für ihn beispielsweise schwarz und damit nicht kenntlich zu sein. Ist das möglich? lautet also die Frage. Die Antwort sei noch vor der versuchten Beweisführung gegeben: Ja, das ist möglich. Kronfeld schreibt über die hypnotische Beeinflussung des Gesichtssinnes, nachdem er seine Versuchsperson in Tiefschlaf gebracht hat: "Sie sehen jetzt das Zimmer und die Menschen darin. Alles im Zimmer ist grün, alle Gesichter sind schwarz." Die Versuchsperson versicherte daraufhin, alle Gegenstände seien grün, alle Gesichter schwarz. Nicht recht viel anders kann es mit Kaspar Hauser gewesen sein. Er hatte den hypnotischen Befehl bekommen, alles, was vor der Hypnose war, aus seinem Gedächtnis zu streichen, zu vergessen und das Gesicht seines Betreuers ebenso. Daß man ihm gleichzeitig auch entsprechende Drohungen mit einbleute für den Fall, daß da und dort die Erinnerungssperre sich lockern sollte, dürfte, wie schon einmal gesagt, wahrscheinlich sein. Würde Kaspar das Gesicht jenes Mannes gesehen haben, hätte das für die Aussetzerclique gefährlich werden können. Ein solches Risiko konnten und brauchten die Hintermänner nicht eingehen. Kaspar hat also beim besten Willen keine Angaben über das Gesicht seines "Kerkermeisters" machen können. Inwieweit vor dem Aussetzen Kaspars gewisse Drogen eine Rolle spielten, wird sich nie mehr nachweisen lassen. Es scheint jedenfalls so, daß man
ihm ab und an Opium in sein Wasser gemischt hat, sozusagen zur Verstärkung der Hypnose, vielleicht auch nur, um zu experimentieren. Denn ein Medium von der Qualität eines Kaspars, hatte Verstärkungsmittel, wie sie heutzutage bei Hypnoseexperimenten gang und gäbe sind, sicher nicht unbedingt nötig. Aber es sei an Dr. Preus Versuch erinnert, der in Kaspars Wasser einmal einen kleinen Tropfen Opium getan hat. Der ahnungslose Findling trank davon und konstatierte verblüfft, das Wasser schmecke geradeso, wie manchmal das Wasser in seinem kerkerlichen Trinkgefäß geschmeckt habe. Wenige Minuten darauf war Preus Versuchskaninchen Casparus "weg vom Fenster". Er war tief und fest eingeschlafen. Kein Kanonendonner hätte ihn wecken können, wie Preu versicherte. In seinem kurzen Verliesaufenthalt habe Kaspar, so seine eigenen Bekundungen, nie etwas anderes wahrgenommen, als den Kerker, den er ziemlich genau beschreiben konnte, seinen "Hafen" zum Verrichten der Notdurft, seine zwei Holzpferdchen nebst Hund aus dem gleichen Material und einigemale den Kerkermeister "ohne Gesicht". Er vernahm keine Geräusche, auch nicht den entfernten Klang einer Glocke oder das Grollen eines Donners. Und auch das ist in Hypnose möglich, ja bei Tiefschlaf gleichsam die Regel, also keine Ausnahmeerscheinung. Fachleute auf dem Gebiet der Hypnose sprechen in diesem Fall von "Ausfallerscheinungen". Die Ausfallerscheinungen, heißt es bei Gordon, "treten spontan, als wesentlicher Bestandteil des hypnotischen Schlafes ein, ohne daß man sie sich zu bestellen braucht. Andererseits können sie natürlich auch durch besondere Suggestion hervorgerufen werden. Was sind nun solche "Ausfallerscheinungen"? Hören wir dazu den gleichen Autor: ... sind zunächst eine Reihe von Ausfallerscheinungen zu bezeichnen, für welche die Wissenschaft ihre Fachausdrücke hat, wie z. B. Alalie (Sprachlosigkeit), Alexie (Leseunfähigkeit), Agraphie
(Schreibunfähigkeit), Ataxie (Gleichgewichtsverlust), Amimie (maskenhafte Ausdruckslosigkeit), Apraxie (Wegfall der persönlichen Erfahrung), Analgesie (Schmerzlosigkeit), Anästhesie (Empfindungslosigkeit des Tastsinnes) ... und so weiter. Diese "Ausfallerscheinungen" können also in Hypnose ganz spontan alle zusammen auf einen Schlag eintreten, aber auch vereinzelt. Und wie wir gehört haben, selbstverständlich auch auf Befehl des Hypnotiseurs erzeugt werden. Daher rührt also Kaspars Aussage, er habe nie das Geläut einer Glocke vernommen, das er aber von seinem Verlies aus hätte hören müssen, wie wir noch vernehmen werden. Was nun die sogenannte Posthypnose betrifft, so ist darunter die Einpflanzung eines suggestiven Befehles in Hypnose zu verstehen, der erst nach einer kürzeren oder längeren Zeit ausgeführt werden muß, also nach der Hypnose. Bei Dr. Gordon steht: So kann ein derartig Hypnotisierter beispielsweise den Befehl erhalten, am dritten Tag nach der Hypnose an einer bestimmten Wohnung zu klingeln, einzutreten und dort nach abzuholenden Büchern oder dergleichen zu fragen. In der Zwischenzeit ist die Versuchsperson vollkommen normal, aber zur bezeichneten Zeit wird sie von einem ihr unerklärlichen Willen gepackt, das ihr Befohlene auszuführen. Dieses bei Gordon angeführte Beispiel erinnert frappant an das Hauser-"Rätsel" mit dem Klingelzug am Hauseingang zur Wohnung des Rittmeisters von Wessenig. Bekanntlich konnte nie geklärt werden, wer nun den Klingelzug betätigt hat. Hauser selbst oder der Schuhmachermeister Weickmann. Aussage steht gegen Aussage, wie Sie sich erinnern werden. Kaspar behauptete bei seiner Vernehmung, er wisse mit Bestimmtheit, daß ihn Weickmann bis an die Haustür des Rittmeisters geführt und auch dort geläutet habe. Weickmann aber gab zu Protokoll, er habe den Jungen nur bis zur Wache am Neuen Tor begleitet und sei dann seiner Wege gegangen.
Aber wie wir bei Gordon gesehen haben, könnte es durchaus auch so gewesen sein, daß Kaspar den posthypnotischen Befehl bekommen hatte, bei von Wessenig angekommen, dort den Klingelzug in Bewegung zu setzen. Dagegen spricht allerdings die Bestimmtheit in Kaspars Aussage. Doch wäre auch dies möglich, daß sich der Findling einfach geirrt hat und sich nachträglich genierte zu sagen, genau könne er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, wie die ganze Sache nun tatsächlich war. Schließlich war Kaspar auch nicht in der Lage zu erklären, wie und auf welchen Wegen er vom Neuen Tor zu von Wessenigs Wohnung kam und warum er für den Katzensprung volle 100 Minuten brauchte. Für die Hauserer wie die Antihauserer war die Sache mit dem Klingelzug wesentlich - so dachten sie jedenfalls. Denn wenn Kaspar gleichsam aus freien Stücken die Klingel zog, dann war dies der Beweis, daß er entgegen allen anderen Beteuerungen und Gebaren sehr wohl mit Geräten dieser schnöden Welt vertraut war. Im dunklen Kerker, so witzelten seine Feinde nicht ganz zu Unrecht, wird er wohl kaum Gelegenheit gehabt haben, sich mit Klingelzügen vertraut zu machen. Verständlich, wenn die Prohauserei Kaspars Aussage, der Weickmann hätte geläutet, in ihr Legendenkonzept vom zwölfjährigen Verliesaufenthalt mit Wonne einbaute. Aber wie dargelegt, ist die Klingelzieherei als Realisation eines posthypnotischen Befehls ohne weiteres erklärbar. Was nun die Wirkung posthypnotischer Befehle anbelangt, so sind sich darin die Gelehrten nicht einig. Ihre Erfahrungen und Folgerungen sind recht verschieden. Gordon schreibt beispielsweise: "Bei geeigneten Persönlichkeiten realisieren sich diese Befehle noch nach sehr langer Zeit, nach Wochen, Monaten, selbst nach einem Jahr." Altmeister Professor Schultz sagt zum gleichen Thema, daß sich posthypnotische Aufträge, sogenannte Termineingebungen, "im Experiment bis über 365 Tage, neuestens (Weitzenhofer 1950) über 5 Jahre!" hielten. Kaspar, das wäre anzufügen, lebte aber nicht länger als fünf Jahre. Gerechnet von seinem Erscheinen auf dem Unschlittplatz bis zum Dolchstich im Ansbacher Hofgarten. Ein längerer Zeitraum war dem Jungen nicht beschieden.
Die zwei hauptsächlichsten posthypnotischen Befehle, die Kaspar mit auf den Weg gegeben worden sein dürften, waren ohne Zweifel die Erinnerungslosigkeit für alle Erlebnisse vor dem Tiefschlaf, also die Einhaltung dieser hypnotisch erzeugten Erinnerungssperre unter gleichzeitigem Drohen und vielleicht auch Verheißen sowie der Befehl, das Gesicht des Kerkermannes und Geleiters nach Nürnberg nie und nimmer zu kennen. Das Gesicht dieses Mannes, den wir noch kennenlernen und der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht identisch war mit Kaspars Hypnotiseur, hatte also ein Tabu zu sein und zu bleiben. Dennoch hat die Erinnerungssperre Lücken bekommen, ist sie da und dort, wie wir gesehen haben, gebröckelt, rissig geworden. Inwieweit sich aber diese Erinnerungsfetzen zu einem bescheidenen Erinnerungsmosaik verdichtet haben, wird nie mehr feststellbar sein. Kaspar Hauser, wie die Aussetzer dem Jungen einbleuten sich fürderhin zu nennen, hat sie als sein persönliches Geheimnis mit ins Grab genommen. Denn daß er im Laufe der Zeit mehr Wissen um seine Vorgeschichte bekam, als er zugegeben hat, dürfte gewiß sein. Was uns bleibt, sind also nur Rückvermutungen, Rückkombinationen, die allerdings insofern Gewicht haben, als man heutzutage dank der Forschungsarbeiten von Leuten wie Pies, Klee, Bartning, Wagler oder Scholz einen Berg authentischer Fakten hat, mit deren Hilfe sich arbeiten läßt. Scholz war es übrigens, wenn das Gedächtnis keinen Streich spielt, der als erster deutlich auf die Möglichkeit einer hypnotischen Behandlung des Kaspar Hausers hinwies. Wer von Hausers Zeitgenossen hatte denn schon Einblick in die Aktenberge, Zeugnisse und Gutachten! Nur ein kleiner Kreis. Was sie uns Heutigen allerdings unwiederbringlich voraus hatten, ist die Tatsache, daß sie Kaspar persönlich gekannt und erlebt haben. Aber ansonsten war ihr Wissen und Einblick mangelhaft; und vieles wurde erst viele Dezennien nach Hausers Tod entdeckt. Der Abstand zu Hausers Zeit hat also auch Vorteile. Auffallend und nachdenklich stimmend ist jedenfalls, daß Kaspars Mitteilungsbedürfnis über Erinnerungsfetzen im Laufe der Jahre nicht zugenommen, sondern abgenommen hat. Auch die hypnotische Logik
gebietet nämlich festzuhalten, daß die Durchbrechung der Erinnerungssperre mit der Zeit bröckeliger wird. Warum soll es beim Medium Hauser anders gewesen sein? Aber wie gesagt, Kaspar hat darüber nichts mehr verlauten lassen, hat’s für sich behalten. Sicher aus Angst. Vielleicht auch, weil Verheißungen damit verbunden waren, zum Beispiel der Art: Wenn du die und die Zeit durchhältst, schweigsam gegenüber jedermann, dann kannst du nach Ablauf der und der Frist zu deiner Mutter. Sie ist aber in größter Gefahr, du natürlich ebenso, wenn du weiterhin so mitteilsam bist wie mit deinen Schloßträumen. In den ersten anderthalb Jahren seines Nürnberg-Aufenthalts, ja da war unser Kaspar noch mitteilsam. Da schrieb er auf Bitten oder Drängen Daumers seine Traumerlebnisse noch selbst in seinem holperigen Deutsch auf ein Blatt Papier. Ja, Kaspar fing sogar an - sicher steckten Daumer und wohl auch Binder dahinter -, eine Autobiographie zu schreiben. Man höre und staune! Eine Erstfassung stammt noch aus dem Jahre 1828. Bei Daumer lesen wir darüber: Ich veranlaßte ihn noch im Jahre 1828, eine Geschichte seiner Schicksale zu schreiben. Von dieser - wie er denn überhaupt seine Aufsätze endlos umzuarbeiten pflegte - sind mehrere Anfänge vorhanden ... Zwei Wochen vor dem Attentat im Oktober 1829 hatte dann Hauser "die erste reingeschriebene Hälfte seiner Autobiographie" der Nürnberger Polizei überreicht. Nach dem Attentat aber war Schluß mit der Memoirenschreiberei. Will heißen: der Kaspar hat zwar noch weitergeschrieben, aber das Geschriebene keiner Menschenseele mehr gezeigt. Insofern war also das Attentat als Verpassung eines Denkzettels im Sinne der Dunkelpartei von Erfolg gekrönt. Kaspar wahrte sein Geheimnis mit aller Schläue und Raffinesse, der er fähig war. Dabei wäre es natürlich von größter Wichtigkeit gewesen, zu erfahren, wie weit sich das Erinnerungsmosaik schon verdichtet hat. Aber Kaspar, der überaus ängstliche Junge - wer will’s ihm übelnehmen? - dieser Kaspar hielt dicht. Er hielt auch dicht gegenüber dem englischen Ari-
stokraten Lord Stanhope, seinem nachmaligen Pflegevater, auf den wir noch eingehend zu sprechen kommen werden. Und er schwieg wie ein Grab gegenüber dem Schullehrer Meyer, bei dem er später, während seiner Ansbacher Zeit, in Kost und Logis war. Beide, der dunkle Lord Stanhope und der Lehrer Meyer, hätten liebend gerne Hausers Autobiographie an sich gebracht. Und wie sie sich bemühten, die beiden sauberen Herren! Aber weder Drohungen noch Versprechungen brachten sie zum ersehnten Ziel. Hauser versteckte seine Hefte, indem er sie an die Rückwand seines Schreibtisches im Hause des Lehrers befestigte. Ganz schön raffiniert, ganz schön clever! Eingesehen aber hat die Hefte mit seinen Erinnerungen nie jemand. Sie wurden bis zum heutigen Tag nicht aufgefunden. Waren auch nicht bei seinem Nachlaß. Eine mysteriöse Sache. Hat Kaspar sie verbrannt? Hat er sie seinem großen Gönner, seinem väterlichen Freund und Beschützer von Feuerbach überantwortet? Jedenfalls sind sie nie mehr aufgetaucht. Hätte sie aber Meyer an sich gebracht oder Lord Stanhope, durch irgendeine schmierige List, und sie hätten für Hauser Dinge beinhaltet, die ihn belastet hätten, Hauser, den Verfasser - keiner der beiden nachmaligen HauserFeinde hätte sich gescheut, sie triumphierend der Öffentlichkeit zu übergeben. Andererseits: wer wird schon so dämlich sein, Belastendes über sich selbst zu schreiben. Also haben sie nichts Belastendes erhalten. Genug der Deuterei. Von Daumer wissen wir, daß es mehrere Anfänge von Hausers ersten autobiographischen Schreibversuchen gibt. Der erste Entwurf, der von 1828, lautet so: Die Geschichte von Kaspar Hauser, ich will es von selbst schreiben, wie hart es mir ergangen ist. Da wo ich immer eingesperrt war in diesem Gefängniß da war es mir recht gut vorkommen, weil ich von der Welt nicht gewußt habe, und solange ich eingesperrt war und keinen Menschen niemals gesehen habe. Ich habe zwei hölzerne Pferde und ein Hund gehabt, mit diesen habe ich immer gespielt, aber ich kann es nicht sagen, ob ich den ganzen Tag gespielt habe
oder eine Woche ich wußte nicht was ein Tag oder ein Woche ist, und ich will es beschreiben wie es ausgesehen hat in dem Gefängniß da war ein Stroh darin ... Ein anderer Anfang ist folgender: Diese Geschichte von Kaspar Hauser, will ich selber schreiben. Wie ich in den Gefängniß gelebt habe, und beschreibe wie es ausgesehen hat und alles was bei mir darin gewesen ist ... Es heißt weiter bei Daumer: Von einem dritten Versuch, vom Februar 1829, worin schon eine gebildetere, doch noch sehr natürliche und naive Schreibart erscheint, ist folgendes ein Stück: "Diese Lebensbeschreibung von meinem vorigen Zustand nach der Erinnerung geschrieben." Einem weiteren Entwurf seiner Lebensgeschichte gab Kaspar folgenden Titel: "Lebensgeschichte von Kaspar Hauser in Nürnberg." Was folgt, ist ein schwülstiger Sermon von triefenden Gefühlen. Eine Kostprobe dieses Geschreibsels, das die gemütvolle Handschrift einer Johanna Binder hat, soll uns genügen: Welcher Erwachsene gedächte nicht mit trauriger Rührung an meine unschuldige Einsperrung für meine jungen Jahre, die ich in meiner blühtesten [blühendsten] Lebenszeit zugebracht habe. Das sich so manche Jugend das Leben erfreuet hat, in entzückenden Träumen und Vergnügungen lebten da meine Natur noch gar nicht erweckt ... Irgendwann im Frühjahr 1829 hat unser Kaspar dies gefaselt. Daumer sprach von einem "Durchgangspunkt der Bildung". Und Kaspar hat ihn wohl auch bald hinter sich gebracht. Festgehalten aber darf werden, daß sich die selbstbiographischen Ergüsse des Kaspars in Nürnberg herumgesprochen haben. Da und dort wurde sogar außerhalb Nürnbergs in Zeitungen darüber berichtet. Für den armen Jungen war dies natürlich gefährlich, da es die Aussetzpartei auf den Plan rufen mußte. Anselm von Feuerbach schien es als einziger erkannt zu haben, wie überaus gefährlich die Kunde von Kaspars diesbezüglichen Schreibversuchen sein mußte. Er schrieb sinngemäß: Wer über sein
Leben schreibt, muß darüber etwas wissen. Aber allem Anschein nach konnte es der Ansbacher Staatsrat nicht verhindern, daß darüber gesprochen und gemunkelt wurde. Und die Aussetzer konnten ja nicht wissen, wieweit Kaspars Erinnerungen gehen. Nur ein kleiner Kreis mit Binder an der Spitze wußte dies. Bürgermeister Dr. Binder schrieb denn auch an die Regierung in Ansbach über Hausers "erste reingeschriebene Hälfte seiner Autobiographie" - es war dies zwei Wochen vor dem Attentat vom 17. Oktober 1829 -: Er hoffte, die andere Hälfte wegen seiner etwas leidenden Augen in etwa drei Wochen abliefern zu können, und hatte eine herzliche Freude daran. Der Vorstand würde sie dann, obgleich freilich nichts darin zu finden ist, was auf seine rätselhafte Abkunft auch nur einen Schein würfe, mit den Akten der K. Regierung befehlsgemäß vorgelegt haben. Jetzt muß das Ganze mit den Vorakten und den jetzigen Akten morgen dem k. Kreis- und Stadtgericht übergeben werden, dessen Vorstand der Unterzeichnete von diesem Fall zur allfallsigen gerichtlichen Einschreitung noch gestern in Kenntnis gesetzt hat. Bis dahin hatte also die Erinnerungssperre im wesentlichen gehalten die Träumereien ausgenommen. Aber das konnten ja die Aussetzer nicht wissen. So nahte das Verhängnis mit Riesenschritten. Dies, obgleich es im großen und ganzen still geworden ist um den jungen Mann. Die breite Öffentlichkeit kümmerte sich schon lange nicht mehr in dem Maße um den Fall "Kaspar Hauser" als dies im ersten Jahr der Fall war. Und Kaspar selbst hatte sich auch in seine Umwelt eingefügt und war dabei, ein ganz normaler junger Mann zu werden, mit allen Vorzügen und Schwächen, die der Jugend eigen sind. Da und dort haben zwar mitfühlende Menschen noch aufgehorcht, wenn sie etwas von Hauser hörten, vor allem die Sache mit seiner Lebensbeschreibung. Aber sie wird ja nicht so toll ausgefallen sein, mögen sie sich gesagt haben, sonst hätte man mehr darüber gehört. Den Aussetzern jedoch mußte, wie gesagt, die Sache an die Nieren gegangen sein.
So kam der 17. Oktober 1829 - ein Hauser-Datum. Es war ein Samstag, regnerisch, windig und kühl. Gut ausgewählt das Ganze, wie im Mai Anno 1828 und wie im Dezember 1833 in Ansbach. Ja, um der Geschichte wieder einmal vorzugreifen: auch das Attentat Nummer zwei, an dessen Folgen Hauser im Alter von 21 Jahren starb, geschah an einem Samstag: an einem windigen, feucht-kalten Samstag, der durchsetzt war mit Schneematschschauern. Und mit Sicherheit war dies kein Zufall, sondern wohlberechnet einkalkuliert. Hinzugefügt werden darf, daß justament am 17. Oktober ‘29, also am Tag des ersten Attentats auf Hauser, Nürnbergs Polizeichef, Bürgermeister Dr. jur. Binder, grippekrank daheim lag. Am Tage des Attentats Nummer zwo war’s ähnlich. Kaspars offizieller Beschützer, Polizeioberleutnant Hickel, war auf Reisen und Staatsrat Anselm von Feuerbach seit einem halben Jahr tot. Das kann kein Zufall sein. In der Tat wurden die ersten wichtigen Stunden an diesem 17. Oktober 1829, also unmittelbar, nachdem der Rasiermesserheld sein dunkles Werkzeug gegen Kaspar geschwungen hatte, fahndungsmäßig nicht so genutzt, wie’s für diesen Fall notwendig gewesen wäre. Es dauerte seine Weile, bis der Polizeiapparat in Bewegung gebracht worden war - wie später auch in Ansbach. Und da waren dann die kostbarsten Stunden verstrichen. Eine Todsünde in der Kriminalistik. Aber dies alles hätte der Mörderclique dessenungeachtet letztlich nichts genutzt, wären nicht die Anweisungen von oben gekommen, der Fall "Kaspar Hauser" habe künftig und für alle Zeiten allenfalls als Prinzenlegende fortzubestehen, keinesfalls aber als ein Politikum. Wie wir noch erfahren werden, hat Metternich höchstpersönlich eingegriffen, wohlwissend, daß sich am Schicksal des weltberühmten Findlings das monarchische "Pulverfaß Europa" entzünden könnte. Die um Kaspar pokerten, haben dessenungeachtet viel riskiert. Kopf und Kragen. Gewiß. Aber ihre Berechnung ging auch auf: Nie wurde einer der Politverbrecher gerichtlich belangt. Weder jener Friedrich Müller, der das Messer im Ansbacher Hofgarten führte, noch einer seiner Gehilfen. Auch nicht der Regisseur des ganzen. Von den Auftraggebern ganz zu schweigen. Sie alle starben eines natürlichen To-
des, wurden nie von einem Polizei- oder Kriminalbeamten behelligt oder gleich gar von einem Gericht. Es ging eben um "höhere" Politik, und die verklärt auch einen Mord - Massenmord sogar, wie wir mittlerweile wissen. Der Mensch Kaspar Hauser, der arme Junge, konnte das nie begreifen. Mit Sicherheit nicht. Er hätte denn ein Genie sein müssen, oder besser noch: ein ausgefuchster Politprofi unserer Zeit. Aber wer fragt schon nach Jokern, nach Bauern auf dem politischen Schachbrett! Nach Leuten dieser Gattung wurde damals nicht gefragt und auch heute nicht. Doch lassen wir die Geschichte weiterreden, geben wir ihr das Wort und verfolgen dann Stück für Stück diesen Samstag, den 17. Oktober 1829. Hauser selbst gab elf Tage nach dem mysteriösen Anschlag, also am 28. Oktober, zu Protokoll, er sei auch an diesem Tag - "wie gewöhnlich" - früh um sieben Uhr aufgestanden. Er wusch sich, machte sein Bett und ging dann zur Mutter des Professors frühstücken. (Wie schon des Gefängniswärters Hiltel Eheweib, so nannte er auch Daumers Mutter "Mutter".) "Als ich von dort aus in meine Stube zurückgekehrt war, las ich die christliche Betrachtung des Tages ..." Nach dieser frommen Beschäftigung bat des Professors 22jährige Schwester Kathi, ob er mit ihr auf den Markt gehen würde, was er schon des öfteren und gerne getan hatte. Im Gegensatz zu einigen Stunden später war an diesem frühen Vormittag noch "schönes Wetter". Da Hauser dies im Protokoll extra erwähnte, wird Kaspar aus diesem Grunde besonders gerne der Einladung gefolgt sein. Vielleicht aber auch noch aus einem anderen Grund, nämlich um bei einem Menschen zu sein, dem er bedingungslos vertraute. Kaspar war nämlich seit Tagen schon in einem eigenartigen seelischen Zustand: einer Mischung aus Erwartung und Angst. Pflegevater Daumer berichtete darüber am 26. Oktober, also zwei Tage vor seines Zöglings Vernehmung, dem Königlichen Kreis- und Stadtgericht auf die Frage, wie Hausers psychischer Zustand in den Tagen vor dem Attentat beschaffen war: Vor dem Mordversuch war Hausers Gemüt und Phantasie in einer ungewöhnlichen Aufregung. Er behauptet jetzt, innerhalb einiger Tage zuvor eine bestimmte Ahnung gehabt zu haben, daß ihm etwas
begegnen werde, was er aber aus Besorgnis, lächerlich zu werden, verhehlt habe. Hier wird wieder - wie so oft! - ein Charakterzug sichtbar, der für Kaspar nicht nur typisch war, sondern schließlich auch sein Verhängnis einleitete. Nämlich: seine unwahrscheinliche Eitelkeit. Ja, der Kaspar war ein eitler Tropf! Er wollte sich um nichts in der Welt blamieren. Auch nicht auf dem Totenbett bei Lehrer Meyer in Ansbach. Er blieb eisern. Nichts ist durch seine Zähne geschlüpft, womit er sich seiner Meinung nach hätte blamieren müssen oder können. Gerade auch nicht sein Umgang in den letzten Wochen und Monaten seines Lebens. Gemeint ist der Umgang mit Leuten, die an seinem Ende arbeiteten. Lehrer Meyer hat diese kasparliche Schwäche durch seine penible, kleinkarierte, rechthaberische "Erziehungsmethode" nicht abgebaut, sondern verstärkt. Damit trieb er Kaspar in die Hände seiner Feinde. Armer, armer Kaspar! Hast so wenig Glück gehabt in deinem kurzen Leben! Kaspar, um wieder zu Daumers Vernehmung zurückzukehren, hat also gewisse Ahnungen gehabt. Schon Tage vor dem Anschlag, der ihn nicht tötete und sicher auch nicht töten sollte. Daumer protokolliert darüber weiter: Nach diesem Vorfall scheint Hauser einige Augenblicke in einem phantasierenden Zustand gewesen zu sein, worin er vielleicht glaubte, den Mann, der ihn verwundete, reden zu hören. - (Denn daß er wirklich gesprochen, ist höchst unwahrscheinlich) - Nach Aufhören der Paroxysmen [Anfall, höchste Krankheitssteigerung - d. Autor] und Rückkehr des Bewußtseins befand sich Hauser in einem eigentümlichen, fast somnambulen Zustande, wovon auch Herr Dr. Osterhausen Zeuge gewesen. Um der Attentatsgeschichte an diese Stelle nochmals vorzugreifen: Nicht nur Daumer berichtete über das Phänomen, daß Kaspar als Folge des Anschlags und der erlittenen Verwundung eigenartigerweise wieder hypersensibel wie im Anfang wurde. Daumer weiter:
Noch jetzt ist seine innere Verfassung von seiner sonstigen sehr verschieden und höher gestellt als gewöhnlich. Seine Empfindlichkeit ist überhaupt wieder krankhaft erhöht und er spürt wieder, wie in früherer Zeit, Metalle, Glas, Gesteine und die Strömungen der Lebenskraft aus animalischen Körpern auf eine sonst nur im Somnambulismus vorkommende Weise. Kaspar zuckelte also mit Fräulein Kathi los in Richtung "Grüner Markt". Kathi machte dort mit der Gärtnerin aus Schniegling ein Schwätzchen, plauderte über dies und das und scheint dabei ganz ihren Kaspar vergessen zu haben, der - immer nervöser werdend neben ihr stand und unruhig umherblickte. Kaspar bei seiner Vernehmung wörtlich: Fräulein Daumer sprach geraume Zeit mit der ihr wohlbekannten Gärtnerin von Schniegling, während welcher Unterredung mir die Zeit wahrhaftig lang wurde, weil ich von einem Gefühl innerer Beängstigung mich derart ergriffen fühlte, daß ich Fräulein Daumer ausdrücklich ersuchte, bald mit mir nach Hause zu gehen. Kathi schien Kaspars Wunsch entsprochen zu haben. Auf dem Weg in die Wohnung auf der Schütt, im Haubenstricker’schen Anwesen, begegnete den beiden der Stadtgerichtsarzt Dr. Preu. Dieser bat den Kaspar, er möge doch um zehn Uhr bei ihm vorbeikommen. Der Grund: Ein fremder Herr wünsche den Hauser Kaspar zu sehen. Welcher "Fremde" dies war und weshalb er den Kaspar zu sehen wünschte - danach hat nie ein Hahn gekräht. Mit anderen Worten: Kein Polizeibeamter, kein Gerichtsbeamter hat je danach gefragt, was es mit diesem Fremden auf sich hat. Und dies, obgleich zwei knappe Stunden nach der "Bestellung" des Kaspars zu Dr. Preu ein Attentat auf Hauser verübt wurde. Wer war dieser Fremde? Wie hat er geheißen? Woher ist er gekommen? Wohin ist er gegangen? Niemand weiß es, niemand hat je danach gefragt. O reichsfreiherrliche Noris, was du einmal warst! In deinen Mauern hat man sich weitaus mehr um allerlei Firlefanz und Hokuspokus gekümmert, denn um kriminalistische Basisarbeit.
Kaspar ging aber nicht sogleich mit Dr. Preu zu dessen Wohnung, sondern mit Kathi erst wieder nach Hause. Der scheinheilige Schlingel von einem halb erwachsenen ABC-Schützen wollte nämlich nur seine Rechentafel holen, weil er bei Lehrer Emmerling von elf bis zwölf Mathestunde hatte. Scheinheilig war der Schlingel deshalb, weil er just diese Mathestunde bei Pauker Emmerling sage und schreibe seit einer geschlagenen Woche schon schwänzte. Am Tag zuvor, am Freitag, am 16. Oktober also, war ihm Pflegevater Daumer auf die Schliche gekommen. Kaspar bekam eine gehörige Standpauke. Der brave Professor war in Rage gekommen. Er war sauer. Sein Kaspar und ein Stundenschwänzer! Nicht auszudenken! In Daumer war zwar nicht die Welt, aber ein halber Erdteil zusammengebrochen. Dieser Zusammenbruch scheint jedoch nicht lange angehalten zu haben. Jedenfalls ging Kaspar angeblich wegen der Rechentafel nach Hause. Angeblich? Mag sein. Wahrscheinlicher aber ist, daß Kaspar reumütig seine Schwänzerei wieder gutmachen und tatsächlich zu Emmerling wollte. Gegen zehn Uhr latschte jedenfalls der olle Matheschwänzer samt Rechentafel wieder los. Zu Dr. Preu und dem sagenhaften Fremden. Angekommen bei Dr. Preu, war dieser noch nicht einmal zurück von seinem Gang in die Stadt. Vielleicht war’s auch noch nicht ganz zehn Uhr, als Kaspar in der Preu’schen Wohnung ankam. Auch der Fremde war nicht da. Wenige Minuten darauf kam aber der Doktor zurück. Alleine. Ohne Fremden. Und Kaspar wartete nun gemeinsam mit Preu auf jenen Fremden, der Kaspar angeblich inspizieren wollte. Man plauderte. Und Dr. Preu, der alte homöopathische Experimentator, gab dem Kaspar ein kleines Stückchen einer "welschen Nuß". Sogleich bekam Hauser Brechgefühl. Ihn würgte und ekelte. Er spie einen Teil des Zeugs wieder aus und fühlte sich dennoch, von Minute an, höchst unwohl. Mit Erlaubnis des Homöopathen empfahl sich Kaspar um "Œ nach 10 Uhr". Er hat also nicht lange auf den Fremden gewartet, hatte nun andere Sorgen, als wieder einmal wie ein seltenes Tier im Zoo vorgeführt zu werden. Und Dr. Preu wird das eingesehen haben. Was soll
er mit einem Kaspar anfangen, dem es speiübel war? Viel zu experimentieren war an diesem Samstag eh nicht. Nicht mit dem Kaspar. Zum Schluß könnte man sich noch blamieren mit dem komischen Heini von einem Kaspar. Der Junge, das "Kind Europas", das schon in Bälde wieder in aller Munde sein sollte, mehr als je zuvor, machte sich also auf den Weg nach Hause, zu Daumers. Wann er hier ankam, und zwar ganz genau der Uhrzeit nach, konnte schon bei den damaligen Vernehmungen nicht geklärt werden. In der Vernehmung der Anna Katharina Daumer, 22 Jahre alt, ledig, evangelisch, zu Nürnberg geboren, "hinterlassene Tochter des Kaufhändlers Peter Daumer dahier" - in dieser Vernehmung einige Stunden nach dem Anschlag, gab Kathi zu Protokoll: "Der bei uns in Verpflegung befindliche Kaspar Hauser war diesen Vormittag zu Herrn Dr. Preu bestellt, ging auch um 10 Uhr zu demselben und kam nach 11 Uhr zurück ..." Also wohlgemerkt: Kathi gab an, Kaspar sei n a c h elf Uhr von Preu zurückgekommen. Ihr Bruderherz aber, der Herr Professor Daumer gab bei seiner gerichtlichen Einvernahme am 26. Oktober an, Kaspar wäre v o r elf Uhr von Preu zurückgekehrt. Wörtlich steht im Protokoll: Sonnabend, den 17. Oktober, vormittags 10 Uhr, ging Kaspar Hauser zu Herrn Dr. Preu und kam vor 11 Uhr zurück. Da er nicht ganz wohl war, so sagte ich ihm, daß er heute die Rechnungsstunde, welche er bei Herrn Emmerling von 11 - 12 Uhr besuchte, diesmal nicht nehme, sondern zu Hause bleiben solle. Er ging in sein Zimmer im ersten Stock, um sich zu beschäftigen, ich aber ging aus, um einen Spaziergang zu machen. Kathi Daumer hat also angegeben, Kaspar sei nach elf von Preu gekommen, ihr Bruder hingegen gab die Uhrzeit mit vor elf an. Kaspar selbst aber sagte dazu gar nichts. Sicher hat man ihn nach der Uhrzeit auch gar nicht gefragt. Aus seinem Protokoll geht jedenfalls daraus nichts hervor. Aber beim Vergleich der Aussagen fällt auf, daß Kaspars Schilderung chronologisch korrekt ist und keine Widersprüche aufweist. Kaspars Exaktheit im Beobachten, ist schon Feuerbach auf-
gefallen, der darüber berichtet hat. Der Junge war jedenfalls pragmatischer, weniger verbildet als sein Erzieher, der Professor Daumer. Ganz korrekt und exakt war Daumer halt doch nur bei seinen Experimenten und Fisimatenten. Für Dinge des täglichen Lebens hatte er keine rechte Hand. Nach des Professors Aussage ging also Kaspar auf sein Zimmer, "um sich zu beschäftigen", derweilen der Pflegepapa das Haus zu einem Spaziergang verließ. Nach den Gesetzen der Logik muß Hauser also gegen 10 Uhr 30 von Preu zurückgekommen sein. Er selbst gab zu Protokoll: "Ich ging hierauf in mein Zimmer, zog den Rock aus und reinigte insonderheit meinen Mantel im Hausplatz vor meiner Stube." Dabei hörte er an der Haustür die Glocke läuten. Mutter Daumer öffnete die Haustür vermittels eines mechanischen Zuges, wie’s damals üblich war, und Kaspar hörte, daß es die Magd des Kandidaten Günther war. Bei seiner eigenen Vernehmung mokierte sich Kaspar darüber, daß die Günther’sche Magd häufig genug die Haustüre nicht hinter sich schlösse, sondern aus Bequemlichkeit nur anlehnte. Gerade an diesem 17. Oktober, so vermutete Hauser, sei es wieder so gewesen. Kaspar: ... und obwohl ich es nicht wahrnehmen konnte, daß dies auch am 17. von der Günther’schen Magd geschehen, so bin ich doch des Dafürhaltens, daß die Giinther’sche Magd auch an diesem Tage die Türe nur angelehnt und dadurch Gelegenheit zum Einschleichen gegeben habe. Das war ein handfester Vorwurf, den Kaspar zu Protokoll gab. Als Uhrzeit, wann die Magd geläutet habe, gab Kaspar an: "... zwischen œ und Ÿ auf 11 Uhr ..." Also zwischen 11 Uhr 30 und 11 Uhr 45, wie wir uns heute auszudrücken pflegen. Die 19jährige Katharina Magdalena Regulein, wie die Magd des Kandidaten Günther von nebenan hieß, sagte jedoch am 23. Oktober unter Eid aus: "Am 17. Oktober habe ich ganz spät, nämlich erst um Ÿ auf 12 Uhr, das Geschirr gebracht ..." Das wäre nach unserer Schreibweise 12.45 Uhr gewesen und kann so nie und nimmer stimmen. Diese Uhrzeit steht im Wider-
spruch zur Aussage Hausers und der Familie Daumer nebst Nachbarn. Nach Kaspar hat die Regulein zwischen 11 Uhr 30 und 11 Uhr 45 geläutet, wie wir schon oben vernommen haben. Das Mädel oder der Protokollführer müssen sich geirrt oder aus Versehen die Zahl 12 anstatt 11 ins Protokoll geschrieben haben. Es wird also "Ÿ auf 11" und nicht "Ÿ auf 12 Uhr" gewesen sein, als die Magd läutete und das leere Geschirr zur Mutter Daumer brachte. Ich hole das Essen für den Herrn Kandidaten Günther und komme dieserhalb täglich zweimal in das von Professor Daumer bewohnte Haubenstricker’sche Hinterhaus. So erzählt es die Magd dem Vernehmungsbeamten und fährt fort: Das erstemal gehe ich dahin zwischen 11 und 12 Uhr, jedoch bald nach 11, bald um Œ auch erst um œ 12 Uhr, wo ich das Geschirr zum Essen überbringe, und das zweite Mal komme ich und hole gewöhnlich mit dem Schlag 12 Uhr das Essen. Aber wie wir oben vernommen haben, hat das Mädchen just an diesem 17. Oktober ausnahmsweise das Geschirr "ganz spät" gebracht, nämlich - und so wird es gewesen sein - erst um 11 Uhr 45. Befragt, ob sie am Tage des Attentats die Haustür hinter sich zugemacht habe, antwortete sie: "... und es ist mir genau erinnerlich, dortmalen die Türe zugemacht, somit nicht nur zugelehnt zu haben." Vorsichtig setzt Fräulein Regulein, die ja unter Eid aussagte, noch hinzu: "Ich weiß dieses wenigstens durchaus nicht anders." Wobei, darf angefügt werden, die Betonung wohl auf diesem letzten Satz liegt, wo sie andeutet, sie könnte sich eventuell auch geirrt haben. Der vorhergehende Satz wird eine Schutzbehauptung gewesen sein, da man ihr den Vorwurf gemacht hatte, wie schon oft, so auch an diesem 17. Oktober die Haustüre nur angelehnt zu haben. Denn durchs Schlüsselloch wird der Attentäter nicht gekommen sein. Das ganze Vorhaben war eh risikoreich genug. Bliebe ansonsten nur die bösartige Unterstellung, es sei überhaupt kein Fremder im Haus gewesen. Was bedeuten würde, der Kaspar hätte sich die Wunde an der Stirn selbst beigebracht. Dies behaupteten die Hauser-Feinde lautstark und
unermüdlich. Aber mit Lautstärke und Beharrlichkeit im Sinne von Rufmord werden keine Fakten geschaffen. Damit alleine nicht. Diesen Unterstellungen stehen die Gutachten der Ärzte gegenüber, wonach die Wunde von fremder Hand beigebracht wurde. Dem steht auch gegenüber die Psyche des Kaspar Hauser. Ach, die Hauser-Feinde waren schlechte Psychologen. Sie konnten sich dies auch erlauben und leicht ihr Schandmaul aufmachen, da die Öffentlichkeit ja keine Akteneinsicht hatte und nur von Gerüchten und Mutmaßungen zehren konnte - und von den Publikationen der zumeist in offiziösem Auftrag handelnden Hauser-Gegnern. Dies wurde erst anders, als Dr. Pies begann, die der allgemeinen Vernichtung entgangenen Akten sorgfältig abschreiben zu lassen, um sie sodann buchstabengetreu zu veröffentlichen. Wäre dies zu HauserZeiten schon möglich gewesen: nie hätte es jemand wagen können, die handfesten Tatsachen zu verdrehen und dem armen Kerl von einem Kaspar zu unterstellen, er habe sich selbst verwundet, um die nachgelassene öffentliche Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. Kaspar, so haben wir vernommen, hörte also zwischen halb und dreiviertel zwölf Uhr die Regulein läuten und das Geschirr bringen. Er befand sich in diesem Moment auf dem Flur vor seinem Zimmer im ersten Stock und reinigte seinen Mantel. Er ging dann wieder in seine Stube. Dort "wollte ich mich im Schreiben etwas beschäftigen, ward von hier aus aber durch ein natürliches Bedürfnis auf den Abtritt geführt, wo ich kaum eingetroffen war, als es Ÿ auf 11 Uhr schlug". Kaspar mußte also auf den Lokus. Auch hier wieder die exakte Schilderung! Hauser gab an, daß die Uhr gerade dreiviertel zwölf anschlug. Wahrscheinlich ist es der "welschen Nuß" des Dr. Preu zuzuschreiben, daß Kaspar "Leibreißen" bekam, also Schwierigkeiten mit dem Stuhlgang hatte, weshalb "ich länger denn eine halbe Viertelstunde auf dem Abtritt gehalten ..." Und in diesen sieben oder acht Minuten vernahm er ein Geräusch, "demjenigen ähnlich, welches mit der Eröffnung der Tür der Holzkammer gewöhnlich verbunden und mir wohlbekannt ist". Auch nahm er vom Lokus aus "einen leisen Ton der Haustürglocke wahr, welcher mir jedoch nicht vom Anschel-
len, sondern von unmittelbarer Berührung der Glocke selbst herzurühren schien". Der Attentäter war auf dem Anmarsch. Und Hausers Schilderung zufolge dürfte der Kerl in der Holzkammer gelauert haben. Oder waren es ihrer zwei? Fast scheint es so, daß, während der Messerheld zu seinem Opfer ging - nur wenige Stufen vom Parterre aufwärts -, sein Kumpan sich nach draußen zum Schmierestehen verdrückte und dabei die Haustürglocke mit der Hand hielt, auf daß sie nicht bimmele beim Herausgehen. Aber er hat nicht mit Hausers überdurchschnittlichem Gehör gerechnet. Kaspar rief in diesem Augenblick: "Käthe, möchten Sie nicht etwan aufmachen, ich glaube, es hat jemand angeschellt!" Er bekam aber keine Antwort. Wie es sich später herausstellte, hatte Kathi Daumer des Kaspars Ruf nicht gehört. Aber der Rasiermesserschwinger hat es vernommen und nun sicher gewußt, Hauser vor sich auf der Toilette zu haben. Unmittelbar darauf vernahm Kaspar leise Fußtritte vorn untern Gang her, nahm zugleich auch durch den Zwischenraum der vor dem Abtritte befindlichen Tapete und der Stiege selbst wahr, daß eine Mannsperson aus dem Gange hergeschlichen ist. Beim Blick durch die Tapete und die Stiege bemerkte ich den ganz schwarzen Kopf der Mannsperson. Der gute Kaspar glaubte, den Schlotfeger vor sich zu haben. Und um nun vor dem vermeintlichen Kaminkehrer nicht gerade beim Aufstehen von der Klobrille gesehen zu werden, verhielt sich der Kaspar zunächst einmal mäuschenstill. Als er dann kein Geräusch mehr vernahm und glauben durfte, der Schlotfeger sei an der Toilette vorbeigegangen, richtete sich Kaspar auf. In diesem Moment erhielt ich plötzlich einen Schlag auf den Kopf, in dessen Folge ich für den ersten Augenblick mit dem Kopf in den Abtritt zurück,
sogleich nachher aber mit dem ganzen Körper auf den Boden vor dem Abtritt niederfiel. Kaspar Hauser war also vom Toilettensitz aufgestanden und wollte heraustreten, als der Attentäter zuschlug. In seiner Vernehmung vom 28. Oktober, nachdem Hauser einigermaßen genesen war, gab er für die nachfolgenden Sekunden diese Schilderung: Deutlich sah ich, als ich aus dem Abtritt heraustreten wollte, daß es eine Mannsperson in der Größe zwischen dem Herrn Bürgermeister und dem Herrn Professor Daumer gewesen, der vor dem Abtritte an der Mauer der Stiege gegenüber sich enthielt und von da aus mir den Schlag versetzt hat. Dieser Mann war seiner Statur nach ungleich breiter als Herr Bürgermeister Binder. Vom Gesicht mit Einschluß der Haupthaare dieses Mannes konnte ich gar nichts wahrnehmen, denn er war verschleiert und zwar, wie ich glaube, vermittelst eines über den ganzen Kopf herübergezogenen seidenen schwarzen Tuches. Die Kleider desselben bestanden aus einem neuen Überrock und dergleichen langen Beinkleidern, ohne daß ich darüber zu urteilen mir getraue, ob die bezeichneten Kleider von dunkelblauer, dunkelgrüner oder schwarzer Farbe gewesen. Genau nahm ich dagegen wahr, daß er mit neuen, schön gewichsten Stiefeln ohne Hufeisen oder Nägeln auf den Absätzen, endlich mit gelbledernen Handschuhen an beiden Händen versehen gewesen. Endlich hörte ich im Niederfallen auf den Boden vor dem Abtritt aus dem Munde des bezeichneten Mannes die Worte: "Du mußt doch noch sterben, ehe du aus der Stadt Nürnberg kommst", und obwohl er diese Worte nur leise sprach, so erkannte ich dennoch an der Stimme denselben Mann, der mich hierher geführt und auch schon dortmalen nur leise mit mir gesprochen hat. Frappant diese genaue Beschreibung des Attentäters. Aber eigenartigerweise war das Gesicht schwarz, nicht kenntlich. Es war genauso nicht zu sehen wie jenes vom angeblichen Kerkermeister. Ob’s tatsächlich mit einem schwarzen Seidentuch verhangen war oder ob auch hier eine hypnotische Sperre vorlag? Wer weiß. Hätte er Kaspar
töten wollen, dann wäre die Maskerade nicht notwendig gewesen. Tote können bekanntlich nichts mehr erzählen. Hauser wollte an der Stimme den Mann erkannt haben, der ihn nach Nürnberg brachte, obgleich dieser "nur ganz leise sprach", was er nach Kaspars Aussage auch im Kerker gemacht hat. Das ist natürlich Unsinn. Zumindest fehlt jegliche Logik. Wir können auch hier nur rückvermuten, und zwar, daß Kaspars hochgradig angespannte Nerven ihm einen Streich gespielt haben. Daumer hat dies schon vermutet und auf Kaspars psychisches Benehmen vor dem Attentat hingewiesen. Hauser wird sich diese Worte zu hören eingebildet haben. Eine Halluzination. Anders ist es nicht erklärbar. Um der Geschichte wieder einmal etwas vorauszugreifen, darf schon hier vermerkt werden, daß eine Person, auf die Hausers Beschreibung ungefähr zutrifft, von Zeugen gesehen wurde. Hören wir Kaspar weiter wörtlich: Nachdem ich geraume Zeit bewußtloß vor dem Abtritt gelegen, endlich aber doch wieder zu mir selbst gekommen war, spürte ich etwas Warmes mir über das Gesicht laufen, griff mit beiden Händen nach der Stirn, die hierdurch blutig wurden. Erschreckt hierüber wollte ich zur Mutter hinauf, kam in der Verwirrung und Angst aber statt zur Türe der Mutter an den Kleiderschrank vor meiner Stube. Hier verging mir das Gesicht, es wurde Nacht vor meinen Augen, und ich suchte mich durch Anhalten mit der Hand am Schranke aufrecht zu erhalten, woher die heute noch am Schranke befindlichen Blutspuren rühren. Als ich mich erholt hatte, wollte ich abermals zur Mutter hinauf kam in der weiteren Verwirrung jedoch statt die Treppe hinauf - die Treppe hinunter, den Gang vor und an den Keller. Wie ich dazu gekommen, oder mit anderen Worten, wie ich die Kraft erlangt, die Falltüre des Kellers zu eröffnen, dies ist mir bis zur Stunde ein Rätsel; gleichwohl aber geschah es dennoch, daß die Kellertüre von mir eröffnet worden und daß ich hineingeschlüpft bin. Durch das im Keller angetroffene Wasser und dessen Kälte kam ich zu besserem Bewußtsein, ich bemerkte einen trockenen Fleck auf
denn Boden des Kellers, woselbst ich mich niederließ. Ich hatte mich kaum niedergelassen, als ich 12 Uhr läuten hörte und da bei mir selbst dachte "nun bist du hier so ganz verlassen, es wird dich niemand finden und du wirst hier umkommen", welche Aussicht meine Augen mit Tränen füllte, bis mich Erbrechen überfallen und ich in dessen Folge das Bewußtsein verloren habe. Als ich mein Bewußtsein wieder erlangt hatte, fand ich mich in meiner Stube auf dem Bette; ich wollte meinen anwesenden Pflegeeltern den Vorfall erzählen, ich war aber zu schwach dazu und konnte nur abgebrochene Worte als "schwarzer Mann, wie Schlotfeger, der schlug mich" vorbringen. Kaspar war felsenfest davon überzeugt, der Attentäter und der angebliche Kerkermeister seien ein und dieselbe Person. Er glaubte ferner wie übrigens auch Daumer und Binder -, der "schwarze Mann" habe ihn umbringen wollen. Beides ist unwahrscheinlich. Angenommen, dem Kerkermann seien die Nerven durchgegangen, als er von Kaspars "Memoiren" reden hörte und wollte sich daraufhin den Kaspar im Einzelgang, also ohne Auftrag seiner Hintermänner, vorknöpfen. In diesem unwahrscheinlichen Falle hätte er ihn konsequenter- und logischerweise umbringen müssen. Wenn er aber mit der Absicht zu Kaspar nach Nürnberg kam, ihn zu töten, dann war die Gesichtsmaske unnötig. Und im übrigen: Wer hätte ihn daran gehindert, Kaspar nicht nur zu verwunden, sondern gleich ganze Arbeit zu machen, so grauenhaft sich das anhört. Vier Jahre später, im Ansbacher Hofgarten, hat die Dunkelpartei doch auch nicht gezaudert, das Problem "Kaspar Hauser" auf ihre Art zu lösen und brachte dadurch den jungen Menschen für immer zum Schweigen. Ob es allerdings geraten erschien, Kaspar ausgerechnet mit einem Rasiermesser zu killen, womit er aber verwundet worden ist - dies gehört in den Bereich des Absurden. Angenommen, der Attentäter hätte dem Kaspar die Kehle durchschneiden wollen und das wäre gelungen: dann wäre der Killer von oben bis unten mit Blut bespritzt worden. Und so sollte er dann aus
Nürnberg herauskommen? Nein, und nochmals nein. Wäre Tötungsabsicht im Spiel gewesen, hätte der Mann nicht zum Rasiermesser, sondern zum Dolch gegriffen, wie’s später im Ansbacher Hofgarten der Fall war. Alles andere ist so unendlich unlogisch. Ganz abgesehen davon liegt die Annahme einer einzelgängerischen Tat kaum im Bereich des Möglichen, da die Angst vor den mächtigen Auftraggebern mit Sicherheit größer war als die Angst, Kaspar könnte zu viel ausplaudern. Nein, Kaspar sollte nicht getötet werden. Noch nicht. Man wollte ihm und man hat ihm lediglich einen Denkzettel verpaßt, auf daß gewisse Erinnerungen künftig zu unterbleiben haben. Die Frage dabei ist nur, wer "man" ist. Dies wird wahrscheinlich nie mehr zu erfahren sein. Aber sicher dürfte sein, daß es keinesfalls der Mann aus dem Kerker war. Wahrscheinlich war es der Hypnotiseur höchstpersönlich oder einer seiner Vertrauten. Groß dürfte der Mitwisserkreis der dunklen Partei eh nicht gewesen sein. Aber soviel steht fest: Das Unternehmen mit dem Rasiermesser war risikoreich genug, trotz der Hinterhofidylle, dem Gewinkele und Geschachtele auf der Insel Schütt. Was wäre gewesen, wenn der Kaspar wie am Spieß geschrieen hätte, nachdem er den Rasiermesserschnitt auf der Stirne weghatte?! Und wahrscheinlich ist es auch, daß der Attentäter und sein sauberer Gehilfe, falls er einen gehabt hat, den Kaspar schon beim Marktgang observierten, hinter ihm hergingen. Aufs Geradewohl werden sie nicht ins Haus und in die Holzlege gegangen sein. Die Annahme scheint berechtigt, daß der Attentäter den Kaspar ursprünglich beim Betreten des Hauses verletzen wollte. Ein Sprung aus der Holzkammer im Parterre, ein Schlag gegen die Stirn mit dem Rasiermesser und auf und davon. So war es sicher geplant. Denn vergessen wir nicht: Kaspar hätte normal von elf bis zwölf Uhr Rechenstunde außer Haus gehabt. So kurz nach zwölf wäre er von seinem Lehrer zurückgekommen, wenn Daumer ihm nicht erlaubt hätte, die "Rechnungsstunde" heute ausfallen zu lassen. Wahrscheinlich auch, daß der Attentäter sein Opfer schon Tage vorher beobachtet und auf eine Möglichkeit gelauert hat, den Jungen zu verwunden, ihm einen Denk-
zettel zu geben. Und der Junge hat dies gespürt, wurde immer ängstlicher, hat geahnt, daß ihm Gefahr droht. Er spürte das Unheil, wie wir von Daumer, aber auch aus seinem eigenem Munde wissen. Er hat dies zu Protokoll gegeben. Aber rechtzeitig mitgeteilt hat er es niemandem. Keiner Menschenseele. Auch Daumer nicht und der "Mutter". Er wollte sich nicht blamieren, wollte nicht als Angsthase ins Gerede kommen. Doch bevor der Faden weitergesponnen wird, noch einmal zurück zu Kaspars Protokoll. Er spricht davon, daß ihm "das Gesicht vergangen" ist. Damit meinte Hauser in seiner Bildersprache eine kurze Ohnmacht. Und was die Angabe über sein Verhalten unmittelbar nach dem Überfall betrifft, so sind diese durch Zeugenaussagen der Familie Daumer, der Nachbarn und der Polizeikommission bestätigt worden - einschließlich der Blutspuren. Kaspar war korrekt bei seinen Aussagen - auch was die Sache mit der Falltür angeht, die schwer zu heben war und die Hauser im Normalzustand nicht aufheben konnte. Es ist nämlich auch durch ärztliche Atteste festgehalten worden, daß Kaspar mit Mühe und Not gerade ein Gewicht von 25 Pfund heben konnte. Zu recht viel mehr Muskelleistung hat er es nie gebracht. Nach seiner Verletzung kam er verschiedentlich ins Delirium. Da hat er dann allerdings so getobt, daß drei kräftige Mannsbilder alle Hände voll zu tun hatten, den Kaspar im Bett zu halten. Die Zeugenaussagen der Daumers und der anderen Nachbarn, die verhört wurden, bestätigten übrigens auch Kaspars Uhrzeitangabe, daß er, kaum im Keller eingetroffen, das Zwölfuhrläuten hörte. Nur seine gläubige Vermutung, Kerkermann und Attentäter seien identisch, dürfte nicht stimmen, sondern weit eher die Frucht seiner Angst und seiner Erziehung sein. Landauf, landab wurde dieser Mann in Kaspars Gegenwart als das Symbol der Unmenschlichkeit schlechthin dargestellt. Hauser mußte es letztlich selbst glauben, daß dem so ist. Es konnte gar nicht anders sein, bei seinem Mangel an Erfahrungen. Zur Zeit als Hauser im Keller das Zwölfuhrläuten vernahm, war Kathi Daumer mit dem Aufräumen des Wohnzimmers im zweiten Stock
gerade fertiggeworden. Die Mutter von Kathi und dem Professor, Elisabetha Johanna Daumer, 55 Jahre alt und geborene Nürnbergerin, war zum Zeitpunkt des Attentats in der Küche beschäftigt. Kathi blickte sich im Wohnzimmer um, ob auch alles in Ordnung war, rückte noch ein Sofakissen zurecht und packte dann den Putzeimer, um ihn in den Hof hinunter zu tragen, wo die Brühe in den Rinnstein geschüttet wurde. Kathi gab drei Stunden nach dem Überfall zu Protokoll: Auf der Stiege vom ersten Stock abwärts bemerkte ich mit Erstaunen Spuren von blutigen Fußtritten, und selbst unten im Tennen auf dem roten Pflaster gegen den neben und unter der Stiege befindlichen Abtritt zu. Kopfschüttelnd säuberte Kathi die Treppe von den Blutspuren, und auch das Blut im Hausflur spülte sie weg, wobei sie bemerkte, daß es eine ganze Menge "gestockten Blutes" war. Hatte sie zuerst angenommen, irgend jemand hätte vielleicht Nasenbluten gehabt, glaubte sie nun der Katharina Haubenstricker, der Tochter des Hausbesitzers, die eben zur Hautür hereinkam und ihre Namensvetterin beim Wegspülen des Blutes antraf. Katharina Haubenstricker meinte nämlich, "daß eben eine Katze ausgeschüttet haben müsse". Kurz und gut, Kathi hat sich nichts weiteres dabei gedacht. Sie ging wieder in den zweiten Stock, in die Küche neben dem Wohnzimmer und erzählte ihrer Mutter, "was ich für eine Schweinerei von Blut auf der Stiege und im Tennen bei der Abtrittür angetroffen hatte". Bevor sie aber in der Küche angekommen war, hatte sie Kaspars Zimmer im ersten Stock betreten, ihn aber nicht angetroffen. Kathi deckte dann den Tisch und war doch etwas erschrocken, nachdem ihre Mutter ein Stockwerk tiefer gegangen war und Hauser nicht gefunden hatte. Dafür aber hatte die Mutter des Professors bemerkt, daß sein Rock da war, Kaspar also in der Nähe sein mußte. Kathi suchte ihn daraufhin im Garten und bei Haubenstrickers. Doch seltsam, der Kaspar ward nirgendwo gesehen. Aus der Besorgnis wurde Angst, und gemeinsam mit den Haubenstrickers wurde das ganze Haus abgesucht. Frau Hau-
benstricker ging sogar auf den Boden. Gleichzeitig und solo suchte Mutter Daumer nach dem Zögling ihres Sohnes. Sie schaute in den Keller und glaubte, etwas Weißes gesehen zu haben. Kathi mußte daraufhin eine Kerze holen, um besser schauen zu können. Dann klappten der Haubenstricker Junior und die Magd die Falltür auf und stiegen mutig hinunter. Als erste sah die Haubenstricker’sche Magd den Kaspar liegen. "Da liegt der Kaspar tot!" rief sie aus. Der junge Haubenstricker und die Magd trugen daraufhin den blutbesudelten Kaspar aus dem Keller. "Mann - geschlagen ..." stammelte der Verletzte noch halb ohnmächtig. So wurde er in seinem Zimmer zu Bett gebracht, während der junge Haubenstricker zu Dr. Preu eilte, um für Kaspar ärztliche Hilfe zu erbitten. Bis zu Dr. Preus Eintreffen bemühte sich Frau Daumer um den Jungen. Auch der Professor, der zwischenzeitlich von seinem Spaziergang nach Hause gekommen war und sich auf seinem Zimmer vom "Barbier" hat rasieren lassen. Des Professors Mutter schilderte diese kurze Zeitspanne in ihrem Protokoll so: Auf dem Haustennen stöhnte Hauser, wodurch ich bemerkte, daß er noch am Leben sei. Noch auf der Kellertreppe schrie die Magd uns entgegen, daß der Kopf des Hauser entzwei sei. Derselbe war voller Blut. - Nach dem Stöhnen rief er auf einmal das Wort "Mann" aus. Beide trugen hierauf den Hauser in sein Zimmer und legten ihn ins Bett. Ich habe hierauf denselben umfaßt und frug ihn, was ihm geschehen sei, und da sagte er in einzelnen Worten, abgebrochen: "Mutter! Professor erzählen, Abtritt, Mann schlagen, schwarzer Mann, wie Küchen", er wollte sagen, wie der Mann in der Küche, womit er den Schlotfeger meinte, über den er einmal bei seiner Ansichtigwerdung so sehr erschrak. - "Mutter sagen, nit funden mein Zimmer, in den Keller verstecken". Diese Äußerungen ließ ich den Hauser ohne Unterbrechung machen. Er bekam hierauf während ich ihn noch in den Armen hielt, einen gewaltigen Frost, so daß es ihn ordentlich schüttelte, und er geraume Zeit hernach ausrief: "Kalt!" "Nacht", am weiteren Sprechen aber ihn der Frost hinderte. - Ich habe hierauf sein Gesicht von Blut gereinigt, wo ich denn bemerkte,
daß Hauser auf der Stirne, längs der Augenbrauen, eine tiefe vielleicht 2 Zoll lange Wunde hatte, welche mir von einem schneidenden Instrument gemacht worden zu sein schien. Hierauf wurde der Paroxysmus des Hauser stärker. Dr. Preu kam im Sturmschritt auf die Schütt zu Hauser und verband zunächst einmal die Wunde. Recht viel mehr war nicht zu machen. Und das alleine schon war ein Kunststück, da Kaspar nach Preus Aussage vor dem Kreis- und Stadtgericht, das eigens eines Kommission gebildet hatte, "sofort in ein Toben geriet" sobald jemand die Wunde auf der Stirn berührte. Dr. Preu vor der Kommission am 20. Oktober 1829, also drei Tage nach Hausers Verwundung: ... allein man konnte in den ersten 24 Stunden die Wunde beinahe nicht berühren, weil augenblicklich dadurch Hauser in ein Toben geriet, daß drei Männer an ihm zu halten hatten ... Weiter aus diesem Protokoll. Was die Wunde betrifft, attestierte der Kreis- und Stadtgerichtsarzt Preu: Die an dem Kaspar Hauser ersichtliche Wunde befindet sich auf der Stirn, 10 œ Linien über der Nasenwurzel quer auslaufend, in der Art, daß zwei Drittel derselben auf der rechten Stirnhälfte und das letzte Drittel auf der linken Stirnhälfte sich befindet. Die ganze Länge der in geraden Linien hinlaufenden Wunde beträgt 19 œ Linien [ca. sechs Zentimeter - der Autor] ... Was die Entstehung der eben beschriebenen Wunde betrifft, so ist solche unverkennbar mit einem sehr scharfen schneidenden Instrument mittels Hieb oder Stoß dem Hauser beigebracht worden. Die scharfen Ränder der Wunde sprechen für die scharfe Schneide des Instruments, das gleiche Auslaufen der Wunde bezeichnet deren Entstehung durch Hieb oder Stoß, weil, wenn die Wunde rein geschnitten worden wäre, Anfang und Ende seichter und schmäler, die Mitte aber tiefer und eben deshalb klaffender erscheinen müßte. Am wahrscheinlichsten aber ist ihre Entstehung mittels Hieb, weil beim Stoß mehr Quetschungen der zunächst anliegenden Teile bemerkt worden wäre.
Vorausgesetzt, daß das verletzende Instrument durchgehends gleiche Breite hatte, so muß der Hieb von der rechten zu linken Seite geführt worden sein, weil dann das entferntere Ende am tiefsten einzudringen vermochte. - Über die Bedeutung, Gefährlichkeit und späteren Folgen der fraglichen Wunde ist nachfolgendes in Berücksichtigung zu ziehen: Da aus der Beschaffenheit der Wunde bereits erwiesen worden ist, daß das verletzende Instrument eine ungemeine Schärfe hatte, und aus der Länge der Wunde auch auf dessen Größe geschlossen werden kann, so kann gefolgert werden, daß die Wunde entweder nur mit halber oder mit gehinderter und gebrochener Manneskraft erzeugt worden ist, weil außerdem das beil- oder meißelartig gestaltete Instrument notwendig in die Hirnschale selbst eingedrungen wäre und solche gespalten hätte. Diese Folgerung wird vollkommen durch nähere Betrachtung der Stelle gerechtfertigt, an welcher der Hauser die Verletzung erhalten zu haben selbst angibt, indem es hier unmöglich ist, zu einem kräftigen Hiebe weit genug auszuholen. Ebenso läßt sich aus dieser Lokalität erklären, warum den Hauser der Hieb nicht von oben herab treffen konnte, sondern nur von der Seite, weshalb die Wunde auf der Stirne in horizontaler Richtung erscheint. Dr. Preu beendet diese seine Aussage mit dem Hinweis, daß die gleiche Wunde bei einem anderen Menschen nicht im entferntesten die Wirkung gezeigt hätte wie bei Kaspar. Er führt das auf Hausers Vorleben und seinen psychischen und physischen Habitus zurück. Preu verweist auch darauf, daß sein Patient nunmehr, also drei Tage nach dem Attentat, "gänzlich außer Gefahr" sei und "nur noch leidend und erschöpft" darniederläge. Er prophezeit dann, daß die Wunde noch leicht eitern werde und in acht bis vierzehn Tagen heilen und eine leichte Narbe hinterlassen werde. Tatsächlich jedoch hat die Sache noch etwas länger gedauert, wie Preu selbst am 30. Dezember 1829 bei einer weiteren Einvernahme zu Protokoll gab:
An jedem anderen außer dem gesunden Subjekt würde diese Wunde in den ersten sechs Tagen ohne weitere Beschwerde geheilt gewesen sein; bei Hauser dauerte es 22 Tage. In seiner eigenen Vernehmung vom 28. Oktober, elf Tage nach dem Überfall, beschrieb Hauser die Attentatswaffe: Das ganze Instrument, mit dem ich geschlagen worden bin, war nach meinem Dafürhalten 12 bis 13 Zoll lang, nämlich einschlüssig des hölzernen Heftes. - Das breite scharfe Eisen desselben war breiter denn 2 Zoll, ich entsinne mich nicht, ein dergleichen Instrument je gesehen zu haben ... Kaspar fertigte hierauf im Beisein der Vernehmungsbeamten eine Zeichnung des rasiermesserscharfen Instruments. Was dabei herauskam, deckte sich mit seiner Schilderung der Tatwaffe. Und auch dieses Instrumentarium ist so rätselhaft wie so manches am Hauser-Fall. Treffen Kaspars Angaben zu, dann muß es sich dabei um eine Spezialanfertigung gehandelt haben. Im übrigen hat die Tatwaffe nach Kaspars Schilderung die relativ stattliche Länge von ca. 35 Zentimetern gehabt. Dies, wenn Kaspars Zollangaben auf unser heutiges Maßsystem umgerechnet wird (ein bayerisches Zoll entspricht 2,9 Zentimeter). Schon zu Hausers Zeiten hat sich niemand entsinnen können, je so ein Instrument gesehen zu haben. Falls Hauser vor lauter Angst die Waffe nicht länger gesehen hat als sie tatsächlich war, dann kann diese eigenartige Beschaffenheit des "Spezialrasiermessers" nur so gedeutet werden: der Attentäter wollte bewußt ein Instrument von dieser Länge, um nicht noch näher als ohnehin an das Opfer herangehen zu müssen. Nicht aus Angst vor Kaspar, sondern um nicht mit Blut besudelt zu werden. Doch wieder zurück zum Attentatstag. Nachdem Dr. Preu seinen Kaspar mit Müh und Not verbunden hatte, eilte er ins Rathaus, um der Polizei und ihrem obersten Chef, dem Bürgermeister Dr. Binder, Anzeige zu erstatten. So kam der Behördenapparat langsam in Bewegung. In der Stadt aber eilte die Kunde vom Attentat wie ein Lauffeu-
er durch die winkligen Gassen. Die Nachricht von dem Überfall auf den berühmten Findling ist mit Sicherheit auch in den Gasthof "Wilder Mann" gedrungen - einer Absteige, nicht gerade für höhere Kreise. Aber just wenige Tage nach dem Anschlag auf Hauser logierte in diesem "Wilden Mann" ein Mann des englischen Hochadels: Lord Stanhope, die wohl zwielichtigste Person der ganzen HauserGeschichte. Es ist schon sonderbar genug, daß dieser Lord Stanhope in einem Gasthof minderer Qualität abgestiegen ist - angeblich, weil ihm bei Burgfarrnbach eines der Räder seiner Kutsche gebrochen ist. Noch mehr aber läßt aufhorchen, daß der Lord von Hauser und dem Anschlag auf ihn keinerlei Notiz nimmt und in seiner kleinbürgerlichen Bude im "Wilden Mann" recht dubiose Leute empfängt - Männer, denen man ihren Proletenhabitus aus einem halben Kilometer Entfernung schon ansieht. Stillschweigend verzapft sich der Lord nach einiger Zeit wieder aus Nürnberg, ohne den Findling überhaupt sehen zu wollen. Später sollte diese dunkle Gestalt, die einst in Erlangen studiert hatte und fließend deutsch sprach, zu Kaspar Hausers Pflegevater avancieren. Ja, er studierte vormals in Erlangen, und es erhebt sich augenblicklich die Frage, ob er wohl auch den "Wallfisch" gekannt hat. Wie gut kannte Mylord diese Kneipe? Man merke sich ihren Namen! Also ganz Nürnberg zuckelte im Hauser-Fieber. Wieder einmal. Mehr als je zuvor. Überfall auf den Findling! Nein: auf Nürnbergs Stadteigentum, "Auf unsern Hauserla". Die Druckerpressen bekamen Arbeit und die Setzer schwitzten. Und Zulauf, mehr als sonst, bekamen die Kneipenwirte und die Barbiere: die Nachrichtenbörsen des kleinen Mannes. Die Umsätze schnackelten in die Höhe. Binder ließ also den Polizeiapparat anlaufen und schickte als erstes einige "Wärter" in die Daumer’sche Wohnung. Sie hatten den Auftrag, Kaspar zu schützen: vor einem neuen Überfall, aber auch vor ihm selbst, wenn er im Delirium war. Dessenungeachtet konnten sie nicht verhindern, daß Kaspar in einem seiner Anfälle aus einer Tasse ein Stück Porzellan herausbiß. Die Männer hatten aber auch noch die
Aufgabe, alles niederzuschreiben, was Kaspar sagte - im Wachsein wie im Delirium. Hier die "Äußerungen, die Hauser in der Nacht vom 17. auf 18. Oktober 1829 im Fieber machte, und die von den ihm vom Magistrat Nürnberg beigegebenen Wärtern sofort aufgezeichnet wurden ..." Im Hauser’schen Aktenberg wurden sie als "Anhang" zu seinem Protokoll vom 28. Oktober geführt und haben folgenden Wortlaut: Herrn Bürgermeister sagen - nicht einsperren - Mann weg - Mann kommt - Glocken weg - Gaul weg - Hundl weg, nicht einsperren auf dem Markt gewesen - weg Mann, kommt Herr Bürgermeister Kartusch geben - weg - Mann kommt - nicht einsperren - schöne Musik - ich nach Fürth hinunter reiten - Mann weg - nicht einsperren - nicht mit nach Erlangen in Wallfisch (zweimal wiederholt) nicht umbringen ... Hauser wo gewesen - beim Herr Dr. Preu - nicht nach Fürth heute - nicht - nicht mehr fort - schon Kopfweh - nicht nach Erlangen in Wallfisch - der Mann mich umbringen - Gewiß der Mann, der mich in der Plattners Anlage umbringen hat wollen - weg - nicht umbringen - ich alle Menschen lieb - niemand nichts getan Frau Bürgermeister mir helfen - Mann dich auch lieb - nicht umbringen - warum Mann mich umbringen ... dich doch bitten, daß du nicht eingesperrt wirst - du hast mich niemals herausgetan aus meinem Gefängnis - du mich gar umbringen - du mich zuerst umgebracht, ehe ich verstanden, was Leben ist - du mußt sagen, warum du mich eingesperrt hast gehabt (Diese Worte wiederholte er des öfteren.) Es ist so eine Sache mit diesen Sprachfetzen im Delirium. Aber ohne Zweifel ist das Gestammle - scheinbar zusammenhanglos - echt. Im Delirium kann sich keiner verstellen. Und immer wieder ist von dem "Mann" die Rede. Eine Dokumentation zum Erbarmen. Kaspar identifiziert sich nicht einmal mit seinem Namen. "Hauser wo gewesen" lallt er im Infinitivum - wie zu Anfang seiner Nürnberger Zeit. Ja, genaugenommen - und es gibt ungezählte Beispiele dafür - hat sich der arme Kerl nie als Kaspar Hauser gefühlt. Eine innere Stimme sagte ihm, daß dies nicht sein wahrer Name sei. Seltsam auch die Sache
mit dem "Wallfisch" in Erlangen. Dieser "Wallfisch" - eine erst 1912 eingegangene Gaststätte - beschäftigte ihn mehrmals im Fieber. Und immer ging es darum, nicht dorthin zu wollen. Eigenartig, daß sich die Behörden der Lebkuchenstadt nicht näher damit beschäftigt haben. Jedenfalls geht aus den Vernehmungsprotokoll diesbezüglich nichts hervor. Dabei wäre doch alles von Wichtigkeit gewesen, was Kaspar im Unterbewußtsein lallte. "Nicht nach Erlang in Wallfisch der Mann mich umbringen - Gewiß der Mann, der mich in der Plattners Anlage umbringen hat wollen ..." Es ist müßig, 150 Jahre nach Hausers Auftauchen darüber zu rechten, weshalb Kaspar vor diesem "Wallfisch" so große Angst hatte. War er dorthin bestellt worden? Von wem? Wer ist der Mann? Anders die Sache mit der Plattners Anlage. Kaspar war fest davon überzeugt, daß ihn dort jemand hat umbringen wollen. Er war davon nicht nur im Delirium überzeugt! Am 24. Juni 1829 war es gewesen, knapp vier Monate vor dem Attentat. Kaspar hatte einen Spaziergang in diesen Park bei Erlenstegen gemacht. Damals ein östlicher Vorort der Noris. Heute längst voll integriert im Nürnberger Stadtbild. Ein Geraschel im Gebüsch erzeugte in Hauser ein unwahrscheinliches Angstgefühl. Er sah niemand. Keine Menschenseele. Aber eine innere Stimme sagte ihm, hier drohe Gefahr, hier lauere jemand auf ihn, der ihm Böses antun wolle. Kaspar zitterte wie Espenlaub und lief wie ein gehetzter Hase davon. Und Hauser hat die Sache nicht vergessen. Es hat ihn seelisch mehr in Anspruch genommen, als der Junge zugegeben hat. Denn wie schon einmal gesagt: Nürnbergs Findling war eitel. Er wollte nicht als Angsthase in Verruf kommen. Im Delirium jedoch kam die Geschichte mit der Plattners Anlage wieder zum Vorschein. "Wallfisch", "Plattners Anlage" und "Mann mich umbringen" muß eine Bedeutung gehabt haben. Wahrscheinlich sogar einen Zusammenhang. Auch ein Brocken aus der Gaunersprache, dem Rotwelschen, entschlüpfte dem Kaspar im Delirium aus seinem Zahngehege. "Kartusch geben", sagte er. Hat sich denn niemand etwas dabei gedacht? Keiner von den Nürnberger Amtsleuten, deren Blicke mehr auf Un-
wesentliches denn auf Wesentliches gerichtet waren, ist darüber gestolpert, hat den Faden weitergesponnen. Aber auch Feuerbach scheint darüber keinen Gedanken verloren zu haben. Oder doch? Hat der Staatsrat aus Ansbach nicht weit mehr gewußt als alle seine Nürnberger Zeitgenossen zusammengenommen? Gemeint ist natürlich sein Wissen in der Hauser-Sache. Wie kommt der Junge bloß zu rotwelschen Ausdrücken? Ist er vielleicht doch ein Gauner? Ein Zinkenbruder, ein Kochemer? Vielleicht liegt hier der Grund, weshalb Leute wie Daumer oder Binder oder Dr. Preu und all die vielen anderen Hauserer in Nürnberg schweigend darüber weggingen. Es wird ihnen peinlich gewesen sein. Auf der einen Seite waren sie zutiefst davon überzeugt, daß Hauser unmöglich ein Betrüger, ein Ganove sein konnte. Andererseits aber konnten sie sich die Herkunft solcher Ausdrücke einfach nicht erklären. Dies ist heute anders. Wir glauben es nun zu wissen, wo Kaspar seine rotwelschen Brocken aufgefangen hat. Und wenn wir nun auf die Übersetzung von "Kartusch geben" oder einfach "kartuschen" kommen, dann werden wir wieder einmal an den Zynismus des Geleitbriefes und des Mägdleinwisches erinnert. An den Regisseur. Günter Puchner übersetzt "kartuschen" in seinem Buch "Das Rotwelsch und die deutsche Sprache" (1974) so: kartuschen = leugnen; dt. vertuschen ° Cartouche, Louis Dominique, Meistergauner, geb. 1693 zu Paris, gerädert am 27. 11. 1721. Kaspar brachte sein "Kartusch geben", wie wir gesehen haben, in Zusammenhang mit Bürgermeister Binder. Die Frage drängt sich auf, was um Himmelswillen nun geleugnet oder vertuscht werden sollte in Hausers Fieberwahn. Fragezeichen über Fragezeichen. Aber jedenfalls hat Kaspar wieder einmal ein rotwelsches Wort gebraucht. Was sind das nur für Sachen: Sprachbrocken aus der Barrasumgebung, wie wir eben gehört haben, und Rotwelscherei! Aber es kommt noch dicker. Denn der Name Kaspar Hauser selbst ist rotwelschen Ursprungs. Der Vor- und der Zuname! Günter Puch-
ner, der Kenner des Rotwelschen, übersetzt "kaspern" mit "lügen, betrügen ... täuschen". Und ein "Hausen" ist im Rotwelschen ein Einschleichdieb. Des Findlings Namen frei übersetzt, hätten wir einen betrügerischen Einschleichdieb vor uns. Kaspar und die deutsche Gaunersprache, das Rotwelsch! Wahrhaftig, die Hintermänner und ihr Regisseur hatten einen deftigen Humor, einen schwarzen Humor. Kasernenhoflachen. Ein Hauch von Barrasgetto, gerade auch in der Sprache. Aber war es nur Zynismus, als sie den Jungen zum Nürnberger Auftritt präparierten und ihm den Namen Kaspar Hauser gaben? Zynismus allein sicherlich nicht. Doch bleiben wir noch etwas bei Hausers Gerede auf dem Krankenlager, nach dem Attentat. Staatsrat von Feuerbach kam, kaum daß er von Hausers Verwundung gehört hat, zwei Tage nach dem Überfall zu Kaspar: am 19. Oktober nachmittags um 15 Uhr. Von Feuerbach traf einen totbleichen Kaspar an, einen grünen Schirm vor dem Gesicht. Und der Staatsrat wurde erkannt vom Kaspar. An der Stimme. Denn Hausers Augen blieben geschlossen, als er sagte: "Ach ja, (mit sehr schwacher Stimme) Sie sind ja der HE. Präsident von Ansbach." Es entspann sich dann so etwas wie ein Gespräch zwischen dem ungleichen Paar. Der Verwundete jammerte und klagte über sein Schicksal, "das ihn dazu bestimmt habe, zu sterben, von Mörderhand umzukommen". Feuerbach schrieb unmittelbar nach dem Krankenbesuch alles nieder, auch Kaspars Aussage: "Wenn ich auch diesmal davon komme; ich werde doch von dem Manne noch umgebracht werden ..." Sein Gefühl sage dies ihm immer wieder und immer wieder. Leider hat ihn auch in diesem Fall sein Gefühl nicht getrogen. Er kam tatsächlich gewaltsam ums Leben: vier Jahre später im Ansbacher Hofgarten. Feuerbach hat das nicht mehr erlebt. Er war ein halbes Jahr vor seinem Schützling gestorben. Unter recht mysteriösen Begleitumständen übrigens. Man vermutete damals Gift. Und noch heute sind die Stimmen darüber nicht verklungen. Auch das Sektionsprotokoll hat sich nie mehr auffinden lassen. Wäre es einwandfrei gewesen, niemand hätte ein Interesse daran gehabt, es verschwinden zu lassen. Also war
es nicht ganz einwandfrei. Stand etwas von Gift darin? Eine weitere Tatsache soll sein, daß Feuerbach eine Obduktion seiner Leiche verlangt hat. Auf einen Zettel hat dies der große Jurist geschrieben, weil er bei seinem schlaganfallartigen Zusammenbruch die Sprache verloren hatte. Das war in der Nähe von Königstein im Taunus. Gerichtspräsident von Feuerbach hatte im Wagen einen Ausflug gemacht. Von Frankfurt aus. Dort lebte seine verheiratete Schwester Rebecca. Zudem wurden seine Haare unmittelbar nach dem Tode schneeweiß. Arsenik? Angeblich soll er auf einem anderen Zettel sogar noch geschrieben haben, "man" habe ihn vergiftet. Wegen seines Eintretens für Hauser. Nur, wer ist eben dieser "man"? Eine fast zu schaurige Geschichte. Stimmt. Aber selbst solche Geschichten haben oft einen sehr logischen und wahren Kern. Tatsache ist jedenfalls, daß mit von Feuerbach Kaspars großer Beschützer die Welt verlassen hat. Einige Aufzeichnungen Feuerbachs wurden später unter seinem umfangreichen Nachlaß gefunden. Aufzeichnungen, die den Findling Kaspar Hauser betreffen. Einige davon wurden veröffentlicht, als längst Gras über die grünen Hügel der Akteure von damals gewachsen war. Andere jedoch, und das ist ebenfalls Tatsache, wurden aus dem familiären Verkehr der Feuerbachs gezogen. Ob sie vernichtet wurden oder besonders verwahrt - niemand weiß es. Nie hat ein Archiv davon Kunde verbreitet. Des Staatsrats Schwiegertochter Henriette von Feuerbach, eine geborene Heydenreich, deren Bruder in Ansbach Arzt und bei Hausers Sektion mit von der Partie war - diese Henriette von Feuerbach hatte sich nämlich im Kriege 1870/71 als Hilfskrankenschwester dem Vaterlande zur Verfügung gestellt. Und bei dieser barmherzigen Tätigkeit hat sie Freundschaft geschlossen mit einer Dame des Hochadels, einer Dame, aus dem Hause Preußen entsprossen. Justament sie war es, die überall in Europa Akten und Unterlagen und Aufzeichnungen des Falles "Kaspar Hauser" mit Hilfe ihres Einflusses, Geldes und guten Worten an sich brachte und vernichten ließ. Wir werden später noch auf diese Adelsdame zu sprechen kommen. Ausführlicher.
Jedenfalls hat Henriette von Feuerbach dieser ihrer Freundin Aufzeichnungen übergeben, den Fall Hauser betreffend und von ihrem Schwiegervater stammend. Und seither hat diese Aufzeichnungen nie mehr jemand gesehen. Waren auch die Zettel dabei, die Feuerbach auf dem Totenlager geschrieben hat? War, frage ich, auch das Sektionsprotokoll dabei? In Ansbach, wo Henriette von Feuerbach hochgeehrt und gerade auch bei den einfachen Leuten unwahrscheinlich beliebt war - hier in der "Perle des fränkischen Rokoko", wo sie lebte und auch - hochbetagt - 1892 starb, wurde sie die "Feuerrätin" genannt. Und sie hat auch nie ein Hehl daraus gemacht, daß sie mehr weiß über den "armen Kaspar", als bis dato in Büchern und Zeitungsaufsätzen zu lesen war. Aber - und das hat sie immer wieder betont - sie sei an ein feierlich gegebenes Versprechen gebunden, ihr Wissen mit ins Grab zu nehmen. Befassen wir uns aber noch einmal mit von Feuerbachs Besuch bei Kaspar in Nürnberg, damals, zwei Tage nach dem Überfall auf Hauser. Feuerbach schilderte, was Kaspar zu ihm sagte: Der Mann, bei dem er angeblich immer gewesen war, trachte ihm nach dem Leben. "Aber er wird mich gewiß umbringen; und wenn er nicht anders kann, durch einen Schuß. Er ist ein guter Schütze." Da haut’s die Frösch’ zum Weiher raus! Woher will der verwundete Dreikäsehoch eigentlich wissen, daß der "Kerkermeister" ein guter Schütze ist?! Hat er selbst nicht immer wieder beteuert, er kenne von seiner ganzen Vergangenheit nur das Verlies? Nie habe er etwas anderes gesehen woher die braven Nürnberger Spießer ihre Kerkerlegende haben. Und auf einmal kommt das Bürschlein daher und verzapft etwas von einem guten Schützen. Im Verlies wird er kaum die Gelegenheit gehabt haben, Proben der Schießkünste seines Kerkermannes zu beobachten. Und wer nun glaubt, wenigstens jetzt hätten die Nürnberger Behördenleute auf den Tisch geklopft und wären in Hauser gedrungen, ihnen zu sagen, woher er dieses Wissen habe - wer dies glaubt, der irrt. Die beamteten Peterlasboum haben auch des Kaspars "Schützenmeister" brav geschluckt. Es ist noch heute, 151 Jahre danach, zum Heulen. Wer aber auch geschwiegen hat, das war der Berichterstatter, dem wir diese Zeilen wörtlich verdanken: Staatsrat von Feuerbach.
Auch er hat Kaspar nicht ins Gebet genommen. Und mit Sicherheit wird er gewußt haben weshalb. Vielleicht hat er später mit Hauser darüber gesprochen und ihn aus Gründen der Sicherheit zum Schweigen verpflichtet; vielleicht auch hat Feuerbach darüber etwas Schriftliches hinterlassen. Auf uns gekommen ist aber nichts. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit war es so, daß das Attentatsopfer im hochgradig nervösen Zustand, in seiner pathologischen Angst, Erinnerungsfetzen aus dem Unterbewußtsein hervorkramte. In diesem Fall einer Art Tagträumerei kam eben der "Kerkermeister" als ein guter Schütze an die Bewußtseinsoberfläche. In der Tat war Kaspars Betreuer während des kurzen Verliesaufenthaltes ein guter Schütze. Das ist nicht weiter verwunderlich. Denn zumeist sind Revierförster auch gute Jäger und Schützen. Ja, Kaspars Betreuer - nicht "Kerkermeister" - war ein biederer Förster, wie noch zu beweisen sein wird. Hauser konnte zwar mit seinen Erinnerungsfetzen nicht allzuviel anfangen, aber sein Gedächtnis hat ihm da keinen Streich gespielt. Nur war es halt so, daß durch eine falsche Erziehung - man hat den verkehrten Teufel an die Wand gemalt - sein einstiger Betreuer, den er anfangs liebevoll-anhänglich in Erinnerung hatte, ja zu dem er immer wieder zurück wollte - daß dieser Mann für den Jungen später zum Bösen schlechthin wurde. Der Förster von Pilsach wurde so für Kaspar das leibhaftige Symbol seiner Angst. Kein Wunder, daß sich dann das Vorstellungsbild des Mannes, "bei dem er immer gewesen" zur Identifikation mit dem Attentäter verdichtete. Die Generalfrage der Attentatsumstände ist nun die: Wurde irgendwo in Nürnberg zur Tatzeit ein Fremder gesehen, auf den Hausers Beschreibung, wenigstens einigermaßen, zutrifft? Wie schon einmal angedeutet, kann diese Frage mit einem ganz klaren Ja beantwortet werden. Aber festgehalten darf schon jetzt werden, daß diese Person niemals ermittelt werden konnte. Meist wurden die Zeugen - und das gilt es zu beachten - zweimal vernommen. Zuerst einmal von der Nürnberger Magistratsbehörde, der Stadtpolizei also, und danach vom Königlichen Kreis- und Stadtgericht Nürnberg. Die meisten Vernehmungen der letzteren Behörde nahm Gerichtsrat von Roeder höchst-
persönlich vor. So vernahm er auch Kathi Daumer, des Professors Schwester, am 21. Oktober, vier Tage nach dem Anschlag auf den Zögling der Familie Daumer. Kathi wurde damals gefragt: Erinnern Sie sich eines Menschen, der sich über Kaspar Hauser befragt hätte, oder für denselben sich besonders zu interessieren schien? Fräulein Daumer antwortete darauf: Ich erinnere mich nicht, in einer der bezeichneten Beziehungen auch nur die geringste Wahrnehmung gemacht zu haben. Nun, korrekt genommen, ist das ein bißchen Nonsens. Denn: seit die Daumers den Kaspar aufgenommen haben, waren ungezählte Menschen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, im Hause erschienen, nur um Kaspar zu sehen und mit ihm ein paar Worte zu wechseln. Alle diese Leute waren speziell und besonders an Hauser interessiert. So gesehen ist Kathis Antwort auf von Roeders Frage nicht korrekt. Aber das Gericht schluckte auch dies. Katharina Daumer hat sicher nicht bewußt unkorrekt gehandelt. Dafür war sie zu gut erzogen; ein typisches biedermeierisch-bürgerliches Mädchen. Die Daumers werden sich an die Besucher ihres berühmten Findlings, an die vielen, vielen schon so gewöhnt haben, daß es für sie langsam eine Selbstverständlichkeit geworden ist. Kathis Mutter hat sich da bei ihrer Vernehmung etwas ausführlicher ausgedrückt. Demnach kamen sogar Ausländer zu Kaspar, darunter auch Dänen. Und ob’s geglaubt wird oder nicht: Tatsache ist, daß der Findling von Zeit zu Zeit sogar regelrecht ausgeliehen wurde, wenn er von einem Gasthof "angefordert" wurde, wo ihn ein Übernachtungsgast zu sehen wünschte. Die Nürnberger haben eben Sinn für Geschäft. Sonst wären sie sicher auch nicht so weit gekommen mit ihrer auch heute noch liebenswerten Stadt. Daumer legte aber Wert darauf, wie versichert wurde, daß sein Kaspar nur an reputierliche Lokalitäten stundenweise abgegeben wurde. Selbstverständlich ohne Entgelt, obgleich er’s hätte brauchen können. Und auch Hauser selbst wird sich an die Gafferei gewöhnt haben, an diese Bärenfänger-Auftritte.
Nur aus diesem Grunde erscheint es erklärbar, weshalb er erst lange nach dem Attentat über ein Vorkommnis berichtete, das seine Nürnberger Vernehmer aus ihm nicht herauszufragen in der Lage gewesen waren. Kaspar erzählte es aber seinem väterlichen Freund und Beschützer von Feuerbach in Ansbach, was bedeutet, daß Feuerbach den Jungen beharrlich im Gespräch "vernahm". Und Feuerbach war es, der Kaspar gebeten hat, diese höchst wichtige Sache sogleich aufzuschreiben. Das war am 15. Juni 1831 in Ansbach, zwanzig Monate nach dem Attentat. Vernehmen wir den Inhalt wörtlich: Etwa 6 Wochen vor dem Mordversuch besuchten mich zwei fremde Herren, von dem Einer sehr böse Züge in seinem Gesicht hatte, trug einen schwarzen Backenbart, auch einen Schnurrbart, dieser fragte mich, was ich denn da schreibe, ich antwortete: Meine Geschichte, wie ich in dem Käfig behandelt worden bin, und wie mich dieser Mann nach Nürnberg gebracht hatte. Da nahm es der Eine und las vielleicht 2 Seiten; indem mich der mit seinem schwarzen Schnurrbart um allerlei Sachen gefragt hatte, besonders, ob ich fleißig Spazieren gehe, Nein war meine Antwort: den meine Füße thun mir gleich wehe, ob ich auch in den Unterricht gehe und was ich lerne und ... ich sagte alles. Nachdem nahm er die Geschichte und las es von der ersten Zeile bis zur letzten, sodann gingen sie fort und ich begleitete sie, wie gewöhnlich auch die Übrigen bis zu der Hausthüre. Aber als ich mit ihnen über die Treppe oder Stiege herunter kam, fragten sie mich, was denn dieses sei, ich sagte es ist eine Holzkammer und machte auf, daß sie es sahen, nachdem ich ihnen alles gezeigt hatte, fragte ich sie auch wo sie her seien; ich bekam zur Antwort, sie sind weit von hier und ich würde den Ort doch nicht wissen, wenn sie es mir auch sagen würden und so gingen sie fort. Geschrieben den 15. Juni im Hause des Herrn Präsidenten v. Feuerbach 1831. Also einen schwarzen Backenbart sowie einen gleichfarbigen Schnurrbart hatte einer der beiden Kavaliere, die vielleicht gar keine waren. Und "sehr böse Züge" hatte nach Kaspars Schilderung der
Mann obendrein noch. Sonderbar, daß nach diesen beiden dunklen Gestalten nie eine Behörde geahndet hat. Aber noch nachdenklicher stimmt, daß ausgerechnet der Lord Stanhope, von dem wir schon einiges vernommen haben - daß just dieser Gentleman dem Namen nach am 23. Oktober 1829 in seiner billigen Herberge zwei Männer empfing, von denen einer so aussah wie Kaspars Mann mit den "bösen Zügen". Der britische Adelsmann war einen Tag vorher in Nürnberg angekommen, also fünf Tage nach dem Attentat, und im "Wilden Mann" abgestiegen. Der eine seiner beiden Besucher wurde so beschrieben: Etwa 40 Jahre alt, blatternarbig, hoher Wuchs, dunkler Schnurr- und Backenbart. Der geneigte Leser möge sich diese Beschreibung gut einprägen. Denn sie paßt haargenau auf jenen Mann, der zur Attentatszeit im Ansbacher Hofgarten von Zeugen gesehen und so geschildert worden ist. Er hat zur Mordrotte gehört. Fünf Tage nach dem Überfall, am 22. Oktober, einem Donnerstag, wurde die Wäscherin Barbara Maria Rupprecht verhört. Die Rupprecht, eine geborene Nürnbergerin, 64 Jahre alt und Analphabetin, wohnte auf der Schütt im Rauch’schen Haus, schräg gegenüber der Daumer’schen Wohnung. Sie "deponierte höchst unbefangen und ruhig". Ihr rechtes Auge hatte sie "schon im Zahnen verloren", gab sie im Protokoll an. Sie sieht "dagegen auf dem linken Auge vollkommen und ziemlich scharf". Am Attentatstag sei sie gegen 11 Uhr 15 nach Hause gekommen. Und weil sie etwas ausruhen wollte, habe sie sich hinter ein geschlossenes Fenster ihrer Parterrewohnung gesetzt. Nach einer Weile sah sie zwei Männer, ihr völlig unbekannt, aus dem Eingang der Daumer’schen Wohnung herauskommen. Der eine sei von mittlerer Größe gewesen, im dunklen Frack, der andere etwas kleiner, im dunklen Schalk. Näheres konnte Barbara Maria Rupprecht nicht angeben, da sie zu wenig darauf geachtet habe. "Hätte ich dortmalen gewußt, was ich jetzt weiß, hätte ich sie besser betrachtet." Sie verneint deshalb, den vom Magistrat beschriebenen Fremden, welcher der Tat dringend verdächtig war, gesehen zu haben. Auch konnte sie nicht mehr sagen, wer von den beiden zuerst aus der Daumer’schen Haustür gekommen ist. Sie erinnert sich jedoch,
daß der Mann im Schalk etwas rascher gegangen ist als der im Frack. Mit anderen Worten: der Fremde im Schalk ging voraus, "wenigstens vom Richter’schen Hause anfangend". Die beiden Männer, so die Rupprecht, gingen "die Schütt kerzengerade vor". Auf der Straße war bei diesem Hundewetter sonst niemand zu sehen. Mit dieser Zeugenaussage der Barbara Maria Rupprecht ist bestätigt, daß zur Attentatszeit zwei fremde Männer die Daumer’sche Wohnung verlassen haben. Reingehen hat sie freilich niemand gesehen. Eine andere Zeugin, die 29jährige Hallwächtersfrau Christiane Übelhör, sah ungefähr zur gleichen Zeit an dem der Insel Schütt gegenüberliegenden Hauptspital einen Fremden, auf den die Beschreibung paßte, die Kaspar gab und vom Magistrat am 19. Oktober veröffentlicht worden war. Der Mann wusch sich die Hände an der Feuerkufe unmittelbar neben dem Hauptspital. Der jungen Frau fiel das auf, da der Fremde wohlgekleidet war, allem Anschein nach einem höheren Stande angehörte und sofort mit dem Händewaschen aufhörte, als Frau Ubelhör ihn mit gelindem Staunen fixierte. Darauf tat er so, "als wenn er lediglich die Feuerkufen beaugenscheinige". Im gleichen Augenblick sei die Magd des Spezereihändlers Pflüger dahergekommen. Christiane Ubelhör gab die Magd als weitere Zeugin an. Schon am nächsten Tag wurde auch diese eidlich vernommen. Es kam aber nicht viel dabei heraus. Interessanter ist schon wieder die Zeugenaussage des 55jährigen Johann Groß. Er war Hausknecht im Gasthaus zu Peter. Vernommen wurde er fünf Tage nach dem Überfall auf Hauser. Groß sagte aus, daß er am Attentatstag, nachmittags zwischen 15 und 16 Uhr, einen Fremden gesehen hat, auf den die Beschreibung der Stadtpolizei seiner Überzeugung nach zutrifft. Gesehen hat Groß diesen Fremdling "in der Vizinalstraße vom Lichtenhof aus die Allensbergerstraße hinaufgehen". Dabei sei der verdächtige Mann einem ihm zufällig folgenden Soldaten ausgewichen und wandte sich "durch einen Rain gegen die Stadt zu", verweilte aber "noch eine halbe Stunde auf der Höhe". Und da es just an diesem 17. Oktober überaus windig und regnerisch war, ein Sauwetter also, wunderte sich der Hausknecht von
St. Peter, jemand "zu solcher Zeit spazieren oder gar auf jemand warten zu sehen". Der gut beobachtende, sicher auch überaus neugierige Groß vermerkte dann, daß aber niemand kam. Nach einer dreiviertel Stunde machte sich der Fremde auf und ging auf die Stadt zu. Der 38jährige Baptist Klein, Oberleutnant im 5. Linieninfanterieregiment, ein geborener Straubinger, meldete sich ebenfalls als Zeuge. Er gab zu Protokoll: Ich befand mich am Montag, den 19. ds. Mts., auf der Jagd, wo ich an der Waldspitze unfern der sogenannten Vogelstange einen Herrn mit einer anderen Mannsperson aus der niederen Volksklasse traf, welche angelegenlichst zu sprechen schienen und nach meiner Wahrnehmung mindestens eine gute halbe Stunde beisammen standen. Ich ging auf beide Personen zu, auch dicht an ihnen vorbei, für welchen Moment sie zwar ihre Unterredung abbrachen, nach meinem Vorübergehen jedoch wieder fortgesetzt haben. Als ich in einer Entfernung von ca. 100 Schritten mich umsah, auch ein Weilchen nach jenen Leuten blickte, wandten sie sich ebenmäßig gegen mich blickend um, gingen jedoch alsdann auseinander, dergestalt, daß der Herr gegen den Peter zu, der andere aber in den Wald nach Fischbach oder Altenfurth zu eilends ging. Es folgt die Personenbeschreibung des fremden Herrn, der in Richtung St. Peter ging. Sie hatte Ähnlichkeit mit der des Magistrats. Dabei wird erwähnt, daß er einen großen, silberfarbigen Hund bei sich hatte. Dies darf als ein auffallendes Kennzeichen gewertet werden. Schließlich wird es in Nürnberg mit seinen damals 30000 Einwohnern nicht allzu viele Besitzer von Hunden gegeben haben, deren Hauskamerad groß und silberfarbig war. Dennoch: der Mann mitsamt seinem auffallenden Hund konnte nie ermittelt werden. Also, darf schlußgefolgert werden, war er nicht von Nürnberg. Die andere Mannsperson, gab Oberleutnant Klein weiter zu Protokoll, war von mittlerer Größe, untersetzter Statur, etliche 40 Jahre alt, bleichen Angesichts, und hatte dunkle Haare und desgl. Backenbart. Die Kleider dieser Person bestanden aus einem Spenzer von dunkler,
ich meine dunkelblauer Farbe, dann Beinkleidern aus grauem, abgetragenem Zeug. Auf dem Kopfe hatte er ebenmäßig einen runden Hut nach der Form der hiesigen Bürger. Keine dieser Personen war mir früher je zu Gesicht gekommen. Die beiden Fremden waren dem Offizier seiner Majestät des Königs aufgefallen: Schon das Beisammensein zweier Personen ganz verschiedener Stände in vertraulicher Stellung machte mich aufmerksam, und es schien mir deren Beisammensein verdächtig, zumal sie, als ich an beiden vorüberging, ihr Gespräch abbrachen, sich auch bei dem Auseinandergehen ganz scheu gegen mich umgesehen haben. Vernehmen wir noch die Aussage der Zeugin Margaretha Stenglin, 36 Jahre alt, von Beruf "Zuspringerin", also Zugehfrau. Da sie mit drei Kreuzen unterzeichnete, war sie des Lesens und Schreibens unkundig. Sie sagte aus: Am Mittwoch, den 21. Oktober, also 4 Tage nach dem an Hauser gemachten Mordversuche, als ich morgens zwischen 6 und 7 Uhr in die Stadt herein an meine Arbeit ging, traf ich auf dem Fußsteig vom Tiergärtner Tor nach der Bucherstraße zu, und zwar zwischen der um die Stadt führenden Straße und dem Öbstnerhäuschen an der Bucherstraße, einen großen Mann stehend, der ungefähr 40 Jahre alt sein mochte, braune Haare, ein rundes volles Gesicht, einen etwas rötlichen starken Backenbart hatte, einen runden schwarzen Hut, einen grüntuchenen bis über die Knie hinab reichenden Oberrock, dunkle Pantalons, eine schwarze Halsbinde, ein gefältetes weißes Chemisette, eine schwarztuchene, aber offen stehende Weste, gewichste Stiefel am Leibe getragen, an der linken Hand einen weißledernen Handschuh und den von der rechten Hand in jener hatte, dann am Zeigefinger der rechten Hand einen großen goldenen Plattenring trug. Das ist eine erstaunlich exakte Personenbeschreibung. Kein Polizeibeamter hätte sie akkurater erstellen können als diese Analphabetin.
Nach dieser eingehenden Beschreibung des biedermeierischen Kavaliers erzählt die Margaretha Stenglin, was nun der Mann von ihr wollte, dessen Gebaren auch ihr sonderbar erschien. Die Stenglin sagte also aus, wie wir weiter oben gehört haben, daß der Mann auf dem Weg, von der Zeugin genau beschrieben, herumgestanden hat. Einige Milchbäuerinnen und auch einen Bäckerjungen ließ er passieren, ohne sie anzusprechen. Die Margaretha Stenglin aber hielt er an und fragte, ob sie außerhalb der Stadt wohne und ob der, "welcher geschlagen worden", gestorben sei. Auf Anhieb hat die Zeugin nicht kapiert, wer damit gemeint sein soll. Der Fremde half ihr und nannte den Namen Kaspar Hauser. Da fiel endlich der Groschen. Soweit ihr bekannt, sei der Kaspar noch am Leben, antwortete sie und setzte ihren Weg fort. Sie hat aber nicht mit der Hartnäckigkeit des Mannes gerechnet. Er schloß sich ihr einfach an. In der Nähe des Tiergärtner Tores angekommen, fragte er sie, wer an diesem Tor Examinator sei und ob man ohne weiteres passieren könne. Ferner erkundigte er sich bei Margaretha Stenglin, ob am Tor bezüglich Kaspar Hauser etwas angeschlagen sei. Die Stenglin darauf: Wer der Examinator am Tiergärtner Tor sei, das wisse sie nicht, auch könne er das Tor passieren, ohne angehalten zu werden. Was aber den Kaspar Hauser angehe, so sei seinetwegen, wegen des stattgefundenen Attentats, eine Bekanntmachung "angeheftet". Sie wisse aber nicht, was auf der Bekanntmachung stehe, da sie "des Lesens unkundig" sei. Darauf ging der Mann mit mir sofort über die Torbrücke herein, auf der er sich zweimal umsah, und als wir an das erste Tor von der Stadt aus gekommen waren, an dem die Bekanntmachung angeheftet war, las er diese durch, ich aber ging meines Weges fort. Als ich mich wieder umsah, bemerkte ich, daß der Mann seinen Rückweg mit schnellen Schritten wieder angetreten hatte und zum Tore hinaus ging. Sie gab dann schließlich noch an, daß sie überzeugt sei, mit einem Fremden gesprochen zu haben, "zumal er den hiesigen Dialekt nicht
sprach". Nun das ist schon mehr als merkwürdig. Gemeint ist die Verhaltensweise des von der Stenglin geschilderten Mannes, der übrigens nie ermittelt werden konnte. Pure Neugierde alleine wird es nicht gewesen sein, weshalb er sich so sehr um den angeblichen Mordversuch an Kaspar Hauser gekümmert hat. Warum wollte er wissen, wer Torexaminator ist und ob man, ohne angehalten zu werden, durchs Tiergärtner Tor kommen kann? Studiert man die ganzen Zeugenaussagen, das Attentat betreffend, mit kritischen Augen, dann fällt zweierlei auf: 1. In jedem Fall handelt es sich um Fremde, deren Gebaren aufgefallen ist, und zwar durchwegs mit plausiblen Begründungen seitens der Zeugen. 2. In fast allen Aussagen wird ein Fremder geschildert, der an Lebensjahren um die 40 herum geschätzt wird und einen Schnurr- nebst Backenbart hat. Warum dies der Nürnberger Untersuchungsbehörde nicht aufgefallen ist, darf man noch heute als schleierhaft bezeichnen. Auch der eine von Kaspars mysteriösen zwei Besuchern, der mit den "bösen Zügen" - Sie erinnern sich - fällt in die ungefähre Kategorie jenes geisterhaften, nie ermittelten Fremden. Und was nun die beiden Männer betrifft, die zur Tatzeit die Daumer’sche Wohnung verlassen haben, darf noch gesagt werden, daß weder die Daumers noch die Haubenstrickers Kenntnis von diesen zwei Fremden hatten. Dies ist aktenkundig. Wen aber haben sie dann besucht, diese beiden dunklen Kavaliere, die von der Zeugin Maria Rupprecht beim Verlassen des Hauses gesehen wurden? Hat die Rupprecht keine Halluzinationen gehabt, was unwahrscheinlich ist, dann hat dieser Besuch dem Findling Kaspar Hauser gegolten. Dessenungeachtet: ein Täter wurde nie gefunden. Nicht einmal die von Zeugen beschriebenen verdächtigen Personen konnten je ermittelt werden. Nürnberger Polizeipleite auf der ganzen Linie. Und so sollte es eigentlich nicht wundern, daß schon bald darauf Zweifel auftauchten, ob überhaupt ein Attentat stattgefunden hat. Einige Dummköpfe faselten sogar, der Hauser Kaspar sei blau gewesen wie ein Veilchen und in diesem Zustand gefallen oder irgendwo angestoßen, wobei er sich die Verletzung an der Stirn zugezogen habe. Die
Behörden gingen auch diesem Gerede nach und bemühten die beiden Ärzte Dr. Preu und Dr. Osterhausen, darüber zu gutachten. Zwischen jeder Zeile dieses auf uns gekommenen Gutachtens spürt man die Verärgerung der zwei Doktoren, ihre Empörung über die Zumutung, wegen solcher Stammtischschwätzereien gerichtlich vernommen zu werden. Dennoch haben sie treu und brav den Unsinn medizinisch widerlegt. Zunächst einmal wiesen sie an Hand von Beispielen nach, daß Hauser keinerlei Alkohol zu sich nimmt. Er konnte ja nicht einmal den entferntesten Geruch von Wein oder Sekt ertragen, ohne augenblicklich physische Beschwerden zu bekommen. Und dann erläuterten sie medizinisch genau, weshalb die Stirnwunde Hausers niemals durch einen Fall entstanden sein konnte, sondern durch einen schnellen Hieb mit einem rasiermesserscharfen Instrument. Doch genug davon. Die paar Nürnberger Zweifler gaben sich mit dem Attest zufrieden oder taten jedenfalls so, da die Argumente der Ärzte zu einleuchtend waren. Anders schon war es mit dem Berliner Polizeirat Merker, von dem wir schon anfangs einmal gehört haben. Dieser Mann setzte sich im fernen Berlin an seinen Schreibtisch und stellte, ohne Kaspar je persönlich gesehen oder gleich gar erlebt zu haben, in seinen "Beiträgen" den Findling als einen Betrüger hin. "Caspar Hauser, nicht unwahrscheinlich ein Betrüger. Dargestellt von dem Polizeirath Merker. Berlin, bei August Rücker. 1830" hat er seine graue, allzugraue Theorie betitelt, die bald auch in Nürnberg und Ansbach als Druckwerk die Runde machte. Eine der Folgen dieser Merker’schen Schrift war, wie wir schon eingehend vernommen haben, daß die Nürnberger Gesellschaftsspitze zum Kochen kam. Was sich dieser preußische Blechtrommler eigentlich einbilde, polterte es an den gehobenen Stammtischen der Noris. Der Kerl kennt weder die Akten noch den Kaspar Hauser, und dennoch maßt er sich die Frechheit an, den Hauser als einen gemeinen Betrüger hinzustellen. Aber man werde dem Preußenzipfel, der Groß-
schnauze schon die Leviten lesen! Und zu diesem Behufe wurden die Ärzte wieder einmal bemüht. So kam es zu dem ausführlichen Gutachten des Dr. Preu vom 3. Dezember 1830 und dem noch ausführlicheren des Dr. Osterhausen vom 31. Dezember des gleichen Jahres, die wir bereits kennen. Veranlasser war das Appellationsgericht in Ansbach, die vorgesetzte Dienststelle des Nürnberger K. Kreis- und Stadtgerichts. Die Nürnberger und die Ansbacher waren vor allem deshalb so aufgebracht, weil in Merkers Schrift jegliche Beweisführung fehlte. Merkers Rezept war in der Tat zu einfach. Er sagte sich einfach, der Fall Hauser sei so seltsam, so rätselhaft, daß unbedingt Betrügerei mit im Spiele sein müsse. Auf dieser Basis bastelte der Berliner Polizeirat seine Betrügertheorie zusammen, die mit Recht alle jene Leute verärgern, ja beleidigen mußte, die Akteneinsicht hatten und Hauser persönlich kannten. Dies alles sei nur um der historischen Wahrheit willen erwähnt, denn Merkers Hypothese ist längst und einwandfrei als Unsinn widerlegt. Aber wie gesagt, sie hat damals mächtig Staub aufgewirbelt, wie überhaupt hemmungslose Provokation immer die Gemüter in Wallung bringen werden. Auch Kaspar selbst hat übrigens Kenntnis von dieser Merker’schen Schrift bekommen. Das Attentat hat aber noch weitere Folgen, sozusagen direkter Natur. Generalkommissär von Mieg, Chef der Regierung in Ansbach, meldete den Vorfall pflichtgemäß seinem König in München, Ludwig I. Das war mit Schreiben vom 24. Oktober 1829. "Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster König, Allergnädigster König und Herr! Die vorgefallene Verwundung des Kaspar Hauser betreffend ...", beginnt das amtliche Schreiben. Und dann schildert von Mieg die näheren Umstände des Überfalls auf Hauser. Der hohe Beamte aus Ansbach mußte aber gestehen: "Noch haben die Nachforschungen auf keine b e s t i m m t e Spur geleitet, werden aber auf das eifrigste fortgesetzt." Schon anderthalb Wochen darauf, datiert vom 4. November kam eine Kabinettsorder:
Ludwig von Gottes Gnaden König von Bayern. Der gegen Kaspar Hauser zu Nürnberg verübte Mordversuch zeigt in Verbindung mit dem früheren Schicksale dieses Unglücklichen deutlich das beharrliche Bestreben, denselben, nachdem die Verheimlichung seines Daseins mißlungen ist, aus der Welt zu schaffen, und es sind daher ähnliche Versuche nur mit allzu vieler Wahrscheinlichkeit zu fürchten. Wir tragen daher Unserem Staatsministerium des Innern auf, demselben alsbald eine polizeiliche Schutzwache beizugeben, und nach vorheriger Vernehmung der Kreisregierung und des Magistrats in Nürnberg Uns diejenigen Maßregeln in Antrag zu bringen, welche am geeignetsten die persönliche Sicherheit des Hauser schützen können. München, den 4. November 1829. Ludwig. Der König hat nun also ganz offiziell höchstpersönlich eingegriffen. Wegen eines betrügerischen Bauernspezl aus der hintersten Ecke des Bayerischen Waldes wird der Bayernkönig schwerlich in das Rad der Geschichte gegriffen haben. Schnickschnack und Affären einfacher Leute werden auf unteren Ebenen abgehandelt. Auf der Ebene eines Amtsrichters, nicht aber vom Throne direkt. Das hätte eigentlich auch dem Königlich Preußischen Polizeirat Merker einleuchten müssen. Hat’s aber nicht. Andererseits: wäre nur der allergeringste Zweifel gegenüber Kaspar Hauser vorhanden gewesen, nie hätte sich der König direkt eingeschaltet. Kaspar bekam also von nun an zwei stämmige Nürnberger Polizisten als Leibwache zugeteilt. Auf des Königs Befehl hin! Sie begleiteten den Jungen auf Schritt und Tritt und ließen ihn keine Sekunde aus den Augen. Jedenfalls anfangs nicht. Später schienen sie auch etwas lascher geworden zu sein. Aber vielleicht bis sehr wahrscheinlich sind sie später auch dem Kaspar auf die Nerven gegangen. Wer hat schon gerne und ständig zwei Leibwächter um sich! Am 18. November 1829, einem Mittwoch, druckte das Ansbacher "Königlich Bayerische Intelligenzblatt für den Rezat-Kreis" eine "Oeffentliche Bekanntmachung" ab. Im Namen Seiner Majestät des
Königs von Bayern wurde eine Belohnung von 500 Gulden demjenigen versprochen, der Hinweis auf den Attentäter geben kann, die zu dessen Festnahme und Bestrafung führen. Sämtliche bayerischen Blätter druckten diese "Oeffentliche Bekanntmachung" nach. Berichte darüber aber brachten die Zeitungen in ganz Europa, ja auch in Amerika. Bei den Behörden in Nürnberg und Ansbach aber wuchs der Aktenberg. Der Bürokratenapparat lief auf Hochtouren. Ungezählte Leute wurden vernommen. Allen möglichen und unmöglichen Spuren wurde nachgegangen. Selbst die ganze Nürnberger Schlotfegerzunft mußte sich inspizieren lassen. Der von Kaspar angegebene schwarze Mann geisterte und spukte in den Köpfen der überforderten Beamten. Es mag an manchen Tagen wie im Tollhaus zugegangen sein. Hinzu kam noch, daß zahlreiche Anzeigen von Leuten bei Gericht einliefen, die sich die 500 Gulden - für kleine Leute damals ein Vermögen verdienen wollten. So wurden auch Lokaltermine abgehalten, wie beispielsweise in Amberg, in Weiden oder in Kaltenborn. Alles vergebens. Bis zum heutigen Tag konnte sich niemand die 500 Gulden Belohnung verdienen. Wobei an dieser Stelle eingeflochten werden darf, daß Bayerns König wohlweislich nur für die Ergreifung des Attentäters 500 Gulden ausgeschrieben hatte - jedoch nicht für den angeblichen Kerkermeister. Das gibt zu denken. Und wie der Aktenberg wuchs und wuchs, so auch die Widersprüche in den Aussagen. Präsident von Feuerbach gab darüber ein vernichtendes Urteil. Und in diesen Wirrwarr hinein flatterte dem Nürnberger Bürgermeister ein zweites anonymes Brieflein auf den Amtstisch. Datiert war der Wisch vom 13. Dezember 1829. Der Anonymus wurde nun schon deutlicher und behauptete, Kaspar Hauser entstamme dem großherzoglichen Hause Baden, der noch herrschenden Zähringer Linie. Wenige Wochen darauf, am 31. Dezember, wurde Freiherr von Tucher zum Vormund des Findlings bestellt. Und kurz darauf mußte Kaspar in die Wohnung des Kaufmanns und Magistratsrates Johann Christian Biberbach übersiedeln. Die Verantwortlichen des Magistrats und Gerichts glaubten nämlich, Kaspar sei im Gewinkel der Daumer’schen Hinterhofidylle nicht mehr sicher genug untergebracht.
In seinem Protokoll zur Kuratel über Hauser, abgehalten im K. Kreis- und Stadtgericht Nürnberg am 27. Januar 1830, sagte Hausers Vormund von Tucher: Wegen Krankheit des Herrn Professors Daumer, in dessen Hause er seither war, mußte die Entfernung des Kuranden aus dessen Hause bewerkstelligt werden. Mein Kurand befindet sich gegenwärtig in dem Hause des hiesigen Kaufmanns und Magistrats Biberbach, welcher Kost und Wohnung unentgeltlich verabreicht. Biberbach, wäre anzumerken, war damals 48 Jahre alt, ein geborener Zirndorfer, gutmütig und vermögend. Er hatte einen gottjämmerlichen Drachen zur Frau, eine Nymphomanin, die sich später das Leben nahm, allem Anschein nach aber auch dem armen Kaspar lüstern nachstellte. So kamen zwei arme Hunde zusammen: der Kaspar und sein neuer Pflegevater. Fünf Monate blieb Kaspar im Hause dieses biederen Mannes. Weit später, 1873, erinnert sich Daumer in seinem Buch an diese Zeit der Übersiedlung: Es waren, soviel ich mich erinnere, mehrere Ursachen, welche zu dieser Versetzung bewogen. So mein damaliger, in hohem Grad verschlimmerter Gesundheitszustand; auch hielt man den Findling in Biberbachs Hause sicherer als bei mir. Unrichtig aber ist die Angabe, ich sei mit ihm so arg zerfallen, daß ich ihn nicht mehr haben mochte und gleichsam aus dem Hause stieß. Ich blieb auch nach jener Entfernung stets mit ihm in enger, freundschaftlicher Verbindung, besuchte ihn und empfing Besuche von ihm; er nahm besonders, wenn ihm ein Unwohlsein befiel, seine Zuflucht zu mir. Bevor wir nun dieses Kapitel beschließen, wollen wir uns noch etwas mit den sogenannten ungarischen Sprachversuchen beschäftigen. Sie werfen ein aufschlußreiches Licht auf Kaspars Psyche, auf das Medium Kaspar und seine Umwelt. Die Ursache der "Sprachversuche" gehen auf einen Aufsatz in der Zeitschrift "Der Bazar" zurück. In diesem Blatt war am 26. März 1830 über Kaspar Hauser zu lesen, er sei der Sohn eines ungarischen Magnaten, wie überhaupt Spuren des
Verbrechens an Kaspar nach Ungarn, ins Land der Magyaren, reichen. Dies rief einen hochgebildeten preußischen Offizier auf den Plan, der unter anderen Sprachen auch ungarisch verstand. Sein Name: Otto von Pirch, 30 Jahre alt, geborener Bayreuther, wohnhaft in Potsdam, Premierleutnant im 1. Königl. Preuß. Garderegiment. So seine Angaben zur Person, als er am 30. März 1830 vor dem K. Kreis- und Stadtgericht Nürnberg von Gerichtsrat von Roeder vernommen wurde. Die Frage Nummer eins, die an den preußischen Offizier aus Oberfranken gestellt wurde, lautete: "Was führte Sie zu Kaspar Hauser?" Die Antwort von Pirchs: Das allgemeine Interesse an Kaspar Hausers unglücklichem Schicksal und insonderheit die in öffentlichen Blättern aus Ungarn neuerdings erteilten Nachrichten. Und dann erzählte der Offizier frank und frei, was sich drei Tage vorher, am 27. März, in der Biberbach’schen Wohnung zugetragen hat. Demnach hat der 42 Jahre alte Magistratsrat und Buchbinder Johann Jakob Schnerr den Premierleutnant bei Biberbachs eingeführt. Die Verbindung Schnerr - von Pirch aber kam dadurch zustande, daß der pensionierte preußische Major von Weitershausen schon lange ein recht guter Bekannter der Familie Schnerr war. Des Majors Vetter aber war jener Premierleutnant von Pirch. Anwesend bei den Sprachversuchen waren ein Kreis Nürnberger Gebildeter. Vielleicht waren auch einige Neugierige darunter. Wer weiß das schon. Aber sie alle waren Zeugen. Kaspar Hauser wußte natürlich nicht, daß er in der ungarischen Sprache getestet werden sollte. Ganz unverfänglich wurde in der Wohnung des Kaufmanns Biberbach palavert, über das und jenes gesprochen. Natürlich wurde auch Kaspar, der eigentliche Mittelpunkt des Vorhabens, in die Gespräche mit einbezogen. Ganz beiläufig fragte ihn von Pirch dabei, ob er auch das Zählen erlernt habe:
"Edy, katdö, harom!" Das heißt zu deutsch: eins, zwei, drei! Schlagartig verfiel Hauser in tiefes Nachdenken. Dann aber äußerte er hastig und sichtbar ergriffen: "Das habe ich schon gehört wie im Traum." Und als von Pirch das Wort "zaz", zu deutsch 100 aussprach, sagte Hauser von selbst: "Das ist eine große Zahl." Darauf gebrauchte von Pirch das Fluchwort "basmana remtete". Kaum ausgesprochen, "zuckte Hauser krampfhaft zusammen und sagte ängstlich: ‚Das hat der Mann gesagt, zweimal auf dem Weg und einmal, wie er mich geschlagen hat.’" Bisher handelte es sich um ungarische Worte des von Pirch, der auch polnisch sprach. Nun versuchte er es mit dieser Sprache bei Kaspar. Dabei darf erinnert werden, daß keine Menschenseele dem Kaspar sagte, welchen Sprachen die Ausdrücke entstammen. Als nun von Pirch sagte: "Matka!" (Mutter), erheiterte sich Hausers Gesicht mit einemmale, und er rief freudig aus: "Das ist Mutter!" in einem Tone, der uns Anwesende ergriff, und als ich "ociec" zu deutsch "Vater" sprach, sagte er ebenmäßig aus eigenem Antrieb: "Das ist Vater, das habe ich aber nicht so oft gehört!" Alles war verblüfft. Die Herren sahen sich bedeutungsvoll an. Endlich schien man der Lösung des Hauser-Rätsels einen gewaltigen Schritt näher zu sein. Nun kann es nicht mehr lange dauern, bis das Geheimnis um Kaspars Abstammung gelüftet ist. Otto von Pirch klopfte sich scherzend auf die Schenkel und meinte: "Buzirscz moi Kochan, buzirscz moi chlopek", was zu deutsch heißt: "Komm, mein Lieber, komm mein Junge!". In einer Seelenmixtur aus Freude und Erregung lachte Kaspar laut auf und erklärte den wiederum staunenden Männern: "Die Worte habe ich gehört, ja, meine Kindsmagd." Hauser zitterte vor Erregung. Seinem Pflegevater Biberbach bereitete des Kaspars Benehmen Sorge. Er schlug vor, einen Spaziergang zu machen, damit sich sein Zögling wieder beruhigen werde. Otto von Pirch schloß sich ihnen an. Dabei ließ von Pirch den Ausdruck "moija baba" von sich, was soviel
wie "meine Alte" heißt, in der Umgangssprache auch "meine Kindsfrau". Kaspar glühte vor Freude und Begeisterung und äußerte: "Ja, ja, da lachte sie immer!" Schließlich fluchte von Pirch wie ein polnischer Fuhrknecht: "Bot foi mat!" In von Pirchs Protokoll heißt es darüber wörtlich: Da zuckte Hauser zusammen und äußerte: "Das ein böses Wort, darf man nicht sagen!", welche Wahrnehmung mir die Überzeugung gaben, daß dem Hauser die polnische Sprache durchaus nicht fremd ist. Hauser verstand also ungarische und polnische Sprachbrocken dem Sinne nach auf Anhieb. Dies bestätigten auch die anderen Zeugen, die bei diesen Sprachversuchen dabei waren und wie Otto von Pirch unter Eid aussagten. Was sind das alles nur für Sachen! Aber wohin deutet nun die Abstammung? Nach Ungarn? Nach Polen? Die Herren blickten sich ratlos an, bis der preußische Premierleutnant von Pirch lächelnd aufklärte: Die Zahlworte eins, zwei und drei, dann der Ausdruck "zaz" und der Fluch "basmana remtete" ist ungarisch, die übrigen Ausdrücke polnisch. Übrigens wird in Ungarn fast zu gleichen Teilen ungarisch, slavisch und deutsch gesprochen. Die Herren frohlockten. Für sie war es nun klar, woher Kaspar kam. Und auch der gute Kaspar war fest davon überzeugt, aus dem Magyarenland zu kommen. Auf der Stelle avancierte der preußische Leutnant bei Kaspar zu jenem Menschen, der ihm helfen konnte, das Dunkle seiner Vergangenheit und Herkunft erleuchten zu können. Armer Junge! Er wollte, als sich von Pirch von Nürnberg und seinen Freunden verabschiedete, partout mitreisen. Ja, Kaspar gebärdete sich beim Abschied regelrecht hysterisch. Er weinte bitterlich und jammerte. Hören wir, was von Tucher bei seiner Vernehmung darüber sagte:
Am Dienstag, den 30. morgens, nahm Herr von Pirch Abschied, wobei Kaspar sich unendlich gerührt zeigte, bitterlich zu weinen anfing und durchaus mit Herrn von Pirch fortzureisen verlangte, indem er überzeugt sei, daß er durch diesen allein seinen früheren Aufenthaltsort finden könne. Er kam hierbei wieder aufs neue so sehr in Aufregung, daß ich Herrn von Pirch ersuchen mußte, sich schleunigst zu entfernen. Wer will’s dem armen Kerl verübeln! Aber man muß dies alles wissen, um den Jungen zu verstehen, um seine Psyche zu begreifen. Denn natürlich platzten alle diesbezüglichen Recherchen wie eine Seifenblase. Und recherchiert und geschrieben wurde. Der Blätterwald war voll mit Artikeln und Aufsätzen über die Sprachversuche. Ein ungarischer Professor gab in einer Zeitung Ratschläge, wie man die Sprachversuche fortsetzen könne und schlug vor, eine Reise mit dem Findling durch Ungarn könnte eventuell zu weiteren Entdeckungen führen. Und tatsächlich kam es sogar zu zwei Ungarnreisen, die mit negativen Ergebnissen endeten. Es konnte ja gar nicht anders sein. Finanziert hat diese Reisen übrigens der dunkle englische Lord Stanhope, von dem wir schon gehört haben und noch weit mehr vernehmen werden. Tausende von Gulden wurden für all diese Recherchen ausgegeben, die nur dazu dienten, von Hausers wahrer Herkunft abzulenken. Später sollte Kaspar von diesem britischen Lord an Sohnes statt angenommen und mit nach England genommen werden. Aber das waren alles Sprüche des sauberen Lords, um den Jungen wie Wachs in seinen Händen kneten zu können. In Wahrheit dachte die schnöde Agententype gar nicht daran. Aber das alles konnte Kaspar ja nicht wissen. So taumelte er von einer Enttäuschung in die andere. Und wer will den Stab über den Buben brechen, wenn er später mißtrauisch und geheimniskrämerisch geworden ist, ja seinen Weg zu Zwecklügen gefunden hat. Woher, so wird sich der gebildete Lesen fragen, hat nun Kaspar die Kenntnis von ungarischen und polnischen Ausdrücken? Weit über 100 Jahre hindurch war dies eines der großen Hauser-Rätsel. Mittlerweile glauben wir es zu wissen. Das Mosaik des Wissens rundet sich.
Die Rätsel werden weniger. Die Erinnerungsfetzen, die schmalen Durchbrüche durch die hypnotische Sperre, haben nicht getrogen. Kaspar faselte bei seinen Sprachversuchen etwas von einer Kindsfrau, freilich ohne damit etwas anfangen zu können. Es war nur ein winzig kurzer Lichtblick in der Schwärze der Erinnerungssperre. Ja, Kaspar hat eine Kindsfrau gehabt. Und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kennen wir die Dame, von der unser Kaspar die polnischen und ungarischen, sicher auch französischen Sprachbrocken gelernt, weil gehört hat. Wie aber bemühte sich der Junge, das Dunkel der Erinnerungssperre zu durchbrechen. Hören wir, was Baron von Tucher in seinem Verhör vom 5. April 1830 aussagte: Da ich keine dieser Sprachen verstehe, so habe ich auch alle Worte vergessen, nur eins blieb mir, das ist: "Moja kochana", wobei er ausrief: "Das hat meine Kindsfrau oft gesagt, da hat sie mich dabei auf dem Arm gehabt." Bei all diesen Vorgängen bemerkte ich eine Aufregung in Kaspars ganzem Wesen, wie ich sie noch nie an ihm bemerkt habe. Seine Augen wurden starr und traten weit geöffnet heraus, sein Mund war stets halb geöffnet, wie, als wollte er zu dem Aussprechen eines Wortes gelangen, so daß mir wirklich bange um seinen Seelenzustand wurde ... Der geneigte Leser, der bis hierher der komplizierten HauserGeschichte gefolgt ist, sich durchgearbeitet hat, der weiß, daß das Medium Kaspar Hauser im Trancezustand war, wenn er sich benahm, wie es von Tucher geschildert hat. Tagelang war Kaspar blaß und litt unter Kopfschmerzen, und immer wieder versuchte er, die Erinnerungssperre zu durchbrechen. Vergeblich. Die Sperre hielt. "Ich meine immer", sagte er einige Tage nach von Pirchs Abreise, "ich müßte mich auf einen Namen besinnen." Zu seinem Vormund von Tucher sagte dies Kaspar. Und es beweist wieder einmal, daß sich der Junge mit Kaspar Hauser nie so richtig selbst identifizierte. Er ahnte, ja er ahnte zutiefst, daß sein wirklichen Name ganz anders lautet.
Wie schon erwähnt, haben diese ungarisch-polnischen Sprachversuche in der europäischen Öffentlichkeit ein breites Echo gefunden. Es blieb deshalb nicht aus, daß nach von Pirch noch andere kamen, die diese Sprachversuche fortführten. So im Sommer des gleichen Jahres, also 1830, der damals durch seine Humoresken bekannte Schriftsteller Dr. phil. Moritz Gottlieb Saphir, 35 Jahre alt, mosaischer Religion, zu Ofen in Ungarn geboren, in München lebend. Dieser überaus geistvolle Schriftsteller, der mehrere Sprachen fließend beherrschte, kam im August 1830 mehrmals mit Kaspar Hauser zusammen. Die Methode der Sprachversuche war ähnlich wie die des Herrn von Pirch. Als Dr. Saphir das ungarische Wort "Setalni" (schelteni, das heißt spazieren gehen) sagte, geriet Hauser in Erregung. Dr. Saphir bei seiner Vernehmung vom 13. August 1830 vormittags um 11 Uhr in Gegenwart des Königlichen Kreis- und Stadtgerichtrates von Roeder: ... nach sichtlicher Anstrengung seines Rückerinnerungsvermögens fand er die richtige Bedeutung, indem er sich folgendermaßen ausdrückte: "Es ist mir, als ob dieses Wort so wäre, als ob man irgendwohin gehen sollte". Natürlich war auch Saphir davon berührt, daß sein sprachliches Versuchskaninchen seine ungarischen Ergüsse mitunter dem Sinne nach deuten konnte. Und wie erstaunt erst war Saphir, als Kaspar im Trancezustand, der aber als solcher nicht erkannt wurde, plötzlich selbst versuchte, ungarisch zu reden. Denn was er dabei herausbrachte, war das Wort "Motschär". Glaube nun keiner, das sei ein ungarisches Wort. Nein. Und es war und ist auch kein polnisches. Man wird es vergeblich in allen Kultursprachen der Welt suchen. War es Glossolalie, das Reden in fremden Zungen, was Kaspar da in Trance hervorbrachte? Und wer nun glaubt, Kaspar sei wenigstens hier einmalig, der muß wieder einmal enttäuscht werden. Denn: Kaspar hat auch dies mit vielen Medien gemeinsam gehabt, die im somnambulen Zustand der Glossolalie fähig sind. Und im übrigen bemerkte auch dieser Dr. Saphir mit Erstaunen Kaspars eigenartiges Benehmen während der Sprachversuche: "Sein ganzes Wesen war in Aufruhr ..."
Vielleicht ist es an dieser Stelle angebracht, an Dr. Preu zu erinnern, der in seinem großen Gutachten vom 3. Dezember 1830 schrieb: Wenn Hauser über etwas nachdenkt oder auf etwas sich besinnt, so entsteht sogleich ein zuckendes Muskelspiel im Gesicht, aber immer stärker auf der linken Seite, teilt sich auch allmählich den Gliedmaßen der linken Seite (mit). Dabei hört er auch nicht mehr auf das, was um ihn herum oder selber zu ihm spricht - er muß mit einiger Gewalt aus seiner Träumerei aufgestört werden. Wie er aber zu sich kommt, so ist auch alsbald alles Zucken weg, und er selber weiß gar nichts davon. Soweit der Amtsarzt Dr. Preu. Viele, viele andere Persönlichkeiten haben dieses Phänomen mit ähnlichen Worten der Nachwelt erhalten. So auch Feuerbach, Osterhausen, Binder, Daumer, von Pirch und Dr. Saphir. Bei Dr. Preu aber handelt es sich um die klassische Schilderung eines hypnotischen Zustandes, einer Trance. Niemand scheint dies damals erkannt zu haben, auch nicht der ungarische Adelige Ladislaus von Mérey, der mit Sohn und Hofmeister angereist kam, um Sprachversuche mit Kaspar zu machen, die im großen und ganzen wie die Pirch’schen oder die von Saphir verliefen. Doch genug davon. Kaspar Hauser lebte also rund fünf Monate im Hause Biberbach am Hübnerplatz in Nürnberg. Er hatte dort ein gemütlich eingerichtetes und geräumiges Zimmer. Um aber dorthin zu gelangen, mußte der Besucher erst durch ein kleineres Vorzimmer; anders kam man nicht an Kaspar heran. In diesem Zimmerchen aber waren die beiden Leibwächter, Nürnberger Stadtpolizisten, postiert, um den "Juwel" der Noris zu schützen. Ein ruhiger und bequemer Job und nicht ganz ohne sexuellen Kitzel, für den die Frau des Kaufmanns Biberbach sorgte. Im Gegensatz zu Kaspar kapierten die Polizisten sehr wohl, was die Dame des Hauses mit ihrem katzengleichen Herumschleichen und Betätscheln des Findlings bezwecken wollte. Und als Kaspar langsam ahnte, daß es nicht nur mütterlicher Instinkte waren, die Klara Biberbach leiteten, da bekam es Kasparle mit der Angst zu tun. Er mied die Kaufmannsgattin und ging ihr tunlichst aus dem Wege. Und
das wiederum erachtete sie als demütigend, was psychologisch verständlich erscheint. Ihre Reaktion war gallenbitter, und in ihrem ungerechten Zorn stellte sie Kaspar als einen undankbaren Wicht hin, der sich seinen Wohltätern gegenüber nicht gefällig erweise. Eine verblühende Frau, die sich abgewiesen empfand - von einem 18jährigen, der erst langsam den Unterschied der Geschlechter ahnte. Aber man muß auch dies wissen, um Kaspars Milieu zu verstehen und damit seinen charakterlichen Werdegang. Zurück deshalb in das Zimmerchen der beiden Leibwächter. Es war erst wenige Tage her, daß Premierleutnant Otto von Pirch abgereist ist. Kaspar war noch immer hochgradig nervös, in einem Zustand zwischen Wachsein und Trance. Er marterte sich ab, die Erinnerungssperre zu durchbrechen. Die Sache mit den Sprachversuchen war für ihn ein aufwühlendes Erlebnis gewesen. Er glaubte sicher, dicht vor der Enthüllung aller Geheimnisse zu sein, die seine Person umgaben. Wer ist meine Mutter, wer mein Vater? Wo leben meine Eltern? Warum bin ich nicht bei ihnen? Weshalb war ich (angeblich) immer eingesperrt? Wer verfolgt mich und warum? Fragen über Fragen. Und keine klare Antwort. Dazu das Weibsbild von einer Dame des Hauses; das metsüße Getue und Getatschele und dann noch auf Schritt und Tritt - und dies seit Monaten schon - die beiden Polizisten mit ihren hämischen Bemerkungen und ihrem blöden Geschaue nebst vielsagendem Augenzwinkern. Ja, und lernen mußte er auch noch: Mathe und Musik, Lesen und Schreiben und Zeichnen und sogar noch Latein. Kaspar war einfach überfordert. Und das ist kein Wunder. Das Gegenteil wäre eher eins. So kam der 3. April 1830, ein Samstag. Vor einem halben Jahr war das Attentat; auch an einem Samstag; kurz vor zwölf Uhr mittags. Fast auf die Minute genau knallte es. Ein Schuß war gefallen. Die beiden Polizeibeamten sprangen hoch und rissen die Tür zu Kaspars Zimmer auf. Ihr Schützling aber lag bewußtlos auf dem Boden. Über dem rechten Ohr blutete er am Kopf. Es roch nach abgebranntem Pulver, dessen weiße Schwaden noch zu sehen waren. Im ersten Augenblick dachten die beiden Polizeisoldaten, der Hauser Kaspar habe sich
erschossen und sei tot. Was aber war vorgefallen? Hören wir, was Baron von Tucher, darüber aussagte: ... Heute Vormittag gegen 12 Uhr ereignete sich mit K. Hauser ein besonderes Unglück, woran ich nicht unterlassen will, Anzeige zu machen, sei es auch nur aus dem Grunde, um etwaige Folgen verkehrter und falscher Gerüchte, welche sich jedenfalls verbreiten werden, vorzubeugen. Kaspar hat auf seinem Kommodekasten ein Pult stehen und über demselben, ungefähr 8 bis 9 Fuß hoch, auf einem Gesims des Täfelwerks seine Bücher. Er stieg, um zu diesen zu gelangen, auf einen Stuhl, welcher umfiel, worauf sich Hauser, welcher rechts gegen die Wand hin fiel, an dem Tafelwerk zu halten suchte und in der Angst das Pistol, welches geladen an der Wand hing, ergriff. Dieses ging los und verletzte ihn der Schuß, welcher den noch im Fall begriffenen Kaspar Hauser an der rechten Seite des Kopfes oberhalb des rechten Ohres traf. Der Schuß streifte schräg herunter gegen die Schläfe zu, ungefähr 2 Zoll breit, machte eine Wunde, welche 3 - 4 Linien klaffte, und drang sodann in die Kopfbedeckung selbst, worauf derselbe 9 Linien davon wieder herausging. Alles dieses, ohne eine Verletzung des Schädels selbst zu verursachen. An der mir sehr wohl bekannten Stelle, wo das geladene Pistol hing, bemerkte man da, wo sich die Zündpfanne des Pistols befand, einen Brandflecken und schräg unterhalb demselben einen zweiten Brandflecken an eben der Stelle, wo sich die Mündung des Rohrs befand. Ganz genau in der nämlichen schrägen Richtung findet sich ein Loch, in welchem man 3 Zoll tief die Kugel spürt; das Loch selbst hat, der schrägen Richtung des Schusses entsprechend, eine zykloidische Form ... Soweit Hausers Vormund von Tucher im Protokoll seiner Anzeige, die er noch am gleichen Tage vor dem Kreis- und Stadtgericht Nürnberg machte. Kaspar hat also noch einmal Schwein gehabt. Dennoch: sein Leben war an einem Seidenfaden gehangen. Die Ohnmacht, wahrscheinlich weniger von der Wunde selbst her verursacht, sondern eher vom Schreck, dauerte nicht lange. Bereits nach wenigen Minuten
war er wieder bei vollem Bewußtsein und "imstande vollkommen zusammenhängend das ihn getroffene Unglück zu erzählen". Ganz im Gegensatz zu den Folgen des Attentats: keine Tobsuchtanfälle, kein Delirium, kein Krankenlager nebst Wärtern. Der Schreck war natürlich groß, aber Kaspar beruhigte sich relativ schnell wieder. Vielleicht lag dies auch daran, daß der Kaspar vertraut war im Umgang mit Pistolen. Ja, Sie haben richtig gelesen: Kaspar, das "Kind Europas", konnte Pistolenschießen. Im vorangegangenen Herbst, nach seiner Genesung von den Attentatsfolgen, erlernte Hauser das Schießen, um sich notfalls auch selbst verteidigen zu können. Kaspar hatte sogar viel geübt und mitunter ins Schwarze getroffen. Zwei Pistolen hatte er bekommen, der berühmte Nürnberger Findling. Und beim Umzug in die Biberbach’sche Wohnung hat er sie mitnehmen dürfen. An der Wand wurden sie aufgehängt, eine links von der Kommode, eine rechts davon, und schußbereit waren sie überdies. Biberbach wie auch Freiherr von Tucher berichteten, daß Kaspar Hauser sehr beruhigt war, selbst schießen zu können und die beiden Pistolen zu besitzen. Pech nur, daß dieser saudumme Unfall passieren mußte. Denn nun geilten sich die Besserwisser, die Querulanten und auch die Neider wieder auf. Ganz schlaue und verhinderte Kriminalgrößen behaupteten, Kaspar habe sich absichtlich verletzt, um noch mehr im Mittelpunkt des öffentlichen Geschehens zu stehen. Als ob das ein Kaspar Hauser im April 1830 nötig gehabt hätte! Auch paßt eine gewollte, eine geplante Verletzung von eigener Hand nie und nimmer ins psychologische Bild der Person Hauser, der nicht nur ein kleiner, eitler Pinsel war, sondern ein solcher Angsthase, daß das Wort "Feigling" buchstabengetreu auf ihn zutrifft. Mußte ihn Vormund von Tucher nicht förmlich zwingen, einen Kahn zu besteigen, um mit ihm auf dem Weiher herumzupaddeln? So sehr hatte er Angst vor dem Ertrinken, vorm Sterben. Und dieser Kaspar sollte die Kühnheit haben, die Pistole in einem solchen Winkel anzusetzen und abzudrücken, daß das blutige Ergebnis lediglich eine harmlose Fleischwunde ist? Da lachen doch die Gänse noch 150 Jahre danach!
Und noch etwas, etwas sehr wichtiges: An Kaspar Hausers Kopf wurde keinerlei Brandspur bemerkt. Keine Verbrennung am Kopf! Dafür aber oben an der Wand. Und hexen konnte Kaspar nicht. Das wäre dem Professor Daumer bestimmt aufgefallen, wo dies doch in seinen Hobbybereich gehörte. Nein, es wird so gewesen sein, wie Kaspar es angab und alle Zeugen des Unfallortes ausgesagt haben. Alleine das beeidigte Protokoll von Hausers Vormund Tucher würde selbst heute noch genügen, ballistische Fachleute zu überzeugen, daß es sich um einen dummen Zufall gehandelt hat. Der Schußverlauf wurde haargenau rekonstruiert. Die Ergebnisse deckten sich mit des Jungen Aussagen. Und wenn dessen ungeachtet geredet und geratet, gemunkelt und verzapft wurde, so ist daran Kaspar nicht ganz unschuldig. Er hatte nämlich wieder einmal die Unterrichtsstunde bei Kandidat Bäumler geschwänzt und war am Vorabend später als gewöhnlich heimgekommen. Hausvater Biberbach hatte sich dieses Benehmen nicht so ohne weiteres gefallen lassen und dem Findling gehörig die Leviten gelesen. Und dabei hat der Junge, der in die Enge getrieben ward und mit keinen einleuchtenden Gegenargumenten antreten konnte, seine Zuflucht in den Starrsinn gesucht. Er trommelte mit seinen kleinen Fäusten auf den Tisch, weinte und rief: Er könne dies alles nicht mehr aushalten. "Da will ich nimmer leben!" Dies alles in Gegenwart des Kandidaten Bäumler. Kurz darauf fiel der Schuß. Eine fatale Situation, eine mißliche Lage. Aber es hilft nichts, es muß gesagt werden und wenn sämtliche Hauserianer auf dem Kopf stehen und mit den Füßen wackeln. Für unseren Freund Merker aus Berlin freilich war dies ein gemähtes Fressen. Vorkommnisse diesen Art konnte er brauchen. Und er verarbeitete sie, wie wir wissen in seiner Betrügertheorie. Immerhin war der Polizeirat Johann Friedrich Karl Merker, zu dieser Zeit ein gestandener Kämpfer von 55 Jahren, Herausgeber zweier kriminalistischer Fachzeitschriften, die aber seit zwei Jahren Konkurrenz bekommen haben. Julius Eduard Hitzig hieß der Konkurrent und Herausgeber der Zeitschrift "Annalen der deutschen und ausländischen Kriminalrechtspflege". Zur Zeit des Unfalls mit der Pistole war Hitzig 50 Jahre alt, mit Anselm von Feuerbach
eng befreundet, Präsident des Kammergerichts, und gab zusätzlich mit Willibald Alexis den "Neuen Pitaval" heraus, für den übrigens auch Ritter von Feuerbach schrieb.
4. Die Abstammung Äufstieg der Zähringer - Der Markgraf und seine "Gartenmägdleins" Alter Freier heiratet eine 19jährige - War es Unfall oder Mord? Aufstieg der Gräfin Hochberg Napoleon gibt einen Befehl und verteilt ganze Landstriche wie reife Pflaumen Baden und Bayern im Kalten Krieg Der versoffene Großherzog Karl und Napoleons Stieftochter Stephanie 29. September 1812: Erbprinz wird geboren Der Kaspar-Hauser-Fall beginnt - Ein kerngesundes Büblein stirbt plötzlich Die Sektion - Vertauschungsaktion in der Wiege Ein Ersatzkind namens Blochmann - Gen Moskau aber reist ein gewisser Hennenhofer Mütterchen Rußland schlägt zurück - Die Beresina in Flammen Ehestreit um den Namen Gaspard - Schwarzgefrorene Leichen im Schnee Wer hat Interesse am Aussterben der Zähringer? Ein badischer Diener erschießt sich - Giftanschlag auf Großherzog Karl? Die Flucht des Karlsruher Polizeidirektors. Der aufmerksame Leser wird längst gemerkt haben, daß sich in der Hauser-Geschichte eine chronologische Erzählung nicht immer einhalten läßt, wenn die hochkomplizierte Materie fundiert dargelegt werden soll. Deshalb müssen wir uns an dieser Stelle etwas näher mit dem großherzoglichen Hause Baden beschäftigen.
Wie die Hohenzollern, die Hohenstaufer und die Habsburger, so ging auch die Stammlinie des badischen Herrscherhauses, die Zähringer, aus dem hochbegabten Schwabenstamme hervor. Als Grafen im Breisgau werden schon im 10. Jahrhundert Ahnherrn sichtbar. 1218 war's dann soweit: das Stammgeschlecht der Ahnherrn starb aus. Was sich gehalten hat, das war ein Seitenzweig, die Markgrafen von Baden. Diese wiederum teilten sich im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts in die Linien Baden-Baden und Baden-Durlach. Ein Jahr nach Beethovens Geburt, also 1771, starb schließlich auch die Linie Baden-Baden aus. Was blieb, das waren die Durlacher, populärer unter der Bezeichnung "Zähringer". Dem Indizienbeweis zufolge war Kaspar Hauser der letzte Zähringer. Was folgte und bis 1918 herrschte, war die Hochberg-Linie, deren bekanntester Sproß, Prinz Max von Baden, der letzte Reichskanzler des deutschen monarchischen Systems war. Er legte nach der Revolution von 1918 das Geschick des deutschen Reiches in die Hände seines badischen Landsmanns Friedrich Ebert, dem ersten Präsidenten der jungen deutschen Republik. Der Übergang von der Zähringer-Linie auf die Hochbergs ging nur scheinbar unkompliziert über die politische Bühne Karlsruhes, der badischen Residenzstadt. Jahrelange politische Kämpfe um entsprechende Verträge und die Zustimmung der Weltmächte kennzeichnen das Vorfeld des Thronübergangs von Zähringen auf Hochberg. Zwischen all dem aber stand ein junger Mensch, den ein brutales Schicksal zum Findling auserkoren hat und der unter dem Namen Kaspar Hauser in die Geschichte eingegangen ist - ein zum Objekt degradierter Mensch. Kaspar Hausers eigentliche Geschichte begann nun mit dem Großherzog Karl Friedrich von Baden, einem zielstrebigen und tüchtigen Landesvater, einem typischen Fürsten der Aufklärungszeit. 1728 ist dieser Vollblutzähringer geboren. Er sollte es fertigbringen, volle 73 Jahre lang zu regieren. Was er staatspolitisch schuf, in zäher und beharrlicher Arbeit, das konnte sich weiß Gott sehen lassen. 1771 gelang dann die Wiedervereinigung der badischen Erblande, wobei bemerkt werden darf, daß Baden-Baden recht verwirtschaftet war.
Großherzog Karl Friedrich brachte auch dies wieder in Ordnung, ja: beide Landesteile führte er zum Wohlstand, zu einer vorher nie gekannten wirtschaftlichen Blüte. Ein tüchtiger Fürst alles in allem, der natürlich auch seine Mucken hatte. Weibergeschichten, die nicht ohne Folgen blieben. Da und dort einige blaublütige Kegel, die zu versorgen waren. Gegenüber seinen Vorgängern jedoch war dies relativ harmlos. Ein neuer Zeitwind wehte auch im friedfertigen Karlsruhe. Karl Friedrichs Großvater hatte es sich als Barockpotentat noch leisten können, sage und schreibe 160 "Gartenmägdleins" zu halten. Ein ganz schöner Harem, den sich Durchlaucht da genehmigte. Karl Friedrich nun wurde bereits in seinem elften Lebensjahr Throninhaber, nachdem sein Vater das Zeitliche gesegnet hatte. Seine Mutter aber war - um's gelinde auszudrücken - gemütskrank. Von dieser Seite also konnte der Junge keine Hilfe erwarten. Sie wurde ihm zuteil von der Großmutter, die ihn aufzog. Mit 23 Jahren durfte Karl Friedrich dann heiraten. Man hatte für ihn eine fünf Jahre ältere Frau ausgesucht: die Prinzessin Luise Karoline von Hessen-Darmstadt. Diese Ehe galt im großen und ganzen als glücklich und währte ganze 32 Jahre. Dann starb die Großherzogin Luise-Karoline. Das war im Jahre 1783. Sie war 60 Jahre alt geworden. Jahre vorher aber hatte sie - Ironie des Lebens - ein winziges Wesen über das Taufbecken gehalten: eine Geyer von Geyersberg, die den Vornamen der Taufpatin erhielt. Diese später zur Reichsgräfin Luise Karoline von Hochberg avancierte Dame, die von Karl Friedrichs Gattin über den Taufstein gehalten wurde, sollte 1787 ihre Nachfolgerin als Frau des Markgrafen werden. Wie gesagt, eine Ironie des Schicksals. Aus der Ehe Karl Friedrichs mit seiner Gemahlin entsprossen folgende Kinder: Erbprinz Karl, Kaspar Hauser Großvater, wenn man so will, 1755-1801; er kam nicht auf den Thron; Markgraf Friedrich, 1756-1817, war ebenfalls nie Throninhaber; Ludwig, 1763-1830, Großherzog ab 1818. Von ihm aus ging 1830 der badische Thron auf die Hochberg-Linie über.
Lange blieb Markgraf Karl Friedrich nicht im Witwerstand. Vier Jahre nach dem Tod seiner Gattin machte er sich auf Freiersfüßen. Die Wahl des 59jährigen Fürsten fiel auf die 19jährige Hofdame Luise Karoline Geyer von Geyersberg. Allem Anschein nach aber hat sich bei diesem ganzen Eheschnickschnack die Schwiegertochter des alternden Markgrafen als Kupplerin betätigt. Amalie hieß sie und war die Gattin des Erbprinzen Karl, der 1801 auf eine nie ganz eindeutig geklärte Weise im fernen Schweden per Fahrzeugunfall ums Leben kam. Entsprechend der Hofordnung war Amalie nach dem Tode der Markgräfin die erste Dame des Landes. Es versteht sich, daß sie daran Interesse hatte, diese Rolle tunlichst lange innezuhaben. Dies wird wohl auch der Grund gewesen sein, ihrem hohen Schwiegerpapa eine junge Dame ihres Hofstaates subtil zu offerieren, und zwar eine Dame, die natürlich rangmäßig unter ihr stand. Da diese dem Markgrafen nicht ebenbürtig war, wurde sie ihrem Gemahl nur morganatisch, das heißt zur linken Hand, angetraut. Nach Fürstenrecht sind Kinder dieser Ehe nicht sukzessionsfähig, also nicht thronfolgeberechtigt. So blieb Amalie weiterhin die erste Dame am Hof und somit im badischen Musterländle. Geyer von Geyersberg nannte sich also das 19jährige Hoffräulein, das Markgraf Karl Friedrich schon vor Amaliens Liierungsunternehmung mit Blicken schier verschlungen hat. Was es mit ihrem Adel minderen Ranges auf sich hat, war damals schon nicht ganz klar. Geiger hatten ihre Vorfahren einst geheißen und eine Geige im Wappen geführt. Dem grauhaarigen Herzensbrecher von einem Markgrafen war die Sache nicht recht geheuer. Er machte seine Auserwählte deshalb kurzerhand zu einer Baronesse von Hochberg. Und mit dieser konnte er sich dann getrost morganatisch trauen lassen, um möglichst schnell ehelicher Freuden teilhaftig zu werden. Und lange schien Opa Markgraf nicht gefackelt zu haben. Immerhin zeugte er mit seiner Baronesse von Hochberg insgesamt acht Kinder: vier Söhne und vier Töchter, die alle nicht erbberechtigt waren. Drei Söhne und eine Tochter sollten erwachsen werden, die anderen vier starben frühzeitig.
Acht Jahre nach dem Ehebund des ungleichen Paares brachte es Markgraf Karl Friedrich fertig, den Kaiser in Wien soweit um den Finger zu wickeln, daß dieser seine Gemahlin zu einer Reichsgräfin von Hochberg erhob. Wahrscheinlich war der Kaiser dem ewigen Drängeln und Bitten des Nestors von Baden überdrüssig geworden. Andererseits kann man sich wohl vorstellen, wie auch der Markgraf in Karlsruhe aufgeschnauft haben mag, als er endlich seine markgräflich-badische Ruhe bekam. Dieses andauernde im Ohrliegen seiner Gattin, das Bettgeflüster um ihre Rangerhöhung, die genötigten Versprechungen bei trautem Zusammensein im fürstlichen Bett - nein, der alte Markgraf hat sich seine Gunst von der 40 Jahre jüngeren Frau teuer erkaufen müssen. Und dennoch war der grenzenlose Ehrgeiz dieser macht- und liebeshungrigen Dame auch durch die Erhöhung in den Stand einer Reichsgräfin noch längst nicht gestillt. Ganz im Gegenteil! Für sie war es gleichsam die Startbasis zu noch viel höherem Trachten. Wonach sie aber zielstrebig und ruhelos griff, das war der Thron selbst. Natürlich nicht für sie, sondern für ihre Söhne. Diese wollte sie sukzessionsfähig, erbberechtigt auf den Thron machen. Dazu ist sie angetreten: kämpferisch, listig, zu jeder Intrige bereit und konsequent, wahnsinnig konsequent sogar. Aber wie sehr sollte sich ihr Gemahl täuschen, wenn er glaubte, nun, da sie eine Reichsgräfin war, komme er zur Ruhe. Armer Karl Friedrich, zwar nicht von Gottes Gnaden, aber immerhin durch eine politisch motivierte Armbewegung Napoleons 1806 zum Großherzog ernannt, sollte sich Allergnädigste Durchlaucht gründlich irren. Als die Hochberg Reichsgräfin wurde, da war ihr Söhnchen Leopold justament fünf Jahre jung. Und die Reichsgräfin sollte es auch schaffen, den jungen Mann auf den badischen Thron zu hieven. 1790 war er geboren worden, der erste der Hochberg-Linie. Von da ab gab es im Hause Zähringen zwei Linien: die ältere, legitime und die jüngere, die hochbergische. Der Reichsgräfin zäher Kampf um die Erbberechtigung ging also weiter, beharrlich und unbeirrt. Wer hätte das je gedacht, daß aus der 19jährigen Hofschranze mit ihren dunklen, sinnigen Augen und ihrem schwarzgelockten Kopf die Meisterintrigantin des badischen Hofes werden sollte! Aber es hat sich auch hier be-
wahrheitet, daß wenn der Bettler auf dem Gaule dahergeritten kommt, ihn selbst der Teufel nicht erreiten kann. Wer war sie denn schon, diese kleine Geyer von Geyersberg! Ihr Vater, bereits verstorben, ein kleiner Obristenleutnant, hatte sich so recht und schlecht durchs Leben geschlagen, und ihre Mutter hatte früher den Markgrafen mit Bettelbriefen überhäuft. Aber wehe, wenn der Drang so kleiner Leute nach Höherem einmal geweckt ist! Diese Dame aus niedrigstem Adel, der dazu nicht einmal so recht überliefert und nachweisbar ist, drängte nach vorne und oben mit der Rücksichtslosigkeit und Brutalität des Parvenüs. Ihr genügte es nicht, die Bettgefährtin des Markgrafen und späteren Großherzogs zu sein. Munter und offen wünschte sich der Markgraf seine zweite Frau, wie überliefert ist, ohne Frechheit, bescheiden und eingezogen ohne Prüderie; religiös ohne Kopfhängen, menschenliebend und mitleidend ohne Empfindelei. Er erwartet von ihr Wahrheitsliebe und Wahrheitssinn, mehr gesunden Menschenverstand als Witz, mehr Wißbegierde als Neugierde; keine Herrschsucht; Freude am Guten und Schönen, besonders der schönen Natur. Armer Karl Friedrich! Wie hast du dich geirrt! Wie weit hat sich das Ideal von der Wirklichkeit entfernt! Zu einer Baroneß von Hochberg hat er sie kurz vor der Hochzeit gemacht und gesagt, sie sollte keinen anderen Titel haben; seine Gemahlin zu sein, sei ihr Ehre genug. Und dann hat sie ihn um den Finger gewickelt. Ihre Erfolge dabei sind urkundlich bekannt. E. Eisenlohr hat sich damit in seiner Dissertation "Die Thronfolgerechte der Cognaten in Baden" (Heidelberg 1905) wissenschaftlich auseinandergesetzt. Hier die Quintessenz davon: In einer "Versicherungsurkunde" vom 24. November 1787, die Markgraf Karl Friedrich auch von seinen drei Söhnen unterzeichnen ließ, hat er festgelegt, daß Gemahlin und Töchter seinen Stand und Titel nicht teilen, sondern den Namen "Freiinnen von Hochberg" führen, daß aber die Sukzessionsrechte etwaiger Söhne nicht beeinträchtigt werden sollten.
Nähere Erläuterungen hierzu behielt sich der Markgraf vor. Von dieser vertraglichen Basis aus erließ er schließlich am 20. Februar 1796 zu oben genannter "Versicherungsurkunde" eine "Disposition". Sie wurde von ihm und seiner Gattin, der Reichsgräfin Hochberg, unterzeichnet. Wie mag diese Dame gejubelt und frohlockt haben, war sie mit dieser "Disposition" doch wieder einen Schritt näher an ihr Ziel gekommen, das dessenungeachtet noch in weiter Ferne lag, weil noch eine ganze stattliche Anzahl Zähringer munter am Leben war. Aber immerhin: es war ein weiterer gewaltiger Schritt. Der Nachtrag zur "Versicherungsurkunde" erhob nämlich seine Söhne aus zweiter Ehe - die Hochbergs - in den Grafenstand und erklärte sie für erbfolgeberechtigt nach dem Recht der Erstgeburt - vorausgesetzt natürlich, daß seine männlichen Nachkommen aus erster Ehe aussterben sollten. Sicher glaubte dabei der Fürst, weitschauend zu sein. ihm ging es um den Bestand des Staates. Das war, wie gesagt, am 20. Februar 1796. Ganze fünf Tage später erfolgte eine vom Markgrafen Karl Friedrich eigenhändig geschriebene und natürlich auch unterzeichnete Erklärung. Als Grund seines Handelns gab er die Befürchtung an, das Land, von ihm einst zusammengeführt, könnte nach einem etwaigen Aussterben der ZähringerLinie wieder geteilt werden. Gehen wir weiter im Telegrammstil: In seiner letztwilligen Verfügung vom 27. März 1802 - sein Sohn Karl, der Erbprinz, war just ein Vierteljahr unter der Erde - ist die "Disposition" vom 20. Februar 1796 erneuert und bestätigt worden. Vier Jahre darauf, am 10. September 1806, erließ Karl Friedrich die "Sukzessionsakte" Damit wurde den Grafen Hochberg beim Aussterben der männlichen Linie aus erster Ehe die Erbfolge auf den Thron zugesichert. Es war sozusagen noch einmal eine Zusammenfassung. Die Gräfin Hochberg ging also beharrlich ihren Weg weiter in Richtung Thron für ihre Söhne, wobei jeder ihrer Schritte argwöhnisch von einer Frau beobachtet wurde, mit der sie vieles gemeinsam hatte: von Markgräfin Amalie, der Schwiegertochter ihres Gatten, der Erbprinzessin, der es nie vergönnt war, den begehrten Thron zu besteigen, da ihr Mann 1801 unter recht dunklen Umständen in Schweden
umkam, wie schon gesagt. Amalie und Luise Hochberg - ja, diese beiden Damen hatten so einiges gemeinsam: vor allem waren beide grenzenlos ehrgeizig und machtbesessen. Skrupelloser jedoch war die Reichsgräfin, das einstige Mädchen aus der untersten Adelsstufe. Bei der Anwendung der Mittel dürften sich die Geister geschieden haben. Bei aller Machtgier und Eifersucht, daß ja ihre Rechte als die erste Dame des Landes gewahrt bleiben, gehörte Amalie einer Familie an, die zu herrschen gewohnt war - alter Besitz- und Herrscheradel. Sie kannte ihre Grenzen und wie weit ihr äußerstenfalls zu gehen erlaubt war. Demgegenüber die zu einer Reichsgräfin emporgehobene Hochberg - ein Bettler auf dem Gaul. Moralische Rücksichten, Geist und edle Erziehung waren ihr fremd. Gegenüber Amalie ein Naturmensch, dem noch allemal jedes Mittel geheiligt erscheint, wenn es nur zweckdienlich war. Wie sehr auch hatte sich Markgräfin Amalie in der kleinen Geyer von Geyersberg geirrt, trotz aller ihrer Intelligenz und Klugheit und Willensstärke. Einst hatte sie wahrhaftig geglaubt, ihrem alten Schwiegervater Karl Friedrich eine nicht ebenbürtige Schönheit als Gespielin zuzuführen in der Absicht, daß ihr diese rangniedrige kleine Hofdame nie eine Konkurrenz sein würde. Doch wie anders ist alles gekommen. Klug war sie nicht, diese Hochberg, jedenfalls nicht klug im eigentlichen Sinne; aber clever war sie, und es war sicher nicht das erstemal, daß Cleverness über Klugheit den Sieg davontrug. Varnhagen von Ense, preußischer Geschäftsträger in Karlsruhe von 1816 bis 1819, also ein Zeitgenosse Amaliens und der Hochberg, charakterisiert die Erstgenannte so: Diese charakterfeste, starksinnige Frau, voll Ehrgeiz und Selbstgefühl, hatte nur mit größtem Schmerz ihre eigenen Aussichten zum Thron durch den unglücklichen frühen Tod ihres Gatten vernichtet gesehen und daher ihren ganzen Eifer darauf gewendet, in der Regierung ihres Sohnes sich den Anteil zu sichern, der in der Regierung ihres Gemahls ihr nicht hätte fehlen können.
Stets habe sie es verstanden, sich ihr Ansehen als erste Dame des Staates zu erhalten. Und wie sie ihren Sohn für sich eingenommen und entsprechend zum Gehorsam ihr gegenüber erzogen hat, den Erbprinzen also, so gebieterisch erzog sie auch ihre sechs Töchter. Sie mußten hoch hinaufheiraten. Als schließlich nur noch ihre älteste Tochter - sie hieß Amalie wie sie selbst - unverheiratet am mütterlichen Hof in Karlsruhe war, da saßen ihre anderen fünf Töchter bereits auf gewichtigen Thronsesseln: die eine wurde Herzogin von Braunschweig, die andere Herzogin von Hessen-Darmstadt, Karoline wurde Königin von Bayern, Friederike Königin von Schweden und Elisabeth gleich gar Zarin von Rußland. Amalie hat also um Baden eine erstaunliche Machtfülle gesammelt. Diese wurde aber noch bedeutend größer, als Napoleon begann, seine Vorstellungen von Europa, natürlich mit Frankreich als Hegemonialmacht, zu realisieren. Im Zuge seiner europäischen "Flurbereinigung" gründete der Korse 1806 den Rheinbund. Baden war in diesem Rahmen für ihn von größter politischer und militärischer Wichtigkeit. Entsprechend behandelte er die Zähringer Dynastie. Er kettete sie fest an sich, katapultierte den alten Karl Friedrich vom Markgrafen zum Großherzog und wies dem frischgebackenen Großherzogtum beträchtliche Ländereien zu. Natürlich auf Kosten anderer Staaten, wie beispielsweise Bayern. Höhere Politik nennt man so etwas seit altersher. Die Krönung der Ankettung an seine Politik und Interessensphäre war jedoch die befohlene Heirat des Erbprinzen Karl, Amaliens Sohn also, damals 20 Jahr jung, mit der 17jährigen Stephanie de Beauharnais, einer Nichte der Kaiserin Josephine. Napoleon hat aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht, und der war in diesem Fall des Erbprinzen Mutter Amalie. Nach ihren Vorstellungen sollte nämlich Karl mit einer Bayernprinzessin verheiratet werden, keinesfalls aber mit einer Stephanie de Beauharnais, die rangmäßig weit unter ihr und ihrem Sohne war. Den nonkonformistischen einstigen Revoluzzer und Arigeneral, der jetzigen Majestät von Frankreich, kümmerten solche Bedenken herzlich wenig. Er befahl noch einmal die Hochzeit und machte die 17jährige Stephanie, die später die Mutter Kaspar Hausers werden sollte, kurzerhand zu einer Kaiserlichen Hoheit, adoptierte sie und ließ ihr den Titel einer "fille
de France" zukommen, einer Tochter Frankreichs. Zähneknirschend mußte Amalie nachgeben, und bis an ihr Lebensende soll sie diese Vermählung als eine Mißheirat betrachtet haben. Unterstützt aber wurde die Heirat von Amaliens Schwager Ludwig, dem Markgrafen, und der Reichsgräfin Hochberg. Thiard, der Beauftragte Napoleons am badischen Hofe, stellte dem Markgrafen für seine Vermittlungsversuche eine Regelung seiner immensen Schulden in Aussicht, während er der Reichsgräfin, sicher im Auftrag Napoleons, die Anerkennung der Erbfolge beim Zusammenkommen von Erbprinz Karl und Stephanie versprach, falls die Zähringer aussterben sollten. So kam die Hochzeit zustande. Von allen Seiten wird die Stephanie als eine zarte Schönheit bezeichnet, dazu noch von grundgütigem Wesen. Ihr 20jähriger Gatte jedoch war charakterlich das gerade Gegenteil von ihr. Karl wird als plump und versoffen von so ziemlich allen seinen Zeitgenossen geschildert. Außerdem hatte er ständig Weiberaffären und alles mögliche im Kopf, jedoch keine Ahnung von Politik und wie man herrscht. Es wurde allerlei Schlechtes über ihn gesagt und gesprochen. Sein Lasterweg soll selbst vor Sodomie nicht haltgemacht haben. Was jedoch daran alles wahr ist - wer weiß das schon! In jener Zeit der aufkommenden demokratischen Ideen waren Monarchen und Herrscher aller Stufen die Zielscheiben vieler politischer Provokationen und Manipulationen. Kein Dreckkübel war zu groß, um ihn nicht über gekrönte Häupter zu schütten, kein Gerücht zu absurd, um die Fürsten nicht dem Haß und Spott der Gosse auszuliefern, aber wie an jedem Gerücht wenigstens ein Körnchen Wahrheit ist, so wird es auch hier gewesen sein. Tatsache, und zwar belegte, ist jedenfalls, daß Karls Onkel, Markgraf Ludwig, das Idol und der Lehrer des Neffen war. Ihm, dem Weiberhelden und Saufkumpan eiferte er nach. Dabei brachte es Karl zur Meisterschaft im Parterre der Gefühle und Sinnlichkeiten. Karl hatte diesen Lebenswandel vor der Heirat "gepflegt" und auch nachher. Natürlich drangen die Berichte über erniedrigende Ausschweifungen des Erbprinzen zu Stephanie. Und in der Tat muß Karl seine Tage und Nächte in Gesellschaft übelster Typen und Weiber verbracht haben, während er sich um seine Frau keinen Deut
kümmerte. Karl muß schließlich seine Ausschweifungen soweit getrieben haben, daß seine Frau, die wie ein Gast am Hofe lebte, einen Nervenzusammenbruch mit Fieberanfällen bekam. Nun aber war der Kessel zum Kochen gekommen. Napoleon selbst wird eingeschaltet, der Schwiegerpapa des ungetreuen Karl. Er schien ausführlich unterrichtet worden zu sein. Auch darüber, daß Markgraf Ludwig einen so verhängnisvollen Einfluß auf seinen Schwiegersohn ausübte. Napoleon knirschte mit den Zähnen und handelte. Zuerst einmal bekam der alte Großherzog Karl Friedrich einen Brief des Franzosenkaisers: Wenn Sie nicht die Macht haben, den Schlechtigkeiten des Markgrafen ein Ende zu bereiten und Ihren Enkel zu den Gefühlen der Ehre und Anständigkeit zurückzuführen, verlange ich meine Tochter zurück. Ich weiß, wie sehr dieser Brief Eure Hoheit betrüben wird. Lange genug habe ich geschwiegen; nun aber bin ich verpflichtet zu reden. Napoleons Schreiben bewirkte zunächst einmal, daß der Großherzog Karl Friedrich seinen Herrn Sohn, den Markgrafen Ludwig, auf Schloß Salem verbannte. In dieser Zeit auch war es, daß die Reichsgräfin Hochberg "geradewegs auf einen Staatsstreich" ausging, wie ein Biograph übertrieben schrieb. Ihr Nahziel war zunächst einmal die Übernahme der fürstlichen Privatschulden durch den Staat und die Regelung der Thronfolge im Hochbergschen Sinne. Das angebliche Komplott wurde jedoch entlarvt. Von nun an mußte Erbprinz Karl alle wichtigen Regierungsakten mitunterzeichnen, da Großherzog Karl Friedrich angeblich nicht mehr Herr freier Entschlüsse war. Eine recht dunkle Sache, von Widersprüchen nicht frei. Das Jahr 1806, wenn man's so bedenkt, hatte es in sich gehabt. Im positiven wie im negativen Sinne. Es war ein ähnlich geschichtsträchtiges Jahr wie die Monate des Jahres 1801. Und dies war das Jahr des sogenannten Friedens von Luneville. Bei diesem eigenartigen Friedenswerk riß sich Frankreich das rheinpfälzisch-bayerische linke Rheinufer unter die Nägel, während Baden großzügig die Ämter Bretten, Ladenburg und Heidelberg bekam. Alles auf Kosten Bayerns.
Raffiniert und politisch klug wie die Mächtigen auch damals waren, sorgte zwei Jahre später ein sogenannter Reichsdeputationshauptschluß - man könnte sich fast die Zunge brechen -, daß das Haus Wittelsbach-Bayern mit Freien Reichsstädten und säkularisierten Bistümern hinreichend entschädigt wurde. Weitere drei Jahre darauf, 1806, sollte Bayern noch fetter werden, indem die Zwei Großen, Napoleon und der Zar, ihr Einverständnis erklärten, daß die Markgrafschaft Ansbach-Bayreuth zu Bayern geschlagen wird. Dessenungeachtet haben die Wittelsbacher den Bauch nicht vollgekriegt. Die Gebietsabtretungen an Baden und Frankreich waren nicht verkraftet worden. Die Raffsucht mal außeracht gelassen, kann man auch heute noch Verständnis für Bayern haben, dessen Herrscherhaus doch immerhin 600 volle Jahre als Pfalzgraf bei Rhein thronte und diese Grafschaft von Heidelberg aus verwaltete, später dann von Mannheim. Dabei ist es höchst interessant zu verfolgen, wie sehr sich die Mächtigen doch ähneln - in mancher Beziehung mehr als ihnen lieb ist. Der Zar Alexander I. und sein Gegenspieler Napoleon waren sich bei der Verteilung Deutschlands so einig, wie einige 130 Jahre später Hitler und Stalin, als es darum ging, den polnischen Staat zu zerschlagen und sich ihn dann brüderlich zu teilen. Gleichzeitig, wie in jüngster Vergangenheit, wetzten die zwei Großen des vorigen Säkulums bereits insgeheim die Messer, um einander fertig zu machen. Grauenhaft diese ewigen Wiederholungen in der Geschichte. Sie scheint da zu sein, um aus ihr nicht zu lernen. Man muß, wie gesagt, dies alles wissen, um den "Fall Hauser" besser zu verstehen. Denn das Geschick dieses harmlosen jungen Menschen hing damit kausal zusammen. Und deshalb auch wieder einmal ein Sprung von mehreren Jahren nach vorne. 1813 - Napoleons Stern war im Sinken - verließ Bayern im Vertrag zu Ried den Rheinbund. Die Vasallen von des Korsen Gnaden verließen das sinkende Schiff. Da half auch nicht die Versicherung von Rußland, Österreich und Preußen, die unter Napoleon eingeheimsten Ländereien könnte Bayern auf jeden Fall behalten. Nein, Wittelsbach schaltete auf stur. Aber noch dauerte es drei Jahre, bis Bayern 1816 größere Teile seiner einstigen linksrheinischen Besitzungen wiederbekam. Was aber fehlte,
das war eine Landverbindung. Ein Durchgang, ein Korridor vom Stammland zur Pfalz, der fehlte. Mit anderen Worten: es fehlten die an Baden gekommenen Ämter Bretten, Heidelberg und Ladenburg. Bayerns Sehnsüchte auf diese einstigen Besitztümer werden so verständlich. Aber Wittelsbach sehnte sich nicht nur, es arbeitete auch daran, zäh und unverdrossen, die einstigen Gebiete wieder anzuschließen. Schließlich gelang es Bayern, dem Erzhause Österreich eine geheime Zusage abzuringen. Demnach sollten Badens Neckarkreis mit Heidelberg und Mannheim sowie Badens Tauber- und Mainkreis dann wieder an Bayern heimfallen, wenn die echten Zähringer einmal aussterben sollten. Bei dieser Gelegenheit gedachte übrigens Österreich, sich den Breisgau in die Tasche zu stecken. Bayern hat also mehr erreicht, als es zunächst zu hoffen gewagt hatte. Ein Meisterwerk der Diplomatie! Aber irgendwie wurde dieser Geheimvertrag, wie's Geheimverträge so an sich haben, bekannt. Für das Großherzogtum Baden standen damit die Zeichen auf Sturm. Denn bei einem eventuellen Erlöschen der Zähringer schien der Bestand des badischen Staates durch Abtretung gefährdet. Mit anderen Worten: Seit dem Vertrag zu Ried mußte Bayern ein Interesse daran haben, den letzten Zähringer bald verschwinden zu sehen. Und es ist nur verständlich, wenn die badische Diplomatie unter Staatsminister von Reitzenstein darauf hinarbeitete, zum Rieder Vertrag ein Gegenstück zu präsentieren. Es war schnell zurechtgezimmert. Denn wenige Wochen nach dem Vertrag zu Ried war das Gegenstück geboren worden! Es nannte sich "Vertrag von Frankfurt", geschlossen mit den Alliierten, vier Wochen nach der Schlacht bei Leipzig. Dabei hat sich Baden der gleichen Garantien für seine von Napoleon arrondierten Gebiete versichern lassen wie Bayern. Ein toller Schachzug immerhin. Bayerns Hoffnungen auf die Pfalz waren zunächst einmal dahin, wie wir wissen bis zum heutigen Tag. Das Meisterstück aber der badischen Diplomatie gelang 1818 und 1819 - die Kongreßtanzerei in Wien war erst wenige Jahre vorbei - in Aachen. Baden hat es fertiggebracht, sich vom Zar, Kaiser und von Königen, kurzum von allen nachnapoleonischen Mächtigen die Zusicherung der Unteilbarkeit seiner Lande schriftlich geben zu lassen. Ja, es gelang noch weit-
aus mehr: die Großmächte anerkannten das Nachfolgerecht der Hochberglinie. Nun war die Unteilbarkeit Badens und die Thronfolge der Hochberg-Söhne vertraglich abgesichert. Wie mag die frühzeitig gealterte Reichsgräfin gejubelt und triumphiert haben! Zudem lebten zu diesem Zeitpunkt nur noch zwei echte Zähringer: der Vorletzte und der letzte Zähringer - letzterer besser bekannt als Kaspar Hauser. Andererseits: seit dem Vertrag von Aachen konnte es Bayern schnurzegal sein, ob und wie viele Zähringer noch lebten. Von deren Fortbestand oder Verschwinden hing nun das Schicksal der in bayerischem Besitz gewesenen Rheinpfalz nicht mehr ab. Aber zäh wie Staaten bei Gebietskämpfen zu sein pflegen, gab Bayern nicht auf. Es grollte und fingerhakelte wegen der Pfalz bis zum Finale der Monarchie, bis 1918. Vergebens. Die Großmächte hatten gesprochen; den Kleinen blieb nur noch, mit den Säbeln zu rasseln, und das taten die Bayern wie geübte Kalte Krieger. Den Großen freilich hat's nicht wehgetan. Wie gesagt, das war ein kurzer Ausflug, ein Vorgriff auf Jahre, um das Geschichtsbrett systematisch mit den Mosaiksteinchen zu füllen, die notwendig sind, den "Fall Kaspar Hauser" zu durchdringen. Wir aber wollen an dieser Stelle wieder zurück zu unserem laschen und versoffenen Erbprinzen Karl und seiner jugendlich-jungfräulichen Stephanie. 1806, im Schicksalsjahr, ward also diese Ehe geschlossen worden. Das disharmonische Verhältnis der Ehegatten hielt Jahre an. Eine Ehe im eigentlichen Sinne führten sie nicht. Die Schuld lag eindeutig bei Karl. Darüber beißt die Maus keinen Faden ab. Das ist ein Faktum. Der preußische Geschäftsträger Varnhagen, den wir schon kennen, schreibt über die Mutter des Erbprinzen Karl: Früh schon sei sie bedacht gewesen, den Sohn zu kindlichem Gehorsam zu gewöhnen, ihren Rat, ihre Leitung ihm unentbehrlich zu machen; sie hatte ihm das Leben angenehm zu machen gesucht, mancherlei Vergnügungen ihm gern nachgesehen, dafür ihn aber sorgfältig von allen Geschäften entfernt gehalten und alle Lust und Fähigkeit zu ernsten Arbeiten in ihm erstickt.
Aber selbst in ihrem verzogenen Sprößling, in ihrem bewußt verzogenen Sprößling, sollte sich die Markgräfin Amalie täuschen. Hören wir nochmals darüber Varnhagen von Ense: Er [Karl] ehrte seine Mutter auf das sorgsamste, bezeigte sich in allen Stücken als ein aufmerksamer Sohn, hatte die größte Meinung von ihrem Verstand, fürchtete ihre Unzufriedenheit; aber in dem Einen war er fest und durch nichts zu erschüttern, daß er ihren Einfluß auf die Regierungssachen gänzlich abschnitt, jeden Zugang sorgfältig verschloß. Das klingt für einen jungen Herrscher auf Anhieb gar nicht so übel. Aber hüten wir uns, daraus abzuleiten, Karl, der 1811 Großherzog wurde, sei ein aktiver Herrscher, eine politische Natur gewesen. Tatsache ist vielmehr, daß er sich zeit seines Lebens - er wurde nur 32 Jahre alt - nicht geändert und als regierender Fürst nie gearbeitet hat. Nur ganz selten machte er in Staatssachen seinen Willen geltend; zumeist regierten die Minister für ihn, denen er freie Hand ließ. Nur in einem war er beharrlich, ja stur, daß nämlich an seiner Statt kein anderer befehlen und anordnen durfte, und am wenigsten seine Mutter; kein versuchter Trotz, keine angewandte List vermochte ihm darin etwas abzugewinnen, wie Varnhagen erzählt. Sicher litt seine Mutter sehr darunter, war ihr doch nicht einmal vergönnt, Einfluß auf die Politik zu nehmen, was sie liebend gern getan hätte, die überaus emanzipierte Grande Madame. Aber sie trug diese Zurücksetzung äußerlich mit Würde - noblesse oblige. Mit dieser kalten Würde, mit der Unnahbarkeit einer haushoch überlegenen Hochadeligen umgab sie auch ihre Schwiegertochter Stephanie, die von allen Zeitgenossen als schön und von gütigem Wesen geschildert wird. Varnhagen schrieb darüber: Die jugendlich schöne, liebenswürdig gute Prinzessin, die durch ihr Erscheinen alle Herzen gewann, konnte den harten Sinn der Schwie-
germutter nicht erweichen ... Sie wußte auch ihren Sohn durch ihre eindringlichen Reden so zu bestricken, daß er seine Gemahlin mit größter Kälte behandelte und lange Zeit mit ihr ohne nähere Gemeinschaft blieb. Das änderte sich jedoch im Frühsommer 1810. Vorangegangen aber war wiederum ein Eingreifen Napoleons, im März 1810. Informiert über das skandalöse Verhalten seines Schwiegersohnes und dessen Onkels, des Markgrafen Ludwig, donnerte er über den Rhein herüber: Das Kabinett sollte aufhören, geflissentlich seinen Zorn zu erregen. Der Anstifter alles Unheils, Markgraf Louis, von dem man annahm, er habe wieder Oberwasser, solle unverzüglich das Land verlassen, sonst werde er verhaftet und zur Abbüßung seiner Vergehen in einer Festung interniert werden. Markgraf Ludwig, der Louis, mußte also wieder seine Koffer pakken und zähneknirschend nach Schloß Salem fahren, wo er übrigens auch eine Geliebte hatte, eine Schauspielerin, die Kinder von ihm hatte und die er adelte - Bettadel, wie der Volksmund dazu sagte. Nun griff ein Mann ein, eine Persönlichkeit von Format: Staatsminister von Reitzenstein, der wie sein Ministerkollege von Berstett immer dann mit vollem Engagement zur Stelle war, wenn es galt, knifflige Probleme zu lösen oder schlechthin um den Bestand des Staates zu kämpfen. Von Reitzenstein war Kopf und graue Eminenz des badischen Staates in einem Zug. Ihm gelang es, was sich niemand hätte erträumen lassen, nämlich Karl und Stephanie einander näher zu bringen. Gleichzeitig besänftigte er den Korsen, der als Staatsmann und Soldat am Zenit seiner Laufbahn stand, insgeheim aber und gedanklich schon seinen Feldzug gegen Rußland entwarf - sein einschneidendstes Unternehmen, sein Untergang. Des Ministers Bemühungen um das Eheleben des Erbprinzen und seiner Gemahlin Stephanie hatte Erfolg: am 5. Juni 1811 entbindet Stephanie in Schwetzingen eine Tochter, Luise, ein kerngesundes Kind. Fünf Tage darauf schlug das Schicksal wieder zu: Großherzog
Karl Friedrich stirbt im Alter von 83 Jahren. Der Freude im Lande folgte die Trauer. Und die Menschen in Karlsruhe und im ganzen badischen Ländle, sie trauerten echt um ihren verstorbenen Großherzog, diesem tüchtigen Herrscher, der so viele Dezennien ruhig und gelassen das Zepter geschwungen hatte. Nachfolger als Großherzog wird sein Enkelsohn Karl, der Gatte Stephanies. Eine seiner ersten Amtshandlungen war nun - so indolent scheint er wieder nicht gewesen zu sein -, die befohlene Übersiedlung der Gräfin Hochberg, nunmehr Witwe, in das kleine, an der Straße von Pforzheim nach Bretten gelegene Schlößchen Bauschlott. Damit war ihre Rolle bei Hof ausgespielt, jedenfalls als Gattin des Großherzogs Karl Friedrich. Ihr Einfluß war gebrochen, jedoch nicht ihr Wille zur Macht. Ein Jahr später sollte sie noch einmal initiativ werden, auf eine Art, die dem badischen Staat bis 1918 ihren Stempel aufgedrückt, ja genaugenommen bis zum heutigen Tag Spuren hinterlassen hat. Wollen wir kurz einhalten. An echten Zähringern waren im Juni 1811 vorhanden: Großherzog Karl nebst Töchterchen, das nach Fürstenrecht nicht erbberechtigt war; Markgraf Friedrich, verheiratet und kinderlos, sowie Markgraf Ludwig, der Louis, von Napoleon verbannt. Die Chancen für den Hochberg-Zweig waren alles bloß nicht rosig zu dieser Zeit. Und Großherzog Karl fing ja erst richtig an, gefallen an der Ehe zu finden. So nahte ein besonderer Tag in der Geschichte des Landes: die Geburt des Erbprinzen. 200 Schüsse aus Kanonen der Residenz kündigten am 29. September 1812 von seiner Geburt. Franz von Andlaw, der Sohn des Ministers, war damals 13 Jahre jung. Vernehmen wir aus seinen Erinnerungen, wie es in jenen Tagen in Karlsruhe zugegangen ist: Man schwamm in einem Meere von Freuden; Kirchenfeiern, Paraden, Gala- und Freitheater, Hoffeste und öffentliche Volksbelustigungen kamen da an die Reihe. Alle diese ungewohnten, lärmenden Vergnügungen beschäftigten uns lebhaft, und aus einer Loge sahen wir das mit Menschen vollgepfropfte Hoftheater, worin als Gratisvorstellung Mozarts "Titus" gegeben wurde; Geschrei, Drücken und Unruhe unterbrachen vielfach die Oper. Ebenso unterhielt uns der
Freimarkt, der öffentliche Ball, das Stangenklettern, das Austeilen von Fleisch und Wein und dergleichen mehr. Karlsruhe stand also Kopf. Alles war eitel Freude. Und sie hatten Grund genug, alle die Menschen, das freudige Ereignis zu feiern, da der Erbprinz ein kerngesundes Bübchen war. Selbst aus den nüchternen Bulletins des Hofes hörte man den Stolz und die Freude heraus, im Schloß einen so prächtigen, kerngesunden Erbprinzen zu haben. Geheimrat Albert Friedrich dichtete zu Ehren des künftigen Großherzogs ein Märchenspiel, "Die Blumenfee" benannt. Hofkapellmeister Franz Danzi schrieb die Musik dazu. Eine devote Sache, geschrieben und komponiert im Geist der Zeit. Für uns Heutige sicher zu schwulstig: gütige Feen singen im Chor und das Geschenk der Blumenfee, eine Rose, wird in den Blütenhain gepflanzt mit dem Wunsche, der kleine Liebling möge emporblühen, "geschirmt von verwandtem Geschlecht". Makaber im Hinblick auf die Geschichte Kaspar Hausers. Aber der gute Albert Friedrich und der brave Hofkapellmeister konnten ja nicht wissen, daß ihre frommen Wünsche gerade ins Gegenteil verkehrt werden: Harmlos sei Deines Lebens Inhalt; ferne von Deiner Heimat mögen die Stürme vorübergehen, kein unbestrafter Feind Deinem Gedeihen drohen, und reich entfalte sich in Dir jeder Reiz! Wie gesagt, in einer ganzen Reihe von Bulletins, veröffentlicht in der "Allgemeinen Zeitung", bis hin zum 13. Oktober 1812, wurde über den Gesundheitszustand des Prinzen und der Großherzogin Stephanie nur Gutes gesagt. Zwar war die Geburt für Stephanie schwer gewesen, jedoch hatte sich die hohe Mutter dank ihrer Jugend zusehends erholt. Plötzlich heißt es in einem neuerlichen Bulletin: Karlsruhe, 16. Oktober. Diesen Abend nach 8 Uhr wurde unsere Stadt durch die Nachricht, daß der neugeborene Erbgroßherzog, nachdem er seit verflossener Nacht in bedenklichen Gesundheitsumständen sich befunden, verschieden sei, in allgemeine Trauer und Bestürzung versetzt.
Diese Zeitungsnotiz erschien in der "Allgemeinen Zeitung" am 21. Oktober, fünf Tage nach dem Todesfall im großherzoglichen Schloß. Was war geschehen? Hören wir, was Markgräfin Amalie, die Großmutter des verstorbenen Erbprinzen, an ihre Tochter Karoline, die Königin von Bayern, geschrieben hat, mitgeteilt von Prinz Adalbert von Bayern in einem Aufsatz der Zeitschrift "Zwiebelturm", 1951: Der arme Kleine befand sich bis Donnerstag (15.10.) abends um 10 Uhr sehr wohl. Da fing er zu schreien an, bekam einen sehr geschwollenen Bauch und kurz darauf Konvulsionen im Kopf Man rief Schrickel (Arzt) herbei. Karl (der Vater) blieb die ganze Nacht da. Auf ein eingegebenes Mittel schien es ihm besser zu gehen. Als ich ihn morgens (16.10.) um 11 Uhr sah, hielt ich ihn nicht für so krank. Als ich aber um zwei Uhr wiederkam, erkannte ich wohl die Gefahr. Um vier Uhr ließ mir Ihr Bruder sagen, das Kind habe einen Steckfluß und würde sterben. Ich begab mich sofort hin und blieb bis nach seinem Tod, der gegen acht Uhr eintrat. Es war ein grausamer Anblick. Karl war erschüttert ... Am nächsten Morgen war ich gezwungen, die Großherzogin (Stephanie) zu benachrichtigen. Niemand wollte es übernehmen, nicht einmal Ihr Bruder (Karl). Sie hatte keine Ahnung, wußte nur von einem kleinen Schnupfen, weswegen man ihr das Kind an diesem Tag nicht bringen konnte ... Ihre Verzweiflung war die ersten Stunden schrecklich ... Ich habe heute morgen (19.10.) mit Frique (Friederike, Königin von Schweden, Tochter der Markgräfin Amalie) dieses arme kleine Wesen gesehen. Wenn man ihn so schön und groß liegen sieht, nimmt das Bedauern noch zu ... Es ist ein großes Unglück, das mir sehr nahe geht. Sie haben aber recht, wenn Sie auf meine physische Kraft rechnen. Bei dieser traurigen Begebenheit habe ich einen Beweis dafür erbracht ... Was Markgräfin Amalie in ihrem Brief an ihre Tochter eigenartigerweise nicht erwähnte, ist die Nottaufe des kleinen Erbprinzen. Vernehmen wir darüber ein Protokoll das die großherzoglich-badische
Regierung 1875 publizieren ließ, und zwar unter dem Druck nicht aufhören wollender Gerüchte und Vermutungen, den Hauser-Fall betreffend. Um all dem Gerede entgegenzuwirken, hat der Hof noch zwei Dokumente im Wortlaut veröffentlichen lassen, nämlich ein Protokoll über die Sektion des Säuglings und einen weitschweifigen Bericht, was mit dem "hohen Leichnam" weiter geschah sowie "die Beisetzung des höchstseligen Erbgroßherzogs Hoheit" in der Pforzheimer Familiengruft. Mehr war dem großherzoglichen Hause nicht zu entlocken, in all den Jahrzehnten nicht. Und so ist es geblieben bis zum heutigen Tag, obgleich noch Nachkommen der Hochberg-Linie am Leben sind. Doch vernehmen wir das oben angekündigte Protokoll über die Nottaufe des kleinen Erbprinzen: Actum, Karlsruhe, den 16. October 1812. Abends 8 Uhr. Nachdem Sr. Königliche Hoheit dem Großherzog von den beiden Leib Medicis, Geheimen Rath Schrickel und Doktor Kramer unterthänigst angezeigt worden, daß für die Erhaltung des am 29. September dieses Jahres zwischen 10 - 11 Vormittags zur Freude des Vaterlandes geborenen Erbgroßherzogs Hoheit wenig Hoffnung vorhanden seie, und daher die noch nicht erfolgte Taufe vorzunehmen wäre, erhielt der unterzeichnete Hofmarschall Freiherr von Gayling den Auftrag den Oberhofprediger Kirchrath Walz herbeirufen zu lassen. Da aber, ehe derselbe erschiene, sich der Zustand des fürstlichen Kindes so sehr verschlimmerte, daß ein schnelles Ende durch einen Stickfluß zu befürchten war, so wurde nach 5 Uhr Abends in höchstem Beisein Seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs, des Oberkammerherrn Marquis von Montperny, des Unterzeichneten und der obenbenannten Leibärzte die Nottaufe bei seiner Hoheit dem Erbgroßherzog im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes durch die Hebamme Horstin von Mannheim verrichtet. Als hierauf Seine Königliche Hoheit der Großherzog dem fürstlichen Kinde Seinen väterlichen Segen ertheilt hatten, vermehrten sich die schlimmen Zufälle in solchem Grade, daß das Leben dieses hoffnungsvollen Prinzen um 1/2 8 entwich und dasselbe so das Zeitliche mit dem Ewigen verwechselte. (Gez.)
Marq. v. Montperny, Oberkammerherr als Zeuge. (Gez.) Frhr. v. Gayling, Hofmarschall. Ein Menschenalter, volle 63 Jahre, hat das großherzogliche Haus gebraucht, um dieses und zwei weitere Dokumente veröffentlichen zu lassen. Sicher in der stillen Hoffnung, damit nun endgültig dem ewigen Gerede den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Aber was sagen diese drei Aktenstücke denn aus? Doch nicht viel! Keinesfalls aber waren sie ein Beweis für die Behauptungen, der echte Erbprinz sei mit einem sterbenskranken Säugling vertauscht worden. Es wird hier doch nur die Nottaufe, die Sektion und die Beisetzung eines Säuglings geschildert, der im großherzoglichen Schloß starb. Die Dokumente konnten und können keinesfalls ein Beweis dafür sein, daß hier tatsächlich der echte kleine Erbprinz unter den Messern der Ärzte gelegen hat. So hat sich denn bis heute die Vermutung gehalten, was die Horstin da nottaufte, die Leibmedici da sezierten und was da mit großem Prunk beigesetzt wurde und noch heute in der Pforzheimer Familiengruft der ewigen Ruhe entgegenschlummert, das sei der verstorbene Sohn des Karlsruher Arbeiters Blochmann gewesen. Der echte Erbprinz aber ruht seit 1833 als Kaspar Hauser im Ansbacher Johannisfriedhof, auch Stadtfriedhof genannt. Daß dem nicht so ist, dieser Beweis konnte bis heute nicht erbracht werden. Ganz im Gegenteil haben sich die Vermutungen und schließlich handfesten Hypothesen im Verlaufe vieler Jahrzehnte durch hervorragende Forschungsergebnisse so verdichtet, daß mittlerweile kaum mehr im geringsten daran zu zweifeln ist: was in der Pforzheimer Gruft ruht, das ist der kleine Blochmann. Hermann Pies, der wohl bedeutendste aller Hauser-Forscher, spricht in diesem Zusammenhang von einem glatten Indizienbeweis, von einem gelungenen dynastischen Verbrechen, für das eine einwandfreie juristische Beweisführung nie mehr möglich sein wird. Auch Staatsrat von Feuerbach hat sich zu Hausers Lebzeiten ähnlich ausgesprochen. Dem wird in der Tat so sein, denn selbst bei mißlungenen dynastischen Verbrechen dürfte eine einwandfreie juristische Beweisführung verständlicherweise kaum zu erbringen sein.
Gehen wir in der komplizierten Materie noch einmal kurz zurück, zum "Todesbulletin" vom 16. Oktober 1812. Dort heißt es, der bedenkliche Gesundheitszustand des Erbprinzen dauere schon "seit verflossener Nacht" an. Dies wurde von bedeutenden Hauser-Forscher schon im vorigen Jahrhundert als irrig bezeichnet. Und wie wir noch sehen werden, kann diese Angabe in der Tat nicht stimmen. Hermann Pies kommentiert dazu in seinem Buch "Kaspar Hauser - Eine Dokumentation": Damit dürfte er [der Publizist Kolb] wohl recht haben, denn wenn der Säugling bereits am 15. bedenklich krank gewesen wäre, dann hätte man wohl nicht erst am 16. nachmittags nach dem Oberhofprediger Walz geschickt, der gar nicht schnell genug herbeieilen konnte, so daß die Nottaufe von der Hebamme Horst vorgenommen werden mußte. Nach Angaben der Markgräfin Amalie wenige Tage nach dem Tod des Säuglings (Brief an ihre Tochter, die Königin von Bayern) fühlte sich dieser bis gegen 22 Uhr des 15. Oktobers kuschelwohl. Erst kurz darauf wurde er krank. Geheimrat Dr. Schrickel, einer der Leibärzte, wird gerufen. Er gibt dem winzigen Patienten ein Mittel, das Besserung bringt. Laut Amalie blieb dessenungeachtet Großherzog Karl die ganze Nacht über da. Die Großmutter aber, Markgräfin Amalie, ging allem Anschein nach beruhigt wieder in ihre Gemächer. Weshalb dann allerdings ihr Sohn Karl "da" blieb, ist schleierhaft. Irgendwie stimmt hier etwas nicht. Aber bleiben wir bei ihrer Schilderung. Demnach begab sie sich am nächsten Tag gegen elf Uhr wieder in den ebenerdigen Seitenflügel des Schlosses, wo der Erbprinz in seinem Bettchen lag und hielt ihn "nicht für so krank". Sie kommt jedoch um 14 Uhr wieder und "erkannte wohl die Gefahr", blieb aber dennoch nicht, sondern ging wieder. Gegen 16 Uhr wird sie dann von ihrem Sohn Karl benachrichtigt, das Kind liege im Sterben, worauf sie sich zum Sterbelager begibt und dort angeblich bleibt bis zum Eintritt des Todes gegen 20 Uhr. Merkwürdigerweise schreibt Amalie nichts über die Nottaufe und
umgekehrt wird sie unter den aufgeführten prominenten Zeugen ebenfalls mit keiner Silbe erwähnt, wie wir weiter oben aus dem Dokument gesehen haben. Wie gesagt, hier stimmt etwas nicht; irgend etwas ist hier faul, wenn nicht oberfaul. Kolb, einer der seriösesten Hauser-Forscher des vorigen Jahrhunderts, wird schon gewußt haben, weshalb er es als irrig hingestellt hat, daß der Erbprinz angeblich schon "seit verflossener Nacht" in bedenklichen Gesundheitsumständen gewesen sei, wie's im Todesbulletin geheißen hat. Auch Professor Dr. Pies, Nestor der Hauser-Geschichte, zählt diesen Georg Friedrich Kolb zu jenen Autoren von dem wir meinen, daß er das Beste geliefert hat (abgesehen natürlich von den Berichten der Augenzeugen und Mitbeteiligten der Kaspar-Hauser-Geschehnisse), was im vorigen Jahrhundert über den Kaspar-Hauser-Fall geschrieben wurde. Dieser Georg Friedrich Kolb (1808-1884) gilt als einer der bedeutendsten und einflußreichsten Vertreter des frühen deutschen Liberalismus - eine demokratische Persönlichkeit von Format. Sein Vater war Jakob Christian Kolb, der Sohn eines Tübinger Lohnkutschers, dem seine Frau 16 Kinder geboren hatte, wovon aber nur vier verblieben. Von diesen vieren war unser Kolb das zweite Kind. Sein Vater brachte es zum Redakteur, Gründer und Herausgeber der "Speyerer Zeitung". Das war 1814. Wenige Jahre darauf galt dieses Blatt als eines der schärfsten Oppositionsblätter Deutschlands, das sich nach und nach die Feindschaft aller süddeutschen Höfe zugezogen hat. 1827, ein Jahr vor Hausers Auftauchen in Nürnberg, starb der Gründer und Herausgeber dieser Zeitung. Sein Sohn Georg Friedrich Kolb, just 19 Jahre jung, mußte die Redaktion übernehmen. Der hochbegabte junge Mann stürzte sich mit dem Eifer und der Schaffensfreude der Jugend in die publizistische Arbeit. Es gilt heute als eindeutig erwiesen, daß Kolb am Zustandekommen des Hambacher Festes am 27. Mai 1832 entscheidend beteiligt war, eben durch seine journalistische Arbeit. Seine "Speyerer Zeitung" war die Degenspitze des deutschen Liberalismus.
So kam es zur ersten großen politischen Demonstration des liberalen Bürgertums. Erstmals wurde bei diesem Hambacher Fest das Verlangen nach Einheit der deutschen Nation machtvoll bekundet. Und wie vorauszusehen, blieb die Reaktion der Fürsten nicht aus. Es hagelte Prozesse, Hausdurchsuchungen, Festnahmen und Verfolgungen. Wer eine schwarz-rot-goldene Kokarde trug, wurde vor den Kadi gezerrt. Viele der besten Männer unserer Nation wanderten einfach aus, nachdem ihnen ihre Existenzgrundlagen entzogen worden waren. Die Angst vor gesellschaftlichen Änderungen steckte den Fürstenhäusern seit der Großen Französischen Revolution in den kalkigen Knochen. Wie ein Damoklesschwert hing das "Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit!" über den deutschen Thronen. Kolbs "Speyerer Zeitung" aber druckte und druckte und publizierte all diese Wirrnisse der Zeit, oft unter raffinierter Umgehung der Zensur. Die große Zeit des Feuilletons war angebrochen, jener Aufsätze und Abhandlungen "unter dem Strich", in welchen man zwischen den Zeilen das lesen konnte, was die Redakteure offen nicht schreiben durften. Aber Georg Friedrich Kolb war nicht nur Journalist, sondern auch Parlamentarier: Abgesandter im Frankfurter Vorparlament, im 50er Ausschuß, in der Nationalversammlung und ab 1863 auch Abgeordneter in der 2. Bayerischen Kammer, wo er eine Reihe von liberalen Errungenschaften durchsetzte, darunter die Abkürzung der Wahlperiode von zehn auf fünf Jahre oder die unabhängige Stellung der Gemeinderäte gegenüber dem Regierungspräsidenten. Was nun sein Blatt betrifft, so kämpfte er unbeirrt und fair und mit allen ihm zu Gebote stehenden Möglichkeiten für ein liberales Deutschland. Verfolgungen durch die Behörden blieben nicht aus. Schließlich ging 1853 seine Zeitung ein. Um nicht verurteilt zu werden, verließ Kolb sein Vaterland und emigrierte enttäuscht in die Schweiz. 1860 jedoch kehrte Kolb seiner Emigrationsheimat Zürich den Rücken und siedelte mit seiner Familie nach Frankfurt über. Dort wurde er Redaktionsmitglied der "Neuen Frankfurter Zeitung". Sein Biograph Elmar Krautkrämer schrieb:
Die betont antipreußische, österreichfreundliche Haltung des Blattes während der folgenden Jahre war in erster Linie auf Kolb zurückzuführen. Er gab der Zeitung jene streng demokratische und zugleich gesamtdeutsche Richtung, die sie zum Vereinigungspunkt aller gegen die damalige Annexionspolitik gerichteten Bestrebungen und damit zum Gegenstande des erbittertsten Hasses seitens jener Politik und ihrer Anhänger machte. Im Juli 1866 wurde die Redaktion der "Neuen Frankfurter Zeitung" von preußischen Truppen besetzt und versiegelt. Kolb und sein Kollege Sonnemann aber setzten sich nach Stuttgart ab, wo sie die "Deutsche Zeitung" herausbrachten. Während Sonnemann bereits nach wenigen Monaten wieder zurückging nach Frankfurt, das preußisch geworden war, und dort nun die "Frankfurter Zeitung" herausgab, siedelte Kolb nach München über. Hier engagierte er sich im Landtag für die Interessen der Pfalz und der bayerischen Demokraten. Am 15. Mai 1884 ereilte ihn, der noch immer rüstig und kämpferisch war, ein barmherziger Tod. Seinem Wunsche entsprechend wurde er in Gotha feuerbestattet - übrigens der erste Bayer und Pfälzer, dem eine solche Beisetzung zuteil wurde. Sein Sarg, begleitet von ungezählten Vertretern aller demokratischen Vereine Deutschlands, wurde eskortiert von zahlreichen schwarz-rot-goldenen Fahnen. Die Asche Georg Friedrich Kolbs wurde in München auf dem alten nördlichen Friedhof an der Barerstraße beigesetzt. Krautkrämer schrieb: "Einer der treuesten Demokraten Deutschland hatte sein Leben beschlossen". Mit Kaspar Hauser hatte sich Kolb einen wesentlichen Teil seines Lebens hindurch beschäftigt. Zahlreiche Aufsätze, vor allem während seiner Frankfurter Zeit, schrieb Kolb in Sachen "Kaspar Hauser", wobei bemerkt werden darf, daß er die "Sage" vom vertauschten Prinzen anfangs nicht geglaubt hat. Er glaubte vielmehr, irgendein politischer Flüchtling wolle sein Mütchen daran kühlen, "den badischen Hof zu ärgern und zu verdächtigen". Je mehr er sich aber mit der Materie beschäftigte, desto überzeugter wurde er in dem Verdacht, der sich in ihm schließlich zur Gewißheit steigerte, daß der Erbprinz damals Anno 1812 tatsächlich vertauscht wurde. Neben seinen vielen Aufsätzen
und Artikeln zur Kaspar-Hauser-Frage waren seine Hauptwerke in dieser Beziehung zwei Bücher, die aus der Hauser-Geschichte nicht mehr wegzudenken sind und die auch entsprechend Furore gemacht haben: 1. "Kaspar Hauser. Kurze Schilderung seines Erscheinens und seines Todes. Zusammenstellung und Prüfung des bis jetzt vorliegenden Materials über seine Abstammung; Mitteilung seither noch nicht veröffentlichter Tatsachen etc." Das Buch hat 88 Seiten und erschien erstmals 1859 unter dem Pseudonym eines Herrn Broch. 2. "Kaspar Hauser. Ältere und neue Beiträge zur Aufhellung der Geschichte des Unglücklichen von Georg Friedrich Kolb - Regensburg. Verlag von Alfred Coppenrath 1882." Kolbs erstes Hauser-Buch schrieb er während seiner Emigrationszeit in Zürich. In seinem zweiten Buch versuchte Kolb ausführlich darzulegen, weshalb es seines Erachtens möglich war, daß die im Protokoll genannten Zeugen der Nottaufe des kleinen Prinzen getäuscht werden konnten. Er zitiert da seinen alten Freund, den badischen Abgeordneten Geheimrat Welcker. Es sei am 30. August 1857 in Zürich gewesen. Geheimrat Welcker war zu Besuch gekommen und hat da bei einer Familie Dr. Schulz mit Kolb beim Kaffee gesessen. Dabei kam die Sprache auf die Kaspar-Hauser-Geschichte. Kolb wörtlich: Ich ging Welcker direkt an, uns seine Meinung über jene Angelegenheit mitzuteilen. Da unser Freund wußte, in verlässigem Kreise sich zu befinden, so trug er keine Bedenken, sich mit aller Offenheit auszusprechen. Er erklärte es als seine innige Überzeugung, daß Hauser wirklich der älteste Sohn des Großherzogs Karl und der Stephanie gewesen sei. Kolb läßt dann Welcker sprechen:
Ich wohnte während eines Landtags (in der ersten Hälfte der 1830er Jahre) zu Karlsruhe bei einer sehr achtbaren Bürgerfamilie. Meine Hausleute sagten mir, daß sie die gewesene (Säug-) Amme des angeblich gestorbenen ältesten Prinzen näher kannten, und daß sie an einem der nächsten Tage gemeinsam mit ihr einen benachbarten Vergnügungsort besuchen würden; es sollte sie freuen, wenn ich teilnehmen wollte. Geheimrat Welcker sagte dankbar zu, war er als Abgeordneter doch stark interessiert an all den vielen Gerüchten, die seit Jahrzehnten im Land kursierten. Welcker kam also mit der Säugamme des angeblich verstorbenen Erbprinzen zusammen, "einer achtbaren Bürgersfrau", der er beim Nachhauseweg "den Arm reichte". Dabei brachte er sie dahin, über die Vorgänge beim Ableben des Säuglings zu sprechen. Unter "Zeichen der tiefsten Erregung" erzählte Josepha Schindler, eine geborene Haas, die einstige Säugamme, was sie vor 18 Jahren erlebte: Ich durfte mich jeden Tag zu einer bestimmten Zeit aus dem Schlosse nach Hause begeben, um die Meinigen zu besuchen. So auch an dem entscheidenden Tage. Ich hatte den Prinzen, ehe ich wegging, gestillt. Eine innere Unruhe trieb mich früher als gewöhnlich nach dem Schlosse zurück. Aber als ich ankam, ließ man mich nicht mehr zu dem Kinde. Man sagte, es sei bedeutend erkrankt. All' mein Bitten und Flehen half nichts, ich wurde immer zurückgewiesen. In meiner Verzweiflung wollte ich mich zur Mutter, zur Großherzogin Stephanie begeben. Aber auch das verhinderte man; es hieß, die Großherzogin sei krank, niemand dürfe zu ihr. Was nun folgt, klingt wie in einem kitschigen Roman. Josepha Schindler erzählte nämlich dem Geheimrat Welcker, nacherzählt von Kolb, ihr verzweifeltes Flehen sei schließlich auf ein gutes Herz gestoßen, auf eine Person, die nicht namentlich genannt wird, aber angeblich zur nächsten Bedienung der Großherzogin selbst gehört hat. Dieses anonyme Wesen habe die Amme schließlich "auf einer geheimen Treppe und durch eine geheime Tür" zur Großherzogin geführt,
die im oberen Stock lag. Angeblich außer sich, habe die Großherzogin von der Amme Nachricht über ihr Söhnchen verlangt, das man sie nicht sehen lassen wollte, "weil der Anblick sie zu sehr angreifen könnte". Die Schindler plapperte dann los, auch sie ließe man nicht mehr zum Prinzen. Daraufhin hätte ihr die Großherzogin eine wieder nicht näher bezeichnete Person mitgegeben, damit sie zu dem Kinde gelassen werde. Als wir gegen die betreffenden Gemächer kamen, hieß es aber: der Prinz sei tot. Ich verlangte, ihn wenigstens jetzt zu sehen, aber auch dies ließ man nicht zu, - ich durfte ihn nicht einmal tot mehr sehen! Geheime Treppen, geheime Tür - schön schaurig und gruselig die Story, aber wenig glaubhaft. Nach diesem Teil der Erzählung müßte man ja glauben, die Großherzogin sei auf Stubenarrest gewesen oder hätte nicht einmal die Möglichkeit gehabt, ihr eigenes Kind zu sehen. Wer hätte es wohl gewagt, diesen Wunsch der nun ersten Dame des Landes abzuschlagen?! Nein, das kann so nicht gewesen sein. Im Verlauf all der Jahre wird die gute Schindler halt so viel gehört und vielleicht auch gelesen haben, daß sie schließlich Wahrheit und Gerüchte nicht mehr auseinanderhalten konnte. Fest aber steht - und das ist wesentlich: weder die Mutter des Erbprinzen noch die Säugamme Schindler haben das Kind mehr gesehen, nachdem letztere am Todestag gegen elf Uhr vom Stillen weg nach Hause gegangen ist. Und noch etwas darf als wesentlich festgehalten werden: die Säugamme Schindler verließ ein zumindest relativ gesundes Kind. Da hilft auch nicht der Versuch des bestellten Hauser-Feindes Dr. Mittelstädt, der die Schindler "als eine stets nervöse, leicht erregbare und ihre Erregung meist sehr geräuschvoll äußernde Frau" hinstellte. Einen solchen Hof wird es wohl auf der ganzen Welt nie gegeben haben, der eine hysterische Säugamme für einen Prinzen anstellte! Nein, Herr Dr. Mittelstädt, dies ist kein überzeugendes Argument. Ein weiteres Faktum für die Möglichkeit, daß die bei der Nottaufe anwesenden Zeugen vom Anblick des Kindes getäuscht werden konnten, hinterließ ungewollt die Markgräfin Amalie. In einem Brief an
ihre königliche Tochter in München schrieb sie unterm 27. Oktober 1812 Als ich um halb fünf in den Wagen einsteigen wollte, um hinzufahren, ließ mir Ihr Bruder (Karl) sagen, er (der Säugling) sei am Ersticken. Es dauerte noch bis gegen acht Uhr. Er hatte Krämpfe im Kopf und bewegte dauernd einen Arm. Als dies aufhörte, bekam er Schlucken und gab Laute von sich, nicht wie ein Kind, sondern wie ein Mann, der voll und kräftig stöhnt. Dieser Ton war schrecklich ... Man bedenke folgendes: das so plötzlich sterbenskrank gewordene Kind, fest eingewickelt, mit einem Häubchen auf dem Kopf, schrie und tobte. Es wand sich in Gehirnkrämpfen. Selbst wenn der eine oder andere sich sagte: das Kind schaut aber verändert aus! - wer denkt in so einem Augenblick daran, es könnte sich eventuell gar nicht um den Prinzen handeln. Vielmehr klingt es weitaus einleuchtender, sich zu sagen, die überraschend gekommene Krankheit hat den 16 Tage alten Prinzen gar arg verstellt - ganz abgesehen davon, daß viele Säuglinge einander überaus ähnlich sehen. Und der Großherzog, der Vater des Jungen? Kolb schrieb ganz richtig: was zunächst den Großherzog Carl betrifft, so ist es bekannt, daß derselbe, von Natur beschränkt und indolent, durch Exzesse der verschiedensten Art noch stumpfer gemacht war ... Hinsichtlich der übrigen bei der Nottaufe anwesenden Personen ist zu bemerken, daß die Feuerbachsche Annahme der Unterschiebung eines anderen Kindes selbstverständlich die Mitwirkung dritter voraussetzt und weiter bedingt, daß Uneingeweihte, soweit deren Berührung nicht zu vermeiden, getäuscht, dagegen insbesondere alle jene Uneingeweihten, welche das Kind genauer kannten, um jeden Preisferne gehalten werden mußten ... Dies geschah ja in der Tat, wie wir bei der Säugamme Schindler gesehen haben. Frau Schindler wie auch die Mutter des Knaben haben den Prinzen nicht mehr gesehen - weder als krankes Kind noch als Leichnam. Das steht eindeutig fest. Etwas anderes ist es mit der Hebamme Horst aus Mannheim. Kolb, so scheint mir, hat es sich da et-
was zu leicht gemacht. Er stellte nur lakonisch fest, daß die Hebamme Horst die Großherzogin nicht entbunden hat; dies sei vielmehr durch den Leibarzt geschehen. Der Hauser-Feind Dr. Mittelstädt dagegen schrieb - und das blieb unwidersprochen -, die Hebamme Horst sei von der Großherzogin Stephanie ausschließlich für die Wartung des Prinzen engagiert worden. Daraus läßt sich schließen, daß die Horst zu jenen wenigen Personen gehört hat, die ständig um den Erbprinzen herum waren, ihn genau kannten. Das sollte man jedenfalls meinen. Die Sache mit der Horst, die das volle Vertrauen der Großherzogin genoß, kann so nicht stimmen. War sie bestochen? Hat sie den Tausch gemerkt, sich aber nichts zu sagen getraut? Oder ist sie unsicher geworden und hat für sich Vermutungen angestellt? Wenn dem so wäre, dann kann man es verstehen, wenn sie geschwiegen hat. Wer würde es auch wagen, die Handlung einer Nottaufe auf so drastische Weise zu stören, daß man in Gegenwart des Großherzogs, des Oberkammerherrn und des Hofmarschalls Zweifel an der Identität des Sterblings aufkommen läßt. Und diese Zweifel soll ausgerechnet noch die unbedeutendste Person am Sterbelager aussprechen? Nein, das ist nicht zu erwarten. Aber nie auch scheint ein Sterbenswörtchen über die Lippen der Horst gekommen zu sein. Falls sie Mitwisserin war oder ihr echte Zweifel gekommen waren, dann hat sie dieses ihr Wissen beziehungsweise ihre Zweifel mit ins Grab genommen. Vernehmen wir noch einmal Georg Friedrich Kolb dazu: Fragen wir zunächst, ob die äußeren Umstände eine Täuschung ausschlossen oder begünstigten. Der kleine Prinz hatte nach allen offiziellen und nichtoffiziellen Kundgaben konstant einer vorzüglichen, ja sogar "der besten Gesundheitsumstände" sich erfreut; niemand dachte an sein Erkranken, noch weniger an seinen Tod in wenigen Stunden. Da wurden völlig unerwartet, die oben bezeichneten Personen eiligst zusammengerufen, überrascht durch die Nachricht, es handle sich darum, schnellstens noch dem sterbenden Kinde die Taufe zu erteilen. - Die Sache hatte solche Eile, daß man nicht einmal mehr die Ankunft eines Pfarrers, zu denn man gesendet, glaubte abwarten zu dürfen, sondern daß die Hebamme ... eine Nottaufe
vollzog. Nun stelle man sich die Verwirrung der in größter Eile herbeigekommenen, den in diesen Gemächern allgemein herrschenden Trouble vor. War dies der Augenblick, Untersuchungen über die Identität des Kindes anzustellen, während alles nur darauf abgesehen schien, "die heilige Handlung der Taufe zu vollziehen?" Ging es, abgesehen von den Ärzten, da an, in Gegenwart des Fürsten sich hervorzudrängen und die Echtheit des Täuflings zu untersuchen? Die einen der paar Anwesenden hatten überdies denselben bisher wohl nur selten und höchst oberflächlich gesehen; ein anderer mochte sich denken: "Wie doch die Gichter dieses Kind völlig entstellt haben!" Die gerade einbrechende Dämmerung (16. Oktober nach 5 Uhr) war zudem die am wenigsten geeignete Tageszeit, Täuschungen erkennen zu lassen; sie war, wenn es sich um Täuschung handelte, die bestgewählte; auch das Anzünden von Kerzen blendete nur um so mehr! Kolb kommt zu dem Fazit, daß die Verhältnisse bei diese Nottaufe keine normalen waren. Dies aber dürfte vollinhaltlich zutreffen. Kolb zitierte dann noch den Großherzog Karl selbst, der dennoch in der Folgezeit oft davon gesprochen und gejammert hat, man habe ihn bei seinem Aufenthalt auf dem Wiener Kongreß mit einem schleichenden Gift versehen und auch seine beiden Söhne "umgebracht". Als einen weiteren Beweis, daß es nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, wertete Kolb folgendes Faktum: Während es aber sonst an Höfen herkömnmlich ist, daß gestorbene Angehörige der Dynastie dem gesamten Publikum zur Ansicht ausgestellt werden, erfahren wir, daß "der Etikette gemäß" die Amme das Kind nicht mehr habe sehen dürfen; daneben ist im Leichenbestattungsprotokoll gesagt, daß "der hohe Leichnam ... durch die hierzu angewiesene weibliche Bedienung in dem Sarge wohl verwahrt" worden sei. Welcher "weiblichen Bedienung" stand in diesem Fall ein näherer Anspruch zur Mitwirkung zu als der Amme? Wie die Todesnachricht aufgenommen wurde, draußen in der Öffentlichkeit, darüber schreibt Andlaw in seinem Tagebuch:
Wir befanden uns, den 16. Oktober, gerade im Theater, wo Iffland, der Generaldirektor des Berliner Schauspiels, als berühmter Gast den "Geizigen" von Moliere gab, als das Schauspiel durch die Nachricht von einem ernsten Unwohlsein des kleinen Erbprinzen unterbrochen wurde. Gegen 8 Uhr war er eine Leiche. Friedrich Walter (1789-1860) schreibt in seinem Buch "Stephanie Napoleon, Lebensweg und Weggenossen": "Bei Hof und in der Stadt steigert sich die Aufregung zu wilden Gerüchten; daß ein kräftiges Kind so plötzlich dahinstirbt, will man nicht glauben ..." Aufklärung forderte in erster Linie der französische Geschäftsträger am badischen Hofe, der Mann Napoleons, dessen Stern in dieser Stunde im Sinken war - Rußlands Beresina nahte, sein Unglücksstern. So wurde auf Drängen des französischen Geschäftsträgers der kleine Leichnam seziert. Was immer die Ärzte da unter ihren Messern gehabt haben, ob den kleinen Blochmann oder den badischen Erbprinzen - Kolbs Argumentation ist nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen, auch nicht die Überzeugung dreier Ärzte, die Kolb befragt hat und die mit ihm übereinstimmen, nämlich: Der ... Sektionsbericht in Verbindung mit den früheren amtlichen Bulletins gewährt, wenn nicht absolute Gewißheit, so doch einen sehr hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, daß das sezierte Kind ein anderes gewesen sein müsse, als dasjenige, dessen Gesundheit zuvor so oft und so bestimmt konstatiert war. Hier nun das Sektionsprotokoll im originalen Wortlaut, 1875 mit jenen beiden anderen Dokumenten auf Druck der Öffentlichkeit von der badischen Regierung veröffentlicht - übrigens nicht in Baden selbst, sondern in Bayern: Actum. Karlsruhe, den 18. October 1812. Gegenwärtig Se. Exc. der Hr. Etatsminister Frhr. v. Berkheim; Hr. Geheime Rath und Leibarzt Schrickel; Hr. Oberhofrath und Leibarzt Maler; Hr. Leibmedicus Kramer; Hr. Stabsmedicus Schrickel; Hr. Medicinalrath Herbst; Hr.
Rath Weiß; Hr. Leibchirurg Gebhardt; Hr. Leibchirurg Lafon; Hr. Hofchirurg Sievert; Hr. Hauptmann und Flügeladjutant Frhr. v. Holzing, als Officier der Ehrenwache, sodann der das Protokoll führende Geheime Cabinetssecretär Weiß. Nachdem Se. Hoh. der Erbgroßherzog, Höchstwelche den 29. September 1812 Morgens gegen 10 Uhr das Licht dieser Welt erblickt haben, den 16. October Abends gegen halb 8 Uhr an Gichtern, die vorzüglich das Gehirnorgan ergriffen hatten, und an darauf erfolgtem Stickfluß seelig entschlafen waren; so erhielten Unterzeichnete, Ärzte und Wundärzte, von dem durchlauchtigsten Herrn Vater, dem regierenden Großherzog, den gnädigsten Befehl, am Morgen des 18. October 1812 den Leichnam des Höchstseeligen nach den Regeln der Kunst zu öffnen. Endes Unterzeichnete verfügten sich daher heute Morgen nach 9 Uhr in das großherzogl. hiesige Residenz Schloß, und zwar in das Rondel Zimmer des zweiten Stocks auf dem linken Schloßflügel, welches die Aussicht auf den Garten hat, wo der entseelte Leichnam des Erbgroßherzogs sich befand. In diesem Local wurde die Inspection und Section durch die obbenannten Ärzte und Wundärzte vorgenommen, und dabei folgendes gefunden, und zwar 1. Bei der Inspection. 1) An den äußeren Theilen des Körpers wurde bemerkt, daß der hintere Theil des Kopfes und des Halses, sowie die Weichen, stark mit Blut unterloffen waren. 2) Das Kind wurde gemessen und es fand sich, daß es 19 Pariser Zoll lang war. Sonst wurde nichts besonderes wahrgenommen. Ein bißchen dürftig, die ganze Inspektion, wie mir scheint. Nicht gerade der Gipfel medizinischer Wissenschaft, auch nicht vom Wissensstand Anno 1812 dieser edlen Kunst gerechnet. Kein Sterbens-
wörtchen auch von einem Muttermal zwischen den Schulterblättern des winzigen Leichnams. Die Amme Schindler oder ihre Gehilfin, die Reisacher, wenn ich nicht irre, sollen dieses Muttermal einst bei der Pflege des prinzlichen Säuglings gesehen, bemerkt haben. Und weiß der Kuckuck: die Nürnberger Ärzte Osterhausen und Preu - Sie erinnern sich? - haben bei ihren Untersuchungen des Kaspar Hauser ein warzenähnliches Muttermal zwischen den Schulterblättern gefunden, es attestiert und so der Nachwelt erhalten. Aber wie gesagt, im Sektionsprotokoll steht darüber kein Wort. Und das ist nicht verwunderlich, wenn anstelle des Erbprinzen der Arbeitersohn Blochmann unterm Messer lag. Andererseits muß bedacht werden, daß dieses Protokoll erst 1875 veröffentlicht wurde - 63 Jahre, nachdem es verfaßt worden ist. Von den Unterzeichnern war damals keiner mehr am Leben. Will heißen, ganz auszuschließen ist es nicht, daß dieses Protokoll für die Veröffentlichung zurechtfrisiert worden ist. Aber um das Kraut der Undurchsichtigkeit noch voll zu machen, darf, ja muß erwähnt werden: die Ansbacher Ärzte, die den Kaspar 1833 nach seiner Ermordung sezierten, haben wiederum kein Muttermal gefunden, jedenfalls steht auch in ihrem Sektionsprotokoll kein Wörtchen darüber. Also irgendwie wurde hier gepfuscht oder noch schlimmeres getan. Denn innerhalb weniger Jahre verliert kein Mensch ein Muttermal, auch nicht ein Kaspar Hauser. Und noch etwas, sozusagen zur Information: der erwähnte Offizier der Ehrenwache, Hauptmann und Flügeladjutant Freiherr von Holzing, war identisch mit jenem gewesenen Leutnant Hozing, der zur Sauf- und Hurenkumpanei des Erbgroßherzogs Karl gehört hat. Karl soll gemeinsam mit diesem Holzing sodomitische Umtriebe veranstaltet haben. Irgend etwas scheint daran zu stimmen, denn der verbale Blitz und Donner des mächtigen Korsen traf auch diesen Holzing, der mittlerweile zum Flügeladjutanten avanciert ist, wie wir gesehen haben. Doch nun weiter im Sektionsprotokoll: II. Bei der Section, und zwar
A. Bei der Eröffnung des Kopfes. 1) Nachdem man die äußeren Integumente durchschnitten hatte, wurde über den ganzen Hirnschädel ein gleichförmig ausgebreitetes Extravasat wahrgenommen, so daß bei Durchschneidung des Pericranii sogleich das Blut ausströmte. 2) Nachdem das Cranium, welches für ein Kind von diesem Alter schon außerordentlich fest und stark war, abgenommen wurde, bemerkte man: daß alle Gefäße auf der Oberfläche des Gehirns von Blut strotzten, und zwischen allen Gyris des Gehirns fand man ausgetretenes Blut. Auch die Hirnhäute waren ganz mit Blut unterloffen. Insonderheit aber sah man am hintern Theil des Gehirns in den Lappen ein sehr großes Extravasat, und alle Gefäße außerordentlich stark mit Blut unterloffen. Auch in der Basis des Cranii und überall unter dem Gehirn fand sich eine Menge ausgetretenes Blut. 3) Unter dem tentorio cerebelli wurden auch einige Loth Wasser gefunden, welches zuvor in den ventriculis enthalten war, die bei Herausnehmung des Gehirns wegen Weichheit desselben sich geöffnet hatten. 4) Das Cerebellum war ebenfalls durch und durch mit Blut unterloffen. 5) Die Plexus choroidei waren auch sehr stark mit Blut angefüllt. 6) So sehr alle Gefäße auf dem Gehirn mit Blut angefüllt und gleichsam wie eingespritzt waren, so wenig fand man dieses in der Substanz des Gehirns selbst. B. Bei Eröffnung des Unterleibs fand man, daß der Magen und die Gedärme und alle übrigen Viscera sich im gesunden natürlichen Zustand befanden. C. Bei der Eröffnung der Brust wurde auch nichts widernatürliches bemerkt, und die Lungen sowie die übrigen Theile der Brust waren ebenfalls ganz natürlich.
Aus dem, was man bei Eröffnung des Kopfes sodann im cerebro und cerebello gefunden, ist ersichtlich, daß die ungeheure Menge Bluts, welche man in diesen Theilen stockend und extravasiert wahrgenommen, auf das Gehirn und die aus demselben entspringenden Gefäße und Nerven einen außerordentlichen Druck und Reitz verursacht, dadurch das Gehirn-Organ und besonders auch die zu den Lungen gehenden Nerven in völlige Unthätigkeit versetzt, somit Zuckungen und Stickfluß hervorgebracht und den Tod herbeigeführt haben. Somit wurde dieser Act geschlossen und die Richtigkeit von den Unterzeichneten bescheint. (Gez.) Staatsminister Frhr. v. Berckheim. Dr. Schrickel Geheimer Rath und erster Leibarzt. Maler Dr., Oberhofrath und Leibarzt. Dr. Kramer, erster Leibarzt Ihrer Kaiserl. Hoh. der Frau Großherzogin. Dr. Schrickel, Staabsarzt. Herbst, Medicinalrath. Weiß, Rath und Leibchirurgus. Gebhardt, Leibchirurgus. V. Lafon, Chirurgien des Son Altesse Impériale. Sievert, HofChirurgus. a. u. s. In fidem. (Gez.) Weiß, Geheimer Cabinetssecretär. (Gez.) T. v. Holzing, Capitaine und Flügeladjutant. Um's noch einmal deutlich zu sagen: dieses Dokument kann nicht überzeugen, weder von seiner wissenschaftlichen Dürftigkeit her, besonders was die "Inspektion" betrifft, noch daß es sich bei dem Kind um den Erbprinzen gehandelt hat. Dieser war als ein kerngesundes Kind geboren worden. Allerdings war der Geburtsakt wegen der Pfündigkeit des Kindes für die Großherzogin recht schwer gewesen. Das Kind jedoch war so gesund, daß Geburtshelfer Dr. Weichmann aus Mainz längst wieder daheim war. Mit ihm fast auf den Tag genau war Baron Haynau nach Moskau zu Napoleon gereist, um dem kaiserlichen Schwiegerpapa des Großherzogs die frohe Kunde zu überbringen, während ein Freiherr von Gayling-Altheim zur Kaiserin nach Paris eilte. Nein, das Kind, dessen Kopf und Leib geöffnet wurde, kann nicht der kerngesunde Prinz gewesen sein. Die kranke Beschaffenheit im Kopfinneren und auf dem Gehirn, wahrscheinlich von einer schweren Geburt herrührend, die zum Tode führte, hätte dem Säugling von Anfang an seines Daseins ihren pathologischen Stempel
aufgedrückt. Es wäre Unsinn zu glauben, die zum Tode führenden Beschwerden hätten sich erst 15 Tage nach der Geburt bemerkbar gemacht. Übrigens: einen Namen bekam das Kind nicht mit in die Familiengruft. Die Nottaufe war ohne Namensgebung erfolgt. Das ist eine Tatsache. Und so dürfte es sehr wahrscheinlich sein, was Sonja von Grunelius-Schacht in ihrem Büchlein "Caspar Hauser - Der namenlose Prinz" 1976 schreibt. Frau Grunelius-Schacht verarbeitet darin frühe Jugenderlebnisse, sozusagen Gehörtes und Gesagtes in badischen Adelskreisen, erlauscht um unsere Jahrhundertwende herum. So sei überliefert, daß Großherzog Karl und Stephanie kurz vor der Geburt des Erbprinzen eine eheliche Auseinandersetzung wegen der Namensgebung hatten. Die Großherzogin wollte, falls das erwartete Kind ein Junge wird, diesen auf den Namen Gaspard taufen lassen, zu deutsch Kaspar. Die Französin Stephanie hatte nämlich einen Onkel mütterlicherseits, den sie als Kind sehr verehrt hatte. Und der hieß Gaspard Lezay-Marnesia und war Generalvikar. Aber ein deutscher Fürst mit dem Namen Kaspar? Für Großherzog Karl und seinen Clan, allen voran Amalie, einfach eine Unmöglichkeit. Nein, darüber nur zu diskutieren, über diesen Namen, nein: Das war selbst dem ansonsten beschränkten Karl ein Greuel. "Niemals, Madame!" wird er gesagt haben. Aus. Punktum. Und dabei blieb es denn auch. Allem Anschein nach hatte sich das Elternpaar bis zur Geburt des Prinzen noch nicht auf einen Namen einigen können. So trat der Bub, den man für den Prinzen hielt, seine lange Reise ohne Namen an. In Richtung Moskau aber reiste ein anderer: der Trauerbote, der Napoleon die Nachricht überbringen mußte, sein hoffnungsvoller Adoptivenkelsohn sei verstorben. Der Trauerbote aber hieß Johann Heinrich David Hennenhofer. Diesen Namen muß man sich merken, denn er gilt als der Regisseur bei der Ermordung des Kaspar Hausers 1833 im Ansbacher Hofgarten. Dieser Hennenhofer war der Sohn eines Rheinschiffers, Jahrgang 1793. Er hatte im Buchhandel angefangen, brachte es aber im Verlaufe seines Lebens bis zum Direktor der Diplomatischen Kanzlei (Auswärtiges Amt), dazu Majorsrang und Er-
hebung in den Adelsstand. Lange Jahre leitete Hennenhofer die badische Abwehr, wie wir heute sagen würden. In dieser Eigenschaft gebot er auch über ein kleines Agentenheer und war der Vertraute des Markgrafen Ludwig, dessen Saufkumpan und Schwippschwager. Wo immer ein dunkler Punkt in Baden war: Hennenhofer hatte seine feingliedrigen Finger darin stecken. Als er aber am 17. oder 18. Oktober als Trauerbote aufbrach, da war er noch ein unbekannter junger Mann von 19 Jährlein am badischen Hof, völlig ohne Einfluß. Aber die Hofspitze scheint bereits auf ihn aufmerksam geworden zu sein. Denn als Trauerbote zu Napoleon ausersehen zu werden, war eine Auszeichnung, eine hohe Ehre. So machte sich denn Hennenhofer auf den Weg, überaus befriedigt, sich bewähren zu dürfen. In Rußland aber war mittlerweile eine Wende mit der Großen Armee eingetreten: General Winter hatte noch vor Kutusoff zugeschlagen, denn am 15. Oktober, einen Tag vor dem Sterbetag des für den Prinzen gehaltenen Buben, war der erste Schnee gefallen. Über Nacht war die Wetterveränderung gekommen. Einem Altweibersommertag folgte der Winter. Ehemalige Rußlandkämpfer von Anno 1941 auf 45 wissen, wie schnell das in jenen Breiten dort geht. Zwei Tage vor dem ersten Schnee aber hatte Napoleon den Rückzug auf Düna und Dnjepr befohlen. Gleichzeitig ließ General Kutusoff seine längst bereitgestellten Regimenter, vorsichtig zunächst, nachrücken. Offensiv wurde der Retter Rußlands allerdings erst an dem Tag, an dem Napoleon die Stadt Moskau verließ. Das war am 18. Oktober, am selben Tag, an dem der angebliche Prinz im Rondellzimmer der Karlsruher Residenz auf dem Seziertisch lag. Hier in Karlsruhe ahnte natürlich noch niemand etwas vom Rückzug Napoleons, vom Erlöschen seines Sternes. Der Vertreter Frankreichs am badischen Hof war nach dem Großherzog noch immer der mächtigste Mann. Er konnte die Puppen tanzen lassen. Hat auch die Obduktion des Kleinen in der Prinzenwiege mehr befohlen als erbeten. Als Napoleon mit seiner Garde Moskau verlies, war diese Stadt in Asche gesunken. Rostopschin hat sie niederbrennen lassen. Das heilige Mütterchen Rußland machte sich auf, den mächtigen Korsen zu zerschmettern. In diesen riesigen Unglückstern hinein galoppierte
jener bis dahin noch recht unbekannte 19jährige Feldjäger Hennenhofer auf der Suche nach Napoleon, um ihm den Tod eines Säuglings mitzuteilen, derweilen die Soldaten zu Tausenden fielen und erfroren. Schizophrenie des Lebens oder höhere Politik? Vielleicht beides. Aber wo nun den Kaiser der Franzosen finden? Wo in dieser unendlich scheinenden Schneewüste! Am 9. November war Napoleon noch in Smolensk gewesen. Am 26. November hatte er die Beresina, seinen Schicksalsfluß, überschritten. Polnische und badische Truppenteile waren es übrigens, die den Übergang der Garde unter blutigen Verlusten gedeckt haben. Alles unsinnige Opfer eines Größenwahnsinnigen, der eine Universalmonarchie anstrebte. Unter der Hegemonie Frankreichs, versteht sich. Dafür verbluteten auch rund eine Viertelmillion Deutsche. Hohe Politik, wie gesagt. Der Oberbefehlshaber des badischen Truppenkontingents war Wilhelm, der zweite Sohn der Reichsgräfin von Hochberg. Von seinen Zeitgenossen wird er als ein hervorragender Soldat, als ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle geschildert. Ein begabter Mann von Ehre jedenfalls. Trauerbote Johann Heinrich David Hennenhofer aber traf den Korsen in Wilna. Feldherrenmäßig den Blick gen Osten gerichtet hörte er sich die Trauerbotschaft an. Er hatte keine Uniform an, sondern einen erbsgrünen Pelz mit goldenen Schnüren und Trotteln, besetzt mit Marder. Dazu Pelzmütze und Pelzstiefel. Die Soldaten aber erfroren zu Tausenden. Ihre schwarzgefrorenen Leichen wurden im Frühjahr 1813 von den russischen Bauern wie Leseholz zusammengetragen und in Massengräbern verscharrt. Väterchen Zar hatte den Korsen abgeschüttelt und aus dem Mütterchen Rußland hinausgefroren und hinausgeschossen. Am 26. November hatte Napoleon die Beresina überschritten, haben wir weiter oben vernommen. Es war dies der Tag des Heiligen Stephan, der Namenstag der Großherzogin Stephanie. Aus diesem Anlaß wurde in der Karlsruher Residenz ein Maskenball veranstaltet. Stephanie, so ist überliefert, war prächtigster Laune, der Star des Balls. Ob sie es wußte, daß das badische Korps bei der Großen Armee mit Mann und Roß und Wagen vernichtend geschlagen worden ist in Rußland? Kein Hofdiarium hat je etwas darüber verlauten lassen.
Aber historische Wahrheit ist, daß die offizielle Kunde davon wenige Stunden vor Ballbeginn in Karlsruhe eingetroffen ist. Aus gewissermaßen sogar verständlichen Gründen wurde alles getan, die furchtbare Kunde zunächst einmal zu vertuschen. Was nun den eigentlichen Akt der Kindsvertauschung betrifft, so sind wir auch hier auf Rückvermutungen angewiesen, auf Rückvermutungen allerdings, die Hand und Fuß haben. Aber wie steht es mit dem Motiv? Zunächst einmal gab es nur eine Person, die ein Interesse daran haben konnte, daß sich aus der Winzigkeit da in der fürstlichen Wiege kein Großherzog der Zähringer Linie entwickelt: die Reichsgräfin von Hochberg, die Witwe des verstorbenen Nestors Karl Friedrich, die Stammutter einer neuen Linie, eben der Hochberg-Linie. Wir haben gesehen, wie verbissen sie seit Jahr und Tagen um die Sukzessionsfähigkeit ihrer Söhne kämpfte. Jeder neue Reis aber am Stamme der Zähringer mußte ihre Pläne zunichte machen. Sie war es also, die ein unmittelbares Interesse am Tod oder am Verschwinden des Erbprinzen haben konnte. Allerdings mußte sie dann so konsequent, so wahnsinnig konsequent sein, auch alle weiteren Erbprinzen, ja alle noch lebenden Zähringer zu vernichten. Weitere Nachkommen von Karl und Stephanie mal ausgenommen - wer lebte denn noch von den echten Zähringern? Zunächst einmal der Großherzog selbst. Karl. Er verlebte auf dem Wiener Kongreß, der noch vor ihm lag, sozusagen den Höhepunkt seines ausschweifenden Lebens, seiner Sucht nach Vergnügungen aller Art. Als ein Wrack kam er aus Wien zurück, wo ihm aller Wahrscheinlichkeit nach ein schleichendes Gift gegeben wurde. Wir kommen noch ausführlich darauf zurück. Tatsache ist jedenfalls, daß er wenige Jahre darauf, 1818, im Alter von 32 Jahren verstarb, eingegangen ist wie eine Primel. Dann war da noch am Leben der Markgraf Friedrich, zwar verheiratet, aber beschränkt und zeugungsunfähig. Er starb kurz nach der Geburt eines zweiten Thronfolgers Anno 1817, also noch vor Großherzog Karl. Ja und dann war da noch das Enfant terrible des badischen Hofes, der Markgraf Ludwig, den Napoleon zweimal auf Schloß Salem am Bodensee verbannen hat lassen, auch Louis genannt. Mehr Zähringer gab es nicht im Jahre 1812, im Geburtsjahr des Erbprinzen Nummer eins.
Ludwig aber und die Hochberg steckten in vielen Dingen unter einer Decke. Ob es allerdings zutrifft, daß die beiden sogar ein Intimverhältnis miteinander gehabt haben - das nachzuweisen dürfte ebenfalls nie mehr möglich sein. Wahr ist jedoch und nachweisbar, daß darüber am Hof viel getuschelt wurde. Nach Mitteilung der hemmungslosesten Gerüchteverbreiter sollen ein oder zwei der Hochberg-Kinder den Markgrafen Ludwig zum Erzeuger gehabt haben. Das würde nichts anderes bedeuten als: Ludwig hat seinen eigenen Vater mit dessen zweiter Frau gehörnt. Vom Charakter zuzutrauen ist es beiden, der Hochberg wie dem Louis. Dieser aber war, wie wir schon wissen, nicht verehelicht und sollte 1830 auch unverheiratet sterben. Aber rechnen damit mußte die Reichsgräfin, daß ihr Freund Louis irgendwann einmal auf Freiersfüßen geht. Zwar war er schon ein bißchen bejahrt 1812 - er war 48 Jahre alt -, aber das schließt ja nicht aus, daß der alte Herzensbrecher doch noch heiratet und munter Kinder, Zähringer, in die Welt setzt. Dies dürfte wohl ausschlaggebend gewesen sein, den Erbprinzen nicht gleich umzubringen, sondern ihn auszutauschen. In diesem Fall hatte die Reichsgräfin gegenüber Ludwig ein Druckmittel in der Hand. Etwa nach dem Motto: Verlustiere dich mit deinen Frauenzimmern so lange und so viel du willst, geheiratet aber und legale Kinder werden nicht in die Welt gesetzt, sonst präsentiere ich dir einen leibhaftigen Erbprinzen, der dann an deiner Stelle das Zepter in Baden schwingen wird. Der Gedanke war gar nicht so abwegig. Und genau genommen ging die Rechnung der Reichsgräfin von Hochberg ja auch auf. Nach Karl, der 1818 das Zeitliche segnete, wurde Ludwig Großherzog und blieb es zwölf Jahre hindurch bis zu seinem Tod Anno 1830. Ihm folgte als Großherzog der erste Hochberg: Leopold. Seine Mutter, die Reichsgräfin, hat diesen Triumph nicht mehr erlebt. Von ihren eigenen Söhnen unter Kuratel gestellt und 600000 Gulden Schulden hinterlassend, starb sie, von wenigen betrauert, 1820. Die Vertauschung selbst ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit am hellen Tag in Szene gesetzt worden: am 16. Oktober, am Sterbetag des angeblichen Prinzen, so um die Mittagszeit
herum und unter Einkalkulation der vorhersehbaren Abwesenheit der Säugamme Schindler. Bevor sie gegen elf Uhr in die Stadt ging, um sich ihrer Familie anzunehmen, hatte sie den Prinzen noch gestillt. Was sie dann verließ, war mit Sicherheit der echte Erbprinz. Wäre die Vertauschung schon in der Nacht vorher passiert: die Schindler hätte den Tausch gemerkt, denn außer der Mutter kannte niemand den Prinzen so gut wie die Säugamme. Ob die Reichsgräfin den Tausch selbst bewerkstelligt hat oder eine ihr bedingungslos ergebene Person aus den Reihen des Personals, darüber läßt sich rechten. Nur soviel dürfte feststehen: sowohl bei der Vertauschung als auch an der Beseitigung des Kaspar Hauser war nur ein ganz kleiner Kreis als Mitwisser beteiligt. Sehr viel, wenn nicht alles spricht dafür, daß die Vertauschungsaktion eine Improvisation war und von der Hochberg gleichsam solo gespielt wurde. Vieles, wenn nicht alles deutet darauf hin, daß die Hochberg einer momentanen Eingebung folgte, ihre Chance erkannte und dann, rücksichtslos wie sie war, augenblicklich handelte. Die Frage aller Fragen ist nun die: Gab es denn im Oktober einen Ersatzsäugling in engster Nähe des Schlosses? Ja und wenn, dann mußte dieses Kind sterbenskrank sein, denn eine Vergiftung dieses Ersatzkindes dürfte bei der zu erwartenden Sektion gemerkt werden. Erst wenn all diese Umstände zutreffen, konnte der Gedanke mit der Vertauschung überhaupt gefaßt werden. Und das war dann eine Improvisation in des Wortes wahrster Bedeutung. Der Teufel muß die Reichsgräfin geritten haben, als ihr der Gedanke mit der Vertauschung in den Sinn kam. Ob nun Markgraf Ludwig von Anfang an in das Verbrechen eingeweiht war, steht nicht fest. Es ist aber anzunehmen, daß sie ihn erst später über diesen Staatsstreich unterrichtet hat. Und wahrscheinlich ist, daß das ungleiche Paar, Stiefmutter und Stiefsohn, er 48 und sie 44 anno 1812, ihre ferneren Pläne aufeinander abstimmten. Beispielsweise, daß Ludwig nach Karls Tod als letzter Zähringer den Thron besteigen kann, allerdings unverehelicht bleiben müsse. Denn daß Ludwig nach der Macht schielte, dürfte sicher sein. Sicher dürfte aber auch sein, daß er bei entsprechendem Kindersegen des großherzoglichen Paares Karl und Stephanie keiner-
lei Chancen hätte, je auf den Thron zu kommen. Pläneschmiederei der angeführten Art setzt allerdings voraus, daß kein Erbprinz am Leben bleiben und auch Karl selbst kein Greis werden durfte. Wie schon einmal gesagt: eine wahnsinnige Konsequenz das ganze Manöver. Sie hat hoch gespielt diese fanatisch-machtgierige Reichsgräfin Hochberg. Aber das Spiel ging auf. Ihre Karten stachen alle. Ausnahmslos alle. Es dauerte über 100 Jahre, bis der Indizienbeweis für eine Vertauschung geführt werden konnte, bis in die zwanziger Jahre unseres Säkulums. 1929 war es, als Dr. Fritz Klee aus Nürnberg die Ergebnisse seiner Hauser-Forschung veröffentlichte. Klee hatte es fertiggebracht, den Ersatzsäugling der an des Prinzen statt in die Wiege gelegt wurde, festzustellen. Seine Recherchen waren so exakt, daß nicht der geringste Zweifel mehr besteht. Bei dem sogenannten Ersatzkind handelte es sich um einen gewissen Johann Ernst Jakob Blochmann. Dieses Kind war drei Tage vor dem Prinzen geboren, und es darf auch angenommen werden, daß der Säugling sterbenskrank war - damals keine Seltenheit. Auch die Mutter des Kindes, Elisabeth Blochmann geborene Späth, starb frühzeitig als Mittdreißigerin. Drei ihrer Kinder wurden erwachsen, erreichten aber allesamt kein hohes Alter. Vierzig Jahre war das höchste. Ein viertes Kind wurde gar nur einen Tag alt und ihr fünftes und letztes war eben jener Johann Ernst Jakob, der zwanzig Tage jung werden sollte. Ferner: Der Vater des Jungen, Christoph Blochmann, Jahrgang 1778, lebte als einfacher Handwerker in dem ärmlichen Karlsruher Stadtteil Klein-Karlsruhe. Und wo arbeitete er? Sie werden es nicht glauben, aber es ist so: Vater Blochmann arbeitete in einer Textilfabrik, im sogenannten reichsgräflichen Gewerbehaus, das der Reichsgräfin von Hochberg gehörte. 1807 war's, als sie diese Textilfabrik von ihrem Gemahl, dem Großherzog, geschenkt bekam. Aber Christoph Blochmann hatte noch eine andere Beschäftigung, sozusagen einen Nebenerwerb: er arbeitete nämlich von Fall zu Fall bei seiner Brötchengeberin als Diener. Jahre nach der Geburt des Erbprinzen, um 1818, bekam unser Blochmann auch das hat Klee herausgefunden - eine bessere Stellung, so daß er sich eine vornehme Wohnung in Nähe des Schlosses leisten konnte.
Hervorragende Fähigkeiten konnten bei diesem Mann nicht festgestellt werden, schreibt Dr. Klee, so daß diese sichtliche Bevorzugung einen anderen, einen besonderen Grund haben mußte. Vater Blochmann wurde übrigens 69 Jahre alt; er segnete das Zeitliche 1847. Will heißen: die Anlageschwäche dürfte weniger auf Seiten der Blochmanns denn auf der seiner Gattin zu suchen sein. Seine Frau Elisabeth starb 34jährig anno 1815. Christoph Blochmann aber heiratete wieder: die Schwester seiner verstorbenen Frau, die ihm ihrerseits fünf Kinder gebar, so daß Vater Blochmann insgesamt zehn Kinder zeugte. Um nun keinen falschen Eindruck zu erzeugen: gerüchteweise geredet über den eigenartigen Prinzentod, über die rasend schnelle Wandlung eines gesunden Bübchens in ein todkrankes Kind, das wurde schon zu einer Zeit, als das Kind noch gar nicht beerdigt war. Eigenartigerweise haben sich diese Gerüchte über Jahrzehnte hinweg gehalten, wurden immer toller ausgeschmückt und frecher vorgetragen, ja auch gedruckt. Aber der Phantasie all dieser Urheber und Verbreiter, deren Motiv nicht selten ein rücksichtsloser Haß gegen das Fürstensystem an sich war - ihnen allen konnte von den Systemanhängern stets entgegengebracht werden: Zum Vertauschen gehört allemal ein Tauschobjekt! Und wo ist es denn, euer Tauschobjekt, euer Ersatzkind? Zeigt es doch her! Da aber mußten die Gerüchteverbreiter passen. Ja, woher nehmen und nicht stehlen? Karlsruhe zählte dazumal an die 14000 Einwohner - eine Kleinstadt nach unseren heutigen Begriffen. Und in einer solchen wird schließlich nicht jeden Tag ein Kind geboren, das schon sterbenskrank und fast gleichaltrig ist mit dem Erbprinzen. Wie gesagt, wenn den Märchenerzählern diese Überlegung entgegengeschleudert wurde, mußten sie die Köpfe einziehen. Dies wurde 1929 anders, 117 lange Jahre nach dem Prinzentod von 1812. In diesem Jahr offerierte der Nürnberger Professor Klee die Ergebnisse seiner langjährigen Forschungsarbeit. In unwahrscheinlicher Exaktheit hatte er die Lebensdaten des Johann Jakob Blochmann erforscht. Dabei stieß Klee mitten hinein in die damalige Regiefüh-
rung der Kaspar-Hauser-Beseitigung. Das begann bereits beim sorgfältigen Studium der Karlsruher Taufregister von 1812. Professor Klee stieß auf etwas Einmaliges, etwas Besonderes: Von den insgesamt zehn Kindern der Blochmanns, die im kirchlichen Taufbuch allesamt eingetragen wurden, steht bei den Namen von neun Kindern der Todesvermerk. Und dies war üblich. Der Todesvermerk fehlt aber bei dem am 26. September 1812 geborenen Johann Ernst Jakob Blochmann. Das bereits macht stutzig, da es üblich war, im Taufbucheintrag auch den Todesvermerk zu machen. Es könnte dies aber aus Versehen bei einem der Blochmann-Kinder unterblieben sein. Das aber fällt flach, denn es kommt noch toller: Klee entdeckte nämlich im protestantischen Karlsruher Sterberegister von 1833 (!) folgende Eintragung, unterzeichnet von Pfarrer Deimling: Nr. 341. Den vierzehnten Dezember bald nach Mitternacht starb und wurde den sechszehnten beerdigt Eduard Karl Max Leske, Sohn des Hofkammerrates Leske ... Nr. 342. Den siebenundzwanzigsten November Nachts dreiviertel auf zwölf Uhr starb in München im Militärhospital und wurde daselbst begraben Kaspar Ernst Blochmann, Soldat bei dem Kön. griechischen Truppenkorps daselbst, Sohn des Hofbedienten Christoph Blochmann. gez. T. Deimling. Nr. 343. Den sechzehnten Dezember Nachmittags drei Viertel auf zwei Uhr starb und wurde den achtzehnten beerdigt Margareta Julian ... etc. Fritz Klee, der unermüdliche Forscher, hat also den Hebel bei den Taufbucheintragungen vom September 1812 angelegt - und Glück gehabt. Er hatte sich folgerichtig gesagt: Der Erbprinz ist am 29. September 1812 in Karlsruhe geboren. Also muß ein Ersatzsäugling, wenn die Vertauschungstheorie überhaupt zutreffend ist, auch um diese Zeit herum geboren worden sein, und zwar in Karlsruhe. Denn: aus Mannheim oder Freiburg wird man kein Ersatzkind quasi im
Rucksack nach Karlsruhe zum Austausch getragen haben - nicht im Sommer, schon gleich gar nicht im windig-kühlen Oktober des Jahres 1812. Aber hören wir Professor Dr. Klee selbst. Er sei wörtlich zitiert: In diesem Eintrag Nr. 342 wird ein Kaspar Ernst Bl. genannt. In den Karlsruher protestantischen Taufregistern, die ich genau durchgesehen habe, ist kein Kaspar Ernst Bl. Aufgeführt. Die Namen Kaspar Ernst kommen in dieser Zusammensetzung nicht vor; der Taufnahme Kaspar war überhaupt in Karlsruhe ungebräuchlich. Der Hofbediente Christoph Bl. hatte nur 3 Söhne. Der älteste hieß Jakob, lebte 1833 als Schneider in Karlsruhe und starb dortselbst 1846. Der jüngste hieß Philipp, war Schuhmacher und war bereits 1828 in Karlsruhe gestorben. Kaspar Ernst BI. muß also mit dem 1812 geborenen Johann Ernst BI. identisch sein. Dies hätte auch Pfarrer Deimling damals (1833) auf Grund der alphabetischen Namensverzeichnisse der Matrikeln ohne weiteres feststellen können. Da er seit 1812 das Pfarramt führte, konnte es ihm nicht verborgen bleiben, daß nur Johann Ernst BI. unter dem Kaspar Ernst BI. zu verstehen war. Das Sterberegister, das obige Einträge enthält, war nur für die Personen bestimmt, die in der Gemeinde Karlsruhe starben und beerdigt wurden. Erhielt das Pfarramt Kenntnis, daß eine in Karlsruhe geborene Person anderswo starb, so wurde im Taufregister bei dem Namen der betreffenden Person eine Bemerkung beigesetzt, z. B. gestorben 1864 in New York etc. Pfarrer Deimling hat im Taufregister bei dem Namen Johann Ernst Bl. keinen Todesvermerk gemacht, sondern auffallenderweise den Tod des in München begrabenen Soldaten BI. in das Sterberegister der Karlsruher Gemeinde eingetragen. Es mußte ein besonderer Grund vorliegen, weshalb der Pfarrer hier von der sonstigen Gepflogenheit abwich. Das Pfarramt mußte von irgendeiner Seite den Tod des BI. mitgeteilt erhalten haben. Die Meldung erfolgte nicht von den Angehörigen des Verstorbenen, denn diese hätten nicht den falschen Namen "Kaspar" angegeben. Die Benachrichtigung mußte von einer anderen Stelle ausgegangen sein, so daß sich das Pfarramt veranlaßt sah, einen
entsprechenden Eintrag in die Matrikel zu machen. Die benachrichtigende Stelle war jedoch kaum eine Behörde. Zwar ist der Todeseintritt genau auf die Minute angegeben, sonst aber ist die Mitteilung ungewöhnlich mangelhaft; es fehlt jede Angabe über das Geburtsdatum oder das Alter des Verstorbenen, auch der eine Vorname ist nicht richtig. Ja man bekommt den Eindruck, als ob in der Meldung nicht einmal der Name und Stand des Vaters genannt gewesen wäre. In dem Eintrag sind zwischen den Worten "Sohn des" und dem letzten Wort "Bl." auffallende Lücken wahrzunehmen; die Worte "Hofbedienten Christoph" sind mit veränderter, gedehnter Schrift eingefügt. Man möchte meinen, Deimling habe bei der Niederschrift den Namen und Stand des Vaters ursprünglich nicht gewußt, deshalb einen Zwischenraum gelassen und erst später die Worte "Hofbedienten Christoph" eingesetzt. - Mit dem Eintrag Nr. 342 muß es offenbar eine besondere Bewandtnis haben. Dem wird in der Tat so sein. Dr. Klee hat sich mit dieser Feststellung selbstverständlich nicht zufrieden gegeben. Er ging dem roten Faden nach, der nach München führte. Dort fand er im "Sterberegister der protestantischen Stadtpfarrei 1832 - 42" folgenden Eintrag: Nr. 164. Mittwoch, den (27.) sieben und zwanzigsten November, Nachts gestorben und den 30ten eiusdem begraben Ernst Bl., Soldat der 4. Grenadier-Kompagnie vom k. griech. Truppenkorps, von Karlsruhe gebürtig. Krankheit: Brand im Unterleib. Alter: 21 Jahre. Im Bestattungsbuch der Friedhofverwaltung - ausgekramt im Münchner Stadtarchiv - aber fand Klee diese Notiz: Ernst Blokmann, Soldat, 21 Jahre alt, begraben am 30. 11. 1833; älterer südlicher Friedhof Sektion 4, Reihe 4, Nr. 10. Was sagen diese Einträge? Nun, zunächst einmal, daß ein Soldat Blochmann oder Blokmann, aus Karlsruhe gebürtig, in München gestorben ist und dort auch begraben wurde. Behördlich wäre damit zunächst einmal alles erledigt. Die Nichteintragung des Todesvermerks im Karlsruher Taufregister und das Fehlen von Vornamen be-
ziehungsweise der falsche Vorname - all dies könnte, wie schon angedeutet, aus Unachtsamkeit des Behördenschreibers geschehen sein. Die Sache kann aber nicht erledigt sein, da in Pfarrer Deimlings Eintrag Nummer 342 der in München verstorbene Soldat zusätzlich noch den seltenen, nicht zutreffenden Vornamen Kaspar hat. Wie kam Deimling zu diesem Eintrag im allgemeinen und zum "Kaspar" im besonderen? Der falsche Vorname "Kaspar" kommt ja nur im Eintrag Nummer 342 des protestantischen Sterberegisters von 1833 vor, wie wir gesehen haben. Nicht aber bei den Münchner Behörden. Seltsam! Und doch wiederum nicht, wenn man den Zweck der ganzen Machination durchschaut und dadurch einen kleinen Einblick in die Regieführung des Kaspar-Hauser-Falles bekommen hat. Hören wir darüber im Wortlaut noch einmal Professor Klee: In den Jahren 1832 und 1833 hatte sich in Bayern der Fall Königsheim zugetragen. Das 1811 geborene und 1812 gestorbene Kind Königsheim war wegen fehlender Todesbescheinigung auf die Militärkonskriptionsliste gesetzt worden. Der Fall hatte viele Behörden beschäftigt und schließlich zu der Vermutung geführt, Hauser möchte der verschollene Königsheim sein. Als gegen Ende des Jahres 1833 der Plan zur Ermordung Hausers vorbereitet wurde, war man wohl darauf bedacht, alle vorhandenen Spuren zu verwischen. Da der im Jahre 1812 geborene, nach unserer Auffassung aber untergeschobene und bereits am 16. Oktober 1812 verstorbene Johann Ernst Bl. in dem Jahre 1833 militärpflichtig wurde, mochte man befürchten, es könnten ähnlich wie im Falle Königsheim Nachforschungen über Bl. angestellt werden. Man mußte daher den Tod dieses Bl. irgendwie beurkunden lassen und wählte dazu das Mittel der Namensunterschiebung, das auch 1812 in Karlsruhe Anwendung gefunden hatte. Die Bildung des griechischen Truppenkorps, bei dem viele Nichtbayern angeworben wurden, bot die günstigste Gelegenheit. Durch Bestechung einer subalternen Persönlichkeit ließ es sich sicherlich erreichen, einen im Militärhospital zu München gestorbenen Ausländer dem dortigen protestantischen Pfarramt als Ernst Bl. zu melden. Als dies geglückt war, gelangte wohl eine Benachrichtigung von München an die Auftraggeber nach Karlsruhe. Die Reichsgräfin Hoch-
berg, Großherzog Ludwig, vielleicht auch andere Personen, die bei der Unterschiebung von 1812 beteiligt waren, waren 1833 nicht mehr am Leben. Man wußte nur noch davon, daß das untergeschobene Kind Johann Ernst mehrere Vornamen hatte, daß der in der Familie Bl. aufgezogene Prinz anfangs Ernst und später Kaspar genannt wurde. Deshalb beging man den Irrtum, den Namen Kaspar Ernst zu bilden, und teilte unter diesem Namen 1833 den angeblichen Tod des ehemaligen Tauschkindes dem Pfarramt zu Karlsruhe mit. Das Pfarramt erledigte den Auftrag, der von Hofkreisen ausgegangen sein mag, in der Weise, daß es, wie gezeigt, die unbestimmt gehaltene Mitteilung in das Sterberegister eintrug. Soweit Klees wohlbegründete Annahme. Eine Musterungsbehörde wie heute, hat es damals noch nicht gegeben, ebensowenig Standesämter. Das Militär suchte sich deshalb anhand der kirchlichen Matrikel die Rekrutenaspiranten des jeweiligen Jahrgangs heraus und rief sie dann zu den Fahnen. Nach dem Karlsruher Taufregister, in dem üblicherweise der Todesvermerk auswärts Verstorbener eingetragen wurde, der aber bei Johann Ernst Jakob fehlte, lebte dieser also noch im Jahre 1833. Deshalb also die ganze Aktion zwischen Karlsruhe und München. Aber lebte denn dieser Kaspar Ernst Blochmann wirklich noch? Hat es den Soldaten Blochmann oder Blokmann überhaupt je gegeben? Bis zu diesem Stand der Forschung konnte von einer äußerst überzeugenden Hypothese gesprochen werden, der die Annahme zugrunde liegt, daß die Todesdaten eines Soldaten Blochmann oder Blokmann Fälschung sind. Kann dafür aber der Beweis angetreten werden, dann wird die Hypothese zur Gewißheit. Klee hat auch diesen Beweis angetreten. Aus diesem Grunde hatte er an das Münchner Kriegsarchiv geschrieben und folgende Antwort erhalten: Der Name Blochmann kommt in den namentlichen Listen, die Soldaten, Zivilisten, In- und Ausländer umfassen, nicht vor. Auch die vollständig erhaltenen Listen der bayerischen Truppenteile, die über die freiwilligen Meldungen ihrer Angehörigen aufgestellt und an das
Kriegsministerium eingereicht wurden, enthalten den Namen nicht. Die Frage, ob BI. dem k. Truppenkorps angehörte, muß daher verneint werden. Es hat also nie einen Soldaten Blochmann gegeben! Er existierte nur als eine Fälschung auf dem Papier! Die oben im Wortlaut zitierte Mitteilung des Münchner Kriegsarchivs dürfte Klees größter Erfolg gewesen sein. Sie rundet seine jahrelangen Forschungsergebnisse zur Gewißheit. Jedenfalls, was den Prinzentausch betrifft. Es hat also um es noch einmal zu unterstreichen - nie und nimmer einen Soldaten Blochmann gegeben! Seine Existenz bestand nur aus Papier und Tinte. Und ebenso sein Tod. Aber auf etwas sei noch hingewiesen. Es betrifft das protestantische Sterberegister von 1833. Wie wir gesehen haben, behauptet der Eintrag Nummer 342, daß am 27. November 1833 jener mysteriöse Soldat Kaspar Ernst Blochmann im fernen München gestorben ist. Des Soldaten Papiernachbarn aber, also die Einträge Nummer 341 und 343, wurden am 16. beziehungsweise am 18. Dezember 1833 beerdigt. Die Nachricht vom Tod des Papiersoldaten Kaspar Ernst mußte demnach bei Pfarrer Deimling zwischen dem 16. und dem 18. Dezember eingetroffen sein, da das Matrikel chronologisch geführt wurde. Zwischen diesen beiden Tagen starb aber in Ansbach Kaspar Hauser, nämlich am 17. Dezember 1833 abends um zehn Uhr, und zwar an den Folgen jener Stichverletzung, die er am 14. Dezember im Hofgarten von einem unbekannten Attentäter erhalten hatte. Das will sagen: Die Killergruppe mußte am 14. Dezember ihrer Sache verdammt sicher gewesen sein und den Tod des Kaspar der Regieführung augenblicklich gemeldet haben, obgleich er in Wahrheit erst drei Tage später starb. Denn würden sie Kaspars realen Tod abgewartet haben, dann hätten sie die Nachricht darüber frühestens am 18. Dezember vormittags von Ansbach aus absenden können. Dies immer vorausgesetzt, sie haben sich der damaligen normalen Möglichkeiten einer Nachrichtenübermittlung bedient, wie beispielsweise Extraoder Eilpost. Ob es allerdings 1833 schon die Möglichkeit gab, Nachrichten mit Hilfe einer Brieftaube zu übermitteln, entzieht sich meiner
Kenntnis. Mögen Fachleute auf diesem Gebiet darüber urteilen. Die Luftlinie Ansbach - Karlsruhe beträgt so an die 150 Kilometer. Klees Recherchen haben ferner ergeben, daß keiner von den Knaben, die zwischen August und Oktober 1812 in Karlsruhe oder in einem der Vororte geboren wurden, für eine Vertauschung infrage kam. Jedenfalls ergeben deren Matrikeleinträge keinerlei Anhaltspunkte dafür. War nun Johann Ernst Jakob Blochmann das unterschobene Kind - wofür ja alles spricht -, so liegt die Vermutung greifbar, daß der Prinz "vom Schloß nebenan" in der Familie Blochmann anstelle des vertauschten Sterblings geblieben ist. Dort wird er unter dem Namen Ernst gelebt und gespielt haben wie alle Blochmann-Kinder und deren Nachbarn - ein Bub unter anderen, ein kleiner Karlsruher, der seine Freude am Murmelspielen hatte und sicher mit Begeisterung hinter der Regimentsmusik hergelaufen ist, wenn sie bei Feierlichkeiten aufgezogen ist. Und was die Blochmanns selbst betrifft, so dürfte es der Reichsgräfin nicht schwergefallen sein, von ihren beiden Untertanen die Erlaubnis für die Hergabe des sterbenskranken Kindes zu erwirken. Das Verhältnis zwischen Brötchengeber und Arbeitnehmer war damals autoritär-devot. Ein Wink der Reichsgräfin war soviel wie ein Befehl. Und wenn dazu noch einige Louisdors als Handgeld fürs erste ins Gewissen geklappert haben, dann war es sicher weich und aufnahmefähig gestimmt. Weiter Sorge tragen werde man selbstverständlich für den Buben, von dem sie natürlich nicht wußten, daß es der leibhaftige Erbprinz ist, den man gegen ihren Sterbling ausgetauscht hat. Alimente haben sie also sicher bekommen, die Blochmanns. Die Reichsgräfin oder einer ihrer Handlanger wird ihnen halt gesagt haben, sie nähmen sich da der Frucht eines Fehltritts an, den eine hochgestellte Persönlichkeit sich erlaubt hat. Mehr zu fragen werden sich die kleinen Leute, von der Reichsgräfin abhängig, nicht getraut haben. Und ihr eigenes Kind, der Sterbling? Nun, für den bestand ja offensichtlich kaum mehr Hoffnung. Aber aus Barmherzigkeit wird man gesagt haben, er komme zu einem letzten Rettungsversuch in ein Kloster, zu frommen Schwestern. Gott hat's gegeben, Gott hat's genommen ...
Blieb für die Reichsgräfin oder deren Vertraute nur noch zu tun übrig, den "neuen" kleinen Blochmann impfen zu lassen, wie sich's für Leute gehört, die von Stand sind und sich wenigstens in der Medizin fortschrittlich geben. Dennoch: Impfzwang bestand noch lange nicht im badischen Musterländle. Erst am 1. Februar 1816 wurde in Karlsruhe die Impfung von der Polizeidirektion und dem Stadtphysikat (heute Gesundheitsamt) angeordnet und kostenlos durchgeführt. Aber bis sich diese Anordnung in der Praxis durchgesetzt hatte, vergingen noch viele, viele Jahre. Die einfachen Leute haben etwas gegen solche Neuerungen, vielleicht aus einem gesunden, auf Erfahrung basierenden Mißtrauen heraus. Erinnert sei nur an die alljährliche Grippeschutzimpfung in der Bundesrepublik. Noch heute lassen sich die wenigsten gegen Grippe vorbeugend impfen - trotz aller Aufklärung. Aber Kaspar, der damals wahrscheinlich Ernst Blochmann hieß, wurde geimpft. Das steht fest. Und wahrscheinlich war dies gleich bei seiner ersten Zeit in der Familie Blochmann. Durchaus möglich, daß der unterschobene Prinz von einem Wilhelm Gebhard, gewesener Kammerdiener und zweiter Leibchirurg des Großherzogs Karl Friedrich, geimpft wurde. Es ist zwar nicht nachweisbar, aber dieser Wilhelm Gebhard, der im Sterbejahr des Prinzen pensioniert wurde und 1826 in Karlsruhe starb, soll bei der Vertauschungsaktion mit von der Partei gewesen sein. Auch ein Kammerdiener Johann Georg Sauerbeck wurde als Mithelfer bei der Vertauschung mehrfach genannt. Noch 1814 war Sauerbeck Kammerdiener bei Markgraf Ludwig; Sauerbeck starb 1827 in Karlsruhe. Ja und dann scheint da noch ein kammerdienerlich dunkler Punkt in der ganzen Sache eine Rolle gespielt zu haben. Gemeint ist der Kammerdiener Daniel Etzler. Im Sterberegister des protestantischen Pfarramtes von Wien steht über diesen Etzler: Totgefunden am 9. Mai 1815 im Allgemeinen Krankenhaus Daniel Etzler, Garderobelakei bei S. Königl. Hoh. dem Großherzog von Baden, gebürtig aus Karlsruhe, verheiratet, 32 Jahre, beerdigt am 10. Mai 1815 auf dem Währinger Gottesacker. Eingesegnet von M. Schöne.
Etzler wurde also ungefähr zu der Zeit beerdigt, in der Badens Erbprinz alias Ernst Blochmann von dieser Familie umquartiert wurde nach Beuggen am Hochrhein. Ein Zufall? Wußte er zuviel? Hatte er Angst vor einem Entdecktwerden? Hat er sich deshalb umgebracht? Jedenfalls ist dieser Daniel Etzler bereits im März 1812, so lese ich bei Klee, als Kammerlakai des Großherzogs nachzuweisen. Und im übrigen hat Etzlers Frau am 30. März 1811 ein Kind zur Welt gebracht. Ein Mädchen. Dieses Kind kommt für eine Vertauschung natürlich nicht infrage. Ebensowenig wie einige andere Kinder des Jahrgangs 1812. Nur einer blieb im Sieb der Nachforschungen als mögliches Tauschobjekt: Johann Ernst Blochmann. Für ihn auch konnte als einzigem ein Indizienbeweis für die stattgefundene Unterschiebung erbracht werden. Daniel Etzler erschoß sich, um's direkt zu sagen, am 9. Mai 1815, während des Wiener Kongresses. Die Nachricht davon erhielt Großherzog Karl aus dem Munde des badischen Ministers Hacke, der ebenfalls, so wird vermutet, durch Freitod aus dein Leben geschieden sein soll. Sofort nach Erhalt der Mitteilung vom Freitod des Kammerdieners in Wien, wurde angenommen, er habe seinem Herrn, dem Großherzog Karl, Gift verabreicht, und zwar kein sofort tödlich wirkendes, sondern ein "schleichendes". Mögen Toxikologen darüber befinden, ob es solche Mittel im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts bereits gegeben hat. Mehrfach bezeugte Tatsache ist jedenfalls, daß sich der Großherzog gerade an diesem Tage mehrmals übergeben mußte. Es war ihm speiübel, er fühlte sich höchst unwohl und kränkelte. Bei seinem Lebenswandel konnten diese Symptome allerdings auch auf etwas anderes zurückgeführt werden. Eine hemmungslos durchzechte Nacht etwa. Tatsache ist ferner, daß in dieser ganzen Affäre definitiv nie etwas herauskam. Bis heute wissen wir nicht, weshalb sich dieser Kammerlakai die Pistole an die Schläfe gesetzt hat. Hat Etzler den Großherzog vergiftet, und wenn ja, in wessen Auftrag? Ein weiteres Faktum soll sein: Etzler hatte am Tag vor seinem Freitod einen Brief an seine Familie in den Karlsruher Postsack geworfen. Das hatte man im Nu herausbekommen. Auf welche Weise ist ebenfalls nie bekannt geworden. Karl befahl jedenfalls sofort, der
Postkutsche nachzureiten, den Brief herauszutun und ihn schleunigst zurückzubringen. Ein Feldjägeroffizier wurde losgehetzt, der den Schrieb auch tatsächlich brachte. Der Großherzog, und nur er, las den Brief, wurde blaß und bestürzt, las ihn nochmals und verbrannte den Brief dann. Niemand außer ihm, wie gesagt, hatte ihn lesen dürfen. Kein Wort kam je darüber über seine Lippen. Das alles ist höchst sonderbar, aber von Zeugen verbürgt. Nur behauptete er von da an, und zwar bis an das Ende seiner Tage - eine Frist, die schon drei Jahre später ablief: man habe ihn vergiftet, und auch seine beiden Söhne vernichtet. Er machte dabei wiederholt Andeutungen in Richtung Bayern, wo er seine Hauptfeinde befindlich meinte. Von seiner Vergiftungsmanie ließ er sich nicht abbringen, von niemandem. Aber mit dieser seiner Überzeugung stand er nicht alleine da. Auch seine Frau Stephanie, ja so ziemlich die ganze weitreichende Familie und auch Mächtige und weniger Mächtige außerhalb des Familienkreises waren davon überzeugt. Tatsächlich wurde Großherzog Karl von diesem Mai 1815 an nie mehr richtig gesund, nicht einmal vorübergehend. Er siechte dahin. Eine Folge für den schwachen Karl: Er soff und lotterte noch mehr als je zuvor. Ahnte er sein weiteres Schicksal? Sicher wußte er um seine Schwächen, war darüber im Bilde. Eine weitere mysteriöse Angelegenheit gab es in Wien, wo sich der Großherzog mit einer stattlichen Suite des Kongresses wegen aufhielt. Im gleichen Mai 1815, als sich der Kammerdiener Etzler die Pistole an den Kopf drückte und abgefeuert hat - just in diesem hochbrisanten Wonnemonat, in der des Korsen europäischer Nachlaß unter den Hammer der Siegermächte kam, flüchtete der badische Polizeidirektor nach Frankreich. Ja, verehrter Leser, Sie haben richtig gehört: Der Herr Baron von Haynau, den wir noch vor nicht allzulanger Zeit mit der Frohbotschaft der Prinzengeburt gen Moskau zu Napoleon haben eilen sehen - justament dieser Baron flüchtete wie ein verfolgter Verbrecher - nur daß ihn keiner verfolgte - nach Frankreich hinein, in das Land seiner Sympathien. Warum? Wir wissen es nicht. Bis zum heutigen Tag wissen wir es nicht, so wie auch der Hauser-Fall bis ins allerletzte Detail noch nicht geklärt ist. Die Archive schweigen darüber. Hat seine Flucht etwas zu tun mit dem angeblichen oder tat-
sächlich erfolgten Giftanschlag des Kammerdieners Etzler? Und: War dieser Etzler gleich gar und ebenfalls bei der Kindsvertauschung mit von der Partie? War auch Baron von Haynau in die Sache verwickelt? Vielleicht Mitwisser bei der Vertauschungsaktion und Auftraggeber beim Giftanschlag? Vermutungen alles, Kombinationen. Aber irgendein Grund für die Flucht quasi über Nacht mußte doch vorgelegen haben. Die Vermutungen wurden nicht weniger durch die bis heute anhaltende totale Nachrichtensperre. Aus purer Verehrung für die Grande Nation wird dieser Polizeidirektor Haynau nicht über den Rhein geflohen sein. Das steht fest. Seine Liebe zu Frankreich könnte eines der Motive gewesen sein, aber beileibe nicht das Hauptmotiv seiner Flucht bei Nacht und Nebel. Aber selbst des Barons angenommenes Nebenmotiv erlaubt uns einen Einblick in die politische Struktur, um nicht zu sagen in die Gefühlswelt jener Jahre. Das Pro und Contra zog sich quer durch den badischen Hof. So galt Markgraf Ludwig als der Vertreter der Preußenpartei am Hofe. Und darauf, auf seine Dienstjahre als preußischer General, war Ludwig stolz. Immerhin hatte er es zum Generalmajor und rund 300000 Gulden an Schulden im Nordosten des Vaterlandes gebracht. Was seinen Vater, Nestor Karl Friedrich, freilich nicht hinderte, in ihm dessenungeachtet seinen auserkorenen Liebling zu sehen. So stellte er seinen geliebten Ludwig an die Spitze des Finanzrates, machte also den Bock zum Gärtner, und überließ ihm auch das badische Forstwesen. Freilich, auf Druck Napoleons mußte er später diese Ämter niederlegen. Napoleon wußte, daß Ludwig ihn haßte. Karl Friedrich selbst, Badens erster Großherzog, von Napoleon dazu gemacht, war Neutralist. Weniger aus Überzeugung, denn aus politischer Notwendigkeit heraus. Er wollte, Napoleon hin, Zar her, sein Ländle halten, allen Stürmen der Zeit zum Trotz, und wenn möglich sogar noch vergrößern. Seine Verbeugungen machte er nach allen Seiten hin - je nachdem, wie es im Moment die Lage für Baden erforderte. Sein Enkelsohn Karl hingegen, der zweite Großherzog, war frankreichfreundlich, und dies nicht erst durch seine Gemahlin, die "Fille de France" Stephanie. Aber sicher hat diese Heirat - Stephanie brachte übrigens anderthalb Millionen Mitgift in die Ehe - seine war-
men Gefühle für das Frankreich von vor der Großen Revolution noch gesteigert; so viel Geld kann die Gefühle überraschend schnell in gewisse Bahnen lenken. Aber vielleicht war dies bei Karl tatsächlich nicht nötig. Er war übrigens der letzte deutsche Fürst, der sich auf Druck des Zaren von Napoleon lossagte, woraufhin der französische Gesandte in Karlsruhe seine Pässe verlangte und die Koffer packte. Amalie aber, des Nestors Schwiegertochter, Karls Mutter, war in ihrer politischen Einstellung das Gegenteil ihres Sohnes. Sie haßte Napoleon und alles, was mit ihm zu tun hatte. Und deshalb haßte sie auch ihre Schwiegertochter Stephanie und wahrscheinlich auch deren Kinder. Für sie war die Heirat ihres Sohnes mit der Französin Stephanie eh allenfalls eine "Messaliance". Kaum war Napoleons Stern verloschen, drängte sie deshalb auf Scheidung. Auch der Schwiegersohn dieser sich mitunter kosmopolitisch gebenden Fürstin, Zar Alexander, verlangte die Scheidung von Stephanie. Großherzog Karl jedoch zeigte überraschenderweise Haltung und lehnte eine Trennung von seiner Frau ab. Dabei stärkte ihm der zweite Hochberg-Sohn Wilhelm den Rücken - ein anständiger Kerl, dieser Wilhelm. Durch sein offenes Wesen und sein geschicktes Auftreten gewann er den Zaren dazu, von dieser ständigen Drängerei auf Scheidung abzusehen. Kein Wunder, daß Stephanie diesen intelligenten und auch äußerlich stattlichen Grafen Wilhelm von Hochberg in ihr Herz schloß, sich mit ihm in treuer Freundschaft verbunden fühlte. Gegen diesen Wilhelm hat sich im übrigen nie ein Verdacht erhoben. Und er dürfte auch über allem Verdacht erhaben sein. Er war seinem Bruder Leopold, der an Hausers Stelle einst den Thron drücken sollte, in jeder Beziehung haushoch überlegen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird also der kleine Prinz, wie schon dargelegt, aus der fürstlichen Wiege im Erdgeschoß eines Seitenflügels der Residenz (übrigens mit direktem Zugang zum Garten) in die Arme-Leute-Wiege der Blochmanns übergewechselt worden sein. Wohin sollte man sonst mit einem 18 Tage alten Säugling? Sollte ihn etwa die Hochberg unterm Sofa verstekken? Nein, es darf als sicher gelten, daß er zu Blochmanns in die noch
warme Wiege gelegt wurde. Dies war im Sinne der Täter sowohl der sicherste als auch der unauffälligste Platz. Dort wuchs er die ersten beiden Jahre seines Lebens auf, gemeinsam mit seinen drei "Geschwistern", den Blochmann-Buben. Dann geschah etwas Unerwartetes: Elisabeth Blochmann, eine geborene Späth, wie wir schon wissen, erlag im Januar 1815 einem "Brustübel"; wahrscheinlich war es Brustkrebs. Sie war 34 Jahre alt geworden. Vater Blochmann sah sich alleine mit seinen vier Kindern. Ein größeres Unglück konnte dieser Familie mitten im Winter nicht widerfahren. Was nun? Wie die vier kleinen Mäuler satt kriegen? Für sie kochen, waschen, nähen, flicken, sie reinlich halten und erziehen? Christian Blochmann muß vor einer schier unüberwindlichen Aufgabe gestanden haben. Und was vor allem soll nun mit dem nicht einmal ganz zweieinhalbjährigen Ernst, dem jüngsten der Buben, für den die Alimente immer pünktlich eintrafen - was soll mit dem kleinen Prinzen nun geschehen? Zu dieser Zeit war die Reichsgräfin in ihrem Karlsruher Stadtpalais soviel wie entmachtet, gedemütigt selbst von ihren Söhnen. Und wenn nicht schon früher, so wird sie sich dann spätestens im Januar oder Februar 1815, nach dem Tod der Elisabeth Blochmann, ihrem alten Spezi in dunklen Affären und Bettgeschichten, dem Markgrafen Ludwig, anvertraut haben. Es kann aber auch durchaus sein, wie schon einmal angedeutet, daß Ludwig, der Intrigant und Weiberheld, von Anfang an in die Vertauschungsaktion eingeweiht war. Freilich liegt es in diesem Falle nahe, daß er sich zu keinerlei Aktivitäten hat hinreißen lassen. Dazu war er viel zu schlau, zu gerissen, zu berechnend und vielleicht sogar weitschauend. Ein Louis, wie er gebaut war, würde sich nie in die Hände eines anderen geben. Ganz im Gegenteil war er immer bestrebt, andere in die Hand zu bekommen. Er gehörte zu den Menschen, die ihrem eigenen Schatten nicht trauen - woran der alte Gauner wahrscheinlich recht getan hat. Er war der Prototyp jener Spezies, die es immer verstehen wird, den Nichtsahnenden zu spielen und die Hände "sauber" und trocken zu halten. In Wahrheit aber werden bei ihm die Fäden zusammengelaufen sein.
Von der Hochberg konnte also die Initiative schwerlich mehr ausgegangen sein, den kleinen Prinzen alias Ernst Blochmann aus dem mutterlosen Hause zu entfernen. Dazu war sie zu einflußlos geworden. Der Niedergang erreichte im nachfolgenden Jahr seinen Höhepunkt: Ihre eigenen Söhne taten sich zusammen - es blieb ihnen nichts mehr anderes übrig - und ließen ihre Mutter entmündigen. Ursache war vor allem die skandalöse Schuldenwirtschaft der Reichsgräfin. Dadurch hat sie auch dem Ansehen ihrer prächtig herangewachsenen Söhne Leopold, Wilhelm und Max schwer geschadet. Halb Karlsruhe wußte es ja, daß seit dem Tode ihres Mannes, des Nestors, die Gläubiger bei ihr quasi Stammgäste waren. Die Beschlagnahmung ihrer Einkünfte hörten kaum mehr auf. Das traurigste Kapitel dieses "Bettlers auf dem Gaul" - man kann sich dennoch eines gewissen Mitleids nicht erwehren - war der 17. September 1816. Die Bürger der Residenzstadt mußten an diesem Tage staunend und manche sicher auch schadenfroh der "Carlsruher Zeitung" eine "Warnung" entnehmen des Inhalts: Schulden der Gräfin, die ihr Kurator nicht anerkenne, werden nicht bezahlt. Der Grundbesitz der Reichsgräfin war in Zwangsverwaltung gekommen, ihre Fabriken liquidiert. Ihre Söhne sicherten ihr ein Jahreseinkommen von 10000 Gulden zu. Das ist noch immer ein ganz schöner Batzen Geld, für den kleinen Mann von damals ein großes, ein unvorstellbares Vermögen. Die Reichsgräfin Hochberg rächte sich für alle diese Demütigungen, die sie durch ihren hemmungslosen Machtdrang und ihren unbezähmbaren Ehrgeiz selbst herbeigeführt hat, auf ihre Art: sie bezichtigte sich selbst des Ehebruchs! Nach dem Hauser Autor Flake wurde noch lange nach ihrem 1820 erfolgten Tod nach einem Schriftstück gesucht, und zwar bezeichnenderweise in bayerischem Auftrag, das sie diktiert haben sollte und dessen Tenor lautete, wenigstens der jüngste Sohn Max, geboren im Falkenhaus zu Triesdorf bei Ansbach, stamme nicht von Karl Friedrich, dem Nestor Badens. Nach Triesdorf aber war sie damals mit dem Hofstaat aus Furcht vor der französischen Revolutionsarmee geflohen. In der Literatur gehört Triesdorf übrigens zu jenen Orten, die Kaspar Hauser bei seiner Umquartierung
von Beuggen-Hochsal nach Südostbayern als vorübergehenden Aufenthaltsort berührt haben soll. So tief kann ein Mensch fallen, der alles will, zum Schluß aber nichts mehr hat. Wie gewonnen, so zerronnen. Fluch der bösen Tat. Dabei entbehrt ihr persönlicher Niedergang nicht einer gewissen Tragik. Denn für sich selbst hat sie nicht gekämpft und intrigiert und Schlimmeres mehr. Ihren Söhnen zuliebe tat sie alles. Sie sollten thronfolgeberechtigt werden. Und das hat sie ja auch geschafft, wobei 1817 noch ein Erbprinz der Zähringer über die Klinge springen mußte - Fluch, wie gesagt, einer bösen Tat. Aber, um es gleich vorweg zu sagen, damit dürfte sie nichts mehr zu tun gehabt haben. Ihre Zeit war damals bereits vorbei; sie war macht- und einflußlos geworden, wie schon dargelegt. Aber wie tragisch muß es für sie gewesen sein, als ihre eigenen Söhne sie zu Fall bringen mußten - sie, für die sie einst ausgezogen und bereit war, alles, aber auch alles zu tun, um ihnen die Thronfähigkeit zu erstreiten. Mit allen Mitteln. Ohne Gnade und Barmherzigkeit. Wenn also von der Reichsgräfin Hochberg keine Initiative mehr ausgehen konnte, den kleinen Prinzen aus dem Blochmann-Haus zu entfernen - von wem kam dann die Initiative? Es kann kaum anders sein, als daß Badens bedeutendster Politiker und Staatsmann eingegriffen hat: Staatsminister Sigmund von Reitzenstein. Für ihn mußte mehr auf dem Spiele stehen als Wehe und Geschick eines zweijährigen Buben, und wenn er tausendmal der leibhaftige Erbprinz von Baden war. Der Staat an sich war in Gefahr, in tödlicher Gefahr! Nicht auszudenken, was passiert, wenn die Vertauschungsaktion von anno 1812 publik werden sollte! Dies setzt aber voraus, daß von Reitzenstein in das Majestätsverbrechen eingeweiht worden war - sicher später. Nach der Tat. Von der Hochberg, um den Staat wegen ihrer immensen Schulden zu erpressen, auf jeden Fall aber zu nötigen? Zutreffend ist jedenfalls, daß sie sich mit allen Mitteln bemühte, ihre Schulden mögen von der Staatskasse bezahlt werden. Die aber war nachweisbar zu jener Zeit ziemlich leer, so daß ihre Schulden von dieser Seite auch beim besten Willen nicht hätten gedeckt werden
können. Hat Reitzenstein, so sei gefragt, das Geheimnis von 1812 von Markgraf Ludwig, dem Ränkemeister erfahren? Hat er Reitzenstein in das Geheimnis eingeweiht? Niemand weiß bis zum heutigen Tag genaues darüber. Aber es scheint, daß der getreue Reitzenstein es war, der Schöpfer des modernen Badens nach damaligen Begriffen - daß er es war, der eingegriffen und den Buben aus der Schußlinie hat schaffen lassen. Dabei brauchte er selbst gar nicht in Erscheinung zu treten. Dies ist sogar soviel wie sicher. Denn wo gab es das, daß ein Staatsminister höchstpersönlich die Überführung eines angeblichen Arbeiterkindes in die Wege leitet! Zurückhaltung war aber erst recht geboten, wenn er sehr wohl wußte, wer dieser kleine Blochmann in Wahrheit war. Wozu stand ihm ein Hennenhofer zur Verfügung! Ganz egal nun, ob der Bub wirklich der Erbprinz war oder nur zum Zwecke einer Erpressung eventuell vorgetäuscht: es mußte gehandelt werden, ehe aus der Not des Christoph Blochmann, des Witwers, Sorgen und Laute in unberufene Ohren hätten kommen können. Aber wohin mit dem zweijährigen Buben? Und das noch im Winter. Zunächst einmal, so wird man sich gesagt haben, möglichst weit weg von der Residenzstadt mit ihren Klatschmäulern: nach Beuggen an die äußerste badische Südwestgrenze. Wir kennen es schon von Kaspars Wappentraum her. Einen zweijährigen Jungen kann man aber nicht verschicken wie ein Postpaket. Will heißen, ein Mann kann mit so einem Kind beim besten Willen nicht recht viel anfangen. Also wird eine weibliche Person engagiert worden sein, den schwierigen Transport durchzuführen. Ob dies noch im Winter 1815 geschah, ist unbekannt geblieben. Wir glauben aber, die Dame mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu kennen, die den Buben nach Beuggen schaffte und von da an jahrelang seine Gouvernante geblieben ist. Inwieweit aber bei dieser Aktion der spätere Major Hennenhofer beteiligt war, wissen wir nicht genau. Das Geheimnis der steilen Karriere dieses Parvenüs bestand ja gerade darin, Wissen zu sammeln und zum gegebenen Anlaß seine Trümpfe auszuspielen. Auch bei diesem Hennenhofer hieß es: Wissen ist Macht. Das war gleichsam sein Hausspruch, dem er auf seine Art ein Leben lang treu geblieben ist. Er ist aus der Hauser-Geschichte nicht wegzudenken. Beim Ende
Kaspars hat er jedenfalls nicht nur kräftig mitgeflochten, sondern sogar die Regie geführt. Und zwar von seinem Ruhesitz Mahlberg aus. Von Mahlberg aus ließ dieser Hennenhofer seine Puppen tanzen. Und er hatte ja eine ganze Anzahl davon in seinen feingliedrigen Fingern - Leute, die er auf seine ihm eigene Art und Weise längst gegängelt hat, um die Puppen dort einzusetzen, wo er sie im Moment gerade brauchte. Um's auch hier zu sagen: dieser Hennenhofer war von seinen Zeitgenossen, gerade auch am Hof, mehr gefürchtet als gehaßt. Selbst seine Neider - und er hatte eine ganze Menge davon - konnten ihm einen gewissen Respekt nicht versagen, mußten sein schwarzes Talent insgeheim anerkennen. Es ist auch nicht auszuschließen, daß Großherzog Ludwig, später, und dann noch mehr, auch Großherzog Leopold, vor Hennenhofer und dessen rabenschwarzer Kunst, vor seinem gesammelten Wissen, schlicht und einfach gesagt, Angst hatten. Aber welch ein Herrscher kann auf Leute wie einen Hennenhofer schon verzichten! Damals nicht und auch heute nicht! Leute seines Schlages sind es ja, die die Dreckarbeit der Herrschenden auf ihre Kappe nehmen, damit die gekrönten Häupter strahlend weiß bleiben. Und Männer vom Schlage eines Hennenhofer rechneten es sich denn schon immer als eine besondere Auszeichnung, als eine hohe Ehre an, bedingungslos und treu zu dienen, zur Stange zu halten - auch wenn dabei das Recht und die Gerechtigkeit etwas zu kurz kommen. Das war so und wird auch so bleiben. Hennenhofers fackeln nicht lange, wenn es gilt, bedingungslosen Gehorsam zu demonstrieren. Auch das kennen wir von den sogenannten Kriegsverbrecherprozessen her.
5. Als der Kongreß tanzte Adolf Hitler und Napoleon Restaurative Süppchen aus des Korsen Konkursmasse Großherzog Karl tobt sich aus - An der schönen blauen Donau Der Zar hat das große Sagen - Markgraf Ludwig und der "Sauriemen" Kaspar zieht nach Beuggen um - Eine Gouvernante namens Dalbonne Angst vor dem Schafott Metternich und der Kaiser schalten sich ein Die Maid aus Triest - Bayerns Königin Karoline und ihre badische Heimat Minister von Reitzenstein führt Regie Hochberg-Söhne lassen ihre total verschuldete Mutter entmündigen Rätselhafte Flaschenpost - Der tote Bandit im Rhein Anagramm wird dechiffriert Markgräfin Amalie von Baden haßt ihre Schwiegertochter Stephanie mal anders gesehen - Arbeiterkind in der Fürstengruft "Kaspar Hauser, eheliches Kind fürstlicher Eltern" Großherzog Karl stirbt - Die Marotten eines Fürsten Napoleon Bonaparte, die bedeutendste politische und militärische Persönlichkeit des beginnenden 19. Jahrhunderts, ist in seinem Gesamtvorhaben einer Universalmonarchie für Europa gescheitert. Er ging an Rußland und seinen schier endlosen Räumen zugrunde, wie 150 Jahre danach Adolf Hitler mit seinen Träumen von der Integration Europas bis hin zum Ural. Zugrunde ging mit Napoleon die alte Welt der europäischen Fürsten. Mit dieser vornapoleonischen Zeit war es endgültig vorbei. Auf diese Weise hat der Korse dem alten
Europa doch noch seinen geschichtlichen Stempel aufgedrückt. Wien hieß die Stadt und Franz der Kaiser, der dort zu Füßen des Stephansdomes mit dem Doppeladler regierte. Hier strömte die alte Welt zusammen, um aus der napoleonischen Konkursmasse ein restauratives Süppchen zu kochen. Jeder für sich natürlich. Denn wenn es um das Ego der Landesfürsten ging, kannte keiner mehr Deutschland, schrumpfte dieser Begriff zu einem Phantom zusammen. Im September 1814 begann das Puzzelspiel um Länder, Quadratmeilen und Untertanen, die wie immer als Statisten der Geschichte zu fungieren hatten. Die vielen Herren von eines Gottes Gnaden pokerten um Deutschland und einen Teil Europas. Wien, diese alte Festung des Abendlandes, hatte sich gut vorbereitet auf den Ansturm seiner illustren Gäste. Aus vielen Nutznießern Napoleons waren gleichsam über Nacht Geschädigte des Korsen geworden! Der mächtigste Mann Europas war nunmehr der Zar Alexander von Rußland. Um ihn herum tanzten die Fürstenpuppen wie einst vor dem Korsen. Und die Gemahlin dieses Alexanders, die Zarin, war die Tochter der badischen Markgräfin Amalie. Deren Sohn, der regierende Großherzog Karl, war, wie schon angedeutet, mit einer stattlichen Suite an der Donau erschienen; allerdings ohne Staatsminister von Reitzenstein, damals 48 Jahre alt. Er war in Karlsruhe geblieben und bewachte dort gleichsam das Großherzogtum. Karl wußte es in besten Händen. Auch Wilhelm Graf von Hochberg war mit von der Partie an die schöne blaue Donau. Großherzog Karl ging es auf dem Wiener Kongreß vor allem darum, den Besitz von Heidelberg und Mannheim gegen die bayerischen Ansprüche zu verteidigen; ebenso den Breisgau, den die Österreicher selbst gerne eingesäckelt hätten. Doch um es gleich zu sagen: Baden verlor auf dem Wiener Kongreß soviel wie nichts von seinen Ländereien. Dafür sorgte weniger Großherzog Karl, als dessen Schwager, der mächtige Zar Alexander und dessen Gattin Elisabeth, die gewesene badische Prinzessin. Sonderlich schien sich Karl auch gar nicht angestrengt zu haben. Das politische Parkett war nicht seine Welt.
Dafür stürzte er sich in das Gewimmele des tanzenden Kongresses. Bei Otto Flake lese ich: Kaiser Franz las täglich die Geheimberichte seiner Polizei und fand den Namen des Großherzogs oft darin, auch die Bemerkung, daß schwere Störungen des Gesundheitszustandes aufträten. Natürlich war es auch der umsichtigen, vorausplanenden Diplomatie der badischen Minister - allen voran Reitzensteins - zu verdanken, daß Baden so ungerupft davonkam im alten Wien, in dessen Mauern zur Zeit des Kongresses der Titan Beethoven lebte und schaffte. Baden behielt sein Gebiet mit einer Einwohnerzahl von annähernd einer Million. Es darf ruhig gesagt sein: von Reitzenstein hat es verstanden, Errungenes zu bewahren. Aber wie gesagt, er war nicht auf dem Wiener Kongreß dabei. Für ihn trat Minister von Hacke auf, von dem wir schon vernommen haben - eine konturlose Persönlichkeit übrigens. Aber er scheint einer der ganz wenigen gewesen zu sein, der, wenn nicht tief in die Hauser-Sache verstrickt, so zumindest zum intimen Kreis der Wissenden gehört hat. Nicht mit von der Partie in Wien war die Großherzogin Stephanie. Als Verwandte des "Kriegsverbrechers" Napoleon war sie nicht zugelassen worden, wie sie überhaupt von allen Seiten feindschaftlich behandelt wurde - am meisten von ihrer Schwiegermutter Amalie und deren Töchtern nebst Gatten. Ihrem Mann wird - soweit wir ihn kennen - das Fernbleiben seiner Frau nicht allzuviel Kummer bereitet haben. Er konnte sich umso hemmungsloser austoben. Möglichkeiten dazu gab's "noch und nöcher". Aus allen Teilen Europas war leichtfüßiges Weibervolk samt seinen Zuhältern nach Wien geströmt, um den Fürstlichkeiten und ihrem Anhang die Zeit zwischen der Politik so angenehm wie möglich zu machen. So dämmerte Karl dahin: zwischen Suff, Weibern und unerklärlicher Todesangst. Der einstmals in russischen Diensten gewesene General von Tettenborn - einer der berüchtigsten Verschwender seiner Zeit; er hinterließ Millionen von Schulden - und jetzige badische Gesandte in Wien mußte bei Karls Gelagen die Flaschen eigenhändig öffnen und vom ersten Schoppen
Wein kosten. So groß war Karls Angst vor Giftanschlägen. Ein trauriges Spiel, das in die Niederungen der Politik einzureihen ist. Aber Karls Angst, seine furchtbare Angst vor einem Giftanschlag, ist von Zeitgenossen verbürgt. Demgegenüber hat Wilhelm von Hochberg, der wohl intelligenteste der Hochberg-Söhne, in Wien eine gute Figur gemacht. In jeder Beziehung: diplomatisch-politisch und soldatisch. Auf den Zaren und die Zarin machte er einen überaus angenehmen Eindruck. Schließlich war es der Zarin aller Reußen, die ihre badischen Gefühle bewahrt hat, nicht gleichgültig, was aus ihrem einstigen Vaterland werden soll. Wenn ihre Zähringer Anverwandten ohne Erben sterben sollten, dann wollten ja die politischen Kontrahenten, allen voran Bayern, die Städte Mannheim, Heidelberg und Freiburg wieder aus dem Badenlande herausreißen. Das aber durfte auch in ihren Augen nicht geschehen. Da wäre die Thronfolge der Hochberg-Söhne sozusagen das kleinere Übel. Sie sprach darüber mit dem Zaren, der ihr versprach, diese für Baden entscheidende Frage zu klären. Die Zarin scheint es auch gewesen zu sein, die ihrem Bruderherzen Karl nahelegte, seine politischen Bitten für den Zaren schriftlich fixieren zu lassen. Jedoch: es kostet riesige Anstrengungen, Großherzog Karl zu bewegen, das Schriftstück zu unterschreiben. Ein Jammer das Ganze! Welch eine gekrönte Null! Das zum Wrack erzogene Produkt einer herrschsüchtigen Mutter, einer Frau, die so herrschsüchtig war, daß sie ihre Muttergefühle zu unterdrücken imstande war. Wozu "Politik" - was immer darunter zu verstehen ist - den Menschen machen kann! Zum Herrscher sicher nicht geboren und auch noch dagegen erzogen, war Karl ein armer Hund, wenn man's genau nimmt. Entsprechend waren seine Waffen. Als der schachernde, lachende und tanzende Kongreß durch die Flucht Napoleons aus Elba zu einem vor Angst schlotternden Ameisenhaufen wurde und ein neuer Feldzug notwendig war, rächte sich Karl auf seine Art: Zum Befehlshaber des badischen Truppenkorps ernannte er keineswegs seinen soldatisch hochbegabten Halbbruder Wilhelm, der darauf Anspruch gehabt hätte. Ein anderer wurde Wilhelm vorgezogen. Die Rache einer Niete.
Politisch-menschlichen Schwankungen war auch der Zar ausgesetzt. Wilhelm von Hochberg mußte dies wie viele andere zu seinem Bedauern feststellen. Denn nach der Wiederaufnahme des Kongresses im Herbst 1815 unterschrieb der russische Bevollmächtigte ein Abkommen der fünf Großmächte, wozu die Ansprüche Bayerns auf die Kurpfalz und die von Österreich auf den Breisgau anerkannt wurden für den Fall, daß in Baden die Thronfolge der Hochberg-Söhne akut werden sollte; wir haben darüber schon früher vernommen. Aber man höre nun und staune: Großherzog Karl, der Schwache, raffte sich zum Protest gegen seinen Schwager, den Zaren, auf. Sicher steckte von Reitzenstein dahinter. Aber immerhin! Wilhelm von Hochberg jedoch reiste im Auftrag seines Halbbruders Karl gen Moskau, zum "Befrieder Europas", zum "Helden des Jahrhunderts", wie der Zar im Schreiben des Großherzogs Karl betitelt wurde. Zur Suite Karls in Wien gehörte übrigens auch der spätere Meisterintrigant Hennenhofer, der 1812 - Sie erinnern sich - die Trauerbotschaft vom Ableben des kleinen Prinzen zu Napoleon nach Rußland gebracht hat. Angefangen als Kabinettskurier und Feldjäger hat Hennenhofer am 25. April 1812, ein halbes Jahr vor dem Prinzentod. Mittlerweile hat er es aber verstanden, sich am Hof unentbehrlich zu machen. Auf dem Wiener Kongreß sehen wir ihn bereits als Premierleutnant im Gefolge des Großherzogs. Ein Jahr später war der Senkrechtstarter schon Stabsrittmeister - ein militärischer Rang, obgleich er nie gedient hat. Diese Beförderung kam im Jahre 1816 zustande just in jenem Jahr, in dem die mysteriöse Flaschenpostgeschichte die Runde machte. Dieser Johann Heinrich David Hennenhofer, der wegen seiner überaus schönen Handschrift in den Hofdienst übernommen wurde - so etwas gab es dazumal noch! - war einer der engsten Vertrauten des Großherzogs Karl. Es war einer der wenigen Höflinge, die 1818, beim Thronantritt Ludwigs, ihre Stellungen ungerupft weiterbehalten konnten. Ganz im Gegenteil! Bei Ludwig avancierte er noch weit mehr als bei dessen Vorgänger Karl. Hennenhofer war der intimste Berater des Großherzogs Ludwig, vor allem was Ränke, heikle Missionen, Intrigen und die scheinbar unvermeidlichen Weibergeschichten anbelangte. So besorgte er beispielsweise die gesamte
Privatkorrespondenz Ludwigs. Er kannte die persönlichen Verhältnisse der Höflinge, ja der Fürsten. Außerdem war Hennenhofer Ludwigs Saufkumpan, wenn dieser mal wieder "den Sauriemen losschnallte", und betätigte sich auch als Kuppler seines Herrn und Meisters in dunklen Dingen. Wenn je ein Höfling eine ganz besondere Vertrauensstellung innehatte, so war dies Hennenhofer, der sich 1831, nach dem Tode Ludwigs, als Major aus dem aktiven Hofdienst zurückzog oder zurückweichen mußte, aber dessenungeachtet auch dann noch zur Stelle war, wenn seine Kenntnisse gebraucht wurden. Er starb übrigens im Januar 1850, siebzehn Jahre nach Kaspar Hauser. In breiten Kreisen, vor allem der badischen Bevölkerung, gilt dieser bereits zu Lebzeiten verhaßte Mann noch heute als der Mörder Kaspar Hausers. Dies war er aber mit Sicherheit nicht. Er war der Regisseur. Den Dolch schwang ein anderer. Und noch etwas: Ludwig hatte bereits zu seiner Zeit als Markgraf - es wurde schon einmal angedeutet - ein Verhältnis mit einer Kleinstadtkomödiantin, einer gewissen Werner. Diese Dame hatte zwei Töchter vom Junggesellen Ludwig. Später dann hat er diese Schauspielerin zu einer Gräfin von Langenstein erhoben (wie das damals so ging mit dem Adeln!). Nicht unwichtig aber ist in diesem Zusammenhang, daß die Schwester dieser Gräfin Langenstein unseres Majors Hennenhofer Frau geworden ist. Der Herr und sein Gescherr ... Im Januar 1815 starb also die Elisabeth Blochmann geborene Späth, Mutter dreier Buben und des Ziehjungen vom Schloß. Ob sie und ihr Mann allerdings geahnt haben, wer ihnen da zur Pflege anvertraut worden war, darf stark bezweifelt werden. Man wird den beiden Arbeitersleuten nicht gerade auf die Nase gebunden haben, an ihrem Tische sitze der Erbprinz des Großherzogtums Baden. Aber daß das Kind von Geheimnissen umwittert ist, das wußten sie sicher; und sie wußten auch zu schweigen. Da nun aber Vater Blochmann noch im Herbst gleichen Jahres die Schwester seiner verstorbenen Frau geheiratet hat, dürfte der angebliche Ernst Blochmann spätestens im Frühjahr 1815 aus dem Hause geschafft worden sein. Denn als wieder eine Frau vorm Herde war, fehlte der Sinn und Zweck einer anderweitigen Unterbringung. Gleich nach dem Tod der ersten Frau konnte man
noch sagen, vier Kinder ohne Mutter aufzuziehen, ist für den leidgeplagten Vater eine schiere Unmöglichkeit. Da ist es schon verständlich, wenn der Kleinste, der Ernst, zu Verwandten in die Pflege gegeben wird. Der Erbprinz alias Ernst Blochmann war bei seiner Übersiedlung nach Beuggen am Hochrhein an die zweieinhalb Jahre alt. Unmöglich, wie gesagt, ein Kind dieses Alters auf die lange Reise quer durch das ganze badische Land einem Manne anzuvertrauen. Es ist deshalb mehr als wahrscheinlich, daß für diese Fahrt und den künftigen Aufenthalt in Beuggen, der ehemaligen Deutschherrenordenskomturei wir vernahmen darüber schon in einem der zurückliegenden Kapitel eine Erzieherin, eine Gouvernante verpflichtet wurde. Und wie zum Schluß des vorigen Kapitels angedeutet, glauben wir zu wissen, wer diese Dame war. Ihr Name: Anna Dalbonne. Angeblich soll sie am badischen Hofe Garderobiere der Großherzogin Stephanie gewesen sein - unter anderen Anstellungen, sei angemerkt. "Angeblich" deshalb, weil die Sache mit der Garderobiere der Stephanie noch zu erforschen und nachzuweisen wäre. Sicher ist aber, und zwar einem amtlichen Bericht des Wiener Polizeiarchivs zufolge, daß sie nach einer Erziehung im Kloster in bayerischen Diensten gewesen ist. Bei wem wohl? Die Forschung scheint bislang darüber hinweggegangen zu sein. Manches deutet jedenfalls darauf hin, daß die Dalbonne eine oder vielleicht sogar mehrere Stellungen im Norden Bayerns gehabt hat: im Fränkischen, bei fränkischem Adel, in einem Schloß der näheren oder etwas weiteren Umgebung Nürnbergs. Tatsache ist, daß Anna Dalbonne, auch in Ungarn in Stellung war. Verweilen wir etwas bei dieser abenteuerlichen Dame, die, wenn nicht alles trügt, von 1815 bis 1819 Kaspars Gouvernante gewesen sein dürfte, also an die vier Jahre. Im Leben aber eines Kindes, eines Menschen, der eh nicht älter als 21 Jährlein werden sollte, ist dies wirklich eine lange Zeit. Nach 1820 hat die Dalbonne wieder eine Stelle in Ungarn angenommen. Das ist sicher.
Wieder einmal ist ein Vorgriff auf Jahre, um des besseren Verständnisses willen, nicht zu umgehen. Der geneigte und sicher auch strapazierte Leser sei an die sogenannten ungarischen Sprachversuche mit Kaspar Hauser in Nürnberg erinnert. Dies vorab. Und dann sei hingewiesen auf eine sogenannte Denunziation aus Ungarn - davon war bislang noch nicht die Rede -, die beim Ansbacher Appellationsgericht, dem bekanntlich Staatsrat von Feuerbach vorstand, seit dem Dezember 1829 vorlag. Dezember 1829 - das waren zwei Monate nach dem Rasiermesserattentat auf Kaspar Hauser in Nürnberg. Seltsam immer wieder diese Beziehungen, diese scheinbar zufälligen Aufeinanderfolgen, dieses Ineinandergreifen von Bezügen im HauserFall! Kurz und gut, während des Sprachversuchs, veranstaltet im Oktober 1831 von dem ungarischen Grafen Merey und Sohn, die sicher von der "Denunziation" wußten, ließ Graf Merey senior in der Biberbach'schen Wohnung am Hübnerplatz gegenüber seinem Versuchskaninchen Kaspar Hauser wie zufällig den ungarischen Namen Bartakovitz fallen. Hauser reagierte darauf in einer unwahrscheinlichen Erregung. Es käme ihm so vor, als hätte dies Wort irgendwie mit seiner Mutter etwas zu tun, erklärte er. von Tucher war es, der uns dies überliefert hat. Und Baron von Tucher hat diesen Bericht beeidet. Wer aber war jene Bartakovitz? Die Antwort: In Ungarn gab es nur eine Dame. die damit gemeint sein konnte: die Sternkreuzordensdame - verwitwet - Marianne von Majthényi, eine geborene Bartakovitz. Just aber bei dieser ungarischen Adeligen war unsere Anna Dalbonne einst Hausdame! Vielleicht an dieser Stelle eine Einflechtung, nochmals die Sprachversuche betreffend. Hans Scholz, einer der bedeutendsten HauserForscher und -Schriftsteller ("Der Prinz Kaspar Hauser", 1964) läßt sich in seinem umfangreichen Werk über die Glossolalie, das Reden in fremden Zungen, so aus: Ein Erzeugnis einwandfreier Glossolalie war hingegen Kaspars Worterfindung "motschär". Diese Vokabel legte er [Hauser] besagtem Schriftsteller und Journalisten Saphier vor. Er möge ihm doch sagen, was das im Ungarischen heiße. Aber der wortselige Literat,
der so viele Sprachen beherrschte, konnte nur den Kopf schütteln mit dem Bescheide, "motschär" gebe es im Ungarischen so wenig wie in sonst einer ihm bekannten Sprache. Demgegenüber sei Sonja von Grunelius-Schacht gestellt. In ihrem Büchlein "Der namenlose Prinz" (1975) schreibt sie: An solchen Abenden [in Beuggen] nahm sie das Kind [Kaspar] dann wohl auf den Schoß. "Mon cher, mon cher petit" liebkoste sie ihn. Keiner der mir bekannten Caspar-Hauser-Forscher hat das rätselhafte Wort "Motschär", nach dessen Bedeutung Caspar Hauser später so oft fragte, als "mon cher" wiedererkannt. "Mon cher", mein Liebling, war das meistgebrauchte und dem Kleinen ins Ohr geflüsterte Kosewort. Er wird also als Kind französisch erzogen worden sein; doch finden wir bei keinem amtlichen Verhör in Nürnberg eine Frage nach der französischen Sprache. In der Tat, nichts liegt näher als diese Erklärung. Sicher hat Kaspars Gouvernante Dalbonne oftmals diese Koseform ihrem kleinen Liebling gegenüber gebraucht. Und dieses "mon cher" blieb so fest im Unterbewußtsein Kaspars, daß es die Erinnerungssperre durchbrechen konnte. Sonja von Grunelius-Schacht irrt aber, wenn sie glaubt, auf die an sich naheliegende Erklärung sei sie als erste gekommen. Vor ihr bereits hat diese wohl richtige Deutung die Pilsacher Verliesentdeckerin und Hauser-Schriftstellerin Klara Hofer erkannt. Das war bereits 1924. In seinem Buch "Neue Beiträge zur Kaspar-HauserForschung" (1929) schreibt Dr. Fritz Klee: Das Hauser in Erinnerung gebliebene Wort "Motschär" hat Frau Hofer richtig als "mon cher" gedeutet. Doch nun wieder zu Anna Dalbonne - verschiedentlich auch Dalbon oder D'Albon geschrieben. Ihr Mädchenname war Anna Frisacco. Geboren wurde sie in Triest. Ihre Mutter, die Witwe Theresia schilderte ihr hoffnungsvolles Töchterlein so:
Sie hat zu jener Zeit, als die Franzosen zu Triest waren, mit einem Major Dalbonne Bekanntschaft getroffen, wurde durch ihn zu Fall gebracht - so nannte man es also damals - und reiste mit selbem von Triest ab; wo sie mit ihm getraut worden, weiß ich nicht. Das ist nicht weiter verwunderlich, sei an dieser Stelle angemerkt, da Fräulein Anna, das Soldatenliebchen, nie die Ehre bekam, in den heiligen Stand der Ehe zu treten. Sie hat dies ihrer armen Mutter zur Beruhigung nur vorgegaukelt. Doch hören wir weiter die Witwe Theresia: Nachdem die französische Armee gen Rußland marschierte, wollte meine Tochter nicht mitreisen. Ihr Mann ist vor Strenge der Kälte erfroren, wo sohin meine Tochter wieder nach Hause gekommen. Ihr Kind, Marie genannt, hat sie bei Triest an einem Orte, den ich nicht namhaft machen kann, zu einer Majorin in die Kost gegeben, es wurde sieben Jahre alt und ist bei den Klosterfrauen an Blattern gestorben. Der ganzen Schilderung nach war die Anna Frisacco, die sich nach dem herzensbrecherischen Erzeuger ihres Kindes dessen Familiennamen anmaßte, eines jener abenteuerlustigen, leichten Mädchen, die im Gefolge der Heere zur Stärkung des Truppenkampfgeistes mitreisen. Ob der französische Major Dalbonne wirklich "vor Strenge der Kälte erfroren" ist, bleibt dahingestellt. Wahrscheinlich war es nur eine Schutzbehauptung der leichtliebenden Anna oder aber der Herr Major hat sich verdrückt, als er von Anna mit deren Hoffnung konfrontiert worden ist. Kriegszeiten bringen Wirrungen aller Art mit sich. Unsere Generation hat das selbst erfahren. Die Sitten werden lockerer, die Moral brüchig. Anna war also wieder bei ihrer Frau Mama zuhause in Triest, in dessen Nähe sie ihr Kind in Pflege gegeben hat. Dann schien sich die junge Aventurierin wieder auf den Weg gemacht zu haben. Lange hielt sie es jedenfalls daheim nicht aus. Ein gerne flatternder Vogel. Sie verdingte sich als "Französin" als Gouvernante. Ganz schön clever, die Kleine: sie machte aus der Not eine Tugend, indem sie ihre
Französischkenntnisse, erlernt in der schnellsten Sprachenschule der Welt, im Soldatenbett, als Broterwerb nutzte. Und wo verdingte sie sich als Gouvernante? Wahrscheinlich bei der Sternkreuzordensdame Majthényi, der geborenen Bartakovitz. Vielleicht aber war sie bei dieser Dame bereits nach ihrer Klosterschulzeit als Hausdame angestellt und nach ihrer "Soldatenlaufbahn" in Ofen beim dortigen Tavernikus Graf Pálffy, einem Mann des ungarischen Hochadels. Etwas absolut Genaues wurde nicht überliefert. Und das relativ Wenige, das auf uns gekommen ist, verdanken wir den Unterlagen des Wiener Polizeiarchivs, die der allgemeinen Hauser-Aktenvernichtung nach dessen Tod durch einen Zufall entgangen sind. Dadurch wissen wir mit Sicherheit, daß die Dalbonne als Gouvernante sowohl bei dem Grafen Pálffy als auch bei der Gräfin Majthényi in Lohn gestanden ist. Bei letzterer wenigstens zweimal. Das ist sicher. Was uns allerdings fehlt, ist die korrekte Zeitangabe. Als Kaspars Gouvernante das dürfte zutreffen - fungierte sie von 1815 bis 1819. Und nun zu jener sogenannten Denunziation des Dompredigers Müller. Diese lag schon seit dem 25. Dezember 1829 beim Ansbacher Appellationsgericht. Offiziell ist man dort dieser "Denunziation" anfangs korrekt nachgegangen, später aber deckte man die ganze Angelegenheit mehr oder weniger zu. "Man" vertuschte. Präsident von Feuerbach schwieg sich aus. Das ist mehr als sonderbar. Denn: bei einem Fall wie dem des Kaspar Hauser, von dem ganz Europa sprach und schrieb, sollte der kleinste Hinweis wichtig genug sein, um ihn augenblicklich bis in die feinsten Verästelungen nachzuspüren. Natürlich wußte das Feuerbach, und der große Kriminalist hätte mit Sicherheit auch so gehandelt, wenn - ja wenn ihm nicht in die Parade gefahren worden wäre. Von wem wohl? Von keinem geringeren als von Clemens Wenzel Nepomuk Lothar Fürst von MetternichWineburg, dem österreichischen Staatskanzler, dem verlängerten Arm des Kaisers. Wer also der Mitteilung des Dompredigers Müller zuerst auf dem Amtswege nachging, dann aber schwieg, war Präsident von Feuerbach, der mehr als vernünftige Gründe dazu hatte. Dennoch konnte
die Sache nicht so geheim bleiben, wie Metternich das gerne gehabt hätte. Die Presse schrieb darüber. Ob die Schreiber allerdings in die letzten Details eingeweiht waren, darf füglich bezweifelt werden. Aber im Kern, und darauf kommt es an, werden sie haargenau ins Schwarze getroffen haben. Die Berichte darüber sollte man deshalb für eine treffliche Mischung von recherchierter Wahrheit und Kombination halten. Was übrigens bezeichnend ist: den Redakteuren wurde nach den Veröffentlichungen keinerlei Schwierigkeiten gemacht. Die Staatsraison hielt es in diesem Falle für politisch klüger, darüber hinwegzugehen, um nicht noch mehr Staub aufzuwirbeln. So war in einer Nummer des "Wiener Abendblattes" vom Juni 1830 zu lesen, wobei die Namen nur angedeutet wurden, nachfolgend aber voll ausgeschrieben werden: In Ofen befindet sich bei dem dortigen Tavernikus, Grafen Pálffy, eine Gouvernante, Madame Dalbon. Diese Frau soll früher ebenfalls als Gouvernante bei einem Gutsbesitzer nahe bei Nürnberg angestellt und in freundschaftlicher Verbindung mit dem dortigen Pfarrer gewesen sein. Ein Freund des Pfarrers, Herr Müller, damals Theologe, hörte einst, als er den Pfarrer besuchte, folgende von Madame gesprochene Worte im Vorzimmer: "Aber um Gottes willen, was soll denn endlich aus diesem Kinde werde? Ewig kann es doch nicht eingesperrt bleiben". In diesem Augenblick bemerkte man den eingetretenen Freund Müller und beschwor ihn, wenn ihm sein eigenes und das Glück dreier Menschen am Herzen liege, nicht weiter über das eben gehörte nachzuforschen und keinen ferneren Gebrauch davon zu machen; welches Müller auch feierlich versicherte. Nach mehreren Jahren betrat dieser Müller die oesterreichischen Staaten, ging zur katholischen Religion über, kam nach Preßburg und wurde in einem dortigen Hause Erzieher. Bei einem Besuche, welchen er mit seinen Zöglingen in dem Hause der Gräfin Majthényi machte [nach anderer Version soll er dort sogar als Erzieher angestellt gewesen sein], traf er M. Dalbon wieder, welche in diesem Hause als Gouvernante an-
gestellt war. Die bei Nürnberg erlebte Geschichte fiel ihm in diesem Augenblicke wieder ein. Dazu kam, daß alle Zeitungen damals von Kasper Hauser sprachen. Zeit und Ort stimmten, und dem Müller drängte sich die Idee auf, daß die vormals gehörten Worte Bezug auf diesen Unglücklichen haben könnten. Er soll hierauf nach Nürnberg an den dortigen Magistrat geschrieben und diesem seine Zweifel und Mutmaßungen mitgeteilt haben. Vor einigen Wochen nun erschien [vom Ansbacher Appellationsgericht] ein Ansuchen, eine Mme. Dalbon, welche gegenwärtig in Ofen bei dem Tavernikus Grafen Pálffy in Diensten steht, einem Verhör zu unterziehen. Der Ofener Magistrat übergab das Schreiben dem benannten Grafen, und dieser nahm mit der Dalbon ein Zimmerverhör vor. Im ersten Augenblick war diese so betroffen, daß sie auf ihre Knie stürzte und den Grafen um Gottes willen bat, sie nicht unglücklich zu machen und auf das Schafott zu bringen. Weiter konnte der Graf nichts aus ihr herausbringen; sie schwieg hartnäckig auf alle an sie gerichteten Fragen und wurde von einem wahnsinnigen Zustand befallen. Man brachte sie zu den Elisabethinerinnen, konnte aber aus ihren verwirrten Äußerungen nicht das geringste entnehmen, was näheren Aufschluß gegeben hätte. Jetzt läßt ihre Geisteszerrüttung nach und macht wieder einem natürlichen Zusammenhange Raum. Es steht nicht zu zweifeln, daß man die Untersuchungen jetzt wieder fortsetzt. Wir brauchen nicht fortzufahren: Die Untersuchungen wurden nicht weitergeführt. Ganz im Gegenteil kam der Wink von oben: ... geneigtest dahin wirken zu wollen, daß die betreffende klg. bayr. Gerichtsbehörde veranlaßt werde, ehemöglichst und auf eine offizielle Weise sich in Betreff dem wegen dem Kaspar Hauserschen Angelegenheit in Ungarn stattgehabten Einvernehmung zu erklären, und wie vermöge der vorliegenden Daten, vorausgesetzt werden darf, die Nichtigkeit der Anzeige des Dompredigers Müller auszusprechen
Und von wem stammt dieser mehr als deutliche Wink, um nicht zu sagen die Order? Von Metternich höchstpersönlich! Adressat aber war der bayerische Gesandte in Wien. Die Anzeige des Konvertiten Johann Samuel Müller hatte also auf allerhöchste Anweisung als "Nichtigkeit" zu gelten. Genaugenommen eine Frechheit, denn Österreich hatte kein Recht, einer bayerischen Gerichtsbehörde Anweisungen zu geben. Hinter Metternich aber stand der Kaiser, der seit dem Wiener Kongreß keinerlei Befugnisse hatte, einem anderen deutschen Fürsten, in diesem Falle dem bayerischen König, Weisungen zu erteilen. Es gab keine römisch-deutsche Kaiserwürde mehr! Weisungsbefugnisse hatte der Kaiser anderen Fürstlichkeiten gegenüber nur noch in seiner Eigenschaft als Leiter des Deutschen Bundes. Oberster Amtsträger war der Bundestag in Frankfurt. An diesem Faktum sollte man nicht vorbeigehen. Aber Feuerbach, der Präsident des Appellationsgerichtes, wie dessen oberster Herr, der bayerische König, verstanden sehr wohl den Wink aus Wien. Hier ging es nicht um das Wohl und Wehe, um der echten oder gestellten Nervenzusammenbrüche einer unbedeutenden Gouvernante. Es ging wieder einmal um höhere Beträge, um hohe Politik. Die im Wanken begriffenen monarchischen Systeme Deutschlands durften durch nichts erschüttert werden. Auch nicht durch eine kleine Gouvernante, an der sich der Hauser-Fall auf eine explosionsartige Weise entzünden könnte, ja entzünden würde, gingen die Behörden der Sache polizeilich und juristisch korrekt nach. Und auch die Wiener Bürokratie wollte nicht weiter in die Anna Frisacco alias Dalbonne dringen. Wie war's doch gleich? Ihr Patron, der Tavernikus Graf Pálffy, nahm mit ihr ein Zimmerverhör vor, wobei sich die Dalbonne auf die Knie stürzte und ihrem Herrn und Meister anflehte, sie nicht "auf das Schafott" zu bringen. Dieses hysterische Benehmen, diese Todesangst mußte doch dem Grafen mehr als auffallen. Und sicher drang er weiter in sie, so daß der armen Dalbonne gar nichts anderes übrig blieb, als zu beichten, auch wenn der Zeitungsbericht des "Wiener Abendblattes" das Gegenteil mehr vermutete als behauptete. Wann jemals hätte eine Angestellte eines der mächtigsten Männer des ungarischen Hochadels geschwiegen, wenn der Magnat von ihr im Zimmerverhör
die reine Wahrheit zu hören wünschte. Man verwechsele die damalige Zeit nicht mit unseren heutigen Verhältnissen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Natürlich hat die Anna "gesungen", wenn sie vielleicht auch nicht mit der ganzen Wahrheit herausgerückt ist. Aber was sie gesagt hatte, das mußte genügt haben. Weshalb sonst kam das ganze Räderwerk der k. und k. Monarchie in so unglaubliche Bewegung! Die Depeschen liefen einander nach, die Gesandtschaften wurden eingeschaltet, Metternich erließ seine Befehle, die Diplomaten hatten politische Hochsaison und selbst der Kaiser Franz griff höchstpersönlich mehrmals - wohlverstanden: mehrmals! - in die Sache ein. Die Berichte häuften sich, es wurde beschlossen und verfügt. Hätten sie damals Telefon gehab: die Drähte hätten sich heißgerasselt. Das alles sind Tatsachen. Unwiderlegliche Fakts. Eine Anzahl davon verdanken wir dem Wiener Anti-Hauser-Forscher und -Schriftsteller Sittenberger, der sich - unglaublich genug - darüber mokiert: Das Lustige oder soll man sagen, das Traurig? an der Sache ist aber die: ein armer Narr zog an einem Faden, und Publikum und Behörden bis hinauf zu den Minister und Monarchen, sie alle fingen alsbald wie die Hampelmänner zu zappeln an. Bei allem Respekt vor Sittenberger: aber ein politisch denkender Mensch scheint er nicht gewesen zu sein. Für wie dumm, für wie naiv und dekadent hat er das k. und k. Räderwerk eines Metternich eigentlich gehalten? Glaubte er denn ernstlich, daß der Kaiser einige Male nur deshalb eigenhändig zur Feder gegriffen hat, um einer Maid aus Triest willen? Wo hätte es denn so etwas je gegeben! Seit wann kümmern sich Staatsoberhäupter um ehemalige Besatzerliebchen, wenn nicht etwas ganz anderes dahinter steckt als deren armseliges Privatleben! Nein, Graf Pálffy hat genug von der Dalbonne erfahren. Jedenfalls so viel, um Kaiser und Metternich selbst bemühen zu müssen, um eine sich anbahnende politische Katastrophe zu verhindern. Der querulierende Gottesmann Müller, einstmals Lutheraner gewesen, der zum Katholizismus übergetreten ist und aus seiner Vergangenheit Frau und Kinder zurückgelassen hat - dieser Mann hat mit seiner "Denunziation" haargenau in den wunden Punkt getroffen, ins
Schwarze. Durch ihn wissen wir, wer Kaspars "Kindsmagd" war, von der dieser öfter wie aus weiter Ferne gesprochen hat. Sicher unbewußt, hat Müller die Forschung auf Kaspars Gouvernante gelenkt, auf Anna Dalbonne. Wie hieß es doch in einem geheimen Polizeibericht aus Ofen vom März 1830, der die großangelegte Aktenvernichtung durch Zufall überdauert hat? Man höre: Im allgemeinen glaubt man, daß die Dalbonne Mitwisserin des an C. H. verübten Frevels sey. - Das Pálffische Haus verlautete anfangs so etwas dergleichen [sic!] - als diese Geschichte in Anregung gebracht wurde, aber jetzt nehmen fast alle Angehörigen des Hauses Pálffy Dalbonne in Vertheidigung ... und scheinen nichts wissen zu wollen. Der Wink von ganz oben! Und noch etwas: Von nun an hatte die Dalbonne keine Nervenzusammenbrüche mehr. Sie brauchte nicht mehr zu schauspielern. Die clevere Madame hatte kapiert, daß ihr keine Gefahr mehr drohte. Sie wurde von Stund an wieder so gesund, wie sie vor dem Zimmerverhör war. Ja, sie richtete sogar an den gutmütigen Kaiser Franz ein Majestätsgesuch, das erhört wurde - schneller als heute die Anrufung an einen Petitionsausschuß eines unserer Parlamente beantwortet wird - und ward wieder pumperlgsund. Was aus ihr aber geworden ist, entzieht sich der Geschichte. Was aber ist aus dem "Denunzianten" Müller geworden, dem "Dompfaff", wie ihn Hans Scholz genannt hat? Auch seine Spur verlief sich im geschichtlichen Sand. Nur eines steht fest, und das ist bezeichnend: Diesem Mann ist nie ein Härlein gekrümmt worden. Nach der offiziellen Reinwaschung der Dalbonne hätte er ja wegen Verleumdung und falscher Anschuldigung vor den Kadi gezerrt gehört. Dies ist nie geschehen. Warum wohl? Der Grund ist naheliegen: Die Affäre Dalbonne und Müller ist eine jener seltenen Fälle gewesen, in denen die Staatsraison sich anmaßen mußte, das Recht zu beugen - um des Überlebens willen: damit das System an sich erhalten bleiben konnte. Es hat sich seitdem nicht allzuviel geändert.
Um's noch einmal klarzustellen: Der Bericht des "Wiener Abendblattes" deckt sich im wesentlichen mit der Anzeige, der "Denunziation" des Dompredigers Müller. Und Feuerbach verstand sehr wohl den Wink, wie er sich im Falle Kaspar Hauser künftig zu verhalten habe. In seinem streng geheim gehaltenen Mémoire an die Königinwitwe Karoline von Bayern, einer gewesenen Prinzessin von Baden, das Feuerbach auf ihre Order hin schrieb, und zwar gegen "Fürstenwort auf Verschwiegenheit" - in diesem Mémoire versucht Feuerbach klipp und klar den Beweis für Hausers badisches Prinzentum zu erbringen. Im Februar 1832 ließ von Feuerbach dieses "Mémoire über Kaspar Hauser" der Königinmutter Karoline von Bayern durch den Gendarmerieoberleutnant Joseph Hickel, Hausers Spezialkurator in Ansbach, überreichen. Erst 19 Jahre nach Feuerbachs Tod im Mai 1833 hat es sein Sohn Ludwig, der Philosoph von Bruckberg bei Ansbach, veröffentlicht. Es schlug wie eine mittlere Atombombe ein. Weitere Veröffentlichungen folgten 1859, 1889 und zuletzt 1892 - immer unter Decknamen. Es gab jedesmal einen Mordswirbel, den Verlegern wurde der Prozeß gemacht, die Schrift mußte aus dem Handel gezogen werden. Im gleichen Jahre 1832 aber schrieb Staatsrat von Feuerbach sein letztes Werk für die Öffentlichkeit: "Kaspar Hauser oder Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben eines Menschen". In dieser Arbeit, die noch heute zu den Standardwerken der ernstzunehmenden Hauser-Literatur gehört, stehen, wenn die Sprache auf die Hintergründe des Verbrechens an Hauser zu sprechen kommen, inhaltsschwere, verklausulierte Sätze wie diese: Wenn nun aber die Wißbegier des Leser mehr von mir zu vernehmen wünscht, wenn er mich nach den Ergebnissen der gepflogenen, gerichtlichen Untersuchung fragt, wenn er gern wissen möchte, nach welchen Richtungen hin jene Spuren geführt haben, an welchen Orten die Wünschelrute wirklich angeschlagen hat, und was dann weiter geschehen und erfolgt sei, so bin ich im Falle, antworten zu müssen, daß, nach den Gesetzen wie nach der Natur der Sache, ich dem Schriftsteller nicht erlauben darf öffentlich von Dingen zu reden, die
vorderhand nur noch dem Staatsbeamten zu wissen oder zu vermuten erlaubt sind. Übrigens darf ich die Versicherung aussprechen, daß die forschende Justiz, unter Anwendung aller ihr zu Gebote stehenden Mittel, selbst der außergewöhnlichsten, ihre Pflichten ebenso rastlos als rücksichtslos zu erfüllen nicht ohne allen Erfolg bemüht gewesen ist. Allein dem Arm der bürgerlichen Gerechtigkeit sind nicht alle Fernen noch alle Höhen und Tiefen erreichbar, und bezüglich mancher Orte, hinter denen sie den Riesen eines solchen Verbrechens zu suchen Gründe hat, müßte sie, um bis zu ihm vorzudringen, über Josuas Schlachthörner oder wenigstens über Oberons Horn gebieten können, um die mit Flegeln bewehrten, hochgewaltigen Kolosse, die vor goldenen Burgtoren Wache stehen und so hageldicht dreschen, daß zwischen Schlag und Schlag sich unzerknickt kein Lichtstrahl drängen mag, für einige Zeit in ohnmächtige Ruhe zu bannen. Als von Feuerbach diese Zeilen schrieb, waren bereits rund zwei Jahre seit der Müller'schen Anzeige vergangen - und somit auch zwei Jahre seit dem Wink von ganz oben. Umso erstaunlicher ist der Mut Feuerbachs, auf die "hochgewaltigen Kolosse, die vor goldenen Burgtoren Wache stehen" hinzuweisen, wenn auch in recht mystifizierter Form. Mehr ist ihm aber auch nie mehr entschlüpft und es wäre interessant zu wissen, welche "außergewöhnlichen" Mittel die "forschende Justiz" angewandt hat, um etwas Licht in die Dunkelheit zu bringen. Ja, Feuerbach hatte Mut, der umso höher zu bewerten ist, da er sicher auch Angst gehabt hat. Es dürfte nicht nur den Anschein haben, sondern tatsächlich so gewesen sein, daß für Feuerbach der Kaspar-Hauser-Fall in der Öffentlichkeit bereits abgeschlossen war. Sinnigerweise und beinahe etwas zu optimistisch fügte er dem oben zitierten Abschnitt seines Büchleins hinzu: "Doch, was verübt die schwarze Mitternacht, wird endlich, wenn es tagt, ans Sonnenlicht gebracht." Anselm von Feuerbach wußte also im großen und ganzen Bescheid, wie gesagt - auch wie er sich zu verhalten hat: Das ihm unterstehende Appellationsgericht in Ansbach an der Fränkischen Rezat - man halte
den Atem an - stellte der Anna Dalbonne, deren Namen nicht einmal zutreffend ist, eine Ehrenerklärung aus. Man vernehme: ... daß durch conclusum ad acta des Kreis- und Stadtgerichts Nürnberg dato 25. Mai [1830] die vom Domprediger Müller erhobenen Denunziationen für durchaus gehaltlos, unglaubwürdig und keiner weiteren rechtlichen Berücksichtigung würdig erklärt wurden. Davon hatte natürlich das "Wiener Abendblatt" keine Ahnung. Sonst hätte es schwerlich seinen Bericht vom Juni 1830 veröffentlicht. Recht viel mehr Wissenswertes gibt es über diese Triester Anna Frisacco alias Dalbonne nicht zu berichten. Es ist bis jetzt ein Manko der Hauser-Forschung, sich dieser zwielichtigen Dame nicht näher angenommen zu haben. Wann wurde sie geboren, wann und wo starb sie? Auf welchem Gut in der Nähe von Nürnberg war sie einst angestellt? Fragen über Fragen, die unbeantwortet bleiben müssen. Gleiches gilt über diesen windschiefen Mann Gottes Johann Samuel Müller zu sagen, dem "Preßburger Dompfaffen." Dessenungeachtet dürfte es keinen Zweifel mehr darüber geben, daß die Dalbonne Kaspar Hausers Gouvernante gewesen ist, die "Kindsmagd", von der er mehrmals während der "Sprachversuche" Erinnerungsfetzen von sich gab. Die relativ wenigen Fakts, die wir von der Dalbonne haben, fügen sich nahtlos in die Indizien von Blochmann bis Beuggen, das übrigens 15 Kilometer östlich von Basel liegt. Und nun zu den ungarischen und polnischen Sprachbrocken unseres Kaspar, die da aus der Tiefe seines Unterbewußtseins die hypnotische Sperre durchbrochen haben. Nach alldem, was wir von der Dalbonne wissen, dürfte es nicht schwer sein zu erkennen: Kaspar hat seine paar ungarischen und polnischen Sprachbrocken aus der gleichen Quelle geschöpft. der auch das "motschär" - "mon cher" entsprungen ist: von seiner "Kindsmagd", der Gouvernante Anna Dalbonne. Triest mit seinen winkligen Hafengassen und verräucherten Seemannskneipen gehörte damals politisch zum Königreich Ungarn. Im Gegensatz zu heute war die vorherrschende Sprache Slowenisch. Es wurde in
Triest, der bunten Stadt, aber auch italienisch, jiddisch und deutsch gesprochen. Anna Frisaccos Muttersprache - schade, daß wir ihre soziale Herkunft nicht kennen - wird also von der Basis her slowenisch gewesen sein, durchsetzt mit ungarischen, italienischen, deutschen und auch jiddischen Idioms. Vielleicht eine Mischung aus der Hafengegend. Und es darf als sicher angenommen werden, daß das aufgeweckte Mädchen, die clevere Anna, auch die französische Sprache einigermaßen gut beherrschte; gelernt nicht in der Schule, sondern auf den Feld- und Quartierbetten der französischen Armee, die bis 1813 Triest besetzt hielt. Und im hautnahen Umgang mit Besatzern lernt man allemal deren Sprache am schnellsten. Keinem Deutschen von entsprechendem Alter braucht dies besonders plausibel gemacht zu werden. Da sie aber das Liebchen eines Majors war, also eines gebildeten Franzosen, darf man voraussetzen, daß sie ein einigermaßen gutes Französisch sprach, weshalb sie sich auch als "französische Gouvernante" empfehlen konnte. Und die polnischen Sprachfetzen, die unser Kaspar zur Verblüffung seiner Examinatoren einigermaßen verstand? In den slawischen Sprachen ähneln sich gewisse Worte oft ungemein, vor allem Idioms, wozu auch Flüche gezählt werden dürfen. Was soll's mehr? Kaspar hat ja auch keine zusammenhängenden Sprachgebilde verstanden bei den sogenannten Sprachversuchen; nur das eine oder andere Wort: da einen Fluch "basmanateremtete" - dort einige Zahlen. Aber von nichts kommt nichts! Kaspar hat diese Worte einst von der Dalbonne gehört; sie haben sich tief in sein Unterbewußtsein eingegraben. Und vier Jahre mit einem Menschen zusammengewesen zu sein - im Alter zwischen rund drei und sieben Jahren - das hinterläßt Spuren, die in diesem Falle nur durch eine totale, auf hypnotischem Wege herbeigeführte Erinnerungssperre in tiefes Unterbewußtsein, in die hintersten Gehirnregionen verdrängt werden konnte. Wir wissen und haben gehört, auf welche Weise, unter welchen Bedingungen eine totale Sperre etwas durchbrochen werden kann, wobei Kaspars überreiztes Nervensystem, sein unwahrscheinlicher Somnambulismus mit ins Kalkül zu ziehen ist.
Mit größter Wahrscheinlichkeit hat die Dalbonne unseren Kaspar, der 1815 noch Ernst Blochmann genannt worden sein dürfte, bereits auf dem Weg von Karlsruhe nach Beuggen in die gewesene Ordenskomturei begleitet. Im ganzen Badischen gab es zu jener Zeit keinen sichereren Aufenthalt für den Buben und seine Erzieherin als dieses Areal, das vordem als Typhuslazarett der österreichischen Armee gedient hat; die vielen, vielen Opfer wurden in Massengräbern beigesetzt. Die Bewohner der Umgebung mieden Schloß und Komturei aus Angst vor Ansteckung im Nachhinein wie die Pest. Der französische Diplomat und Hauser-Forscher Bapst schrieb, daß das Kind in Beuggen einen anderen Namen bekam, dort vielleicht Stephan oder Gottfried oder - Kaspar genannt wurde, was am naheliegendsten gewesen sein dürfte. Daß Kaspar Hauser dort zeitweilig eingesperrt gewesen sein soll, wie selbst ein Fritz Klee in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts noch glaubte, gehört sicher ins Reich der Fabeln. Wozu auch? Wer wußte denn in Beuggen und Umgebung, wer dieser nette Junge und seine Gouvernante in Wahrheit war? Anfangs bestimmt nicht einmal die Dalbonne. Erst später wird sie und der Beuggener Pfarrer Eschbach spitz bekommen haben, daß es mit dem Buben da eine besondere Bewandtnis hat. Karl Eschbach war seit 1814 in Beuggen im Amt. Er stammte aus dem nahen Hochsal, vier oder fünf Kilometer von Laufenburg, im Hotzenwald gelegen. Geboren ist der Gottesmann 1784, war also 1815, als Kaspar und die Dalbonne in der Komturei eingetrudelt sein dürften, 31 Jahre alt. In Eschbachs Heimatort Hochsal aber, wo sein Vater vom Schneiderhandwerk lebte (nach Dr. Klee soll er Nagelschmied gewesen sein), wirkte zu jener Zeit Pfarrer Jakob Dietz, der übrigens wie sein Amtsbruder Eschbach ebenfalls in den Hauser-Fall verwickelt gewesen sein soll. Dietz betreute die Pfarrei Hochsal von 1807 bis 1827 - bis zu seinem Tode. Er starb als 71jähriger. Kirchlich gehörte Beuggen übrigens zum nächstgelegenen Ort Karsau. Im schmucken Gartenhaus des Beuggener Schloßparks wird Kaspar mit seiner Erzieherin gelebt haben, relativ froh und ungebunden. Keineswegs aber in einem Kerker! Wer neben Pfarrer Eschbach noch dort wohnte, in den einstigen Gebäuden des Deutschherrenordens?
Wir wissen, daß außerdem noch die Familien des Messners Keller und des Domänenverwalters Freiberg (auch Freyberg geschrieben) dort lebte; vielleicht auch noch einige Gutsarbeiterfamilien mit ihren Kindern. Im nachbarlichen Karsau, so Edmont Bapst, soll Kaspar zeitweise sogar die Schule besucht haben, und wahrscheinlich hat er in Beuggen oder Karsau auch etwas Unterricht im Klavierspiel bekommen. Ziemlich sicher ist, daß Kaspar in Beuggen frohe, unbeschwerte Kindheitstage verbracht hat. Wer die Gegend kennt: sie ist von einer herben Schönheit. An die 200 Kilometer sind es von dieser äußersten Südwestspitze Badens nach Karlsruhe. Weiß der Henker, für was man den Buben und seine Erzieherin ausgegeben hat. Wahrscheinlich, daß die beiden sich rasch akklimatisiert haben bei den etwas wortkargen Hotzenwäldlern beziehungsweise bei den Menschen der Ausläufer dieses kernigen Landstriches. Eschbach, die Dalbonne mit ihrem Buben, die Kellers und Freibergs nebst einigen Landarbeiterfamilien: sie werden eine kleine Gemeinschaft gebildet haben. Im einsamen Winter noch mehr als im Sommer. Und es dürfte nicht abwegig sein zu vermuten, daß sie im Sommer, während und nach der Erntezeit, so manches kleines Fest miteinander gefeiert haben. Gartenparties würden wir es heute nennen. Ein kleines Feuer im Komtureigelände, gebratene Kartoffeln und Äpfel, Landwurst und einige Krüge Wein. Vielleicht auch ein paar im Holzfeuer leicht angeröstete Maiskolben - die später Kaspar so bekannt vorkamen. Gesang. Auch etwas Tanz. Und Kaspar schaute in die prasselnden Flammen, auf dem Schoß seiner Gouvernante - "mon cher petit" "motschär"! Die Dalbonne, in etwas weinseliger Stimmung, erinnerte sich an die alte Heimat: an Triest und Ungarn - "basmanateremtete". Erzählungen in der Mischmaschsprache des Triester Hafens: zur Ergötzung der Beuggener Landleute, der wenigen Nachbarn. Dabei sind bei Kaspar so einige Sprachbrocken hängengeblieben; also nicht nur das Wappen der Herren von Reinach, das er so lange und so oft gesehen hat. Aber irgendwann, wie angedeutet, hat Pfarrer Eschbach und auch die Gouvernante Dalbonne näheres über den Buben herausbekommen; vielleicht sogar die ganze Wahrheit, was es mit dem Kinde da
auf sich hat. Schließlich haben Leute vom Bildungsgrad eines Pfarrer Eschbach ihren Kopf zum Denken, und auch die clevere Dalbonne wird sich nicht ewig und alleine mit ihrem Gehalt zufrieden gegeben haben, ohne sich mehr und mehr Gedanken darüber zu machen, wer ihr da wohl anvertraut worden ist. Wahrscheinlich hat sie von Anfang an nicht geglaubt, daß es der Bankert einer Hofdame, einer Baronesse oder der Kegel eines höheren Geistlichen ist, wie man ihr vielleicht weißgemacht hat. Menschlich verständlich auch, wenn sie in dem Buben den Ersatz für ihr verstorbenes Töchterlein gesehen und ihn wirklich von Herzen lieb gewonnen hat. Sie, die Anna Frisacco, wird unterbewußt das Leitbild seiner Muttervorstellungen gewesen sein. So vergingen die Monate. In Beuggen, wie auch in Karlsruhe. Dann trat ein Ereignis ein, einschneidend für den Knaben von Beuggen wie für das Großherzogtum Baden: Stephanie, die Gemahlin des Großherzogs Karl, gebar ihren zweiten Sohn. Man schrieb den 1. Mai 1816. Wie der 1812 geborene Erbprinz, so war auch dieses Kind gesund, wenn auch etwas schwächlich gebaut. Auch diesmal war es für die Stephanie eine schwere Geburt gewesen. Der Junge wurde auf den Namen Alexander getauft und wuchs von Woche zu Woche, von Monat zu Monat stramm heran. Karl und Stephanie waren stolz auf das Produkt ihres einigermaßen stattgehabten Zusammenwachsens, das wohl auch einer gewissen Trotzhaltung Karls entsprang, nun erst recht zur allseits verhaßten Napoleon-Tochter zu halten, was ihm zur Ehre gereicht. Denn Stephanie war seit Napoleons Sturz in Karlsruhe nur noch eine Geduldete, ein Fremdkörper im badischen Fleisch. Aber Baden hatte wieder einen Erbprinzen! Der Fortbestand der regierenden Zähringer-Linie schien nach menschlichem Ermessen gesichert. Offiziell schien alles wieder in bester Ordnung zu sein: die Unteilbarkeit Badens war einigermaßen gesichert, wenngleich die Zustimmung der Großmächte noch ausstand. Schlimm stand es nur um Großherzog Karl, der immer mehr verfiel: körperlich und geistig. Dumpf und apathisch vegetierte er dahin, sich nur ab und an etwas aufraffend. Um Staatsgeschäfte kümmerte er sich kaum. Saufen und billige sexuelle Ausschweifungen waren für ihn
der Ersatz eines geregelten Lebens. Den Markgrafen Ludwig, seinen Onkel und einstigen Kumpan bei Parterrevergnügungen, mied er mißtrauisch. Er traute diesem Schlitzohr nicht mehr über den Weg. Stephanie aber war glücklich mit ihrem kleinen Alexander, der einst das Zepter über Baden schwingen würde. So war es damals am badischen Hof: einer traute dem anderen nicht. Das Mißtrauen schlechthin war fester Bestand geworden. Nicht so glücklich, ja sorgenvoll dürften Staatsminister von Reitzenstein und Markgraf Ludwig gewesen sein, die Wissenden um den vertauschten wirklichen Erbprinzen in Beuggen. Wissend war natürlich auch die Soloakteurin der Kindsvertauschung von 1812, die Hochberg. Aber sie dämmerte in ihrem Stadtpalais in Karlsruhe, gesundheitlich auf einem Tiefstand, psychisch wie physisch, von ihren Kindern verachtet und hinter sich einen Schuldenberg von sage und schreibe 600 000 (!) Gulden, so dahin. Sie haßte ihre eigenen Söhne um der Demütigung willen, die sie einstecken mußte; sie haßte ihre Umgebung und wahrscheinlich auch sich selbst. Bloßgestellt von ihren Söhnen, für die sie ein Verbrechen begangen hat, damit ihr Ältester, Leopold, einst als Großherzog den badischen Thron drücken kann, sah sie sich nun in die hinterste Ecke gestellt. Sie war einflußlos und hatte am Hofe schon seit Jahren nichts mehr zu sagen, wie wir schon gehört haben. Es wäre menschlich verständlich, wenn sie nun gar keine Interesse mehr an ein Fortbestehen oder nicht der Zähringer-Linie gehabt hätte. Wer wollte es ihr unter all diesen Umständen verübeln? Mochte also der kleine Alexander blühen und gedeihen! Eine Reichsgräfin von Hochberg kümmert dies alles nicht mehr. Eine andere, sorgenvolle Sache war nur die mit dem wirklichen Erbprinzen, dem ohne offiziellen Namen, der da noch am Leben ist und wie sein jüngeres Brüderchen heranwuchs. Für die Hochberg war er nur noch eine Belastung. Konnte er aber nicht auch ein Druckmittel gewesen sei? Sagen wir gegenüber Ludwig, der ja selbst nach dem Thron gierte und sich durch Alexander zurückgedrängt sah. Tatsächlich war die ganze Affäre für die wenigen Mitwisser der Kindsvertauschung von Anno 1812 eine politische Komplikation
sondergleichen. Minister von Reitzenstein wird wohl derjenige gewesen sein, der die Sache am klarsten politisch durchschaut und durchdacht hat, mit allen möglichen Konsequenzen. Sein Lebenswerk stand auf dem Spiel: ein großes und einheitliches Baden, anerkannt von den Großmächten. Und wenigstens noch einer wird es gewesen sein, der die Zwickmühle erkannt hat, wenn auch mit anderen Augen: Markgraf Ludwigs engster Vertrauter in allen dunklen Affären: Johann Heinrich David Hennenhofer, der Senkrechtstarter unter den Höflingen - ein Mann, der überall seine Finger stecken hatte, dem nichts entgehen konnte. Längst schon wird er den Prinzentausch ausbaldowert haben, Badens dunklen Fleck am sonnenblauen Himmel des Musterländles - nun nicht mehr von Napoleons Gnaden. An dessen Stelle waren Zar Alexander und Fürst Metternich getreten. Schicksal der Kleinen, die eigentlich nie so richtig selbständig sein können und nur immer so tun als ob. Es ist schon gesagt worden: Reitzenstein war es wohl, der nach dem Tode der Frau Blochmann eingegriffen und den Buben mit einer Gouvernante insgeheim nach Beuggen hat schaffen lassen, das eine staatliche Domäne war. Unsinn sicher, wenn bislang manche HauserSchriftsteller die Vermutung aufgestellt haben, die Reichsgräfin Hochberg hätte auch bei diesem Fortschaffen ihre Hände im Spiel gehabt. 1815 war sie bereits völlig ohne jeden Einfluß, lebte unbeachtet vom Hofleben; ihre Söhne bereiteten insgeheim schon die Entmündigung ihrer verschwenderischen Mutter vor. Und da soll diese Frau noch die Keckheit gehabt haben, den Ernst Blochmann alias Kaspar Hauser ausgerechnet in eine staatliche Domäne bringen zu lassen? Das glaube wer will! Nicht auszuschließen ist auch, daß von Reitzenstein den Pfarrer Eschbach von Beuggen gebeten hat, auf den Jungen und seine Gouvernante achtzugeben und zu sorgen, daß es den beiden an nichts mangelt. Reitzenstein aber wird sein Wissen um die Vertauschungsaktion von der Hochberg haben, die sich ihm in ihrer Not anvertraute, als ihr die ganze Sache über den Kopf gewachsen war. Von Ludwig wird er sicher nichts erfahren haben über die Unterschiebung. Der
behielt sein Wissen für sich, um unantastbar zu bleiben. Und wie schon einmal gesagt, war Eschbach bei Kaspars vermuteter Ankunft gerade ein rundes halbes Jahr Pfarrer von Beuggen. Vorher, nämlich von 1807 bis 1814, war er Cooperator und Universitätsassistent in Freiburg im Breisgau; er lehrte dort Griechisch und Hebräisch. In Beuggen blieb er bis 1826, wurde darauf, 1827, Ministerialrat bei der katholischen Kirchensektion in Karlsruhe. 1831 erhielt er die gut dotierte Pfarrei seines Geburtsortes Hochsal, wo er am 3. Januar 1870, wenige Wochen vor seinem 86. Geburtstag, starb. Ein Priesterleben mit hohen beruflichen Ehren war zu Ende gegangen. Es ist übrigens glaubwürdig überliefert, daß Markgraf Ludwig den Pfarrer Eschbach geschätzt und protegiert hat, obgleich Geistliche für ihn ansonsten nur "Pfaffen" waren. Rekapitulieren wir kurz: Im Januar 1815 starb Kaspars Ziehmutter Elisabeth Blochmann. Spätestens im Frühjahr des gleichen Jahres wurde Kaspar alias Ernst aus gegebenem Anlaß nach Beuggen umquartiert. Am 1. Mai des darauffolgenden Jahres, 1816, wurde Stephanies zweiter Sohn, Prinz Alexander, geboren. Sechs Monate darauf ereignete sich dann etwas ganz Merkwürdiges. Es war der 5. November, als in der Nummer 310 der angesehenen französischen Zeitung "Moniteur Universel" eine höchst eigenartige Meldung eingerückt war - übrigens druckte auch das Staatsbeamtenblatt "Journal des Maires" die Meldung. Nachgedruckt haben die Nachricht dann auch noch die Berliner "Spenersche" am 14. und die "Vossische" ("Tante Voß") am 16. November; später haben auch einige russische Blätter die mysteriöse Meldung in ihre Spalten gerückt, mit der wir uns nun etwas näher befassen wollen. Der Nachricht im "Moniteur" zufolge sollte am 23. Oktober ein Schiffer eine Flaschenpost aus dem Rhein bei Groß Kembs, auf dem elsässischen Ufer gelegen, gefischt haben. Der nie namentlich genannte Schiffer öffnete die Flasche und fand darin einen Briefbogen, beschrieben mit einer Sprache, die er nicht kannte. Auf nicht näher bezeichnetem Wege soll dieser Wisch dann auf einem der Redakti-
onsschreibtische des "Moniteur" gelandet sein. Der Inhalt des Briefbogens war handgeschrieben, und zwar in einem etwas dürftigen Latein. Laut "Moniteur" lautete der Text: Cuicumque qui hanc epistolam inveniet: Sum captivus in carcere, apud Lauffenburg, juxta Rheni flumen: meum carcer est subterraneum, nec novit locum ille qui nunc folio meo potitus est. Non plus possum scribere, quia sedulo et crudeliter custoditus sum. S. Hanés Sprancio Der sachbearbeitende "Moniteur"-Redakteur übersetzte den lateinischen Text in seiner Meldung natürlich in seiner Sprache. Dabei machte er den Fehler, "folio" mit "solio" zu verwechseln: beim Abdruck und dann auch bei der Übersetzung. "Folio", mittellateinisch und dritter Fall von Blatt, auch Zettel, ergibt bei der Translation keinen Sinn: "... nicht weiß den Ort jener, der augenblicklich diesen Zettel liest ..." Das ist mehr als unlogisch. Das ist Quatsch. Wer soll diesen Unsinn verstehen? Intelligenter benahmen sich da schon die Redakteure der Berliner "Tante Voß". Sie haben den Druckfehler "folio" erkannt und druckten an dessen Stelle "solio". Nun schaut die Sache anders aus. Ganz anders. Alles andere ließen sie natürlich stehen wie ihre Pariser Kollegen. Etwas frei übersetzt, will der "Zettel" allem Anschein nach folgendes sagen: Wer immer auch dieses Schreiben findet: Ich liege in einem Kerker bei Laufenburg am Rhein gefangen. Mein unterirdischer Kerker ist sogar demjenigen unbekannt, der jetzt meinen Thron innehat. Mehr kann ich nicht schreiben. da ich streng und grausam bewacht werde. Wie gesagt, "folium" heißt Blatt oder einfach Zettel. "Solium" hingegen, ebenfalls mittellateinisch, hat mehrere Bedeutungen: Sitz, Bank,
Tribüne, Katheder, auch Stuhl, sogar Sarg und - Thron. Aber nur in der Bedeutung von "Thron" ergibt sich einigermaßen ein Sinn. Wenn nun mit Hilfe dieser Zeitungsnotiz jemand mitteilen wollte, daß bei Laufenburg einer eingekerkert ist, dessen Thron jemand innehat, so mußte durch den Druckfehler der "Moniteur"-Leute der an eine bestimmte Adresse gezielte Schuß glanzlos verpuffen. Edmond Bapst, der französische Hauser-Forscher, glaubte deshalb: der anonyme Absender habe sich aus diesem Grunde nochmals bemüht, und zwar bei den beiden Berliner Blättern, der "Spenerschen" und der "Vossischen Zeitung". Ob die nun von sich aus den Druckfehler erkannt haben, darf angesichts der ganzen Mystifikation des Inhalts bezweifelt werden. Es wird wohl so gewesen sein, daß der Anonymus auch bei den Berlinern die Notiz gegen Bezahlung hat einrücken lassen und gleichzeitig darauf aufmerksam gemacht hat, daß es "solio" (Thron) heißen muß. Bedacht werden muß dabei, daß den Berliner Redakteuren die Originalhandschrift des angeblichen Flaschenpostzettels nicht vorgelegen hat. Überhaupt "Flaschenpost"! Weshalb so eine Mitteilung in einer läppischen Flasche dem Rhein anvertrauen! Viel einfacher und weniger risikoreich war doch der Weg vom Schreibpult des Verfassers direkt oder durch einen Mittelsmann an die "Moniteur"-Redaktion. Es hat doch auch damals schon eine gut funktionierende Post gegeben! Die Flaschenpoststory wird halt nur um des Erregens von Aufmerksamkeit, um der journalistischen Spannung willen, inszeniert worden sein. Deshalb auch hat man den Rheinschiffer, der die angebliche Flaschenpost aus dem deutschen Vaterstrom gezogen hat, nicht beim Namen nennen können. Man versetze sich in die Welt eines Zeitungslesers vom November 1816. Wer diese Notiz las, der konnte damit beim besten Willen nichts anfangen. Was soll das Ganze? Eine Zeitungsente? Fasching war noch nicht da, und die Sauregurkenzeit der Zeitungsleute schon vorbei. Die Meldung konnte auf die Öffentlichkeit keinen Eindruck machen, da nirgendwo ein Thronanwärter vermißt wurde. Ergo mußte
die Nachricht an einen bestimmten Kreis, vielleicht nur an eine einzelne Person gezielt gerichtet worden sein. Bei dieser Gelegenheit: nirgendwo in Baden wurde die Meldung abgedruckt. Baden schwieg sich aus, ließ die Provokation an sich abprallen. Und noch etwas: der Wisch war in der Ich-Form geschrieben. Kaspar aber, wenn er gemeint war - und wer sonst? - war dazumal ein Junge von vier Jahren. Völlig ausgeschlossen, daß die Mitteilung von ihm selbst stammen konnte. Und dann ist von einem unterirdischen Kerker die Rede genau genommen der Beginn der Verlies-Legende. Kaspar aber war mit Sicherheit nicht eingesperrt, jedenfalls damals noch nicht. Er hatte alle Freiheiten, die ein Bub seines Alters haben darf. Es hat also jemand einen Wink geben wollen und sicher auch gegeben. Der ominöse S. Hanés Sprancio? Daß dies ein Pseudonym, wenn nicht gar ein Anagramm darstellt, konnte sich ein gebildeter Leser bei aller übrigen Mystifikation schon damals denken. Wer derart in den inneren Bereich der Fürsten eingriff - und wenn es nur ein horrender Scherz gewesen wäre - der wird doch seinen Namen nicht kundtun. Ganz im Gegenteil! Das wäre ja gerade so, als wenn ein Einbrecher am Ort der Tat seinen Personalausweis hinterlegen würde. Und noch etwas: Laufenburg war ursprünglich eine österreichische Stadt. Sie erstreckt sich beiderseits des Rheins. Der rechtsseitige Teil gehört seit 1808 zu Baden - der ältere Teil Laufenburg, linksrheinisch, gehört seit 1803 zur Schweiz. Was aber liegt nur an die 20 Kilometer rheinabwärts vor diesem Laufenburg? Der geographisch versierte Leser wird's schon wissen: Beuggen! Kaspars Beuggen. Unser Beuggen, von dem schon so oft die Rede war. Wie gesagt, die Flaschenpostaktion rollte im November 1816 ab. Der Prinz Alexander war zu dieser Zeit knapp über einem halben Jahr alt. Und dieses kleine Wesen wird der Dreh- und Angelpunkt der Flaschenpostabsicht gewesen sein. Jemand, der vom Schicksal des erstgeborenen Prinzen wußte, wollte auf eine ebenso diskrete wie für sich selbst möglichst gefahrlose Weise kundtun, daß es noch einen Prinzen gibt: den Erbprinzen, angeblich in einem unterirdischen Kerker. Wer aber 1816 den badischen Thron "innehatte", war Großherzog Karl. Er hatte ihn - das ist besonders zu beachten - völlig legal "inne". Nach
ihm allerdings wäre der legale Nachfolger eben jener "Mann im Kerker" geworden und nicht der als Erbprinz im ganzen Land gefeierte kleine Alexander. So wollte es das Fürstenrecht. Man stelle sich die gesamte Komplikation vor! Denn offiziell und bis auf einen winzigen Mitwisserkreis war ja der 1812 geborene Erbprinz nach knapp drei Wochen verstorben. Davon waren nicht zuletzt auch seine Eltern überzeugt. Es gab doch keinerlei Grund damals, etwas anderes zu denken. Professor Pies glaubt zwar, es handele sich bei der Flaschenpostgeschichte um ein Erpressungsmanöver Hennenhofers gegenüber der Reichsgräfin Hochberg. Dies würde natürlich voraussetzen, daß Hennenhofer bereits hinter das Geheimnis von 1812 gekommen ist, es ausgekundschaftet hat, was zu diesem Zeitpunkt durchaus schon der Fall gewesen sein konnte. Aber was wollte der damals 23jährige von der Hochberg denn erpressen? Ihre immensen Schulden? Wie wir wissen, lief zur Zeit der Flaschenpostfindung das Entmündigungsverfahren, das ihre eigenen Söhne gegen die Reichsgräfin in Gang gesetzt hatten. Mit der Hochberg war also nicht mehr viel Staat zu machen und kaum mehr etwas von ihr zu erpressen. Nein, das Motiv der Flaschenpostaktion wird kaum Erpressung gewesen sein. Es lag vielmehr im politischen, im dynastischen Bereich. Der anonyme Verfasser, der bei näherer Betrachtung in der lateinischen Sprache bestimmt kein Stümper war, wenngleich er aus Tarnungsgründen sein römisches Licht etwas unter den Scheffel gestellt haben dürfte - dieser Anonymus hat dem in angeblicher Kerkerhaft einsitzenden Prinzen sagen lassen, daß sein Erbfolgerecht durch die Geburt Alexanders nun ganz besonders infrage gestellt ist. Der unbekannte Verfasser war sogar so kühn, annähernd zu sagen, wo der Prinz zu suchen ist: bei Laufenburg, in der Nähe von Beuggen, wo sich Ernst Blochmann alias Kaspar Hauser mit der Gouvernante Dalbonne seiner Kindheit erfreut - allerdings nicht als Prinz. Eine nicht unwesentliche Frage ist nun die: Hat der vertauschte Prinz schon in Beuggen Kaspar geheißen? Solange er bei Bloch-
manns lebte, wird er mit Sicherheit Ernst Blochmann des Namens gewesen sein. Wie lange auch nach seiner Umquartierung? Es ist nicht bekannt geworden. Sicher wiederum ist, daß im Gegensatz zu Karlsruhe und Umgebung in der Beuggener Landschaft der Name Kaspar äußerst oft anzutreffen war - fast ein Alltagsname, damals allerdings mit "C" geschrieben. Möglich also, wenn nicht wahrscheinlich, daß er in Beuggen bereits Kaspar genannt wurde. Der anonyme Verfasser hat auch darüber Bescheid gewußt, wie wir noch sehen werden. Das ist allerdings kein Kunststück, wenn der Beuggener Pfarrer höchstselbst als Autor fungierte. Und auch für den Organisator der Reise nach und der Unterbringung in Beuggen, den Staatsminister von Reitzenstein, dürfte der Name Kaspar Symbolcharakter gehabt haben. Bestimmt wußte er von der Auseinandersetzung des großherzoglichen Paares Karl und Stephanie, die sie einige Zeit vor der Geburt des Erbprinzen von 1812 gehabt haben. Stephanie Sie erinnern sich - wollte ihr Kind, falls es ein Prinz werden sollte, Gaspard taufen lassen. Der Großherzog, sicher aber noch mehr seine Mutter, die Markgräfin Amalie, haben diesen Namen für einen deutschen Prinzen entrüstet abgelehnt. Durchaus möglich, daß der Former und Protektor des badischen Staates, Reitzenstein, ganz bewußt für den nach Beuggen geschafften Prinzen den Namen Kaspar gewählt hat. Sozusagen als Erkennungszeichen für die wenigen Eingeweihten. Zudem fiel ein Kaspar in Beuggen und Umgebung namentlich auf keinen Fall auf, da es dort viele Träger dieses Vornamens gab. Wer mag nun der Autor dieser sogenannten Flaschenpost gewesen sei? Markgraf Ludwig, der einstige Intimvertraute seiner Stiefmutter Hochberg? Lachhaft! Der hat damals mit Sicherheit noch nicht gewußt, wo Kaspar untergebracht ist. Das war zunächst einmal das Geheimnis der Hochberg und von Reitzensteins. Die Reichsgräfin wird nicht so dumm gewesen sein, ihren Trumpfbuben Kaspar mit dessen Adresse dem Ludwig auszuliefern. Hennenhofer als Erpresse? Darüber schon weiter oben! Auch Fehlanzeige. Die Hochberg selbst? Wäre schon eher möglich, daß sie aus Rache eine Bombe, ihre Kaspar-Bombe, platzen lassen wollte. Demgegenüber muß aber ihre Angst gestanden haben, beim ertappten Versuch eines solchen Coups
in einer Irrenanstalt zu landen. Das aber dürfte für die Reichsgräfin Hochberg ein gewichtiges Argument gewesen sein, es nicht zu tun. Dies zu überblicken war sie clever genug. Reitzenstein selbst? Er hat sich bestimmt große Sorgen gemacht, wie das Schlimmste von Baden abzuwenden ist. Das Schlimmste aber konnte doch nichts anderes sein, als wenn plötzlich - egal von welcher Seite - der wahre Thronerbe wie Phönix aus der Asche auftauchte: der Erbprinz, der vertauscht worden ist, den alle Welt längst für tot hielt. Welch ein Skandal wäre das! Ein gemähtes Fressen für die Feinde des bestehenden Systems, allen voran die Demokraten. Der Skandal hätte den Sturz der Dynastie bedeuten, ja das monarchische System an sich hätte daran zerbrechen können - 102 Jahre vor dem November 1918. Nein, der Diplomat Reitzenstein konnte nur ein Interesse habe: die Abstammung, die Herkunft des Jungen so zu vertuschen, daß er niemals mehr als ein Thronprätendent des großherzoglichen Hauses Baden in Erscheinung treten konnte. Die Interessen des Staates verlangten ein möglichst komplettes Vertuschen des stattgehabten Majestätsverbrechens, mit dem ein Reitzenstein ja nicht das geringste zu tun hatte; er konnte nur mehr kitten, was die Hochberg spontan angerichtet hat, damals Anno 1812. Was geschehen ist, ist geschehen, mag er sich gesagt haben. Es darf aber daraus nicht der Untergang Badens, ja vielleicht aller deutschen Monarchien eingeleitet werden. Überall im Lande gärte es eh schon. Die Revolutionsjahre von 1848 standen bevor und waren schon im Vorhof der Dynastien. Fazit: Auch von Reitzenstein konnte nicht das allergeringste Interesse an der Flaschenpostaktion gehabt haben. Wer aber war es dann, der den Flaschenpostwisch, den lateinischen, veranlaßt beziehungsweise angefertigt hat? Es kann fast nicht anders sein, als daß sich die Dalbonne mit ihrem Mitwisser oder wenigstens Mitahner, auf jeden Fall aber mit ihrem Vertrauten, dem Pfarrer Eschbach, zusammengetan hat, um aktiv zu werden. Inspirator wird vielleicht sogar die Dalbonne gewesen sein, die glaubte, ihr Auftraggeber in Karlsruhe habe sie im fernen Beuggen vergessen. Es kann also auch etwas Egoismus mit im Spiele gewesen sein. Wahrschein-
lich hat es ihr erst später gedämmert, daß sie damit aktiv in eine Haupt- und Staatsaktion eingegriffen hat, ohne daß ihr jemand dies geheißen hat. Warum sonst hat sie beim Zimmerverhör des Grafen Pálffy ihre Nervenzusammenbrüche gekriegt oder aus Todesangst simuliert. Ja sie jammerte darum, sie um Gotteswillen nicht "aufs Schafott" zu bringen. Angst vor Todesstrafe, nur weil sie die Gouvernante eines Buben war, dessen wahre Identität man ihr sicher nicht auf die Nase gebunden hat? Nein, davor brauchte sie keinen Bammel zu haben. Ihre Angst ist aber erklärlich, wenn sie die Initiatorin oder Mithelferin der Flaschenpostsache gewesen ist! Der Schreiber des Zettels und Erfinder der sagenhaften Flaschenpost im Rhein dürfte Pfarrer Eschbach gewesen sein. Vielleicht wurde ihm die ganze Sache langsam unheimlich und er sehnte sich deshalb danach, den Buben aus seinem Pfarrbereich loszubekommen. Es kann aber auch sein, daß er aus christlicher Verantwortung gehandelt hat, wonach es ihm als ein ungeheueres Verbrechen erscheinen mußte, daß der wirkliche Thronerbe von den ihm zustehenden Rechten zurückgehalten wurde. Es könnte aber auch sein, daß er mitsamt der Madame Dalbonne seiner Sache nicht ganz sicher war, ob Kaspar tatsächlich Badens Erbprinz ist. Ein Luftballon also, den die beiden aufstiegen ließen. Gefährlich noch genug, sollte die Sache je rauskomme! Eschbach, der einst an der Freiburger Uni Griechisch und Hebräisch lehrte, wird also den Zettel in lateinischer Sprache fabriziert haben - in recht dürftigem, schülerhaftem Latein, auf daß nie jemand darauf käme, ein gewiefter Kenner der Sprache Cäsars habe den Schrieb verfaßt. Auf welchen Umwegen er dann in der Redaktion des "Moniteur" landete auf keinen Fall über Flasche und Rheinschiffer -, das gehört nach wie vor zu den Hauser-"Rätseln", deren es auch heute noch einige gibt. Folge der Flaschenpostveröffentlichung war, daß Kaspar von nun an nicht mehr sicher war in Beuggen. Der Fingerzeig war zu deutlich. Wahrscheinlich gleich nach der Veröffentlichung kam er deshalb mitsamt seiner Gouvernante zunächst einmal nach Hochsal in den Hotzenwald, dem Heimatort Pfarrer Eschbachs, dessen Vater dort noch lebte, wie gesagt als Schneider. Pfarrer von Hochsal aber war Jakob
Dietz. Professor Klee schrieb darüber 1929 in seinem schon mehrfach erwähnten Büchlein "Neue Beiträge zur Kaspar-Hauser-Forschung": Im allgemeinen wird in der Literatur die Ansicht vertreten, Hauser habe sich 1816 zu Hochsal bei Pfr. Dietz befunden. Diese Vermutung geht auf eine 1840 zu Paris gedruckte Schrift zurück, in der auch der Name Eschbach genannt wurde. Nach Erscheinen dieser Schrift veröffentlichte Eschbach, damals Pfarrer in Hochsal, und das großherzogliche Bezirksamt Waldshut, im "Waldshuter Intelligenzblatt" (Nr. 46 vom 13. November 1840) eine Erklärung, die über Hochsal bzw. Eschbach verbreiteten Mitteilungen seien Erdichtungen und Lüge. Dazu darf gesagt werden: Pfarrer Jakob Dietz publizierte interessanterweise, um nicht zu sagen bezeichnenderweise, zu keiner Zeit eine solche Reinwaschungserklärung! Und Eschbach konnte seine Erklärung - sicher auf Druck des großherzoglichen Bezirksamtes Waldshut - ruhigen Herzens öffentlich bekanntgeben. Denn: zu seinen Tagen als Seelsorger von Hochsal war der Junge längst von dort verschwunden - wahrscheinlich schon im Sommer, spätestens aber im Herbst 1817. In Hochsal jedenfalls hat Pfarrer Eschbach einen Kaspar nie betreut. Pfarrer Dietz aber, der von 1807 bis zu seinem Tode im Jahre des Herrn 1827 Pfarrer von Hochsal war, hat sich diesbezüglich nie zu Wort gemeldet. Er schwieg sich aus. Und als Eschbach 1840 seine Ehrenerklärung abgab, deckte seinen Amtsbruder Dietz bereits seit 13 Jahren der Rasen des Hochsaler Gottesackers. Alle guten Dinge - gute wie weniger gute - sind angeblich drei. Jedenfalls wurde in der Hauser-Literatur, vor allem bei Edmont Bapst, noch ein katholischer Geistlicher als Mitwisser am HauserVerbrechen schwer verdächtigt. Mir scheint fast so, als hätten sich damals einige Leute diebisch darüber gefreut, bei dieser Gelegenheit einigen katholischen Geistlichen eins auszuwischen. Die Häufung katholischer Theologen und wie sie dargestellt wurden, läßt diesen Verdacht wahrscheinlich werden. Kurzum, auf Kaspars Weg von der südbadischen Spitze nach Nordostbayern soll er nämlich vorüberge-
hend auch in Mundelfingen, einem Ort bei Donaueschingen, an die 60 Kilometer von Hochsal entfernt gelegen, Quartier gefunden haben mitsamt der Dalbonne. In diesem Mundelfingen aber war ein gewisser Engesser von 1814 bis 1823 Pfarrer. Er wurde, wie später auch Eschbach, nach Karlsruhe in die katholische Kirchensektion berufen, brachte es zum Direktor dieser Institution und stand bei Großherzog Ludwig, der sich seit 1818 als angeblich letzter Zähringer auf dem Throne räkelte, in noch höherem Ansehen als Eschbach. 1832, zwei Jahre nach Ludwigs Tod, legte Engesser sein Amt in Karlsruhe nieder und zog sich wieder auf seine frühere Pfarrstelle in Mundelfingen zurück. Von Garnier, einem politischen Flüchtling, einer windschiefen Leuchte, die mit allen Hunden gehetzt war, aber einige Interna um Kaspar Hauser in Erfahrung gebracht haben muß, wenngleich nicht alle - von diesem Manne erfahren wir in seiner Broschüre von 1834, daß Engesser Mitwisser am Hauser-Verbrechen gewesen sein soll. Tatsache ist auf jeden Fall, da geschichtlich verbürgt, daß dieser Pfarrer Engesser bei seinen Pfarrkindern nicht beliebt war - ein ungeliebter Hirte seiner Schäflein, die ihn am liebsten gefressen hätten. Dies muß natürlich nicht unbedingt bedeuten, daß er tatsächlich mit der Hauser-Sache zu tun hatte, wenngleich - das sollte bedacht werden selbst an einem Gerücht zumeist ein Körnchen, wenigstens ein Körnchen Wahrheit ist. Ganz von ungefähr kommt nie etwas. Während der bürgerlichen Revolution von 1848 - und auch dies ist geschichtlich verbürgt - wurde Pfarrer Engesser von der vox populi so sehr geschmäht, beschimpft und als Kaspar-Hauser-Mörder (!) bedroht, daß er vorübergehend sogar fliehen mußte. Doch zurück zur Flaschenpost vom November 1816. Es passierten nämlich um diese Zeit herum noch einige gar seltsame Dinge, die wen wundert's? - auf den Hauser-Fall bezogen wurden und noch werden. Sagen wir, die Fama war's, die noch einen Flaschenposttexter aus der finsteren Nacht politischer Umtriebe hervorholte. Die Fama, eine Art efeuumrankte Wahrheit, hatte dabei einen Piaristenmönch aus dem aufgelassenen Kloster Rastatt auf den Kicker genommen. Hornung hieß der Mann mit seinem bürgerlichen Name; als Klosterbruder wurde er Paulinus geheißen. Wenige Monate nach der Fla-
schenpostveröffentlichung, anfangs 1817, ist dieser Frater Paulinus tot aufgefunden worden. Ermordet. Ja, es wurde einwandfrei festgestellt, daß der Klosterbruder umgebracht worden ist. Weder ein Täter noch ein Motiv wurden je gefunden. Und da es kein Motiv für die Ermordung gibt - bis zum heutigen Tag nicht - gibt es auch keinen unmittelbaren Bezug zum Hauser-Fall. Nur Vermutungen. Daß dessenungeachtet der Tod des Piaristenmönches durch Gemunkel in Wort und Schrift in Verbindung mit Hauser gebracht wurde, erhärtet die Wahrscheinlichkeit, daß von gewissen revolutionären Kreisen aus der Versuch gemacht wurde, der katholischen Kirche kräftig eins auszuwischen. Und noch etwas! Ein damals bekannter und gefürchteter Bandit trieb tot im Rhein, das Gesicht nach unten. Der "Lange Görgi" wurde er genannt, auch der "Italiäner". Gefunden, aufgefischt wurde der Gangster Anno 1816 (!) und zwar bei - Laufenburg! Ja, Sie haben richtig gelesen: bei Laufenburg wurde der berüchtigte Bandit aus dem Rhein tot herausgezogen. Auch sein oder seine Mörder wurde beziehungsweise wurden nie entdeckt. Der Fall blieb ebenfalls ungeklärt, die Akten nach Recherchen, die angeblich ergebnislos verliefen, geschlossen. Und was die Flaschenpostpublikation betriff: In der Öffentlichkeit ist darüber nicht einmal eine Diskussion entstanden. Niemand außer einem winzigen Kreis konnte damit etwas anfangen. Die Sache kam rasch in Vergessenheit - auch die eigenartige Unterschrift des Schriebs: "S. Hanés Sprancio", die in Wahrheit ein Kapitel für sich ist. Amtsoffiziell wurde die Sache erst 14 Jahre nach der Veröffentlichung des lateinischen Textes im "Moniteur", der übrigens auch von badischen Regierungskreisen gelesen wurde. Ein Ökonomierat Cuno aus Ratibor meldete sich schriftlich beim Ansbacher Appellationsgericht, in dem heute das Amtsgericht untergebracht ist - einem stattlichen Renaissancebau, teilweise zusammengebaut mit der evangelischen Kirche Sankt Gumbertus, die jüngeren Datums ist. Das war am 25. März 1831. Der Ökonomierat teilte dem Präsidenten von Feuerbach mit, er habe beim Durchblättern alter Zeitungen die "Vossische
Zeitung" No. 138 vom 16. November 1816 gefunden und darin die merkwürdige Meldung über eine Flaschenpostmitteilung. Um die Sache plausibel zu machen, fügte er den alten Zeitungsausschnitt der "Tante Voss" seinem Begleitschreiben bei. Cunos Mitteilung aber blieb unbeantwortet! Hans Scholz schrieb darüber: Feuerbach hat den Hinweis jenes Ökonomierates aus Oberschlesien vom März 1831 ohne Zweifel zur Kenntnis genommen, aber keiner Antwort gewürdigt. Auch nicht einer abschlägigen. Und Scholz folgert daraus: Die Hauser-Sache war also für den Präsidenten bereits abgeschlossen. Die Räson des Staatsbeamten hatte einen Sieg über den Kriminalisten von Genie davongetragen. Nach Kaspar Hausers gewaltsamen Tod nahm das Ansbacher Gericht am 24. Februar 1834, das gemäß einer Anordnung des Appellationsgerichtes auf alle Zeitungsartikel zum Falle Kaspar Hauser achten mußte, auch die Flaschenpostgeschichte wieder auf. Hauser war gerade zwei Monate unter der Erde. Das Gericht konnte aber mit der Story, die mittlerweile in vielen deutschen Blättern nachgedruckt wurde, nichts anfangen und legte deshalb die Sache ad acta. Beschluß des Gericht: Hinsichtlich des Aufsatzes in der Hamburgischen Abendzeitung vom 19. Februar 1834 No 6722 bleibt es bei dem früheren Beschluß, wonach dieser Artikel keine Veranlassung zu gerichtlichen Recherchen gibt. Professor Pies dazu, dem wir diesen wörtlichen Gerichtsbeschluß verdanken: In den Kaspar-Hauser-Akten taucht diese Flaschenpostgeschichte fortan nicht mehr auf. Auch in den Präsidialakten, die von dem Ansbacher Gericht aus Feuerbachs Nachlaß beigebracht und unter der (späteren) Nummer 2098 dem Kaspar-Hauser-Akten-Bestand einverleibt wurden, findet sich nichts darüber.
Das war 1834. Zu dieser Zeit waren bereits verstorben: Großherzog Karl (1818), die Reichsgräfin Hochberg (1820) und Großherzog Ludwig (1830). An der Regierung war die Hochberg-Linie, deren erster Repräsentant als Großherzog der Reichsgräfin Erstgeborener Leopold war. Doch verweilen wir noch kurz bei der Flaschenpoststory, die von der Hauser-Geschichte nicht zu trennen ist. Mit "S. Hanés Sprancio" war der lateinische Wisch unterzeichnet. Niemand in der Öffentlichkeit konnte damals etwas damit anfangen. Und so blieb es 109 Jahre hindurch. Von 1816 bis 1925! Dann meldeten sich plötzlich - es war im März 1925 - innerhalb weniger Tage gleich zwei Herren und boten eine Lösung des Anagramms an. Völlig unabhängig voneinander, enträtselten sie die Unterschrift als "Sein Sohn Caspar". Seltsam, wie's oft im Leben zugeht: über 100 Jahre hindurch konnte keiner das Anagramm dechiffrieren. und dann wurde von zwei Seiten die gleiche Lösung angeboten: von einem Arzt Dr. Prager aus Dresden und einem Studienassessor Helbing aus Blankenburg in Thüringen. Die Hauserianer jubelte! Es war in der Tat die große Zeit der HauserForschung, wobei sicher auch die Tatsache Triebfeder gewesen sein dürfte, daß sich Hausers Auftauchen in Nürnberg jährte: 1828 - 1928! Ein Jahr nach der ersten Enträtselung, 1925, brachte der Polizeidirektor im Ruhestand Dr. Wagler aus Leipzig seine ebenso bemerkenswerte wie fundierte Arbeit "Die Enträtselung der oberrheinischen Flaschenpost" heraus. In Nürnberg übrigens. Mit der Methode des erfahrenen Polizeimannes und dem Scharfsinn des Juristen bot auch er die Lösung "Sein Sohn Caspar" an. Das ist verblüffend. Aber ebenso verblüffend ist zunächst einmal die Tatsache, daß 109 beziehungsweise 110 Jahre vergehen mußten, bis das Anagramm entziffert werden konnte. Warum, so muß man sich heute noch fragen, hat der Verfasser des Flaschenpostzettels einst einen so schwierigen Code gewählt - ein Anagramm, das nach menschlichen Ermessen kaum dechiffriert werden konnte. Anstelle dieses "S. Hanés Sprancio" hätte er doch dann gleich "XY" hinschreiben oder seinen Wisch ohne Unterschrift in den "Moniteur" und die Berliner Zeitung lancieren können. Er tat's aber nicht, hat sich jedoch mit Sicherheit etwas dabei
gedacht, der Pfarrer Eschbach, wenn nicht alles trügt. Ein Rätsel mehr in der Hauserei. Und es müßte mit dem Flaschengeist zugehen, wenn nicht auch andere Lösungen als "Sein Sohn Caspar" aus dem "S. Hanés Sprancio" herauszukristallisieren wären. Mögen Mathematiker und Dechiffrierer, denen heutzutage ja Computer zur Verfügung stehen, sich näher damit befassen. Verblüffend genug ist eh die ganze Sache. Bleiben wir also bei dieser wirklich phänomenalen Lösung "Sein Sohn Caspar". Wessen Sohn konnte denn gemeint sei? Kein anderer, sei geantwortet, als eben der Sohn des 1816 regierenden badischen. Fürsten, des Großherzogs Karl, Kaspars Vater. Aber - um die Wirrsal vollzumachen: es darf daran erinnert werden, daß dessen Erstgeborener ohne Namen in der Familiengruft beigesetzt wurde. Er "starb" bekanntlich als Prinz ohne Namen. Verschiedene Autoren und Hauser-Forscher folgerten daraus, daß Großherzog Karl und dessen Frau, selbst wenn die Unterschrift schon damals enträtselt worden wäre, mit einem "Caspar" keinesfalls etwas hätten anfangen können. Dem kann allerdings heute nicht mehr zugestimmt werden, und zwar seit wir wissen, daß Stephanie ihren Erstgeborenen liebend gerne auf Gaspard taufen lassen wollte - eine späte Verehrung für ihren Lieblingsonkel, den Generalvikar Gaspard Lezay-Marnesia. Ihr Gatte und dessen Mutter haben dies verhindert, entrüstet abgelehnt. Das großherzogliche Ehepaar und einige wenige Vertraute konnten also mit dem Namen "Caspar" sehr wohl etwas anfangen. Auch ein Staatsminister von Reitzenstein! Wir verdanken diese wertvolle Information der schon erwähnten Autorin Sonja von Grunelius-Schacht. Dabei kommt der zusätzliche Gedanke. ob das Wort beziehungsweise der Name "Sprancio" sicher aus dem Italienischen kommend, für einen bestimmten Kreis nicht eine Bedeutung gehabt hat. Sagen wir einmal, es könnte sich uni ein Stichwort gehandelt haben, wie es bei den Militärs der Fall ist: "Unternehmen Seelöwe", "Edelweiß". "Barbarossa" oder, um ein Beispiel aus der allerjüngsten Geschichte zu nennen. "Feuerzauber" - das Stichwort beim Einsatz der GSG-9-Männer gegen die Terroristen in Mogadischu. Es ist dies nur so ein Gedankengang. Irgendeine Logik muß doch dahinter gesteckt haben mit dieser myste-
riösen Unterschrift, die über 100 Jahre hinweg undeutbar war. Diese Kombination würde allerdings voraussetzen, daß Pfarrer Eschbach tiefer in die Sache verstrickt war, als bisher vermutet wird. Es ist nun nie festgestellt oder ans Tageslicht gebracht worden, ob das Großherzogspaar 1816 Kenntnis von den Zeitungsmeldungen über die angebliche Flaschenpost erlangt hat. Gelesen am Hofe wurden die großen ausländischen Blätter wie "Le moniteur universel" oder die "Vossische Zeitung" auf jeden Fall. Aber wie schon einmal gesagt: Baden reagierte offiziell mit keiner Wimper auf den sagenhaften Flaschenpostbrief. Niemals. Bis zum heutigen Tage nicht, obgleich Nachkommen der Hochbergs noch leben, fortbestehen. Angenommen aber, daß auch Karl und Stephanie die Sache zur Kenntnis gekommen ist: dann haben auch sie geschwiegen. Karl vielleicht aus seiner fast nicht mehr geheuerlichen Indolenz und Resignation heraus, Stephanie aber aus Existenzangst. Obgleich Großherzogin, war sie nie richtig anerkannt am Hof - sie, die Französin, die NapoleonTochter. Seit des Korsen Sturz wurde ihr von den Hofleuten teilweise mit offenem Haß und Schadenfreude begegnet. Sie war mehr oder weniger nur noch eine Geduldete, ein Fremdkörper am badischen Hofe. Selbst ihre nächsten Verwandten, ihre Schwiegermutter Amalie und Markgraf Ludwig, sahen in Stephanies Kindern nicht die Früchte einer dynastischen Ehe, sondern Bastarden einer von Napoleon aufgezwungenen Heirat - von Napoleon, den nun ganz Europa verfluchte. Es darf durch schriftliche Überlieferungen als sicher gelten. daß der Markgräfin Amalie ihre eigenen Enkelkinder aus der Ehe KarlStephanie gleichgültig waren - ja, daß sie den Hochberg-Söhnen innerlich näher stand. Gleiches, ja noch mehr, gilt für Markgraf Ludwig, ihren Schwager, der den Hochberg-Söhnen ganz offen zugetaner war und sie lieber auf dem Throne gesehen hätte als die Kinder Stephanies - natürlich erst dann, nachdem er selbst möglichst lange Großherzog gewesen war. Lästermäuler folgerten aus diesem Umstand und der jahrelangen engen Freundschaft zwischen Ludwig und seiner Stiefmutter Hochberg, daß einige von ihren Kindern den Markgrafen zum Erzeuger hatten. Markgraf Ludwig tat zwar immer so, als machte er sich aus der Großherzogswürde nicht viel. Aber die-
ser Schein hat getrogen. Wie's überhaupt oftmals der Fall ist bei Leuten, die sich gelassen und ohne Ehrgeiz geben, in Wahrheit aber verzehrt werden von den Flammen eines übersteigerten, eines krankhaften Ehrgeizes. Nach allem, was über Ludwig von Zeitgenossen mitgeteilt wurde - und zwar nicht wenig -, gehörte er dieser Kategorie von Menschen an. Wie gesagt, Stephanie hatte kein sorgenfreies Leben am Karlsruher Hof. Sie mußte sich immer wieder behaupten. Die Welle von Aversionen hat sie sicher gefühlt, auch dann, wenn diese nicht so offen zutage traten. Sie war überaus sensibel. Dennoch werden wir sie im Verlaufe der Hauser-Tragödie als eine Frau sehen müssen, die nicht ganz in das bisherige Bild, das von ihr gezeichnet. wurde, hineinpaßt. Sie konnte nämlich ebenso hart und auf ihre Vorteile bedacht sein wie sie tatsächlich gütig war. Zur Assoziation "gutmütiger, liebenswürdiger und gefälliger Kaspar", so wie er uns geschildert wurde, paßte eben die Vorstellung eines grundgütigen Mutterherzens, einer leidenden, schier verzweifelnden Mutter, den man ihr Kind weggenommen und angeblich wie einen Wilden aufgezogen hat. Das aber war die Großherzogin Stephanie eben nicht. Dies muß gesagt werden, selbst wenn alle Hauserianer nun mit geballten Fäusten aufstehen sollten. Stephanie, das steht fest, wußte ab einem gewissen Zeitpunkt sehr wohl, daß kaum mehr ein Zweifel darüber besteht: ihr erstgeborener Sohn ist identisch mit Kaspar Hausen. Sie wußte es - und hat ihn um ihrer Hofstellung und ihrer Töchter Karriere willen verleumdet. Dreimal krähte der Hahn ... Sicher litt sie darunter, aber ihr eigenes Wohlergehen und das ihrer drei Töchter überragte ihren Schmerz um den hilflosen jungen Menschen, der am Pfingstmontag 1828 der Welt auf dem Nürnberger Unschlittplatz preisgegeben wurde: wie eine Schießbudenfigur auf dem Jahrmarkt. Hohe und höchste Herrschaften versprachen ihm Schutz und tätige Anteilnahme, aber das alles war letztlich nur leeres Geschwätz. Unverbindlichkeiten. Die Herrschenden, ob von Gottes- oder Volksgnaden, sind es von jeher gewohnt, "die da unten" zu beschwichtigen, sobald dies opportun erscheint. Hohle Phrasen waren es, wenn selbst der bayerische König und seine Gemahlin, Ludwig Nummer eins, der Lola-Montez-Ludwig, dem
jungen Mann Kaspar in Nürnberg versprachen, ihn. schon nicht fallen zu lassen. Nein, sie alle, seine eigene Mutter mit eingeschlossen, überließen den Menschen Kaspar Hauser, das unschuldige Opfer purer Machtinteressen, seinem Schicksal. Schlimmer noch: sie alle, die Wissenden um das Geheimnis, überließen Kaspar Leuten wie einem Lord Stanhope, diesem dunklen "Reisenden in Sachen Politik", oder einem kleinbürgerlichen Fuchser wie dem Lehrer Meyer in Ansbach. Armer Hund von einem Kaspar! Die Regieführung und ihre dunklen Hintermänner durften um ihres Machtwillens dem Kaspar nicht einmal gönnen, als ganz gewöhnlicher kleiner Untertan, als Aktenschreiber, sein Leben zu fristen. Denn selbst wenn er nicht der badische Thronfolger gewesen wäre, hätte sein Schicksal so enden müssen, wie es tatsächlich geendet hat. Er mußte so oder so von der Bildfläche verschwinden, ob echter oder falscher Prinz. Die sogenannte Staatsraison durfte es nicht zulassen, eventuell durch die Existenz eines Kaspar Hauser in ernsthafte Gefahr gebracht zu werden. Das Gerede und Geschreibe in ganz Europa ließ Leuten, die in ganz anderen Kategorien denken als der einfache Bürger, angeblich keine andere Wahl, als den Hauser-Fall von einem Agenten mit einem sogenannten Banditendolch - einer überaus gefährlichen, zweischneidigen Waffe im Ansbacher Hofgarten lösen zu lassen. In diese Kategorie der wenigen Mächtigen über die vielen Ohnmächtigen muß auch Kaspars leibliche Mutter Stephanie eingereiht werden. Jawohl, sie hatte Angst. Aber nicht Angst um Leib und Leben, sollte sie sich zu ihrem Sohne bekennen, sondern Angst um einen eventuellen, wenn nicht wahrscheinlichen Verlust ihrer und ihrer Töchter Vorrechte vor vielen, vielen anderen Menschen. So hatte sie in Karlsruhe beziehungsweise in Mannheim ihre eigene Hofhaltung, ihren eigenen Hofstaat. Und den genoß sie. Das steht fest. Den genoß sie trotz der vielen Anfeindungen. ja Gehässigkeiten, die sie als Napoleons "Fille de France" erdulden mußte. Ja vielleicht gerade deshalb - eine Trotzreaktion. Ein Bekenntnis zu Kaspar Hauser als ihrem Sohn hätte zwangsläufig einen Eklat zur Folge gehabt - einen Eklat von unabsehbarem Ausmaß. Großherzog Leopold, der erste Hochberg
auf dem badischen Thron, hätte ohne Zweifel seinen Platz zugunsten Kaspar Hausers räumen müssen. Was aber aus ihr, der Stephanie, und ihnen drei wohlgeratenen Töchtern geworden wäre, das stand und steht noch heute in den Sternen. Ein solches Risiko aber wollte Stephanie nicht eingehen. Und ob dann trotz der Thronräumung eines Leopold der Kaspar Hauser dessen Nachfolger geworden wäre, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Wahrscheinlich ist, daß bis zur Beendigung einer entsprechenden Ausbildung des Kaspar der Thron und die Regierungsgeschäfte von einem anderen besetzt und wahrgenommen worden wären. Unmöglich wäre es auf jeden Fall gewesen, den Kasparus einfach so auf den Thron zu hieven. All dies mag die Großherzogin-Witwe Stephanie bedacht haben, wobei ihr sicher auch Berater von der politischen Größe eines von Reitzensteins zur Seite gestanden haben werden; vielleicht auch der rabendunkle Lord Stanhope, dessen politische Geschäfte, wahrscheinlich Agentengeschäfte, ihn dauernd auf Achse hielten. Dennoch: Macht scheint nicht nur zu korrumpieren, sondern auch Gefühle zu gebären, die für uns "gewöhnliche" Menschen weder faßbar noch begreiflich sind. Armen Kaspar, der auf seinem kurzem Erdenpfad immer auf der Suche nach seinen Eltern, vor allem nach seiner Mutter war. Wenigstens von dieser götterdämmerungsartigen Enttäuschung wurde er verschont, daß nämlich seine Mutter - es gibt leider kaum einen Zweifel daran - von ihm als ihren Sohn gewußt hat und ihm dennoch nicht beigestanden ist. Noch auf seinem Sterbebett im Hause des ekelhaften Lehrers Meyer, den wir noch zur Genüge kennenlernen werden, dieses voll von Minderwertigkeitskomplexen geplagten Mannes, hat Kaspar Hauser von jener sagenhaften großen und mächtigen "Madame" in abgebrochenen Worten gesprochen. Wen er damit wohl meinte? Die Stephanie? Sollte er damit seinen mütterlichen Schutzengel angesprochen haben, dann war er in diesem Punkt selbst auf dem Sterbelager noch ein betrogenen Mensch. Dieser Schutzengel wurde ihm nie zuteil. Nein, echte Freunde und Gönner hatte er nur ganz wenige: Präsident von Feuerbach, Baron von Tucher und den braven, weil selbstlosen
Kämpfer für seinen einstigen Zögling: den Nürnberger Professor Daumer und den Bürgermeister den Stadt Nürnberg, Dr. Binder. Damit dürften Hausers wahre Freunde zu seiner Lebzeit schon aufgezählt sein. Vielleicht gehörte noch Regierungspräsident von Stichaner und seine Tochter Lilla dazu - aber dann nur am Rande. Sie alle wurden zeit ihres Lebens in Sachen Hausen verleumderisch behandelt der Präsident und seine Tochter ausgenommen. Sie wurden grundlos als leichtgläubige Phantasten hingestellt. Und warum? Weil sie Kaspar Hauser mit realen Augen sahen und mutig genug waren, ihn gegen seine Verleumder zu verteidigen. Sie wurden teilweise verächtlich gemacht, wie Professor Daumer, weil sie eben in Kaspar Hauser keinen Betrüger sondern das Opfer dunkler Mächte erblickten - dunkler Mächte, die im Glanze lebten und jeden vernichten konnten, der ihnen ernsthaft in die Quere kam. Im Verlaufe der Hauser-Geschichte wird zwangsläufig davon noch die Rede sein müssen. Doch sei an dieser Stelle wieder der Faden aufgenommen: die Flaschenpost und ihr Dreh- und Angelpunkt. Gemeint ist der am 1. Mai 1816 geborene Erbprinz Alexander - wenn man so will: Kaspar Hausers jüngerer Bruder. Während dessen Schwestern Luise und Josephine kräftig und gesund zur Freude ihren Eltern heranwuchsen - Tochter Marie stand noch aus -, schien Prinz Alexander im letzten Drittel seines nur einjährigen Lebens zusehends kränken geworden zu sein. Es ging mit dem hochwohlgeborenen Säugling ständig bergab. Gift? Ein "schleichendes Gift" wie bei seinem Vater Karl, dem Großherzog? Er jedenfalls war davon überzeugt: von seiner eigenen "schleichenden Vergiftung" wie von der seines Alexanders. Und er machte auch gar kein Hehl daraus, daß sein Erstgeborener, der Prinz ohne Namen, einst ebenfalls von mächtiger Mörderhand zur Strecke gebracht worden waren. In diesem Falle aber irrte er sich. Und wahrscheinlich hat er nie erfahren - im Gegensatz zu seinen Frau, daß es mit seinem Erstgeborenen eine besondere Bewandtnis hat - eine Bewandtnis, die vielleicht noch schlimmer war als Mord auf Raten, dem er selbst und aller Wahrscheinlichkeit nach auch sein Sohn Alexander anheimgefallen, von dem sie zur Strecke gebracht worden sind. Über-
zeugt war von alldem aber nicht nur Karl, sondern auch seine Gemahlin und engste Verwandte nebst politisch hochkarätigen Hofleuten. Nach wochenlangem endgültigen Siechtum - die Zähnlein faulten schließlich, sowie sie aus dem Zahnfleisch hervorlugten, und der Rachen war total entzündet - starb die Hoffnung der Eltern und der badischen Legitimisten. Prinz Alexander Maximilian Karl wurde knapp über ein Jahr alt. Geboren am 1. Mai 1816, starb das Büblein am 8. Mai 1817. Zu dieser Zeit aber war Großherzogin Stephanie "unterwegs" mit ihrer letzten Tochter Marie. Sie wurde am 11. Oktober 1817 geboren. Prinzessin Marie heiratete im Februar 1843 den Herzog von Hamilton, Marquise von Douglas. Dieses in Großbritannien ebenso bekannte wie bedeutende Geschlecht der Hamiltons besteht noch. Das Familienoberhaupt der Hamiltons wollte übrigens Rudolf Hess, gewesener Stellvertreter Adolf Hitlers, bei seinem legendären Englandflug als Friedensvermittler gewinnen. Dies nun nebenher. Doch nun zu von Feuerbachs "Mémoire" vom Januar 1832, von dem bereits wiederholt die Rede war. In diesem streng geheimen Bericht an Karoline von Bayern deckte von Feuerbach gewisse Karten auf, die uns Heutigen klarmachen, ja beweisen, daß der mittelfränkische Gerichtsherr und Kriminologe weit mehr wußte, in Erfahrung gebracht hat, als damals aktenkundig gemacht wurde. Es dürfte heute außer jedem Zweifel stehen, daß Anselm von Feuerbach - die Aktiven und Mitwisser des Hauser-Komplotts ausgenommen - jener Mann war, der mehr hinter die Kulissen der Geschehnisse um den Nürnberger Findling geblickt hat, als jeder andere. Und es wird die Vermutung nicht vermessen sein, daß von Feuerbach wahrscheinlich noch mehr wußte oder zumindest ahnte, als er in seinem Mémoire schriftlich zum Ausdruck gebracht hat. Er schreibt darin des öfteren von "moralischen Gewißheiten", ließ andererseits aber klar erkennen, daß einwandfreie juristische Beweise aus verständlichen Gründen wohl nie zu erbringen sein werden. Das war im Januar 1832, anderthalb Jahre vor seinem eigenen Tod und knapp zwei Jahre vor Kaspars Ermordung - wohlgemerkt! In Baden regierte zu dieser Zeit Großherzog
Leopold, Nachfolger von Ludwig, dem Louis, den Napoleon hatte verbannen lassen. Im März 1830 hatte Leopold Hochberg den Thron erklommen. Ob er wohl von Feuerbachs Mémoiren gewußt hat? Durchaus möglich, da Geheimnisse dieser Art nicht selten auf dem Wege der immer umstritten sein werdenden Geheimdiplomatie über feine und feinste Kanälchen ihren Weg zu den Mächtigen finden. Ja, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hat Leopold davon gewußt. Was war nun der Kern dieses Feuerbach'schen Mémoires? Vernehmen wir von Feuerbach selbst: Nicht Rache, nicht Haß konnten Motive zur Einkerkerung, dann zur versuchten Ermordung dieses unschuldigen. harmlosen Menschen gewesen sein. Es bleibt kein anderer Beweggrund denkbar als der Eigennutz. Er wurde entfernt, damit Anderen Vortheile zugewendet und für immer gesichert würden, welche von Rechtswegen nur ihm gebührten; er mußte verschwinden, damit Andere ihn beerben, er sollte ermordet werden, damit jene in der Erbschaft sich behaupten konnten. "Einkerkerung", "versuchte Ermordung". Es war schon die Rede davon, daß von Feuerbach, zumindest anfangs, wahrscheinlich wirklich an Kaspars Einkerkerung geglaubt hat. Ebenfalls an den angeblichen Mordversuch, das Nürnberger Attentat. Jedenfalls scheint dies noch zu Jahresbeginn 1832 der Fall gewesen zu sein. Oder tat er nur so als ob? Gleichwohl: im Kern hat er den Hauser-Fall schon damals erkannt. Und darauf kommt es an. Feuerbach folgerte weiter: Er muß eine Person hoher Geburt, fürstlichen Standes sein. Und: Kaspar Hauser ist das eheliche Kind fürstlicher Eltern, welches hinweggeschafft worden ist, um Anderen, denen er im Wege stand, die Succession zu eröffnen. Weiter: Bei den an Kaspar begangenen Verbrechen sind Personen betheiligt, welche über große, außergewöhnliche Mittel zu gebieten haben. Nach Feuerbachs Überzeugung mußten mächtige und sehr reiche Personen dabei betheitigt gewesen sein, welche über gemeine Hindernisse kühn hinwegzuschreiten die
Mittel haben, welche durch Furcht, außerordentliche Vortheile und große Hoffnungen willige Werkzeuge in Bewegung zu setzen, Zungen zu fesseln und goldene Schlösser vor mehr als einen Mund zu legen, die Macht besitzen. Feuerbach beschäftigt sich dann mit den sonderbaren Träumen Kaspars und über dessen Gefangenhaltung, wobei er schlußfolgerte, und zwar ganz im Gegensatz zu allen seinen Zeitgenosse: Der Mann, der unseren Kaspar gefangen hielt, war sein Wohltäter, sein Retter, er hielt ihn gefangen, um ihn vor seinen Verfolgern, vor denen, die ihm nach dem Leben trachteten, zu verbergen. Im weiteren Verlauf seiner Arbeit gibt Feuerbach zu bedenken: Wenn in Kaspars Person, aus irgend einer hohen oder nur aus einer vornehmen, angesehenen Familie ein Kind verschwunden wäre, ohne daß man über dessen Tod oder Leben und wie es hinweggekommen, etwas in Erfahrung bringen könne: so müßte längst offiziell bekannt sein, in welcher Familie dieses Unglück sich ereignet habe. Denn das Verschwinden eines Kindes ist eine offenkundige, Aufsehen erregende Tatsache. Da nun aber seit Jahren, und unerachtet Kaspar's Schicksal weltbekannt geworden, nicht das Mindeste von einer Familie bekannt geworden, aus welcher vor ungefähr 17 - 20 Jahren ein Kind heimlicherweise abhanden gekommen und verschwunden sei: so ist Kaspar nur unter den Todten zu suchen: ein Kind wurde für todt ausgegeben, wird noch jetzt für todt gehalten; lebt aber noch in der Person des armen Kaspar. Wer denkt an dieser Stelle nicht an den kleinen Ernst Blochmann, der aber erst in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts von Fritz Klee "entdeckt" wurde! Vernehmen wir Ritter von Feuerbach weiter: Dieser Umstand, mit den vorhergehenden zusammengereiht, combinirt sich zu folgender muthmaßlichen Geschichte: Das Kind, in dessen Person der nächste Erbe, oder der ganze Mannesstamm seiner Familie erlöschen sollte, wurde heimlich bei Seite geschafft, um nie
wieder zu erscheinen. Um aber den Verdacht eines Verbrechens zu entfernen, wurde diesem Kinde, welches vielleicht, als es beseitigt wurde, gerade krank zu Bette gelegen hatte, ein anderes bereits verstorbenes oder sterbendes Kind untergeschoben, und so Kaspar angeblich in die Todtenliste gebracht. Ein Kommentar zu dieser phänomenalen kriminalistischen Kombination erübrigt sich für den Leser, der so geneigt war, dem Autor in dieser überaus schwierigen Materie bis hierher zu folgen. Feuerbach leitet dann zur Hauptfrage über, in welch hohe Familie Kaspar gehören möge. Es sei nur ein Haus bekannt, auf welches nicht nur mehrere zusammentreffende allgemeine Verdachtsgründe hinweisen, sondern welches auch durch einen ganz besonderen Umstand speciell bezeichnet ist, nämlich - die Feder sträubt sich, diesen Gedanken niederzuschreiben - das Haus B(aden). Auf höchst auffallende Weise, gegen alle menschliche Vermuthung, erlosch auf einmal in seinem Mannesstamme das alte Haus der Z(ähringer), um einem blos morganatischer Ehe entsprossenen Nebenzweige Platz zu machen! Dieses Aussterben des Mannesstammes ereignet sich nicht etwa in einer kinderlosen, sondern - seltsam genug! - in einer mit Kindern wohlgesegneten Familie. Was noch verdächtiger; - zwei Söhne waren geboren; aber diese beiden Söhne starben, und nur sie starben, während die Kinder weiblichen Geschlechts insgesamt bis auf den heutigen Tag [1832, darf eingefügt werden] noch in frischer Gesundheit blühen. Die Frau Gr(oßhezogin) St(ephanie) ist eine wahrhafte zweite Niobe, nur mit dem Unterschiede, daß Apollo's tödtendes Geschoß ohne Unterschied Söhne und Töchter traf, dort aber der Würgeengel an allen Töchtern vorüberging und nur die Söhne erschlug.
Und nicht blos seltsam, sondern einem Wunder ähnlich ist es, daß der Würgeengel schon gleichsam an der Wiege beider Knaben steht und diese mitten aus der Reihe der Schwestern herausgreift. Zwischen den beiden Prinzessinen L(uise) und J(osephine) stirbt der erstgeborene Prinz NN am 16. Oktober 1812, zwischen den Prinzessinen J(osephine) und M(arie) stirbt am 8. Mai 1817 der Prinz A(lexander). Diese Sterbefälle widerstreiten fürwahr jeder physiologischen Wahrscheinlichkeit. Wie wäre es erklärbar, daß eine Mutter demselben Vater lauter gesunde Töchter und als Söhne nur Sterblinge gebiert? In dieser ganzen Begebenheit scheint so viel System, so viel Berechnung hindurch, wie sie nicht dem Zufalle, sondern nur menschlichen Absichten und Planen zuzutrauen ist. Oder man müßte glauben, die Vorsehung selbst habe einmal in den gewöhnlichen Lauf der Natur eingegriffen und Außerordentliches gethan, um einen coup de politique auszuführen. Dazu muß einiges gesagt werden. Zunächst einmal sei daran erinnert, daß von Feuerbach sein Mémoire auf Anforderung der bayerischen Königinmutter Karoline geschrieben hat - gegen "Fürstenwort auf Verschwiegenheit", wie Feuerbach in sein Tagebuch vom 4. Januar 1832 fürsorglich eingetragen hat. Obgleich hoher Staatsbeamter, hat er es also durchaus für opportun gehalten, sich zu seinem eigenen Schutze rückzuversichern. Und obwohl streng geheimgehalten und durch den vertrauten Gendarmerieoberleutnant Hickel der Königinwitwe in München persönlich überreicht, hat es selbst ein Feuerbach nicht gewagt, die Namen voll auszuschreiben, sondern nur mit deren Anfangsbuchstaben. Sodann: Großherzogin Stephanie selbst wurde 71 Jahre, also sehr alt für damalige Begriffe. Ihr Gatte Karl allerdings nur 32, was auf Gift zurückgeführt wird. Die erstgeborene Tochter Luise aber brachte es auf immerhin 43 Jahre, Josephine gar auf 87 und Marie wurde 71 Jahre alt wie ihre Mutter Stephanie. Die beiden Prinzen aber haben es - der offiziellen Darstellung entsprechend - nur auf 18 Tage beziehungsweise auf ein Jahr gebracht. Bei letzterem ist das sicher, beim Erstgeborenen nicht. Lebte er als Kaspar Hauser weiter, wozu kein Anlaß mehr vorliegt, dies zu bestreiten, dann wurde dieser 21 Jahre alt; sein Leben endete durch einen Dolchstoß, Wie alt
er je geworden wäre? Niemand weiß es und wird es je mehr erfahren. Gleiches gilt für seinen jüngeren Bruder Alexander. Hermann Pies, der meines Erachtens die Gräfin Hochberg etwas zu sehr belastet, ist der Meinung, was den Prinzen Alexander betriff: Wenn die Gräfin Hochberg - in Verbindung mit Ludwig - das Ziel ihrer ehrgeizigen Pläne erreichen wollte, mußte sie auch bereit sein, alle künftigen Anwärter auf den badischen Thron, die Ludwigs Aufstieg zum Großherzog im Wege stehen würden, gegebenenfalls zu beseitigen. Es ist daher fast unglaublich, daß ihr nur das Schicksal geholfen haben soll, als im Mai 1817 der zweite Prinz aus der Ehe des Großherzogs Karl mit Stephanie als einjähriges Kind, im gleichen Monat (!) der kinderlose Onkel Karls, Friedrich, im Alter von 61 Jahren und schließlich, eineinhalb Jahre später, Großherzog Karl selbst, im Alter von 32 Jahren, starben. Hier zeigt Professor Pies mit wenigen Worten die Tragödie des Hauses der Zähringer auf. Doch noch einmal zurück zu Ritter von Feuerbach, der nach all seinem Wissen, wie wir vernommen haben, zu der Schlußfolgerung kommt, zum Kernsatz: Kaspar Hauser ist das eheliche Kind fürstlicher Eltern, welches hinweggeschafft worden ist, um anderen, denen er im Wege stand, die Sukzession zu eröffnen. Dieser Feuerbach setzt sich hochinteressanterweise in seinem Mémoire als Rechtsgelehrter und Kriminalist auch mit dem Begriff "Gerüchte" auseinander: Gerüchte sind freilich nur Gerüchte, sind aber darum nicht zu verachten; sie fließen oft aus sehr echten Quellen; sie haben, wo es geheimen Verbrechen gilt, häufig darin ihre Entstehung, daß der eine oder andere Mitwissende geplaudert hat, mit seinem Vertrauen zu freigebig gewesen oder sonst eine verrätherische Unvorsichtigkeit begangen hat, oder weil ein Mit-Schuldiger, um sein Gewissen zu
erleichtern, oder um sich wegen getäuschter Hoffnungen zu rächen und dergl., im Stillen die Entdeckung der Wahrheit herbeizuführen sucht, ohne an sich selbst zum Verräther werden zu müssen usw. Aus diesen Gründen zählen die Rechtsgelehrten auch Gerüchte (die famam publicam) zu den Anzeigungen (Indicien) von Verbrechen und deren Urhebern oder Teilnehmern. Was mag wohl die bayerische Königinmutter Karoline, Kaspars leibliche Tante, die Auftraggeberin des Mémoires, beim Lesen dieser Feuerbach'schen Schrift gedacht habe? Sie war damals seit rund sieben Jahren Witwe des 1825 verstorbenen Königs Max-Joseph I. Sohn Ludwig I. war derzeit Bayerns Regent. War dieser von seiner Mutter in die Hauser-Affäre eingeweiht worden? Es gibt kaum einen Zweifel darüber, daß er alles über den Fall wußte, was es zu wissen gab. Eine Tatsache ist jedenfalls, daß er sich zeit seines Lebens mit dem Hauser-Fall beschäftigt hat. Er und seine Gattin Therese empfingen sogar den weltberühmten Findling in privater Audienz. Das war im August 1833, vier Monate vor Kaspars Ende in Ansbach. Und wo empfing das hohe Paar das "Kind Europas"? In der "Christinenlaube" auf dem Nürnberger Schmausenbuck. Johanna Binder, des Oberbürgermeisters Ehehälfte, hatte die Audienz arrangiert. In diesen Tagen rollte nämlich das "8. Große Nationalfest" über die Bühne, das am 10. August begonnen hatte. Hohe und höchste Herrschaften belebten die Szenerie, und das Volk war mit Eifer dabei, sein nürnbergisches Bayerntum den Majestäten zu demonstrieren. Mitgemacht hat auch das Wetter in diesen Tagen. Von keiner Wolke verhüllt, gleißte die Sonne auf hoch und niedrig, auf arm und reich, auf die Dächer und die Festwiesen der Noris. Die Zeit der einstigen Freien Reichsstadt schien unendlich weit zurückzuliegen. Eine kollektive Begeisterung einte die Nürnberger und ihre Gäste aus dem Umland, die wie Pilger zum Ludwigsfeld und auf den Schmausenbuck zogen. Mit ihrem König, der mit Gattin und Gefolge in Nürnberg weilte, fühlten sie sich einig. Ein weißblaues Band umschloß sie alle. Überall in den Gassen, auf den Plätzen und Festwiesen: Fahnen, Girlanden, Birkenbäumchen vor den Haustüren, Uniformen, Blumen und nochmals Fahnen. Blau war der Himmel und weiß die Schwäne auf dem Dutzendteich. Königs-
wetter. Die Majestäten zeigten sich huldvoll, lobten den Fleiß und die Tüchtigkeit der Nürnberger Untertanen, gaben sich "teutsch" - Lieblingsbegriff Ludwigs I. - und volkstümlich, besonders die Königin Theres, während der König, etwas scheu wie er war, mehr den populären Repräsentanten ohne Worte machte; er war bekanntlich sprachgehemmt und schwerhörig, also gehandikapt. Unter den Zehntausenden von Nationalfestbesuchern war auch eine charmante Wienerin: Karoline Kannewurf, 34 Jahre alt, die Schwester der Johanna Binder. Ihr Mann war in Wien geblieben. Buchhalter von Beruf, hatte er vielleicht keinen Urlaub bekommen. Er endete später tragisch. Nach einer Unregelmäßigkeit in der ihm anvertrauten Kasse seiner Bank brachte er sich um. Ständiger Begleiter der Karoline Kannewurf aber war in diesen Tagen - Kaspar Hauser. In der Familie des Nürnberger Bürgermeisters Binder wurden die beiden miteinander bekanntgemacht. Und Kaspar, der tatsächliche Unschuldsengel, verliebte sich in diese reife Frau. Ja, wenige Monde von seinem Scheiden aus dieser Welt hat Kaspar Hauser, der Prinz ohne Eltern, Land und Zukunft, erstmals das Gefühl der Geschlechterliebe empfunden - sicher völlig platonisch. Aber auch das gönnten ihm seine Feinde nicht, indem sie später, nach seinem Tode, den primitiven Versuch starteten, in Kaspar und die Wiener Dame Dinge hineinzuheimsen, die es offensichtlich nicht gab. Allerdings gaben Karoline und Kaspar den bigottisch-kleinbürgerlichen Klatschmäulern auch Anlaß dazu. Im August und September waren die beiden nämlich soviel wie unzertrennliche Freunde. Kaum, daß einer einen Schritt ohne den anderen aus dem Hause machte. Unbekümmert stiefelte das Paar in Nürnberg herum. In diesen Wochen des August und September waren die beiden soviel wie unzertrennliche Freunde. Sicher merkte Karoline Kannewurf, daß Kaspar in sie verliebt war. Sie flirtete jedenfalls mit und hat den Hauser Kaspar, diesen weltbekannten Jüngling, bestimmt von Herzen gern gehabt. Aber von Gernehaben zur Liebe, so meine ich, ist es noch allemal ein weites Stück Weg. Eine Frau in den besten Jahren, aus der Musikmetropole Wien, die noch Beethoven und Schubert mit ihren eigenen Augen sah in diesem für manchen großen Musiker so abscheulichen Wien - so eine Frau,
hübsch und elegant, dazu noch eine Verwandte des Bürgermeisterehepaares der Nori: sie mag sich geschmeichelt gefühlt haben, wenn die Gaffer ihr und dem Kaspar Hauser verstohlen oder auch frech nachgeguckt haben. Wurde dieser Kaspar, das "Jünglingskind", nicht erst vor wenigen Tagen vom Königspaar und auch von der Fürstin Liegnitz, morganatische Gattin des Preußenkönigs, empfangen? "Natürlich, des is er doch, der Kaschber, der etzerla in Anschbach is. Und schaut's ner hie, wie der mit dem Weib derhärschtolziert ..." Ja, ja, die Nürnberger hatten so ihre kleinen Sensationen am Rande des Nationalfestes. Und Kaspar selbst? Der war selig wie nie zuvor in seinem Leben. Die paar Wochen als Logiegast seines damaligen und letzten Vormundes Dr. Binder, des Bürgermeisters, bei dem natürlich auch die Karoline logierte - diese Hochsommerwochen 1833 waren des Findlings schönste Zeit in seinem jungen Leben. Im September erst, am 12., verließ Karoline Kannewurf die Frankenmetropole. Kaspar war traurig. Noch am selbigen Tag schrieb er ihr einen rührenden Brief nach - rührend in seiner Unschuld. Er kritzelte ihn scheibchenweise, tagebuchartig, wie's Verliebte gerne tun, und schloß ihn am 16. September ab: in Ansbach. Zusammenfassung seiner Herzensergüsse: Zum Schlusse für Sie schickt Ihr treuer Freund noch besonders 3 Küsse. Jetzt nur noch die Versicherung, daß ich nie aufhören werde zu sein, Ihr wahrer treuer Freund Hauser zu bleiben. Die Ziffer "3" hat Kaspar mit einem stilisierten Herzen verziert. Woher dies bekannt ist? Ganz einfach, auch wenn kaum glaublich: aus den Gerichtsakten. Denn auch die Karoline Kannewurf wurde auf Amtshilfeersuchen in ihrer Heimatstadt Wien polizeilich vernommen. Es ist um an den Kopf zu greifen, aber menschlich, allzumenschlich nämlich die Schwerpunkte in Nebensächlichkeiten zu suchen, während die Hauptpunkte soviel wie außer acht gelassen wurden. Die Regieführung des Coups um Hauser mußte sich vor Lachen den Bauch gehalten haben. Aber hat sich seither etwas geändert? Ach, die Menschen bleiben immer die gleichen! Auch bei dem Hauser-Fall haben sich die Behörden in oft lächerlichen Details verstrickt, wäh-
rend die kaltblütigen Politverbrecher und ihre durchlauchtigsten Hintermänner, die sich persönlich nie die Hände schmutzig zu machen brauchen, ungeschoren blieben. Es ist die Welt der Subalternen, die immer wie die Katzen um den heißen Brei herumschleichen, die nie das Kind beim Namen zu nennen wagen, die sich wie die Löwen auf das Nebensächliche stürzen, weil die Nebenfiguren zumeist auch die am wenigsten gefährlichen Leute sind. In der "Christinenlaube" auf dem Schmausenbuck wurde also Kaspar von den Majestäten huldvoll empfangen. Artig wie er war, durfte Kaspar der Königin und ihrer Tochter, der Prinzessin Mathilde, je eine seiner kleinen Malereien "in orientalischer Manier" überreichen. Und huldvoll haben sie sich mit ihm unterhalten. Die Majestäten gaben sich erfreut oder waren es tatsächlich. Und dann verwickelte die Königin unseren Kaspar in ein längeres Gespräch. Der König aber hielt sich zurück; wahrscheinlich aus den schon gesagten Gründen. Er spielte den teilnahmsvollen Zuhörer, während Kaspar sich ganz ungezwungen mit dessen Gemahlin unterhielt. lm Verlaufe des Gesprächs unternahm dann Kaspar etwas in eigener Sache, indem er die Majestäten recht herzlich bat, es möge doch bekannt gemacht werden, daß jenem, der ihn gefangen hielt, nichts zuleid geschehen werde, dies sei das einzige Mittel, sein Leben vor Meuchelmördern sicher zu stellen. In eigener Sache? Es schaut wohl nur so aus. In Wahrheit wird ihn Dr. Binder oder Freiherr von Tucher dieses Engagement eingebleut haben. Königin Therese beruhigte ihren jungen Gesprächspartner und versprach ihm, sich um seinen weiteren Lebensweg schon zu kümmern, falls "Lord Stanhope die Hand von ihm abziehen würde". Sie wechselte also das Thema und ging auf Kaspars klare Bitte nicht ein. Therese machte den Sprung von Kaspars Angst um Leib und Leben hin zur rein finanziellen Versorgung des Findlings. Bewußt? Wahrscheinlich, wenn es zutrifft, daß Bayern beim Kaspar-Hauser-Fall kräftig mitmixte und die Pilsacher Politaktion steuerte und lenkte. Bis zur Aussetzung auf dem Nürnberger Unschlittplatz. Auch wenn Kö-
nigin Therese nicht alles über den Jungen und seine Herkunft gewußt haben sollte, so war ihr doch jedenfalls bekannt, wer da vor ihr steht und um seine persönliche Sicherheit bettelte. Und Ludwig? Was mag er wohl gedacht haben, als er auf Tuchfühlung mit Kaspar war? Er war dazumalen 47 und hatte den Kopf voller Pläne, die er größtenteils auch realisierte. Denn nicht umsonst gilt er als der bayerische Monarch, der dem technischen Fortschritt Tür und Tor weit öffnete. Er begann den Bau des Rhein-Main-Donau-Kanals, gründete die ersten polytechnischen Schulen, und zwei Jahre nach diesem 8. Großen Nationalfest zuckelte und dampfte die erste Eisenbahn der Welt, die "Ludwigsbahn", zwischen Fürth und Nürnberg. Aus seiner bis dahin verschlafenen Residenzstadt aber machte er eine Stadt der Kunst, ein Zentrum europäischen Geisteslebens. Ludwig I. baute und baute und baute - und bezahlte alles aus eigener Tasche! Er baute die Pinakotheken und die Glyptothek, die Feldherrnhalle, die Ludwigstraße von der Residenz bis zum Siegestor, den Königsplatz und die Bavaria, Münchens Wahrzeichen auch heute noch, trotz Fernsehturm und Olympiaanlage. Gegenüber allem Schönen war er aufgeschlossen, weshalb er sich denn auch als 60jähriger in die spanische Tänzerin Eliza Gilbert, die aber aus Irland stammte, verliebte wie ein Primaner. Lola Montez nannte sich diese Schönheit, die politisch einen unheilvollen Einfluß auf den Bayernkönig ausübte. Er kürte seine Geliebte zu einer Gräfin Landsfeld, was die Münchner dennoch nicht hinderte, in ihr das "hergelaufene Weibsbild" zu sehen. Bei den Revolutionsunruhen von 1848, die aber in München völlig unblutig waren, kam dann der große Knatsch: Ludwig I. wurde gezwungen, die Lola Montez auszuweisen. Auf den Druck der Straße sozusagen. Und das hat der kunstsinnige König, der selbst Gedichte schrieb, nicht verwinden können. Am 20. März 1848 dankte er zugunsten seines Sohnes Maximilian II. Joseph ab, dem Vater des späteren Märchenkönigs Ludwig Nummer zwo. Und um's noch einmal zu sagen: Ludwig I. hat sich zeit seines Lebens - er starb 1868 - intensiv mit der Hauser-Sache beschäftigt. Des Findlings Schicksal hat ihn nie mehr losgelassen. Hat sich der sensible Monarch Gewissensbisse gemacht? Hat er das politische Spiel zu weit getrieben, so daß der badischen Gegenpartei ver-
meindlicherweise schließlich gar nichts anderes mehr übrig blieb, als Kaspar Hauser beseitigen zu lassen? Durchaus möglich diese Kombination. Sie würde so manche Verhaltensweise dieses Königs und seiner Dynastie verständlich machen. Direkt jedenfalls war König Ludwig I. nicht schuldig am Ende Kaspar Hausers. Die Mordaktion wurde jenseits der Landesgrenze eingeleitet und im Ansbacher Hofgarten ausgeführt. An dieser Stelle wollen wir wieder zurückkehren in das Schicksalsjahr 1817. Am 8. Mai dieses Jahres, so haben wir vernommen, war der zweite Sohn von Karl und Stephanie, der Prinz Alexander, im Alter von einem Jahr verstorben. Karl selbst fühlte sein Ende nahen. Er vegetierte dumpf und lustlos vor sich hin. Und dies als Mann von 31 Jährlein. Bei dem schon mehrfach angeführten Karl August Varnhagen von Ense lesen wir: Die badischen Sachen hatten in der Zwischenzeit bedeutende Fortschritte gemacht. Der wichtigste war ein neues vom Großherzog erlassenes Hausgesetz vom 4. Oktober 1817, wodurch die Unteilbarkeit und Unveräußerlichkeit des Großherzogtums ausgesprochen und die Ordnung der Regierungsnachfolge festgestellt wurde; mit diesem Hausgesetz gleichzeitig erschien eine Staatsurkunde, welche die drei Söhne des Markgrafen Karl Friedrich, bisher Grafen von Hochberg, zu großherzoglichen Prinzen und Markgrafen von Baden erhob und sie zur Regierungsnachfolge berechtigt erklärte. Mit unsäglicher Mühe und mit Aufbietung ihres ganzen, vereinigten Ansehens, hatten Reitzenstein und Tettenborn den Großherzog zu diesem entscheidenden Schritte vermocht. Sie mußten dabei den alten Stolz überwinden, der sich weit über die Hochberge erhaben dünkte und sie als einen geringeren Anhang des Hauses zu betrachten gewohnt war, sie hatten die Eifersucht der Markgräfin Amalie und selbst des Markgrafen Ludwig zu beschwichtigen, welche ihren Titel nun mit diesen halbechten Verwandten teilen sollten. Aber der Wechselfall, der diesem Vorschlag zur Seite stand, daß, wenn dieser nicht angenommen würde, der Markgraf Ludwig sofort eine ebenbürtige Heirat eingehen und dem Lande Erben erzielen müßte, schien der ge-
reizten Empfindlichkeit noch schwerer zu ertragen, und die Erhöhung der Hochberge wurde vorgezogen. Die ganze Maßregel war durchaus zweckmüßig, sie erschwerte die Teilungsgelüste Oesterreichs und Bayerns, und zog ihnen die Hoffnung nahen Erlöschens der männlichen Nachkommenschaft im Hause Baden unter den Füßen weg. Die Maßregel war aber auch kühn, insofern sie ganz aus eigener Machtvollkommenheit, ohne Vor- und Anfrage bei den großen Mächten und Verwandten, mit Entschlossenheit als Tatsache hingestellt war. Nur Rußlands Billigung war aus früheren Verhandlungen so gut als gewiß anzunehmen. Auch suchten die Gegner sofort alles mögliche hervor, um die Gültigkeit zu bezweifeln, sie wenigstens von fremder Zustimmung abhängig zu machen ... Die Großherzogliche Familie war anfangs erschrocken, Berstett [Nachfolger des Ministers Hacke] und die meisten anderen Staats- und Hofbeamten fürchteten, man sei zu weit gegangen und werde nicht durchdringen; Reitzenstein und Tettenborn aber ließen sich nicht irre machen, und auf sie gestützt behielt auch der Großherzog Mut. Reitzenstein und Tettenborn! Vorn Charakter her ein gegensätzliches Paar. Aber sie haben sich für die Belange Badens und damit des großherzoglichen Hauses mit totalem Engagement eingesetzt. Sie waren ihrem Herrscherhaus bedingungslos treu ergeben - um der Sache, der Dynastie willen. Deshalb auch schluckten sie die Hochberg'sche Rangerhöhung: damit Baden unteilbar blieb; und deshalb hielten sie, vor allem Reitzenstein, die zusammenlaufenden Fäden des Hauser-Falles in ihren griffsicheren Händen. Reitzenstein, der kühle Kopf, erster Stratege und Taktiker des Großherzogtums, eine Persönlichkeit von überragendem Profil - und Tettenborn, der Draufgängertyp, Prasser und Schuldenmacher. Sie waren am Werkeln und wachten über Baden. Und sie waren auch die Initiatoren der Verfassung, die Großherzog Karl, geleitet und geführt von Reitzenstein und Tettenborn, am 22. August 1818 unterzeichnet hat. Aber noch ein Minister war mit von der Partie, indem er sich dem Duo anschloß und es so zu einem geistigen Triumvirat macht: Minister von Berstett. Diese drei Männer waren die geistigen Väter der Aufsehen erregenden Verfassung des badischen Musterländles - einer Verfassung, die zum
Ziele hatte, den Untertanen mehr Rechte und Freiheiten einzuräumen. Dr. Pies spricht in diesem Zusammenhang von einer "weiteren Klammer, die das langgestreckte badische Territorium zusammenhalten sollte". Und der Zeitgenosse Varnhagen schrieb darüber: Die Verkündigung der Verfassung erfolgte am 29. August ohne alle Feierlichkeit, einfach durch Abdruck im Staats- und Regierungsblatt. Sie erregte im ganzen Lande in lauteste Freude, die dankbarste Anerkennung; auch im übrigen Deutschland und nach Belgien und Frankreich hinein äußerte die öffentliche Meinung ihre kräftigste Zustimmung. Die Kritik hatte wohl manches und mit gutem Grund auszustellen, aber man übersah mangelhaftes Einzelnes, um sich an das vortreffliche Ganze zu halten. Im allgemeinen, das mußte man gestehen, hatte Baden reicheres und besseres empfangen als irgend ein anderes deutsches Land; besonders war es gegen Bayern weit vorangeschritten. Alle öffentlichen Blätter jubelten, die Stimmen im Volke gaben sich in begeisterten Äußerungen kund, vom Bodensee bis an den Main, segneten den Großherzog als den Geber der Verfassung mit dem heißesten Dankgebet; in Mannheim und Freiburg, den bisher wenigst badisch gesinnten Städten, waren die Herzen plötzlich wie umgewandelt und dem Landesfürsten aufrichtigst zugewendet. Freilich gab es auch Leute genug, die den Kopf ungläubig schüttelten, und noch andre, die mit Widerwillen und Haß auf diese Verleihung sahen; an den Höfen überhaupt, in der gesamten Aristokratie, hatte die Freiheit niemals zahlreiche Freunde, jedes dem Volke gewährte Recht mußte die Vorrechte gefährden, die der Selbstsucht über alles gingen, die Hoffart empörte sich, daß der Geringe da mitgelten sollte, wo der Vornehme bisher alles war. Wie gesagt, diese Verfassung unterzeichnete Großherzog Karl im August 1818, in seinem Todesjahr also. Varnhagen, der preußische Geschäftsträger am badischen Hofe, berichtete über Karls letzte Lebenszeit: Diese Abgeschiedenheit [der Großherzog begab sich im Frühjahr 1818 aufs Land - Anm. des Autors] entsprach dem Zwecke des Auf-
enthalts keineswegs und konnte es umso weniger, als die Lebensart doch keine geregelte, sondern von Unregelmäßigkeiten jeder Art unterbrochen war; jede augenblickliche Erholung, jeder Beginn von Kräftigung wurde sogleich wieder leichtsinnig vergeudet, wozu die Augendiener und Günstlinge die Gelegenheit nie fehlen ließen. Die Schwäche und Hinfälligkeit kehrte daher immer schnell zurück, die Brustbeklemmungen und andre krampfartige Zufälle, die schon gewichen waren, fanden sich wieder ein, Traurigkeit und Mißmut nahmen überhand; die Ärzte befürchteten ein Schwinden des Rükkenmarks. Der Großherzog aber bestärkte sich in seinem Glauben an Vergiftung und sprach diesen Argwohn oft in so bedenklichen Andeutungen aus, daß es nicht selten das Klügste schien, zu tun, als habe man sie nicht gehört. Mehrmals erklärte er, daß er verloren sei, man habe ihn zu gut bedacht, zu sicher getroffen; seinen Prinzen habe man das Leben nicht gegönnt, ihm auch sei ein nahes Ziel gesteckt; seine Erbschaft solle von fremden Händen geteilt, zerrissen werden. In solcher Stimmung war ihm jede Berührung der schwebenden Unterhandlungen äußerst empfindlich, die einlaufenden Berichte, die nötigen Rücksprachen mit seinen Räten verursachten heftige Krisen, es gab die schlimmsten Aufwallungen, die jedoch nie zu kräftigen Entschlüssen führten, sondern nur zu tieferem Versinken in untätigem Trübsinn. Die nähere Umgebung, besonders die Großherzogin, litt unsäglich von diesem Jammer. Seinen Ministern gestattete er oft mehrere Tage keinen Zutritt. Dieses seelische Verhalten, dieser "untätige Trübsinn" erreichte seinen Höhepunkt, als die primären Geschicke des Landes Badens während des in die Geschichte eingegangenen sogenannten Aachener Kongresses regelrecht ausgehandelt wurden. Auf diesem Aachener Kongreß wurden zwischen Österreich und Bayern einerseits und Baden andererseits die wichtigsten Territorialangelegenheiten geregelt. Aber die Frage ist nun die: War der Alkohol alleine schuld an Karls Verrückungen? Oder lag es an seiner Erziehung, die zur Indolentheit führen mußte? War es das intuitive Wissen, das Gespür, daß man ihm und seiner Sippe den Todesstoß zu versetzen dabei ist? Es gibt wahrlich der Deutung viele. Es könnte nämlich auch umgekehrt gewesen
sein, daß nämlich die fast schon süchtige Hinwendung zum Alkohol ihre Ursache in der nicht unbegründeten Ahnung sich manifestiert hat, um ihn und seine Familie herum seien Dinge im Gange, die er nicht handfest ergreifen konnte, die er spürte, fühlte aber nicht fassen konnte. Das Gefühl einer gewissen Ohnmacht also - trotz aller äußeren Macht, die er freilich nie so recht zu handhaben gelernt hatte. Gestärkt wird diese Annahme durch die Tatsache, daß nach den Mitteilungen, die auf uns gekommen sind, alle seine näheren Angehörigen und auch seine intime Umgebung davon überzeugt waren: Karls Tod war kein natürlicher, sondern er war vorgeplant. Alleine schon Gefühle der geschilderten Art könnten selbst stärkere Naturen in eine Richtung lenken, die ihnen an der Wiege noch nicht vorprogrammiert war. Natürlich wurde dies alles durch die Erziehung, die er "genossen" hatte, nur begünstigt. Die Wahrheit wird eben auch hier in der Mitte liegen, daß nämlich in diesem Falle ein seelisches Rädchen in das andere gegriffen haben wird, um aus Karl das zu machen, was er geworden ist: ein Häufchen Elend, ein Mächtiger in Ohnmacht, ein Mann, der in letzter Konsequenz ein ähnliches Schicksal durchlaufen mußte wie sein Sohn Kaspar Hauser. Über diese Zeit von Karls indolenten Höhepunkten schrieb Varnhagen: Die badische Sache konnte wieder hinausgeschoben, auf künftige Verhandlungen verwiesen werden; trat der Tod des Großherzogs ein, während alles noch in Ungewißheit schwebte, war die neue Regierung dann noch unbefestigt und schwankend, so konnte das Großherzogtum noch immer verloren sein und nur die alte kleine Markgrafschaft übrig bleiben. Es stand also auf des Messers Schneide. Aber in dieser Phase der staatlichen Not hat sich ein Mann selbst übertroffen und trat als Retter der badischen Belange beim russischen Zar in den Ring: Minister von Berstett. Er erbat sich bei Zar Alexander, der auf dem Aachener Kongreß weilte, eine Privataudienz, die einmalig sein dürfte in den Ge-
schichte der Diplomatie. Lassen wir noch einmal Varnhagen sprechen: Der Kaiser hörte ihn mild und freundlich an, blieb indes dabei, die Verträge seien heilig, sie müßten vollzogen werden. [Gemeint sind die Ansprüche Bayerns und Österreichs.] Da schilderte Berstett die Lage des Großherzogs mit den düstersten Farben, seinen wahrscheinlichen nahen Tod, wie eine ungünstige Entscheidung ihm seine letzten Lebenstage verbittern müsse, wie schrecklich für den treuen Diener, der ihm diese Botschaft vielleicht an sein Sterbebett zu bringen habe! Sich mehr und mehr erhitzend, rief er endlich mit Verzweiflung, er wolle dieser Diener nicht sein, lieber wünsche er sich den Tod, und indem er bald sich, bald seinen armen Herrn bejammerte, fing er bitterlich zu weinen an. Der Kaiser, erschrocken und verlegen, dem so etwas noch nicht begegnet war, suchte ihn zu beruhigen, lobte seinen treuen Eifer, gab ihm tröstende Versicherungen, ermahnte ihn, die Sachen nicht so düster anzusehen, es sei noch alles zu gegenseitiger Zufriedenheit abzumachen. Alleine je mehr der Kaiser ihm zuredete, desto stärker und lauter weinte Berstett und brachte durch sein sich steigerndes Weinen den Kaiser in solche Not, daß er endlich ausrief: "Nun wohl, Ihr sollt alles behalten, dem Großherzog wird keine Gewalt geschehen, Ihr könnt ihm melden, daß ich alles anerkenne, die Erbfolgefähigkeit der Hochberge, die Verfassung, die Unteilbarkeit des Landes! Ist das genug? Seid Ihr zufrieden? Nun aber beruhigt Euch. und gönnt auch mir Erholung!" Darauf warf sich Berstett ihm zu Füßen, küßte ihm die Hände, und floß über in Dankbarkeit und Bewunderung. Nun wurde dieser Entscheid des Kaisers den Oesterreichern und den Preußen mitgeteilt, und durch deren guten Willen schnell zu einer diplomatischen Übereinkunft formuliert, die, mit den gehörigen Unterschriften versehen, gegen neue Änderungen ziemlich gesichert war. Als diese glückliche Wendung zuerst durch eine Depesche Berstett's gemeldet wurde, wollte man solchen Erfolg kaum glauben. Bald aber kam Berstett selber von Aachen zurück und brachte die ausführliche Bestätigung. Seine Beredsamkeit dem Kaiser gegenüber erschien im
glänzendsten Licht; das Weinen ließ er unerwähnt, er hatte nur in der ersten Freude vor Gentz kein Geheimnis daraus gemacht, so wie der Kaiser sich nicht versagte, dem Fürsten von Metternich den abenteuerlichen Vorgang zu erzählen; für diesen aber war es ein Fest, das neue diplomatische Hilfsmittel anzupreisen und zu empfehlen! ... Zwei Tage nach Berstett, am 25. November, traf der Kaiser Alexander in Karlsruhe ein und wohnte bei der Markgräfin Mutter, die nebst der Kaiserin zu seinem Empfange wieder in die Stadt gezogen war. Der Kaiser galt als der Beschützer und Retter von Baden, und außer dem Jubel und den Ehren, die den Mächtigen immer bezeigt werden, empfing er auch den vollen herzlichen Zuruf des wahrhaft begeisterten Volks. Ein Sieg der Hochbergs letztlich, und zwar auf der gesamten internationalen Linie. Die Rechnung der Reichsgräfin Hochberg ist aufgegangen. Die Weichen waren gestellt; Karl, vom Tode gezeichnet, fiel von einem gesundheitlichen Tiefpunkt in den andere; Markgraf Ludwig aber war bereits in Lauerstellung, den Blick fest auf den großherzoglichen Thron gerichtet. Wien knirschte insgeheim mit den Zähnen und Bayern noch mehr. Ihre Rechnungen gingen nämlich nicht auf. Der mächtige Zar aller Reußen hatte gesprochen. Und alle mußten sie sich fügen: Metternich in Wien und Max I. Joseph in München. Die Unteilbarkeit Badens war gesichert und auch das Thronfolgerecht der Hochbergs. Welch ein Fortschritt seit dem Vertrag von Ried! Damals hing der Bestand des Großherzogtums noch vom Fortbestehen der Zähringer Linie ab. Sollte diese aussterben - das war der Kern des Vertragswerkes -, dann wären wesentliche Teile Badens zu Bayern und Österreich gekommen. Vor dem Aachener Kongreß und dem gleichnamigen Vertrag konnten also Österreich und Bayern ein Interesse am Aussterben der Zähringer haben. Seit Aachen aber war es mit Spekulationen solchen Art vorbei. Ob mit oder ohne Zähringer: die Existenz Badens war gesichert. Nach menschlichem Ermessen. Aber danach geht es nicht immer, da Staaten bei Gebietsforderungen bekanntlich kein Pardon kennen. Für Bayern, beispielsweise, ging der Kampf weiter. Unbeirrt. Geändert hat sich phasenweise nur die Tak-
tik: mal stilles Zähneknirschen, mal Kalter Krieg gegen Baden, so daß nur noch ein Funken genügt hätte, das Pulverfaß zur Zündung zu bringen. Und irgendwann in diesem Gerangel wurde der bayerischen Seite eine Trumpfkarte gegen Baden zugesteckt, gegen Badens dunklen Punkt. Die Trumpfkarte aber hieß Kaspar Hauser, der Joker so mancher Dunkelpartei, die Henne mit den goldenen Eiern, ein goldenes Mondkälbchen. Der Aachener Kongreß und das daraus entstandene Vertragswerk zur Jahreswende 1818/19 war also für Baden von einschneidender Bedeutung. Großherzog Karl durfte diesen diplomatischen Triumph sondergleichen gerade noch erleben. Sein Schicksalsbecher neigte sich dem Ende zu, das vorhersehbar war, aber dennoch, wie's oft so ist, dann "plötzlich und unerwartet" kam. Nach langer Agonie verstarb er am 8. Dezember 1818. Er wurde zweiunddreißigeinhalb Jahre alt. Noch bevor der Tod des Großherzogs der Öffentlichkeit mitgeteilt wurde, sind die Soldaten Badens in ihren hermetisch abgeschlossenen Kasernen auf den neuen Großherzog Ludwig vereidigt worden. Nun war er also Großherzog, dieser Ludwig, der Taktiker und Fädenspinner, diese graue Eminenz in dunklen Sachen. Wie mag er aufgeschnauft haben, daß der Übergang so reibungslos vonstatten ging! Denn der schlaue Fuchs, der nicht einmal seinem eigenen Schatten traute, war sich seiner Sache gar nicht so sicher, wie's den Anschein hatte. Dies ist von Augenzeugen am Hofe überliefert. Nachdem nämlich der Zar abgereist war und Großherzog Karl mit sichtbaren Schritten seinem irdischen Ende entgegenging, lauerte einer auf den anderen bei Hof. Und auch die Höfe untereinander lauerten und gierten auf die Zeit des Thronwechsels. Varnhagen schreibt: Die meiste Beeiferung war um den Markgrafen Ludwig; nicht nur seine bisherigen Anhänger, deren er unter den älteren Militärpersonen manche hatte, trugen den Kopf höher und blickten freier, sondern auch viele der großherzoglichen Diener, darunter einige seiner erklärten Günstlinge, suchten stille und bald auch offne Wege zu dem Markgrafen, der indes noch schüchtern solche Annäherungen entweder vermied oder nur ganz heimlich zuließ. Er hielt sich noch
nicht völlig sicher in der Thronfolge, fürchtete geheime Artikel, die zwischen den Mächten, selbst ohne Berstett's Wissen, verabredet sein könnten, fürchtete besonders die Markgräfin Mutter, welche fähig wäre, ihm ein böses Spiel zu bereiten. Aber das hat sie nicht getan, die Amalie, deren angeblich verstorbener Enkelsohn, Karl und Stephanies Erstgeborenen, zehn Jahre später als Kaspar Hausen auftauchen sollte. Ludwig aber, dieser raffinierte Haudegen, hat sehr wohl gewußt, weshalb er um die Thronfolge zittern mußte. Denn es gab ja noch jemanden zwischen dem Großherzog Karl und ihm, dem Ludwig: einen sechsjährigen Jungen namens Kaspar Hauser, den legalen Nachfolgen Karls. Aber angenommen, der Erbprinz von 1812 starb wirklich und tatsächlich seinen eigenen Tod und Kaspar wäre identisch mit dem kleinen Blochmann, dem Arbeitersohn, der von einer Dunkelpartei der Reichsgräfin Hochberg zu einem falschen Prinzen aufgezäumt worden wäre, um als Druckmittel zu fungieren - dies angenommen: auch dann hätte Ludwig Angst haben müssen, eben vor diesem falschen Prinzen, und zwar mangels Beweise. Die Sache war vertrackt genug, auch ohne diese kühne Kombination, die nicht so viel Logik in sich birgt wie Kaspar Hauser als der legale Sohn des Großherzogspaares Karl und Stephanie. Man muß sich dies alles überlegen - was aber die Hauser-Feinde sicher auch getan haben, allerdings mit dem Vorsatz, dem armen Kerl eine Betrügerrolle unterzujubeln. Des Großherzog Karls Todesahnungen haben sich also erfüllt. Und obgleich seine Mutter wie seine Schwestern und auch seine Witwe "in dem Glauben an eine geschehene Vergiftung fest übereinstimmten" (Varnhagen), förderte die Sektion nichts zutage, was auf eine stattgehabte Vergiftung hingewiesen hätte. Varnhagen berichtet darüber: Die Leichenöffnung war unter den waltenden Umständen, bei den umgehenden Gerüchten von Vergiftung, ein neues Schrecknis, das in die schauerlichste Spannung versetzte. Man fand in der Brust zehn Pfund Wasser, übrigens kein besonderes organisches Übel und
keine Spur von Gift. Wohl sagte mir später der Leibarzt Dr. Teuffel von Birkensee, daß dies nichts beweise, da viele Gifte tödlich wirkten, ohne daß sie in der Leiche aufzufinden wären; namentlich sei dies bei der Aqua Toffan der Fall, an deren oft bezweifeltes Dasein er glaubte. Die Frauen des großherzoglichen Hauses glaubten, nur fester als zuvor, daß eine Vergiftung stattgehabt; Reitzenstein versicherte mir, er sei davon wie von seinem Leben überzeugt. Der Großherzog Ludwig beobachtete über diesen Gegenstand ein ernstes Schweigen; er bestritt die schreckliche Vermutung nicht, er bestärkte sie nicht. Ihm war nicht unbekannt, daß der greuelhafte Verdacht auch ihn nicht verschont hatte. Nerven hat er gehabt, dieser Ludwig, nunmehr Großherzog. Er muß Nerven gehabt haben wie Drahtseile. Nichts kam über seine Lippen. Er sagte weder gicks noch gacks und "beobachtete" nur ein "ernstes Schweigen". Er hatte es also doch geschafft und saß nun auf dem Thron seiner Väter anstelle jenes Familienmitgliedes, das eines Tages in Nürnberg auf dem Unschlittplatz auftauchen sollte und Kaspar Hauser genannt wurde. Interessant, von Varnhagen zu erfahren, daß auch Staatsminister von Reitzenstein von einer Vergiftung Karls überzeugt war - "wie von seinem Leben überzeugt". Spricht das nicht Bände? Sieben Jahre lang, von 1811 bis 1818, war Karl Großherzog von Baden. Offiziell gesehen, wurde unter seiner Ägide viel geschaffen, ja Wesentliches zustandegebracht: die badische Verfassung und die Aachener Verträge. Wie gesagt: unter seiner Ägide, unter seiner Herrschaft, keinesfalls jedoch auf seine Initiativen hin. Was wäre aus Baden geworden, hätte es nicht Männer vom Format eines Reitzenstein und auch eines Berstett gehabt! Großherzog Karl wäre nie in der Lage gewesen, etwa der Motor des Vertragswerkes von Aachen zu sein. Er hatte nicht die Kraft dazu, der 32jährige. Dennoch ist ihm zugute zu halten, daß er wenigstens mit den Aktivitäten seiner engsten Mitarbeiter, von Reitzenstein einsam an der Spitze, einverstanden war und seine Unterschrift unter die Verfassung und den Aachener Handel setzte. Mehr aber war mit ihm nicht anzufangen gewesen. Dennoch
muß es ihn schmerzhaft berührt haben, daß die Hochbergs nun thronfolgeberechtigt waren und rangmäßig erhöht wurden. Er hatte innerlich längst kapituliert und sich in sein Schicksal ergeben, als der Todesengel an sein Schmerzenslager trat. War es Gift, das ihn so fertigmachte, das ihn so auslaugte und in dumpfer Ergebenheit vor sich hinbrüten ließ? Es hat jedenfalls den Anschein. Denn wie sonst sind seine Ticks zu verstehen, die an allen damaligen Höfen einmalig gewesen sein dürften und unten anderen auch von Varnhagen, dem preußischen Geschäftsträger am Karlsruher Hof, überliefert worden sind: So fanden sich nach Karls Tod im Karlsruher Schloß eine Menge Zimmer, die der Großherzog hatte abschließen lassen und die seitdem kein Mensch mehr hat betreten dürfen, seine Person eingeschlossen. Sie waren vollgepfropft mit den mannigfaltigsten Dingen. Niemand durfte sie sehen, geschweige denn anrühren. Allen Bitten und allem Drängen seitens seiner Gemahlin, der Minister und sonstigen engsten Hofchargen widerstand Karl. Varnhagen spricht in diesem Zusammenhang von einer "eigensinnigen Trägheit". War dann so ein Schloßzimmer angefüllt, dann nahm er den Schlüssel zu sich und der gleiche Zauber fing mit einem anderen Gemach an. Trostlos, diese krankhafte Indolenz! Varnhagen schreibt: ... und es fand sich eine Welt von Sachen hier aufgehäuft, ein Durcheinander von Kostbarkeiten und Trödelkram der mannigfachsten Art. Aus seinen Kinderjahren sah man wertvolles Spielwerk, das er nie angerührt hatte; ebenso eine Menge von Geldpäckchen, welche die Aufschrift führten: "Kapitainsgage für Seine Durchlaucht den Prinzen Karl", der wiederholte Monatssold der Hauptmannsstelle, die ihm als Knaben war verliehen worden; dann wieder Zwanzigkreuzerstücke, sorgfältig eingewickelt, aber auch wieder ganze Schubladen voll Goldrollen, kostbaren Dosen, Ringen und anderen Schmucksachen, im Betrage von mehr als dreimalhunderttausend Talern, alles seit vielen Jahren ungenützt daliegend, während er bis zuletzt oft um kleine Summen in Verlegenheit war und sie nicht anders als zu 16 Prozent Zinsen anzuschaffen wußte!
An Büchern, Landkarten, Bittschriften, Akten, Bildern, versiegelten Briefschaften und anderen Papieren fand sich ein ungeheurer Wust, bedeckt von Staub; Depeschen, die man seit Jahren vermißt und auf unbegreifliche Weise verloren geglaubt hatte; Urkunden, die ihm eingereicht worden waren und wegen deren Mangels große Geschäfte gestockt, die Geschicke manches einzelnen schweren Nachteil erlitten hatten. Kunstsachen, kostbare Waffen und andre wertvolle Seltenheiten, die ihm bloß zur Ansicht eingesandt oder zum Kauf waren angeboten worden, wurden zwischen gestickten Hofkleidern, Maskenanzügen, Federhüten aufgefunden: von manchen Gegenständen waren die Eigentümer nicht mehr zu ermitteln, von andern erinnert man sich, daß Klage deshalb erhoben, und die Hofkasse für Dinge, die nie gebraucht und nie mehr gesehen worden, große Summen hatte zahlen müssen ... Um's salopp zu sagen: der gute Mann, und wenn er zehnmal ein Großherzog war, konnte nicht mehr alle Tassen im Spind gehabt haben. Allem Anschein nach aber hat er diesen Riesentick nicht erst seit seiner angenommenen Vergiftung gehabt, sondern schon weit früher, wahrscheinlich bereits als Heranwachsender. Die nicht angerührten "Kapitainsgagen" sowie "Spielwerke" stehen dafür als Beweis. Dessenungeachtet war Karl beim Volk beliebt, ganz im Gegensatz zu seinem Nachfolger Ludwig. Von ihm erzählt uns Leonhard Müller in seiner "Badischen Landtagsgeschichte" (1902), daß Großherzog Ludwig immer mißtrauischer, eigensinniger und selbstherrlicher geworden ist. Bei seinen Gelagen ging es rüde und rauh her. "Die Späße, welche das Mahl würzten, waren nicht gerade von der feinsten Art." Und auch bei Müller tauchte Ludwigs Intimus Hennenhofer auf, der seit 1828 in den Adelsstand erhoben und zum Direktor der diplomatischen Sektion der auswärtigen Angelegenheiten ernannt, war Hahn im Korbe. Ja, Ludwig beutete seine Machtstellung aus: rücksichtslos, derb, gerissen und nicht einmal seinem eigenen Schatten trauend. Und die Karlsruher, immer wachsam und horchend und schielend, was sich
hinter den Schloßmauern abspielt, merkten gar bald. was los ist. Karls Eskapaden wurden eigenartigerweise mit milden Augen betrachtet. Er genoß Ansehen, ja sogar Zuneigung, wenn auch nicht in dem Umfang wie sein Großvater Karl-Friedrich. Bei Karl hielten die Badenser noch zu ihrem alten Fürstengeschlecht der Zähringer. Aber in Ludwig, dem letzten Fürsten dieses Geschlechts, sahen sie wahrscheinlich schon gar keinen Zähringer mehr. Das Volk mochte ihn nicht. Müller schreibt: Mit der Stimmung in Volkskreisen hatte das herrschende Regiment jede Fühlung verloren ... Der gleiche Müller überlieferte uns auch die nachdenklich stimmende Tatsache, daß im Sitzungssaal der Zweiten Kammer die Büsten der früheren Großherzöge Karl-Friedrich und Karl, aber nicht die von Ludwig aufgestellt wurden. Dies war natürlich keineswegs ein Versehen oder eine bloße Nachlässigkeit, sondern ein bewußtes Politikum. Von Leonhard Müller wissen wir nämlich, daß der Abgeordnete Herr dies extra beantragt hat. Dieser "Abgeordnete Herr" aber war ein Halbbruder des Großherzogs Ludwig - ein großherzoglicher Kegel also, der Volksvertreter hatte werden dürfen, da man ja nicht alle Kegel und Mätressen der Fürsten adeln konnte. Und da wir noch kurz bei Ludwig sind, dürfte es interessant sein, was Treitschke über ihn geschrieben hat, und zwar in seiner "Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert": Im Hause führte der Großherzog das Leben eines wüsten Junggesellen; ein guter Kopf, aber ohne Sinn für edle Bildung, hatte er sich früh geschmacklosen Ausschweifungen ergeben. Als allbereiter Helfer stand ihm bei seinen kleinen Abenteuern wie bei den politischen Verhandlungen der Major Hennenhofer zur Seite, der Überall und Nirgends der Salons, der sich durch zynischen Witz und einschmeichelnde Gewandtheit vom Feldjäger zum militärischen Diplomaten aufgeschwungen hatte, ein mit allen Hunden gehetzter Mensch, dem es nicht darauf ankam, in amtlichen Aktenstücken Zitate aus Tristam Shandy anzubringen, mit jedermann bekannt, in al-
le Geheimnisse eingeweiht, trotz seiner abschreckenden Häßlichkeit als Vermittler und Zwischenträger immer willkommen. Durch die Schuld dieses neuen Hofes wurde die ehrbare Stadt Karl-Friedrichs auf lange Zeit hinaus neben München die sittenloseste der deutschen Residenzen. Wie man sieht: auch Treitschke führt Hennenhofer an, wenn die Sprache auf Großherzog Ludwig kommt. Und dieser Hennenhofer ist in der Tat aus den ersten drei Dezennien des vorigen Jahrhunderts, was die badische Geschichte betrifft, nicht fortzudenken - und damit auch nicht aus der Geschichte Kaspar Hausers. Selbst wenn es diese aber nie gegeben hätte: ein Hennenhofer wäre auch so in die Geschichte des einstigen Großherzogtums Baden als der Mann eingegangen, der in manchen Dingen vielleicht mehr wußte als alle Hofleute zusammen. Vielleicht ging deshalb so eine Faszination von ihm aus - von ihm, dieser Mischung aus Grauer Eminenz und Meisterintrigant.
6. Verlies im Fastenhaus Kaspar in Beuggen nicht mehr sicher - Exodus von Südbaden nach Nordbayern Lichtet sich die Erinnerung? - Wieder ein Schloßtraum Das Falkenhaus in Triesdorf und Fürst Wrede auf Schloß Ellingen Leichte Reiter und viel Lametta - Der Oberst mit dem goldenen Helm Die Dichterin Klara Hofer und das Schicksal einer Seele Kaspars Verlies wird gefunden - König Ludwig und die Hauserei Der Hypnosetheoretiker Carl du Prel und das Schloß zu Pilsach bei Neumarkt Förster als "Kerkermeister" "Professor" Lutz als Geleitbriefschreiber - Dorfbewohner erinnern sich Gendarmerieoffizier Hickel schleicht sich an Pilsach vorbei Besuch im Kerker - Kaspars Aussetzung wird hypnotisch vorbereitet Okkulte Sitzungen am Hof der Königin? - Die Urlaube des Schloßbesitzers Hickels Gendarmeriekamerad bringt's zum General Auf dem Weg nach Nürnberg Nach der Flaschenpostaktion war Kaspar in Beuggen am Rhein nicht mehr sicher. Wahrscheinlich auf Pfarrer Eschbachs Vermittlung hin kam er nach Hochsal zu dessen Vater, einem biederen Schneider. Weniger wahrscheinlich ist, daß er mitsamt seiner Gouvernante Unterschlupf fand im dortigen Pfarrhaus, bei Eschbachs Amtsbruder Dietz, von dem wir ebenfalls schon gehört haben. Das wäre zu auffällig gewesen. Auftraggeber, den Jungen fortzuschaffen, quasi aus der Schußlinie zu bringen, dürfte Staatsminister von Reitzenstein gewesen sein. Da aber leibhaftige Minister katholischen Geistlichen keine
Aufträge geben werden, kleine Jungens da oder dorthin zu verfrachten, wird eine Vermittlungsperson eingeschaltet worden sein - ein Mann mit entsprechenden Vollmachten, eine Vertrauensperson. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dürfte hier bereits Meister Hennenhofer seine Finger im Spiel gehabt haben. Aber ewig konnte der Bub auch dort nicht bleiben. Das war sonnenklar. Letztlich war Kaspar in Hochsal genauso wie in Beuggen eine politische Zeitbombe, hochbrisant für Baden. Es dürfte deshalb im Sommer 1817 gewesen sein, als die Gouvernante Dalbonne in Hochsal die Koffer packte, um mit Kaspar weiterzureisen. Die nächste Station wird wohl Mundelfingen gewesen sein, wie wir schon vernommen haben, wo der dortige Pfarrer Engesser - auch von ihm haben wir bereits gehört in die Bresche gesprungen sein dürfte. Ein exakter Nachweis fehlt aber auch hier und wird wohl nie mehr zu erbringen sein. Man muß es den wenigen Mitwissern lassen: sie haben allesamt dicht gehalten. Nur Gerüchte erzählen von diesen kasparlichen Stationen. Aber da Gerüchte nicht einfach freie Erfindung sind, sondern zumindest einen Kern Wahrheit besitzen, müssen wir sie mit ins Kalkül ziehen. Zudem fügen sich diese Wahrheitskerne nahtlos in das Gesamtmosaik der Hauser-Geschichte. Wie lange Kaspar Hauser und seine Gouvernante in Mundelfingen geblieben sind, ist ebenfalls unbekannt geblieben. Es kann aber nicht lange gewesen sein, höchstens einige Monate. Dann ging die Reise weiter. Den Winter 1817/18 dürfte Kaspar Hauser auf Schloß Heiligenberg verbracht haben. Dieses prachtvolle Schloß abseits der Verkehrsadern liegt nicht weit vom Bodensee als krönendes Juwel einer Höhe. Warum auf Schloß Heiligenberg getippt wird? Nun, das Schloß gehörte und gehört noch den Fürsten von Fürstenberg. Zu Kaspars Zeiten aber war die Fürstin von Fürstenberg - die Tochter Amalie der Reichsgräfin von Hochberg! Ihre einzige Tochter übrigens. Reitzenstein, der sein Wissen von der Hochberg hatte, wird auch diese Idee gehabt haben. Gemeinsam haben alle diese Stationen, daß sie auf dem Reiseweg von Baden nach Bayern liegen. Der badische Minister von Reitzenstein aber war gebürtiger Bayer, entstammte einem alten fränkischen Geschlecht.
Sonja von Grunelius-Schacht schreibt in ihrem schon mehrfach erwähnten Büchlein: Als eine Besucherin 1969 den (Schloß-) Führer fragte, ob in diesem Schloß Caspar Hauser einmal geweilt haben könnte, wurde ihr von dem Führer prompt geantwortet: "Ich glaube nicht, aber wenn, dann würde man nicht darüber sprechen." Das ist nicht nur interessant. sondern bezeichnend für die allgemeine Hauser-Situation auch heute noch. Warum, so frage ich, "würde man nicht darüber sprechen"? Anderthalb Jahrhunderte sind seit Kaspars Auftauchen in Nürnberg zwischenzeitlich vergangen und noch immer gibt es einige Leute - das dürfte feststehen -, die ihr Wissen wie ein Geheimnis hüten. Und warum nun hat jene Besucherin des Schlosses Heiligenberg dem Führer gegenüber die Sprache auf Kaspar Hauser gebracht? Der Besucherin kam die Frage deshalb auf die Lippen, weil die Baulichkeiten, das eine Treppenhaus, der Röhrenbrunnen im Hof und die Fensterbögen sie an einen der späteren Träume Caspar Hausers erinnerten. Da sind sie also wieder, Kaspars Schloßträumereien, die wir schon kennen. Der Leser wird sich erinnern: Am 15. August des Jahres 1828 - drei Monate nach seiner Ankunft in Nürnberg also - hatte er seinen ersten Schloßtraum, von ihm selbst aufgezeichnet. Feuerbach hat diesen Traum später in sein "Mémoire" eingerückt. Zwei Wochen später aber, in der Nacht vom 30. auf den 31. August, hatte er noch einmal diesen Schloßtraum, wahrscheinlich intensiver, detaillierter, aber übereinstimmend mit dem vom 15. August. Baron von Tucher hat ihn jedenfalls ausführlich aufgeschrieben, nachdem er ihn sich von Kaspar hat erzählen lassen. "Ich habe mir dessen Erzählungen sogleich aufgeschrieben und kann sie nun ganz genau wiedergeben ..." So Baron Tucher vor Gericht, dem er seinen schriftlichen Erguß übergeben hat. Für von Tucher wie für Anselm von Feuerbach bestand nicht der mindeste Zweifel, daß "diesem Traume alte, seinem wachenden Bewußtsein entschwundene, in seiner Seele nur schlum-
mernde Erinnerungen zu Grunde liegen mögen ..." Und Feuerbach hat geschrieben, "daß ein Baukünstler einen Riß danach entwerfen könnte". Zur Erinnerung: In Kaspars eigener Traumaufzeichnung schildert er in seiner unbeholfenen Schreibe ein Renaissanceschloß mit Springbrunnen im Hof und einem Rittermonument auf einer viereckigen Säule, die mit der Treppe verbunden ist. Geleitet hat ihn bei dieser Schloßbesichtigung - so wird es gewesen sein - ein "Frauenzimmer", wahrscheinlich Kaspars Gouvernante Dalbonne, die dem Jungen erklärte, hier sei er nun zu Hause. In der weit ausführlicheren Traumaufzeichnung des Barons von Tucher heißt es darüber: Unten neben der Treppe stand ein runder Stein. so hoch als das Geländer der Treppe; darauf stand eine weiße. steinerne Bildsäule mit Schnurr- und Knebelbart, in der Hand ein bloßes, gegen die Erde gestütztes Schwert ... Bei Kaspars Traumaufzeichnungen war es eine "viereckige Säule", auf welcher der Ritter stand, bei Tuchers Nacherzählung "ein runder Stein". Es darf füglich angenommen werden, daß die Beschreibung bei Tucher zuverlässiger ist, da er sie bekanntlich sogleich nach Hausers Erzählung aufgeschrieben hat. Es heißt weiter bei Tucher: Zwei Reihen von Zimmern befanden sich im Innern des Gebäudes, die eine Reihe war unten, zu der anderen mußte man die Treppe hinaufsteigen. Unten konnte man ganz herumgehen, so daß man durch die Thore auf den Brunnen hinaussehen konnte. Zu der unteren Reihe der Zimmer führten Flügelthüren, dergleichen eine H. auf der hiesigen Burg gesehen. Auch oben waren die Thüren von dieser Art. In jedem Zimmer der oberen Reihe waren zwölf Sessel, drei Kommoden, zwei Tische, einer in der Mitte und einer an den Wand; nur im Bibliothekszimmer waren keine Kommoden. Die Tische waren nicht alle gleich, wohl aber die Kommoden und die Sessel. Eines der Zimmer war das größte, es war das erste, in welches man eintrat.
Das daneben befindliche war noch schöner. In allen Zimmern waren große Spiegel mit goldenen Rahmen; in vieren der Zimmer, dem Silber- und Bibliothekszimmer und in den beiden vorhin genannten, hing von der Decke ein Lüster. Im größten Zimmer war der Tisch länglichrund, Kommode und Sessel waren von einer Art, die er vorher nie gesehen hatte ... In dem großen Zimmer lag H. in einem Bette, da trat eine Frau zur Thüre herein, mit gelbem Hute und weißen dicken Federn darauf. Hinter ihr trat ein Mann herein in schwarzen Kleidern (der Rock war ein Frack), einen länglichen Hut auf dem Kopfe, einen Degen an der Seite und auf der Brust ein Kreuz an einem blauen Bande. Die Frau trat an sein Bett und blieb stehen, der Mann blieb ein wenig hinter der Frau zurück. H. fragte die Frau, was sie wolle; sie antwortete nichts, er wiederholte die Frage: sie gab wieder keine Antwort. Sie hielt ein weißes Sacktuch in der Hand gegen ihn hin, was er erst bei der zweiten Frage bemerkte. Hierauf ging der Mann und hinter ihm die Frau zur Thüre hinaus ... Phänomenal, die Schilderung der Traumdetails, wobei ja dessenungeachtet nicht jede Stückzahl der Sessel zu stimmen braucht. Aber auch so reicht die Schilderung, um aufhorchen zu lassen. Ob es sich dabei um das Schloß Heiligenberg handelt, ist dennoch zu bezweifeln. Aber eines sollte festgehalten werden: es muß sich bei Kaspars Schloß um ein Bauwerk der Renaissance handeln. Und bei einem Besuch der Nürnberger Burg - Sie erinnern sich - wurde ja auch die Schloßträumerei wachgerufen, und zwar durch ein Renaissanceportal! An Kaspar zog also im Traum ein Stück Erinnerung aus vergangener Zeit vorüber. Es kann gar nicht anders sein. Irgendwann einmal muß er dieses Erlebnis gehabt haben, das auf ihn einen großen Eindruck gemacht hat. Sehr wahrscheinlich war er damals ein Kind, sicher nicht unter fünf Jahren, da er schon überaus detailliert beobachten konnte. Zudem war er in den ersten fünf Jahren in keinem Schloß der beschriebenen Art, da es feststeht, daß die Gebäulichkeiten in Beuggen keineswegs mit dem Traumschloß identisch sein können. Und die Arbeiterfamilie Blochmann lebte in keinem Schloß.
Kaspar wird also zwischen sechs und acht Jahre alt gewesen sein, als er dieses Erlebnis im Schloß in sich aufnahm. Auch Hans Scholz kommt zu dieser Annahme: Kaspar hatte da ein ganz prägnantes Bild vor dem inneren Auge gehabt. Ausgedacht kann er's nicht haben, er wäre denn ein angehender Kunstwissenschaftler gewesen. Zur Zeit seines dortigen Aufenthaltes muß er ein Kind gewesen sein, das noch angekleidet wurde. An die acht Jahre oder nicht viel älter, aber schon bei wachem Verstande, um dermaßen detailliert zu beobachten. Und da nun seine Geburt in das Jahr 1812 fällt, muß Kaspar dieses Erlebnis um 1819/20 herum gehabt haben. Wie schon gesagt, war es wahrscheinlich der Ankunftstag in diesem Schloß, welches ihm seine Gouvernante, das "Frauenzimmer", zeigte, vielleicht mit dem Hinweis, das hier sei nun sein Zuhause. Solche Eindrücke bleiben haften. Und beim Anblick des Renaissanceportals an der Nürnberger Burg wurde der gehabte Traum wieder wachgerufen, wobei zu bemerken wäre, daß Kaspar mit der Traumwiedergabe partout nichts anfangen konnte. Die hypnotische Sperre, von der wir schon ausführlich gehört haben und auch noch weiter vernehmen werden, wurde also beim Anblick des Renaissanceportals ein Stückchen durchlöchert. Sie bröckelte etwas ab. Jedoch genügte dies nicht, daraus ein Erinnerungsmosaik zu fertigen. Zur Hypothese, daß Kaspar Hauser sein Schloßerlebnis um 1820 gehabt haben wird, paßt auch die Hutmode jener schweigsamen Dame an seinem Bett. Sie wie der Herr im Frack waren auf keinen Fall Schloßpersonal, sondern Herrschaften. Dies dürfte feststehen, wenn die Schilderung nur einigermaßen stimmt. Aber wer war dieses Paar? Für Kaspar jedenfalls Fremde. Er fragte denn auch die Dame, was sie wolle, bekam aber keine Antwort darauf. Interessant ist nun wieder das Kreuz am blauen Band des deutschen Herrn mit Zweimaster und Degen. Es passen zu dieser Beschreibung nämlich gleich drei bayerische Orden: Der "Verdienstorden vom Heiligen Michael" von 1693, der "Militär-Max-Josephs-Orden" von 1806 und mit größerer Wahr-
scheinlichkeit der "Verdienstorden der bayerischen Krone". Auch diese Szene, die Kaspar ja nicht erfunden haben konnte, spricht gegen Schloß Heiligenberg, noch in Baden gelegen. Vieles, wenn nicht alles, deutet auf ein Schloß in Bayern. Auf dem Weg von Beuggen nach Pilsach, der vorläufigen Endstation unseres Kaspars, sind unter weiteren noch zwei Orte im Gespräch geblieben, wo Hauser einst Unterschlupf gefunden haben soll, und zwar immer zusammen mit der Dalbonne: Triesdorf bei Ansbach und Schloß Ellingen, an die 40 Kilometer südöstlich von Ansbach, noch in Mittelfranken. Auch an diesen beiden angeblichen Stationen hat die Fama schon im vorigen Jahrhundert angesetzt zu wuchern. Selbst in Novellen und Heimatromanen haben diesbezüglich Gerüchte ihren Niederschlag gefunden, wenngleich zum Teil in dichterischer Umschreibung. Und vielleicht ist es letztlich gar nicht so zufällig, daß just eine fränkische Heimatdichterin, weit über den Durchschnitt dieser literarischen Gattung stehend, Klara Hofer - daß diese geistvolle Schriftstellerin in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts Kaspars Kerker, in dem er freilich allenfalls nur einige Wochen zugebracht hatte, entdeckt hat. Schloß Ellingen, an der Bundesstraße 13 gelegen, auf dem Wege zwischen Ansbach und Ingolstadt, war wie Beuggen ehemals im Besitz der Deutschordensritter. Erst 1806 kam es an den bayerischen Staat. Drei Jahre darauf wurde der Deutsche Orden aufgelöst. Ein Barockschloß übrigens, ein mächtiges Bauwerk, zu Ende des 18. Säkulums von Ordensbaumeister Franz Keller konzipiert. 1804 gab das Königreich Bayern Schloß Ellingen als Kronlehen an den Feldmarschall Fürst von Wrede. In dieser Familie blieb das Schloß Generationen hindurch. Erst viel später kam es wieder an den bayerischen Staat. Zu Hausers Zeiten war Schloß Ellingen also im Besitz der Fürsten von Wrede. War es ein Mitglied dieser Familie, das da hinter der schweigsamen Dame den kleinen Jungen im Bett betrachtete? Gemeint ist der deutsche Herr in dunkler Kleidung mit Zweimaster und
Degen. Nie wurde etwas Handfestes darüber publik. Aber feststeht: wenn Kaspar je unter dem Dach einer der Ellinger Schloßflügel gelebt hat, dann war er Gast dieser geschichtsträchtigen bayerischen Fürstenfamilie. sicher aber nicht lange. Wenn es nach der Fama geht, dann wurde dort unser Kaspar dem herrschaftlichen Förster und Verwalter Franz Richter aus dem Fastenhaus zu Pilsach übergeben - jenem Franz Richter, der Hausers Betreuer in diesem abgelegenen oberpfälzischen Ort gewesen sein dürfte. Die gleiche Fama hat aus ihm später den "Kerkermeister" gemacht. Das war er nun sicher nicht, aber er ist aus der Hauser-Geschichte nicht mehr fortzudenken, weil er mit ihr engstens verwoben ist. Die Fama, dieses alte und doch ewig jung bleibende Flitterweib, lebt und zehrt also doch von Wahrheitskernen. Auch soll dort, in Schloß Ellingen, der endgültige Abschied von der Dalbonne gewesen sein, die um 1825 herum wieder nach Ungarn zurückgekehrt ist zur Gräfin Mathenyi, einer geborenen Bartakowitz, der Sternkreuzordensdame. Wir kennen sie schon. Prompt hat auch einer von Kaspars Nürnberger Träumen diesen Abschied zum Inhalt. Dem Kaspar träumte nämlich, eine Frau habe über seinem Bett gestanden und gottesjämmerlich geweint. Abschied der Madame Dalbonne von ihrem ihr ans Herz gewachsenen Pflegling, der ihr jahrelang anvertraut war? Es wird wohl nie mehr nachweisbar sein. Hat dieser "Ellinger Abschied" je stattgefunden, dann mit Wahrscheinlichkeit nicht vor dem Sommer 1820. Warum 1820? Weil in diesem Jahr die Reichsgräfin Hochberg für immer die Augen zudrückte. Diesem letzten Akt der Hochberg war eine zweijährige Leidenszeit vorausgegangen. Kurz nach Großherzog Karls Tod war sie schwer an Gelbsucht erkrankt, hinzu kam dann noch Wassersucht und ein Gallenleiden. Das war ihr Ende. Nunmehr erst, vielleicht auf Anraten des Fürsten Wrede, wird sich Reitzenstein entschlossen haben, den Jungen für die nächsten Jahre nach Pilsach zu geben, in dieses gottverlassene Dörflein, fernab aller größeren Straßen, in der Nähe von Neumarkt in der Oberpfalz gelegen. Weit weg von Karlsruhe, im bayerischen Ausland, mochte Kaspar zum jungen Mann heranwachsen, von dessen Herkunft kaum jemand eine Ahnung hatte - am allerwenigsten Hauser selbst. Durchaus möglich,
ja wahrscheinlich, daß er in Pilsach von Anfang an hypnotisch behandelt wurde, daß man seine Persönlichkeit systematisch veränderte. Und Reitzenstein wird innerlich aufgeschnauft haben in dem Wissen, daß die Hauptwisserin und Auslöserin der Hauser-Geschichte für ihn nichts Unvorhergesehenes mehr unternehmen konnte. Lange genug, jahrelang, hatte das Spiel mit den wechselnden Aufenthaltsorten gedauert. Warum? Um Hausers Spur zu verwischen, auf daß er dem badischen Staat nie gefährlich werden konnte. So kam Kaspar im Verlauf seiner "Wanderjahre" von Baden schließlich ins bayerische Ausland. Warum aber gerade nach Bayern? Wir werden uns damit noch ausführlich auseinandersetzen. Wie gesagt, auch Triesdorf bei Ansbach gilt als einer der Orte, die zu Kaspars Stationen zählen sollen. War er dort gewesen, dann sicher vor seiner Ellinger Zeit. Dieses Triesdorf, noch heute eines der anmutigsten Bauensembles Gesamtdeutschlands, war die Sommerresidenz der Markgrafen von Brandenburg-Ansbach. Bretteben die Gegend dort, satte Wiesen und duftende Wälder ringsum, eingebettet in die Hügellandschaft Mittelfrankens, nur wenige Kilometer entfernt von Wolframs-Eschenbach, der Heimat des Parsival-Dichters - ein liebenswürdiges Stück Erde. Nach Ansbach hinein, das von Triesdorf aus nördlich liegt, so an die 15 Kilometer entfernt, führte zur Markgrafenzeit eine baumbestandene Chaussee. ziemlich schnurgerade. Sie besteht zum Teil heute noch, samt ihrer uralten Bäume aus der Barockzeit, nunmehr integriert in die Bundesstraße 13, nach München führend. Von ihr aus sieht man südlich von Triesdorf den Hesselberg, Frankens "Heiligen Berg", auf dem schon römische Legionäre ein Wachlager hatten und gen Norden blickten, in die Urwälder jener germanischen Volksgruppen, die von den Römern nicht beherrscht wurden. Nicht weit von Triesdorf verlief denn auch der Limes, der befestigte Grenzwall der Römer, von den Menschen dieses fränkischen Landstriches auch "Teufelsgraben" genannt. Jeder Quadratmeter Boden ist dort Geschichte, und sie werden ihre Gründe gehabt haben, die Ansbacher Markgrafen, weshalb sie justament auf diesem Boden ihre Sommerresidenz erbauten. Nicht auf einmal ist dies geschehen, sondern im Verlaufe von Generationen, Zug um Zug. So
wuchs dieses Triesdorf heran, voll Grazie und Lebensfreude. Berühmte Baumeister wie Johann Leonhard Dientzenhofer gaben dort einander die Türklinken in die künstlerischen Hände. Aber nicht alles ist erhalten geblieben, was einst geschaffen wurde. Was geblieben ist, reicht noch immer, die Herzen kunstliebender Besucher zu entzücken. Schwerpunktmäßig gesehen besteht dieses Triesdorf aus einigen Schlössern. Dazwischen, gleichsam wohlgeordnet verstreut, Weiher mit Schwänen, Kavaliershäuschen, Alleen, Pavillons, Fasanerien, Stallungen, eine Kaserne für berittene Truppen, Falknerei, Zwinger, Nebengebäude und kleine Schlößchen. Eine Welt für sich war das Ganze. Alles ist, wie schon gesagt, heute nicht mehr erhalten. Was aber auf den Staat gekommen ist, auf den weißblauen, gehört heute zu einer großen landwirtschaftlichen Fachhochschule, einschließlich der großflächigen Versuchsfelder, einer berühmten Schafzucht und Großviehhaltung. So gesehen ist's eine Welt für sich geblieben, eine Welt, in der die Landwirtschaft mit wissenschaftlicher Methode angegangen wird. Wenn nun Kaspar eine Weile tatsächlich in diesem Triesdorf gewesen sein soll, und so manches spricht dafür, dann kommt als sein Aufenthaltsgebäude in erster Linie das sogenannte Falkenhaus in Frage, genannt auch das "Rote Schloß". So bezeichnet nach den roten Ziegeln, mit denen es gebaut ist, und zwar in niederländischer Manier. Ein stattliches Gebäude an der Durchgangsstraße nach Weidenbach, das mit Triesdorf mittlerweile soviel wie zusammengebaut ist. Sozusagen das dörfliche Pendant zum einstigen Hofareal. Heute ist in diesem Falkenhaus, soviel mir bekannt ist, eine Melkschule untergebracht. Es hatte und hat rückwärtige Anbauten, in denen zur Markgrafenzeit Falken und Falkoniere untergebracht waren. Es wäre eine Kleinigkeit gewesen, den Jungen Kaspar Hauser dort mehr oder weniger unauffällig für eine geraume Weile unterzubringen. Aber auch sonst gab es in diesem weitverzweigten Triesdorf genügend Möglichkeiten, den Buben in relativer Freiheit heranwachsen zu lassen. Ein Verlies oder sonstiges Gemach, das man dafür ausgeben könnte, gibt es in Triesdorf allerdings weit und breit nicht. War auch nicht nötig,
wenn's um Kaspar Hauser geht. Danach hat man aber generationenlang gesucht - solange das Märlein vom zwölf- oder dreizehnjährigen Kerkeraufenthalt noch völlig unkritisch hingenommen wurde. Da nun aber in diesem Triesdorf nie so ein Verlies entdeckt wurde und auch gar nicht entdeckt werden kann, mangels Vorhandensein, wurde Triesdorf in der Hauser-Literatur schließlich nur noch am Rande vermerkt. Vielleicht wurde gerade deshalb vielfach übersehen, daß Hauser zweimal, gleich nach seiner Ankunft in Nürnberg, von Uniformen der Leichten Reiterei fasziniert war. Einerseits gebärdete er sich wie toll in seiner kindlichen Freude an der schmucken Uniform des Rittmeisters von Wessenig, andererseits starrte er nach solchen Ergüssen der Begeisterung an einer Offiziersuniform der Leichten Reiterei, der Chevaulegers, wie sie auch genannt werden, dumpf und starr, reglos, nichts anderes sehend und hörend, auf das gold- und silberglänzende "Lametta" der Uniform. Es war dies Kaspars typische Haltung, wenn er versuchte, sich auf etwas zu besinnen. Die Frage ist nicht weit hergeholt: Kamen ihm die Chevauleger-Uniformen bekannt vor? Im Juli des Ankunftsjahres 1828 war es dann, daß Kaspar in seinem Turm bei Hiltel von Feuerbach besucht wurde. Der Appellationsgerichtspräsident war nicht alleine. Bei ihm befand sich auch ein Oberst der Chevaulegers, der mit Feuerbach aus Ansbach gekommen ist. Feuerbach hat sich zwar nicht näher darüber ausgelassen, wer dieser Oberst war, aber es dürfte kaum ein Zweifel bestehen, daß es sich um den Kommandeur des 2. Chevauleger-Regiments handelte, das in Ansbach stationiert war. Zwei Schwadrone dieses ruhmreichen Regiments aber lagen in Triesdorf, waren dort stationiert. Wieder eine Frage, die naheliegt: War der Oberst aus purer Neugierde gekommen, um den seltenen "Wundermenschen" zu sehen, oder stand dahinter eine ganz besondere Absicht? Etwa die, sich davon zu überzeugen, ob dieser junge Mann identisch sein könnte mit einem Jungen, den er einst in Triesdorf gesehen hat und von dem in höheren Kreisen damals schon gemunkelt wurde, mit diesem Buben da habe es eine besondere Bewandtnis. Und noch etwas: Wenn Kaspar einst mit seiner
Gouvernante in Triesdorf einige Zeit lebte, dann hat er mit Sicherheit Leichte Reiter, Chevaulegers ("Schwolisches"), gesehen. Täglich und in Mengen. Tatsache ist und bleibt es jedenfalls, daß sich Kaspar zweimal beim Anblick von Offiziersuniformen der Leichten Reiterei wie toll aufführte und in der für ihn typischen Haltung versuchte, sich an etwas zu erinnern. Kehren wir zurück zum Falkenhaus und seinen Nebengebäuden, wo er mit seiner Gouvernante gewohnt haben könnte. Wenn die roten Ziegelmauern dieses Schlosses reden könnten: sie hätten viel zu erzählen, unendlich viel, und vielleicht würden sie auch von einem Jungen plaudern, der einst dort wohnte, Klavierunterricht bekam und gerne und viel zeichnete und aquarellierte. Nicht von der Hand zu weisen, daß dieser Bub damals Gottfried oder Stephan genannt wurde, um ab Pilsach-Abreise mit hypnotischer Unterstreichung wieder ein anderer zu sein. Der Bub aus Beuggen wäre aber nicht der erste Gast des Falkenhauses gewesen, der später prominent werden sollte und in die Geschichte eingegangen ist. Einige Jahre, bevor Kaspar dort gewesen sein konnte, weilte den ganzen Sommer über der bayerische Kronprinz mit seiner Familie in den Gemächern dieses Hauses. Das war in des Herren Jahr 1816. Es war übrigens nicht das letzte Mal, daß der spätere König Ludwig I. dort weilte. Er hat öfters im Triesdorfer Falkenhaus Station gemacht, sicher auch im sogenannten Weißen Schloß, wo das Offizierskasino der Chevaulegers war. Auch sein Vetter, der Herzog Pius August von Pfalz-Birkenfeld war im Falkenhaus Gast. 1823, lese ich. Und als 1791 Ansbachs Markgrafenzeit zu Ende gegangen war, da hörte das lustige Triesdorfer Schäferspiel nur vorübergehend auf. Von 1793 ab wurde es Dreh- und Treffpunkt der Hocharistokratie halb Europas. Der Ruf "Liberté, Egalité, Fraternité!" trieb viele, die aus ihrer Sicht etwas dagegen hatten, in das fränkische Triesdorf. Denn das mittlerweile preußisch gewordene Ansbach nebst Triesdorf galt als neutral. Kein Wunder, daß diese gewesene Sommerresidenz wie ein Magnet auf jene wirkte, die von den französischen Revolutionsarmeen zu Paaren getrieben wurden. Maximilian I. Joseph von
Pfalz-Zweibrücken, der nachmalige erste Bayernkönig, rollte mit Gefolge durchs Triesdorfer Tor, der Herzog von Württemberg mit Familie und Hofstaat fand hier eine Zuflucht und auch der badische Markgraf Karl Friedrich mit seinen drei Söhnen aus erster Ehe und seiner zweiten morganatischen Ehehälfte, der Gräfin Hochberg, fand hier eine vorübergehende Bleibe. Ja die Hochberg gebar im Falkenhaus ihren drittgeborenen Sohn Max. Dies sind nur einige angeführte Beispiele aus dem Riesenreigen der Blaublüter aller Schattierungen, die sich in Triesdorf eingefunden haben, mitsamt ihren Lakaien, Kammerherrn, Zofen, Hoffräuleins, Kutschern, Bett- und Oberbettfrauen, Jägern, Geistlichen und Köchen - die Mätressen nicht eingerechnet. Ein Stelldichein von Fürstlichkeiten und Ministern. Zeitweise waren es an die 2000 Personen, die sich in Triesdorf tummelten. Sie alle vertrieben sich die Zeit mit Bällen und Gesellschaften, mit Jagd und Schäferspiel, dabei wartend, ob nicht bald die Nachricht einträfe, der Revolutionsspuk sei beendet und sie könnten die angestammten Vorrechte in ihren Heimatländern wieder einnehmen. Triesdorf war also zu jener Zeit so bekannt wie heute etwa Baden-Baden. Und auch Reitzenstein kannte die frühere Sommerresidenz der Ansbacher Markgrafen! Ja, es ist nicht übertrieben zu sagen: Wer vom Hochadel in Europa kannte es nicht! Noch etwas. Klara Hofer, die subtile Dichterin, hat's überliefert und auch Professor Klee hackte in die gleiche Kerbe. Oder hat er doch eine andere Kerbe gemeint, vielleicht daneben liegend? Der große Rechercheur in Sachen Kaspar Hauser hat sein Wissen mit ins Grab genommen. Es waren ihm die Jahre nicht vergönnt, die er vielleicht noch gebraucht hätte, um noch weitaus mehr Licht in die ganze Sache zu bringen. Aber eines steht fest: Klara Hofers wie Fritz Klees "Hauser" - Schlösser liegen im Nordbayerischen. Das macht stutzig, da beide unabhängig voneinander forschten und dabei auf Aussagen gestoßen sind, die sich im fränkisch-oberpfälzischen Raum berühren. Schloßbesitzer dieser Gegend waren es denn auch immer wieder, die zur Feder gegriffen haben, um über Hauser zu schreiben. Ein Zufall?
Gibt es Zufälle von so gehäufter Art? Ich glaube nein. Jedenfalls hat es mit den "Schlössereien" im reizenden Franken einiges auf sich. Auch Klara Hofer (1875 - 1946) war Schloßbesitzerin. In Pilsach. Sie hatte eine Kollegin, die Sophie Hoechstetter (1878 - 1943), die auch über Hauser geschrieben hat. Mehrmals sogar. "Das Kind Europas" hieß das Buch, wobei sie als Titel jene drei Worte entlehnte, die zu Hausers Lebzeiten bereits im wahrsten Sinne des Wortes durch ganz Europa geisterten. 1925 veröffentlichte sie ihr Buch. Es war die große Zeit der Hauser-Forschung. Diese hochgebildete Dichterin und Schriftstellerin schrieb auch die "Fränkischen Novellen", ihre wohl gelungenste Arbeit. Und sie war es, die Klara Hofer inspiriert hatte, sich mit der Hauser-Sache näher zu befassen. Nachdenklich stimmend der Untertitel ihrer "Fränkischen Novellen": "Mythos des fränkischen Landes, schwermütige Sage eines Landstrichs und seiner Bewohner". Liegt es daran, daß es in so relativ vielen fränkischen Schlössern hauserverdächtig raunzelt, um nicht zu sagen rumort? Auch Sophie Hoechstetters enge Freundin Baronesse Carola von Crailsheim (geboren 1895) - sie dichtet ebenfalls - befaßt sich zeit ihres Lebens mit Hauser, ist Kennerin der Materie. Sie lebt in München, entstammt aber einem fränkischen Schloß: dem Familienschloß der Crailsheims in Rügland, dreizehn oder vierzehn Kilometer nördlich von Ansbach entfernt. Und nun zu Klara Hofers Überlieferung - zu Klara Hofer, die ein Jahr vor der Hoechstetter ihr Kaspar-Hauser-Buch geschrieben hat, 1924 also. Der Titel dieser Arbeit: "Das Schicksal einer Seele". Es geht da bei dieser Überlieferung um einen Dr. Jakob Eusebius P., einen Landarzt im Fränkischen. Die Hofer schrieb: ... Der Landarzt P. hatte einen Morgenbesuch im Schlosse zu R. gemacht. Es dauerte länger als sonst, denn die Baronesse hatte Hauser erwähnt. Als der Alte zu seinen Enkeln herabkam, schüttelte er den Kopf, murmelte und sagte: "Ja, der ... war sicher der Mörder." ... Es wird hinzugefügt, daß jener Enkel den Namen sein Leben lang ängstlich verschwiegen und mit ins Grab genommen hatte, denn
trotz der dringlichen Bitten seines Sohnes hätte er sich stets geweigert, seine Wissenschaft, die er als furchtbar und dem Trägen Gefahr bringend bezeichnet hat, anderen mitzuteilen ... Welcher Name war so furchtbar, daß er noch nach Menschenaltern seinem Bewahrer die Lippen schloß? So zu fragen war berechtigt und ist es heute noch. Was war dies für ein Schloß "zu R.", das der "Landarzt P." besucht hat mit seinen Enkeln, den Kindern seiner Tochter, deren Name nicht mit P. angefangen haben kann, also nicht gleichlautend mit dem des Landarztes sein konnte? Meinte die Hofer Schloß Rügland? Meinte sie Ratibor im Bayerischen? Oder meinte sie Schloß Reuth, südlich von Marktredwitz in der Oberpfalz? Des Landarztes Schwiegersohn, der Erzeuger seiner Enkel, dies läßt Klara Hofer noch wissen, war bereits seit 1866 unter der Erde. Daraus läßt sich schlüssig folgern, daß der Besuch des Landarztes in diesem Schloß zu R. um 1870/71 herum gewesen sein dürfte. Zur Zeit der Reichsgründung also. Bei Dr. Klee nun kann man lesen: Es gibt ein Schloß, auf das der Traum Hausers ziemlich paßt. Ich habe dieses besucht auch eine andere Spur führt dorthin. Da jedoch die Untersuchungen hierüber noch nicht abgeschlossen sind, so müssen nähere Mitteilungen unterbleiben! Ist das angedeutete Schloß identisch mit Rügland? Kaum möglich nein: unmöglich! Kaspars Traumschloß und Schloß Rügland passen keinesfalls zusammen. Eher schon Schloß Reuth bei Marktredwitz oder Schloß Schillingsfürst, Besitz der Hohenloher. Die "andere Spur" aber, die auch "dorthin" führt, dürfte die der Dalbonne sein. Dann aber kann Fritz Klee nur Schloß Reuth gemeint haben, das aber, wie gesagt, Kaspars Traumschloß kaum gewesen sein kann. Es hat keinen Springbrunnen im Hof und auch keine Art Laubengang darum herum nebst einer darüber befindlichen Galerie. Auch ein Standbild der von Hauser beschriebenen Art fehlt in Reuth, übrigens auch in Schillingsfürst.
Wir haben bereits früher vernommen - gelegentlich der sogenannten Denunziation des Dompredigers Müller -, daß die Dalbonne einst als Gouvernante bei einem Gutsbesitzer in der Nähe von Nürnberg angestellt war. Könnte es Schloß Reuth gewesen sein? Hat Klee mit der "anderen Spur", die nach Reuth führt, die Fährte der Dalbonne gemeint? Wie gesagt, es ist dies unbekannt geblieben. Aber die Vermutung ist berechtigt, daß sie früher dort in Stellung war, wie wir noch sehen werden. Ist dem so, dann führt nämlich noch eine Spur nach Reuth - eine sehr heiße sogar! Diese Spur aber heißt Reitzenstein. Auch wenn Reuth nicht Hausers Traumschloß war, so könnte er sich dort vorübergehend doch aufgehalten haben. Ja, dies ist sogar wahrscheinlich. Es sei gestattet just an dieser Stelle nochmals auf die Aachener Verträge zurückzukommen. Wir wissen, daß vor diesem großen Vertragswerk die badische Sache äußerst schlecht bestellt war. Sollte die Zähringer-Linie aussterben, war es um den Bestand Badens geschehen. Große Ländereien wie die Pfalz wären an Bayern gekommen, den Breisgau, dem einst die Stephanie von ihrem Stiefvater Napoleon mit in die Ehe bekommen hatte - diesen Breisgau hätten sich die Österreicher eingesäckelt. Das will nun heißen: Bayern konnte am Fortbestehen der Zähringer-Linie wenig Interesse haben. Eher das Gegenteil dürfte der Fall sein. Lebte aber in der Person des Kaspar Hauser noch ein Reis am Zähringer Stamme, dann stand es schlecht um die Länderausdehnung Bayerns. Für den Jungen in Beuggen oder Mundelfingen, in Hochsal oder Heiligenberg konnte dann die Gefahr aus Bayern weitaus größer sein als die von Seiten der Hochbergs in Baden. In Baden war er also sicherer. Dies läßt die Folgerung zu, daß Kaspar erst nach den Verträgen von Aachen die Landesgrenzen hat wechseln müssen, nach Bayern hinüber. Denn seit Aachen war die Thronfolge der Hochbergs gesichert, und Großherzog Ludwig konnte mit der Hochberg'schen Drohung, den Prinzen Kaspar Hauser dann der Öffentlichkeit zu servieren, sobald er eine standesgemäße Ehe eingehen wollte, vor unüberlegten Schritten zurückgehalten werden. So wurde er daran gehindert, legale Söhne zu zeugen, die den Fortbestand der Zähringer-Linie gewährleistet hätten. Unter diesem Aspekt
hätten die Hochbergs eventuell lange Zeit hindurch das Nachsehen gehabt, ja vielleicht wären sie nie auf den Thron gekommen. Nunmehr, nach Aachen, sah die Sache ganz anders aus. Kaspar war jetzt für die Hochbergs die Hauptgefahr: als noch lebender echter Erbprinz der Zähringer-Linie. Er war aber auch eine permanente Gefahr für Ludwig. Haargenau dies wird für Minister Reitzenstein der Grund gewesen sein, den Jungen ins Ausland abzuschieben, nach Bayern. Mochte Ludwig ruhig seine paar Jahre auf dem Throne sitzen. Nach ihm, das stand fest, war die Hochberg-Linie an der Reihe, den badischen Thron zu besetzen. So konnte vor allem die Gemahlin des ersten Hochberg-Sohnes, Leopold, gedacht haben, der dann auch tatsächlich nach Ludwig Großherzog wurde - programmgemäß. Spätestens im Sommer 1819 wird Kaspar Hauser denn auch mit der Dalbonne im Bayernland eingetrudelt sein. Müßig, da nicht nachweisbar, wo hier seine erste Station war. Aber es waren auf jeden Fall mehrere Aufenthaltsorte. bis er schließlich in Pilsach landete. Fürs Erste war er jedenfalls außer Gefahr. Freilich, sollte das offizielle Bayern jemals rauskriegen, wen es da innerhalb seiner Landesgrenzen hat, dann könnte dieser mittlerweile junge Mann ein ausgezeichnetes Druckmittel gegenüber Baden sein. Nicht auszudenken, wenn Bayern auf diplomatischen Wegen wissen ließe, in seinem Gewahrsam befände sich ein badischer Erbprinz der Zähringer-Linie. Wäre er nicht ein Mittel gewesen, die Verträge von Aachen durch ein anderes Vertragswerk zu ersetzen? Durch einen Vertrag, demzufolge, sagen wir einmal, die Pfalz wieder zu Bayern geschlagen würde. Voraussetzung eines solchen Coups wäre natürlich gewesen, daß Bayern auch nachweisen konnte, dieser Kaspar Hauser sei der legitime Sohn des Großherzogs Karl und dessen Gemahlin Stephanie. An diesem Nachweis aber scheint es gemangelt zu haben, wie noch schlüssig zu beweisen sein wird. Das wiederum konnte Baden nicht wissen. Und Bayern wird's dem Musterländle von nebenan nicht auf die badische Nase gebunden haben. So kam Kaspar Hauser, dieser Spielball der Mächte, zwischen die Mahlsteine der großen Politik und was darunter zu ver-
stehen ist. Denn schließlich wurde er eine Gefahr für alle Seiten: für das monarchische System an sich. Doch wollen wir der Geschichte nicht allzusehr vorausgreifen. Sie ist eh kompliziert genug. Die Frage ist nun die: Warum kam Kaspar Hauser gerade nach Bayern? Wäre er beispielsweise in der neutralen Schweiz nicht sicherer gewesen? In der deutschsprachigen Schweiz etwa. Wahrscheinlich nein, ist die Antwort. Denn gerade in der Schweiz tummelten sich viele politische Flüchtlinge, Revolutionäre, die zwar unter sich wahnsinnig zerstritten waren, aber gemeinsam die Fürsten dieser Welt haßten und dadurch das monarchische System. Kaspar Hauser in Händen dieser Leute - nicht auszudenken! Leute dieses Schlages kennen kein Pardon, wenn es darum geht, ihre Weltverbesserungstheorien durchzusetzen. Sie treten zwar an unter der Fahne des Humanismus, zögern aber keinen Augenblick, unmenschlich zu sein, wenn es um die Durchsetzung ihrer Ziele geht. Dann schon lieber das Risiko mit Bayern, mag sich Reitzenstein gedacht haben. Und er hatte noch einen Grund, so zu denken. Einen sehr wesentlichen sogar. Denn Reitzenstein entstammte einer alten bayerischfränkischen Linie. Uralter fränkischer Adel mit weitverbreiteten Besitztümern: Gütern und Schlössern. Den Jungen dort untertauchen zu lassen, war für ihn eine Kleinigkeit, das Nächstliegende, das sich ihm quasi angeboten hat. Das Bindeglied zwischen Baden und Bayern hieß also Freiherr Sigmund Karl Johann von Reitzenstein. 1766 als zweiter Sohn seiner Eltern zu Nemmersdorf bei Bayreuth geboren, war er ein Mittfünfziger, als Kaspar ins Bayerische übergewechselt sein dürfte. Er studierte die Rechte in Göttingen und Erlangen und begann als 18jähriger (!) seine Laufbahn als Sekretär im Fränkischen. Sechs Jahre später, als 24jähriger, kam er an den badischen Hof und erhielt die Kammerherrenwürde. Weitere zwei Jahre später wurde Reitzenstein Landvogt zu Rötteln mit Sitz in Lörrach. Von dort nach Beuggen sind es aber nur runde 15 Kilometer! Mit Recht darf also angenommen werden, daß von Reitzenstein dieses Beuggen schon aus seiner damaligen Amtszeit persönlich gekannt hat, wenngleich die Ordenskommende Beug-
gen erst im Gefolge des Rheinbundes 1806 zu Baden kam. Hochbegabt, von edler Erziehung, fleißig und ehrgeizig zugleich, machte er seinen Weg. So kam er in den diplomatischen Dienst. 1796, beispielsweise, handelte er mit der französischen Revolutionsregierung den Waffenstillstandsvertrag aus. Das war in Stuttgart. Und er hat seine Sache bravourös gemacht. Derweilen aber war der ganze badische Hof in Triesdorf bei Ansbach versammelt - in Triesdorf, das ihnen der König von Preußen als neutrales Asyl angeboten hatte. In Stunden der Not halten eben auch Monarchen zueinander, allen sonstigen politischen Gegensätzen zum Trotze. Beuggen hat Reitzenstein also mit Sicherheit gekannt, und Triesdorf wird der gebürtige Franke nicht minder gekannt haben. Dies macht Kaspars vermuteten Aufenthalt in diesem Triesdorf noch wahrscheinlicher. Und was nun Ellingen betrifft und das dortige Barockschloß, so wissen wir, daß es zu Hausers Zeiten den Fürsten von Wrede gehört hat. Der damalige Fürst von Wrede aber vertrat auf dem Wiener Kongreß die Interessen Bayerns. So schlecht und recht übrigens. Das Bild rundet sich ab: Reitzenstein - Beuggen - Hauser - Triesdorf Wiener Kongreß - von Wrede - Schloß Ellingen. Gar fein säuberlich waren die Fäden gezogen und die feinstverästelten Nebenlinien. Und Reitzenstein ließ seine Beziehungen spielen, um dem Staat, dem er diente, keine Ungemächlichkeiten bereiten zu lassen, sicher aber auch aus rein menschlichen Erwägungen. Sich nun mit der Genealogie der Reitzensteins zu beschäftigen, ist nicht einfach. Dieses uralte fränkische Adelsgeschlecht setzte sich und setzt sich auch heute noch aus einer Vielzahl von Ästen und Zweigen zusammen. "Unser" von Reitzenstein gehörte jedenfalls dem Hauptstamme aus der Schwarzenstein-Linie an und gehörte dadurch zum Hause "Regnitzlosa hinter der Kirche". Er wurde hochbetagt, 81 Jahre alt, starb also 1847. Was Bismarck für das Reich, war Sigmund von Reitzenstein für Baden: der bedeutendste Diplomat und Staatsmann, den Baden je gehabt - ein Pendant zu Graf Montgelas in Bayern. In diesem Bayern aber war Reitzenstein genauso zu Hause wie in Baden, wo er wirkte, während seine Verwandten, weitverzweigt, auf
ihren Schlössern und Gütern in Oberfranken saßen. Und vielleicht ist es gar nicht so abwegig, den Gedankengang zu haben, von Reitzenstein könnte der Hauptinitiator auch der Flaschenpostgeschichte gewesen sein. Aber selbst wenn er auch da seine Hände im Spiel gehabt haben sollte, dann nur, um vorausschauend und -planend die Interessen seines Staates, des Landes Baden, zu vertreten. Sein Einfluß reichte weit, sowohl in Baden wie auch in Bayern, seiner alten Heimat. Reitzenstein in Baden und seine Verwandten in Bayern. Wir haben schon davon vernommen. Und auch von Polizeidirektor Dr. Wagler aus Leipzig, dem heutigen Karl-Marx-Stadt. Er war es, der den Boden für die Dechiffrierung des Flaschenpost-Anagramms bereitet hatte. In den zwanziger Jahren schrieb er in einem Zeitungsaufsatz davon, daß nach seinen Ermittlungen eine Freifrau von Reitzenstein geborene Freiin von Seefried auf Buttenheim das Schloßgut Reuth bei Marktredwitz in Besitz hat. Dr. Wagler nun vermutete in dieser Freifrau die Gattin eines Nachkommens "unseres" Reitzensteins und folgerte daraus, sie könnte ererbtes Wissen um den Hauser-Fall haben. Wörtlich schreibt Dr. Wagler dann: Offenbar ist sie die "Baronesse auf dem Schloß zu R.", der Klara Hofer ... die volle Kenntnis des Geheimnisses um K. H. beimißt. Neuere Forschungen (H. Scholz) ergaben nun, daß eine Bertha Mathilde Seefried auf Buttenheim 1888 einen Albert von Reitzenstein geheiratet hat. Dieser war Fideikommißherr auf Reuth, jedoch kein Nachfahre des Ministers, der zur Linie "Regnitzlosa" gehörte, während Albert von Reitzenstein der Linie "Selbitz-Reuth" angehörte. Direkte Nachfahren des Minister von Reitzenstein sind bislang nicht gefunden worden. Er hatte auch keine direkten Leibeserben. Wer den kinderlosen Minister von Reitzenstein beerbt haben wird, dürfte sein Neffe Ernst Philipp gewesen sein, Jahrgang 1805. Wie sein Onkel Sigmund, so war auch dieser Reitzenstein-Sproß bereits in jungen Jahren badischer Kammerherr. Später sollte er es, sicher protegiert von seinem Onkel, zum badischen Oberpost- und Eisenbahndirektor
bringen. Als dann Onkel Sigmund 1847 in Karlsruhe starb, wird Ernst Philipp von Reitzenstein auch gewisse Papiere geerbt haben, unter anderem auch den Hauser-Fall betreffend, die er, weil dort sicherer, in seinem Stammhaus Reuth deponiert haben wird. Sicher, es ist dies eine Kombination, aber keine verwegene, da so viele Fakten dafür sprechen. Jedenfalls haben gerade zwischen den Reitzenstein-Linien "Regnitzlosa" und "Selbitz-Reuth" engere Beziehungen bestanden als zwischen anderen Zweigen dieses Adelsgeschlechts. Übrigens hatte auch Ernst Philipp keine Söhne. Die besonders dichte Versippung rührt zusätzlich davon her, daß die Selbitzer in zwei Generationen jeweils eine Reitzenstein geheiratet haben, wobei die zweite eine Regnitzlosa war. Es ist also nicht auszuschließen, ja wahrscheinlich, daß enges Wissen, vielleicht sogar die ganze Wahrheit um den Hauser-Fall, auf Schloßgut Reuth gekommen ist. So gesehen führen tatsächlich mehrere Spuren nach Reuth in unmittelbarer Nähe von Erbendorf in der Oberpfalz. Und da die Oberpfalz erwähnt wird, ein kleiner Wink: auch Pilsach mit dem Fastenhaus im Schloßareal liegt in der Oberpfalz, an die 40 Kilometer südöstlich von Nürnberg, wo Kaspar dann auch prompt am Pfingstmontag 1828 aufgetaucht ist und in eine Welt gestellt wurde, die mit ihm nichts anzufangen wußte. Wie und warum Kaspar Hauser nun nach Pilsach gekommen ist, darüber gibt es nur Rückkombinationen, die in wesentlichen Teilen den Rang von Indizienbeweisen haben, wie wir noch sehen werden. Irgendwann zu Kaspars "Bayernzeit" wird es durchgesickert sein, was für eine Bewandtnis es mit dem jungen Schlössergast auf sich hat. Es hat nämlich den Anschein, daß Kaspar ab Pilsach mehr oder weniger in Händen oppositioneller bayerischer Militärs war. Wir würden sie heute als Falken bezeichnen, um nicht zu sagen Säbelrassler. Aber sie schienen keine vollgültigen Beweise gehabt zu haben, daß Kaspar tatsächlich badischer Erbprinz war. Sie hätten sonst andere Möglichkeiten gehabt, den politischen Trumpf Kaspar Hauser auszuspielen. Will heißen: den Kaspar als Köder, als Luftballon zu benutzen, indem sie ihn in Nürnberg aussetzen ließen - dies wäre nicht notwendig ge-
worden, wären sie ihrer Sache ganz sicher gewesen. Wahrscheinlich nie mehr nachweisbar wird sein, ob dieser Offizierskreis, auf den so manches hindeutet, mit stillschweigender Billigung seines Königs gehandelt hat. König aber war in jenen Jahren, um die es hier geht, Max I. Joseph. Dessen zweite Gattin Karoline aber war - wir haben es schon vernommen - eine badische Prinzessin: die zweitälteste Schwester des Großherzogs Karl, Kaspars Vater. Damit war Karoline die leibliche Tante Kaspar Hausers. Seither saß dessen Sohn Ludwig, der erste Ludwig, auf dem bayerischen Thron. Und just dieser, der Lola-Montez-Ludwig, gefiel sich in der Rolle des Pfalzgrafen vom Rhein. Er lenkte Bayern bewußt in die Rolle eines Kalten Krieges gegenüber Baden. Er gefiel sich im Säbelrasseln, stolzierte an der badischen Grenze entlang und warf schmachtvolle Blicke nach Mannheim hinüber, von wo ihm die Ovationen breiter Bevölkerungskreise zuteil wurden. Und da neue Besen besonders gut zu kehren pflegen, ließ er wiederholte Male Truppen an der Grenze zusammenziehen. So auch 1827 - ein Jahr vor Hausers Aussetzung in Nürnberg! Er hatte Offizierskreise in seiner Armee, die Falken, die ihn permanent zum militärischen Eingreifen gegen Baden drängten. Aber er war vernünftig genug und letztlich auch viel zu friedfertig, den Kalten Krieg nicht in eine heiße Phase überzuleiten. So begnügte er sich mit dem Säbelrasseln - und mit Gedichten, die er höchstselbigst verfaßte und die in schmalziger Tonart die Rückgewinnung der einstmals bayerisch gewesenen badischen Landteile zum Inhalt hatten. Aber hatte Ludwig vielleicht noch ein anderes Eisen im königlichbajuwarischen Feuerchen? Sagen wir einmal ein sehr heißes, ein glühendes Eisen namens Kaspar Hauser! Tatsache ist jedenfalls. daß Ludwig wie seine Gemahlin, die Königin Therese, zeit ihres Lebens engsten Anteil am Schicksal des Kaspar Hauser genommnen haben also nicht nur in der Christinenlaube anläßlich des Nationalfestes in Nürnberg, wie sich der geneigte Leser noch erinnern wird.
Kehren wir noch einmal zurück zur Königinwitwe Karoline, zu Hausers Tante. Sie hatte nämlich eine direkte Verbindung zum Schloßgut Pilsach, an die sechs Kilometer nordöstlich von Neumarkt in der Oberpfalz gelegen. Das Bindeglied aber war ihre Hofdame Franziska du Prel, deren Familie das abgelegene Schloß Pilsach seit 1780 in Besitz hatte. Diese Tatsache muß nun nicht bedeuten, daß die Königin oder ihr Gemahl Kaspars Einquartierung in Pilsach befohlen hätten. Es konnte durchaus sein, daß Franziska du Prel, die ein besonderes Vertrauensverhältnis zu ihrer Monarchin hatte, von der Sache Wind bekommen hat und das Gemurmel von da aus in die Ohren jenes Offizierskreises gelang, der sich entschlossen hatte, selbständig zu handeln und dabei hoffte, letztlich das Verständnis seines Königs zu finden. Politisierende Offiziere also - nicht unbedingt eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Auch sei an dieser Stelle die Frage in den Raum gestellt, inwieweit Fürst Wrede auf Schloß Ellingen dabei seine Hände im Spiel gehabt hat. Denn irgendwann einmal während seiner "Bayernzeit" mußte das Objekt Kaspar Hauser den Reitzenstein'schen Händen entglitten und in die offiziellen oder offiziösen Finger Bayerns gekommen sein, die ihn ihrerseits als Trumpfbuben auszuspielen gedachten. Von sich aus wird Reitzenstein den Jungen nicht Leuten überantwortet haben, von denen er wußte, sie würden Kaspar gegen das Land ausspielen, dem er ein Leben lang treu gedient hat. Der bloße Gedanke daran, erscheint schon als absurd. Nein, ein Adelsmann vom charakterlichen und geistigen Habitus eines von Reitzenstein, würde sich nie und nimmer dafür hergeben. Völlig ausgeschlossen! Möglich, wie schon angedeutet, daß Kaspars Übersiedlung nach Pilsach mit Billigung Reitzensteins geschehen ist. Aber das muß dann noch lange nicht heißen, er hätte von der Existenz eines politisierenden Offizierskreises etwas gewußt oder gleich gar den Kaspar ganz bewußt diesen Leuten zugespielt. Genug der Deutungen, die nur deshalb notwendig sind, weil es mit Sicherheit noch immer Leute gibt, die gewisse Papiere über den Hauser-Fall, wie ihren Augapfel hüten und nicht bereit sind, diese einer geschichtswissenschaftlichen Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.
Befassen wir uns nun um eines besseren Verständnisses willen etwas näher mit Pilsach und seinen Besitzern. Dieses Pilsach, Dorf wie Schloß, lag zu Hausers Zeiten recht abgelegen. Die Landstraße nach Amberg zog damals nahezu zwei Kilometer östlich daran vorbei. Nur Pfade und Feldwege führten in das Tal des gleichlautenden Flüßchens, das im Westen vom Ottenberg und im Osten vom Röthelberg begrenzt wird. Im Osten des Dorfes, unmittelbar anschließend, liegt das Wasserschloß inmitten eines zum größten Teil verlandeten Weihers. Eine kleine steinerne Brücke führt zum Schloß, an deren Stelle früher eine Zugbrücke war. Über diese preschten einst die schwedischen Landsknechte ins Schloß, um es zu zerstören. Das war 1632 im Gefolge des Dreißigjährigen Krieges. Damals gehörte das Wasserschloß den Freiherren Senfft zu Pilsach, die ihr Besitztum gegen Ende des 17. Jahrhunderts aufgaben beziehungsweise zur Aufgabe mehr oder weniger gezwungen wurden. Sie waren nämlich Lutheraner in dieser stock-katholischen Gegend. Es gab deshalb laufend Schwierigkeiten und Verdruß. Jedenfalls kam das Schloßgut von den Senffts in die Hände des Amberger Bürgermeisters Meiler, und zwar gar arg vergammelt und heruntergekommen. Später wechselte wieder der Besitz: Meilers Schwiegersohn, ein Herr von Orban, erwarb es. Dessen Tochter aber brachte es als Mitgift in ihre Ehe mit einem Jakob von Schmauß zu Pullenrieth. Eine Tochter dieser Ehe, Theresia mit Namen, heiratete einen Freiherrn Johann Babtist du Prel, als zweite Gemahlin übrigens. Das war im Jahre des Heils 1780. Theresia und ihr Johann Babtist bauten sechs Jahre nach ihrem Eheschluß ihren Besitz um. Die noch jetzt vorhandene Schloßtür stammt übrigens von diesem Umbau her. Aus dieser Heirat ging eine Tochter namens Maria Magdalena Caroline du Prel hervor. Sie war die Tante des 1839 geborenen Carl du Prel, mit dem wir uns noch näher beschäftigen werden, da er Fachmann auf dem Gebiet der Hypnose war, zudem ein Vorkämpfer des Spiritismus, vordem aber aktiver Offizier der bayerischen Armee eine hochinteressante Persönlichkeit mit Doktorhut aus Tübingen.
Maria Magdalena Caroline du Prel ehelichte nun 1809 den Freiherrn Karl Ernst von Grießenbeck, Jahrgang 1787. Er heiratete in das Schloßgut Pilsach ein. Mit ihm aber begann die Grießenbeck-Ära, die aus der Geschichte Kaspar Hausers nicht mehr fortzudenken ist. Karl von Grießenbeck, ein gebürtiger Amberger, war der Sohn eines Regierungsrates und machte einen Ausbildungsweg mit, der typisch war für die Söhne alten Adels: Page am Münchner Hof, mit 17 Lenzen Leutnant im 1. Infanterie Leibregiment, mit 23 ein gestandener Major. Und als solcher nahm er 1810 zunächst einmal Abschied von den Fahnen. Des Majors Grund: Er mußte einen Prozeß durchstehen, den die Stiefgeschwister seiner Frau in Szene gesetzt hatten und der seinen ganzen Einsatz erforderlich machte. Bei diesem Prozeß aber ging es um Pilsach, um seinen eingeheirateten Besitz. Seine Frau, eine geborene du Prel, war, um's noch einmal zu sagen, eine Tochter aus zweiter Ehe zwischen Johann Babtist du Prel und Theresia von Schmauß zu Pullenrieth. Kläger in diesem Prozeß aber waren die Kinder aus der ersten Ehe des Johann Babtist. Volle zwei Jahre zog sich das Gerangel mit den Gerichten hin, bis 1812. Dann schlüpfte Karl Ernst von Grießenbeck wieder in den bunten Rock: eine Rangstufe niedriger, als Rittmeister und Schwadronschef bei der berittenen Gendarmerie, einer neuaufgestellten Truppengattung mit Standort in Regensburg. 1816 wurde er schließlich Kompaniechef in Passau und wurde dann fünf Jahre später - er war mittlerweile 34 Jahre alt - zur Leibgarde der Hartschiere nach München versetzt, einer adeligen Gardeeinheit, die direkt dem König unterstand: Maximilian I. Joseph. Hofdame bei dessen Gattin Karoline aber war Franziska du Prel, die Schwester von Grießenbecks Frau, seine Schwägerin also. Wahrscheinlich, wenn nicht sicher, daß von Grießenbeck persönliche Beziehungen zu seinem Monarchen gehabt hat, der 1825, als Hauser bereits in Pilsach war, das Zeitliche segnete. Neuer Bayernkönig aber wurde Ludwig Nummer eins, Sohn des Max Nummer eins aus dessen erster Ehe.
Ich weiß, daß diese genealogischen Ausflüge für den Leser recht kompliziert sind und ihn voll in Anspruch nehmen. Aber es geht wohl nicht anders, um gewisse Zusammenhänge und Hintergründe darzustellen. Grießenbeck diente also fortan seinem neuen Monarchen, unter dem er 1836 Kommandeur des Kadettencorps wurde, unter gleichzeitiger Beförderung zum Oberst. Den Dienst endgültig quittierte Karl Ernst von Grießenbeck als Generalmajor im Schicksalsjahr 1848 - im gleichen Jahr in dem sein König abdankte. Nachfolger wurde Ludwigs Sohn als Maximilian II. Joseph, dessen unglücklicher Sohn Ludwig II. durch Suizid im Starnberger See endete. Als Grießenbeck in den Ruhestand ging, war er 61 Jahre alt: ein rüstiger Pensionär, einsfünfundsiebzig groß - Gardemaß damals -, ein tadelloser Offizier, von den Pilsacher Bauern als streng, aber gerecht charakterisiert. Allerdings, und das darf an dieser Stelle in Erwähnung gebracht werden, bekamen ihn die Pilsacher selten zu Gesicht. Nur zur Urlaubszeit und bei Stippvisiten, die er von München aus unternahm, um in Pilsach nach dem Rechten zu sehen. Aber darauf kommen wir noch ausführlich zurück, weil hier einige Merkwürdigkeiten in Erfahrung gebracht werden konnten, die mit Kaspar Hauser und seine Aussetzung in Berührung gebracht werden können. Wir haben es bereits vernommen, daß der nachmalige Generalmajor Karl Ernst von Grießenbeck 1809 von Maria Magdalena Caroline du Prel geheiratet wurde, die Schloßgut Pilsach mit in die Ehe gebracht hat. Sechs Kinder sind dieser Ehe erwachsen. Das dritte Kind, Maria Sidonia Elisabeth von Grießenbeck, bekam ihrerseits Pilsach mit in ihren Ehebund. Das war 1835. Und geheiratet hat sie den Freiherrn Joseph Maria Johann von Berchem. Diesem Ehebund entsproß nur ein Kind, eine Tochter namens Maria Magdalena; die gleichen Vornamen also, die auch ihre Großmutter hatte. Noch vor ihrem 30. Lebensjahr starb diese Maria Magdalena. Im Wahnsinn. 1866 oder 67. Jedenfalls nach ihrem Vater, dem Freiherrn von Berchem, der 1862 als 60jähriger kgl. bayr. Oberappellationsgerichtsrat in München starb.
Im darauffolgenden Jahr wurde auch der Generalmajor a. D. Karl Ernst von Grießenbeck zur großen Armee abberufen. Er war von seinem Hochzeitstag an, also von 1809 bis zu dem seiner Tochter Maria Sidonia im Jahre 1835 Herr des Schloßgutes Pilsach gewesen. Maria Sidonia von Berchem aber veräußerte noch im Jahre des Heimgangs ihres Vaters den Schloßbesitz von Pilsach. Vater Grießenbeck, der alte Soldat, wurde übrigens 76. Seine Tochter jedoch, die allem Anschein nach keine Lust mehr am Erhalt ihres Pilsacher Besitztumes hatte, brachte es gar auf 80 Jahre. Sie starb in München 1895. Und verkauft hatte sie Pilsach an einen Gütermakler. Bei Gelegenheit dieses überstürzten Verkaufes zeigte sich die Grießenbeck-Tochter in einem bestimmten Falle von einer Seite, die mit der Assoziation Adel-Edel wenig mehr zu tun hat. Gemeint ist damit die fristlose Entlassung des alten Gutsverwalters und Försters Franz Richter, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einmal Hausers Betreuer war und von den Nürnberger Stadtspitzen zum "Kerkermeister", zum Ausbund des Bösen und Schlechten gestempelt wurde. Die verwitwete Maria Sidonia von Berchem - ihre Witwenzeit betrug insgesamt 33 Jahre - jagte den alten Verwalter wegen einer Bagatelle aus dem Haus. Bei den Holzabrechnungen wurde irgendeine Unstimmigkeit entdeckt. Das hatte genügt. Der wetterharte Mann packte sein Bündelchen nach 50 Dienstjahren bei Grießenbecks und Berchems und ging zu seiner Tochter nach Neumarkt. Er war damals 75 Jahre alt, als ihn die Grießenbeck-Tochter wegwarf wie einen abgelegten Handschuh, und zwar ohne Pension, die sie sich sparte. Eine nicht verständliche Treuelosigkeit, die sich diese Dame da zuschulden kommen ließ. Immerhin hat vor Franz Richter schon dessen Vater dem Hause 40 lange Jahre gedient, in der gleichen Stellung wie sein Sohn. Vater und Sohn arbeiteten also 90 Jahre für das Schloßgut Pilsach! Welch ein Undank für neun Jahrzehnte! Oder war es doch nicht bloßer Undank? Wollte etwa die Witwe von Berchem, diese Frage sei erlaubt, einen Mann aus ihrem Gesichtsfeld haben, der sie an einen dunklen Punkt in Pilsach erinnerte? So abwegig ist die Fragestellung nicht. Wollte sie, um's direkt auszusprechen,
mit dem Förster Franz Richter die Erinnerung an Kaspar Hausers Aufenthalt im Fastenhaus zu Pilsach aus ihrem Gedächtnis tilgen? Zu Lebzeiten ihres Vaters hat sie dies nicht gewagt. Aber kaum war er unter der Erde, da griff sie ein. Verkauf des Schloßguts samt fristloser Entlassung eines treuen Bedienten. Begreiflich dies alles nur, wenn die Sache in Zusammenhang mit Kaspar Hauser gebracht wird. Da hilft nun alles nichts. Vielleicht auch deshalb ihr späterer Umzug nach München, um nicht mehr an den dunklen Punkt des Fastenhauses erinnert zu werden. Bleiben wir bei Franz Richter. Geboren wurde er 1788 und gestorben ist er 1870 82jährig in Neumarkt. Täglich, bei Wind und Wetter, stapfte der alte Mann nach seiner Entlassung von Neumarkt nach Pilsach, wo er bei seinem Amtsnachfolger, dem vormaligen Unterförster Pepperl, zu Mittag aß. Eine Art Gnadenbrot, das ihm sein Kollege bereitete. Dann marschierte er wieder zurück zu seiner Tochter, die in Neumarkt verheiratet war. Ein schweigsamer Mensch, kernig und treu. Auch der Undank seiner Herrin und das nicht verdiente Elend, in das er gestürzt worden war, lockerten seine Zunge nicht. Nie kam ein Sterbenswörtchen über seinen verbitterten Mund, den Hauser-Fall betreffend. Woher wir dies wissen? Von Professor Klee, der auch diese Informationen aufgestöbert hat. Er sprach nämlich noch einen Sohn des Försters Pepperl, der zur Unterstützung Franz Richters 1852 zunächst als Unterförster auf Pilsach eingestellt worden war. Diesen Pepperl junior, einen Schreinermeister, hat Fritz Klee 1929 noch persönlich gesprochen. Pepperl war damals ein 74jähriger Mann. Ein anderer alter Pilsacher aber, der Maurermeister Nißlbeck, charakterisiert den Förster Richter so: Franz Richter stand bei den Leuten in hohem Ansehen; man mußte sich an ihn wenden, wenn man aus dem Herrschaftswalde Holz oder Streu haben wollte. Er war ein ehrenwerter und treuer Mensch. Mein Vater sagte oft: Richter hätte sich für die Herrschaft zwicken lassen.
Unter "zwicken" versteht man aber in Pilsach "foltern". Nißlbecks Vater aber, ein Taglöhner, war mit Franz Richter befreundet. Auch Schreinermeister Pepperl sprach ähnlich von diesem Franz Richter: Franz Richter war ein leutseliger und heiterer Mann und ein eifriger Jäger. Er war mittelgroß, schlank, hatte graue Augen, keine auffallende Stimme. Er sprach den ortsüblichen Dialekt. Einen Bart trug er nicht ... Richter hatte über die Erträgnisse des Waldes Buch zu führen, auch über die Ablieferung des Zehnten seitens der Bauern. Er war in Neumarkt wohl bekannt und kam, wie ich von ihm hörte, öfters nach Nürnberg, um Geschäfte zu erledigen. Dieser Franz Richter ist keinesfalls, wie wir vernehmen konnten, identisch mit dem zu Nürnberg von den Behörden gebastelten Ungeheuer, der einen Jungen zwölf oder dreizehn Jahre lang in einem dunklen Kerker bei Wasser und Brot schmachten ließ. Wir haben es vielmehr mit einem ebenso gutmütigen wie auch treuen Menschen zu tun, einem Grünrock wie aus dem Roman, einem naturverbundenen Menschen, der sich für seine Herrschaft hätte foltern lassen; wir haben es zu tun mit einem Mann, der bei seinen Mitmenschen hoch angesehen war, der pflichtigst seinen Dienst versah und der auch sicher ein guter Schütze war. "Er ist ein guter Schütz", hat Kaspar auf seinem Krankenlager im Delirium gesagt, gleich nach dem Attentat vom Oktober 1829. Und es besteht kein Zweifel, daß bei dieser Gelegenheit die hypnotisch und vielleicht auch zusätzlich mit Drogen erzeugte Erinnerungssperre brüchig geworden ist. Wie sonst konnte Kaspar sich auf einmal wieder an seine Pilsacher Zeit erinnern? Den Zeugen damals mußte diese zusammenhanglose Aussage freilich völlig unverständlich bleiben und wurde dann auch prompt in der Rubrik "Hauser-Rätsel" geführt, und zwar weit über 100 Jahre hindurch. Die von Zeitgenossen geschilderte Gutmütigkeit des Forstmannes von Pilsach fügt sich auch nahtlos in Kaspars Anhänglichkeit gegenüber dem Mann, bei dem er seiner schwachen Erinnerung zufolge "immer gewesen" ist - angeblich, sei hinzugefügt, denn Hauser war eben nicht immer bei diesem Mann. Ohne Zweifel war Kaspar an diesem Mann gehangen, hat ihn gemocht, hat in ihm eine Vaterfigur gesehen. Und
aus dieser seiner Anhänglichkeit hat Kaspar anfangs in Nürnberg kein Hehl gemacht. Erst viel später und sozusagen Schritt für Schritt wurde dieses wahre Erinnerungsbild durch die Erziehung verdrängt. Wann Kaspar Hauser nach Pilsach kam, läßt sich nicht sagen. Aber ich vermute stark, daß er nicht länger denn höchstens fünf Jahre dort zugebracht hat. Dies würde bedeuten, daß er um 1823 nach Pilsach geschafft wurde. Und sicher hat man dort planmäßig begonnen, den Buben, der bei seiner Einlieferung an die elf Jahre jung gewesen sein dürfte, zu isolieren und hypnotisch zu behandeln. Denn der Aussetzerpartei, die den Jungen einst in die Welt entlassen wollte, und zwar recht auffällig, damit die politische Karte gegenüber Baden auch richtig sticht - dieser Falkenclique mußte daran gelegen sein, daß Kaspar aus seiner vornürnbergischen Zeit nichts erzählen konnte. Aus für sie verständlichen Sicherheitsgründen. Woran er sich erinnern durfte, ja sollte, waren lediglich die paar Tage oder höchstens Wochen im Verlies. Daß nach der endgültigen Hypnose, nachdem man den Buben vom Försterhaus oder einem Schloßzimmer in das Verlies im sogenannten Fastenhaus gebracht hatte, der hypnotische Befehl erteilt wurde, das Gesicht Franz Richters nie und nimmer zu kennen - dies war natürlich im Interesse der Aussetzerpartei gelegen. Ich weiß, daß sich dies alles sehr phantastisch anhört, aber es kann nicht recht viel anders gewesen sein. Zu viele Einzelheiten fügen sich in das Mosaik, in dieses Puzzlespiel rücksichtsloser Politik. Wer eine andere Theorie hat, der möge sie vorweisen. Und zudem wissen wir heute, daß eine hypnotische Behandlung dieser Art durchaus möglich ist, wie in vorausgegangenen Kapiteln zu beweisen versucht wurde. Das Pilsacher Wasserschloß hatte einen Hausnamen. Es wurde und wird noch das Fastenhaus genannt. Und wie schon erzählt, liegt das Fastenhaus inmitten eines zum größten Teil verlandeten Weihers, an den sich, noch zum Schloßareal gehörend, eine Art Park, jedenfalls eine Grünzone anschließt, die heute total verwildert ist. Auch Scheune, Stallungen und das Jägerhaus, einstöckig, gehören zum einstigen Herrenbesitz. Und wenn sich der Leser zurückerinnert an den soge-
nannten Geleitbrief, den Hauser bei seiner Ankunft in Nürnberg bei sich hatte, dann werden Sie den Satz "... und Er selber weiß nichts wie mein Hauß Heißt und daß ort weiß er auch nicht ..." in gebührenden Zusammenhang bringen können. Ob aus Nachlässigkeit oder Verwegenheit: Es ist hier angedeutet, daß seine Unterkunft einen besonderen Namen hatte, der anders als der Ortsname lautete: Fastenhaus - Pilsach. Ja, der Texter des Schriebs hatte sogar die Stirn, das nur sechs Kilometer von Pilsach entfernte Neumarkt zu erwähnen. Wörtlich - und Sie werden sich wieder erinnern -: "Ich hab im nur bis Neumarkt geweißt ..." Soldatisch-verwegen der Inhalt des Briefes. Waren sich die Aussetzer ihrer Sache so sicher? Wußten sie, sei gefragt, einen mächtigen Beschützer hinter sich? Wahrscheinlich. Und der Erfolg gab ihnen ja auch recht. Es dauerte immerhin 100 Jahre, bis Kaspars letzter Aufenthaltsort vor dem Aussetzen in Nürnberg gefunden wurde - und dies nur durch einen Zufall. Der Bub, der in Pilsach mit Sicherheit nicht unter dem Namen Kaspar Hauser lebte und aufwuchs, durfte sich dort auch einer relativen Freiheit erfreuen. Da er sich aber an die Schießkünste des Försters erinnern konnte, wenn auch nur wie in einem kurzen Aufleuchten, wird er das eine oder andere Mal mit seinem Betreuer sogar auf die Jagd gegangen sein. Das paßt auch zu Hausers Aussehen bei seiner Aussetzung. Er war wohlgenährt, und hatte eine gesunde Gesichtsfarbe. Und die bekommt man mit Sicherheit nicht durch einen zwölfjährigen Kerkeraufenthalt. Aber beim Herumstreifen in den herrschaftlichen Wäldern bestimmt, sei angemerkt. Warum aber hat sich dann niemals jemand aus Pilsach gemeldet und gesagt, irgendwann einmal sei im Schloß ein Junge aufgewachsen, der vielleicht mit diesem weltbekannten Nürnberger Findling identisch sein könnte? Nun, theoretisch klingt dies im Nachhinein recht einleuchtend. Aber in der Praxis der vom Findling abhängigen Dorfleute von damals könnte die Sache ganz anders ausgesehen haben. In Herrschaftsdinge, so waren die Menschen einfach erzogen, mischt man sich am besten erst gar nicht ein. Und weiß Gott wie lange es gedauert haben mag, bis in
dieses einsame, abseits der Verkehrswege gelegene Pilsach die Kunde von einem Kaspar Hauser kam, der zwölf oder dreizehn Jahre hindurch in einem dunklen Kerker zugebracht haben soll. Das hätte doch eh nicht zusammengepaßt mit dem jungen Baron von Soundso, als den man Kaspar vielleicht ausgegeben hatte. Weder war der Junge in einem Kerker noch war er je in Pilsach ein gar höchst sonderbarer "Thiermensch", eine Art Fabelwesen, wozu die Nürnberger ihren Kaspar hatten hochstilisiert. Franz Richter wird den Dorfleuten halt weisungsgemäß zugeflüstert haben, der Bub sei der Kegel eines Barons oder einer Baronesse, der eine Weile hier aufgezogen wird in dieser ländlichen Idylle. Der Nürnberger Kaspar hatte doch nichts, tatsächlich nichts mit dem Buben von Pilsach gemeinsam. Dafür haben die wackeren Nürnberger ja selbst gesorgt mit ihrem magistratischen Schauermärchen. Und das Bild von Laminit, einen dörflichen Halbdeppen zeigend, nie aber Kaspar wie er wirklich war bei und gleich nach seiner Ankunft in Nürnberg? Nein, sollte es jemals seinen Weg nach Pilsach gefunden haben: dieses Bild hatte nichts mit dem Jungen gemeinsam, der sich da einst im Schloßpark tummelte und bei Franz Richter in Pflege war. Das Laminit-Bild wurde auch nicht angefertigt, um polizeiliche Recherchen anzustellen, sondern ein verehrliches Publikum die Gänsehaut kriegen zu lassen. TingeltangelRomantik, etwas für Kirmes und Schaubuden. Wir haben es schon vernommen: auch Franz Richters Vater war schon Förster von Pilsach gewesen. Von 1773 bis 1813. Vierzig Jahre hindurch. Dann wurde er von seinem Sohn Franz abgelöst. Dieser war damals 25 Jahre alt und noch nicht verheiratet. Er hatte sich Zeit gelassen, der Franz. Erst 1824, im Alter von 36 Jahren, kam er unter die Haube - ein Bräutigam bei Jahren. Bedenkt man aber, daß Kaspar um 1823 nach Pilsach kam, so könnte man fast glauben, der olle Junggeselle habe heiraten müssen. Nicht wegen eines gezeugten Kindes, sondern wegen eines ihm gebrachten Knaben, den er von nun an mit zu versorgen, zu betreuen hatte. Zugestanden: es kann auch Zufall sein. Aber zu bedenken gibt die Sache schon. Seine Frau bekam dann auch eine Tochter - eben die Tochter, bei der er später als alter Mann Unterschlupf gefunden hat, drüben in Neumarkt.
Am 26. Februar 1828 entband Frau Richter nochmals ein Kind und starb daran; das Kind wahrscheinlich auch, da sich über es nichts mehr finden läßt. Franz Richter war also vom Februar ab wieder alleine, weshalb einige Hauser-Forscher meinten glauben zu müssen, der Richter Franz, der Jäger-Franzl, sei durch das Hinscheiden seiner Frau in eine außerordentliche Notlage gekommen, mit zwei Kindern am Küchentisch: seinem kleinen Töchterchen und dem 15jährigen nachmaligen Kaspar Hauser. Und ausgerechnet deswegen sei er auf die Idee gekommen, den Kaspar abzuschieben: auf den Tag genau drei Monate nach dem Ableben seiner Frau. Wer so denkt, der hat den Hauser-Fall nicht durchschaut. Denn ein Franz Richter hat nur auf Weisungen gehandelt, hat nie einen Kaspar von sich aus betreut, sondern weil ihm dies befohlen wurde. Aber auch sein unmittelbarer Auftraggeber war weisungsgebunden und handelte mit Sicherheit nicht selbständig. Unmittelbarer Auftraggeber konnte aber nach menschlichem Ermessen nur sein Herr sein, der Freiherr von Grießenbeck, der Lehensmann des Königs. Undenkbar bei einem Manne wie Franz Richter, er hätte hinter dem Rücken seines Herrn etwas gemacht, was das Licht des Tages zu scheuen hatte. Anzunehmen ist deshalb, daß Richter eine Magd hatte, die ihm den Haushalt führte und die das rund drei Jahre alte Mädchen aufzog und den Kaspar mit betreute, der ihr zur Hand gegangen sein dürfte. Mit 15 Jahren ist keiner mehr ein Kind. Auch ein Kasparus Hauser nicht. Vielleicht aber lebte auch noch Richters Mutter, eine geborene Matich, aus Amberg stammend. Näheres ist darüber nie bekannt geworden. Weder von Richters Mutter im Försterhaus noch von einer Magd. Kaspars tatsächliche Aussetzung drei Monate nach dem Tode der Frau Richter hatte andere Beweggründe. Weit inhaltsschwerere. Genau geplante und vorbereitete. Als sicher wiederum dürfte gelten, daß Kaspar noch zur Regierungszeit des ersten Bayernkönigs in Pilsach einquartiert wurde, zur Zeit Maximilians I. Joseph. Wahrscheinlich war er es, der seinen Lehensmann Freiherr von Grießenbeck eines Tages kommen ließ und ihm bedeutete, er möge sich eines Knaben
annehmen. Für eine unbestimmte Zeit. In Pilsach. Bewogen haben könnte den Monarchen seine Frau Karoline, die von ihrer Hofdame Franziska du Prel, der Schwägerin des Freiherrn von Grießenbeck, über die Waldidylle von Pilsach und ihre Abgeschiedenheit einiges erzählt bekommen hatte. Natürlich bestand kein Anlaß seitens des Königs, den Freiherrn wissen zu lassen, was es für eine Bewandtnis mit dem Buben hat. Der Wunsch des Monarchen war seinerzeit nicht nur Befehl, sondern geradezu eine Ehre, diesen Wunsch augenblicklich zu befolgen. Es kann fast nicht anders gewesen sein. Aber diese Kombination setzt voraus, daß jener vermutete Offizierskreis mit stillschweigender Billigung des Königs dachte und plante. Als dann Max I. Joseph 1825 starb, wird spätestens zu diesem Zeitpunkt sein Nachfolger Ludwig Nummer eins von seiner Stiefmutter Karoline in das Geheimnis von Pilsach eingeweiht worden sein. Drei Jahre darauf war dann der Kalte Krieg zwischen Bayern und Baden so eisig geworden, daß der Friede auf des Messers Schneide stand. Aber es kam noch etwas hinzu! 1827 hatte nämlich Großherzog Ludwig von Baden einen Schlaganfall. Seine Tage konnten als gezählt gelten. So spitzte sich die politische Lage rasch zu. Denn nach Ludwig wird der erste Hochberg-Sohn Leopold den Thron besteigen. Wenn jemals der Prinz Kaspar Hauser als bayerisches Druckmittel gegen Baden ausgespielt werden konnte, dann zum Zeitpunkt des Machtübergangs von der Zähringer- an die Hochberg-Linie. Mit Schlaganfällen ist allemal nicht zu spaßen. Damals nicht wie heute. Nicht selten folgt kurz darauf der zweite, wobei der dritte oftmals das Ende bedeutet. Die Falkenclique konnte nervös geworden sein, sah sich unter Zeitdruck. Das Spiel mußte gewagt werden. Nur so erklärt sich Hausers Aussetzung am Pfingstmontag des Jahres 1828. Daß Großherzog Ludwig von Baden dann doch noch zwei Jahre durchstand, konnte nach seinem Schlaganfall und seinem sonstigen allgemein schlechten Gesundheitszustand von 1827 niemand ahnen. Wieder einmal hat der alte Bursche seiner Umgebung ein Schnippchen geschlagen. Ob der Herrschaftsförster Franz Richter während Kaspars Aufenthalt in Pilsach je nur die leiseste Ahnung hatte, wer ihm da zur Betreuung anvertraut worden war? Sicher nicht. Er hatte einen Auftrag
bekommen und ihn nach bestem Wissen ausgeführt. Leute von seinem Schlag, die sich für die Herrschaft "zwicken", also foltern lassen würden, die fragen nicht, die gehorchen nur. Da aber Franz Richter 1870 im Alter von 82 Jahren starb, hat er seinen einstigen Pflegling Kaspar Hauser um volle 37 Jahre überlebt. Anzunehmen, daß er im Verlaufe dieser langen Zeit irgendwann einmal in Erfahrung gebracht haben wird, daß der angebliche Bankert, den er da vor grauer Zeit einmal bei sich hatte, identisch ist mit dem mittlerweile weltbekannt gewordenen Findling von Nürnberg namens Kaspar Hauser. Aber er hat geschwiegen und nie den Mund aufgetan. Er nahm sein Geheimnis mit ins Grab. Nichts hatte ihn davon abbringen können, auch nicht der erschütternde Undank der Grießenbeck-Tochter von Berchem. Feststehen aber dürfte, daß Franz Richter nicht der Schreiber des "Mägdleinbriefes" und des Geleitwisches gewesen war. Dr. Klee, dieser ausdauernde Forscher hat nämlich noch Schriftproben des Herrschaftsförsters ans Tageslicht gebracht: wahrscheinlich Holzabrechnungen oder kurze Verwaltungsberichte des Schloßguts. Ich weiß es nicht, da Klee sich nicht näher darüber ausgelassen hat. Diese ergaben nun so abweichende Schriftzüge, daß auch Klee schon die Meinung vertreten hat, Kaspars Mitbringsel nach Nürnberg sind nicht gleich mit Richters Schreibkunst. Aber er hat noch mehr ausgekramt, dieser Nürnberger Professor. Bei seinen Recherchen in Pilsach, Neumarkt und Amberg wurde er nämlich auf einen Mann aufmerksam, der einst der Schreiber des "Geleitbriefes" und des "Mägdleinwisches" gewesen sein dürfte, und zwar mit ziemlicher Sicherheit. Der Name des Mannes: Johann Jakob Lutz, geboren 1791. Als er den Auftrag bekommen hat, einen vorgefertigten Text abzuschreiben, stand er in seinen besten Mannesjahren, war er 37 Jahre alt. Und den Auftrag dazu wird er deshalb bekommen haben, weil das Schreiben sein Broterwerb war. Lutz galt schon zu seinen Lebzeiten als Sonderling. Er wohnte in einer Turmstube der Neumarkter alten Stadtmauer und wurde von seinen Mitmenschen kurz "der Professor" genannt. Sonderling ja -
Dummkopf sicher nein! Wer Professor genannt wird, galt ohne Zweifel als Respektsperson, hatte Ansehen. Und so etwas muß man sich erst erwerben. Durch gewisse Leistungen, sagen wir einmal. Wer wie Johann Lutz Berufsschreiber war, der konnte seine Schrift sicher auch verstellen. Das bringt die tägliche Übung dieses Handwerks so mit sich. Und tatsächlich waren ja die beiden Briefe, die Hauser mit nach Nürnberg brachte, von ein und demselben Schreiber, wie graphologisch in unserem Jahrhundert festgestellt wurde. Der Mägdleinsbrief in lateinischer Schrift, der Geleitbrief in der alten deutschen Schrift, die noch 1937 den Schulkindern beigebracht wurde. Nach graphologischem Urteil war die Schriftverstellung nicht einmal besonders gelungen, ja sogar plump. Der Abschreiber scheint sich keine sonderlich große Mühe gegeben zu haben. Johann Jakob Lutz, diese sonderbare Neumarkter Leuchte, hatte das Talent zum Schreiben von seiner väterlichen Sippschaft quasi ererbt. Sein Vater war nämlich schon Torschreiber und Schuhmacher dazu, und auch dessen Bruder verdiente sich sein Geld mit Schreiben. Johann Jakob Lutz aber wandelte auf gleichen Pfaden, brachte es auf diesem Gebiet sogar noch weiter, indem er sich auch juristische Kenntnisse erwarb. Er schrieb also nicht nur Briefe für seine des Schreibens unkundige oder ungewohnte Kundschaft, sondern er vertrat auch schreibend den Justitiar Schwab aus Neumarkt, den eine schlimme Krankheit die Feder nicht mehr führen ließ. Dieser Schwab aber vertrat den zumeist abwesenden Freiherrn von Grießenbeck in dessen Wahrnehmung gerichtsherrlicher Pflichten zu Pilsach! Das ist ein Faktum, das ist nachweisbar. Klee hat in Amberg alte Akten gefunden, die Lutz an seines Prinzipals Schwab Stelle geschrieben hat. Ja, er hat noch mehr entdeckt! Klee konnte nachweisen, daß Papiersorte wie Wasserzeichen völlig mit dem Geleitbrief und dem Mägdleinsbrief gleich sind. Und: Lutz' Schrift, das ist schon gesagt, hat große Ähnlichkeit mit der des Geleitbriefes, die nach graphologischem Urteil als unverstellt gilt, im Gegensatz zur Schrift des Mägdleinzettels. Es war Ende der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts, als Professor Klee dies alles rausbekommen hat. Weiß Gott, eine Forschernatur von unglaublicher Zähigkeit.
Johann Jakob Lutz, der Neumarkter Winkeladvokat, schrieb aber nicht nur Akten, Eingaben, Briefe oder Gesuche: von Zeit zu Zeit, wenn es die Kundschaft verlangte, kritzelte er mit seiner Feder auch Heimatgedichte, Festprologe und dergleichen. Verschiedene HauserForscher weisen in diesem Zusammenhang auf den Geleitbrief, der an Rittmeister von Wessenig gerichtet war - an jenen von Wessenig, der vor seiner Nürnberger Zeit in Neumarkt garnisoniert gewesen war, dort also bekannt gewesen sein dürfte. Zufälle, dies alles? Kaum. Fast nicht möglich. Zu dicht ist die Kette der Indizienbeweise. Der Geleitbrief hat nämlich bei näherer Betrachtung tatsächlich eine Art Strophenform. Ein weiteres Indiz, das auf Johann Lutz als den Schreiber mit kräftigen Fingern hindeutet! Die Frage drängt sich nun auf, ob dies alles, gemeint sind Lutz' schreiberliche Fähigkeiten, den Neumarktern genügt haben mag, ihren Turmgemachbewohner als "Professor" zu betiteln. Mit einigem Recht stellte deshalb schon Hans Scholz die Frage, ob Lutz nicht auch in anderen Dingen, in geheimnisvollen, bewandert war: in okkultistischen Dingen, in Spiritismus - in Mesmerismus. Konnte Johann Jakob Lutz vielleicht hypnotisieren? Wurde er deswegen Professor genannt? War er, frage ich, Kaspars Hypnotiseur im Verlies des Fastenhauses? Hat er schon vorher den Jungen permanent hypnotisch behandelt? Es gibt keine klare Antwort darauf. Und selbstverständlich könnte es auch so gewesen sein, daß die Aussetzerpartei einen Magnetiseur, einen Spitzenmann dieses Faches, verpflichtet hat. Vielleicht eine Person, die fest in ihren Händen war, die schweigen mußte, was immer auch geschehen konnte. Es gibt wahrlich viele Deutungen darüber, viele Möglichkeiten, wie es gewesen sein dürfte. Etwas Definitives darüber hat nie das Licht des Tages erreicht. In diesem speziellen Punkte sind wir also auf Vermutungen und Kombinationen angewiesen. Auch was den Turmzimmerbewohner Lutz und seine eventuellen hypnotischen Fähigkeiten angeht. Er ging später, soweit ich sehe, nach München, wo er quasi untertauchte. Nie mehr hat man von ihm gehört. Seine Spur verläuft im Sande.
Maria Sidonia Elisabeth von Berchem, des alten Barons Grießenbeck Tochter, veräußerte also 1863 das Schloßgut Pilsach. Ein Jahr später verscherbelte die resolute Baronin auch das Mobiliar, bevor sie sich gen München aufmachte. Von nun an ging das Schloß sozusagen von Hand zu Hand, wechselte es oftmals den Besitzer. Um die Jahrhundertwende besaßen es die Freiherrn von Egloffstein, 1912 ein gewisser Scharf, Rechtsanwalt von Beruf, und drei Jahre später ein Herr Tryska. Nach dem ersten großen Krieg, 1919, kaufte Redakteur Höffner, Schriftleiter der Berliner "Daheim" - Redaktion, Schloß Pilsach. Es sollte ihm und seiner Familie als Sommeraufenthalt dienen. Höffners Gattin aber war die Dichterin und Schriftstellerin Klara Hofer, von der wir schon gehört haben. Sie stammte aus Bromberg; ihr Name war ein Pseudonym, phonetisch entlehnt aus dem Familiennamen ihres Mannes. Während nun Ehemann Höffner in Berlin die Zeitschrift "Daheim" mit zusammenbastelte, war Klara Hofer in Pilsach, ließ es herrichten und möblieren. Den Höffners-Hofers scheint es dort überaus gut gefallen zu haben. Sie hatten sich eingelebt in dieser Abgeschiedenheit, die Pilsach, streng genommen, auch heute noch ist. Klara Hofer lebte dort bis zu ihrem Tode Anno 1955 Dann kam das Schloßgut auf ihren Sohn, den Höffner junior, nachmaligen General der Bundeswehr. Mittlerweile aber hat es wiederum mehrere Besitzer gehabt. Ein Schloß zu erhalten, ist eben heutzutage nicht leicht. Vorbei sind die Zeiten, als die Dorfbewohner noch abgabepflichtig an die Herrschaft waren. Als nun Klara Hofer im entbehrungsreichen Jahre 1919 in Pilsach einzog, da wußte sie nicht viel über die Hauser-Geschichte. Wahrscheinlich, daß sie Wassermanns großen Hauser-Roman von der "Trägheit des Herzens" kannte, wie beinahe jeder Gebildete. Er kam 1908 heraus und verursachte einen Mordswirbel. Plötzlich war das Thema "Kaspar Hauser" wieder ganz groß in der Öffentlichkeit. 1924 aber machte Sophie Hoechstetters Hauser-Roman "Das Kind Europas" die Runde: im Frankenland, denn ihr Buch erschien zunächst einmal, im Herbst und Winter 1924/25, als Fortsetzungsroman im "Fränkischen Kurier", einer Heimatzeitung von einigem Niveau; in Buchform kam ihr Werk erst ein Jahr später heraus. Klara Hofer hat
aufgehorcht, was ihre so seelenverwandte Kollegin über den Findling zu sagen wußte. An dieser Stelle aber muß eine wichtige Tatsache Beachtung finden, nämlich das Faktum, daß bis zu diesem Zeitpunkt das Schloß Pilsach niemals in einen Zusammenhang mit Kaspar Hauser gebracht worden ist. Auch nicht von Sophie Hoechstetter. Es sollte aber nicht mehr lange dauern, da war dieses Pilsach plötzlich in aller Leute Munde. Und das kam so: Am 11. September 1924 wurden die Leser des "Fränkischen Kuriers" mit einem anonymen Beitrag in der Hauser-Sache überrascht: Vor 5 Jahren erwarb mein Mann in dem Wunsch, uns einen Sommeraufenthalt zu schaffen, den hiesigen Besitz. Im Laufe der Zeit hörte ich von den Dorfleuten und Dienstboten äußern, vom Flur des ersten Stockwerkes führe eine Falltür in einen dunklen Raum, den man bei Gelegenheit einer baulichen Veränderung vor 15 - 20 Jahren beim Durchbrechen einer dicken Wand gefunden habe. Der damalige Besitzer des Schloßguts Pilsach aber war ein Freiherr von Egloffstein, was in diesem anonymen Bericht nur mit den Anfangsbuchstaben zu lesen war. Auch wurde keinerlei Aussage gemacht, um welch einen Besitz es sich handelt. Jedenfalls war Anno 1924 das Ehepaar von Egloffstein längst schon verstorben. Die anonyme Einrückung in den "Fränkischen Kurier" aber stammt von - Klara Hofer. Knapp drei Wochen später schrieb sie in diesem Heimatblatt einen weiteren Artikel. Diesmal nicht anonym. Und da rückte sie mit der Sprache schon etwas mehr heraus. Denn ohne Zweifel hat die Dichterin und Schloßherrin einen kerkerartigen Raum entdeckt, ein Verlies. Dabei erhebt sich sofort die Generalfrage, ob es Kaspars Verlies gewesen ist, das die Klara Hofer entdeckt haben wollte. Dr. Klee einige Jahre später, nach eingehenden Studien und Untersuchungen: Kein Mensch mehr brauche einen Zweifel darüber zu haben, daß es sich um Kaspar Hausers Verlies handele. Rekapitulieren wir kurz: Die Dichterin Klara Hofer hat von Dorfbewohnern und Dienstboten gerüchteweise gehört, vor rund 18 Jahren, also um das Jahr 1906 herum, habe einer ihrer Schloßvorgänger
während einiger Umbaumaßnahmen ein Verlies entdeckt. Das heißt mit anderen Worten, daß vor ihr wenigstens einmal bereits dieser Kerkerraum entdeckt worden war. Klara Hofer war also nur die Wiederentdeckerin. Aber sie hat nicht geschwiegen, wie ihr Vorgänger und dessen Gattin, sondern ihr Wissen einer breiten Öffentlichkeit mitgeteilt. Darauf aber kam es an. Jedenfalls ging Klara Hofer den Gerüchten nach und ließ am 26. Juli 1924 vom Flur des ersten Stockwerkes ihres Schlosses Bodenbelag und Planken entfernen. Und siehe da: was sich dem Handwerker und der Hofer da auftat, das war ein finster-gähnendes Loch. Der Handwerker schob eine kleine Leiter hinunter und zwängte sich hinab. Aber der Maurer kam nicht bis in das Parterre, sondern in einen Raum zwischen dem Erdgeschoß und dem ersten Stock. Das Gerücht hatte sich als Wahrheit erwiesen. Dies bestätigten auch die Zeugen, die von Klara Hofer klugerweise hinzugezogen worden waren. Frau Hofer war also dem Gerücht von einem Verlies im Pilsacher Schloß, genannt das Fastenhaus, nachgegangen, bevor noch die Hoechstetter mit dem Abdruck ihres Hauser-Romans begonnen hat. Aber sie hat zunächst über die Verlies-Entdeckung geschwiegen, wie auch ihre Vorgänger es getan haben. Erst durch Sophie Hoechstetters Buch sah sie sich veranlaßt, ihr Wissen preiszugeben. Tatsache ist jedenfalls, daß man erstmals seit 96 Jahren, gerechnet von Hausers Auftauchen in Nürnberg, ein Verlies entdeckt hat, das in einer überaus auffallenden Art mit Kaspars Schilderung seines Kerkers übereinstimmt. Alle Recherchen der Behörden, zu Hausers Lebzeiten und auch noch danach, waren diesbezüglich erfolglos geblieben. Nie hatte jemand einen Raum gefunden, der nur annähernd identisch war mit jenem Verlies, an das sich Kaspar Hauser sehr wohl erinnern konnte und worüber er seine Mitteilung machte. Das war es ja gerade, was die Nürnberger Behörden bewog, an eine zwölfjährige Kerkerhaft zu glauben: nämlich Kaspars Vermögen, sich lediglich an seinen Verliesaufenthalt erinnern zu können, an nichts aber, was vordem war. Bürgermeister Binder folgerte daraus, der Kaspar wäre so lange bei Wasser und Brot in seinem dunklen Loch gehockt, daß er sich unmöglich mehr an die Zeit vor dem Verliesaufenthalt erinnern konnte.
Da er bei seiner Nürnberger Ankunft übereinstimmend als ein Bursche von circa 16 Jahren geschätzt wurde, wäre Kaspar demnach im Alter von drei bis vier Jahren in den Kerker gekommen. Den Widerspruch, daß Hauser nicht als ein total verblödeter und heruntergekommener Mensch in Nürnberg angekommen war, was aber hätte sein müssen, wäre er so lange "gehockt" - diesen Widerspruch nahmen die braven Nürnberger einfach nicht zur Kenntnis. Nun, wir wissen heute sehr wohl, wie sich die Sache zugetragen haben wird: durch Hypnose. Kaspar kam kurze Zeit vor seiner Entlassung in das Verlies des Fastenhauses, nachdem er einer hypnotischen Behandlung unterzogen worden war. Es wurde ihm die Erinnerung an die Zeit vor dem Verlies gelöscht, so daß er nach dem Erwachen aus dem hypnotischen Tiefschlaf glauben mußte, immer hier in diesem Kerker gelebt zu haben. Deshalb konnte er seinen Kerker ziemlich gut schildern, war aber nicht in der Lage, aus seinem vorherigen Leben nur das Geringste zu erzählen. Fast 100 Jahre hat es also gedauert, bis die Öffentlichkeit über ein Verlies informiert wurde, in das Hauser einst für kurze Zeit gesteckt wurde. Dieses Verlies im Fastenhaus zu Pilsach befand sich aber rund 40 Kilometer entfernt von Nürnberg, wohin Kaspar entlassen wurde. Auch das ist wichtig, denn schon zu Hausers Lebzeiten waren sich die Behörden in Nürnberg wie in Ansbach darin einig, daß dieses sagenhafte Verlies nicht allzuweit von Nürnberg entfernt gewesen sein dürfte, gedacht im Hinblick auf den Transport. Und wie wir wissen, kannte sich der Förster Franz Richter in Nürnberg einigermaßen aus, war geschäftlich öfter in der Noris. Man darf ihm also unterstellen, daß er dort auch Bekannte hatte. Kannte er etwa den Schuhmachermeister Weickmann? darf gefragt werden. War Richter mit dem Wirt der Gaststätte "Zum Bärleinhuter" bekannt, vielleicht sogar befreundet? Die Frage erhebt sich deshalb, weil Kaspar aller Wahrscheinlichkeit nach bereits am Abend des Pfingstsonntags Anno 1828 in Nürnberg samt Begleiter eingetroffen sein dürfte. Er wird also die Nacht vom Pfingstsonntag auf Pfingstmontag in unmittelbarer Nähe des Unschlittplatzes übernachtet haben. Und war es dann ein Zufall, daß er in seiner Entlassungsstunde ausgerechnet dem mit seinem
Zunftgenossen Beck palavernden Schuhmacher Weickmann in die Arme lief? Interessant, wenn nicht spannend, wird nun die Sache, wenn die geschichtlich fundierte Tatsache mitgeteilt wird, daß noch zu Lebzeiten Hausers alle infrage kommenden Keller, Gewölbe und Löcher in einem Umkreis von rund 40 Kilometer um Nürnberg herum abgesucht und besichtigt wurden. Ja, Polizeileutnant Hickel, damit beauftragt, war bei diesen seinen Entdeckungsreisen auch in unmittelbare Nähe von Pilsach gekommen, bis nach Neumarkt, wo er am 26. Mai 1831 eintraf. Aber nach Pilsach selbst hat er nie einen Schritt gesetzt! Und dies, obgleich er wußte, daß dieses Pilsach ein altes Wasserschloß hat, angeblich unbewohnt ist und abseits der Straßen liegt. Diese Tatsache aber hätte Hickel, damals noch Leutnant, doch geradezu anspornen müssen, Pilsach etwas näher unter die polizeiliche Lupe zu nehmen. Doch nichts dergleichen geschah. Über Pilsach lag ein Tabu. Es wurde ausgespart, fand nicht einmal Erwähnung in all den ungezählten Polizeiberichten. Und dabei blieb es fast 100 Jahre lang. Ein Zufall? Kaum möglich. Der Polizeioffizier Joseph Hickel war angeblich früher im Münchner Kadettenhaus. In Bezug zur Hauser-Geschichte trat er erstmals nach dem Nürnberger Attentat auf Kaspar in Erscheinung. Er war damals in Nürnberg stationiert und wohnhaft. Zu Beginn des Jahres 1830 wurde er aber nach Ansbach versetzt, mitsamt seiner Dienststelle. Ein Jahr später wurde er wieder in den Hauser-Fall einbezogen und dem Nürnberger Gericht zur Verfügung gestellt. Auf dessen Anordnung hin mußte er vom 9. Mai bis 3. Juni 1831 eine Rundreise um Nürnberg machen. Beinah volle vier Wochen schnüffelte der erfahrene Polizeimann, der sich für den Hauser-Fall besonders engagierte, in den Gegenden herum. Zunächst einmal knöpfte er sich Schrobenhausen vor, weil von dort die Denunziation über ein uneheliches Kind kam - eine Sache mit besonderen Umständen, die im Sand verlief wie alles andere auch. Es war keinerlei Bezug zu Hauser vorhanden. Joseph Hickel ließ sich aber nicht entmutigen und gondelte weiter nach Altbayern, in die Oberpfalz,
um überall dort nachzuforschen, wo ähnliche Kleidungsstücke, wie sie Hauser bei seiner Ankunft in Nürnberg trug, ähnliche Schriften, wie sie Hauser mitgeführt hatte, zu finden waren. Aus Wallfahrtsorten wie Altötting, konnte Hickel eine ganze Serie frommer Traktätchen, ähnlich den Hauserschen Mitbringseln, erwerben. Soweit Professor Pies, der dann fortfährt: Nach Pilsach ist Hickel damals nicht gekommen, obschon er in der Nähe war. Erinnern wir uns noch einmal des ersten Artikels, den Klara Hofer am 11. September 1924 im "Fränkischen Kurier" ohne Signum veröffentlicht hat. Sie führte darin an, von Dorfleuten und Dienstboten gehört zu haben, vom Flur des ersten Stockwerkes führe eine Falltür in einen dunklen Raum, den man bei Gelegenheit einer baulichen Veränderung vor 15 - 20 Jahren beim Durchbrechen einer dicken Wand gefunden habe ... Besitzer des Schloßgutes Pilsach war damals ein Dr. jur. Klaus von Egloffstein. Er und seine Gattin waren es, die besagte "bauliche Veränderung vor 15 - 20 Jahren" herbeigeführt haben. Das war also zwischen 1904 und 1909. Es sollte damals eine Zentralheizung im Fastenhaus eingebaut werden. Dabei stießen die Handwerker "beim Durchbrechen einer dicken Wand" auf das Verlies. Verständlich, wenn sich die Egloffsteins ihre Gedanken gemacht haben. Und sie werden sicher auch nachgeforscht haben, wer vor ihnen das Verlies hat zumauern lassen und weshalb. Da nicht mehr genau zu eruieren war, wann die Egloffsteins ihre Zentralheizung - eine technische Neuheit damals - haben einbauen lassen, dürfen wir den Mittelwert zwischen 1904 und 1909 nehmen, also 1907. Ein Jahr später aber, 1908 - und dies ist wieder einer jener eigenartigen Zufälle - hat ein Leo Freiherr von Egloffstein die Hauser-Schrift von Feuerbachs aus dem Jahre 1832 neu herausgebracht. Das war im gleichen Jahr, als Wassermann seinen Hauser-Roman von der "Trägheit des Herzens" als Neuausgabe auf den Büchermarkt brachte. Zufall über Zufall! Oder doch nicht? Warum hat dieser Leo von Egloffstein Feuerbachs
Hauser-Büchlein erneut herausgebracht? Irgend etwas muß ihn doch dazu bewogen haben! War es, sei gefragt, die Verlies-Entdeckung? Wollte er auf eine diskrete Art wiederum den Hauser-Fall einer breiteren Öffentlichkeit unterbreiten? Wir wissen es nicht. Aber feststeht, daß das freiherrliche Ehepaar Egloffstein tief in die Taschen gelangt hat, um das Fastenhaus mit einer Zentralheizung zu versehen und dann dennoch wenige Jahre darauf das Schloßgut Pilsach verkauft hat. An Rechtsanwalt Scharf im Jahre 1912. Auch das ist wieder höchst eigenartig. Denn wer sich eine Zentralheizung einbaut, der hat sicher nicht vor, das Anwesen bald wieder zu verkaufen. So sollte man jedenfalls annehmen dürfen. Dr. Klaus Egloffstein war damals erst 43 Jahre alt, seine Gemahlin, eine geborene Vogl, 39. Sie verzogen von Pilsach nach Thüringen. In Weimar sind sie zwei Jahre später verstorben. Die Baronin am 29. Januar 1914, ihr Mann einen Tag darauf. Auch dies ist höchst sonderbar bei einem Ehepaar dieses Alters. Und es muß leider hinzugefügt werden, daß es nicht mehr in Erfahrung gebracht werden konnte, an was, unter welchen Umständen Herr und Frau von Egloffstein verstorben sind. Auch blieb es bis jetzt unbekannt, warum sie Pilsach verkauft haben. Stand dieser Verkauf in Zusammenhang mit der Verliesentdeckung? Einen Sohn hatten sie nicht, aber Töchter. Die älteste war beim Heimgang ihrer Eitern just sechs Jahre jung. Der Verkauf des Schlosses und der Umzug ins Thüringische muß demnach Anno 1908 gewesen sein, im Jahre der Neuauflage von Feuerbachs Schrift. Es ist nun auch überliefert, was die Egloffsteins damals bei der Entdeckung des Verlieses darin gefunden haben. Chef der Arbeiter, die die baulichen Veränderungen machten, damit Spezialmonteure die Zentralheizung einbauen konnten, war nämlich der Maurermeister Nißlbeck, Enkelsohn des Taglöhners gleichen Namens, der mit Franz Richter eng befreundet war. Wir haben schon davon gehört. Dieser Maurermeister Nißlbeck fand nach Durchbrechung "einer dicken Mauer" das Verlies und darin ein aufgeschüttetes Lager aus Werg und Stroh sowie ein Bündel Kleider, die zusammengewickelt waren. Wer nun glaubt die Egloffsteins hätten die Klamotten untersuchen lassen oder wären der Angelegenheit überhaupt nachgegangen, der
irrt. Dies ist ebenso sonderbar wie so vieles. Denn eins war doch auf jeden Fall klar, daß nämlich in diesem Verlies einst ein Mensch untergebracht war. Alles deutet darauf hin. Nichts wäre natürlicher gewesen, als der Sache auf den Grund zu gehen. Aber nichts dergleichen geschah. "Man" ging zur Tagesordnung über und warf das Kleiderbündel einfach weg. Oder ist es doch nicht so ohne weiteres weggeworfen worden? Jedenfalls war es nicht mehr auffindbar, als Klara Hofer runde zwanzig Jahre später ihrerseits das Verlies öffnen ließ. Was sie fand, das war noch die Stroh-Werg-Auffüllung und die Scherbenreste eines Kruges und einer Schüssel, verschiedene Knochen und einen eisernen Riegel, eingemacht in die Wand, an dem ein kurzer Strick hing. Von einem Kleiderbündel weit und breit nichts. Anstelle nun die Scherben einer chemischen Untersuchung unterziehen zu lassen oder sie wenigstens aufzuheben, hat sie diese wichtigen Fundstücke wegwerfen lassen. Das ist mehr als bedauerlich. Für das Pilsacher Verlies als Kaspars vorübergehende Unterkunft spricht aber noch mehr. Nach Klara Hofer und auch Dr. Klee tummelten sich die Pilsacher Kinder nach der Schloßräumung von 1864 im leeren Fastenhaus. Sie spielten Räuber und Gendarm, allen voran die Kinder des Unterförsters Pepperl. Einer dieser Rangen wurde später Schreinermeister, und den hat Fritz Klee noch persönlich gesprochen. Im Jahre 1929. Schreinermeister Pepperl war damals 74 Jahre alt, also Jahrgang 1855. Als die Buben Schloßgeist spielten oder Räuber und Gendarm, da war des Unterförsters Sohn an die neun oder zehn Jahre alt. In dieser Zeit aber war das Verlies noch nicht zugemauert. Also stöberten die Kinder auch darin. Und was fanden sie? Man darf den Atem nun ruhig kurz anhalten. Die Buben fanden nämlich zwei Holzpferdchen, an die 30 Zentimeter hoch, mit echten Mähnen. Und sie ritten darauf herum, wie's Kinder eben gerne machen. Die "Rösser", wie die Pferde in der Oberpfalz auch genannt werden, hatten gerade Beine, aber kein Fußbrett und auch keine Räder mehr, was sie vorher sicher hatten, wenn Kaspars Schilderung richtig ist. Denn ansonsten stimmt Kaspars Bericht, einschließlich der Höhe, mit den Fundstükken überein, wie wir noch sehen werden. Wieder ein Zufall? Beinahe unmöglich. Die Pferdchen waren aus rohem Holz, also nicht angestri-
chen. Kaspar gab übrigens bei seiner Vernehmung an, er wisse nicht mehr genau, ob seine "Roß" weiß angestrichen oder roh belassen waren! Die Pilsacher Kinder aber nannten die Pferde "Löwen" - just wegen der Mähnen aus echtem Haar. Der biedere Schreinermeister Pepperl konnte sich noch nach rund 65 Jahren daran erinnern, wie er Klee erzählte, daß er mit einigen anderen Lausbuben dem einen Pferdchen die Mähne ausgerissen hat. Er hat dieses Erlebnis zeit seines Lebens nicht mehr vergessen und schilderte es Dr. Klee, als wäre es erst vor vierzehn Tagen gewesen. Aber die Kinder fanden noch mehr: auch ein Stühlchen mit abnehmbarem Sitzdeckel und einem kreisrunden Loch zum Einhängen eines Hafens, welch letzterer allerdings nicht mehr vorhanden schien. Und sicher war damals auch das Kleiderbündel schon in einer Ecke des Verlieses oder seines Vorraums - das Kleiderbündel, an das sich Maurermeister Nißlbeck noch erinnern konnte, das er und die Egloffsteins gefunden haben. Alles in allem darf dazu gesagt werden: Nach diesen Funden zu schließen, hat irgendwann einmal ein Mensch in diesem Verlies gehaust. Alles spricht dafür, daß dieser Mensch Kaspar Hauser war. Aber selbst wenn es nie Kaspars Kerker gewesen wäre, der darin gehalten worden, dann muß es ein anderer gewesen sein. Wer aber? Tatsache ist, daß nie die geringste Kunde, nicht einmal in Form eines Gerüchtes aufkam, im Verlies des Pilsacher Fastenhauses wäre einmal ein Mensch auf mysteriöse Art eingelocht gewesen. Es hat jedenfalls seine Bewandtnis mit dem Verlies zu Pilsach. Aber, um mit Fritz Klee zu sprechen, es besteht wohl kaum mehr ein Zweifel, daß es Kaspars Verlies war. Alle Indizien deuten darauf hin. Etwas anderes ist es nun mit der bodenlosen Frechheit oder dem Leichtsinn der Aussetzer, keinerlei Spuren vernichtet zu haben. Sie ließen Stroh und Werg, das Stühlchen, Kleider und die beiden Pferdchen im Verlies. Sie taten so, als ginge sie das alles nichts an, als bräuchten sie sich vor nichts in der Welt zu fürchten. Sie waren allem Anschein nach ihrer Sache mehr als sicher. Wußten sie einen mächti-
gen Beschützer im Rücken? Leichtsinnig waren sie dennoch. Da hilft nun alles nichts. So benehmen sich nur freche Abenteuerer, soldatisch-verwegene Gesellen, die ihrer Sache wirklich unendlich sicher sind. Aber auch diese innere Haltung der Aussetzerpartei ähnelt psychologisch den Umständen von Kaspars Aussetzung auf dem Nürnberger Unschlittplatz und dem späteren Attentat am hellichten Tag inmitten einer Stadt wie die Noris. Sie wußten, daß sie notfalls gedeckt werden. Aber es hätte Scherereien geben können und unnützes Gerede. Deshalb waren sie leichtsinnig. Jedoch es gab keine Panne. Zunächst einmal ging die Rechnung auf. Für die nächsten 100 Jahre jedenfalls. Schloßherr aber zu Hausers Zeiten in Pilsach war der Freiherr Karl von Grießenbeck, der Lehensmann des bayerischen Königs. Sein Familienname beginnt mit "G", mit eben dem gleichen "G", mit dem auch Kaspars Hemden gezeichnet waren. Soll das wieder ein Zufall gewesen sein? Das Verließ im Pilsacher Schloß, genannt das Fastenhaus, besteht aus zwei Kammern. Irgendwann einmal in der Geschichte des Hauses wurde zwischen dem Parterre und dem ersten Stock ein Zwischengeschoß eingebaut. Dieses konnte mit einer Steintreppe vom Flur aus erreicht werden, war also für jedermann sichtbar. Die beiden Kammern sind nicht hoch, was einleuchtet, wenn bedacht wird, daß es sich um ein Zwischenstockwerk handelt. Der vordere diente einst ganz offiziell als Gefängnisraum, hauptsächlich für Schuldner. Die Herren zu Pilsach waren ja auch Patrimonialrichter, durften also die ihnen zustehende untere Gerichtsbarkeit ausüben. Und dazu brauchten sie notfalls auch geeignete Gefängnisräume, wo sie Rechtsgegner vorübergehend einlochen konnten: einen Schuldner, einen Holzdieb, einen Tippelbruder oder gar einen Wilderer. Von der genannten Steintreppe, die keinesfalls geheim war - wozu auch? -, stieß man zuerst auf eine Eisentür. Dahinter lag der vordere Gefängnisraum. Von diesem aber führte ein Mauerloch von 50 Zentimeter Breite und 80 Zentimeter Höhe in den hinteren, verliesartigen Gefängnisraum. Dieser Raum aber erinnert auffällig an Hausers Beschreibung seines Kerkers. Der vordere Raum diente ganz früher für schwere Rechtsfälle, da es überliefert ist, daß er 1864 oder 65 als die Grießenbeck-Tochter Maria
Sidonia von Berchem das Schloß für immer verließ, noch mit Handund Fußeisen ausgerüstet war. Vielleicht wurden hier gar arme Sünder "gezwickt", gefoltert also. Und was die leichteren Fälle betrifft, so kamen diese in die "Schlafstube", eine ebenerdige Arrestzelle. Warum diese Lokalität ausgerechnet "Schlafstube" genannt wurde, ist unbekannt geblieben. Vielleicht sollte es eine Art Diminutiv für eine "gemütliche" Zelle sein, wer weiß. Als nun Klara Hofer im Juli 1924 die beiden Gemächer im Zwischenstock entdeckte, da konnte der vordere Raum nur noch vom Gang des ersten Stocks vermittels einer abwärtsführenden kleinen Leiter betreten werden. Die erwähnte Steintreppe scheint nach dem Schloßverkauf von 1863/64 beseitigt worden zu sein. Oder war es kurz vor dem Verkauf? Feststehen dürfte jedenfalls, daß die Baronin von Berchem nichts mehr mit Pilsach zu tun haben wollte, obgleich es ihr elterlicher Besitz war. Sie lebte immerhin noch drei Dezennien als Witwe in München. Aber es wurde nicht nur die Steintreppe abgebrochen, sondern alles andere zu-gemauert, was verliesartig ausschaute: auch ein kleines Fenster, das ehedem im Norden des ersten Gefängnisraumes war, um Licht und Luft hereinzulassen. Wahrscheinlich, daß diese Arbeiten doch erst nach dem Wegzug der Baronin verrichtet wurden. Wie hätten sonst die Dorfkinder in den Knasträumen spielen können. Heutzutage aber ist dieser vordere Raum nicht mehr von oben zu betreten. Es ist möglich, den hinteren Raum, der tatsächlich als Verlies eingestuft werden darf, zu begehen. Eine Fußbodenklappe führt von oben in das Verlies, das vom Flur her nie als solches vermutet werden konnte. Keiner der Besitzer in den letzten 100 Jahren wäre von sich aus auf die Idee gekommen, es könnte sich da zwischen dem ersten Stock und dem Erdgeschoß ein Kerkerraum befinden. Wer vor dem Fastenhaus steht, auf seiner südlicheren Seite, der bemerkt zwar zwei Scharten in der Fassade, von denen die eine die Luke des Verlieses ist, aber: kaum jemand wird auf den Gedanken kommen, hier könnte ein Geheimraum sein, der auf diese Weise belüftet wird und sparsam etwas Licht hereinläßt.
Wer sich die Mühe macht, das Fastenhaus zu besichtigen, dem sei gesagt, daß die obere Luke die des Verlieses ist. Diese Scharte hat eine Höhe von 28 Zentimeter und eine Breite von 18 Zentimeter. Als Hauser hier einsaß, müssen die Zweige eines Baumes die Luke teilweise bedeckt haben. Kaspar gab nämlich an, er habe zuweilen grüne Blätter sich bewegen sehen. Auch sei die Innenseite dieses fensterähnlichen Loches zumeist mit Holzscheiten verdeckt gewesen. Und dann hat Kaspar noch etwas ziemlich genau angegeben: die Höhe seines Kerkerfensters. Wörtlich und in Originalhandschrift sagte Kaspar aus: "... die sind acht bis neun zohl in der Höhe ..." Die Mauerstärke aber ist in Höhe des Verlieses 160 Zentimeter. Runde 30 Zentimeter von außen entfernt war in die Scharte ein mit irgendwelchem Zeug verzierter Eisenstab eingemauert. Niedrig wie die Kemenate und architektonisch auch gar nicht anders möglich, ist die Luke nur 65 Zentimeter vom Verliesboden aus angebracht. Sie liefert nicht eben viel Licht. Am Boden hockend, unmittelbar zu Füßen der Scharte, könnte man gerade noch etwas lesen und schreiben. Hauser gab nun an, seine Schreibkünste in diesem Kerker erlernt zu haben, wie wir noch vernehmen werden. Erstaunlich ist nun die Größe des Raumes, die Flächenmaße: an die fünf Meter lang und runde drei Meter in der Breite. Gespart werden mußte verständlicherweise nur mit der Höhe: circa 170 Zentimeter. Auch diese Höhe gab Kaspar richtig an. Allerdings hat er die Flächenmaße weit kleiner geschildert. Dies muß aber nicht unbedingt viel sagen, da die Aussetzer, aus welchen Gründen auch immer, einen Teil des Verlieses mit Brettern verschalt haben konnten. Hingegen stimmt Hausers Angabe bezüglich der Balkendecke wieder auffallend genau: ebenso die Schilderung des Fußbodens, der nach Hauser aus gestampfter Erde gewesen sein soll, korrekt betrachtet aber aus sandigem Bauschutt besteht. Der Unterschied ist nur geringfügig, vor allem wenn Kaspars sprachliche Mängel, sein relativ bis ans Ende seiner Tage mangelhaft gewesener Wortschatz mit ins Kalkül gezogen wird, ja gezogen werden muß. Und noch etwas: Kaspar Hauser war auf Schätzungen hintennach angewiesen und hatte nicht den Intellekt, sich geschliffen auszudrücken. Dennoch fällt auch hier auf, wie gut er
als Beobachter war - im Kerker wie danach. Denn auch die Wände hat er ziemlich genau beschrieben: aus Sandstein, wie er meinte. Aber auch hier nur wieder eine kleine Abweichung einer ansonsten ganz korrekten Wiedergabe. Die Wände sind aus rohen Hausteinen. Der Mann, bei dem er angeblich "immer gewesen" habe sich bei seinen paar Besuchen stets bücken müssen und sich so bewegt, als müßten sein Kopf und seine Schultern die Last der Decke tragen. Nicht geklärt ist bis heute, was es mit dem kleinen, bienenkorbförmigen Ofen auf sich hat, weißlich in der Farbe, der im Eck von Kaspars Kerker so angebracht gewesen sein soll, daß er von außen beheizt werden konnte. Das gab Kaspar in Nürnberg bei den Vernehmungen über seinen Verliesaufenthalt so an. Als Klara Hofer, ihre Handwerker und Zeugen 1924 das geheime Gemach betraten, war davon nichts mehr zu sehen. Das heißt aber noch lange nicht, daß dies 100 Jahre zuvor auch schon so gewesen ist. Ich neige keineswegs dazu, dies Kaspar nicht abzukaufen, denn zu detailliert war gerade in dieser Ofensache seine Schilderung. Was sagt nun Kaspar selbst über seine "Erinnerungen" aus der Verlieszeit? Machen wir uns etwas näher mit seinen eigenen Angaben vor dem Nürnberger Kreis- und Stadtgericht vertraut. Der Inquirent dieses Gerichtes, Freiherr von Roeder, hat Kaspar nach dem Attentat vom Oktober 1829 dreimal ausführlich vernommen: am 6. November, einen Tag darauf und dann noch einmal am 9. November 1829. "Auf welche Zeit geht Ihre Erinnerung zurück?" wurde Hauser am 6. November gefragt. Seine Antwort: Der Zeit meiner Jugend, welche ich außer der Gefangenschaft verlebt, bin ich mir nicht bewußt; alle meine Erinnerungen rühren aus der Zeit her, wo ich in einem engen Raum und von aller menschlichen Gesellschaft entfernt gehalten worden bin. Daraufhin fragte Freiherr von Roeder den Kaspar: Beschreiben Sie den Ort, wo Sie gefangen gehalten worden sind, und die Art Ihres Gefangenhaltens überhaupt, so treu als möglich.
Hören wir nun Kaspars Antwort im protokollarischen Wortlaut: Der Platz, der zu meinem Gefängnisses auserwählt worden, war 6 bis 7 Schuh lang, 4 Schuh breit und 5 Schuh hoch. Ich kann dieses mit Bestimmtheit sagen, da ich über Höhe, Breite und Länge Begriffe habe, auch wohl weiß, welcher Raum unter einem Schuh verstanden wird. Der Boden schien mir aus festgestampfter Erde bereitet worden zu sein, und ich sah an derjenigen Stelle desselben, wo er mit Stroh nicht bedeckt war, gelblichen Sand. In der Vorderseite dieses Kerkers befanden sich zwei kleine Fenster, welche mit Holz verschlichtet waren. Nach meinen inzwischen durch die Erfahrung erlangten Begriffen kann ich annehmen, daß beide Fenster mit klein gehautem Holze verschlichtet gewesen. Die Fenster waren vierekkig, 8 bis 9 Zoll hoch und breit und bestanden aus einer Tafel von Glas, unterhalb der Decke angebracht. Die Wände meines Gefängnisses waren von dunkler Farbe, ich meine von Sandsteinen, ohne desfalls jedoch mit Bestimmtheit urteilen zu können, weil ich mich nicht entsinne, die bezeichneten Wände je angetastet zu haben. Im Innern meines Gefängnisses war es dunkel, immer gleich dunkel; daher ich, als ich frei ward, gegen die Helle sehr empfindlich gewesen bin, jedoch bei Nacht und in einer Dunkelheit, in welcher andere Menschen nichts sehen oder unterscheiden konnten, dennoch genau gesehen habe und unterscheiden konnte. Infolge dieser gleichmäßigen Dunkelheit meines Kerkers fehlte mir in jenem Zustande auch der Begriff zwischen Tag und Nacht. Die Temperatur meines Aufenthaltsortes war nicht minder gleichmäßig, dergestalt, daß ich darin nie weder Hitze noch Kälte verspürte, mich in dieser Beziehung vielmehr behaglich befunden habe. Der Boden meines Gefängnisses war etwa zur Hälfte mit Stroh belegt, welches mir zum Lager diente. Im Boden meines Gefängnisses stand in ausgehöhlter Vertiefung ein Gefäß mit einem Deckel, dessen ich mich zur Verrichtung meiner körperlichen Bedürfnisse bediente; ich meine, daß ein irdener Hafen darin befindlich gewesen und ein- und ausgesetzt worden.
Über den Zugang zu meinem Aufenthaltsorte kann ich aus Wahrnehmung nichts sagen; ich meine jedoch, daß eine kleine Türe dahin geführt und daß solche von außen verriegelt worden. Meine Füße waren von den Knien an mit einer weißen Decke aus Wolle bedeckt. Zur Bekleidung trug ich am Leibe kurze Beinkleider von schwarzem Leder, hinten offen, einen Hosenträger von schwarzer Wolle und über letzterem ein Hemd. Meine Nahrung bestand aus Brot und Wasser. Das Brot war schwarz, sogenannter Auszug von Roggenbrot, in Stücken geschnitten und, obwohl gut und schmackhaft, dennoch fortwährend sehr hart. Das Wasser ward mir in einem irdenen Gefäße vorgestellt, welches gleich weit war, ohne daß ich jedoch zu urteilen vermag, ob es ein Krug oder Hafen gewesen. Am Brote hatte ich nie Mangel, wohl aber oft an Wasser. Als mir noch die Begriffe vom Laufe der Dinge mangelten, glaubte ich, daß sich auch mein Trinkgeschirr nach Bedarf von selbst fülle, und ich entsinne mich noch im Gefühle des Schmerzes derjenigen Augenblicke, da ich, um brennenden Durst zu löschen, das leere Gefäß an meinen Mund geführt habe. Die Beschaffenheit des Wassers war meistens rein, doch fand ich dann und wann auch Wasser, das mir durchaus nicht schmeckte, und auf welches ich, statt erquickt und erfrischt zu werden, besonderen Hang zum Schlafe fühlte. Beim Erwachen nahm ich Brot und Wasser, spielte dann mit zwei kleinen Pferden, dann einem noch kleineren Hund aus Holz, bis ich wieder einschlief und wieder erwachte. Erst in der letzten Zeit meiner Gefangenhaltung, nach meinem Dafürhalten in den letzten 8 bis 9 Tagen vor meinem Transport hierher, erschien ein Mann bei mir, den ich jedoch nicht beschreiben kann, weil ich ihn weder gesehen noch dessen Stimme gehört habe, da er teils gar nicht, teils in verstellter Stimme und leise mit mir gesprochen hat. Dieser Mann kam in Zwischenräumen von 3 bis 4 Tagen zu mir; er erschien zu drei verschiedenen Malen. Beim ersten Erscheinen stellte er einen ganz niedrigen Stuhl vor mich hin, legte ein Stück Papier und einen Bleistift darauf, nahm meine Hand, gab mir den Bleistift in die Hand, drückte mir die Finger zusammen und
schrieb mir etwas vor. Während dieses ersten Besuches führte mir der Mann 7 bis 8 Mal auf die bezeichnete Weise die Hand; diese Beschäftigung gefiel mir, und ich schrieb hierauf ohne Führung das nach, was mir der Mann vorgeschrieben hatte. Bei diesem ersten Besuch sprach der Mann auch nicht eine Silbe; ich habe auch nicht bemerkt, als er eingetreten oder weggegangen ist. 3 oder 4 Tage später kam der Mann zum zweitenmal, er legte mir ebenmäßig, wie beim ersten Male, von hinten her ein kleines Buch vor, nahm meine Hand, legte sie aufs Buch und sprach mir das Wort "Roß" so oft vor, bis ich solches nachsagen konnte; ferner äußerte der Mann dortmals auch: "Im Großen Dorf, da ist dein Vater, da bekommst du schöne Roß und dieses merken", wobei er abwechslungsweise auf die Rosse, dann wieder auf das Buch hinwies, womit er andeuten wollte, daß ich dergleichen Rosse erhalten, dagegen aber bezüglich der Anweisung im Buche gut merken solle. Und so, wie ich beim ersten Besuche des Mannes die Buchstaben und meinen Namen zu schreiben lernte, wie ich bei dem Gefangenwärter Hiltel dahier in der Folge geschrieben habe, so lernte, ich beim zweiten Besuche des Mannes sagen: "Roß, in dem großen Dorf, da ist dein Vater, und du bekommst schöne Roß", ferner "ich mögt a sechener Reiter wärn, wie mei Vater g'wehn iß", welche Worte mir der Mann ebenmäßig während seines zweiten Besuches vielfältig und in solange vorgesagt hat, bis ich solche nachgesprochen. Nach weiterem Verlaufe von ebenmäßig 3 bis 4 Tagen erfolgte der dritte und letzte Besuch des Mannes. Er erweckte mich aus dem Schlafe, und als ich erwacht war, stand der Unbekannte vor mir, der mir sagte, "daß er mich fortführen wolle". Zugleich zog er mir, rücklings hinter mir stehend, Stiefel an, wobei ich wahrnahm, daß dieser Mann einen kurzen Schalk, kurze schwarze Beinkleider, blaue Strümpfe und Stiefel am Leibe getragen. Er nahm mich so, wie ich in meinem Gefängnisse gekleidet war, auf den Rücken und trug mich, mit einem Hute bedeckt, gleich vom Kerker aus ins Freie,
unmittelbar darauf eine Anhöhe bald nachher aber einen größeren Berg hinauf Es war damals auch im Freien noch nicht helle, was mir genau beifällt. wobei ich jedoch in einen Schlaf verfiel, aus dem ich auf dem Boden liegend erwachte. Als der Mann merkte, daß ich erwacht war, hob er mich auf, faßte mich unter beiden Armen und lehrte mich das Gehen, indem er meine Füße mit den seinigen fortschob. Durch die versuchten Schritte fühlte ich mich bald ermüdet, ich weinte über die Schmerzen des Gehens, was meinen Führer zu der Äußerung veranlaßte: "Du mußt gleich auf hören zu weinen, sonst bekommst du kein Roß". Er sagte auch ferner, daß ich die Worte ja recht merken sollt: "Ich möcht an sechtener Reiter wärn, woi mei Vater g'wen ist", und plagte mich teils mit diesen Worten, teils mit dem Gehenlernen dergestalt, daß mir zum öfteren das Gesicht verging, und ich ausruhen und schlafen mußte. Beim Weitergehen, und als mein Gang etwas besser worden, neigte mir mein Führer den Kopf gegen den Boden zu und sagte "Du mußt recht auf den Boden sehen", was ich ohnedies tat, da mir das Tageslicht gar zu empfindlich fiel. Nachdem ich, wie schon gesagt, oft ausgeruht und geschlafen, vom Regen durchnäßt und durch Kälte erstarrt worden, namentlich auch einmal Brot, dreimal aber Wasser zu mir genommen hatte, welches mein Führer in einer Bouteille bei sich getragen, so setzte mich der Mann, ohne daß ich es verlangt hatte, auf die Erde und legte mir diejenigen Kleider an, in welchen ich hierher gekommen bin. Diese Kleider bestanden aus einer Jacke von grauem Tuch, dergleichen langen Beinkleidern, kurzen Stiefeln, rundem Hut, zwei Hemden und zwei Halsbinden. Zur Bezeichnung der Hemden kann ich angeben, daß solche mit einem "G" rot gezeichnet waren, während das Sacktuch, welches ich mit hierher gebracht habe und auch noch besitze, mit "H" rot bezeichnet ist. Während ich mit diesen Kleidern angetan worden, stand mein Führer ebenmäßig hinter mir, daher ich ihn auch damals nicht im Gesicht sehen konnte.
Beim Weitergehen sprach mir der Mann noch vielfältig vor: "In dem großen Dorf, da ist dein Vater, der gibt dir schöne Roß", "wenn du a sechener Reiter bist, wie dei Vater g'wen, so hole ich dich wieder", fügte immer aber die ausdrückliche Aufforderung bei: "Dies merken und nicht vergessen". Unter dieser Äußerung gab mir mein Führer den Brief, den ich mit hierher gebracht habe, in die Hand, und die letzten W orte, die ich von demselben gehört habe, lauteten: "Dahin weisen, wo der Brief hingehört". Nachdem wir noch ein Weilchen zusammengegangen waren, der Mann mich namentlich auch noch ein paar Male hatte ausruhen lassen, verließ mich derselbe, oder vielmehr, er verschwand, ohne daß ich wahrnahm, ob er zurück oder beiseite gegangen. An dieser Steile, wo mich mein Führer verlassen hatte, stand ich ein gutes Weilchen, und schon weinte ich ob des Schmerzens meiner Füße vom Gehen auf dem Pflaster der Stadt, als ich jenen kleinen Mann wahrnahm, der mir in der Folge als der Schuhmacher Weickmann vorstellig gemacht wurde, und von dem ich an das Haus des Herrn Rittmeisters von Wesenich [von Wessenig, muß es heißen] geführt worden bin. Ich weiß es wohl, daß der Schuhmacher Weickmann angibt, er habe mich nur bis an das Neue Tor geleitet; es verhält sich aber nicht so, und ich kann mit Bestimmtheit versichern, daß ich durch ihn, den Weickmann, unmittelbar an das Haus des Herrn Rittmeisters v. Wesenich geführt wurde. Dies war also das erste Verhör über Kaspars Erinnerungen an seinen Verliesaufenthalt. Erinnerungen und Aussagen decken sich aber im wesentlichen mit dem diesbezüglichen Inhalt von Dr. Binders "Bekanntmachung" nach Hausers Erscheinen in Nürnberg. Was auffällt, ist die Bestimmtheit, mit der Kaspar Hauser seine Aussagen gemacht hat. Frappant sind aber auch die stellenweisen Details seiner Angaben. Kritiker sagten nun schon zu Hausers Lebzeiten, aber auch jetzt noch, in Kaspar sei so viel hineingefragt worden, daß sich mit der Zeit in seiner Phantasie ein Kolossal-Gemälde entwickelt hat, an das er selbst glaubte, ja wovon er überzeugt war. Karl Joseph Anton von
Mittermaier, Geheimrat, Dr. und Professor, ein Zeitgenosse Hausers, der ohne Tendenzen versuchte, den Rätseln um Kaspar Hauser nachzugehen, äußerten sich denn schon damals so: Selbst für die Beurteilung der Erzählung Hausers über seinen Aufenthalt in dem angeblichen Kerker ist die Bemerkung wichtig, daß in seiner Seele ein buntes Gemisch wirklicher Erfahrungen und der von der Phantasie gelieferten Vorstellungen entstand, und daß Hauser selbst immer die Erinnerungen an seinen vorigen Zustand in seiner Seele hervorrufend, sie berichtigte, veränderte und ausschmückte, je nachdem wieder aus dem Hintergrunde alte Bilder aufdämmerten und mit neuen Vorstellungen sich vermischten. Das ist psychologisch einleuchtend. Auch wäre dem nichts hinzuzufügen, käme nicht die Hypnose dazu. Aber wahrscheinlich liegt auch hier die Wahrheit in der Mitte. Kaspar spricht zwar von zwei kleinen Fenstern, gibt die richtige Höhe an, behauptet aber, sie hätten die gleiche Breite gehabt und obendrein noch je eine "Tafel von Glas". Wie Pilsachs Verliesscharte beschaffen ist, haben wir bereits vernommen. Auch hat dieses Verlies nur eine Scharte und nicht zwei. Dazu ist nun folgendes zu sagen: Wenn Kaspar hypnotisch behandelt worden ist - und alles spricht dafür -, dann wäre es, genau genommen, gar nicht notwendig gewesen, ihn für einige Zeit in einen Kerker zu stecken. Der Hypnotiseur hätte ihm den Kerker genauso leicht einsuggerieren können, in einem freundlichen Zimmer etwa, wie er ja auch Kaspar Hauser im somnambulen Zustand eingebleut hat, seine Vorverlieszeit total zu vergessen. Es spricht aber vieles dafür, daß Kaspar, um auf jeden Fall auf Numero sicher zu gehen, werden sich die Aussetzer gesagt haben, tatsächlich im Pilsacher Verlies eine kurze Zeit eingesessen war. Entweder hat ihm sein Hypnotiseur dabei einsuggeriert, zwei Fenster der von Kaspar angegebenen Flächengrößen zu sehen, aus sicherheitsverständlichen Gründen, oder aber es waren damals tatsächlich zwei Fenster vorhanden. Man vergesse nicht, daß die Verliesentdeckung erst 1924 publik wurde.
Dem Nürnberger Vernehmungsrichter Freiherrn von Roeder hätte beispielsweise auch auffallen müssen, daß Kaspar, seinen Angaben zufolge, sich nicht erinnern konnte, "die bezeichneten Wände je angetastet zu haben". Dies ist doch ein Witz, angesichts der zwölfjährigen Verliestheorie! Man stelle sich vor: Kaspar hockt in diesem Loch zwölf Jahre und will in all diesen 144 oder 150 Monaten nicht ein einziges Mal die Wände seines Kerkers angelangt haben! Nein, das ist unmöglich. Ebenso, zumindest ähnlich, ist es mit den drei Besuchen seines Bewachers, dessen Gesicht er nie wahrgenommen hat. Nach den Gesetzen der Hypnose brauchten diese drei angeblichen Besuche bei Kaspar im Verlies in der von Hauser geschilderten Art nie und nimmer stattgefunden zu haben. Möglich wäre es, daß ihm diese Besuche samt deren Details hypnotisch einsuggeriert worden sind. Wozu die Umstände, wenn es beim Medium Hauser viel einfacher geht, denn Lese- und Schreibunterricht hatte er vorher ja gehabt. Und wenn nun ein Kenner der hypnotischen Materie die Frage stellt: Ja warum haben die Aussetzer Kaspar überhaupt hypnotisiert; eine Gehirnwäsche hätte doch in kürzester Zeit Hausers Persönlichkeit total verändern können? - dann sei geantwortet: Das trifft wohl zu, aber der Unterschied zwischen Hypnose und Gehirnwäsche ist eben der, daß bei Gehirnwäsche die Sache nicht mehr reparabel ist, das Opfer so einer Behandlung eventuell sogar zugrunde geht. Kaspar Hauser aber sollte seiner Persönlichkeit nicht total verlustig gehen, da er ja als Druckmittel noch gebraucht wurde. Mit einem drehscheibenreifen Kasparus hätte niemand etwas anfangen können - am allerwenigsten die Aussetzer. Beinahe noch interessanter wird es dann beim zweiten Verhör vom 7. November, also tags darauf. Hier behauptet Kaspar mit Bestimmtheit - und wir wissen, warum dies zutrifft -, er sei in seinem Kerker nie aufgestanden, auch hätte er keines der beiden Holzpferde je von seinem Platz zur linken Seite weggerückt. Und dies zwölf Jahre hindurch! sei hinzugefügt. Wer dies für bare Münze nimmt, wird selig. Es ordnet sich aber ins richtige Bild, wenn Kaspar nur ganz kurze Zeit in diesem Verlies gesteckt und er vielleicht zusätzlich den hypnotischen Auftrag bekommen hat, die Pferde ja nie zu verrücken.
Einmal, kurz vor seiner Entlassung, hat er's aber doch getan und die zwei Pferdchen, die vier Räder hatten, hin- und hergeschoben. Und prompt folgte dafür, für diese Nichteinhaltung des hypnotischen Befehls, auch die Strafe. Ohne jemand zu bemerken, bekam er plötzlich einen derben Schlag auf den rechten Arm, einen sehr derben sogar, denn die Spuren davon hat Kaspar noch in Nürnberg gehabt, wie sich ein geneigter Leser erinnern wird. Und noch etwas: Träfe das Kerkermärlein von zwölf Jahren zu, dann wären Kaspars Gehwerkzeuge bei seiner Entlassung völlig verkümmert gewesen. Denn nach seiner Angabe ist er ja nie von seinem Lager aufgestanden, sondern allenfalls ab und an etwas herumgekrochen, freilich nie bis zu den Wänden oder den Fenstern hin, denen er gegenübersaß. Kaspars Beine und Füße waren aber nicht verkümmert, als er auf dem Unschlittplatz auftauchte! Das ist eine Tatsache. Nein, die Fabel vom zwölfjährigen Aufenthalt in einem dunklen Verlies bei Wasser und Brot stimmt hinten und vorne nicht. Sie kann einfach nicht zutreffen! Es bleibt nur die Möglichkeit einer hypnotischen Behandlung. Gerade darauf aber weisen so viele Fakten, die an Kaspar bemerkt wurden. Im Hypnosebereich ist so vieles möglich, und die genauen Beweggründe für Einzelheiten wissen wir nicht. Ausnahmen sind nur jene vermuteten Beweggründe der Aussetzer, bei denen mit einer gewissen Logik konstruiert werden darf, sie dienten dieser Clique zur Tarnung und Sicherheit. Kaspar hockte also, seinen eigenen Bekundungen zufolge, von früh bis abends auf seiner Stroh- und Wergschütte und spielte mit seinen zwei Holzpferdchen und einem Hund der eben ebenfalls aus Holz, der um rund die Hälfte kleiner war als die beiden anderen Spielsachen. Kaspar bei seinem Verhör vom 7. November: Die beiden Pferde waren von Holz, 8 bis 9 Zoll hoch. Doch getraue ich mir nicht zu behaupten, ob die weiße Farbe derselben Natur oder Folge eines Anstriches gewesen. Das eine Pferd, deren beide gleich groß gewesen und hölzerne Schweife hatten, war mit roten, das andere mit blauen Bändern, 7 bis 8 Stückchen an der Zahl, belegt. Jedes Stückchen Band war 10 bis 12 Zoll lang und 1 Zoll breit, ent-
weder aus leinen Zeug oder von Leder, und meine ganze Beschäftigung bestand darin, diese Bandstückchen vom Rücken des Pferdes herab- und wieder hinaufzulegen, und obwohl ich den Pferden auch von meinem schwarzen Brote zuerst gereicht und solches dann selbst hinuntergeschluckt, weshalb ich nach meinen damaligen Begriffen gemeint, das Brot sei von den Pferden gefressen worden, so wurde dennoch keines der Pferde von dem ursprünglichen Platze weggerückt ... Hausers Angaben über seine Spielzeugpferde stimmen völlig überein mit den Gäulen, die im Verlies zu Pilsach um 1864 herum gefunden wurden und mit denen dann die Dorfkinder gespielt haben. Nicht mehr auffindbar waren hingegen die Bänder und der kleine Hund. Die Rösser sind ihm also auf keinen Fall einsuggeriert worden. Überraschend aber auch hier wieder die relativ genaue Detailschilderung. Daraus darf gefolgert werden, daß die Dunkelmänner ihm diese Erinnerung ganz bewußt gelassen haben, darauf vertrauend, der Kaspar werde dies alles erzählen -auch die rührende Sache mit dem Füttern der Pferdchen. So etwas kommt an in der Öffentlichkeit Er sollte ja Aufsehen erregen. Und auch diese Kalkulation der Dunkelschmiede ging auf. Der Name Carl du Prel ist schon einige Male aufgetaucht. Wollen wir uns an dieser Stelle etwas näher mit dem Gelehrten beschaffen, der ursprünglich Offizier des Königs war und dann mit 33 Jahren den Waffenrock ablegte. Das war 1871, denn du Prel gehörte dem Jahrgang 1839 an, wurde also sechs Jahre nach Hausers Tod geboren. Nach seinem Abschied von der Armee, wandte er sich zunächst der Philosophie zu, später dann den okkulten Geisteswissenschaften. Auf dem Gebiet der Hypnose aber war er Fachmann. Ein bedeutender sogar. Insgesamt flossen aus seiner Feder nahezu zwanzig Bücher. Mit diesem Dr. Carl du Prel - er promovierte in Tübingen - hat es nun eine besondere Bewandtnis. Nicht nur wegen seiner sicher nicht alltäglichen Laufbahn vom aktiven Hauptmann zum Gelehrten und Bücherschreiber, sondern auch wegen seiner Beziehung zu Schloß Pilsach. Höchst interessant wäre es nun zu wissen, was ihn bewegt hat,
sein Offiziersdasein zu beenden und auf Philosophie überzuschwenken, später dann auf Okkultismus, Hypnose und Spiritismus, von letzterer Gattung er als ein Vorkämpfer bezeichnet werden darf. Was hat ihn dazu bewogen, wer oder was ihn motiviert? Es darf doch angenommen werden, daß sich du Prel schon als Soldat mit gewissen Dingen beschäftigt hat, die ihn dann veranlaßt haben dürften, die Offizierskarriere endgültig an den Nagel zu hängen. War es vielleicht seine Tante Maria Magdalena Caroline du Prel, eine Halbschwester seines Vaters, 16 Jahre älter als dieser? War es diese Dame, sei gefragt, die später den aktiven Offizier Karl von Grießenbeck zu Grießenbach geheiratet und die als Mitgift das Wasserschloß Pilsach mit in die Ehe gebracht hat? Oder hat ihn seine andere Tante, die Hofdame Franziska du Prel, zur okkulten Betätigung motiviert? Diese war etwas jünger als Maria Magdalena. Konnten die beiden Damen etwa hypnotisieren? Spiritistische Sitzungen und solche mit Somnambulen, mit Medien also, waren dazumalen an der Tagesordnung. Nicht in einfachen Kreisen; die hatten andere Sorgen. Dafür aber in höheren und höchsten Kreisen. Es war eine Art Gesellschaftsspiel wie das Kartenlegen. Humbug und ernsthafte wissenschaftliche Betätigung lagen dicht beinander, überschnitten und vermengten sich sogar. Es war ein Stückchen Zeitgeist der Oberen Zehntausend. Und wenn auch viel Krampf und Quatsch dabei war, so heißt das noch lange nicht, alles wäre Unsinn gewesen. Verständlich, wenn Adelskreise auf Scharlatane, wie auf Wissenschaftler und Naturtalente von außergewöhnlichen Medien, wie Magneten wirkten. Sie füllten eine Marktlücke der "Oberen", verdienten und lebten nicht schlecht davon. Es ist dies alles nicht mit unseren jetzigen Maßstäben zu messen. Auch in der Flut unserer heutigen Popmusik mit all ihnen Nebenerscheinungen gibt es Scharlatane und Könner, die von einem "sachverständigen" Massenpublikum als solche nur selten auf Anhieb erkannt werden. Massensuggestion oft beides, heute wie damals. Wer weiß, wie in 100 Jahren darüber geschrieben und gedacht wird.
Es ist nicht auszuschließen, daß auch am Hofe der bayerischen Königin Karoline okkulte Sitzungen stattgefunden haben - Sitzungen im Grenzbereich von Humbug und Wissenschaft. Und auch dabei darf man das Wort "okkult" nicht mit dem heutigen Beigeschmack im Sinne von Geisterbahnromantik sehen. Okkulte Dinge waren bei unseren Altvorderen einfach rätselhafte, nicht erklärbare Phänomene, angesiedelt im Bereich des Halbreligiösen. Auch Frankreichs Kaiserin Eugénie liebte solche Sitzungen an ihrem Hofe. Eines Tages ließ sie gar von einem Medium den Geist Kaspar Hausers zitieren, der auch prompt erschien. Hellseher und Magnetiseure, Medien und Spiritisten gaben einander die Klinge in die Hand - an den Höfen und in hohen Adelskreisen. Wer dabei lächelt, der sollte sich erinnern, daß selbst ein Göring und ein Goebbels Hellseher bemühten und sich Horoskope stellen ließen. Wer erinnert sich nicht an die fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts, als die Beziehungen der Königin der Niederlande zu einer Hellseherin Schlagzeilen machten! Auch bei der Terrorbekämpfung in der Bundesrepublik sollen schon sogenannte Hellseher eingeschaltet worden sein; im Entführungsfall Hanns-Martin Schleyer ist dies sogar ziemlich sicher. Warum also nicht auch am Hofe der Bayernkönigin? Es ist dies umso mehr wahrscheinlich, als Sitzungen der ins Gespräch gebrachten Art, damals beinahe Usus waren in entsprechenden Kreisen. Dabei blieb es nicht aus, daß sich an den Höfen so allerhand okkultes Völkchen tummelte. Fachleute, Könner wie Scharlatane. Eine Franziska du Prel, die ein besonders enges Verhältnis zu ihrer Herrin, der Königin, gehabt hat, dürfte so manchen Magnetiseur gekannt haben. Auch ihre Schwester Maria Magdalena Caroline du Prel, die spätere Freifrau von Grießenbeck und Besitzerin des Schlosses Pilsach. Es bahnen sich da jedenfalls Beziehungen an: von München, über Pilsach, bis hin zu Dr. Carl du Prel. Irgend etwas muß ihn doch derart fasziniert haben, daß er beschloß, den Soldatenrock an den Nagel zu hängen und professionell auf das Gebiet der Geisteswissenschaft auszuweichen. War es gar der Fall "Kaspar Hauser"? Kam Wissenschaft über ihn, was es mit den Rätseln dieses Falles auf sich
hat? Erfuhr er Dinge, die bis heute noch niemand ganz exakt weiß? Es gibt einige Anzeichen dafür. Wie schon erwähnt, schrieb Dr. Carl du Prel nahezu zwanzig Bücher, darunter auch die "Philosophie der Mystik". Just in diesem Werk aber sind so ziemlich alle aufgeführt, die je mit Magnetismus oder Mediumismus zu tun hatten. Ganze Litaneien davon enthält dieses Buch. Es fehlt aber ein geistiger Schüler Justinus Kerners, des Arztes, Schriftstellers und Dichters, von dem 1824 (!) die "Geschichte zweier Somnambulen" erschienen ist und der 1829 die "Seherin von Prevorst" herausbrachte - die Erfahrungen mit dem Medium Friedericke Hauffe. Es fehlte bei du Prel der geistige Schüler dieses bedeutenden Mannes: es fehlte Professor Daumer, der über seine Versuche mit Kaspar Hauser gearbeitet hat. Justinus Kerner hingegen, Daumers Vorbild, der ist aufgeführt, ausführlich sogar. Das ist schon bemerkenswert. Aber es kommt noch dicker. In einigen seiner Arbeiten, hauptsächlich aber in seinem Werk "Rätsel des Menschen" (1892) führt Dr. du Prel Beispiele somnambuler, hypnotischer Art quasi en masse an, die teilweise eine vertrackte Ähnlichkeit haben mit dem Fall des weltberühmten Jünglings Kaspar Hauser. Und: In keinem seiner Werke, auch nicht im "Rätsel des Menschen", wird das "Kind Europas" nur mit einer Zeile bedacht. Der Name Kaspar Hauser taucht bei diesem Hypnosetheoretiker mit nicht einer Silbe auf. Und das ist auffällig. Offensichtlich hat er den Fall "Kaspar Hauser" sorgfältig vermieden, umgangen. Das muß doch einen Grund haben! Kein Wörtchen über Daumer, kein Sätzlein über Kaspar Hauser. Dabei hat dieser Dr. du Prel in seinem Buche "Rätsel des Menschen" diesen Hypnosefall angeführt: Denken wir uns den folgenden Fall: Auf einem Schiffe, das im Stillen Ozean segelt, wird ein Matrose in hypnotischen Schlaf versetzt und erhält die Suggestion, bis gegen Abend fortzuschlafen, dann aber ohne jede Erinnerung an seine Vergangenheit zu erwachen. Nachdem ihm diese Suggestion fest eingeschärft worden ist, wird der Matrose in ein Boot hinabgetragen und auf einer kleinen Insel ausgesetzt; das Schiff fährt aber mit vollen Segeln davon. Nach dem Erwachen nun
würde dieser Matrose vollkommen einem neugeborenen Menschen gleichen, mit dem Unterschiede nur, daß er als ausgereiftes verständiges Wesen auf seine Welt gekommen wäre; er würde sein Dasein als Mann beginnen. Ganz vergeblich würde er darüber nachsinnen, wer er sei und wie er in diese ihm vollkommen fremde Natur gekommen. Ohne jede Erinnerung an seine Vergangenheit würde er über sich selbst und den Ort, wo er erwacht, in einem Grade staunen, ja erschrecken, daß er leicht tiefsinnig werden könnte ... Wenn diesem vor seiner Aussetzung auf der Insel posthypnotische Befehle erteilt worden wären, die er nach Monaten und Jahren auszuführen hätte, so würde er sie zur rechten Zeit ausführen ... Wir brauchen nun aus der Insel nur ein Verlies zu machen und aus dem Matrosen unseren Kaspar Hauser - und schon haben wir den wesentlichen Teil des Hauser-Falles vor uns. Ist das Zufall? Gibt es solche Zufälle überhaupt? Ich glaube nicht. Carl du Prel schildert da einen Kasus, der uns bis in Details an das Schicksal Kaspar Hausers erinnert, einschließlich des ständigen und vergeblichen Sinnens, wer er eigentlich sei. Und "tiefsinnig" wäre Kaspar beinahe auch geworden. Man denke an die Nervenkrise auf dem Luginsland, was zur Folge hatte, daß Hauser dem Professor Daumer in Kost und Erziehung übergeben wurde. Aber auch die Sache mit den posthypnotischen Befehlen ist identisch mit Kaspars Geschick. Sein Auftritt in Nürnberg war mit Sicherheit posthypnotisch gesteuert. Dies gedanklich berücksichtigt, läßt sich vieles deuten, wird verständlich und frei von Rätseln. Hieße der Autor nicht Carl du Prel, dann wäre dies alles schon frappant genug. Aber aus der Feder eines Mannes, aus dessen Sippe vor Jahrzehnten vielleicht der Vorschlag gekommen war, einen jungen Pilsacher Schloßbewohner hypnotisch zu behandeln, - aus der Feder eines solchen Mannes wirkt dies wie ein Indizienbeweis. Wie mag sich nun Kaspars Entlassung aus dem Fastenhaus zu Pilsach abgespielt haben? Wir sind auch hier auf Rückkombinationen angewiesen, die aber mit Tatsachen als Gerüst gefestigt sind. Fritz Klee, der Nürnberger Professor und Rechercheur der Hauser-Sache war es, der selbst die jährlichen Urlaube des Freiherrn und Schloßbe-
sitzers von Grießenbeck nachgeprüft hat. Die Urlaubslisten der Münchner Hartschiere waren nämlich in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts noch vorhanden; vielleicht lagern sie für unentwegte Stöberer auch jetzt noch in irgend einem der zahlreichen Münchner Archive. Klee spürte dabei auf, daß von Grießenbeck 1827 und 1828 keinen Urlaub im hergebrachten Sinne genommen hatte. Ansonsten war der Freiherr, vorher und nachher, alle Jahre stets für einige Wochen in Pilsach, um sich zu erholen und nach dem Rechten zu schauen. Beispielsweise 1829 ab August auf sechs Wochen, 1830 ab Juli ebenfalls sechs Wochen. Das nachfolgende Jahr hat er keinen Urlaub genommen, aber 1832 wiederum sechs Wochen ab September. Klee hat aber noch mehr herausgefunden! Demnach ist Grießenbeck zu Ostern 1828 kurz einmal in Pilsach, auf jeden Fall aber in Neumarkt gewesen. 1827 und 1828 hat Freiherr von Grießenbeck, der Hartschiergardist, also keinen Urlaub genommen. Auch nicht 1831. Das hatte sicher seine Gründe. Die Frage ist nun die: Welche? Bloß auf einen Sprung war er ausgerechnet zu Ostern 1828, wenige Wochen vor dem Aussetzen des Kaspar Hauser, daheim. Überbrachte er den Befehl, den Jungen nun in Tiefschlaf zu versetzen, um seine Entlassung aus dem Pilsacher Gewahrsam einzuleiten? Hat er, frage ich, den Hypnotiseur, damals Magnetiseur geheißen, gleich mitgebracht? Oder war dieser identisch mit Johann Jakob Lutz, dem Briefeschreiber, Winkeladvokaten und Turmgemachbewohner? Angenommen, Hauser wäre ab Ostern 1828 ins Verlies des Fastenhauses geschafft worden, wo er sich nach der Hypnose ohne Erinnerung an die Zeit vorher im Zustand eines Kindes wiedergefunden hat - dies angenommen, würde die Zeit bis Pfingsten völlig gereicht haben, um Kaspars Handflächen und Fußsohlen weich und zart wie die eines Babys zu machen. Wer je einige Wochen im Krankenhaus war und nicht aufstehen durfte, der weiß, daß dies schon in kurzer Frist mangels Betätigung den Handund Gehwerkzeuge möglich ist. Es hätte auch gereicht, den Kaspar bei Wasser und Brot nicht allzusehr abmagern zu lassen. Länger als diese paar Wochen wird er auch nicht zugebracht haben in diesem Verlies.
Doch noch einmal zurück zum Jahre 1831, in welchem von Grießenbeck ebenfalls keinen Urlaub genommen hat. Wir haben bereits vernommen, daß im gleichen Jahr der Gendarmerieoffizier Hickel, nachmaliger Spezialkurator unseres Kaspars, eine fränkischoberpfälzische Rundreise machte. Und zwar in Sachen "Kaspar Hauser und sein Verlies". Seine Kutschenfahrt führte ihn unter anderen Orten seines Verweilens nach Regensburg, Altötting, Passau, Rosenheim, Schwarzenbruck, Engelthal und Gnadenberg. Was nur nach Verlies oder Kerker roch, fand seine Spürnase. Kein Winkel blieb unerforscht, kein Schloß und kein Gut unbesichtigt. Er klapperte die Gendarmeriestationen ab und inspizierte Klöster, Klausen und abseits gelegene Ortschaften und Kirchen. Ohne Erfolg das Ganze. Und wie gesagt, auch in Neumarkt war Joseph Hickel: am 26. Mai 1831, auf den Tag genau drei Jahre nach Hausers Auftauchen auf dem Unschlittplatz zu Nürnberg. Nur eben in Pilsach war er nicht, das nun sechs Kilometer von Neumarkt liegt. Abseits der Fahrtrouten und mit einem Schloß. Warum ließ er ausgerechnet dieses Objekt unbesichtigt? Hat der Urlaubsverzicht des Freiherrn von Grießenbeck im gleichen Jahr etwas mit der Dienstreise des Gendarmerieoffiziers zu tun? Erinnern wir uns: von Grießenbeck war 1812 Rittmeister und Schwadronschef bei der berittenen Gendarmerie mit Standort in Regensburg. 1816 war er Kompaniechef in Passau, dann ab 1821 Versetzung zur Leibgarde der Hartschiere nach München. Anders gesagt: Der spätere General von Grießenbeck war einst Gendarmeriekamerad von Hickel, dem "Reisenden in Sachen Hauser". Wie wir gehört haben, führte ihn sein Weg auch nach Passau und Regensburg, wo Grießenbeck vormals garnisoniert war. Seltsam, dies alles. Und in Neumarkt war er auch! Heiß war die Gegend im Sinne der Hauser-Nachforschungen. Sehr heiß sogar. Aber er lenkte seinen Weg nicht nach Pilsach hinüber, wo es siedendheiß gewesen wäre! Er hat Pilsach nicht einmal in seinem dienstlichen Reisebericht erwähnt. Hat er einen Wink bekommen, dieses Dorf mit seinem alten Wasserschloß auszusparen? Einen Wink von oben? Anders wäre dies mit der strengen Pflichtauffassung eines Hickel nicht zu vereinbaren, der den "Fall Hauser" zu seiner "Ehren-
angelegenheit" gemacht hat, wie er einmal schrieb. Wobei die Frage erlaubt sein darf, weshalb Offizier Hickel ausgerechnet die Hauser'sche Angelegenheit zu seiner Ehrensache auserkor. Einen Grund wird er wohl dafür gehabt haben, der gute Mann. Oder war es eventuell gleich gar und ebenfalls eine "Ehrenangelegenheit", das Wasserschloß Pilsach des gewesenen Waffenbruders der Gendarmerie, des Freiherrn von Grießenbeck, nicht zu inspizieren? Das Wasserschloß mit dem Verlies! In dieses Verlies aber kam der Kaspar wahrscheinlich Ostern 1828, nachdem er zuvor in einem der Zimmer des Fastenhauses in einen somnambulen Zustand versetzt worden war. Anzunehmen, daß Kaspar tiefschlafend in die Verlieskammer gebracht worden war. Als er dann erwachte, ging es ihm wie jenem fiktiven Matrosen, der sich auf einer Insel ohne jegliche Erinnerung an die Zeit vorher wiederfand, einem neugeborenen Menschen gleich. Bloß war es halt bei Kaspar keine Insel im Stillen Ozean, sondern ein Verlies, nur ganz notdürftig erhellt, mit zwei Holzpferdchen zu seiner linken Seite und einem halb so großen geschnitzten Hund mit herabhängenden Ohren. Solange er sich zurückerinnern konnte, beteuerte er später immer wieder, hockte er in diesem Verlies, nichts anderes tuend, als die Bänder vom Rükken der Pferde und des Hundes runter- und dann wieder raufzulegen. Kaspar hat sicher nicht gelogen, denn niemals hat er selbst von sich behauptet, er sei in diesem Kerker zwölf oder dreizehn Jahre gewesen. Er sagte nur immer, alle seine Erinnerungen rührten aus dieser Zeit her, wo er in einem engen Raum und von aller menschlichen Gesellschaft entfernt gehalten worden sei. Und das deckt sich vollkommen mit der Hypnosetheorie. Den Nürnberger Behörden blieb es überlassen, aus dem ein paar Wochen dauernden Verliesaufenthalt ein Kerkermärchen von einem Dutzend Jahren zu kleistern. Komisch, daß sie nicht wenigstens bei Hausers Aussage gestutzt haben, als er behauptete: solange er dort einsaß, hätte er nie die drei Holztiere von seinem Platz zur linken Seite weggenommen und hätte auch nie die Wände oder gar die beiden Scharten berührt. Nach den Nürnbergern hätte dieser Zustand an die zwölf Jahre so fortbestanden. Erst ganz
kurz vor seiner Entlassung habe er zufällig bemerkt, daß sich die Tiere bewegen lassen. Wir kennen das schon. Kaspar erwachte in diesem Verlies im Zustand eines Kindes. Die nächsten fünf Jahre, bis zu seinem Ende also, spielte sich sein Leben unter hypnotischem Einfluß ab. Es darf angenommen werden, daß er die hypnotische Sperre nie ganz durchbrechen konnte. Vielleicht, wenn nicht gar wahrscheinlich, hat er am Ende seiner Tage mehr gewußt, als er zugegeben hat. Aber ganz durchbrochen hat er die Erinnerungssperre sicher nie. Anzunehmen auch, daß im Verlaufe weiterer Jahre diese Sperre komplett durchbrochen worden wäre - die Ansichten der Fachleute weichen hier stark voneinander ab, und experimentell scheint es noch nicht exakt erforscht zu sein -, aber es ist müßig, darüber zu rechten, da Hauser fünf Jahre nach seiner Entlassung erdolcht wurde. Ein längeres Schicksal war für ihn nicht bestimmt. Daß man Kaspar während der Hypnose auch handfeste Drohungen einsuggeriert hat - als Sicherheitsventile für die Aussetzer - dies dürfte feststehen. Ohne Zweifel wurden ihm aber auch im somnambulen Zustand posthypnotische Befehle eingeschärft, und zwar dergestalt, wie er sich nach seiner Entlassung zu verhalten habe. Beispielsweise: Du wirst in dem "großen Dorf", wohin du nun gebracht wirst, einen Mann sehen. Den rufst du mit "He, Bue!" an und übergibst ihm den Brief, den du in der Hand hast. Alles weitere wird sich dann finden ... Voraussetzung dieser Hypothese ist natürlich, daß Schuhmachermeister Weickmann, der erste Mensch, den Kaspar auf dem Unschlittplatz traf, tatsächlich der Nürnberger Kontaktmann der Aussetzerclique war. Dann freilich hat sich alles weitere schon gefunden. Auch wird man dem Kaspar einsuggeriert haben, er habe sich die nächsten Wochen lediglich mit Wasser und Brot zu ernähren, vor allen anderen Speisen aber ekele es ihm. So manche seiner Verhaltensweisen nach seinem Auftritt in Nürnberg lassen sich als posthypnotische Befehlsausführung plausibel erklären. Wer eine einleuchtendere Theorie hat, der möge damit herausrücken. Freilich taucht sogleich die Frage auf: Wer ist "man"? Die Antwort, ebenso frei: Exakt wissen wir es bis
zum heutigen Tag nicht, wer Kaspars Hypnotiseur war. Sicherlich nicht der Richter Franz, sein Betreuer in Pilsach. Über seine habitale Beschaffenheit kam zu viel Kunde auf uns. Nie wurde etwas darüber bekannt, dieser naturverbundene Mann hätte sich je mit okkulten, spiritistischen oder hypnotischen Dingen befaßt. Es paßt dies nicht zu seinem geschilderten Habitus. So ganz und gar nicht. Anders ist es allerdings mit Freund Lutz aus Neumarkt, der Kaspars briefliche Mitbringsel geschrieben, wenn auch nicht verfaßt haben dürfte. Dem "Professor" wären hypnotische Gaben schon eher zuzutrauen. Und auch der Sippschaft des Schloßbesitzers von Grießenbeck. Gemeint ist die Familie, in die er eingeheiratet hat, die du Prels, deren einer Sproß eine Kapazität auf dem Hypnosegebiet werden sollte: Dr. Carl du Prel. Der erste hypnotische Befehl dürfte aber gewesen sein: Du kennst mich nicht, nie und nimmer. Du wirst völlig vergessen, wie ich ausschaue und wie ich spreche. Du wirst aber auch niemals mehr das Gesicht jenes Mannes kennen, der dich fortführen wird von hier, der dich ins "große Dorf" begleiten wird. Wenn Kaspar dann nach dem ersten Attentat, dem von Nürnberg, seine Sprüchlein verzapfte, er habe die Stimme des Attentäters als jene wiedererkannt, die der Mann im Kerker gesprochen habe, so gehört dies mit Sicherheit in den Bereich seiner Nürnberger Erziehung, seines furchtsamen Wesens, das man ihm bei Gott nicht verübeln darf, und in seinen desolaten nervlichen Zustand nach dem Attentat. Als nun die Zeit herangerückt war, den Kaspar aus dem Verlies zu entlassen, da kam ein Mann zu ihm in den Kerker. Wir kennen Kaspars Schilderung aus seiner Vernehmung vom 6. November 1829. Ausführlicher und detaillierten aber erzählte es Kaspar am Tage darauf und auch noch am 9. November. Erstaunlich aber auch hier wieder die Bestimmtheit seiner Aussagen, vor allem in den Einzelheiten. Die Frage 18 des Vernehmungsrichters, des Freiherrn von Roeder, lautet:
Über die Art und Weise, wie Sie selbst aus dem Orte Ihrer Gefangenschaft herausgekommen, und Ihre Wahrnehmung hierbei, was können Sie desfalls näher angeben. Kaspar Hausers Antwort: Nachdem mich der Mann auf seinen Rücken genommen und sich beim Fortgehen auch gebückt hat, so stieß mein Kopf dennoch bei einem Hinweggleiten etwas an, was mir die Überzeugung gewährt, daß ich durch eine niedere Türe des Ortes meiner Gefangenhaltung hindurchgetragen worden. Hier darf angemerkt werden: Auch diese Schilderung entspricht der Verliespforte, wie sie heute noch zu sehen ist, nämlich 50 Zentimeter in der Breite und 80 in der Höhe. Kein Wunder, wenn sich der Mann bücken mußte und mit dem Kopf anstieß. Doch hören wir Kaspar weiter: Eine besondere Wahrnehmung machte ich aber dabei nicht; ich muß über die Art meiner Wegschaffung jedoch noch bemerken, daß mir der Mann, ehe er mich auf den Rücken genommen, mir zuvor auch die beiden Hände mit einem weißen Tuche bei den Handgelenken zusammengebunden hat, diese meine beiden Hände sich sodann um seinen Hals gelegt und mich auf diese Weise fortgetragen hat. Hier wäre nun anzumerken: Kaspar wurde auf eine Art fortgetragen, wie Jäger ihr erlegtes Wild mitunter behandeln. Welcher alte Jägersmann hat noch keinem geschossenen Reh die Vorderläufe zusammengebunden, um es dann Huckepack fortzuschaffen, ähnlich wie Kaspar es von sich beschrieben hat. Für den Jäger hat es den Vorteil, dabei die Hände freizuhaben. Es wird also wohl der Franz Richter gewesen sein, der den schwierigen Part von Hausers Wegschaffen nach Nürnberg bewerkstelligt hat. Keinesfalls aber wird dies per pedes geschehen sein. Was Kaspar diesbezüglich angibt, dürften die Gehübungen auf dem Ottenberg oberhalb Pilsachs gewesen sein. Und die waren nötig, da dem Jungen mit Hilfe der Hypnose der Gebrauch seiner Gehwerkzeuge abgesprochen worden war. Einzukalkulieren
sind auch noch die paar Wochen Verliesaufenthalt, in denen er meist saß, seltener herumrutschte, aber überhaupt nicht ging. Die größte Strecke des Weges wird Kaspar gefahren worden sein, wahrscheinlich in einem Planwagen, in den kraft Sogs der Straßenstaub kommt, von dem Hauser bei seiner Ankunft noch immer etwas bedeckt war. Daß Franz Richter mit seiner seltsamen Fuhre alleine unterwegs war, also ohne Begleiter, ist fast anzunehmen. Je weniger Leute von der Sache wußten, umso besser für die Aussetzer. Beinahe sicher aber dürfte sein, daß Kaspar im Wagen fest geschlafen hat. Ob dieser Schlaf aber ein hypnotischer war oder durch Nachhilfe von etwas Opium herbeigeführt worden ist - darüber läßt sich rechten. Ein normaler Schlaf war es sicher nicht. Ihm sei oftmals "das Gesicht vergangen", erzählte Kaspar, während er sich allgemein "fortwährend in einem betäubten Zustande befand". Das "Gesichtvergehen" hielten die Nürnberger für kurze Ohnmachten. Näher liegt aber, daß Kaspar durch das Rütteln des Wagens ab und an aus seinem tiefen Schlaf für ganz kurze Zeit - es brauchten nur Sekunden gewesen zu sein - soweit erwachte, als daß man von einem Halbschlaf sprechen kann. Augenblicke späten "verging" ihm dann "das Gesicht" wieder. Schließlich sprach er selbst davon - dies sei besonders betont -, er habe sich "fortwährend in einem betäubten Zustande befunden". Spricht das nicht Bände? Korrekt erzählte er denn auch, "über die Dauer meiner Reise nach Tag und Nacht nicht urteilen" zu können. Seinen Fahrer, den er als solchen freilich nicht erkannte, sondern in ihm seinen zu Fuß laufenden Weggenossen hielt - diesen Mann schildert Kaspar so: Ich entsinne mich, wahrgenommen zu haben, daß der Mann keinesfalls klein war, er näherte sich vielmehr mehr der größeren als der mittleren Statur. Brust und Schultern waren breit, was ich besonders wahrnahm, als ich mich auf dem Rücken befunden. Würde ich eine nähere Bezeichnung des Mannes geben, so spräche ich nicht aus eigener Wahrnehmung und kann daher lediglich versichern, daß ich insonderheit über das Gesicht des Mannes durchaus keine Auskunft zu geben imstande bin.
Da haben wir es also wieder, das hypnotische Verbot! Hauser schildert ganz einleuchtend Größe und Schulterbreite, aber das Gesicht will er nicht wahrgenommen haben. Und er hat auch hier die Wahrheit gesagt! Er stand unter dem hypnotischen Befehl, untermauert vielleicht mit somnambulen Drohungen, nie und nimmer das Gesicht gewisser Leute zu sehen. Und was man nicht sieht, kann man auch nicht beschreiben. Wir haben - Sie erinnern sich - von Fachleuten gehört, daß dies in Hypnose möglich und relativ einfach ist. Aber keiner in Nürnberg kam auf die Idee, der Junge da könnte unter hypnotischen Einfluß stehen. So kam Franz Richter mit seinem Schützling nach Nürnberg. Vielleicht sogar noch am Pfingstsamstag. Anzunehmen, daß er in unmittelbarer Nähe des Unschlittplatzes in einem vorbereiteten Quartier, vielleicht in einem Hinterzimmer der Kneipe "Zum Bärleinhuter" untergebracht wurde. Die Kombination dürfte Hand und Fuß haben, daß dort der Hypnotiseur bereits auf ihn gewartet hat, um ihn noch einmal speziell auf den für Pfingstmontag ausersehenen Auftritt zu präparieren. Zu diesem Zeitpunkt aber wird der Franz Richter längst wieder mitsamt seinem Planwagen die einstige Freie Reichsstadt, das "Schatzkästlein des Reiches", verlassen haben. In Richtung Heimat Pilsach. Was Kaspar aber behalten hat an winzigen Erinnerungsfetzen, das waren einige wenige Ausdrücke, die er einst als noch halbwegs freier Junge in Pilsach gehört hat. Vielleicht in der "Schlafstube" oder im Gefängnisraum vor dem Verlies. Von eingelochten Landstreichern, von Zinkenbrüdern, von Kochemer-Leuten. Gemeint sind die rotwelschen Ausdrücke, wie "Kartusch geben". Ansonsten brachte er nur mit in die ihm völlig neue fremde Welt, was ihm seine Aussetzer angezogen, beziehungsweise eingesteckt haben, nebst den beiden ominösen Wischen: seine Antrittsutensilien, um in jeder Beziehung ja aufzufallen. Und das ist er ja bei Gott, wie wir alle mittlerweile wissen, ja erkennen mußten.
7. Akteure und ihr Hintergrund Major von Hennenhofer wird geadelt Politische Umtriebe und verkrachte Existenzen - Student Lessing wird ermordet Agenten in badischem Auftrag Hennenhofer verspricht "spezielle Aufschlüsse über Kaspar Hauser" Der Säuferwahn des Großherzogs Leopold - Eine Type namens Garnier Lord Stanhope und sein "Jünglingskind" Kaspar Kreditbriefe aus Karlsruhe - Die Großherzogin und ihr Liebhaber Beim Anblick der Mutter kam er in Raserei Spurenverwischung in vollem Gange Stanhope und Hausers Vormund Baron von Tucher streiten Kaspar kommt nach Ansbach - Gerichtspräsident von Feuerbach und der Dunkellord Stanhope und der "Goldene Stern" - Abschied für immer In sexueller Hinsicht noch ein Kind - Ein ekelhafter Rohrstockakrobat Der Tod des großen Juristen und Kriminalisten Feuerbach Kaspars Mutter und seine Schwestern kommen inkognito nach Ansbach Hausers Ähnlichkeit mit seinen Schwestern Die treibende Kraft: Großherzogin Sophie Im gleichen Jahr, in dem Kaspar Hauser die Nürnberger Szene betrat, wurde in Karlsruhe der Major Johann Heinrich David Hennenhofer in den Adelsstand erhoben und zum "Direktor der diplomatischen Sektion im Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten" ernannt. Der badische Senkrechtstarter hatte damit seinen Kulminationspunkt erreicht. Ein Jahr vorher hatte sein Herr und Meister, Großherzog Lud-
wig, einen Schlaganfall erlitten. Wir haben darüber schon vernommen. Der Anfall überraschte den Genüßler Ludwig übrigens in den Armen eines Ballettmädchens - der alte Gauner konnte es nicht lassen. Aber seine Tage waren gezählt. Das wußte jeder am Hof. Trotzdem schlug er seiner Umgebung wieder einmal ein Schnippchen - wie so oft schon -, indem er den "Sauriemen", der ihm manche Stunde versüßt hat, dennoch erst 1830 endgültig aus der Hand nahm - nehmen mußte. Der erste Hochberg, Leopold, betrat nach ihm die badische Bühne. Hennenhofer, die Graue Eminenz in dunklen Sachen, überlebte den Thronwechsel. Er durfte in seiner Stellung bleiben. Allerdings nur noch ein gutes Jahr lang, dann wurde er im Sommer 1831 pensioniert. Er zog sich auf seinen Ruhesitz nach Mahlberg zurück. Bei Otto Flake steht: ... Damit sind wir bei dem Mann angelangt, der das Unternehmen in Ansbach geleitet haben dürfte, Major Hennendorfer [muß "Hennenhofer" heißen - d. Autor]. Zwar hatte Sophie [Großherzogin von Baden, Leopolds Gattin - d. Autor] ihn, den Vertrauensmann des verstorbenen Großherzogs Ludwig, anfangs bekämpft, weil ihm Dinge wie Veruntreuung und Vergewaltigung einer Minderjährigen nachgesagt wurden; aber als sie einen Helfer brauchte, zog sie ihn heran ... Tatsächlich und nachweisbar wurde Major von Hennenhofer immer wieder zu Staatsgeschäften herangezogen, wenn eine Sache besonders griffsichere Hände benötigte. Dieser Major von Hennenhofer gehörte im Reigen der Mitwisser um die Verbrechen an Kaspar Hauser zur obersten Garnitur. Er dürfte so ziemlich alles gewußt haben, was es in diesem Falle zu wissen gab. Und er war es auch, darüber besteht heute kaum mehr der geringste Zweifel, der die Aktion in Ansbach lenkte und leitete. Er war der große Regisseur jenes Abschlußdramas, das im Ansbacher Hofgarten seinen Höhepunkt fand. Er ist deshalb mit der Geschichte des weltberühmten Findlings untrennbar verbunden. Eines war dieser von Hennenhofer mit Sicherheit jedoch nicht: Hausers Mörder, als was er
schon zu seinen Lebzeiten genannt worden ist. Leute seines Schlages haben es nicht nötig, die Dreckarbeit zu erledigen. Dafür gab es genug andere, die er am Gängelband hatte, die er auf die Fährte lenkte: verkrachte Existenzen, Tunichtgute und Ganoven aus dem Dschungel der politischen Umtriebe. Mit einer Reihe der letzteren Gattung pflegte er sogar recht engen Kontakt. Auf Anhieb hört sich das sonderbar an für einen Mann, der nach heutigem Sprachgebrauch immerhin der erste Abwehrbeamte seines Staates war. Bei näherer Betrachtung jedoch wird man wohl zugeben müssen, daß Beziehungen dieser Art das Geschäft mit sich bringt. Damals wie heute. Hennenhofer, das ist aktenkundig, hielt seine Fäden mit einer ganzen Reihe von Desperados aufrecht, besonders mit dem Agenten Ferdinand Sailer, einem jungen Mann, aus Waidsee in Württemberg gebürtig, von "Zivilberuf" Pharmazeut. Er fütterte diesen in den Sumpf der politischen Umtriebe abgeglittenen Sohn aus gutem Hause mit Geldsendungen. Damit versuchte er Sailer "umzudrehen" und als Spitzel gegen dessen Kameraden einzusetzen. Sailer war aber ebenso mit allen Hunden gehetzt, ein Profi auf dem Agentensektor. Er hat Hennenhofer durchschaut und ihn einige Male reingelegt. Auch war dieser Ferdinand Sailer verwickelt in die Kriminaluntersuchung wegen des Mordes an dem Studenten Ludwig Lessing aus Freienwalde in Preußen. Des Mordes angeklagt war ein gewisser Zacharias Aldinger alias Baron von Eyb, der schließlich vom Kriminalgericht Zürich mangels Beweise freigesprochen werden mußte. Während dieses Verfahrens wurde nun etwas Licht in den Emigrantenurwald gebracht. Der Verteidiger des wegen Mordes angeklagten Zacharias Aldinger, der Züricher Rechtsanwalt Dr. Joseph Schauberg, Jahrgang 1808, selbst deutscher Emigrant, schrieb darüber ein Buch. Es heißt darin: ... Selbst über Ereignisse, welche einer früheren Zeit angehören. wie über die nicht minder denkwürdige, als viel besprochene Geschichte des Kaspar Hauser finden sich in den Akten der Lessingschen Prozedur einige Andeutungen, welche das Rätsel zwar nicht zu lösen,
jedoch, was auch Gewinn ist, an seinem Geburts- und Heimatorte zu befestigen vermögen. Der Briefwechsel zwischen Sailer und Hennenhofer war rege und umfangreich. Auch persönlich hat sich das sonderbare Paar mehrfach getroffen. Sie waren beide aneinandergekettet. Einer wußte vom anderen zuviel. So konnten sie sich nichts antun: Hennenhofer, der pensionierte Abwehrmann, und Ferdinand Sailer, dessen Vater Bürgermeister der württembergischen Kleinstadt Waldsee war und dazu noch Mitglied der Abgeordnetenkammer. Der weiter oben genannte Rechtsanwalt Dr. Joseph Schauberg hat nun einen Teil des Briefwechsels zwischen Sailer und Hennenhofer dem Züricher Kriminalgericht vorgelegt - Briefe, die mit dem Fall Lessing zu tun hatten. In seinem Buche hat Dr. Schauberg seine Sammlung von Briefen Hennenhofers, 16 an der Zahl, an Sailer kommentiert. Er hat dabei den Verdacht erhärtet, daß Sailer von Hennenhofer den Auftrag bekommen hatte, Broschüren und Flugschriften, den Kaspar-Hauser-Fall betreffend, zu unterdrücken. Vor allem sollte er an die Hintermänner herankommen, an jene Emigranten, die das großherzoglich-badische Haus ständig in Verbindung mit dem Hauser-Fall brachten. Das alles spielte sich zwei Jahre nach Hausers Ermordung ab. Dr. Schauberg schreibt: Wird die frühere Stellung des Herrn Major Hennenhofer an und zu dem badischen Hofe und besonders zu dem am 30. März 1830 verstorbenen Großherzog Ludwig berücksichtigt, so erleidet auch die Sache keine wesentliche Veränderung, mag der Herr von Hennenhofer aus seinen eigenen, freilich nicht sehr starken Geldmitteln die Hauserschen Broschüren unterdrückt und den mit der Unterdrükkung beauftragten Spion Sailer besoldet haben, oder hierbei nur der Werk- und Zahlmeister einer höheren Person, einer höheren Behörde gewesen sein. In seinen Briefen versichert Hennenhofer dem Sailer wiederholt, daß er ihn nur aus seiner schwachen Privatkasse unterstützen könne und unterstütze, wofür auch der Umstand zu sprechen scheint, daß die Geldsendungen an Sailer stets nur in kleinen Summen bestehen und einige Louisdor niemals übersteigen; allein
ernstlich konnte Hennenhofer dem Sailer absichtlich immer nur weniges Geld auf einmal gesandt haben, weil ihm dessen Liederlichkeit hinlänglich bekannt war und damit den stets Geldarmen eben dadurch auch stets in seiner Gewalt habe; sodann erfordert der Aufkauf ganzer Auflagen von Broschüren und Flugblättern, in Verbindung mit den hierbei tätigen und zu bestechenden Leuten, denn doch allzu große Geldmittel, als daß dieselben auch ein in seinen Einkünften besser gestellter Mann, als der Major von Hennenhofer es sein soll, für sich allein hätte bestreiten können; endlich spricht Hennenhofer ohne Rückhalt davon, daß er die Nachrichten und Dienstleistungen Sailers in Karlsruhe versilbern könne und zum Teil versilbert habe, wie die badische Regierung auch bei mehreren Gelegenheiten zu Gunsten des Sailers handelnd auftritt und dadurch beweist, daß sie demselben große Verbindlichkeiten schuldig sei. Der Wahrheit am nächsten dürfte die Annahme stehen, bei der Gemeinschaft der Interessen und Bedürfnisse sei Sailer von dem badischen Hofe und von dem Herrn Major von Hennenhofer zugleich gebraucht und bezahlt worden. Soweit Dr. Schauberg, wie gesagt, selbst Emigrant, der aber seinen bürgerlichen Habitus voll beibehalten hat und nicht absackte in den politischen Sumpf, in die Niederungen der Agentendienste wie Sailer oder Garnier. Ferdinand Sailer aber war nur zwei Jahre älter als Kaspar Hauser, also Jahrgang 1810. Er gehörte beim Attentat im Ansbacher Hofgarten mit zur Mordrotte. Dr. Schauberg, der scharfsinnige Jurist, hat schon damals zumindest geahnt, was die Glocke schlug: ... Aus dieser Tatsache darf nämlich mindestens der Schluß gezogen werden, es müsse der Herr Major von Hennenhofer und wohl auch der Hof an welchem er solange einer der Hauptlenker seiner heimlichen Angelegenheiten gewesen, auf eine besondere Weise bei der Sache des Kaspar Hauser beteiligt sein, weil sie sonst unmöglich mit solcher Sorgfalt, ja Ängstlichkeit auf das achten würden, was über Kaspar Hauser und seine Beziehungen zu ihnen geredet und geschrieben werde oder werden wolle ...
Mit anderen Worten: Leute wie Sailer oder Garnier, der nicht direkt in den Hauser-Fall verwickelt war, wußten einiges um den dunklen Punkt Badens. Aber: sie wußten nicht alles. Für das Großherzogtum Baden war aber bereits das schon zuviel. Offiziell konnte es wegen des Hauser-Falles natürlich nichts unternehmen; das wäre einem Eingeständnis gleichgekommen. Deshalb wurde Hennenhofer, der alte Meisterintrigant, eingeschaltet. Er trat denn auch als Privatmann auf. 1835 war er übrigens 42 Jahre alt - etwas jung für einen Ruheständler. Für den Großherzog Leopold war er aber auch später noch tätig. Beispielsweise 1840. Im nämlichen Jahr legte er im höchsten Auftrag eine Differenz mit dem Freiburger Erzbischof bei. Aus der Hauser-Geschichte aber sollte er niemals mehr verschwinden. Nahezu anderthalb Jahrhunderte hindurch galt er als Sündenbock, mußte er für alles herhalten: von der Vertauschungsaktion des Prinzen 1812, über Beuggen, Kaspars Entlassung nach Nürnberg, bis hin zum Mord im Ansbacher Hofgarten. 1812 aber war Hennenhofer gerade 19 Lenze jung und erst wenige Monate am Karlsruher Hof. Er galt als Schurke für alles, als Henker, auf den man mit Fingern zeigte, als Mörder, dem Freiburger Studenten die Fäuste nachballten, dem während der Revolutionswirren von 1848 Katzenmusiken gebracht wurden, dem man die Scheiben einschlug. Der alte Haudegen aber trug dies alles mit Gelassenheit; es glitt an ihm ab. Aber wie gesagt, Hennenhofer war nicht Hausers Mörder. Dazu gestempelt hat ihn der schon mehrfach erwähnte Johann Heinrich Garnier aus Rastatt, eine windschiefe Leuchte, politischer Rebell und Emigrant. In seinem Hauser-Büchlein entpuppte er sich als brillanter Schreiber, hochintellektuell, aber dennoch eine abgesackte, schräge Type. Er wußte einiges, hat aber mangels vollständigen Wissens um den Hauser Fall viel hinzugedichtet. Dieser Garnier war nun der erste, der mit offenen Fingern auf die verstorbene Reichsgräfin Hochberg deutete und auf den Major von Hennenhofer. Seither geistert dieser durch die einschlägige Literatur als Bösewicht für alles, was aber nicht stimmt. Auf seinem Schlößchen Mahlberg bei Lahr, seinem Ruhesitz, spann Hennenhofer seine vielschichtigen Fäden. Er war ein immer reger
Typ und korrespondierte viel - auch mit Lord Stanhope, dem englischen Dunkelmann. Dabei war er ein geselliger Mann, aß viel und trank noch mehr. Er war in keiner Beziehung ein Kostverächter. Ob es allerdings wirklich zutraf, daß er eine Dreizehnjährige vergewaltigte, wird wohl nicht in dem Umfange stimmen, wie es durchgesickert ist. Leute seines Schlages hatten viele Feinde, auch solche, die mit Schlägen unterhalb der Gürtellinie nicht eben sparsam waren. Wahrscheinlich war die ganze Sache bei weitem übertrieben, wenn überhaupt etwas daran wahr gewesen ist. Vor Gericht kam er deshalb jedenfalls nie. Überhaupt ist es psychologisch interessant, daß bei Typen wie einen Hennenhofer die vox populi gerne Sex mit einfließen läßt. 1840 nun war es, als ein Ministerialrat Dr. Christ bei Hennenhofer in Mahlberg auftauchte. Er befand sich im Auftrag des Großherzogs Leopold auf einer Dienstreise. Absicht der Reise aber war es, den Isegrim über den Fall Hauser auszuhorchen. Dies bedeutet jedoch nichts anderes, als daß selbst Leopold die letzte Wahrheit um und über diesen Jungen sieben Jahre nach dessen Ermordung nicht gewußt hat. Gerechnet vom Prinzentausch Anno 1812, waren mittlerweile 28 Jahre ins Land gezogen. Ein Teil der Akteure lebte bereits nicht mehr, der Wust aus Wahrheit und Dichtung war zu einem untrennbaren Knäuel verwuchert. Hausers Ende und wie es dazu kam, wer den Auftrag zur Beseitigung gab, das allerdings wußte Leopold. Er wußte es nur zu gut, und er wird die Stunde nie vergessen haben, als sich ihm seine Gemahlin Sophie offenbarte. Er war von Stund an fertig mit ihr. Die Hauser-Sache aber hat ihn nie mehr losgelassen. Er fing an zu trinken, feierte mit Stallburschen Orgien, so daß er vom Volksmund der "Champagner-Leopold" genannt wurde. Delirierend ist er gestorben, Kaspar Hausers Bild in den wachsbleichen Händen eine tragische Persönlichkeit, die sehr wohl wußte, wie es um die Legalität ihres Thrones stand. Nun zurück zu diesem Emissär Dr. Christ, dem Beauftragten des Großherzogs. Er hatte also mit Major Hennenhofer eine Aussprache, die sicher länger dauerte. Was er dabei von Hennenhofer erfahren hat,
wird nicht allzuviel gewesen sein; keinesfalls aber die ganze Wahrheit. Um diese zu verplappern, war der alte Stratege viel zu gerissen; vielleicht gedachte er auch, sie eines Tages zu "versilbern". Am Abend dieses Tages war Dr. Christ jedenfalls zu Gast bei dem Herrn Major a.D. Dabei entspann sich folgender Dialog, allem Anschein nach in feucht-fröhlicher Stimmung: "Hennenhofer: Sie dürfen noch nicht fort, wir trinken noch eine Flasche Champagner. Sie müssen noch bleiben! Christ: Was? Ich muß? Das will ich sehen. Hennenhofer: Ja, Sie müssen! Christ: Nun wohlan! Unter einer Bedingung; wenn Sie mir Ihr Wort geben, eine Frage, die ich an Sie richten werde, wie dieselbe auch laute, ohne Umschweife wahrheitsgemäß zu beantworten. Hennenhofer: Da haben Sie mein Wort! Christ: Sind Sie der Mörder Kaspar Hausers? Hennenhofer: Nein, auf mein Wort, das bin ich nicht; aber ich bin eben daran Memoiren zu schreiben, die erst nach meinem Tode veröffentlicht werden sollen, und werde bei dieser Gelegenheit auch spezielle Aufschlüsse über Kaspar Hauser geben." Das klingt echt, das ist glaubhaft. Aber wo sind sie geblieben, diese Memoiren mit den "speziellen Aufschlüssen"? Sie sind verschollen bis zum heutigen Tag. Nie wurden sie veröffentlicht. Aber er hat Memoiren geschrieben. Das ist sicher. Wahrscheinlich ist, daß er die ganze Wahrheit über den Hauser-Fall zu Papier gebracht und diese dann im Ausland bei einer Bank deponiert hat. Vielleicht in der Schweiz, wohin er gute Beziehungen hatte. Später im Jahrhundert hat Napoleon Nummer drei, auf Hennenhofer und Hauser angesprochen, folgenden Sermon von sich gegeben:
Major Ennendorf hat mir die wichtigsten Dokumente verkauft. Ich habe sie gelesen, versiegelt und bewahrt. Sie sollen nicht gegen Baden ausgespielt werden. Dem letzten Satz ist zu entnehmen, daß sie also sehr wohl gegen Baden hätten ausgespielt werden können, wenn Napoleon III. nur gewollt hätte. Hat er aber nicht, aus welchen Gründen auch immer. Fragmente davon oder auch nur Abschriften daraus, stammend aus dem Jahre 1853, fanden sich wieder in einem österreichischen Dokument, das der allgemeinen Hauser-Aktenvernichtung entgangen war. Daraus läßt sich vermuten, daß Teile dieser von Hennenhofer an Napoleon III. verkauften Dokumente spätem in den Besitz der großherzoglich-badischen Familie gekommen sind. Sie kamen dann irgendwann in die Hände eines Verwandten des badischen Hauses: in die Hände des russischen Großfürsten Michael Nikolajewitsch, Ehrendoktor der Berliner Universität und Hauser-Forscher. Aus diesem Dokument ging übrigens auch hervor, daß Ferdinand Sailer Mitglied der Mordrotte gewesen ist. Er war es auch, der in Kaspars letzten Lebenswochen mit ihm Kontakt aufgenommen hat. Es ist nun durchaus möglich, wenn nicht wahrscheinlich, daß von Hennenhofer noch eine zweite Garnitur von Memoiren geschrieben hat. Entschärfte sozusagen. Jedenfalls keine, die vollen Aufschluß über den Fall Hauser gaben. Beim Verfassen dieser Erinnerungen hat ihn dann der Schlag getroffen, was eine Lähmung der rechten Hand zur Folge hatte. Mit dem Schreiben war es zunächst einmal aus. Er hat deshalb einen Schreiber verpflichtet, dem er diktierte. Und wie es bei einem Hennenhofer fast nicht anders sein konnte, hat er wieder einmal eine verkrachte Existenz aus dem Sumpf der politischen Umtriebe für diese Arbeit engagiert. Sebastian Seiler, hieß die Type - ein heruntergekommener früherer Aktuar. Dieser Sebastian Seiler darf nicht verwechselt werden mit Ferdinand Sailer, dem Spießgesellen der Mörderbande. Was nun Major von Hennenhofer, der mit seiner Memoirenschreiberei schon vor seinem Schlagfluß begonnen hatte, diesem Sebastian Seiler mit "ei" weiter diktiert hat, wird nicht gerade die Offenbarung eines politischen Mordes und dessen Hintergründe
gewesen sein. Sonst hätte sich ein Hennenhofer nicht dieser Type aus dem Kreis der agentenverseuchten Emigrantenszenerie bedient. Dieser Seiler wollte auswandern nach Amerika, ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Er hatte aber das Reisegeld noch nicht beisammen. Im Dienste Hennenhofers wollte er die unzureichende Kasse etwas auffüllen. Von Hennenhofer, bar eines stattlichen Vermögens und nur von seiner Pension lebend, war kein großzügiger Arbeitgeber. Er bezahlte den Sebastian Seiler aus Preußen angeblich recht schlecht. Ob Seiler nun die gesamten restlichen Memoiren zu Papier gebracht hat, ist nicht mehr feststellbar, Jedenfalls haute er eines schönen Tages ab, hinüber in die nahegelegene Schweiz, wo seine Kumpane das kommende Paradies auf Erden erwarteten. Dort angekommen, machte sich der junge Mann daran, sein Wissen aus den Hennenhofer'schen Diktaten aufzuschreiben. Da ihm aber Detailkenntnisse fehlten, dichtet er packweise Märlein hinzu. Von diesem Gemisch aus Dichtung und Wahrheit hat aber die badische Regierung erfahren. Hilfeheischend wandte sie sich deshalb an ihre schweizer Kollegen. Baden aber brachte es tatsächlich fertig, die ganze Seiler'sche Auflage den schweizer Behörden diplomatisch abzuhandeln. Ja noch mehr! Die Schweiz wies nämlich den Sebastian Seiler aus, allerdings nicht, ohne ihm vorher noch eine stattliche Abfindung ausbezahlt zu haben. Diese Abfindung aber kam aus der badischen Regierungskasse! Der verhinderte Weltrevolutionär Seiler hatte nun, was er brauchte und sicher auch angepeilt hatte. Er packte also seine schweizer Koffer, ging aber nicht ins gelobte Land Amerika, sondern nach Frankreich hinüber, wo der Gauner sich wieder hinsetzte, um ein neuerliches Gebräu aus Lüge und Wahrheit seiner Feder entfließen zu lassen. Er schrieb sinnigerweise unter dem Pseudonym "N. E. Mesis". Die Buchstaben zusammengezogen, ergeben das lateinische Wort "Nemesis", zu deutsch "Rache". Seiler, der clevere Politganove, hatte spitz bekommen, wie Geld zu machen ist. Er ahnte den dunklen Punkt Badens. Aber er begnügte sich nicht nur, sein Wissen preiszugeben, das er von Hennenhofer hatte, und mangels genauer Information zu
dichten, sondern er schrieb auch unbekümmert ab von den Pamphlets seiner "Kollegen". Von Garnier, zum Beispiel. Was schließlich herauskam, war ein Schauermärchen mit Geheimtüren im Karlsruher Schloß, mit der sagenhaften Weißen Frau und einem sterbenden Säugling im Reisekoffer. Dieses romantische Gebräu hat sich gehalten, bis in unser Jahrhundert hinein. Den verantwortlichen Drahtziehern konnte das nur recht sein. Es lenkt ab von den wahren Hintergründen. So hat sich ein Stück Sage selbst gesteuert. Aber einem Stückchen Sagenlogik alleine trauten Leute wie die Großherzogin Sophie, Gemahlin des Leopold, nicht. Sie setzten deshalb einen wunderlich-abenteuerlichen Globetrotter auf die Fährte, den Lord Stanhope. Seine Aufgabe war es, vorhandene echte Spuren mit Sorgfalt und Raffinesse zu verwischen, indem er die Aufmerksamkeit in andere, in total verkehrte Richtung lenkte, später aber, nach seines Schützlings Kaspar Hauser Tod, versuchte, diesen als Betrüger hinzustellen. Neben Major von Hennenhofer, der übrigens am 12. Januar 1850 in Freiburg starb, wo er die letzten Jahre seines Lebens verbracht hatte, gab und gibt es in der Hauser-Geschichte noch so eine graue Eminenz in rabenschwarzen Dingen. Eben jenen Philip Henry, vierter Earl of Stanhope. Kurz nach dem Attentat vom Oktober 1829 war er in Nürnberg aufgetaucht und in der minderen Herberge zum "Wilden Mann" abgestiegen. Wir haben darüber schon vernommen. Damals war das Geschick des nun weltbekannt gewordenen Findlings Kaspar Hauser in aller Leute Mund. Ganz Nürnberg sprach davon. Der Anschlag auf Hauser beschäftigte die Nürnberger so sehr, als hätten sie sonst keine anderen Sorgen. Seine Lordschaft aber kümmerte dies alles nicht. Er nahm nicht den geringsten Anteil am Schicksal des "Jünglingskindes", wie er Hauser später schwärmerisch oftmals nennen sollte. Anderthalb Jahre darauf kam seine Lordschaft wieder nach Nürnberg: am 28. Mai 1831, drei Jahre und zwei Tage nach Kaspars Auftauchen auf dem Unschlittplatz. Diesmal stieg er in einem weit vor-
nehmeren Quartier ab, spielte ganz groß den Pair, der mit Geld und Liebenswürdigkeiten nur so um sich warf - und bemühte sich sogleich um die Bekanntschaft mit Kaspar Hauser. Er tat dabei so, als hinge das Geschick des britischen Weltreiches ausschließlich von diesem Jungen ab und seiner Bekanntschaft mit ihm. Das gelang dem Lord. Allerdings nicht so ohne weiteres. Vorbei waren die Zeiten, als Kaspar noch herumgereicht wurde wie eine seltene Schießbudenfigur. Seit er nämlich aus dem Biberbach'schen Hause entfernt worden war und im Juni 1830 zu seinem amtlichen Vormund Baron von Tucher kam, wehte ein anderer Wind. Auch für unseren Kaspar. Stets im Blickpunkt einer oft minder illustren Öffentlichkeit, von allen Seiten schwärmerisch verzogen und verhätschelt - es fehlte nur noch, daß ein paar Spinner blaue Teppiche vor ihm ausbreiteten -, hat das natürlich bei Kasparus seinen Niederschlag gefunden. Kurzum: der Junge war saumäßig verzogen worden. Wer kann's ihm übel nehmen, dem armen Kerl, diesem ewigen Spielball der Neugierde und Gerüchte? Ganz anderen Leuten, wie ein Kaspar je hätte werden können, wäre dies nicht anders ergangen. Mit all diesem halbromantischen Getue räumte Freiherr von Tucher gründlich auf. Nur mit seinem Einverständnis durfte Kaspar Besuch empfangen oder auf einen Empfang gehen. Er mußte alleine auf seinem Zimmer speisen und hatte nur zu gewissen Zeiten Ausgang. Das alles paßte dem Kaspar natürlich nicht, der bislang gewohnt war, überall der Mittelpunkt zu sein. Und ein von Tucher erstarb auch nicht gleich vor Ehrfurcht, als ihn die Botschaft des Lords erreichte, er wünsche die Bekanntschaft Kaspar Hausers zu machen. Freiherr von Tucher sah jedenfalls keine Veranlassung Stanhopes Wunsch sofort zu erfüllen. Er ließ ihn abblitzen. Und wer nun glaubt, seine Lordschaft hätte augenblicklich und beleidigt die Koffer gepackt, um die Nürnberger Pfeffersäcke durch eines der Stadttore zu verlassen, der irrt wieder einmal gründlich. Vielmehr: er unterschätzt die Hartnäckigkeit des britischen Sonderlings, der er auf jeden Fall war. Als Lord Stanhope in diesen vorsommerlichen Tagen im Mai 1831 auf der Nürnberger Bildfläche erschien, stand er in seinem fünfzig-
sten Lebensjahr. Also ein würdiger alter Herr für damalige Begriffe. Er war verheiratet, hatte Frau und Kinder daheim auf Schloß Chevening, war aber meist auf Reisen. Auch sollen seine homoerotischen Neigungen nicht verschwiegen werden; sie sind aus dem Bild seiner Persönlichkeit nicht zu trennen. Als Angehöriger eines der ältesten Adelsgeschlechter von England war er, wie vordem sein Vater, Mitglied des Oberhauses. Allerdings war sein alter Herr ein Liberaler, ein fortschrittlicher Geist - nicht nur in der Politik: er war autodidakter Experimentalphysiker und erfand sogar eine nach ihm benannte Buchdruckerpresse. Auch mit der Großen Französischen Revolution sympathisierte er. Sein Sprößling hingegen, unser Lord, war erzkonservativ, gehörte im House of Lords den Torries an. Aber er war dies nicht vom charakterlichen Habitus her. Vielmehr scheint er zum Erzkonservativen erzogen worden zu sein: zum Protest gegen den Vater, mit dem er sich früh genug zerstritten hatte. Ja, eines Tages war das Zerwürfnis so sehr angestaut, daß er Hals über Kopf von zuhause abhaute und mit Hilfe seines Onkels später einen Prozeß gegen seinen liberalen Erzeuger führte, der 1816 verstarb. Sohn Philip aber hatte sich dadurch in allem zum Gegensatz seines Vaters entwickelt - auch auf dem sexuellen Sektor. Als nun dieser Pair von Großbritannien nach Nürnberg kam, hatte er auch Kreditbriefe bei sich, ausgestellt von mehreren deutschen Banken. Was tat nun dieser komische, baumlange Lord, der einst in Erlangen und Göttingen studierte und die deutsche Sprache einigermaßen beherrschte? Ganz gegen die Norm deponierte Stanhope die Kreditbriefe bei dem Nürnberger Bankier Merkel. Scheinbar sollten die wackeren Nürnberger ruhig wissen, daß er über beträchtliche Geldmittel verfügt. Einer der Kreditbriefe war von einem Frankfurter Geldinstitut ausgestellt, andere aber von den Bankiers Haber und Vierordt aus Karlsruhe. Mit dem Geldmann Haber jedoch arbeitete das großherzogliche Haus zusammen. Finanziell in erster Linie, aber auch amourös. Moritz von Haber, Filius des Bankmenschen, avancierte später zum Geliebten der Großherzogin Sophie. Ihr letztes Kind wurde ganz offen diesem Filou zugesprochen, der keiner Bettfreude aus dem Wege ging. Höhepunkte der Skandale um diesen Bankiersspröß-
ling gab es genug. Sie begannen 1843, zehn Jahre nach Hausers Tod, indem Moritz von Haber von einem Subskriptionsball zu Ehren der Großfürstin Helene von Rußland ausgeschlossen wurde. Der Eklat spielte sich vornehmlich in Baden-Baden ab. Drei Jahre später, 1846, steht in einem Damen-Conversations-Lexikon über Sophie von Baden zu lesen: Diese Ehe, geschlossen den 25. Juli 1819 ist eine nie versiegende Quelle der vollkommensten Zufriedenheit für beide Ehegatten. Von hoffnungsvollen Kindern gesegnet, und ihre Freuden nicht im Glanz bunter Zerstreuungen suchend, ist sie ... ein Beispiel der reinsten Sittlichkeit ... Tja, was soll dazu gesagt werden? Vielleicht darf angemerkt werden, daß dieses "Beispiel der reinsten Sittlichkeit" und ihr Bettgenosse es so schamlos offen trieben, daß die sogenannte Volksseele zum Kochen kam. Dabei produzierte sich vor allem, wie immer bei solchen und ähnlichen Anlässen, das Gesindel, der Pöbel. Schließlich war der Aufruhr derart, daß mit dem Ruf "Nieder mit dem Juden!" das Haber'sche Palais gestürmt und demoliert wurde. Nur mit Hilfe des Militärs wurde einigermaßen wieder die Ruhe in der Residenzstadt hergestellt. Moritz von Haber aber mußte außer Landes mehr flüchten als gehen. Er ließ Sophie zurück, deren großherzoglicher Gemahl, der "Champagner-Leopold", mehr und mehr herunterkam. Schließlich war er dem Alkohol rettungslos verfallen. Ein armer Mensch, der den Grund seines Säuferwahns sehr wohl wußte. "Kaspar Hauser" hieß seine fixe Idee, dessen Miniaturbildnis er ständig mit sich herumschleppte. Er starb im Delirium tremens, Kaspars Bild in den Händen, wie schon einmal erwähnt. Das war im April 1852. Mit seiner Gattin Sophie aber hatte er nichts mehr gemein - seit jenem Dezembertag 1833, an dem sie ihm etwas Schreckliches offenbart hat. Auf Leopold folgte offiziell dessen ältester Sohn Ludwig II. Aber er hatte die Regierungsgeschäfte nicht einen Tag lang ausgeübt, da er dem Wahn verfallen war. Schon beim Anblick seiner Mutter Sophie kam er in Raserei, tobte und überschüttete sie mit den unmöglichsten
Schimpfnamen. Er haßte sie. Als der Karlsruher Hof bei den Revolutionswirren von 1848 fliehen mußte, kam Ludwig auf den Ehrenbreitstein. In diesem Zufluchtsort besuchte ihn eine der Töchter der Großherzogin-Witwe Stephanie, nämlich Marie, spätere Herzogin von Hamilton. Baron von Tucher berichtete über diesen Besuch später so: Als sie sein Zimmer betreten habe, sei er vor ihr auf die Knie gesunken, habe sie umfaßt und unter heftiger Gemütserregung gesagt, man solle ihm die Geschichte von Kaspar Hauser aus dem Kopf nehmen, dann werde er auch gesund. Auch hier also, der Kaspar Hauser als fixe Idee. Der arme Kerl von einem Ludwig II. starb in tiefster geistiger Umnachtung 1858. Er wurde nur 34 Jahre alt. Die Regentschaft für ihn aber hatte sein Bruder Friedrich I. übernommen. 1858 wurde er nun offiziell Großherzog von Baden. Zwei Jahre vorher hatte er Luise von Preußen geheiratet, die Tochter des nachmaligen Kaisers Wilhelm I. Sie war es übrigens, auf deren Betreiben die Vernichtung der meisten Hauser-Dokumente zurückgeht. Luise wollte den Fall Kaspar Hauser ein für allemal aus der Welt schaffen. Das hat sie allerdings nicht fertiggebracht. Dafür war sie umso erfolgreicher - von ihrer Warte aus gesehen - beim Einsammeln und Vernichten von Dokumenten, die den Hauser-Fall betrafen. Dabei scheute sie weder Geldausgaben noch Mühen und lange Reisen. Wo immer sie etwas vermutete, da tauchte sie auf, die Großherzogin Luise. Scholz interpretierte Forschungsergebnisse von Klee, der sich auch mit Luise näher auseinandergesetzt hat. Das liest sich dann so: Unerwartet und unangemeldet erschien bei der Äbtissin des AlbertKaroline-Stiftes zu Freiburg i. B., einer Tochter des Generals Graf Rehbinder, die Großherzogin Luise. Sie schloß sich mit der Äbtissin in deren Privatkabinett ein, teilte Klee mit, und verließ es nach einem Gespräch von einer Stunde dunkelrot und vollständig verweint. Kein Wort über die Unterredung verlautete. Aber die Äbtissin hat ihren Verwandten mitgeteilt, daß sie den vom Vater ererbten Brief-
wechsel zwischen diesem und König Ludwig von Bayern sowie anderen Potentaten und Herrschaften bezüglich Kaspar Hauser der Großherzogin ausgehändigt habe. Der Briefwechsel ist seitdem verschwunden. Dies ist nur ein Beispiel von vielen. Ähnlich luchste die resolute Preußentochter auch ihrer Freundin Henriette von Feuerbach aus Ansbach Papiere ab, den Fall Hauser betreffend. Luisens Bitten und Drängen wird es auch zuzuschreiben sein, daß Henriette von Feuerbach, Jahrgang 1812 wie Hauser, ihr Wissen um Kaspars Schicksal mit ins Grab genommen hat. Der Neid muß es dieser Großherzogin Luise lassen: Sie war zäh und clever und unermüdlich in der Verfolgung ihrer Ziele - wie fast alle ihre "emanzipierten" Vorgängerinnen. Ja es hat nicht nur den Anschein, sondern es ist auch so, daß Generationen hindurch die ersten Damen des großherzoglichen Hauses die "Hosen anhatten". Man denke nur an Amalie, die Hochberg oder die Sophie. An Aktivität und Agilität waren sie ihren Männern haushoch überlegen. Und nicht nur dies. Die Hochberg und die Sophie waren rücksichtslos in der Verfolgung ihrer Ziele. Sie scheuten vor nichts zurück. Vor gar nichts - und verbrauchten sich dabei: die Hochberg wurde auf Veranlassen ihrer eigenen Söhne entmündigt, Sophie lebte unter der Ägide ihres Sohnes Friedrich I. einfluß- und bedeutungslos dahin, kaum beachtet, von vielen beinahe unverhohlen verflucht. Doch nun wieder zurück zu Lord Stanhope, der sich auf einmal so brennend für Hauser zu interessieren begann, und der Kaspar seine Aufwartung nicht machen konnte, da Baron von Tucher es nicht gestattete. Gerissen wie Stanhope ohne Zweifel war, versuchte er es nun anders. Sein Bindeglied war dabei der schon genannte Nürnberger Bankier Merkel, bei dem der Lord seine Kreditbriefe deponiert hatte. Über Merkel bekam nämlich Stanhope eine Einladung zum Mittagstisch im Hause des Bürgermeisters Dr. Binder. An jenem Samstag war aber noch ein anderer Mittagsgast geladen: Kaspar Hauser, der samstags seinen freien Tag hatte. Der Lord nahm den Jungen sofort für sich ein und brachte es auch zustande, daß Baron von Tucher die Erlaubnis gab, quasi Hausers Gesellschafter sein zu dürfen, solange
sich Seine Lordschaft in der Noris aufhält. Stanhope hatte es also geschafft. Und schon am nächsten Tag, am Sonntag, wurde Kaspar vom Lord höchstpersönlich mit der Chaise abgeholt. Wie staunten die Nürnberger, als das Gespann gravitätisch zum Dutzendteich hinausrollte, Kaspar neben dem Pair im Fond sitzend. Hauser war im besten Sonntagsstaat und glücklich. Ihm schmeichelte, wie liebenswürdig er von diesem Engländer, wie zuvorkommend er behandelt wurde - beinahe wie Seinesgleichen. Auf dem Dutzendteich angekommen, sahen sie einem Ballonaufstieg zu, ein immenses Ereignis dazumalen. Ehrfurchtsvoll machten die Nürnberger Platz, traten verbeugend zur Seite, als der Lord mit dem "Kind Europas" kam. Leger legte der hagere Lord, der Kaspar um anderthalb Köpfe überragte, seinen Arm um Hausers Schulter, der hingerissen war von des Pairs Gehabe. Dabei palaverte er ununterbrochen. Er erzählte vom fernen England, von seinem dortigen Schloß Chevening, vom großen, weiten Meer und den vielen, länderverbindenden Segelschiffen auf ihm. Und dann kehrten sie ein, vom Wirt des Gartenlokals ehrfürchtig und mit ungezählten Bücklingen empfangen. Einem Bettelweib, das sich auf drei Meter an den Tisch seiner Lordschaft herangewagt hatte, warf er eine handvoll Münzen zu, worauf die Glückliche ihm die Schuhe küssen wollte, was der großzügige Pair aber nicht zuließ, sondern gelassen dafür seine behandschuhte rechte Hand hinhielt. So vermittelte er den Hauch der großen weiten Welt um sich. Und die Nürnberger waren entzückt und ersterbend in Devotheit und Ehrfurcht vor Seiner Herrlichkeit Philip Henry, vierter Earl of Stanhope, der Kaspar schon am nächsten Tag einen goldenen Ring kaufte und ihn mit Konfekt und galanten Worten überhäufte. Kaspar war nicht mehr glücklich, er war selig. Ganz Nürnberg hatte kein anderes Thema als Seine Herrlichkeit und Kaspar Hauser, die nun unzertrennlich waren. Die tollsten Gerüchte kursierten durch die Gassen der Dürerstadt. Es schien so, als wollte Seine Lordschaft Aufsehen erregen, als wollte er demonstrieren. Die Frage hierbei ist nur, was er demonstrieren wollte. Seinen angeblichen Reichtum, seine Glorie
oder seine Freundschaft mit dem weltbekannten Findling von Nürnberg? Jedenfalls gefiel er sich in dieser Rolle. Und natürlich auch der Kaspar, dessen Vormund Baron von Tucher dem Treiben mit zusammengekniffenen Augen und sorgenvoller Miene zusah. Ihm behagte das ganze Getue keineswegs. Es war für ihn sonnenklar, daß der Rummel für seines Zöglings Erziehung auf jeden Fall abträglich war. Andererseits hatte er als amtlich eingesetzter Vormund des Jungen die Hauptlast der Verantwortung zu tragen. Lord Stanhope, der die zunächst stumme Reaktion des Barons sehr wohl bemerkte, ließ sich dadurch nicht im geringsten einschüchtern. Er flirtete weiter mit Kaspar, seinem "Jünglingskind": demonstrativ offen. Fünf Tage nach seiner Ankunft in Nürnberg, am 2. Juni 1831, unterzeichnete Stanhope eine Schenkungsurkunde von sage und schreibe 500 Gulden. Für kleine Leute war dies damals ein Vermögen. Die Summe sollte der Aufklärung der "widerrechtlichen Gefangenhaltung, der Aussetzung und des Mordversuchs" dienen. Damit hat Lord Stanhope gezeigt, daß er nicht nur rein menschlichen Anteil an Hausers Schicksal nimmt. Sorgfältig spann er seine Netze und umgarnte die Mücke im Spinnennetz: Kaspar Hauser. Wie wir aber heute wissen, hat Stanhope mit dieser Schenkungsurkunde nicht nur in den Kriminalfall eingegriffen. Denn der Zweck war ein Politikum. "Widerrechtliche Gefangenhaltung, Aussetzung und Mordversuch" sprich Denkzettelverpassung - mußte den bayerischen Gegenspielern von Baden unter die Haut gehen. Anderthalb Jahre vorher, genau am 6. November 1829, hatte Bayerns König Ludwig I. eine Summe in gleicher Höhe ausgesetzt. Er hat sich allerdings ausbedungen, daß dieser Betrag nur Verwendung finde für die Aufdeckung des angeblichen Mordversuchs, der sich drei Wochen zuvor ereignet hatte. Dies bedeutet, daß der Souverän zu dieser Zeit noch vermutete, der Anschlag sei von der badischen Seite aus inszeniert worden - was aber kaum möglich gewesen sein kann, da Baden Interesse daran haben mußte, den Fall unter keinen Umständen aufzubauschen. Der Denkzettel mit dem Spezialrasiermesser wird also doch von der bayerischen Falkenclique erfolgt sein. Ansonsten gibt es nur noch eine Kombination, daß auf badischer Seite ein Kreis oder, noch eher zu
vermuten, eine Einzelperson, sein, beziehungsweise ihr eigenes Süppchen kochen wollte. Beispielsweise, um zu erpressen. Einem Hennenhofer wäre dies durchaus zuzutrauen gewesen. Kaspar war halt in allem nur der Joker, an dessen Sein oder auch Nichtsein gewisse Hoffnungen und Interessen geknüpft waren. Der König hatte also keinen Kreuzer ausgeben wollen für die Ergreifung des Täters oder der Täter wegen einer "widerrechtlichen Gefangenhaltung", auch nicht wegen "Aussetzung". Das aber läßt doch aufhorchen! Des englischen Grafen Schenkung von 500 Gulden sah aber noch eine andere Klausel vor. Er bestimmte nämlich: wenn innerhalb von drei Jahren die Fahndungsmaßnahmen erfolglos bleiben sollten, dann müsse die Summe als Stammvermögen für den Findling Verwendung finden, abzüglich der angestauten Kosten für Fahndungszwecke. Die Zinsen des Vermögens sollten aber schon jetzt dem Hauser Kaspar verfüglich gemacht werden. Über die Großzügigkeit des Briten freuten sich selbst die wenigen Pessimisten in Nürnberg. Alles war eitel Sonne und lobte und feierte Seine Herrlichkeit. "Edler Brite", wurde er bald überall genannt. Und der Pair genoß die Huldigungen, ließ sich feiern und revanchierte sich durch Großzügigkeiten nach allen Seiten hin. Die Trinkgelder flossen in schwindelnder Höhe - jedenfalls für Nürnberger Begriffe, und auch die Juweliere und sonstigen Kaufleute der Noris erstarben in Ehrfurcht vor dem Lord, der nirgendwo knauserte. Er benahm sich eben wie ein Bilderbuchlord aus dem alten England - aus der Sicht dem Nürnberger: so wie diese sich einen steinreichen Mann des britischen Hochadels vorstellten. Ob aber Stanhope tatsächlich so reich war wie er sich gab, darf stark bezweifelt werden. Es gab nämlich schon zu Hausers Zeit Stimmen, die behaupteten, aus gut informierten Quellen zu wissen: um des Oberhausmitglieds Finanzen stände es gar nicht gut, er sei sogar gezwungen, politische Zwischenträgerdienste zu machen und Agentenaufträge anzunehmen. Gut bezahlte, versteht sich. Habe er zwischenzeitlich solche mal nicht gehabt, dann habe es flau ausgesehen in seiner Reisekasse. Das könnte stimmen, darf angemerkt werden: Abstieg in einer billigen Herberge!
Nun aber hatte er Geld, der vierte Earl of Stanhope. Wahrscheinlich nicht aus seiner Privatschatulle, sondern von seinen Auftraggebern in Baden. Darauf deuten auch die Kreditbriefe. Ein Faktum ist jedenfalls, daß die Vermögensverhältnisse Lord Stanhopes offiziell nie offenkundig geworden sind. Nur eines dürfte feststehen: So reich, wie sich der Graf gegeben hat, war er nie gewesen. Und dennoch gab er insgesamt Tausende von Gulden - die notarielle Verschreibung der erwähnten 500 Gulden nicht eingerechnet - für Entdeckungsreisen nach Hausers Herkunft aus. Alle diese Entdeckungsfahrten konnten nur einem Zwecke dienen: von Hausers wirklicher Herkunft abzulenken, den Fall verwirrter zu machen, die Fabel zu steuern und zu lenken, auf das Gebiet romantischer Schwärmerei auszuweichen. Auch dieses Vorhaben ist gelungen. Lord Stanhope, der Glücksritter auf schmalen politischen Graten, hat vortreffliche Arbeit geleistet, das Seine zur Vertuschung beigetragen. Auch er ist nie von einer Behörde unter die Lupe genommen worden. Seine Herrlichkeit war unantastbar, obgleich sein Gebaren mehr als auffällig war - schon zu seiner Zeit mit Kaspar. Weder dem Baron von Tucher noch dem Professor Daumer war der Lord geheuer. Wer je in die Mangel kam im Falle Kaspar Hausers, das waren unbedeutende Leute, kleine Fische oder Persönlichkeiten, die nicht mehr unter den Lebenden weilten. Der wahre Hintergrund wurde behördlicherseits sorgsam ausgespart, weil sich keiner mit dem Mächtigen anzulegen getraute. Auch Präsident von Feuerbach nicht, wie wir wissen. Sein streng geheim gehaltenes Mémoire wagte er nur deshalb zu schreiben und der bayerischen Königinwitwe Karoline zu übersenden, weil ihm der Schutz des Königshauses zugesagt worden war. So war es damals. Und deshalb auch konnte Stanhope in Nürnberg faktisch machen was er wollte. Und wie er das tat! Er überhäufte Kaspar mit wertvollen Geschenken und setzte ihm Flausen in den Kopf, die dieser bereitwillig annahm. Die von Pirch'schen Sprachversuche im Hintergrund, deutete der Lord dem Kaspar an, er sei wahrscheinlich der Sohn eines ungarischen Magnaten, "... man erwarte von ihm, daß er seine Untertanen mit Schonung und Liebe behandeln werde ..." Und der Junge fiel auf dieses gesponnene Garn herein.
Aber nicht nur er, sondern ausnahmslos alle, die etwas zu sagen hatten und tätigen Anteil am Schicksal Hausers nahmen. Selbst ein Ritter von Feuerbach und ein Baron von Tucher. Will heißen: Lord Stanhope hat es meisterlich verstanden, seine Umwelt einzulullen. Seine Auftraggeber hatten den richtigen Mann geschickt. Freilich gelang ihm das bei Männern wie Feuerbach oder Tucher nur für eine Weile. Aber diese Zeitspanne hatte genügt, den Fall noch verwickelter zu machen und abzulenken von den wahren Ursachen und Hintergründen. Stanhope arbeitete schnell und mit beträchtlichem Aufwand. Den Jungen Kaspar voll für sich einzunehmen war eine Kleinigkeit. Deshalb konnte der Lord schon Anfang Juni weiterreisen. Den ruhelosen Wanderer zog es zunächst einmal nach München. Schon auf der Fahrt und von Bayerns Hauptstadt selbst aus schrieb er Kaspar ellenlange Briefe, die vor Sentiment nur so trieften. So schrieb er aus München: Mein lieber Freund! Ich schicke Dir hiermit eine Sammlung von allen den Sorten Siegellack, die man hier verfertigt, und von denen einige wohlriechend sind, und andere nicht. Ich wünsche auch, ein Petschaft für Dich zu finden, mit einem Sinnbilde darauf wie zum Beispiel das Bild der Hoffnung. Vertrauen auf Gott und Hoffnung, daß seine Güte Dich zur rechten Zeit zum Ziele führen wird, sollen immer in Deinem Herzen sein ... Und dann läßt der Briefschreiber sachte und geschickt sein Kätzchen aus dem Sack, um den Jungen noch mehr auf seine Seite zu ziehen. Zurückkommend auf persönliche Gespräche in Nürnberg, wo er ihm angedeutet hatte, ihn einst mit nach England zu nehmen, auf Schloß Chevening, vielleicht sogar für immer, fügte der dunkle Lord in seinem Schreiben hinzu: Du wirst bald eine Reise machen, die Du sehnlichst gewünscht hast, und die, wie ich hoffe und glaube, von sehr großer Wichtigkeit sein wird ...
Mit so feingesponnenem Netz wurde der Findling Kaspar Hauser bewußt jenen Menschen entfremdet, die echten und uneigennützigen Anteil an seinem Geschick nahmen, allen voran seinem Vormund Baron von Tucher, diesem grundgütigen und gerechtdenkenden Mann. Es war ausgemachter Firlefanz, wenn ein Stanhope den Vorschlag machte, mit Kaspar Hauser eine Ungarnreise zu machen. Um des lieben Friedens willen und um ja keine Möglichkeit ungeschöpft zu lassen, war Vormund von Tucher damit einverstanden, mit Hauser und Oberleutnant Hickel die Reise ins Land der Magyaren anzutreten. Der Lord finanzierte auch diese, blieb aber "daheim", ging nicht mit nach Ungarn. Am 3. Juli 1831 fuhr denn das seltsam anmutende Trio von Nürnberg ab - mit falschen Papieren übrigens! Baron von Tucher als ein Herr von Taufstetten, Gendarmerieoberleutnant Hickel als von Taufstettens Diener und Kaspar als ein Karl Heinlein. Ergebnis der beschwerlichen Reise - sie kamen nur bis Preßburg, kehrten dort aber wegen einer ausgebrochenen Choleraepidemie zurück -: gleich Null. Heute kann man sagen: Weshalb denn in die Fenne schweifen, wo die Wahrheit doch so nahe lag! War nun der Lord enttäuscht? Keineswegs. Ganz im Gegenteil! Er warb weiter, intensiver als je zuvor um Kaspar, der Stanhope blindlings vertraute. Spontan schenkte ihm der Lord 100 Gulden nach dieser Reise. Kaspar kannte nur noch eines: Seine Herrlichkeit. Er sah sich bereits als angenommener Sohn des Lords auf Schloß Chevening in England. Wer kann es ihm verübeln! Weit raffiniertere Typen wären auf diesen Leim gekrochen als unser Kaspar je hätte werden können. Aber es konnte nicht ausbleiben, war sicher vom Lord auch bezweckt, daß Kaspar von Tucher entfremdet wurde. Der Baron war ein Mensch, der bei aller Güte auf eine gewisse Ordnung und Strenge hielt, der letztlich nur das erzieherische Wohl seines Mündels im Auge hatte. Vor allem war er kein Schmeichler wie Stanhope, kein Augenwischer. Die Auseinandersetzungen zwischen Vormund und Zögling mehrten sich. Kaspar wollte von Tucher nichts mehr wissen, war undankbar und voll auf des Engländers Seite. Schließlich kam es auch zu Auseinandersetzungen zwischen Tucher und Stanhope. Ersterer machte dem Pair den Vorwurf, er entzweie ihn von seinem Mündel.
Und damit hatte der Nürnberger Baron ja auch recht. Das Hin und Her eskalierte endlich derart, daß Baron von Tucher ein Ultimatum stellte: Entweder, so bedeutete er dem Lord, ziehe er sich von Hauser zurück, und zwar radikal und für immer, oder er möge den Kaspar gefälligst ganz zu sich nehmen. Vernehmen wir darüber von Tuchers eidliche Aussage nach Hausers Ermordung, datiert vom 8. Februar 1834: ... Ich kann nun bei meinem geleisteten Eide versichern, daß ich während der anderthalb Jahre, welche Hauser in meinem Hause zubrachte, und ehe Lord Stanhope nach Nürnberg kam, kein einzigesmal Veranlassung zum Tadeln, noch viel weniger zum Schelten bekam, und nur das Einzige meine Mißbilligung erhielt, daß er durch allzu angestrengtes Lernen seinem Körper schade. Es beweist dies hinreichend, daß in seinem Wesen keine natürliche Bösartigkeit war, und es bei seinem Leichtsinne nur einiger Aufsicht und konsequenter, kräftiger Behandlung bedurft hätte, um ihn vor dem Fehler der Lügenhaftigkeit und Eitelkeit zu bewahren und ihn sukzessive durch Gewöhnung ans Gute wieder auf die rechte Bahn zu leiten. Leider konnte aber der eingeschlagene, durch die Erfahrung als der beste erprobte Weg nicht lange verfolgt werden. Lord Stanhope, welcher große Zuneigung zu dem Jungen gewann, übte einen gerade hinsichtlich der beiden genannten Fehler höchst nachteiligen Einfluß auf ihn aus, was mich zwang, meiner Vormundspflicht gemäß, jenen zu bitten, er möge sich aller, für den moralischen Charakter Hausers nachteiliger Insinuationen enthalten oder mich der Verantwortlichkeit eines Vormundes dadurch entheben, daß er die fernerweite Vorsorge für meinen Kuranden übernehme. Lord Stanhope wählte das letztere, worauf sich die Führung meiner Vormundschaft endigte, und ich von meiner Oberkuratelbehörde vollkommen dechargiert wurde. Das geschah ... im November 1831. Lord Stanhope hat erreicht, was er wollte: im gleichen Monat, in welchem Tucher seine Vormundschaft niederlegte, wurde Stanhope gerichtlich zu Hausers Pflegevater bestellt. Damit war Hausers Nürn-
berger Zeit beendet. Denn kaum war der Lord Kaspars Pflegevater geworden, spann er seine Fäden nach Ansbach hinüber zu Präsident von Feuerbach, der eben dabei war, sein Hauser-Buch vom "Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben" fertigzustellen. Die Absicht des Grafen war nämlich, seinen Pflegesohn von Nürnberg weg nach Ansbach zu bringen. Ganz ohne Rachegelüste war er natürlich nicht, der "edle Brite". Es hatte ihm mächtig gewurmt, daß er just von Baron Tucher so viel Widerstand entgegengesetzt bekommen hat. Mit Nürnberg schien er fertig zu sein. Am 10. Dezember 1831, ganz kurz nach seinem gerichtlichen Bestellung zum Pflegevater, packte er samt Kaspar seine Koffer und verdrückte sich nach Ansbach, 42 Kilometer von der Noris entfernt. Während seine Lordschaft im Hotel "Goldener Stern" an der Promenade standesgemäß logierte - man könnte fast sagen Hof hielt -, kam Kaspar durch die Vermittlung Feuerbachs zu dem Volksschullehrer, Mesner und Organisten Johann Georg Meyer in Kost und Logis; auch Unterricht bekam er dort - alles auf Kosten Stanhopes. Und der hat es mit Sicherheit nicht aus eigener Tasche bezahlen müssen. Bei Feuerbach nun, da konnte der Brite alles erforschen und herauskriegen, was amtlich und auch darüber hinaus im Falle des Findlings eruiert worden ist. Ja, Feuerbach gestattete Seiner Lordschaft sogar Einblick in die Akten. Wochenlang blieb Stanhope in Ansbach, bis zum 19. Januar 1832. Beinahe täglich verkehrte er dort mit Präsident von Feuerbach, in dessen Haus in der Karolinenstraße er häufig dinierte. Ritter von Feuerbach nun trat dem englischen Grafen voller Aufrichtigkeit entgegen. Er hatte keinerlei Argwohn, sondern hielt Stanhope für einen wohlmeinenden, großzügigen Mann des Hochadels. Es dürfte sicher sein, daß er von Feuerbach so ziemlich alles erfahren hat, was es bis dahin im Falle Kaspar Hauser zu erfahren gab. Und natürlich bekam der Graf auch das Manuskript des HauserBuches zu lesen. Das ist sogar sicher überliefert, denn Seine Herrlichkeit war von diesem Feuerbach'schen Werk so sehr beeindruckt, daß er dem Autor anbot, es ins Englische zu übersetzen. Feuerbach schreibt darin zum Beispiel über Hauser:
Die außerordentliche, fast übernatürliche Erhöhung seiner Sinne hat ebenfalls gegenwärtig ganz nachgelassen und ist beinahe auf das gewöhnliche Maß herabgestimmt ... Von der Riesenhaftigkeit seines Gedächtnisses und anderen staunenswerten Eigenschaften ist keine Spur mehr zu finden. Nichts Außerordentliches ist mehr an ihm als das Außerordentliche seines Schicksals und seine unbeschreibliche Güte und Liebenswürdigkeit. Lord Stanhope war begeistert von Feuerbachs Beobachtungsgabe und Scharfsinn. Er machte daraus gar kein Hehl, sondern lobte den Autor in den höchsten Tönen, aber auch "seinen" Kaspar. Der Präsident fühlte sich geehrt und geschmeichelt. Wer ihm diese Laudatio da zelebrierte, war ja nicht irgendwer, sondern ein weit-gereister Mann der Hocharistokratie. Feuerbach revanchierte sich für die vorgegebene Großmut des Lords, indem er sein Buch dem Lord widmete und im Vorwort schrieb: Niemand hat nähere Ansprüche auf diese Schrift als Eure Herrlichkeit, in dessen Person die Vorsehung dem Jüngling ohne Kindheit und Jugend einen väterlichen Freund, einen vielvermögenden Beschützer gesendet hat. Jenseits des Meeres, im schönen Alt-England, haben Sie ihm eine sichere Freistätte bereitet, bis die aufgehende Sonne der Wahrheit die Nacht verdrängt, welche über dem geheimnisvollen Schicksal dieses Menschen liegt. Vielleicht, daß den Rest seines zur Hälfte gemordeten Lebens noch Tage erwarten, um deretwillen er es nicht beklagen wird, das Licht dieser Welt gesehen zu haben. Für solche Tat kann nur der Genius der Menschheit Ihnen vergelten. In der großen Wüste unserer Zeit, wo unter den Gluten eigensüchtiger Leidenschaft die Herzen immer mehr verschrumpfen und verdorren, endlich wieder einem wahren Menschen begegnet zu sein, ist eines der schönsten und unvergeßlichsten Ereignisse meines abendlichen Lebens. Mit inniger Verehrung und Liebe
Eurer Herrlichkeit gehorsamster Diener von Feuerbach. Armer Präsident! Also auch er, dieser bedeutende Rechtsgelehrte und Kriminologe, fiel auf des Briten Gehabe herein. Andererseits zeugen diese Zeilen vom diplomatischen Geschick und Können des Lords. Wer es fertigbrachte, einen Feuerbach derart zu umgarnen, der muß sein Handwerk als meisterlicher Fadenknüpfer, als großzügig und liebenswürdig erscheinender Mann von Welt verstanden haben. Fürwahr, die Auftraggeber wußten schon, wen sie in die Arena entsandten Nach diesen Widmungsworten braucht niemand mehr daran zu zweifeln, daß Stanhope von Feuerbach alle Informationen bekommen hat, die er benötigte: zur Weiterleitung an seine Auftraggeber. Feuerbach wußte also, daß er am Abend seines Lebens angelangt ist. Tatsächlich starb er auch anderthalb Jahre später, und wie schon einmal gesagt, steht es bis heute nicht fest, ob er auch wirklich eines natürlichen Todes gestorben ist oder ob er vergiftet wurde. Jedenfalls hat sich das Klima zwischen Feuerbach und Stanhope in diesem Zeitraum merklich abgekühlt. Ob er ihn allerdings je ganz durchschaut hat, diesen sonderbaren Menschenfreund, blieb unbekannt. Des Lords ganze Entfaltung im Falle Hauser hat er ja nicht mehr erleben müssen, nämlich Seiner Herrlichkeit Kehrtwendung um 180 Grad: vom Pflegevater zum erbittertsten Hauser-Gegner, der sein "Jünglingskind" selbst mit den unfairsten Methoden, ja mit den hinterhältigsten Mitteln zum Betrüger stempeln wollte. Dies alles nach dem Tod seines Pflegesohnes Kaspar. Da erst hatte er seine Taktik geändert und wurde von einem Paulus zum Saulus. Nach dem Ende Hausers kam es dem Lord darauf an, aus dem gemordeten Pflegesohn einen Hochstapler zu machen - alles Dienste der Ablenkung von den wahren Hintergründen des Falles, vor allem von den beteiligten Gruppen daran. Wahrscheinlich, daß er dabei sogar als Doppelagent gearbeitet hat: für die Spieler und Gegenspieler um den Joker Kaspar Hauser, für bayerische wie badische Kräfte, die da einst am Werk waren. Aber noch sind wir nicht so weit. Noch fährt seine Lordschaft samt Pflegesohn in den Chaise über das holperige Pflaster der Gassen und
Straßen der einstigen markgräflichen Residenzstadt Ansbach. Dem Lord gefiel es in diesem Städtchen sichtlich. Hier wehte noch Hofluft von einst. Die Menschen waren freundlich und devot-ehrfürchtig, sahen in ihm den steinreichen Hocharistokraten, eine Art Ersatzmarkgrafen und bückten sich fast bis auf den Boden, wenn Lord und Pflegling huldvoll zur Chaise hinausgrüßten. Wer schon konnte ahnen, daß sich in dieser Stadt das Schicksal des mittlerweile schon weltbekannten Findlings auf eine grauenvolle Art erfüllen sollte! Ohne Zweifel war dieses Ansbach Dreh- und Angelpunkt des gesamten HauserFalles. Hier liefen die Fäden zusammen, prallten die Interessen aufeinander. Und Kaspar mittendrin. Wie die Fliege im Mittelpunkt des feingeknüpften Gewebes. Im Moment aber noch unter dem Schutz Feuerbachs. Natürlich waren die Ansbacher nicht nur devot. Insgeheim tuschelten sie auch, wenn sie das auffallende Getue Seiner Lordschaft sahen: wenn er seinen Zögling liebevoll beim Abschied vorm Hotel "Goldener Stern" ein über das andere Mal umarmte. Kaspar aber ließ sich willig die Tätscheleien gefallen und küßte seinem Pflegevater artig die goldberingte Hand, sicher nicht ahnend, daß dieser mitunter vielleicht auch andere Gedanken als reine Vaterliebe dabei gehabt hat. Das Vater-Sohn-Paar muß auch für damalige Verhältnisse komisch gewirkt haben: dem spleenige, baumlange Lord, konservativ gekleidet, jedoch nicht altmodisch, und daneben der Kaspar in moderner Biedermeierkluft, Seiner Herrlichkeit nicht einmal bis zu den Schultern reichend. Mögen die einfachen Leute bei aller Ehrfurcht oftmals geschmunzelt haben - in den Salons der gesellschaftlichen Stadtspitze wurde der Lord wie vor allem auch Hauser mit offenen Armen aufgenommen. Die jungen Damen dieser Häuser rissen sich förmlich um Kasparus Hauser, dem dies sichtlich wohltat. Wer will's ihm auch verargen! So manch kleines Salongänschen mag sich in Gedanken schon als Schloßherrin in England gesehen haben oder als Magnatin im Magyarenland. Es wurde ja so allerhand geflüstert über diesen jungen Mann, von dem alle Welt schrieb und sprach. Und nun ist er leibhaftig in Ansbach "gelandet" - bei einem Schulmeister hinten in
den Pfarrstraße, gegenüber dem Appellationsgericht, dem von Feuerbach vorstand. In der Tat muß es auch für Kaspar komisch gewesen sein, wenn er einen der Salons oder das komfortable Hotel "Stern" am Abend verließ und zurück mußte in seine Kleinbürgerbude bei Lehrer Meyer, wo ihm täglich seine "Hausmannskost" vorgesetzt wurde. Nie würde es Lehrer Meyer und seine blutjunge Gattin vergessen, als Seine Herrlichkeit höchstpersönlich vor der Tür stand, um seinen Kaspar gleichsam abzuliefern. Meyers Rückgrat wollte schier nicht mehr hochkommen, bevor er den hohen Gast in den "Salon" führte. Und Jettchen, seine Ehehälfte, nicht recht viel älter als ihr künftiger Logiegast, wurde ein über das andere Mal rot. Ob wegen des Lords oder wegen Hauser, das wußte sie selbst nicht recht. Ein Schimmer aber jener Ehrfurcht, die er dem Lord entgegenbrachte, fiel auch auf Hauser ab - solange der Pair noch in Ansbach weilte. Meyer war eben in allem der Prototyp eines Subalternen - vom ganzen Habitus, von der Beschaffenheit her. Später freilich wurde auch dieser Meyer neben Stanhope der erklärte Gegner des Kaspar Hauser. Freilich auf ganz anderer Ebene. Als des Lords Kutsche an jenem bitterkalten 19. Januar 1832 die Silhouette dieser ebenso liebens- wie sehenswerten Stadt Ansbach hinter sich gelassen hatte, blieb ein Kaspar zurück, der zum Gotterbarmen heulte. Nur unter viel Mühe gelang es Feuerbach, den Jungen zu beruhigen. Wahrscheinlich schon im Mai sei es ja soweit, habe der Lord zugesagt. Dann komme er wieder, um ihn für immer zu sich zu nehmen, mit rüber nach England. Bis dahin müsse er sich schon noch gedulden. Wer jedoch nicht mehr kam, das war Graf Stanhope. Hauser hat ihn nie wieder gesehen. Es war ein Abschied für immer gewesen. Nur Briefe sandte Stanhope seinem Pflegesohn Kaspar, massenhaft sogar. Und einer war schwulstigem als der andere. Kaspar war darüber glücklich und hielt sich an ihnen aufrecht. Der Lord aber fuhr schnurstracks von Ansbach nach Mannheim, dem Witwensitz der Großherzogin Stephanie, Hausers Mutter, woran heute niemand mehr zu zweifeln braucht. Was der Dunkelgraf dort
machte, konnte nie in Erfahrung gebracht werden. Nur ahnen läßt es sich. Denn: einige Monate darauf erschien die Großherzogin Stephanie höchstpersönlich mit zwei ihrer Töchter in Ansbach. Inkognito natürlich. Im Hofgarten beobachteten sie den spazierengehenden Kaspar, der arglos an ihnen vorbeistolzierte. Es war im gleichen Hofgarten, in dem er anderthalb Jahre darauf erdolcht wurde. Dieser Ansbacher Hofgarten aber ist einer der schönsten in ganz Deutschland. Im wesentlichen ein Werk der überaus kunstsinnigen Markgräfin Christiane Charlotte. Wir kommen auf diese großherzogliche Stippvisite noch ausführlicher zu sprechen. Nach des Lords Spruchbeuteleien war also für die Zukunft Kaspars gesorgt. Immerhin hat sich Stanhope sogar schriftlich verpflichtet, daß auch über seinen Tod hinaus für den Jungen gesorgt würde. Kaspar sah sich bereits in England auf Schloß Chevening, dem Stammsitz der Stanhopes. Er fieberte stündlich diesem Tag entgegen. Wozu dann noch der ganze Unterricht bei Meyer?, diesem süffisanten Schulfuchser, 32 Jahre alt. Von Kaspars Warte war dies durchaus verständlich. Nicht so für Meyer, diese eigenartige Leuchte der Pädagogik. Er hielt auf pedantisch-strenge Ordnung. Zwar lernte Kaspar brav seine Lektion, aber mit so ganzen Herzen war er nie bei der Sache. Hätte er Englisch lernen müssen, Meyer hätte kaum je einen besseren Schüler unter seinem Rohrstock gehabt. Der praktisch veranlagte Kaspar würde gepaukt haben bis in die Nacht hinein. Meyer hatte aber für solche Sperenzchen kein Verständnis. Er war ein spröder, ein trockener Pinsel. Völlig humorlos, aber nicht unbegabt. Neben seinem Lehrer- und Kirchenamt versah er später den Posten eines Schriftleiters der in Ansbach erscheinenden Zeitung. Schrieb auch ganz ordentlich, was man ihm lassen muß. Aber als Erzieher eines Kaspar Hauser - für so einen komplizierten Fall war er untauglich, eine Schuhnummer zu klein. Für Dinge, die über seinen begrenzten Horizont hinausgingen, hatte er keinerlei Verständnis. Seine Ansbacher Schulstube war für ihn eine Welttribüne. Zögling Kaspar aber hatte den Hauch der großen weiten Welt geschnuppert. Die kurze Zeit bei Stanhope hatte ihn ahnen lassen, daß es etwas gibt, wovon die meisten Menschen nicht einmal zu träumen wagen. Man muß dies
verstehen, um zu begreifen, weshalb dieser Johann Georg Meyer für den Jungen der ungöttlichste Erzieher war, den es geben konnte. Der einfachste Student hätte diese zugestandenermaßen sicher nicht einfache Aufgabe weit besser gelöst als der Querulantentyp Meyer. Und er war ein solcher, wie pflichtigst noch bewiesen wird. Arme Ansbacher Schulkinder, die diesen rechthaberischen, starrköpfigen Mann erdulden mußten, ihm ausgeliefert waren. Nach oben ducken, nach unten treten - ein Beinahe-Wahlspruch der Meyer'schen Lebensansicht. Ihm fehlte jeder Hauch von Großzügigkeit im Denken und Handeln. Seine Starrköpfigkeit ließ dies nicht zu. Hauser aber versuchte zu vergessen: seinen tristen Alltag in der Pfarrstraße und seine Sehnsüchte nach dem Lord und nach England. Möglichkeiten zum Vergessen gab es genug für ihn. Die Häuser der angesehensten Familien standen ihm in Ansbach offen, das damals an die 13000 Einwohner hatte. Regelmäßig verkehrte er denn beim Generalkommissär von Mieg in dessen Präsidentenpalais gegenüber der Prunkfassade des Schlosses, bei Anselm von Feuerbach, der Pflegevater Stanhope vertrat, und in der Familie des Oberleutnants Hickel, der zu seinem "Spezialkurator" ausersehen worden war. Natürlich auch bei all den anderen ranghohen Familien des Städtchens und bei Pfarrer Fuhrmann, der ihn später auf die Konfirmation vorbereitete. Weshalb er eigentlich im protestantischen Glauben erzogen wurde, ist noch heute schleierhaft. Alle seine wenigen Mitbringsel in die Welt von Nürnberg, Rosenkranz und Traktätchen, deuteten doch darauf hin, daß er wahrscheinlich katholisch getauft war. Aber vielleicht hat man es im protestantischen Ansbach als Selbstverständlichkeit genommen, dem Hauser evangelische Erziehung angedeihen zu lassen. Auch in Nürnberg hatte er ja hin und wieder Religionsunterricht von einem evangelischen Geistlichen bekommen. Die katholische Gemeinde Ansbach war dazumalen recht klein. Ein bescheidenes Häuflein, das seine Gottesdienste in einem hübschen, barocken Betsaal abhielt, der heutigen Karlshalle, im Besitz der Stadt Ansbach. Seit aber Ansbach zu Bayern gekommen war, 1806 im Jahr,
hatten die Katholiken der einstigen Markgrafenstadt einen Protektor in der Person des Bayernkönigs, zuerst Max I. Joseph, spätem dann Ludwig I. Ludwigs Namen trägt denn auch das Gotteshaus der katholischen Pfarrgemeinde auf dem Karlsplatz, ein mächtiges Bauwerk in neuklassizistischem Stil. Ludwig hatte ein Faible dafür. Kaspar hat aber das vollendete Bauwerk, das 1840 eingeweiht wunde, nicht mehr gesehen. Hauser lebte sich also in Ansbach so recht und schlecht ein. Kaum jemand, der ihn nicht kannte. Wer ihn aber verhätschelte und umwarb, das war Ansbachs Damenwelt. Kaspar hatte sich ja auch zu einem hübschen jungen Mann mit gutem Benehmen gemausert, war artig bis liebenswürdig und nicht ohne Eitelkeit. Dazu war er ein flotter Tänzer, der so schnell keinen Ball ausließ. Verständlich, wenn im Lauf der Monate Ansbachs Männerwelt in Kaspar einen Einbrecher sah. Einen Einbrecher in die Herzen so mancher Schönen. Daß Kaspar in sexueller Hinsicht einem Kinde glich, machte die Sache dabei nicht besser. Die reiferen Damen der Gesellschaft sahen sich einander verständnisvoll an, wenn Hauser mit den Mademoiselles über das Parkett huschte. So manche Hoffnung mag dabei mitgespielt haben, wurde doch mehr denn je über die Herkunft dieses sonderbaren Findlings gemunkelt und getuschelt. Nicht wenige waren es, die kritiklos an Kaspars fürstliche Abstammung glaubten. So manche romantische Mixtur wurde da zusammengebraut. Dies alles kam nach Kaspars Tod seinen Feinden mehr als gelegen. Sie schmiedeten auch daraus ihre Waffen, indem sie die kritiklosen Gläubigen und Eiferer, die keinerlei Fakten in den Händen hatten, der Lächerlichkeit preisgaben. Und die tötet bekanntlich mehr als das beste Argument. Freilich, der Wahrheit kam man auch dadurch keinen Deut näher. Der Kaspar aber stand zwischen all den sich bildenden Meinungen. Nie hat er Stellung bezogen in dem Hin und Her seiner vermuteten Abstammung. Wahrscheinlich, daß Feuerbach dem Jungen geraten hat, sich aus solchen Ventilationen herauszuhalten. Kaspars Blick war nach England gerichtet. Dort hoffte er, eine endgültige Heimat zu finden, geborgen bei seinem Pflegevater Stanhope. Ansbach betrachtete er zunächst nur als eine Durchgangsstation, als einen vorübergehenden Aufenthalt.
Wie nun gesagt, wurde Gendarmerie-Oberleutnant Joseph Hickel, damals 37 Jahre alt, dem Hauser als "Spezialkurator" zur Seite gestellt. Ein echter Polizeischutz konnte dies natürlich nie und nimmer sein. Es war eine Farce. Denn Hickel war viel auf Reisen und keineswegs ständig um Kaspar herum. Ging Kaspar aus, dann latschte nicht selten der Bursche des Offiziers hinter Kaspar her, manchmal ganz einfach auch die Magd der Hickels. Kaspar genierte sich denn auch furchtbar darüber und war dann immer sauer. Im Juli 1832, sieben Monate nach seiner Ankunft in Ansbach, hatte er die Schnauze voll von diesem sonderbaren Polizeischutz. Auch Feuerbach schien sie gestrichen voll zu haben. Jedenfalls blies der Präsident die ganze Aktion ab, die ja eh nicht viel Wert gehabt hat. Mit Oberlehrer Meyers Einverständnis durfte sich Kaspar fortan alleine bewegen, ohne Stallknecht oder Magd. Allerdings verstieß dabei Gerichtspräsident von Feuerbach gegen einen Befehl seines Königs, der diesen Polizeischutz angeordnet hatte. Eigentlich unverständlich, diese Eigenmächtigkeit. Aber München war weit, und die Ansbacher fühlten sich noch nicht so richtig bayerisch. Auf den Tag genau einen Monat nach des Lords Abreise, machte sich Hickel wieder einmal auf die Socken, natürlich in Sachen Hauser. Die zweite ungarische Reise stand auf dem Plan, vom Lord wiederum finanziert. Diesmal fuhr der Polizeimann alleine, um Kaspars Magnatentum an Ort und Stelle nachzugehen. Zuerst aber machte Hickel einen Abstecher nach München, wo er dem bayerischen Königinwitwe Karoline Feuerbachs streng geheim gehaltenes Mémoire überreichte. Dann ging's über Wien nach Ungarn hinein, wo er den Dompfaffen Müller und die Dalbonne aufsuchte, um sie auszuhorchen. Doch der Dompfaff hat ihm eins gepfiffen. Und die Dalbonne auch. Längst schon standen sie unter dem Schutz Metternichs und damit unter dem Protektorat des Kaisers. Gespielte Nervenzusammenbrüche waren nicht mehr notwendig. Von ganz oben wünschte man, daß Gras über die Sache wächst. Was ist dagegen ein kleiner Gendarmerie-Oberleutnant aus dem unbekannten Ansbach, der dazu noch im Auftrag eines Privatmannes, eines englischen Lords, daher-
kutschiert kam. Müller wie die Dalbonne haben mittlerweile kapiert, woher der Wind weht. So kehrte denn Hickel unverrichteter Dinge wieder zurück ins heimatliche Ansbach - wie es gar nicht anders sein konnte. Unter dem 23. Mai erstattete er dem Finanzier und Auftraggeber untertänigsten Bericht über die ungarische Pleite. Seine Lordschaft aber gab sich nun bitter enttäuscht. Angeblich fing Stanhope an zu zweifeln, zwar nicht an Gott und der Welt, aber an Hauser und seinem Magnatentum. Das aber war faustdicke Heuchelei. Denn Stanhope wußte sehr wohl, daß die angeblichen Fingerzeige in Richtung Ungarn Humbug sind. Und wäre er nie in badischen Diensten gestanden, dann hätte er spätestens seit seinem wochenlangen Aufenthalt bei Feuerbach in Ansbach gewußt, wo die Wünschelrute auf der Suche nach Kaspars Herkunft ausgeschlagen hat. Immerhin hatte es der "edle Brite" ja fertiggebracht, das volle Vertrauen Anselm von Feuerbachs zu erschleichen. Und dies mit Methoden, die bestimmt nicht den feinen englischen Kavalier auszeichnen. Just zur Zeit des Stanhop'schen Aufenthaltes in Ansbach hatte der Gerichtspräsident sein Mémoire für die Königinwitwe zusammengestellt und zu beweisen versucht, daß jener Mensch, der Kaspar Hauser genannt wurde, nichts anderes ist als der ehelich geborene Sohn des badischen Großherzogpaares Karl und Stephanie, die der Lord ja erst besucht hatte. Seinen Zweifel ungeachtet, schrieb er aber seinem Pflegesohn Kaspar ellenlange Briefe, worüber dieser überglücklich war. Das war so vor dem Hickel'schen Bericht vom Mai 1832 und auch noch hernach. Vernehmen wir einen seiner Ergüsse, den vom 19. April '32: Es freut mich herzlich, daß dein erster Beschützer, der gute Bürgermeister Binder, dich besucht hat, und ich bitte dich, ihn, den Herrn Schuhmann [für die Hauser-Sache zuständig beim Ansbacher Appellationsgericht - der Autor] und meine übrigen Freunde bestens von mir zu grüßen. Ich schreibe selbst an den Präsidenten und an Herrn Meyer, dessen Brief mir eine innige Freude gemacht hat. Die
Empfindungen, die du mir schilderst, haben mich unendlich erfreut, und ich schätze mich sehr glücklich, daß ich deine Zufriedenheit und dein Wohlsein, mein geliebter Pflegesohn, gefördert habe. Ganz gewiß weiß ich, daß ich deine Liebe und Freundschaft, die mir so sehr das Leben versüßen, immer genießen werde, wie auch, daß ich niemals aufhören werde, sie zu verdienen, und dein Glück wird immer das meinige vermehren ... Alter Heuchler, ist man versucht zu sagen. So viel Süßholz auf einen Schlag. Und dabei hegt er angeblich erste Zweifel, daß an Hausers Aussagen so manches einfach nicht stimmen könne. Warum, darf noch nachträglich gefragt werden, diese Zweifel erst jetzt? Warum sind sie ihm nicht beim Studium der Akten oder beim Lesen des Feuerbach'schen Buches gekommen? Aber wie gesagt, so waren sie alle, die Stanhop'schen Schriebe an seinen "innigstgeliebten Pflegesohn". Kaum aber war dieser Kaspar unter der Erde - noch im gleichen Monat fing er seinen systematischen Feldzug gegen ihn an, um den armen Kerl zum Betrüger abqualifizieren zu können. Und wie Stanhope, so heuchelte auch der Lehrer Meyer samt seinem angetrauten Jettchen. Dieses traute Pärchen heuchelte so sehr, daß es noch heute zum Himmel stinkt. Während der Herr Pädagoge devote Briefe an den Lord schickte, in denen er den Fleiß und die Bravheit des Kasparus Hauser in den höchsten Tönen lobte, griff seine Frau zum Federkiel und schrieb der Madame Biberbach, die einst dem Kaspar nachstellte: Schon nach dem ersten Besuche Hausers glaubte mein Mann, daß er nicht frei von Verstellungen sei, daß er es verstehe, so zu sprechen, um ein erwünschtes Urteil für sich zu gewinnen, und daß in seinem Wesen etwas Verstecktes liege. Ich hielt das Urteil meines Mannes für zu schnell und wollte es durchaus nicht gelten lassen. Allein kurze Zeit nachher mußte ich ihm ganz beistimmen, nachdem wir mehrmals Gelegenheit gehabt hatten, zu bemerken, wie er es verstand, denen zu schmeicheln, die mit besonderer Vorliebe und
übertriebener Zuneigung ihm huldigten. Wenn er darauf abgerichtet gewesen wäre, hätte er den gutmütigen Grafen zu keinen schicklicheren Augenblicken küssen und streicheln können, als zu denen er 's wirklich auf eine zu übertrieben freundliche Weise getan hat ... Datiert ist dieser Brief vom 18. April 1832. Das heißt: er wurde einen Tag vor dem weiter oben angeführten Brief des Lords an Kaspar geschrieben. Darin aber spricht der Graf von der "innigen Freude", die ihm ein Brief des Schullehrers Meyer über Kaspar gemacht hat. Also doch Heuchelei. Den Jette'schen Zeilen vorausgegangen war ein langer Brief der Klara Biberbach an Frau Meyer, datiert vom 19. Februar des gleichen Jahres. In süffisant-bösartiger Weise ließ sich da die Biberbach über Kaspar aus. Wir wissen weshalb. Die Dame fühlte sich verletzt. Jettes Brief war also ein Antwortschreiben. Sie hat darin das Gegenteil dessen verzapft, was ihr Mann dem Lord geschrieben hat, den Kaspar betreffend. Mein Mann, schrieb sie da noch, ist mit seinem Verhältnisse zu H. gar nicht zufrieden, und er hätte dessen Vormündern schon für das ihm geschenkte Vertrauen gedankt, wenn er nicht denken dürfte, daß es ohnehin nicht in die Länge dauere ... Scheinheiliger geht's also wirklich nicht mehr! Wie sehr muß dieser Lehrer Meyer von sich selbst eingenommen gewesen sein! Ein Blick und er hat natürlich auch Hauser in- und auswendig gekannt: "... Schon nach dem ersten Besuch Hausers glaubte mein Mann, daß er nicht frei von Verstellung sei ..." Und an dieser einmal gefaßten Meinung blieb er hängen. Er gehörte zu jenen Menschen, die sich eher umbringen lassen würden, als zuzugeben, auch sie könnten sich mal irren. Er war starrsinnig und voreingenommen bis zur Penetranz. Im Gegensatz zu ihm hatten sich vor ihm jahrelang schon ganz andere Geister um Kaspar und sein Schicksal bemüht, als ein Lehrer Meyer von charakterlicher Qualität und geistiger Quantität her je hätte werden können. Sie alle dachten und sprachen über Kaspar Hauser ganz anders als dieser Rohrstockakrobat. Wer glaubt, das sei zu hart, dem
sei folgende Szene erzählt, die Schulfuchser Meyer eigenhändig und langatmig niedergeschrieben hat. Kurz zusammengerafft hat sich eines Nachts in der Ansbacher Pfarrstraße folgendes zugetragen: Meyer und seine Frau kamen von einem Besuch zurück und sahen oben im zweiten Stock beim Kaspar noch Licht. Meyer traute seinen Augen nicht: Noch Licht! Zu so später Stunde! Was macht der Bursche wohl noch, jetzt, mitten in der Nacht? Hat die Welt denn schon so etwas gesehen! Der Schulmann witterte Verrat oder noch schlimmeres. Seiner Frau vorauseilend, stürzte er die Treppen hinauf und klopfte an Hausers Zimmertür. Der aber rührte sich nicht, machte einfach nicht auf. Potzelement! Sollte er sich doch einmal im Leben geirrt haben, noch dazu bei einer so eminenten Sache? Also hastete er nochmals die Treppen hinunter und vor das Haus. Wieder schielte er hinter seiner Blechbrille hinauf in den zweiten Stock. Natürlich war das Kaspars Fenster! Ha! Jetzt ist er fällig, dieser geheimniskrämerische Wicht von einem Kaspar! Jetzt verlange ich Rechenschaft von diesem angeblichen Blaublüter. Und so stolperte der Eiferer nochmals die Treppen hoch und vor Hausers Zimmertür. Diesmal aber begnügte er sich nicht mit einfachem Hinklopfen. Nein, er trommelte mit den Fäusten wie ein Irrer gegen die Tür und schrie: Aufmachen! Sofort aufmachen! Machen Sie augenblicklich auf Hauser! Ich habe doch gesehen, daß bei Ihnen noch Licht brennt! Der Kaspar aber rührte sich nicht. Vielleicht auch getraute er sich nicht aufzumachen vor diesem tobenden Mann. Meyer aber brüllte und trat mit den Schuhen gegen die Tür. Vergebens. Die Tür und auch der Kaspar widerstanden dem Zorn des Pestalozzijünglings. Dafür lief das ganze Haus zusammen. Im Nachtzeug. Ringsum aber öffneten sich die Fenster der Nachbarshäuser. Alles guckte, was da wohl los sei. Es muß ein urkomisches Bild gewesen sein: diesen tobenden Hanswursten, diesen Steißtrommler draußen vor der Tür zu sehen und hinter ihm die Nachtmaskerade der vom Schlaf aufgeschreckten Hausbewohner.
Plötzlich hechtete er in seine Wohnung und kam mit einem Beil (!) wieder. Damit hieb und schlug er auf Kaspars Tür, die aber auch diesem Angriff widerstand. Meyers Kraft war am Ende. Wankend ging er mit seinem Jettchen in die Wohnung. Das arme Luder aber mußte sich noch bis Morgengrauen anhören, wie sehr er im Recht und was doch dieser Hauser für ein Schlingel sei. Dann endlich schlief der bornierte Mann, dieser Berserker ein. Für ihn war es sicher der Schlaf des Gerechten. Das war zu einer Zeit, als das Zerwürfnis zwischen Kaspar und seinem Lehrer und Verköstiger schon offen zutage lag. Den Feuerbach deckte dazumalen bereits der Rasen. Jetzt konnte sich dieser ungeschliffene Brillant am Pädagogenhimmel auslassen wie er wollte. Und er wollte es doch den Akademikern zeigen, diesen Theoretikern vom grünen Tisch: er, der Mann der Praxis. Mögen sie, diese studierten Hohlköpfe, sich von diesem Schlingel Kaspar um den Finger wikkeln lassen. Er, der Schullehrer Meyer aus Ansbach, hat den Burschen von Anfang an durchschaut, das "Jünglingskind" des gräflichen Homo - hahaha! Und wie er herumscharwenzelt in den ersten Familien der Stadt, bei den Oberen, die einen Lehrer Meyer an der Haustür abfertigen oder allenfalls zum Lieferanteneingang hereinlassen. Ja, der Wicht Kaspar Hauser versteht es, sich einzuschmeicheln bei den Großkopfeten. Aber er wird ihn künftig noch mehr in die Zange nehmen, ihn beobachten und eines Tages bestimmt überführen, diesen Schmarotzer, der das Mitleid seines Jahrhunderts zum Narren hält. Darauf kann er Gift nehmen, solange er, Johann Georg Meyer, ein Wörtchen mitzureden hat. Er wird ihm seine blaublütigen Flausen schon aus dem Bauernschädel treiben, die ihm diese aristokratischen Deppen eingetrichtert haben. Und da wundert sich der Herr Spezialpädagoge noch, wenn ihm sein Zögling aus dem Wege ging und ihm gegenüber verstockt wurde und seine kleinen und auch vielleicht größeren Geheimnisse für sich behielt. Für Meyer war es sonnenklar, daß Kaspar ein Betrügen ist. Und natürlich hat er sich die Stirnwunde in Nürnberg auch selbst beigebracht, um sich wichtig zu tun. Von wegen Attentat! erklärte er ein
um das andere Mal seinem Jettchen, das an seinem Munde schon hing, wenn er nur die Klappe aufmachen wollte. Alles Schwindel mit dem Kaspar, diesem Erzschlingel, der selbst Ärzte reinlegen konnte und auch einen Feuerbach aufs Glatteis geführt hat. Wer sollte denn diesen hergelaufenen Buben nach dem Leben trachten wollen - ihm, diesem Habenichts! Quatsch, dies alles. Dabei hat sich aber dieser Meyer in seiner anmaßenden Hirnverbranntheit nicht entblödet, schriftlich darüber zu berichten, es habe ihm anfangs "gegrault", wenn er abends oder nachts mit Hauser über das Ansbacher Pflaster schlurfte. Oftmals habe er dabei so ein komisches Gefühl gehabt, als wenn ihnen jemand folgte und er habe sich dabei ertappt, sich manchmal umgesehen zu haben. Huch! Sollte dies gleich gar der eingebildete Attentäter sein? Nein, dieser Meyer war ein Querulant wie aus dem psychiatrischen Lexikon, falls es ein solches überhaupt geben sollte. Der würde sich lieber den Schädel an der Ansbacher Gumbertuskirche einschlagen, als jemals von einer vorgefaßten Meinung abzurücken. Ein Johann Georg Meyer irrt nicht - im Falle des Schwindlers Kaspar Hauser schon gleich gar nicht. Wie unbarmherzig ekelhaft dieses Gegenteil von einem Samariter war, hat in späteren Jahrzehnten ein anderer Meyer erkannt: Dr. jur. Julius Meyer, der Sohn des Ekels. Aus an sich menschlich verständlichen Gründen versuchte er, den Schild seines alten Herrn reinzuwaschen, wo immer dies nur möglich war. Er mußte also erkannt haben, daß seines Vaters Ehrenschild in Sachen Kaspar Hauser überaus befleckt ist. Darüber täuschte auch nicht die Patina, die da und dort schon angesetzt hat. Sein Alter war ein starrsinniger Besserwisser. Das wußte dieser Dr. jur. Julius Meyer sehr wohl, gestand es aber wahrscheinlich nicht einmal sich selbst ein. Wie gesagt, dies alles ist menschlich und damit verständlich. Unverständlich bleibt allerdings, daß Meyer junior bei dieser "Reinwaschungsaktion" zu Mitteln griff, die für einen anständigen Menschen nicht in Frage kommen dürften, aber völlig ausgeschlossen sein mußten für einen Juristen, für einen
Richter. Wo hat es schon einmal einen nachmaligen Landgerichtsdirektor gegeben, der Akten unterdrückte, Akten fälschte und angeblich authentische Briefe, die der Gendarmerieoffizier Joseph Hickel geschrieben haben sollte, selbst erfand, und zu Papier brachte - ja sich nicht gescheut hat, diese seine Erdichtung in Buchform herauszugeben! Professor Pies hat all diese Verfehlungen Stück für Stück, und Zug um Zug aufgedeckt. Die ganze Sache ist haarsträubend, kaum glaublich, aber so wahr wie ein Hauser gelebt hat. Dies alles hat er gemacht, um seinen Vater zu rechtfertigen. Dabei war auch dieser Dr. Julius Meyer ansonsten ein Mann von Bildungsgraden, ein bedeutender Lokalhistoriken. Ehrenbürger der Stadt Ansbach; seine Vaterstadt hat eine Straße nach ihm benannt. Aber in der Hauser-Geschichte, da haben sie gefehlt, die Meyers. Der Fall Kaspar Hauser war bei ihnen zur fixen Idee geworden. Dies alles wegen der Starrköpfigkeit des Lehrers. Denn auch Hickel war überzeugt, daß Hauser unmöglich ein Betrüger sein kann. Und nicht nur er. Auch Regierungspräsident von Mieg und sein Nachfolger von Stichaner - von Feuerbach und Hausers Seelsorger Pfarrer Fuhrmann gar nicht zu reden. Von den Leuten, die Kaspar persönlich kannten, hat es nur zwei gegeben, die ihn als Schwindler hinstellen wollten: Lehrer Meyer und Pflegevater Stanhope. Des Lehrers Sprößling Julius hat seinen Vaterkomplex so weit getrieben, daß er sich dazu berufen fühlte, für immer und ewig mit der ganzen Hauserei aufzuräumen, den Jungen als abgefeimten Betrüger zu "entlarven", um dann das schwarze Tuch der Vergessenheit über den Fall zu breiten. Um seines alten Herrn willen hätte ihm das natürlich gepaßt. Dabei hat dieser Julius den Kaspar nie persönlich gekannt. Er wurde geboren, als Hauser schon zwei Jahre im Stadtfriedhof lag. Und auch Hickel weilte schon nicht mehr unter den Lebenden, als Julius Meyer dessen angebliche Briefe publizierte. Ein Jammer, das Ganze. Und dies alles ist um so schlimmer, als Dr. Julius Meyer sehr wohl gewußt haben mußte, daß Hauser unmöglich ein Schwindler sein konnte, hatte er doch wie nur wenige vor ihm Einsicht in alle Akten gehabt. Eine solche Sohnesliebe, wie sie Julius gezeigt hat, ist rührend und tragisch zugleich, doch seine Methoden
können keinesfalls sein Wollen entschuldigen. Seine sonstigen Verdienste als Heimatforscher von Rang können niemals seine schuldbare Verhaltensweise im Falle Hauser aufwiegen. Da nützt ihm auch der hohe badische Orden nichts, den er für seine Hauser- "Forschung" bekommen haben soll. Aber seine Rechnung ging nicht auf, wie wir heute alle wissen. Sie konnte nicht aufgehen, so wahr es eine unbestechliche Geschichte gibt. Kehren wir noch einmal für ganz kurze Zeit in den Januar des schicksalsschweren Jahres 1832 zurück. Am 19. sahen wir Stanhope die Ansbacher Promenade hinauffahren und in die Kühgasse, heute Endresstraße, einbiegen. Über Feuchtwangen, Crailsheim und Schwäbisch Hall rauschte er nach Mannheim, dem Witwensitz von Kaspars Mutter, der Großherzogin Stephanie. Von jeder Station aus schrieb er Kaspar Briefe. Nur nicht von Mannheim. Fünf Tage blieb Seine dunkle Lordschaft dort und soll zwei längere Unterredungen mit Stephanie gehabt haben. Was gesprochen wurde, wissen wir nicht. Nur so viel ist später durchgesickert, daß Stephanie ihn gebeten hat, ihr Kaspar Hauser zuzuführen, ihr den Jungen in Mannheim einmal vorzustellen. Angeblich sagte der Graf zunächst auch zu. Tatsache ist jedoch, daß er von Mannheim erst einmal nach Frankfurt kutschierte und sich dort mit einem Mann traf, den Ritter von Feuerbach schon längere Zeit vorher gebeten hatte, für Kaspar da zu sein, sollte er selbst dies einmal nicht mehr können. Der Name dieses engen Freundes von Feuerbach: Johann Ludwig Klüber (1762 - 1837), Professor, Doktor beider Rechte, ein bedeutender Staatsrechtler. Mit Klüber also sprach Graf Stanhope in Frankfurt. Und der scheint ihm abgeraten zu haben, den Kaspar nach Mannheim zu schleppen. Warum Klüber, der auch demokratischer Publizist von Ruf war, abgeraten hat - niemand weiß es. Vielleicht auch, daß er Rücksichten genommen hat. Rücksichten auf seinen Sohn etwa, der Privatsekretär des badischen Großherzogs Leopold war, dem ersten Hochberg auf dem badischen Thron. Wäre es auf Klüber seniors Rat hin in Mannheim zum Eklat gekommen - nicht auszudenken! Wahrscheinlich, daß es seinem Sohn den einflußreichen Posten gekostet hätte. Durchaus
möglich, daß es dem alten Klüber - er war dazumalen einundsiebzig Jahre - schon schwarz vor den Augen wurde, wenn er bloß daran dachte. Der Lord, der wohl nie ernsthaft daran gedacht hat, Kaspar der Stephanie zuzuführen, mag bei Klübers Worten aufgeschnauft haben. So wahr er seine Auftraggeber gehabt hat, konnte ihm doch nie daran gelegen sein, Mutter und Sohn miteinander zu konfrontieren. Ganz im Gegenteil werden seine Aussprachen mit Stephanie nur den einen Zweck gehabt haben, sie auszuforschen, was sie von der ganze Sache hält, was sie darüber weiß. Er hat also Klübers Rat sicher gerne gehört und entgegengenommen. Zufrieden verließ er denn die Goethestadt Frankfurt, um sich nach England einzuschiffen. Für ihn, und dazu bekannte er sich ja offiziell, wiesen Kaspars Spuren nach Ungarn, wo Hickel derzeit weilte. Jedenfalls tat er im Moment noch so, als würde er daran glauben. Ein Meister der Verstellung eben! Und das konnte er ja wie ein gelernter Schauspieler. Stephanie aber schien durch des Lords Besuche aufgerüttelter denn je. Natürlich waren auch bis zu ihr ins Mannheimer Schloß die Gerüchte gekommen, die da sagten, mit dem Tod ihrer beiden Prinzen habe es eine besondere Bewandtnis gehabt: der eine sei umgebracht, der andere vertauscht worden. Ihr Erstgeborener müßte der Sage nach noch leben, sei identisch mit dem Findling Kaspar Hauser. Vom Grafen Stanhope hat sie nun aus Frankfurt die Mitteilung bekommen, von einem Besuch Kaspar Hausers in Mannheim sei aus politischen Erwägungen abzuraten; es könnte sonst zum Eklat kommen. Selbst wenn Kaspar bei ihr unter einem anderen Namen aufkreuzen sollte auf die Dauer sei das Geheimnis am Hofe nicht aufrechtzuerhalten. Im übrigen möge sie Seine Lordschaft entschuldigen. Dringende Geschäfte verlangten seine Anwesenheit auf Schloß Chevening im alten England. Stephanie aber sann und sann. Die Sache, Kaspar könnte ihr Sohn sein - so absurd dies klingt -, ließ sie nicht mehr los. Ihrem Tagebuch hat sie anvertraut, was sie ansonsten kaum im allerengsten Kreis sagte. Sie wollte, sie mußte diesen jungen Mann sehen. Andererseits wußte sie sehr wohl, daß sie in so einer Sache den regieren-
den Fürsten, den Großherzog Leopold, um eine förmliche Reisegenehmigung ersuchen mußte. Idiotisch, nur zu denken, Leopold würde je so einem Ansinnen stattgeben. Stephanie wußte das. Und was dann, es käme soweit, daß sich der Kaspar Hauser als ihr Sohn herausstellen sollte? Ihn liebend in die mütterlichen Arme nehmen, den verlorenen und nun auf wundersame Weise wiedergefundenen Sohn? Das hieße, am System rütteln! Eine Unmöglichkeit! Sie war eh einflußlos genug, seit drüben in Karlsruhe Sophie und Leopold das Zepter führten. Dazu ohne eigenes Vermögen, abhängig von dem Apanage des Großherzogs. Nach Frankreich flüchten, mitsamt ihrem wiedergefundenen Sohne und ihren Töchtern? Nach Frankreich, woher sie gekommen? Nein, ebenso unmöglich. Drüben haben sich die politischen Winde geändert, galt sie als Bonapartistin, als die Adoptivtochter des Korsen. Auf sie hätte man dort gerade noch gewartet, dazu noch mit der politischen Sprengbombe Kaspar Hauser, von gewissen Leuten, Anhängern des alten Regimes, vielleicht als Napoleonide präsentiert. Sie war ein armes Luder, die Stephanie, trotz all ihrer Titel, trotz ihrer hohen gesellschaftlichen Stellung. Sie war wie so viele Millionen in Europa ein Opfer Napoleons und seines Machttraums von einem vereinten Europa unter Frankreichs Hegemonie. Dies alles wird ihr durch den Kopf gegangen sein, ohne jedoch ihr Vorhaben aufzugeben, den jungen Menschen Kaspar wenigstens einmal von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Unterbrochen wurde ihr Sinnen durch einen ihr lieben Besuch. Vier Wochen nach Stanhopes Ankunft in Mannheim kam ihre Cousine Hortense, die Exkönigin, mit ihrem Sohn Louis Napoleon. Sie logierten sich im Mannheimer Schloß ein und blieben bis zum 3. April 1832. Durchaus möglich, daß Stephanie mit Hortense und dem späteren Kaiser Napoleon III. über Kaspar Hauser sprach und die Gerüchte, die intern im Umlauf waren. Wahrscheinlich auch, daß Hortense sie bestärkte, den Jungen einmal in Augenschein zu nehmen: in Ansbach. Inkognito natürlich, ohne Wissen des Hofes, in geheimer Mission sozusagen. Tatsache ist jedenfalls - und das wissen wir von Bapst, der sein Wissen wiederum
aus den Mémoiren der Stephanie-Tochter Marie bezogen hat -, daß sie noch am gleichen 3. April nach Ansbach abreiste. Mit in der Kutsche waren ihre Töchter Josephine, 18 Jahre jung, und Marie, dazumalen 14, sowie ein Hoffräulein. Mit zugezogenen Vorhängen trottete die Kutsche in östlicher Richtung aus Mannheim in Richtung Schwäbisch Hall und von da nach Ansbach, am Zusammenfluß der Fränkischen Rezat und des Onolzbaches gelegen, von dem diese Stadt ihren Namen ableitet. Dem Karlsruher Hof war natürlich ein anderes Reiseziel gemeldet worden und selbstredend auch ein anderer Reisezweck. In Ansbach hat diese hohe Gesellschaft nicht übernachtet. Das ist verständlich in Anbetracht des ganzen Unternehmens. Jedenfalls ist nichts darüber bekannt geworden, daß Herrschaften in der fraglichen Zeit in einem der Gasthöfe oder Hotels genächtigt haben. Aufgefallen wäre das Quartett auf jeden Fall, denn wer mit eigenem Kutscher vorfährt und Damen höheren Standes aus der herrschaftlichen Kutsche hilft, der sticht nun mal ins Auge. Gerade in einer ehemaligen Residenzstadt. Es wird wohl so sein, daß sie die Nacht vom 4. auf den 5. April in der Nähe von Ansbach verbracht haben. Vielleicht in Feuchtwangen, in einem der dortigen Gasthöfe. Tatsache soll jedenfalls sein, daß das Mannheimer Quartett am Vormittag des 5. April den Ansbacher Hofgarten betreten hat. Warum? Natürlich, um Kaspar Hauser zu sehen. Edmond Bapst, der französische Diplomat hat es so überliefert. Ganz so einfach, wie er es dargestellt hat, kann es aber nicht gewesen sein. Es gilt folgendes zu bedenken: Am ehesten anzutreffen war Hauser bei seinem Lehrer und Verköstiger, dem Lehrer Meyer in der Pfarrstraße. Dorthin konnten Stephanie und ihre Begleiterinnen auf keinen Fall. Unmöglich. Dann hätten sie gleich gar nicht inkognito reisen brauchen. Wie und wo aber den Hauser mit einiger Sicherheit treffen? Bapst hat darüber keine Zeile verloren. Durch Stanhope dürfte aber auch der Großherzogin-Witwe bekannt geworden sein, daß Kaspar beinahe täglich seinen Spaziergang im Hofgarten macht, der ihm dann auch später zum Verhängnis werden sollte. Gewöhnlich aber machte er diesen Bummel am frühen Nachmittag, wie überliefert
ist. Die Damen betraten aber just am Vormittag den Hofgarten. Und auf gut Glück werden sie dies nicht getan haben. Im April ist es noch frisch, bläst der Wind durch die kahlen Äste. Es ist jedenfalls kein Wetter, um vielleicht stundenlang auf den Kaspar zu warten. Da nun ein Mann wie Bapst sich solche Informationen nicht aus den Nägeln gesaugt haben wird, muß hier eine Querverbindung gewesen sein, die Schicksal gespielt hat, damit Stephanie den Jungen in Augenschein nehmen konnte. Wer kann das gewesen sein? Es gibt nur eine Möglichkeit: Präsident von Feuerbach. Tatsache bei diesem Gedankengang ist, daß Stephanie und der alte Klüber miteinander in Kontakt waren. Anzunehmen aber ist, Klüber wird von der Großherzogin-Witwe erfahren haben, daß sie auf eine Begegnung mit Hauser nicht verzichten wolle. Dabei wird sie um seine Hilfe ersucht haben, die Professor Klüber trotz aller Bedenken nicht ablehnen konnte. Deshalb wird sich Klüber mit seinem alten Freund Feuerbach in Verbindung gesetzt und diesen eingeweiht haben. Alles weitere dürfte für den alten Routinier Feuerbach eine Kleinigkeit gewesen sein. Nämlich: den Jungen unter einem Vorwand an einem bestimmten Tag und zu einer bestimmten Uhrzeit in den Hofgarten zu lotsen. Und so geschah es denn auch, wobei bemerkt werden darf: die Sache war recht günstig im Sinne Stephanies vorbereitet. Im Gegensatz zum Nachmittag war der Hofgarten vormittags wie leergefegt. Kaum ein Spaziergänger zu sehen. Und man konnte ja nicht wissen, wie Stephanie bei dieser Begegnung reagieren würde. Die vier Damen brauchten auch sicher nicht lange zu warten. Sie promenierten, guckten den Arbeitern zu, die in Höhe der Orangerie, aber auf der gegenüberliegenden Seite des Hofgartens, nahe dem Schweinemarkt, heute Bahnhofstraße, einen artesischen Brunnen bohrten - und schlenderten dann wieder weiter. Als Stephanie schließlich in einiger Entfernung einen jungen Mann daherschreiten sah und wenige Schritte hinten ihm Hickels Burschen als Beschützer, da wußte sie Bescheid. Der Wächter war das Erkennungszeichen. Kaspar Hauser, der ahnungslose Junge, war in Anmarsch. Das Herz der Stephanie mag ihr bis zum Hals hinauf gepocht haben, als sie einander entgegenkamen.
Josephine, die ältere Tochter, war mit ihrer Mutter eingehängt. Hinter ihnen schritten das Hoffräulein und Marie, die spätere Herzogin von Hamilton. Josephine spürte, wie ihre Mutter zitterte. Auch Josephine fröstelte. Sie sah ihre Mutter von der Seite an und bemerkte, daß sie ganz aschfahl geworden war und sich schwer auf ihren Arm stützte. Ihre Schritte kamen in Stocken. Nur mühsam konnte sie sich noch aufrecht halten. Und jetzt war Kaspar Hauser nur noch drei oder vier Schritte entfernt. Gedankenverloren stierte er vor sich hin. Er hatte wieder einmal Ärger mit Lehrer Meyer gehabt, dem ewigen Nörgler. Aber die Damen sah er doch. Er lief ihnen ja fast in die Arme. Höflich zog er seinen modischen Hut und grüßte geistesabwesend. Und schon war er vorbei. Daß Josephine augenblicklich anhielt, da ihre Mutter zu wanken anfing, und das Hoffräulein einen Satz nach vorne machte, um ihre Herrin zu stützen - das sah der junge Mann schon nicht mehr. Er war mit sich selbst beschäftigt und ahnungslos, daß er an jenem Menschen beinahe auf Tuchfühlung vorbeigegangen ist, dem zeit seines jungen Lebens sein ganzes Sinnen und Trachten gegolten hat. Selbst noch in der Todesstunde. Es war das Schicksal seines Lebens, immer ganz nahe an der Wahrheit gewesen zu sein, ohne sie je fassen zu können. Das Hoffräulein aber nestelte aus ihrer Handtasche Riechsalz, um es der Fürstin unter die Nase zu halten. Nur kein Aufsehen! Um Gottes willen nur kein Aufsehen! Wie sie aus dem Ansbacher Hofgarten herauskam, wußte Stephanie später selbst nicht mehr. Ein Faktum ist jedenfalls, daß die vier Damen sofort ihren Wagen bestiegen, der vor dem Hofgarteneingang auf sie gewartet hatte, und in Richtung Mannheim davonfuhren. Nur langsam hat sich Stephanie von ihrem Schock erholt. Sie sprach kein Wort, sondern weinte nur stille von sich hin. Keine ihrer Begleiterinnen wagte, auch nur ein Wort zu sagen, auch nur eine Frage zu stellen. Die Ähnlichkeit mit ihrem so frühzeitig verstorbenen Gatten Karl soll es gewesen sein, die den Schock bewirkt hatte. Von nun an scheint sie endgültig Bescheid gewußt zu haben. Es dürfte kaum ein Zweifel mehr darüber bestehen. Bereits am 8. April aber meldete sie sich wieder in Karlsruhe zurück. Stephanie gab an, noch in Baden-
Baden gewesen zu sein, wo sie ihre Sommerresidenz hatte. Dort sich umzusehen, war unverfänglich. Die Geschichte von Stephanies Besuch im Ansbacher Hofgarten wurde erst viel, viel später bekannt. Sie war in jenem Teil ihrer Erinnerungen enthalten, die dem allgemeinen Vernichtungsfeldzug gegen Originaldokumente der Hauser-Zeit entgangen sind. Auch in den Memoiren ihrer Tochter Marie, der Herzogin von Hamilton, sollen sie gestanden haben beziehungsweise noch stehen. Diese Fürstin starb 1888 in Baden-Baden. Und kaum hatte sie die Augen zugedrückt, da war auch schon die Geheimpolizei in ihrem Sterbehaus und beschlagnahmte ihre Papiere. Ja, der Großherzog Friedrich eilte höchstpersönlich nach Baden-Baden, um die Aktion und ihr Ergebnis zu verfolgen. Die Herzogin jedoch hatte in weiser Voraussicht die auf Kaspar Hauser bezugnehmenden Dokumente längst in Sicherheit gebracht: bei ihrer Tochter, der Gräfin Festitics in Ungarn. Graf Festitics lebte übrigens als 80jähriger noch Ende der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts, lehnte aber stets jegliche Mitteilung über den Inhalt der Papiere kategorisch ab. Stephanie selbst aber hat geschwiegen. Wie ein Grab geschwiegen. Nur ihrem Tagebuch vertraute sie Dinge an, die sie nicht einmal wagte, im engsten Kreis offen auszusprechen. Sie hat ihr Schicksal mit sich getragen und ist daran erstarkt. Immer klarer muß sie ihre Ausweglosigkeit erkannt haben, sich nie zu Kaspar bekennen zu dürfen. Die Folgen für sie und ihre Töchter wären unabsehbar gewesen. Sie hätten einpacken können. Vielleicht hätte man sie sogar ins Irrenhaus gesperrt, sie für verrückt erklärt. Das alles hat sie hart gemacht, was wiederum ihrem gesunden Ehrgeiz entgegenkam. Der Mittelpunkt ihres Lebens war von nun an, mehr als je zuvor, die Karriere ihrer Töchter. In sie pumpte Stephanie all ihre Liebe - um den Jungen in Ansbach zu vergessen. Wurde sie später auf den Findling angesprochen, als er schon längst unter den Toden weilte, winkte sie energisch ab.
In den vierziger Jahren war es, als Louis Napoleon sie nach Paris einlud. Wer ihre Abreise verhinderte, war Großherzog Leopold von Baden. Er drohte ihr mit dem Entzug ihrem Apanage, falls sie die Einladung annehmen würde. Stephanie verzichtete daraufhin. Es blieb ihr gar nichts anderes übrig. Jahre später kam die Reise dennoch zustande, denn nunmehr war aus ihrem Neffen zweiten Grades der Kaiser der Franzosen geworden. Und mit dem wollte sich auch der badische Großherzog nicht anlegen. Louis fragte nun Stephanie bei einem Empfang, was sie denn von den Gerüchten halte, die da behaupteten, Kaspar Hauser wäre ihr erstgeborener Sohn gewesen. Stephanie darauf: "Eine unsinnige Fabel!" Soweit also war ihre Härte gediehen zu einem Zeitpunkt, als sie sich eine Lippe hätte riskieren dürfen. Niemand hätte sie jetzt daran hindern können, sich zu Kaspar zu bekennen und den Schutz des Franzosenkaisers zu erbitten. Aber sie hielt die Etikette der Mächtigen sauber, solidarisierte sich mit jenen, zu denen sie sich gehörig fühlte und verriet damit ihren Sohn. Sie hat nicht die innere Größe gezeigt, die ohne Zweifel dazu gehört hätte, klaren Tisch zu machen. Die Staatsraison siegte über sie und in ihr. Auch dazu gehört eine gewisse Größe. Zugestanden. Ganz anders ihre Töchter. Sie alle waren fest davon überzeugt, der Junge, der da auf dem Ansbacher Friedhof schlummert, sei ihr leibhaftiger Bruder gewesen. Das war natürlich auch bei Stephanie den Fall. Sie wußte, wer Kaspar war. Doch im Gegensatz zu ihr, machten Kaspars Schwestern nie ein Hehl aus ihrer Meinung; jedenfalls nicht in ihren Kreisen. Prinz Adalbert von Bayern veröffentlichte im "Zwiebelturm" noch 1951 Briefstellen seiner Vorfahren, die sich mit der Ähnlichkeit Kaspars mit seinem Vater und besonders mit seiner Schwester Marie auseinandersetzten. Hören wir: München, 18. Dezember 1833: ... Mama [Königin Karoline] sagte mir da in Biederstein ..., Kaspar Hauser sei für einen Sohn ihres Bruders gehalten worden, nämlich daß ein anderes Kind statt seiner untergeschoben worden. Der verstorbene Präsident Feuerbach hätte
ihr darüber geschrieben, gewünscht, sie solle sich seiner annehmen, was sie aber, um ihm keine Gefahr zu bringen, nicht getan. Daß ein Sohn ihres Bruders vergiftet worden, leider ist kein Zweifel, wovon der Vater so überzeugt war, daß er ihn nicht öffnen ließ ... Nachtrag dazu am 23. Dezember: ... daß ich nicht vergesse. Den 18. dieses sagte die verwitwete Königin, daß sie Kaspars Bildnis gesehen, Ähnlichkeit mit ihrem Vater gefunden ... 24. Dezember 1833: ... Recht leid der Tod des rechtmäßigen Großherzogs von Baden, wenn es Kaspar Hauser war, was wahrscheinlich. Von Therese vernahm ich, unser zukünftiger Schwiegersohn [Großherzog Ludwig von Hessen - d. Autor] habe sich (leider erst jetzo) geäußert, als er zu Schmausenbuck bei Nürnberg den 27. August mit uns Kaspar Hauser gesehen, sei ihm desselben Ähnlichkeit mit dessen Augen und einer Kusine von Baden aufgefallen, daß er die Farbe geändert habe ... Nizza, 18. Februar 1863: ... habe zu seiner Zeit in meinem Tagebuch aufgezeichnet, daß, wenn ich die Prinzessin Marie von Baden - und die jetzige Herzogin von Hamilton - früher als Kaspar Hauser gesehen, ich gewußt haben würde, daß er ihr Bruder, so ähnlich fand ich ihn. Bedauere sehr, daß solches nicht stattgefunden ... Leopoldskron bei Salzburg, 27. Juli 1865: Beim gestrigen Tee sprach mein Schwiegersohn [Großherzog von Hessen - d. Autor] von Kaspar Hauser, daß wie er ihn sah, er sich sagte, er sei sein Vetter. Hätte ich vor seinem Tode doch die Prinzessin von Baden - jetzo verwitwete Herzogin von Hamilton - gesehen, zwischen der und Kaspar Hauser (ich) solche Ähnlichkeit fand, daß mir die Überzeugung wurde, daß er ihr Bruder, also Sohn des
Großherzogs von Baden - dieses schrieb ich bereits in mein Tagebuch, sagte es aber niemand außer meiner verewigten Therese ... Zurück in das Jahr 1832. Vier Wochen nach Stephanies Besuch in Ansbach erschien als 30. Schrift üben Kaspar Hauser Professor Daumers "Mitteilung über C. H.". Als 31. Arbeit wurde dann, ebenfalls noch zu Kaspars Lebzeiten, Dr. Preus Werk "Der Findling C. H. und dessen außerordentliches Verhältnis zu den homöopathischen Heilstoffen" publiziert. Es stand Lehrer Meyer frei, diese Arbeiten zu studieren und in Vergleich mit seinem Zögling zu bringen. Er hat es jedoch nicht getan, war viel zu sehr von sich eingenommen und seiner vorgefaßten Meinung. Letztlich doch ein armer Narr, der aber viel Unheil angerichtet hat, indem er die Fährten in die verkehrte Richtung lenkte. Sicher nicht bewußt und mit Absicht. Aber den wirklichen Drahtziehern hat er dadurch unbezahlbare Dienste geleistet. Kaspar bekam nun im Oktober dieses Jahres offiziellen Konfirmationsunterricht: von Pfarrer Fuhrmann, seinem Seelsorger, der dem Kaspar ein lieber und aufrichtiger Freund geworden war. Er war es auch, der Kaspar in seiner letzten Stunde beigestanden ist und ihm den Trost der christlichen Religion spendete. Kaspar zeigte sich als ein eifriger Präparant. Sein kindlich-frommer Eifer war dem Seelenhirten Fuhrmann eine herzliche Freude. Feuerbach aber, dessen Briefwechsel mit dem Grafen Stanhope immer magerer geworden war, ahnte zumindest, welche Glocken auf Chevening tönten. Er glaubte dem Lord seine Sprüche nicht mehr, er wolle den Kaspar für immer nach England holen. Und auch Hauser selbst wird nicht mehr daran geglaubt haben, wie überlieferte Äußerungen dies vermuten lassen. Damit nun der Kaspar nicht ständig auf bloßes Wohlwollen von Mitmenschen angewiesen ist, brachte ihn der Präsident des Appellationsgerichts, Feuerbach also, kurzerhand bei sich im Amte unter. Als Aktenschreibervolontär. Eine schöne Handschrift hatte er ja. Hauser sollte sich einmal selbst ernähren können, falls alle Stricke reißen sollten. Geschehen ist dies am 1. Dezember 1832. Kaspar war auch damit zufrieden. Brav stiefelte er jeden Tag hinüber ins Gericht, gegenüber seiner Wohnung, und kopierte dort Akten.
Dabei lief sein Unterricht bei Meyer weiter. Und natürlich auch der bei Pfarrer Fuhrmann, in dessen Zuhause Kaspar oft und gerne verkehrte. So mit Arbeit eingedeckt, flossen die Monate dahin. Der Lord schrieb ihm zwar nach wie vor, nicht mehr ganz so schwulstig wie ehedem, aber es reichte auch so noch. Immer wieder versprach er zu kommen, sagte dann jedoch wieder ab, da ihn angeblich geschäftliche Angelegenheiten daran hinderten. Kaspar aber glaubte ihm nicht mehr. Zu lange schon wurde er hingehalten, zu oft vertröstet. Und mitunter machte er aus seiner Meinung auch gar kein Hehl. Natürlich mißfiel auch das dem Schulmann Meyer. Kaspar konnte eben machen was er wollte: den Fuchser konnte er nie zufriedenstellen. Hausers Reaktion: Er kapselte sich von seinen Verköstigern zusehends ab, was zur Folge hatte, daß ihm Meyer vorwarf, er sei ein ausgekochter Geheimniskrämer. Dem Kaspar war auch dies egal. Er hatte Freunde genug in Ansbach und durfte auch bei Präsident von Stichaner verkehren, dem Nachfolger des Freiherrn von Mieg, der als Finanzminister nach München berufen worden war. So rückte der 20. Mai heran, Kaspars Konfirmationstag. Schon lange vor elf Uhr, dem Beginn der Feierlichkeit, war die Georgskapelle, der altgotische Teil der Gumbertuskirche, heute ein abgesperrter Abstellraum, vollbesetzt. Dicht gedrängt saßen und standen die Ansbacher Gläubigen, sicher aber auch Menschen, die aus purer Neugierde gekommen waren. Pfarrer Fuhrmann, der darüber eine kleine Broschüre geschrieben hat, meint im Vorwort dazu: Als nun aber die Handlung selbst begann, da bewirkte sein würdevolles, das tiefste Gefühl für dieselbe bezeugendes Benehmen die allgemeinste Rührung und gerne stimmten die Herzen der Anwesenden in die für Hauser und von ihm zu Gott gesandten Gebete ein, die an heiliger Stätte gesprochen wurden ... Wer Zeuge des heutigen festlichen Tages gewesen ist, wer Hausers tiefe Rührung sah, als er sein Glaubensbekenntniß ablegte, wer sich jetzt mit ihm über die Empfindungen bespricht, die sein Herz in jenem feierlichen Augenblicke bewegten, wer überhaupt mit ihm über Gegenstände der Religion sich unterhält, wer, wie ich, im engeren Umgange, in religiö-
ser Beziehung ihn zu beobachten Gelegenheit hatte, der wird finden, daß die Lehre des Evangeliums ...eine Kraft über sein Herz geltend macht ... Hauser ist religiös, die Religion ist ihm das theuerste Eigenthum geworden und der heutige Tag, meint er, habe sie ihm vollends so theuer gemacht, daß er nur mit dem Leben sie sich könne entreissen lassen. So schrieb der Religionslehrer über Hauser, den nicht mehr ganz jungen Konfirmanden. So dachte Pfarrer Fuhrmann über Kaspar Hauser. Präsident von Feuerbach aber war bei der Konfirmation nicht dabei. Er war am 11. April nach Frankfurt zu seiner Schwester Rebecca abgereist. Von dort auch erreichte Ansbach die Nachricht vom Tod des Präsidenten. Kaspar war erschüttert, zutiefst erschüttert. Hat er geahnt, daß er seinen mächtigen Beschützer verloren hat? Neun Tage nach Kaspars Konfirmation hatte Feuerbach seine ebenso klugen wie humanen Augen für immer geschlossen. Ein nicht mehr zu ersetzender Verlust für Kaspar. Er wußte dies. Seine Trauer wich einer tiefen Niedergeschlagenheit. Nur mühsam brachte es Fuhrmann fertig, den mittlerweile 20 Jahre jung gewordenen Kaspar wieder einigermaßen aufzurichten. In dieser Zeit auch muß es gewesen sein, daß der Stab endgültig über Hauser gebrochen wurde. Da das Gerede über ihn nicht aufhörte, blieb er eine permanente Gefahr für den großherzoglich-badischen Staat. Auf dem Throne aber saßen Leopold und - Sophie, die kühle, ja die eiskalte Blonde aus Schweden. Das Geschreibe und Gerede über diesen Kaspar Hauser mußte aufhören. So oder so. Und so beschloß Sophie, ganze Arbeit machen zu lassen. Von Fachleuten. War Feuerbach das erste Opfer dieser Rotte? Zuvor jedenfalls, bevor weiteres geschieht, wollte sie selbst an Ort und Stelle das Terrain erkundigen: in Ansbach. Dort stieg sie am 16. Juni 1833 mit Oberhofmeister, Hofmarschall, Sekretär und Dame d'honeur in der "Krone" ab - neben dem "Stern" der erste Gasthof am Platze. Das war fünf Monate vor Kaspars Ende. Was sie in Ansbach machte, die Tochter aus dem Hause Wasa? Etwas Definitives darüber
konnte nie in Erfahrung gebracht werden. Man weiß nur, damals wie heute: ein offizieller Staatsbesuch war es nicht, der Sophies Kutsche nach Ansbach fahren ließ. Aber inkognito reiste sie auch nicht. Königliche Hoheit kam ohne Maskerade, ganz offen als Großherzogin von Baden. Mit kleinem Gefolge sozusagen. Und die Ansbacher Honoratioren dienerten sich denn auch scharenweise bis in den Empfangssalon der Fürstin vor, um ihre Honeurs zu machen. Kaspar Hauser trat dabei überhaupt nicht in Aktion. Ihn kümmerte die WasaTochter nicht im geringsten. Er hatte ganz andere Sorgen und Probleme. Lilla von Stichaner zum Beispiel, des Generalkommissärs Töchterlein, die auf ihn ein Auge geworfen hatte und er auf sie. Was war für Kaspar dagegen eine Großherzogin Sophie! Unwichtig. Dabei hätte sich der Junge bei einigermaßen Überlegung seinen Reim basteln können. Er kannte doch die Gerüchte um seine Person, die Fingerzeige, die nach Baden deuteten. Aber nein, der Kaspar scharwenzelte lieber hinter einem Mädchenrock her. Ob Sophie ihn gesehen hat, vielleicht auch im Hofgarten beim Spaziergang, blieb unbekannt, ist aber anzunehmen. Die resolute Fürstin wird sich das nicht entgehen haben lassen. Und sicher wird ihr die Familienähnlichkeit mit Stephanie, ihren Töchtern und mit dem verblichenen Karl aufgefallen sein. Ein Grund mehr für sie, nun nicht mehr lange zu warten. Am 22. Juni rauschte sie wieder ab. Ziel unbekannt. Sie war also volle sechs Tage im alten Ansbach. Und bloß um die architektonisch eigenwilligen drei Türme von Sankt Gumbertus anzuschauen, wird sie den gordischen Knoten in der Hauser-Sache nicht gesucht haben. Unbekannt blieb auch ob sie den Lehrer Meyer zu sich hat bitten lassen in die feudale "Krone". Es wäre nicht einmal auffällig gewesen. Mein Gott, wer nach Ansbach kam, der besah sich auch diesen raren Vogel Kaspar, für den nun Klüber sorgte, der wiederum in Hofrat Hofmann einen ortsansässigen Vertreter fand. Fest steht: wenn Meyer von Sophie empfangen wurde, um ihr Bericht über Kaspar Hauser zu erstatten, und diese ihn gebeten haben sollte, es nicht an die große Glocke zu hängen - dann fühlte sich ein Meyer von nun an als Geheimnisträger Nummer eins des badischen Hofes. Er würde schweigen bis ins kühle Grab. Er würde sich als Geweihter und Ein-
geweihter fühlen, die Schwindlerrolle des Casparus Hauser zu entlarven. Wo käme denn auch die Welt hin, wenn sich jeder erdreisten könnte, bei einem regierenden Herrscherhaus ein einst begangenes Verbrechen zu vermuten! Und dies alles wegen dieses hergelaufenen Kerls Kaspar, wegen dieses Komödianten. In Meyer hat Sophie und ihr Anhang jedenfalls einen Mitarbeiter gefunden - einen freien Mitarbeiter, der nicht einmal etwas kostete. Was er tat, machte er gratis, um seiner fixen Idee willen, aus seiner Verbohrtheit heraus. Sophie konnte also zufrieden Ansbach verlassen. Wahrscheinlich ist sie auf direktem Wege nach Karlsruhe gefahren. In Mannheim, dem Witwensitz der Stephanie, wird sie sich nicht haben blicken lassen. Auch ihr Mann, der Leopold, machte um Mannheim meist einen Bogen. Er wußte, daß er dort nicht beliebt, ja schon ausgebuht worden ist von der Bevölkerung. Das ehedem bayerisch gewesene Mannheim pfiff noch wittelsbachisch. Und Sophie haßte diese Stephanie, konnte sie partout nicht ausstehen, aber auch die Stephanie mochte die Blondine aus dem Schwedenland nicht. Sie hielt sie für verrückt, zumindest billigte sie ihr nicht alle Tassen im Spind zu. Tatsache dabei ist, daß Sophies Vater wahnsinnig war. Als sie acht Jahre zählte, wurde ihr alter Herr, als Gustav IV. König der Schweden, von den Reichsständen völlig legal und offiziell abgewählt, vom Thron gejagt. Er haßte Napoleon und alles was auf dessen Seite war wie die Pest. Das ist sicher. Sein abgrundtiefer Haß auf alles Bonapartische hat sich auch auf seine Tochter Sophie vererbt. Sie haßte Napoleons Adoptivtochter Stephanie abgrundtief. Dabei war Sophie voller Tatendrang. Aktiv und explosiv - wie ihr Großvater, Gustav III. Dieser wird als eine Persönlichkeit von hohem Niveau geschildert. Begabt auch für Dinge, die nicht zum Regieren gehören. Also kein Fachidiot. Ein Künstlermensch, der viel und gut schrieb, auch Dramen und Komödien. Er war der Sohn König Adolf Friedrichs und der Luise Ulrike von Brandenburg und damit ein Neffe Friedrichs des Großen. Alles in allem ein gescheiter, aber auch unbequemer Geist. Er nahm ein schlimmes Ende, nachdem sich eine verschwörerische Adelsclique entschlossen hatte, ihn zu beseitigen.
In der Nacht vom 16. auf den 17. März 1792 war es soweit. In seinem Stockholmer Schloß nahm er an einem Maskenball teil. Während des Faschingsgewühls klopfte ihm ein gewisser Graf Horn leutselig auf die Schulter und begrüßte ihn verräterisch mit "Guten Abend, schöne Maske!" Es war dies das verabredete Zeichen. Daraufhin wurde er von hinten erschossen. Johann von Anckarström hieß der Todesschütze, der Attentäter. Er wurde gefaßt und dann nach dreitägiger Auspeitschung um einen ganzen Kopf kürzer gemacht. So geschehen am 29. April 1792. Es wurde dazumalen nicht lange gefackelt. Ähnlich wie bei Stanhopes, so war auch der Sohn dieser "schönen Maske" in fast allen Bereichen das gerade Gegenteil vom Vater. Ein Zerrspiegel. Wirklichkeitsfremder Mystiker. Okkultist. Dabei jähzornig und von krankhafter Starrsinnigkeit. Wollte einst Herrnhuter werden, begnügte sich dann aber mit seiner ureigensten Exegese der Offenbarung Johannis. Spinnitisierte in Zahlenmystik. 666 war für ihn eine Art Weltformel. Interessierte sich für alles, was im Bereich zwischen gut und böse lag oder sich dort ansammelte - und vergaß darüber seine Staatsgeschäfte. In der Nacht zum 13. März 1809 holte man den Exkönig aus dem Bett und nahm ihn fest. Überführung nach Schloß Drottningholm, später nach Gripsholm. Seine Familie, darunter auch Sophie, blieben im Schloß Haga zurück. Die Reichsstände kannten da kein Pardon. Er wie sein ganzer Clan mußten auf immer und ewig dem schwedischen Thron entsagen. Gustav IV. fletschte mit den Zähnen - aber er unterschrieb. Gnadenlos aber waren sie nicht, die Reichsstände. Sie gewährten ihm und den Seinen 66666 Taler pro Jahr. Eine ganz schöne Pension für den Grübler dem mystischen Zahl 666. Aber Gustav Nummer vier verzichtete darauf- ein nobler Spleen, den er sich gar nicht hätte leisten können. Weiß der Kuckuck, von was er und seine Familie sich fürderhin ernährten. Jedenfalls hat er das bißchen Privatvermögen, das sie ihm gelassen haben, durchgebracht. Er emigrierte mit seiner Familie, die in der badischen Hauptstadt eine Bleibe fand. Dann reiste er quer durch Europa und spann sich immer mehr ein. Er kutschierte ruhelos umher: Paris, London, Berlin, Petersburg. 1837 starb er. Zu St. Gallen in der Schweiz.
Er starb einsam, denn drei Jahre nach seinem Thronsturz von 1809 hatte sich seine Gemahlin von ihm scheiden lassen. Fünfzehn Jahre war Friederike, eine der Töchter Amaliens von Baden, mit ihm verheiratet gewesen. Vier Kinder hatte sie von ihm, darunter die kalte Sophie. Als sich Sophies Mutter scheiden ließ, war diese just 31 Jahre alt. Eine stattliche Frau in den besten Jahren. Vielleicht erinnert sich der Leser noch: Ihr Vater war der badische Erbprinz Karl, der einst, 1801, in Schweden tödlich verunglückte. Angeblich sind die den Schlitten ziehenden Pferde scheu geworden. Der Wagen stürzte um, der Prinz war tot. Eine recht dunkle Sache. Etwas Genaues ist nie darüber bekannt geworden. Manche meinen noch heute, das Prinzensterben der badischen Zähringerlinie habe damals begonnen. Er war übrigens auch den Vater des mit 32 Jahren verstorbenen Großherzogs Karl und damit der Großvater Kaspar Hausers. Sophie und Kaspar waren demnach miteinander blutsverwandt: Vetter und Cousine ersten Grades. Wie eng die verwandtschaftlichen Verflechtungen waren, verdeutlicht eine weitere genealogische Information: Sophie hatte zwei jüngere Schwestern, einen jüngeren Bruder, der aber schon bald starb, und einen älteren Bruder. Dieser heiratete eine Tochter Stephanies, die Luise, älteste Schwester unseres Kaspars. Gustav, wie Luisens Mann hieß, wäre der V. Gustav auf dem schwedischen Thron geworden - wenn, ja wenn ... Er wurde 78, also steinalt für damalige Begriffe, ging in österreichische Dienste, wo er es zum FeldmarschallLieutnant brachte. Die meiste Zeit hielt er sich in Wien auf. Aus der Ehe von Gustav und Luise aber ging nur eine Tochter hervor. Caroline mit Namen, die dermaleinst Königin von Sachsen werden sollte. Wir haben es schon vernommen: Sophies Mutter Friederike ließ sich 1812 von ihrem Ex-Gustav Nummer vier förmlich scheiden. Sie hat seine Spinnereien einfach nicht mehr ausgehalten. Der Irrsinn schaute ihm aus allen seinen Knopflöchern. Auch sein Sohn, der andere Wasa-Gustav, der in österreichischen Diensten, scheint nicht ganz echt gewesen zu sein. Einiges deutet darauf hin. Jedenfalls ließ sich auch dessen Frau, Stephanies Tochter Luise, von ihrem Feldmar-
schall-Lieutnant scheiden. Sie tat, was ihre Schwiegermutter Friederike getan. Das Wasablut scheint nicht mehr kraftvoll gewesen zu sein. Seit der Scheidung nun lebte Sophie mit ihrer Mutter Friederike und ihren Geschwistern in Karlsruhe, seit 1812 also. Wann nun Sophie ihrem Leopold, dem Hochberg, anverlobt wurde, ist nicht mehr ersichtlich. Jedenfalls wurde das Paar am 25. Juli 1819 miteinander verheiratet. Sophie war dazumal 18 Jahre jung. Regierender Großherzog war zu dieser Zeit Ludwig, nachdem ein Jahr zuvor sein Vorgänger Karl verstorben ist oder, was wahrscheinlicher, gestorben worden ist. Jetzt brauchte sie nur noch Ludwigs Ende abzuwarten und dafür zu sorgen, daß er nicht heiratet und legale Sprößlinge in die Welt setzt. Der Thron war dann anschließend für sie und ihren Leopold frei. Sophie, in deren Adern Wasa- und Zähringerblut zirkulierte, mag aufgeschnauft haben, als ihr Leopold den Ring über den Finger streifte. Schon als Kind war sie ebenso ehrgeizig wie zielbewußt gewesen. Und unerbittlich und eiskalt war sie überdies. Anzunehmen auch, daß sie von ihrer Schwiegermutter, der Reichsgräfin Hochberg, in das Geheimnis des Prinzentausches von 1812 eingeweiht worden ist. Sie hatten ja vieles gemeinsam, die beiden Damen. Wie die Hochberg, so ging auch die Wasa-Tochter Sophie bettelarm in die Ehe. Von der Hochberg, die ein Jahr nach Sophies Hochzeit starb, konnte letztere auch eingeweiht worden sein, wie Ludwig an einer standesgemäßen Ehe gehindert werden kann. Auch wenn die Reichsgräfin ihre Söhne haßte: ihre Sippschaft auf den Thron zu bringen, war ihr Lebenswerk. Einen Leopold, dies ist sicher, hat sie nie eingeweiht. Aber ihre Schwiegertochter an der sie eigene Charakterzüge entdeckt hatte: die konnte und sollte das Werk, zielstrebig von ihr vorbereitet, weiterführen und zu Ende bringen. Das tat sie denn auch - und zerstörte sich dabei selbst. Wie ihre Schwiegermama auch. Es gibt eben doch einen Fluch der bösen Tat.
Feuerbach tot, Lehrer Meyer ein unausstehlicher Nörgler. Kaspar versuchte zu vergessen: bei Limonade und Tanz, denn Alkoholika trank er nach wie vor nicht, bei Hausbesuchen seiner Freunde und Gönner sowie bei seiner Arbeit im Appellationsgericht. Ob's ihm Freude gemacht hat, die Aktenkopiererei am Stehpult? Es ist nichts darüber bekannt geworden. Auch nichts Gegenteiliges. Eine unerklärliche Angst vor etwas Drohendem, vor etwas nicht Faßbarem hatte er nach wie vor. Er konnte sich dies nicht erklären, war aber da. Ganz und gar ein unpolitischer Mensch, flüchtete er sich in harmlose Zerstreuungen. Er konnte sich ja nicht einmal einen Reim auf Feuerbachs Büchlein machen, das Kaspar gelesen hatte, auf all die Gerüchte, die auf seine Abstammung aus dem Hause Baden hinwiesen. Auch war er, wie sein Vater, kein aktiver Mensch. Er schob Probleme gerne vor sich hin, war ein passiver Typus. Nur einmal hat er sich aufgeschwungen, endlich einmal etwas in eigener Regie zu unternehmen. Das war in der Christinenlaube zu Nürnberg, als er das bayerische Königspaar Ludwig I. und Gemahlin Therese bat, ihn vor seinen Feinden zu schützen. Im August war's, vier Monate vor seinem unverdienten Ende in Ansbach. Die hohen Herrschaften sagten zu, und Kaspar war überglücklich. Wir haben schon darüber vernommen. Von nun an scheint er weniger Angst gehabt zu haben. Er wußte ein Majestätswort hinter sich. Er vertraute und baute darauf. Das Damoklesschwert über sich sah er nicht. Warum auch sollte man ihm etwas tun? Er war zumindest froh zu wissen, eines Tages sein bißchen Geld, das er zum Leben brauchte, selbst verdienen zu können. Als Aktenschreiber. Und den sauberen Lord, den durchschaute er auch mehr und mehr. Er könne es nicht leiden, sagte er eines Tages zu Meyer, daß jemand etwas verspreche, es aber nicht halte. Er meinte damit den Grafen Stanhope. Meyer hat dies überliefert. In dieser Verfassung aber war er reif geworden, den Einflüsterungen falscher Freunde auf den Leim zu kriechen. Denn es dürfte so viel wie sicher sein, daß Kaspar wenigsten mit einem der Rottenmitglieder schon Wochen vor dem Attentat persönlichen Kontakt hatte.
Beim Betrachten der einzelnen Charaktere der Mordclique und all der Umstände, die mittlerweile erforscht werden konnten, dürfte Ferdinand Sailer, Hennenhofers Briefpartner, der Kontaktfühler und halter zu Kaspar gewesen sein. Es kann kaum anders sein. Er war das gebildetste Rottenmitglied, nicht recht viel älter als Kaspar selbst und ebenso schreib- wie redegewandt. Die Verbindung von Sophie zu Hennenhofer, dem Leiter der Aktion, könnte der Lebemann und Bankierssohn Haber hergestellt haben. Hennenhofer kannte all die dunklen Gestalten, die für so einen heiklen Auftrag infrage kämen. Er hatte einige dieser Kumpane in der Hand: durchwegs verkrachte Existenzen, die ihm aus der Hand fressen mußten. Und sollte je etwas ans Tageslicht kommen, dann wären es Leute, die im Geruch standen, Revolutionäre zu sein beziehungsweise Sympathisanten rebellischer Demokraten. Man staunt noch heute, anderthalb Jahrhundert danach, wie raffiniert die ganze Aktion eingefädelt war. Wirklich, Hennenhofer verstand sein Metier meisterhaft. Wie nun Ferdinand Sailer an Kaspar herangekommen ist, unter welchen Umständen, läßt sich nicht nachweisen. Schuld daran ist Kaspar selbst, der sich von seiner unmittelbaren Umgebung immer mehr abgekapselt hat. Es war aber zu seinen letzten Lebensmonaten schon sicher, daß er verschiedene Kontakte unterhielt, die er nicht preisgab. Er geheimniskrämerte herum, auch seinem Spezialkurator Hickel gegenüber, schrieb und empfing Briefe - die er kurz vor seinem Tode alle vernichtete. Das aber spräche gegen ihn und ein Attentat von fremder Hand - wenn, ja wenn er nicht zumindest geahnt hätte, eine bedeutende Entscheidung über sein künftiges Schicksal bahne sich an, stehe gleichsam vor der Tür. Nicht von der Hand zu weisen ist, Sailer habe ihn Zug um Zug darauf vorbereitet, daß er nun bald sein Bündel schnüren könne, um endlich seiner Mutter zugeführt zu werden. Vielleicht hat er dem vertrauensseligen Kaspar einsuggeriert, die Abreise könne ganz plötzlich erfolgen. Eine Haupt- und Staatsaktion quasi bei Nacht und Nebel. Geschickt wurde dabei Kaspars Neugier, seine Eitelkeit und sein Hang zur Geheimniskrämerei einkalkuliert. Fest steht: wäre Feuer-
bach noch am Leben gewesen, dann hätten Sailer und Genossen es nicht so leicht gehabt, den flüggen Vogel Kaspar zu ködern. Zu ihm hatte Hauser Vertrauen gehabt. Und Feuerbach wiederum kannte seinen Kaspar - auch dessen Schwächen. Feuerbach hätte die Kontakte spitz bekommen und den Jungen ins Gebet genommen. So aber war der Kaspar soviel wie allein. Hickel war viel auf Reisen, meist in Sachen Hauser, Hofrat Hofmann, Klübers Mann in Ansbach, kannte Hauser nicht so gut, und Stichaner und all die anderen waren letztlich eben doch nur oberflächliche Freunde Hausers. Binder und Daumer aber waren weit weg - für damalige Verhältnisse. Sie schrieben ab und an aus Nürnberg Briefe. Ferdinand Sailer aber wird es gewesen sein, der eines Tages dem Kaspar sagte, bald, schon recht bald, werde es soweit sein, daß er seinen Eltern zugeführt werde. Er möge nur noch kurze Zeit durchhalten, dann sei es soweit. Vorher aber werde ihn ein Bote verständigen, der ihm ein Stichwort aufsage, demzufolge er zu einer bestimmten Zeit an einen bestimmten Ort gebeten werde, wo ihn ein Abgesandter seiner hohen Eltern erwarte. Das aber werde die große Wende in seinem Leben einleiten. Nur: er müsse sich darauf vorbereiten, daß möglicherweise alles recht schnell ginge. Das sei nun mal so in der Politik.
8. Mord in Ansbach Ewig geschundener Kaspar - Die fixe Idee des Lehrers Meyer Mordrotte formiert sich - Verrat für 200 Louisdors Der Herrschaftsdiener Horn und sein Sommersdorfer Liebchen Johanna Cramer Regisseur Hennenhofer und sein Gehilfe Müller Zocker Friedrich Müller wird als Dolchführer auserkoren - Die Ruhe vor dem Sturm Kaspar als Gerichtsschreiber - Hausers Todesengel Horn lauert im Gerichtstennen Präsidententöchterlein verliebt sich in Kaspar Rottenmitglied Sailer nimmt Verbindung mit Hauser auf Die Mordclique reist an - Ein Diplomat aus Baden wird angekündigt Vorweihnachtszeit in Ansbach - Die Hohe Fichte und ihr Geheimnis Bestellung in den Hofgarten Hausers letzter Ball beim Regierungspräsidenten Müllers Banditendolch stößt zu - Kaspar Hauser auf den Tod verwundet Tiefreligiöser Mensch - Das Ende Obduktion im Wohnzimmer - Graf Stanhope läßt seine Maske fallen Kaspar, dieser ewig geschundene, letztlich immer wieder enttäuscht gewordene junge Mensch, wird den Einflüsterungen des verkrachten Pharmazeuten Ferdinand Sailer nicht so ohne weiteres erlegen sein. Hausers Verhalten in der letzten Zeit seines kurzen Lebens läßt eher vermuten, daß er nur mit halbem Ohr und halbem Herzen bei der Sache war. Etwa nach dem Motto: Na schön, alles recht und gut. Warten wir's ab, was dabei herauskommt. Ich bin nun schon so oft enttäuscht worden - soll's auf diesen Reinfall auch nicht mehr ankommen. Aber
vielleicht ist doch etwas dran, dann werde ich es dem Lehrer Meyer und dem Grafen Stanhope schon zeigen, daß ich auf sie nicht mehr angewiesen bin. Ha! In solchen Augenblicken konnte Hauser Feuer und Flamme vor Begeisterung sein. Aber dieser Zustand hielt nie recht lange an bei ihm. Er war halt doch recht indolent - wie sein Vater. Danach fiel er wieder in stumpfe Ergebenheit, brütete dumpf vor sich hin und wartete auf den Postboten, ob er ihm nicht ein Brieflein des Herrn Grafen bringt. So war er eben, der Kaspar. Auch er konnte aus seiner Haut nicht heraus. Dabei das ständige Grübeln nach Erinnerungsfetzen. Er träumte viel. Auch des Nachts. Und wenn er dann wieder aufwachte, dann zermarterte er sich den Kopf, indem er versuchte, Zusammenhänge herzustellen. Was faselte da dieser Sailer, der sich ihm sicher unter einem anderen Namen genähert hatte? Sprach er nicht von seiner Mutter als von einer großen, mächtigen Dame, die schon jetzt ihre Hand schützend über ihn halte? Kaspar sehnte sich nach ihr, der großen Unbekannten. Dieses Sehnen war der ursprüngliche Inhalt seines Lebens. Und noch in der Todesstunde lamentierte er im Delirium von einer großen Madame, von einer großen Dame. Machen wir an dieser Stelle einen Sprung in das Jahr 1853. Das war 20 Jahre nach dem Mord an Kaspar, also im Verjährungsjahr. Es meldete sich da im Knast in Ebrach ein Ferdinand Dorfinger. Er saß wegen Majestätsbeleidigung ein und war ehedem der Gastwirt des "Drechselsgarten" zu Ansbach, einem Ausflugslokal im Norden der Stadt. Abseits der Fahrstraßen, einsam auf der Höhe gelegen. Das Lokal, so wie es zu Hausers und Dorfingers Zeiten gewesen, ist nicht mehr. Es wurde vor einigen Jahren abgebrochen. An seiner Stelle erhebt sich heute ein Hotelkoloß, Ansbachs Renommierhotel mit gleichem Namen. Angegliedert ist eine Restauration, Konferenzsäle, Bierstube, Frühstückszimmer, Weinstube, Kellerbar mit riesigen Seewasseraquarium, eigene Sauna, Massagebetrieb, Hallenbad soll noch dazukommen. Ein Mordskomplex. Die Aussicht von dort oben auf die Stadt im Rezattal und auf die benachbarten Höhen ist einmalig. Von der Terrasse blickt man direkt in den Hofgarten, wo Hauser erdolcht worden ist.
Genannter Ferdinand Dorfinger, Jahrgang 1803, aus Regensburg stammend, war Wirt des alten "Drechselsgarten", von 1828 bis 1832. Vorher aber war er kurze Zeit Soldat. Am 1. April 1825 war er beim 2. Chevauleger-Regiment eingetreten, das, wie wir schon gehört haben, in Ansbach und Triesdorf garnisoniert war. Ein Sturz vom Pferd machte jedoch seiner Soldatenkarriere einen Strich durch die Rechnung. Er mußte den Dienst wegen "halber Steifigkeit" des Armes quittieren. Von seinen Zeitgenossen wurde er als ein Mann geschildert, der "im Leben an der Arbeit nicht viel Freude fand". Dessenungeachtet heiratete er zwei Jahre später die Ansbacher Gastwirtstochter Regine Beyerlein - für ihn allem Anschein nach eine ganz schöne Partie. Das junge Paar kaufte nämlich noch im gleichen Jahr, 1828, Kaspars Antrittsjahr in Nürnberg, das Ausflugslokal "Zum Drechselsgarten". Es sollte später der Gefechtsstand der Mordrotte werden. Von hier aus sind sie hinabgezogen in die Stadt, um den Kaspar für immer zum Schweigen zu bringen. Kaspar selbst kannte das Lokal, wie jeder Ansbacher. Er war im Sommer öfter oben, auch mit Hickel und dessen Frau einmal. Im Winter jedoch war's dort einsam und menschenleer. Selten, daß sich einmal ein Gast nach dorthin verlief. Bezeichnend auch, daß nach dem Mordanschlag vom "Drechselsgarten" keine Fremdenliste von der Polizei eingeholt wurde, obgleich im Umkreis von acht Stunden sämtliche Übernachtungsbetriebe, Herbergen, Gasthöfe und Hotels abgeklappert wurden - vergebens natürlich, da die Rottenmitglieder nach allen Richtungen zerstoben. Nach der Tat. Und im "Drechselsgarten" hat nie jemand nach den Tätern gefragt. Zu sehr hat sich das Ansbacher Gericht von einem Lehrer Meyer und seinem Tick einlullen lassen, der Kaspar hätte sich selbst verletzt. So wurde auch beim Finale in eine verkehrte Richtung geschaut und die Spürhunde auf die falsche Fährte angesetzt. Ferdinand Dorfinger nun, der faule Hund, als der er uns geschildert wird, hat es auch auf dem "Drechselsgarten" nicht lange ausgehalten. Vier Jährlein spielte er den Wirt dort oben, dann scheint er die Schnauze voll gehabt zu haben vom Leben eines Gastronomen. 1832 im Jahr verkaufte er das Anwesen an seinen Schwager Beyerlein, den Bruder seiner Frau. Mit seiner Regine zog er hinunter in die Stadt.
Von was er künftig lebte, von welchen Einnahmequellen, konnte nie eruiert werden. Im Gefängnis nun meldete er sich beim Leiter der Anstalt und erklärte frank und frei, er sei einer der Beteiligten im Mordfalle Hauser, der damals allerdings längst kein Fall mehr war, da die Akten darüber schon seit 1834 geschlossen waren, fest verschnürt. Der Anstaltsleiter schaltete daraufhin pflichtigst die Polizeibehörde ein, die den Dorfinger im Knast vernahm. Dabei verwickelte sich die krumme Leuchte Dorfinger in Widersprüche, was nach 20 Jahren ja kein Wunder ist. Wir kennen das von den sogenannten Kriegsverbrecherprozessen her. Die Polizei aber leitete ihre Ermittlungsergebnisse weiter an das zuständige Ansbacher Gericht. Das aber hatte längst den Wink von oben bekommen, über die ganze Sache Streusand zu schütten. Die Widersprüche in Dorfingers Aussagen zum Vorwand nehmend, erklärte das Gericht, die Angelegenheit sei nicht wert, ihr nachzugehen. Der Dorfinger wolle sich nur wichtigtun. Seine Selbstanklage wurde nicht weiter verfolgt. An die 200 Louisdors hätte ihm der Chef der Rotte versprochen, wenn er den Kaspar in den "Drechselsgarten" bestellen würde. Er jedoch, der Dorfinger, habe das Lokal seines Schwagers Beyerlein nicht zur Mördergrube machen lassen wollen, weshalb er den Hofgarten als Ort der Begegnung vorgeschlagen habe. Aber er erzählte noch mehr. Er packte etwas aus. Doch warum die Selbstbezichtigung? Nun, zunächst einmal behauptete Dorfinger, er sei um seinen Lohn immerhin ein kleines Vermögen von rund 1000 Talern - von der Clique betrogen worden. Er warte heute noch auf die 200 Louisdors. Warum er dann so viele Jahre ins Land hat streifen lassen, blieb sein Geheimnis. Anzunehmen, daß er Angst hatte. Angst, als Mitwisser, wenn nicht gar Mittäter vor Gericht gestellt zu werden. Diese aber brauchte er nunmehr, im Verjährungsjahr, nicht mehr zu haben. Als alter Ganove dürfte er sich darin ausgekannt haben. Vielleicht, ja sogar wahrscheinlich, daß er sich in Geldschwierigkeiten befunden und nun geglaubt hat, durch die Preisgabe seines Wissens von der einst ausgesetzten Belohnung einiges zu erhaschen. Der Versuch konnte ihm schließlich nicht viel kosten. Und gewisse Risiken müssen Leute seines Schlages eh oft genug im Leben eingehen. Unverständlich
blieb selbst ihm letztlich, daß das Ansbacher Gericht nicht den geringsten Wert auf seine Aussagen legte. Das erboste ihn in seiner Ganovenehre so sehr, daß er sich schließlich bezichtigte, direkt am Mord beteiligt gewesen zu sein. Doch selbst diese Selbstanklage lockte das Gericht nicht aus seiner Reserve. Man wollte nichts wissen darüber. Unverständlich das, aber wahr und aktenkundig. Dorfinger verstand die Welt nicht mehr. Später mag es ihm gedämmert haben, daß er da ohne viel Zutun in ein Stück sogenannter hoher Politik hineingerutscht ist, sozusagen als politischer Taglöhner. Als er dies endlich begriffen hatte, schwieg er. Nichts konnte aus ihm mehr herausgelockt werden. Auch nicht im Suff. Daß dieser Dorfinger eine Type für sich war, geht auch daraus hervor, daß er sich nicht scheute, beim zaghaften Auspacken auch gleich seinem Schwager eins auszuwischen, dem Beyerlein, dem Wirt vom "Drechselsgarten". Dabei stammte Dorfinger aus einem anständigen Haus. Von ehrsamen Leuten. Sein alter Herr war in München Leibkutscher der Königin Karoline, Witwe des ersten Bayernkönigs Maximilian I. Joseph. Der Leibkutscher starb 1829, als sein Filius noch Wirt war. Zufall, dies alles? Jedenfalls tauchen hier aus dem Gewirr der Hauser-Geschichte bisher nicht aufgerollte Fadenenden auf. Lassen wir nicht außeracht, daß Karoline eine badische Prinzessin war. Schemenhaft taucht eine Verbindung auf: Karlsruhe - München Ansbach. In seinen Vernehmungen plauderte Dorfinger nun aus, daß sein Schwager Beyerlein sozusagen der Quartiergeber der Mordclique war. Sicher kam er um diese Aussage nicht herum. Er selbst aber schien damals ein einigermaßen gutes Verhältnis zum Schwager gehabt zu haben. Er besuchte ihn oft und machte Besorgungen für ihn. Die Anwohner der Schloßstraße, des Schloßberges, wie die Ansbacher sagen, sahen ihn selbst des Winters den steilen Weg hinaufstiefeln und wieder zurückschlappen. Manchmal keuchend unter der Last der eingekauften Vorräte für das Lokal seines Schwagers. Ab und an aber blieb er auch über Nacht droben auf dem "Drechselsgarten". Vielleicht um seinen Rausch auszuschlafen, denn bechern tat er gerne
und viel. Justament bei so einem Gelage hat er sich ja die Majestätsbeleidigung eingehandelt, wegen der er saß. Und er machte beim Auspacken auch Andeutungen über die anderen Rottenmitglieder. Jedoch nur ziemlich vage, so daß allenfalls Eingeweihte etwas damit hätten anfangen können - und Leute, die den Aktenberg der HauserGeschichte gründlich studiert hatten. Das aber waren nur ganz wenige. Auch Dorfingers "Plaudereien im Knast" kamen natürlich zu den Akten, wo sie auch blieben. In der Öffentlichkeit hat darüber jahrzehntelang keine Menschenseele etwas erfahren. Wir wissen aber heute, wen alles der Dorfinger gemeint hat. So sprach der ehemalige Wirt von einem Rottenmitglied Baptist, angeblich aus München. Mit ihm identisch sein dürfte der Herrschaftsdiener Friedrich Horn aus Bechhofen, einem Marktflecken südwestlich von Ansbach. Er war es, der Kaspar die berühmt-berüchtigte Einladung in den Hofgarten im Foyer des Appellationsgerichts übermittelt hat. Dieser Horn, Jahrgang 1799, war von 1824 bis 1850 im Dienste des Grafen Karl von Spaur - allerdings mit einer Unterbrechung von anderthalb Jahren. Wo Horn sich in dieser Zeit herumgetrieben hat, ist unbekannt geblieben, was heißen soll, daß dies nicht exakt nachzuweisen ist. Aller Wahrscheinlichkeit nach fiel dieses Nichtbeschäftigtsein beim Grafen von Spaur, der bayerischer Diplomat war und sicher nichts mit dem Hauser-Fall zu tun hatte, in die Zeit vom April 1832 bis Januar 1834. Seit April 1832 nämlich war von Spaur Geschäftsträger des bayerischen Königs beim Heiligen Stuhl in Rom. Dieses Amt bekleidete er, zuletzt als Gesandter, bis zum Jahre 1854. Feststeht nun, daß Horn sich nach der Mordtat in Ansbach sogleich nach Italien wandte. Anzunehmen, daß er erneut Diener des Grafen von Spaur wurde. Tatsache aber ist, und zwar aktenkundige, daß Horn im Dezember 1833, dem Attentatsmonat, in Ansbach und Umgebung war, und zwar als Beschäftigungsloser. Dies gilt gerade auch für die Nacht vor dem Messerangriff auf Hauser. Wem wir dieses Wissen zu verdanken haben? Antwort: Horns späterer Frau, seinem damaligen Liebchen Johanna Katharina Cramer, Dienstmagd des Großbauern Blank in Sommersdorf, heute nach
Burgoberbach eingemeindet - ein Dorf zwischen Ansbach und Markt Bechhofen. Einst hatte die Cramer ihrer Dienstherrin Blank ein Geständnis über ein Vorkommnis abgelegt, das die Magd nie vergessen konnte. Es betraf ihren Geliebten Horn und den Mordfall im Hofgarten. Die Großbäuerin Blank zu Sommersdorf im schönen Altmühltal konnte das Gehörte mit ihrem Gewissen auf die Dauer nicht vereinbaren und meldete ihr Wissen per Anzeige dem zuständigen Ansbacher Gericht. Dort aber kam dieser Hinweis in die Hände des Gerichtsassessors Meyer, Dr. jur., Julius mit Vornamen. Der aber ging, entgegen seiner Verpflichtung, dieser Anzeige nicht nach. Er kippte sie hinein in den Hauser'schen Aktenberg, wo sie auch vergraben blieb. Doch noch einmal kurz zurück zu Horn alias Baptist, wie er sich als Rottenmitglied genannt hat. Nach dem Attentat im Hofgarten, verdrückte er sich also nach Italien, in den sonnigen Süden. Nach Rom. Dort rettete er während der revolutionären Wirren von 1848 Seiner Heiligkeit Pius IX. das Leben, indem er ihn aus dem Vatikan heraushaute und in Sicherheit brachte. Dafür bekam Horn aus den Händen des Papstes eine silberne Medaille sowie die Bewilligung einer lebenslänglichen Rente in Höhe von 15 Gulden monatlich. 1850, wie gesagt, quittierte er dann den Dienst bei von Spaur, von dem er eine Pension von fünf Gulden im Monat erhielt. Mit zusammen 20 Gulden ließ es sich leben. Er legte sich aber nicht auf die faule Haut, sondern wurde Gastwirt bei Erlangen. Dies blieb er jedoch nicht lange, dann verdrückte er sich nach Altenschönbach im Mainfränkischen. 1861 starb er im Alter von 62 Jahren. Nach Dorfingers Schilderung war Horn stämmig, mittelgroß und hatte einen hellbraunen Schnurr- und Backenbart. Diese Beschreibung paßt auf Hausers Schilderung nach dem Attentat, auf das Signalement des Bestellers in den Hofgarten. Derjenige, der den Banditendolch führte und Hauser niederstreckte, hieß Johann Jakob Friedrich Müller, Sohn eines Lehrers zu Hohenstaufen bei Göppingen. Geboren ist er 1796, war also drei Jahre älter als sein Kumpan Horn. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kannten sich die beiden aus ihrer gemeinsamen Frankfurter Zeit. Horns damaliger Herr, der Graf von Spaur, wurde nämlich im
Juni 1829 als Legationssekretär der bayerischen Bundestagsgesandtschaft nach Frankfurt am Main berufen. Diener Horn war mit von der Partie. Im gleichen Monat des gleichen Jahres aber wurde Müller, der mit Vornamen Friedrich genannt wurde, zum Kanzleisekretär der badischen Bundestagsgesandtschaft ernannt, was seinen Umzug nach Frankfurt zur Folge hatte. Lange vorher war Müller Revisor beim württembergischen Kriegsrat. Dort taugte er aber nicht viel. Die Katze konnte das Mausen nicht lassen. Er griff in die ihm anvertraute Kasse - und flog aus seiner Stellung. Dazu bekam er noch vier Monate Festungshaft aufgebrummt. Später, 1825, war er dann Amtsschreiber in Münchingen, einem Ort im Neckarkreis. Auch dort taugte er nichts. Er machte Fälschungen. Die Sache kam auf und Müller mußte in Untersuchungshaft marschieren. Der Kerl hatte keine Beziehungen zu Geld. Er gab mehr aus, als er verdiente. Soll auch gespielt haben, recht hoch sogar. Eine Zockertype. Aber wie's so ist: Verbindungen zu Halb- und Unterweltkreisen hatte er. Jedenfalls gelang es ihm, aus der U-Haft zu entkommen. Nun wurde er steckbrieflich verfolgt. Er schaffte es aber, ins Ausland zu fliehen: nach Baden. Bei dem Grafen von Welsberg auf Langenstein, am Überlinger See gelegen, fand er Lohn und Brot. Es war just jenes Langenstein, das später Großherzog Ludwig für seine Geliebte, die Theaterfigurantin Werner, erwarb. Seine Bettgespielin, die von ihm auch Nachwuchs hatte, machte er kurzerhand zu einer Gräfin von Langenstein und ließ sie als Schloßherrin fungieren. Müller aber, um in seiner Kurzbiographie fortzufahren, startete von hier aus seine zweifelhafte Karriere. Kaum ein Jahr in den Diensten des Grafen von Welsberg, wurde der schräge Vogel Kanzleiangestellter im badischen Ministerium, und zwar in der "Abteilung Großherzogliches Haus und Auswärtige Angelegenheiten". Zu verdanken aber hatte Johann Jakob Friedrich Müller diese Stellung keinem anderen als Hennenhofer, Badens Grauer Eminenz, die, wie wir schon wissen, die diplomatische Sektion des gleichen Ministeriums 1828 übernehmen sollte. Jetzt waren die zwei richtigen Typen beisammen. Hennenhofer und Müller - ein Gespann wie füreinander geschaffen. Der Herr und Meister und sein erster Gehilfe. Beide von keinerlei Hem-
mungen geplagt, beide agil und rücksichtslos, beide Parvenüs, die bereit waren, sich ihren Weg notfalls mit dem Dolch zu bahnen. Der Kreis hat sich wieder einmal geschlossen. Müllers Aufstieg hielt an: Kanzleisekretär in Frankfurt, dann Rechnungsführer der Gendarmerie im Kriegsministerium - für 1000 Gulden im Jahr. Ein schönes Sümmchen. 1831 schließlich wurde Müller gar Generalkriegskassenkontrolleur. Das war ein halbes Jahr nach Hennenhofers Pensionierung. Dem Müller aber reichte auch jetzt nicht sein Gehalt. Er war ein Gernegroß und haute auf den Putz. Eine Spielernatur. Und die Zockerei verschlingt allemal Geld, da es in der Natur der Sache liegt, daß Spieler nicht nur gewinnen. Also hockte er sich an den Tisch und schrieb ein Gesuch um Gehaltsaufbesserung. Ohne Erfolg. Aber zähe wie er war, ließ er sich nicht irre machen und fertigte neue Gesuche an, erfand dazu auch die entsprechenden Argumente. Interessant ist es nun, wann er sein letztes Gesuch abgeschickt hat: im Sommer 1833. Ja, Sie haben richtig gelesen: im Sommer jenes Jahres, der dem Dezember vorausging, an dem Kaspar Hauser in Ansbach ermordet wurde. Aber auch dieses Gesuch ist abschlägig beschieden worden. Seine Schulden, ihm bereits über den Kopf gewachsen, drohten ihn zu ersticken. Der nunmehr pensionierte Major von Hennenhofer, Müllers einstiger Vorgesetzter und Förderer, der auch jetzt noch seine Fäden nach überallhin und eine mehr als heikle Mission zu erfühlen angenommen hatte - dieser Hennenhofer dürfte um Müllers verzwickte Lage gewußt haben. So kam das Engagement zustande. Hennenhofer wird es dem Müller auseinandergesetzt haben, wie er wieder aus der Klemme herausfinden könnte. Und dieser nahm die Rolle des Killers an. Den Mord auf Bestellung. Hennenhofer, von Großherzogin Sophie, vielleicht auch von Bankier Haber junior mit entsprechenden Geldmitteln ausgestattet, konnte seine Rotte bezahlen. Die dafür geleistete Arbeit vollbrachten sie am 14. Dezember im Ansbacher Hofgarten, indem sie Kaspar Hauser buchstäblich ans Messer lieferten.
Es sieht nun einem Menschen wie Müller durchaus ähnlich, wenn er die ihm zur Verfügung gestellten Spesengelder nicht ausgab, sondern für sich behielt, sozusagen als selbstzugestandene Aufbesserung seines blutigen Honorars. Gemeint sind damit die Schmiergelder für Dorfinger und Beyerlein, die er wahrscheinlich nur in Aussicht gestellt, aber nie ausbezahlt hat. Dorfinger ist in 20 Jahren nicht darüber hinweggekommen, daß er von diesem Müller gerollt wurde. Betrogen um den Judaslohn. Aber was wollte er schon machen! Die Sache anzeigen und dann ins Kittchen wandern? Nein, er wußte sehr wohl, weshalb er bis zum Verjährungsjahr geschwiegen hat. Leute seines Schlages vergessen es nicht, von einer linken Zockertype ausgeschmiert worden zu sein, für blutig endende Zutreiberdienste geprellt zu werden. Letztlich waren sie alle vom gleichen Schlag. Der Dreck findet eben immer seinen Kameraden. Wo solche Typen Geld wittern, sind sie da. Immer und zu allem bereit. Auch Müller, dieser geldgeile Spieler, bekam nie genug davon. Und er hatte es bei seinem Lebenswandel zugestandenermaßen auch bitter nötig. Dabei begnügte er sich nicht nur damit, "auf den Zock zu gehen". Sein Spürsinn war wach, hellwach sogar. Natürlich bekam er es mit der Zeit einigermaßen heraus, was in Sachen Hauser hinter den Kulissen gespielt wurde, daß es nämlich in Wahrheit um unermeßlich höhere Beträge gegangen ist, als ihm selbst bei bester Bezahlung zugesteckt wurde. Es dämmerte ihm, daß er keine Angst zu haben brauchte. Niemand würde ihm je ein Härlein krümmen dürfen. Ihm nicht und natürlich auch dem Hennenhofer nicht, der Nerven wie Drahtseile hatte. Keinem von der Rotte. Hemmungslos, wie er veranlagt war, nahm er sich deshalb das Recht heraus, kräftig in die ihm anvertraute Kasse zu langen. Viel geschehen, das wußte er, konnte ihm nicht. Nicht ihm, der den Banditendolch höchstpersönlich geschwungen hatte. Und das nutzte er aus. Rücksichtslos und ohne jegliche Skrupel. 14700 Gulden betrug 1834 das Loch in seiner Kasse, die ihm vom Staat anvertraut worden war. Er kam, als der Defekt entdeckt wurde, in Untersuchungshaft. Und kaum zu glauben, aber wahr: Friedrich Müller, der Generalkriegskassenkontrolleur, wurde beim Hauptverfahren schließlich freigespro-
chen. Per Urteil wurde ihm lediglich auferlegt, 4000 Gulden abzudecken. Jeder andere aber wäre in Jahren aus der Festungshaft nicht mehr herausgekommen. Denn bei Eigentumsdelikten fackelten die Mächtigen damals nicht lange. Offiziell sprach für den Messerschwinger Müller vor Gericht, als Milderungsgrund, daß ein Untergebener von ihm angeblich gleichfalls in die Kasse gegriffen hatte. Das Gerichtsverfahren war denn auch äußerst verzwickt und nebulös. Ein Schaubudenhickhack, bei dem die Akteure ihre Anweisungen erhalten hatten, den Herrn Kassenkontrolleur tunlichst ja mit Samthandschuhen anzufassen. Wie auch soll sich der Staat gegen so eine Type zu Wehr setzen! Wer weiß, vielleicht hat auch er bereits seine speziellen Memoiren geschrieben und im Ausland deponiert, falls ihm etwas zustoßen sollte. Die großherzogliche Regierung machte dann schließlich in ihrem Sinne das Beste aus der rabenschwarzen Sache, indem sie den Herrn Kontrolleur nach langem Hin und Her 1837 pensionierte. Für 700 Gulden Rente. Und dies für einen vorbestraften 41 jährigen. Drei Jahre später, 1840, heiratete der Killer - und konnte schon wieder ein Vermögen von sage und schreibe 8700 Gulden nachweisen. Er kaufte den "Fuchshof", ein kleines Gut in der Nähe von Hohenstaufen, seinem Geburtsort. 8000 Gulden kostete der Hof, dessen Besitzer nun als "Fuchshofmüller" bezeichnet wurde. 1858 verkaufte er sein Gütchen und zog nach Gmünd, samt seiner besseren Hälfte, wegen der er von der evangelischen zur katholischen Kirche übergetreten ist. In Gmünd aber - weiß der Herrgott, wie das kam - ist es nicht gerade selten zu sonderbaren Kundgebungen gekommen, indem ihm die Gassenbuben "Kaspar-Hauser-Mörder!" oder "Prinzenmörder!" nachriefen. Der Fuchshofmüller ertrug auch diese Buhrufe mit stoischer Gelassenheit, ähnlich wie Hennenhofer seine Katzenmusiken achselzuckend zur Kenntnis nahm. Beide, Regisseur wie Hauptakteur, wußten sehr wohl, daß man ihnen nichts anhaben konnte. Aber Anzeigen wegen Verleumdung und Beleidigung, erstatteten sie nicht. Sie wogen sich in Sicherheit und schwiegen, glaubten wohl gar, im Dienste des Vaterlandes gestanden zu haben, zumindest der höheren Politik.
Müller starb kinderlos, wie sein Gehilfe Horn, im Jahre 1875. Er hatte es auf 79 Jahre gebracht. Als Kaspar ermordet wurde, stand Müller in seinem 37. Lebensjahr. Dorfinger, die Ansbacher ExwirtLeuchte, hat ihn so beschrieben: Er war größer und hagerer als Horn, hatte einen schwarzen Schnurrbart, einen schwarzen Hambacher Bakkenbart und eine bräunliche Gesichtsfarbe. Er sprach badischen Akzent, hatte längliches Gesicht, einen scharfen Blick und war zur Attentatszeit wie folgt bekleidet: schwarzer runder Filzhut, hellgrüner Rock, dunkle Hosen, silberne Sporen an den Stiefeln und blauer Mantel mit rotem Futter. Dorfinger hat diese Einzelheiten in 20 Jahren nicht vergessen, so sehr hat ihn die ganze Sache dazumalen aufgewühlt, wobei wahrscheinlich die Wut über die betrogenen 200 Louisdors weit mehr ins Gewicht seiner schwarzen Seele gefallen sind als der Tod des unschuldigen Jungen. Und die Details stimmten auch! Denn mehrere Zeugen, wie wir noch vernehmen werden, haben unabhängig voneinander die gleiche Beschreibung von einem Manne gegeben, der ihnen am Attentatstag als Fremder im Ansbacher Stadtgebiet aufgefallen ist. Der auf den Tod verwundete und dennoch immer wieder verhörte Hauser, schilderte am 16. Dezember, zwei Tage nach dem Mordanschlag und einen Tag vor seinem Hinscheiden, den Täter so: Der war etwas größer und hatte einen schwarzen Schnurrbart und schwarzen Backenbart ... Er hatte ein rotes Gesicht und dunkelbraune Haare ... Er war über die mittlere Statur und mag 50 - 54 Jahre alt sein. Daß er einen Mantel trug, das weiß ich, aber von welcher Farbe, das weiß ich nicht. Auch hatte er einen runden schwarzen Hut ... Was hier nicht zu Dorfingers und der Zeugen Schilderung paßt, ist das Alter. Müller war damals im 37. Lebensjahr, Hauser aber gibt 50 bis 54 Jahre an. Das ist ein Unterschied von mindestens 13 Jahren. Aber der Beschreibung nach war Müller ein dunkler Typus, von seiner äußeren Beschaffenheit her. Solche wirken bekanntermaßen immer etwas älter als sie tatsächlich sind. Hinzu kommt Kaspars psychi-
scher und physischer Zustand. Auch Hans Scholz schreibt ganz treffend, daß junge Leute dazu neigen, Personen, die ihnen an Alter ein Gutstück voraus sind, in dieser Hinsicht zu überschätzen. Müller, Horn und Sailer, das Killertrio, machte sich also auf den Weg und steuerte Ansbach an. Um den 4. oder 5. Dezember herum erreichten sie die Stadt und fuhren hinauf in den "Drechselsgarten", wo sie gemeinsam ihr Mittagsmahl einnahmen. Bevor Müller und Horn nach Nürnberg weiterfuhren, wurden die letzten Anweisungen gegeben. Die Tat war für den 11. Dezember geplant, einen Mittwoch. Gegen Mittag des vorhergehenden Tages erst wollten Müller und Horn in Ansbach auftauchen. Im Rottenlager. Horn konnte dann am nächsten Tag, am 11. Dezember, dem Kaspar Hauser das noch zu vereinbarende Stichwort geben, womit der Junge in den "Drechselsgarten" geladen werden sollte. Auf einer Spazierfahrt, vielleicht in Richtung Grüb/Weihenzell, konnte Müller seine Chance zum Dolchstoß wahrnehmen. Horn sollte dabei als Müllers Diener und Kutscher fungieren. Sailer jedoch, nur zwei Jahre älter als Hauser selbst, sollte in persönlichen Kontakt mit Kaspar treten, ihn für die Tat präparieren. Wirt Beyerlein und dessen Schwager Dorfinger wurden in das vorhaben natürlich nicht eingeweiht. Aber sie bekamen einiges heraus. Vor allem Dorfinger, der den Horn von früher her gut kannte. Nicht zuletzt deshalb hatten sie ja gerade diese Kneipe als Rottenlager ausersehen. Nach dem Essen fuhren also Müller und Horn, der sich Baptist nannte, nach Nürnberg weiter. In der größeren Stadt konnten sie unauffälliger untertauchen. Der Müller als angeblich höherer Forstbeamter und Baptist-Horn als dessen Diener. Ferdinand Sailer aber blieb in Ansbach, bei Beyerlein und Dorfinger. Diese ahnten mehr als sie wußten, daß etwas im Gange ist. Mit Kaspar Hauser. Sicher nichts Gutes. Ein kleines Vermögen von 200 Louisdors bekommt man nicht dafür, um den Findling zum Kaffeetrinken in ihr Lokal zum bestellen. Sie ahnten, daß etwas Furchtbares auf diesen Hauser zukommt, hatten
aber verständlicherweise Angst, in eine Sache hineingezerrt zu werden, die ihnen gefährlich werden konnte. Dorfinger dachte an die in Aussicht gestellten Louisdors. Und Geld, viel Geld beruhigt allemal in Wirrung gekommene Gemüter. Und was sagte ihm Horn? Sprach dieser nicht davon, daß es sich bei der ganzen Aktion um eine politische Sache von größter Bedeutung und Geheimhaltung handele? Es wird wohl so sein, flüsterte Dorfinger seinem Schwager zu. Auch der junge Herr, der dageblieben ist und hier übernachtet, ließ ähnliches verlauten. Alle taten sie recht geheimnisvoll, die drei schrägen Vögel. Dorfinger und Beyerlein aber fühlten sich mit als Geheimnisträger. Nur mit der Bestellung in den "Drechselsgarten" waren sie nicht einverstanden je mehr sie darüber nachdachten. Das sei zu auffällig, erklärten sie dem zurückgebliebenen Sailer und später auch dem Müller und "Diener" Baptist. Die Begegnung mit dem Kaspar Hauser, schlug Dorfinger vor, wäre doch am unauffälligsten im Hofgarten unten, nicht weit vom Stadtkern und doch schon außerhalb. Dabei dachte er natürlich an seines Schwagers Lokal und ihrer beider Sicherheit. Man konnte ja nie wissen, gerade auch wenn's um Politik geht. Wo nur dieser Sailer, der selbstverständlich unter einem anderen Namen logierte, immer hingeht. Lediglich am Abend war er regelmäßig und beizeiten im Lokal. Untertags trieb er sich unten in der Stadt herum. Auch in den Hofgarten sah ihn Dorfinger zufällig hineingehen. Das war am Tag nach seiner Ankunft. Was spähte er bloß aus? Natürlich peilte er die Lage und hatte sicher auch Aussprachen mit Hauser, worüber aber nichts aktenkundig geworden ist. Aber er hat sie gehabt, so sicher Kaspar auf dem Sterbebett nicht mit der ganzen Wahrheit herausgerückt ist. Dies haben indirekt Zeugen bestätigt. So auch, wenn ihn einer jener Ansbacher Zeugen zur Tatzeit gemeinsam mit Müller in den Hofgarten hat gehen sehen. Kaspar aber gab bei seinen Vernehmungen an, er sei alleine in den Hofgarten gegangen und habe seinen Attentäter erst ganz kurz vor dem Dolchstich gesehen. Vor Ort sozusagen, einen kleinen Steinwurf weit weg vom Denkmal des Dichters Uz, das noch heute an der gleichen Stelle steht, wo es 1825 eingeweiht worden ist.
Wo aber war nun Gendarmerie-Oberleutnant Hickel? Kümmerte er sich denn nicht um Kaspar, der ihm anvertraut worden ist? Tatsächlich war Joseph Hickel zur Zeit, als die Mordclique Ansbacher Boden betrat, nicht mehr hier. Seit dem 3. Dezember befand er sich auf einer seiner zahlreichen Dienstreisen. Diesmal nicht in Sachen Hauser, um den herum es still geworden war. Die Ruhe vor dem Sturm, wie immer, wenn ihm besondere Gefahr drohte. Ob sie's gewußt haben, das Mordtrio, daß der offizielle Beschützer Hausers, der Spezialkurator Hickel, am 3. Dezember die Gumbertustürme hinter sich lassen wird? Fast anzunehmen. Vielleicht hat Hauser dem Sailer beiläufig bemerkt oder geschrieben, Hickel werde am 3. Dezember verreisen. In der Tat ist ja dann das Trio einen oder zwei Tage später in Ansbach eingefahren. Kaspar war also alleine und fieberte den nächsten Tagen entgegen. Denn Sailer hat es ihm klipp und klar gesagt, daß sein, Kaspars Wendepunkt, gleichsam vor der Tür steht. In wenigen Tagen schon werde ein Abgesandter seiner hohen Eltern auf der Bildfläche erscheinen und ihm spezielle Aufschlüsse über seine Herkunft geben. Die Sache sei aber im Moment noch von äußerster Geheimhaltung. Kaspar werde noch bald genug erfahren, warum dem so ist. Er, Sailer, müsse derzeit noch im Hintergrund bleiben, um kein politisches Aufsehen zu erregen, vielleicht gleich gar, um einen Eklat zu vermeiden. Dafür werde ihm in den nächsten Tagen ein Bote begegnen. Ein Mann werde ihn ansprechen und fragen: "Sind Sie Herr Hauser?" Dann werde ihm dieser Bote sagen, wann und wo Kaspar den hohen Abgesandten seiner Eltern antreffen könne. Nur dürfe halt Hauser um Gotteswillen keinem Menschen, keiner Seele etwas davon sagen. Aus Gründen, die er, Sailer, im Augenblick noch nicht sagen dürfe, müsse zunächst einmal strengstes Stillschweigen beachtet werden. Und dann schärfte Sailer dem Kaspar noch einmal ein, daß als Erkennungszeichen der Botschaft voraus die unauffällige Frage geht: "Sind Sie Herr Hauser?" Am Mittwoch, 11. Dezember 1833, war es soweit. Kaspar verließ um 8.30 Uhr Lehrer Meyers Wohnung und begab sich gegenüber in
das Appellationsgericht. Das Wetter war, wie in all den Tagen vorher schon, saumäßig. Windböen fetzten über die Dächer, Schneeschauer peitschten dem Kaspar ins Gesicht, der mit der einen Hand seinen Hut hielt, damit ihn der Wind nicht wegreißen kann. Aber er hatte ja nicht weit. Kaum aus der Haustüre - unten im Konditorladen des Hauswirts Vogel roch es nach Marzipan und Weihnachtsgebäck -, war Hauser auch schon im Foyer des Gerichtsgebäudes, hinter dem Hauptportal gelegen und "Tennen" genannt. Dort aber wartete bereits Horn auf ihn, der Bote Müllers, der Todesengel. Kaspar kannte ihn nicht, hatte diesen Mann noch nie gesehen. Raschen Schrittes wollte Hauser an ihm vorübergehen, um in sein Schreibzimmer zu gelangen. Doch der wie ein Arbeiter gekleidete Mann vertrat ihm den Weg und sagte, seine Mütze lüftend: "Eine schöne Empfehlung vom Herrn Hofgärtner" und Herr Hauser solle doch so nach drei Uhr in den Hofgarten hineingehen, wo ihm die Tonarten am Artesischen Brunnen gezeigt würden. Das ist der Bote, durchzuckte es Kaspar. Aber nein, das kann doch gar nicht sein! Es fehlt doch der Erkennungssatz "Sind Sie Herr Hauser?" Das hat er doch nicht gesagt. Oder doch? Kaspar wurde ganz verwirrt und schaute sein Gegenüber, das auf eine Antwort heischte, starr an. Seine linke Gesichtshälfte fing zu zucken an, wie immer, wenn er sich auf etwas konzentrierte. Für Horn aber, der ihn nicht so genau kannte, muß es furchteinflößend ausgeschaut haben, wie Kaspar ihn anglotzte, ohne etwas zu sagen. Dabei war Horn eh aufgeregt genug. Er hatte immer mehr zu ahnen angefangen, auf was er sich da eingelassen hat. Er war schon vorher aufgeregt, jetzt aber verwirrte ihn Kaspars Benehmen. Erst auf dem Weg ins Lokal hinauf fiel es ihm brühwarm ein, daß er ja vergessen hat, den Erkennungssatz zu sagen, den Einleitungssatz vor der Botschaft. Hauser aber, der wie ein angestochenes Kalb vor sich hinstierte, kam wieder zu sich, nickte nur beiläufig und ging die Treppe hinauf. Höchst oberflächlich verrichtete er seine Arbeit. Immer wieder ertappte er sich beim Fehlermachen. War dies nun der Bote, auf den er seit Tagen schon wartete, oder war er es nicht? Ihm war ja nur gesagt
worden, daß ein Bote ihm Ort und Zeit sagen werde, vorher aber den Erkennungssatz "Sind Sie Herr Hauser?" Kaspar sinnierte. Möglich, durchaus möglich, daß der Besteller, nicht der Bote, tatsächlich der Hofgärtner war, den er vom Sehen her kannte. Aber dann fiel ihm ein, daß am Artesischen Brunnen mindest seit einem halben Jahr nicht mehr gearbeitet wird. Warum, wußte er nicht. Die Bohrstelle war mit Brettern abgedeckt worden. Mit dem Ehepaar Meyer hatte Kaspar das im Werden begriffene Brunnenwerk im Frühsommer des Jahres schon einmal besucht. Damals wurden ihnen die verschiedenen Bodenproben vorgelegt, die da durch den Bohrer ans Tageslicht gekommen waren. Hauser erinnerte sich und beschloß dann - es war schon kurz vor der Mittagspause -, gleich nach dem Essen bei Frau Hickel vorbeizusehen und ihr beiläufig zu sagen, er sei in den Hofgarten geladen worden. Mal sehen, was die Gattin des Gendarmerieoffiziers dazu sagt. Denn ganz traute Kaspar dem Braten nicht. Intuitiv spürte er, hier stimmt etwas nicht. Kaspar witterte vielleicht nicht gerade Gefahr, aber irgend etwas lag in der Luft. Wie vorgenommen, so ging Hauser nach dem Mittagsmahl zur Frau Oberleutnant Hickel. Er machte sein Schwätzle mit ihr und erzählte schließlich sein Erlebnis, das er vor einigen Stunden auf dem Gerichtstennen, der übrigens noch im ursprünglichen Bauzustand wie damals zu sehen ist, gehabt hat. So beiläufig, wie er es sagte, nahm es die Frau Oberleutnant hin. Sie hatte nicht das geringste Mißtrauen, ihr fiel nichts auf. Später gab sie zu den Akten: K. H. war in jener Woche mehrmals in meinem Hause, ich habe gar nichts an ihm bemerkt, was mir irgend aufgefallen wäre. Er war heiter und freundlich wie sonst. Jetzt erst beschloß Kaspar, der sicher freundlich gemeinten Einladung des Hofgärtners nachzukommen. Es konnte ja nicht schaden, und die Bodenproben hatten ihn schon damals interessiert. Warum also nicht? dachte Hauser. Vielleicht haben die Arbeiter in den letzten Tagen wieder mit den Bohrungen angefangen. Wegen des miesen Wetters war er schon seit vier oder fünf Tagen nicht mehr im Hofgarten ge-
wesen, obwohl er dort ansonsten beinahe täglich seinen Spaziergang zu machen pflegte. Madame Hickel war nun nicht nur eine hübsche und nette Gastgeberin, sondern auch einem harmlosen Flirt nicht abgeneigt. Sie schäkerte gerne. Auch an diesem frühen Nachmittag. Um ihn zu necken fragte sie Kaspar, ob er heute abend auf dem Ball des Generalkommissärs von Stichaner sei. Damit hatte sie einen wunden Punkt bei Kaspar, diesem eitlen, kleinen Tropfen angerührt. Hintergründig mag sie dabei auch an Lilla von Stichaner gedacht haben. Sie kannte Hausers Schwäche für dieses hübsche, zarte Mädchen. Darüber zu Sprechen getraute sie sich freilich nicht. Kaspar wurde jedenfalls furchtbar verlegen und stammelte, er habe zu diesem Ball keine Einladung erhalten. Und das hat ihn natürlich getroffen. Denn auf gesellschaftliche Reputation hielt er viel. Sicher habe man ihm bei all den Weihnachtsvorbereitungen bloß vergessen, stotterte er verlegen - und zwitscherte ab wie ein junger Vogel, dem man die Freiheit geschenkt hat. Bei Stichaner bedeutet man ihm, daß er nicht vergessen worden sei. Da er soviel wie zur Familie gehöre, hatte man geglaubt, auf eine förmliche Einladung verzichten zu können. Aber weil er darum bat, bekam Kaspar selbstverständlich seine schriftliche Einladung für den Abend. Kaspar war wieder einmal überglücklich und küßte Lilla von Stichaner, die ihn bis zur Haustüre begleitete, beim Abschied für ein paar Stunden artig die Hand. Lilla sah ihm gedankenverloren nach. An den Hofgärtner und den Artesischen Brunnen dachte er schon gar nicht mehr. Nur noch schnell das Pflichtpensum in Latein und dann ab auf den Ball. Daran dachte er, und sonst an nichts. Horn aber, der Unglücksrabe, dachte nicht im entferntesten daran, dem im "Drechselgarten" wartenden Friedrich Müller von seiner Panne zu erzählen, er habe vergessen, das mit Sailer vereinbarte Stichwort, den Erkennungssatz zu sagen. Nur mühsam unterdrückte er seine Aufregung und sein schlechtes Gewissen. Weder gicks noch gacks habe dieser Kaspar Hauser gesagt. Nur geglotzt wie ein Dorfdepp aus der hintersten Ecke. Zwar habe Hauser gedankenverloren
genickt, meinte Horn, aber er zweifle, ob dieses Mondkalb überhaupt begriffen hat, daß er heute nachmittag in den Hofgarten kommen soll. So etwas ist mir noch nicht passiert, schimpfte Horn seine Erregung herunter. Was aber nun? Soll Müller dem Kerl im Hofgarten auflauern? Was ist, wenn der Bursche Lunte gerochen und die ganze Sache seinem Lehrer und Verköstiger gesagt hat. Würde der nicht schleunigst die Polizei verständigen? Verdammter, dreimal verdammter Mist, fluchte Müller und schaute Horn gehässig an. Nach einer Weile befahl Müller kurzentschlossen dem Dorfinger, an seiner Statt in den Hofgarten hinunterzugehen. Der aber war davon nicht gerade begeistert und sagte dies auch. Ein Blick des Triochefs genügte aber, den Dorfinger in die Schranken zu weisen, hinter die er sich durch seine Geldgier selbst gesetzt hatte. Gegen 14.50 Uhr machte er sich denn auf den Weg hinunter in die Stadt. Als er den Schloßplatz erreichte, konnte er seine Erregung kaum mehr unterdrücken. Sein Schwerenöterherz schlug ihm bis an den Hals. Unsicher schaute er sich um. Aber er erblickte nichts Verdächtiges. Nur die Feigelein sah er die Promenade hinaufschlurfen. Ein ältliches Bettelweib, dem auch Hauser ab und an einige Sechser zusteckte. Sie war dick vermummt, und Dorfinger wußte nicht recht, ob sie ihn gesehen hat. Ihn fröstelte, als er auf den Hofgarteneingang neben der alten markgräflichen Reithalle, an deren Stelle heute das Haus der Volksbildung steht, zuging. Gedankenverloren schlug er den Mantelkragen hoch, so daß ihm das Schneewasser in den Nacken lief. Im sogenannten Lindenwäldchen vor der Nordwestecke der Orangerie knarrten die Äste unter den heftigen Windböen, die immer wieder und wie in automatischen Abständen Schneematschschauer heranwirbelten. Keinen Hund sollte man bei so einem Wetter herauslassen, murmelte Dorfinger und schaute sich wieder und wieder ängstlich um. Hinter einem der Lindenbäume glaubte er, daß sich etwas bewegt hatte. Ihm stockte der Atem. Und wiederum verfluchte er den Tag, auf dem er sich zu so etwas eingelassen hat. Aber seine Angst war umsonst. Was wie ein hinter dem Stamm lauernder Mensch ausgesehen hat, erwies sich beim Näherkommen als ein wilder Reis, der sich da als Schmarotzer neben dem Lindenstamm aus dem Boden gewun-
den hatte. Dadurch wurde Dorfinger wieder sicherer. Schnurstracks steuerte er die Anlagen vor der Orangerie an, hinter deren Fenstern einige Arbeiter werkelten, wie er beim Vorbeigehen bemerkte. Es waren Taglöhner der Hofgärtnerei. Aber ansonsten war nirgendwo eine Menschenseele zu schauen. Auch nicht am Artesischen Brunnen, dessen Bohrloch noch mit Brettern abgedeckt war, auch nicht entlang der über 1000 Schritte langen Lindenallee und auch nicht in der Umgebung des Denkmals, das die Ansbacher acht Jahre vorher ihrem anakreontischen Dichter Johann Peter Uz gewidmet haben. Nichts zu sehen. Weit und breit nicht. Kein Kaspar Hauser, keine Gendarmen. Nichts, rein gar nichts. Er war mit sich und den sturmartigen Schneeschauern alleine. Der Bursche ist also doch nicht gekommen, dachte er und lobte im Stillen die Beobachtungsgabe des Horn. Dorfinger atmete auf, so richtig aus tiefster Brust, quasi von ganz unten herauf. Dieser Kaspar Hauser hat also doch die Bestellung für sich behalten und keinen Wirbel gemacht. Armer Kerl! dachte Dorfinger, wischte aber das in ihm aufkommende Gewissen gleich wieder beiseite. So ist's halt in der Politik, flüsterte er sich zu. 's is halt a politischer Fall, die ganze Sach'! Der Müller hat's gsocht und a der Baptist, der alte Spezi. Und so werd's a sei. Auf dem Rückweg aber traf er wieder die Feigelein, die zu den "Stammgästen" auf dem Gerichtstennen gehört, wo sie die noblen Herrn um bescheidene Gaben anbettelte. Überhaupt konnte man auf diesem Tennen so manches Völkchen den Tag über herumlungern sehen. Dazu die vorbeihastenden Justizbeamten und die um die Freiheit und Geldbeutel ihrer Mandanten besorgten Herren Advokaten. Ein Wunder, daß Horn den Kaspar Hauser zu fassen bekam, als just keine Seele in der Nähe war. Dorfinger aber gab der alten Feigelein gutgelaunt einen ganzen Kreuzer. Die Arme bedankte sich wortund gestenreich. Er jedoch schüttelte sie ab und stiefelte mit weiten Schritten den Schloßberg hinauf zum "Drechselsgarten", wo er Müller sogleich Bericht erstattete. Nun atmeten sie alle auf, die Herren. Und der Müller spendierte der ganzen Clique einen Doppelstöckigen. Jeder glaubte, ihn redlich ver-
dient zu haben. Allen voran Dorfinger, dessen Aufgabe es gewesen wäre, den Kaspar abzufangen und ihm ein Märlein aufzutischen, daß der hohe Herr mit dem badischen Akzent, den er erwarte, entgegen allen Erwartungen noch nicht mit der Eilpost eingetroffen sei. Auch der Herr Sailer bedauere dies sehr. Dieser habe aber nicht kommen können, da er in einer dringenden geschäftlichen Angelegenheit nach Heilsbronn fahren mußte. Dorfinger schnaufte tief durch und fühlte sich erleichtert, daß es nicht soweit gekommen ist. Man konnte ja nie wissen. Vielleicht traf der Müller den Kaspar nicht gleich richtig, so daß der Bursche noch ausplaudern könnte und er, der Dorfinger, dann ins Kittchen wandern müßte, wenn nicht gleich gar schlimmeres. Für Müller aber, der einen Auftrag zu erfüllen hatte, war damit die Sache noch lange nicht ausgestanden. Was heute nicht ist, wird morgen, sagte er sich. Fürs erste ist das Bürschchen zwar nicht auf die Leimrute gekrochen, aber er, Müller, wird ihn schon noch zu fassen kriegen. Abwarten und Tee schlürfen, sagte er zu Beyerlein, der eben die Gläser vom Tisch räumte, um sie auf einen Wink Müllers neu zu füllen. Beyerlein aber kapierte erst, als er beim Einschenken hinter der Theke war. Müller behielt ihn im Auge und grinste nur. Es war sonst niemand im Gastzimmer, denn im Winter verlief sich selten ein Gast hinauf in den "Drechselsgarten". Spät in der Nacht noch entschied sich Müller, das Spiel am Samstag, 14. Dezember, erneut zu wagen. Diesmal wird es hinhauen. Das schwor er sich. Auf Zufälle werde er, Johann Jakob Friedrich Müller, sich nicht mehr einlassen. Sailer aber, der verkrachte Pharmazeut, sollte nochmals Verbindung mit Kaspar aufnehmen und dem Jungen klarmachen, daß es schon in den allernächsten Tagen soweit sei. Die Sache, erläuterte Müller seinen Kumpanen, dürfe auf keinen Fall mehr länger hinausgezögert werden. Weihnachten steht bevor, und man weiß nicht, wann Oberleutnant Hickel wieder zurückkommt von seiner Reise. Müller aber verdrückte sich am nächsten Tag, am Donnerstag. Wahrscheinlich fuhr er nach Feuchtwangen, um dort als unauffälliger Reisender bis
Samstagfrüh zu bleiben. Er, der Messerführer, wollte die Szenerie sozusagen erst in letzter Minute betreten, um dann sogleich wieder zu verschwinden. Nach getaner Arbeit. In Nürnberg, so war es ausgemacht, wollten sie sich wieder treffen. Im "Drechselsgarten"; zu bleiben, war ihm zu riskant. Erst recht nach der Pleite vom Mittwoch. In der Tat muß Müller bereits am Samstagfrüh wieder in Ansbach gewesen sein. Ein Zeuge sah ihn gegen zehn Uhr auf dem Oberen Markt, heute Johann-Sebastian-Bach-Platz. Kaspar aber vergnügte sich vom Mittwoch auf den Donnerstag im Palais des Regierungspräsidenten von Stichaner. Er war ganz in seinem Element und fühlte sich pudelwohl, wie Zeugen nach dem Mordanschlag geschildert haben. Er tanzte viel und trank seine Limonade. Einem jungen Offizier in Galauniform, der auch die Ehre bekommen hatte, auf dem Ball der Ansbacher Hautevolee erscheinen zu dürfen, erzählte Kaspar munter, eigentlich würde er auch gerne Offizier werden - aber nur dann, wenn es keine Kriege gäbe. Er habe ja erst angefangen zu leben ... Auch mit Lilla von Stichaner tanzte Hauser, der Tochter des Gastgebers. Er tanzte sogar viel mit ihr. Vielleicht zu oft. Einige Damen der Gesellschaft tuschelten bereits hinter ihren Fächern, andere beäugten hinter ihren Lorgnetten das junge Paar, das frohgemut über das Parkett walzte, als gelte es, einen Preis zu gewinnen. Die Stimmung war jedenfalls prachtvoll. Und das Weihnachtsfest stand vor der Tür. Draußen aber, entlang der mit Kastanienbäumen besetzten Promenade, warteten die Kutscher mit ihren Gefährts, die in Reih und Glied abfahrtbereit standen. Zu beiden Seiten der König-LudwigPromenade, wie sie noch heute heißt. Nebel war aufgekommen, und die Männer fröstelten, qualmten ihre Pfeifen und ratschten. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis die ersten Gäste ihre Heimfahrt antreten würden. Die Glocke des Herrieder Tores hatte soeben zwölf Uhr geschlagen. Und da kam auch schon der Nachtwächter durchs Schloßtor gestapft, die Laterne in der Hand und dabei sein "Hört ihr Leut' und laßt's euch sagen: die Uhr hat zwölf geschlagen ..." singend. Müden Schritts ging er die Promenade hinauf in Richtung Her-
rieder Vorstadt. Einige Worte flogen hin und her zwischen dem Kutschervolk und dem Nachtwächter. Dann hat ihn der Nebel verschluckt. Und da kamen auch schon die ersten Gäste aus dem Präsidentenpalais, diesem barocken Juwel schräg gegenüber der Prunkfassade des Schlosses. Livrierte Diener des Generalkommissärs geleiteten sie mit Laternen. Kaspar war einer der letzten, die das gastliche Haus verließen. Er kam in Begleitung eines Fahnenjunkers der Leichten Reiterei. Einem netten Kerl, den Kaspar nicht hatte abschütteln können. Zu gerne hätte er sich vor Lilla von Stichaner persönlich und alleine verabschiedet. Und auch Lillas Herz hatte danach gedrängt. So aber blieb auch ihr nichts anderes übrig, als von ihrem Zimmer oben dem Kaspar zuzuwinken. Zackig grüßend und mit einer tiefen Verbeugung erwiderte Kaspars Begleiter den Gruß, der nicht ihm gegolten hat. Beide plauderten noch ein bißchen belangloses Zeug und verabschiedeten sich dann per Handschlag. Der Fahnenjunker ging die Promenade hinauf, Kaspar Hauser aber durchs Schloßtor. Lilla schaute ihm nach, bis seine Konturen mehr und mehr vom Nebel verschluckt wurden. Sie wußte, wie es in ihrem Herzen aussah, in dem Kaspar einen breiten und tiefen Raum einnahm. In weniger als fünf Minuten, schätzte sie, würde Kaspar daheim sein. Daheim? Lilla schluchzte. Daheim bei dem Lehrerehepaar Meyer? Ist das Kaspars Zuhause? Nein. Aber wo ist sein Zuhause? Darüber grübelte sie noch nach, als schon der Schlaf seine Finger nach ihr ausstreckte. Aber einen tiefen Schlaf fand sie nicht. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Auch Kaspar konnte lange keinen Schlaf finden. Er ließ den Abend noch einmal vor seinem geistigen Auge vorbeiziehen. Dann dachte er über sein Schicksal nach. Ihm war, als hätte er auch früher schon, viel früher, die Gelegenheit gehabt, solche Ballszenen zu beobachten. Ja zu sehen, aber nicht beizuwohnen. Wo war das nur? Er grübelte und wurde dabei wacher statt schläfriger. Wo mag wohl der Lord jetzt sein? Und Binder und Daumer und Hickel und Baron von Tucher? Wer mag wohl dieser hohe Herr aus Baden sein, der ihm da für die nächsten Tage angekündigt worden ist? Wer war Sailer, den er mag?
Warum nur alles so geheimnisvoll? Ach, ist diese Politik doch eine komische Sache! Kaspar seufzte tief auf. Aber kitzlig ist's doch. So richtig geheimnisvoll und spannend. Endlich übermannte ihn der Schlaf. Lilla! war sein letzter Gedanke. Und dann war er weg und träumte verworrenes Zeug: von seiner Mutter, einer großen und mächtigen Madame, von ihrem hohen Abgesandten, von Sailer und immer wieder von Lilla. Und dies alles kunterbunt durcheinander. Schweißgebadet wachte er am nächsten Morgen auf. Als er aber beim Frühstück dem Lehrer Meyer und dessen Gattin gegenübersaß, da brachte er kaum einen Bissen hinunter. Ekelhaft dieses hintergründige Ausgefrage, wer mit wem getanzt hat und wer mit wem nach Hause ging. Nur mürrisch und geistesabwesend gab Kaspar Antwort. Es war nicht viel anzufangen mit ihm. Meyer merkte es und wurde seinerseits mürrisch und abweisend. Ärgerlich gab er zu verstehen, Hauser möge sich ja nicht allzuviel darauf einbilden. Für die hohen Herrschaften sei er nur wegen seines Schicksals interessant, sozusagen ein Spielball der Launen dieser hohen Herrschaften, die's mit ihm sicher nicht so gut meinten wie er. Und während Meyer und Hauser miteinander herumzankten, liefen die Vorbereitungen auf sein Ende sozusagen auf Hochtouren. In Ansbach, wo die Fäden seines Geschicks einander am dichtesten überkreuzten und durchlappten, sollte es passieren. Wo die Fäden aber zusammenliefen, das war in Mahlberg. Im Schlößchen des offiziell pensionierten Majors von Hennenhofer. Er fühlte sich in seinem Element als Regisseur. Zwei Gruppen hatte er organisiert, um vom Erdboden das zu tilgen, was Baden und dem monarchischen System gefährlich werden könnte: das sogenannte Prinzentum des Kaspar Hauser. Die eine Gruppe arbeitete unter seiner Regie in München und Karlsruhe in Sachen des angeblichen Soldaten Blochmann, dessen Aktentod inszeniert wurde, damit ja keine Panne passieren konnte. Dabei aber passierte doch eine, indem der nie existent gewesene Soldat Blochmann fälschlicherweise auch gleich noch den nie gehabten Vornamen Kaspar bekommen hat. Die andere Gruppe aber war die eigentliche Mordrotte: Sailer, Horn und Müller nebst ihren beiden Ansbacher Helfern Dorfinger und Beyerlein. Ihre Existenz konnte
nachgewiesen werden. Wer der Gruppe München/Karlsruhe angehört hat - über die Mitglieder dieser Rotte, wissen wir bis auf den heutigen Tag kein Jota. Nie konnte darüber etwas in Erfahrung gebracht werden. Aber sie haben gewirkt, waren am Werk. Die Früchte ihrer dunklen Arbeit konnten nachgewiesen werden. Wir wissen nur nicht, wer sie waren. Nach dem wenig erfreulichen Frühstück an diesem 12. Dezember 1833 ging Kaspar rüber an seine Arbeitsstelle im Appellationsgericht. Während der monotonen Arbeit des Aktenkopierens sann er über das letzte Gespräch mit Sailer nach. Noch in dieser Woche soll also der Abgesandte seiner Eltern hier eintreffen und sogleich ein Gespräch mit ihm haben, das Eröffnungsgespräch. Wo wird es sein? Kommt der Bote heute noch, um ihn einzuladen? Es werde an einem verschwiegenen Ort sein, sagte Sailer. Um der Geheimhaltung willen. Aber wo? Dabei fiel Kaspar die Sache mit der Bestellung in den Hofgarten ein. Es war dies ja erst gestern. Er hatte es ganz vergessen, und grausliches Wetter war obendrein noch. Die ganze Sache war so verwirrend. Sollte es wirklich die Botschaft des Abgesandten gewesen sein? Aber der Erkennungssatz fehlte doch! Kaspar beschloß schließlich, der Sache nachzugehen. Vor allem wollte er wissen, ob es am Artesischen Brunnen etwas zu sehen gab, ob dort wieder gearbeitet wird. Wenn ja, dann war die Botschaft tatsächlich vom Hofgärtner, den er zu treffen hoffte. Wenn nein, dann könnte es doch der Bote des Abgesandten gewesen sein. Hätte er diesen umsonst warten lassen bei diesem Sauwetter - nicht auszudenken! Was sollte der hohe Herr für einen Eindruck von ihm haben. So entschloß er sich noch vor der Mittagspause, am Nachmittag in den Hofgarten zu gehen. Und das tat er denn auch. Er wurde dabei gesehen, und zwar von der Zeugin Anna Katharina Weigel, Tuchmachersfrau zu Ansbach, 34 Jahre alt, evangelisch. Nach dem Mordanschlag sagte sie aus: ... Auch am Donnerstag vorher [gemeint ist vor dem Attentatstag d. Autor] sah ich ihn um 3 Uhr herum aus dem Hofgarten, obgleich es sehr stürmte, herauskommen ...
Es ist anzunehmen, daß er dabei von einem der Rottenmitglieder beobachtet wurde. Da nun aber am Artesischen Brunnen nicht gearbeitet wurde, sondern die Baustelle, wie vor Monaten schon, mit Brettern abgedeckt war, was Hauser ohne Zweifel wahrgenommen haben wird, dürfte ihm ein Licht aufgegangen sein. Zumindest ahnte er nun, daß der Abgesandte möglicherweise schon in Ansbach weilte. Er entschloß sich: Sollte die Einladung in den Hofgarten wiederholt werden, und daran zweifelte er nicht, dann werde er ihr pünktlich Folge leisten. Horn aber, der zur Zeit stellenlose Herrschaftsdiener, faßte auch einen Entschluß. Für die Zeit nach dem Anschlag, der von Müller für den Samstag festgesetzt worden war, brauchte er sicherheitshalber, falls etwas schief gehen sollte, einen kurzzeitigen Unterschlupf. Für ein paar Tage. Und dabei dachte er an sein Liebchen, die Cramer aus Sommersdorf. Er schickte einen Spezi von Beyerlein mit der Botschaft zur Johanna Katharina Cramer, sie möge heute gegen Mitternacht unter allen Umständen zur "Hohen Fichte" kommen, ungefähr auf halbem Wege zwischen Ansbach und Sommersdorf gelegen. Die "Hohe Fichte", ein Wirtshaus mit landwirtschaftlichem Anwesen, war dazumalen eine Einöde, gelegen an der alten Markgrafenchaussee von Ansbach zum Sommersitz der Fürsten in Triesdorf. Und zwar genau an der Stelle, wo eine Seitenstraße in Richtung Burgoberbach - Sommersdorf und von da nach Wassertrüdingen am Hesselberg abzweigt. Heute liegt diese "Hohe Fichte", mit dem Nachbarort Claffheim nach Ansbach eingemeindet, etwas seitwärts der Bundesstraße 13, nicht weit entfernt von der Autobahn Stuttgart - Nürnberg. Dorthin bestellte Horn seine Hanna. Es ist dies aktenkundig geworden, wie schon einmal erwähnt, allerdings erst viele Jahre nach der Tat. Johanna Katharina, so gab es ihre Herrin später zu den Akten, habe sich die Erlaubnis, noch zu so später Nachtstunde das Haus zu verlassen, von ihrer Chefin regelrecht erbetteln müssen. Dabei wurde die Bäuerin von der Cramer flehendlich gebeten, niemandem von diesem nächtlichen Ausflug auch nur ein Wörtchen zu sagen. Frau Blank ließ denn auch endlich die Cramer ihren Weg ziehen.
Anzunehmen ist nun, daß Johanna Katharina ihre Herrin erst am nächsten Tag so inständig gebeten hat, von ihrer Wanderung zur "Hohen Fichte" ja kein Sterbenswörtchen verlauten zu lassen. Jetzt wußte die Cramer nämlich, daß ihr Friedrich, der Horn, in eine Sache verwickelt ist, die das Tageslicht zu scheuen hat. Bei der "Hohen Fichte", wo sie der bereits wartende Horn gegen Mitternacht getroffen hat, flüsterte er ihr einige Dinge zu, die er sagen mußte, um seine Bitte zu motivieren. Es gehe um eine politische Sache von höchster Wichtigkeit. Morgen werde sie in Ansbach in Aktion gesetzt. So zwischen drei und vier Uhr nachmittags. Sie wollte mehr wissen, aber ihr Fritz erläuterte ihr, darüber dürfe er ihr kein Sterbenswörtchen sagen. Bald schon werde sie und die ganze Gegend erfahren, daß etwas Furchtbares in Ansbach geschehen sei. Und dann müsse er für eine Weile verschwinden. Aber eines Tages werde er kommen, so wahr er Fritz Horn heiße, und sie, die Johanna Katharina, zum Traualtar holen. Nicht mit leerer Kasse. Du mußt mer bloß vertrauen - gelt?! Ob nun Horn nach der Tat tatsächlich Unterschlupf in Sommersdorf gefunden hat oder ob er gleich über Nürnberg und München nach Italien verschwand, konnte nicht mehr eruiert werden. Aktenkundig ist nur das Zusammentreffen an der "Hohen Fichte". Frau Blank aber, die Herrin, wird sich ihren Reim ebenso gemacht haben wie die Cramer, nachdem auch nach Sommersdorf die Kunde vom Mordanschlag auf den Kaspar Hauser gedrungen war. Aber sie hat ihr Versprechen gehalten und nichts gesagt. Sicher auch aus Besorgnis darüber, sie könnte in einen Mordfall als Zeugin verwickelt werden. Erst als die Cramer schon längst ihre Stellung bei ihr und ihrem Manne aufgegeben hatte, machte sie Anzeige beim Ansbacher Gericht, wo nachgewiesenermaßen Dr. jur. Julius Meyer, damals Gerichtsassessor, die Sache vertuscht hat, so daß sie erst in diesem Jahrhundert von Professor Klee aus dem Aktenberg herausgefunden werden konnte. Noch vor fünf Uhr in der Frühe war Horn in seinen Bauernklamotten, die er sich angezogen hatte, wieder auf dem "Drechselsgarten" eingetrudelt. Sich ins Bett zu legen, rentierte sich nicht mehr. Er zog seine Jacke aus, um sie als Kopfkissen zu benutzen, und legte sich auf
die Ofenbank. Es war pudelwarm im Gastzimmer. Im Kachelofen klommen noch einige jahrelang getrocknete Wurzelstücke, sogenanntes Stockholz. Draußen aber pfiff der Wind ums Dach, der manchmal Sturmstärke annahm und riesengroße Flocken, mehr Wasser denn Schnee, gegen die Fensterläden klatschte. Bald war er, ermüdet vom langen Fußmarsch, eingeschlafen. Aber lange dauerte das Ausruhen nicht, dann erschien Beyerlein, der Wirt, auf der Bildfläche. Schmatzend schlürfte er seine Milchsuppe und schob auch dem Horn einen Teller zu, der sich heißhungrig über das Frühstück machte. Um neun, so hatte es Müller vor seiner Wegfahrt befohlen, sollte Horn dem Kaspar die Bestellung übermitteln, so nach drei Uhr an den Artesischen Brunnen im Hofgarten zu kommen. Friedrich Horn war auf einmal gar nicht mehr müde. In seinem Gehirnkasten arbeitete es. Nun ging es um mehr als um eine durchlatschte Nacht. Gegen zehn, das wußte er, wird Müller in Ansbach eintreffen und die Lage noch einmal peilen, bevor er nachmittags zum Stoß ausholen wird. Horn fröstelte beim Gedanken daran. Und er wußte auch ganz genau, daß Müller heute durch nichts aufzuhalten ist, seinen Auftrag planmäßig durchzuführen. Soweit kannte er ihn. Kurz nach halb neun gab er sich einen Ruck, nickte dem Beyerlein zu und stapfte in die Stadt hinunter, die er erst vor wenigen Stunden heraufgekommen war. Um neun Uhr bereits war er im Gerichtstennen und wartete auf Hauser, der an den Samstagen gegen 9.15 Uhr zu kommen pflegte. Und tatsächlich kam er auch pünktlich um viertelzehn. Horn ging sogleich auf ihn zu, zog seine Mütze und fragte: "Sind Sie Herr Hauser?" Hauser bejahte und dann rasselte Horn sein Sprüchlein herunter - wie drei Tage zuvor. Hauser aber sagte: "Ich komme!" Er hatte den Mann sogleich wiedererkannt. Es war der gleiche Bote wie vor drei Tagen. Hauser glaubte jetzt Bescheid zu wissen, daß der Abgesandte seiner Eltern bereits seit einigen Tagen in Ansbach weilt. In seinem Kanzleizimmer oben angekommen, riß Kaspar, wie er das
jeden Tag machte, das Kalenderblatt ab. Das neue zeigte den 14. Dezember 1833 an. Umständlich machte sich Kaspar an seine Arbeit. Der Bürovorsteher hatte ihm bereits einen Packen Gerichtsakten auf sein Schreibpult gelegt, die er zu kopieren hatte. Er war nicht so recht bei der Sache. Eine innere Unruhe hatte ihn ergriffen, etwas Unerklärliches. Er ahnte, daß dieser Tag für ihn von großer Entscheidung wird. Wenn doch schon der Nachmittag da wäre! Geistesabwesend zog er die Schublade seines uralten Schreibpultes auf und zog das Messerchen heraus, womit er den Federkiel seines Schreibgerätes zurechtspitzte. Dann nahm er ein Linienblatt, tauchte die Feder ins Tintenfaß und schrieb zur Probe, was ihm gerade einfiel: "Diesen Zeilen geweihet aufs Sehrgutschreiben Kaspar Hauser geschrieben, den 14. Dez. 1833 ..." Er starrte vor sich hin, als wollte er das Blatt mit Blicken durchbohren. Seine Gedanken jedoch waren der Zeit um sechs Stunden voraus. Welche Mitteilungen über seine Eltern würde der Abgesandte machen? Warum kamen sie nicht gleich selbst her, um ihn einfach abzuholen? Gedankenverloren kritzelte Kaspar weiter auf dem Linienblatt: "... Kaspar Hauser geschrieben, den 1. Dez. 1833." Es war dies die letzte schriftliche Äußerung des Jungen, der nur noch drei Tage zu leben hatte, mit seinen Gedanken aber bereits bei seiner Mutter war. Sie war weit weg und ahnte nicht, daß sich über ihren Erstgeborenen das Damoklesschwert schon zusammenzog. Das Blatt mit Hausers Geschreibsel wurde später gefunden und kam zu den Gerichtsakten. Dort blieb dieses wichtige Zeugnis auch liegen. Nur die den Fall bearbeitenden Gerichtsbeamten wußten von der Existenz dieses Linienblattes, machten sich aber keinen Reim darauf. Sie waren schlechte Psychologen und völlig verstrickt in ihrer mies zurechtgezimmerten Theorie, der Kaspar habe sich mit einem Dolch selbst verletzt. Sie kamen nicht auf den einfachen und erklärbaren Gedanken: Wer so etwas schreibt, der kann doch nicht daran denken, sich in sechs Stunden selbst zu entleiben. Später im Jahrhundert hat dieses letzte Selbstzeugnis Kaspar Hausers nur noch Antonius van der Linde, der große Hauser-Feind, der im badischen Auftrag schrieb,
und der nicht minder gewichtige Hauser-Feind Dr. Julius Meyer gesehen. Beide haben diesen Aktenfund verschwiegen, ihn mit keinem Wörtchen in ihren zahlreichen Publikationen erwähnt. Sie wußten warum. Sie hätten damit ihre Betrügertheorie eigenhändig stark angeschlagen. Versuchen wir nun, möglichst chronologisch, diesen bedeutsamen Tag zu sezieren. Nach Lehrer Meyers Aussagen war Kaspar an diesem Tag "wie gewöhnlich etwas vor 8 Uhr" aufgestanden. "Um 8 Uhr" ging er nach dem Frühstück zu Pfarrer Fuhrmann in die Religionsstunde. Er kam "morgens 8 1/4 Uhr wie gewöhnlich an diesem Tage", gab Johann Simon Heinrich Fuhrmann, 36 Jahre alt, ein geborener Nürnberger, zu Protokoll. Als er kam, betrachtete ich gerade einige Kästchen von Pappendekkel welche ich in der Absicht verfertigt hatte, um ausgeschnittene Bilder, bestimmt zum Weihnachtsgeschenk für meine Kleinen, darin aufzubewahren. Er erzählte dann, wie hart es ihm bei der Anfertigung dieser Kästchen ergangen sei, weil ich gar keine Fertigkeit und Übung in Papparbeiten habe. Der Geistliche weiter: Hauser, nach seiner von mir schon immer mit besonderer Freude beobachteten Dienstfertigkeit, bot sich mir alsobald zum Gehülfen an, indem er, wie er mir sagte, bei dem Etuifabrikanten Schnerr in Nürnberg sieben Wochen lang Unterricht in Papparbeiten gehabt habe. Pfarrer Fuhrmann war dies nur angenehm, und Kaspar sagte zu, nach Tische wieder zu mir zu kommen. Dann begann die Religionsstunde. die bis sehr nahe an 9 1/4 Uhr dauerte. Kaspar verabschiedete sich gutgelaunt und ging zu seiner Arbeitsstelle im Appellationsgericht. Im Tennen traf er dann Horn, den Boten des Killers. Nach Aussage Lehrer Meyers kam er um 11.30 Uhr zum Mittagstisch, aß aber kaum etwas; er war innerlich zu sehr aufgewühlt. Kaspar hielt sein Fuhrmann gegebenes Wort und betrat kurz nach 12.45 Uhr wieder die Pfarrerswohnung. Er brachte "sein gewöhnliches Taschenmesser" mit, um die Pappe zurechtschneiden zu können.
Fuhrmann hatte jedoch noch nicht die richtige Pappe, weshalb er schnell "zur Kaufmannswitwe Loschge in der Neustadt" lief und die Pappe dort kaufte. Dann begann Kaspar, ein Kästchen für die Frau Pfarrer anzufertigen. Seinem Religionslehrer erklärte er dabei die Handgriffe, wohl auch einige Kniffe, die er bei Schnerr gelernt hatte. "Ungefähr 3 Minuten vor 2 1/2 Uhr", also nach rund eindreiviertel Stunden, verließ er gemeinsam mit Pfarrer Fuhrmann dessen Wohnung. Letzterer wollte in die Gumbertuskirche gehen, um nachzuschauen, ob dort jemand zur Beichte wolle. Kaspar aber erklärte, er müsse zu Fräulein Lilla von Stichaner, um auch bei ihr Papparbeiten zu verrichten. Es ging um einen Ofen - oder Lichtschirm. Fuhrmann wörtlich: Später habe ich von der nämlichen Dame erfahren, daß Hauser schon am Donnerstag vorher versprochen hatte, am gedachten Sonnabend nachmittags dorthin zu kommen. In der Wohnung des Pfarrers vergessen aber hatte Kaspar das Messer, sein Taschenmesser. Fuhrmann übergab es später bei einer seiner Vernehmungen dem Gericht. Gegen 14.30 Uhr verließ also Kaspar des Geistlichen Wohnung. Angeblich, um zu Lilla von Stichaner zu gehen. Ob er tatsächlich zu ihr ging, wissen wir nicht, denn Fräulein von Stichaner wurde nie vernommen. Kein Richter und kein Polizeibeamter hatte es je gewagt, die erste Dame unter den jungen Ansbacherinnen zu befragen. Zeitlich hätte es aber sehr wohl sein können, daß er im Präsidentenpalais angeläutet hat. Allerdings hätte er nicht lange dort sein können, denn er wurde kurz vor 15 Uhr gesehen. Es könnte jedoch der Fall gewesen sein, daß Hauser, der seine Versprechungen gewöhnlich sehr ernst nahm und also hielt, von Lilla aus irgendeinem Grunde auf einen anderen Zeitpunkt bestellt wurde. Vielleicht hatten Stichaners überraschenden Besuch bekommen. Wer weiß. Tatsache ist, wie gesagt, daß Hauser "nachmittags vor 3 Uhr" von Frau Pfarrer Scholler und Tochter Lisette gesehen wurde.
Die ledige Lisette Scholler, 21 Jahre alt und unverheiratet, bekundete in ihrem Verhör vom 21. Dezember 1833: Ungefähr 40 Schritte vor uns ‚sah ich den Kaspar Hauser ohne Mantel mit einem braunen Überrock zum Neuen Tore heraus und vor uns die Promenade hinuntergehen, an deren Ende er sich etwas rechts wandte, so daß ich nicht anders glaubte, als er gehe in das Haus des Herrn Generalkommissärs. Ich sah ihm jedoch nicht weiter nach und weiß daher nicht, ob er in dieses Haus oder etwa weitergegangen ist. Ich ging mit meiner Mutter zum Schloßtor hinein. Auf die Frage, ob Kaspar allein war oder in Begleitung, antwortete Fräulein Lisette: "Er war allein." Den beiden Damen ist bei diesem miserablen Wetter niemand sonst begegnet. "Die Promenade war ganz leer." Dessenungeachtet wurde Kaspar Hauser von noch einigen Leuten um die fragliche Zeit gesehen. So von der Tuchmachersfrau Weigel, der Wäscherin Seitz und auch vom Postboten Horntasch. Es liegt aber der Schluß nahe, daß sie ihn doch zu etwas verschiedenen Zeiten gesehen haben. Vielleicht in einer zeitlichen Differenz von rund 20 Minuten. Die Christiana Barbara Seitz sagte aus: ... Ich ging nämlich jenem Nachmittag von meiner Wohnung auf den Kammerforster Weg über die Schloßbrücke am Schloß vorbei und die Promenade hinunter in die Neue Apotheke in der Herrieder Vorstadt. Die Zeit, wann ich von zu Hause wegging, kann ich mit Genauigkeit nicht angeben, aber um 3 Uhr war ich noch zu Hause; so auf 4 Uhr ist es gegangen. Ich gewahrte nun Kaspar Hauser, als ich gerade an der Küffershöfer und Salmsteinschen Baumwollfabrik vorbeiging. Kaspar Hauser ging gerade an dem Reithaus vorüber gegen den Hofgarten zu, ganz allein, ich habe ihn gar wohl gekannt, da ich ihn schon öfters gesehen habe. Ich sah ihn auch noch in den Hofgarten hineingehen, da ich mich nach ihm umgesehen hatte. Postbote Horntasch aber sagte unter Eid aus, wie übrigens alle anderen auch:
Es war an jenem Samstag, als Kaspar Hauser gestochen wurde, so gegen 3 Uhr zu, als ich bei dem Hause des Kaufmanns Deufel ging, um in das Appellationsgericht hineinzugehen. Da kam Kaspar Hauser den Markt herunter, und ich grüßte ihn, weil ich ihn wohl kannte, indem er mir schon öfters etwas geschenkt hat. Er dankte mir und ging hinunter an der Post vorbei, ich aber wendete mich um die Ekke und ging in das Appellationsgericht hinein. Zusammenfassend darf also gesagt werden: Gegen 15 Uhr wurde Kaspar Hauser von mehreren Zeugen in der Nähe des Hofgartens gesehen, von der Zeugin Seitz sogar bemerkt, als er gerade in den Residenzgarten hineinging. Stets war er alleine. Es gibt nun aber auch Zeugen, die ihn um die fragliche Zeit in Begleitung eines Mannes sahen, der ihnen unbekannt war, dessen Beschreibung aber starke Ähnlichkeit mit dem Signalement des von Hauser geschilderten Messerstechers hat. Erinnert sei hier auch an die Beschreibung, die Dorfinger von Müller gab. Wenn dessenungeachtet das Ansbacher Gericht immer wieder beteuerte, ein Fremder sei zur Tatzeit im Stadtbild nicht gesehen worden, so stimmt das einfach nicht. Wahrscheinlich von Meyer und dessen Selbstmordtheorie zu sehr angesteckt, waren sie zu voreingenommen dazu, Tatsachen anzuerkennen. Es ist dies kaum faßbar, aber es war so, wie wir noch sehen werden. Auch der bayerische Innenminister hat nach Akteneinsicht seine Verwunderung über so viel Verbohrtheit zum Ausdruck gebracht. Fürst Öttingen-Wallerstein notierte: Das Hauptargument der Gegner, es sei kein Fremder in Ansbach gesehen (worden), ist ja schon 10 mal widerlegt. Lassen wir nun den Salzmagazinarbeiter Joseph Leich, 43 Jahre alt, verheiratet, Vater von vier Kindern, sprechen: Am Samstag, dem 14. dieses, ging ich etwas vor 4 Uhr von meinem auf dem Neuenweg dahier gelegenen Wohnhause durch die Alte Poststraße gegen die Promenade vor, auf welche ich kam, als es eben auf dem Herriederturme 4 Uhr schlug. Ich ging die Promenade
hinunter gegen den Schloßplatz zu, und als ich bei dem Hause des Herrn Generalkommissärs war, sah ich aus dem Schloße heraus zwei Männer über die Straße herüber, die Reitbahn zur Linken lassend, auf den Weg zum Schloßgarten hin gehen. Sie waren nicht weiter als 30 bis 36 Schritte von mir entfernt, weshalb ich auch recht wohl imstande war, in dem zur Rechten gehenden den Kaspar Hauser zu erkennen, der mir von Person recht wohl bekannt war. Den Mann zur Linken kannte ich nicht. Als beide an den Laternenpfahl am Eck der Reitbahn kamen, wandte sich Kaspar Hauser um und sah gegen den Schloßplatz hinauf, so daß ich ihn auch im Gesichte sehen konnte. Bei den Schranken, durch welche man gehen muß, blieb der Fremde ein wenig stehen, um dem Hauser den Vortritt zu lassen. Hauser ging auch zuerst durch die Schranke und der Fremde nach ihm. Da das Wetter so abscheulich war, so dachte ich bei mir, wie doch die Herren bei dem schlechten Wetter spazieren gehen möchten. Ich blieb deshalb ein wenig stehen, um ihnen nachzusehen und bemerkte, daß, als sie am Hofgartentore ankamen, Hauser die Türe aufmachte und ohne weiteres voranging, der Fremde aber ihm auf dem Fuße folgte. Ungefähr 3/4 Stunden nachher, als ich von meinem Gang zu dem Büttner Pfaffenberger zurückkam, sah ich auf dem Schloßplatz viele Leute stehen, welche jammerten und sagten, Kaspar Hauser sei im Hofgarten erstochen worden, worüber ich mich umsomehr wunderte, als ich ihn kurz vorher noch gesehen hatte. Soweit der Zeuge Leich, allem Anschein nach ein intelligenter Mann und guter Beobachter. Das geht alleine schon daraus hervor, daß er Detailschilderungen gibt. Es fiel Joseph Leich auf, daß Hauser rechts und der Fremde links ging - eine Etikettenfrage. Der Fremde hat Kaspar ohne Zweifel als höherrangige Respektsperson behandelt. Dies geht auch aus der Tatsache hervor, daß beim Eintritt in den Hofgarten der Unbekannte den Kaspar vorausgehen ließ. Was nun nachweisbar nicht stimmen kann, das ist die von Leich angegebene Uhrzeit. Leich hat sich da geirrt. Es hat nicht vier, sondern drei Uhr geschlagen. Darüber existieren zwei Protokolle: die des Ehepaares Pfaffenberger,
die Leich angegeben hat, sie besucht zu haben. Büttnermeister Nikolaus Pfaffenberger, in Fürth geboren, in Ansbach wohnhaft, 50 Jahre alt, verheiratet und Vater von vier Kindern sagte aus: Leich kam am Samstag, den 14. Dezember, nachmittags, zu mir und hielt sich ungefähr eine Stunde bei mir auf, Genau weiß ich die Stunde nicht, wann er kam, das aber weiß ich bestimmt, daß, als er von mir fortging, ich und meine Frau noch, und zwar ohne Licht, arbeiteten. Da nun jetzt die Tage so kurz sind, und obendrein damals die Witterung sehr trübe war, so kann Leich meines Erachtens nicht viel später als nach drei Uhr zu mir gekommen sein. Auch Pfaffenbergers Ehehälfte, die 56jährige Margaretha bestätigte indirekt, daß sich Leich geirrt haben muß. Auf die Frage des Vernehmungsbeamten, genau die Stunde anzugeben, wann Leich in ihr Haus kam, antwortete sie: Es war so nach drei Uhr. - Wie lange hielt sich derselbe in Ihrem Hause auf? - Beiläufig eine Stunde. Erinnern Sie sich wohl nicht, ob es, als er Ihr Haus verließ, schon dunkelte oder ob es noch Tag war? - Ganz dunkel war es auf keinen Fall, denn wir hatten noch kein Licht, und mein Mann arbeitete noch. Dabei mache ich aufmerksam, daß jener Tag wegen des stürmischen Wetters sehr trübe war. Können Sie demnach mit Bestimmtheit versichern, daß es nicht etwa schon 4 Uhr war, als Leich zu Ihnen kam? - Ich kann bestimmt behaupten, daß es noch nicht so weit in der Zeit war, indem es sonst bei dem Weggehen des Leich, der gegen eine Stunde blieb, längst Nacht gewesen sein müßte. Über den Begleiter Kaspars gibt Leich im Verhör an: Er war sehr groß, wohl sechs Schuh, schlanker Figur, dem Gange nach, und soviel man von hinten bemerken konnte, ein angehender oder mittlerer Vierziger. Er hatte auf dem Kopf einen feinen schwarzen, runden Hut, oben etwas zugespitzt, trug einen dunkelblauen Mantel von gutem Tuch mit bis über die Kniee heranfallenden Kragen. Er hatte den Mantel weit hinaufgezogen und hüllte sich
mit dem Gesicht in denselben. Von seiner weiteren Kleidung bemerkte ich nichts, auch konnte ich sein Gesicht nicht sehen, weil er so in den Mantel steckte und sich nicht umschaute. Über Kaspar Hauser Kleidung gab Leich im gleichen Verhör an: Er habe ebenfalls einen runden, oben etwas zugespitzten Hut getragen und einen dunklen, "etwas melierten Oberrock" angehabt. Das trifft im großen und ganzen zu: Hauser hatte am Attentatstag einen braunen, ins dunkelbraune gehenden Überrock angehabt - ein dickes Kleidungsstück, bestimmt so wärmehaltend wie heute ein Mantel. Auch die Beschreibung des Hutes stimmt. Beide Kleidungsstücke, auch die anderen, die Hauser am 14. Dezember 1833 anhatte, sind noch heute im Ansbacher Kreis- und Stadtmuseum unter einer Vitrine zu sehen. Auf eine weitere Frage des Inquirenten gab Leich bezüglich Hausers Begleiter an: "Nein, er schien mir ein Fremder zu sein." Diesen Fremden aber hat Leich auch bereits am Vormittag im Weichbild der Stadt gesehen. In seinem zweiten Verhör sagte er: Am Samstag, den 14. ds., ist mir vormittags etwas vor 10 Uhr auf dem Obstmarkte unweit des Stadtgerichtsgebäudes ein Mann begegnet, welcher wohl sechs Schuh groß, ungefähr 40 Jahre alt war, ein bräunliches Gesicht und ein ganz schmales schwarzes Schnurrbärtchen hatte und einen blauen Mantel mit langem Kragen und einen neumodischen schwarzen Hut trug. Es ist mir erst nachher aufgefallen, daß dieser Mann, welcher mir völlig unbekannt war, derselbe gewesen sein möchte, welchen ich nachmittags mit Kaspar Hauser habe in den Hofgarten gehen sehen. Aber wie schon einmal gesagt, war Leich nicht der einzige, der diesen nicht gerade unauffälligen Fremden in Ansbach an diesem Tag gesehen hat. So der Polizeisoldat Johann Leonhard Erb, 52 Jahre alt. Er hat einen Mann gleicher Beschreibung gegen 10.45 Uhr in der Nähe des Knieselschen Wirtshauses beobachtet. Auch Erb hielt den Fremdling für einen Mann "beiläufig in den vierziger Jahren". Erbs Aussage unterscheidet sich lediglich in der Gesichtsschilderung von der des Leich. Johann Erb sagte:
Seine Gesichtsfarbe war blaß, die Farbe ‚seines Backen- und Schnurrbartes braun, nur waren die Spitzen des letzteren etwas heller. Die Farbe seiner Augen und Haare war gleichfalls braun. Im übrigen könne er sich nicht erinnern, "ihn mein Lebtag gesehen zu haben". Es ist noch heute unverständlich, daß all diese Aussagen den Ansbacher Behördenleuten nichts sagten. Der Schullehrer Johann Georg Seiz, 46 Jahre alt, hat bekundet: Ich ging nämlich vergangenen Samstag gegen 12 Uhr in den Hofgarten spazieren. Da gewahrte ich an dem Gatter, der die letzte Lindenallee von der ersteren scheidet, einen Mann, der dortselbst stand und, wie er mich gewahrte, mich fixierte. Da mir dieses auffiel, so betrachtete ich ihn durch mein Glas. Vom Gesicht desselben kann ich garnichts angeben, da er mir zu entfernt war, und weiß nur, daß er einen großen blauen Mantel trug und runden Hut aufhatte. Ob der Mantel einen oder mehrere Krägen hatte, kann ich nicht angeben. Er bewegte sich nach einiger Zeit langsam gegen die Baumschule zu, und dort verlor ich ihn aus dem Gesicht. Der Forstgehilfe Friedrich Pausch, 33 Jahre alt, verheiratet, Vater eines Kindes, gab zu Protokoll: Am vergangenen Samstag, den 14. dies., ging ich nachmittags um 3 oder 1/2 4 Uhr vom hiesigen Forstamte aus zum Herren Revierförster. Mein Weg führte mich durch die Theresien- oder Jägerstraße [heute Bischof-Meiser-Straße - der Autor], und in diese kam mir ungefähr bei dem Wohnhaus des Herrn Regierungssekretärs Hopp ein Mann entgegen, welcher in einen dunkelblauen Mantel gehüllt, die Straße herabkam. Er fiel mir auf, weil er, obwohl es weder regnete noch schneite, sein Gesicht fast ganz in den Mantel! verbarg. Ich wandte mich daher um und sah ihm nach und bemerkte, daß er rechts um die Ecke herumging, wo also sein Weg nach dem untern Hofgartentor zugeführt haben muß. Später sah ich ihn nicht mehr. Beschrieben hat Forstgehilfe Pausch diesen Mann so:
Er war mehr groß als klein, nicht zu stark, und vom Gesicht sah ich, da er den Hut auch ziemlich weit hereingedrückt hatte, nur soviel, daß es von bräunlicher Gesichtsfarbe war, und daß der Mann einen dunkelbraunen oder schwarzen Schnurrbart hatte. Ob er einen Bakkenbart hatte, weiß ich nicht, auch konnte ich die Farbe der Kopfhaare nicht unterscheiden. Der Mann schien mir ein ‚starker Dreißiger oder angehender Vierziger zu sein. - Dessen Kleidung? Von der Kleidung habe ich nichts gesehen als einen feinen, schwarzen, runden Hut und den Mantel von feinem dunkelblauen Tuch mit langem bis über die Kniee herabfallenden Kragen. Auch der obere kleine Kragen des Mantels war von demselben Tuch, der Mantel! selbst vorne rot besetzt. Auch Friedrich Pausch hat diesen Mann noch nie zu Gesicht bekommen: "Ich habe ihn weder vor- noch nachher gesehen." Den gleichen Fremden hat auch noch Schlossermeister Johann Friedrich Helzel, 44 Jahre alt, gesehen. Bei seiner Vernehmung gab er an: Ich ging nämlich vergangenen Samstag zu Herrn Baron von Freyberg um 1/2 3 Uhr oder höchstens 3/4 auf 3 Uhr. Ich ging an dem von Leonrodschen Schlößchen herunter und gewahrte einen großen mir auffallenden Mann, der gegen mich herging, einen großen blauen Mantel anhatte, den er, da Schneegestöber war, vor das Gesicht hielt. Ich konnte nicht bemerken, wie er im Gesicht aussah, denn er war ganz eingehüllt. Er hatte, wie mich dünkt, eine dunkle Haube auf ... Diese dunkle Haube weicht von den anderen Beschreibungen ab. Aber dem Schlossermeister Helzel "dünkte" dies nur so. Mit anderen Worten: Er hat dies nicht so genau gesehen oder, was näher liegt, nicht weiter darauf geachtet. Doch bereits der nächste Zeuge hat den Hut des Fremden wieder ziemlich genau beschrieben. Hören wir deshalb noch Regierungsassessor Friedrich Donner, 66 Jahre alt: Ich ging an jenem Tage um 3 Uhr in den Hofgarten heraus und gewahrte neben der Lindenallee, wenn man vom Freybergschen Haus hereinkommt, links einen Mann mittlerer Größe, ungefähr ein Vier-
ziger dem Alter nach, in einen großen dunklen Mantel gehüllt und einen schwarzen runden Hut auf dem Kopfe die Allee heraufgehen und, wie er mich gewahrte, wieder umkehren. Er schien mir ein Fremder. Es dürfte kaum ein Zweifel sein, wen all diese Zeugen da gesehen haben: den Attentäter Friedrich Müller, der schon Stunden vor dem Mordanschlag Tatort und Umgebung einer eingehenden Inspektion unterzogen und wohl auch seinen Fluchtweg nach der Tat ausgekundschaftet hat. Widersprüche wie "große Statur" (bei den meisten Zeugen) und beim bislang letzten Zeugen "mittlerer Größe" sind unbedeutend. Jeder Polizeibeamte oder Jurist weiß, wie individuell gefärbte Angaben über ein und dieselbe Person oftmals sind. Für einen kleineren Menschen erscheinen mittelgroße nicht selten als groß. Und wer selbst groß ist im Sinne der Körperlänge, der schildert einen mittelgroßen Menschen häufig genug kleiner als er tatsächlich ist. Ansonsten decken sich die meisten Zeugenaussagen in unserem speziellen Fall. Demnach war der Fremde von großer Statur, so um die 185 Zentimeter. Damit aber ist Müllers Körpergröße ziemlich exakt beschrieben. Über das Attentat selbst gibt es keine Zeugen. Das Wetter war viel zu grauslich, als daß jemand Lust gehabt hätte, im Hofgarten spazieren zu gehen. Müller hatte Tag und Stunde gut gewählt und sicher dabei auch Glück gehabt, daß das seit Tagen schon anhaltende schlechte Wetter so geblieben ist. Dennoch hat sich eine Zeugin gefunden, die mit ziemlicher Sicherheit den Kaspar und seinen Mörder im Hofgarten gesehen hat - vom Fenster ihres Hauses, von dem aus sie nur in das Blumengärtchen und bei entlaubten Bäumen in das Lindenwäldchen an der Orangerie hin sehen konnte, aber weder an den oberen noch an den unteren Eingang des Hofgartens. Die Zeugin hieß Maria Margaretha Gouliand geborene Hof, wohnhaft bei ihrem Vater, dem Schloßdiener Hof, Witwe des verstorbenen Hoboisten Gouliand. Mit ihrer Magd war sie zur Tatzeit am Fenster und
schaute gelangweilt in den Hofgarten. Was sie dabei gesehen hat, wurde sie beim Verhör gefragt. Sie gab zur Antwort: Keinen Menschen außer ein paar Taglöhner, die um 3 Uhr herum in den Blumengärten hin und wieder gingen. Ob sie die Taglöhner gekannt hat? Madame Gouliand: Mit Gewißheit kann ich es nicht sagen, mich dünkt, es war einer namens Fortmüller und einer namens Wörlein dabei. An dieser Stelle des Verhörs wurde ihr gesagt, daß diese beiden Taglöhner bereits vernommen worden sind. Sie haben ausgesagt, daß sie an jenem Samstagnachmittag im Orangeriehaus gearbeitet hätten und vor 17 Uhr, "da sie nach Hause gingen", nicht in den Hofgarten gekommen waren. Darauf die Zeugin Gouliand: Gesehen habe ich zwei, allein interessiert hat es mich nicht, und so habe ich nicht so sehr darauf gemerkt. Ich kann daher auch mit Gewißheit hier nicht sagen, ob es gerade diese zwei waren, doch habe ich gemeint, es waren zwei von diesen bekannten Taglöhnern, denn andere sieht man jetzt nicht, doch wie gesagt, man sieht flüchtig hin und wieder weg. Damit ist bewiesen, daß gegen 15 Uhr zwei Männer "in dem Blumengärtlein hin und wieder" gegangen sind. Arbeiter des Hofgartens können es nicht gewesen sein. Denn sie waren an diesem Nachmittag alle in der Orangerie beschäftigt, wie ihre Zeugenaussagen übereinstimmend bestätigten. Es kann folglich nur Kaspar und Müller gewesen sein. Doch auch diese Aussage nahm das untersuchende Ansbacher Gericht gelassen zur Kenntnis. Es hatte sich förmlich versteift darauf, der Kaspar habe sich selbst verletzt. Auch der verletzte Kaspar wurde unmittelbar nach dem Dolchstich gesehen, jedoch nicht erkannt. Gesehen hat ihn der Hofgartengehilfe Georg Friedrich, 22 Jahre alt, durch das beschlagene Fenster der Orangerie. Friedrich hat einen Mann mittlerer Größe im Alter von etwa 24 Jahren, wie er angab, an der Orangerie vorbeihasten sehen in Richtung "neues Gittertor". Kurz zuvor hatte dieser Zeuge "zweierlei
Stimmen" draußen im Hofgarten vernommen, aber nicht weiter darauf geachtet. Auf die Frage, ob ihm bekannt sei, daß Hauser einmal den Wunsch geäußert hätte, den Artesischen Brunnen zu sehen, antwortete der ledige Georg Friedrich, der an jenem Tag die Aufsicht über die Taglöhner gehabt hatte: Davon ist mir nichts bekannt, nur daß die Leute schon am Samstag oder Sonntag sagten, der Hofgärtner hätte ihn hineinbestellt, worüber wir lachten. Friedrich hat also einen jungen Mann an der Orangerie vorbeirennen sehen. Dies war ohne Zweifel Kaspar Hauser, der bei seiner Vernehmung auf dem Sterbebett angab, unmittelbar nach Erhalt des Stiches wie ein Hase querfeldein und vorbei an der Orangerie zum Hofgartenausgang beim Reithaus (heute Haus der Volksbildung) gelaufen zu sein. Der Junge ist in Todesangst gerannt, auf keinen Weg und keine Wiese, auf nichts achtend und wie von Sinnen getrieben. Er hat nicht geschrieen und nicht gebrüllt. Wie ein angeschossenes Tier sauste er zu Lehrer Meyer, um dort Schutz zu suchen. Den Attentäter aber sah Georg Friedrich nicht. Der hastete in entgegengesetzter Richtung aus dem Hofgarten und wurde dabei von zwei Zeugen gesehen. Die ledige Kreuzmacherstochter Susanna Margaretha Weiß, 37 Jahre alt, "für sich wohnend im Hause des Zimmergesellen Schorr bei der Weidenmühle", eine geborene Ansbacherin, gab unter Eid zu Protokoll: Ich bewohne das zweitnächste Haus an der Weidenmühle, von dessen Hof aus ich auf den Hofgarten und zwar die beiden gegen den hölzernen Tempel zu führenden Alleen sehen kann. Während ich in diesem Hofe Holz trug, sah ich am Samstag, den 14. ds., nachmittags nach 4 Uhr einen Mann zu dem Gattertore, welches die Allee von dem inneren Hofgarten scheidet, herauskommen und sehr starken Schrittes in der meiner Wohnung zunächst gelegenen Allee gegen den Tempel zu und über diesen hinaus gegen den Abhang an der Rezatwiese hin gehen. Da es so abscheuliches Wetter und so äußerst schmutzig war, fiel mir der Mann auf, weshalb ich ihn genau
betrachtete und wahrnahm, daß er der Meinung gewesen sein muß, es führe hier gerade der Weg hinunter. Da er jedoch das ausgetretene Wasser vor sich sah, so kehrte er um und ging auf die Stäffelchen zu, welche gegen die Weidenmühle hinführen, sodann über den Steg auf die Eyber Straße zu und über diese gerade hinüber zwischen der Eyber-Straße und der Nürnberger Straße gelegene Ulmühle hin, wo er meinen Blicken entschwand. Den Mann und seine Bekleidung beschrieb die Zeugin Weiß, die sich "von Nähen und Spinnen" ernährte, so: Er schien mir 48 bis 50 Jahre alt, war etwa 6 Schuh groß, breitschulterig, aber nicht dick. Vom Gesicht sah ich, da er Hut und Mantel sehr ins Gesicht geschoben hatte, weiter nichts als einen schräg laufenden schwarzen Backenbart ... Er trug einen dunkelblauen feinen Tuchmantel mit mehreren Krägen, anscheinend noch neu, einen modernen schwarzen Hut, sonst konnte ich nichts unterscheiden. Ob sie diesen Mann schon früher einmal gesehen habe, wurde die Weiß weiter gefragt: "Nein, niemals." Was aber war ihr sonst noch aufgefallen an diesem sonderbaren Kavalier? Susanna Weiß dazu: Nichts als daß er, wie er das Wasser vor sich sah, sichtlich in Verlegenheit geriet, sich dann umsah, wo er einen Weg finde, und dann eiligst gegen die Stãffelchen zu umkehrte und eben so eilig seinen Weg fortsetzte, so weil ich ihm nachschauen konnte. Des Messerschwingers Müller Fährte konnte sogar zeugenmäßig noch weiter verfolgt werden. Wie wir noch etwas eingehender vernehmen werden, eilte Müller über den Hügel zwischen der Eyberund Nürnberger Straße hinauf zur Gaststätte "Windmühle". Er wurde auf diesem Weg kurz vor der "Windmühle" von einem durchreisenden Studenten gesehen, dessen Kutsche eine kurze Rast gemacht hatte, damit sich die Fahrgäste die Beine etwas vertreten konnten. Er berichtete über dieses Vorkommnis allerdings erst viele Jahre danach. In der "Windmühle", die heute noch an der gleichen Stelle steht, wurde Müller ebenfalls gesehen. Er trank dort hastig einen Schnaps und eilte
dann auf der vorbeiführenden Chaussee, der heutigen Bundesstraße 14, weiter in Richtung Nürnberg. In ihrem Protokoll hat die Zeugin Weiß angegeben, daß sie den Fremden vom Hofgarten "nach 4 Uhr" bemerkt hat. In dem vorangegangenen Verhör vor dem Magistrat der Stadt Ansbach, also vor der Ortspolizei, hatte sie angegeben: "... es kann nah 4 Uhr gewesen sein ..." Auch ihr Lebenskamerad Johann Stadi gab bei seinen Verhör "nachmittags gegen 4 Uhr" an. Außerdem schilderte er das Alter des Attentäters korrekter: "Er schien mir ein Vierziger ..." Wegen der Wichtigkeit dieser beiden Zeugen hören wir nun auch noch diesen Johann Stadi, 32 Jahre alt, unverheiratet, geborener Ansbacher mit schlechtem Leumund und von Beruf Taglöhner: Am Sonnabend, den 14. ds., war ich nachmittags gegen 4 Uhr in dem Hofe des Hauses nächst der Weidenmühle, in welchem die ledige Weiß wohnt. Ich sah auf einmal zu dem Gattertore des Hofgartens heraus einen Mann kommen, welcher sehr eilig in der unserem Hause zunächst gelegenen Allee gegen den hölzernen Tempel hin und über diesen hinaus an den Abhang ging. Es war unverkennbar, daß er der Meinung war, es führe hier ein Weg hinunter, denn er sah ganz erstaunt hinunter und ging am Abhang hin und her, bis er endlich schleunigst umkehrte und die Stufen hinunterging, welche gegen die Weidenmühle zu führen. Sodann lief er in gleicher Eile über den Steg hin auf die Eyber-Straße zu, auf welcher er sich links wandte. Ob er aber über die Straße hinüber ging oder sich nach der Stadt zurück begab, konnte ich nicht sehen. Auf die Frage des Inquirenten, wie dieser Mann ausgeschaut hat, antwortete Stadi: Er schien mir ein Vierziger, ungefähr 6 Schuh groß und breitschulterig. Vom Gesicht konnte ich nichts wahrnehmen als einen schwarzen Backenbart. Von der Kleidung sah er nichts als einen Mantel von blauem Tuch mit zwei oder drei Krägen und einen runden schwarzen Hut. Auch der Zeuge Stadi hat diesen Mann vorher noch nie gesehen: Er kam mir ganz unbekannt vor.
Da Johann Stadi eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Überbringer der Nachricht des Hofgärtners hat - so wie Hauser diesen Boten schilderte -, überprüfte der Vernehmungsbeamte die in Frage kommenden Alibis des Zeugen, der aus diesem Grunde übrigens auch unvereidigt blieb. Zunächst wurde er gefragt: Wo hat der Zeuge seine Wohnung? - Mein Nachtlager habe ich bei meinem Schwager, Schuhmacher Goetz, des Tags über halte ich mich bei der Weißin auf, - Um welche Stunde hat er sich am Samstag zu der Weiß begeben? - Ich war damals die Nacht von Freitag auf Samstag über dort und blieb auch den ganzen Tag über dort. - In welcher Stunde ging Er am Mittwoch vorher zu derselben? - Ungefähr morgens 1/2 8 Uhr. Stadis Aussagen decken sich vollkommen mit den Wahrnehmungen des Zeugen Johann Konrad Herrlein, Polizeisoldat des Magistrats der Stadt Ansbach, 36 Jahre alt. In seinem Verhör am Tage nach dem Attentat, also am 15. Dezember, erklärte Herrlein, daß er gleich nach der Tat den Befehl bekommen habe, in den Hofgarten zu gehen, um Spuren und einen vom Hauser nach dem Stich weggeworfenen "Geldbeutel" zu suchen. Herrlein nun wörtlich: Ich befolgte diesen Befehl sogleich, begab mich in den Hofgarten und suchte in der mir bezeichneten Richtung. Ich gewahrte schon in der Gegend des Glashauses Fußtritte, denen ich folgte und die mich bis an die erste Stufe des Monuments hinführten. Diese Fußtritte gingen vom Glashaus gegen das Monument [das Denkmal des Dichters Uz - der Autor] zu in vorwärts gerichteter Richtung. Vom Monument weg führten diese Fußtritte gegen die Allee zu in der Richtung gegen das Tor hin, welches auf die Weidenmühle führt. Die Fußtritte verloren sich noch innerhalb des Gartens ungefähr 12 Schritte von dem Monument entfernt bei einer Stelle, wo im Sommer ein Kanapee steht. Die Fußtritte, die vom Uz-Denkmal weg in Richtung Lindenallee führten, waren ohne Zweifel die Fußstapfen Müllers. Hätte der Polizeisoldat besser aufgepaßt, wäre ihm ein wichtiger Fund nicht ent-
gangen. Gemeint ist der sogenannte Banditendolch, den Müller auf seinem Fluchtweg bis zum Heft in die Erde gestoßen hat. Erst Jahre nach der Tat wurde diese gefährliche zweischneidige Waffe von einem Hofgartenarbeiter namens Wagner beim Laubrechen gefunden. Sie stak noch so in der Erde, wie Müller sie einst hineingerammt hatte. Der Stahl war mit gaunerartigen Todesemblems damasziert. Fachärztliche Untersuchungen attestierten, daß es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um die Todeswaffe handelt. Kaspars Wundkanal und die Länge des Banditendolches stimmten haargenau überein. Auch die Breite. Wie mag sich nun der Schlußakt im Hofgarten abgespielt haben? Rekonstruieren wir aufgrund der Zeugenaussagen: Kaspar läutete also kurz nach 14.30 Uhr an der Pforte des Regierungspräsidenten. Lilla von Stichaner selbst oder ein Bedienter wird ihm bedeutet haben, daß im Augenblick mit den Papparbeiten nichts zu machen sei. Die Luft sei nicht rein, die Gattin des Präsidenten in der Nähe, die ja mit den Papparbeiten zu Weihnachten beschenkt werden sollte. Und in Vorbereitung befindliche Geschenke sind allemal kleine Geheimnisse. Kaspar, der alte Geheimniskrämer, verstand Sorgen dieser Art nur zu gut und ging wieder. Bis zum verabredeten Treff mit dem angekündigten Herrn, dem Boten seiner Eltern, war noch Zeit. Kaspar schaute auf die Uhr. Nach Hause zu gehen, rentierte sich nicht mehr. Er könnte sonst den Treff wieder versäumen. Das aber wäre mehr als unhöflich. Kaspar wollte aber unter keinen Umständen unhöflich sein. So war er nun einmal. Also schlenderte er zum Reithaus hinüber und von da in den Hofgarten hinein. Er ging durch das sogenannte Lindenwäldchen zum Artesischen Brunnen und von da zum Uz-Denkmal. Weit und breit niemand zu sehen. Er war allein mit sich und den ungezählt vielen Schneematschflocken, die nun wieder aufkamen. Allein mit sich? Kaspar dachte dies nur, weil er niemand sah, In Wahrheit wurde er, seit er nach dem Essen das Meyer'sche Domizil verlassen hatte, von Horn beschattet. Dieser hatte mittlerweile seine bäuerliche Maskerade abgelegt und auch den Schnurrbart abrasiert. In bürgerlicher Kleidung und gehörigem Abstand, verfolgte er jeden
Schritt, den Hauser tat. Er hatte seine genauen Anweisungen von Müller bekommen, der bereits im Weichbild der Stadt war und den Hofgarten wie ein zum Sprung lauerndes Raubtier umrundete. Diesmal wird es klappen! hat er sich geschworen. Ein zweites Mal wird ihm Hauser nicht entkommen! Horn aber beobachtete Kaspar, hinter einem dicken Baumstamm stehend. Er konnte sich nicht erklären, was Kaspar schon jetzt im Hofgarten wollte. Wenn doch schon Müller hier wäre und alles vorüber! Ängstlich schaute er sich um. Weit und breit kein Müller. Niemand. Nur das zum Abstechen bestimmte Kalb in seinem schokoladebraunen Überrock. Er dachte an sein Liebchen in Sommersdorf. Hannela! flüsterte er. Er spitzte wieder hinter dem mächtigen Buchenstamm hervor und erschrak zutiefst. Denn Hauser, der Schlachtochse, kam direkt auf seinen Standort zu. Ja hat sich denn alle Welt mit Kaspar Hauser gegen ihn verschworen? Horn zitterte. Er fühlte, wie er blaß wurde. Jetzt nur ruhig Blut, hämmerte es in ihm. Mühsam unterdrückte er seine Angst. Angestrengt horchte er auf die näherkommenden Schritte. Zentimeterweise schob er sich an der Rinde entlang, darauf achtend, ja kein Zipfelchen seines Mantels sehen zu lassen. Jetzt! Jetzt mußte Kaspar Hauser auf gleicher Höhe mit ihm sein. Horn stockte der Atem. Mit einem Schritt stand er auf der dem Hauser zurückgekehrten Seite des Baumes. Aber noch wagte er nicht, einen Blick auf das Opfer zu werfen. Endlich nahm er sein bißchen Mumm zusammen und lugte kurz hervor. Kaspar, der nur fünf oder sechs Schritte an ihm vorbeigegangen war, passierte das Gittertor des Hofgarteneingangs. Mit einem Satz war Horn hinter dem Baume hervorgeschossen und eilte Hauser nach. Er zog seinen Hut tief in die Stirne und den Mantelkragen hoch bis über die Mundhöhe. So holte er Kaspar mitten auf dem Schloßplatz ein und ging an ihm vorüber. Kaspar achtete nicht auf den elegant gekleideten Mann, der vor ihm in den Schloßhof ging, der damals für den Durchgangsverkehr noch offen war. Horn eilte in die Reitbahn, von wo aus er Kaspar weiter beobachten wollte. Dort aber traf er Müller, der eben auf dem Gang zum Treffpunkt war. In
wenigen Sekunden erzählte Horn, daß Hauser jeden Augenblick aus dem Schloßhof herauskommen müsse. Dann ging er langsamen Schrittes weiter. Müller aber schaltete in Sekunden. Da kam er schon, der Kaspar Hauser. Gemächlichen Schrittes kam er aus dem Schloß heraus, den Kopf gedankenverloren gesenkt. Kurzentschlossen vertrat ihm Müller den Weg und machte sich ihm bekannt. Dabei nannte er Kaspar "Königliche Hoheit". Hauser wurde ganz verlegen und blickte hinauf zu dem Fremden, der ihn um Haupteslänge überragte. Kaspar schaute in gleichmütig dreinschauende, dunkelbraune Augen, hinter denen es flackerte, was Kaspar aber nicht bemerken konnte. In etwas zu gestelzter Sprache, einem Schmierenkomödianten gleich, bat er Kaspar Hauser, einen kurzen Spaziergang mit ihm zu machen, am besten in den Hofgarten hinein, so wie es ja eigentlich abgemacht war. Das Wetter sei zwar scheußlich, die Botschaft, die er zu überbringen hatte, dafür umso erfreulicher. Es gehe um seine hohen Eltern, in deren Auftrag er die Ehre habe, eine diplomatische Aktion von größter Geheimhaltung durchzuführen. Kaspar nickt verständnisvoll, während sie durch den Schloßhof gingen, den er vor wenigen Augenblicken erst passiert hatte. Der Diplomat, für den Kaspar den Fremden hielt, ließ den Jungen zu seiner rechten Seite gehen. Ob es "Königlicher Hoheit" in Ansbach gefalle, fragte er Hauser. Dieser dachte an Lilla, drehte seinen Kopf kurz in Richtung des Präsidentenpalais und nickte. Nun, in wenigen Tagen schon müsse er seine Koffer packen, um seinen hohen Eltern zugeführt zu werden, die schon sehnsüchtig auf "Königliche Hoheit" warteten. Die näheren Einzelheiten werden im Verlaufe dieses kurzen Spaziergangs abgestimmt und geregelt werden. Sie waren nun vor dem Hofgarteneingang angelangt. Höflich trat der Diplomat zurück und ließ "Königlicher Hoheit" den Vortritt. Wie die Bälle in Ansbach seien, wollte der Bote wissen. Unvermittelt hatte er Kaspars weichen Punkt getroffen. Kaspar Hauser sprudelte los und erzählte vom letzten Ball bei Stichaners. Lilla sparte er dabei aus. Sie war sein Herzensgeheimnis. Die Bälle seiner hohen Eltern, flocht Müller ein, überträfen an Glanz und Harmonie sicher alles, was Ans-
bach bieten könne - selbst wenn es hier noch einen regierenden Markgrafen gäbe. "Königliche Hoheit" werde staunen, was ihm die Welt noch alles zu bieten habe. Sein wirkliches Leben gehe nun erst an. Kaspar, das Opferlamm, hörte nur mit halbem Ohr zu. Er dachte an Lilla und was sie wohl sagen wird, wenn sie erst erfahre, daß er nun endlich seine Eltern gefunden habe beziehungsweise sie ihn. Frohgemut schritt er aus. Er merkte gar nicht, daß ihn Müller nicht zum Artesischen Brunnen, sondern entgegen der Abmachung zum Uz-Denkmal hinlenkte. Er merkte auch nicht, daß ihnen jemand folgte, und zwar in einem Abstand von vielleicht zwei Steinwürfen: Horn. Einige Schritte westlich des Uz-Denkmals hielt Müller an. Er konnte seine Erregung kaum mehr verbergen. Sich zur Ruhe zwingend, holte er aus seinem Mantel ein pflaumenblaues Beutelchen aus Samt mit einer Kordel dran, ließ es vor Kaspars Augen hin- und herpendeln und sagte endlich zu Kaspar: "Königliche Hoheit!" Dies ist ein Präsent und eine Nachricht Ihrer hohen Eltern. Kaspar Hauser wußte nicht recht, wie er dran war. Diese Wendung kam so überraschend, ganz ohne Einleitung. Er griff dennoch danach. Im gleichen Moment stieß Müller zu. Kaspar hat den Stahl noch blinken sehen. Gleichzeitig verspürte er einen brennenden Schmerz in seiner linken Brustseite. Der Mörder hatte Mühe, den Dolch, der bis ans Heft in Kaspar eingedrungen war, wieder herauszubekommen. Er stand dabei unmittelbar vor Kaspar und etwas links davon. In dieser Richtung hatte er zugestoßen, blitzschnell und kräftig. Hauser war förmlich in den Stoß hineingesackt. Mit einem gurgelnden Laut fiel Kaspar auf den Boden. In seinen wachsbleichen Fingern hielt er noch das blaue Beutelchen. Der Killer aber trat seinen Fluchtweg an, den wir schon kennen. Wie lange Kaspar Hauser gelegen, blieb unbekannt. Mit letzter Sicherheit wußte er später nicht einmal mehr anzugeben, ob er überhaupt hingefallen sei. Aber recht lange kann die Ohnmacht nicht gewesen sein. Plötzlich war er wieder bei Bewußtsein, aber wie irre vor Angst. Diese war größer als der Schmerz in seiner linken Seite. Kas-
par raffte sich auf und schoß wie ein Pfeil weg vom Ort des Unheils. Er dachte auch nicht mehr an das Beutelchen, das im Schneematsch liegenblieb. Wie von Sinnen rannte er an der Orangerie vorbei zum Hofgartenausgang, dabei unwillkürlich seine rechte Hand an die linke Brustseite drückend, die dadurch etwas blutverschmiert wurde. Kaspar merkte es gar nicht. Er merkte auch nicht, daß nur wenig Blut aus der tiefen Wunde leicht hervorquoll. Er achtete auf nichts, und er dachte auch nicht im mindesten daran, etwa um Hilfe zu rufen oder sich in das nächste Haus zu flüchten. Kaspar war in diesen Augenblicken tatsächlich irre vor Angst und zu keinem Gedanken fähig. Wohin er aber rannte, das war zu Lehrer Meyer. Er lief automatisch und wie von Furien gehetzt zu seinem anderen Feind. Dabei wurde Kaspar Hauser, der Junge mit der tödlichen Stichverletzung, von Zeugen gesehen. Und zwar vom 26jährigen Melbermeister Karl Wilhelm Friedrich Brechtelsbauer "beiläufig um 1/2 oder 3/4 auf 4 Uhr" im Schloßhof und vom 42jährigen ledigen Gutsbesitzer Johann Konrad Sturm aus Oberreichenbach. Sturm gab zu Protokoll: Am Sonnabend, den 14. ds., ging ich nachmittags zwischen 3 und 4 Uhr durch den Bogen, welcher vom Stiftsgebäude her gegen das Schloß führt, und als ich an das Dr. Seiferheldische Haus hin kam, kam mir ein Mensch entgegen, welcher vom Schloßgebäude hervorgesprungen kam, beide Arme frei hängen hatte und an der rechten Hand mit Blut befleckt war. Ich dachte mir, es müsse eine Schlägerei gegeben haben, schaute ihm nach und bemerkte, daß auch an seiner linken Hand etwas Blut war ... Wachsbleich und grünlich im Gesicht kam Hauser bei Lehrer Meyer an. Dieser gab bei seiner Vernehmung an: Ich kam gegen 1/2 4 Uhr diesen Nachmittag mit meiner Frau nach Hause. Kurze Zeit darauf wurde stark angeläutet. Meine Frau öffnete die Gattertüre, und Hauser stürzte fast mit Ungetüm zur Tür herein zu mir ins Zimmer. Er machte ungewöhnliche Bewegungen mit entstellten Gesichtszügen, deutete bald auf seine linke Seite, bald
auf die Straße. Daraus konnte ich entnehmen, daß ihm etwas geschehen sein müßte. Ihn näher betrachtend sah ich, daß er einen Stich in die linke Seite erhalten habe. Nun drückte er mir durch die unzweideutigsten Bewegungen aus, daß ich schnell mit ihm gehen möge; er faßte mich fest beim Arme, führte mich in ungewöhnlicher Schnelle die Stiege hinab dem k. Hofgarten zu. Unterwegs gab er öfters zu erkennen, daß es ihn schmerze, und bisweilen schien er entkräftet. Auf meine Frage, wo ihm denn der Stich zugefügt worden sei, zeigte er sich mehrere Male wieder kräftiger und schritt weiter. Vor der Reitbahn am Hofgarten angekommen, fragte ich ihn, ob ihm der Unfall vielleicht im Hofgarten geschehen sei, darauf gab er bestimmte Zeichen der Bejahung, indem er mit dem Kopf nickte und so halb und halb das Wort "Ja" herauspreßte. Jetzt forderte ich ihn mit mehr Nachdruck auf zu sprechen, da er doch nicht so schwach scheine. Nachdem er wiederholt durch Zeichen zu verstehen gegeben hatte, daß er dieses nicht könne, fing er endlich doch gebrochen an zu sprechen wie folgt: "Hofgarten gegangen - Mann Messer gehabt - Beutel geben - gestochen ich laufen was könnt, Beutel noch dort liegen." Glaubend, daß der Weg bis zu der Stelle im Hofgarten für seinen Zustand doch zu weit sein möchte, kehrte ich mit ihm um. Auf die Frage: "Ja, was haben Sie denn um alles in der Welt heute bei der schlechten Witterung in dem Hofgarten zu tun gehabt?" erwiderte er: "Mann - bestellt - Vormittag Stadtgericht" (ob er unten oder oben sagte, weiß ich nicht mehr) "soll Nachmittag 1/2 3 Uhr Hofgarten kommen, mir was zeigen." In der inneren Reitbahn stürzte er mir am Arme nieder. Nachdem ich ihn ernstlich aufgefordert hatte, doch hier das ungewöhnliche Aufsehen zu vermeiden und alle seine Kräfte zusammen zu nehmen, um gar nach Hause gehen zu können, außerdem ich ihn in das nächste Haus tragen, auf die Polizei schicken und ihn durch einen Polizeimann nach Hause schaffen lassen müßte, erhob er sich und sagte mir ziemlich deutlich, daß er doch selber nach Hause gehen wolle. (Bemerken muß ich, daß er dies wieder in gebrochenen Worten tat.) Mit Beihilfe meines Hausherrn, Konditor Vogel, führte ich ihn die Stie-
ge hinauf in sein Zimmer. Hier wiederholte er die obige Angabe mit mehr Deutlichkeit. Es ist müßig, die Herzlosigkeit dieses Lehrers Meyer zu kommentieren. Er hat natürlich auch jetzt die Lage sofort erkannt. Süffisant spricht er denn auch von "Unfall" und nicht von Mordanschlag. Seine Besserwisserei, seine Starrköpfigkeit, waren ebenso unbarmherzig wie unmenschlich. Er genierte sich nicht einmal, sein Querulantentum aktenmäßig der Nachwelt zu hinterlassen, als er zu dem schwerverletzten Hauser, der an seinem Arm hing, sagte: Diesmal haben Sie den dümmsten Streich gemacht, diesmal kann es Ihnen nicht gut gehen. Worauf Kaspar, der arme Kerl, nach oben blickte und in die Worte ausbrach: "Bei Gott, Gott wissen!" Damit hat Meyer die Legende geboren, Hauser hätte sich selbst verletzt. Sie wurde vom Gericht bereitwillig und kritiklos übernommen. Alle Bemühungen der Justiz liefen von nun an darauf hinaus, dem Kaspar nachzuweisen, er hätte sich selbst verletzt. Der Mordclique konnte das nur recht sein. Rottenmitglied Horn hat auch diesen seltsamen Zug des Pädagogen mit seinem Zögling beobachtet. Er war baß vor Staunen gewesen, als er im Lindenwäldchen des Hofgartens den Kaspar wie einen aufgescheuchten Hasen an sich vorbeisausen sah. Sein erster Gedanke, der ihn durchzuckte, war: Der Hauser ist dem Müller entwischt! Das Attentat ist fehlgeschlagen! Aber der Junge war doch aschfahl! Dann sah er im Schnee ein paar Tropfen Blut. Hat ihn Müller doch zu fassen gekriegt? Hier stimmt etwas nicht. Er beschloß, dem Kaspar nachzugehen. Dies entgegen der Abmachung, sich nach der Tat mit Müller in der Gaststätte "Windmühle" zu treffen, bereits außerhalb der Stadt. Zu diesem Treffpunkt kam es nie mehr. Aber wahrscheinlich wäre es auch dann nicht zu diesem Meeting gekommen, wäre der Kaspar sozusagen auf Anhieb tödlich getroffen worden. Horn war in den letzten Tagen mehr und mehr unruhig, ja ängstlich geworden, weshalb er ja auch die Johanna Katharina Cramer gebeten hatte, ihm für alle Fälle für wenige Tage einen Unterschlupf zu besorgen. Auch
sein Entschluß, dem Kaspar zu folgen, entsprang letztlich dieser Angst. Er wollte wissen, warum das Bürschlein da so gerannt ist und ihn nicht einmal bemerkte, obgleich er nur wenige Schritte weit an ihm vorbeilief. Er wollte wissen, weshalb Hauser so blaß und grünlich im Gesicht ist und warum seine blauen Augen schreckensgroß beinahe aus den Höhlen quollen. War er doch getroffen? Woher das Blut? Horn mußte Gewißheit haben, so wahr er seine Seelenruhe wieder zurückgewinnen wollte. Geziert langsam stolzierte Horn auf dem Schloßplatz, über dessen Hof und von da in die Innere Reitbahn hinein, wo heute noch mittwochs und samstags Markt gehalten wird. Und da gewahrte er den Kaspar Hauser, am Arm des Lehrers Meyer hängend, der ständig auf den Jungen einsprach, auf den Schloßhof zu gehen. Beide waren so sehr mit sich beschäftigt, daß sie Horn auf der anderen Straßenseite gar nicht bemerkten. Kaum aber waren die beiden an ihm vorbei, drehte sich der einstige gräfliche Diener um und folgte ihnen gemächlichen Schritts. Horn war nun überzeugt, daß Kaspar etwas abbekommen hat. Das Gesicht des Burschen war noch blasser geworden; er konnte kaum mehr laufen. Aber wo wollen die zwei denn hin? Der junge Mann gehört doch eigentlich ins Bett! Und wo war denn die Polizei? Warum lief noch nicht halb Ansbach zusammen? Seltsam dies alles. Horn verstand wieder einmal die Welt nicht mehr. Aber er wurde ruhiger. Viel ruhiger. Müller wird längst über alle Berge sein, dachte er und fühlte sich auf einmal sogar frei. Hinter Meyer und Hauser überquerte er den Schloßhof und betrat die Äußere Reitbahn. Da bemerkte er plötzlich, wie kurz vor dem Hofgarteneingang der Kaspar am Arme seines Begleiters zu Boden sank. Aus! dachte Horn und war nicht einmal froh dabei. Doch Lehrer Meyer zerrte den jungen Kerl keuchend wieder hoch und schleppte ihn nun zurück von wo sie gekommen. Sie kamen direkt auf Horn zu, der nun keinen Schritt mehr wich. Er wollte sich den Kaspar aus nächster Nähe besehen. Als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt waren, bemerkte Horn die Stichmarke in der Herzgegend. Auch das Blut, das sich von Kaspars braunem Überrock wie Tinte
abhob. Der Anschlag ist also doch gelungen! Warum lebt der Junge noch? Eigentlich müßte er doch tot sein! Aber lange macht er's nicht mehr, durchzuckte es Horn alias Baptist. Und höflich zog er seinen Hut, als Erzieher und Zögling nur noch einige Fuß vor ihm waren. Gedankenverloren nickte Meyer und glotzte hinter seiner Blechbrille an Horn vorbei. Kaspar jedoch achtete überhaupt nicht darauf. Er war schon halb hinüber. Horn wandte sich ab. Er hatte genug gesehen. Er wußte nun Bescheid. Dabei wäre er beinahe mit einem Frauenzimmer zusammengestoßen, das ihn neugierig anredete, "was wohl jenem fehle, daß er so jammere". Horn sah die Frau gedankenverloren mit starren Augen an "und ging weiter". Eine gute Viertelstunde war der Herr Pädagoge mit seinem Zögling unterwegs gewesen. Dann erreichten sie wieder das Haus in der Pfarrstraße, in dem Meyer seine Wohnung hatte. Konditor Vogel, 57 Jahre alt, der Hausbesitzer, half, den Jungen über die Stiegen in die Wohnung zu schleppen. Auch sein Sohn Ernst, 29 Jahre alt, Konditor wie sein Vater, lieh seine Kräfte dazu. Oben angekommen, nahmen sie dem Kaspar zunächst die Krawatte ab und machten seinen Rock und Weste auf, ihn dabei aufs Sofa bettend. Auch Madame Kitzinger, Lehrer Meyers Schwiegermutter, die Kaspar wohlgewogen war und von ihm als "Mutter" tituliert wurde, hatte kurz herübergeschaut, war dann aber gleich wieder gegangen. Kaspar hatte zu ihr noch gesagt, so gab sie später zu Protokoll: "O Mutter, Mutter, ich muß sterben. Ich bin ins Herz gestochen worden." Von wem? wollte die 48jährige Frau Kitzinger wissen, deren Mann Polizeikommissar war. Hauser antwortete: Von einem Mann im Hofgarten mit einem Schnurrbart und einem Backenbart und einem Mantel - ein Beutelchen gegeben - vor Schrecken fallen lassen, hinschicken, holen lassen. Als Kaspar dies sagte, war Lehrer Meyer schon nicht mehr im Hause. Er war gleich nach der Ankunft gegangen, um Anzeige zu erstatten. Wir aber wissen, weshalb Kaspar Hauser so überaus großen Wert auf dieses Beutelchen gelegt hat. Wahrscheinlich erhoffte sich der über-
tölpelte Junge immer noch Aufschluß über seine Eltern. Deshalb wollte der schwerverletzte Kaspar partout mit Lehrer Meyer in den Hofgarten: um des Beutels willen. Sein Benehmen ist aber sicher auch aus dem Schock des Überfalls und der Verletzung zu verstehen. Auf dem Weg zur Polizei traf Meyer den Arzt Dr. Heidenreich, den Bruder der Henriette von Feuerbach, von der wir bereits vernommen haben. Meyer bat den Arzt, sich um Hauser zu kümmern. Auf der Polizeiwache im Rathaus erklärte der jourhabende Offiziant dem Schulmann, daß ohne speziellen Auftrag des Bürgermeisters diese Anzeige nicht aufgenommen werden dürfe. Der Herr Bürgermeister Endres aber hockte zu dieser Stunde in seiner Stammkneipe, der "Kleinschrodt'schen Badewirtschaft", fünfzehn Minuten vor der Stadt gelegen. Mit einigen Honoratioren der Stadt spielte Endres dort Karten. Meyer sah ein, daß der subalterne Beamte nicht zu erweichen ist. Für ihn war Befehl ein Glaubensbekenntnis. Und wenn ganz Ansbach gebrannt hätte: dieser Beamte würde sich an die ihm erteilte Order stur halten. Also hastete der Herr Lehrer los zur Badewirtschaft. In dürren Worten erzählte Meyer dem Bürgermeister vom "Unfall". Zwischen einer weiteren Partie Karten gestattete Endres, daß von diesem Vorfall im Hofgarten ein Protokoll angefertigt wird. Der Schulmann stiefelte also wieder zurück zur Polizeiwache. Mit der Ungeniertheit eines von sich eingenommenen Subalternen veranlaßte ich den Polizeisoldaten Herrlein in den Hofgarten zu gehen und sich dortselbst auf dem bezeichneten Platze umzusehen, um allenfalls den von Kaspar Hauser bemerkten Beutel aufzufinden. So Meyer bei seiner Vernehmung am Tage des Attentats. Es mußten damals in Ansbach eigenartige Zustände geherrscht haben, wenn der Schulmann Meyer dem Polizeisoldaten Herrlein Befehle erteilen konnte. Herrlein zupfte seinen Schnurrbart, schnallte seinen Säbel um, setzte die Pickelhaube auf und machte sich mit gemischten Gefühlen auf die
Socken. Nach einigem Suchen - es war schon zwischen Dämmerung und Dunkelheit - fand der Gesetzeshüter schließlich das Beutelchen in nächster Nähe des Uz-Denkmals auf dem Boden. Er griff ihn an, "ob kein Geld drin wäre", was offensichtlich nicht der Fall war. Herrlein gab zum Protokoll: Da rauschte etwas wie ein Papier. Ich machte den Beute! aber nicht auf und begab mich, nachdem ich auf dem Platze noch länger herumgesucht hatte, ob sich nichts mehr vorfinde, zurück auf das Rathaus. Herrlein wollte gerade die Treppe zur Wachstube hinaufpoltern, als Meyer herunterkam. Er hatte soeben sein erstes Protokoll wegen des stattgefundenen Mordanschlags hinter sich gebracht und war auf dem Heimweg. Im Tone eines Feldmarschalls fragte Meyer den Polizeisoldaten, ob er den Beutel gefunden und einen Fremden bemerkt habe. Allem Anschein nach hat der Schulmann geglaubt, der Attentäter gehe noch vor dem Uz-Denkmal spazieren und rauche eine Zigarre dabei. Vernehmen wir nochmals den Polizeisoldaten Herrlein: Ich bejahte das erstere und wies ihm den Beutel hin, den er mir gleich abnahm und hierauf gegen mich äußerte: "So, jetzt gehen Sie nur zu!" Herr Meyer lief fort, und ich folgte ihm bis in seine Wohnung nach. Meyer hat sich also nicht nur angemaßt, den Polizeisoldaten herumzukommandieren, sondern auch noch den Beutel an sich zu nehmen. Als er seine Wohnung betrat, waren dort schon die Kerzen angezündet. Die Glocke vom nahen Hauptturm der Gumbertuskirche hatte längst 17 Uhr geschlagen. Es ging schon auf 17.45 Uhr zu. Kostbare Zeit war mittlerweile verstrichen. Nur zäh und langsam lief der Behördenapparat des Städtchens an. Der Mörder aber, der im festen Glauben war, ganze Arbeit geliefert zu haben, nachdem Hauser röchelnd zu Boden gesunken war, befand sich bereits außerhalb des Stadtgebiets.
Lehrer Meyer, der auch Anzeige beim Stadtgericht gemacht hatte, fand beim Betreten seiner Wohnung neben Dr. Heidenreich auch die Amtsärzte Dr. Horlacher und Dr. Albert vor sowie die Gerichtskommission: Gerichtsrat Waltenmair und den Protokollführer Traumüller. Dr. Heidenreich, der als erster bei Kaspar war und den Jungen bereits vor seiner Entkleidung im Stehen untersucht hatte, beharrte auf seiner Diagnose, daß die Wunde tödlich, zumindest aber lebensgefährlich sei. Seinen beiden Kollegen erläuterte Dr. Heidenreich gerade, daß er mit einem Finger durch die Wunde in die Brusthöhle habe eindringen können, und zwar über einen Zoll tief. Die Doktoren Horlacher und Albert, die Hauser im Bett untersuchten, konnten mit ihren Sonden nicht mehr in die Brusthöhle eindringen. Dr. Horlacher im Protokoll: Bei der von mir vorgenommenen Untersuchung mittels einer Sonde ging diese nur durch die Haut, aber nicht in die Brusthöhle, weil sich die Hautwunde durch die im Liegen veränderte Lage des Verletzten verschoben hatte und dadurch das Eindringen der Sonde in die Brusthöhle verhinderte. Weiter gab dieser Arzt bei seiner Vernehmung an: Nachdem er wie Dr. Albert im Auftrag Meyers verständigt worden war, daß Hauser nach dessen Bekundung gestochen worden sei, eilte er gleich ans Krankenbett. Bei meiner Ankunft in seiner Wohnung fand ich ihn entkleidet in seinem Bette liegend und Herrn Dr. Heidenreich vor ihm sitzend. Hauser hatte ein blasses, eingefallenes, kühles Gesicht, welches Beängstigung und Schmerz ausdrückte, einen langsamen und sehr schwachen Puls und kurzen, beengten Atem. Bei der Untersuchung der Verletzung fand ich zwei Zoll unter der linken Brustwarze und vier Zoll von der Mitte des Brustbeines entfernt eine 3/4 Zoll lange frische Wunde, welche von hinten nach vorne etwas schief abwärts lief, glatte Ränder und scharfe Enden hatte. Die Größe des Blutverlustes war nicht zu ermitteln ... Daß diese Wunde durch ein spitzes und zweischneidiges Werkzeug verursacht worden, daß dieses in die Brusthöhle gedrungen und innere Teile verletzt habe, war nach oben
angegebenen Erscheinungen als gewiß anzunehmen. Da aber der Verletzte sogleich nach erlittener Verwundung einen Weg von 1000 Schritten dreimal nacheinander gemacht hat und erst, nachdem er bereits den dritten Gang bis auf ungefähr 200 Schritte vollendet hatte, Schwäche und Unvermögen, weiter zu gehen, fühlte, sich jedoch auf Zureden wieder ermannt und gehend seine Wohnung erreichte, so durfte man schließen, daß eine beträchtliche Verletzung des Herzens oder der Lunge nicht stattgefunden, und sonach für den Augenblick Lebensgefahr nicht vorhanden sei. Dr. Horlacher hat den psychischen Zustand seines Patienten also kaum beachtet und entsprechend seine Diagnose gestellt. Außerdem hat er, im Gegensatz zu den Doktoren Heidenreich und Albert, Kaspar Hauser vorher nicht persönlich gekannt, also auch nicht dessen besondere Psyche. Im übrigen: "Zureden" ist gut - und "ermannt" auch. Drohungen mit der Polizei, wie's Meyer getan hat, ist kein Zureden. Hofrat Hofmann hat in einem Brief an Professor Klüber bezeugt, was der Rohling Meyer am Attentatstag zu ihm gesagt hat: Hauser habe das Mittleid seines Jahrhunderts zum Besten (gehalten), der Vorgang sei nur ein Dacapo des früher ersonnenen Mordversuches in Nürnberg. Ihm mache er heute (am 14. Dez.) keine unruhige Nacht, wie damals dem Professor Daumer in Nürnberg. Er habe dem Hauser soeben beim Weggehen, um mir den Vorfall anzuzeigen, geradeheraus erklärt, daß er eine Tracht Schläge verdient habe ... Meyer drang sogar darauf, daß ich Hauser, wegen Hickels Abwesenheit, aus dem Hause schaffen solle, weil er ihn nicht länger behalten wolle. Wenn jemals ein Mensch seinen Beruf total verfehlt hat, dann war es dieser Lehrer Meyer. Genaugenommen: diesen erbarmungslosen Spießer in Zusammenhang mit Pädagogik zu bringen, ist schon ein Unrecht jenen Lehrern gegenüber, deren Berufsethos Menschenliebe zur Basis hat. Aus dem Fortschaffen des armen Kaspars wurde es übrigens nichts. Hofrat Hofmann, der in Vertretung von Professor Klüber den offiziel-
len Pflegevater Hausers vertrat, nämlich Lord Stanhope, verbot dem ekelhaften Kerl kurzerhand, den schwerverletzten jungen Mann aus dem Hause zu schaffen. Meyer aber entblödete sich nicht, am Tage nach Hausers Tod, am 18. Dezember, Hofrat Hofmann zu besuchen, einzig in der Absicht. seinen ermordeten Zögling als Betrüger hinzustellen. Zu diesem Behufe brachte er einige Schulhefte Kaspars mit, um mich aus solchen von den Nachlässigkeiten, die er (Kaspar) sich in letzter Zeit habe zu Schulden kommen lassen, zu überzeugen". Hofmann fand indessen das Gegenteil und drückte sein Erstaunen über Meyers Verblendung aus, "da ich allenthalben sichtbare Fortschritte ganz deutlich erkannte". Meyer aber blieb stur. Sein vorgefaßtes Weltbild kam nicht ins Wanken. In einem halben Jahr werde er "vor der Welt gerechtfertigt sein", erklärte der Fanatiker, der auch das einleuchtendste Argument nicht anerkannte. Hofmann wurde grob und sagte ihm gehörig seine Meinung. Seit diesem Tag aber hat sich Meyer nie mehr bei Hofmanns sehen lassen. Wie wir gesehen haben, kam Kaspar Hauser selbst Stunden nach dem Mordanschlag nicht zur Ruhe. Sein Krankenlager war ständig umlagert von Privatleuten und Behördenmenschen. Kurz nachdem sich die Gerichtskommission eingefunden hatte, kam auch noch Generalkommissär von Stichaner und Gendarmeriehauptmann Wilhelm von Imhof, der Vorgesetzte des sich wieder einmal auf Reisen befindlichen Oberleutnants Hickel. Sie alle wollten wissen, was denn eigentlich geschehen ist. Sie richteten entsprechende Fragen an Hauser, der mit wachsbleichem Gesicht und spitzer Nase im Bett lag und leise vor sich hin röchelte. Er hatte Schmerzen in der Brust, im Unterleib und in der Halsgegend. Aber weit mehr schmerzte ihn, daß er so unendlich dumm war und sich hat übertölpeln lassen. Er dachte an Ferdinand Sailer, den gutaussehenden Gleichaltrigen, der sich weisungsgemäß schon vor dem 14. Dezember abgesetzt hat; er dachte an den Boten und seinen Mörder. "Ist denn nicht hingeschickt worden, diesen Menschen zu suchen?" fragte er die Magd früh um fünf Uhr, als sie das Zimmer betrat, um nachzuheizen. Der 33jährige Christian
Lorenz, der auf Ersuchen der Ärzte die Nacht über als Krankenwärter Hauser pflegte, hat dies überliefert. Lorenz, von zu Hause aus "Seidenkrawattenverfertiger", verheiratet und Vater von drei Kindern, erzählte seinem Pflegling, daß die Polizei im Hofgarten bereits nachgeschaut habe. Kaspar nickte daraufhin mit dem Kopf. Dann versank er wieder in einen leichten Schlaf. Die Kalenderblätter zeigten den 15. Dezember an. Es war dies ein Sonntag. Kaspar Hauser hatte am vorhergehenden Tag bereits seine erste Vernehmung hinter sich gebracht. Bis um 21 Uhr war die Gerichtskommission bei ihm gewesen. Erst als die Ärzte gegangen waren an diesem 14. Dezember, wurde Kaspar von Gerichtsrat Waltenmair vernommen. Kaspar konnte nur in abgebrochenen Sätzen sprechen. Was er sagte, war nicht viel. Und es dürfte feststehen, daß er nicht viel sagen wollte. Innerlich hat er bereits abgeschlossen mit dieser Welt, auf der für ihn kein Platz war. "Hofgarten, bei Uz", stammelte er, "großer Mann, schwarzer Backenbart und schwarzer Schnurrbart, mehr alt als jung, hatte einen Mantel an". Natürlich wollte die Kommission mehr und nähere Einzelheiten wissen. "Kann nicht angeben", antwortete er, "als ich den Stich hatte, gleich davon gelaufen, - an dem Ort muß ein Beutel liegen". Es war dies im Moment sein Hauptanliegen. An diesen Beutel klammerte er sich wie an einen Strohhalm. Enthält das faustgroße Beutelchen einen Hinweis auf seine Eltern oder gleich gar eine Nachricht von ihnen? Er hatte noch immer nicht mit der letzten Konsequenz begriffen, daß der Beutel nur dazu gedient hatte, ihn, den Kaspar, für einen Augenblick abzulenken, damit Müller zum gezielten Herzstoß ansetzen konnte. Unmittelbar nach Hauser wurde Lehrer Meyer vernommen. Das Gericht stellte ihm verschiedene Fragen. Und schon bei diesem ersten Verhör trat eindeutig der unheilvolle Einfluß des Befragten zutage. So forschte die fünfte Frage nach Hausers Stimmung in den letzten Tagen und die sechste danach, ob Hauser einen ähnlichen Beutel, wie den am Tatort gefundenen, besessen habe oder welche Messer Kaspar besitze. Dies alles ist nur verständlich. Nicht verständlich hingegen ist, daß das Gericht dieses eingeschlagene Geleis nicht mehr verlassen
hat. Statt jedem Anhaltspunkt nachzugehen und mehrgleisig zu untersuchen, hat sich Waltenmair darauf versteift, die von Meyer angenommene Selbstverletzungstheorie zu untermauern und Hauser zu überführen - wo es in Wahrheit gar nichts zum überführen gab. Ludwig Feuerbach, der Philosoph aus Bruckberg bei Ansbach, schrieb bereits unterm 18. Dezember 1833, einen Tag nach Hausers Tod, an seinen Freund Daumer: Du wirst schon vor Ankunft dieses Briefes die Nachricht erhalten haben, daß Hauser gestern Nachts vor 10 Uhr infolge der Wunde, die er am vergangenen Samstag hier im Schloßgarten erhielt, gestorben ist. Gestern Abend bis 1/2 7 Uhr war noch der Schullehrer Meyer bei uns und versicherte uns, daß Hauser ganz außer Gefahr sei ... Gegen das Urteil der Menge, so lange es Urteil bleibt, kann man gleichgültig sein, aber nicht, wenn es bestimmenden Einfluß auf Handlungen hat. Und dies scheint hier der Fall zu sein. Das Untersuchungsgericht ging bei Hausers Vernehmung offenbar von der Prävention aus, daß er selbst der Täter sei. Wie tragisch ist das Ende des armen Hauser! Mit seinem Tode muß er es dem rohen Volke besiegeln, daß er kein Betrüger war. Als nun Kaspar Hauser erfahren hat, was in dem Beutel war, mußte auch er begreifen, daß er abgefeimten Schurken auf den Leim gekrochen war. Nach dem Öffnen des Beutels hat es sich nämlich herausgestellt, daß sein Inhalt ein Zettel war. Auseinandergefaltet war darauf eine Notiz zu erkennen, mit Bleistift geschrieben, eigenartigerweise aber in Spiegelschrift. Durchs Licht betrachtet oder vermittels eines Spiegels las die erstaunte Gerichtskommission: Abzugeben. Hauser wird es euch ganz genau erzählen können, wie ich aussehe, und wo her ich bin. Denn Hauser die Mühe zu ersparen will ich es euch selber sagen, woher ich komme - -. Ich komme von von - - - der Baiernschen Gränze - - Am Fluße - - - - - Ich will euch sogar noch den Namen sagen: M. L. U. Mit dem Geleitbrief und dem Mägdleinswisch war dies die dritte und letzte schreiberische Wendemarke im kurzen Leben des Kaspar Hau-
ser. Gemeinsam haben alle drei Texte, daß ihre Verfasser anonym geblieben sind. Auffallend: auch beim Spiegelschriftzettel ist der Hinweis auf Bayern, etwa nach dem Motto ""Haltet den Dieb!" Im Geleitbrief von 1828 steht zu Beginn des Schriebs "Von der Bäiernschen Gränz / Daß Orte ist unbenannt", im Spiegelschriftzettel steht, er, der Mörder, "komme von von - - - der Baiernschen Gränze - -". Allem Anschein nach wollte der große Unbekannte mit langen Zeigefingern auf Bayern hindeuten - in die entgegengesetzte Richtung diesmal. Und sicher dürfte sein, daß auch dieser Zettel geschrieben wurde, um Verwirrung zu stiften. Die Anlehnung an Geleitbrief und Mägdleinsbrief ist bewußt und offenkundig. Vom Stilistischen her wie auch von manchen Redewendungen, wie beispielsweise "selber", statt "selbst". Absolut sicher aber ist, daß weder Müller noch Sailer und auch nicht Horn den Brief geschrieben haben. Graphologisch untersuchte Schriftvergleiche in unserem Jahrhundert haben dies eindeutig erwiesen. Sie haben aber auch gezeigt, daß Kaspar Hauser unmöglich den Schrieb verfaßt haben kann. Nicht untersucht werden konnte, ob Dorfinger oder Beyerlein die Schreibe gemacht haben. Von beiden sind außer unterschriebenen Quittungen keine sonstigen schriftlichen Hinterlassenschaften auf uns gekommen. Mit Unterschriften alleine aber kann ein graphologischer Handschriftenvergleich nicht angestellt werden. Es ist andererseits auch unwahrscheinlich, daß einer von diesen beiden krummen Vögeln so intern in das Komplott eingeweiht wurde. Der Sarkasmus dieser Zeilen deutet eher auf Hennenhofer hin - der aber der Schreiber nicht gewesen sein kann, wie wissenschaftlich nachgewiesen werden konnte. Er war nicht der Schreiber - wohlgemerkt -, aber aller Wahrscheinlichkeit nach der Verfasser. Wie teuflisch und voller Hohn: Der ermordete Kaspar werde es ganz genau erzählen können, wie der Killer aussieht! Das ist der zynische Humor eines Hennenhofers, des Regisseurs. Und was die Unterschrift ".M. L. U." betrifft, so hielt sie Professor Klee für eine phonetische Umschreibung des Namens "Müller". Es ist müßig, darüber nachzugrübeln. Aber feststeht: der Texter hat sich dabei etwas gedacht. Von nichts, kommt nichts. Vor allem der Selbstlaut "U" kommt in der Alltagssprache bei weitem nicht so häufig vor wie
die Mitlaute "M" oder "L". Irgendeine Assoziation muß der Verfasser bei diesem "U" gehabt haben. Hat er dabei an den bayerischen Innenminister Graf Öttingen-Wallerstein gedacht? Und warum gerade an ihn? Jedenfalls hat der Spiegelschriftzettel seinen Sinn und Zweck erfüllt, wenn dieser war, Verwirrung zu stiften und die Spuren in andere Richtung zu lenken. Wie mag es in Hauser ausgesehen haben, als er auf seinem Krankenlager von diesem nichtswürdigen Zettel erfahren hat - vom Beutelinhalt, dem sein ganzes Trachten galt, von dem er sich Aufschluß über seine Eltern erhofft hatte. Er dachte an Lilla und weinte. Aus der Traum. Dazu noch die demütigende Behandlung durch Meyer, der keinen Zweifel aufkommen ließ, daß er seinen Zögling für einen Betrüger halte, der sich selbst verletzt habe, um Mitleid zu erregen, dabei aber ein bißchen zu tief gestochen habe, wie der ekelhafte Kerl nach Hausers Tod verzapfte. Und freilich merkte er auch aus Fragestellung und Gebärden des Gerichts daß sich dieses der Meinung des Lehrers Meyer angeschlossen hat. Noch in seiner Todesstunde beklagte sich der leicht verletzliche Kaspar mit den Worten: "Ach Gott, wie muß ich abziehen mit Schand und Spott." Karoline Lorenz, die Frau des "Seidenkrawattenverfertigers", die ebenfalls Krankenpflegedienst bei Kaspar verrichtete, hat dies vor Gericht bezeugt und dabei als weiteren Zeugen den jungen Konditor Vogel angegeben. Zu Lehrer Meyer gewandt, sagte Hauser in seiner Todesstunde: "Es ist nur eine Einbildung, diese wird Sie aber bald verlassen." Kommissionsaktuar Traumüller, der Protokollbeamte, hat dies mitnotiert. Hausers Zustand sank rapide ab. Er litt schwer und hatte physische wie psychische Schmerzen. Dessenungeachtet wurde sein Sterbebett ständig von irgendwelchen Leuten umlagert, die ihn mit Fragen oder mit ihrem Mitleid quälten. Um 14 Uhr des dem Attentatstag folgenden Sonntag, also am 15. Dezember, war die Gerichtskommission schon wieder erschienen, um Kaspar zu vernehmen. Da aber der Landgerichtsphysikus Dr. Albert, der Kaspar um elf Uhr besucht hatte, Hausers "Zustand nicht außer Gefahr erklärt habe", wollte die Kommission "eine weitere Vernehmung nicht ohne Gutachten des
Gerichtsarztes" vornehmen. Die Paragraphenmenschen haben sich deshalb Lehrer Meyer vorgeknöpft, der auf diese Weise eine weitere Möglichkeit bekam, seine vorgefaßten Tiraden loszuwerden und dem Gericht quasi zu offerieren. Als schließlich der Kreis- und Stadtgerichtsarzt Medizinalrat Dr. Horlacher und sein Kollege, der Landgerichtsphysikus Dr. Albert eingetroffen sind, haben sie den nach Luft schnappenden Kaspar nochmals einer gründlichen Untersuchung unterzogen. Übereinstimmendes Ergebnis: Eine Vernehmung im gegenwärtigen Zustand des Patienten sei nicht zu verantworten. Vielleicht morgen, aber nicht heute könne das Protokollieren weitergeführt werden. Zu den Atembeschwerden des Kaspars haben sich ihrer Aussage zufolge "entzündliche Brustzufälle" gesellt, "wodurch das Sprechen sehr erschwert" ist. Erst am dritten Tag, am Montag, 16. Dezember, wurde um neun Uhr früh das Verhör mit Kaspar Hauser fortgesetzt. Er sollte Vorgang und die Tat selbst haargenau schildern. Es kam aber nicht viel dabei heraus. Einigermaßen exakt beschrieb er den angeblichen Hofgärtnerboten, also Horn, einschließlich seiner Baßstimme -aber den Attentäter selbst zeichnete er nur skizzenhaft. Kaspar war fertig mit dieser Welt, die ihm ja doch nicht glaubte und nur mit Mißtrauen begegnete oder mit unverhohlener Aversion wie Meyer, der eine psychiatrische Studie für sich wert gewesen wäre. Seiner Zunge ist nichts mehr entschlüpft, womit er sich auch noch hätte blamieren müssen. Kein Wörtchen über die Verbindung mit Sailer und nicht im entferntesten eine genaue, eine wahre Schilderung des Tatvorgangs. Und doch hätte eine unvoreingenommene Justiz und eine kriminalistisch denkende Polizeibehörde selbst mit Hausers Skizze von seinem Mörder etwas anfangen können. Denn Kaspar hat ihn, wie wir bereits gelesen haben, als einen Mann beschrieben, der auf gar keinen Fall ein Aussehen hat wie hundert andere auch. Hauser gab auch den "runden schwarzen Hut" an, den Müller aufhatte und der auch von den Zeugen angegeben wurde, wie wir gesehen haben. Lediglich die Farbe des Mantels - an die konnte sich Kaspar angeblich nicht erinnern. Typisch für seine psychische Haltung, für seine momentane Hauptsorge: Er
beschwerte sich bei der Gerichtskommission über das ihm entgegengebrachte Mißtrauen: Die Leute meinen immer, es hätte mich niemand gestochen. Ich hab 's schon gehört, vom Herrn Meyer, sie haben leise untereinander gesprochen. Jetzt erst, am frühen Nachmittag des 16. Dezembers, zwei Tage nach dem Attentat, geht die Personenbeschreibung des Dolchschwingers und seines Kumpans Horn an das Gendarmeriekommando und den Magistrat der Stadt, "zur gefälligen Vigilanzanordnung und zum geeigneten Gebrauch". Mit anderen Worten: Jetzt erst lief die Fahndung an! Die Mordrotte konnte sich schief lachen über die Naivität der Ansbacher Behörden, die durch nichts zu entschuldigen ist. Juristisch wie polizeilich wurde hier weit mehr gesündigt als bei Hausers Auftauchen fünf Jahre vorher in Nürnberg. Damals wurden die Behörden mit einem Fall konfrontiert, der noch niemals seinesgleichen hatte. Als Kaspar aber nach Ansbach kam, da war dieser Junge schon weltbekannt - dies ohne die geringste Übertreibung. Am nächsten Tag, am Dienstag, 17. Dezember 1833, Hausers Todestag, wurde die Vernehmung des immer schwächer gewordenen Kaspars fortgesetzt. Um elf Uhr in der Frühe erschien wieder die Gerichtskommission. Der schwerfällige Gerichtsrat Waltenmair hatte sich Zeit genommen, über Kaspars Antworten auf seine Fragen kritisch nachzugrübeln. Vielleicht findet sich doch noch ein Nebensätzchen, wo man den Bohrer ansetzen kann, um Hauser zu überführen. Wenn es nicht so unendlich traurig wäre, könnte man schmunzeln über Waltenmairs Bauernschlauheit. Das Protokoll darüber beginnt so: Heute verfügte man sich abermals in die Wohnung des Kaspar Hauser, traf denselben zwar im Bette liegend, jedoch bei vollkommen gutem Bewußtsein an, ermahnte ihn sofort zur Angabe der Wahrheit und vernahm ihn weiters.
Das hohe Gericht hat also den armen Kaspar, der elf Stunden später für immer die Augen schließen wird, im Bett angetroffen und dies extra erwähnt. Ja haben denn Waltenmair und sein Schreiber geglaubt, Hauser bei Gymnastikübungen anzutreffen? Und bei vollkommen gutem Bewußtsein soll der Patient gewesen sein. Woher eigentlich, darf gefragt werden, hat dies Waltenmair gewußt? Hat der gute Mann in Kaspar hineingucken können? Es ist dies das letzte Verhör mit Hauser, dem in drei Verhören insgesamt 42 Fragen gestellt wurden. Dieses dritte und letzte Protokoll beginnt mit der Frage 26. Waltenmair bohrte und bohrte. Er bewegte sich dabei im Kreis, wie's gar nicht anders sein konnte. Frage 38: Unter Vorzeigen des zu Gerichtshänden gekommenen violettseidenen Beutels. Was sagen Sie zu diesem Beute?! Hausers Antwort: Ich meine, den Schnüren nach könnte er es sein, doch ist mir jener Beutel etwas größer vorgekommen; es war auch garstiges Wetter und schon dunkel. Auch hieraus ist zu erkennen, wie raffiniert die Attentatszeit eingeplant war von Müller, dem alten Ganoven und Hennenhofer-Schüler. Er hat sein Opfer gekillt, als es schon zu dämmern anfing. Auch kannte er die Behördenapparaturen nur zu gut um nicht zu wissen wie günstig ein Samstag für so ein Vorhaben ist Es liegt der Sonntag zwischen einem neuen Arbeitstag! Damit ist Zeit gewonnen für die Mordrotte. Frage 39: Sie sind gleichwohl bei diesem garstigen Wetter ohne Mantel in den Hofgarten gegangen, warum das? Wohin diese Frage Waltenmairs zielt, ist unschwer zu erkennen. Am liebsten wäre es Waltenmair sicher gewesen, wenn Kaspar darauf gesagt hätte: Ei, ei, lieber Herr Rat, als ich mich dazu entschlossen hatte, mich selbst zu verletzen, wollte ich natürlich nicht so viel Widerstand zwischen der Dolchspitze und meiner kostbaren Haut. Mit Mantel hätte ich kräftiger zustoßen müssen, wobei ich vielleicht zum tief gestochen hätte. Und sehen Sie, verehrter Herr Rat: das wollte ich
verständlicherweise nicht. Vielmehr hatte ich vor, das öffentliche Interesse an mir wieder anzukurbeln. Schwamm drüber. Zäh waren die Ansbacher Behörden leider nur in der versuchten Beweisführung ihrer vorgefaßten Meinung. Bedingt recht geben muß man Waltenmair, wenn er noch zu Protokoll gab: Nicht unbemerkt kann hier bleiben, daß sich dem Untersuchungsrichter nicht unerhebliche Zweifel über die Wahrheit der Erzählung hinsichtlich der Art und Weise, wie die Tat bereitet und verübt worden sein soll, ergeben haben, die noch keineswegs beseitigt sind. Das herauszufinden wäre ja seine Aufgabe gewesen! Freilich: so unpsychologisch wie sich Waltenmair angestellt hat, konnte er keinen Erfolg haben. Warum hat er nicht augenblicklich nach jenem Mann fahnden lassen, den Hauser einigermaßen geschildert hat! Die Antwort ist leicht zu geben: Weil er von Hausers angeblicher Selbstverhetzung überzeugt war. Der Mörder war für ihn ein Anonymus, an den er nicht glaubte. Deshalb lief die Fahndung so langsam an und wurde so lasch geführt. Dieses Verhalten der Ansbacher Justiz- und Polizeibehörden hat dann schließlich soweit geführt, daß Bayerns König Ludwig höchstpersönlich eingegriffen und den Ansbachern die Leviten gelesen hat. Machen wir an dieser Stelle einen gedanklichen Rücksprung in den Hofgarten zur Tatzeit. Dieser Ansbacher Hofgarten mit seiner einmaligen Lindenallee, die zur Sommerzeit einem gewaltigen Blätterdom gleicht, weil die beiden Baumreihen einander ihre Spitzen zukehren dieser Ansbacher Hofgarten erstreckt sich östlich des Schlosses und lief damals quasi aus dem Weichbild der Stadt hinaus. Müller brauchte nach vollendeter Tat also nicht mehr in die Stadt hinein, sondern nur die Lindenallee abwärts zu gehen, wo er dann ins Freie flüchten konnte. Es war also nicht nur die Zeit überaus günstig gewählt, sondern auch der Tatort. Tatsächlich sahen wir Müller mit den Augen der Zeugen Stadi und Weiß die Lindenallee "starken Schritts" abwärts hasten in Richtung Weidenmühle. Kurz vor ihr wandte er sich "nach links", also nach Norden. Er überquerte dabei die noch existierende
Eyber Straße und lief den Hügel hinauf zur Gaststätte "Windmühle" an der Straße nach Nürnberg. Als moderner Gasthof besteht dieses Lokal noch heute. Dabei wurde Müller von einem weiteren Zeugen gesehen, wie schon angedeutet wurde. Allerdings wurde diese Zeugenschaft nie aktenkundig. Sie ist aber verbürgt in den veröffentlichten Aufzeichnungen des Fürsten Eulenburg-Hertefeld mit dem Titel "Das Ende König Ludwigs", herausgegeben von der Gattin dieses einstigen Botschafters in München. Unter Ortsangabe und Datum "Sigmaringen, 27. Nov. 1890" bezieht sich Fürst Eulenburg-Hertefeld bei nachfolgender Schilderung auf seinen Freund Axel von Varnbüler, der bis 1918 württembergischer Gesandter am Kaiserhof in Berlin war. Von diesem persönlich vernahm Eulenburg-Hertefeld etwas Merkwürdiges. Erlebt hat diese Merkwürdigkeit nicht Axel von Varnbüler, sondern dessen Vater, der es bis zum württembergischen Premierminister gebracht hat. Damals, als Freiherr von Varnbüler dieses Erlebnis hatte, war er allerdings noch Student. Und da er die Weihnachtsferien im heimatlichen Hemmingen verbringen wollte, hatte er sich von seinem Studienort Berlin auf die lange Reise gemacht. Zufälligerweise traf er mit der Fahrpost am 14. Dezember 1833 an der Poststation "oberhalb Ansbachs" ein. Es war dies kurz nach dem Attentat. Der Postkutscher hatte eine Rast vorgeschlagen, damit sich seine Fahrgäste die Beine etwas vertreten konnten, derweilen er es vorzog, sich das Bier des Wirtshauses munden zu lassen. Der junge von Varnbüler benutzte diese Zeit zu einem kleinen Spaziergang auf der Landstraße und setzte sich schließlich bei einem Feld in den Graben, (von) wo man einen weiten Überblick bis zu der Stadt und dem Schloßgarten [gemeint ist der Hofgarten - d. Autor]y/span> hatte, der unten an die Felder grenzte. Hier oben, wo ein rauher Wind wehte, war der Schnee stellenweise liegengeblieben. Gedankenverloren schaute der Studiosus hinab auf das vor ihm ausgebreitete Panorama. Ruhig und friedlich lag das einstmalige Residenzstädtchen mit dem gewaltigen Schloßareal im
Rezattal. Der junge Freiherr von Varnbüler dachte an daheim und die bevorstehenden Weihnachtstage. Berlin und seine Universität lagen weit hinter ihm. Auch gedanklich. Bei Eulenburg-Hertefeld heißt es dann: Plötzlich sah er einen Menschen auf einem zum Teil an den Abhängen verborgenen Fußweg hinauf in der Richtung zu der Landstraße laufen, und zwar so schnell, daß sich Varnbüler Gedanken darüber machte. Der Mann hatte ihn nicht gesehen, da nur Varnbülers Kopf über den Grabenrand hinausragte. In dem Augenblick, als der Mann ganz in der Nähe Varnbülers an den Graben trat, bemerkte er, daß er den Menschen kenne, doch sich nicht erinnere, wer er sei. Viel Zeit zum Nachdenken blieb nicht, da das Posthorn ertönte. Varnbüler eilte zur "Windmühle", wo die Fahrpost bereits auf ihn wartete. Die Reise nach Stuttgart und Hemmingen ging weiter. Als der Student und nachmalige Premierminister, also Ministerpräsident, einen Blick auf seine Uhr warf, bemerkte er, daß es noch nicht ganz viertelfünf war. Er dachte wieder an den Mann, dessen Gesicht er irgendwie kannte. Wo habe ich bloß den Herrn schon gesehen? Warum lief er den Hügel hinauf, als wenn eine ganze Meute Jagdhunde hinter ihm her wären? Einige Tage später - Varnbüler war schon daheim - berichteten überall die Zeitungen in großer Aufmachung, wie wir heute sagen würden, vom stattgehabten Mordanschlag auf Kaspar Hauser. Varnbüler rechnete nach. Natürlich! An jenem Samstagnachmittag hatte seine Fahrpost Ansbach erreicht. Oberhalb der Stadt hatten sie eine kurze Rast eingelegt. Varnbüler schaute in seinem Reisetagebuch nach. Kein Zweifel, ungefähr zur Mordzeit hatten sie bei der "Windmühle" gerastet. Natürlich fiel ihm auch wieder die Sache, das kurze Erlebnis mit dem dahinhastenden Mann ein. Aber auch jetzt kam er nicht darauf, wer dieser gutgekleidete Gentleman mit seinem blauem Tuchmantel und dem modischen runden Hut gewesen sein könnte. Erst viel später, berichtete Eulenburg-Hertefeld, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: als nämlich der Name Hennenhofer in fast
allen Zirkeln und Gesellschaften in Zusammenhang mit Kaspar Hauser und seinem Schicksal gebracht wurde. Freiherr von Varnbüler glaubte nun zu wissen, wer ihm damals bei der Rast oberhalb Ansbachs beinahe stürmisch in die Arme gelaufen wäre: kein anderer, als der berüchtigte Major von Hennenhofer. Er kannte diesen Mann nur flüchtig, von Karlsruhe her, wo er öfter schon als junger Mann zu tun hatte. Varnbüler hat sich natürlich geirrt. Nicht Hennenhofer hat er gesehen, sondern dessen rechte Hand, den Müller. Er hat den Kommandeur mit dessen Adjutanten verwechselt. Denn: es ist nicht auszuschließen, sondern sogar wahrscheinlich, daß er auch diesen Müller von Karlsruhe her kannte, sozusagen vom Sehen. Um der Wahrhaftigkeit willen muß aber gesagt werden, daß Varnbüler selbst einschränkend gemeint hat, seine Wahrnehmung könnte "schließlich doch auf einen Irrtum beruhen". Dem war in der Tat so, da es nachweisbar ist, daß von Hennenhofer zur Tatzeit auf seinem Schlößchen in Mahlberg war. Da nun nichts von ungefähr kommt, bleibt die Vermutung, daß Varnbüler beide von Karlsruhe her flüchtig kannte. Durch die Gerüchte um Hennenhofer als dem angeblichen Mörder Kaspar Hausers kam ihm die Assoziation, er habe damals in Ansbach Hennenhofer gesehen. Fest steht jedenfalls, daß er jenen Mann, der da aus Richtung Hofgarten zur "Windmühle" heraufflüchtete, von irgendwoher gekannt hat. Wahrscheinlich eben doch nur oberflächlich, da er sich sonst an ihn auch erinnert hätte. Daß es Müller war, den er erblickt hatte - daran gibt es keinen Zweifel mehr. Varnbülers Erlebnis am Mordtag fügt sich nahtlos in die Zeugenaussagen des Falles Kaspar Hauser, besonders der Vernehmungsergebnisse der Zeugen Stadi und Weiß, die jenen gutgekleideten Fremden aus dem Hofgarten heraus in Richtung "Windmühle" haben laufen sehen - und zwar zur Tatzeit! Schade ist nur, daß Freiherr von Varnbüler sein Erlebnis nie einem Gericht oder einer Polizeibehörde kundgetan hat. Das ist ebenso bedauerlich wie bezeichnend. Varnbülers Verhalten ist wahrscheinlich auf Rücksichtnahme gegenüber dem Hause Baden zurückzuführen.
Kehren wir nach diesen kurzen Abstecher wieder zurück zu Kaspar Hauser in sein Krankenzimmer. Am 17. Dezember, Hausers Sterbetag, war er bis mittags noch einmal vernommen worden, wie wir gehört haben. Kaspars Aussehen war quittengelb, wie Dr. Horlacher in seinen "Relationen" vermerkte, der Puls "sehr klein und schnell". Der Patient hatte eine feuchte Haut, großen Durst und starke Schmerzen in der Magen- und Lebergegend. Gegen 18.30 Uhr besuchte Dr. Horlacher seinen Patienten nochmals. Er stellte dabei fest, daß sich der Zustand verschlimmert hat. Kaspars Gesicht war eingefallen und fühlte sich eiskalt an, wie übrigens auch die Extremitäten, die dazu noch "mit klebrigen Schweiß bedeckt" waren. Der Atem war äußerst kurz, an den Händen war kein Puls mehr zu fühlen. Dr. Horlacher wörtlich: Der anwesende Wundarzt Koppen versicherte, den Kranken schon vor einer Stunde in diesem Zustande gefunden zu haben. Nach allen Umständen war Brand eingetreten und das nahe Ende zu erwarten. Medizinalrat Horlacher war noch keine Stunde bei Kaspar, als dieser "hastig auf den Leibstuhl" verlangte. Auf diesem Stuhl wurde er ohnmächtig, so vehement ging es nun abwärts. Dessenungeachtet ging es im Krankenzimmer zu wie in einem Taubenschlag. Ständig kamen und gingen Leute, die Hauser zum Teil nur vom Sehen gekannt hat. Jeder wollte noch schnell einen Blick ergattern. Keiner hat auf die Pauke gehauen und das ganze neugierige Volk zur Tür hinausgewiesen - am allerwenigsten Lehrer Meyer. Dieser Mann, der stets nach oben buckelte und nach unten trat, fühlte sich als Richter und Schulmeister in einem. Wer es hören wollte oder nicht, dem erzählte er sein Märchen, sein durch nichts beweisbares Märlein von einer stattgehabten Selbstverletzung Hausers, der ja dieses Mal seinen "dümmsten Streich" geliefert habe, indem er ein bißchen zu tief gestochen hat - was er nun mit seinem Leben bezahlen müsse. Ein erbarmungsloser Narr war dieser Meyer, der sein ansteckendes Gift hemmungslos verspritzte. Auf seinen Einfluß - schließlich war er der Wohnungsinhaber - wird es auch zurückzuführen sein, daß Nürnbergs Bürgermeister Dr. Binder, der mit einem Magistratskollegen von der
Noris nach Ansbach geeilt war, vor der Tür Meyers abgewiesen wurde. Man hat ihn nicht vorgelassen. Unverrichteter Dinge mußte er seinen Heimweg antreten, obgleich er Kaspars Amtsvormund war. Unglaublich dies, aber wahr. Kaspars irdischer Weg nähert sich dem Ende. Keiner, auch nicht der geringste medizinische Laie, glaubte mehr daran, der Kaspar werde diese Nacht überstehen. Medizinalrat Dr. Horlacher schickte deshalb nach der Gerichtskommission. Seinem Kollegen Dr. Heidenreich, der von Anfang an die Verletzung für tödlich erklärte, hatte er nicht glauben wollen. Er selbst war nun mit seinem medizinischen Latein am Ende, klammerte sich aber noch daran, der Hauser könnte in seiner Sterbestunde vielleicht "auspacken". So verließ der Mediziner die Tribüne und machte Platz für die Juristen. Geschickt wurde aber auch - und das ist sehr anständig -nach Kaspar Hausers Seelsorger, nach Pfarrer Fuhrmann. Dieser Mann, Vater von acht Kindern, kam auch sogleich ans Sterbelager geeilt. Seinen Aussagen ist es zu verdanken, daß gewisse Worte und Sätze Kaspars, oft wirr und in Abständen gesprochen, von einem Mann gedeutet wurden, der Kaspars Innenleben wie kein anderer gekannt hat. Es ist ihm zu glauben, wenn er davon sprach, daß Kaspar ein zutiefst religiöser Mensch war, ein frommer Junge, der den genossenen Religionsunterricht sehr ernst genommen hatte und sich gerade in seiner Todesstunde von dieser geistigen Wegzehrung leiten ließ. Aber selbst diese Minuten vorm Tod hatten ein Meyer & Sohn zur Verleumdung Kaspars benutzt, einfach umgedeutet. Aus dieser geistigen Substanz sind Hausers Bemerkungen zu verstehen. Fuhrmann fragte ihn gleich nach seinem Kommen, ob er ihn verstehen könne und wie er sich befinde. Kaspars Antwort: "Wohl, aber recht müde, in allen Gliedern bin ich müde, sie werden mir zu schwer." Hierauf fragte ich ihn um den Zustand seines Gemütes, indem ich ihm erklärte, daß, außer den körperlichen Schmerzen, der Mensch auch da leiden könne, was oft weit weher tue als der körperliche Schmerz. Hauser erklärte mir, daß er auch da ruhig
sei und fügte hinzu: "Ich habe ja alle Leute, die ich kenne, um Verzeihung gebeten, warum sollte ich nicht ruhig sein?" Während dieses seelsorgerischen Gespräches war Kaspars Zimmer voll von Leuten. Auch Oberleutnant Hickel hatte schleunigst seine Dienstreise abgebrochen und war nach Ansbach geeilt. Teils ständig, teils abwechselnd waren im Sterbezimmer: Die Gerichtskommission, Pfarrer Fuhrmann, Lehrer Meyer, Hickel, Rechnungskommissär Appel, Wundarzt Dr. Koppen, der Sohn des Appellationsgerichtsrats Schumann, noch Gymnasiast, Hausers Krankenwärter, Meyers Schwiegermutter, Dr. Heidenreich, Dr. Horlacher und Dr. Albert. Es herrschte tatsächlich ein geschäftiges Treiben. Dabei wurde jedes Wort, jede Gestik des armen Kaspar von der Gerichtskommission argwöhnisch observiert und protokolliert. Eine makabere Szenerie mit einem sterbenden jungen Mann im Mittelpunkt, der nur noch am Rande dieser Welt angehörte. "Ach, diesen Kampf, der Mensch kann diesen Kampf nicht allein bestehen!" seufzte Kaspar unvermittelt. Pfarrer Fuhrmann erwiderte ihm, daß die Menschen dies auch nicht nötig haben würden, da sie ja in Gott einen mächtigen Verbündeten hätten. Kaspar soll nur die Wege des Vertrauens zu Gott und seinem eingeborenen Sohn nicht verlassen und mit voller Überzeugung beten: Vater, nicht mein Wille, sondern der Deinige geschehe! Mit sichtbarer Erhebung sprach Hauser: "Vater, nicht mein Wille, sondern der Deinige geschehe!" Fuhrmann ging hierauf für einige Minuten in Meyers Wohnzimmer. Als er wieder zurückkehrte, kam er gerade im rechten Augenblick, um eine Begebenheit zu sehen, die er zeit seines Lebens nicht mehr vergessen sollte, bewies sie ihm doch die volle Entfaltung des christlichen Samens, den er in Kaspars Herz gelegt hat. Hauser faßte nämlich soeben Lehrer Meyers Hand und verabschiedete sich von diesem mit den Worten:
Ich sage Ihnen einen großen, sehr großen Dank, ich kann ihn nicht geben und aussprechen, Sie haben so viel Gutes an mir getan! Wo ist Ihre Frau Gemahlin, sagen Sie auch ihr einen sehr großen Dank. Meyer war gerührt. Weniger über Kaspar als über sich selbst. Es muß so sein, denn er hat später und bis an sein Lebensende Hausers Abschiedsworte in ein halbes Schuldgeständnis umgemünzt - ein unverbesserlicher Ignorant. Auch Oberleutnant Hickel drängte sich vor und frug Kaspar, ob er ihm nichts für den Grafen Stanhope aufzutragen habe. Kaspars Antwort: "Vielen Dank schuldig, ihn warnen, Schutzgeist in der Ewigkeit sein." Hickel bei seiner Vernehmung wörtlich: Er sprach viel von Religion, und es ging aus allem hervor, daß er sehr ruhig und gefaßt war, wie er auch starb. Ob er denn keine Bewegung oder Gebärde an Hauser wahrgenommen habe, welche ihm aufgefallen wäre, fragte Gerichtsrat Waltenmair nach Hausers Tod süffisant. Joseph Hickel dazu: Während ich bei ihm war, bemerkte ich in seinem Benehmen nichts Auffallendes, vielmehr trug dasselbe den Stempel des bereits nahen Todes, welchem Hauser sichtlich mit Bewußtsein entgegenging, worauf auch seine Äußerung "Die Reise ist lang, und der Kampf ist schwer" hindeutete. Mit diesen Worten drehte sich Kaspar auf die rechte Seite und starb. Von der nahen Gumbertuskirche schlug es zehn Uhr abends. Im Zimmer wurde es auf einmal unheimlich still. Nur ein leises Schluchzen war zu vernehmen und das Miauen eines Kätzchens draußen auf der Stiege. So starb Kaspar Hauser 78 Stunden nach dem Mordanschlag "sanft und still, ohne daß die Besinnung vorher merklich gestört war", wie Medizinalrat Dr. Horlacher versicherte. Zwei Tage später, am 19. Dezember 1833, wird Kaspar Hauser in Meyers Wohnung seziert,
und zwar von Dr. Albert, unter Assistenz von Dr. Koppen. Als wissenschaftliche Zuschauer waren mit anwesend Dr. Horlacher und Dr. Heidenreich. Auch dabei wieder die gleiche Nachlässigkeit. Das Gericht dachte nicht im entferntesten daran, die obduzierenden Ärzte zu beauftragen, die Abnormitäten an Hausers Kniescheiben zu untersuchen. Wie erinnerlich, haben die beiden Nürnberger Ärzte Dr. Preu und Dr. Osterhausen nach Hausers Auftauchen seltsame Deformationen an den Knien attestiert. Auch von einem Muttermal am Rücken Kaspars, das auch der kleine Prinz im Karlsruher Schloß gehabt haben soll und das von den Nürnberger Ärzten ebenfalls festgestellt wurde, wird kein Wörtchen im Sektionsprotokoll gesagt. Das Gericht blieb hart und von vorgeformter Meinung wie Meyer. Es wollte von den Ärzten vor allem wissen, ob die Wunde "nach Natur und Lage ... von dem Beschädigten sich selbst zugefügt worden sein" kann und welche Gründe dafür, welche dagegen sprächen. Die Doktoren Albert und Koppen faßten ihre eindeutigen ärztlichen Ansichten so zusammen: Kaspar Hauser ist eines gewaltsamen Todes, und zwar an den bemerkten Verletzungen gestorben. Die bemerkten Verletzungen haben den Tod des Hauser ohne Rücksicht auf die individuelle Leibesbeschaffenheit desselben und andere zufällige äußere Umstände bewirkt. Die Beschaffenheit des Mordinstruments habe sich "bis zur mathematischen Gewißheit" aus dem vorhandenen Wundkanal ergeben. Das sogenannte Banditenmesser, spitz und zweischneidig in Form einer Messerklinge mit Griff, "eines der gefährlichsten Mordinstrumente", hatte beim kräftigen Stoß in die Brust eine 3/4 Zoll breite Wunde verursacht und war dann wenigstens vier Zoll tief durch die allgemeinen Bedeckungen und durch die Interkostalmuskeln in die Brusthöhle eingedrungen. Es hat dabei den Herzbeutel durchschnitten, war durch den fleischigen Teil des Zwerchfells in die Höhle des Unterleibs gedrungen, hatte den Rand des linken Leberlappens penetriert und sich im Magen zwischen der cardia
und dem fundus noch eine Öffnung gebahnt, ohne die entgegengesetzte Wand des Magens verletzt zu haben. Im weiteren Verlauf ihres Gutachtens setzten sich die beiden Mediziner mit der Frage auseinander, ob sich Hauser diese Wunde selbst beigebracht haben könnte. Sie kamen nach ihrer wissenschaftlichen Analyse zu dem Ergebnis, daß es nach Sachlage eine schiere Unmöglichkeit sei. Der Dolchstich sei vielmehr von geübter und fremder Hand durch einen einzigen und kräftigen Stoß erfolgt. Das Mordinstrument durchstieß dabei den dicken Oberrock, das Gilet, die feste Tuchhose, das Chemisette, das Hemd und die Unterbeinkleider. Die Originalkleidung Hausers, die er am Attentatstag anhatte, sind noch heute im Kaspar-Hauser-Zimmer des Ansbacher Stadtmuseums unter einer Vitrine zu sehen. Selbst das eingetrocknete Blut ist noch leicht zu erkennen. Dieser Teil des Museums ist alljährlich auch heute noch Anziehungspunkt für viele fremde Besucher aus Europa und Übersee. Mit diesem Attest der obduzierenden Ärzte Dr. Albert und Dr. Koppen war das Ansbacher Gericht nicht zufrieden. Aus ihrer Sicht ist dies verständlich, brach doch damit ihre vorgefaßte Theorie wie ein Kartenhaus zusammen. Sie bemühten deshalb den Stadtgerichtsarzt Dr. Horlacher, indem sie auch von ihm ein wissenschaftliches Gutachten erbaten. Sie erlaubten ihm sogar Einsicht in die Hauser-Akten. Für sein "gerichtsärztliches Parere" ließen sie ihm acht Wochen Zeit. Sicher in der Annahme, daß Dr. Horlacher zu einem Ergebnis käme, das ihre Theorie verfestigen könnte. In der vorausgegangenen Vernehmung vom 6. Januar 1834 erklärte Dr. Horlacher: Hinsichtlich der Beschaffenheit der Wunde kann ich bestimmt angeben, daß dieselbe Tötung zur Absicht gehabt hat, und daß die Wunde in diesem Falle ebensogut durch eigene als durch fremde Hand hat beigebracht werden können, zumal da Hauser, wie ich vernommen habe, sich bei verschiedenen Geschäften gewöhnlich seiner linken Hand bedient habe. Wie mag das Gericht bei diesen Worten gejubelt haben! Endlich ein Mann von Gewicht, der ihre verbohrte Meinung stützt! Dabei übersa-
hen sie, daß Dr. Horlacher nur unter Vorbehalten bereit war, die Selbstmordtheorie zu stützen. Er sagte nämlich klar und deutlich, er traue es sich nicht zu, "ein bestimmtes Urteil" abzugeben, da ihm "nicht alle Umstände und Verhältnisse ... hinlänglich bekannt sind". Über das "gerichtsmedizinische Parere" kritisiert Professor Pies in seiner Dokumentation: Bei einer Kritik der Einzelheiten dieses Gutachtens muß man sich Horlachers Stellungnahme zum Fall Kaspar Hauser vor Augen führen: Im Gegensatz zu Albert hat er den Ermordeten vorher nicht gekannt. Beeindruckt von Meyers Skeptizismus hat er nicht gedacht, daß die Wunde tödlich sei. Nun klammerte er sich an jedes Indiz, das die Betrüger- und Selbstmordtheorie zu stützen fähig scheint. Durch Einsichtnahme in die Akten soll er die mangelnde Autopsie ersetzen ... Hinzugefügt werden darf noch, daß Hauser keineswegs Linkshänder war, wie Dr. Horlacher angeführt hat. Ganz im Gegenteil ist aktenmäßig erwiesen, daß Kaspar ein ausgesprochener Rechtshänder war. Aber selbst wenn er Linkshänder gewesen wäre, dann hätte sich Kaspar einen solchen Stoß nicht versetzen können. Dies ergaben die Untersuchungen und Analysen der obduzierenden Ärzte Dr. Albert und Dr. Koppen. Der Stich war tödlich. Pies schreibt: Diese Art der mehrfach tödlichen Stichverletzung war es gerade, die die Ärzte Albert, Koppen und Heidenreich sowie die Mehrzahl der Zeitgenossen zu der Überzeugung brachte, daß Hauser das Opfer eines Mörders geworden ist. Einen Tag nach der Obduktion, am 20. Dezember, einem naßkalten Freitag, wurde Kaspar Hauser im Johannisfriedhof der Stadt Ansbach beerdigt. Ungezählt viele Menschen nahmen daran teil; halb Ansbach war auf den Beinen. Pfarrer Fuhrmann hielt die Trauerrede und segnete den Leichnam ein.
Brüder und Schwestern, sagte Fuhrmann, die ihr mit tiefem Schmerzgefühle unter den Todenhügeln, von denen wir umgeben sind, auch den des Jünglings erblicket, der die Theilnahme und Aufmerksamkeit fast eines Welttheils in Anspruch nahm, vernehmet bei dieser Gelegenheit zum Trost und zur Lehre, daß jenes Gebet, welches wir Matth. XXVI, 39 finden, eines seiner letzten Worte war. Kaspar Hauser habe das Wort der Vergebung noch mit sterbender Lippe ausgesprochen. Fragen wir aber hier, was seinen Geist so stark machte, je schwächer er sich am Körper fühlte, was dem Müden Erquickung, dem Sterbenden frohe Lebenshoffnung gab, so liegt es vor unsern Augen. Nicht irdische Herrlichkeit war es, denn sie lag matt vor seinem Blikke; nicht weltliche Hoffnung, denn er hatte in seinem Herzen keine Stelle mehr für sie. Es war der Herr, der mächtig in demselben sprach: "Kommet zu mir Alle, die ihr mühselig und beladen seyd, ich will Euch erquicken!" Es war das Bewußtsein, das dem gläubigen Gemüthe aus seinem Ausspruche zu Theil wird; "Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen!" Darum hörten wir auch kein Wort von dem letzten für ihn so traurigen Ereignisse, darum keine Klage über irgend einen Schmerz. Im sanften Frieden gieng er aus dem Traum der Zeitlichkeit. Lehrer Meyer, Stadt- und Kreisgerichtsrat Waltenmair und dessen Vorgesetzter, Direktor Kohlhagen, war ein Trio für sich. Mit ihrer Selbstmordtheorie standen sie alleine auf weiter Flur. Von Regierungspräsidenten von Stichaner, über den bayerischen Innenminister, Fürst Öttingen-Wallerstein, bis zum König selbst, fand ihr mit schlechten Argumenten ausgestattetes Gefasel wenig Gehör. Und doch sollten das Trio und ihre Epigonen in all den seither verflossenen Generationen noch auf ihre Kosten kommen. Das hat aber nichts mit ihrer wenig stichhaltigen Argumentation zu tun, sondern beruhte auf politischen Erwägungen. Gleich nach dem Mordanschlag schaute die Sache so aus, als wollte König Ludwig I. unter allen Umständen die Mordrotte zu fassen krie-
gen. Das dreiste Attentat im Ansbacher Hofgarten empfand der König als eine Herausforderung des Staates, der auf seine gut funktionierende Polizei nicht ganz zu unrecht stolz war - die Ansbacher Gesetzeshüter mal etwas ausgenommen. Nirgendwo für möglich gehalten, setzte Ludwig I. auf Antrag von Stichaners, der wiederum von München einen Wink bekommen hatte, diesen Antrag zu stellen, eine Belohnung von 10000 Gulden aus. Der Geldbetrag, die Höhe der Summe war einmalig - damals ein stattliches Vermögen. Die Ansbacher Leser des "Königlich-Bayerischen Intelligenzblattes für den RezatKreis" trauten ihren Augen nicht, als sie am Mittwoch, 8. Januar 1834, drei Wochen nach dem Mordanschlag, auf Seite eins ihres Blattes lasen: Seine Majestät der König von Bayern haben auf erhaltene Nachricht von der Art und den Einzelheiten des am 14. Dezember in dem Königl. Hofgarten zu Ansbach an Kaspar Hauser verübten Mordes geruht, aus der Staatskasse für Jene eine Belohnung von Zehn Tausend Gulden festzusetzen, welche den Gerichten hinreichende Beweismittel an die Hand geben, um eine bestimmte Person als den Urheber oder Theilnehmer des gedachten Meuchelmordes zu verhaften und zu verurtheilen, - welches hiemit zur allgemeinen Wissenschaft bekannt gemacht wird. Ansbach, am 5. Januar 1834. Präsidium der Königlichen Regierung des Rezatkreises. von Stichaner. Jetzt begriffen auch die Ansbacher Justiz- und Polizeibehörden. Wie schon nach dem Nürnberger Attentat, so hat auch jetzt wieder der König höchstpersönlich in den Fall eingegriffen. Die Ansbacher verstanden den Wink und spurten plötzlich. Natürlich vergebens. Die Rottenmitglieder waren längst in alle Himmelsrichtungen zerstoben. Hätten Gerichtsdirektor Kohlhagen und Gerichtsrat Waltenmair aber gewußt, was sich bereits zu dieser Zeit anbahnt: sie hätten keinen so großen Eifer an den Tag legen brauchen. Der Umschwung näherte sich nämlich mit Riesenschritten. Bald schon sollten sie die Untersuchungen einstellen und die Akten für immer schließen dürfen: am 11.
September 1834. Die Einstellung der Kriminaluntersuchung zum Falle Hauser erfolgte als aussichts- und resultatlos. In Wahrheit aber sind die politischen Entscheidungswürfel gefallen. Der Wink kam von ganz oben. Wieder einmal. Die Ursache des Meinungsumschwunges von Ludwig I. lag schon Monate zurück. Es war sechs Tage vor dem Heiligen Abend des Jahres 1833, einen Tag nach Kaspar Hausers Tod, als im Karlsruher Schloß die Großherzogin Sophie ihren Gatten zu einem vertraulichen Gespräch bat. Nach Hauser-Autor Flake soll sie dabei dem ahnungslosen Großherzog Leopold gestanden haben, den Auftrag zur Beseitigung Hausers gegeben zu haben. Das eiskalte Frauenzimmer aus dem Norden hat ihren Mann vor vollendete Tatsachen gestellt. Warum? Sicher aus Angst, die bayerischen Behörden könnten doch zuviel in Erfahrung bringen. Wer weiß, ob sie dieses Geständnis gemacht haben würde, hätte sie eine Ahnung gehabt von den Ansbacher Behördenverhältnissen. Ihre Offenbarungen müssen für ihren Mann ein grauenhafter Schlag gewesen sein. Niemals wäre er in der Lage gewesen, so etwas zu dulden oder sich gleich gar bei der Vorbereitung eines Mordes zu beteiligen. Wir haben von diesem Geständnis der Sophie schon gehört. Auch davon, daß Leopold noch am gleichen Tag seiner Frau befahl, sich zu entfernen. Sie mußte gehorchen und verbrachte Weihnachten bereits alleine und fern der Familie in Eppingen. Als Verbannte. Leopold war von da an mit ihr fertig - für immer, wie wir schon wissen. Erst am 29. Januar durfte sie wieder für ganz zurückkehren, da eine Abordnung empfangen werden mußte. Der Schein mußte gewahrt werden. Reitzenstein hat dies anempfohlen. Nur kein Aufsehen, nur keinen Skandal! Leopold war fassungslos. Er ahnte mehr als er in der Aufregung rational verarbeiten konnte, was für ein unabsehbarer Skandal sich anbahnt, wenn es den bayerischen Justiz- und Polizeibehörden gelingt, nur ein einziges Fadenende der Mordclique aufzugreifen. Unweigerlich würden sie beim Aufspulen des Garns bis hinter die Fassaden des Karlsruher Schlosses kommen. Was dann? Es würde ihm gar nichts anderes übrig bleiben, als augenblicklich den Thron zu räumen. Dazu
noch die Schande, die unermeßliche Schande, daß die Gemahlin eines Landesfürsten die Anstifterin eines gemeinen Mordes war. Leopold wußte keinen Ausweg. Er verfluchte den Tag, an dem er mit Sophie den Ring gewechselt hat. In seiner Not und Ausweglosigkeit offenbarte er sich der fähigsten Persönlichkeit des badischen Staates, dem Minister Reitzenstein. Ohne jeden Zweifel hat dieser schlagartig erkannt, daß es hier nicht nur um einen Skandal von unvorstellbarem Ausmaße geht, sondern schlechthin um den Bestand des badischen Staates. All die politischen und diplomatischen Erfolge der letzten zwanzig Jahre wären vergebens gewesen. Bayern würde seine Trümpfe ausspielen. Soviel war ihm auf Anhieb klar. Baden aber würde auf eine kleine, unbedeutende Markgrafschaft zurückschrumpfen. Eines war Reitzenstein jedenfalls sofort deutlich: Wenn hier noch etwas gemacht werden konnte, dann nur auf höchster Ebene. Am besten gleich bei Metternich selbst und dem Bayernkönig. Es muß diesen Männern verdeutlicht werden, daß es hier um den Bestand der monarchischen Staatsform schlechthin geht. Das Malheur Badens könnten die Demokraten als Initialzünder für den Sturz aller deutschen Monarchien verwenden. Staatsminister Freiherr von Reitzenstein entschloß sich daher, augenblicklich zu handeln. Vorher aber wollte er an Ort und Stelle, in Ansbach also, die Lage erkunden. Er mußte wissen, was die Ansbacher Behörden bereits recherchiert haben. Erst dann konnte er weitere Schritte unternehmen, zunächst bei Kaiser und Metternich in Wien. Geheimrat Freiherr von Dusch, Diplomat in badischen Diensten, sowie Kabinettssecretario Mittel bekamen von Reitzenstein die Order, sich umgehend nach Ansbach zu begeben. Er selbst, Badens ranghöchster Beamter, werde einige Tage darauf nachkommen. Als Treffpunkt bestimmte der Minister das Hotel "Goldener Stern" an der Promenade - jenes Haus, in dem zwei Jahre vorher auch Lord Stanhope wochenlang gewohnt hatte. Des Ministers Auftrag für Geheimrat von Dusch: Er müsse gleich nach seiner Ankunft die ersten Kontakte zu jenen Leuten knüpfen, die mit Hauser dienstlich oder privat engen Umgang hatten. Wichtig sei alles, auch die geringste Kleinig-
keit, die in Erfahrung gebracht werden könne. Bereits am 22. Dezember, zwei Tage nach Hausers Beerdigung, einem Sonntag also, rollte ihre Kutsche in der Markgrafenstadt ein. Durchfroren und steinmüde von der langen und beschwerlichen Reise stiegen sie im "Stern" ab und trugen sich in die Hotelliste ein. Am nächsten Tag schon sprach Sekretär Mittel bei Lehrer Meyer vor und bat diesen zum Tee bei von Dusch im "Stern". Höchst wahrscheinlich, daß Meyer dann die weiteren Kontakte zu Untersuchungsrichter Waltenmair und Gerichtsdirektor Kohlhagen sowie sicher auch noch zu Gendarmerieoberleutnant Hickel einfädelt. Am Freitag, 26. Dezember 1833, fast zur Stunde eine Woche nach Kaspars Beerdigung, traf der Minister nebst Adjutant und Dienerschaft in Ansbach ein. Badens Lenker und Leiter hat die Szenerie betreten! Und dies am zweiten Weihnachtsfeiertag, unmittelbar nach Kaspar Hausers Ende. Das mußte auffallen und das ist aufgefallen. Es sah aus wie eine Demonstrationsfahrt. Und es besteht kein Zweifel, daß diese "Ministerialvisite", wie sich die badische Equipe offiziell nannte, einige Leute in Ansbach zum Nachdenken angeregt hat. Sicher hat auch Bayerns Innenminister Fürst Öttingen-Wallerstein auf schnellstem Wege erfahren, daß sein Ministerkollege Reitzenstein unmittelbar nach Hausers Tod in Ansbach weilte. Offiziell gab die Reisegesellschaft an, sich auf der Durchreise nach Wien zu befinden. Mit Metternich sollte irgendeine Konferenz stattfinden. Der direkte Weg von Karlsruhe nach Wien geht aber über Stuttgart - München und nicht über Ansbach -Nürnberg - Regensburg. Die Herren machten also einen Umweg von beträchtlichem Ausmaße. Und dies mitten im Winter. Natürlich ist dies auch ÖttingenWallerstein aufgefallen. Aus allem wird er sich seinen Reim gemacht haben. Schließlich war er Politiker und Staatsbeamter genug, diesen demonstrativen Wink zu verstehen. Ganze zwei Tage blieb von Reitzenstein in Ansbach. Er mag innerlich gejubelt haben, als er in Erfahrung gebracht hatte, daß die untersuchende Justiz auf einer ganz anderen Fährte war, daß sie der idioti-
schen Theorie anhing, der Kaspar Hauser habe sich selbst umbringen oder wenigstens verletzen wollen. Zufrieden konnte er deshalb am 28. Dezember weiterreisen. Nach Wien. Dort wollte er bei Metternich auf jeden Fall den Rest seiner Mission erledigen. Dies konnte aber nur bedeuten, daß der Wink von oben ergehen möge, die Akten zu schließen, den Fall nicht weiter zu verfolgen, notfalls aber die ganze Sache in eine Richtung zu lenken, die weder Baden noch einer anderen Monarchie zum Schaden gereichen könnte. Wie wir heute längst wissen, ist dies auch gelungen. Dafür hat das Duo Meyer-Stanhope gesorgt. Nahezu 100 Jahre hat es gedauert, bis die zum großen Teil bewußt geschaffenen Verwirrungen Zug um Zug und Stück für Stück beseitigt und widerlegt werden konnten. Erst von da ab begann die eigentliche Hauser-Forschung, das Enträtseln der angeblichen Rätsel, die man nur mangels Nichtwissens von Tatsachen so genannt hat. Jeder Hauser-Autor hat das Seine dazu beigetragen, diese sogenannten Rätsel zu enträtseln, sie abzubauen. Heute ist davon kaum mehr etwas übriggeblieben. Bekanntgeworden ist der Besuch Reitzensteins erst in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts. Es war dies die große Zeit einer ergiebigen Hauser-Forschung, geprägt von Leuten wie Klee, Bartning und Pies. Und dabei konnte noch etwas ans Tageslicht gehoben werden. Zu verdanken ist dies den Nachkommen der Nürnberger Kaufmannsfamilie Biberbach. Sie vermachten dem Ansbacher HauserArchiv des Museums einen Brief, den einst Jette Meyer, des Lehrers Eheweib, der Clara Biberbach geschrieben hat. Datiert ist dieser Brief vom 24. Dezember 1833. Frau Meyer schreibt da etwas verklausuliert: ... Ich möchte über diesen Vorfall so gerne mich mündlich unterhalten ... Dem Brief kann und will ich nicht anvertrauen, worüber ich gerade mit Ihnen reden möchte ... Hans Scholz kommentiert diese Briefstelle so: Das Heimchen [gemeint ist Jette Meyer - der Autor] brachte zum Zwecke der Herzensausschüttung ein Zusammentreffen der beiden
Damen irgendwo zwischen Ansbach und Nürnberg in Vorschlag. Vielleicht in Heilsbronn. Ob es stattgefunden, weiß man nicht. Aber daß es etwas ganz Besonderes in Zusammenhang mit Hauser gewesen sein muß - von dem im übrigen der ganze Brief Meldung erstattet - steht wohl außer Frage. Dieser Verabredungsvorschlag und der Reitzenstein'sche Besuch zu Ansbach gehören zusammen. Darüber, darf bekräftigt werden, besteht kein Zweifel mehr. Als Jette Meyer den Brief verfaßte, weilte Geheimrat von Dusch schon zwei Tage in Ansbach. Dabei hat sie etwas erfahren, das sie für überaus bedeutungsvoll halten mußte. Im Gegensatz zu ihrem Mann konnte sie das Geheimnis nicht für sich behalten. Sie wollte sich einem Menschen anvertrauen, eben der Clara Biberbach, die ein so schreckliches Ende genommen hat. Des Lehrers Gattin war aber so klug, in ihrem Brief nur Andeutungen zu machen. Nähere Einzelheiten sollten mündlich besprochen werden und wurden es wahrscheinlich auch. Solange nun keines Menschen Seele von Reitzensteins Besuch in Ansbach gewußt hat, waren ihre Worte nicht verständlich, konnte sich kein Außenstehender einen Reim darauf machen. Zusammenhänge wurden erst sichtbar, nachdem die Reitzenstein'sche Visite publik geworden ist. Spätestens seit diesem Besuch mußte Lehrer Meyer gewußt haben, was es mit Kaspar Hauser auf sich hat, wohin seine Spur geht. Daß Badens Spitzenmann neun Tage nach Hausers Tod Ansbacher Terrain betreten und sich eingehend über alles unterrichten ließ, was mit diesem jungen Menschen zu tun hatte - dies ist mit Sicherheit auch einem Meyer aufgefallen. Er wird sich seinen Vers darauf geschmiedet und dies seinem Jettchen auch dozierend beigebracht haben. Seit wann bemüht sich der erste Minister eines Landes um einen dahergelaufenen Strolch, der sich selbst verenden ließ! - um in Meyer'scher Manier zu reden. So etwas hat es noch nie gegeben und wird es auch nie geben. Nein, Meyer muß zumindest geahnt haben, was die Stunde geschlagen hat. Umso abscheulicher ist sein Verhalten. Die Hauserei wurde bei ihm zum Tick, den er bis zu seinem Tode nicht abgelegt hat. Mit leeren Händen stand er einst vor Hofrat Hofmann, mit viel
Geschwätz und keinen Argumenten. In einem halben Jahr, sprudelte er los, wolle er "vor der Welt gerechtfertigt" dastehen. Mittlerweile sind 145 Jahre vergangen, seit er auf der Schwelle zu Hofrat Hofmanns Wohnung stand und seine Rechtfertigung angekündigt hat. Er steht noch jetzt dort. Mit leeren Händen. Auch Lord Stanhope, der "edle Brite", hat sich im Falle Kaspar Hauser kein Ruhmesblatt in der Geschichte erworben. Dr. M. Pulver aus Zürich, der in unserem Jahrhundert eine graphologische Untersuchung der Handschrift dieses Dunkelgrafen angefertigt hat, spricht in seinem Gutachten von einem "kalten Rechner und Intriganten". Immerfort zeige Stanhope Interesse, um von seinen wirklichen Interessen abzulenken, immerfort gebe er Aufklärung, um unbemerkt vertuschen zu können. Dr. Pulver weiter: Der Schreiber, also Stanhope, verstehe meisterhaft zu lavieren und es stünden ihm die feinsten Mittel der Unwahrhaftigkeit, der diplomatischen Falschheit und Verstecktheit zu Gebote. Deutlicher kann dieser Lord bei Gott nicht charakterisiert werden. Dr. Pulver, der natürlich keine Ahnung hatte, wessen Handschrift ihm vorlag, hat genau jenen Lord Stanhope geschildert, den wir im Falle Hauser kennen. In dieses Bild passen auch seine beiden letzten Briefe an Kaspar Hauser, seinen Pflegesohn, den er so sehr betrogen und verraten hat. Den vorletzten sandte er von Klagenfurt aus, und zwar mit dem Datum 9. Oktober 1833. Der Schluß lautet wörtlich: Ich brauche nicht hinzuzusetzen, daß ich Dir, mein teuerster Kaspar, alles Glück und Segen sehnlich wünsche, und daß ich bin und bleibe Dein Dich treulich liebender Pflegevater Graf Stanhope. Diese Zeilen schrieb der Brite zu einer Zeit, als er längst seine angeblichen Zweifel an Kaspar hatte, wie erinnerlich sein dürfte. Andererseits muß gerade dieser Schrieb etwaige Zweifel hinweggewischt haben, Stanhope wolle seine Hand von Hauser abziehen. Lehrer Meyer wußte natürlich vom Inhalt dieses Briefes. Umso unlauter ist sein Geschmarre zu werten, der Kaspar habe sich deshalb verletzt, um damit den Lord moralisch unter Zwang zu setzen.
Eine besondere Bewandtnis aber hat es mit dem letzten Brief des Lords an Hauser. Stanhope verfaßte ihn an zwei Tagen: am Tage vor Kaspars Heimgang und am Todestag selbst, also am 16. und 17. Dezember, und zwar in Wien. Mit Poststempel abgesandt aber hat ihn Stanhope in München am 25. Dezember. Zu diesem Zeitpunkt wußte man jedoch auch in München, daß Kaspar dem Attentat erlegen ist: alle Münchner Zeitungen waren voll Notizen über Hausers Tod. Es mußte also ein besonderer Grund vorgelegen haben, weshalb Stanhope diese Schmierenkomödie, einen Brief an den toten Kaspar abzusenden, in Szene gesetzt hat. Des Lords Schreiben aus Wien endet so: Ein Brief den ich von meiner Frau bekommen, nötigt mich, nach München unverzüglich abzureisen. Hierdurch werden wir, wie ich erwarte. die Freude haben, uns viel früher zu sehen, als dies sonst der Fall sein würde, und hoffentlich vor dem Ende des künftigen Monats. Ich denke diesen Brief erst dann abzufertigen, wenn ich in Bayern angekommen bin; damit Du die Zufriedenheit haben magst, zu erfahren, daß Du in demselben Lande bist mit Deinem Dich herzlich lieben den Pflegevater Graf Stanhope. Diese Leuchte dunkler Umtriebe genierte sich nicht, so ein zynisches Gewäsch von sich zu geben. Der "herzlich liebende Pflegevater" - und auch das ist nachweisbar - begann bereits einen Tag, nachdem er diesen Brief an einen Toten zur Post geben ließ, mit seinem Verleumdungsfeldzug gegen sein "Jünglingskind". Kein Mensch von einigermaßen Niveau und Herzensbildung wird dies verstehen können. Aber es ist so. Am 26. Dezember bereits eilte er zum bayerischen Innenminister Fürst Öttingen-Wallerstein, um diesen durch seine "Vermutungen" gegen Hauser zu stimmen! Der Dunkellord redete sich dabei den Mund fransig, um Kaspar als Betrüger hinzustellen. Sein Lamentieren stieß aber auf taube Ohren. Fürst Öttingen-Wallerstein ließ den englischen Lord abblitzen. Er hatte eine komplett andere Meinung über den Hauser-Fall als dieser ewige Wanderer auf schmalsten politischen Graten. Als Stanhope den Innenminister besuchte, rollte fast zur gleichen Stunde die Kutsche des badischen Staatsministers von Reitzenstein in Ansbach ein
- wieder einer jener Zufälle. Öttingen-Wallerstein wollte zu dieser Zeit auf des Königs Order, aber auch aus eigener Überzeugung heraus den Hauser-Fall noch klären und den Mörder jagen lassen. Der Wink von oben war noch nicht ergangen. Lord Stanhope bekam also eine Abfuhr. Aber er war in der Verfolgung seiner Ziele zähe und ließ sich nicht so leicht abwimmeln. Also probierte er es anderswo, den Hebel anzusetzen. Zuerst ließ er sich deshalb mehrere Male vor dem Münchner Gericht vernehmen, um den toten Kaspar zu belasten. Dann suchte er verschiedene Münchner Persönlichkeiten auf, um "Material" gegen seinen gewesenen Pflegesohn zu sammeln. Im März aber ist er bereits in Nürnberg, wo er den Versuch startet, die Erstzeugen nach Kaspars Auftauchen in seinem Sinne zu beeinflussen, sie "umzudrehen". Als er dort erfuhr, daß Rittmeister von Wessenig nach Augsburg versetzt worden war, reiste er auch in die Fuggerstadt. Zur gleichen Zeit etwa ließ er seine dubiose "Materialsammlung" dem Berliner Polizeirat Merker zukommen, der nun einen neuen Pressefeldzug gegen Kaspar Hauser startete. Ferner schreibt Stanhope aus Heidelberg, Mannheim und Karlsruhe (!) seine "Briefe" an Hickel, Merker und last not least an Lehrer Meyer. Das ganze Geschreibsel sollte nur einem Ziele dienen: Kaspar Hauser als Betrüger abzuqualifizieren. Aber der "herzlich liebende Pflegevater" des Kaspar Hauser begnügte sich nicht nur, diese "Briefe" genannten Männern zu senden, sondern er schickte sie auch allen maßgebenden Stellen und Behörden zu. Später dann hat er sie als "Materialien zur Geschichte Kaspar Hausers" in Buchform von einem Heidelberger Verlag herausgeben lassen. Zum ersten und gewichtigsten Verteidiger Hausers fühlte sich daraufhin Kaspars früherer Lehrer und Erzieher, Professor Daumer, berufen. Er konterte schwer gegen den Briten. Hermann Pies schreibt dazu in seinen "Fälschungen, Falschmeldungen und Tendenzberichten": Was hätte Daumer erst gesagt, wenn er gewußt hätte, daß fast alle von Stanhope gegen Hauser vorgebrachten angeblichen "Belastun-
gen" sich bei genauerem Zusehen und Vergleich mit den amtlichen Untersuchungsakten in Nichts auflösen? Was nun dieser Lord Stanhope mit seinem Brief an einen Toten eigentlich bezwecken wollte, ist noch heute schleierhaft. Vielleicht findet sich irgendwann eine Forschernatur, die dem Lebensweg dieser dunklen Persönlichkeit chronologisch exakt nachgeht. Mag sein, daß so ein kritischer Forscher dabei fündig wird. Vorerst bleibt uns nur zu vermuten, daß der Lord mit diesem mysteriösen Trick eventuell aufkommende Verdachtsmomente von sich weisen und Verwirrung stiften wollte. Auf diesem Gebiet war er ja ein Meister. Eine geschichtliche Tatsache ist jedenfalls, daß der Lord es für Jahrzehnte fertiggebracht hat, von den wahren Hintergründen des Falles Kaspar Hauser abzulenken. Die von ihm gelegten Fährten wiesen nicht nach Karlsruhe, sondern auf den von Lord Stanhope errichteten Betrügerpfad, auf dem seinen Verleumdungen zufolge jener Mensch gegangen ist, dem einst eingegeben wurde, sich Kaspar Hauser zu nennen. In Wahrheit war dieser unschuldige Junge das Opfer politischer Machenschaften. Sein Schicksal war es, zwischen die Mahlsteine der sogenannten großen Politik zu kommen. Diese haben ihn zermalmt. Die Geschichte aber hat ihren Lauf genommen. Und wenn auf seinem Grabstein im Ansbacher Johannisfriedhof die Inschrift steht
HIC JACET CASPARUS HAUSER AENIGMA SUI TEMPORIS IGNOTA NATIVITAS OCCULTA MORS - zu deutsch: Hier ruht Kaspar Hauser, ein Rätsel seiner Zeit, unbekannt die Geburt, geheimnisvoll die Umstände seines Todes - so hat dies einstmals seine Berechtigung gehabt. Für die breite Öffentlichkeit seiner Zeit war er ein Rätsel. Aber er ist kein Rätsel mehr unserer Zeit.