Harlan
Coben
Kein böser Traum Roman
»Coben ist der unangefochtene Meister darin, seine Leser von der ersten Seite an...
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Harlan
Coben
Kein böser Traum Roman
»Coben ist der unangefochtene Meister darin, seine Leser von der ersten Seite an zu fesseln.« Dan Brown »Adrenalin pur!« The Evening Standard Grace Lawson will nur die Schnappschüsse vom letzten Familienausflug durchsehen, als plötzlich ihr ganzes Leben aus den Fugen gerät. Denn ein Foto passt nicht zu den übrigen: Es scheint vor ungefähr zwanzig Jahren aufgenommen worden zu sein und zeigt lauter Unbekannte - bis auf eine Person: ihren Ehemann Jack. Dann verschwindet Jack, und bei ihrer verzweifelten Suche nach ihrem Mann scheinen Grace alle Spuren an einen Ort zu führen, den sie nur aus ihren bösen Träumen kennt...
HARLAN COBEN K e i n böser Traum
Buch »Kleine Ursache, große Wirkung«: Wie grausam wahr diese lapidare Redensart sein kann, erfährt Grace Lawson, glücklich verheiratete Mutter zweier Kinder, am eigenen Leib, als ihr ein mysteriöses Foto in die Hände fällt. Sie könnte schwören, dass auf dieser vielleicht zwanzig Jahre alten Aufnahme auch ihr Mann Jack zu sehen ist. Aber warum leugnet Jack dies, nur um kurz darauf spurlos zu verschwinden? Und warum ist das Gesicht einer jungen Frau auf dem Bild durchgestrichen? Die Minuten und Stunden verrinnen, und es wird immer deutlicher, dass die Lösung dieser Rätsel - und die Rettung ihres Mannes - ein dramatischer Wettlauf mit der Zeit ist. Graces Verzweiflung steigt, als sich herauskristallisiert, dass der Schlüssel für die Gegenwart in der Vergangenheit liegt, in einem traumatischen Erlebnis, das sich Grace aber nur in ihren Albträumen erschließt ...
Autor Harlan Coben wurde 1962 in New Jersey geboren. Nach seinem Studium der Politikwissenschaft arbeitete er in der Tourismusbranche, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine Werke wurden bislang in über zwanzig Sprachen übersetzt. Harlan Coben wurde als erster A u tor mit allen drei wichtigen amerikanischen Krimipreisen ausgezeichnet, dem »Edgar Award«, dem »Shamus Award« und dem »Anthony Award«. Er lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in New Jersey. Weitere Titel des Autors sind bei Goldmann in Vorbereitung. Von Harlan Coben außerdem bei Goldmann lieferbar: Kein Lebenszeichen. Roman (45688) Kein Sterbenswort. Roman (45251) Keine zweite Chance. Roman (45689)
Harlan Coben
Kein böser Traum Roman
Aus dem Amerikanischen von Christine Frauendorf-Mössel
GOLDMANN
Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Just One Look« bei Dutton, a member of the Penguin Group (USA) Inc., New York
Dieses Buch ist ein Werk der Fiktion. Die Personen, Orte, Ereignisse und Dialoge entstammen der Fantasie des Autors. Jegliche Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen, lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.
ISBN-13: 978-3-442-46084-7 www.goldmann-verlag.de
Dieses Buch ist Jack Armstrong gewidmet, denn er gehört zu den Guten.
»Babe, g i v e m e y o u r best m e m o r y , But i t d o n ' t e q u a l pale ink.« Adaption eines chinesischen Sprichworts (Auch das beste Gedächtnis kann blasseste Tinte nicht ersetzen) für den Song »Pale Ink« von der Jimmy-X-Band. (Text und Copyright by James Xavier Farmington.)
Scott Duncan saß dem Killer Auge in Auge gegenüber. In dem fensterlosen, gewitterwolkengrauen Raum lastete verlegene Stille, jenes gespannte Verharren unter Fremden, wenn keiner weiß, wie die Musik spielen wird und welcher Tanz beginnt. Scott eröffnete versuchsweise m i t einem neutralen N i cken. Der Killer, ziemlich auffällig in orangeroter Anstaltskleidung, fixierte i h n ausdruckslos. Scott verschränkte die Hände und legte sie auf den Metalltisch. Der K i l l e r - die Polizeiakte wies i h n als M o n t e Scanion aus, wobei man sicher ausschließen konnte, dass dies sein richtiger Name war - hätte es i h m ohne Fußketten und Handschellen möglicherweise gleichgetan. Warum, fragte sich Scott zum wiederholten M a l , b i n ich eigentlich hier? Als Staatsanwalt war er ausschließlich für Korruption in der Politik zuständig gewesen - eine florierende Schattenwirtschaft in seinem Heimatstaat New Jersey -, bis dann vor drei Stunden dieser M o n t e Scanion, ein Henkersknecht wie kaum ein zweiter, unverhofft sein langes Schweigen gebrochen und als Erstes eine Bedingung gestellt hatte. In der Tat: eine Bedingung. Ein Vier-Augen-Gespräch m i t dem stellvertretenden Staatsanwalt Scott Duncan. Aus einer ganzen Reihe v o n Gründen ein ungewöhnlicher Vorgang. Erstens war ein Killer kaum in der Position, Bedingungen zu stellen. Zweitens war Scott i h m nie zuvor begegnet, noch hatte er v o n M o n t e Scanion auch nur gehört.
Scott beendete das Schweigen. »Sie wollten m i t mir reden?« »Richtig.« Scott nickte und wartete auf mehr. Es kam nichts. »Und? Was kann ich für Sie tun?« M o n t e Scanion starrte i h n weiter unverwandt an. »Wissen Sie, weshalb ich hier bin?« Scott sah sich im Raum um. Abgesehen v o n Scanion und seiner Person waren vier Leute anwesend. Linda Morgan, die Bundesstaatsanwältin, lehnte betont lässig an der Wand. H i n t e r dem Häftling standen zwei Muskelprotze, geklonte Schränke in Wärteruniform. Scott kannte die aufgeblasenen Typen, hatte die heitere Abgeklärtheit erlebt, m i t der sie ihren Job erledigten. Heute allerdings, angesichts dieses m i t Fußeisen und Handfesseln ruhig gestellten Häftlings, waren sogar sie nervös. Scanions A n w a l t , v o m Typ »Wiesel«, der den Geruch billigen Eau de Colognes verströmte, vervollständigte den flotten Vierer. A l l e Blicke ruhten auf Scott. »Sie haben Leute umgebracht«, antwortete Scott. » U n d zwar 'ne ganze Menge.« »Ich war, was man landläufig einen Auftragskiller nennt. Ich war« - Scanion legte eine Kunstpause ein - »ein Mörder, den man mieten konnte.« »In Fällen, m i t denen ich nichts zu t u n hatte.« »Richtig.« Scotts Vormittag hatte noch leidlich normal begonnen. Er hatte eine Zeugenvorladung für einen Müllabfuhr-Unternehmer aufgesetzt, der den Bürgermeister einer Kleinstadt schmierte. Reine Routinesache. Ein alltäglicher Vorgang im Gartenstaat New Jersey. Das war - wie lange her? Eine? Eineinhalb Stunden? Jetzt saß er an einem im Fußboden fest verankerten Tisch einem M a n n gegenüber, der - nach Linda Morgans grober Schätzung etwa einhundert Mitbürger kaltblütig ins Jenseits befördert hatte.
»Warum also ich?« Scanion wirkte wie ein alternder Playboy, jener Männertyp, der in den Fünfzigern problemlos als Galan v o n einer der GaborSchwestern durchgegangen wäre. Er war hager, fast schon ausgezehrt. Das ergraute Haar trug er glatt zurückgekämmt, die Zähne waren nikotingelb, die Haut ledern v o n zu viel Sonne und allzu langen Nächten in allzu vielen zwielichtigen Etablissements. N i e m a n d im Raum kannte seine wahre Identität. Bei seiner Verhaftung trug er einen argentinischen Pass bei sich, der auf den Namen M o n t e Scanion - A l t e r 5 1 , ausgestellt war. Das Einzige, was daran stimmte, war vermutlich das Alter. Seine Fingerabdrücke waren in der Datenbank des National Crime Information Centers n i c h t erfasst. Bei der biometrischen Gesichtserkennung hatte der Computer eine dicke, fette N u l l ausgespuckt. » W i r sollten uns allein unterhalten.« »Sie gehören gar nicht in meinen Zuständigkeitsbereich«, beharrte Scott. »Das ist Sache der Frau Bundesstaatsanwältin.« »Hier geht es um eine Sache, die sie n i c h t tangiert.« »Aber mich? Inwiefern?« Scanion beugte sich vor. »Was ich Ihnen zu sagen habe, stellt Ihr Leben auf den Kopf.« Scott versuchte, weder Spott noch Skepsis zu zeigen. Die Denkweise v o n Kriminellen hinter G i t t e r n war i h m nur allzu vertraut - ihre trickreichen Manöver, ihr Verlangen nach Nervenkitzel, ihre Suche nach einem Ausweg, ihr aufgeblasenes Selbstbewusstsein. Linda Morgan schien seine Gedanken zu erraten, denn sie warf i h m einen warnenden Blick zu. M o n t e ScanIon, so hatte sie i h m unterbreitet, hatte über einen Zeitraum v o n gut dreißig Jahren für einige Mafia-Familien gearbeitet. Die K o l legen v o m Dezernat für das organisierte Verbrechen waren mehr als scharf auf Scanions Kooperation. Doch seit seiner Verhaftung hatte der M a n n konsequent geschwiegen. Bis heute Morgen. Was wiederum Scott auf den Plan gebracht hatte.
»Ihr Boss«, begann Scanion und deutete m i t dem K i n n auf Linda Morgan, »hofft inständig, dass ich m i c h kooperativ zeige.« »Ihnen blüht die Giftspritze«, entgegnete Morgan, die weiterh i n um Lässigkeit bemüht war. »Nichts, was Sie sagen oder tun, wird daran etwas ändern.« Scanion grinste. »Aber nicht doch. Ihr habt doch viel mehr Muffensausen, dass euch meine Informationen durch die Lappen gehen, als ich vor dem Tod.« »Na wunderbar. Wieder mal einer v o n den Kandidaten, die keine Angst vor dem Tod haben.« Sie stieß sich v o n der W a n d ab. »Wissen Sie was, Monte? Die ganz harten Jungs sind immer die ersten, die sich in die Hose machen, sobald wir sie auf die Trage schnallen.« Scott versagte sich jeden Kommentar in Richtung seiner Vorgesetzten. Scanion grinste unbeeindruckt weiter, ohne den Blick v o n Scott zu wenden. Scott gefiel nicht, was er in diesen Augen sah. Abgesehen v o n dem zu erwartenden schwarzen, kalten G l i t zern war da - vielleicht bildete er es sich auch nur ein - etwas jenseits der routinierten Ausdruckslosigkeit. Eine Bitte? Scott konnte sich diesem Blick n i c h t entziehen. Vielleicht Bedauern? Möglicherweise gar Reue? Scott sah zu Linda auf und nickte. Sie runzelte die Stirn. ScanIon hatte die erste Runde gewonnen. Linda berührte einen der Muskelmänner leicht an der Schulter und bedeutete den beiden, den Raum zu verlassen. Scanions A n w a l t erhob sich und brach zum ersten M a l sein Schweigen. »Alles, was er jetzt sagt, kann nicht gegen i h n verwendet werden.« »Weichen Sie den Herrschaften n i c h t v o n der Seite«, befahl Scanion i h m . »Möchte sicher sein, dass sie nicht mithören.« Der Rechtsverdreher griff nach seinem Aktenkoffer und folgte Linda Morgan zur Tür. Kurz darauf waren Scott und Scanion allein. Im Film gehört alle Macht den Killern. Im wirklichen Leben gestaltet sich das etwas differenzierter. Da sind sie keine Entfesse-
lungskünstler, die sich m i t t e n in einem Hochsicherheitstrakt i h rer Ketten entledigen. Außerdem wusste Scott, dass die beiden Fleischberge von Wärtern hinter der verspiegelten Glasscheibe standen und jede Bewegung verfolgten. Die Sprechanlage allerdings blieb auf Scanions ausdrücklichen Wunsch abgeschaltet. Scott deutete seinem Gegenüber m i t einem Schulterzucken ein fragendes Also? an. »Ich b i n kein gewöhnlicher Auftragskiller.« »Was Sie nicht sagen.« »Ich habe meine Prinzipien.« Scott schwieg abwartend. »Ich töte nur Männer.« »Donnerwetter!«, bemerkte Scott. »Bin tief beeindruckt.« Scanion ignorierte den Sarkasmus. »Das ist Regel Nummer eins. I c h bringe nur Männer um. Keine Frauen.« » H m , ich hab's schon beim ersten M a l begriffen. Verraten Sie mir eines - Ihre Regel Nummer zwei, lautet die vielleicht, dass Sie Frauen erst nach dem dritten Rendezvous abservieren?« »Halten Sie m i c h für ein Monster?« Scott zuckte die Schultern, als läge die A n t w o r t auf der Hand. »Sie halten nichts v o n meinen Regeln?« »Was für Regeln? Sie bringen Leute um. Sie erfinden diese so genannten Regeln doch nur, um sich einen Anschein v o n Menschlichkeit zu geben.« Scanion schien zu überlegen. »Möglich«, räumte er ein. »Meine männlichen Opfer waren Abschaum. Abschaum hat m i c h angeheuert, Abschaum zu vernichten. I c h b i n nichts weiter als ein todbringendes Werkzeug, eine Waffe.« »Eine Waffe?«, wiederholte Scott. »Richtig.« »Einer Waffe ist es piepegal, wer durch sie stirbt, M o n t e . M ä n ner, Frauen, Omas, kleine Kinder. Eine Waffe macht da keine Unterschiede.«
Scanion lächelte. »Touche.« Scott strich m i t den Handflächen über seine Hosenbeine. »Sie haben m i c h doch n i c h t herbestellt, um mir einen Vortrag über Ethik zu halten, oder? Also, was wollen Sie?« »Sie sind ein geschiedener M a n n , Scott.« Er sagte nichts. »Keine Kinder, Trennung in beiderseitigem Einvernehmen, der Ex noch immer freundschaftlich verbunden.« »Was soll das?« »Ich versuche, Ihnen etwas begreiflich zu machen.« »Was denn bitte?« M o n t e senkte den Blick. Aber nur für einen Moment. »Was ich Ihnen angetan habe.« »Ich kenne Sie nicht mal.« »Aber ich Sie. Schon ziemlich lange.« Scott nahm es schweigend h i n . Er starrte auf die verspiegelte Glasscheibe. Linda Morgan stand m i t Sicherheit dahinter und versuchte zu erraten, worüber sie sich unterhielten. Sie brauchte Informationen. Er überlegte, ob sie möglicherweise den Raum verwanzt hatten. Vermutlich. In jedem Fall lohnte es sich, ScanIon bei der Stange zu halten. »Sie sind Scott Duncan. A l t e r 39. Juraexamen an der Columbia University. Sie könnten als A n w a l t in der freien W i r t schaft wesentlich mehr Geld verdienen, aber das langweilt Sie. Sie arbeiten seit 6 Monaten bei der Staatsanwaltschaft des Staates N e w Jersey. Ihre Eltern sind vergangenes Jahr nach M i a m i gezogen. Sie hatten eine Schwester. Aber die ist gestorben. A l s sie noch auf dem College war.« Scott verlagerte unruhig sein Gewicht. Scanion musterte i h n aufmerksam. »Ist das alles?« »Wissen Sie, wie mein Geschäft funktioniert?« Themenwechsel. Scott wartete einen Herzschlag lang. Scan-
Ion spielte m i t i h m , versuchte i h n zu verunsichern oder irgendeinen ähnlichen Blödsinn. Scott hatte n i c h t die Absicht, darauf hereinzufallen. Was er über Scotts Familienverhältnisse »enthüllt« hatte, war kaum beeindruckend. M i t einigen geschickten Anrufen hätte das jeder herausfinden können. »Nein. A b e r Sie werden's mir sicher gleich sagen!«, antwortete Scott. »Nehmen wir mal an, Sie möchten jemanden aus dem Weg haben«, begann Scanion. »In Ordnung.« »Sie rufen einen Freund an, der einen Freund kennt, der wiederum einen Freund hat, der m i t mir Kontakt aufnehmen kann.« » U n d nur dieser letzte Freund weiß, wer Sie sind?« »So ungefähr. I c h hatte immer nur einen Verbindungsmann. Aber auch was i h n betraf, war ich vorsichtig. Ich habe i h n nie persönlich getroffen. W i r haben Codenamen benutzt. Die Bezahlung erfolgte stets auf Konten in Übersee. Für jede, sagen wir, Transaktion habe ich ein neues Konto eröffnet und es wieder geschlossen, sobald die Transaktion erfolgt war. Können Sie mir folgen?« »So schwierig ist das nicht«, antwortete Scott. »Stimmt. Heutzutage läuft alles per E-Mail. I c h melde vorübergehend eine E-Mail-Adresse bei H o t m a i l oder Yahoo oder wem auch immer an. Nichts, was man zurückverfolgen könnte. Aber selbst wenn - selbst wenn jemand herausfinden sollte, wer die E-Mail geschickt hat, würde das nichts nützen. Sämtliche E-Mails wurden v o n Computern in öffentlichen Bibliotheken oder Internetcafes abgeschickt und auch geöffnet. Die Tarnung war perfekt.« Scott verkniff sich die Bemerkung, dass er trotz perfekter Tarnung letztlich im Knast gelandet war. » U n d was hat das alles m i t mir zu tun?« »Darauf komme i c h noch.« Scanion kam allmählich richtig in Fahrt. Offenbar hörte er sich gern reden. »In den guten alten Zei-
ten - und damit meine i c h die Zeit vor acht bis zehn Jahren - lief das ganze Geschäft noch über öffentliche Telefonzellen. Namen habe ich nie schwarz auf weiß gesehen. Sie wurden mir am Telefon genannt. Ich habe sie nur gehört.« Scanion hielt inne, um sich Scotts ungeteilter Aufmerksamkeit zu versichern. Sein T o n wurde eindringlicher, emphatischer. »Das ist der Punkt, Scott. Das einzige Kommunikationsmittel war das Telefon. Namen habe ich immer nur akustisch, nie schriftlich mitgeteilt bekommen.« Er starrte Scott erwartungsvoll an. Scott begriff noch immer nicht. Also fuhr M o n t e fort. »Kapieren Sie nicht, warum ich betone, dass alles übers Telefon lief?« »Nein.« »Weil eine Person wie ich, ein M a n n m i t gewissen Prinzipien, am Telefon einem Irrtum erliegen konnte.« Scott überlegte. »Komme trotzdem n i c h t drauf.« »Ich bringe keine Frauen um. Das war Regel N u m m e r eins.« »Sagten Sie bereits.« »Angenommen, ich sollte einen gewissen Billy S m i t h kaltmachen, nahm ich natürlich an, dass Billy ein M a n n ist. E i n Billy, der m i t y am Ende geschrieben wird und nicht m i t ie wie bei dem gleich klingenden Frauennamen. Fällt jetzt der Groschen?« Scott geriet ins Grübeln. Scanion sah es. Sein Grinsen war wie weggewischt. Seine Stimme wurde leise und sanft. »Ihre Schwester hatte ich eingangs schon erwähnt, n i c h t wahr, Scott?« Scott sagte nichts. »Wie war doch ihr Name? Geri, oder?« Schweigen. »Dämmert's, wo der H u n d begraben liegt? Geri ist einer dieser irreführenden, zweideutigen Namen. Am Telefon nimmst du selbstverständlich an, dass er am Anfang m i t einem J und am
Ende m i t einem y geschrieben wird. Vor 15 Jahren habe i c h so einen A n r u f bekommen. Besagter Mittelsmann ...« Scott schüttelte den Kopf. »... gab mir eine Adresse. Ich erhielt präzise Angaben darüber, wann >Jerry<«, Scanion deutete m i t den Fingern Anführungszeichen an, »zu Hause sein würde.« Die eigene Stimme schien Scott plötzlich fremd zu sein, »Es hieß, es war ein Unfall.« »Ist bei Brandstiftung die Regel. Vorausgesetzt man versteht sein Geschäft.« »Sie können mir viel erzählen.« D o c h dann sah Scott in diese Augen, und seine W e l t geriet aus den Fugen. Bilder stürzten auf i h n ein: Geris ansteckendes Lachen, das kaum zu bändigende Haar, die Zahnklammer, die A r t , wie sie i h m bei Familienfeiern die Zunge rausgestreckt hatte. Ihr erster richtiger Freund (ein Idiot namens Brad), die Katastrophe, als sie zum Abschlussball der Unterstufe keinen Begleiter gefunden hatte, ihre Aufnahme ins College. Scott fühlte, wie seine A u g e n feucht wurden. »Sie war erst einundzwanzig.« Keine Reaktion. » U n d warum?« »Hintergründe interessieren m i c h nicht, Scott. I c h b i n nur ein Auftrags...« »Das meine ich nicht.« Scott sah auf. » M i c h interessiert, warum Sie mir das jetzt erzählen?« Scanion betrachtete sich eingehend im Spiegel. Seine Stimme klang ruhig. »Kann sein, dass Sie Recht hatten.« »Recht? Womit?« » M i t dem, was Sie v o r h i n gesagt haben.« Er wandte sich erneut Scott zu. »Nachdem alles gesagt und alles getan ist, brauche ich vielleicht die Illusion, ein Mensch zu sein.«
Drei Monate später
1 Bruchstellen entstehen aus heiterem Himmel, diese tiefen Zäsuren in deinem Leben, die dir wie ein Messer ins Fleisch schneiden. Im einen Moment ist es noch dein Leben, im nächsten Augenblick findest du es wie durch den Fleischwolf gedreht, bis zur Unkenntlichkeit verändert. In seine Einzelteile zerlegt, ausgeweidet wie ein Stück Wild. Und dann gibt es noch jene Momente, in denen sich dein Leben einfach aufdröselt wie ein Strickpullover. So als habe jemand an einem losen Faden gezogen. Die Veränderung vollzieht sich anfangs nur langsam, beinahe unmerklich. Für Grace Lawson begann alles im Fotogeschäft. Sie hatte schon beinahe die Klinke der Ladentür in der Hand, als sie eine entfernt bekannt klingende Stimme vernahm. »Warum kaufst du dir keine Digitalkamera, Grace?« Grace wandte sich der Frauenstimme zu. »Für diese technischen Neuheiten bin ich zu dämlich.« »Aber ich bitte dich! Digitale Technik ist ein Kinderspiel.« Die Frau hob die Hand und schnippte mit den Fingern. »Digitalkameras sind so was von bequem. Missglückte oder überflüssige Aufnahmen löscht man einfach. Wie Computerdateien. Bei unseren Weihnachtskarten zum Beispiel. Du glaubst es nicht, wie viele Fotos Barry geschossen hat, weil Blake gerade die Augen zugekniffen oder Kyle sich weggedreht hatte. Aber je mehr du machst, sagt Barry, desto sicherer kannst du sein, ein paar brauchbare zu finden. Und wo er Recht hat, hat er Recht, oder?« Grace nickte. Sie versuchte sich erfolglos an den Namen der
Frau zu erinnern. Ihre Tochter - Blake vermutlich - ging wahrscheinlich m i t Graces Sohn Max in die erste Klasse. Oder war es das letzte Jahr im Kindergarten gewesen? Sie hatte Mühe, n i c h t den Faden zu verlieren. Graces Lächeln gefror allmählich zur Maske. Blakes Mutter war n i c h t unsympathisch, ging jedoch in der Masse der anderen unter. U n d Grace fragte sich in diesem M o m e n t nicht zum ersten M a l , ob das mittlerweile n i c h t auch auf sie zutraf, ob sie nicht ebenfalls eingetaucht war in das Meer vorstädtischer Einförmigkeit, ob ihre einst durchaus starke I n d i vidualität auf der Strecke geblieben war. Der Gedanke war alles andere als ein sanftes Ruhekissen. Blakes Mutter erging sich weiterhin in Elogen auf die Wunder des digitalen Zeitalters. Graces im Lächeln erstarrte Gesichtsmuskeln schmerzten. Sie warf einen Blick auf die U h r und hoffte, die High-Tech-Mutter würde den W i n k verstehen. 14 U h r 45. Emma hatte nach dem Unterricht Training m i t dem Schwimmteam, aber den Fahrdienst hatte heute eine andere Mutter. » W i r sollten uns mal treffen«, sagte Blakes M u t t e r jetzt weniger aufgeregt. »Zusammen m i t Jack und Barry. Die beiden würden sich sicher verstehen.« »Absolut.« Grace nutzte die Atempause, um der anderen zuzuwinken, die T ü r des Fotogeschäfts zu öffnen und h i n e i n zu schlüpfen. Die Glastür schnappte m i t einem »Klack« hinter ihr zu und löste einen Klingelton aus. Beißender Chemiegeruch stieg ihr in die Nase. Er erinnerte an Alleskleber. Sie fragte sich flüchtig nach den Langzeitschäden einer A r b e i t in dieser Umgebung und empfand es schon ärgerlich genug, dem auch nur kurzzeitig ausgesetzt zu werden. Der junge M a n n hinter der Ladentheke, der offenbar hier arbeitete - wobei »arbeiten« in diesem Fall eine übertrieben höfliche Umschreibung war - trug einen spärlichen, weißen K i n n bart, Haare v o n einer Farbe, neben der jede Kinderkreide ver-
blasste, und so viele Piercings, dass er ohne weiteres als Windorgel hätte durchgehen können. Über seinen Nacken schlängelte sich ein Kabel zu den Ohrhörern. Die Musik hämmerte so laut, dass sie noch in Graces Brust widerhallte. Seine Tätowierungen waren zahlreich. A u f der einen stand STONE. A u f der anderen KILLJOY. Grace hätte i h m gern eine dritte m i t FAULENZER verpasst. »Darf ich stören?« Er hob n i c h t einmal den Kopf. »Verzeihung!«, sagte sie etwas lauter. Wieder keine Reaktion. »Haben Sie was an den Ohren?« Diesmal hatte sie seine Aufmerksamkeit erregt. Er sah sie an. Seine Augen wurden schmal. Er fühlte sich ganz offenbar gestört. W i d e r w i l l i g zog er die Ohrhörer heraus. »Kontrollabschnitt?« »Wie bitte?« »Kontrollabschnitt.« A c h so. Grace reichte i h m den Abschnitt. Sauerkrautbart fragte nach ihrem Namen. Sauerkrautbart - Grace gefiel der Spitzname immer besser blätterte einen Kasten mit Fototüten durch, bevor er eine davon herauszog. Er riss den passenden Kontrollabschnitt ab und nannte einen exorbitanten Preis. Sie reichte i h m einen Gutscheincoupon, den sie mühsam aus ihrer Geldbörse ausgegraben hatte, und beobachtete, wie sich der Preis auf ein vernünftiges Maß reduzierte. Der junge M a n n reichte ihr die Fototüte. Grace bedankte sich, doch ihr Gegenüber hatte längst die Ohrhörer wieder eingesteckt. Sie winkte i h m zu. »Danke für die zuvorkommende Bedienung«, murmelte sie. »Ich werde Sie weiterempfehlen.« Sauerkrautbart gähnte und vertiefte sich erneut in seine Zeitschrift. Wahrscheinlich die neueste Ausgabe des Magazins für HIGH-TECH-FAULENZER. Grace trat auf den Bürgersteig hinaus. Die Luft war k ü h l . Der
Herbst hatte den Sommer m i t einem einzigen heftigen Sturm weggefegt. Das Laub hatte sich noch kaum verfärbt, und doch lag schon ein gewisses Prickeln in der Luft. In den Schaufensterdekorationen zeigten sich zum Teil bereits Vorboten v o n Halloween. Ihre Tochter Emma, in der dritten Klasse der Grundschule, hatte Jack überredet, einen fast zwei Meter großen aufblasbaren »Homer-Simpson-als-Frankenstein«-Ballon zu kaufen. Er sah, das musste sie zugeben, großartig aus. Ihre Kinder liebten Die Simpsons, was zu der Annahme verleitete, dass sie und Jack trotz bester Absichten bei der Erziehung nicht allzu viel falsch gemacht hatten. Grace hätte den Umschlag m i t den Fotos am liebsten sofort geöffnet. Es war immer aufregend, die Ausbeute eines neuen Films zu begutachten. Es war ein Gefühl wie beim Offnen einer Wundertüte, wie die gespannte Erwartung des Postboten, selbst wenn dann doch nur Rechnungen ins Haus flatterten. Digitale Fotografie konnte das trotz aller Vorzüge nicht bieten. Doch Grace musste sich gedulden. Die Schule war gleich zu Ende. A l s ihr Saab die Heights Road hinaufkletterte, machte sie einen kleinen Umweg, der sie am Aussichtspunkt über die Stadt vorbeiführte. V o n der A n h ö h e aus konnte man die Skyline v o n Manhattan überblicken. Besonders nachts, wenn sie sich wie Diamanten auf schwarzem Samt aufgereiht präsentierte, ein Erlebnis. Nostalgische Sehnsucht regte sich in ihr. Sie liebte New York City. Bis vor vier Jahren war dieses wunderbare Eiland ihr Zuhause gewesen. Sie hatten ein Loft in der Charles Street im Village besessen. Jack hatte in der Forschungsabteilung einer großen pharmazeutischen Firma gearbeitet. Sie hatte in der Wohnung ihr Atelier gehabt, gemalt und verächtlich auf ihre Geschlechtsgenossinnen in den Vorstädten herabgeblickt, auf all die Frauen m i t ihren Suburbans und Kordhosen und ihren auf Kleinkinder beschränkten Gesprächen. Mittlerweile war sie eine v o n ihnen.
Grace parkte wie alle anderen Mütter an der Rückseite der Schule. Sie schaltete den M o t o r aus, griff nach dem Umschlag m i t den Fotos und riss i h n auf. Der F i l m war vergangene Woche auf ihrem jährlichen Ausflug zur Apfelernte nach Chester aufgenommen worden. Jack hatte wie besessen fotografiert. Er sah sich gern in der Rolle des Familienfotografen, hielt es für seine Vaterpflicht, für eine Aufgabe, für die sich ein Vater zum Wohle der Familie opfern musste. Das erste Foto zeigte Emma, ihre acht Jahre alte Tochter, und Max, ihren sechsjährigen Sohn, hoch oben auf dem Heuwagen, die Schultern hochgezogen, die Wangen v o m W i n d gerötet. Grace hielt inne. Starrte auf das Bild. Schauer v o n - ja tatsächl i c h v o n Mutterglück, p r i m i t i v und evolutionär zugleich, liefen ihr in Wellen über den Rücken. So ist das m i t Kindern. Es sind die kleinen Dinge des Lebens, die unter die Haut gehen. Eigentl i c h war es an jenem Tag für einen Ausflug viel zu kalt gewesen. Sie hatte geahnt, dass die Obstplantage überlaufen sein würde, und eigentlich zu Haus bleiben wollen. Jetzt, angesichts dieses Fotos, verstand sie ihre dämlichen Vorbehalte selbst nicht mehr. Die übrigen Mütter sammelten sich am Zaun, plauderten und trafen Verabredungen für ihre Kinder. Sie lebten im 2 1 . Jahrhundert, im post-feministischen Amerika, und dennoch waren unter den gut achtzig Erwachsenen, die hier auf ihre Sprösslinge warteten, nur zwei Väter. Der eine war, soviel sie wusste, seit über einem Jahr arbeitslos. M a n sah es in seinen Augen, an seinem langsamen, gebeugten Gang, der nachlässigen Rasur. Der andere arbeitete als freiberuflicher Journalist und frönte dem Zwang, die Mütter unterhalten zu müssen. Vielleicht aus Einsamkeit. Sie wusste es nicht. Jemand klopfte an ihr Wagenfenster. Grace blickte auf. Cora Lindley, ihre beste Freundin in der Stadt, machte ihr ein Zeichen, die Türverriegelung zu lösen. Grace drückte auf den Knopf. Cora glitt auf den Beifahrersitz.
»Na wie lief's gestern? M i t deiner Verabredung, meine ich?« »Mies.« »Oh, das tut mir Leid.« »Fünftes Rendezvous. U n d Schluss. Immer dieselbe Leier.« Cora war geschieden und ein wenig zu sexy für die eifernden »Damenkränzchen« der Super-Mütter. M i t ihrer tief ausgeschnittenen Leopardenbluse, Röhrenjeans und pinkfarbenen Pumps wirkte sie in der Masse der Khakihosen und weiten Pullover wie ein fremdartiger Paradiesvogel. Die argwöhnischen B l i cke der anderen sprachen Bände. Vorstadtpublikum ist sehr anfällig für spät pubertäre Anwandlungen. »Was für eine Leier?« »Du hast n i c h t viele Rendezvous, was?« »Offen gestanden, nein«, erwiderte Grace. »Ein Ehemann und die Kinder haben meinen Lebensstil verdorben.« »Jammerschade. Frag m i c h bitte nicht, weshalb ... aber beim fünften Rendezvous kommen die Kerle unisono auf ein T h e m a . . . >Menage ä trois< ... vornehm ausgedrückt.« »Machst du Witze?« »Wofür hältst du mich? Beim fünften Rendezvous, ich schwör's dir. Spätestens. W i e das A m e n in der Kirche. Dann w o l len sie v o n dir wissen, was du v o n einer >Menage ä trois< hältst. Rein theoretisch, natürlich. Gerade so, als solltest du deinen Senf zum Friedensprozess im Nahen Osten dazugeben.« » U n d wie reagierst du darauf?« »Ganz einfach. Ich sage, dass ich persönlich m i c h dabei glänzend amüsiere. Besonders dann, wenn die beiden Männer mir's auf Französisch besorgen.« Grace lachte lauthals auf. Sie stiegen aus dem Wagen. Graces schlimmes Bein schmerzte. N a c h über zehn Jahren sollte sie eigentlich m i t dem Thema durch sein. Trotzdem war es ihr noch immer peinlich, ein Bein für alle sichtbar nachzuziehen. Sie blieb daher beim Wagen zurück und sah Cora nach, die zum Zaun des
Schulhofs ging. Kaum ertönte die Schulglocke, ergoss sich wie auf Kommando eine Horde Kinder aus dem Schultor und in den Hof. W i e alle anderen Eltern hatte Grace nur Augen für ihre eigene Brut. Der Rest war Staffage. Max tauchte erst m i t der zweiten Welle auf. Kaum erblickte Grace ihren Sohn - die Schnürsenkel eines Turnschuhs lose, der Schulranzen viel zu groß, die Mütze m i t dem Emblem der New York Rangers schief auf dem Kopf -, wurde ihr wie immer warm ums Herz. M a x rannte die Treppe herunter und schwang dabei den Schulranzen über die Schultern. Sie lächelte unwillkürlich. M a x entdeckte sie und grinste. Max war m i t einem Satz auf dem Rücksitz des Saab. Grace schnallte i h n auf dem eingebauten Kindersitz in der M i t t e fest und fragte, wie es in der Schule gewesen sei. Weiß nicht, lautete die A n t w o r t . Sie fragte weiter, welche Fächer heute dran gewesen seien: Rechnen, Englisch, Biologie, Werken? Die A n t w o r t war ein Achselzucken und das nächste Weiß nicht. Grace nickte stumm. Typischer Fall v o n Schüler-Alzheimer. Eine allzeit grassierende Seuche. Was machten die eigentlich in der Schule m i t den Kindern? Medikamente? Erpressung? Einfach rätselhaft. Erst zu Hause, nachdem Max seinen Joghurt Snack - vergleichbar m i t Joghurt aus der Zahnpastatube - vertilgt hatte, konnte Grace in Ruhe darangehen, sich den Rest der Fotos anzusehen. Das Kontrolllämpchen am Anrufbeantworter blinkte. Grace prüfte die Nummer auf dem Display. Die Anzeige verriet nichts. Die Nummer wurde offenbar unterdrückt. Sie hörte das Tonband ab. Überraschung. Die Stimme eines ... alten Freundes ertönte. Die Bezeichnung »Bekannter« wäre in diesem speziellen Fall kaum zutreffend gewesen. Eine A r t »Vaterfigur« kam der Wirklichkeit schon näher. W e n n auch in einem nicht alltäglichen Sinn. »Hallo, Grace. Carl Vespa hier.« Diese Einleitung war überflüssig. Es war Jahre her, doch diese Stimme hätte sie immer und überall wiedererkannt.
»Bitte rufen Sie mich bei Gelegenheit zurück. Wir müssen reden.« Dann ertönte der Piepton des Anrufbeantworters. Grace rührte sich nicht vom Fleck. Sie hatte plötzlich Herzflimmern. Vespa. Carl Vespa hatte angerufen. Das verhieß nichts Gutes. Carl Vespa war trotz all der liebevollen Fürsorge für ihre Person kein Mann überflüssiger Gesten. Sie zögerte, zum Telefonhörer zu greifen, beschloss, es auf später zu verschieben. Grace betrat das Gästezimmer, das sie zu einem provisorischen Atelier umfunktioniert hatte. Sobald sie malte - mit ihrer Kunst allein war -, sah sie die Welt so, wie sie sie auf die Leinwand zu projizieren gedachte. Straßen, Bäume, Menschen reduzierte sie auf verschiedenartige Pinsel, Maltechniken, Farben, Licht und Schatten. Ihre Arbeit spiegelte nicht die Wirklichkeit, sondern ihre subjektiven Eindrücke wider. Was dabei herauskam, war nicht unbedingt eine schönere Welt. Sie war oft provozierender, vielleicht sogar hässlicher, ergreifender und faszinierender. Grace wollte Reaktionen hervorrufen. Möglich, dass manch einer sich an einem ihrer Sonnenuntergänge erfreute - Grace dagegen beabsichtigte, den Betrachter in ihre Sonnenuntergänge hineinzusaugen, in ihm das Gefühl der Angst vor dem Hinsehen zu wecken, ohne dass er sich losreißen konnte. Grace hatte für einen Aufpreis von sämtlichen Fotos einen zweiten Abzug machen lassen. Ihre Finger glitten in den Umschlag und zogen die Bilder heraus. Die beiden ersten zeigten Emma und Max auf dem Heuwagen. Als Nächstes kam Max, der den A r m ausstreckte, um einen Apfel der Sorte »Gala« zu pflücken. Die Kinderhand war natürlich nur verschwommen erkennbar, da Jack mit dem Objektiv zu dicht herangegangen war. Geliebter Idiot! Es folgten mehrere Schnappschüsse von Grace und den Kindern mit den unterschiedlichsten Äpfeln, Bäumen und Körben. Ihre Augen wurden feucht wie regelmäßig, wenn sie Fotos ihrer Kinder betrachtete.
Graces Eltern waren früh gestorben. Ihre M u t t e r war bei einem Autounfall auf der Route 46 in Totowa ums Leben gekommen. Grace, das einzige K i n d , war damals elf gewesen. Es waren keine zwei Polizeibeamten vor ihrer Haustür erschienen, wie es einem im K i n o immer vorgegaukelt wurde. Ihr Vater hatte durch einen Telefonanruf davon erfahren. Grace erinnerte sich noch gut, wie der Vater in blauer Hose und grauer Strickweste m i t seinem üblichen melodischen »Hallo« den A n r u f entgegengenommen hatte, wie jede Farbe aus seinem Gesicht gewichen, wie er unvermittelt zu Boden gesunken war, sein Schluchzen zuerst mühsam und gequält, dann lautlos, so als bekäme er nicht genügend Luft, um seinen Schmerz zu artikulieren. Der Vater hatte Grace großgezogen, bis sein Herz, geschwächt von einem Rheumaanfall in seiner Kindheit, aufgehört hatte zu schlagen. Grace war damals in ihrem ersten Jahr im College gewesen. Ein Onkel in Los Angeles hatte sich erboten, sie bei sich aufzunehmen. Grace, mittlerweile volljährig, hatte sich jedoch entschieden, im Osten zu bleiben und ihren eigenen Weg zu gehen. Der Tod der Eltern, ein schmerzlicher Einschnitt, hatte in Grace den W i l l e n geweckt, umso intensiver zu leben. Jetzt war sie bemüht, ihren Kindern ausreichend Erinnerungen für die Zeit zu geben, wenn auch sie n i c h t mehr da sein würde. U n d exakt in dem Augenblick der Erinnerung an die eigenen Eltern, als ihr gleichzeitig auffiel, wie erwachsener Emma und M a x seit dem Apfelpflücken im Vorjahr auf den Fotos aussahen fiel ihr das absonderliche Foto in die Finger. Grace runzelte die Stirn. Es lag ungefähr in der M i t t e des Stapels, hatte das gleiche Format wie die anderen, so dass es sich unauffällig einfügte, auch wenn sich das Papier weicher und dünner anfühlte. Billiger, schoss es ihr durch den Kopf. Vielleicht eine Kopie aus einem der modernen Bürokopierer. Grace griff nach dem nächsten Foto. Keine Kopie. Das war
seltsam. N u r ein Abzug v o n diesem Foto. Sie dachte nach. Das B i l d musste versehentlich in ihren Auftrag gerutscht sein. Denn dieses Foto gehörte ihr nicht. Es war irrtümlich in ihre Tüte gelangt. Eine nahe liegende Erklärung. U n w i l l k ü r l i c h fiel ihr Sauerkrautbart und seine offensichtlich laxe Arbeitseinstellung ein. Er war geradezu prädestiniert dafür, M i s t zu bauen, ein falsches Foto in ihren Stapel einzusortieren, oder? Das war es vermutlich, was passiert war. Das Foto einer fremden Person war in ihre Tüte geraten. Oder v i e l l e i c h t . . . Das Foto war irgendwie seltsam - nicht weil es schwarz-weiß oder sepiafarben gewesen wäre. Es war ein Farbabzug, wenn auch ausgeblichen. Den Farben fehlte die Frische, die man heutzutage erwartete. A u c h die Personen auf dem Foto waren nicht zeitgemäß. Ihre Kleidung, ihre Frisuren, ihr Make-up ... alles war seit mindestens fünfzehn Jahren aus der Mode. Davon abgesehen war das ganze Foto reichlich unscharf. Es zeigte vier - nein, da war noch eine Frau ganz h i n t e n in der Ecke also fünf Personen. Zwei Männer und drei Frauen, alle um die zwanzig ... zumindest die, die sie deutlicher erkennen konnte. College-Studenten, urteilte Grace. Sie trugen die Jeans, die Sweatshirts, die unkonventionellen Frisuren, den Gesichtsausdruck, die lässige Haltung angehender Unabhängigkeit zur Schau. Die Aufnahme wirkte, als seien die Personen nicht darauf vorbereitet gewesen, fotografiert zu werden, so als habe der Fotograf sie bereits bei den Vorbereitungen dazu abgelichtet. Einige hatten die Köpfe zur Seite gewandt, so dass sie nur im Profil festgehalten waren. V o n dem dunkelhaarigen Mädchen am rechten äußeren Rand konnte man eigentlich nur den Hinterkopf und eine Jacke aus Jeansstoff erkennen. Neben ihr stand ein Mädchen m i t tizianrotem Haar und weit auseinander stehenden Augen.
Das Mädchen in der Mitte war eine Blondine - Grace stockte der Atem. Ihr Gesicht war durch ein großes, dickes X beinahe unkenntlich gemacht. So als habe jemand sie ausgestrichen. Wie war dieses Foto ... ? Während Grace auf das Bild starrte, fühlte sie plötzlich einen kleinen Stich in der Brust. Die drei Frauen waren ihr unbekannt. Die beiden Männer sahen sich irgendwie ähnlich. Die gleiche Körpergröße, dasselbe Haar, die gleiche Haltung. Der Linke sagte ihr gar nichts. Den anderen allerdings glaubte sie zu kennen. Er stand in der Mitte neben dem blonden Mädchen mit dem X im Gesicht... Aber das war absurd. Zum einen hatte er sein Gesicht halb abgewandt. Zum anderen ließ der schüttere, jugendliche Bartwuchs keine genauere Identifizierung zu ... War das ihr Ehemann? Grace beugte sich tiefer darüber. Es war bestenfalls eine Profilaufnahme. In diesem jugendlichen Alter hatte sie Jack nicht gekannt. Sie waren sich vor dreizehn Jahren an einem Strand an der Cote d' Azur in Südfrankreich begegnet. Nach über einem Jahr operativer Eingriffe und Physiotherapien war Grace noch immer rekonvaleszent gewesen. Kopfschmerzen und Gedächtnislücken hatten sich als hartnäckige Begleiter erwiesen. Sie hatte gehinkt - wie auch jetzt noch -, doch nachdem sie an all der Publicity und Fürsorge, die ihr nach jener tragischen Nacht zuteil wurden, zu ersticken drohte, hatte sie einfach nur das Bedürfnis verspürt, alldem für eine Weile zu entfliehen. Sie hatte sich an der Pariser Universität eingeschrieben und sich ernsthaft dem Kunststudium gewidmet. Und während der Ferien an der sonnigen Cote d' Azur war ihr Jack über den Weg gelaufen. War sie sicher? War es wirklich Jack? Sein Äußeres sah anders aus. Kein Wunder. Er trug das Haar länger und einen Bart, der zu den noch recht jugendlichen Zügen nicht recht passen wollte. Und er trug eine Brille. Aber die Haltung, die Neigung des Kopfes, der Gesichtsausdruck ...
Das war ihr M a n n . Sie blätterte hastig den Rest der Fotos durch. Heuwagen, Äpfel und in Bäume gereckte A r m e wechselten sich ab. Dazwischen stieß sie auf eine Aufnahme, die sie von Jack gemacht hatte. Nur dieses eine M a l hatte er ihr die Kamera überlassen. Jack, der immer und alles unter Kontrolle haben wollte. Er reckte die A r m e so hoch in den Baum, dass ihm das Hemd aus der Hose gerutscht war und den Bauch freigab. Emma hatte daraufhin gesagt, er sei fett. Was Jack natürlich als Aufforderung verstanden hatte, sich noch weiter zu entblößen. Grace hatte gelacht. »Zeig, was du hast, Baby!«, hatte sie gerufen und das nächste Foto geschossen. Zu Emmas großem Verdruss hatte Jack gehorcht und mit dem Bauch gewackelt. »Mammi!« Sie drehte sich um. »Was gibt's, Max?« »Kann ich einen Müsliriegel haben?« »Ja, n i m m dir für die Fahrt einen m i t « , antwortete sie und richtete sich auf. »Wir müssen noch mal los.«
Sauerkrautbart war n i c h t im Fotoladen. Max vertiefte sich umgehend in die Betrachtung der Bilderrahmen für sämtliche Gelegenheiten - Herzlichen Glückwunsch, W i r lieben dich, M u t t i , und so weiter. Der M a n n hinter der Theke, ausgestattet m i t Polyester-Krawatte, Stifthalter und einem kurzärmeligen Oberhemd, unter dem sich ein T-Shirt m i t VAusschnitt deutlich abzeichnete, trug ein Namensschild an der Brust, das i h n als den stellvertretenden Manager Bruce auswies. »Was kann ich für Sie tun?« »Ich suche den jungen M a n n , der n o c h vor ein paar Stunden hier bedient hat«, erwiderte Grace. »Josh hat für heute Feierabend. Kann ich helfen?« »Ich habe kurz vor drei U h r einen Film abgeholt...«
»Und?«
Grace wusste nicht, wie sie sich ausdrücken sollte. »Es war ein Foto bei den Abzügen, das da n i c h t reingehört.« »Wie darf ich das verstehen?« »Eines der Fotos ... Es ist n i c h t v o n mir.« Er deutete auf Max. »Wie ich sehe, haben Sie kleine Kinder.« »Was meinen Sie?« Der stellvertretende Geschäftsführer Bruce schob seine Brille über die Stirn. »Ich wollte nur andeuten, dass Sie kleine Kinder haben. Oder zumindest eines.« »Was hat das denn damit zu tun?« »Gelegentlich stibitzt sich ein K i n d die Kamera. Ohne dass es die Eltern merken. Sie machen ein oder zwei Fotos. U n d dann legen sie sie wieder zurück.« »Nein, das kann es n i c h t sein. Das B i l d hat nichts m i t uns zu tun.« »Verstehe. Tut mir Leid. Haben Sie alle Fotos, die Sie aufgenommen haben, bekommen?« »Denke schon.« »Es fehlt keines?« »Ich hab's n i c h t überprüft, aber ich glaube, es sind alle dabei.« Er zog eine Schublade auf. »Hier. Das ist ein Gutschein. Ihren nächsten F i l m entwickeln wir kostenlos. Im Kleinbildformat. W e n n Sie's größer möchten, berechnen wir einen kleinen Aufpreis.« Grace ignorierte seine ausgestreckte Hand. »Sie haben da ein Schild an der Tür. Darauf steht, dass alle Filme hier im Haus entwickelt werden.« »Das ist richtig.« Er klopfte m i t der Handfläche auf die Maschine hinter i h m . »Das macht die gute alte Betsy hier für uns.« »Dann ist mein Film also hier entwickelt worden?« »Selbstverständlich.« Grace reichte i h m den Umschlag m i t den Abzügen. »Können Sie m i r sagen, wer diesen F i l m entwickelt hat?«
»Ich b i n sicher, es war ein Versehen.« »Was anderes habe ich auch nicht behauptet. I c h w i l l nur wissen, wer meinen F i l m entwickelt hat.« Er warf einen Blick auf den Umschlag. »Darf ich fragen, warum Sie das interessiert?« »War es Josh?« »Ja, aber ...« »Warum ist er nicht mehr hier?« »Wie bitte?« »Ich habe die Abzüge kurz vor drei U h r abgeholt. Sie schließen um sechs. Jetzt ist es fast fünf.« Der stellvertretende Geschäftsführer Bruce richtete sich etwas auf. »Josh hatte einen N o t f a l l in der Familie.« »Was für einen Notfall?« »Hören Sie, Miss ...« Er sah auf den Umschlag. »... Lawson. Ich entschuldige m i c h für den Irrtum und die Unannehmlichkeiten. Ich denke mal, es ist ein Foto aus einer anderen Serie in I h ren Umschlag geraten. Kann m i c h nicht erinnern, dass das schon mal vorgekommen ist, aber niemand ist perfekt. O h , warten Sie!«
»Ja?« »Darf ich das betreffende Foto mal sehen?« Grace hatte Angst, er könnte es behalten. »Ich hab's n i c h t dabei«, behauptete sie. »Was war auf dem Foto?« »Eine Gruppe v o n Leuten.« Er nickte. »Verstehe. U n d ... die Personen ... waren die vielleicht nackt?« »Wie bitte? N e i n . W i e kommen Sie darauf?« »Sie wirken ziemlich aufgebracht. Dachte, das Foto sei irgendwie unanständig.« »Nein, nichts dergleichen. Ich muss m i t Josh reden. K ö n n ten Sie mir seinen Familiennamen oder seine Telefonnummer geben?«
»Ausgeschlossen. Aber gleich morgen früh ist er wieder da. D a n n können Sie m i t i h m reden.« Grace beschloss, sich damit zufrieden zu geben. Sie bedankte sich und ging. Ist vielleicht besser so, dachte sie. War eine zu spontane Entscheidung gewesen, sofort wieder herzukommen. Vermutlich hatte sie überreagiert. In ein paar Stunden kam Jack nach Hause. Sie konnte i h n dann nach dem Foto fragen.
* Grace war die Aufgabe zugefallen, die Rückfahrt der Kinder v o m Schwimmtraining zu übernehmen. Vier Mädchen im A l t e r v o n acht und neun Jahren, alle herrlich lebhaft, verteilten sich auf den Rücksitz und die Notsitze im Kofferraum des Minivans. Fröhliches Gekicher mischte sich m i t dem Geruch nach nassen Haaren, Chlor und Kaugummi, dem Geräusch v o n Schulranzen, die abgenommen wurden, und das Einschnappen der Sicherheitsgurte. Keines der Kinder saß auf einem der vorderen Sitze neue Sicherheitsvorschriften -, doch trotz des Gefühls, nur Chauffeur zu sein, waren diese Fahrten für Grace ein Vergnügen. Sie gaben ihr Gelegenheit, ihre Tochter in der Gesellschaft v o n Freunden zu beobachten. Im A u t o sprachen die Kinder ganz ungezwungen miteinander. Der oder die Erwachsene hinter dem Steuer hätte ebenso gut in einer anderen Zeitzone existieren können. Für Eltern äußerst informativ. M a n hörte, wer »cool« war und wer nicht, wer »in« war und wer »out«, welchen Lehrer man »toll« fand, welcher Lehrer total »blöd« war. Bei aufmerksamem Zuhören erkannte man sogar, welchen Platz das eigene K i n d gerade in der Rangordnung einnahm. E i n Erlebnis ebenso unterhaltsam wie informativ. Jack machte Überstunden. A l s sie nach Hause kamen, bereitete Grace für Max und Emma ein schnelles Abendessen - vegetarische Chicken Nuggets (angeblich gesünder, und in reichlich
Ketchup ersäuft konnten die Kinder den Unterschied sowieso n i c h t schmecken), Bratkartoffeln und Mais aus der Tiefkühltruhe. A l s Nachtisch schälte Grace zwei Orangen. Emma setzte sich an ihre Hausaufgaben - viel zu viel für eine Achtjährige, dachte Grace. In der ersten freien M i n u t e eilte sie den Korridor entlang zum Computer und schaltete i h n ein. Grace verstand vielleicht nichts v o n digitaler Fotografie, aber sie war sich der Notwendigkeit, ja sogar der Vorteile v o n elektronischer Bildbearbeitung und Internet durchaus bewusst. Es gab eine Homepage, auf der ihre Arbeiten vorgestellt wurden, m i t Ratschlägen wie man sie erwerben oder ein Portrait in Auftrag geben konnte. Zuerst hatte sie das alles als zu kommerziell abgelehnt. Doch Farley, ihr Agent, hatte sie prompt darauf hingewiesen, dass auch Michelangelo auf Auftrag gearbeitet hatte. Dasselbe galt für Da V i n c i und Raphael und eigentlich jeden berühmten Künstler. U n d sie sollte sich zu gut dafür sein? Grace scannte die drei besten Fotos v o n der Apfelernte zur Sicherheit und beschloss dann, eher einer Laune folgend, das fremde Foto ebenfalls einzuscannen. Anschließend setzte sie die Kinder in die Badewanne. Emma kam als Erste daran. Sie stieg gerade aus der Wanne, als Grace seinen Schlüssel im Schloss der Hintertür hörte. »Hey!«, rief Jack leise nach oben. »Irgendwelche liebestollen Mädels da oben, die auf ihren Lieblings-Hengst warten?« »Die Kinder«, antwortete sie. »Die Kinder sind noch auf.«
»Oh!« »Kommst du rauf?« Jack polterte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe herauf. Das Haus erbebte. Er war ein großer, kräftiger M a n n . Sie liebte diese Masse M a n n neben sich im Bett, liebte es, wie sich seine mächtige Brust hob und senkte, seinen männlichen Duft, die weichen Körperhaare, die A r t , wie er nachts den A r m um sie schlang, das Gefühl nicht nur v o n Nähe, sondern auch v o n
Sicherheit. In seiner Gegenwart fühlte sie sich klein und beschützt. Auch wenn das vielleicht altmodisch war, es gefiel ihr. »Hi, Daddy«, sagte Emma. »Hey, meine Kleine. Wie war's in der Schule?« »Gut.« »Immer noch in diesen Tony verschossen?« »Hm.« Zufrieden mit ihrer Reaktion küsste Jack Grace auf die Wange. Max kam nackt aus seinem Zimmer. »Na, bereit für die Badewanne, mein Sohn?« »Bereit«, sagte Max. Sie vollführten einen komplizierten Händedruck. Jack schwenkte den kichernden und gurgelnden Max in die Luft. Grace half Emma in ihren Pyjama. Lautes Lachen drang jetzt aus dem Bad. Jack sang mit Max einen Kinderreim über ein Mädchen namens Jenny Jenkins, die nicht wusste, welche Farbe sie tragen sollte. Jack begann mit der Farbe, und Max fiel mit dem Refrain ein. Im Augenblick sangen die beiden, Jenny Jenkins trüge »lila«, weil sie dann aussah wie aus »Manila«, was einen neuen Lachanfall auslöste. Diese Reimspiele der beiden fanden jeden Abend statt. Und sie lachten sich jeden Abend erneut dabei kaputt. Jack rubbelte Max trocken, zog ihm seinen Pyjama an und brachte ihn ins Bett. Er las ihm zwei Kapitel von »Charlie und die Schokoladenfabrik« vor. Max lauschte auf jedes Wort, ging völlig in der Geschichte auf. Emma war alt genug, selbst zu lesen. Sie lag in ihrem Bett, verschlang das letzte rätselhafte Abenteuer der Waisenkinder in Lemony Snicket. Grace saß bei ihr und zeichnete eine halbe Stunde. Dies war für sie die schönste Zeit des Tages - still am Bett ihres ältesten Kindes arbeiten zu können. Als Jack geendet hatte, bettelte Max um ein drittes Kapitel. Jack blieb hart. Es sei spät, entgegnete er. Max fügte sich widerwillig. Sie redeten noch ein paar Minuten über Charlies bevorstehenden Besuch in Willy Wonkas Fabrik. Grace hörte zu.
Roald Dahl, da waren sich beide Männer einig, war ein Knaller. Jack dimmte das Licht. Max mochte es n i c h t dunkel. Dann konnte er n i c h t schlafen. Schließlich kam Jack in Emmas Z i m mer. Er beugte sich über sie, um ihr einen Gutenachtkuss zu geben. Emma, ganz Papas Mädchen, schlang die A r m e um seinen Hals und wollte i h n nicht fortlassen. Jack schmolz bei Emmas geschicktem allabendlichem Manöver dahin, m i t dem sie i h m ihre Zuneigung zeigte und gleichzeitig die Zeit zum Einschlafen h i nauszögerte. »Was Neues in der Schule?«, fragte Jack. Emma nickte. Ihr Schulranzen stand neben dem Bett. Sie griff h i n e i n und förderte ihr Schulheft zutage. Sie schlug eine Seite auf und reichte es ihrem Vater. »Wir schreiben Gedichte«, erklärte sie. »Ich hab heute eins gemacht.« »Toll. Willst du's mir vorlesen?« Emmas Wangen glühten. Jack strahlte. Sie räusperte sich und legte los: Basketball, Basketball, warum bist du so drall? Hüpfst so vollkommen bist braun, dass ich staun. Tennisball, Tennisball, warum bist du so filzig? Wenn dich der Schläger trifft, wird's dir dann schwind'lig? Grace beobachtete die Szene v o n der Tür aus. Jack arbeitete in letzter Zeit sehr viel. Normalerweise machte ihr das nichts aus. Ruhige Momente wurden sowieso immer seltener. Sie brauchte diese erholsamen Pausen. Einsamkeit, Vorbote der Langeweile,
ist dem künstlerischen Schaffensprozess durchaus zuträglich. Langeweile erzwingt Inspiration, und sei es nur, um nicht den Verstand zu verlieren. E i n befreundeter Schriftsteller behauptete, die beste Medizin gegen Schreibblockaden wäre die Lektüre des Telefonbuchs. Langeweile zwingt die Muse durch die schlimmsten Blockaden an die Oberfläche. A l s Emma fertig war, lehnte sich Jack zurück und sagte: »Donnerwetter! « Emma sog die Lippen zwischen die Zähne, eine Grimasse, die sie immer zog, wenn sie stolz auf etwas war, es aber n i c h t zeigen wollte. »Das ist das beste Gedicht, das mir je untergekommen ist.
Ehrlich.« Emma zuckte m i t gesenktem Kopf die Schultern. »Waren nur die ersten beiden Strophen.« »Dann sind das eben die tollsten beiden ersten Strophen, die mir je untergekommen sind. Ehrenwort.« »Morgen schreibe ich eins über Hockey.« »Da w i r gerade davon reden ...« Emma setzte sich auf. »Was ist?« Jack lächelte. »Ich habe Karten für die Rangers im Madison Square Garden Stadion. Für Samstag.« Emma, die im Gegensatz zu anderen Mädchen sich weniger für Musik, dafür umso mehr für Sport interessierte, stieß einen Jubelschrei aus und umarmte ihren Vater erneut. Jack rollte m i t den Augen und ließ es geschehen. Sie sprachen über die jüngsten Erfolge des Teams, wetteten auf seine Gewinnchancen gegen die Minnesota W i l d . Wenige M i n u t e n später löste sich Jack aus der Umarmung seiner Tochter und sagte ihr, dass er sie lieb hatte. Sie erwiderte, sie hätte i h n ebenfalls lieb. Jack ging in Richtung Tür. »Ich muss jetzt unbedingt was essen«, flüsterte er Grace zu. »Ist noch eine Portion Hühnchen im Kühlschrank.« »Warum schlüpfst du inzwischen n i c h t in was Bequemeres?« »Der Mensch hofft, solange er lebt.«
Jack zog die Augenbrauen hoch. »Hast du immer noch Angst, nicht genug Frau für m i c h zu sein?« » A h , dabei fällt mir ein ...« »Was?« »Hat was m i t Coras Rendezvous v o n gestern A b e n d zu tun.« »Heiße Sache?« »Bin gleich unten.« Er zog auch noch die andere Augenbraue hoch und eilte m i t einem leisen Pfiff die Treppe hinunter. Sie löschte das L i c h t und wartete einen Moment. Das war eigentlich Jacks Aufgabe. Er wanderte nachts, wenn er n i c h t schlafen konnte, im Haus herum und bewachte die Kinder in ihrem Schlaf. Es gab Nächte, da wachte sie auf und fand den Platz neben sich verlassen. Jack stand dann m i t glasigen Augen in einer der Türen. W e n n sie zu i h m trat, sagte er: »Man liebt sie so sehr ...« Mehr brauchte er nicht zu sagen. Im Grunde brauchte er nicht einmal das zu sagen. Jack hörte sie n i c h t näher kommen. U n d aus irgendeinem G r u n d wollte Grace sich n i c h t bemerkbar machen und blieb stumm. Jack wirkte wie erstarrt, hatte ihr den Rücken zugewandt, den Kopf gesenkt. Das war ungewöhnlich. Jack war ständig in Bewegung. Normalerweise. W i e Max konnte er nie still sitzen. Er zappelte. Er wippte m i t den Beinen. Er stand ständig unter Strom. In diesem Augenblick jedoch blickte er auf die Küchentheke oder vielmehr auf das fremde Foto, das dort lag - und war wie zur Salzsäule erstarrt.
»Jack?« Er fuhr herum. »Was zum Teufel soll das hier?« Sein Haar, das fiel ihr in diesem M o m e n t auf, war etwas zu lang geworden. »Sag du es mir. I c h habe keine Ahnung.« Er schwieg. »Das bist doch du, oder? Der m i t dem Bart?« »Was? Nein!« Sie musterte i h n . Er blinzelte und wandte den Blick ab.
»Ich habe heute unseren letzten Film abgeholt«, erklärte sie. »Im Fotogeschäft.« Er sagte noch immer nichts. Sie trat näher. »Diese Aufnahme lag mitten zwischen unseren Fotos.« »Moment!« Er sah hastig auf. »Das lag zwischen unseren Bildern?« »Ja.« »Welcher Film war das?« »Den, den wir bei der Apfelernte aufgenommen haben.« »Das ist doch verrückt.« Sie zuckte die Schultern. »Wer sind die anderen auf dem Bild?« »Woher soll ich das wissen?« »Die Blondine neben dir«, begann Grace. »Die mit dem X über dem Gesicht. Wer ist sie?« Jacks Handy klingelte. Er ließ es aufklappen wie ein Messer. Er murmelte ein »Hallo«, hörte zu, legte die Hand über die Sprechmuschel und sagte: »Es ist Dan.« Dan war sein Kollege im Forschungslabor bei Pentocol Pharmaceutics. Er senkte den Kopf und verschwand in Richtung Arbeitszimmer. Grace ging in den ersten Stock hinauf. Sie machte sich bettfertig. Was als leiser Zweifel begonnen hatte, zerrte immer stärker an ihren Nerven. Sie dachte zurück an die Jahre in Frankreich. Jack hatte es stets vermieden, über seine Vergangenheit zu sprechen. Seine Familie war wohlhabend, und ihm gehörte ein Teil eines Treuhandfonds. Mehr wusste sie nicht. Er wollte weder mit der einen noch dem anderen etwas zu tun haben. Es gab auch noch eine Schwester, Anwältin, drüben in Los Angeles oder San Diego. Sein Vater lebte noch, war jedoch alt und gebrechlich. Grace hätte gern mehr erfahren, doch Jack weigerte sich, ins Detail zu gehen. Das wiederum machte ihr Angst und hinderte sie daran, weiter in ihn zu dringen. Sie hatten sich ineinander verliebt. Sie malte. Er arbeitete in
einem Weingut in Saint-Emilion im Bordeaux. Sie lebten in Saint-Emilion, bis Grace m i t Emma schwanger wurde. M i t einem M a l bekam sie Heimweh - den Wunsch, ihre Kinder im Land der Freien und Mutigen aufzuziehen. Jack wollte bleiben, doch Grace hatte n i c h t nachgegeben. Jetzt fragte sich Grace, weshalb. Eine halbe Stunde verstrich. Grace schlüpfte unter die Decke und wartete. Zehn M i n u t e n später hörte sie, wie ein A u t o m o t o r aufheulte. Sie sah aus dem Fenster. Jacks M i n i v a n fuhr aus der Auffahrt. Jack fuhr gern noch abends spät zum Einkaufen. Leere Supermärkte reizten i h n . Dass er um diese Stunde noch wegfuhr, war nichts Ungewöhnliches. N u r hatte er ihr diesmal weder Bescheid gesagt noch gefragt, ob sie noch etwas Bestimmtes brauchten. Grace rief i h n auf seinem Handy an. Die Mailbox schaltete sich ein. Sie lehnte sich zurück und wartete. Nichts. Sie versuchte zu lesen. Die Worte verschwammen vor ihren Augen, wurden bedeutungslos. Zwei Stunden später versuchte Grace erneut, i h n auf dem Handy zu erreichen. Wieder meldete sich nur die Mailbox. Sie sah nach den Kindern. Beide schliefen tief und fest, hatten offenbar nichts bemerkt. Schließlich hielt Grace es nicht länger aus. Sie ging ins Erdgeschoss hinunter. Sie blätterte den Stapel Fotos durch. Das fremde Foto war verschwunden.
2 Die meisten Menschen durchsuchen persönliche Daten im I n ternet, um einen Partner zu finden. Eric Wu suchte Opfer. Er unterhielt sieben verschiedene Internet-Adressen v o n sieben verschiedenen, fiktiven Personen - einige männlich, einige weiblich. Er versuchte, unter jeder dieser Adressen E-mail-Kon-
takt zu durchschnittlich sechs »potenziellen Dates« zu halten. Drei Adressen standen für normale Bürger beliebiger Altersklassen. Zwei waren für Singles über fünfzig reserviert. Eine für homosexuelle Männer. Die letzte zielte auf Lesben, die ernsthaft nach einer Beziehung suchten. Wu unterhielt Online-Flirts m i t gut vierzig bis fünfzig dieser Verlorenen. Beim Kennenlernen ging er jedoch m i t Bedacht vor. Die meisten waren ziemlich reserviert, doch das war in Ordnung. Eric Wu hatte Geduld. Irgendwann hatte er genügend Puzzlestücke zusammen, nach denen er beurteilen konnte, ob es sich l o h n te, eine Verbindung anzustreben oder diese abzubrechen. Zuerst hatte er sich nur auf Frauen konzentriert. Er hatte sie für die leichtesten Opfer gehalten. Doch Eric W u , der keine sexuelle Gratifikation für seine M ü h e n erhielt, erkannte irgendwann, dass er eine große Zielgruppe, die sich weit weniger um Sicherheit im Internet sorgte, überhaupt nicht in Betracht gezogen hatte. Männer, zum Beispiel, hatten keine Angst vor Vergewaltigungen. Sie fürchteten keine Stalker. Männer waren sorgloser und damit verwundbarer. Wu suchte Singles ohne feste Bindungen und Verpflichtungen. Hatten sie Kinder, nützten sie i h m nichts. Hatten sie in der Nähe wohnende Familienangehörige, nützten sie i h m nichts. Teilten sie sich m i t anderen Personen eine Wohnung, hatten verantwortungsvolle Jobs, zu viele enge Freunde, waren sie absolut unbrauchbar. Wu hatte es auf die Einsamen und Verschlossenen abgesehen, die ohne die vielfachen Verbindungen und Verpflichtungen, die die meisten v o n uns miteinander verbinden und zu etwas mehr machen als einem einzelnen Individuum. Im M o m e n t hatte er jemanden in räumlicher Nähe zum Haushalt der Lawsons gesucht. U n d dieses Opfer in Freddy Sykes gefunden. Freddy Sykes arbeitete für eine Steuerberatungsfirma in Waldwick, N e w Jersey. Er war achtundvierzig. Beide Eltern verstor-
ben. Keine weiteren Angehörigen. Seinen Flirts bei Bisex.Männer.com nach, hatte Freddy sich lange um seine Mutter gekümmert und nie Zeit für eine Beziehung gehabt. N a c h dem Tod der Mutter vor zwei Jahren hatte Freddy das Haus in H o - H o Kus geerbt, kaum drei M e i l e n v o m Haus der Lawsons entfernt. Sein Foto im Netz, das nur ein Portrait zeigte, ließ vermuten, dass Freddy eher der mollige Typ war. Sein schwarzes, pomadig glänzendes, schütteres Haupthaar trug er klassisch glatt über die Glatze gekämmt. Sein Lächeln wirkte gezwungen und verkrampft, als befürchte er, jeden M o m e n t geschlagen zu werden. Freddy hatte die vergangenen drei Wochen damit verbracht, im Internet m i t AI Singer zu flirten, einem sechsundfünfzigjährigen Rentner und ehemaligen Exxon Manager, der sich nach zweiundzwanzig Jahren Ehe hatte eingestehen müssen, an »Experimenten« interessiert zu sein. Die Person AI Singer liebte seine Frau zwar noch immer, allerdings hatte diese keinerlei Verständnis für seine bisexuellen Bedürfnisse. AI interessierte sich für Reisen nach Europa, gute Küche und Sport im Fernsehen. Für seine Singer-Person benutzte Wu ein Foto, das er einem Y M C A - O n line-Jahrbuch entnommen hatte. Sein AI Singer wirkte athletisch, war jedoch nicht übertrieben attraktiv. Ein zu gut aussehender M a n n hätte Freddys A r g w o h n erregt. Wu wollte, dass er das Lügengespinst für bare Münze nahm. Das war das Entscheidende. Freddy Sykes Nachbarn waren überwiegend junge Familien. Für diese existierte er praktisch nicht. Sein Haus sah aus wie alle anderen im Viertel. Wu beobachtete jetzt, wie sich Sykes elektronisch gesteuertes Garagentor öffnete. Die Garage war ein A n bau. M a n konnte also ohne gesehen zu werden in den Wagen ein- und aussteigen. Eine Zugabe der Extraklasse. Wu wartete noch zehn M i n u t e n . Dann klingelte er an der Haustür. »Wer ist da?« »Lieferung für Mr. Sykes.«
»Von wem?« Freddy Sykes öffnete die T ü r nicht. Das war seltsam. Männer machten meistens sofort auf. A u c h ein Teil ihrer Verwundbarkeit, ein Grund, warum sie leichtere Beute waren als Frauen. Zu selbstbewusst. Wu entdeckte den Spion in der Tür. Sykes, so war er sicher, begutachtete in diesem M o m e n t den sechsundzwanzigjährigen Koreaner in weiten Jeans m i t dem ungewöhnlich muskulösen, kräftigen Körperbau. Möglich, dass er Wus O h r r i n g registrierte und sich insgeheim über die heutige Jugend empörte. Andererseits turnten Figur und O h r r i n g Sykes vielleicht auch erst richtig an. Wer wusste das schon? »Von Topfit, Schokoladen und Pralinen.« »Nein, ich meine, wer schickt mir das?« Wu tat so, als würde er auf einen Zettel sehen. »Ein Mr. Singer.« Volltreffer. Der Riegel glitt zur Seite. Wu schaute sich rasch um. Niemand zu sehen. Freddy Sykes öffnete die T ü r m i t einem Lächeln. Wu zögerte keine Sekunde. Seine Finger formten eine Speerspitze und zielten m i t der Schnelligkeit eines auf seine Beute herabstoßenden Raubvogels auf Freddys Kehle. Freddy ging zu Boden. Wu bewegte sich m i t einer für seine bullige Statur erstaunlichen Geschicklichkeit. Er schlüpfte ins Haus und schloss die Tür hinter sich. Freddy Sykes lag auf dem Rücken, die Hände um den Hals gekrampft. Er versuchte zu schreien, brachte jedoch nur ein klägliches Quietschen hervor. Wu beugte sich über i h n und warf i h n m i t einem G r i f f schwungvoll auf den Bauch. Freddy wehrte sich. Wu zerrte das H e m d seines Opfers hoch. Freddy trat nach i h m . Wus erfahrene Finger glitten Freddys Wirbelsäule hinauf, bis er den richtigen Druckpunkt zwischen dem vierten und fünften Halswirbel gefunden hatte. Freddy trat weiter nach i h m . M i t einem Bajonett aus Daumen und Zeigefinger stieß er so heftig zwischen die Wirbel, dass die Haut beinahe geplatzt wäre.
Freddy erstarrte. Wu erhöhte den Druck, zwang die W i r b e l aus ihren Gelenksockeln. D a n n versenkte er seine Finger immer tiefer zwischen beide Wirbel, fand, was er suchte, und zupfte daran. Etwas in Freddys Wirbelsäule schnappte entzwei wie die Seite einer Gitarre. Freddys Treten hatte ein Ende. Jede Bewegung erstarb. Doch Freddy Sykes lebte noch. Das war gut. Das war der Sinn der Übung gewesen. Früher hatte er sie sofort getötet. M i t t l e r weile wusste er es besser. Ein lebendiger Freddy konnte seinen Boss anrufen und i h m sagen, dass er ein paar Tage freinehmen würde. Lebend konnte er seine PIN-Nummer verraten, falls Wu Geld aus dem Bankautomaten brauchte. Lebend konnte er Nachrichten auf dem Anrufbeantworter beantworten, falls tatsächlich jemand anrufen sollte. U n d bei einem lebendigen Freddy brauchte Wu sich keine Sorgen wegen des Gestanks zu machen.
* Wu stopfte Freddy einen Knebel in den M u n d und ließ i h n nackt in der Badewanne liegend zurück. M i t dem Druck auf Freddys Wirbelflächen hatte er die W i r b e l aus ihren Kapseln gesprengt. Damit war die Wirbelsäule zwar deformiert, aber das Rückenmark war nicht durchtrennt. Wu prüfte das Ergebnis seiner Fingerfertigkeit. Freddy hatte keinerlei Gewalt mehr über seinen Bewegungsapparat. Seine Oberarmmuskeln waren vielleicht noch intakt. Hände und Unterarme hingegen waren außer Funkt i o n gesetzt. Aber, was noch wichtiger war, Freddy konnte weiterhin ohne fremde Hilfe atmen. Freddy Sykes war praktisch gelähmt. Sykes in der Badewanne zu belassen, hatte den Vorteil, dass eventuell vorkommende Schweinereien einfach m i t dem Wasserstrahl in den Abfluss gespült werden konnten. Freddys Augen
waren unnatürlich weit aufgerissen. Wu kannte diesen Blick: jenseits der Angst, aber an der Schwelle des Todes, die Dumpfheit, die sich einstellt, bevor sich die Waagschalen des Schicksals in die eine oder andere Richtung neigen. Die Notwendigkeit, Freddy zu fesseln, erübrigte sich. Wu saß im Dunkeln und wartete, dass die N a c h t hereinbrach. Er schloss die Augen und ließ seine Gedanken in die Vergangenheit schweifen. In Rangoon gab es Gefängnisse, in denen sie Wirbelbrüche während der Strangulation untersuchten. A u f diese Weise erfuhren sie, wo exakt ein K n o t e n anzubringen, wo genau Gewalt anzuwenden war und welche Auswirkungen die unterschiedlichen Positionierungen hatten. In Nordkorea, in der Haftanstalt für politische Gefangene, die Wu v o m dreizehnten bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr sein Zuhause genannt hatte, hatten sie die Experimente noch einen Schritt weiter getrieben. Staatsfeinde wurden auf kreative Weise getötet. Wu hatte viele m i t bloßen Händen ins Jenseits befördert. Er hatte seine Hände im Schlagabtausch m i t Pflastersteinen gestählt. Hatte die Anatomie des Menschen auf eine A r t studiert, um die i h n die meisten Medizinstudenten beneiden würden. Er hatte am lebendigen Objekt geübt und seine Techniken perfektioniert. Der exakte Punkt zwischen dem vierten und dem fünften Halswirbel. Das war das Entscheidende. N u r den Bruchteil eines Millimeters höher, und die Lähmung war endgültig, irreversibel. U n d führte ziemlich rasch zum Tod. A r m e und Beine konnte man vergessen, wenn die inneren Organe versagten. N u r ein Stückchen tiefer und der Griff lähmte ausschließlich die Beine, während die A r m e noch funktionierten. War der Druck zu stark, brach den Opfern die Wirbelsäule. Präzision, das war es, worauf es ankam. Das richtige Gespür. U n d Übung. Wu schaltete Freddys Computer ein. Er wollte den Kontakt zu den anderen Singles auf seiner Liste n i c h t abreißen lassen. Schließlich konnte er nicht absehen, wann er einen neuen U n -
terschlupf benötigen würde. Als er fertig war, genehmigte Wu sich ein Schläfchen. Drei Stunden später wachte er auf und sah nach Freddy. Dessen Augen waren mittlerweile glasig, starrten senkrecht nach oben, blinzelten ohne zu fokussieren. Als der Kontaktmann auf Wus Handy anrief, war es kurz vor 22 Uhr. »Alles unter Dach und Fach?«, fragte der Kontaktmann.
»Ja.« »Wir haben ein Problem.« Wu wartete ab. »Wir müssen die Sache beschleunigen. Ist das ein Problem?« »Nein.« »Wir müssen i h n fortbringen. U n d zwar jetzt.« »Hast du einen bestimmten O r t im Sinn?« Wu hörte zu, prägte sich die Ortsbeschreibung ein. »Noch Fragen?« »Nein«, sagte W u . »Eric?« W u wartete. »Danke, Kumpel.« Wu schaltete das Handy aus. Er fand die Autoschlüssel und fuhr in Freddys Honda davon.
3 Die Polizei konnte Grace noch nicht anrufen. Schlafen konnte sie aber auch nicht. Der Computer war eingeschaltet. Ihr Bildschirmschoner war ein Familienfoto, aufgenommen im vergangenen Jahr in Disney W o r l d . Es zeigte sie alle vier zusammen m i t Goofy im Epcot Center. Jack hatte Mickymaus-Ohren aufgesetzt und grinste über beide Ohren. Ihr Lächeln war reserviert. Sie war sich dumm vor-
gekommen, was Jack nur noch übermütiger gemacht hatte. Sie griff nach der Maus, nach der anderen Maus, der Computermaus - und ihre Familie verschwand v o m Bildschirm. Sie klickte auf das neue Symbol, und das fremde Foto m i t den fünf College-Studenten erschien auf dem Monitor. Sie hatte es in Adobe Photoshop geöffnet. Grace starrte einige M i n u t e n auf die jungen Gesichter und suchte - sie wusste selbst n i c h t recht wonach - vielleicht nach einem Anhaltspunkt. Nichts, was ihr geholfen hätte. Sie studierte die Gesichter, vergrößerte sie auf das größtmögliche Format, ohne dass das Foto an Schärfe verlor. Das gute Papier war im Tintenstrahldrucker eingelegt. Sie klickte auf Drucken. D a n n griff sie nach einer Schere und machte sich an die Arbeit. Kurz darauf hatte sie fünf Passfotos, eines für jede Person auf dem B i l d . Sie betrachtete sie erneut prüfend, wobei sie besonders viel Zeit auf die Blondine an Jacks Seite verwendete. Sie war hübsch, hatte einen frischen, unverbrauchten Teint und langes flachsblondes Haar. Die Augen der jungen Frau waren auf Jack gerichtet, und dieser Blick war alles andere als nichtssagend. Grace fühlte einen Stich. War das Eifersucht? W i e absurd. Wer war diese Frau? Offensichtlich eine alte Freundin - eine allerdings, v o n der Jack nie gesprochen hatte. Na und? Grace hatte selbst eine Vergangenheit. Dasselbe galt für Jack. Warum also sollte der Blick auf diesem B i l d sie beunruhigen? U n d wie ging es jetzt weiter? Sie musste auf Jack warten. Sobald er nach Hause kam, würde sie A n t w o r t e n verlangen. A n t w o r t e n worauf? Moment. Sie rekapitulierte. Was war eigentlich passiert? E i n altes Foto, das vermutlich Jack zeigte, war in einem Stapel ihrer Bilder aufgetaucht. Das war merkwürdig. Sicher. W e n n n i c h t sogar etwas unheimlich - w e i l das Gesicht der Blondine m i t einem fetten X durchgestrichen war. Jack war schon häufiger lange aus-
geblieben, ohne anzurufen. Wahrscheinlich hatte i h n etwas auf diesem Foto aufgebracht. Er hatte sein Handy ausgestellt und saß vermutlich irgendwo in einer Bar. Oder bei Dan. Vielleicht war das Ganze nichts als ein dummer Scherz. Ja, natürlich - Grace. Ein Scherz! A l l e i n im dunklen Zimmer, m i t dem Widerschein des M o n i tors als einziger Lichtquelle, versuchte Grace in zahlreichen Variationen eines Themas den seltsamen Vorfall rational aufzulösen. Sie hörte auf, als sie merkte, dass ihr das nur noch mehr Angst einjagte. Grace klickte das Gesicht der jungen Frau an, die so sehnsuchtsvoll zu ihrem M a n n aufschaute, und vergrößerte es, um sie besser erkennen zu können. Sie starrte unverwandt auf das Gesicht - ein A n f a l l v o n Angst verursachte ihr eine Gänsehaut. Grace rührte sich nicht. Sie betrachtete weiter das Gesicht der Frau. Sie kannte weder das Wo noch das Wann noch das Wie, aber eines wurde ihr jetzt m i t unterschwelliger Gewissheit klar. Grace hatte diese junge Frau schon einmal gesehen.
4 Rocky C o n w e l l bezog Posten vor dem Haus der Lawsons. Er versuchte, in seinem Toyota Celica, Baujahr 1989, eine bequeme Stellung zu finden. Vergeblich. Rocky war zu groß und massig für diese japanische Konservendose. Er ruckelte kräftig am Sitzhebel, riss i h n beinahe aus der Halterung, ohne dass dieser sich auch nur einen Zentimeter weiter rückwärts hätte verschieben lassen. Keine Chance. Rocky lehnte sich zurück. Die Augenlider fielen i h m allmählich zu. Rocky war todmüde. Er hatte zwei Jobs, war rund um die U h r in Bewegung. In seinem offiziellen Job, m i t dem er bei seinem Bewährungshelfer Eindruck schinden wollte, zog er eine Zehn-
Stunden-Schicht in der Budweiser-Abfüllanlage in Newark durch. Sein zweiter Job bestand darin, in diesem verdammten Vehikel zu sitzen und auf ein Haus zu starren. Streng genommen weit außerhalb jeglicher Legalität. Rocky fuhr hoch. Ein Geräusch hatte i h n aufgeschreckt. Er griff nach seinem Fernglas. Mist, der M o t o r des Minivans heulte auf. Rocky schwenkte das Fernglas in die entsprechende Richtung. Jack Lawson bog aus seiner Einfahrt. Er legte das Fernglas beiseite, stellte die A u t o m a t i k auf »Drive« und war bereit, die Verfolgung aufzunehmen. Rocky hatte die beiden Jobs bitter nötig, denn er brauchte dringend eine Menge Geld. Lorraine, seine Exfrau, machte i h m Hoffnungen auf eine mögliche Aussöhnung. D o c h das Eis, auf dem er sich bewegte, war verdammt dünn. Bargeld, soviel wusste Rocky, konnte bei Lorraine den Ausschlag zu seinen Gunsten geben. Er liebte Lorraine. Er wünschte sie sich verzweifelt und unbedingt zurück. Er schuldete ihr etwas, bessere Zeiten, oder etwa nicht? U n d wenn er sich dafür den Arsch aufreißen musste, dann wollte er das nicht vermasseln. Das war der Preis. U n d sie war es wert. Rocky Conwell hatte auch schon andere Zeiten erlebt. Er war Defensive End in der All-State-Auswahl an der Westfield H i g h gewesen. Joe Paterno persönlich, v o n der Penn State, hatte i h n engagiert und aus i h m einen Inside Linebacker m i t extrem hartem Schlag gemacht. Eins neunzig groß, hundertdreißig K i l o schwer und m i t natürlicher Aggressivität ausgestattet, war Rocky vier Jahre lang ein Star gewesen. Hatte zwei Jahre zur Auswahl der besten Zehn gehört. In der achten Runde hatten i h n die St. Louis Rams verpflichtet. Eine Weile hatte es so ausgesehen, als habe der liebe G o t t persönlich seine Lebensplanung übernommen. Rocky hieß tatsächl i c h Rocky. Seine Eltern hatten i h n so genannt, weil im Sommer 1976 während einer Kinovorstellung des Films Rocky bei seiner
Mutter die Wehen eingesetzt hatten. U n d wer einen Namen wie Rocky trug, tat gut daran, groß und stark zu werden; rasselte vorsorglich m i t dem Säbel. U n d so war er ein viel versprechender Footballspieler geworden. Er heiratete Lorraine - ein Superweib, das den Autoverkehr in der C i t y nicht nur lahm legen, sondern das absolute Chaos anrichten konnte - während seines JuniorJahrs. Sie waren Hals über Kopf einander verfallen. Das Leben hätte schöner nicht sein können. So lange, n u n ja, bis es eben n i c h t mehr so schön war. Rocky war ein großartiger College-Footballspieler gewesen. N u r war der Unterschied zwischen der I - A Division und den richtigen Proficlubs himmelweit. Im Trainingscamp der Frischlinge bei den Rams mochten sie seine spektakuläre Spielweise. Ihnen gefiel seine professionelle Einstellung. Ihnen gefiel sein rücksichtsloser Körpereinsatz als Spielmacher. Was ihnen nicht gefiel war seine Geschwindigkeit - und in der modernen Spielweise, m i t der Betonung auf Passing und Defense, war Rocky einfach n i c h t gut genug. Sagten sie jedenfalls. Rocky ließ sich n i c h t unterkriegen. Er schluckte noch mehr Steroide. Er setzte mehr Muskelmasse an und war dennoch nicht massig genug für die Frontline. Es gelang i h m , eine Spielzeit in Special Teams für die Rams zu überstehen. Aber in der nächsten Saison war er draußen. Der Traum wollte nicht zerplatzen. Rocky konnte es nicht zulassen. Er stemmte nonstop Gewichte. Er fing an, sich m i t richtig harten M i t t e l n v o l l zu stopfen. Anabolika hatte er v o n A n fang an genommen. W i e jeder A t h l e t . Aber in seiner Verzweiflung wurde er schlampig. Er scherte sich nicht um Kreislauf oder Überanstrengung. Er wollte nur Muskelmasse. Seine Laune wurde immer mieser - ob durch die Drogen oder die Enttäuschung, war schwer zu sagen. Vielleicht war es auch nur eine explosive Mischung aus beidem. Um Kasse zu machen, verdingte Rocky sich bei der Ultimate Fighting Federation. Sie erinnern sich vielleicht an die Grudge
Matches im achteckigen Ring. Eine Weile waren sie der letzte Schrei im verschlüsselten digitalen Fernsehen - realistische, blutige Schlägereien, bei denen alles erlaubt war. Und Rocky war gut. Er war groß und stark, eine Kämpfernatur. Er hatte unglaubliche Ausdauer und wusste, wie man einen Gegner nach Strich und Faden fertig machte. Irgendwann hatten die Zuschauer diese rohe Gewalt jedoch satt. In einzelnen Bundesstaaten wurde Ultimate Fighting als i l legal verboten. Einige der Protagonisten gingen nach Japan, wo diese Kämpfe noch erlaubt waren - Rocky vermutete, dass die Leute dort weniger sensibel reagierten. Trotzdem blieb er zu Hause. Rocky hatte den Glauben, eines Tages den Sprung in die NFL zu schaffen, noch nicht aufgegeben. Dazu musste er nur härter an sich arbeiten. Noch mehr Masse ansetzen, stärker werden, schneller. Jack Lawsons Minivan bog zur Route 17 ab. Rocky hatte klare Anweisungen bekommen. Er sollte Lawson folgen. Notieren, wohin er fuhr, mit wem er redete, alle Details seiner Fahrt aufzeichnen. Jeder Kontakt mit ihm sollte unter allen Umständen vermieden werden. Er sollte ihn beobachten. Mehr nicht. Gutes, leicht verdientes Geld. Zwei Jahre zuvor war Rocky in einer Bar in eine Schlägerei verwickelt worden. Es war der übliche Anlass gewesen. Ein Kerl hatte Lorraine zu lange angeglotzt. Rocky, voll gepumpt mit Steroiden und dadurch hochgradig aggressiv, hatte den Typen auseinander genommen - ihm ein paar Wochen im Streckverband beschert - und sich eine Strafe wegen schwerer Körperverletzung eingehandelt. Er hatte drei Monate gesessen und war mittlerweile auf Bewährung freigekommen. Für Lorraine hatte es das Fass zum Überlaufen gebracht. Sie hatte ihn als Versager beschimpft und verlassen. Also bemühte er sich jetzt bei Lorraine um Wiedergutmachung.
Rocky hatte die Aufputschmittel abgesetzt. Träume sterben langsam, aber mittlerweile war i h m klar, dass die NFL unerreichbar war. Was Rockys Talenten keinen Abbruch tat. Einen guten Coach würde er durchaus abgeben. Er konnte motivieren. Einer seiner Freunde hatte Beziehungen zu seiner alten A l m a Mater, Westfield H i g h . W e n n Rockys Vorstrafe gestrichen wurde, w o l l te man i h n zum Abwehr-Trainer der Collegemannschaft machen. Lorraine konnte dort einen Job als Studienberaterin kriegen. Damit würden sie wieder auf der Überholspur landen. Sie brauchten nur etwas Anfangskapital. Rocky hielt den Celica auf Sicherheitsabstand hinter dem M i nivan. Er rechnete n i c h t damit, entdeckt zu werden. Jack Lawson war ein Amateur. Er würde kaum auf einen Verfolger achten. Jedenfalls hatte der Boss i h m das gesagt. Lawson überquerte die Stadtgrenze von New York und nahm die Schnellstraße in Richtung Norden. Es war zehn U h r abends. Rocky fragte sich, ob er einen Zwischenbericht durchgeben sollte, entschied sich jedoch dagegen. Es gab nichts zu melden. Der M a n n unternahm eine Spritztour. Rocky folgte i h m . So lautete schließlich sein Auftrag. Rocky spürte die ersten Anzeichen eines Wadenkrampfs und wünschte, die Konservenbüchse würde mehr Beinfreiheit bieten. Eine halbe Stunde später bog Lawson zur Woodbury C o m mons ein, einem der riesigen Einkaufszentren auf dem platten Land, in dem alle Geschäfte angeblich »Outlets« ihrer wesentl i c h teureren Mutterfirmen waren. Das Einkaufszentrum hatte geschlossen. Der M i n i v a n nahm eine ruhige Straße entlang der Flanke des Geländes. Rocky ließ sich zurückfallen. W e n n er jetzt zu dicht folgte, würde er sicher auffliegen. Rocky fand rechts einen Parkplatz, stellte die A u t o m a t i k auf »Parken«, löschte die Scheinwerfer und griff nach seinem Fernglas. Jack Lawson hielt m i t dem M i n i v a n an. Rocky beobachtete,
wie er ausstieg. Unweit des Minivans stand ein zweiter Wagen. Vermutlich Lawsons Freundin. Komischer O r t für ein Schäferstündchen, aber die Geschmäcker waren verschieden. Jack sah sich nach allen Seiten um und ging dann auf das Wäldchen zu. Verdammt. Rocky blieb nichts anderes übrig, als i h m zu Fuß zu folgen. Er senkte das Fernglas und schälte sich aus dem A u t o . Die Entfernung zu Lawson betrug noch immer siebzig, achtzig Meter. Rocky hatte nicht vor, diesen Abstand zu verringern. Er kauerte nieder und spähte erneut durch das Fernglas. Lawson war stehen geblieben. Er drehte sich um und ... Was sollte das denn? Rocky schwenkte m i t dem Fernglas nach rechts. Links v o n Lawson stand plötzlich ein M a n n . Rocky k n i f f die Augen zusammen. Der Typ trug einen Drillichanzug. Er war verhältnismäßig klein und kräftig, perfekt gebaut. Sieht aus, als würde er m i t Gewichten trainieren, überlegte Rocky. Der Kerl sah aus wie ein Chinese oder so was, stand stockstill da, absolut bewegungslos. Zumindest für ein paar Sekunden. D a n n hob der Chinese fast unmerklich den A r m und legte m i t beinah liebevoller Sanftheit seine H a n d auf Lawsons Schulter. Einen flüchtigen Augenblick lang dachte Rocky, dass er zufällig Zeuge eines Schulen-Treffs wäre. Irrtum. Kompletter Irrtum. Jack Lawson sackte zu Boden wie eine Marionette, deren Schnüre man durchtrennt hatte. Rocky unterdrückte ein Keuchen. Der Chinese starrte auf die zusammengesunkene Gestalt h i nab. Dann beugte er sich über Lawson und zog i h n am Nacken wieder in die Höhe. Als packe er einen Hundewelpen im Nackenfell. Verdammt, schoss es Rocky durch den Kopf. Das sollte er lieber melden. M i t auffälliger Lässigkeit machte sich der Asiate daran, Lawson zu seinem Wagen zu bugsieren. U n d zwar allein m i t einer Hand. So als wöge Lawson n i c h t mehr als eine Aktentasche. Rocky griff nach seinem Handy.
Mist, er hatte es im A u t o liegen gelassen. W i e auch immer. Rocky zwang sich, nachzudenken. Der Wagen des Chinesen. Ein Honda Accord. Nummernschild aus New Jersey. Rocky versuchte, sich das Kennzeichen einzuprägen. Er beobachtete, wie der Chinese den Kofferraum öffnete. Dann stopfte er Lawson hinein wie einen Sack Wäsche. Großer Gott, und was jetzt? Rockys Anweisungen waren eindeutig. A u f keinen Fall aktiv werden. Wie oft hatte er das gehört? Was auch immer passiert, Sie bleiben ein passiver Beobachter. Mehr nicht. Rocky schwankte. Sollte er einfach nur die Verfolgung aufnehmen? Keine Chance. Jack Lawson steckte in dem Kofferraum. Rocky kannte den M a n n nicht. Er hatte keine A h n u n g , weshalb er i h n beschatten sollte; hatte angenommen, es sei die übliche Geschichte - seine Frau verdächtige ihn, eine Affäre zu haben. Das war eine Sache. Beschatten und Beweise für einen Seitensprung sammeln. Aber das ... ? Lawson war tätlich angegriffen worden. U n d verdammt noch mal, dieser muskelbepackte Jackie-Chan-Verschnitt hatte i h n in einen Kofferraum gesperrt. Sollte Rocky dem einfach tatenlos zusehen? Nein! Was Rocky sich auch immer hatte zuschulden kommen lassen, was auch immer aus i h m geworden war, das ließ er nicht auf sich sitzen. Angenommen der Chinese hängte i h n ab Angenommen es gab nicht genügend Sauerstoff im Kofferraum ... Angenommen Lawson war bereits schwer verletzt und lag im Sterben ... Rocky musste etwas unternehmen. Sollte er die Polizei rufen? Der Chinese knallte die Kofferraumklappe zu. Er ging zur Fahrertür.
Zu spät für Telefonanrufe. Er musste handeln. U n d zwar jetzt. Rocky war noch immer einen Meter neunzig groß, hundertdreißig K i l o schwer und durchtrainiert. Er war ein Profi-Kämpfer. K e i n Show-Boxer. K e i n windiger Wrestler, der faulen Zauber veranstaltete. Er war ein echter Kämpfer. Er hatte keine Waffe, aber er wusste sich zu wehren. Rocky rannte auf den Wagen zu. »Hey!«, schrie er. »Hey, Sie da! Bleiben Sie stehen!« Der Chinese - beim Näherkommen sah Rocky, dass er kaum älter als M i t t e zwanzig sein konnte - hob den Kopf. Er verzog keine Miene. Starrte nur auf den rennenden Rocky. Bewegte sich nicht. Versuchte gar nicht, in den Wagen zu steigen und davon zu fahren. Wartete geduldig. »Hey!« Das Schlitzauge rührte sich nicht vom Fleck. Rocky blieb in knapp einem Meter Entfernung vor i h m stehen. Ihre Blicke trafen sich. Rocky gefiel nicht, was er sah. Er hatte gegen einige echte Fanatiker Football gespielt. Er war beim U l t i m a te-Fighting gegen ausgebuffte Sado-Masos angetreten. Er hatte astreinen Psychopathen in die Augen gesehen - Typen, die sich daran aufgeilten, andere zu verletzen. Das war nichts Vergleichbares. Hier starrte man in die Augen ... einer seelenlosen Hülle. In diesem Blick war weder Furcht noch Gnade oder gar Vernunft. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte der chinesische Junge. »Ich habe alles gesehen ... Lassen Sie den M a n n aus dem Kofferraum.« Der Bursche nickte. »Aber selbstverständlich.« Sein Blick wanderte in Richtung Kofferraum. Rocky folgte i h m . U n d in diesem Augenblick schlug Eric Wu zu. Rocky sah den Schlag nicht einmal kommen. Wu duckte sich, ließ die Hüften kreisen, um Schwung zu holen, und versenkte seine Faust in Rockys Nieren. Rocky hatte schon so manchen Schlag eingesteckt. Männer, doppelt so groß und schwer wie er,
hatten i h m Nierenhaken verpasst. Aber nichts und niemand hatte i h n je so hart getroffen. Die Faust des Chinesen hatte die W u c h t eines Dampfhammers. Rocky schnappte nach Luft, blieb jedoch auf den Beinen. Wu bewegte sich auf i h n zu. Im nächsten M o m e n t fühlte Rocky einen harten, spitzen Gegenstand in seiner Leber. Fühlte sich wie ein Grillspieß an. Der Schmerz explodierte durch i h n hindurch. Rockys M u n d öffnete sich, doch kein Schrei wollte entweichen. Er ging zu Boden. Wu sank neben i h m auf die Knie. Das Letzte, das Rocky sah - das Letzte, das er je sehen sollte - war Eric Wus Gesicht, seine ruhige, beinah heitere Miene, während er seine Finger unter Rockys Brustkasten gleiten ließ. Lorraine, dachte Rocky. U n d dann nichts mehr.
5 Grace ertappte sich m i t t e n in einem Schrei. Sie fuhr hoch. Im Flur brannte noch immer Licht. Im Türrahmen stand eine Gestalt. Aber es war nicht Jack. Sie wachte noch immer nach Luft schnappend auf. Ein Traum. So viel wusste sie. Irgendwo im Unterbewusstsein war das nach der Hälfte klar gewesen. Der Traum war nicht neu. Sie hatte i h n schon häufig geträumt, doch das war lange her. Muss der bevorstehende Jahrestag sein, dachte sie. Sie versuchte sich wieder zurückzuversetzen. Es ging nicht. Der Traum begann und endete stets auf die gleiche A r t und Weise. Variationen gab es nur in der M i t t e . Im Traum war Grace wieder im alten Boston Garden Stadion. Die Bühne lag unmittelbar vor ihr. Da war ein Absperrgitter aus Stahl, niedrig, vielleicht hüfthoch, ein Gestell wie ein Fahrradständer. Sie lehnte sich dagegen. Aus dem Lautsprecher drang der Song »Pale I n k « , was nicht
sein konnte, da das Konzert n o c h gar n i c h t angefangen hatte. »Pale Ink« war der große H i t der Jimmy-X-Band, die meistverkaufte Single des Jahres. Im Radio wurde er n o c h immer häufig gespielt. Damals jedoch hörte sie i h n live, n i c h t aus der K o n serve. Sah man diesen Traum wie einen Film an, dann war »Pale Ink« so etwas wie der Soundtrack dazu. Stand Todd Woodcroft, ihr damaliger Freund, neben ihr? Gelegentlich bildete sie sich ein, seine H a n d zu halten - obwohl sie beide nie das Händchen haltende Paar gewesen waren - und dann, als plötzlich alles schief ging, überwältigte sie das niederschmetternde Gefühl, wie ihr seine H a n d entglitt. Todd war verm u t l i c h neben ihr gewesen. Im Traum geschah das nur manchmal. Diesmal, n e i n diesmal war er n i c h t bei ihr gewesen. Todd war in jener Nacht unversehrt davongekommen. Sie hatte i h m nie die Schuld an dem gegeben, was ihr zugestoßen war. Er hätte nichts t u n können. Sie hatten eine College-Romanze gehabt, die bereits zu Ende gewesen war, waren keine verwandten Seelen gewesen. U n d wer wollte schon in diesem Stadium eine Szene riskieren? Wer wollte schon m i t einem Mädchen Schluss machen, das im Krankenhaus lag? War besser für beide gewesen, die Sache einfach im Sande verlaufen zu lassen, dachte sie. Im Traum wusste Grace stets, dass eine Katastrophe bevorstand, ohne dass sie aktiv etwas dagegen unternommen hätte. Ihr Traum-Ich rief den anderen keine Warnung zu oder versuchte, zum Ausgang zu gelangen. Sie fragte sich häufig, warum das so war. Aber lag das nicht in der Natur der Träume? M a n ist trotz besseren Wissens machtlos, Sklave einer bestimmten Weichenstellung des Unterbewusstseins. Vielleicht ist die A n t w o r t auch simpler: Es war keine Zeit dazu. Im Traum n i m m t die Tragödie in wenigen Sekunden ihren Lauf. In W i r k l i c h k e i t hatten Grace und all die anderen nach Zeugenaussagen mehr als vier Stunden vor dieser Bühne gestanden. Die Stimmung der Menge war v o n erwartungsvoller Span-
nung erst in Unruhe, dann in Ungeduld und schließlich in offene Feindseligkeit umgeschlagen. Der A u f t r i t t v o n Jimmy X, m i t richtigem Namen James Xavier Farmington, der großartige Rockmusiker m i t der unglaublichen Haarmähne, war für 20 U h r 30 angekündigt, doch niemand rechnete m i t seinem Erscheinen vor 21 Uhr. Schließlich war es kurz vor Mitternacht, ohne dass sich etwas ereignet hätte. Zuerst hatte die Menge Jimmys Namen skandiert. D a n n waren erste Buhrufe gekommen. Sechzehntausend Menschen, einschließlich derer, die, wie Grace, das G l ü c k gehabt hatten, Plätze direkt vor der Bühne zu ergattern, forderten wie auf Kommando gemeinsam seinen A u f t r i t t . Zehn M i n u ten verstrichen, bevor die Lautsprecher m i t Informationen aufwarteten. Die Menge, die sich erneut in einen Zustand hitziger Erregung versetzt hatte, schrie und kreischte. Doch die Stimme aus dem Lautsprecher kündigte n i c h t die heiß ersehnte Band an. Stattdessen gab man lakonisch bekannt, dass sich der A u f t r i t t erneut um mindestens eine Stunde verzögern würde. Ohne jede Erklärung. Niemand rührte sich. Im Stadium herrschte urplötzlich Stille. Das war immer der Augenblick, in dem der Traum einsetzte, exakt während der Stille vor dem Sturm. Grace war wieder m i t tendrin. W i e alt war sie damals? Einundzwanzig. Doch im Traum schien sie älter zu sein. Im Traum war sie eine andere, parallele Persönlichkeit v o n Grace, eine, die m i t Jack verheiratet und Mutter v o n Emma und Max war und dennoch dieses Konzert während ihres letzten Jahres am College besuchte. Danach lief alles ab, wie es in Träumen so üblich ist, in jener doppelbödigen Realität, in der das parallele I c h m i t dem zeitgemäßen I c h eine Teilmenge bildet. Entstammte all das, entstammten diese Traum-Sequenzen i h rem Unterbewusstsein oder wurden sie v o n Informationen gespeist, die sie später über die Tragödie erhalten hatte? Grace wusste es nicht. Es war, wie sie längst annahm, vermutlich eine
Kombination aus beidem. Träume öffnen Türen für Erinnerungen. Im Wachzustand vermochte sie sich nie an die Ereignisse jener N a c h t - ja n i c h t einmal an die Tage unmittelbar davor - zu erinnern. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, dass sie für die Abschlussprüfung in Politologie gelernt hatte, die wenige Tage davor stattgefunden hatte. Die Ärzte hatten ihr versichert, dies sei eine normale Folge eines Schädeltraumas, wie sie es erlitten hatte. Doch das Unterbewusstsein ist ein seltsames Medium. Vielleicht waren diese Träume durchaus reale Erinnerungen. Vielleicht waren sie aber auch nur Einbildung. Wahrscheinlich war es wiederum eine Mischung aus beidem. W i e dem auch war, ob es ihrem Gedächtnis oder den Zeitungsberichten entsprang, in exakt diesem Augenblick jedenfalls wurde ein Schuss abgefeuert. Dann noch einer. U n d wieder einer. Das alles geschah zu einer Zeit, in der sich das Publikum v o n Großveranstaltungen noch nicht eine Überprüfung m i t Metalldetektoren gefallen lassen musste. Jeder hätte eine Waffe bei sich tragen können. N o c h wochenlang danach war diskutiert worden, woher diese Schüsse gekommen sein könnten. Fans v o n Verschwörungstheorien hatten über diesen Punkt gestritten, als handle es sich um eine ganz normale Grundsatzdiskussion. Jedenfalls geriet die bereits aufgebrachte Menge v o n Jugendlichen endgültig in wilde Panik. Sie kreischten. Sie drehten durch. Sie drängten zu den Ausgängen. Sie stürmten die Bühne. Grace war zur falschen Zeit am falschen O r t . Sie wurde m i t der Hüfte gegen die obere Stange der Stahlabsperrung geworfen. Diese drückte sich in ihren Magen. Sie konnte sich n i c h t befreien. Die Menge kreischte und wogte geschlossen vorwärts. Der Junge neben ihr - sie sollte später erfahren, dass er der neunzehnjährige Ryan Vespa war - konnte sich n i c h t rechtzeitig m i t den Händen schützen. Er wurde in einem für i h n tödlichen W i n k e l gegen den Stahlträger geschleudert.
Grace sah - wiederum war n i c h t klar, ob im Traum oder in W i r k l i c h k e i t -, wie Blut in einer Fontäne aus Ryans M u n d schoss. Die Absperrung gab schließlich nach. Er kippte um. Grace fiel zu Boden. Sie versuchte sich aufzurappeln, auf die Beine zu kommen, doch die anstürmenden Wellen kreischender Menschen rissen sie immer wieder zu Boden. Der folgende Teil, das wusste sie, war W i r k l i c h k e i t . Das Erlebnis, unter einer Menschenmenge begraben zu sein, verfolgte sie n i c h t nur in ihren Träumen. Über ihr ging die panische Flucht weiter. Sie trampelten über sie hinweg. Traten ihr auf A r m e und Beine. Stolperten und stürzten, schlugen schwer wie Betonplatten auf sie nieder. Das Gewicht wurde immer erdrückender. Sie fühlte sich platt gedrückt wie eine Flunder. Unzählige verzweifelte, strauchelnde, sich vorwärts kämpfende Leiber donnerten über sie hinweg. Die Luft war erfüllt v o n Schreien. Grace lag mittlerweile ganz unten. Lebendig begraben. Um sie herum nur Dunkelheit. Zu viele Körper stapelten sich auf ihr. Sie konnte sich nicht bewegen. N i c h t atmen. Sie bekam keine Luft mehr. Es war, als habe jemand Beton über sie gegossen. Als würde sie unter Wasser gezogen. Ein unerträgliches Gewicht lastete auf ihr. Es war ein Gefühl, als drücke die Hand eines Riesen ihren Kopf in die Erde und zermalme ihren Schädel, als wäre er aus Styropor. Es gab kein Entrinnen. Das war gnädigerweise der Punkt, an dem der Traum endete. Grace wachte auf. N o c h immer nach A t e m ringend. In W i r k l i c h k e i t war Grace erst vier Tage später aus ihrer Bewusstlosigkeit aufgewacht und konnte sich an fast nichts mehr erinnern. Zuerst glaubte sie, es sei der Morgen ihrer Abschlussprüfung in Politologie. Die Ärzte nahmen sich Zeit, erklärten ihr die Situation. Sie war schwer verletzt. Sie hatte einen Schädelbasisbruch erlitten. Das, so nahmen die Ärzte an, erklärte Kopf-
schmerzen und Gedächtnisverlust. Sie l i t t n i c h t an Amnesie. Sie hatte nichts verdrängt. Eine psychosomatische Ursache wurde ausgeschlossen. Das Gehirn hatte Schaden genommen, was bei einem schweren Schädeltrauma und folgender Bewusstlosigkeit nichts Ungewöhnliches ist. Es war normal, dass man die Erinnerung an Stunden, ja sogar an mehrere Tage verlor. Grace hatte außerdem einen Oberschenkel-, einen Schienbein- und drei Rippenbrüche erlitten. A u c h die Kniescheibe war gebrochen. Eine Hüfte war ausgerenkt. Durch einen Nebel v o n Schmerzmitteln begriff sie schließlich, dass sie »Glück« im Unglück gehabt hatte. Achtzehn junge Leute im A l t e r v o n vierzehn bis sechsundzwanzig Jahren hatten bei der Katastrophe, die die Medien das »Massaker v o n Boston« nannten, ihr Leben verloren. Die Gestalt im Türrahmen sagte: »Mom?« Es war Emma. »Hallo, Liebes.« »Du hast geschrien.« » M i r geht's gut. A u c h M ü t t e r haben manchmal Albträume.« Emma blieb im Lichtschatten. »Wo ist Daddy?« Grace warf einen Blick auf die U h r auf dem Nachttisch. Es war 4 U h r 45. W i e lange hatte sie geschlafen? Kaum mehr als zehn, fünfzehn M i n u t e n . »Er kommt bald wieder.« Emma rührte sich nicht. »Alles in Ordnung m i t dir?«, fragte Grace. »Kann ich bei dir schlafen?« Eine N a c h t voller schlechter Träume, dachte Grace. Sie schlug die Decke zurück. »Na klar, Schätzchen.« Emma kroch auf Jacks Seite des Bettes. Grace warf die Decke wieder über sie und hielt sie fest im A r m . Unverwandt starrte sie auf die Nachttischuhr. In dem Moment, als der kleine Zeiger v o n 6 U h r 59 auf 7 U h r sprang, gestattete sie es sich, Panik zuzulassen. Jack hatte noch nie zuvor so etwas gemacht. An einem normalen A b e n d wäre er zu ihr gekommen und hätte gesagt, er
wolle noch einkaufen gehen. Hätte er irgendeine plumpe Anzüglichkeit v o n sich gegeben, etwas über Melonen oder Bananen, irgendetwas Lustiges und Blödsinniges gesagt, dann hätte sie längst die Polizei angerufen. Doch der vergangene A b e n d war nicht normal gewesen. Da war dieses Foto. Seine Reaktion. U n d kein Abschiedskuss. Emma begann sich neben ihr zu räkeln. Wenige M i n u t e n später tauchte Max auf und rieb sich die Augen. Normalerweise machte Jack das Frühstück. Er war der Frühaufsteher. Grace schaffte es m i t Mühe, das Frühstück - Crunchys m i t Bananen - auf den Tisch zu bringen, und beantwortete ausweichend die Fragen der Kinder nach der Abwesenheit ihres Vaters. Während die Kinder ihr Müsli hinunterschlangen, verschwand sie im Arbeitszimmer und rief in Jacks Büro an. Niemand meldete sich. Es war noch zu früh. Sie streifte eines v o n Jacks Adidas-Sweatshirts über und brachte die Kinder zur Schulbushaltestelle. Emma hatte sie früher stets umarmt, bevor sie in den Bus gestiegen war, aber dafür war sie mittlerweile zu alt. Sie war längst im Bus, bevor Grace eine typisch elternhafte Bemerkung darüber machen konnte, dass sie sich offenbar n i c h t zu erwachsen vorkam, nachts zur Mutter ins Bett zu schlüpfen, wenn sie sich ängstigte. M a x umarmte sie zwar noch, aber das geschah schnell und ohne offensichtliche Begeisterung. Zischend schlossen sich die Bustüren hinter ihnen zu, als hätte der Bus sie m i t einem lauten Happ verschlungen. Grace hob die Hand gegen die Sonne und sah dem Bus nach, bis er in die Bryden Road einbog. Selbst jetzt, nach all der Zeit, hatte sie das Bedürfnis, in den Wagen zu steigen und hinterher zu fahren, um sicherzugehen, dass diese offenbar so klapprige M ü h l e aus gelbem Blech es heil bis zur Schule schaffte. Was war m i t Jack geschehen? Sie machte sich auf den Rückweg zum Haus. Im letzten M o ment überlegte sie es sich anders, sprintete zu ihrem Wagen und fuhr davon. Grace holte den Bus auf der Heights Road ein und
folgte i h m den Rest des Weges zur Willard-Schule. Dort parkte sie und beobachtete, wie die Kinder ausstiegen. Als Emma und Max gebeugt unter dem Gewicht der schweren Schulranzen auftauchten, fühlte sie das vertraute Kribbeln in der Magengegend. Sie saß im Wagen und sah zu, wie die beiden über den H o f und die Treppe hinauf gingen und im Eingangsportal verschwanden. U n d dann kamen Grace zum ersten M a l seit sehr langer Zeit die Tränen.
* Grace hatte Cops in Z i v i l erwartet. U n d zwar im Doppelpack. So jedenfalls lief das im Fernsehen ab. Der eine war das altgediente Raubein. Der andere war jung und gut aussehend. So viel zur Wirklichkeitstreue v o n Fernsehfilmen. Die Polizei hatte ihr einen Verkehrspolizisten in entsprechender U n i f o r m und Streifenwagen geschickt. Er stellte sich als Officer Daley vor. Er war tatsächlich jung, sehr jung sogar, m i t unreiner Haut und einem speckigen Kindergesicht. Seine Muskeln schien er im Fitness-Studio erworben zu haben. Die kurzen Hemdsärmel spannten sich wie Aderpressen über seinem aufgeblähten Bizeps. Officer Daley artikulierte mit aufreizender Geduld im monotonen Jargon des Vorstadt-Cops, als spräche er zu einer Klasse von Erstklässlern bei der Fahrradprüfung. Zehn M i n u t e n nach ihrem A n r u f bei der Polizei tauchte er bei ihr auf. Normalerweise, so hatte sie der Dienst habende Beamte am Telefon aufgeklärt, müsse sie aufs Revier kommen und e i n Formular ausfüllen. Aber da Officer Daley zufällig in der Gegend wäre, könnte dieser kurz bei ihr vorbeischauen. So ein Glück! Daley zog ein A4 Blatt aus der Tasche und legte es auf den Couchtisch. Er drückte die M i n e aus dem Kugelschreiber und begann Fragen zu stellen. »Name der vermissten Person?« »John Lawson. Rufname Jack.«
Er kam zur nächsten Spalte. »Adresse und Telefonnummer?« Sie nannte i h m beide. »Geburtsort?« »Los Angeles, Kalifornien.« Anschließend forderte er Angaben zu Jacks Körpergröße, Gesicht, Augen und Haarfarbe und - man höre und staune - seinem Geschlecht. Er fragte, ob Jack möglicherweise Narben, Tätowierungen oder sonstige Kennzeichen hätte. U n d er erkundigte sich, wo er sich ihrer Ansicht nach befinden könnte. »Keine A h n u n g « , sagte Grace. »Deshalb habe ich Sie ja angerufen.« Officer Daley nickte. »Ich nehme an, Ihr Ehemann ist volljährig?« »Wie bitte?« »Er ist doch vermutlich über achtzehn, oder?«
»Ja.« »Das erschwert die Sache.« »Warum?« » W i r haben neue Vorschriften bei Vermisstenanzeigen. Sind erst vor ein paar Wochen in Kraft getreten.« »Ich verstehe nicht ganz.« Er seufzte melodramatisch. »Also, damit wir die Daten einer Person in den Computer eingeben können, müssen gewisse K r i terien erfüllt sein.« Daley zog ein weiteres Blatt Papier aus der Tasche. »Ist Ihr M a n n behindert?« »Nein.« »Gefährdet?« »Was meinen Sie damit?« Daley las v o m Blatt ab. »>Eine volljährige Person, die vermisst w i r d und sich in Gesellschaft einer zweiten Person befindet, womit unter Umständen der Verdacht gegeben ist, dass seine/ihre physische Sicherheit in Gefahr sein könnte.<«
»Keine A h n u n g . Das habe i c h doch schon gesagt. Er ist gestern A b e n d aus dem Haus ...« »In diesem Fall können wir das m i t einem >Nein< beantworten.« Er überflog das Formular. »Nummer drei. Unfreiwillig. W i e zum Beispiel bei Menschenraub oder Entführung.« »Weiß ich auch nicht.« »Gut. N u m m e r vier. Katastrophenopfer. Zum Beispiel im Fall einer Feuersbrunst oder eines Flugzeugabsturzes.« »Nein.« » U n d die letzte Kategorie. Handelt es sich um einen Jugendlichen? Aber das hatten wir ja schon.« Er ließ das Formular sinken. »Das wär's. W i r können die Daten n i c h t eingeben, solange keines dieser Kriterien erfüllt ist.« »Wenn also jemand auf diese Weise verschwindet, dann unternehmen Sie nichts?« »So würde i c h das n i c h t sagen.« »Wie würden Sie es denn sagen?« » W i r haben keinerlei Hinweise darauf, dass ein Verbrechen vorliegt. Sollte sich das ändern, werden wir unverzüglich Ermittlungen aufnehmen.« »Aber vorerst t u n Sie gar nichts?« Daley legte den Kugelschreiber beiseite. Er beugte sich vor. Seine Unterarme ruhten auf den Oberschenkeln. Er atmete schwer. »Darf ich ganz offen sprechen, Mrs. Lawson?« »Ich bitte Sie darum.« »In den meisten dieser Fälle - nein, ich würde schätzen, in 99 Prozent der Fälle - hat sich der Ehemann einfach nur aus dem Staub gemacht. Eheprobleme, eine Geliebte ... Es gibt viele Gründe, weshalb ein Ehemann manchmal n i c h t gefunden werden möchte.« »Das trifft in diesem Fall n i c h t zu.« Er nickte. » U n d in 99 Prozent der Fälle kriegen wir genau das v o n der Ehefrau zu hören.«
Der herablassende Ton ging ihr allmählich auf die Nerven. Grace zögerte, sich diesem Grünschnabel anzuvertrauen. Sie hatte Informationen zurückgehalten, da die Wahrheit ihr wie Verrat vorgekommen wäre. U n d außerdem - wie mochte die ganze Wahrheit in den Ohren v o n Fremden klingen? Tja, also ich habe da dieses komische Foto aus dem Fotolabor mitten unter den Abzügen meines Films über die Apfelernte in Chester gefunden, und mein Mann hat gesagt, er sei das nicht. Aber das ist schwer zu beurteilen, denn das Foto ist alt und dann hat Jack das Haus verlassen ... »Mrs. Lawson?« »Ja bitte?« »Verstehen Sie, was ich Ihnen gesagt habe?« »Ich denke schon. Sie finden, ich reagiere hysterisch. M e i n M a n n ist mir davongelaufen. U n d jetzt missbrauche ich die Polizei dazu, i h n mir zurückzuholen. So nach dem Muster läuft das doch, oder?« Daley ließ sich nicht beirren. »Bitte begreifen Sie doch. W i r können erst ermitteln, wenn wir Hinweise auf ein Verbrechen haben. Das sind die Vorschriften vom NCIC.« Er deutete erneut auf das Formular und fügte betont ernst hinzu: »Das ist das N a t i onal Crime Information Center.« Sie hätte beinahe m i t den Augen gerollt. »Auch wenn wir Ihren M a n n finden, könnten wir Ihnen seinen Aufenthaltsort n i c h t mitteilen. W i r leben in einem freien Land. Er ist volljährig. W i r können i h n nicht zwingen, zurückzukommen.« »Dessen b i n ich mir bewusst.« »Wir können natürlich ein paar Anrufe tätigen, vielleicht ein paar diskrete Nachforschungen anstellen.« »Na großartig!« »Wir brauchen die Automarke und das Kennzeichen.« »Er fährt einen Ford Windstar.«
»Farbe?« »Dunkelblau.« »Baujahr?« Grace musste passen. »Kennzeichen?« »Fängt m i t einem M an.« Officer Daley sah auf. Grace kam sich wie eine I d i o t i n vor. »Ich habe eine Kopie des Kraftfahrzeugscheins oben«, beeilte sie sich zu sagen. »Ich kann nachsehen.« »Benutzen Sie Kreditkarten an den Mautstellen?«
»Ja.« Officer Daley nickte und notierte sich das. Grace lief in den ersten Stock hinauf und fand die A u t o - A k t e . Sie machte m i t i h rem Scanner eine Kopie des Kraftfahrzeugscheins und übergab diesen Daley. Er schrieb etwas auf. Er stellte einige Fragen. Sie hielt sich an die Tatsachen: Jack war aus dem Büro nach Hause gekommen, hatte geholfen, die Kinder ins Bett zu bringen, war fortgefahren, vermutlich, um Lebensmittel einzukaufen ... u n d nicht zurückgekommen. N a c h gut fünf M i n u t e n schien Daley zufrieden zu sein. Er lächelte und sagte, sie solle sich keine Sorgen machen. Sie starrte i h n nur schweigend an. »Wir melden uns in ein paar Stunden wieder bei Ihnen. Falls wir bis dahin nichts hören, unterhalten wir uns weiter.« Damit ging er. Grace rief erneut in Jacks Büro an. Es meldete sich noch immer niemand. Sie sah auf die Uhr. Es war fast zehn Uhr. Der Fotoladen musste jetzt öffnen. Gut. Sie hatte einige Fragen an Josh, den Sauerkrautbart.
6 Charlaine Swain schlüpfte in ihre nagelneue, online bestellte Reizwäsche - ein Spitzen-Babydoll m i t passendem G-String und öffnete die Jalousie ihres Schlafzimmerfensters. Etwas stimmte nicht. Es war Donnerstag. Donnerstag 10 U h r 30. Charlaines Kinder waren in der Schule. Ihr M a n n M i k e saß mittlerweile an seinem Schreibtisch in der City, das Telefon zwischen O h r und Schulter geklemmt, die Finger damit beschäftigt, die Hemdsärmel rauf und runter zu krempeln, den täglich strammer sitzenden Hemdkragen zu lockern, und zu stolz, sich die Notwendigkeit einzugestehen, zur nächsthöheren Hemdgröße übergehen zu müssen. Ihr Nachbar, ein unappetitlicher Sonderling namens Freddy Sykes, müsste erfahrungsgemäß zu Hause sein. Charlaine warf einen Blick in den Spiegel. Das kam nicht oft vor. Sie musste ja nicht ständig daran erinnert werden, dass sie die vierzig überschritten hatte. Was ihr aus dem Spiegel entgegensah, war noch immer recht passabel, wie sie fand, wobei das leichte Stützkorsett unter dem Babydoll half - aber ihre einst drallen, fraulichen und kurvenreichen Formen waren schlaffer und konturloser geworden. O h , selbstverständlich absolvierte Charlaine ein Fitnessprogramm. Sie machte Yoga - Yoga war jetzt in - an drei Vormittagen der Woche. Sie hielt sich fit, kämpfte gegen das offensichtlich Unvermeidliche und hielt auch noch streng daran fest, während ihr einiges andere bereits entglitt. Was war m i t ihr geschehen? Lassen wir die rein physische Komponente für einen M o m e n t beiseite. Die junge Charlaine Swain war ein Energiebündel gewesen. Unbändige Lebensgier hatte sie ausgezeichnet. Sie war ehrgeizig, eine Draufgängerin gewesen. A l l e hatten das gesagt. Charlaine hatte immer Glamour verbreitet, ein Knistern in der
Luft, aber irgendwann und irgendwie hatte das Leben - das tägliche Einerlei - all das aufgefressen. Waren die Kinder daran schuld? War es Mike? Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er nicht genug v o n ihr bekommen k ö n nen, waren bei ihrem A n b l i c k in einem solchen Aufzug seine Augen groß und sein M u n d wässrig geworden. W e n n sie jetzt an i h m vorbei paradierte, erntete sie kaum einen Blick. W a n n hatte das angefangen? E i n exakter Zeitpunkt war nicht feststellbar. Sie wusste, es war ein allmählicher Prozess gewesen, die Veränderungen hatten sich schleichend, kaum merklich vollzogen, bis, ja bis es irgendwann ein fait accompli geworden war. Aber es war n i c h t alles nur seine Schuld. Soviel war ihr klar. Ihr Elan war nach den Schwangerschaften, Stillzeiten und durch die Aufmerksamkeit beanspruchenden Kinder aufgezehrt worden. Ein natürlicher Vorgang, nahm sie an. A l l e machten diese Entwicklung durch. Dennoch bedauerte sie es, sich n i c h t stärker dagegen gewehrt zu haben, bevor diese schleichenden Veränderungen zu Apathie und Resignation geronnen waren. Geblieben waren ihr die Erinnerungen. M i k e hatte sie stets umworben. Hatte sie überrascht. Hatte sich nach ihr verzehrt. Es mochte brutal klingen, doch er hatte sie nach allen Regeln der Kunst durchgefickt, sich auf sie gestürzt, sie geradezu überfallen. Mittlerweile war er mehr auf Effizienz bedacht, auf einen mechanischen, präzise ablaufenden Vorgang - Dunkelheit, Stöhnen, Befriedigung, Schlaf. Bei ihren Gesprächen drehte sich alles um die Kinder - Stundenplan, A b h o l e n , Hausaufgaben, Zahnarzttermine, Sportveranstaltungen, Spielverabredungen. Aber auch das war n i c h t allein Mikes Schuld. Bei Charlaines Kaffeekränzchen m i t den Nachbarinnen - den Treffen bei Starbucks - waren die Unterhaltungen derart mühsam, langweilig, v o n Kinderkram überfrachtet, dass sie hätte schreien mögen.
Charlaine hatte das Gefühl zu ersticken. Ihre Mutter - K ö n i g i n seichter Country-Club-Kränzchen erklärte ihr, das Leben sei n u n mal so, Charlaine habe alles, was sich eine Frau wünschen könne, ihre Erwartungen gingen schlicht an der Realität vorbei. Das Deprimierendste dabei war, dass Charlaine befürchtete, ihre Mutter hätte Recht. Sie prüfte ihr Make-up. Zog die Lippen nach, legte etwas mehr Rouge auf, lehnte sich zurück und betrachtete sich eingehend. Sie sah aus wie eine Dirne. Sie griff nach der Packung Percodan, dem mittäglichen Cocktail-Ersatz für Mütter, und schluckte ihre Dosis. Dann betrachtete sie ihr Spiegelbild genauer, aus zusammengekniffenen Augen. Blitzte die alte Charlaine vielleicht noch irgendwo durch? Sie dachte an die Frau, die zwei Blocks weiter gewohnt hatte, wie Charlaine eine nette, zweifache Mutter. Vor zwei Monaten war diese nette, zweifache Mutter zur Bahnlinie nach Glen Rock gegangen und hatte sich vor den 11 -Uhr-10-Zug der Bergen-Line geworfen. Schreckliche Geschichte. Wochenlang hatte es kein anderes Gesprächsthema gegeben. W i e hatte diese nette, zweifache Mutter nur einfach ihre Kinder im Stich lassen können? Wie hatte sie nur so selbstsüchtig sein können! Dennoch hatte Charlaine beim Smalltalk der Vorstadtmütter so etwas wie N e i d gespürt. Für diese nette Mutter war es vorbei. Es musste wie eine Erlösung sein. Wo blieb Freddy? Charlaine freute sich tatsächlich auf diese Donnerstage um zehn Uhr, und vielleicht war das das Niederschmetterndste überhaupt. A u f Freddys heimliche Spannerei hatte sie anfänglich m i t Ekel und W u t reagiert. W a n n und wie war es dazu gekommen, dass sie es zuerst unbewusst geduldet hatte und inzwischen, G o t t möge ihr verzeihen, als aufreizend erregendes Erlebnis genoss? N e i n , dachte sie. Erregung war das nicht. Es war ... Es passierte einfach etwas. Das war alles. Ein Lichtblick. Zumindest mal ein
Gefühl.
Sie wartete darauf, dass seine Jalousie endlich hochging. Nichts geschah. Seltsam. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, fiel ihr ein, dass Freddy Sykes seine Jalousien normalerweise nie herunterließ. Ihre Häuser lagen Rückseite an Rückseite, so dass nur sie sich in die Fenster sehen konnten. Freddy schloss nie die Jalousien an der Rückseite. Also warum jetzt? Ihr Blick schweifte zu den übrigen Fenstern. Sämtliche Jalousien waren geschlossen. Merkwürdig. A u c h die Vorhänge des Zimmers, hinter dem sie sein Arbeitszimmer vermutete - sie hatte nie einen Fuß in das Haus gesetzt - waren zugezogen. War Freddy verreist? War er fort? Charlaine erblickte flüchtig ihr Spiegelbild im Fenster, und wieder überkam sie die Scham. Sie griff sich einen Bademantel den abgewetzten Frotteemantel ihres Mannes - und schlüpfte h i nein. Sie fragte sich, ob M i k e eine Affäre hatte, ob eine andere Frau dieses einst unersättliche sexuelle Verlangen abschöpfte oder ob er schlicht das Interesse an ihr verloren hatte. Sie überlegte, was schlimmer wäre. Wo war Freddy? W i e erniedrigend, wie vernichtend und jämmerlich es doch war, dass ihr diese vormittägliche Eskapade so viel bedeutete. Sie starrte zu seinem Haus hinüber. Da bewegte sich etwas. Kaum merklich. E i n Schatten, der flackernd über die Längsseite einer Jalousie glitt. U n d dennoch - da tat sich etwas. V i e l leicht, ja vielleicht spannte Freddy w i r k l i c h wieder, steigerte auf diese Weise seine Erregung noch. Ja, das könnte der G r u n d sein. Die meisten Spanner geilten sich gerade an der Heimlichkeit i h rer Tat auf. Möglicherweise wollte er nicht v o n ihr gesehen werden. Möglicherweise beobachtete er sie gerade in diesem M o ment ganz verstohlen. War das der Grund?
Sie lockerte den Gürtel des Bademantels und ließ i h n über die Schultern zu Boden gleiten. Der Frotteestoff roch nach Männerschweiß und uralten Resten des Eau de Cologne, das sie M i k e vor sieben oder acht Jahren gekauft hatte. Plötzlich brannten Tränen in Charlaines Augen. Doch sie wandte sich nicht ab. Dann erschien m i t einem M a l etwas zwischen den Lamellen der Jalousien. Ein Flackern? Bläulich? Sie blinzelte. Was sollte das sein? Das Fernglas. Wo war das Fernglas? M i k e hatte einen Karton m i t unnützem Zeug in seinem Schrank. Sie fand i h n , wühlte sich durch die zahllosen Elektrostecker und Adapter, bis sie das LeicaFernglas zutage förderte. Sie erinnerte sich gut, wann sie es gekauft hatten. Es war auf ihrer Kreuzfahrt in der Karibik gewesen. Sie hatten auf einer der V i r g i n Islands angelegt - auf welcher, hatte sie vergessen - und es war ein ganz spontaner Kauf gewesen. Deshalb erinnerte sie sich. Wegen der Spontaneität dieser so prosaischen Handlung. Charlaine hob das Fernglas an die Augen. Es hatte Autofokus, so dass sie es nicht einstellen brauchte. Es dauerte einen M o ment, bis sie den schmalen Spalt zwischen Fenster und Jalousie gefunden hatte. Der blaue Punkt war da. Sie sah das Flackern und schloss die Augen. Sie hätte es wissen müssen. Der Fernseher. Freddy hatte den Fernseher eingeschaltet. Er war zu Hause. Charlaine verharrte bewegungslos auf ihrem Platz. Sie war wie betäubt. Ihr Sohn Clay hörte gern einen Song aus dem Film Shrek über einen Burschen, der m i t den Fingern ein V auf seiner Stirn formte. Versager. Genau das war Freddy Sykes. Dieser kranke, unappetitliche Freddy, dieser Versager, zog doch tatsächlich eine Fernsehsendung ihrem nackten Körper in Reizwäsche vor. Trotzdem. Merkwürdig war es schon. Sämtliche Jalousien waren heruntergelassen. Warum? Sie wohnte seit acht Jahren neben dem Sykes'schen Haus. Sogar zu
Lebzeiten v o n Freddys Mutter waren die Jalousien und Vorhänge nie geschlossen worden. Charlaine blickte erneut durch das Fernglas. Der Fernseher wurde plötzlich ausgestellt. Sie wartete ab, was geschehen würde. Freddy hat sich in der Zeit vertan, dachte sie. Gleich würde die Jalousie geöffnet werden. Ihr perverses Ritual würde beginnen. Doch dem war nicht so. Charlaine hörte das leise Surren und wusste gleichzeitig, was es bedeutete. Freddys elektronisch gesteuertes Garagentor war in Bewegung gesetzt worden. Sie trat näher ans Fenster. Ein A u t o m o t o r heulte auf, und dann holperte Freddys schrottreifer Honda aus der Garage. Das Sonnenlicht spiegelte sich in der Windschutzscheibe. Geblendet kniff sie kurz die Augen zu, hob schützend eine Hand gegen das grelle Licht. Der Wagen fuhr weiter, und der gleißende Widerschein erstarb. Sie konnte die Person am Steuer jetzt erkennen. Das war n i c h t Freddy. Eine A r t U r i n s t i n k t veranlasste Charlaine, sich automatisch zu ducken. Sie fiel auf die Knie und kroch zu Mikes Bademantel. Sie drückte den Frotteestoff an sich. Der Geruch - diese M i schung aus M i k e und abgestandenem Rasierwasser - erschien ihr plötzlich seltsam beruhigend. Charlaine glitt zur Fensterseite. M i t dem Rücken zur Wand spähte sie hinaus. Der Honda Accord war stehen geblieben. Der Fahrer - ein asiatisch aussehender M a n n - starrte zu ihrem Fenster hinauf. Charlaine presste sich m i t dem Rücken flach gegen die Wand. Sie bewegte sich nicht und hielt den A t e m an. So blieb sie, bis sie hörte, wie der Wagen erneut anfuhr. U n d dann, nur um auf Nummer sicher zu gehen, hielt sie sich noch weitere zehn M i n u ten hinter der Fensterecke verborgen.
A l s sie schließlich wieder aus dem Fenster sah, war das A u t o verschwunden. Im Nachbarhaus rührte sich absolut nichts mehr.
7 Grace erreichte um Punkt 10 U h r 15 das Fotogeschäft. Josh, m i t dem Sauerkrautbart, war nicht da. Genau genommen war überhaupt niemand da. A u f einem Schild in der Ladentür, das vermutlich seit dem vergangenen A b e n d dort hing, stand geschlossen. Grace studierte die Öffnungszeiten. Geöffnet v o n 10-18 Uhr. Sie wartete. Um 10 U h r 20 entdeckte die erste K u n d i n , eine gehetzt wirkende Frau M i t t e dreißig, das Schild geschlossen, studierte die Öffnungszeiten und rüttelte an der K l i n k e . Sie stöhnte übertrieben auf. Grace zuckte bedauernd m i t den Schultern. Die junge Frau eilte davon. Grace wartete. A l s das Geschäft um 10 U h r 30 noch immer nicht geöffnet wurde, wusste Grace, dass das ein schlechtes Zeichen sein musste. Sie beschloss, erneut in Jacks Büro anzurufen. Diesmal schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Es war unheimlich, Jacks allzu förmliche Stimme auf der Ansage zu hören. Diesmal versuchte sie es bei Dans Nummer. Immerhin hatten die beiden Männer am Vorabend telefoniert. Vielleicht konnte Dan m i t einer Erklärung aufwarten. Sie wählte seine Büronummer.
»Hallo?« »Hallo, Dan. I c h bin's, Grace.« »Hey!«, ertönte es am anderen Ende einen Tick zu enthusiastisch. »Ich wollte dich gerade anrufen.« »Aha?« »Wo steckt Jack?«
»Keine Ahnung.« Er zögerte. »Was heißt, du hast keine A h n u n g ... ?« »Du hast i h n doch gestern A b e n d angerufen, stimmt's?«
»Ja.« »Worüber habt ihr gesprochen?« »Über die Phenomytol-Testreihen. W i r sollen sie heute Nachmittag präsentieren.« »Und nichts weiter?« »Wie meinst du das? W i e nichts weiter?« »Worüber habt ihr sonst noch gesprochen?« »Über gar nichts. Ich wollte i h n wegen eines Dias was fragen. Wieso? Was ist denn los, Grace?« »Er ist gleich danach fortgefahren.« »Einfach so?« » U n d seither nicht wieder aufgetaucht.« »Moment! Was soll das heißen?« »Ganz einfach, dass er n i c h t mehr nach Hause gekommen ist und auch n i c h t angerufen hat. I c h habe keine A h n u n g , wo er steckt.« »Großer Gott! Hast du die Polizei benachrichtigt?« »Ja.« »Und?« »Und nichts.« »Du meine Güte! I c h mache hier Schluss. B i n gleich bei dir.« »Nein«, wehrte sie ab. »Mir geht's gut.« »Sicher?« »Ganz sicher. I c h muss noch was erledigen«, sagte sie lahm. Sie nahm den Hörer ans andere Ohr, unsicher, wie sie sich ausdrücken sollte. »War m i t Jack alles in Ordnung?« »Du meinst im Büro?« »Ich meine ganz allgemein.« »Ja, natürlich. Er ist, wie er ist. Du kennst ihn.« »Dir ist nichts aufgefallen? Keine Veränderung?«
»Wir waren beide im Stress. Wegen dieser Testreihe. W e n n du das meinst. Aber das ist nichts Ungewöhnliches. Grace, soll ich w i r k l i c h n i c h t kommen?« In ihrem Handy ertönte ein Piepton. »Ich muss jetzt auflegen, Dan. Da ist ein A n r u f auf der anderen Leitung.« »Ist vermutlich Jack. Ruf m i c h an, wenn du was brauchst.« Grace schaltete um und starrte auf die neue Nummer auf dem Display. Es war n i c h t Jack. Zumindest rief er nicht m i t seinem Handy an. Die Nummer war unbekannt. »Hallo?« »Mrs. Lawson? Officer Daley hier. Haben Sie Nachricht v o n Ihrem Mann?« »Nein.« »Wir konnten Sie zu Hause n i c h t erreichen.« »Stimmt. I c h b i n unterwegs.« Es folgte eine kurze Pause. »Wo sind Sie?« »In der Stadt.« »Wo in der Stadt?« »Beim Fotoladen.« Diesmal war die Pause noch länger. »Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber finden Sie das in Ordnung? Ich meine, rumzufahren, wenn Sie sich doch Sorgen wegen Ihrem M a n n machen?« »Officer Daley?«
»Ja bitte?« »Es gibt da eine neue Erfindung. Die heißt Handy. Sie zum Beispiel rufen m i c h gerade auf meinem Handy an.« »Ich wollte n i c h t . . . « »Haben Sie etwas herausgefunden? Über meinen Mann?« »Deshalb rufe ich an. M e i n Captain ist jetzt da. Er möchte gern selbst m i t Ihnen sprechen.« »Haben Sie Neuigkeiten?« »Nein. Jedenfalls nichts Besorgniserregendes.« »Was heißt das?«
»Captain Perlmutter und ich brauchen nur noch weitere I n formationen, Mrs. Lawson.« E i n weiterer Kunde des Fotoladens, eine frisch Blondierte in Graces Alter, näherte sich dem leeren Geschäft. Sie legte die Hände um die A u g e n und spähte ins Innere. A u c h sie runzelte die Stirn und ging dann ärgerlich wieder davon. »Sind Sie beide jetzt auf dem Revier?« »So ist es.« »Ich b i n in drei M i n u t e n bei Ihnen.«
* »Seit wann leben Sie und Ihr M a n n in der Stadt?«, fragte Captain Perlmutter. Sie saßen gedrängt in einem Raum, der eher dem Kabuff eines Hausmeisters ähnelte als dem Büro des Polizeichefs einer K l e i n stadt. Die Cops v o n Kasselton hatten ihr Revier in die ehemalige Stadtbibliothek verlegt, einem historischen und traditionsreichen Gebäude m i t wenig Komfort. Captain Stu Perlmutter saß hinter seinem Schreibtisch. Er lehnte sich bei der ersten Frage zurück und verschränkte die Hände über dem Bauchansatz. Officer Daley lehnte im Türrahmen und versuchte entspannte A t mosphäre zu verbreiten. »Vier Jahre«, antwortete Grace. »Und, gefällt's Ihnen?« »Jedenfalls ist es nicht schlecht hier.« »Wie schön.« Perlmutter lächelte wohlwollend. »Und Sie haben Kinder?«
»Ja.« »Wie alt?« » A c h t und sechs.« » A c h t und sechs«, wiederholte er m i t einem verträumten Lächeln. »Ein großartiges Alter. Keine Babys mehr und noch keine Teenager.«
Grace wartete ab. »Mrs. Lawson, ist Ihr M a n n schon irgendwann früher mal einfach so verschwunden?« »Nein.« »Was ist m i t Eheproblemen?« »Nichts. G i b t es nicht.« Perlmutter musterte sie skeptisch. »Alles perfekt, was?« Er schien sich ein Zwinkern zu verkneifen. Grace sagte nichts. »Wie haben Sie Ihren M a n n kennen gelernt?« »Wie bitte?« »Ich habe gefragt...« »Was tut das jetzt zur Sache?« »Ich versuche nur, mir ein B i l d zu machen.« »Ein B i l d wovon? Haben Sie etwas herausbekommen?« »Bitte!« Perlmutter versuchte es mit einem Lächeln, das er offenbar für entwaffnend hielt. »Ich brauche Hintergrundinformationen. Einfach zur besseren Beurteilung. Also, wo haben Sie und Ihr M a n n sich kennen gelernt?« »In Frankreich.« Er notierte sich das. »Sie sind Künstlerin, Mrs. Lawson?«
»Ja.« »Dann haben Sie in Europa Kunst studiert?« »Captain Perlmutter ...« »Ja oder nein?« »Nehmen Sie mir's nicht übel, aber diese Fragen sind absurd.« Perlmutter sah Daley an. Der zuckte m i t den Schultern. »Vielleicht haben Sie Recht.« »Haben Sie etwas in Erfahrung gebracht?« »Schätze, Officer Daley hat Ihnen bereits erklärt, dass Ihr M a n n volljährig ist und wir daher nicht verpflichtet sind, Ihnen Auskunft zu geben.« »Ja, das hat er.«
»Gut. Jedenfalls glauben wir nicht, dass hier ein Verbrechen vorliegt. Falls Sie sich deshalb Sorgen machen.« »Weshalb sagen Sie das?« »Es gibt keinerlei Hinweise.« »Was bedeutet, dass Sie keine Blutspuren oder Ähnliches gefunden haben, oder?« »Richtig. Mehr noch ...« Perlmutter warf Daley erneut einen Blick zu. »... wir haben etwas in Erfahrung gebracht. Was wir I h n e n allerdings vermutlich n i c h t mitteilen dürften.« Grace richtete sich auf ihrem Stuhl auf. Sie versuchte Perlmutter direkt in die A u g e n zu blicken, doch er w i c h ihr aus. »Ich möchte herzlich gern erfahren, was Sie herausbekommen haben.« »Ist nicht viel«, sagte Perlmutter. Sie schwieg abwartend. »Officer Daley hat im Büro Ihres Mannes angerufen. Natürl i c h ist er n i c h t dort. Das wissen Sie vermutlich längst. Krank gemeldet hat er sich auch nicht. Deshalb haben wir beschlossen, ein paar Erkundigungen einzuziehen. Inoffiziell, versteht sich.«
»Sicher.« »Sie waren so nett, uns die N u m m e r Ihrer KFZ — Mautkarte zu nennen. W i r haben sie in den Computer eingegeben. Um wieviel Uhr, sagten Sie, hat Ihr M a n n gestern A b e n d das Haus verlassen?« »Gegen zehn.« » U n d Sie dachten, er sei zum Supermarkt gefahren?« »Keine A h n u n g . Er hat mir ja nichts gesagt.« »Er ist ohne ein W o r t fortgefahren?« »Richtig.« » U n d Sie haben i h n nicht gefragt, w o h i n er wollte?« »Ich war im ersten Stock. Habe nur gehört, wie der M o t o r seines Wagens ansprang.« »Gut. Also, Folgendes muss ich wissen.« Perlmutter nahm die
Hände v o n seinem Bauch. Sein Stuhl knarrte, als er sich vorbeugte. »Sie haben i h n auf seinem Handy angerufen. U n d zwar unmittelbar nachdem er fort war. Ist das richtig?«
»Ja.« »Tja, das ist das Problem. Weshalb hat er den A n r u f nicht angenommen? I c h meine, wenn er m i t Ihnen reden wollte.« Grace ahnte, w o h i n das führen sollte. »Meinen Sie, Ihr M a n n könnte, kurz nachdem er das Haus verlassen hatte, einen U n f a l l gehabt haben? Oder entführt worden sein?« Darüber hatte Grace, noch n i c h t nachgedacht. »Ich weiß nicht.« »Nehmen Sie je den New York Thruway?« Der Themenwechsel verunsicherte sie. »Nicht oft, aber ich b i n i h n schon gefahren.« »Sind Sie je im Woodbury Commons Einkaufszentrum gewesen?« »Meinen Sie das Einkaufszentrum m i t den Outlets?«
»Ja.« »Natürlich.« »Wie lange, glauben Sie, dauert die Fahrt dorthin?« »Eine halbe Stunde. Ist Jack d o r t h i n gefahren?« »Das bezweifle ich. N i c h t um diese Uhrzeit. Da sind alle Geschäfte geschlossen. Aber seine Mautkarte wurde an der Mautstelle der entsprechenden Ausfahrt um exakt 10 U h r 26 registriert. V o n dort gelangt man zur Route 17, und das ist für m i c h der schnellste Weg zu den Poconos. Geben wir Ihrem M a n n plus minus zehn M i n u t e n , dann hätte er in dieser Zeit Ihr gemeinsames Zuhause verlassen und geradewegs in diese Richtung fahren können. V o n da an ... tja, v o n da kann er überall hingefahren sein. Fünfzehn M i n u t e n dauert's v o n dort zur Interstate 80. U n d wenn's einem Spaß macht, kommt man v o n da direkt weiter nach Kalifornien.«
Grace saß einfach nur da. »Fassen wir zusammen, Mrs. Lawson. Ihr M a n n verlässt das Haus. Sie rufen i h n kurz darauf auf dem Handy an. Er meldet sich nicht. Eine halbe Stunde später ist er, wie wir wissen, in New York. Wäre er überfallen worden oder hätte einen U n f a l l gehabt, könnte unmöglich jemand m i t seiner Mautkarte in dieser kurzen Zeit an der Mautstelle gewesen sein. Verstehen Sie, was i c h dam i t sagen will?« Grace fing seinen B l i c k auf. »Dass i c h eine hysterische Zicke b i n , der der M a n n davongelaufen ist.« »Nein, das meine i c h überhaupt nicht. Es ist nur ... A l s o uns sind die Hände gebunden. Es sei denn ...« Er beugte sich näher. »Mrs. Lawson, fällt Ihnen vielleicht irgendetwas ein, das uns weiterhelfen könnte?« Grace versuchte keine Ausflüchte mehr. Sie sah sich u m . Officer Daley hatte sich n i c h t v o n der Stelle gerührt. Eine Kopie des fremden Fotos steckte in ihrer Handtasche. Sie dachte an Josh m i t dem Sauerkrautbart und dass der Fotoladen geschlossen geblieben war. Es war Zeit, der Polizei reinen W e i n einzuschenken. Im N a c h h i n e i n war ihr klar, dass sie es Daley schon beim ersten Gespräch hätte sagen müssen. »Bin n i c h t sicher, ob es überhaupt v o n Bedeutung ist«, begann sie und griff in ihre Handtasche. Sie zog die Fotokopie heraus und reichte sie Perlmutter. Perlmutter zückte eine Lesebrille und rückte sie zurecht. Daley trat zu ihnen und beugte sich über die Schulter des Captains. Grace erzählte, wie sie das Foto entdeckt hatte. Die beiden Polizisten starrten sie an, als habe sie sich gerade als Außerirdische zu erkennen gegeben. A l s Grace geendet hatte, deutete Perlmutter auf das Foto und sagte: » U n d Sie sind sicher, dass das da Ihr M a n n ist?« »Ich glaube es zumindest.« »Aber sicher sind Sie sich nicht?« »Ziemlich sicher.«
Er nickte ihr zu, als sei sie nicht ganz richtig im Kopf. » U n d die anderen Personen auf dem Foto? Die junge Dame, die jemand ausgestrichen hat?« »Die kenne ich alle nicht.« »Ihren M a n n dagegen erkennen Sie. Aber er hat abgestritten, auf dem Foto zu sein?« »So ist es.« »Also, falls er es nicht ist, h m , dann ist das unwichtig. W e n n er es aber doch ist« - Perlmutter nahm die Brille ab - »dann hat er Sie angelogen. Sehe ich das richtig, Mrs. Lawson?« Ihr Handy klingelte. Grace griff hastig danach und prüfte die Nummer. Es war Jack. Im ersten M o m e n t war sie wie gelähmt. Grace hätte sich am liebsten in eine Ecke verzogen, doch Perlmutter und Daley sahen sie beide an. Die Möglichkeit, sie zu bitten, ungestört telefonieren zu dürfen, bot sich in dieser Situation n i c h t w i r k l i c h . Sie drückte auf die grüne Taste und hob das Handy ans Ohr.
»Jack?« »Hey.« Der Klang seiner Stimme hätte sie m i t Erleichterung erfüllen müssen. Er tat es nicht. Jack sagte: »Ich habe versucht, dich zu Hause zu erreichen. Wo bist du?« »Wo ich bin?« »Hör mal. Ich kann nur kurz reden. Tut mir Leid, dass ich einfach so weggefahren bin.« Er war um Gelassenheit bemüht. Es gelang i h m nicht ganz. »Ich brauche ein paar Tage«, sagte er. » W o v o n redest du?« »Wo bist du, Grace?« »Ich b i n auf dem Polizeirevier.« »Du hast die Polizei eingeschaltet?«
Sie fing den Blick v o n Perlmutter auf. Er machte ihr ein Zeichen m i t dem Finger, der besagte Geben Sie mir das Telefon, Lady. Ich mach das schon. »Hör zu, Grace. G i b mir einfach ein paar Tage. I c h ...« Jack hielt inne. U n d dann sagte er etwas, das ihre Befürchtungen ins Unermessliche steigerte. »Ich brauche Abstand.« »Abstand«, wiederholte sie. »Ja, etwas Abstand. Das ist alles. Bitte sag der Polizei, dass es mir Leid tut. I c h muss jetzt auflegen. Okay? I c h melde m i c h bald wieder.«
»Jack?« Er antwortete nicht. »Ich liebe dich«, sagte Grace. Aber die Leitung war bereits tot.
8 Abstand. Jack hatte gesagt, er brauche Abstand. U n d daran stimmte einfach gar nichts. Abgesehen davon war »Abstand brauchen« eine dieser nichts sagenden, dämlichen, abgeschmackten New-Age-Redewendungen, die mehr als bedeutungslos waren - »Abstand brauchen« war eine miese Umschreibung für »Und Tschüss, ich verdrück mich«. Hätte ein Hinweis sein können, doch es reichte viel tiefer. Grace war inzwischen zu Hause. Sie hatte sich halbherzig bei Perlmutter und Daley entschuldigt. Die Polizisten hatten sie mitleidig angesehen und erklärt, das gehöre n u n mal zu ihrem Job. Es täte ihnen Leid. Grace hatte keine Miene verzogen und sich verabschiedet. Durch das Telefongespräch hatte sie eine entscheidende und wichtige Information erhalten. Jack war in Schwierigkeiten.
Sie hatte nicht überreagiert. Sein Verschwinden bedeutete nicht, dass er vor ihr oder aus Angst vor seiner Verantwortung davongelaufen war. Es war kein Unfall. Es war weder zu erwarten noch geplant gewesen. Sie hatte das Foto aus dem Fotoladen mitgebracht. Jack hatte es gesehen und das Haus umgehend verlassen. U n d jetzt steckte er ernsthaft in Schwierigkeiten. Der Polizei konnte sie das niemals begreiflich machen. Erstens würden sie ihr n i c h t glauben. Sie würden ihr unterstellen, sich das alles nur einzubilden oder rettungslos naiv zu sein. Vielleicht würden sie das nicht offen zeigen. Vielleicht würden sie einfach nur Nachsicht heucheln, was sowohl ärgerlich wäre als auch eine enorme Zeitverschwendung bedeutete. Vor dem A n r u f waren sie überzeugt gewesen, dass Jack sie verlassen hatte. Die Erklärung, die Grace zu bieten hatte, würde sie n i c h t umstimmen. U n d vielleicht war das auch besser so. Grace versuchte, zwischen den Zeilen zu lesen. Dass sie die Polizei eingeschaltet hatte, hatte Jack n i c h t gefallen. Das war offensichtlich. Das Bedauern in seiner Stimme war echt, n i c h t gespielt gewesen, als er erfahren hatte, dass sie auf dem Polizeirevier war. Abstand. Das war das entscheidende Stichwort. Hätte er ihr gesagt, er wolle ein paar Tage verreisen, Dampf ablassen, m i t einer Stripper i n durchbrennen, die er im Satin Dolls kennen gelernt hatte, okay, dann hätte sie i h m vielleicht n i c h t geglaubt, aber es hätte immerhin im Bereich des Möglichen gelegen. Jack hatte nichts dergleichen getan. Er war bezüglich der Gründe für sein Verschwinden eindeutig gewesen. Hatte sich in diesem Punkt sogar wiederholt. Jack brauchte Abstand. Eheliche Geheimsprache. A l l e Paare haben sie. Die meisten Begriffe waren reichlich dumm. In dem Billy-Crystal-Streifen Der letzte Komödiant kommt eine Szene vor, in der der K o m i ker, gespielt v o n Billy Crystal, auf einen alten Herrn m i t einem
scheußlichen Toupet deutet und sagt: »Ist das ein Haarteil? Also, was m i c h betrifft, mir hätten Sie das als echt verkaufen können.« W a n n immer Jack und sie einen M a n n entdeckten, der nach einem Haarteil aussah, sagte der eine »Also, was m i c h betrifft?«, und der andere antwortete dann zustimmend oder verneinend. Grace und Jack benutzten diesen Code »Also, was m i c h betrifft?« auch bei anderen Ausschweifungen der Eitelkeit wie Nasenkorrekturen, Brustimplantaten und so weiter. Der Ursprung v o n »brauche Abstand« war etwas gewagter, ja anzüglicher. Trotz ihrer gegenwärtigen misslichen Lage wurde Grace bei der Erinnerung daran u n w i l l k ü r l i c h rot. Sex war m i t Jack stets ausgezeichnet gewesen. D o c h auch in einer langjährigen Beziehung gibt es Höhen und Tiefen. Die Episode, um die es ging, lag zwei Jahre zurück, in einer Phase großer sexueller Kreativität. Sexueller Kreativität in quasi öffentlichen Situationen, um genauer zu sein. Da waren der Quickie in einer Umkleidekabine des luxuriösen Schönheitssalons, die Fummelei in der Loge eines saftigen Broadway Musicals. M i t t e n während einer besonders gewagten Nummer in der roten, pseudobritischen Telefonzelle in einer ruhigen Straße in Allendale, New York, hatte Jack plötzlich aufgekeucht »Ich brauche etwas Abstand«. Grace hatte zu i h m aufgesehen. »Wie bitte?« »Ich meine das wörtlich. Kannst du ein Stück rücken? Der Telefonhörer piekst m i c h in den Nacken.« Sie hatten beide gelacht. Grace schloss jetzt die Augen, ein Lächeln auf den Lippen. »Brauche Abstand« war somit Teil des geheimen Sprachcodes ihrer Ehe geworden. Jack würde diesen Ausdruck nie zufällig benutzen. Er gab ihr damit ein Zeichen, warnte sie, ließ sie wissen, dass er etwas sagte, was so n i c h t gemeint war. Alles schön und gut. Aber was meinte er wirklich? Jack konnte n i c h t frei sprechen, so viel war klar. Jemand hörte
zu. Wer? War jemand bei i h m ... oder hatte er Angst, weil sie bei der Polizei gewesen war? Sie hoffte, Letzteres. Dann war er allein und wollte einfach nur die Polizei raushalten. N a c h allem, was bisher passiert war, erschien ihr diese M ö g lichkeit allerdings unwahrscheinlich. W e n n Jack frei sprechen konnte, warum hatte er sie n i c h t wieder angerufen? Er konnte sich doch denken, dass sie inzwischen das Revier verlassen hatte. Wäre m i t i h m alles in Ordnung, wäre er allein, hätte Jack wieder angerufen, um ihr zu sagen, was los war. Aber genau das hatte er nicht getan. Daraus schloss sie, dass Jack n i c h t allein war und in ernsten Schwierigkeiten steckte. Was erwartete er v o n ihr? Dass sie reagierte oder dass sie sich ruhig verhielt? W i e sie Jack kannte - so wie sie wusste, dass er ihr ein Zeichen gegeben hatte -, so wusste auch Jack, dass Grace n i c h t passiv bleiben würde. Das entsprach n i c h t ihrem Charakter. Das wusste Jack. Sie würde versuchen, i h n zu finden. U n d wahrscheinlich zählte er darauf. N a t ü r l i c h waren das alles nur Mutmaßungen. Sie kannte ihren M a n n allzu gut - oder vielleicht auch nicht? -, also waren ihre Vermutungen keine bloße Einbildung. Aber wie viel davon traf zu? Rechtfertigte sie damit lediglich ihren Tatendrang? Das spielte keine Rolle. Sie steckte auf jeden Fall bereits m i t tendrin. Grace rekapitulierte, was sie bislang erfahren hatte. Jack hatte m i t dem Windstar den New York Thruway genommen. W e n kannten sie in dieser Richtung? Warum hatte er so spät abends noch diese Richtung eingeschlagen? Sie hatte keine A h n u n g . Moment mal. Zurück zum Anfang: Jack k o m m t nach Hause. Jack sieht das Foto. Damit kam alles ins Rollen. Das Foto. Er entdeckt es auf dem Küchentresen. Sie fängt an, i h m Fragen darüber zu stellen.
Er erhält einen A n r u f v o n Dan. U n d dann geht er in sein Arbeitszimmer ... H a l t ! Sein Arbeitszimmer. Grace lief den Flur entlang. Arbeitszimmer war eine reichlich übertriebene Bezeichnung für die umfunktionierte Veranda. An den Wänden bröckelte stellenweise der Putz. Im W i n t e r war es dort zugig, im Sommer stickig heiß. Hier gab es Fotos in billigen Rahmen v o n den Kindern und zwei ihrer Bilder in teureren Rahmen. Dieses so genannte Arbeitszimmer wirkte seltsam unpersönlich. Keinerlei Hinweise auf die Vergangenheit seines Bewohners - keine Erinnerungsstücke, kein v o n Freunden signierter Softball, k e i n Foto v o n einem Vierer auf dem Golfplatz. A u ßer einigen Werbegeschenken v o n Pharmafirmen - Kugelschreiber, Blöcke, Papierhalter - gab nichts Auskunft darüber, wer Jack, abgesehen v o n seiner Eigenschaft als Ehemann, Vater und Wissenschaftler, w i r k l i c h war. Möglicherweise war da ja auch n i c h t mehr. Grace war n i c h t w o h l in ihrer Haut. Sie kam sich wie eine Schnüfflerin vor. Der Respekt vor der Intimsphäre des jeweils anderen, dachte sie jetzt, hatte sie stark gemacht. Jeder von i h nen hatte einen Raum, der für den anderen tabu war. Grace hatte das stets als selbstverständlich empfunden. Ja, sogar als wohltuend. Jetzt musste sie sich fragen, ob es nicht einfach nur VogelStrauß-Politik gewesen war. Musste in Betracht ziehen, dass diesem Verhalten vielleicht n i c h t das Bedürfnis zu Grunde lag, Jack seinen Freiraum zu lassen, sondern die Befürchtung, in ein Wespennest zu stechen. Sein Computer war eingeschaltet und online. Jacks Startseite war die offizielle »Grace Lawson Website«. Grace starrte einen Moment auf den Stuhl, einen grauen Bürostuhl aus der örtlichen Staples Filiale, stellte sich Jack darauf vor, wie er jeden Morgen den Computer einschaltete und von ihrem Konterfei begrüßt wurde. Die Homepage zeigte eine gestylte Grace m i t einigen ihrer
Bilder. Farley, ihr Agent, hatte kürzlich darauf bestanden, dass sie dieses Foto sämtlichen verkaufsfördernden Unterlagen beifügte, da es, wie er es ausdrückte, »ein H i t « sei. Widerwillig hatte sie sich diesem Wunsch gefügt. A u f der Bühne und im Film lag die Bedeutung von Aussehen und Ausstrahlung auf der Hand. Selbst Schriftsteller warben mit geschönten Hochglanzfotos und dem glühenden Blick der literarischen Entdeckung des Jahrhunderts. Graces Welt, die Malerei, war bisher immun gegen diesen Druck der Ä u ßerlichkeiten gewesen, hatte die etwaige Schönheit des Künstlers oder der Künstlerin ignoriert - vielleicht weil das Physische in dieser Kunstform schon genug im Mittelpunkt stand. Diese Zeiten jedoch waren vorbei. Ein Künstler weiß die Bedeutung des Ästhetischen sehr w o h l zu schätzen. Ästhetische Gesichtspunkte bewirken mehr als nur eine Veränderung der Wahrnehmung. Sie verändern die W i r k lichkeit. Ein Beispiel dafür war die Tatsache, dass die TV-Teams nach dem Massaker v o n Boston niemals Graces Genesung so intensiv begleitet hätten, wäre sie dick und reizlos gewesen. Wäre sie physisch unansehnlich gewesen, wäre sie vermutlich nie in den Skandalblättern als »Wunder des Lebens«, »Unschuldsengel«, »Gebrochener Engel« bezeichnet worden. Ihr Bild war stets zusammen m i t den Nachrichten über ihre Genesung erschienen. Die Presse - nein, vielmehr das ganze Land - verlangte ständig über ihren Gesundheitszustand informiert zu werden. Die Familien der Opfer besuchten sie am Krankenbett, verbrachten Zeit m i t ihr, suchten in ihren Zügen nach den Schatten ihrer verlorenen Kinder. Hätten sie das auch getan, wenn sie hässlich gewesen wäre? Grace versagte sich weitere Spekulationen. Doch wie ein etwas zu ehrlicher Kunstkritiker einmal zu ihr gesagt hatte: »Wir interessieren uns kaum für Bilder ohne ästhetische Ausstrahlung - warum also sollte das bei Menschen anders sein?« Schon vor dem Massaker von Boston hatte Grace Kunstmale-
r i n werden wollen. Damals allerdings hatte ihr etwas gefehlt, etwas, das nur schwer zu definieren gewesen war. Erst durch die schicksalhafte Erfahrung hatte ihr künstlerisches Empfinden eine andere Dimension erreicht. Sie wusste natürlich, wie arrogant das klingen musste. Sie hatte Floskeln wie Du musst für deine Kunst leiden - Erst Tragödien verleihen künstlerischer Arbeit Struktur und Charakter stets abgelehnt. D o c h was ihr zuvor als hohles Geschwätz erschienen war, hatte mittlerweile eine gewisse Überzeugungskraft gewonnen. Ohne auf die Schonungslosigkeit zu verzichten, die von jeher typisch für ihre Arbeiten gewesen war, gewannen sie eine nie da gewesene Lebendigkeit des Ausdrucks. Ihre Bilder waren jetzt düsterer, voller aggressiver Energie. Die Betrachter fragten sich nicht selten, ob sie Szenen aus jener unheilvollen Nacht malte. Als A n t wort konnte lediglich ein Portrait dienen - das B i l d eines jungen Gesichts, das so voller Hoffnung und gleichzeitig von tiefer Enttäuschung überschattet schien. Die bittere Tatsache war, dass das Massaker von Boston alles überschattete, was sie tat und lebte. Grace sah auf Jacks Schreibtisch hinunter. Das Telefon stand zu ihrer Rechten. Sie griff danach, beschloss, das Naheliegendste zuerst zu tun: Die Wahlwiederholungstaste v o n Jacks Telefon zu drücken. Der Telefonapparat, ein neues M o d e l l v o n Panasonic, das sie in einem Radio-Shack-Store erworben hatte, verfügte über ein LCD-Display, das die jeweils letzte gewählte Nummer anzeigte. Die Vorwahl dieser Nummer lautete 212. Das war die Vorwahl für N e w York City. Sie wartete. N a c h dem dritten Klingelton meldete sich eine Frauenstimme: »Anwaltskanzlei Burton und Crimstein.« Grace wusste im ersten M o m e n t nicht, wie sie reagieren sollte. »Hallo?« »Hier spricht Grace Lawson.« » M i t wem darf i c h Sie verbinden?«
Gute Frage. »Wie viele A n w ä l t e arbeiten in dieser Kanzlei?« »Schwer zu sagen. Soll i c h Sie m i t einem unserer A n w ä l t e verbinden?« »Ja, bitte.« Am anderen Ende entstand eine Pause. Jetzt hatte die Stimme etwas Bemühtes. »Haben Sie jemand Bestimmten im Sinn?« Grace starrte wieder auf die Nummer auf dem Display. Es waren einfach zu viele Zahlen. Normalerweise kam man bei Ferngesprächen auf elf Zahlen. Die vorliegende Kombination bestand aus fünfzehn, einschließlich eines Sternchens. Sie überlegte. W e n n Jack diese Nummer angerufen hatte, dann musste es noch spät am Vorabend gewesen sein. Zu diesem Zeitpunkt waren Telefonzentralen n i c h t mehr besetzt. Jack hatte also die Sterntaste gedrückt und eine Durchwahlnummer gewählt. »Sind Sie noch da?« »Geben Sie mir den Anschluss vier-sechs-drei«, las Grace v o m Display ab. Das Rufzeichen ertönte dreimal. »Apparat Sandra Koval.« »Ich möchte Mrs. Koval sprechen.« »Wen darf ich melden?« »Grace Lawson.« » U n d worum geht es?« » U m meinen M a n n Jack.« »Augenblick bitte.« Grace umfasste den Hörer fester. Dreißig Sekunden später meldete sich die Stimme zurück. »Tut mir Leid, aber Mrs. Koval ist in einer Besprechung.« »Es ist dringend.« »Tut mir Leid ...« »Es dauert nicht lange. Richten Sie ihr aus, es sei sehr wichtig.« Der Seufzer am anderen Ende war deutlich hörbar. »Augenblick bitte.«
Die Pausenmusik klang nach indischen Yogarhythmen und wirkte unerwartet beruhigend. »Was kann ich für Sie tun?« Die Stimme klang geschäftsmäßig. »Mrs. Koval?«
»Ja.« »Ich b i n Grace Lawson.« »Was wollen Sie?« » M e i n M a n n , Jack Lawson, hat Sie gestern in Ihrem Büro angerufen.« Keine A n t w o r t . »Er ist verschwunden.« »Wie bitte?« »Mein M a n n ist verschwunden.« »Tut mir Leid, das zu hören. Aber ich begreife n i c h t . . . « »Wissen Sie, wo er ist, Mrs. Koval?« »Woher zum Teufel soll ich das wissen?« »Er hat gestern A b e n d m i t Ihnen telefoniert. Kurz bevor er verschwunden ist.« »Na und?« »Ich habe die Wahlwiederholung gedrückt. Daraufhin ist Ihre Nummer erschienen.« »Mrs. Lawson, diese Kanzlei beschäftigt mehr als zweihundert Juristen. Er könnte praktisch jeden angerufen haben.« »Nein. Er hat Ihren Anschluss gewählt. Soviel steht auf meinem Display. Er hat Sie angerufen.« Keine A n t w o r t . »Mrs. Koval?« »Ja bitte?« »Warum hat mein M a n n Sie angerufen?« »Ich habe Ihnen nichts zu sagen.« »Wissen Sie, wo er ist?« »Mrs. Lawson, haben Sie schon mal was v o n der anwaltlichen Schweigepflicht gehört?«
»Selbstverständlich.« Wieder herrschte Stille. »Soll das heißen, dass mein M a n n Sie um Rechtsbeistand gebeten hat?« »Ich kann über diese Angelegenheit n i c h t m i t Ihnen sprechen. A u f Wiederhören.«
9 Es dauerte nicht lange, bis Grace ein L i c h t aufging. Das Internet kann ein fabelhaftes Instrument sein, vorausgesetzt, man versteht, es zu nutzen. Grace hatte sich in das GoogleSuchprogramm eingewählt und den Begriff »Sandra Koval« eingegeben. Daraufhin erschien die Website der Kanzlei Burton & Crimstein m i t den Lebensläufen sämtlicher dort beschäftigter Juristen. Sandra Koval war Absolventin der Northwestern U n i versity. Ihren Doktor hatte sie an der U C L A gemacht. N a c h den Jahreszahlen der absolvierten Examen zu urteilen, musste Sandra Koval mittlerweile ungefähr 42 Jahre alt sein. Sie war m i t einem gewissen Harold Koval verheiratet. Sie hatten drei Kinder. Sie lebten in Los Angeles. Das war der Knackpunkt gewesen. Grace hatte weitere Nachforschungen angestellt, einige auf die altbewährte herkömmliche A r t : per Telefon. A l l m ä h l i c h fügten sich die Puzzleteile zusammen. N u r ergab das Bild keinen Sinn. Die Fahrt nach Manhattan hatte weniger als eine Stunde gedauert. Die Räume der Kanzlei Burton & Crimstein lagen im fünften Stock. Die Frau hinter der Empfangstheke war gleichzeitig Sicherheitsbedienstete und begrüßte sie m i t einem schmallippigen Lächeln. »Ja bitte?« »Grace Lawson. I c h möchte zu Sandra Koval.« Die Frau wählte eine Nummer und hauchte etwas kaum Ver-
nehmliches in den Hörer. Einen M o m e n t später sagte sie: »Mrs. Koval ist gleich bei Ihnen.« Das kam unerwartet. Grace hatte sich darauf eingestellt, entweder massiv drohen oder lange warten zu müssen. Sie wusste, wie Sandra Koval aussah. Die Website der Anwaltsfirma hatte auch ein Foto v o n ihr gezeigt. Hätte alles nichts gefruchtet, wäre Grace sogar bereit gewesen, der A n w ä l t i n beim Verlassen der Kanzlei aufzulauern. N a c h reiflicher Überlegung hatte Grace sich entschlossen, ohne Voranmeldung nach Manhattan zu fahren. Das Überraschungsmoment schien ihr wichtig, und sie wollte Sandra Koval Auge in Auge gegenübertreten. Ob aus einem inneren Bedürfnis heraus oder aus Neugier: Grace musste diese Frau einfach persönl i c h sehen. Es war noch früh am Tag. Emma war nach der Schule m i t einer Freundin verabredet. Max hatte Förderunterricht. Damit blieben ihr einige Stunden zur freien Verfügung. Der Empfangsbereich v o n Burton & Crimstein war konservativ europäisch eingerichtet - reichlich Mahagoni, tiefe Teppiche, Gobelinbezüge, eben jene Ausstattung, die bereits einen Vorgeschmack auf die Rechnung gibt - gepaart m i t einer Fotowand der VIPs, auf der hauptsächlich Hester Crimstein, die bekannte Fernseh Juristin, in Begleitung ganzer Heerscharen v o n Prominenten aus Film, Politik und Wirtschaft abgelichtet war. C r i m stein hatte eine Sendung im Gerichtskanal, die sinnigerweise Crimstein on Crime hieß. Grace betrachtete gerade ein B i l d v o n Hester Crimstein, das sie neben einer attraktiven Frau m i t olivenfarbener Haut zeigte, als eine Stimme hinter ihr sagte: »Das ist Esperanza Diaz. Eine Profi-Wrestlerin. Sie stand unter Mordanklage. Zu Unrecht natürlich.« Grace drehte sich um. »Little Pocahontas«, bemerkte sie. »Wie bitte?«
Grace deutete auf das Foto. »Ihr Künstlername als Wrestlerin. Little Pocahontas.« »Woher wissen Sie das?« Grace zuckte die Achseln. »Ich liebe diese kleinen Informationen am Rande.« Einen Moment starrte Grace Sandra Koval unverhohlen neugierig an. Schließlich räusperte sich die Anwältin und sah demonstrativ auf ihre Uhr. »Ich habe nicht viel Zeit. Bitte kommen Sie mit.« Wortlos gingen die beiden Frauen den Korridor entlang in ein Konferenzzimmer. Dort stand ein langer Tisch für gut zwanzig Personen. In der Mitte thronte eine dieser grauen Freisprechanlagen, die verdächtig wie ein gestrandeter Krake aussah. Auf einem Schränkchen in der Ecke stand eine Auswahl nicht-alkoholischer Getränke. Sandra Koval blieb reserviert. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, was Grace als Aufforderung deutete. »Ich habe mich über Sie erkundigt«, begann Grace. »Möchten Sie Platz nehmen?« »Nein.« »Was dagegen, wenn ich mich setze?« »Tun Sie sich keinen Zwang an.« »Was zu trinken?« »Nein danke.« Sandra Koval schenkte sich eine Diät-Cola ein. Sie war eine attraktive Frau, aber weder hübsch noch schön. Ihr Haar wurde bereits grau, was ihr durchaus stand. Sie war schlank, hatte volle Lippen. Dabei strahlte sie diese Mich-kann-niemand-Haltung aus, die Selbstsicherheit und Kampfbereitschaft signalisierte. »Warum sind wir nicht in Ihr Büro gegangen?«, fragte Grace. »Gefällt's Ihnen hier nicht?« »Ist mir einen Tick zu geräumig.« Sandra Koval zuckte die Schultern.
»Sie haben hier gar k e i n Büro, stimmt's?« »Wenn Sie meinen.« »Als ich anrief, meldete sich eine Frauenstimme m i t Apparat Sandra Koval.«
»Aha?« »Apparat hat sie gesagt. N i c h t Büro.« »Was ist daran so wichtig?« »Oberflächlich betrachtet, eigentlich nichts«, sagte Grace. »Aber ich habe m i c h über die Kanzlei im Internet informiert. Sie leben in Los Angeles. In der Nähe der Burton & Crimstein Filiale an der Westküste.« »Richtig.« »Dort ist Ihr Büro. Sie sind nur auf Besuch hier. Warum?« »Eine Strafsache«, antwortete sie. »Handelt sich um einen Unschuldigen, der zu Unrecht angeklagt ist.« »Sind sie das n i c h t alle?« »Nein«, sagte Sandra Koval bedächtig. »Nicht alle.« Grace trat einen Schritt näher. »Sie sind n i c h t Jacks A n w ä l tin«, erklärte sie. »Sie sind seine Schwester.« Sandra Koval starrte in ihr Glas. »Ich habe bei Ihrer Fakultät in der U n i angerufen. Dort wurde mir mein Verdacht bestätigt. Sandra Koval ist der Name, den Sie seit Ihrer Heirat führen. Die Frau, die dort ihr Juraexamen abgelegt hat, hieß Sandra Lawson. I c h habe daraufhin LawMar Securities überprüft. Das ist die Firma Ihres Großvaters. Sandra K o val w i r d dort als M i t g l i e d des Verwaltungsrats geführt.« Sandra Koval lächelte humorlos. »Sie sind ja ein richtiger Sherlock Holmes. So wie die Dinge liegen, können wir dann ja auch Du zueinander sagen.« »Also, wo ist er?«, fragte Grace. »Wie lange seid ihr beiden schon verheiratet?« »Zehn Jahre.« »Und wie oft hat Jack in all den Jahren v o n mir gesprochen?«
»So gut wie nie.« Sandra Koval spreizte die Finger. »Exakt. Woher sollte ich also wissen, wo er sich rumtreibt?« »Weil er dich angerufen hat.« »Behauptest du.« »Ich habe die Wahlwiederholung gedrückt.« »Richtig. Das hast du am Telefon schon erwähnt.« »Willst du mir weismachen, er hätte d i c h nicht angerufen?« »Wann soll dieser angebliche A n r u f denn stattgefunden haben?« »Der angebliche?« Sandra Koval zuckte m i t den Achseln. »Juristen-Angewohnheit.« »Gestern A b e n d . Gegen zehn.« »Na, da haben wir's schon. Um diese Uhrzeit b i n ich gar n i c h t mehr hier gewesen.« »Wo denn dann?« »In meinem Hotel.« »Aber Jack hat deine Nummer gewählt.« »Wenn dem so war, dann kann hier niemand abgehoben haben. N i c h t um diese Zeit. Er kann nur auf den Anrufbeantworter gesprochen haben.« »Hast du den heute abgehört?« »Natürlich. Keine Nachricht v o n Jack.« Grace überlegte. »Wann hast du das letzte M a l m i t Jack gesprochen?« »Das ist lange her.« »Wie lange?« Ihr Blick schweifte ab. »Wir haben uns n i c h t mehr gesehen, seit er damals nach Europa gegangen ist.« »Das ist fünfzehn Jahre her.« Sandra Koval trank einen Schluck. »Woher kannte er dann deine Telefonnummer?«
Keine A n t w o r t . »Sandra?« »Ihr lebt in Kasselton, N o r t h End Avenue 221. Habt zwei N u m m e r n . Eine Telefon- und eine Faxnummer.« Sandra kannte beide Zahlenkombinationen auswendig. Die beiden Frauen sahen sich an. »Aber du hast nie bei uns angerufen?« »Nie.« Die Freisprechanlage quiekte. »Sandra?«
»Ja?« »Hester erwartet dich in ihrem Büro.« »Bin schon unterwegs.« Sandra Koval riss sich v o n Graces Blick los. »Ich muss jetzt gehen.« »Warum hat Jack versucht, d i c h anzurufen?« »Keine Ahnung.« »Er steckt in Schwierigkeiten.« »Das sagst du.« »Er ist verschwunden.« » N i c h t zum ersten M a l , Grace.« Im Raum schien es plötzlich enger geworden zu sein. »Was ist zwischen dir und Jack vorgefallen?« »Steht m i r n i c h t zu, darüber zu sprechen.« »Das ist doch w o h l das Letzte!« Sandra rutschte unruhig auf ihrem Stuhl h i n und her. »Du sagst, er sei verschwunden?«
»Ja.« » U n d Jack hat n i c h t angerufen?« »Doch, das hat er.« Sie schien verwirrt. » U n d was hat er gesagt?« »Er brauche etwas Abstand. Aber das war n i c h t w ö r t l i c h gemeint. Es war ein Code.« Sandra zog eine Grimasse. Grace zückte das Foto und legte es auf den Tisch. Die Luft im Raum wurde knapp. Sandra Koval
senkte den Blick, und Grace merkte, wie sie innerlich zusammenzuckte. »Was zum Teufel soll das hier?« »Schon komisch«, bemerkte Grace. »Was ist komisch?« »Das waren genau Jacks Worte, als er das Foto gesehen hat.« Sandra starrte noch immer auf das Foto. »Das ist er doch, oder? Der in der M i t t e m i t dem Bart?«, fragte Grace. »Ich weiß nicht.« »Natürlich weißt du es. Wer ist die Blondine neben ihm?« Grace ließ die Vergrößerung der jungen Frau auf den Tisch flattern. Sandra Koval sah auf. »Woher hast du die?« »Aus dem Fotoladen.« Grace klärte sie auf. Sandra Kovals Miene verdüsterte sich. Sie glaubte ihr nicht. »Ist das Jack? Ja oder nein?« »Kann ich n i c h t sagen. Habe i h n nie m i t Bart gesehen.« »Warum wollte er dich anrufen? Unmittelbar nachdem er dieses Foto gesehen hatte ?« »Keine A h n u n g , Grace.« »Du lügst.« Sandra Koval stützte die Hände auf den Tisch und erhob sich. »Ich muss in eine Besprechung.« »Was ist m i t Jack passiert?« »Warum bist du so sicher, dass er dich n i c h t einfach verlassen hat?« » W i r sind verheiratet. W i r haben zwei Kinder. Du hast eine N i c h t e und einen Neffen, Sandra.« » U n d ich hatte einen Bruder«, konterte sie. »Vielleicht kennen w i r i h n beide n i c h t besonders gut.« »Liebst du deinen Bruder?« Sandra stand m i t hängenden Schultern einfach nur da. »Lassen wir das, Grace.«
»Das kann ich nicht.« Sandra schüttelte den Kopf und wandte sich zur Tür. »Ich finde ihn«, sagte Grace. »Verlass dich lieber nicht drauf.« Dann war sie gegangen.
10 Okay, dachte Charlaine. Kümmere dich um deinen eigenen Kram. Sie zog die Vorhänge zu und streifte wieder Jeans und Pullover über. Das Babydoll wanderte zurück in die unterste Schublade i h rer Kommode. Aus irgendeinem Grund nahm sie sich Zeit, es sorgfältig zu falten. A l s wenn Freddy merken würde, wenn es zerknittert war. Sie nahm eine Flasche Mineralwasser und gab etwas M u l t i vitaminsaft ihres Sohnes dazu. Charlaine setzte sich auf einen Hocker an ihren Küchenblock aus Marmor. Starrte in ihr Glas. M i t dem Finger malte sie Kreise auf die beschlagene Glaswand. Sie starrte auf die nagelneue Kühlkombination m i t der Türfront aus rostfreiem Stahl. Nichts klebte an der T ü r - keine Kinderbilder, keine Familienfotos, keine Fingerabdrücke, n i c h t einmal Magneten. A u f ihrem alten gelben Westinghaus-Kühlschrank war die ganze Front m i t solchen Dingen gepflastert gewesen. Es hatte Leben und Farbe in die Küche gebracht. Die neue Küche, die sie sich so sehnlich gewünscht hatte, war steril und kalt. Wer war der Asiate am Steuer v o n Freddys Wagen? N i c h t , dass sie Freddy hinterherspionierte. Aber er bekam sehr selten Besuch. Tatsächlich konnte sie sich n i c h t erinnern, je einen anderen Menschen bei i h m gesehen zu haben. Das bedeutete natürlich nicht, dass er nie Besuch gehabt hatte. Schließlich verbrachte sie ihre Tage n i c h t damit, sein Haus zu beobachten. Dennoch hatte eine Nachbarschaft ihre eigenen Rituale. Eine
Atmosphäre, wenn man so wollte. Eine Nachbarschaft ist eine lebendige Einheit, man fühlt, wenn etwas nicht stimmt. Die Eiswürfel in ihrem Glas begannen zu schmelzen. Charlaine hatte noch keinen Schluck getrunken. Sie musste einkaufen. Mikes Hemden lagen abholbereit in der Reinigung. Außerdem war sie m i t ihrer Freundin Myrna bei Baumgart in der Frankl i n Avenue zum L u n c h verabredet. Clay hatte nach der Schule bei Master K i m Karateunterricht. Sie ging im Geist die Liste der restlichen Besorgungen durch und versuchte eine Reihenfolge aufzustellen. Geistloses tägliches Einerlei. War vor dem Mittagessen noch Zeit, die Einkäufe nach Hause zu bringen? Vermutlich nicht. Die Tiefkühlwaren würden im A u t o zerfließen. Diese Einkäufe mussten also warten. Sie hielt inne. Zum Teufel damit! Freddy hätte mittlerweile bei der A r b e i t sein müssen. So jedenfalls lief es immer ab. Ihr perverses kleines Spiel dauerte v o n zehn bis zehn U h r dreißig. Gegen zehn U h r fünfundvierzig hörte Charlaine stets die Garagentür. D a n n beobachtete sie, wie sein Honda Accord herausfuhr. Freddy arbeitete, wie sie wusste, bei H & R Block. Die Firma lag in der gleichen langen Einkaufsstraße wie die Videothek, bei der sie ihre DVDs auslieh. Sein Schreibtisch stand dicht am Fenster. Sie vermied es, daran vorbeizugehen, aber an manchen Tagen blickte sie hinüber, wenn sie geparkt hatte, und sah dann Freddy, den Stift an den Lippen, in Gedanken versunken aus dem Fenster starren. Charlaine griff sich das Branchenbuch und wählte die N u m mer. Ein M a n n , der sich als der Geschäftsführer ausgab, sagte ihr, dass Mr. Sykes noch nicht da sei, jedoch jeden M o m e n t erwartet werde. Charlaine spielte die Verblüffte. »Er hat mir gesagt, ich könnte i h n um diese Zeit erreichen. K o m m t er denn nicht normalerweise um elf?« Der Geschäftsführer gab zu, dass dem so sei. »Und wo ist er jetzt? I c h brauche diese Zahlen. Dringend.«
Der Geschäftsführer entschuldigte sich und versicherte ihr, Mr. Sykes würde sie umgehend anrufen, sobald er in die Firma komme. Sie legte auf. Was nun? Da war was faul. Na und? Wer war schon Freddy Sykes? Ein Niemand. Eigentl i c h weniger als ein Niemand. Er war die ständige Erinnerung an ihre Schwächen. Er war ein Symptom dafür, wie erbärmlich sie geworden war. Sie schuldete i h m nichts. U n d vor allem, nur mal angenommen, man erwischte sie? Angenommen die Wahrheit kam ans Licht? Charlaine sah zu Freddys Haus hinüber. Was, wenn die Wahrheit ans L i c h t kam? Seltsamerweise kümmerte sie das kaum noch. Sie griff nach ihrem M a n t e l und lief zu Freddys Haus hinüber.
11 Eric Wu hatte die Frau in der Reizwäsche hinter dem Fenster gesehen. Wu hatte eine lange Nacht hinter sich. M i t Komplikationen hatte er nicht gerechnet. Der vierschrötige Ringertyp - seine Brieftasche wies i h n als Rocky Conwell aus - war zwar keine ernsthafte Bedrohung gewesen, doch dafür hatte Wu jetzt eine Leiche und ein überzähliges A u t o an der Backe, die er beide verschwinden lassen musste. Das bedeutete einen Extra-Trip zurück zum Central Valley, New York. Doch eins nach dem anderen. Er verstaute Rocky Conwell im Kofferraum seines Toyota Celica. D a n n verfrachtete er Jack Lawson, den er ursprünglich in den Kofferraum des Honda Accord gezwängt hatte, h i n t e n in den Ford Windstar. Sobald er seine Opfer verstaut hatte, wechselte Wu die A u t o -
kennzeichen aus, ließ die Maut-Dauerkarte verschwinden und fuhr den Ford Windstar zurück nach Ho-Ho-Kus. Er stellte den M i n i v a n in Freddy Sykes' Garage ab. Danach blieb i h m noch genügend Zeit, den Bus zurück ins Central Valley zu schaffen. Wu durchsuchte Conwells A u t o . Nachdem er sich vergewissert hatte, dass alle Spuren beseitigt waren, fuhr er den Toyota auf den Parkplatz an der Bushaltestelle an der Route 17. Er fand eine abgelegene Parklücke am Zaun. Ein Wagen, der Tage, ja sogar Wochen dort parkte, würde keinerlei Verdacht erregen. Letztendlich würde das der Gestank besorgen, doch das dauerte. Der Parkplatz an der Bushaltestelle war lediglich drei Meilen v o n Sykes' Haus in Ho-Ho-Kus entfernt. Wu ging zu Fuß zurück. Früh am nächsten Morgen stand er auf und nahm den Bus ins Central Valley. Dort holte er Sykes' Honda Accord ab. A u f der Rückfahrt machte er einen kurzen Umweg am Wohnhaus der Lawsons vorbei. In der Auffahrt stand ein Streifenwagen der Polizei. Wu überlegte. Das beunruhigte i h n zwar nicht, aber es schien i h m ratsam, das Interesse der Polizei sofort im Keim zu ersticken. Er wusste auch schon, wie. Wu fuhr zu Freddys Haus zurück und schaltete den Fernseher ein. Wu liebte die Tagesprogramme. Er genoss Sendungen wie Springer und Ricki Lake. Die meisten Leute hatten nur Verachtung dafür übrig. Wu nicht. N u r eine w i r k l i c h große N a t i o n , eine freie N a t i o n , konnte es sich leisten, diesen Blödsinn in den Ä t h e r zu senden. Davon abgesehen war Dummheit Wus Glück. Menschen waren wie Schafe. Je mehr Schwächen sie haben, desto stärker bist du. Was gab es Tröstlicheres oder Unterhaltsameres? Während einer Werbepause - das Thema der Talkshow lautete der mitlaufenden Nachrichtenzeile am unteren Bildrand zufolge »Mami ist dagegen, dass ich mir einen Ring durch die Brustwarze ziehen lasse!« - stand Wu auf. Es war Zeit, sich um das Polizei-Problem zu kümmern.
Wu sah keine Notwendigkeit, Jack Lawson weiter physisch zu foltern. Bei i h m genügte schon der Satz: »Ich weiß, dass Sie zwei Kinder haben.« Lawson kooperierte umgehend. Er rief seine Frau auf dem Handy an und sagte ihr, er brauche etwas Abstand. Um zehn U h r fünfundvierzig - während Wu zusah, wie eine Mutter und eine Tochter vor johlendem Publikum einen Ringkampf auf die Bretter legten - erreichte i h n der A n r u f eines ehemaligen Mithäftlings. »Alles okay?« Wu bejahte das. Er fuhr den Honda A c c o r d aus der Garage. Dabei entdeckte er die Frau aus dem Nachbarhaus hinter dem Fenster. Sie trug Reizwäsche. Wu hätte kaum einen Gedanken an die Szene verschwendet - eine Frau um zehn U h r morgens noch immer mehr als leicht geschürzt -, doch die A r t , wie sie sich plötzlich weggeduckt hatte .... Sicher, es hätte eine natürliche Reaktion sein können. Eine Frau läuft in ihrer Reizwäsche herum, vergisst, die Jalousien herunterzulassen, und entdeckt plötzlich einen fremden M a n n . Viele, wenn n i c h t die meisten, hätten sich sofort versteckt oder sich bedeckt. Hatte also nicht unbedingt etwas zu bedeuten. Doch die Frau hatte blitzartig, beinahe panisch reagiert. Mehr noch. Als der Wagen aus der Garage gefahren war, war sie zunächst stehen geblieben - hatte erst reagiert, als sie Wu erblickt hatte. W e n n sie Angst vor neugierigen Blicken gehabt hätte, wäre es da nicht naheliegender gewesen, sich sofort zu ducken oder die Jalousien herunterzulassen, als sie den Wagen gehört oder gesehen hatte? D e n ganzen Tag schon ging i h m das im Kopf herum. Er griff nach seinem Handy und drückte auf die Taste, m i t der er die Nummer des letzten Anrufers wählte. »Probleme?«, fragte eine Stimme.
»Ich glaube nicht.« Wu wendete den Wagen und fuhr zu Sykes' Haus zurück. »Aber ich verspäte m i c h vielleicht.«
12 Grace scheute diesen Anruf. Sie war noch in New York City. Es war gesetzlich verboten, während des Autofahrens m i t dem Handy zu telefonieren, es sei denn man hatte eine Freisprechanlage, aber das war nicht der Grund ihres Zögerns. Eine H a n d am Steuer, tastete sie m i t der anderen über den Boden des Wagens und bekam das Headset zu fassen. Irgendwie gelang es ihr, das Kabel zu entwirren und ins Handy zu stecken. U n d das sollte sicherer sein, als m i t dem Handy selbst zu telefonieren? Sie schaltete das Handy ein. O b w o h l Grace den Teilnehmer seit Jahren n i c h t angerufen hatte, war die Nummer noch immer eingespeichert. Für den Notfall, vermutete sie. So wie jetzt. Schon beim ersten Klingelton wurde abgenommen.
»Ja?« K e i n Name. K e i n Hallo. Keine Firmenbezeichnung. »Hier spricht Grace Lawson.« »Bleiben Sie dran.« Sie musste nicht lange warten. Zuerst hörte Grace ein sphärisches Rauschen, dann: »Grace?« »Hallo, Mr. Vespa.« »Bitte sagen Sie Carl zu mir.« »Also gut. Hallo, Carl.« »Sie haben meine Nachricht erhalten?«, fragte er. »Ja.« Sie verschwieg Carl Vespa, dass das nicht der Grund i h res Anrufs war. Die Rückkoppelung in der Leitung war deutlich zu hören. »Wo sind Sie?«
»In meinem Jet. W i r sind ungefähr eine Stunde vor Stewart.« Stewart war ein Luftwaffenstützpunkt eineinhalb Stunden v o n ihrem Zuhause entfernt. Schweigen. »Stimmt was nicht, Grace?« »Sie haben gesagt, ich könnte jederzeit anrufen, falls ich mal was brauche.« » U n d das ist jetzt, nach fünfzehn Jahren, der Fall?« »Ich glaube schon.« »Gut. Der Zeitpunkt könnte besser n i c h t sein. Da gibt es etwas, das i c h I h n e n zeigen möchte.« »Und das wäre?« »Sind Sie zu Hause?« »Bald wieder, ja.« »Ich hole Sie in zwei oder zweieinhalb Stunden ab. Dann k ö n nen wir reden, okay? Haben Sie jemanden für die Kinder?« »Das sollte sich einrichten lassen.« »Wenn nicht, bleibt mein Assistent bei ihnen. Bis dann!« Carl Vespa legte auf. Grace fuhr weiter. Sie fragte sich, was er w o h l m i t ihr vorhatte. Sie fragte sich, ob es überhaupt klug gewesen war, i h n anzurufen. Sie wählte die erste Nummer im Verzeichnis der gespeicherten Telefonnummern - Jacks Handy -, doch es war noch immer abgeschaltet. Grace kam eine andere Idee. Sie rief ihre Menage-nein-dankeFreundin Cora an. »Hast du dich nicht mal m i t einem Typ getroffen, der Spezialist für Spam-Mail ist?«, fragte Grace. »Richtig«, antwortete Cora. »Beknackter Typ namens Gus. Schwer abzuschütteln. Musste erst schweres Geschütz auffahren.« »Wie soll i c h das verstehen?« »Ich habe i h m gesagt, seine so genannte M ä n n l i c h k e i t wäre ein Witz.«
»Ups.«
»War ein Volltreffer. Funktioniert eigentlich immer. A l l e r dings häufig nicht ohne Kollateralschäden.« »Könnte sein, dass ich seine Hilfe brauche.« »Inwiefern?« Grace wusste nicht, wie sie das ausdrücken sollte. Sie beschloss, sich auf die Blondine m i t dem X zu konzentrieren, die ihr irgendwie bekannt vorkam. »Ich habe so ein Foto gefunden . . . « , begann sie. »Aha.« » M i t einer Frau drauf. Sie ist so ungefähr um die zwanzig.« »Hm.« »Es ist ein altes Foto. Würde sagen, fünfzehn, zwanzig Jahre alt. Jedenfalls muss ich wissen, wer das Mädchen ist. I c h dachte - vielleicht kann ich es über Spam-Mail ins Netz stellen - und fragen, ob jemand sie kennt - sagen wir im Rahmen eines Forschungsprojekts. Natürlich löschen die meisten diese unerwünschten E-Mails, aber wenn nur ein paar anbeißen, kriege ich vielleicht eine A n t w o r t . « »Wenig wahrscheinlich.« »Ja, ich weiß.« »Lockt bestimmt die gruseligsten Kreaturen aus ihren Löchern. V o n den A n t w o r t e n ganz zu schweigen!« »Hast du eine bessere Idee?« »Nicht w i r k l i c h . Aber ich könnte dran arbeiten. Ist dir übrigens aufgefallen, dass ich dich gar nicht gefragt habe, warum dich eine Frau auf einem zwanzig Jahre alten Foto so brennend interessiert?« »Doch, ist es.« »Wollte es nur mal erwähnt haben.« »Ist mir nicht entgangen. Ist eine lange Geschichte.« »Ich kann zuhören.« »Vielleicht später. Im M o m e n t brauche ich jemanden, der für ein paar Stunden meine Kinder hütet.«
»Ich b i n allein und verfügbar.« Pause. »Mann, ich muss aufhören, diese Sätze zu sagen.« »Wo ist Vickie?« Vickie war Coras Tochter. »Übernachtet in der V i l l a Protzi bei meinem Ex und seiner Frau m i t dem Pferdegesicht. M a n könnte auch sagen, sie verbringt die Nacht im Bunker m i t A d o l f und Eva.« Grace lächelte angestrengt. » M e i n A u t o ist in der Werkstatt«, sagte Cora. »Kannst du m i c h auf dem Heimweg mitnehmen?« »Bin gleich bei dir. Muss nur noch Max abholen.« Grace fuhr beim Montessori Institut vorbei und holte ihren Sohn ab. Max' Stimmung war auf dem N u l l p u n k t . Er hatte einige seiner Yu-Gi-Oh-Sammelkarten an einen Klassenkameraden verloren. Grace versuchte vergeblich, i h n aufzuheitern. Schließl i c h half sie i h m in seinen Anorak. Seine Mütze war nicht auffindbar. Dasselbe galt für einen Handschuh. Eine andere Mutter lächelte und pfiff, während sie ihr kleines Herzblatt in farblich aufeinander abgestimmte Wolle wickelte (handgestrickt zweifellos): Mütze, Schal und natürlich passende Handschuhe. Sie warf Grace einen Blick zu und schenkte ihr ein falsches mitfühlendes Lächeln. Grace kannte die Frau nicht, fand sie jedoch extrem unsympathisch. Mutterschaft, dachte Grace, hatte fast etwas v o n einem Künstlerdasein - man war immer unsicher, fühlte sich stets wie eine I d i o t i n und wusste, dass jede andere besser war als man selbst. Die Mütter, die ihren Kindern so demonstrativ ergeben sind, die ihre eintönigen Pflichten m i t einem nie versiegenden Dauerlächeln und übernatürlicher Geduld ableisten - also jene Hausmütterchen, die immer und überall die richtigen Materialien für den idealen Kinderbastei-Nachmittag parat haben... Grace hegte den Verdacht, dass diese Frauen zutiefst gestört waren. Cora wartete in der Auffahrt ihres in knalligem Pink gestrichenen Hauses. Die Nachbarschaft hasste diese Farbe. Eine Zeit lang
hatte eine Nachbarin, eine pingelige Ziege m i t dem passenden Namen Missy, versucht, eine Unterschriftensammlung anzuregen, um Cora zu zwingen, ihr Haus umzustreichen. Grace hatte beobachtet, wie Pingel-Missy die Unterschriftenliste bei einem Fußballspiel der Ersten Klasse herumgereicht hatte. Grace hatte sie sich gegriffen, sie zerrissen und sich dann davon gemacht. Die Farbe v o n Coras Haus entsprach zwar kaum Graces Geschmack, doch sie fand, jeder sollte über seinen eigenen Schatten springen können. Cora stöckelte auf hohen Pfennigabsätzen auf sie zu. Sie war etwas züchtiger gekleidet - Sweatshirt über der Leopardenbluse -, doch das half nicht viel. Einige Frauen verströmten noch in Sackleinen Sexappeal. Cora gehörte dazu. Bei jeder Bewegung ihres Körpers bildeten sich neue Formen, während andere verschwanden. Jedes W o r t , wie harmlos es auch sein mochte, gewann in i h rer rauchigen Stimme eine gewisse Zweideutigkeit. Jede Bewegung des Kopfes wirkte wie ein Lockruf. Cora glitt auf den Beifahrersitz und sah über die Schulter zurück zu Max. »Hey, Sonnenschein.« M a x brummte etwas Unverständliches, ohne den Kopf zu heben. »Genau wie mein Ex.« Cora wandte sich wieder in Fahrtrichtung. »Hast du das Foto?«
»Ja.« »Ich habe Gus angerufen. Er macht's.« »Hast du i h m was versprochen? Als Gegenleistung, meine ich?« »Wie wär's m i t einem flotten Dreier? Hast du Samstagabend schon was vor?« Grace sah sie an. »War nur ein Witz.« »Dachte i c h mir.« »Prima. Gus bittet dich, das Foto einzuscannen und i h m zu mailen. Er kann eine anonyme E-Mail-Adresse für die A n t w o r t e n ein-
richten. A u f diese Weise weiß niemand, wer dahinter steckt. Den Text halten wir knapp, behaupten, ein Journalist müsse für eine Story wissen, wie das Foto zustande kam. Klingt das gut?« »Ja, danke.« Sie hatten Graces Haus erreicht. M a x stapfte in den ersten Stock hinauf und rief zu ihnen herunter: »Kann ich SpongeBob sehen?« Grace erlaubte es resigniert. Wie alle Eltern hatte Grace strikte Regeln aufgestellt. Kein Fernsehen tagsüber. W i e alle Eltern wusste sie, dass Regeln dazu da waren, gebrochen zu werden. Cora lief geradewegs zum Küchenschrank und kochte Kaffee. Grace überlegte, welches Foto sie verschicken sollte, und entschied sich für eine Vergrößerung der rechten Bildhälfte, auf der die Blondine m i t dem X über dem Gesicht und die Rothaarige zu ihrer Linken zu sehen waren. Jacks Konterfei - sie nahm weiterhin an, dass es Jack war - ließ sie aus dem Spiel. Sie wollte i h n nicht hineinziehen. Sie glaubte, mit nur zwei Personen auf dem Foto die Wahrscheinlichkeit v o n A n t w o r t e n auf ihre Anfrage zu erhöhen. Niemand würde annehmen, die Umfrage sei nur ein Trick eines irren Stalkers. Cora betrachtete das Original des Fotos. »Darf ich mal was dazu sagen?« »Bitte.« »Ich finde, das sieht ziemlich gruselig aus.« »Der Typ dort drüben«, Grace deutete m i t dem Finger darauf, »der m i t dem Bart. An wen erinnert der dich?« Cora kniff die Augen zusammen. »Finde, das könnte Jack sein.« »Könnte nur sein oder ist er es wirklich?« »Musst du doch wissen.« »Jack ist verschwunden.« »Sag das noch mal!« Grace erzählte Cora die ganze Geschichte. Cora hörte zu, trommelte m i t ihren überlangen, m i t Rouge N o i r v o n Chanel lackierten Fingernägeln, das an die Farbe v o n Blut erinnerte, auf
den Küchentisch. Als Grace fertig war, sagte Cora: »Dir ist schon klar, dass ich v o n Männern sowieso n i c h t viel halte.« »Ja, weiß ich.« »Die Mehrheit v o n ihnen ist meiner Meinung nach keinen Pfifferling wert.« » A u c h das ist mir bekannt.« »Die logische A n t w o r t kann also nur sein, dass das auf dem Bild hier Jack ist. U n d weiter, dass dieses Blondchen, das hier zu i h m aufblickt, als sei er der Messias, eine alte Flamme v o n i h m sein muss - dass Jack und diese Maria Magdalena hier eine Affäre haben - dass irgendjemand, vielleicht ihr jetziger Ehemann, dir das Foto geschickt hat, um dir die Augen zu öffnen - und dass die Bombe zu ticken angefangen hat, als Jack klar wurde, dass du i h m auf die Schliche kommen musst.« » U n d deshalb ist er abgehauen?« »Du sagst es.« »Das ergibt keinen Sinn, Cora.« »Hast du eine bessere Theorie?« »Ich arbeite daran.« »Gut«, sagte Cora. »Ich glaub's nämlich auch nicht. W o l l t e nur meinen Senf dazugeben. Männer sind Abschaum. Die Ausnahme bestätigt die Regel. Jack schien mir immer diese Ausnahme zu sein.« »Dich muss man einfach mögen, weißt du.« Cora nickte. »Ist mein Schicksal.« Grace hörte ein Geräusch und blickte aus dem Fenster. Eine Stretch-Limousine in glänzendem Schwarz glitt m i t der Sanftheit eines Motown-Sängers in die Auffahrt. Der Chauffeur, ein M a n n m i t Rattengesicht und hagerer, sehniger Statur, eilte um den Wagen, um die T ü r zum Fond zu öffnen. Carl Vespa war eingetroffen. A l l e n Gerüchten zum Trotz, die über Carl Vespas Machenschaften kursierten, kleidete er sich nicht in Samt und Seide wie
die amerikanische Mafia. Er zog Khakihosen, Sportjacketts von Joseph Abboud und Mokassins ohne Socken vor. Er war Mitte sechzig, wirkte jedoch mindestens zehn Jahre jünger. Das Haar reichte ihm knapp bis auf die Schultern. Es war von edlem Blond, das teilweise ins Grau überging. Er war sanft gebräunt, und seine Züge hatten jene wächserne Weichheit, die auf eine Botox-Behandlung schließen ließ. Seine Zähne waren so deutlich sichtbar mit dicken Goldkronen überzogen, als hätten die Eckzähne Wachstumshormone genommen. Er gab mit einer Kopfbewegung dem Fahrer einen Befehl und kam allein auf das Haus zu. Grace öffnete die Tür. Carl Vespa schenkte ihr ein vergoldetes Lächeln. Sie erwiderte es, froh, ihn zu sehen. Er gab ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. Worte wurden nicht gewechselt. Das war nicht nötig. Er hielt ihre beiden Hände und betrachtete sie. Sie sah, wie seine Augen feucht wurden. Max tauchte neben seiner Mutter auf. Vespa ließ sie los und trat einen Schritt zurück. »Max«, begann Grace. »Das ist Mr. Vespa.« »Hallo, Max.« »Is das Ihr Wagen?«, fragte Max.
»Ja.« Max Blick schweifte von der Limousine zu Vespa. »Gibt's 'nen Fernseher da drin?« »Ja, gibt es.« »Wow!« Cora räusperte sich. »Oh! Darf ich vorstellen? Meine Freundin Cora.« »Angenehm.« Cora sah erst den Wagen, dann Vespa an. »Sind Sie Single?« »Bin ich.« »Wow.« Grace wiederholte zum sechsten Mal die Instruktionen für
ihren Babysitter. Cora tat so, als höre sie zu. Grace gab ihr zwanzig Dollar für Pizza und das Käsebaguette, dem M a x in letzter Zeit verfallen zu sein schien. Die Mutter einer Klassenkameradin wollte Emma in einer Stunde zu Hause abliefern. Grace und Vespa eilten zur Limousine. Der Chauffeur m i t dem Rattengesicht hatte den Wagenschlag bereits geöffnet. »Das ist Cram«, stellte Vespa i h n m i t einer Handbewegung vor. A l s Cram Grace die Hand schüttelte, unterdrückte sie einen Schrei. »Angenehm«, sagte Cram. Sein Lächeln rief Erinnerungen an eine TV-Dokumentation über Piraten wach. Sie stieg als Erste ein. Vespa folgte ihr. Im Wagen standen geschliffene Kristallgläser m i t einer dazu passenden Karaffe, die zur Hälfte m i t einer karamellfarbenen, teuer aussehenden Flüssigkeit gefüllt war. W i e angekündigt, gab es tatsächlich auch einen Fernseher. Über ihrem Sitz befanden sich ein DVD-Player, CD-Player, die Regler für die Klimaanlage und genug Knöpfe, um einen erfahrenen Piloten in Verlegenheit zu bringen. Das ganze D r u m und Dran - das Kristall, die Karaffe, die Elektronik - alles wirkte protzig. Möglicherweise gehörte das alles auch nur zur Grundausstattung einer Stretch-Limousine. » W o h i n fahren wir?«, fragte Grace. »Ist schwierig zu erklären.« Sie saßen in Fahrtrichtung nebeneinander. »Fahren wir erst einmal h i n . W e n n das für Sie okay ist.« Carl Vespa war der Erste der v o n der Katastrophe betroffenen Eltern gewesen, der sich über ihr Krankenbett gebeugt hatte. A l s Grace aus dem Koma erwacht war, hatte sie als Erstes sein Gesicht gesehen. Sie hatte n i c h t gewusst, wer er war, wo sie war und welcher Tag war. Mehr als eine Woche war aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Carl Vespa hatte tagelang im Krankenzimmer gesessen, auf dem Stuhl neben ihr geschlafen. U n d er hatte dafür gesorgt, dass sie ständig v o n Blumen umgeben war. Hatte veranlasst, dass sie eine schöne Aussicht, beruhigende Musik, genügend Schmerzmittel und private Pflege genießen durfte. Er hatte
dafür gesorgt, dass Grace, sobald sie wieder essen konnte, nicht den üblichen Krankenhausfraß bekam. Er hatte nie nach Einzelheiten aus jener Nacht gefragt, die sie ihm ehrlich gesagt auch nicht hätte bieten können. Während der folgenden Monate redeten sie viele Stunden lang miteinander. Er erzählte ihr Geschichten, hauptsächlich von seinem Versagen als Vater. Er hatte seine Verbindungen genutzt, um in jener ersten Nacht in ihr Krankenzimmer zu gelangen. Er hatte die Sicherheitsleute bestochen - interessanterweise wurde die Sicherheitsfirma im Krankenhaus vom organisierten Verbrechen kontrolliert - und war dann einfach persönlich an ihrer Seite geblieben. Schließlich folgten andere Eltern seinem Beispiel. Es war ein seltsames Phänomen. Sie hatten lediglich das Bedürfnis, in ihrer Nähe zu sein. Mehr nicht. Sie fanden Trost darin. Ihr Kind war in Graces Gegenwart gestorben, und es war, als lebe ein, wenn auch kleiner, Teil ihrer für immer verlorenen Töchter oder Söhne in ihr weiter. So absurd es auch sein mochte, Grace glaubte, sie zu verstehen. Diese Eltern mit dem gebrochenen Herzen kamen zu ihr, um mit ihr über ihre toten Kinder zu sprechen, und Grace hörte zu. Sie glaubte, ihnen zumindest das schuldig zu sein. Sie ahnte, dass eine solche Beziehung vermutlich nicht normal war, aber wie hätte sie diese Menschen zurückweisen können? Außerdem besaß Grace keine eigene Familie. Schon deshalb hatte sie für eine Weile ihre Aufmerksamkeit genossen. Die Eltern brauchten einen Kindersatz. Sie brauchte einen Elternersatz. Auf diese simple Formel ließ es sich reduzieren. Die Limousine fuhr inzwischen auf dem Garden State Parkway in Richtung Süden. Cram schaltete das Radio ein. Klassische Musik, den Klängen nach ein Violinkonzert, schallte aus den Lautsprechern. »Sie wissen natürlich, dass der Jahrestag naht«, sagte Vespa. »Ja, sicher«, bemerkte sie. Wenn sie sich auch alle Mühe gege-
ben hatte, genau das zu vergessen. Fünfzehn Jahre waren seit jener schrecklichen Nacht im Boston Garden vergangen. Die Zeitungen hatten all die erwarteten »Was-ist-aus-ihnen-gewordenStorys« zum Gedenken an das Ereignis veröffentlicht. Eltern und Überlebende hatten auf die Neugier der Presse ganz unterschiedl i c h reagiert. Die meisten gaben bereitwillig Auskunft. Sie glaubten, auf diese Weise die Erinnerung an das Geschehen wach zu halten. Herzzerreißende A r t i k e l waren über die Garrisons und die Reeds und die Weiders erschienen. Der Sicherheitsbedienstete, Gordon MacKenzie, dem man die Rettung vieler Jugendlicher zuschrieb, weil er die verriegelten Notausgänge m i t Gewalt geöffnet hatte, arbeitete mittlerweile im Rang eines Captains bei der Polizei v o n Brookline, einem Bostoner Vorort. Selbst Carl Vespa hatte sich m i t seiner Frau Sharon im Innenhof ihres Hauses fotografieren lassen. A u f dem Foto sahen beide noch immer aus, als sei die Tragödie erst gestern über sie hereingebrochen. Grace hatte einen anderen Weg gewählt. Jetzt, da ihre Karriere als Künstlerin dem Höhepunkt zustrebte, wollte sie auf keinen Fall den Anschein erwecken, als versuche sie, aus der Tragödie v o n damals Kapital zu schlagen. Sie war verletzt worden, hatte jedoch überlebt. M e h r nicht. Alles andere hätte sie als Effekthascherei empfunden. Aufmerksamkeit gebührte nur den Toten und deren Hinterbliebenen. »Sie prüfen wieder, ob er für eine Bewährung in Frage kommt«, sagte Vespa. »Wade Larue, meine ich.« Sie wusste es. Natürlich. Wade Larue war derjenige, dem man die Schuld an der verheerenden Reaktion des jungen Publikums in jener Nacht gegeben hatte. Er saß gegenwärtig im Walden-Gefängnis, außerhalb v o n Albany, New York. Er hatte die Schüsse abgefeuert, die die Panik ausgelöst hatten. Die Einlassung der Verteidigung damals hatte Aufsehen erregt. Die A n w ä l t e hatten behauptet, Wade Larue hätte nichts damit zu t u n gehabt - ungeachtet der Pulverspuren
an seinen Händen, der Tatsache, dass die Waffe i h m gehörte, die Kugel aus seiner Pistole stammte, die Zeugen gesehen hatten, wie er geschossen hatte. Falls er dennoch die Schüsse abgegeben haben sollte, hätte er in seinem Drogenrausch nichts davon mitbekommen. Die Argumentation gipfelte in der Behauptung, Wade Larue hätte in jedem Fall unmöglich ahnen können, dass ein Schuss aus seiner Pistole den Tod v o n achtzehn Personen und Dutzende v o n Verletzten zur Folge haben würde. Der Fall erwies sich als ausgesprochen strittig. Während die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklageschrift von achtzehn M o r d fällen ausging, sahen die Geschworenen das vollkommen anders. Larues A n w a l t gelang es schließlich, einen Deal zu stricken, bei dem man sich auf achtzehn Fälle v o n Totschlag einigte. Das U r teil interessierte niemand sehr. Carl Vespas Sohn war in jener Nacht gestorben. Hier sei nur daran erinnert, was geschehen war, als Gottis Sohn bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. V o m Fahrer des Unfallwagens, einem Familienvater, fehlte bis heute jede Spur. Ein ähnliches Schicksal sagte man übereinstimmend Wade Larue voraus. M i t dem einzigen Unterschied, dass die Öffentlichkeit dies bei i h m uneingeschränkt befürwortete. Eine Zeit lang steckte man Larue im Walden-Gefängnis in Einzelhaft. Grace hatte die Geschichte nicht weiter verfolgt, doch die Eltern - Eltern wie Carl Vespa - riefen noch immer an und schrieben. Sie wünschten, sie h i n und wieder zu sehen. A l s Überlebende war sie eine A r t Kristallisationspunkt ihrer Gefühle geworden. Abgesehen v o n der Wiederherstellung ihrer Gesundheit, war dieser emotionale Druck - diese absurde Verantwortung - der Hauptgrund für Grace gewesen, Amerika in Richtung Europa zu verlassen. Irgendwann hatte man Larue in den normalen Strafvollzug verlegt. Gerüchteweise wurde bekannt, er wäre v o n M i t h ä f t l i n gen geschlagen und übel beschimpft worden. W i e dem auch war, er hatte es überlebt. Carl Vespa hatte auf einen M o r d verzichtet.
Vielleicht ein Zeichen v o n Barmherzigkeit. Vielleicht das genaue Gegenteil. Die wirklichen Gründe entzogen sich Graces Kenntnis. »Er besteht mittlerweile nicht mehr uneingeschränkt auf seiner Unschuld«, nahm Vespa den Faden wieder auf. »Haben Sie das schon gehört? Er gibt zu, die Schüsse abgefeuert zu haben, behauptet aber, ohnmächtig geworden zu sein, als das L i c h t ausging.« Das ergab einen Sinn. Grace hatte Wade Larue nur einmal gesehen. M a n hatte sie in den Zeugenstand gerufen. Wobei ihre Aussage n i c h t über Schuld oder Unschuld entscheiden konnte. Sie konnte sich so gut wie gar nicht an Tumult und Panik erinnern. U n d wer die Schüsse abgefeuert hatte, wusste sie erst recht nicht. Ihre Aussage sollte lediglich bei den Geschworenen Stimmung gegen Larue machen. Grace selbst hegte keine Rachegefühle. Wade Larue, der ganz offensichtlich unter Drogen gestanden hatte, erregte eher ihr M i t l e i d als ihren Hass. »Glauben Sie, er k o m m t frei?«, fragte sie. »Er hat eine neue A n w ä l t i n . U n d die ist verdammt gut.« »Was ist, wenn sie i h n rauspaukt?« Vespa lächelte. »Sie sollten nicht alles glauben, was man über m i c h schreibt.« D a n n fügte er hinzu: »Im Übrigen ist Wade Larue nicht der einzige, der für diese Nacht verantwortlich ist.« »Wie meinen Sie das?« Er machte den M u n d auf - und schwieg. »Wie ich schon sagte«, erklärte er schließlich. »Schauen wir's uns lieber gemeinsam an.« Etwas an seinem Ton veranlasste sie, das Thema zu wechseln. »Sie haben behauptet, alleinstehend zu sein«, bemerkte Grace. »Wie bitte?« »Sie haben meiner Freundin gesagt, Sie seien ungebunden.« Er zeigte seinen Finger. K e i n Ehering. »Sharon und ich wurden vor zwei Jahren geschieden.«
»Das tut mir Leid.« »Zwischen uns hat es schon lange nicht mehr gestimmt.« Er zuckte die Schultern. »Wie geht es Ihrer Familie?« »Ganz okay.« »Habe i c h da ein Zögern gehört?« Sie war unschlüssig. » A m Telefon sagten Sie, Sie brauchen Hilfe.« »Das stimmt.« »Also, was gibt's?« »Mein M a n n ...« Sie hielt inne. »Ich glaube, mein M a n n ist in Schwierigkeiten.« Sie erzählte i h m die Geschichte. Er h i e l t den Blick starr geradeaus gerichtet und vermied es, sie anzusehen. Gelegentlich nickte er, doch diese Kopfbewegung schien nichts unmittelbar m i t ihrem Bericht zu t u n zu haben. Er verzog keine Miene, was seltsam anmutete. Normalerweise war Carl Vespa ein lebhafter Zuhörer. Nachdem sie aufgehört hatte zu sprechen, schwieg er lange. »Dieses Foto«, sagte Vespa. »Haben Sie es dabei?« »Ja.« Sie gab es i h m . Seine Hand, so registrierte sie, zitterte leicht. Vespa starrte lange auf das B i l d . »Kann i c h es behalten?«, fragte er. »Ich habe Kopien davon.« Vespas Blick war noch immer auf das Foto gerichtet. »Darf i c h Ihnen ein paar persönliche Fragen stellen?« »Warum nicht.« »Lieben Sie Ihren Mann?« »Sehr sogar.« »Liebt er Sie?«
»Ja.« Carl Vespa war Jack nur einmal begegnet. Zur Hochzeit hatte er ein Geschenk geschickt. Emma und M a x wurden regelmäßig zu ihren Geburtstagen v o n i h m bedacht. Grace bedankte sich stets schriftlich und spendete seine Geschenke für wohltätige
Zwecke. Was sie selbst betraf, stand sie zu ihrer Beziehung zu Carl Vespa. Ihre Kinder jedoch sollten dadurch nicht - wie sollte sie es ausdrücken - beeinträchtigt werden. »Sie haben sich in Paris kennen gelernt, oder?« »Eigentlich in Südfrankreich. Warum?« » U n d wie haben Sie sich kennen gelernt?« »Was tut das zur Sache?« Er zögerte einen M o m e n t zu lange. »Ich versuche nur in Erfahrung zu bringen, wie gut Sie Ihren M a n n kennen.« »Wir sind seit zehn Jahren miteinander verheiratet.« »Das ist mir klar.« Er rutschte auf seinem Sitz h i n und her. »Sie haben sich im Urlaub kennen gelernt?« »Ich weiß nicht, ob man das als Urlaub bezeichnen kann.« »Sie haben studiert. Sie haben gemalt.«
»Ja.« » U n d vor allem - waren Sie auf der Flucht.« Sie sagte nichts. » U n d Jack?«, fuhr Vespa fort. »Warum war er in Frankreich?« »Schätze, aus dem gleichen Grund.« »Er ist auch davongelaufen?«
»Ja.« »Wovor?« »Keine Ahnung.« »Dann liegt die Sache für m i c h auf der Hand.« Sie wartete. »Wovor er auch immer davongelaufen ist«, Vespa machte eine Geste in Richtung Foto, »es hat i h n wieder eingeholt.« Dieser Gedanke war Grace auch schon gekommen. »Das ist lange her.« »Wie das Massaker v o n Boston. Sie sind geflohen. Aber das hat es auch nicht ungeschehen gemacht, oder?« Grace fing Crams Blick im Rückspiegel auf. Er wartete offenbar ebenfalls auf eine A n t w o r t . Sie schwieg.
»Die Vergangenheit holt einen immer wieder ein, Grace. Das wissen Sie.« »Ich liebe meinen Mann.« Er nickte. »Helfen Sie mir?« »Sie kennen die A n t w o r t . Ja.« Die Limousine verließ den Garden State Parkway. Sie fuhren auf ein riesiges, nichtssagendes Gebäude zu, auf dessen Dach ein Kreuz thronte. V o n außen sah der Komplex wie ein Flugzeughangar aus. Ein Neonschild informierte den Betrachter, dass für das »Konzert m i t Gott« noch Karten zu haben waren. Eine Band m i t Namen Rapture sollte auftreten. Cram lenkte die Limousine auf einen Parkplatz v o n ungeahnten Ausmaßen. »Was wollen wir denn hier?« »Gott finden«, sagte Carl Vespa. »Vielleicht auch seinen Gegenspieler. Gehen wir erst mal hinein. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
13 Das ist kompletter Irrsinn, dachte Charlaine. Ihre Füße trugen sie unaufhaltsam zu Freddy Sykes' Garten hinter dem Haus. Flüchtig war ihr der Gedanke gekommen, sie habe sich aus Langeweile, um der Ereignislosigkeit ihres Lebens zu entfliehen, ganz bewusst auf dieses Abenteuer eingelassen. A b e r was sollte schon Aufregendes passieren? Was konnte schlimmstenfalls passieren? Angenommen M i k e kam ihr auf die Schliche. Würde er sie verlassen? Wäre das G r u n d genug? W o l l t e sie vielleicht erwischt werden? Genug der hausgemachten Selbstanalysen. Es konnte n i c h t schaden, an Freddys T ü r zu klopfen und die besorgte Nachbarin zu spielen. Vor zwei Jahren hatte M i k e einen über einen Meter
hohen Palisadenzaun an der hinteren Gartengrenze errichtet. Ursprünglich hätte der Zaun noch höher werden sollen, doch die Baubehörde hatte den A n t r a g abgelehnt. N u r ein Swimmingpool hätte einen hohen Zaun rechtfertigen können. Charlaine öffnete das Gatter im Zaun, das ihren Garten m i t Freddys Garten verband. Seltsames Gefühl. Es war das erste M a l . Sie hatte die Gartentür nie zuvor benutzt. Je näher sie Freddys Hintertür kam, desto bewusster wurde ihr, wie alt und schäbig das Haus aussah. Die Farbe blätterte ab. Der Garten war ungepflegt. Unkraut wucherte aus den Fugen im Plattenweg. Der Rasen war fleckig gelb. Sie drehte sich um und blickte zu ihrem Haus zurück. Sie hatte es noch nie aus dieser Perspektive gesehen. Es wirkte ebenfalls nicht mehr ganz taufrisch. Sie stand vor Freddys Hintertür. Also, und was jetzt? K l o p f an, du dumme Gans! Sie tat es. Sie begann m i t einem leisen Klopfen. Keine Reakt i o n . Sie pochte lauter. Nichts. Sie presste ein O h r an die Tür. Aber was sollte das nützen? Erwartete sie einen erstickten Schrei oder ähnliches zu hören? D r i n n e n rührte sich nichts. Die Jalousien waren noch immer heruntergelassen. N u r schmale Streifen am unteren Ende blieben frei. Charlaine spähte durch eine Ritze. Im Wohnzimmer stand eine limonengrüne Couch. Der Bezug so verschlissen, dass es fast aussah, als müsse er sich jeden Augenblick unter ihren Blicken in seine Einzelteile auflösen. In der Ecke erkannte sie einen kastanienbraunen Fernsehsessel aus Kunstleder. Der Fernseher schien neu zu sein. An den Wänden hingen alte Bilder von Clowns. A u f dem Klavier standen Unmengen von Schwarz-Weiß-Fotos. Eines davon zeigte eine Hochzeitsgesellschaft. Freddys Eltern, mutmaßte Charlaine. Daneben stand ein Bild des Bräutigams. Er wirkte geradezu tragisch attraktiv in seiner Uniform. Ein weiteres Foto zeigte denselben M a n n m i t einem
Baby im A r m , ein breites Lächeln im Gesicht. A u f den restlichen Fotos war er nicht mehr zu sehen. Sie waren entweder von Freddy oder v o n Freddy und seiner Mutter. Das Zimmer war makellos sauber, alles wirkte sehr gepflegt. W i e unter einer Käseglocke, unberührt, unbenutzt. A u f einem Beistelltisch stand eine Sammlung kleiner Porzellanfiguren. U n d weitere Fotos. E i n ganzes Leben, dachte Charlaine. Freddy Sykes hatte ein Leben. Ein seltsamer Gedanke, aber so war es. Charlaine ging weiter ums Haus herum zur Garage. An deren Rückseite befand sich ein Fenster. Es war m i t einem dünnen Vorhang aus Nylonspitze verhängt. Sie stellte sich auf Zehenspitzen. Ihre Finger griffen nach dem Fenstersims. Das Holz war so alt, dass es beinahe abgebrochen wäre. Abblätternde Farbe segelte wie Schuppen durch die Luft. Sie spähte in die Garage. Da stand noch ein Wagen. Keine Limousine. E i n M i n i v a n . E i n Ford Windstar. In einer Vorstadt wie dieser kannte man sämtliche Modelle. Freddy Sykes besaß keinen Ford Windstar. Möglicherweise gehörte er dem asiatisch aussehenden Gast. Das ergab doch einen Sinn, oder etwa nicht? Sie war nicht überzeugt. U n d was jetzt? Charlaine starrte zu Boden und dachte angestrengt nach. Seit ihrem Entschluss, zu Freddy Sykes hinüberzugehen, versuchte sie sich über eines klar zu werden. N o c h bevor sie die Sicherheit i h rer Küche verlassen hatte, hatte sie gewusst, dass auf ihr Klopfen niemand antworten würde. Sie hatte gewusst, dass es nichts bringen würde, in die Fenster zu schauen - gegen den »Spanner« zu spannen. Der große Stein. Er lag dort, wo einst ein Gemüsegarten gewesen war. Sie hatte einmal gesehen, wie Freddy sich daran zu schaffen gemacht hatte.
Es war kein echter Stein. Es war ein Schlüsselversteck. Die waren mittlerweile so beliebt, dass Einbrecher danach Ausschau hielten, noch bevor sie die Fußmatte lüfteten. Charlaine bückte sich, hob den Stein an und kippte i h n zur Seite. Sie musste nur noch die kleine Latte im Boden zur Seite schieben und den Schlüssel herausholen. Genau das tat sie auch. Der Schlüssel lag in ihrer Handfläche und glänzte in der Sonne. Hier war die Grenze. Sobald sie überschritten war, gab es kein Zurück. Sie ging zur Hintertür.
14 N o c h immer m i t dem Seeräuberlächeln auf dem Gesicht öffnete Cram den Wagenschlag, und Grace stieg aus der Limousine. Carl Vespa stieg allein auf seiner Seite aus. A u f der riesigen Neonreklame stand der Name einer christlichen Sekte, v o n der Grace noch nie gehört hatte. Das Logo, das sich überall im Umkreis des Gebäudes wieder fand, besagte, dies sei »Gottes Haus«. Falls das stimmte, hätte G o t t sich nach Graces Meinung getrost einen einfallsreicheren A r c h i t e k t e n nehmen können. Der Bau versprühte Glanz und Wärme einer Autobahnraststätte. Im Inneren war es noch schlimmer. Hier war Luxus so dick aufgetragen, dass Graceland daneben wie eine bescheidene Hütte gewirkt hätte. Der Teppichboden war in einem irisierenden Rot, das normalerweise billigen Kaufhaus-Lippenstiften vorbehalten ist. Die Tapete setzte sich etwas dunkler, eher blutrot, dagegen ab, ein Samtimitat, das unzählige Sterne und Kreuze schmückten. Die W i r k u n g war Schwindel erregend. Im Zentrum lag eine Kapelle oder ein Gebetshaus - v o n den Ausmaßen eines Sportstadions -, dessen Gestühl an Kirchenbänke erinnerte. Die Sitzgelegenheiten wirkten unbequem, wodurch Besucher möglicher-
weise dazu angehalten werden sollten, lieber stehen zu bleiben. Grace kam wie schon häufiger der zynische Gedanke, dass die Tatsache, dass sich die Gemeinde während eines Gottesdienstes häufig erheben musste, weniger Respekt bezeugen sollte, sondern vielmehr dazu gedacht war, die Gläubigen wach zu halten. Kaum hatte Grace die Arena betreten, bekam sie Herzflimmern. Der Altar, wie eine Cheerleader Uniform komplett in Grün und Gold gehalten, wurde gerade von der Bühne gerollt. Grace hielt nach Priestern mit billigen Toupets Ausschau, konnte jedoch niemand dieses Standes entdecken. Die Band - Grace nahm an, dass es die Gruppe Rapture war - baute bereits ihre Instrumente auf. Carl Vespa blieb, den Blick auf die Bühne gerichtet, vor ihr stehen. »Gehören Sie zu dieser Gemeinde?«, fragte Grace. Er lächelte flüchtig. »Nein.« »Ich nehme an, dass Sie auch kein Fan von - Rapture sind?« Vespa beantwortete die Frage nicht. »Gehen wir näher ran.« Cram machte den Anfang. Überall waren Sicherheitsleute. Sie stoben auseinander, als sei Cram ein giftiges Reptil. »Was ist hier los?«, wollte Grace wissen. Vespa stieg unbeirrt die Treppe hinunter. Als sie den Bereich unmittelbar vor der Bühne erreichten, hob Grace den Blick, sah sich um und erkannte, dass sie sich in einem riesigen Amphitheater befanden. Die Bühne lag in der Mitte, an allen Seiten vom Theaterrund umgeben. Grace hatte das Gefühl, als drücke ihr jemand die Kehle zu. Wenn es auch religiös verbrämt war, bestand kein Zweifel. Alles deutete auf ein Rockkonzert hin. Vespa nahm ihre Hand. »Alles in Ordnung.« Nichts war in Ordnung. Sie wusste es. Seit fünfzehn Jahren hatte sie weder eine Sportveranstaltung noch ein Open-AirKonzert besucht. Früher war sie ein Fan von Rockkonzerten gewesen. Sie erinnerte sich, während ihrer Highschool Zeit Bruce
Springsteen und die E-Street-Band im Asbury Park C o n v e n t i o n Center erlebt zu haben. Was ihr seltsam vorkam, und was sie schon damals erkannt hatte, war, dass die Grenze zwischen einem Rockkonzert und einer v o n starken Gefühlen durchdrungenen religiösen Veranstaltung fließend war. Es hatte einen Augenblick gegeben, als Bruce zwei v o n Graces Lieblingssongs »Meeting Across the River« gefolgt von »Jungleland« gespielt hatte - da war sie aufgesprungen und hatte sich, die Augen geschlossen, einen Schweißfilm auf der Haut, wie in Trance hingegeben, bebend vor Glückseligkeit. So mussten sich auch die Menschen fühlen, die ein Fernsehprediger m i t hochgereckten A r m e n v o n den Sitzen riss. Sie liebte dieses Gefühl. U n d sie wusste, dass sie es nie wieder erleben wollte. Grace entzog Carl Vespa ihre Hand. Er nickte, als habe er verstanden. »Kommen Sie«, sagte er sanft. Grace hinkte hinter i h m her. Sie hatte das Gefühl, das Bein immer mühsamer nachziehen zu müssen. Ihre Muskeln zuckten. Das alles war eine Sache der Psyche. Das war ihr klar. Beengte Räume jagten ihr keine Angst ein. Riesige Auditorien, besonders wenn sie v o l l besetzt waren, versetzten sie in Panik. Die Ränge hier waren allerdings leer. Zum Glück. Doch ihre Phantasie spielte ihr einen Streich und lieferte ungebeten die beängstigende Geräuschkulisse. Schrille Rückkoppelungen aus einem Verstärker ließen sie zusammenzucken. Sie waren in eine Tonprobe geraten. »Was soll das Ganze?«, fragte sie Vespa. Seine Züge waren starr, sein Gesichtsausdruck entschlossen. Er bog nach links. Grace folgte i h m . Über der Bühne h i n g eine A r t Anzeigetafel, auf der zu lesen stand, dass Rapture auf einer dreiwöchigen Tournee sei und die Musik mache, die »Gott auf seinem MP3-Player hat«. Jetzt betrat die Band die Bühne. Die Mitglieder versammelten sich in der M i t t e , unterhielten sich kurz und begannen zu spie-
len. Grace war überrascht. Sie klangen ziemlich gut. Der Text war schnulzig. Es war viel v o n H i m m e l , ausgebreiteten Schwingen und Himmelfahrten die Rede. Grace empfand die Texte genauso abstoßend wie den brutalen Gossenjargon einiger Rapper. Die Leadsängerin, m i t kurzem platinblondem Pagenschnitt, sang m i t zum H i m m e l aufgeschlagenen Augen und sah aus wie vierzehn. Rechts neben ihr stand ein Gitarrist. M i t seinen schwarzen Schillerlocken und der Tätowierung eines überdimensionalen Kreuzes auf dem rechten Bizeps wirkte er eher wie ein Vertreter der Heavy-Metal-Szene. Er prügelte auf die Saiten seiner Gitarre ein, als sei er wütend darauf. In einer Pause sagte Carl Vespa: »Den Song haben Doug Bondy und Madison Seelinger geschrieben.« Sie zuckte die Achseln. »Doug Bondy hat die Musik geschrieben. Madison Seelinger das ist die Sängerin dort oben - den Text.« » U n d weshalb sollte m i c h das interessieren?« »Weil Doug Bondy am Schlagzeug sitzt.« Sie gingen weiter zur Seite der Bühne, um bessere Sicht zu haben. Die Musik setzte erneut ein. Sie standen vor einem Lautsprecher. Der dumpfe Rhythmus der Bässe brachte Graces Trommelfelle zum Schwingen. Unter normalen Umständen hätte sie den Sound genossen. Doug Bondy, der Schlagzeuger, saß halb verborgen hinter einer Ansammlung v o n Schlaginstrumenten. Sie trat noch ein paar Schritte zur Seite. Jetzt konnte sie i h n besser erkennen. Er schlug m i t geschlossenen Augen auf die Trommeln ein, sein Gesicht war friedlich entspannt. Er sah älter aus als die übrigen Bandmitglieder. Er trug das Haar kurz geschoren. Er war glatt rasiert. U n d er trug eine schwarze Elvis-Costello-Brille. Grace fühlte, wie ihr Herzflimmern stärker wurde. »Ich möchte nach Hause.« »Er ist es doch, oder?« »Ich w i l l nach Hause.«
Der Schlagzeuger bearbeitete weiter selbstvergessen seine Instrumente, versunken in die Musik, als er plötzlich den Kopf wandte und sie erblickte. Ihre Blicke trafen sich. U n d da wusste sie es. U n d er wusste es ebenfalls. Er war Jimmy X. Sie zögerte keine Sekunde. Sie strebte hinkend dem Ausgang zu. Die Musik verfolgte sie. »Grace?« Es war Vespa. Sie beachtete i h n nicht. Sie stieß die T ü r des Notausgangs auf. Gierig saugte sie die kühle Luft in ihre Lungen und kämpfte gegen das Schwindelgefühl an. Cram war zur Stelle. So als habe er geahnt, welchen Ausgang sie nehmen würde. Er schaute sie lächelnd an. Carl Vespa trat hinter sie. »Er ist es. Stimmt's?« »Und wenn schon?« » U n d wenn schon?«, wiederholte Vespa überrascht. »Er ist kein Unschuldslamm. Er ist ebenso schuldig ...« »Ich möchte nach Hause.« Vespa blieb so abrupt stehen, als habe sie i h n geohrfeigt. I h n anzurufen, war ein Fehler gewesen. Soviel wusste sie jetzt. Sie hatte überlebt. Sie war wieder gesund geworden. Gut, das H i n k e n war ihr geblieben. U n d die Schmerzen. Aber die waren n i c h t dramatisch. U n d dann noch die gelegentlichen Albträume. Aber sie war in Ordnung. Sie hatte es überwunden. Die anderen, die Eltern, würden nie darüber hinwegkommen. Das hatte sie schon am ersten Tag erkannt - diese waidwunden Blicke -, und während andere nach v o r n blickten, ihr Leben lebten, Scherben kitteten, hatten diese waidwunden Blicke keine Heilung erfahren. Sie sah Carl Vespa in die Augen - es war noch immer da. »Bitte«, sagte sie zu i h m . »Ich möchte einfach nur nach Hause.«
15 Wu entdeckte das leere Schlüsselversteck. Der Stein lag auf dem Weg zur Hintertür auf dem Rücken wie ein gestrandeter Krebs. Das Fach war geöffnet. Der Schlüssel war weg. Er erinnerte sich an das erste M a l , als er sich einem Haus genähert hatte, in das zuvor eingebrochen worden war. Damals war er sechs Jahre alt gewesen. Die Hütte - sie bestand aus einem Raum ohne jegliche sanitäre Anlagen - war sein Zuhause gewesen. Die Schergen der Kim-Regierung hatten sich nicht m i t Höflichkeiten wie Schlüsseln aufgehalten. Sie hatten die Tür eingetreten und seine Mutter verschleppt. Wu hatte sie zwei Tage später gefunden. Sie hatten sie an einem Baum aufgeknüpft. Es war bei Todesstrafe verboten gewesen, sie abzuschneiden. Einen Tag später hatten die Vögel sie entdeckt. M a n hatte seine Mutter fälschlicherweise des Verrats am Großen Führer angeklagt, doch Schuld oder Unschuld spielten keine Rolle. M a n hatte ein Exempel statuiert. Seht her, so ergeht es denen, die sich uns widersetzen. M e r k t euch: Das geschieht m i t jedem, v o n dem wir annehmen, er könnte sich uns widersetzen. Um den sechsjährigen Eric kümmerte sich niemand. K e i n Waisenhaus griff i h n auf. Er wurde kein M ü n d e l des Staates. Eric Wu lief davon. Er schlief in den Wäldern. Er ernährte sich v o m A b f a l l der anderen. Er überlebte. M i t dreizehn verhaftete man i h n wegen Diebstahls und warf i h n ins Gefängnis. Der Oberwärter, ein M a n n krimineller als alle, über die er wachte, erkannte Wus Potenzial. U n d so hatte es begonnen. Wu starrte auf das leere Schlüsselversteck hinab. Jemand war im Haus. Er blickte zum Nachbarhaus hinüber. Die Frau, die dort w o h n te, beobachtete gern alles v o m Fenster aus. Sie würde wissen, wo Freddy Sykes einen Schlüssel versteckte.
Er überdachte seine Möglichkeiten. Er kam auf zwei. Eine konnte er allerdings gleich vergessen. Jack Lawson lag im Kofferraum. Wu hatte ein A u t o . Er konnte abhauen, einen anderen Wagen stehlen, eine Reise antreten, sich irgendwo weit weg niederlassen. D o c h das hatte einen Haken: Wus Fingerabdrücke waren überall im Haus verteilt. U n d da war noch der schwer verletzte, vielleicht schon tote Freddy Sykes. Die Frau in der Reizwäsche, falls sie tatsächlich dahinter steckte, konnte i h n zu allem Ü b e l auch noch identifizieren. Wu war erst kürzlich auf Bewährung aus der Haft entlassen worden. Der Staatsanwalt hatte i h n der schrecklichsten Verbrechen verdächtigt, konnte i h m allerdings nichts nachweisen. N u r deshalb hatte man einen Deal m i t i h m gemacht. U n d dafür hatte er ausgesagt. Wu hatte seine Zeit im Hochsicherheitsgefängnis v o n Waiden, New York, abgesessen. U n d im Vergleich zu dem, was er in seiner Heimat erlebt hatte, war diese Haftanstalt das reine Luxushotel. Was n i c h t bedeutete, dass er d o r t h i n zurückkehren wollte. N e i n , die erste Möglichkeit war nicht gut. Damit blieb nur die zweite. Wu öffnete lautlos die T ü r und schlich ins Haus.
Zurück in der Limousine schwiegen Grace und Carl Vespa sich an. Graces Gedanken wanderten immer wieder zu jenem Tag zurück, an dem sie Jimmy X zum letzten M a l gesehen hatte - vor fünfzehn Jahren in ihrem Krankenzimmer. M a n hatte i h n praktisch zu dem Besuch gezwungen, es war ein Fototermin gewesen, anberaumt v o n seinem Promoter. U n d Jimmy hatte es nicht einmal über sich gebracht, sie anzusehen, geschweige denn m i t ihr zu sprechen. Er hatte nur neben ihrem Bett gestanden und sich m i t gesenktem Kopf wie ein K i n d , das auf Schelte wartete, krampfhaft an einen Blumenstrauß geklammert. Sie hatte kein
Wort gesagt. Schließlich hatte er ihr den Strauß übergeben und war gegangen. Jimmy X hatte sich sang- und klanglos aus der Musikszene verabschiedet und war untergetaucht. Gerüchteweise hieß es, er habe sich auf eine private Insel in der Nähe der Fidschis zurückgezogen. Und jetzt, fünfzehn Jahre später, war er wieder in New Jersey, als Schlagzeuger in einer christlichen Rockband. Als sie in ihre Straße einbogen, sagte Vespa: »Es ist nicht besser geworden, wissen Sie.« Grace sah aus dem Fenster. »Jimmy X hat die Schüsse nicht abgegeben.« »Das weiß ich auch.« »Was wollen Sie dann von ihm?« »Er hat sich nicht einmal entschuldigt.« »Und das würde genügen?« Er dachte nach. »Es gab da einen Jungen, der überlebt hat«, sagte er schließlich. »David Reed. Erinnern Sie sich?«
»Ja.« »Er hat neben Ryan gestanden. Seite an Seite. Aber als der Tumult losging, hat irgendjemand diesen Reed gepackt und ihn auf die Schultern gehoben. Er konnte sich auf die Bühne retten.« »Ich weiß.« »Erinnern Sie sich, was seine Eltern gesagt haben?« Sie erinnerte sich, sagte jedoch nichts. »Jesus habe ihren Sohn persönlich in die Höhe gehoben. Es sei Gottes Wille gewesen.« Vespas Stimme klang unverändert, doch Grace glaubte die unterdrückte Wut zu spüren, die ihr wie heiße Luft aus einem Hochofen entgegenschlug. »Mr. und Mrs. Reed haben gebetet, müssen Sie wissen. Und Gott hat geantwortet. Es sei ein Wunder geschehen, haben sie gesagt. Gott habe seine Hand über ihren Sohn gehalten, haben sie immer wieder behauptet. Gerade so, als habe Gott weder den Wunsch noch die Neigung verspürt, meinen Sohn zu retten.«
Erneutes Schweigen. Grace hätte i h m gern geantwortet, es seien an jenem Tag viele gute Menschen gestorben, viele gute Menschen m i t gottesgläubigen Eltern, die gebetet hatten, und dass G o t t für alle da sei. Doch Vespa wusste das. Für i h n bot es keinen Trost. Als sie in die Auffahrt einbogen, wurde es bereits dunkel. Grace sah die Umrisse v o n Cora und den Kindern h i n ter dem Küchenfenster. »Ich möchte Ihnen helfen, Ihren M a n n zu finden«, sagte Vespa. »Ich weiß nicht mal, wie Sie das anstellen sollten.« »Lassen Sie sich überraschen«, bemerkte er. »Sie haben meine Nummer. W a n n immer Sie etwas brauchen, rufen Sie m i c h an. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ich b i n immer für Sie da.« Cram öffnete die Autotür. Vespa begleitete sie zum Haus. »Wir bleiben in Verbindung«, versprach er.
»Danke.« »Ich werde Cram beauftragen, das Haus zu bewachen.« Sie sah Cram an. Cram lächelte vage. »Das ist n i c h t nötig.« »Lassen Sie mir das Vergnügen.« »Nein, w i r k l i c h - ich möchte das nicht. Bitte.«" Vespa dachte nach. »Falls Sie Ihre Meinung noch ändern ...« »Dann lasse ich es Sie wissen.« Er wandte sich zum Gehen. Sie sah i h m nach, wie er zum Wagen zurück ging und fragte sich, ob es klug war, ausgerechnet m i t dem Teufel einen Pakt einzugehen. Cram öffnete den Wagenschlag. Im nächsten M o m e n t war Vespa in die Limousine abgetaucht. Cram nickte ihr zu. Grace rührte sich nicht v o m Fleck. Sie hielt sich für eine ziemlich gute Menschenkennerin, aber Carl Vespa hatte sie in diesem Punkt widerlegt. Sie hatte nie auch nur den A n f l u g des Bösen in i h m erkannt oder gespürt. U n d doch wusste sie, dass es da war. Das Böse - das w i r k l i c h Böse - erschien in dieser Maske.
*
Cora setzte Wasser für die Pasta auf. Sie leerte ein Glas Tomatensauce in einen Stieltopf und beugte sich dicht an Graces Ohr. »Sehe mal nach, ob eine E-Mail gekommen ist«, flüsterte Cora. »Vielleicht haben wir schon eine A n t w o r t . « Grace nickte. Sie half Emma bei den Hausaufgaben und hatte alle Mühe, sich zu konzentrieren. Ihre Tochter trug ein Basketball-Netzhemd. Sie nannte sich Bob. Sie wollte unbedingt ein Sportler sein. Grace wusste nicht recht, was sie davon halten sollte, aber vermutlich war das weniger anstrengend, als wenn sie sich die Bravo kaufen und sich nach harmlosen Boygroups verzehren würde. Mrs. Lamb, Emmas junge, aber schnell alternde Lehrerin, nahm m i t den Kindern das Einmaleins durch. Im Augenblick war das Sechser-Einmaleins dran. Grace hörte Emma ab. Bei 6 x 7 schwieg Emma lange. »Du müsstest es auswendig können«, bemerkte Grace. »Warum? I c h kann's doch rechnen.« »Das ist nicht der Punkt. M a n lernt es auswendig, damit man darauf aufbauen kann, wenn man mehrstellige Zahlen miteinander multiplizieren muss.« »Mrs. Lamb hat nicht gesagt, dass wir's auswendig lernen müssen. « »Das solltest du aber.« »Aber Mrs. Lamb ...« »Sechs mal sieben.« U n d so ging es weiter. Max musste einen Gegenstand finden, der in die »Geheimnisbox« getan werden sollte. M a n legte etwas in diese Schachtel in diesem Fall einen Hockeypuck - und überlegte sich dann drei Hinweise, so dass die anderen Vorschulkinder raten konnten, was es sein könnte. Erster Hinweis: Die Farbe ist schwarz. Zweiter Hinweis: Gehört zu einer Sportart. Dritter Hinweis: Eis. Das musste genügen.
Cora kam v o m Computer zurück und schüttelte den Kopf. Fehlanzeige. Sie griff nach einer Flasche billigem trockenem Chardonnay aus Australien und entkorkte sie. Grace brachte die Kinder zu Bett. »Wo ist Daddy?«, fragte Max. Emma tat es i h m gleich. »Ich habe einen Hockey-Vers für mein Gedicht geschrieben.« Grace erklärte Jacks Abwesenheit vage m i t Arbeit. Die K i n der machten ängstliche Gesichter. »Ich möchte das Gedicht gern hören«, sagte Grace. Widerwillig zückte Emma ihr Heft. »Hocken-Stock, Hockey-Stock, schießt du gern ein Tor? Wenn du erst richtig in Fahrt bist, Ist dir dann nach mehr? Emma hob den Kopf. »Wow!«, sagte Grace und klatschte Beifall. Leider fehlte ihr Jacks bedingungslose Begeisterungsfähigkeit. Sie gab den beiden einen Gutenachtkuss und lief ins Erdgeschoss hinunter. Die Weinflasche war geöffnet. Cora und sie begannen zu trinken. Sie vermisste Jack. Er war nicht einmal vierundzwanzig Stunden fort - und er war häufig wesentlich länger auf Geschäftsreise gewesen - und doch erschien ihr das Haus seltsam leer. Grace empfand die Leere, die er hinterlassen hatte, beinahe körperlich und endgültig. Grace und Cora tranken ein Glas nach dem anderen. Grace dachte an die Kinder. Sie dachte an ein Leben, ein ganzes Leben ohne Jack. W i r t u n alles, um unsere Kinder vor Schmerz und Enttäuschung zu schützen. Jack zu verlieren, wäre ein schwerer Schlag für Grace. Doch das war in Ordnung. Sie konnte das ertragen. Ihr Schmerz wäre jedoch nichts im Vergleich zu dem, was es für die beiden Kinder bedeuten würde, die jetzt, das ahnte
sie, wach in ihren Betten lagen und spürten, dass etwas nicht stimmte. Graces Blick schweifte zu den Fotos an den Wänden. Cora setzte sich neben sie. »Er ist ein guter Mann.« »Jaaa.« »Alles in Ordnung m i t dir?« »Zu viel Wein«, sagte Grace. »Nicht genug, wenn du m i c h fragst. W o h i n hat dich unser Mafioso gebracht?« »Zu einer christlichen Rockband.« »Tolle Location für ein erstes Rendezvous.« »Ist eine lange Geschichte.« »Bin ganz Ohr.« Aber Grace schüttelte den Kopf. Sie wollte n i c h t über Jimmy X nachdenken. Plötzlich kam ihr eine Idee. Sie überlegte, wog ab, ließ sie sacken. »Was ist?«, fragte Cora. »Vielleicht hat Jack mehr als nur eine Nummer angerufen.« »Du meinst, abgesehen v o n dem Telefonat m i t seiner Schwester?«
»Ja.« Cora nickte. »Kriegt ihr eure Telefonrechnung online?« »Noch nicht.« »Dann wird's Zeit.« Cora stand auf. Ihr Schritt war ein wenig unsicher geworden. Der W e i n hatte sie beide in wohlige Wärme gehüllt. »Welche Telefongesellschaft nutzt ihr für Ferngespräche ?« »Cascade.« Sie kehrten zu Jacks Computer zurück. Cora setzte sich an den Schreibtisch, ließ ihre Fingerknöchel knacken und machte sich ans Werk. Sie lud die Website v o n Cascade. Grace gab ihr die nötigen Informationen - Adresse, Sozialversicherungsnummer, Kreditkarte. Sie erhielten ein Passwort. Cascade schickte zur Bestätigung eine E-Mail an Jacks Adresse
»Wir sind dabei«, bemerkte Cora. »Ich verstehe das nicht.« »Ihr habt jetzt ein Online-Telefonkonto. Ich hab's gerade eingerichtet. Du kannst v o n jetzt an deine Rechnung übers Internet einsehen und bezahlen.« Grace blickte über Coras Schulter. »Das ist die Rechnung v o m letzten Monat.« »Yep.« »Aber die Anrufe v o n gestern A b e n d sind da noch n i c h t verzeichnet.« » H m m m . I c h schick denen eine Anfrage. Oder wir rufen einfach an.« »Die sind nicht rund um die U h r erreichbar. Nachteil des Billigtarifs.« Grace beugte sich dichter zum M o n i t o r hinunter. »Lass mal sehen, ob er seine Schwester früher schon mal angerufen hat.« Ihr Blick glitt über die Liste. Nichts. A u c h keine unbekannten N u m m e r n . Inzwischen war es ihr nicht einmal mehr peinlich, dass sie in den Privatsachen ihres Mannes herumschnüffelte, den sie liebte, dem sie vertraute. »Wer bezahlt die Rechnungen?«, wollte Cora wissen. »Meistens Jack.« »Die Telefonrechnung k o m m t per Post?«
»Ja.« »Siehst du sie dir an?« »Natürlich.« Cora nickte. »Jack hat doch ein Handy, richtig?« »Richtig.« »Was ist m i t dieser Rechnung?« »Was soll damit sein?« »Schaust du sie an?« »Nein. Ist ja seine Rechnung.« Cora lächelte. »Was ist denn?«
»Während mein Ex m i c h betrogen hat, hat er immer m i t dem Handy telefoniert, weil ich mir diese Rechnungen nie angesehen habe.« »Jack betrügt m i c h nicht.« »Aber vielleicht hat er Geheimnisse vor dir.« »Könnte sein«, gab Grace zu. »Okay, ja. Vermutlich.« »Wo bewahrt er seine Handyrechnungen auf?« Grace sah im Aktenschrank nach. Er hatte die Rechnungen v o n Cascade abgeheftet. Sie sah unter V für Verizon-Mobilfunk nach. Nichts. »Hier sind sie nicht.« Cora rieb sich die Hände. » H m , verdächtig.« Sie war in ihrem Element. »Bemühen wir den Voodoo, den sie machen, wenn wir's tun.« » U n d was genau machen wir?« »Angenommen Jack hat ein Geheimnis vor dir. D a n n würde er die Rechnungen vernichten, sobald er sie erhält, richtig?« Grace schüttelte den Kopf. »Das ist alles so absurd.« »Aber i c h habe Recht?« »Ja, gut. Falls Jack Geheimnisse vor mir h a t . . . « »Jeder hat Geheimnisse, Grace. Du meine Güte, wo lebst du eigentlich? Du willst doch w o h l n i c h t behaupten, dass dich das alles überrascht hat?« Diese Wahrheit hätte Grace normalerweise zu einer Kunstpause gezwungen, doch für Spielereien dieser A r t war jetzt keine Zeit. »Also gut. Angenommen Jack hat die Handyrechnungen vernichtet. W i e kommen wir dann an sie ran?« »Hab ich doch gerade schon vorexerziert. W i r richten ein weiteres Internetkonto ein. Diesmal unter Verizon-Mobilfunk.« Cora begann zu tippen. »Cora?« »Yep?« »Kann i c h dich was fragen?« »Schieß los!«
»Woher kennst du dich m i t alledem aus?« »Praxis und Erfahrung.« Sie sah Grace an. »Wie glaubst du, b i n ich A d o l f und Eva auf die Spur gekommen?« »Du hast hinter ihnen herspioniert?« »Volltreffer. Habe mir ein Buch gekauft. Hieß >Detektivspielen für Anfängen oder so ähnlich. Steht alles drin. Wollte alle Fakten auf dem Tisch haben und den Wichser dann zur Rede stellen.« » U n d was hat er gesagt? A l s du's i h m gezeigt hast?« »Dass es i h m Leid täte. Dass er's nie wieder tun würde. Dass er diese aufgespritzte Ivana nie wieder sehen wolle.« Grace beobachtete die Freundin, wie sie weitertippte. »Du liebst i h n w i r k l i c h , was?« »Mehr als das Leben.« N o c h immer tippend fügte Cora hinzu: »Wie wär's m i t einer zweiten Flasche Wein?« »Nur wenn wir heute A b e n d nicht mehr A u t o fahren.« »Soll ich hier schlafen?« »Fahren ist tabu.« »Gut. Abgemacht.« Grace stand auf. Der A l k o h o l machte sie schwindelig. Sie ging in die Küche. Cora trank häufiger einen über den Durst, aber an diesem A b e n d leistete Grace ihr liebend gern Gesellschaft. Sie entkorkte die zweite Flasche Weißwein. Der W e i n war zu warm. Sie gab einen Eiswürfel in jedes Glas. A l s Grace ins Arbeitszimmer zurückkam, lief der Drucker. Sie reichte Cora ein Glas und setzte sich. Grace starrte in die hellgelbe Flüssigkeit. Sie schüttelte den Kopf. »Was ist?« fragte Cora. »Jetzt habe i c h schließlich und endlich doch noch Jacks Schwester kennen gelernt.«
»Und?« »Es ist nicht zu fassen. Sandra Koval. I c h kannte bisher n i c h t mal ihren Namen.« »Du hast Jack nie nach ihr gefragt?«
»Nicht wirklich.« »Warum nicht?« Grace trank einen Schluck. »Kann i c h n i c h t erklären.« »Versuch's einfach.« Sie stand auf und wusste nicht, wie sie es ausdrücken sollte. »Ich dachte, es sei normal. I c h meine, dass man einen Teil seiner Privatsphäre bewahrt. I c h b i n vor etwas davongelaufen. Er ist deswegen nie in m i c h gedrungen.« » U n d deshalb hast du i h n ebenfalls nie bedrängt?« » N i c h t nur deshalb.« »Weshalb dann?« Grace überlegte. »Dieses Gerede v o n >wir haben keine Geheimnisse voreinander habe i c h sowieso niemandem abgekauft. Jack kam aus einer wohlhabenden Familie, m i t der er nichts mehr zu t u n haben wollte. Es hatte Streit gegeben. Soviel wusste ich.« »Wohlhabend wodurch?« »Wie meinst du das?« » W o m i t haben die ihr Geld gemacht?« »Irgendeine Wertpapierfirma. Jacks Großvater hat sie gegründet. Es gibt einen Treuhandfonds, O p t i o n e n und A k t i e n m i t Stimmrechten und so weiter. Nichts in der Größenordnung v o n Onassis, aber genug, schätze ich. Jack wollte damit nichts zu t u n haben. Er hat sein Stimmrecht nie ausgeübt. Hat das Geld nie angerührt. Er hat dafür gesorgt, dass der Treuhandfonds erst in der nächsten Generation wieder zum Tragen kommt.« »Er hat Emma und M a x als Erben eingesetzt?« »So ist es.« » U n d wie stehst du dazu?« Grace zuckte die Schultern. »Weißt du, was mir langsam klar wird?« »Bin ganz Ohr.« »Der Grund, weshalb ich Jack nie bedrängt habe. Hatte nichts m i t Respekt gegenüber der Privatsphäre zu tun.«
»Sondern?« »Ich liebe i h n . Ich liebe i h n mehr als jeden anderen M a n n , dem ich je begegnet b i n ...« »Aha. U n d wo liegt dann das >aber« Graces Augen begannen zu brennen. »Aber es schien alles so ... zerbrechlich. Ergibt das einen Sinn? W e n n i c h m i t ihm zusammen war - es klingt so blöd - aber mit Jack war ich zum ersten M a l glücklich seit - ich weiß nicht - seit dem Tod meines Vaters.« »Du hast schon eine Menge mitgemacht im Leben.« Grace sagte nichts. »Du hattest Angst, dein Glück könnte sich verflüchtigen. Du wolltest nicht mehr leiden.« »Also habe i c h lieber die Augen zugemacht, meinst du?« »Was ich nicht weiß, macht m i c h n i c h t heiß. Die reinste Glückseligkeit, oder?« »Das glaubst du?« Cora zuckte m i t den Achseln. »Wenn i c h A d o l f nicht nachspioniert hätte, hätte er vermutlich irgendwann seine Affäre abgehakt und wäre zu mir zurückgekommen. Vielleicht hätte ich dann den M a n n noch, den ich liebe.« »Du kannst i h n dir noch immer zurückholen.« »Ausgeschlossen.« »Warum nicht?« Cora überlegte. »Schätze, dazu weiß ich einfach zu viel.« Sie griff nach ihrem Glas und trank einen kräftigen Schluck. Das Surren des Druckers verstummte. Grace griff nach den Seiten und begann, sie durchzusehen. Die meisten Telefonnummern kannte sie. Eigentlich kannte sie fast alle. Eine Nummer allerdings stach ihr sofort ins Auge. »Wofür steht die Vorwahl 603?«, fragte Grace. »Frag m i c h was Leichteres. Welcher Anruf?« Grace zeigte i h n Cora auf dem Monitor. Cora markierte die Nummer m i t dem Cursor.
»Was machst du?«, wollte Grace wissen. »Man k l i c k t die Nummer an, dann sagen sie dir, wer angerufen hat.«
»Wirklich?« »Herrgott, in welchem Jahrhundert lebst du?« »Du musst also nur den L i n k anklicken?« »Ja, und dann spuckt der Computer alles aus. Es sei denn die Nummer ist nicht registriert.« Cora drückte auf die linke Maustaste. A u f dem Bildschirm erschien ein Fenster m i t dem Hinweis: »KEIN E I N T R A G U N T E R DIESER N U M M E R « »Da haben wir's. Fehlanzeige.« Grace sah auf die Uhr. »Ist erst halb zehn«, bemerkte sie. » N i c h t zu spät für einen Telefonanruf.« »Schon gar n i c h t wenn's um Ehemänner geht, die sich in Luft aufgelöst haben. D a n n erst recht nicht.« Grace griff nach dem Telefon und tippte die Nummer ein. Ein schriller T o n attackierte ihr Trommelfell. Sie fühlte sich u n w i l l k ü r l i c h an die Übersteuerung der Lautsprecheranlage bei der Rapture-Probe erinnert. Dann ertönte eine roboterhafte Stimme: »Die gewählte Nummer ist nicht mehr verfügbar.« Grace runzelte die Stirn. »Was ist?« »Wann hat Jack diese Nummer zum letzten M a l gewählt?« Cora sah nach. »Vor drei Wochen. Das Gespräch dauerte achtzehn Minuten.« »Die Nummer gibt's nicht mehr.« » H m . Vorwahl 603«, überlegte Cora und ging auf eine andere Website. Sie tippte die Vorwahl 603 ein und drückte die EnterTaste. Die A n t w o r t kam prompt. »Liegt in N e w Hampshire. Warte. W i r suchen über Google weiter.« »Was ist m i t New Hampshire?« »Die Vorwahl. Sie gehört zu N e w Hampshire.«
» U n d was hilft uns das?« »Die Nummer ist nicht registriert. Stimmt's?« »Stimmt.« »Ich zeig dir jetzt was. Funktioniert nicht immer, aber pass mal auf!« Cora tippte Graces Telefonnummer in die Suchmaschine ein. »Jetzt sucht die Maschine das gesamte Netz nach dieser Zahlenkombination ab. U n d zwar nicht nur die Telefonbücher. Deine Nummer ist nicht registriert. Aber ...« Sie bekamen ein Suchergebnis. Es war die Website eines Kunstpreises der Brandeis University, Graces ehemalige U n i . Cora klickte den L i n k an. Graces Namen und Telefonnummer erschienen auf dem Bildschirm. »Warst du Jurorin bei einem Kunstpreis?« Grace nickte. »Wir haben ein Kunst-Stipendium vergeben.« »Da haben wir's. Deinen Namen, Adresse und Telefonnummer zusammen m i t denen der übrigen Juroren. Du musst die A n gaben damals selbst gemacht haben.« Grace schüttelte den Kopf. » W i l l k o m m e n im elektronischen Zeitalter«, bemerkte Cora. » U n d jetzt, da ich deinen Namen kenne, kann ich damit eine M i l l i o n unterschiedlicher Suchaktionen starten. Dann kommt deine Webseite v o n der Galerie hoch. Wo du studiert hast. Was auch immer. U n d jetzt versuchen wir's mal m i t dieser 603-er Nummer.« Coras Finger flogen über die Tastatur. Sie drückte die ReturnTaste. »Warte. W i r haben was.« Sie starrte m i t zusammengekniffenen Augen auf den Monitor. »Bob Dodd.«
»Bob?« »Ja. N i c h t Robert. Bob.« Cora sah Grace an. »Sagt dir der Name was?« »Nein.« »Als Adresse wird hier ein Postfach in Fitzwilliam, N e w Jersey, angegeben. Je dort gewesen?« »Nein.«
»Und Jack?« »Kann ich mir nicht vorstellen. I c h meine, er ist in Vermont aufs College gegangen. Also könnte er in New Hampshire gewesen sein. Aber zusammen sind wir nie da gewesen.« Aus dem ersten Stock kam ein Geräusch. M a x hatte im Schlaf geschrien. »Geh schon«, sagte Cora. »Mal sehen, was ich über unseren Freund Mr. Dodd rauskriegen kann.« Während Grace zum Schlafzimmer ihres Sohnes hinauflief, traf eine weitere, schmerzliche Erkenntnis sie wie ein Schlag. Die Nachtwachen in diesem Haus waren Jacks Domäne. Er war zuständig für Albträume und nächtliche Durstattacken. Er war derjenige, der um drei U h r morgens den Kindern die Stirn hielt, wenn sie sich übergeben mussten. Tagsüber kümmerte sich Grace um Schnupfen und Fieber, machte Hühnersuppe warm und verteilte Medikamente. Die Nachtschicht aber war Jacks Angelegenheit. M a x ' Schluchzen war nur noch ein leises W i m m e r n , als sie sein Zimmer erreichte. Doch das ging ihr näher als lautes W e i nen oder Schreien. Grace nahm i h n in den A r m . Sein kleiner Körper bebte. Sie wiegte i h n in ihren A r m e n und redete sanft und beruhigend auf i h n ein. Sie flüsterte, M o m m y sei ja da, alles werde wieder gut, i h m könne nichts passieren. M a x brauchte eine Weile, bis er sich beruhigt hatte. Grace führte i h n ins Badezimmer. Er war noch n i c h t einmal sechs Jahre alt und pinkelte bereits wie ein M a n n . Was bedeutete, dass er die Kloschüssel um Meilen verpasste. Er schwankte und schlief beinah im Stehen ein. Sie zog i h m seinen Findet-Nemo-Schlafanzug wieder an und fragte i h n , ob er ihr v o n seinem Traum erzählen wolle. Er schüttelte nur den Kopf und schlief wieder ein. Sie brachte i h n ins Bett zurück. Grace beobachtete seine regelmäßigen Atemzüge. Die Ä h n lichkeit m i t seinem Vater war verblüffend. N a c h einer Weile kehrte sie wieder nach unten zurück. Dort
war alles still. Cora tippte nicht mehr auf der Tastatur herum. Grace betrat das Arbeitszimmer. Der Stuhl vor dem Schreibtisch war leer. Cora stand in der Ecke. In der H a n d hielt sie ihr W e i n glas krampfhaft fest. »Cora? Was ist?« »Ich weiß jetzt, warum Bob Dodds Nummer abgemeldet ist.« Coras Stimme klang unnatürlich gepresst. Grace hatte sie noch nie so erlebt. Sie wartete, dass ihre Freundin etwas sagte, doch diese schien sich nur tiefer in ihre Ecke zu drücken. »Was ist passiert?«, fragte Grace. Cora trank hastig einen Schluck. »Wenn man einem A r t i k e l in der New Hampshire Post glauben darf, ist Bob Dodd tot. Er ist vor zwei Wochen ermordet worden.«
16 Eric Wu betrat Sykes' Haus. D r i n n e n war es dunkel. Wu hatte kein einziges M a l L i c h t eingeschaltet. Der Eindringling - derjenige, der den Schlüssel aus dem Hohlraum im Stein genommen hatte - hatte ebenfalls auf L i c h t verzichtet. Das beschäftigte W u . Er war davon ausgegangen, die naseweise Frau in der Reizwäsche sei der Eindringling. Sollte sie tatsächlich so raffiniert sein, absichtlich kein L i c h t zu machen? Er hielt inne. Mehr noch: W e n n jemand so schlau und vorausschauend war, im Dunkeln zu bleiben, weshalb hatte er dann das Schlüsselversteck für jeden sichtbar geöffnet liegen gelassen? Das passte doch alles nicht zusammen. Wu duckte sich und kroch hinter den Fernsehsessel. Er horchte angestrengt. Nichts. Falls jemand im Haus war, musste er i h n früher oder später hören. Er wartete noch etwas länger. N o c h immer nichts.
Wus Gedanken drehten sich im Kreis. War der Eindringling hereingekommen und dann unverrichteter Dinge wieder gegangen? Er bezweifelte es. Wer riskierte, ein Schlüsselversteck zu plündern, um in ein Haus zu kommen, der sah sich erst einmal gründl i c h um. Hatte er dabei Freddy Sykes im oberen Badezimmer entdeckt? Wahrscheinlich. In diesem Fall würde er Hilfe holen. Hatte er nichts Ungewöhnliches entdeckt, schien es logisch, dass er das Haus verlassen und den Schlüssel wieder an seinen Platz legen würde. Keins v o n beidem war offenbar geschehen. Was sagte i h m das? Der Eindringling war noch im Haus. Er bewegte sich nicht. Er hatte sich versteckt. Wu ging lautlos ans Werk. Das Haus hatte drei Ausgänge. Er vergewisserte sich, dass alle Türen fest verschlossen waren. Zwei dav o n waren m i t schweren Riegeln gesichert. Er ließ sie geräuschlos zugleiten. Dann holte er sämtliche Stühle aus dem Esszimmer und verbarrikadierte damit zusätzlich alle drei Ausgänge. Er wollte um jeden Preis eine Flucht verhindern oder zumindest erschweren. Seinem Gegner eine Falle stellen. A u f der Treppe lag ein Läufer. Das machte es Wu leichter, sich lautlos anzuschleichen. Er musste sich unbedingt vergewissern, dass Freddy noch in der Badewanne lag. Erneut zermarterte er sich den Kopf darüber, weshalb das Schlüsselversteck so einladend leer und offen dagelegen hatte. Nichts daran ergab einen Sinn. Je mehr er darüber nachdachte, desto verhaltener wurde sein Schritt. Wu versuchte den A b l a u f sachlich und logisch v o n Anfang an nachzuvollziehen: Eine Person, die Freddy Sykes' Schlüsselversteck kennt, öffnet die Tür. Sie oder er geht hinein. U n d was dann? Angenommen er/sie findet Sykes und gerät in Panik. Er/sie ruft die Polizei an. Angenommen er/sie findet Sykes nicht - dann geht er/sie einfach wieder. Er/sie legt den Schlüssel in den H o h l raum zurück und stellt den Stein wieder an seinen Platz.
Nichts davon war geschehen. U n d Wu war ebenso schlau wie zuvor. Was also war die logische Schlussfolgerung? Die einzige andere Möglichkeit, die i h m in den Sinn kam - es sei denn, er hatte etwas übersehen -, war, dass der Eindringling Sykes in dem M o m e n t gefunden hatte, als Wu ins Haus gekommen war. Dann war keine Zeit mehr für einen A n r u f geblieben. N u r noch Zeit, sich zu verstecken. Selbst dieses Szenario hatte mehrere Haken. Hätte der Eindringling sich n i c h t L i c h t machen müssen? Vielleicht hatte er es getan. Vielleicht hatte er L i c h t gemacht, Wu kommen gesehen, das L i c h t gelöscht und sich dort versteckt, wo er sich gerade aufgehalten hatte. Wu hatte mittlerweile das Schlafzimmer des Hausherrn erreicht. Sein Blick wanderte zu der Ritze unter der Badezimmertür. K e i n Lichtschein zu sehen. Unterschätze niemals einen Feind, ermahnte er sich. Er hatte in letzter Zeit Fehler gemacht. Zu viele Fehler. Zuerst Rocky Conwell. Wu hatte zugelassen, dass er i h m folgte. Eine Nachlässigkeit, der erste Fehler. Dann hatte er sich v o n der Frau v o n nebenan erwischen lassen. Das war die nächste Schlamperei gewesen. U n d jetzt das. Wu war erbarmungslos gegen sich selbst. Er war nicht unfehlbar. Nur Idioten glaubten das von sich. Möglich, dass er während der Haft etwas eingerostet war. Egal. Wu musste sich konzentrieren. Sykes' Schlafzimmer war voller Fotos. Fünfzig Jahre lang war es das Schlafzimmer v o n Freddys Mutter gewesen. Sykes' Vater war im Korea-Krieg gefallen. Sykes war damals noch ein K i n d gewesen. Die Mutter war nie darüber hinweggekommen. Jeder reagiert unterschiedlich auf den Tod eines geliebten Menschen. Mrs. Sykes' hatte es vorgezogen, in der Vergangenheit weiter zu leben, nicht in der Gegenwart. Wus Hand lag jetzt auf dem Türknauf.
Das Badezimmer war klein, wie er wusste. Er versuchte sich vorzustellen, wo sich jemand verstecken konnte. Es fiel ihm nichts ein. Wu hatte eine Waffe in seinem Matchbeutel. Er überlegte kurz, ob er sie holen sollte. War der Eindringling bewaffnet, hatte er ein Problem. Zu selbstbewusst? Vielleicht. Aber Wu glaubte, auch ohne Waffe auszukommen. Er drehte den Türknauf und stieß zu. Freddy Sykes lag noch immer in der Badewanne - den Knebel im Mund - die Augen geschlossen. War Freddy bereits tot? Vermutlich. Ansonsten war der Raum leer. Ein Versteck gab es nicht. Niemand war Freddy zu Hilfe gekommen. Wu schlich zum Fenster. Er sah jetzt hinaus, hinüber zum Nachbarhaus. Die Frau - die Frau, die Reizwäsche getragen hatte - war da. In ihrem Haus. Hinter dem Fenster. Sie starrte zu ihm herüber. In diesem Moment hörte Wu das Motorengeräusch eines Autos. Keine Sirene war zu hören, doch als er sich der Einfahrt zuwandte, sah er den roten rotierenden Lichtschein der Signalanlage des Streifenwagens. Die Polizei war da. * Charlaine Swain war nicht blöd. Sie sah schließlich Filme. Sie las Bücher. Viele Bücher und viele Filme. Flucht vor der Gegenwart, hatte sie gedacht. Unterhaltung. Ein Mittel, sich angesichts des täglichen Einerleis zu betäuben. Aber vielleicht waren diese Filme und Bücher doch keine Zeitverschwendung, sondern lehrreich gewesen. Wie oft hatte sie der allzu forschen Heldin - der so verdammt furchtlosen, unheimlich schlanken, schwarzhaarigen Schönheit - zugerufen, nicht in das verdammte Haus zu gehen?
Zu oft. Jetzt nämlich, da sie selbst in diese Fußstapfen getreten war, hatte sie n i c h t gezögert. M i t ihr konnten sie das nicht machen. Charlaine Swain würde diesen Fehler n i c h t machen. Sie hatte vor Freddys Hintertür gestanden und auf das Schlüsselversteck gestarrt. Aufgrund ihres Trainings durch Film, Bücher und Fernsehen war ihr klar, dass sie n i c h t ins Haus gehen konnte - aber auf sich beruhen lassen durfte sie die Sache auch nicht. Da stimmte etwas nicht. Ein Mensch war in Gefahr. Darüber konnte sie n i c h t hinwegsehen. Sie hatte eine Idee. Es war ganz einfach. Sie nahm den Schlüssel aus dem H o h l raum der Attrappe. Er steckte jetzt in ihrer Tasche. Sie ließ das Schlüsselversteck für jeden sichtbar aufgeklappt liegen. N i c h t , weil sie wollte, dass der Asiate es sah, sondern weil ihr dies als Rechtfertigung diente, die Polizei zu alarmieren. In dem Moment, da der Asiate Freddys Haus betrat, wählte sie die Notrufnummer. »Im Haus meines Nachbarn ist jemand«, sagte sie der Polizei. Ihr Beweis: das Schlüsselversteck lag geöffnet und achtlos umgekippt auf dem Gartenweg. Jetzt war die Polizei da. Ein Streifenwagen war in ihren Block eingebogen. Ohne Sirene. Der Wagen raste nicht m i t quietschenden Reifen in die Auffahrt, sondern fuhr lediglich etwas schneller als erlaubt und lautlos zum Haus. Charlaine riskierte einen Blick zurück zu Freddys Haus. Der Asiate war dort. Ihre Blicke trafen sich.
17 Grace starrte auf die Überschrift. »Er ist ermordet worden?« Cora nickte. »Wie?«
»Bob Dodd wurde in Gegenwart seiner Frau durch einen Kopfschuss getötet. Ganz im S t i l eines Mafiamordes, heißt es. Was immer das bedeuten mag.« »Haben sie den Täter gefasst?« »Nö.« »Wann?« »Du meinst, wann er ermordet wurde?« »Ja, wann?« »Vier Tage, nachdem Jack i h n angerufen hatte.« Cora ging wieder zum Computer. Grace dachte über das Dat u m nach. »Jack kann es nicht gewesen sein.«
»Hm.« »Völlig unmöglich. Jack hat seit über einem M o n a t den Staat N e w Jersey nicht verlassen.« »Wenn du meinst.« »Was soll das heißen?« »Nichts, Grace. I c h b i n auf deiner Seite, okay? I c h glaube auch nicht, dass Jack irgendjemand umgebracht hat. Aber bitte, lass uns das erst mal auf die Reihe kriegen!« »Was meinst du damit?« »Ich meine, du solltest m i t diesem >Hat-den-Staat-nicht-verlassen-Quatsch< aufhören. New Hampshire ist n i c h t Kalifornien. M i t dem A u t o bist du in vier Stunden da. M i t dem Flieger in einer.« Grace rieb sich die Augen. »Noch was«, fuhr Cora fort. »Ich weiß, weshalb er als Bob und nicht als Robert geführt wird.« »Warum?« »Er ist Reporter. Damit signiert er seine A r t i k e l . Bob Dodd. Google hat 126 Einträge unter dem Namen in den vergangenen drei Jahren. Betrifft seine A r t i k e l für die New Hampshire Post. Im Nachruf w i r d er als - wo steht es gleich? - hartnäckiger und
unbequemer Enthüllungs-Journalist bezeichnet. In der Zeitung steht, irgendwelche Banden aus N e w Hampshire hätten i h n wahrscheinlich umgelegt, um i h n mundtot zu machen.« »Aber du glaubst nicht daran?« »Schwer zu sagen. Aber beim Überfliegen der A r t i k e l würde i c h Bob Dodd eher für einen kleinen Lokalreporter halten - du weißt schon, er stellt Kundendienstfirmen für Geschirrspüler an den Pranger, die alte Damen ausnehmen, Hochzeitsfotografen, die m i t der Anzahlung verschwinden, und so weiter.« »Vielleicht ist er jemandem zu fest auf die Zehen getreten.« »Könnte sein, könnte sein«, sagte Cora in neutralem Ton. » U n d du hältst es für Zufall, dass Jack den Typ angerufen hat, bevor er ins Gras gebissen hat?« »Nein, Zufälle gibt's da nicht.« Grace versuchte zu verarbeiten, was sie erfahren hatte. »Moment mal.« »Was ist?« »Das Foto. A u f dem Foto sind fünf Personen. Zwei Frauen und zwei Männer. Ist vielleicht weit hergeholt...« Cora bearbeitete bereits wieder die Tastatur. »Aber vielleicht ist Bob Dodd einer davon?« »Es gibt doch auch Suchmaschinen für Fotos, oder?« »Bin schon dabei.« Ihre Finger flogen über die Tasten, der Cursor flackerte über den Bildschirm, die Maus klickte. Das Ergebnis waren zwei Seiten und insgesamt zwölf Fotos v o n Bob Dodd. A u f der ersten Seite war ein Jäger des gleichen Namens aus Wisconsin aufgeführt. A u f der zweiten Seite - dem elften Treffer - fand sich das Foto einer Tischgesellschaft bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung in Bristol, N e w Hampshire. Bob Dodd, ein Reporter der New Hampshire Post, war das erste Gesicht v o n links. Sie brauchten gar nicht genauer hinzusehen. Bob Dodd war
Afroamerikaner. U n d alle auf dem geheimnisvollen Foto waren Weiße. Grace runzelte die Stirn. »Trotzdem muss es eine Verbindung geben.« »Warte mal. Vielleicht k a n n i c h irgendwo eine Biographie v o n i h m auftun. Möglicherweise sind sie zusammen aufs College gegangen oder so.« An der Haustür ertönte ein zaghaftes Klopfen. Grace und Cora sahen sich an. »Ziemlich spät«, bemerkte Cora. Erneutes Klopfen an der Tür, ebenso leise. Es gab eine Klingel. Wer auch immer vor der T ü r stand, schien sie absichtlich nicht zu benutzen. Da wusste w o h l jemand, dass sie Kinder hatte. Grace stand auf. Cora folgte ihr. An der Haustür knipste sie die Außenbeleuchtung an und starrte aus dem Fenster neben der Tür. Eigentlich hätte Grace viel überraschter sein müssen, aber vermutlich wunderte sie mittlerweile gar nichts mehr. »Wer ist es?«, fragte Cora. »Der M a n n , der m e i n Leben verändert hat«, antwortete Grace leise. Sie öffnete die Haustür. A u f der kleinen Veranda stand m i t gesenktem Kopf Jimmy X.
* Wu war das Lachen vergangen. Diese Frau! Sobald er das Blaulicht des Streifenwagens gesehen hatte, hatte er 1 und 1 zusammengezählt. Ihre Gerissenheit war bewundernswert und ätzend zugleich. D o c h für Gefühle war jetzt keine Zeit. Was t u n ... ? Jack Lawson lag gefesselt im Kofferraum. Wu war jetzt klar, dass er in dem M o m e n t Reißaus hätte nehmen sollen, als er das geplünderte Schlüsselversteck gesehen hatte. Der nächste Fehler. W i e viele konnte er sich n o c h leisten?
Schadensbegrenzung war angesagt. Doch viel war nicht mehr zu verhindern. Das schmerzte. Das kostete. Seine Fingerabdrücke waren im ganzen Haus verteilt. U n d mittlerweile hatte die Frau v o n nebenan der Polizei sicher eine Personenbeschreibung geliefert. Tot oder lebendig, man würde Sykes finden. A u c h dagegen war er machtlos. Schlussfolgerung: W e n n sie i h n schnappten, landete er im Gefängnis - und zwar für eine verdammt lange Zeit. Der Streifenwagen rollte in die Auffahrt. Für Wu ging es nur noch ums Überleben. Er lief die Treppe hinunter. Durch das Fenster sah er, wie der Streifenwagen anhielt. M i t t lerweile war es draußen dunkel geworden, doch die Straße war hell erleuchtet. Ein großer dunkelhäutiger M a n n in Uniform stieg aus. Er setzte seine Dienstmütze auf. Die Dienstwaffe blieb im Halfter. Das war gut. Der dunkelhäutige Polizist hatte das Haus noch nicht erreicht, da öffnete Wu i h m auch schon m i t einem breiten Lächeln die Haustür. »Was kann i c h für Sie tun, Officer?« Der Polizist zog keine Waffe. Darauf hatte Wu gehofft. Sie befanden sich immerhin in einer Wohngegend für Familien im endlosen Meer amerikanischer Vorstädte. Ein Officer in H o - H o Kus w i r d während seiner Dienstjahre vermutlich zu mehreren hundert potenziellen Einbrüchen gerufen. Die meisten davon, n i c h t alle, entpuppten sich als falscher A l a r m . »Wir wurden angerufen. Hier soll eingebrochen worden sein«, sagte der Polizeibeamte. Wu runzelte die Stirn, tat verwirrt. Er trat einen Schritt vor die Tür, blieb jedoch auf Distanz. N o c h nicht, dachte er. Wieg i h n in Sicherheit. Wus Bewegungen waren bewusst langsam, lässig. » A h , M o m e n t . I c h weiß Bescheid. I c h hatte meinen Schlüssel vergessen. Vermutlich hat jemand gesehen, dass ich durch die Hintertür rein bin.« »Sie wohnen also hier, Mr. ... ?«
»Chang«, ergänzte W u . »Ja, ich wohne hier. Aber es ist n i c h t mein Haus. Es gehört meinem Partner Frederick Sykes.« Jetzt wagte sich Wu den nächsten Schritt vorwärts. »Verstehe«, sagte der Polizist. » U n d Mr. Sykes ist...?« »Oben. Im ersten Stock.« »Ich möchte i h n gern sprechen.« »Kein Problem. Kommen Sie rein.« Wu wandte dem Polizeibeamten den Rücken zu und rief ins Haus: »Freddy? Freddy, zieh dir was an. Die Polizei ist da.« Wu musste sich n i c h t umdrehen. Er wusste, dass der Polizist hinter i h m herkam. Er war jetzt nur noch gut vier Meter v o n i h m entfernt. Wu trat ins Haus. Er hielt die T ü r auf und schenkte dem Polizisten ein, wie er dachte, schwules Lächeln. Der Polizist sein Namensschild lautete Richardson - kam zur Tür. A l s er nur noch einen Meter entfernt war, schnellte Wu nach vorn. Officer Richardson hatte gezögert, vielleicht etwas geahnt, doch da war es schon zu spät gewesen. Der m i t t e n in seine Eingeweide gezielte Schlag war ein Handkantenschlag. Richardson klappte zusammen wie ein Liegestuhl. Wu trat näher. Er wollte i h n bewegungsunfähig machen, n i c h t töten. Der Oberkörper des Cops war vornübergefallen. Wu schlug ihm in die Kniekehlen. Richardson ging auf die Knie. Wu benutzte eine Druckpunkt-Technik. Er versenkte die Knöchel seines Zeigefingers in die Vertiefungen unterhalb der Ohrläppchen an einem Punkt zwischen Kieferknochen und dem Warzenfortsatz des Hinterhauptes, einem Bereich, den die Akupunktur als TW 17 kennt. Der korrekte W i n k e l des Griffs ist entscheidend. Übte man zu viel Druck aus, konnte man jemanden töten. Hier war Präzision gefragt. V o n Richardsons Augen war fast nur noch das Weiße zu sehen. Wu ließ los. Richardson sackte wie eine Marionette zu Boden, deren Schnüre man durchgeschnitten hatte. Die Bewusst- und Bewegungslosigkeit würde n i c h t lange an-
halten. Wu nahm die Handschellen v o m Gürtel des Mannes und fesselte i h n m i t den Handgelenken an das Treppengeländer. Dann riss er i h m das Funkgerät v o n der Schulter. Wu dachte an die Frau v o n nebenan. Sie war sicher wieder auf ihrem Beobachtungsposten. Sie würde die Polizei bestimmt erneut anrufen. Er zögerte. Für sie blieb i h m keine Zeit. Sie würde i h n kommen sehen und sich sofort verbarrikadieren. Das kostete i h n zu viel Zeit. Seine größte Chance war der Überraschungseffekt. Er lief in die Garage zu Jack Lawsons M i n i v a n . Ein Blick in den Laderaum genügte. Jack Lawson war noch da. Wu setzte sich hinters Steuer. Er hatte einen Plan.
* Charlaine ahnte nichts Gutes, als sie den Polizisten aus dem Wagen steigen sah. Zum einen war er allein. Sie hatte angenommen, dass sie zu zweit kommen würden - und wieder bewährte sich ihre Erfahrung als eifrige Fernsehzuschauerin. Umgehend wurde ihr klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Ihr A n r u f hatte zu harmlos geklungen. Sie hätte die Sache dringlicher, bedrohlicher beschreiben müssen. Dann wären die Beamten gewarnt gewesen, wären vorsichtiger vorgegangen. Stattdessen war sie wie eine neugierige Nachbarin aufgetreten, eine verrückte Hausfrau, die nichts Besseres zu tun hatte, als bei jeder Kleinigkeit die Polizei aufzuscheuchen. A u c h die Körpersprache des Polizisten stimmte nicht. Er schlenderte beschwingt auf das Haus zu, locker und lässig, v o l l kommen arglos. Charlaine konnte v o n ihrem Standort aus nur die Einfahrt, nicht jedoch die Haustür sehen. A l s der Polizist aus ihrem Blickfeld verschwand, sank ihr M u t . Sie war kurz versucht, i h m eine Warnung zuzurufen. Das Problem waren - so idiotisch das auch klingen mochte - die neuen Fenster, die sie im vergangenen Jahr hatten einbauen lassen. Sie
wurden vertikal durch einen Handknauf geöffnet. Bis sie beide Schlösser geöffnet und den Knauf bedient hatte, war der Officer längst außer Sichtweite. U n d was hätte sie i h m schon zurufen sollen? Welche Warnung? Was wusste sie denn schon? Sie wartete. Mike war zu Hause. Er saß unten im Arbeitszimmer und sah sich im Sportkanal ein Spiel der Yankees an. Es war der Abend der getrennten Freuden. Sie sahen schon lange nicht mehr gemeinsam fern. Die A r t , wie er durch die Programme zappte, machte sie wahnsinnig. Außerdem hatten sie unterschiedliche Vorlieben. Aber irgendwie erschien ihr das nicht der wirkliche Grund zu sein. Sie war nicht wählerisch. Dennoch nahm Mike das Arbeitszimmer. Sie hatte das Schlafzimmer. Sie sahen allein und im Dunkeln fern. A u c h hier wusste sie nicht so recht, wann es damit angefangen hatte. Die Kinder waren heute Abend nicht zu Hause - Mikes Bruder war m i t ihnen im Kino -, doch selbst wenn sie alle zu Hause waren, blieben sie meist in getrennten Zimmern. Charlaine versuchte die Zeit fürs Internet-Surfen zu begrenzen, doch das war unmöglich. In ihrer Jugend hatten Freundinnen und Freunde stundenlang telefoniert. Heutzutage chatteten sie im Internet. Das war aus ihrer Familie geworden - vier voneinander getrennt existierende Persönlichkeiten, die jeder für sich im D u n keln saßen und nur miteinander kommunizierten, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Sie sah, wie L i c h t in Sykes' Garage aufflackerte. Durch das Fenster, das m i t dem dünnen Spitzenvorhang, konnte Charlaine einen Schatten erkennen. Da war jemand. In der Garage. Warum? Es gab keinen Grund, weshalb sich der Polizist dort aufhalten sollte. Sie griff nach dem Telefonhörer und wählte den Polizeinotruf, während sie schon auf dem Weg zur Treppe war. »Ich habe vor einer Weile angerufen«, eröffnete sie der Frau in der Telefonzentrale.
»Ja und?«
»Wegen eines Einbruchs im Nachbarhaus.« »Ein Kollege ist bereits unterwegs.« »Ja, das weiß ich. Ich habe den Streifenwagen in der Einfahrt gesehen.« Stille. Sie kam sich wie eine I d i o t i n vor. »Ich glaube, da ist was passiert.« »Was haben Sie gesehen?« »Ich glaube, er ist überfallen worden. Ihr Kollege. Bitte schicken Sie schnell Hilfe.« Sie legte auf. Je länger sie sich in Erklärungen versuchte, desto dämlicher musste es sich anhören. Das vertraute surrende Geräusch ertönte. Charlaine wusste, was es bedeutete. Es war Freddys elektrisches Garagentor. Der M a n n hatte dem Polizisten etwas angetan. U n d jetzt machte er sich aus dem Staub. In diesem Moment beschloss Charlaine, etwas ausgesprochen Dummes zu tun. Sie dachte an jene betörend schlanken Heldinnen, die m i t dem vielen Stroh im Kopf, und fragte sich, ob je eine v o n ihnen, auch die dämlichste, je etwas so unterirdisch Dummes getan hatte. Sie bezweifelte es. Sie wusste, dass sie später, im Rückblick auf ihre Entscheidung - vorausgesetzt sie überlebte sie - lachen und vielleicht, nur vielleicht etwas mehr A c h t u n g vor jenen Protagonistinnen haben würde, die nur m i t Büstenhalter und Slip bekleidet in dunkle Häuser schlichen. Tatsache war: Der asiatisch aussehende M a n n war drauf und dran, die Flucht zu ergreifen. Er hatte Freddy verletzt. Er hatte einen Cop außer Gefecht gesetzt. Dessen war sie sicher. Bis die Polizei reagierte, war er über alle Berge. Sie würden i h n nicht f i n den. Es wäre zu spät. U n d wenn er entkam, was dann? Er hatte sie gesehen. Das war ihr klar. Am Fenster. Vermutlich hatte er längst erraten, dass sie die Polizei gerufen hatte. Freddy
konnte tot sein. Der Polizist auch. U n d wer war dann die einzige noch lebende Zeugin? Charlaine. Er würde wegen ihr zurückkommen. Soviel war sicher. U n d selbst wenn er es nicht tat, selbst wenn er beschloss, sie in Ruhe zu lassen, dann würde sie bestenfalls permanent in Angst leben. Sie würde nachts n i c h t schlafen können. Am Tag würde sie unter den Passanten und Menschen in der Stadt nur sein Gesicht suchen. Vielleicht wollte er sich rächen. Vielleicht würde er sich an M i k e oder den Kindern vergreifen ... Das durfte sie nicht zulassen. Sie musste i h n hier und jetzt aufhalten. Wie? Eine Flucht zu verhindern, war ja eine nette Idee, aber bleiben wir auf dem Teppich. Was konnte sie schon tun? Ein Gewehr besaßen sie nicht. Sie konnte nicht einfach rüber laufen, i h n wie eine Raubkatze anspringen und i h m die Augen auskratzen. N e i n , da musste sie sich schon was Schlaueres einfallen lassen. Sie würde i h n verfolgen. Oberflächlich betrachtet, musste das lächerlich erscheinen. Aber falls er entwischte, bedeutete das für sie ein Leben in Angst. Albträume, bis er gefasst war, wozu es möglicherweise nie kam. Charlaine hatte das Gesicht des Mannes gesehen. Sie hatte seine Augen gesehen. Damit konnte sie nicht leben. I h n zu verfolgen, i h n zu beschatten, wie das in den Fernsehfilmen hieß, war in Ordnung, wenn man die Alternativen bedachte. Sie wollte i h m m i t ihrem Wagen folgen. Sie würde A b stand halten. Sie hatte ihr Handy. Also konnte sie der Polizei jederzeit sagen, wo er sich befand. Ihr Plan war es nicht, i h m lange zu folgen, nur so lange, bis die Polizei alles Weitere übernehmen konnte. W e n n sie jetzt nicht handelte, war der Asiate verschwunden, bevor die Polizei kam. Es gab keine Alternative.
Je länger sie darüber nachdachte, desto weniger absurd kam es ihr vor. Sie hatte ein schnelles A u t o . Sie würde Abstand halten. Sie konnte über ihr Handy jederzeit den Polizeinotruf wählen. War das nicht sicherer, als i h n entkommen zu lassen? »Charlaine?« Es war M i k e . Er stand plötzlich da, in der Küche vor der Spüle und aß Cracker m i t Erdnussbutter. Sie erstarrte kurz. Sein Blick erfasste sie prüfend, so wie nur er es konnte, wie nur er sie ansah. Sie fühlte sich zurückversetzt in ihre Zeit in Vanderbilt, als sie sich ineinander verliebt hatten. Die A r t , wie er sie damals angesehen hatte, die A r t , wie er sie jetzt ansah. Er war damals schlanker und verdammt gut aussehend gewesen. D o c h der Blick, die Augen, waren dieselben geblieben. »Was ist los?« »Ich muss ...« Sie hielt inne und schnappte nach Luft. »Ich muss noch mal weg.« Seine Augen. Prüfend. Sie erinnerte sich, wie sie i h n zum ersten M a l gesehen hatte, an jenem sonnigen Tag im Centennial Park in Nashville. W o h i n war es m i t ihnen gekommen? M i k e betrachtete sie noch immer. Er sah sie noch immer an, wie kein anderer sie jemals angesehen hatte. Einen M o m e n t war Charlaine unfähig, sich zu bewegen. Sie war den Tränen nahe. M i k e ließ die Cracker in die Spüle fallen und kam auf sie zu. »Ich fahre«, sagte M i k e .
18 Grace und der berühmte Rockmusiker Jimmy X waren allein im kombinierten Arbeits- und Spielzimmer ihres Hauses. M a x ' Gameboy lag umgekippt auf dem Fußboden. Das Batteriefach war aufgebrochen und wurde v o n einem Klebeband zusammengehalten. Die Spielkassette, die wie ausgespuckt daneben lag,
trug den T i t e l »Super Mario 5« und wies für Graces ungeübtes Auge nicht den geringsten Unterschied zu Super Mario 1-4 auf. Cora hatte sie allein gelassen und spielte weiter Cyberdetektiv. Jimmy hatte noch kein W o r t gesprochen. Er saß einfach nur m i t gesenktem Kopf da, die Unterarme auf den Oberschenkeln, und erinnerte Grace an ihre erste Begegnung im Krankenzimmer, kurz nachdem sie das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Er wollte offenbar, dass sie den ersten Schritt tat. Das spürte sie deutlich. Doch sie hatte i h m nichts zu sagen. »Entschuldigen Sie, dass ich so spät komme«, sagte er. »Dachte, Sie hätten heute ein Konzert.« »Schon vorbei.« »Früh«, bemerkte sie. »Diese Konzerte sind gewöhnlich um neun zu Ende. Das w o l len die Promoter so.« »Woher wussten Sie, wo ich wohne?« Jimmy zuckte die Achseln. »Schätze, das habe ich immer gewusst.« »Was soll das heißen?« Er antwortete nicht, und sie drängte i h n nicht. Einige Sekunden lang herrschte absolute Stille. »Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll«, bemerkte Jimmy. Dann nach kurzer Pause fügte er hinzu: »Sie hinken immer noch.« »Schmeichelhafte Anmache«, sagte sie. Er versuchte ein Lächeln. »Ja, ich hinke.« »Vom ...«
»Ja.« »Tut mir Leid.« »Bin noch glimpflich davongekommen.« E i n Schatten huschte über sein Gesicht. Sein Kopf, den er endlich zu heben gewagt hatte, sackte erneut vornüber, als habe er seine Lektion gelernt.
Jimmy hatte noch immer diese typischen ausgeprägten Wangenknochen. Die berühmten blonden Locken waren verschwunden. Ob durch genetische Disposition oder durch Schere und Haarschneider, konnte sie n i c h t sagen. N a t ü r l i c h war er älter geworden. Er hatte seine Jugend bereits hinter sich. U n d sie? K o n n te man das auch v o n ihr behaupten? »Ich habe in jener Nacht alles verloren«, begann er. Dann hielt er inne und schüttelte den Kopf. »Nein, das stimmt so nicht. Ich w i l l kein Mitleid.« Sie schwieg. »Erinnern Sie sich noch, dass ich Sie im Krankenhaus besucht habe?« Sie nickte. »Ich hatte jeden Zeitungsartikel gelesen. Jeden Illustriertenbericht. I c h hatte sämtliche Fernsehdokumentationen gesehen. I c h kenne die Geschichte jedes Jugendlichen, der in jener Nacht gestorben ist. Jede einzelne. I c h kenne ihre Gesichter. W e n n ich die Augen zumache, sehe ich sie noch immer vor mir.« »Jimmy?« Er sah wieder auf. »Sie sollten das nicht mir erzählen. Die Kids hatten Familien.« »Weiß ich.« »Ich kann Ihnen keine Absolution erteilen. Das steht mir n i c h t zu.« »Meinen Sie, ich sei deshalb hier?« Grace antwortete nicht. »Es ist nur ...« Er schüttelte den Kopf. »Keine A h n u n g , warum ich hier bin. Ich habe Sie heute A b e n d gesehen. In der Kirche. M i r war klar, dass Sie m i c h erkannt haben.« Er neigte den Kopf zur Seite. »Wie haben Sie m i c h überhaupt gefunden?« »Habe ich gar nicht.« »War's der M a n n in Ihrer Begleitung?«
»Carl Vespa.« »Gütiger Himmel.« Er schloss die Augen. »Der Vater v o n Ryan.« »Richtig.« »Er hat Sie mitgenommen?«
»Ja.« »Was w i l l er?« Grace überlegte. »Ich glaube, das weiß er selbst nicht.« Jetzt war es an Jimmy, zu schweigen. »Er glaubt, er möchte eine Entschuldigung hören.« »Glaubt?« »In W i r k l i c h k e i t w i l l er seinen Sohn wieder haben.« Die Atmosphäre wurde drückend. Grace rutschte auf ihrem Stuhl herum. Jimmy war kreidebleich. »Ich hab's versucht, wissen Sie. M i c h zu entschuldigen, meine ich. Da hat er schon Recht. Das schulde ich ihm. Zumindest das. U n d ich meine nicht diesen dämlichen Fototermin mit Ihnen im Krankenhaus. M e i n Manager wollte das. Ich war so m i t Drogen zu, dass ich mitgemacht habe. Ich konnte kaum stehen.« Er sah sie starr an. Sein Blick hatte diese Intensität, die ihm bei M T V massenweise Fans zugetrieben hatte. »Erinnern Sie sich an Tommy Garrison?« Sie erinnerte sich. Er war bei der Panik zu Tode getrampelt worden. Seine Eltern hießen Ed und Selma. »Sein Bild hat m i c h angerührt. I c h meine, das war bei allen der Fall. Diese jungen Leben ... die hatten noch alles vor sich...« Er hielt inne, holte tief Luft und machte einen nächsten Versuch: »Aber Tommy ... er hat wie mein kleiner Bruder ausgesehen. I c h habe i h n nicht aus dem Kopf gekriegt. Also habe ich seine Familie besucht. I c h wollte m i c h bei den Eltern entschuldigen ...« Er verstummte erneut. »Was ist passiert?« »Ich b i n hingefahren. W i r saßen an ihrem Küchentisch. I c h habe die Ellbogen aufgestützt und der Tisch hat gewackelt. Der
Linoleumfußboden war stellenweise aufgeworfen. Die Tapete, diese schreckliche gelbe Blumentapete, löste sich teilweise v o n den Wänden. Tommy war ihr einziges K i n d gewesen. I c h habe ihr Leben gesehen, habe in ihre leeren Gesichter gesehen ... I c h konnte es nicht ertragen.« Sie sagte nichts. »Danach b i n ich geflüchtet.«
»Jimmy?« Er sah sie an. »Wo sind Sie gewesen?« » A n vielen Orten.« »Warum?« »Warum was?« »Warum haben Sie alles aufgegeben?« Er zuckte die Schultern. »So viel war da ehrlich gesagt nicht aufzugeben. Das Musikgeschäft ... ich w i l l nicht ins Detail gehen. Sagen wir, so viel Geld war für m i c h da noch nicht drin. Ich war neu. Es dauert eine Weile, bis man das große Geld verdient. War mir alles egal. Ich wollte nur fort.« » U n d w o h i n ging die Reise?« »Zuerst nach Alaska. Habe Fische ausgenommen. M a n glaubt es kaum. Ungefähr ein Jahr lang. Dann b i n ich herumgereist, habe m i t mehreren kleineren Bands gespielt. In Seattle b i n ich auf eine Gruppe von Alt-Hippies gestoßen. Die haben den M i t gliedern v o n Weather Underground falsche Pässe angefertigt und so. A u c h mir haben sie neue Papiere verschafft. Später b i n ich eine Weile m i t einer Band in einem Casino v o n A t l a n t i k C i t y aufgetreten. Im Tropicana. I c h habe mir die Haare gefärbt. Habe nur Schlagzeug gespielt. Niemand hat m i c h erkannt. U n d wer m i c h erkannt hat, dem war's egal.« »Waren Sie glücklich?« »Wollen Sie die Wahrheit hören? War ich nicht. Ich wollte zurückkommen. I c h wollte was wieder gutmachen und dann wieder
verschwinden. Aber je länger ich fortgeblieben bin, desto schwieriger wurde es. U n d desto mehr habe ich es mir gewünscht. Ein Teufelskreis. U n d dann habe i c h Madison kennen gelernt.« »Die Leadsängerin von Rapture?« »Richtig. Madison. N i c h t zu fassen, dass jemand so heißt. Ist ziemlich i n , der Name. Erinnern Sie sich an den Film Splash? M i t T o m Hanks und dieser ...« »Deryl Hannah«, ergänzte Grace automatisch. »Richtig. Die blonde Meerjungfrau. Da ist doch die Szene, in der Tom Hanks ihr einen Namen zu geben versucht. Er zählt alle möglichen auf. Jennifer oder Stephanie, und dann kommen sie an der Madison Avenue vorbei, und sie w i l l plötzlich Madison heißen. Ist ein großer Lacher im Film. Eine Frau namens M a d i son! U n d jetzt ist er tierisch in Mode.« Grace ließ das unkommentiert. »Na, jedenfalls k o m m t sie aus einem Nest in Minnesota. Ist m i t fünfzehn nach New York durchgebrannt und schließlich ohne Kohle und obdachlos in A t l a n t i c C i t y gestrandet. Dort kam sie in ein H e i m für obdachlose Jugendliche. Sie hat Jesus für sich entdeckt. Die übliche Masche. M a n tauscht die eine Sucht gegen die andere. U n d sie hat zu singen angefangen. Sie hat eine Stimme wie ein Janis-Joplin-Engel.« »Weiß sie, wer Sie sind?« »Nein. W i e Shania ihren M u t t Lange im Hintergrund hat, so hatte ich mir das m i t Madison vorgestellt. I c h arbeite gern m i t ihr. Ich mag ihre Musik. Allerdings wollte ich erst nicht mehr ins Rampenlicht. Jedenfalls bilde i c h mir das ein. Madison ist schrecklich schüchtern. Ohne m i c h w i l l sie nicht auf die Bühne. Irgendwann wird sie's packen. Aber bis es so weit ist, dachte ich, sei das Schlagzeug eine gute Tarnung.« Er zuckte die Schultern, versuchte ein Lächeln. Ein Hauch seiner alten, faszinierenden Ausstrahlung war noch ansatzweise zu spüren. »Schätze, das war ein Irrtum.«
Einen M o m e n t sprach keiner ein Wort. »Ich versteh's immer noch nicht«, brach Grace das Schweigen. Er sah sie an. »Wie gesagt, es steht mir nicht zu, Ihnen Absolution zu erteilen. Aber Fakt ist doch, dass Sie damals an jenem A b e n d keinen Schuss abgegeben haben.« Jimmy rührte sich nicht. »Die The Who zum Beispiel. Bei ihrem Konzert in Cincinnati ist doch auch Panik ausgebrochen. Ohne größere Folgen. U n d die Stones ... als dieser Hell's A n g e l bei einem ihrer Konzerte einen Jungen umgebracht hat ... und die treten immer noch auf. I c h verstehe, dass eine Pause v o n ein bis zwei Jahren angebracht war, aber ...« Jimmy sah zur Seite. »Ich sollte jetzt gehen.« Er stand auf. »Wollen Sie wieder untertauchen?«, fragte sie. Er zögerte. Dann griff er in die Tasche. Er zog eine Karte heraus und reichte sie ihr. A u f ihr stand eine Kombination aus 10 Zahlen. Das war alles. »Ich habe keine Adresse, kein Zuhause. N u r ein Handy.« Er drehte sich um und ging zur Tür. Grace folgte i h m nicht. Unter normalen Umständen hätte sie i h n vielleicht bedrängt, aber letztendlich war sein Besuch nur ein bedeutungsloses Ereignis am Rande. Ihre Vergangenheit übte eine seltsame Faszination auf andere aus. Das war alles. Besonders jetzt. »Passen Sie auf sich auf, Grace.« »Sie auch, Jimmy.« Sie blieb im Zimmer zurück, fühlte, wie sich Erschöpfung schwer auf ihren Schultern legte, und fragte sich, wo Jack w o h l in diesem Moment sein mochte.
*
Es war tatsächlich M i k e , der sich ans Steuer setzte. Der asiatisch aussehende M a n n hatte fast eine M i n u t e Vorsprung, doch das nützte i h m nichts in ihrem verwinkelten Wohnviertel m i t seinen Sackgassen, einzeln stehenden Häusern und bewaldeten Grundstücken - diesem wunderbar unübersichtlichen Vorstadtbrei -, denn es gab nur eine richtige Zufahrt und nur eine Ausfahrt. In diesem Viertel v o n Ho-Ho-Kus führen alle Straßen auf die Hollywood Avenue. Charlaine klärte M i k e in knappen W o r t e n auf. Sie erzählte i h m das meiste - wie sie aus dem Fenster gesehen, den M a n n entdeckt hatte und misstrauisch geworden war. M i k e hörte zu, ohne sie zu unterbrechen. Ihre Geschichte hatte Schwachstellen groß wie Falltüren. Sie ließ zum Beispiel aus, weshalb sie aus dem Fenster gesehen hatte. M i k e mussten die Lücken aufgefallen sein, doch er ließ sie vorerst unkommentiert. Charlaine musterte prüfend sein Profil und fühlte sich erneut an ihre erste Begegnung erinnert. Sie war damals im ersten Semester an der Vanderbilt University gewesen. In Nashville gab es nicht weit vom Campus einen Park mit einer Nachbildung des Parthen o n Tempels von A t h e n . Ursprünglich 1897 für die Ausstellung zur Hundertjahrfeier von Nashville erbaut, galt sie bald als die realistischste Kopie des berühmten Tempels auf der Akropolis. U n d genau dort hatte Charlaine, gerade achtzehn Jahre alt, an einem warmen Herbsttag gesessen, den Blick bewundernd auf das Gebäude gerichtet in dem Versuch, sich das Leben und Treiben im alten A t h e n vorzustellen, als eine Stimme gesagt hatte: »Haut n i c h t h i n , oder?« Sie drehte sich um. M i k e hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben. Er sah wahnsinnig gut aus. »Wie bitte?« Er kam einen Schritt näher, den A n f l u g eines Lächelns auf den Lippen, und strahlte ein Selbstbewusstsein aus, das sie sofort faszinierte. M i k e machte eine Kopfbewegung in Richtung des riesigen Tempels. »Ist ein genaues A b b i l d , heißt es. Du schaust es
an und siehst, was sie gesehen haben, die großen Philosophen wie Plato und Sokrates. Aber M a n n . . . « , er hielt inne und zuckte m i t den Schultern. »Soll es das gewesen sein?« Sie lächelte. Sie sah, wie seine Augen groß wurden und wusste, dass ihr Lächeln seine W i r k u n g nicht verfehlt hatte. »Es überlässt nichts der Phantasie«, sagte sie. M i k e neigte den Kopf leicht zur Seite. »Wie meinst du das?« »Man sieht die Ruinen des echten Parthenon und versucht sich vorzustellen, wie es ausgesehen haben mag. Aber die W i r k lichkeit, wie das da, kann niemals die eigene Phantasie ersetzen.« M i k e nickte bedächtig. »Du meinst nicht?« »Ich hatte eine andere Theorie«, entgegnete er. »Würde ich gern hören.« Er kam näher und ging in die Hocke. »Es hat keine Seele.« Jetzt war sie an der Reihe, fragend dreinzuschauen. »Die Geschichte fehlt. Die Menschen in der Kleidung jener Zeit, die durch das Gebäude wandeln. Die Jahre, das Blut, die Toten, der Schweiß aus dem Jahr vierhundert vor Christus. In diesem D i n g da hat Sokrates nie eine Rede gehalten. Plato hat vor seinem Eingang nie diskutiert. Nachbildungen haben keine Gespenster. Sie sind nichts als seelenlose Hüllen.« Die junge Charlaine lächelte erneut. »Benutzt du diese A n m a che bei allen Mädchen?« »Sie ist brandneu. Teste sie gerade aus. Ist sie brauchbar?« Sie drehte die Hand h i n und her. »Geht so.« Seit jenem Tag war Charlaine m i t keinem anderen M a n n mehr zusammen gewesen. Jahrelang waren sie an ihrem H o c h zeitstag zum falschen Parthenon gekommen. Dieses Jahr hatten sie es zum ersten M a l ausgelassen. »Da ist er«, sagte M i k e . Der Ford Windstar fuhr auf der H o l l y w o o d Avenue in westlicher Richtung zur Route 17. Charlaine wählte auf ihrem Handy
den Polizeinotruf. Die Polizistin in der Zentrale nahm sie endlich ernst. »Wir haben keinen Funkkontakt mehr zu unserem Kollegen am Tatort«, gestand sie. »Er fährt jetzt in Richtung Route 17. W i r sind südlich der Auffahrt an der Hollywood Avenue«, beschrieb Charlaine. »Er fährt einen Ford Windstar.« »Kennzeichen?« »Kann ich nicht erkennen.« »Wir schicken einen Streifenwagen hinter dem Ford W i n d star her und einen zum Haus. Sie können Ihre Verfolgung jetzt abbrechen.« Sie ließ das Handy kurz sinken. »Mike?« »Ist schon in Ordnung«, sagte er. Sie lehnte sich zurück und dachte an ihr Haus, an Gespenster und seelenlose Hül l en .
* Eric Wu war nicht leicht zu überraschen. Doch als er sah, dass die Frau v o n nebenan und der M a n n , den er für ihren Ehemann hielt, i h m folgten - fühlte er sich völlig überrumpelt. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Diese Frau! Sie hatte i h n reingelegt. Sie verfolgte i h n . Sie hatte die Polizei gerufen. Die hatten einen Beamten geschickt. U n d in diesem Moment war i h m klar, dass sie wieder dort anrufen würde. Wu hatte damit gerechnet, einen erheblichen Vorsprung gewinnen zu können, bevor die Polizei auf ihren A n r u f reagierte. Bei der Fahndung nach Autos war die Polizei nicht allmächtig. M a n denke nur an die Heckenschützen v o n Washington vor einigen Jahren. Hunderte v o n Polizisten waren im Einsatz gewesen. Sie hatten überall Straßensperren aufgebaut. U n d dennoch
waren sie während eines peinlich langen Zeitraums nicht in der Lage gewesen, zwei Amateure zu schnappen. M i t einem guten Vorsprung, so hatte Wu sich ausgerechnet, konnte er sich in Sicherheit bringen. Aber jetzt hatte er ein Problem. Schon wieder diese Frau. Diese Frau und ihr M a n n verfolgten i h n . Sie konnten der Polizei beschreiben, w o h i n er fuhr, welche Straße er nahm, in welche Richtung er abbog. A u f diese Weise hatte er keine Chance, einen Vorsprung zu gewinnen. Schlussfolgerung: Wu musste sie stoppen. Vor i h m tauchte der Hinweis auf das Parkgelände des Paramus Einkaufszentrums auf. Er bog auf den Zubringer ein, der in einer Schleife auf einer Überführung über den Highway führte. Die Frau und ihr M a n n folgten i h m . Es war spät am Abend. Die Geschäfte hatten geschlossen. Der Parkplatz war leer. Die Frau und der M a n n hielten Abstand. Das passte. Es war höchste Zeit. Jetzt mussten sie aus der Deckung kommen. Wu hatte eine Waffe, eine Walther PPK. Er benutzte sie ungern. N i c h t , dass er ängstlich gewesen wäre. Doch Wu arbeitete lieber m i t seinen Händen. Die hatte er hundertprozentig unter Kontrolle. Sie waren ein Teil v o n i h m . M i t einer Waffe musste man zwangsläufig einer fremden Mechanik vertrauen, auf die man keinen Einfluss hatte. Das mochte Wu nicht. Aber er wusste, w a n n man eine Waffe brauchte. Er hielt den Wagen an. Er vergewisserte sich, dass die Pistole geladen war. Seine A u t o t ü r war nicht verriegelt. Er drückte die K l i n k e hinunter, stieg aus und brachte die Waffe in A n schlag.
»Was zum Teufel macht der Kerl?«, fragte M i k e . Charlaine beobachtete, wie der Ford Windstar auf den Parkplatz des Einkaufszentrums fuhr. Der war wie leer gefegt, aber hell erleuchtet, eingetaucht in den Schein der Neonreklamen des Einkaufszentrums. Im Hintergrund erkannte sie Sears, das Büromöbel Depot und Sports Authority. Der Ford Windstar parkte. »Bleib zurück«, sagte sie. »Wir sitzen in einem A u t o m i t Zentralverriegelung«, entgegnete M i k e . »Was soll da schon passieren?« Der Asiate bewegte sich m i t geschmeidiger Eleganz und gleichzeitig so zielgerichtet, als habe er jede Bewegung im Voraus geplant. Es war ein geradezu göttliches Zusammenspiel v o n Muskeln und Gliedmaßen, das sich dem Betrachter bot:. Plötzlich blieb er regungslos neben seinem Wagen stehen. Sein A r m schnellte vor, während sein übriger Körper wie losgelöst v o n dieser Bewegung in seiner Stellung verharrte, so dass man beinahe an eine optische Täuschung glaubte. U n d dann barst die Windschutzscheibe ihres Wagens. Das Krachen explodierte wie aus heiterem H i m m e l und m i t ohrenbetäubender W u c h t . Charlaine schrie. Etwas klatschte ihr ins Gesicht. Es fühlte sich feucht und klebrig an. Der Geruch v o n Blei hing in der Luft. Charlaine duckte sich instinktiv. Es regnete Splitter v o n der Windschutzscheibe auf sie herab. Etwas Schweres fiel gegen sie und stieß sie v o m Sitz. Es war M i k e . Sie schrie zum zweiten M a l laut auf. In ihren Schrei mischte sich das Krachen des nächsten Schusses. Sie dachte nur noch daran, sich zu befreien, der Enge des Autos zu entkommen, sich und M i k e in Sicherheit zu bringen. M i k e bewegte sich nicht. Sie schob i h n zur Seite und riskierte es, den Kopf zu heben. Die nächste Kugel pfiff dicht an ihr vorbei. Sie hatte keine Ahnung, wo die Kugel einschlug. Sie duckte sich
sofort wieder. In ihren Ohren schrillte ein hoher Pfeifton. Wenige Sekunden vergingen. Charlaine riskierte erneut einen Blick. Der M a n n kam auf sie zu. Was jetzt? Flucht. Das war ihr einziger Gedanke. Aber wie? Sie legte den Rückwärtsgang ein. Mikes Fuß stand noch auf der Bremse. Sie duckte sich tiefer. Sie streckte die Hand aus, ergriff den schlaffen Fuß und schob i h n v o n der Bremse. In den Fußraum gezwängt, gelang es ihr, eine Handfläche auf das Gaspedal zu legen. Sie drückte es m i t aller Kraft nach unten. Der Wagen schoss rückwärts. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie hatte keine A h n u n g , w o h i n die Reise ging. Aber sie fuhren. Sie hielt das Gaspedal gedrückt. Der Wagen holperte über ein Hindernis. Vermutlich die Bürgersteigkante. Ihr Kopf schlug gegen die Lenksäule. M i t den Schulterblättern versuchte sie, das Lenkrad stabil zu halten, während sie eine H a n d weiterhin auf das Gaspedal stemmte. Der Wagen ächzte und schwankte, als er in eine Vertiefung krachte. Charlaine hielt durch. Dann schien die Asphaltfläche ebener zu werden. Doch Erleichterung wollte sich n i c h t einstellen. Dröhnendes Hupen drang an Charlaines Ohr, Reifen und Bremsen quietschten. Es folgte das bedrohliche Schleif- und Schlingergeräusch schleudernder Autos. Es gab einen Aufprall, M e t a l l klirrte und wenige Sekunden später war nur noch Dunkelheit.
19 Die Farbe war aus Officer Daleys Gesicht gewichen. Perlmutter richtete sich auf. »Was gibt's?« Daley starrte auf das Blatt Papier in seiner Hand, als könne es
sich jeden M o m e n t in Luft auflösen. »Ergibt irgendwie keinen Sinn, Cap.« A l s junger Polizist hatte Captain Perlmutter Nachtschichten gehasst. Die Stille und die Einsamkeit hatten i h n fertig gemacht. Er war in einer großen Familie m i t sieben Kindern aufgewachsen, und er liebte den Trubel. Er und seine Frau M a r i o n hatten sich ebenfalls eine große Familie gewünscht. Er hatte sich alles schon genau vorgestellt - die Grillfeste, die Wochenenden, an denen er das eine oder andere K i n d trainierte, die Elternabende, die Familienfilme am Freitagabend, die Sommerabende auf der Veranda eben das Leben, das er in Brooklyn gekannt hatte, nur in einem größeren Haus in einem Vorort. Seine Großmutter hatte die Angewohnheit gehabt, unaufhörl i c h jiddische Sprichworte zu zitieren. Einer v o n Perlmutters Lieblingssprüchen war »Der Mensch denkt, G o t t lenkt«. Marion, die einzige Frau, die er je geliebt hatte, starb völlig unerwartet m i t einunddreißig an einer Embolie. Sie war in der Küche gewesen und hatte Sam, ihrem einzigen K i n d , ein Sandwich gemacht. Sie war sofort tot gewesen. Im Grunde hatte Perlmutter an jenem Tag ebenfalls aufgehört zu existieren. Er tat, was er konnte, um Sammy großzuziehen, doch in W i r k l i c h k e i t war er nicht m i t Herz und Verstand bei der Sache. Er liebte den Jungen, er liebte seinen Job, aber gelebt hatte er für M a r i o n . Sein Bezirk und seine A r b e i t waren sein einziger Trost. Zu Hause m i t Sammy fühlte er sich immer nur an M a r i o n und an alles, was sie nie mehr haben würden, erinnert. Hier, allein im Dienst, konnte er beinahe vergessen. Das alles war lange her. Sammy besuchte inzwischen das C o l lege. Er war ein guter Junge geworden, trotz der Distanziertheit seines Vaters. Perlmutter machte Daley ein Zeichen, sich zu setzen. »Also, was ist los?« »Diese Frau. Grace Lawson.«
»Aha«, sagte Perlmutter. »Wieso >Aha« »Musste gerade auch an sie denken.« »Beschäftigt dich die Sache, Captain?« »Volltreffer.« »Dachte, es ginge nur mir so.« Perlmutter wippte m i t seinem Stuhl zurück. »Weißt du, wer sie ist?« »Mrs. Lawson?«
»Ja.« »Sie ist Künstlerin.« »Mehr noch. Hast du gemerkt, dass sie hinkt?«
»Ja.« »Sie ist eine verheiratete Lawson. Ihr Mädchenname war Grace Sharpe.« Daley sah i h n ausdruckslos an. »Jemals was v o m Massaker v o n Boston gehört?« »Moment mal! Meinst du die schreckliche Geschichte v o n dem Rockkonzert, bei dem Panik ausgebrochen war?« »Ja. Gab eine Menge Tote.« »Und sie ist dabei gewesen?« Perlmutter nickte. »Wurde auch schwer verletzt. Lag eine Weile im Koma. Die Presse hat sich um sie gerissen.« »Wie lange ist das her?« »Na so 15, 16 Jahre.« »Aber du erinnerst dich noch?« »War lange in den Schlagzeilen. Außerdem war ich ein großer Fan der Jimmy-X-Band.« Daley schien überrascht. »Du?« »Mann, ich war nicht immer ein alter Knacker.« »Habe die CD v o n denen gehört. War verdammt gut. Im Radio ist >Pale Ink< noch immer ein Dauerbrenner.« »Einer der besten Songs aller Zeiten.«
M a r i o n hatte die Jimmy-X-Band geliebt. Perlmutter erinnerte sich, dass »Pale Ink« ständig aus ihrem W a l k m a n gedröhnt hatte. Bei geschlossenen A u g e n hatten ihre Lippen den Text geformt, wenn sie lautlos mitgesungen hatte. Er blinzelte, um das Bild zu vertreiben. »Was ist aus der Band geworden?« »Das Massaker hat sie zerstört. Die Band hat sich aufgelöst. Jimmy X - weiß gar nicht mehr, wie der richtig hieß -, der Bandleader, hatte alle Songs geschrieben. Er ist einfach v o n der B i l d fläche verschwunden.« Perlmutter deutete auf das Blatt Papier in Daleys Hand. » U n d was ist damit?« »Darüber wollte ich m i t dir reden.« »Hat es was m i t dem Fall Lawson zu tun?« »Weiß ich nicht.« Dann: »Ja, kann schon sein.« Perlmutter verschränkte die Hände im Nacken. »Nun rede endlich!« »DiBartola hat am frühen A b e n d einen A n r u f entgegengenommen«, begann Daley. »Wieder eine Vermisstenanzeige. U n d wieder ein Ehemann.« »Irgendwelche Ä h n l i c h k e i t e n m i t Lawson?« »Nein. Jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Der Typ war nur ein Ex. U n d ein unbeschriebenes Blatt ist er auch nicht.« »Vorbestraft?« »Hat wegen Körperverletzung gesessen.« »Name?« »Rocky Conwell.« »Rocky? Bist du sicher?« »Klar. Steht jedenfalls in seiner Geburtsurkunde.« »Eltern!« Perlmutter zog eine Grimasse. »Warte! Der Name sagt mir was.« »Hat eine kurze Zeit in der Profi-Liga gespielt.« Perlmutter bemühte sein Erinnerungsvermögen und zuckte die Achseln. »Also, was ist passiert?«
»Wie gesagt, der Fall liegt eindeutiger als die Sache m i t Lawson. Dieser Rocky sollte heute Morgen seine Exfrau zum Einkaufen abholen. Ich meine, das besagt eigentlich nichts. Gar nichts. Aber DiBartola hat die Frau gesehen - sie heißt Lorraine - und die ist ein Superweib. Sie kennen DiBartola.« »Diese Sau«, sagte Perlmutter nickend. »Gehört in die TopTen bei AP und UPI.« »Richtig. Hat sich redlich bemüht, sie aufzuheitern. Die beiden leben getrennt. Da macht er sich natürlich Hoffnungen. Könnte ja was für i h n abfallen vom Kuchen.« »Ganz der Profi.« Perlmutter runzelte die Stirn. »Weiter.« »Tja, und jetzt wird's verrückt.« Daley leckte sich die Lippen. »DiBartola tut das Naheliegendste. Er kontrolliert, ob die Mautkarte des Mannes irgendwo registriert worden ist.« »Genau das, was du auch gemacht hast?« »Ja, und komischerweise m i t demselben Ergebnis.« »Inwiefern?« »Er landet einen Volltreffer.« Daley machte einen Schritt ins Zimmer. »Rocky Conwell hat die Mautstelle an der Ausfahrt 16 auf dem New York Thruway passiert. U n d zwar exakt um 10 U h r 26 gestern Abend.« Perlmutter sah i h n an. »Ganz recht. Selbe Zeit. Selber Ort. W i e bei Jack Lawson.« Perlmutter las den Bericht. »Bist du sicher? DiBartola hat nicht zufällig die gleiche Kartennummer überprüft, oder?« »Hab m i c h zweimal vergewissert. Irrtum ausgeschlossen. Conwell und Lawson haben zur selben Zeit dieselbe Mautstelle passiert. Sie müssen zusammen gewesen sein.« Perlmutter überlegte und schüttelte den Kopf. »Kann nicht sein.« Daley schien verwirrt. »Hältst du das für Zufall?« »Zwei verschiedene Autos, die zur gleichen Zeit die Mautstelle passieren? Unwahrscheinlich.«
»Was schließt du daraus?« »Bin nicht sicher«, sagte Perlmutter. »Möglich, dass die beiden zusammen durchgebrannt sind. Oder C o n w e l l Lawson gekidnappt hat. Oder Lawson Conwell. W i e auch immer. In diesem Fall hätten sie in ein und demselben Wagen gesessen. U n d in diesem Fall hätten sie eine Mautkarte benutzt und nicht zwei.« »Stimmt. Einverstanden.« »Sie sind also in zwei Autos gefahren. Aber das kapier ich nicht. Die beiden Männer passieren in unterschiedlichen Autos die Mautstelle zur gleichen Zeit. U n d beide werden seither vermisst.« » M i t dem Unterschied, dass Lawson seine Frau angerufen hat«, fügte Daley hinzu. »Er brauchte Abstand, erinnerst du
dich?« Beide dachten darüber nach. »Soll ich Mrs. Lawson anrufen?«, sagte Daley. »Fragen, ob sie diesen Conwell kennt?« Perlmutter zupfte an seiner Unterlippe und überlegte. »Noch nicht. Ist schon spät. Sie hat Kinder.« »Also, was machen wir?« » W i r überprüfen das. Reden wir zuerst m i t Rocky Conwells Exfrau. M a l sehen, ob wir eine Verbindung zwischen Conwell und Lawson ausgraben können. W i r schreiben seinen Wagen zur Fahndung aus. Vielleicht landen wir ja einen Treffer.« Das Telefon klingelte. Daley hatte Telefondienst. Er hob den Hörer ab, hörte zu und wandte sich dann Perlmutter zu. »Wer war das?« »Phil v o m Revier drüben in Ho-Ho-Kus.« »Was ist los?« »Sie glauben, es hat einen Officer erwischt. Brauchen unsere
Hilfe.«
20 Beatrice S m i t h war dreiundfünfzig und W i t w e . Eric Wu saß wieder im Ford Windstar. Er nahm die Ridgewood Avenue bis zum Garden State Parkway in nördlicher Richtung. D a n n wandte er sich auf der Interstate 287 nach Westen in Richtung der Tappan Zee Bridge. Bei A r m o n k in N e w York verließ er die Interstate. Danach fuhr er nur noch auf Nebenstraßen weiter. Er kannte den Weg genau. Zugegeben, er hatte Fehler gemacht. Aber auf das Netz, das er gespannt hatte, war Verlass. Zu seinen Sicherheitsvorkehrungen gehörte es, immer ein Ausweich Quartier in der Hinterhand zu haben. Beatrice Smith' Ehemann war ein bekannter Kardiologe und eine Zeit lang sogar Bürgermeister der Stadt gewesen. Sie hatten einen großen Freundeskreis gehabt, der jedoch ausschließlich aus Ehepaaren bestanden hatte. Als Maury - das war der Name ihres Mannes gewesen - plötzlich einem Herzinfarkt erlag, waren ihr die Freunde für ein, zwei Monate erhalten geblieben, dann hatten sie sich nach und nach v o n ihr zurückgezogen. Ihr einziges K i n d , ein Sohn, Arzt wie der Vater, lebte mit Frau und drei K i n dern in San Diego. Sie hatte das Haus, das sie m i t Maury geteilt hatte, behalten, aber es war groß und leer. Sie spielte m i t dem Gedanken, es zu verkaufen und nach Manhattan zu ziehen, doch die derzeit hohen Wohnungspreise schreckten sie ab. U n d sie hatte Angst. A r m o n k war alles, was sie kannte. Würde sie n i c h t v o m Regen in die Traufe kommen? A l l das hatte sie online dem fiktiven Kurt McFaddon anvertraut, einem W i t w e r aus Philadelphia, der ebenfalls einen U m zug nach New York C i t y erwog. Wu bog in ihre Straße ein und fuhr langsamer. Die Gegend war ruhig, m i t hohem Baumbestand und sehr privat. Es war spät. Eine vorgetäuschte Lieferung würde um diese Uhrzeit n i c h t ziehen. Für ein raffinierteres Vorgehen
sah er keine Notwendigkeit. Außerdem fehlte i h m die Zeit. Wu sah keine Möglichkeit, das Leben seiner Gastgeberin zu schonen. Es gab nichts, das Beatrice S m i t h irgendwie m i t Freddy Sykes in Verbindung hätte bringen können. Kurzum, Beatrice S m i t h würde nie gefunden werden. Niemals. Wu stellte den Wagen ab, zog die Handschuhe an - keine Fingerabdrücke dieses M a l - und ging auf das Haus zu.
21 Um fünf U h r morgens warf sich Grace einen Bademantel über Jacks Bademantel - und ging hinunter. Sie trug immer Jacks Sachen. Er forderte liebevoll Reizwäsche, doch sie zog seine Pyjamaoberteile vor. »Na, was sagst du?«, pflegte sie zu fragen und drehte sich nur m i t der Jacke bekleidet vor i h m im Kreis. »Nicht schlecht«, pflegte er zu antworten. »Aber warum versuchst du's nicht mal nur m i t dem Unterteil? Wäre der H i t ! « Bei diesen Gedanken schüttelte sie den Kopf und betrat das Computerzimmer. A l s Erstes überprüfte Grace die Eingänge unter der E-MailAdresse, die Cora und sie für die A n t w o r t e n ihrer Spam-Post m i t dem Foto benutzten. Was sie erwartete, war eine Überraschung. Keine A n t w o r t . Keine einzige. W i e konnte das sein? Es war denkbar, dass niemand die Frau auf dem Foto erkannt hatte. Darauf war sie vorbereitet gewesen. Aber mittlerweile hatten sie hunderttausend E-Mails verschickt. Selbst bei Spam-Blocks und dergleichen müsste doch zumindest irgendjemand m i t unflätigen Beschimpfungen reagiert haben, jemand, der alle Zeit der Welt hatte, jemand, der die Nase v o l l hatte von dieser Spam-Schwemme und seinem Ärger Luft machen musste. Irgendjemand! U n d keine einzige A n t w o r t .
Was sollte sie davon halten? Im Haus war es still. Emma und Max schliefen noch. Genau wie Cora. Cora lag schnarchend auf dem Rücken, den Mund leicht geöffnet. Sie mussten die Taktik ändern. Sie wusste, dass Bob Dodd, der ermordete Reporter, inzwischen ihre beste, wenn nicht sogar einzige, aber zugegebenermaßen äußerst vage Spur war. Sie besaß von ihm weder eine Telefonnummer, noch kannte sie seine Angehörigen oder seine Adresse. Immerhin war Dodd Mitarbeiter einer größeren Zeitung, der New Hampshire Post gewesen. Sie beschloss, dort anzufangen. Zeitungsredaktionen sind rund um die Uhr besetzt. Zumindest ging Grace davon aus. Schließlich musste jemand für den Fall, dass die große Story ins Haus flatterte, in der Telefonzentrale sein. Davon abgesehen hoffte sie, dass um fünf Uhr morgens ein Reporter schon aus Langeweile mit ihr reden würde. Sie griff nach dem Telefonhörer. Grace wusste nicht recht, wie sie anfangen sollte. Sie überlegte sich mehrere Vorgehensweisen. Zum Beispiel konnte sie sich als eine Reporterin ausgeben, die an einer Story arbeitete, und um kollegiale Unterstützung bitten. Allerdings war sie nicht sicher, den unter Journalisten üblichen Ton treffen zu können. Schließlich entschied sie sich dafür, so weit wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben. Sie drückte die Taste, mit der sie ihre Rufhummer beim Empfänger unterdrücken konnte. Die Zeitung hatte eine kostenlose Servicenummer. Grace nutzte sie nicht. Bei diesen Nummern konnte man die eigene Nummer nicht unterdrücken. Eine weitere scheinbar unnütze Information, die sie sich wie die über Daryl Hannah in Splash und Esparanza Diaz Pseudonym Little Pocahontas irgendwann einmal gemerkt hatte und die sie in Jacks Worten zur »Hohen Priesterin nutzloser Fakten« machte. Die ersten beiden Anrufe bei der Zeitung waren erfolglos. Der
Reporter der Nachrichtenabteilung hatte keine Zeit und außerdem Bob Dodd kaum gekannt. Die Frau v o n der Lokalredaktion klang sehr jung, gestand, Berufsanfängerin zu sein und Bob Dodd ebenfalls n i c h t gekannt zu haben. Grace prüfte noch einmal die E-Mail-Eingänge. Immer noch nichts. »Mommy!« Es war Max. »Mommy, k o m m schnell!« Grace hastete die Treppe hinauf. »Was gibt's, Liebling?« M a x saß in seinem Bett und deutete auf seinen Fuß. »Mein Zeh wächst viel zu schnell.« »Dein Zeh?« »Ja, schau doch!« Sie trat ans Bett und setzte sich. »Siehst du?« »Was soll ich sehen, Liebling?« » M e i n zweiter Zeh«, begann er. »Er ist länger als der große Zeh. Er wächst zu schnell.« Grace lächelte. »Das ist normal, mein Liebling.«
»Wirklich?« »Bei vielen Menschen ist der zweite Zeh länger als der große Zeh. Zum Beispiel bei deinem Daddy.« »Glaube ich nicht.« »Musst du aber. Sein zweiter Zeh ist länger als der große.« Das schien i h n zu beruhigen. Grace fühlte einen Stich in der Herzgegend. »Möchtest du die Wiggles ansehen?«, fragte sie. »Das ist doch eine Sendung für Babys.« »Dann schauen wir mal, was es im Disneyclub gibt, einverstanden?« Es gab Rolie Polie Olie, und Max machte es sich auf der Couch bequem. Er liebte es, die Polster als Decke zu benutzen, und rich-
tete damit stets ein Chaos an. Grace war das jetzt gleichgültig. Sie rief erneut bei der New Hampshire Post an. Diesmal ließ sie sich m i t dem Feuilleton verbinden. Es meldete sich ein M a n n m i t einer Stimme wie Sandpapier. »Was gibt's?« »Guten Morgen«, sagte Grace übertrieben fröhlich und grinste dämlich in den Hörer. Der M a n n knurrte ungehalten. »Ich versuche Informationen über Bob Dodd zu bekommen.« » M i t wem spreche ich?« »Das möchte ich lieber nicht sagen.« »Machen Sie Witze? Hör mal, Schätzchen, ich leg jetzt gleich auf...« »Warten Sie. Ich kann nicht ins Detail gehen, aber wenn es ein Knaller wird ...« »Knaller? Sagten Sie gerade Knaller?«
»Ja.« Der M a n n lachte krächzend. »Halten Sie m i c h für den Pawlowschen H u n d oder so was? Sie werfen mir den Knaller h i n und mir tropft der Speichel aus dem Mund?« »Ich brauche nur Informationen über Bob Dodd.« »Warum?« »Weil mein M a n n verschwunden ist. U n d ich glaube, das hat was m i t dem M o r d zu tun.« Am anderen Ende war es kurz still. »Sie nehmen m i c h auf den A r m , oder?« »Nein«, sagte Grace. »Hören Sie, ich muss jemand finden, der Bob Dodd gekannt hat.« Die Stimme wurde freundlicher. »Ich habe i h n gekannt.« »Gut gekannt?« »Gut genug. Was wollen Sie wissen?« »Haben Sie eine A h n u n g , woran er vor seinem Tod gearbeitet hat?«
»Hören Sie, Lady. Wissen Sie was über den Mord? W e n n ja, vergessen Sie den Quatsch m i t dem Knaller und rufen Sie die Polizei an.« »So ist es nicht.« »Wie ist es dann?« »Ich habe alte Telefonrechnungen durchgesehen. M e i n M a n n hat kurz vor dem M o r d m i t Bob Dodd telefoniert.« » U n d wer ist Ihr Mann?« »Das sage ich nicht. Vielleicht ist es ja auch nur ein Zufall.« »Sagten Sie nicht, dass Ihr M a n n verschwunden ist?«
»Ja.« » U n d Sie machen sich solche Sorgen, dass Sie diesen alten A n r u f zurückverfolgen?« »Ich habe nichts anderes«, gestand Grace. Am anderen Ende war es still. »Da müssen Sie schon m i t was Besserem aufwarten.« »Ich glaube nicht, dass ich das kann.« Schweigen. »Was soll's. I c h weiß gar nichts. Bob hat sich mir nicht anvertraut.« »Wem könnte er sich anvertraut haben?« »Versuchen Sie's bei seiner Frau.« »Wie heißt sie?« »Julian. Julian m i t einem J, glaube ich.« »Julian Dodd?« »Schätze schon.« Grace machte sich eine Notiz. »Sie könnten es noch bei Bobs Vater, Robert senior, probieren. Er muss h o c h in den Achtzigern sein, aber die beiden standen sich nahe.« »Haben Sie seine Adresse?« »Ja. Er lebt in einem Seniorenheim in Connecticut. W i r haben Bobs Sachen d o r t h i n geschickt.«
»Welche Sachen?« »Habe seinen Schreibtisch persönlich ausgeräumt. Steckt alles in einem Schuhkarton. Er hat i h n bekommen.« Grace runzelte die Stirn. »Und Sie haben diesen Karton an das Seniorenheim geschickt?« »Richtig.« »Warum nicht an seine Frau Julian?« Es entstand eine kurze Pause. »Weiß ich offen gestanden auch nicht. I c h glaube, sie ist nach dem M o r d durchgedreht. Sie war dabei, wissen Sie. Warten Sie eine Sekunde. I c h suche die Telefonnummer des Seniorenheims für Sie raus. Sie können sich dort selbst erkundigen.«
* Charlaine wollte unbedingt neben dem Krankenbett sitzen. Die Szene ist jedem aus Film und Fernsehen w o h l vertraut - die treu sorgende Ehefrau sitzt am Bett und hält dem geliebten M a n n die Hand. Doch hier gab es keinen Stuhl für sie. Der einzige Stuhl im Raum war viel zu niedrig, eben jenes Modell, das man in eine Liege verwandeln kann. Das würde sich zwar vielleicht noch als nützlich erweisen, aber im M o m e n t wollte Charlaine einfach nur am Bett sitzen und ihrem M a n n die Hand halten. Stattdessen musste sie stehen. Zwischendurch ließ sie sich i m mer wieder auf der Bettkante nieder, fürchtete jedoch, M i k e zu stören. Also stand sie wieder auf. U n d vielleicht war das auch gut so. Es war ein bisschen, als büße sie im Stehen für ihre Sünden. H i n t e r ihr wurde die T ü r geöffnet. Sie drehte sich n i c h t um. Eine unbekannte Männerstimme sagte: »Wie geht es Ihnen?« »Gut.« »Sie hatten Glück.« Sie nickte. »Ich fühle mich, als hätte ich das große Los gezogen.« Charlaine hob den A r m und berührte leicht den Verband an ihrer Stirn. Einige Stiche und möglicherweise eine leichte Gehirn-
erschütterung. Mehr hatte sie nicht davongetragen. Schürf- und Quetschwunden, ein paar Schnitte, die genäht werden mussten. »Wie geht es Ihrem Mann?« Sie machte sich n i c h t die Mühe, zu antworten. Die Kugel hatte M i k e in den Hals getroffen. Er war noch bewusstlos. A l l e r dings hatten die Ärzte ihr gesagt, das Schlimmste sei jetzt überstanden. Was immer das bedeuten mochte. »Mr. Sykes wird überleben«, fuhr der M a n n hinter ihr fort. »Das hat er Ihnen zu verdanken. Er schuldet Ihnen sein Leben. N o c h ein paar Stunden in dieser Badewanne ...« Der M a n n - sie hielt i h n für einen weiteren Polizeibeamten - verstummte. Schließlich drehte sie sich um und sah i h n an. Richtig. Ein Cop. U n d in U n i f o r m . Das Abzeichen an seinem A r m wies i h n als Mitglied der Polizei v o n Kasselton aus. » M i t den Leuten v o n der Kripo in Ho-Ho-Kus habe ich schon gesprochen.«
»Weiß ich.« »Mehr weiß i c h einfach nicht, Officer ... ?« »Perlmutter«, sagte er. »Captain Stuart Perlmutter.« Sie wandte sich wieder dem Krankenlager zu. M i k e trug kein Hemd. Sein Bauch hob und senkte sich wie ein Blasebalg. Er hatte Übergewicht, ihr M i k e , und allein schon das A t m e n schien i h m schwer zu fallen. Er hätte mehr auf seine Gesundheit achten müssen. Sie hätte darauf bestehen sollen. »Wer ist bei Ihren Kindern?«, erkundigte sich Perlmutter. »Mikes Bruder und meine Schwägerin.« »Kann ich Ihnen was bringen?« »Nein.« Charlaine ließ Mikes Hand los. »Ich habe Ihre Aussage gelesen.« Sie antwortete nicht. »Ich habe ein paar Fragen dazu. Was dagegen?« »Das verstehe ich n i c h t ganz«, sagte Charlaine.
»Wie bitte?« »Ich wohne in Ho-Ho-Kus. Was hat Kasselton damit zu schaffen?« »Ich helfe nur aus.« Sie nickte und hatte doch keine A h n u n g , warum. »Verstehe.« »Sie haben ausgesagt, dass Sie v o n Ihrem Schlafzimmerfenster aus das Schlüsselversteck an Mr. Sykes' Gartenweg vor der H i n tertür gesehen haben. Ist das richtig?« »Ja.« » U n d deshalb haben Sie die Polizei gerufen?« »Ja.« »Kennen Sie Mr. Sykes?« Sie zuckte m i t den Schultern, hielt den Blick auf Mikes sich hebenden und senkenden Schmerbauch gerichtet. »Vom Sehen. W i r grüßen uns.« »Wie bei Nachbarn üblich, meinen Sie?« »Ja.« »Wann haben Sie das letzte M a l m i t i h m gesprochen?« »Gar nicht. I c h habe noch nie ein W o r t m i t i h m gewechselt.« »Sie grüßen sich nur nachbarschaftlich?« Sie nickte. » U n d wann war das das letzte Mal?« »Dass wir uns Hallo zugewinkt haben?« »Richtig.« »Keine A h n u n g . Vielleicht vor einer Woche.« »Das verwirrt m i c h etwas, Mrs. Swain. Vielleicht können Sie das aufklären. Sie haben das offene Schlüsselversteck auf dem Weg gesehen und einfach beschlossen, die Polizei anzurufen ...« »Ich habe auch gesehen, dass sich was bewegt hat.« »Wie soll ich das verstehen?« »Da hat sich was bewegt. Im Haus.« »So als sei jemand im Haus?« »Ja.«
»Woher haben Sie gewusst, dass es nicht Mr. Sykes war?« Sie drehte sich um. »Wusste ich gar nicht. Aber das Schlüsselversteck hat m i c h misstrauisch gemacht.« »Das einfach da lag. Geöffnet und für jeden sichtbar?«
»Ja.« »Verstehe. U n d da haben Sie zwei und zwei zusammengezählt.« »Richtig.« Perlmutter nickte, als sei i h m plötzlich ein L i c h t aufgegangen. » U n d wenn Mr. Sykes das Schlüsselversteck geöffnet hätte, hätte er es nicht einfach achtlos auf dem Weg liegen gelassen. War das Ihr Gedanke?« Charlaine sagte nichts. »Wissen Sie, das k o m m t mir einfach komisch vor, Mrs. Swain. Der Kerl, der in das Haus eingebrochen und Mr. Sykes schwer verletzt hat ... Warum hätte der für alle sichtbar das Schlüsselversteck offen liegen lassen sollen? Logischerweise hätte er es verstecken oder m i t ins Haus nehmen müssen.« Schweigen. » U n d da ist noch etwas. Mr. Sykes wurden die Verletzungen mindestens 24 Stunden, bevor wir i h n gefunden haben, beigebracht. M e i n e n Sie, das Schlüsselversteck lag die ganze Zeit über offen auf dem Gartenweg?« »Das kann ich doch nicht wissen.« »Stimmt. K ö n n e n Sie nicht. Sie starren schließlich nicht den ganzen Tag auf den Hinterhof.« Sie sah i h n nur stumm an. »Warum sind Sie und Ihr M a n n i h m gefolgt - dem Kerl, der in Sykes' Haus eingebrochen war, meine ich.« »Ich habe dem anderen Officer schon gesagt...« »Sie wollten helfen. I h n nicht entkommen lassen.« » U n d ich hatte Angst.« »Angst wovor?«
»Dass er wusste, dass ich die Polizei angerufen habe.« »Warum sollten Sie sich deshalb Sorgen machen?« »Ich stand hinter dem Fenster. Als die Polizei eintraf. Er hat sich umgedreht, aus dem Fenster gesehen und mich entdeckt.« »Und Sie dachten was? Dass er als Nächstes Sie angreifen würde?« »Keine Ahnung. Ich hatte einfach nur Angst.« Perlmutter gab erneut den verständig Nickenden. »Schätze, das passt. Ich meine, ein paar Details muss man sich schon ziemlich zurechtbiegen, aber das ist normal. Die meisten Fälle setzen sich aus geringfügigen Unstimmigkeiten zusammen.« Sie wandte sich wieder von ihm ab. »Nach Ihrer Aussage hat er einen Ford Windstar gefahren.« »Das stimmt.« »Er ist mit diesem Wagen aus der Garage gefahren, richtig?«
»Ja.« »Konnten Sie das Kennzeichen erkennen?« »Nein.« »Hm. Warum, glauben Sie, hat er das getan?« »Was getan?« »In der Garage zu parken.« »Keine Ahnung. Vielleicht damit niemand seinen Wagen sehen sollte.« »Ja, okay. Das passt zusammen.« Charlaine griff wieder nach der Hand ihres Mannes. Sie erinnerte sich daran, wann sie sich zum letzten Mal an den Händen gehalten hatten. Das war vor zwei Monaten gewesen, als sie sich eine Liebeskomödie mit Meg Ryan angesehen hatten. Seltsamerweise liebte Mike solche Schnulzen. Bei tragischen Romanzen kamen ihm auch schon mal die Tränen. An jenem Abend hatte er nach ihrer Hand gegriffen, und was Charlaine vordergründig im Gedächtnis geblieben war - und was sie jetzt bedrückte -, war, dass es sie kalt gelassen hatte. Mike hatte seine Finger mit den
ihren verschränken wollen, aber sie hatte i h m ihre Hand so weit entzogen, dass das unmöglich gewesen war. So wenig, wenn nicht sogar gar nichts, hatte es Charlaine bedeutet, dass dieser übergewichtige M a n n , der sein Haar sorgfältig über die kahleren Stellen auf seinem Kopf kämmte, nach ihrer Hand gesucht hatte. »Würden Sie jetzt bitte gehen?«, bat sie Perlmutter. »Sie wissen, dass das unmöglich ist.« Sie schloss die Augen. »Ich weiß von Ihrem Steuerproblem.« Sie stand regungslos da. »Sie haben heute Morgen deswegen bei H & R Block angerufen. Richtig? U n d dort arbeitet Mr. Sykes.« Sie wollte die Hand nicht loslassen, doch sie hatte das Gefühl, als entzöge M i k e ihr jetzt seine Hand. »Mrs. Swain?« »Nicht hier«, sagte Charlaine zu Perlmutter. Sie ließ Mikes Hand los und stand auf. »Nicht in Gegenwart meines Mannes.«
22 Die Bewohner v o n Seniorenheimen sind immer zu Hause und freuen sich über Besuch. Grace rief die Nummer an. Eine lebhafte Frauenstimme meldete sich. »Sunrise - Betreutes Wohnen!« »Ich möchte Ihre Besuchszeiten erfragen«, begann Grace. »Haben wir nicht!«, kam es m i t Nachdruck. »Wie bitte?« »Besuchszeiten. Sie können jederzeit kommen. Rund um die
Uhr.« » A c h so. I c h möchte Mr. Robert Dodd besuchen.« »Bobby? Augenblick, ich verbinde Sie m i t seinem Zimmer. N e i n , warten Sie! Es ist acht Uhr. Da ist er beim Fitness-Training. Bobby hält sich in Form.«
»Wie kann ich eine Verabredung treffen?« »Für einen Besuch?«
»Ja.« »Brauchen Sie nicht. Kommen Sie einfach vorbei.« Die Fahrt würde knapp zwei Stunden dauern. Dennoch zog sie ein persönliches Gespräch einem Telefonat vor. Besonders in Anbetracht der Tatsache, dass sie noch nicht recht wusste, was sie i h n fragen wollte. »Meinen Sie, er ist heute Vormittag zu Hause?« »Sicher. Bobby hat vor zwei Jahren seinen Führerschein abgegeben. Er ist hier.«
»Danke.« »Keine Ursache.« Am Frühstückstisch steckte Max seine Hand tief in die neue Crunchy-Packung. Der A n b l i c k - wie ihr K i n d eifrig nach dem Werbegeschenk fischte - ließ sie innehalten. Es war alles so normal. Kinder waren sehr feinfühlig. Aber manchmal, n u n manchmal waren sie auch wunderbar m i t sich beschäftigt. Im Augenblick war sie dafür dankbar. »Du hast dir das Spielzeug schon geholt«, sagte sie. M a x hielt inne. »Wirklich?« »So viele Packungen und so lausige Spielsachen.« »Was?« In Wahrheit hatte sie als K i n d das Gleiche getan - sie hatte nach wertlosen Geschenken gefischt. U n d das auch noch bei denselben Frühstücksflocken. » A c h , nichts.« Sie schnitt eine Banane in die Knusperflocken. Grace versuchte stets, mehr Banane und weniger Flocken zu mixen. Eine Weile hatte sie auch ungezuckerte Flocken untergemischt, aber Max war ihr schnell auf die Schliche gekommen. »Emma! Du musst jetzt aufstehen!« Ein Stöhnen. Ihre Tochter war zu jung für dieses »Lass-michnoch-schlafen-Theater«. Grace hatte damit erst in der H i g h -
School angefangen. Sie dachte an ihre so früh verstorbenen Eltern. Gelegentlich erinnerten die Kinder sie an Mutter oder Vater. Emma spitzte die Lippen manchmal so exakt wie ihre Mutter, dass Grace beinahe erstarrte. Max lächelte wie ihr Vater. M a n sah die genetischen Anlagen deutlich, und Grace vermochte nie zu sagen, ob sie das tröstlich oder schmerzlich berührte. »Emma! Jetzt sofort!« Ein Geräusch. Konnte bedeuten, dass ein K i n d aus dem Bett gesprungen war. Grace bereitete das Lunchpaket vor. Max kaufte sich das M i t tagessen lieber in der Schule, und Grace war damit einverstanden. Bedeutete es doch für sie eine Erleichterung. Morgens das Mittagessen vorzubereiten, war ein stetiger Grund zum Ärgern. Eine Zeit lang hatte auch Emma das gegessen, was in der Schule angeboten wurde, aber vor kurzem hatte irgendetwas ihren Ekel erregt. Irgendein Geruch, der Geschmack des Essens in der Cafeteria, bereitete ihr Übelkeit. Seither nahm sie ihre eigene Lunchbox m i t . »Emma!« »Bin schon da.« Emma trug ihren üblichen Jogginganzug: braune Turnshorts, blaues Top der Converse All-stars und ein Sweatshirt der N e w Jersey Nets. Ein Affront gegen jeden Sinn für Mode, was vermutl i c h Absicht war. Emma trug nichts, was auch nur annähernd als weiblich bezeichnet werden konnte. W o l l t e Grace, dass sie ein Kleid anzog, erforderte dies ein Verhandlungsgeschick wie bei Nahost-Friedensverhandlungen und endete n i c h t selten m i t einem ähnlichen Ausbruch v o n Gewalttätigkeit. »Was möchtest du zum Lunch?«, fragte Grace. »Erdnussbutter und Wackelpeter.« Grace starrte sie nur schweigend an. »Schon gut.« Emma zuckte die Schultern. »Du weißt, dass Erdnussbutter in deiner Schule nicht erlaubt
ist, weil Kinder davon Allergien bekommen können. Also lass den Unsinn.« Grace sah auf die Uhr. Sie hatte einige vorgefertigte Sandwichpakete im Kühlschrank für den N o t f a l l . Die Kinder liebten sie. Sie setzten sich zum Frühstück. »Mom?« Das war Emma. »Ja?« »Als du und Dad geheiratet h a b t . . . « Sie verstummte. »Was soll da gewesen sein?« Emma fing v o n v o r n an. »Als du und Dad geheiratet habt - am Schluss, wenn der M a n n sagt, Sie dürfen die Braut küssen ...«
»Ja. Und?« »Also ...« Emma neigte den Kopf zur Seite und k n i f f ein Auge zu. »... muss man das dann tun?« »Küssen?« » H m , ja.« »Müssen? N e i n , schätze nicht. I c h wollte es.« »Aber muss man es tun?«, beharrte Emma. »Ich meine, kann man sich stattdessen nicht einfach abklatschen?« »Statt küssen? M ö g l i c h . W e n n du es so willst.« »Ja, das w i l l ich«, erklärte Emma m i t Nachdruck. Grace brachte die beiden zur Bushaltestelle. Diesmal folgte sie dem Bus n i c h t bis zur Schule. Sie blieb stehen und biss sich auf die Unterlippe. Die Maske der Gelassenheit begann zu bröckeln. Jetzt, da M a x und Emma fort waren, gestattete sie sich diese Schwäche. A l s sie ins Haus zurückkam, war Cora wach und saß stöhnend am Computer. »Was kann ich dir bringen?«, fragte Grace. »Den Anästhesisten«, sagte Cora. »Wäre die erste W a h l , muss aber n i c h t sein.« »Ich dachte eher an so was wie Kaffee.« »Noch besser.« Coras Finger tanzten über die Tastatur. Ihre
Augen wurden schmal. Sie runzelte die Stirn. »Da stimmt doch was nicht.« »Du meinst m i t der E-Mail auf unsere Spam-Post, was?« »Wir kriegen überhaupt keine Antworten.« »Ist mir auch schon aufgefallen.« Cora lehnte sich zurück. Grace trat zu ihr und kaute auf einem Fingernagel. N a c h einigen Sekunden beugte sich Cora wieder vor. »Warte. I c h versuch mal was.« Sie öffnete die E-Mail-Seite, tippte etwas ein und verschickte die Nachricht. »Was war das denn?« »Ich habe gerade eine E-Mail an unsere Spam-Adresse verschickt. M a l sehen, ob sie ankommt.« Sie warteten. Es kam keine E-Mail. »Hmm.« Cora lehnte sich zurück. »Entweder es stimmt was m i t dem Mail-System nicht ...«
»Oder?« »Oder Gus ist noch sauer wegen der Bemerkung über seine Männlichkeit.« »Wie wollen wir rauskriegen, was v o n beidem der G r u n d ist?« Cora starrte unverwandt auf den Bildschirm. » M i t wem hast du v o r h i n telefoniert?« » M i t Bob Dodds Pflegeheim. Ich besuche i h n heute Vormittag.« »Gut.« Coras Blick hing noch immer am Monitor. »Was ist los?« »Ich w i l l was überprüfen«, antwortete sie. »Was denn?« »Hat vermutlich nichts zu bedeuten. Betrifft nur die Telefonrechnungen.« Cora begann zu tippen. »Ich ruf dich, sobald ich was weiß.«
* Perlmutter ließ Charlaine Swain m i t dem Polizeizeichner v o n Bergen County allein. Er hatte ihr die Wahrheit praktisch abge-
rungen und ein etwas unappetitliches Geheimnis zutage gefördert, das besser begraben geblieben wäre. Charlaine hatte Recht damit gehabt, es i h m zu verschweigen. Zumal es in keinerlei Weise hilfreich war. Diese Enthüllung war bestenfalls eine abgeschmackte und peinliche Begleiterscheinung. Er setzte sich m i t einem Notizblock an seinen Schreibtisch, schrieb das W o r t »Windstar« darauf und verbrachte die nächste Viertelstunde damit, dieses einzukreisen. Ein Ford Windstar. Kasselton war keine verschlafene Kleinstadt. Hier standen achtunddreißig Cops in L o h n und Brot. Sie bearbeiteten Raubüberfälle. Sie überprüften verdächtige Autos. Sie hielten das Drogenproblem an den Schulen - ein Drogen-unter-weißenSchulkindern-Problem - unter Kontrolle. Sie ermittelten in Fällen v o n Vandalismus. Sie kümmerten sich um Verkehrsprobleme, falsches Parken und Autounfälle. Sie taten ihr Bestes, den urbanen Verfall v o n Paterson, knappe drei M e i l e n vor den Toren Kasseltons, auf sicherer Distanz zu halten. Sie wurden allzu oft v o n falschem A l a r m aufgeschreckt, ausgelöst durch die technologischen Brunftschreie zu vieler überteuerter Bewegungsmelder. Perlmutters Revolver war bislang nur auf dem Schießstand zum Einsatz gekommen. Im Dienst hatte er seine Waffe noch n i c h t einmal ansatzweise ziehen müssen. In den vergangenen dreißig Jahren hatte es nur drei Todesfälle gegeben, die man im weitesten Sinne als »verdächtig« bezeichnen konnte, und alle drei Täter waren innerhalb weniger Stunden gefasst worden. Was Schussverletzungen betraf, n u n die hatte es zuhauf in Kasselton gegeben. Allerdings hatten sich diese die betreffenden Personen stets selbst beigebracht. Perlmutter verstand nicht viel v o n Politik. Er war sich des relativen Nutzens v o n Waffenkontrollen n i c h t sicher, aber er wusste aus persönlicher Erfahrung, dass eine Waffe, die zum Schutz v o n Familie und Besitz gekauft
wurde, letztendlich wesentlich häufiger für Selbstmord benutzt wurde. Tatsächlich hatte Perlmutter während seiner zahlreichen Dienstjahre nie einen Fall erlebt, bei dem ein Einbrecher m i t der Waffe eines Hausbesitzers erschossen, aufgehalten oder verjagt worden wäre. Selbstmorde m i t Handfeuerwaffen waren zahlreicher, als man zugeben wollte. Ford Windstar. Er kreiste die beiden Worte erneut ein. U n d jetzt, nach all den Jahren, hatte Perlmutter einen Fall v o n versuchtem M o r d , eine rätselhafte Entführung, eine Körperverletzung v o n nie da gewesener Brutalität und, wie er vermutete, noch einiges mehr auf der Liste. Er begann erneut, sich N o tizen zu machen. Er schrieb den N a m e n Jack Lawson in die linke obere Ecke des Blocks. Anschließend den N a m e n Rocky Conwell in die rechte obere Ecke. Beide Männer, die als vermisst galten, hatten eine Mautstelle in einem benachbarten Staat zur gleichen Zeit passiert. Er verband die beiden N a m e n m i t einem Strich. Erste Verbindung. Perlmutter schrieb Freddy Sykes' Namen in die linke untere Ecke als Opfer eines brutalen Überfalls. Mike Swain notierte er in der rechten unteren Ecke. Er war angeschossen worden. Ein versuchter M o r d . Die Verbindung zwischen diesen beiden M ä n nern, also die zweite Verbindung, lag auf der Hand. Swains Frau hatte den Täter bei beiden Überfällen beobachtet. Es handelte sich um einen Chinesen v o n untersetzter Statur, der ihrer Beschreibung nach wie der Sohn v o n Oddjob aus dem alten JamesBond-Film Goldfinger aussah. Eine Verbindung zwischen allen vier Fällen war n i c h t erkennbar. Jedenfalls gab es nichts, was die beiden verschwundenen Ehemänner m i t der Tat dieses Odd-Job-Nachfahrens verbunden hätte. Bis auf eines - möglicherweise: Der Ford Windstar. Jack Lawson war m i t einem blauen Ford Windstar verschwunden. Dieser Odd-Job-Verschnitt hatte einen blauen Windstar ge-
fahren, als er Sykes' Anwesen verlassen und auf Swain geschossen hatte. Zugegeben, das war bestenfalls eine sehr fadenscheinige Verbindung. Ein Ford Windstar war in diesem Vorort so häufig wie Brust-Implantate in einem Strip Club. Es war keine heiße Spur, wahrlich nicht. Doch zog man die Gepflogenheiten in dieser Stadt in Betracht, die Tatsache, dass Familienväter hier nicht einfach verschwanden, dass so viel kriminelle Energie für eine Stadt wie Kasselton außergewöhnlich war - dann war das zwar noch immer kein eindeutiger Hinweis, doch für Perlmutter i m merhin genug, um gewisse Schlüsse daraus zu ziehen. Irgendwie musste das alles zusammenhängen. Perlmutter hatte keine A h n u n g , wie, und wollte im Augenblick darüber auch nicht allzu eingehend nachdenken. Sollten doch die Jungs v o n der Spurensuche und die Laborfreaks zuerst einmal ihre A r b e i t erledigen - Sykes' Haus nach Fingerabdrücken und Haarresten untersuchen. Sollte doch der Polizeizeichner zuerst einmal eine Skizze anfertigen und die sensationelle Veronique Baltrus, die Computerfachfrau, Sykes' Computer durchchecken. Für Spekulationen jeglicher A r t war es einfach noch zu früh. »Captain?« Es war Daley. »Was gibt's?« »Wir haben Rocky Conwells Wagen gefunden.«
»Wo?« »Kennst du den >Park and Ride<-Parkplatz an der Route 17?« Perlmutter nahm seine Lesebrille ab. »Der am unteren Ende der Straße?« Daley nickte. »Ich weiß schon. Ist eigentlich nicht w i r k l i c h logisch. W i r wissen, dass er die Interstate verlassen hat, stimmt's?« »Wer hat i h n gefunden?«
»Pepe und Pashaian.« »Sag ihnen, sie sollen den Parkplatz weiträumig absperren«, befahl er und erhob sich. »Das A u t o nehmen wir uns eigenhändig vor.«
23 Grace legte für die Fahrt eine CD v o n Coldplay ein und hoffte auf Ablenkung. Es funktionierte nur bedingt. Einerseits wusste sie genau, was m i t ihr geschah, ohne Zweifel. Doch andererseits war die Wahrheit einfach zu heftig. Sich ihr kompromisslos zu stellen, würde sie lähmen. Für diesen Zustand v o n U n w i r k l i c h k e i t war vermutlich ihr Selbsterhaltungstrieb verantwortlich, das Bedürfnis, sich zu schonen und alles Wahrgenommene zu filtern. Dieser Zustand v o n U n w i r k l i c h k e i t verlieh ihr die Kraft weiterzumachen, die Wahrheit zu suchen, ihren M a n n zu finden, während sie sich in W i r k l i c h k e i t nackt, bloß und allein gelassen vorkam, sich am liebsten eingeigelt oder vielleicht geschrien hätte, bis der Arzt kommt. Ihr Handy klingelte. Instinktiv warf sie einen Blick auf das Display, bevor sie den A n r u f annahm. Wieder war es nicht Jack. Es war Cora. Grace drückte auf die entsprechende Taste und sagte: »Hallo!« »Schwierig zu sagen, ob die Nachricht gut oder schlecht ist. I c h drück's mal so aus. Möchtest du zuerst die merkwürdige Nachricht hören oder lieber die verrückte?« »Die merkwürdige.« »Ich kann Gus m i t der unterentwickelten Männlichkeit nicht erreichen. Der Kerl geht nicht ans Telefon. Kriege immer nur seinen Anrufbeantworter.« A u f der Coldplay-CD ertönte die Stimme des Leadsängers. Passenderweise lautete der Song-Titel »Shiver«. Grace ließ beide
Hände in vorschriftsmäßiger Haltung am Steuer. Sie blieb auf der mittleren Spur und fuhr exakt die vorgeschriebene Geschwindigkeit. Rechts und links v o n ihr rasten die Autos vorbei. »Was ist m i t der verrückten Nachricht?« »Erinnerst du dich, dass wir versucht haben, die Anrufliste v o n vorgestern Nacht hochzuholen? I c h meine die Liste v o n den Anrufen, die Jack getätigt haben könnte?« »Ja, sicher.« »Ich habe den Handy-Anbieter angerufen. U n d so getan, als wäre ich du. Dachte, du hast nichts dagegen.« »Habe ich auch nicht.« »Gut. War sowieso egal. In den vergangenen drei Tagen hat Jack nur eine N u m m e r v o n seinem Handy aus angerufen. Deine. Gestern.« »Der Anruf, den ich auf dem Polizeirevier erhalten habe.« »So ist es.« »Was ist daran denn verrückt?« »Nichts. Komisch ist nur, was dein Anrufprotokoll zu Hause ergeben hat.« Schweigen. Grace blieb auf dem M e r r i t t Parkway, beide H ä n de in vorbildlicher Haltung am Steuer. »Was ist damit?« »Du weißt doch v o n Jacks A n r u f in der Kanzlei seiner Schwester?«, fragte Cora. »Ja. Ich habe die Wahlwiederholung gedrückt.« » U n d seine Schwester - wie heißt sie doch gleich?« »Sandra Koval.« »Sandra Koval, richtig. Sie hat dir gesagt, sie wäre gar n i c h t in der Kanzlei gewesen. Sie hätte nicht m i t i h m gesprochen.« »Stimmt.« »Der A n r u f hat aber neun M i n u t e n gedauert.« Grace lief es kalt über den Rücken. Sie zwang sich, die Hände am Steuer zu lassen. »Also hat sie gelogen.«
»Sieht ganz so aus.« »Die Frage ist, was Jack ihr so ausführlich zu erzählen hatte.« » U n d was sie geantwortet hat.« » U n d warum sie deswegen gelogen hat.« »Tut mir Leid, dass ich dir das sagen musste«, seufzte Cora. »Nein, ist doch gut.« »Inwiefern?« »Ist doch immerhin eine Spur. Bisher schien Sandra eine Sackgasse zu sein. Jetzt wissen wir, dass sie da m i t drin steckt.« » U n d was willst du in ihrem Fall machen?« »Keine A h n u n g « , erwiderte Grace. »Sie zur Rede stellen, schätze ich.« Sie verabschiedeten sich, und Grace legte auf. Bei der Weiterfahrt versuchte sie, verschiedene Szenarien durchzuspielen. Aus dem CD-Player tönte »Trouble«. Sie bog in eine Exxon-Tankstelle ein. In New Jersey gab es keine Selbstbedienung an Tankstellen. Grace saß in ihrem Wagen, und es dauerte einige M o mente, bis sie begriff, dass sie hier selbst tanken musste. Sie kaufte eine Flasche Wasser aus dem Kühlregal des M i n i markts und warf das Wechselgeld in die Sammelbüchse einer Wohltätigkeitsorganisation. Sie hatte das Bedürfnis, weiter nachzudenken, vor allem über diese Verbindung zu Jacks Schwester, aber für Spitzfindigkeiten fehlte die Zeit. Grace hatte die Telefonnummer der Kanzlei Burton und Crimstein noch im Kopf. Sie zückte ihr Handy und tippte die Zahlenkombination ein. Zwei Klingeltöne später bat sie m i t Sandra Kovals Apparat verbunden zu werden. Sie war überrascht, als sich Sandra persönlich meldete. »Du hast m i c h angelogen.« Keine A n t w o r t . Grace ging zum Wagen zurück. »Der A n r u f hat neun M i n u t e n gedauert. Du hast m i t Jack gesprochen.« Wieder nur Stille.
»Was ist los, Sandra?« »Keine Ahnung.« »Warum hat Jack dich angerufen?« »Ich lege jetzt auf. Bitte ruf m i c h n i c h t mehr an.« »Sandra?« »Hast du nicht gesagt, dass er sich inzwischen bei dir gemeldet hat?«
»Ja.« »Willst du meinen Rat hören? Warte einfach, bis er wieder anruft.« »Ich w i l l deinen Rat nicht, Sandra. I c h w i l l wissen, worüber er m i t dir gesprochen hat.« »Hör einfach auf damit.« »Womit?« »Telefonierst du v o n einem Handy aus?« »Ja.« »Wo bist du?« » A n einer Tankstelle in Connecticut.« »Warum das denn?« »Jetzt hör mal, Sandra.« Die Verbindung war plötzlich gestört. Grace wartete, bis der Empfang wieder besser war. Sie tankte und griff nach der Quittung. »Du bist die letzte Person, m i t der mein M a n n vor seinem Verschwinden gesprochen hat. Was du abgestritten hast und was sich als Lüge herausgestellt hat. U n d trotzdem weigerst du dich, mir zu sagen, worüber du m i t i h m gesprochen hast. Weshalb also sollte ich ausgerechnet dich in meine Pläne einweihen?« »Gut argumentiert, Grace. N o c h einen letzten Tipp, dann lege ich auf: Fahr nach Hause und kümmere dich um deine K i n der!« Dann war die Leitung tot. Grace saß mittlerweile wieder im Wagen. Sie drückte die Wahlwiederholungstaste und bat, m i t Sandras Büro verbunden zu werden. Niemand meldete sich. Sie
versuchte es erneut. Das gleiche Spiel. Was jetzt? Sollte sie wieder persönlich dort aufkreuzen? Sie fuhr aus der Tankstelle. Zwei Meilen weiter sah Grace ein Schild mit der Aufschrift »SUNRISE - SENIORENSTIFT«. Grace war nicht sicher, was sie dort erwartete. Die Altersheime i h rer Jugend waren einstöckige Backsteingebäude gewesen, in denen alles der Zweckmäßigkeit untergeordnet war und die sie fatal an Grundschulen erinnert hatten. Das Leben hatte durchaus seine zynischen Seiten. M a n begann und beendete es in einem dieser schlichten Backsteinbauten. Ein Leben wie im Kreisverkehr. Das Sunrise-Seniorenstift allerdings entpuppte sich als ein dreistöckiges Gebäude, das wie die Nachbildung eines Hotels aus viktorianischer Zeit aussah. Es besaß all die Türmchen und Veranden dieser architektonischen Stilepoche und war in der leuchtend gelben Farbe gehalten, die an Frauenbildnisse alter Meister erinnerte. Dahinter allerdings erstreckte sich ein hässlicher A l u m i n i u m - A n b a u . Der Garten war in einem Maße gepflegt, dass alles eine Spur zu ordentlich, beinahe wie aus Plastik aussah. Der O r t sollte eine Heiterkeit ausstrahlen, die etwas übertrieben wirkte. Der Komplex erinnerte Grace an das Epcot Center in Disney W o r l d - also an eine Spaß-Reproduktion, die man nie m i t dem Original verwechseln würde. A u f der Veranda am Eingang saß eine alte Frau in einem Schaukelstuhl. Sie las Zeitung. Sie wünschte Grace einen guten Morgen, was Grace erwiderte. A u c h die Eingangshalle bemühte sich angestrengt um die Atmosphäre eines Hotels aus der guten alten Zeit. Die Wände zierten Ölgemälde in pompösen Rahmen, die aussahen, als stammten sie aus einem Kaufhaus-Ramschverkauf für 19.99 Dollar. Selbst wenn man niemals Renoirs »Mittagessen der Ruderer« oder Hoppers »Nachtfalken« gesehen hatte, war offensichtlich, dass es sich um berühmte Klassiker der Malerei handelte. In der Lobby herrschte überraschend reger Betrieb. Natürl i c h waren ältere Leute in den unterschiedlichsten Stadien des
Alterns zahlreich vertreten. Einige konnten ohne Hilfe gehen, andere schlurften, einige stützten sich auf Stöcke, andere auf Gehhilfen, und etliche fuhren in Rollstühlen. Viele schienen munter, andere schläfrig. Die Eingangshalle war sauber und hell, hatte jedoch den - Grace hasste sich für den Gedanken - typischen Alte-Leute-Geruch, das Aroma eines abgewetzten, muffigen Sofas. Überlagert wurde dieser mit etwas, das nach Kirschlimonade roch und Grace an die drei am Rückspiegel baumelnden Aromaspender in Funk-Taxis erinnerte. Leider gibt es Gerüche, die sich einfach nicht übertönen lassen. Die einzige junge Person im Raum - eine Frau M i t t e zwanzig saß hinter einem Schreibtisch, der ebenfalls Historie vorgaukelte, in W i r k l i c h k e i t jedoch offensichtlich ein billiges Imitat war. Sie sah lächelnd zu Grace auf. »Guten Morgen. I c h b i n Lindsey Barclay.« Grace erkannte die Stimme vom Telefon. »Ich möchte zu Mr.
Dodd.« »Bobby ist auf seinem Zimmer. Zweiter Stock, Zimmer 211. Ich bringe Sie hin.« Sie stand auf. Lindsey war auf die A r t hübsch, wie es nur die Jugend sein kann, m i t jenem enthusiastischen Lächeln, das den Naiven oder den Menschenfängern von Sekten vorbehalten ist. »Haben Sie was dagegen, wenn wir die Treppe nehmen?« »Ganz und gar nicht.« Viele der Bewohner blieben stehen und grüßten. Lindsey nahm sich für jeden Einzelnen Zeit, erwiderte fröhlich jeden Gruß, obwohl Grace, die Zynikerin, sich fragte, ob das nicht als Show für die Besucherin gedacht war. Dennoch kannte Lindsey alle m i t Namen. Sie wusste stets etwas zu sagen, durchaus auch Persönliches, und die Senioren schienen das zu schätzen. »Sind w o h l hauptsächlich Frauen hier«, bemerkte Grace. »Während meiner Ausbildung sagten sie uns, dass in Seniorenheimen landesweit fünf Frauen auf einen M a n n kommen.«
»Donnerwetter.« »Ja. Bobby witzelt immer, er habe ein Leben lang auf diese Chance gewartet.« Grace lächelte. Sie winkte ab. »Aber das ist nur Gerede. Seine Frau - er nennt sie >seine Maudie< - ist vor dreißig Jahren gestorben, i c h glaube nicht, dass er seither eine Frau auch nur angesehen hat.« Das brachte sie zum Schweigen. Der Korridor war ganz in Waldgrün gehalten, die Wände m i t den inzwischen vertrauten Rockwell Drucken geschmückt: Hunde beim Pokern, SchwarzWeiß-Aufnahmen aus Filmen wie Casablanca und Der Fremde im Zug. Grace hinkte neben Lindsey her. Lindsey merkte es - und Grace merkte es an ihren hastigen Seitenblicken -, doch wie die meisten Menschen sagte sie nichts. »Wir bei Sunrise teilen unsere Häuser in unterschiedliche Nachbarschaften< ein«, erklärte Lindsey. »So nennen wir K o r r i dore wie diesen. Jeder hat ein anderes M o t t o . Die Nachbarschaft hier heißt >Nostalgie<. W i r glauben, unsere Bewohner fühlen sich dadurch heimischer.« Sie blieben vor einer T ü r stehen. A u f einem Namensschild rechts stand »B. Dodd«. Lindsey klopfte. »Bobby?« Keine A n t w o r t . Sie öffnete trotzdem. Sie betraten einen kleinen, aber gemütlichen Raum. Zur Rechten befand sich eine w i n zige Kochnische. A u f dem Couchtisch, der so ausgerichtet war, dass man i h n v o n Couch und Bett aus sehen konnte, stand das große Schwarz-Weiß-Foto einer attraktiven Frau, die ein wenig wie Lena Horne, die Jazzsängerin, aussah. A u f dem mittlerweile vergilbten Bild war sie ungefähr vierzig. »Das ist >seine Maudie<.« Grace nickte, einen M o m e n t gefangen v o n diesem Foto im Silberrahmen. Sie dachte erneut an »ihren Jack«. Zum ersten M a l gestattete sie es sich, das Undenkbare zu denken: dass Jack vielleicht nie wieder zurückkommen würde. Das war ein Gedanke,
den sie v o n dem Augenblick an verdrängt hatte, da sie den A n lasser des Minivans in der Auffahrt gehört hatte. Möglicherweise sah sie Jack nie wieder. Möglicherweise hielt sie i h n nie wieder in ihren A r m e n . Möglicherweise lachte sie nie wieder über einen seiner unanständigen Witze. Möglicherweise - und das war die Verbindung zu diesem H e i m - wurde sie nie m i t i h m alt. »Alles in Ordnung?« »Bestens.« »Vermutlich ist Bobby oben bei Ira in >Reminiscence<. Sie spielen Karten.« Sie traten rückwärts aus dem Zimmer. »Ist >Reminiscence< eine andere Nachbarschaft?« »Nein. >Reminiscence< ist die Bezeichnung für den gesamten dritten Stock. Er ist unseren Alzheimerpatienten vorbehalten.«
»Oh.« »Ira erkennt zwar seine Kinder nicht mehr, aber er spielt knallhart Poker.« Sie traten wieder in den Korridor hinaus. Grace entdeckte eine Ansammlung v o n Fotos neben Bobby Dodds Tür. Sie sah genauer h i n . Es war einer dieser Glassammeirahmen, die man benutzte, um Erinnerungsstücke auszustellen. Da waren m i l i t ä r i sche Orden. E i n alter vergilbter Baseball. Fotos v o n jedem Lebensabschnitt des Mannes. Ein Foto zeigte seinen ermordeten Sohn Bob Dodd. Es war das Bild, das sie vergangene Nacht im Computer gesehen hatte. »Der Erinnerungskasten«, sagte Lindsey. »Jeder Bewohner bei uns hat i h n neben seiner Tür. A u f diese Weise weiß jeder, m i t wem er es zu t u n hat.« Grace nickte. Die Reduzierung eines ganzen Menschenlebens auf eine Vitrine im Schlüsselschränkchenformat. W i e alles in diesem Haus war auch das passend und gruselig zugleich. Um in den dritten Stock zu gelangen, mussten sie den Lift nehmen, der über eine kodierte Schalttafel betätigt wurde. »Ver-
hindert, dass unsere Bewohner überallhin ausschwärmen«, erklärte Lindsey. Die dritte Etage war gemütlich, gut ausgestattet, m i t reichlich Personal besetzt und Furcht einflößend. Die meisten Bewohner dämmerten in Rollstühlen vor sich h i n wie welkende Blumen. Einige standen herum und traten v o n einem Bein auf das andere. Etliche führten Selbstgespräche. A l l e hatten einen glasigen, leeren Blick. Lindsey ging den Korridor entlang voraus. Wenige Sekunden später sagte sie: »Bobby!« Bobby Dodd erhob sich v o m Kartentisch. Adrett, war das erste W o r t , das Grace bei seinem A n b l i c k in den Sinn kam. Er sah frisch und sprühend aus. Er hatte fast schwarze faltige Haut wie ein K r o k o d i l . Er war elegant gekleidet, trug ein Tweedjackett, Mokassins und eine breite rote Krawatte m i t passendem Einstecktuch. Sein graues Haar war kurz geschnitten und glatt gekämmt. Selbst als Grace erklärte, dass sie wegen seines ermordeten Sohnes gekommen war, veränderte sich seine heitere Miene nicht. Sie suchte nach Anzeichen v o n Trauer und Verzweiflung wie feuchte Augen, ein Zittern in der Stimme, doch Bobby Dodd ließ sich nichts dergleichen anmerken. War es möglich, dass man Schicksalsschläge im A l t e r leichter wegsteckte, überlegte Grace. War es die Nähe des Unvermeidlichen, die den Menschen gegen Erschütterungen dieser A r t i m m u n werden ließ? Bobby Dodd wollte helfen, wusste jedoch nicht viel. Grace erkannte das sofort. Sein Sohn hatte i h n zwei M a l im Monat besucht. Bobs Sachen waren zusammengepackt und an i h n geschickt worden, doch er hatte die Sendung noch n i c h t geöffnet. »Das Paket haben wir eingelagert«, informierte Lindsey Grace. »Haben Sie was dagegen, wenn i c h mir die Sachen mal ansehe?« Bobby Dodd tätschelte ihr Knie. »Ganz und gar nicht, K i n d chen. «
»Wir müssten es Ihnen schicken«, sagte Lindsey. »Unser Lager ist außerhalb.« »Es ist sehr wichtig für mich.« »Ich kann es Ihnen per Express schicken. Dann haben Sie es morgen.« »Danke.« Lindsey ließ sie allein.
»Mr. Dodd -« »Sagen Sie Bobby zu mir.« »Also, Bobby«, sagte Grace. »Wann hat Sie Ihr Sohn zum letzten Mal besucht?« »Drei Tage bevor er ermordet wurde.« Die Worte kamen schnell und spontan. Endlich sah sie ein Aufflackern von Gefühlen hinter der gelassenen Fassade. »War er irgendwie anders als sonst?« »Anders?« »Wirkte er zerstreut, unkonzentriert...« »Nein.« Dann: »Zumindest habe ich es nicht bemerkt.« »Worüber haben Sie gesprochen?« »Wir hatten uns nie viel zu sagen. Manchmal haben wir über seine Mutter geredet. Meistens haben wir nur ferngesehen. Wir haben hier Kabelfernsehen, wissen Sie.« »Hat Julian ihn begleitet?« »Nein.« Das kam zu schnell. Seine Miene wurde verschlossen. »Hat sie Sie jemals besucht?« »Manchmal.« »Aber nicht das letzte Mal?« »Nein.« »Hat Sie das überrascht?« »Das? Nein, das« - er betonte das nachdrücklich - »hat mich nicht überrascht.« »Was dann?«
Er sah weg und biss sich auf die Unterlippe. »Sie war n i c h t auf der Beerdigung.« Grace glaubte, sich verhört zu haben. Bobby Dodd nickte, als habe er ihre Gedanken erraten. »Ganz recht. Die eigene Ehefrau.« »Hatten die beiden Eheprobleme?« »Falls dem so war, hat Bobby es nie erwähnt.« »Hatten sie Kinder?« »Nein.« Er rückte seine Krawatte zurecht, und sein Blick schweifte kurz ab. »Warum interessiert Sie das alles, Mrs. Lawson?« »Sagen Sie bitte Grace zu mir.« Er erwiderte nichts. Er sah sie aus weisen, traurigen Augen an. Vielleicht war die A n t w o r t auf die Ungerührtheit alter M e n schen einfacher: diese Augen hatten Schlimmes gesehen. Sie wollten nicht noch mehr sehen. »Mein M a n n ist verschwunden«, antwortete Grace. »Ich glaube - ich weiß es n i c h t sicher - aber möglicherweise bestand eine Verbindung.« »Wie heißt Ihr Mann?« »Jack Lawson.« Er schüttelte den Kopf. Der Name sagte i h m nichts. Sie fragte i h n , ob er wisse, wie sie Jillian Dodd erreichen könne. Erneut nur Kopfschütteln. Sie gingen zum Lift. Bobby kannte den Code nicht. Daher wurden sie v o n einem Pfleger begleitet. Sie fuhren schweigend v o m dritten in den ersten Stock. A l s sie die Tür erreichten, dankte Grace i h m . »Ihr M a n n « , begann Bobby. »Sie lieben i h n doch, oder?« »Sehr sogar.« »Hoffentlich sind Sie stärker als ich.« Bobby Dodd ging davon. Grace dachte an das Foto im Silberrahmen in seinem Z i m mer, das v o n seiner Maudie, und machte sich dann allein auf den Weg zum Ausgang.
24 Perlmutter wurde klar, dass sie keine rechtliche Befugnis hatten, Rocky Conwells Wagen aufzubrechen. Er zog Daley zu sich herüber. »Hat DiBartola Dienst?« »Nein.« »Ruf Rocky Conwells Frau an. Frag sie, ob sie einen Schlüssel für den Wagen hat. Sag ihr, dass wir ihn gefunden haben und ihre Erlaubnis brauchen, ihn zu durchsuchen.« »Sie ist seine Exfrau. Hat sie da überhaupt Rechte?« »Genug - für unsere Zwecke jedenfalls«, sagte Perlmutter. »Okay.« Daley brauchte nicht lange. Die Ehefrau war kooperativ. Sie fuhren an den Maple Garden Apartments in der Maple Street vorbei. Daley rannte hinauf und holte die Schlüssel. Fünf Minuten später fuhren sie auf den Parkplatz an der Bushaltestelle. Es gab keinen Grund, ein Verbrechen zu vermuten. Wenn überhaupt, musste die Tatsache, dass man den Wagen an diesem »Park-and-Ride«-Parkplatz gefunden hatte, zu der gegenteiligen Annahme verleiten. Hier parkte man, um mit dem Bus weiterzufahren. Von hier aus gab es eine direkte Busverbindung ins Zentrum von Manhattan. Eine zweite Linie brachte die Passagiere zur Nordspitze der berühmten Insel in die Nähe der George Washington Bridge. Weitere Busse beförderten Reisende zu den drei wichtigsten Flughäfen in der Umgebung - JFK, LaGuardia, Newark Liberty - und schließlich in die ganze Welt. Nein, das Auffinden von Rocky Conwells Wagen verleitete weiß Gott nicht zu dem Verdacht, hier könnte ein Verbrechen geschehen sein. Zumindest vorerst nicht. Pepe und Pashaian, die beiden Cops, die den Wagen bewachten, hatten es nicht bemerkt. Perlmutters Blick glitt zu Daley.
Dessen Miene verriet ebenfalls nichts. Sie wirkten allesamt selbstzufrieden, erwarteten, dass die A k t i o n in eine Sackgasse führte. Pepe und Pashaian rückten ihre Gürtel zurecht und kamen m i t beschwingten Schritten auf Perlmutter zu. »Hallo, Captain!« Perlmutter wandte den Blick nicht v o m Wagen. »Sollen wir die Fahrkartenverkäufer befragen?«, erkundigte sich Pepe. »Vielleicht hat einer v o n denen Conwell ein Ticket verkauft.« »Glaube ich nicht«, sagte Perlmutter. Die drei jüngeren Männer hörten etwas aus der Stimme ihres Vorgesetzten heraus. Sie schauten einander an und zuckten die Schultern. Perlmutter erklärte sich nicht. Conwells Wagen war ein Toyota Celica. E i n Kleinwagen, altes Modell. Aber Größe und A l t e r waren unbedeutend. A u c h der Rost an den Kotflügelrändern, zwei fehlende Radkappen und die Tatsache, dass die übrigen beiden so verdreckt waren, dass kaum zu erkennen war, wo das M e t a l l endete und das G u m m i begann, spielte keine Rolle. N e i n , nichts v o n alledem machte Perlmutter Kopfzerbrechen. Er starrte auf das Heck des Wagens und dachte an die K l e i n stadt-Sheriffs in den Horrorfilmen, in denen etwas hochgradig faul ist, die Menschen sich merkwürdig benehmen, die Leichen sich stapeln und der Sheriff, der gute, smarte, ehrliche und überforderte Gesetzeshüter, alledem hilflos gegenüber steht. So fühlte sich Perlmutter in diesem Moment, da das Heck des Wagens m i t dem Kofferraum so ungewöhnlich tief lag. V i e l zu tief. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben. Im Kofferraum musste sich etwas Schweres befinden. N a t ü r l i c h konnte das alles Mögliche sein. Rocky Conwell war Footballspieler gewesen. Vermutlich trainierte er m i t Gewichten. Vielleicht transportierte er Hanteln. Die A n t w o r t konnte so
einfach sein. Der gute alte Rocky schleppte vielleicht seine Gewichte überall m i t sich herum. Vielleicht war er auf dem Weg gewesen, sie zu dem Apartment in der Maple Street zurück zu bringen, in dem seine Exfrau lebte. Sie hatte sich Sorgen um i h n gemacht. Sie wollten sich versöhnen. Vielleicht hatte Rocky seinen Wagen v o l l gepackt - gut, nicht seinen Wagen, nur den Kofferraum, denn Perlmutter konnte sehen, dass nichts auf dem Rücksitz lag - jedenfalls hatte er vielleicht einiges eingepackt, um wieder bei ihr einzuziehen. Perlmutter schwenkte die Schlüssel, als er sich dem Toyota Celica näherte. Daley, Pepe und Pashaian blieben zurück. Perlmutter sah auf die Schlüssel herab. Rockys Frau - er glaubte sich zu erinnern, dass sie Lorraine hieß, war sich jedoch nicht sicher hatte die Nachbildung eines Footballhelms der Penn State U n i versity als Schlüsselanhänger. Er sah alt und abgewetzt aus. Das Emblem, der Kopf des Pumas, war kaum noch zu erkennen. Perlmutter fragte sich, woran sie w o h l dachte, wenn sie den Schlüsselanhänger betrachtete, und warum sie i h n noch immer benutzte. Er hielt vor dem Kofferraum inne und sog die Luft ein. Kein Hauch. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte i h n um. Das Schloss sprang m i t einem dumpfen Knacken auf. Er hob den Deckel. Die Luft aus dem Innenraum entwich beinahe m i t einem hörbaren Zischen. U n d jetzt war auch der Gestank eindeutig. Etwas Großes war in den Kofferraum gezwängt worden, wie ein überdimensionales Kissen. Ohne Vorwarnung entfaltete es sich beinahe wie ein gigantischer Kasperle aus der Schachtel. Perlmutter sprang zurück, als der Kopf heraus kullerte und hart auf den Asphalt aufschlug. Was allerdings keine Rolle mehr spielte. Rocky Conwell war längst tot.
25 U n d was jetzt? Grace starb vor Hunger. Sie fuhr über die George Washington Bridge, nahm die Ausfahrt Jones Road und hielt bei einem c h i nesischen Restaurant an, das interessanterweise »Bei Baumgart« hieß. Sie aß stumm, fühlte sich so einsam wie nie zuvor und versuchte, Haltung zu bewahren. Was war geschehen? Vorgestern war es w i r k l i c h erst zwei Tage her? - hatte sie ihre Abzüge aus dem Fotogeschäft abgeholt. Das war alles. Das Leben war gut gewesen. Sie hatte einen Ehemann, den sie liebte und zwei wunderbare, aufgeweckte Kinder. Sie hatte Zeit zu malen. A l l e waren gesund und das Bankkonto gut gefüllt gewesen. U n d dann hatte sie ein Foto gesehen, ein altes Foto, und seither ... Grace hatte Josh m i t dem Sauerkrautbart schon beinah vergessen. Er hatte den F i l m entwickelt. Er hatte seltsamerweise, kurz nachdem sie die Fotos abgeholt hatte, den Laden verlassen. Er musste derjenige gewesen sein, da war sie sicher, der das verdammte Foto in ihren Stapel geschmuggelt hatte. Sie griff nach ihrem Handy, ließ sich v o n der Auskunft die Nummer des Fotogeschäfts in Kasselton geben und nahm sogar die Zusatzkosten dafür in Kauf, dass man sie direkt verband. Beim dritten K l i n g e l n meldete sich jemand. »Fotolabor.« Grace sagte nichts. Es bestand kein Zweifel. Sie hätte den gelangweilten Leck-mich-doch-Slang jederzeit und überall wieder erkannt. Am anderen Ende war Josh, der Sauerkrautbart. Er war wieder im Laden. Einen Augenblick war sie versucht, einfach aufzulegen, aber sie hatte das Gefühl, er könnte das als Warnung verstehen und sich veranlasst fühlen, wieder unterzutauchen. Sie verstellte die
Stimme, lispelte etwas und erkundigte sich, wann Ladenschluss sei. »Na um sechs«, informierte sie Sauerkrautbart. Sie bedankte sich noch, doch er hatte bereits aufgelegt. Die Rechnung lag schon auf dem Tisch. Sie bezahlte und versuchte, nicht zum Wagen zu rennen. Die Route 4 war leer. Sie raste an der dichten Kette v o n Einkaufszentren vorbei und fand unweit des Fotoladens einen Parkplatz. Ihr Handy klingelte. »Hallo?« »Carl Vespa hier.« »Oh, hallo.« »Tut mir Leid wegen gestern. I c h meine, dass ich Ihnen Jimmy X ohne Vorwarnung präsentiert habe.« Sie überlegte, ob sie i h m v o n Jimmy X's nächtlichem Besuch erzählen sollte, und entschloss sich dagegen. Die Zeit war n o c h nicht reif. »Schon in Ordnung.« »Ich weiß, es ist Ihnen egal, aber es sieht so aus, als würde Wade Larue frei kommen.« »Vielleicht ganz in Ordnung so.« »Vielleicht.« D o c h Vespa klang alles andere als überzeugt. »Sind Sie sicher, dass Sie keinen Schutz brauchen?« »Hundert Pro.« »Falls Sie Ihre Meinung ändern ...« »Rufe ich an.« Es entstand eine seltsame Pause. »Was v o n Ihrem M a n n gehört?« »Nein.« »Hat er eine Schwester?« Grace nahm das Handy in die andere Hand. »Ja. Warum?« »Heißt sie Sandra Koval?« »Ja. Was hat sie damit zu tun?« » W i r sprechen später darüber.« Er legte auf. Grace starrte auf ihr Handy. Was zum Teufel soll-
te das n u n wieder? Sie schüttelte den Kopf. Es war zwecklos, i h n noch einmal anzurufen. Sie versuchte, sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Grace ergriff ihre Handtasche und hinkte hastig zum Fotoladen. Ihr Bein schmerzte. Jeder Schritt kostete Überwindung. Sie hatte das Gefühl, einen Klotz am Bein zu haben. Grace kämpfte um jeden Meter. Sie war noch drei Ladengeschäfte entfernt, als ihr ein M a n n im Anzug in den Weg trat. »Mrs. Lawson?« Ein seltsamer Gedanke beschlich Grace, als sie den Fremden betrachtete: Sein sandfarbenes Haar hatte beinahe die gleiche Farbe wie sein Anzug, so dass beide aus dem gleichen Material zu bestehen schienen. »Ja, bitte?«, fragte sie. Der M a n n griff in die Jacketttasche und zog ein Foto heraus. Er hielt es ihr unter die Nase. »Haben Sie dieses B i l d ins Internet gestellt?« Es war eine Kopie des geheimnisvollen Fotos v o n der Blondine und der Rothaarigen. »Wer sind Sie?« »Ich heiße Scott Duncan«, antwortete der M a n n m i t dem sandfarbenen Haar. Er deutete auf die Blondine, die Frau, die zu Jack aufsah, diejenige, deren Gesicht ein dickes X verdeckte. »Das«, fuhr Scott Duncan fort, »ist ein Foto meiner Schwester.«
26 Perlmutter hatte Lorraine Conwell die schreckliche Nachricht so schonend wie möglich beigebracht. Er war schon häufig Überbringer schlechter Nachrichten gewesen. Normalerweise handelte es sich um Autounfälle auf der Route 4 oder dem Garden State Parkway. Lorraine Conwell war
zuerst in Tränen ausgebrochen. D a n n hatte Benommenheit v o n ihr Besitz ergriffen und die Tränen getrocknet. Jetzt saß Lorraine Conwell steif und aufrecht da. Ihre Lippen zitterten ein wenig. Sie wirkte klein und hilflos, und es kostete Perlmutter Überwindung, sie nicht einfach in die A r m e zu nehmen. »Rocky und ich«, begann sie. »Wir wollten wieder zusammenziehen.« Perlmutter nickte aufmunternd. »Ist meine Schuld, wissen Sie. Ich habe Rocky gezwungen zu gehen. Hätte ich nicht t u n sollen.« Sie sah m i t ihren veilchenblauen Augen zu i h m auf. »Er war anders, als wir uns kennen gelernt haben. Damals hatte er noch Träume. Er war so selbstsicher. Aber als er n i c h t mehr Football spielen konnte, das hat i h n fertig gemacht. Damit konnte ich nicht leben.« Perlmutter nickte erneut. Er wollte ihr helfen, ihr Gesellschaft leisten, aber für eine ungekürzte Lebensgeschichte fehlte i h m Zeit. Er musste die Sache beschleunigen und sich dann verabschieden. »Gab es jemanden, der Rocky ans Leder wollte? Hatte er Feinde?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Niemanden.« »Er hat im Gefängnis gesessen.« »Ja. Das war idiotisch. Er war in eine Kneipenschlägerei geraten. Dabei ist er ausgeflippt.« Perlmutter warf Daley einen Blick zu. Er wusste v o n der Schlägerei. Sie waren der Sache bereits auf der Spur, versuchten festzustellen, ob das Opfer sich hatte rächen wollen. Bislang gab es keine Hinweise darauf. »Hatte Rocky einen Job?«
»Ja.« »Wo?« »In Newark. Er hat in der Budweiser-Brauerei gearbeitet. In der Filiale am Flughafen.« »Sie haben uns gestern angerufen«, bemerkte Perlmutter. Sie nickte, den Blick unverwandt geradeaus gerichtet.
»Sie haben m i t Officer DiBartola gesprochen.« »Ja. Er war sehr nett.« Richtig. »Sie sagten i h m , Rocky sei v o n der A r b e i t nicht nach Hause gekommen.« Sie nickte. »Ihr A n r u f kam am frühen Morgen. Sie sagten, ex habe die Nacht durchgearbeitet.« »Das stimmt.« »Hatte er Nachtschicht in der Brauerei?« »Nein. Er hatte noch einen zweiten Job.« Sie wand sich. »Schwarzarbeit.« » U n d was hat er da gemacht?« »Er hat für diese Frau gearbeitet! »Was gearbeitet?« Sie wischte sich m i t einem Finger eine Träne weg. »Rocky hat nicht viel erzählt. Ich glaube, er hat für sie gerichtliche Vorladungen überbracht und so.« »Können Sie uns den N a m e n dieser Frau nennen?« »Klang irgendwie ausländisch. I c h kann's n i c h t aussprechen.« Perlmutter musste n i c h t lange nachdenken. »Indira Khariwalla?« »Genau. So heißt sie.« Lorraine Conwell sah i h n an. »Kennen Sie sie?« Er kannte sie. War lange her, aber ja, Perlmutter kannte sie ziemlich gut.
* Grace hatte Scott Duncan das Foto gegeben, auf dem alle fünf Personen zu sehen waren. Er konnte sich offenbar n i c h t satt sehen, besonders nicht an seiner Schwester. Sein Finger glitt über ihr Gesicht. Grace konnte es kaum m i t ansehen. Sie saßen mittlerweile bei Grace zu Hause in der Küche. Sie unterhielten sich bereits seit einer halben Stunde.
» U n d das haben Sie vor zwei Tagen bekommen?«, fragte Scott Duncan.
»Ja.« » U n d dann ist Ihr M a n n ... Das ist er doch, oder?« Scott Duncan deutete auf Jacks Bild.
»Ja.« »Er ist auf und davon?« »Er ist verschwunden«, sagte sie. »Er ist nicht auf und davon.« »Richtig. Sie glauben, dass man i h n entführt hat?« »Ich habe keine A h n u n g , was i h m zugestoßen ist. I c h weiß nur, dass er in Schwierigkeiten ist.« Scott Duncans Blick blieb auf das alte Foto gerichtet. »Weil er Sie irgendwie gewarnt hat? Davon gesprochen hat, er brauche >Abstand< ?« »Mr. Duncan, ich wüsste gern, wie Sie auf dieses Bild gestoßen sind. U n d vor allem, wie Sie m i c h ausfindig machen konnten.« »Sie haben dieses Foto als Spam-Post verschickt. Jemand hat das Foto erkannt und es an m i c h weitergeleitet. I c h habe den A b sender zurückverfolgt und i h n ein bisschen unter Druck gesetzt.« »Ist das der Grund, weshalb wir keine A n t w o r t e n bekommen haben?« Duncan nickte. »Ich wollte zuerst m i t Ihnen reden.« »Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. I c h wollte gerade den Kerl im Fotoladen zur Rede stellen, als Sie aufgetaucht sind.« »Den knöpfen wir uns noch vor. Keine Angst.« Er konnte den Blick nicht v o n dem Foto wenden. Geredet hatte nur sie. Alles, was sie v o n i h m erfahren hatte, war, dass diese Blondine seine Schwester war. Grace deutete auf das Gesicht m i t dem X. »Erzählen Sie mir v o n ihr.« »Sie hieß Geri. Sagt I h n e n der Name was?« »Tut mir Leid. Nein.« »Ihr M a n n hat sie nie erwähnt? Geri Duncan.« »Nicht dass ich wüsste.« Dann: »Sie sagten >hieß<.«
»Wie?« »Sie sagten, sie hieß Geri.« Duncan nickte. »Sie ist m i t einundzwanzig bei einem Brand ums Leben gekommen. In ihrem Zimmer im Studentenheim.« Grace erstarrte. »Dann hat sie an der Tufts University studiert, stimmt's?« »Ja. Woher wissen Sie das?« Jetzt ergab das alles einen Sinn - warum ihr das Gesicht des Mädchens bekannt vorgekommen war. Grace hatte sie n i c h t gekannt, aber damals war ihr B i l d in den Zeitungen erschienen. Grace war damals in physiotherapeutischer Behandlung gewesen und hatte zu viele Illustrierte gelesen. »Ich erinnere mich, davon gelesen zu haben. War das nicht ein Unfall? Kurzschluss oder so?« »Das habe ich immer geglaubt. Bis vor drei Monaten.« »Was ist passiert?« »Die Staatsanwaltschaft hat einen M a n n verhaftet, der sich M o n t e Scanion nennt. Ein Auftragskiller. Er hat dafür gesorgt, dass es wie ein U n f a l l aussah.« Grace versuchte das zu verarbeiten. » U n d davon haben Sie erst vor drei Monaten erfahren?«
»Ja.« »Haben Sie Nachforschungen angestellt?« »Ich b i n immer noch dabei. Aber inzwischen sind Jahre vergangen.« Seine Stimme klang jetzt weicher. »Sind nicht mehr viele Spuren zu finden - nach all der Zeit.« Grace wandte sich ab. »Ich habe herausgefunden, dass G e r i zu diesem Zeitpunkt m i t einem Jungen befreundet war - einem Ortsansässigen namens Shane A l w o r t h . Sagt Ihnen der Name was?« »Nein.« »Sicher nicht?« »Ziemlich sicher nicht.«
»Er war vorbestraft. Nichts Ernstes. Aber ich habe i h n überprüft.«
»Und?« »Er ist verschwunden.« » Verschwunden ?« »Keine Spur v o n i h m . I c h kann keine Arbeitspapiere von i h m finden. Ich kann nicht den Schimmer eines Shane A l w o r t h im Steuerzahlerregister entdecken. Es gibt keine Sozialversicherungsnummer für seinen Namen.« » U n d wie lange schon?« »Sie meinen, seit wann er verschwunden ist?«
»Ja.« »Ich habe die letzten zehn Jahre überprüft. Nichts.« Duncan griff in seine Jacketttasche und zog ein weiteres Foto heraus. Er gab es Grace. »Erkennen Sie ihn?« Sie betrachtete das Bild eingehend. Da bestand kein Zweifel. Es war der andere Junge auf ihrem Foto. Sie sah auf. Duncan nickte. »Unheimlich, was?« »Woher haben Sie das Foto?«, fragte sie. »Von Shane A l w o r t h ' Mutter. Sie behauptet, ihr Sohn lebe in einer kleinen Stadt in Mexiko. Angeblich ist er Missionar oder so ähnlich und deshalb hier nirgendwo registriert. Shane hat noch einen Bruder in St. Louis, der als Psychologe arbeitet. Er bestätigt die Aussagen der Mutter.« »Aber Sie kaufen den beiden das nicht ab?« »Sie vielleicht?« Grace legte das Foto auf den Tisch. »Wir kennen jetzt drei Personen auf diesem Bild«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Da ist Ihre Schwester, die ermordet wurde. Ihr Freund Shane A l w o r t h , der verschwunden ist. U n d mein M a n n , der unmittelbar nachdem er das Foto gesehen hatte, fortgefahren ist, ohne zu sagen, w o h i n . Stimmt das so ungefähr?« »Ja, das stimmt.«
»Was hat Shanes Mutter sonst noch gesagt?« »Dass man i h n nicht erreichen kann. Er sei irgendwo am Amazonas im Dschungel, glaubt sie.« »Dschungel? Amazonas? Mexiko?« »Ihr Geographie-Verständnis ist ziemlich wirr.« Grace schüttelte den Kopf und deutete auf das Foto. »Bleiben also noch die anderen beiden Frauen. Irgendein Hinweis, wer sie sind?« »Nein. N o c h nicht. I c h habe Geris Leiche exhumieren lassen. Das hat Zeit gekostet. Außerdem wird eine umfassende Autopsie gemacht. M a l sehen, ob sie irgendwelche Beweise finden. Aber die Hoffnung ist gering. Das . . . « , er deutete auf das Foto aus dem I n ternet, »... ist die einzige gute Spur, die ich bisher gefunden habe.« Die Hoffnung, die aus seiner Stimme sprach, störte: sie irgendwie. »Ist vielleicht nur ein harmloses Bild«, sagte sie. »Das glauben Sie doch selbst nicht.« Grace legte die Hände auf den Tisch. »Glauben Sie, mein M a n n hatte was m i t dem Tod Ihrer Schwester zu tun?« Duncan rieb sich das K i n n . »Gute Frage«, murmelte er. Sie wartete. »Vermutlich hatte er was damit zu tun. Aber ich glaube nicht, dass er sie getötet hat, falls Sie das meinen. Irgendetwas muss vor langer Zeit m i t diesen jungen Leuten passiert sein. Meine Schwester kam bei einem Zimmerbrand ums Leben. Ihr M a n n scheint nach Europa geflüchtet zu sein. Frankreich, sagten Sie:, oder?«
»Ja.« » U n d Shane A l w o r t h ist ebenfalls wie v o m Erdboden verschwunden. I c h meine, das hängt doch alles irgendwie zusammen. G i b t keine andere Erklärung.« »Meine Schwägerin weiß etwas.« Scott Duncan nickte. »Sagten Sie nicht, sie sei Anwältin?« »Ja. Bei Burton und Crimstein.« »Das ist schlecht. I c h kenne Hester Crimstein. W e n n sie uns
freiwillig nichts sagen w i l l , werde ich kaum etwas ausrichten können.« »Was machen wir also?« » W i r klopfen auf den Busch.« »Klopfen auf den Busch?« Er nickte. »Ist die einzige Methode, die Sache ins Rollen zu bringen.« »Dann sollten wir damit anfangen, uns diesen Josh v o m Fotoladen vorzuknöpfen«, sagte Grace. »Er hat mir dieses Foto zugesteckt. « Duncan stand auf. »Wäre immerhin ein Ansatz.« »Gehen Sie gleich zu ihm?«
»Ja.« »Dann möchte i c h mitkommen.« »Gut. Gehen wir.«
»Captain Perlmutter! W i e er leibt und lebt. Was verschafft mir die Ehre?« Indira Khariwalla war klein und hatte die Haut einer Dörrpflaume. I h r dunkler Teint verriet wie ihr Name die Inderin aus Bombay. Sie war noch immer eine attraktive Frau, aber längst n i c h t mehr die exotische Verführerin, die sie in der Blüte ihrer Jugend gewesen war. »Ist lange her«, sagte er. »Ja.« Das Lächeln, einst v o n umwerfendem Charme, wirkte angestrengt, ihre Haut k n i t t r i g und brüchig. »Aber lassen wir die Vergangenheit lieber ruhen.« »Ganz in meinem Sinn.« A l s Perlmutter in Kasselton angefangen hatte, war sein Partner Steve Goedert gewesen, ein altgedienter Polizist kurz vor seiner Pensionierung und ein großartiger Kumpel. Sie hatten eine tiefe Freundschaft füreinander entwickelt. Goedert hatte drei
Kinder, alle erwachsen, und eine Frau namens Susan. Perlmutter hatte keine A h n u n g , wie Goedert Indira kennen gelernt hatte. Jedenfalls hatten sie eine Affäre gehabt. Susan war dahinter gekommen. Lange Rede kurzer Sinn, die Folge war eine hässliche Scheidung gewesen. Als die A n w ä l t e m i t Goedert fertig waren, war er pleite. Er verdingte sich als Privatdetektiv und spezialisierte sich zynischerweise auf Ehebruch. Zumindest behauptete er dies. Perlmutter allerdings glaubte, dass er m i t falschen Karten spielte Klienten auf hinterhältige Weise in die Falle lockte. U n d Indira als Köder benutzte. Sie näherte sich dem Ehemann, verführte i h n und Goedert machte Fotos. Perlmutter riet i h m mehrfach, damit aufzuhören. Ehebruch war kein Kinderspiel. Es war n i c h t lustig, Männer derart auf die Probe zu stellen. Es dauerte n i c h t lange, bis Goedert an der Flasche hing. A u c h er besaß eine Waffe und setzte eines Tages seinem Leben ein Ende. N a c h seinem Tod machte Indira allein weiter. Sie übern a h m die Detektei, ließ Goederts N a m e n aber an der Tür. »Verdammt lange her«, sagte sie leise. »Hast du i h n geliebt?« »Geht dich nichts an.« »Du hast sein Leben ruiniert.« »Glaubst du w i r k l i c h , dass ich so viel Macht über die Männer habe?« Sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl h i n und her. »Was kann ich für dich tun, Captain Perlmutter?« »Du hast einen Angestellten namens Rocky Conwell.« Sie antwortete nicht. »Ich weiß, er arbeitet schwarz bei dir. Aber das interessiert m i c h nicht.« Schweigen. Er knallte ein ungeschöntes Foto v o n Conwells Leiche auf den Tisch. Indiras Augen zuckten in der Absicht in Richtung Foto, alles
als unwesentlich abzutun, und konnte doch den Blick nicht davon wenden. »Himmel, die Berge!« Perlmutter wartete. Doch Indira sagte nichts mehr. Sie starrte noch einen M o m e n t auf das Foto, dann warf sie den Kopf in den Nacken. »Seine Frau sagt, er habe für dich gearbeitet.« Sie nickte. » U n d was hat er gemacht?« »Nachtschichten.« »Was hat er während dieser Nachtschichten gemacht?« »Sachpfändungen. Gelegentlich hat er auch Vorladungen überbracht.« »Was sonst noch?« Sie sagte nichts. »Wir haben eine Kamera m i t Weitwinkelobjektiv und ein Fernglas in seinem Wagen gefunden.«
»Na und?« »Sieht verdammt danach aus, als habe er jemanden beschattet.« Sie sah i h n an. In ihren Augen schimmerten Tränen. »Glaubst du, er ist dabei ermordet worden?« »Wäre eine logische Folgerung. Sicher weiß ich es erst, wenn du m i r sagst, auf wen du i h n angesetzt hattest.« Indira wandte den Blick ab. Sie begann m i t dem Stuhl zu wippen. »Hat er vorgestern Nacht jemand beschattet?«
»Ja.« Erneutes Schweigen. »Was genau war sein Auftrag, Indira?« »Kann ich nicht sagen.« »Warum nicht?« »Ich habe Klienten. Die haben Rechte. Du kennst das Procedere, Stu.« »Du bist keine A n w ä l t i n . «
»Nein, aber ich kann für A n w ä l t e arbeiten.« »Soll das heißen, dass er einen Job im Auftrag eines Anwalts durchgeführt hat?« »Das soll gar nichts heißen.« »Möchtest du dir das Foto noch mal ansehen?« Sie hätte beinahe gelächelt. »Meinst du, das löst mir die Zunge ?« Trotzdem warf Indira noch einen Blick darauf. »Ich sehe k e i n Blut«, bemerkte sie. »Gab auch keines.« »Er ist n i c h t erschossen worden?« »Nein, ist er nicht. Weder Schusswaffe noch Messer waren im
Spiel.« Sie schien verwirrt. »Wie ist es dann passiert?« »Weiß i c h noch nicht. Der Pathologe hat i h n gerade auf dem Tisch. Aber ich habe da eine Vermutung. Interessiert?« Sie war es nicht. Dennoch nickte sie bedächtig. »Er ist erstickt.« »Du meinst, man hat i h n erwürgt?« »Kaum. Waren keine Würgemerkmale am Hals.« Sie runzelte die Stirn. »Rocky war ein großer Bursche. Hatte die Kraft eines Ochsen. Muss G i f t gewesen sein oder so was Ä h n liches.« »Glaube ich nicht. Der Polizeiarzt meinte, sein Kehlkopf sehe • ziemlich ramponiert aus.« Sie schien perplex. »Genauer ausgedrückt, hat i h m jemand die Kehle zerquetscht wie ein rohes Ei.« »Soll das heißen, jemand hat i h m m i t bloßen Händen den Hals umgedreht?« »Genaueres wissen wir noch nicht.« »Unmöglich. Dazu war er einfach zu kräftig gebaut«, wiederholte sie. »Hinter wem war er her?«, wollte Perlmutter wissen.
»Lass m i c h kurz telefonieren. Warte im Flur.« Er gehorchte. Er musste n i c h t lange warten. A l s Indira herauskam, war sie kurz angebunden. »Ich kann dir nichts sagen«, erklärte sie. »Tut mir Leid.« »Befehl des Anwalts?« »Ich k a n n dir nichts sagen.« »Ich komme wieder. M i t einem richterlichen Befehl.« »Viel Glück«, sagte sie und wandte sich ab. U n d Perlmutter hatte den Eindruck, dass sie es fast ehrlich meinte.
27 Grace und Scott Duncan kehrten zum Fotolabor zurück. Graces M u t sank, als sie eintraten und sie Sauerkrautbart nirgends entdecken konnte. Bruce, der stellvertretende Geschäftsführer, stand hinter der Theke. Er warf sich in die Brust. A l s Scott D u n can seine Dienstmarke zückte, fiel er sofort wieder in sich zusammen. »Josh hat gerade Mittagspause«, sagte er. »Wissen Sie, wo er die verbringt?« »Normalerweise geht er zu Taco Bell. Liegt gleich die Straße hinunter.« Grace kannte den Imbiss. Sie lief als Erste hinaus, aus Angst, erneut Joshs Spur zu verlieren. Scott Duncan folgte. Unmittelbar nachdem sie das Taco Bell betreten hatten und Grace der Duft von gebratenem Speck entgegenschlug, entdeckte sie auch schon Josh. U n d was gleichermaßen wichtig war, Josh entdeckte sie. Seine Augen wurden groß. Scott Duncan stand neben ihr. »Ist er das?« Grace nickte. Josh, der Sauerkrautbart, saß allein an einem Tisch. Er hielt den Kopf jetzt leicht gesenkt, das Haar hing i h m wie ein Vorhang ins Gesicht. Sein Gesichtsausdruck - Grace hatte den Verdacht,
dass er zu keinem anderen fähig war - wirkte griesgrämig. Er biss in seinen Taco, als sei dies eine Beleidigung für seine LieblingsGrunge-Gruppe. Er hatte die Kopfhörer aufgesetzt. Das Kabel fiel in die Sour Cream. Grace widerstrebte Besserwisserei, aber sich den ganzen Tag m i t dieser A r t v o n Musik v o l l zu dröhnen, konnte w i r k l i c h n i c h t gesund sein. Grace mochte Musik. W e n n sie allein war, drehte sie sie häufig auf volle Lautstärke, sang mit, tanzte, was auch immer. Es war also n i c h t die Musik, n i c h t einmal die Lautstärke, die sie störte. Aber welchen Einfluss hatte es w o h l auf den Geisteszustand eines jungen Menschen, wenn ständig diese zornigen, harten Rhythmen in seinen O h r e n vibrierten? Akustische Ausgrenzung, Einsamkeit hinter einer Mauer aus Rhythmen und, um Elton John zu zitieren, Unentrinnbarkeit. N i c h t ein Geräusch des Lebens, das um i h n herum tobte, drang bis zu i h m durch. N i c h t der geringste Gesprächsfetzen. Ein künstlicher Soundtrack zum F i l m des eigenen Lebens. Das konnte n i c h t gesund sein. Josh senkte den Kopf noch tiefer, tat, als sähe er sie nicht. Grace ließ i h n nicht aus den Augen, während sie auf i h n zugingen. Er war so jung. Er sah bemitleidenswert einsam aus, wie er so dasaß. Sie dachte an seine Hoffnungen und Träume, und dass er aussah, als sei i h m ein Lebensweg voller Enttäuschungen bereits vorherbestimmt. Sie dachte an Joshs Mutter, wie sehr sie sich bemüht haben und welche Sorgen sie sich machen musste. Sie dachte an ihren eigenen Sohn, ihren kleinen Max, und was sie t u n würde, wenn er je auf diese Weise abzurutschen (drohte. Grace und Scott Duncan blieben vor Joshs Tisch stehen. Er nahm noch einen Bissen und hob dann langsam den Blick. Die Musik, die aus seinen Kopfhörern drang, war so laut, dass Grace sogar den Text verstehen konnte. Es schien um Schlampen und N u t ten zu gehen. Scott Duncan übernahm die Regie. Sie ließ es zu. »Erkennen Sie die Dame hier?«, fragte Scott. Josh zuckte die Schultern. Er stellte die Musik leiser.
»Nehmen Sie die Dinger runter!«, befahl Duncan. »Sofort!« Er gehorchte, ließ sich dabei jedoch Zeit. »Ich habe gefragt, ob Sie die Dame hier erkennen.« Josh sah in Graces Richtung. »Ja, schätze schon.« »Woher kennen Sie sie?« »Von der Arbeit.« »Sie arbeiten im Fotolabor. Richtig?«
»Ja.« » U n d Mrs. Lawson ist eine Kundin?« »Hab ich doch gesagt.« »Erinnern Sie sich, wann sie das letzte M a l im Laden gewesen ist?« »Nein.« »Denken Sie nach!« Er zuckte die Achseln. »Wie wär's m i t vor zwei Tagen? Könnte das sein?« Erneutes Schulterzucken. »Könnte sein.« Scott Duncan hielt den Umschlag des Labors in der Hand. »Sie haben diesen F i l m entwickelt. Stimmt's?« »Wenn Sie's sagen.« »Nein, i c h frage Sie. Sehen Sie sich den Umschlag an.« Er tat es. Grace schwieg. Josh hatte Duncan n i c h t gefragt, wie er hieß. Er hatte n i c h t gefragt, was sie v o n i h m wollten. Das machte sie stutzig. »Ja, den Film hab ich entwickelt.« Duncan zog das Foto heraus, auf dem seine Schwester zu sehen war. Er legte es auf den Tisch. »Haben Sie das Foto in Mrs. Lawsons Umschlag gesteckt?« »Nein«, sagte Josh. »Sind Sie sicher?« »Absolut.« Grace wartete einen Moment. Sie wusste, dass er log. Dann ergriff sie zum ersten M a l das Wort. »Woher wollen Sie das wissen?«
Beide sahen sie an. »Wie meinen?«, fragte Josh. »Wie entwickeln Sie die Filme?« »Was heißt wie?«, fragte er noch einmal. »Sie legen die Filmrolle in die Maschine ein«, fuhr Grace fort. »Die Fotos kommen in einem Stapel raus. Dann stecken Sie den Stapel in den Umschlag. Ist das richtig?«
»Ja.« »Sehen Sie sich jedes Foto an, das Sie entwickeln?« Er schwieg. Er sah sich beinahe Hilfe suchend um. »Ich habe Sie bei der A r b e i t beobachtet«, sagte Grace. »Sie lesen Ihre Zeitschriften. Sie hören Ihre Musik. Sie überprüfen nicht jedes Foto. I c h frage Sie daher, Josh, woher wollen Sie wissen, welche Fotos in diesem Stapel waren?« Josh sah zu Scott Duncan. V o n dort konnte er keine Hilfe erwarten. Er wandte sich wieder an sie. »Ist komisch. Mehr weiß ich nicht.« Grace wartete. »Das Foto sieht uralt aus. H a t dasselbe Format, aber das ist kein Kodak-Papier. Das wollte ich damit sagen. Hab es noch nie zuvor gesehen.« Josh war m i t sich zufrieden. Seine Augen leuchteten auf, erwärmten sich für seine Lüge. »Genau. I c h dachte, dass er's so gemeint hat. Als er sagte, ob ich's reingesteckt hätte. Ob ich's schon mal gesehen hätte.« Grace sah i h n einfach nur an. »Hören Sie. I c h habe keine A h n u n g , was durch die Maschine läuft. Aber den Abzug habe ich noch nie gesehen. Mehr weiß ich nicht, okay?«
»Josh?« Das war Scott Duncan. Josh wandte sich i h m zu. »Der Abzug ist in Mrs. Lawsons Fotostapel gelandet. Haben Sie eine A h n u n g , wie das passiert sein könnte?« »Vielleicht hat sie das Foto selbst aufgenommen.« »Hat sie nicht«, widersprach Duncan.
Josh zuckte erneut ausgiebig m i t den Schultern. Er musste kräftige Schultern haben v o n dem häufigen Gezucke. »Erzählen Sie mal, wie das funktioniert. W i e entwickeln Sie diese Bilder?« »Wie i c h schon gesagt hab. I c h lege den F i l m in die Maschine. Die macht den Rest. Ich stell nur das Format und die Zahl ein.« »Zahl? Welche Zahl?« »Na, Sie wissen schon. Die Anzahl der Abzüge v o n jedem Negativ ... eins, z w e i . . . je nach Wunsch.« » U n d die Abzüge kommen dann in einem Stapel raus?« »So isses.« Josh war jetzt entspannter, wähnte sich in sicherem Fahrwasser. » U n d Sie stecken die Bilder dann in einen Umschlag?« »Richtig. In den Umschlag, den der Kunde bereits ausgefüllt hat. D a n n lege i c h die Umschläge in alphabetischer Reihenfolge ab. Das is alles.« Scott Duncan sah Grace an. Sie sagte nichts. Er zückte seine Dienstmarke. »Wissen Sie, was diese Marke bedeutet?« »Nein.« »Sie bedeutet, dass ich für die Staatsanwaltschaft der Vereinigten Staaten arbeite. Sie bedeutet, dass ich Ihnen das Leben verdammt unangenehm machen kann, falls Sie m i c h ärgern. Kapiert?« Josh sah plötzlich etwas verängstigt aus. Er brachte ein N i c k e n zustande. »Ich frage Sie also noch einmal: Wissen Sie etwas über dieses Foto?« »Nein. Das schwör ich.« Er sah sich um. »Ich muss jetzt wieder ins Labor zurück.« Er stand auf. Grace vertrat i h m den Weg. »Warum sind Sie vorgestern früher aus dem Laden weggegangen?« »Was is?«
»Ungefähr eine Stunde, nachdem i c h meine Abzüge abgeholt hatte, b i n i c h zurückgekommen. Da waren Sie nicht mehr da. U n d auch am nächsten Morgen nicht. Also. Was ist passiert?« »War krank«, sagte er. » A c h ja?«
»Ja.« »Geht's Ihnen jetzt wieder besser?« »Schon.« Er wollte sich an ihr vorbeidrängen. »Komisch«, fuhr Grace fort. »Der Geschäftsführer hat näml i c h gesagt, Sie hätten einen N o t f a l l in der Familie gehabt. Haben Sie i h m das erzählt?« »Ich muss wieder an die A r b e i t « , zischte er, und diesmal drängte er sich an ihr vorbei und stürmte aus dem Restaurant.
* Beatrice S m i t h war nicht zu Hause. Eric Wu brach ohne Probleme in ihr Haus ein. Er machte einen Rundgang. Niemand zu Hause. Ohne die Handschuhe auszuziehen, stellte er den Computer an. Ihre PIM-Software - das ist die Abkürzung für Personal Information Manager, eine A r t Terminkalender - war v o n Time & Chaos. Er öffnete die Datei und ging ihren Terminkalender durch. Beatrice Smith war zu Besuch bei ihrem Sohn, einem Arzt in San Diego. Sie kam erst in zwei Tagen zurück. Das rettete ihr das Leben. Wu dachte über die verschlungenen Wege des Schicksals nach. Er konnte nicht anders. Er überprüfte Beatrice Smith' Terminkalender in den beiden zurückliegenden und den zwei kommenden Monaten. Keinerlei Reisen m i t Übernachtungen waren verzeichnet. Zu jedem anderen Zeitpunkt, an dem er hätte kommen können, wäre Beatrice Smith' Leben zu Ende gewesen. Wu sah die Dinge gern durch diese Brille, vergegenwärtigte sich gern, dass es die kleinen Dinge des Lebens waren, das Unbewusste, die Dinge, die wir weder wissen noch kontrollieren können, die den
Ausschlag gaben. M a n konnte es Schicksal, Glück, Zufall oder G o t t nennen. Wu fand es faszinierend. Beatrice S m i t h hatte eine Doppelgarage. Ihr brauner Landrover stand auf der rechten Seite. Der linke Platz war frei. A u f dem Beton zeichnete sich ein Ölfleck ab. Wu nahm an, dass dort Maurys Wagen gestanden hatte. Beatrice ließ i h n jetzt offenbar stets frei - Wu musste dabei an Freddy Sykes' Mutter denken wie eine Seite des Ehebettes. Wu parkte den Ford Windstar eben dort. Er öffnete den Kofferraum. Jack Lawson sah mitgenommen aus. Er nahm i h m die Fußfesseln ab, damit er gehen konnte. Die Hände ließ er an den Gelenken gefesselt. Wu führte den M a n n ins Haus. Jack Lawson stürzte zwei M a l . Die Blutzufuhr zu seinen Beinen war noch gestört. Wu hielt i h n am Hemdkragen aufrecht. »Ich nehme Ihnen den Knebel ab«, sagte W u . Jack Lawson nickte. Wu sah es an Lawsons Augen. Der Widerstand des Mannes war gebrochen. Wu hatte i h n n i c h t übermäßig verletzt - jedenfalls noch nicht -, aber wenn jemand lange genug allein m i t seinen Gedanken im D u n k e l n gelegen hat, n i m m t die Psyche Schaden. Das war in jedem Fall gefährlich. Der Schlüssel zur Heiterkeit, das wusste W u , war Beschäftigung, war immer in Bewegung zu bleiben. D a n n stellten sich Fragen nach Schuld oder Unschuld nicht. M a n denkt nicht an Vergangenheit oder Träume, Freuden oder Enttäuschungen. M a n sorgt sich nur noch ums Überleben. Verletzen oder verletzt werden. T ö t e n oder getötet werden. Wu nahm i h m den Knebel ab. Lawson bettelte nicht, noch flehte er oder stellte Fragen. Über dieses Stadium war er hinaus. Wu band i h n m i t den Beinen an einen Stuhl. Er durchsuchte Speisekammer und Kühlschrank. Sie aßen beide schweigend. Anschließend spülte Wu das Geschirr ab und räumte auf. Jack Lawson blieb an den Stuhl gefesselt. Wus Handy klingelte. »Ja?« »Wir haben ein Problem.«
W u wartete. »Als du i h n dir geschnappt hast, hatte er eine Kopie des Fotos dabei, richtig?«
»Ja.« » U n d er hat gesagt, es gäbe keine weiteren Abzüge?«
»Ja.« »Das stimmt nicht.« W u schwieg. »Seine Frau hat eine Kopie. U n d sie geht damit hausieren.« »Verstehe.« »Kümmerst du dich darum?« »Nein«, sagte W u . »Ich kann in die Gegend nicht zurück.« »Warum nicht?« W u antwortete nicht. »Vergiss, dass ich gefragt habe. W i r bitten M a r t i n . Er weiß über ihre Kinder Bescheid.« Wu sagte nichts. Die Idee gefiel i h m nicht, aber das behielt er für sich. »Wir kümmern uns darum«, sagte die Stimme am Telefon, bevor aufgelegt wurde.
28 »Josh lügt«, sagte Grace. Sie waren wieder auf der M a i n Street. W o l k e n verdichteten sich bedrohlich, doch vorerst blieb es bei hoher Luftfeuchtigkeit. Scott Duncan deutete auf ein Gebäude weiter oben. »Ich könnte jetzt einen Kaffee bei Starbucks brauchen«, gestand er. »Warten Sie. Sie glauben nicht, dass er lügt?« »Er ist nervös. Das ist ein Unterschied.« Scott Duncan zog die Glastür auf. Grace ging hinein. Vor der Theke hatte sich eine Schlange gebildet. Es gibt w o h l immer
eine Schlange bei Starbucks. Aus den Lautsprechern tönte ein altmodischer Blues gesungen v o n Billie Holiday, Dinah Washington oder N i n a Simone. Als das Lied zu Ende war, setzte eine Mädchenstimme begleitet v o n einer Westerngitarre ein. Grace tippte auf Jewel, Aimee M a n n oder Lucinda Williams. »Was ist m i t seinen Ungereimtheiten?«, fragte sie. Scott Duncan runzelte die Stirn. »Womit soll was sein?« »Sieht Ihr Freund Josh wie jemand aus, der bereitwillig m i t Behörden kooperiert?« »Nein.« »Also was erwarten Sie dann?« »Sein Boss sagt, es habe einen N o t f a l l in der Familie gegeben. U n d er erzählt uns, er sei krank gewesen.« »Das ist eine Ungereimtheit«, stimmte er zu.
»Aber?« Scott Duncan zuckte übertrieben m i t den Schultern, w o m i t er Josh kopierte. »Ich habe eine Menge Fälle bearbeitet. U n d wissen Sie, was ich dabei in Bezug auf Widersprüche gelernt habe?« Sie schüttelte den Kopf. Im Hintergrund sprang der M i l c h schäumer an. Grace fühlte sich an das Getöse der Autostaubsauger an Tankstellen erinnert. »Es gibt sie. Würde m i c h misstrauischer machen, wenn da gar keine wären. Die Wahrheit hat immer viele Gesichter. Hätte seine Geschichte ganz plausibel geklungen, wäre ich misstrauischer. Würde m i c h automatisch fragen, ob er sie erfunden und auswendig gelernt hat. Eine Lüge widerspruchsfrei zu erzählen, ist nicht schwierig. Aber was diesen Josh angeht ... fragen Sie i h n zwei M a l , was er zum Frühstück gegessen hat, und er kriegt's m i t Sicherheit n i c h t mehr auf die Reihe.« Sie rückten in der Schlange weiter auf. Die Bedienung hinter der Theke fragte nach ihren Wünschen. Duncan sah Grace an. Sie bestellte einen doppelten geeisten Espresso. Er nickte und
sagte: »Für m i c h dasselbe.« Er bezahlte m i t einer Starbucks-Kundenkarte. D a n n warteten sie auf ihre Getränke. »Sie meinen also, er hat die Wahrheit gesagt?«, fragte Grace. »Ich weiß nicht. Jedenfalls haben bei mir die Alarmglocken n i c h t geläutet.« Grace war sich nicht so sicher. »Er muss es gewesen sein.« »Warum?« »Es kommt niemand anderes in Frage.« Sie nahmen ihre Getränke und fanden einen Tisch in Fensternähe. »Erzählen Sie's mir noch mal der Reihe nach«, bat er. »Was?« »Wie's gewesen ist. Sie haben die Abzüge abgeholt. Josh hat Ihnen den Umschlag gegeben. Haben Sie sich die Fotos sofort angesehen?« Grace starrte zur Decke und dann nach rechts. Sie versuchte sich an die Einzelheiten zu erinnern. »Nein.« »Gut. Sie haben den Umschlag also genommen. Haben Sie i h n in Ihre Handtasche gesteckt?« »Ich hab i h n in der Hand behalten.« » U n d dann?« »Bin ich in den Wagen gestiegen.« »Den Umschlag in der Hand?«
»Ja.« » W o h i n haben Sie i h n dann getan?« » A u f die Konsole gelegt. Zwischen den beiden Vordersitzen.« » W o h i n sind Sie gefahren?« »Ich wollte M a x v o n der Schule abholen.« »Haben Sie auf dem Weg irgendwo angehalten?« »Nein.« »Die Fotos waren also die ganze Zeit über in Ihrem Besitz?« Grace musste u n w i l l k ü r l i c h lächeln. »Sie klingen wie beim Check in am Flughafen.« »Dort löchern Sie einen schon lange nicht mehr m i t Fragen.«
»Mein letzter Flug ist auch schon eine ganze Weile her.« Sie lächelte dümmlich und merkte, weshalb sie plötzlich ziellos abgeschweift war. Duncan schien denselben Gedanken zu haben. Ihr war etwas eingefallen - etwas, das sie nicht weiter vertiefen wollte. »Was?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Mag sein, dass ich n i c h t bemerkt habe, dass Josh uns was verschweigt. Sie machen es mir leichter. Also was gibt's?« »Nichts.« » A c h kommen Sie schon, Grace.« »Die Fotos sind die ganze Zeit bei mir gewesen.« »Aber?« »Das ist doch Zeitverschwendung. Ich weiß, dass Josh es gewesen ist. Es gibt keine andere Möglichkeit.«
»Aber?« Sie holte tief Luft. »Ich sage das jetzt nur einmal. U n d damit ist das Thema für m i c h erledigt. Okay?« Duncan nickte. »Es gab eine Person, die könnte - ich betone könnte - an die Fotos herangekommen sein.« »Wer?« »Ich habe im Wagen gesessen und auf Max gewartet. Dabei habe ich den Umschlag geöffnet und mir die ersten Fotos angesehen. Dann kam meine Freundin Cora.« »Ist sie zu Ihnen in den Wagen gestiegen?«
»Ja.« »Wo saß sie?« » A u f dem Beifahrersitz.« »Und die Fotos lagen auf der Konsole neben ihr?« »Nein. N i c h t mehr.« Ihre Stimme klang ganz kratzbürstig, so gereizt war sie. Die Wendung, die die Geschichte genommen hatte, passte ihr nicht. »Habe ich doch gerade gesagt. I c h war dabei, mir die Bilder anzusehen.«
»Aber Sie haben den Umschlag wieder beiseite gelegt?« »Irgendwann, ja. Schätze schon.« » A u f die Konsole?« »Nehme ich an. Ich kann m i c h nicht erinnern.« »Also hätte Ihre Freundin etwas damit anstellen können.« »Nein. Ich b i n die ganze Zeit über dabei gewesen.« »Wer ist zuerst ausgestiegen?« »Ich glaube, wir sind beide gleichzeitig ausgestiegen.« »Sie haben eine leichte Gehbehinderung.« Sie sah i h n an. »Na und?« »Das Aussteigen muss für Sie doch umständlich sein.« »Ich schaffe es ganz gut.« »Ich bitte Sie, Grace. Helfen Sie mir. Es ist doch möglich - ich sage nicht wahrscheinlich -, dass Ihre Freundin das Foto in den Umschlag geschmuggelt hat, während Sie m i t Aussteigen beschäftigt waren.« »Möglich, sicher. Aber sie hat es nicht getan.« » A u f keinen Fall?« » A u f keinen Fall.« »Sie vertrauen ihr so bedingungslos?« »Ja. Aber selbst wenn nicht, ich meine, denken Sie doch mal nach. Was unterstellen Sie ihr? Dass sie das Foto in der Hoffnung m i t sich herumgeschleppt hat, dass ich einen Umschlag m i t A b zügen in meinem Wagen habe?« »Nicht unbedingt. Vielleicht wollte sie es ursprünglich unbemerkt in Ihre Handtasche stecken. Oder ins Handschuhfach. Oder unter den Sitz. Keine A h n u n g . D a n n hat sie aber den U m schlag m i t den Fotos gesehen und ...« »Nein.« Grace hob die Hand. »So kommen wir nicht weiter. Es war nicht Cora. Reine Zeitverschwendung.« »Wie heißt Cora m i t Nachnamen?« »Das tut nichts zur Sache.« »Sagen Sie's mir, und es ist erledigt.«
»Lindley. Cora Lindley.« »Okay«, sagte er. »Belassen wir's dabei.« Trotzdem notierte er sich etwas auf einen kleinen Zettel. »Und jetzt?«, fragte Grace. Duncan sah auf die Uhr. »Ich muss wieder ins Büro.« »Und was soll ich tun?« »Durchsuchen Sie Ihr Haus. Für den Fall, dass Ihr M a n n dort etwas versteckt h a t . . . vielleicht haben Sie ja Glück.« »Sie meinen, ich soll in den Sachen meines Mannes herumwühlen?« »Klopfen Sie auf den Busch, Grace.« Er wandte sich zum Gehen. »Bleiben Sie am Ball. Ich melde m i c h bald wieder. Versprochen.«
29 Das Leben ging weiter. Grace musste Lebensmittel einkaufen. Unter den gegebenen Umständen mochte das vielleicht seltsam klingen. Vor allem da ihre beiden Kinder auch mit einer eintönigen Diät vom Pizzadienst frohgemut überleben würden. Dennoch brauchten sie einige Grundnahrungsmittel wie M i l c h , Orangensaft (die Marke mit Kalziumzusatz und niemals das Fruchtkonzentrat), Eier, Brotaufstrich, Frühstücksflocken, Brot, Pasta, Spaghettisauce. Möglich, dass das Einkaufen sich auch als Balsam für die Seele erwies. War es doch ein Stück Normalität, die, wenn auch keine tröstliche, so doch im Ansatz wenigstens eine therapeutische Wirkung haben konnte. Grace hielt vor dem King's Supermarkt am Franklin Boulevard an. Stammgeschäfte kannte sie nicht. Ihre Freundinnen hatten ausgesprochene Favoriten unter den Supermärkten und dachten n i c h t im Traum daran, bei der Konkurrenz fremdzugehen. Grace überließ die Auswahl dem Zufall. Denn Tropicana
Orangensaft blieb, wo immer man i h n auch kaufte, einfach nur Orangensaft der Marke Tropicana. In diesem Fall lag King's Supermarkt Starbucks schlicht am nächsten. Damit war ihr die Entscheidung abgenommen. Sie griff sich einen Einkaufswagen und tat so, als sei sie einfach eine Durchschnittshausfrau an einem ganz normalen Wochentag. Dieser Zustand dauerte n i c h t lange. Plötzlich musste sie wieder an Scott Duncan und seine Schwester denken und daran, was das alles w o h l zu bedeuten habe mochte. Was, überlegte Grace, bedeutet das alles für m i c h v o n jetzt an? Zuallererst verwarf Grace die so genannte »Cora-Connection«. Sie existierte schlicht nicht. Duncan kannte Cora nicht. Er war von Berufs wegen misstrauisch. Grace wusste es besser. Cora war ein verrücktes H u h n , kein Zweifel. Aber das war gerade der Grund gewesen, weshalb sich Grace von Anfang an zu ihr hingezogen gefühlt hatte. Sie waren sich beim Schulkonzert begegnet, kurz nachdem die Lawsons in die Stadt gezogen waren. Während ihre K i n der die klassischen Lieder zum Schulanfang malträtiert hatten, hatten Grace und Cora in der Lobby ausharren müssen, da sie zu spät gekommen waren, um einen Sitzplatz zu ergattern. Cora hatte sich zu Grace herübergebeugt und geflüstert: »War leichter, beim Springsteen-Konzert in die erste Reihe zu kommen.« Grace hatte gelacht. U n d so hatte ihre Freundschaft begonnen. Aber Spaß beiseite und trotz aller Voreingenommenheit: W e l ches M o t i v sollte Cora denn gehabt haben? Der beste Tipp war noch immer Josh m i t dem Sauerkrautbart. Ganz logisch, dass er nervös war. U n d er war grundsätzlich gegen jede Art: v o n A u t o rität. Doch da musste noch mehr dahinter stecken, da war Grace sicher. Cora konnten sie vergessen. Sie sollten sich auf Josh konzentrieren. Dort lag irgendwo der H u n d begraben. M a x hatte im Moment eine Vorliebe für Speck. Es gab einen neumodischen Fertigspeck, den er bei einem Freund gegessen hatte. Sie sollte i h n unbedingt auch kaufen. Grace überprüfte die
Inhaltsstoffe. W i e alle anderen Amerikaner bemühte sie sich gegenwärtig, die Kohlenhydratzufuhr zu reduzieren. Das Zeug hatte überhaupt keine Kohlenhydrate. K e i n einziges kleines Kohlenhydrat war angegeben. Dafür genügte der Natriumgehalt, um einem größeren Teich Meerwasserqualität zu verleihen. Kohlenhydrate dagegen waren Fehlanzeige. Sie vertiefte sich weiter in die Zutatenliste - ein interessantes Potpourri v o n Begriffen, die sie hätte im Lexikon nachschlagen müssen -, als sie das eindeutige Gefühl beschlich, beobachtet zu werden. Die Packung noch immer auf Augenhöhe, wandte sie langsam den Blick. Am Ende des Ganges, auf der Höhe des K ü h l regals m i t Salami und Lyoner Wurst, stand ein M a n n und starrte sie unverhohlen an. Niemand sonst war im Regalgang zu sehen. Er war groß, vielleicht einen Meter achtzig. Er trug einen Zehntage-Bart, Bluejeans, ein kastanienbraunes T-Shirt und eine schwarze Bomberjacke aus glänzendem Material. A u f seiner Baseballkappe prangte das Nike-Emblem. Grace war der M a n n völlig unbekannt. Er starrte sie noch einen M o m e n t weiter an, dann begann er zu sprechen. Seine Stimme war ein kaum vernehmbares Flüstern. »Mrs. Lamb«, sagte er zu ihr. »Zimmer 17.« Im ersten M o m e n t begriff sie erst einmal gar nichts. Sie stand nur da, unfähig, sich zu bewegen. N i c h t , dass sie i h n nicht gehört hatte - sie hatte jedes W o r t verstanden -, aber diese Äußerung aus dem M u n d eines Fremden entbehrte jedes logischen Zusammenhangs, jeder Bedeutung für ihre Person. In den ersten beiden Sekunden jedenfalls. D a n n überkam es sie m i t der W u c h t einer Flutwelle ... Mrs. Lamb. Zimmer 17 ... Mrs. Lamb war Emmas Lehrerin. Zimmer 17 war Emmas Klassenzimmer. Der M a n n war bereits im Gehen begriffen, eilte den Regalgang entlang.
»Warten Sie!«, rief Grace. »He, Sie da!« Der M a n n drehte sich an der Ecke um. Grace lief hinter i h m her, versuchte, ihre Schritte zu beschleunigen, doch ihr schlimmes Bein, das verdammte Bein, behinderte sie. Sie erreichte das Ende des Ganges an der Rückwand bei der Geflügeltheke. Sie sah nach rechts und links. Keine Spur v o n dem Fremden. Was jetzt? Mrs. Lamb. Zimmer 17 ... Sie wandte sich nach rechts, kontrollierte jeden Regalgang im Vorübergehen. Ihre Hand glitt in ihre Handtasche, tastete nach dem Handy. Ruhig bleiben, ermahnte sie sich. Ruf in der Schule an. Grace versuchte schneller zu gehen, doch ihr Bein war plötzl i c h schwer wie Blei. Je mehr sie sich beeilte, desto heftiger zog sie ihr Bein nach. A l s sie schließlich zu rennen versuchte, kam sie sich vor wie Quasimodo auf den Stufen des Glockenturms. W i e sie dabei aussah, spielte in diesem M o m e n t natürlich keine Rolle. Sie musste nur funktionieren. Doch genau darin bestand das Problem. Sie war nicht schnell genug. Mrs. Lamb. Zimmer 17 ... W e n n er meinem Baby etwas angetan hat, wenn er sie auch nur schräg angesehen h a t . . . Grace hatte den letzten Gang erreicht, den Gang m i t den Kühlregalen für M i l c h und Eier, den Gang, der zu weit vom Eingang entfernt lag, um zu spontanen Käufen zu animieren. Sie machte sich zur Ladenfront auf, hoffte, i h n auf diese Weise wieder zu finden. Im Gehen fummelte sie an ihrem Handy herum, und es war kein leichtes Unterfangen, währenddessen ihre Telefonliste nach der Nummer der Schule zu durchforsten. Die Nummer war nicht gespeichert. Mist. Grace wettete, dass die anderen Mütter, die patenten, guten Mütter m i t dem selbstbewussten Lächeln und dem perfekten
Freizeitprogramm für ihre Kinder - dass genau die die Telefonnummer der Schule in ihrem Mobiltelefon gespeichert hatten. Mrs. Lamb. Zimmer 17 ... Versuch die Auskunft, du Trottel. Wähle 411Sie drückte die Tasten. A l s sie das Ende des Ganges erreicht hatte, sah sie die Reihe der Kassen entlang. Keine Spur v o n dem M a n n . Im Telefon meldete sich die tiefe, donnernde Stimme: Verizon 4 1 1 . Dann ein Ping und eine Frauenstimme ertönte: »Für Auskünfte in Englisch bleiben Sie in der Leitung. Para espanol, por favor numero dos.« U n d in diesem Moment, als sie dem Angebot in Spanisch lauschte, entdeckte Grace den Fremden. Er stand bereits außerhalb des Supermarkts. Sie sah i h n durch die Panzerglasscheibe. Er trug noch immer die Mütze und die Windjacke. Er schlenderte sorglos - zu sorglos, wie sie fand fröhlich pfeifend einher und ließ die A r m e locker an seiner Seite pendeln. Sie wollte schon loslaufen, als etwas - etwas in der Hand des Mannes sie zur Salzsäure erstarren ließ. Das war unmöglich. Erneut begriff sie nicht sofort. Der A n b l i c k , der Impuls, den das Auge an das G e h i r n weitergab, erreichte sein Ziel nicht, sondern löste eine A r t Kurzschluss aus. Wieder dauerte es n i c h t lange. N u r ein oder zwei Sekunden. Grace' Hand m i t dem Telefon sank herab und hing leblos herunter. Der M a n n ging weiter. Panik - eine nie gekannte Panik, ein Gefühl, angesichts dessen das Massaker von Boston zur Lappalie verkam - legte sich tonnenschwer auf ihre Brust. Der M a n n war fast schon außer Sichtweite. A u f seinem Gesicht lag ein Lächeln. Er pfiff noch immer. Seine Arme pendelten ausladend vor und zurück. U n d in seiner Hand, seiner rechten Hand, der Hand, die der Fensterscheibe zugewandt war, hielt er eine Frühstücksbox v o n Batman.
30 »Mrs. Lawson«, sagte Sylvia Steiner, die D i r e k t o r i n der W i l l a r d Schule zu Grace in einem Ton, den Schulleiter normalerweise anschlagen, wenn sie es m i t hysterischen Eltern zu t u n haben. » M i t Emma ist alles in Ordnung. U n d m i t Max ebenfalls.« A l s Grace endlich den Ausgang des Supermarkts erreicht hatte, war der M a n n m i t der Batman-Frühstücksbox verschwunden. Sie begann zu schreien, rief um Hilfe, doch die anderen Supermarktkunden glotzten sie nur an wie eine entlaufene Irre. Für Erklärungen war keine Zeit. Sie hinkte so schnell sie konnte zum Wagen, rief die Schule an, während sie m i t einer Geschwindigkeit durch die Stadt raste, die einem Michael Schumacher imponiert hätte, und stürmte das Büro der Schulleitung. »Ich habe m i t beiden Lehrern gesprochen. Die Kinder sind in ihren Klassen.« »Ich möchte sie sehen.« »Das ist natürlich Ihr gutes Recht. Darf ich trotzdem einen Vorschlag machen?« Sylvia Steiner sprach so verdammt langsam, dass Grace ihr beinahe an die Gurgel gesprungen wäre. »Sie haben natürlich einen furchtbaren Schreck bekommen. Aber atmen Sie einfach mal tief durch. Fassen Sie sich. Sie machen Ihren Kindern nur Angst, wenn sie Sie in diesem Zustand sehen.« Ein Teil in Grace hätte ihr am liebsten diese herablassende, selbstsichere Maske samt der m i t Haarlack fixierten Frisur v o m Kopf gerissen. E i n anderer Teil in ihr, der größere Teil, begriff, dass die Frau Recht hatte. »Ich muss sie einfach sehen«, sagte Grace. »Verstehe. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. W i r werfen einen Blick durchs Türfenster. Da können Sie die beiden sehen. Wäre das für Sie in Ordnung, Mrs. Lawson?«
Grace nickte. »Gut. D a n n kommen Sie. I c h begleite Sie.« Direktorin Steiner warf der Sekretärin hinter dem Schreibtisch einen Blick zu. Mrs. Dinsmont ihrerseits versuchte angestrengt, nicht die Augen zu verdrehen. Jede Schule hat so eine allwissende, alles sehende Dame im Direktoratsvorzimmer. War vermutlich Vorschrift. Die Korridore explodierten förmlich vor Farbe. Kinderzeichnungen rührten Grace stets zu Tränen. Die Stücke waren wie Schnappschüsse, ein unwiederbringlicher Augenblick. Ihre künstlerischen Fähigkeiten reifen und ändern sich. Irgendwann ist die Unschuld für immer dahin, ist nur noch in einem Bild m i t Fingerfarben, einem Ausmalbild oder in krakeliger Handschrift verewigt. A l s Erstes erreichten sie M a x ' Klassenzimmer. Grace stellte sich hinter die Scheibe. Sie entdeckte ihren Sohn sofort. M a x hatte ihr den Rücken zugewandt, den Kopf in den Nacken gelegt. Er saß im Schneidersitz in einem Halbkreis auf dem Fußboden. Seine Lehrerin, Miss Lyons, thronte auf dem Stuhl. Sie las ein Bilderbuch vor, das sie hochhob, damit die Kinder es sehen konnten, während sie weitersprach. »Alles in Ordnung?«, fragte Direktorin Steiner. Grace nickte. Sie gingen den Korridor weiter entlang. Grace sah die N u m mer 1 7 . . . Mrs. Lamb. Zimmer 17 ... ... an der Tür. E i n Schauer lief ihr über den Rücken und sie versuchte, in gemessenen Schritten weiterzugehen. Direktorin Steiner, das wusste sie, hatte mittlerweile gemerkt, dass sie ein Bein nachzog. Ihr Bein schmerzte wie seit Jahren n i c h t mehr. Sie spähte durch die Glasscheibe. Ihre Tochter war da, genau so, wie es sein sollte. Grace kämpfte m i t den Tränen. Emma hielt den Kopf gesenkt. Sie kaute auf dem Radiergummi am oberen Ende ihres Bleistifts. Tief in Gedanken versunken. Warum, so fragte
sich Grace, rührt es uns so tief, wenn wir unsere Kinder unbemerkt beobachten? Was genau versuchen wir zu erkennen? U n d jetzt? Tief atmen. Ruhe bewahren. M i t ihren K i n d e r n war alles in Ordnung. Das war die Hauptsache. Denk nach. Sei vernünftig. Ruf die Polizei an. Das war der nächste logische Schritt. D i r e k t o r i n Steiner hüstelte gekünstelt. Grace sah sie an. »Ich weiß, es k l i n g t verrückt«, sagte Grace, »aber i c h muss unbedingt Emmas Frühstücksbox sehen.« Grace hatte einen überraschten oder resignierten Blick erwartet, doch Sylvia Steiner nickte nur. Sie stellte keine Fragen und hatte bisher ihr seltsames Verhalten auch m i t keinem W o r t h i n terfragt. Grace war ihr dafür dankbar. »Die Frühstücksboxen werden allesamt in der Cafeteria aufbewahrt«, erklärte sie. »Jede Klasse hat ihren eigenen Behälter. Soll ich es Ihnen zeigen?« »Ja, bitte.« Die Behälter standen alle ordentlich aufgereiht. Sie fanden den großen blauen Behälter m i t der Aufschrift »Susan Lamb, Zimmer 17« und begannen i h n zu durchsuchen. »Wie sieht die Box aus?«, fragte Direktorin Steiner. Grace wollte gerade antworten, da sah sie die Batman-Box. POW stand in grellgelben Lettern darauf. Sie hob sie hoch. Emmas Name prangte auf der Unterseite. »Ist sie das?« Grace nickte. »Sehr beliebt in diesem Jahr.« Es kostete sie große Überwindung, die Box n i c h t an ihre Brust zu drücken. Sie legte sie zurück, als wäre sie aus venezianischem Glas. Schweigend kehrten sie zum Direktorat zurück. Grace war versucht, die Kinder aus der Schule zu nehmen. Es war halb drei U h r nachmittags. In einer halben Stunde hatten sie sowieso Schluss. A b e r das war n i c h t gut. Sie würden es nur m i t der Angst
zu t u n bekommen. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken, um sich ihre A n t w o r t zurechtzulegen, und sowieso: Waren Emma und Max nicht hier, umgeben v o n allen anderen, am sichersten? Grace bedankte sich erneut bei der D i r e k t o r i n . Sie schüttelten sich die Hand. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«, fragte die Direktorin. »Nein, ich glaube nicht.« Grace ging hinaus. Draußen auf dem Weg blieb sie stehen. Sie schloss für einen M o m e n t die Augen. Ihre Angst verflog nicht einfach, sondern verwandelte sich in schiere, primitive W u t . Sie fühlte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Dieses Schwein. Dieses Schwein hatte ihre Tochter bedroht. U n d was jetzt? Die Polizei. Sie sollte die Polizei anrufen. Das war der logische Schritt. Das Telefon war in ihrer Hand. Sie wollte gerade wählen, als ein simpler Gedanke sie innehalten ließ: Was genau sollte sie sagen? Hallo, ich war heute im Supermarkt, verstehen Sie, und da war dieser Kerl bei der Wursttheke. Also und der flüstert mir den Namen der Lehrerin meiner Tochter zu. Richtig, der Lehrerin. Oh, und die Klassenzimmernummer. Ja, an der Wursttheke. Gleich neben dem abgepackten Fleisch. Und dann ist er weggerannt. Später habe ich ihn mit der Frühstücksbox meiner Tochter gesehen. Draußen vor dem Supermarkt. Was er getan hat? Er ist da einfach gegangen. Also, nein. Eigentlich war's gar nicht Emmas Frühstücksbox. Sah nur genauso aus. Die mit dem Batman-Motiv. Nein, offen gedroht hat er mir nicht. Wie bitte? Ja, ich bin die Frau, die gestern ihren M a n n als entführt gemeldet hat. Richtig. Dann hat mein Mann angerufen und gesagt, er brauchte Abstand. Klar war ich das. Genau die hysterische Zicke ... Gab es eine andere Möglichkeit? Sie ging die Sache erneut in Gedanken durch. Die Polizei hielt sie bereits für eine Irre. Konnte sie die Beamten v o m Gegenteil überzeugen? Vielleicht. Was würden die Cops tun? Würden sie
einen Polizisten zum Schutz ihrer Kinder abstellen? W o h l kaum. N i c h t einmal dann, wenn sie ihnen die Dringlichkeit der Angelegenheit glaubhaft machen konnte. D a n n fiel ihr Scott Duncan ein. Er arbeitete bei der Staatsanwaltschaft. Er hatte Einfluss. Er hatte Macht. U n d vor allem würde er ihr glauben. Duncan hatte ihr seine Handy-Nummer gegeben. Sie suchte in ihrer Handtasche danach. Fand sie nicht. Hatte sie den Zettel im Wagen gelassen? Vermutlich. Machte nichts. Er hatte gesagt, er müsse ins Büro zurück. Das Büro des Generalstaatsanwalts befand sich vermutlich in Newark. Mittlerweile musste er dort sein. Sie blieb stehen und drehte sich zur Schule um. Ihre Kinder waren dort drinnen. Seltsamer Gedanke, aber sie konnte i h n n i c h t unterdrücken. Ihre Kinder verbrachten hier ihre Tage, getrennt v o n ihr in dieser Festung aus Backstein, und ein Teil v o n Grace empfand das als seltsam überwältigend. Sie wählte die Auskunft, bat um die Nummer der Generalstaatsanwaltschaft in Newark und ließ sich für einen Aufpreis v o n 35 Cents verbinden. »Generalstaatsanwaltschaft v o n N e w Jersey.« »Scott Duncan bitte.« »Augenblick.« N a c h zwei Klingeltönen meldete sich eine Frauenstimme. »Goldberg«, sagte diese. »Ich möchte m i t Scott Duncan sprechen.« » U m welchen Fall handelt es sich?« »Wie bitte?« »Ich brauche das Aktenzeichen.« »Ich möchte nur Mr. Duncan sprechen.« »Darf ich fragen, in welcher Angelegenheit.« »Es ist privat.« »Tut mir Leid. Da kann ich nicht helfen. Scott Duncan arbeitet nicht mehr hier. I c h habe die meisten seiner Fälle übernommen. W e n n i c h Ihnen irgendwie behilflich sein kann ...«
Grace hielt das Handy weit v o n sich. Starrte es auf die Entfernung an. Legte auf. Sie stieg wieder in den Wagen und betrachtete den Backsteinbau, in dem sich ihre Kinder befanden. Sie betrachtete i h n lange und fragte sich, ob es irgendjemanden gab, dem sie sich vorbehaltlos anvertrauen konnte, bevor sie eine Entscheidung traf. Sie nahm erneut das Handy. Sie wählte die Nummer.
»Ja?« »Grace Lawson hier.« Drei Sekunden später meldete sich Carl Vespa: »Alles in O r d nung?« »Ich habe meine Meinung geändert«, erklärte Grace. »Ich brauche Ihre Hilfe.«
31 »Sein Name ist Eric Wu.« Perlmutter war wieder im Krankenhaus. Er hatte sich bemüht, eine richterliche Verfügung zu bekommen, um Indira Khariwalla zu zwingen, die Identität ihres Klienten preiszugeben, doch der örtliche Staatsanwalt war auf mehr Hindernisse gestoßen als erwartet. In der Zwischenzeit taten die Jungs v o m Labor ihre A r beit. Die Fingerabdrücke waren mittlerweile beim N C I C ( N a t i onal Crime Information Centre), und wenn man Daley glauben durfte, hatte man bereits die Identität des Täters festgestellt. »Ist er vorbestraft?«, fragte Perlmutter. »Er ist vor drei Monaten aus Waiden entlassen worden.« »Weswegen hat er gesessen?« »Bewaffneter Überfall in Tateinheit m i t schwerer Körperverletzung«, sagte Daley. » W u hat einen Deal gemacht. I c h hab m i c h umgehört. Ist ein ganz schlimmer Finger.« »Wie schlimm?«
»So, dass man sich in die Hose scheißt. W e n n nur zehn Prozent stimmen, was man sich über den Kerl erzählt, lass i c h v o n jetzt an nachts meine Barney-Dinosaurier-Lampe brennen.« »Erzähl mehr.« »Aufgewachsen in Nordkorea. Vollwaise seit früher Kindheit. H a t eine Weile in den Staatsgefängnissen für politische Dissidenten gearbeitet. H a t ein Talent für Akupressur, was immer das bedeuten mag. M i t der Methode hat er diesen Sykes fertig gemacht. Ist so was wie ein Kung-Fu-Trick. Er hat Sykes damit das Rückgrat so gut wie ausgerenkt. Angeblich hat er mal die Ehefrau irgendeines Typen gekidnappt. H a t sie zwei Stunden bearbeitet. Danach hat er den M a n n angerufen und ihm. gesagt, er solle mal zuhören. Die Frau hat geschrien. I h m - dem Ehemann gesagt, dass sie i h n hasst. H a t i h n verflucht. Das war das letzte, was der v o n ihr gehört hat.« »Hat er die Frau umgebracht?« Daleys Miene war ungewöhnlich ernst. »Das ist es ja. H a t er nicht.« Die Temperatur im Raum fiel um mindestens zehn Grad. »Versteh i c h nicht.« » W u hat sie laufen lassen. Sie hat nie wieder ein W o r t gesprochen. Sie sitzt nur da und wippt m i t dem Oberkörper vor und zurück. K o m m t der Ehemann auch nur in ihre Nähe, flippt sie aus und fängt an zu schreien.« »Heiliger Strohsack.« Perlmutter kroch die Kälte in die K n o chen. »Hast du noch so eine Barney-Nachttischlampe?« »Ja, zwei. Aber die brauche ich alle beide.« » U n d was wollte der K e r l v o n Freddy Sykes?« »Keinen Schimmer.« Charlaine Swain tauchte am Ende des Korridors auf. Seit der Schießerei hatte sie das Krankenhaus n i c h t verlassen. Irgendwann hatte sie sich überreden lassen, m i t Freddy Sykes zu sprechen. Es war eine seltsame Szene gewesen. Sykes hatte nur ge-
weint. Charlaine hatte versucht, Informationen aus i h m herauszubekommen. Bis zu einem gewissen Grad war das gelungen. Freddy Sykes schien nichts zu wissen. Er hatte keine A h n u n g , wer sein Peiniger gewesen war oder weshalb i h n jemand hatte verletzen wollen. Sykes war nur ein kleiner Buchhalter, der allein lebte und m i t niemandem etwas zu schaffen hatte. »Es hängt alles zusammen«, sagte Perlmutter. »Hast du eine Theorie?« »Ansatzweise.« »Lass mal hören.« »Fängt m i t der Registrierung der Mautkarten an.« »Okay.« »Jack Lawson und Rocky Conwell haben diese Mautstelle an der Ausfahrt zur gleichen Zeit passiert«, sagte Perlmutter.
»Richtig.« »Ich glaube, wir wissen jetzt, warum. Conwell hat für einen Privatdetektiv gearbeitet.« »Für deine Freundin India Soundso.« »Indira Khariwalla. U n d sie ist w o h l kaum eine Freundin. Aber das spielt keine Rolle. Was passt - und das ist das Einzige, was w i r k l i c h passt-, ist, dass Conwell auf Lawson angesetzt war.« »Womit die auf den Mautkarten gespeicherten Zeiten erklärt wären.« Perlmutter nickte, versuchte, das Puzzle zusammenzusetzen. »Was ist als Nächstes passiert? Conwell endet als Leiche. Der Pathologe sagt, dass er in der Nacht kurz vor Mitternacht gestorben ist. W i e w i r wissen, hat er die Mautstelle um 10 U h r 26 passiert. U n d nicht lang danach ist er seinem Mörder begegnet.« Perlmutter rieb sich das Gesicht. »Der logische Verdächtige wäre Jack Lawson. Er merkt, dass i h m jemand folgt. Er stellt Conwell zur Rede. Er tötet ihn.« »Passt«, sagte Daley. »Passt nicht. Denk mal nach. Rocky Conwell war ein Hüne,
ein Muskelmann und in Hochform. Glaubst du, Lawson hätte i h n einfach so umbringen können? M i t bloßen Händen?« »Heiliger Strohsack.« Daley dämmerte etwas. »Eric Wu?« Perlmutter nickte. »Passt doch, oder? Irgendwie muss Conwell Wu in die Quere gekommen sein. Wu hat i h n umgebracht, seine Leiche in den Kofferraum verfrachtet und i h n auf dem Busparkplatz abgestellt. Charlaine Swain zufolge hat Wu einen Ford Windstar gefahren. Gleiches M o d e l l und Farbe wie Jack Lawsons Wagen.« » U n d in welcher Beziehung stehen Lawson und Wu?« »Keine Ahnung.« »Vielleicht arbeitet Wu für Lawson?« »Möglich. Genaues wissen wir nicht. Was wir wissen, ist, dass Lawson lebt - oder zumindest nach Conwells Tod noch gelebt hat.« »Stimmt. Er hat ja seine Frau angerufen. Bei uns auf dem Revier. U n d was dann?« »Wenn ich das bloß wüsste.« Perlmutter betrachtete Charlaine Swain. Sie stand am Ende des Korridors und starrte durch das Fenster in das Zimmer ihres Mannes. Perlmutter war versucht, zu ihr zu gehen. D o c h was hätte er ihr sagen sollen? Daley stupste i h n an. Sie drehten sich beide um. Officer Veronique Baltrus trat aus dem Lift. Baltrus war seit drei Jahren in der Abteilung. Sie war achtunddreißig, hatte dickes schwarzes Haar und eine stets gebräunte Haut. Sie trug U n i f o r m , die so viel Figur erkennen ließ, wie das m i t Gürtel und Halfter möglich war, doch in ihrer Freizeit bevorzugte sie Jogginganzüge aus Lycra oder alles, was ihren flachen, gebräunten Bauch sehen ließ. Sie war zierlich, hatte dunkle Augen, und jeder Kerl auf dem Revier, Perlmutter eingeschlossen, hatte ein Faible für sie. Veronique Baltrus war sowohl außerordentlich hübsch als auch eine Computerfachfrau - was eine interessante, wenn auch auf-
reibende Tätigkeit war. Sechs Jahre zuvor hatte sie für einen Bademoden-Einzelhändler in New York City gearbeitet, als die Sache m i t dem Stalker begonnen hatte. Der Stalker rief sie an. Er schickte E-Mails. Er belästigte sie bei der Arbeit. Seine Waffe war hauptsächlich der Computer, die beste Tarnung für Feiglinge und alle, die unerkannt bleiben wollten. Die Polizei hatte nicht genügend Personal, um i h m auf die Spur zu kommen. Außerdem glaubten sie, dass dieser spezielle Stalker nicht bis zum Äußersten gehen würde. Das war ein Irrtum gewesen. An einem ruhigen Herbstabend wurde Veronique Baltrus Opfer eines brutalen Überfalls. Ihr Peiniger konnte fliehen. Doch Veronique kam wieder auf die Beine. Sie, die bereits gut m i t Computern umgehen konnte, perfektionierte ihr Können und wurde zur Expertin. Sie nutzte ihre Fähigkeiten, um ihrem Peiniger auf die Spur zu kommen - er schickte ihr weiterhin E-Mails und drohte m i t einer Wiederholung - und überführte ihn. Er bekam seine gerechte Strafe. Danach kündigte sie ihre Stelle und ging zur Polizei. A u c h wenn sie jetzt Uniform trug und ganz normal Dienst tat, war sie dennoch die inoffizielle Computerexpertin des Bezirks. Perlmutter war der einzige, der ihre Geschichte kannte. Das war Teil der Vereinbarung gewesen, als sie sich für den Job beworben hatte. »Hast du was für uns?«, fragte er sie. Veronique Baltrus lächelte. Sie hatte ein hübsches Lächeln. Perlmutters »Faible« für sie war anders als das der übrigen Kollegen. Es entsprang n i c h t ausschließlich sexuellem Verlangen. Veronique Baltrus war die erste Frau seit Marions Tod, die überhaupt Gefühle in i h m weckte. Perlmutter ließ es allerdings bei der bloßen Einsicht bewenden. Alles andere wäre nicht professionell. Es wäre unanständig. U n d ehrlich gesagt, spielte Veronique in einer anderen Liga. Sie machte eine Geste in Richtung Charlaine Swain. »Wir müssen ihr vermutlich dankbar sein.«
»Inwiefern.« » A I Singer.« Das, so hatte Sykes Charlaine gesagt, war der Name, den Eric Wu benutzt hatte, als er sich für einen Boten ausgegeben hatte. Als Charlaine gefragt hatte, wer AI Singer sei, hatte sich Sykes etwas gewunden und geleugnet, irgendeinen Mr. Singer zu kennen. Er behauptete, die Tür aus purer Neugier geöffnet zu haben. »Und ich dachte schon, dass AI Singer frei erfunden ist«, sagte Perlmutter. »Ja und nein«, entgegnete Baltrus. »Ich habe Mr. Sykes' C o m puter sehr gründlich durchforstet. Er war M i t g l i e d bei einer O n line-Partnervermittlung und hat ziemlich regelmäßig m i t einem M a n n namens AI Singer korrespondiert.« Perlmutter zog eine Grimasse. »Eine Kontaktbörse für Schwule?« »Bisexuell«, verbesserte sie i h n . »Hast du damit ein Problem?« »Nein. Dann war AI Singer also... wie sagt m a n . . . sein OnlineLiebhaber?« » A I Singer existiert nicht. Das war e i n Pseudonym.« »Ist das im Netz nicht üblich - besonders bei der Kontaktsuche unter Schwulen? Benutzt man da kein Pseudonym?« »Schon«, räumte Baltrus ein. »Aber lass dir erklären. Mr. Wu gibt vor, etwas abliefern zu wollen. Er benutzt den Namen AI Singer. W i e sollte Wu von AI Singer wissen, wenn er n i c h t . . . « »Willst du behaupten, Eric Wu ist AI Singer?« Baltrus nickte, stemmte die Hände in die Hüften. »Das nehme ich doch stark an. Also meiner Meinung nach hat das so funktioniert: Wu geht ins Internet. Er benutzt den Namen AI Singer. Er lernt dadurch einige Leute kennen - potenzielle Opfer. In diesem Fall trifft er Freddy Sykes. Er bricht in sein Haus ein und verletzt i h n schwer. Ich b i n sicher, er hätte Sykes im Endeffekt umgebracht.« »Meinst du, er hat das nicht zum ersten M a l gemacht?« »Ja, das meine ich.« »Dann ist er so eine A r t bisexueller Serien-Sexualtäter?«
»Das weiß ich nicht. Aber es passt zu den Vorgängen, die ich im Computer gefunden habe.« Perlmutter überlegte. »Hat dieser AI Singer n o c h andere O n line-Partner?« »Noch drei.« »Ist einer davon überfallen worden?« »Noch nicht, nein. Sie sind alle wohlauf.« »Was meinst du dann m i t >Serientäter« »Ist noch zu früh, um das zu sagen. Aber Charlaine Swain hat uns einen riesigen Gefallen getan. Wu hat Sykes' Computer benutzt. Vermutlich hatte er vor, i h n vor seiner Abreise zu zerstören, aber Charlaine hat i h n vertrieben, bevor er dazu gekommen ist. I c h b i n noch dabei, alles in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Es ist definitiv noch eine weitere Online-Persönlichkeit im Spiel. I c h kenne den Namen noch nicht, aber er benutzt yenta-match.com.Jewish Singles.« »Woher wissen wir, dass es nicht Freddy Sykes ist?« »Ganz einfach, weil derjenige, der die Seite angeklickt hat, das in den vergangenen vierundzwanzig Stunden getan hat.« »Dann muss es Wu gewesen sein.« »Richtig.« »Trotzdem verstehe ich noch nicht ganz. Warum sollte er noch eine andere Kontaktbörse benutzen?« » U m weitere Opfer an Land zu ziehen«, antwortete Baltrus. »Also, i c h glaube, das funktioniert etwa so: Wu loggt sich unter verschiedenen falschen Namen und persönlichen Daten bei dieser Kontaktbörse ein. Hat er einen Namen einmal erfolgreich benutzt, wie zum Beispiel >Singer<, verabschiedet er sich endgültig aus der entsprechenden Kontaktbörse. Er hat die Person > AI Singen benutzt, um an Freddy Sykes heranzukommen. U n d er weiß sicher, dass die Polizei das zurückverfolgen kann.« »Das heißt, >Al Singer< ist danach für i h n unbrauchbar geworden?«
»Richtig. Dafür hat er weiterhin unter anderen Pseudonymen andere Dienste benutzt. Damit können wir davon ausgehen, das er das nächste Opfer bereits im Visier hat.« »Hast du schon eines der anderen Pseudonyme ausfindig machen können?« »Bin kurz davor«, sagte Baltrus. »Ich brauche nur noch eine richterliche Verfügung für yenta-match.com.« »Glaubst du, die kriegst du?« »Die einzige Person, zu der Wu unseres Wissens nach zuletzt Kontakt aufgenommen hat, ist jemand v o n der yenta-matchSeite. I c h schätze, er hat sein nächstes Opfer bereits ausgewählt. W e n n wir herauskriegen können, welchen N a m e n er benutzt hat und m i t wem er Kontakt aufgenommen h a t . . . « »Bleib am Ball!« »Mache ich.« Veronique Baltrus eilte davon. A u c h wenn es verwerflich sein mochte - denn immerhin war er ihr Vorgesetzter -, sah Perlmutter ihr m i t einem Verlangen nach, das i h n an M a r i o n erinnerte.
32 Zehn M i n u t e n später traf Grace zwei Querstraßen v o n der Schule entfernt auf Carl Vespas Chauffeur, den unseligen Cram. Cram erschien zu Fuß. Grace hatte keine A h n u n g , wo er seinen Wagen gelassen hatte. Sie hatte einfach nur so da gestanden und v o n weitem die Schule betrachtet, als jemand ihr auf die Schulter tippte. Sie zuckte zusammen, ihr Herz klopfte zum Zerspringen. A l s sie sich umdrehte und sein Gesicht sah ... war das n i c h t unbedingt tröstlich. Cram zog die Augenbrauen hoch. »Sie haben angerufen?« »Wie sind Sie hergekommen?« Cram schüttelte den Kopf. Aus der Nähe, n u n da sie i h n ge-
nau betrachten konnte, sah der M a n n noch abstoßender aus, als sie i h n in Erinnerung hatte. Seine Haut war v o n Pockennarben entstellt. Nase und M u n d erinnerten an die Schnauze eines Tieres, und sein Piratenlächeln wirkte wie zur Fratze erstarrt. Cram war älter, als sie angenommen hatte, vermutlich Ende fünfzig. Sein Körper war dennoch sehnig und muskulös. Er hatte jenen wilden Ausdruck im Blick, den sie stets m i t Psychopathen in Verbindung gebracht hatte, und fand i h n dennoch im Augenblick der Gefahr auf gewisse Weise beruhigend. Er war der M a n n , den man sich, wenn überhaupt, nur in einem Raubtierkäfig an seiner Seite wünschte. »Erzählen Sie mir alles von Anfang an«, forderte Cram. Grace begann m i t Scott Duncan und kam dann zu ihrer A n kunft im Supermarkt. Sie erzählte, was der unrasierte M a n n zu ihr gesagt hatte, wie er durch den Regalgang verschwunden und m i t der Batman Frühstücksbox in der H a n d wieder aufgetaucht war. Cram kaute auf einem Zahnstocher. Er hatte dünne Finger. Seine Nägel waren zu lang. »Beschreiben Sie ihn.« Sie tat es, so gut sie konnte. Als sie fertig war, spuckte Cram den Zahnstocher aus und schüttelte den Kopf. »Ist das wirklich wahr?« »Was?« »Eine Bomberjacke? M e i n Gott, in welchem Film sind wir hier eigentlich?« Grace lachte nicht. »Jetzt sind Sie sicher«, sagte er. »Ihre Kinder sind sicher.« Sie glaubte i h m . » U m wie viel U h r ist die Schule aus?« »Drei Uhr.« »Prima.« Er sah blinzelnd zum Schulgebäude hinüber. »Herrgott, habe ich das Ding gehasst!« »Sie sind hier zur Schule gegangen?« Cram nickte. »Bin ein Willard-Schüler. Jahrgang 1957.« Sie
versuchte i h n sich als kleinen Schuljungen vorzustellen. Irgendwie gelang es ihr nicht. Er wandte sich zum Gehen. »Warten Sie«, sagte sie. »Was soll ich jetzt tun?« »Holen Sie Ihre Kinder ab und bringen Sie sie nach Hause.« » U n d wo werden Sie sein?« Crams Grinsen wurde breiter. »In der Nähe.« Im nächsten M o m e n t war er verschwunden.
Grace wartete am Zaun. A l l m ä h l i c h trafen immer mehr Mütter ein, fanden sich in Gruppen zusammen, unterhielten sich. Grace verschränkte die A r m e vor der Brust in dem Versuch, m i t dieser abweisenden Körperhaltung alle Gesprächsversuche abzuwimmeln. Es gab Tage, da konnte sie an dem fröhlichen Geschnatter teilnehmen. Heute war kein solch ein Tag. Ihr Handy klingelte. Sie hob es ans O h r und meldete sich. »Haben Sie die Zeichen der Zeit jetzt begriffen?« Die Stimme war männlich und klang gedämpft. Grace fühlte, wie sie Gänsehaut bekam. »Hören Sie auf herumzuschnüffeln, hören Sie auf, Fragen zu stellen, hören Sie auf, das Foto herumzuzeigen. W e n n nicht, schnappen wir uns zuerst Emma.«
Klick. Grace schrie nicht laut auf. Sie wollte nicht schreien. Sie steckte das Handy ein. Ihre Hände zitterten. Sie sah auf ihre Hände herab, als gehörten sie nicht zu ihr. Sie konnte n i c h t aufhören, zu zittern. Ihre Kinder würden gleich herauskommen. Sie vergrub die Hände tief in den Taschen und versuchte zu lächeln. Es gelang nicht. Sie biss sich auf die Unterlippe und hielt die Tränen in Schach. »Hallo du, alles in Ordnung?« Grace fuhr beim Klang der Stimme zusammen. Es war Cora. »Was machst du hier?«, fragte Grace. Die Worte entfuhren ihr m i t unbeabsichtigter Schärfe.
»Na, was glaubst du denn? I c h hole Vickie ab.« »Dachte, sie ist bei ihrem Vater.« Cora schien verwirrt. »Nur gestern Nacht. Er hat sie heute Morgen in die Schule gebracht. Du meine Güte, was ist denn m i t dir los?« »Kann n i c h t darüber reden.« Cora wusste ganz offensichtlich nicht, was sie davon halten sollte. Die Schulglocke schrillte. Beide Frauen wandten sich ab. Grace war verunsichert. Sie wusste, dass Scott Duncan in Bezug auf Cora Unrecht hatte - mehr noch, sie wusste inzwischen, dass Scott Duncan ein Lügner war - und dennoch - einmal ausgesprochen, w o l l te das Misstrauen gegenüber ihrer Freundin sie nicht mehr loslassen. Es ließ sich nicht einfach ausknipsen wie eine lästige Lampe. »Ich habe einfach nur Angst, okay?« Cora nickte. Vickie tauchte als Erste auf. »Wenn du m i c h brauchst...« »Danke.« Cora ging ohne ein weiteres Wort. Grace wartete allein. Ihr Blick schweifte auf der Suche nach den vertrauten Gesichtern über den steten Strom v o n Schulkindern, der aus dem Tor drängte. Emma trat in die Sonne hinaus und hob die Hand über die Augen. Kaum hatte sie ihre Mutter entdeckt, verzog sich ihr Gesicht zu einem Lächeln. Sie winkte. Grace unterdrückte einen erleichterten Aufschrei. Ihre Finger umklammerten den Maschendraht krampfhaft, um nicht zu ihrer Tochter zu laufen und sie überschwänglich in die A r m e zu schließen.
* A l s Grace, Emma und M a x nach Hause kamen, stand Cram bereits in der Veranda. Emma sah die Mutter fragend an, doch bevor Grace etwas sagen konnte, lief M a x den Gartenweg hinunter. Er hielt vor Cram
abrupt an, legte den Kopf in den Nacken und starrte in das Piratenlächeln. »Hi«, sagte M a x zu Cram. »Hi.« »Sie sind doch der, der die Riesen-Limo neulich gefahren hat, oder?«, fragte Max. »Bin ich.« »Is das cool? Die Riesenkiste zu fahren?« »Sehr.« »Ich b i n Max.« »Ich b i n Cram.« »Cooler Name.« »Ja. Ja, isser.« M a x machte eine Faust und hielt sie hoch. Cram tat es i h m gleich und sie berührten sich m i t den Fingerknöcheln in einem kumpelhaften Gruß. Grace und Emma kamen dazu. »Cram ist ein Freund der Familie«, sagte Grace. »Er w i r d m i r ein wenig helfen.« Emma gefiel das nicht. »Helfen, wobei?« Sie richtete ihren angeekelten Blick auf Cram, was gleichermaßen verständlich wie unhöflich war, doch jetzt war kaum die rechte Zeit für Erziehungsmaßnahmen. »Wo ist Daddy?« » A u f Geschäftsreise«, sagte Grace. Emma sagte kein W o r t mehr. Sie ging ins Haus und lief die Treppe hinauf. M a x sah blinzelnd zu Cram auf. »Kann ich was fragen?« »Klar doch«, antwortete Cram. »Nennen Sie alle Freunde Cram?«
»Ja.« »Nur Cram?« »Is nur ein Wort.« Er zwinkerte m i t den Augenbrauen. »Wie Cher oder Fabio.« »Wer?«
Cram kicherte. » U n d warum nennen die Sie so?« »Warum sie m i c h Cram nennen?«
»Ja.« »Wegen meiner Zähne.« Er machte den M u n d weit auf. A l s Grace den M u t fasste, hinzusehen, bot sich ihr ein A n b l i c k , der wie das verrückte Werk eines durchgeknallten Zahnarztes wirkte. Die Zähne standen wie Kraut und Rüben dicht gedrängt und in Überzahl auf der rechten Gebisshälfte. Gegenüber dagegen taten sich leere Taschen aus entzündlichem Rosa dort auf, wo eigentlich Zähne hätten sein sollen. »>Cram< wie zu viel >Kram oder Durcheinander, verstehst du?«, sagte er. »Wow«, seufzte Max. »Das is so cool.« »Willst du wissen, wie meine Zähne so geworden sind?« Grace parierte sofort. »Nein, danke.« Cram sah sie an. »Gut reagiert.« Cram wie Kram. Sie warf noch einen Blick auf das missratene Gebiss. Frankenstein wäre vielleicht passender gewesen. »Max, hast du Hausaufgaben auf?« »Hm, ja, Mom.« »Dann ab m i t dir. Sofort!« M a x sah Cram an. »Ich verdufte«, sagte er. » W i r reden später weiter.« Sie wiederholten den Gruß m i t den Fingerknöcheln, dann stürmte M a x m i t der hemmungslosen Energie eines Sechsjährigen davon. Das Telefon klingelte. Grace warf einen Blick auf das Display. Es war Scott Duncan. Sie entschied sich, i h n dem A n rufbeantworter zu überlassen - ein Gespräch m i t Cram war jetzt wichtiger. Sie gingen in die Küche. Am Tisch saßen zwei M ä n ner. Grace blieb wie angewurzelt stehen. Keiner der beiden Fremden würdigte sie eines Blickes. Sie unterhielten sich im Flüsterton. Grace wollte etwas sagen, doch Cram machte ihr ein Zeichen, i h m ins Freie zu folgen.
»Wer sind die beiden?« »Sie arbeiten für mich.« » U n d was, bitte schön, arbeiten sie?« »Machen Sie sich deswegen keinen Kopf.« N a t ü r l i c h machte sie sich Gedanken, doch in diesem M o m e n t gab es Dringenderes. »Der Kerl hat m i c h angerufen«, sagte sie. » A u f meinem Handy.« Sie berichtete, was die Stimme gesagt hatte. Cram verzog keine Miene. Als sie fertig war, zog er eine Z i garette heraus. »Haben Sie was dagegen, wenn ich rauche?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich rauche nicht im Haus.« Grace sah sich um. »Sind wir deshalb hier draußen ?« Cram antwortete nicht. Er zündete die Zigarette an, inhalierte tief und ließ den Rauch durch beide Nasenlöcher entweichen. Grace sah zum rückwärtigen Garten der Nachbarn hinüber. N i e mand war zu sehen. Ein H u n d bellte. Das Motorengeräusch eines Rasenmähers dröhnte irgendwo wie der Rotor eines Helikopters. Grace sah i h n an. »Andere Menschen zu bedrohen, ist Ihnen nicht fremd, stimmt's?« »Richtig.« »Also, wenn ich tue, was er sagt - wenn i c h aufhöre - glauben Sie, er lässt uns in Ruhe?« »Vermutlich.« Er zog so heftig und hastig an seiner Zigarette, dass es aussah, als rauche er Gras. »Aber die eigentliche Frage ist doch, warum die wollen, dass Sie aufhören.« » U n d das heißt?« »Das heißt, dass Sie der Wahrheit nahe gekommen sind. Offenbar haben Sie da einen Nerv getroffen.« »Kann mir n i c h t vorstellen inwiefern.« »Mr. Vespa hat angerufen. Er möchte heute A b e n d m i t Ihnen sprechen.« »Worüber denn?«
Cram zuckte m i t den Schultern. Sie wandte sich ab. »Bereit für noch mehr schlechte Nachrichten?«, fragte Cram. Sie drehte sich zu i h m um. »Ihr Computerraum. Dieses Zimmer ganz hinten.« »Was ist damit?« »Ist verwanzt. Eine akustische Wanze, eine sogar m i t Kamera.« »Eine Kamera?« Sie war fassungslos. »In meinem Haus?« »Ja. Eine versteckte Kamera. In einem Buch im Regal. Zieml i c h leicht zu finden, vorausgesetzt man sucht danach. Das Zeug kriegen Sie in jedem Laden für Sicherheitseinrichtungen. Im I n ternet werden diese Dinger ebenfalls angeboten. M a n versteckt sie in einer Uhr, einem Rauchmelder oder so.« Grace versuchte, das zu verdauen. »Sie meinen, jemand überwacht uns?« »So isses.«
»Wer?« »Keine A h n u n g . Glaube nicht, dass die Polizei dahinter steckt. Ist ein bisschen zu amateurhaft, das Ganze. Meine Jungs haben das Haus auf den Kopf gestellt. Bis jetzt haben sie n i c h t mehr gefunden.« »Wie lange ...« Sie versuchte zu begreifen, was das alles zu bedeuten hatte. »Wie lange ... ich meine, seit wann sind die Wanze und die Kamera denn da?« »Das lässt sich nicht feststellen. Jedenfalls b i n ich aus diesem G r u n d m i t Ihnen ins Freie gegangen. Damit wir offen reden können. I c h weiß, Sie haben in letzter Zeit 'ne Menge wegstecken müssen. Halten Sie noch mehr aus?« Sie nickte, auch wenn ihr schon der Schädel brummte. »Also erstens. Die Geräte. Die sind technisch nicht gerade auf dem neuesten Stand. Haben eine Reichweite v o n maximal dreißig Metern. Außerdem verfügen die Dinger über keinerlei Speicherkapazität. Das heißt, die Daten müssen irgendwohin, zum
Beispiel zu einem Van, übertragen werden. Ist Ihnen aufgefallen, dass so ein Fahrzeug in letzter Zeit länger in der Straße geparkt hat?« »Nein.« »Dachte ich's mir. Vermutlich werden die Daten zu einem Videorecorder weitergeleitet.« »Zu einem ganz normalen Videokassettenrecorder?« »Exakt.« »Und der muss sich in einem Umkreis v o n dreißig Metern v o m Haus befinden?«
»Ja.« Sie sah sich um, als sei das Gerät irgendwo im Garten versteckt. »Wie häufig muss die Kassette gewechselt weiden?« »Höchstens alle 24 Stunden.« »Haben Sie eine A h n u n g , wo der Recorder stecken könnte?« » N o c h nicht. Manchmal ist er im Keller oder in der Garage. Vermutlich haben diese Leute Zugang zum Haus, so dass sie die Kassette jederzeit wechseln können.« »Moment mal. Was meinen Sie m i t >Zugang zum Haus« Er zuckte die Achseln. »Sie haben immerhin eine Kamera und eine Wanze hier installiert, oder?« Wieder stieg W u t in ihr hoch und flammte in ihren A u g e n auf. Graces Blick schweifte zu ihren Nachbarn hinüber. Zugang zum Haus. Wer hatte Zugang zum Haus, fragte sie sich. U n d eine leise Stimme antwortete ... Cora. Blödsinn. Ausgeschlossen. Grace schüttelte den Gedanken ab. »Wir müssen also diesen Recorder finden.« »Richtig.« »Wir lauern ihnen auf«, sagte sie. »Dann sehen wir, wer die Kassette abholt.« »Wäre eine Möglichkeit«, bemerkte Cram. »Haben Sie einen besseren Vorschlag?«
»Nicht wirklich.« »Was denn sonst? Folgen wir dem Kerl, um zu sehen, w o h i n er uns führt?« »Das ist auch eine Möglichkeit.«
»Aber ... ?« »Ist riskant. W i r könnten seine Spur verlieren.« »Was schlagen Sie also vor?« »Wenn ich entscheiden könnte, würde ich i h n schnappen i h n in die Mangel nehmen.« »Und wenn er schweigt - sich dumm stellt?« Cram gab wieder den lächelnden Piraten. A l l m ä h l i c h begann Grace, sich an den gruseligen A n b l i c k zu gewöhnen. Er konnte nichts dafür. Er verbreitete nicht absichtlich Angst. Was auch immer m i t i h m geschehen sein mochte, es war seine ganz normale M i m i k . U n d es sprach Bände, dieses Gesicht. Ließ ihre Frage zu reiner Rhetorik verkommen. Grace wollte protestieren, i h m sagen, dass sie ein kultivierter Mensch sei und die Sache auf ganz legale A r t und m i t Anstand zu regeln gedenke. Stattdessen hörte sie sich sagen: »Die haben meine Tochter bedroht.« »Ja, das haben sie.« Grace sah i h n an. »Ich kann nicht auf die Forderungen dieser Leute eingehen. Selbst wenn ich wollte. Ich kann n i c h t einfach die Augen verschließen und so tun, als sei nichts passiert.« Er sagte nichts. »Ich habe doch gar keine W a h l , oder? I c h muss kämpfen.« »Ich sehe keinen anderen Ausweg.« »Das haben Sie die ganze Zeit über gewusst.« Cram neigte den Kopf leicht zur Seite. »Sie doch auch.« Sein Handy klingelte. Cram klappte es auf, sprach jedoch kein Wort, n i c h t einmal ein Hallo kam über seine Lippen. Wenige Sekunden später klappte er das Handy wieder zu. »Jemand biegt in die Auffahrt ein«, bemerkte er schließlich.
Sie sah durch die Fliegengittertür hinaus. Ein Ford Taunus hielt vor dem Haus. Scott Duncan stieg aus und ging dien Gartenweg entlang. »Kennen Sie den?«, fragte Cram. »Das«, sagte Grace, »ist Scott Duncan.« »Der Typ, der Sie angelogen hat? Der behauptet hat, für den Generalstaatsanwalt zu arbeiten?« Grace nickte. »Vielleicht«, sagte Cram, »sollte ich in der Nähe bleiben.«
* Sie blieben im Freien. Scott Duncan stand neben Grace. Cram blieb im Hintergrund aber sichtbar. Duncans Blick schweifte i m mer wieder in Crams Richtung ab. »Wer ist das?« »Das muss Sie nicht interessieren.« Grace sah Cram an. Er verstand das Zeichen und kehrte ins Haus zurück. Sie und Scott Duncan waren jetzt allein. »Was wollen Sie?«, fragte sie. Duncan erstaunte ihr Ton. »Stimmt was nicht, Grace?« »Bin nur überrascht, dass Sie schon wieder Büroschluss haben. Dachte, bei der Staatsanwaltschaft gäbe es mehr zu tun.« Er schwieg. »Hat's Ihnen die Sprache verschlagen, Mr. Duncan?« »Sie haben in meinem Büro angerufen.« »Volltreffer«, sagte Grace. »Oh, warten Sie. I c h korrigiere m i c h . Ich habe das Büro des Generalstaatsanwalts angerufen. Ganz offensichtlich arbeiten Sie da gar nicht.« »Es ist nicht so, wie Sie denken.« »Wie aufschlussreich.« »Ich hätte es Ihnen gleich sagen müssen.« »Was Sie n i c h t sagen.« »Hören Sie, was ich gesagt habe, war durchaus richtig.« »Bis auf den Teil, dass Sie für den Generalstaatsanwalt arbei-
ten. I c h meine, das kann man w o h l kaum als richtig bezeichnen, oder? Oder hat vielleicht Miss Goldberg gelogen?« »Soll ich's Ihnen jetzt erklären oder nicht?« Seine Stimme war scharf geworden. Grace machte i h m ein Zeichen, fortzufahren. »Es hat gestimmt, was ich Ihnen erzählt habe. Ich habe dort gearbeitet. Vor drei Monaten hat dieser Auftragskiller Monte Scanion verlangt, m i t mir zu sprechen. Niemand konnte sich vorstellen, was er v o n mir wollte. I c h war ein unbedeutender Staatsanwalt. Korruption in der Politik war mein Aufgabenbereich. Weshalb sollte ein Killer unbedingt m i t mir reden wollen? U n d bei diesem Gespräch ist es dann rausgekommen.« »Dass er Ihre Schwester umgebracht hat?«
»Ja.« Sie wartete. Sie gingen auf die Veranda und setzten sich. Cram stand hinter einem Fenster und beobachtete sie. Sein Blick wanderte zu Scott Duncan, verharrte dort einige lange Sekunden, schweifte weiter durch den Garten und wieder zurück zu Duncan. »Er k o m m t mir irgendwie bekannt vor«, bemerkte Duncan und deutete auf Cram. »Vielleicht erinnert er m i c h auch nur an die karibischen Piraten in Disney W o r l d . Fehlt nur noch die schwarze Augenklappe.« Grace rutschte unruhig auf ihrem Stuhl h i n und her. »Sie wollten mir erzählen, weshalb Sie m i c h angelogen haben.« Duncan fuhr sich mit der Hand durchs sandfarbene Haar. »Als Scanion gesagt hat, dass dieser Brand im Studentenheim kein U n fall war ... Sie wissen nicht, was das für mich bedeutet hat. Es hat mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt ... Einfach so.« Er schnippte mit dem Finger. »Zumindest das Leben in den letzten fünfzehn Jahren. Nichts stimmte mehr. Ich war nicht mehr derselbe Mensch. Ich war nicht mehr der Mann, dessen Schwester bei einem tragischen Unfall umgekommen war. Ich war ein Mann, dessen Schwester ermordet und deren Tod nie gesühnt worden war.«
»Aber jetzt haben Sie den Killer«, bemerkte Grace. »Er hat gestanden.« Duncan lächelte freudlos. »Scanion hat es treffend ausgedrückt. Er war ein todbringendes Werkzeug. Er hat sich selbst mit einer Schusswaffe verglichen. Aber ich war hinter der Person her, die am Abzug gesessen hat. Ich war wie besessen. I c h habe versucht, meinen Job zu erledigen und nebenbei nach dem wahren Mörder zu suchen. Irgendwann habe ich angefangen, meine Arbeit zu vernachlässigen. Also hat mein Boss - die Oberstaatsanwältin - mir nahe gelegt, meinen Abschied zu nehmen.« Er sah sie an. » U n d warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt:?« »Hielt es n i c h t gerade für eine gute Empfehlung ... dass man m i c h praktisch gezwungen hat, v o n meinem A m t zurückzutreten. Ich habe noch immer beste Verbindungen zur Staatsanwaltschaft. Ich habe noch immer Freunde bei den Justizbehörden. Aber damit wir uns richtig verstehen, alles, was i c h tue, ist meine Privatangelegenheit.« Ihre Blicke trafen sich. »Sie verschweigen mir noch immer etwas«, sagte Grace. Er zögerte. »Was ist es?« »Eines sollten wir klarstellen.« Duncan stand auf, fuhr sich erneut durchs Haar, wandte sich ab. » I m Augenblick versuchen wir beide, Ihren M a n n zu finden. Unsere Allianz ist nur vorübergehend. In Wahrheit haben wir ganz unterschiedliche Ziele. Machen wir uns nichts vor. Was ist, wenn wir Jack gefunden haben? W o l l e n wir beide w i r k l i c h die Wahrheit ans L i c h t bringen?« »Ich w i l l nur meinen M a n n zurück.« Er nickte. »Das habe ich m i t unterschiedlichen Zielen gemeint. Deshalb können wir nur vorübergehend Verbündete sein. Sie wollen Ihren M a n n . Ich w i l l den Mörder meiner Schwester.« Ihre Blicke trafen sich. Sie hatte begriffen. » U n d was jetzt?«, fragte Grace.
Er zückte das mysteriöse Foto und hielt es hoch. Der A n f l u g eines Lächelns huschte über sein Gesicht. »Was ist?« »Ich kenne den Namen der Rothaarigen auf dem Bild«, sagte Scott Duncan. Grace wartete ab. »Sie heißt Sheila Lambert. Besuchte die Vermont University im gleichen Jahr wie Ihr M a n n ...« Er deutete auf Jack und fuhr m i t dem Finger nach rechts. «... und Shane A l w o r t h . « » U n d wo ist sie jetzt?« »Das ist der Punkt, Grace. Niemand weiß es.« Sie schloss die Augen. Sie erschauderte. »Ich habe das Foto an die Fakultät geschickt. E i n pensionierter Dekan hat sie einwandfrei wieder erkannt. Ich habe alle Hebel in Bewegung gesetzt, aber sie bleibt unauffindbar. In den vergangenen zehn Jahren ist keine Spur v o n Sheila Lambert zu entdecken. Es ist, als habe sie niemals existiert. Keine Einkommenssteuerakte, keine Sozialversicherungsnummer, nichts.« » Ä h n l i c h wie bei Shane A l w o r t h . « »Exakt wie bei Shane.« Grace überlegte. »Fünf Personen sind auf dem Foto. Die eine, Ihre Schwester, wird ermordet. V o n zwei anderen, Shane A l worth und Sheila Lambert, fehlt seit Jahren jede Spur. Der vierte, mein M a n n , flieht nach Europa und gilt seit zwei Tagen als vermisst. U n d die fünfte im Bunde, also v o n der kennen wir nicht mal den Namen.« Duncan nickte. » U n d was machen wir jetzt?« »Ich habe doch m i t Shane A l w o r t h ' Mutter gesprochen. Erinnern Sie sich?« »Die Dame m i t den wirren Geographiekenntnissen?« »Als ich sie das erste M a l besucht habe, hatte ich keine A h nung v o n diesem Foto oder ihrem M a n n oder allem anderen. I c h
möchte ihr das B i l d zeigen. B i n auf ihre Reaktion gespannt. U n d Sie sollten dabei sein.« »Warum?« »Nur so ein Gefühl. Mehr nicht. Evelyn A l w o r t h ist eine alte Frau. Sie ist gefühlsbetont und sie hat Angst. Beim ersten M a l b i n ich als Ermittler der Staatsanwaltschaft bei ihr gewesen. I c h weiß nicht, v i e l l e i c h t . . . wenn Sie m i c h als besorgte Ehefrau und Mutter begleiten ... vielleicht ist sie dann zugänglicher.« Grace zögerte. »Wo wohnt sie?« »In einer Eigentumswohnung in Bedminster. Die Fahrt dauert knapp dreißig Minuten.« Cram zeigte sich wieder. Scott Duncan nickte in seine R i c h tung. »Sagen Sie, was macht dieser gruselige Kerl eigentlich bei I h nen?«, fragte Duncan. »Ich kann jetzt nicht mitfahren.« »Warum nicht?« »Ich habe Kinder. I c h kann sie hier n i c h t allein lassen.« »Dann nehmen Sie die Kinder eben mit. Direkt gegenüber dem Haus ist ein Spielplatz. Dauert ja n i c h t lange.« Cram stand plötzlich in der Tür. Er winkte Grace zu sich. »Entschuldigen Sie«, murmelte sie und lief zu Cram. Scott D u n can blieb zurück. »Was ist los?«, fragte Grace. »Emma. Sie ist oben und weint.« Grace fand ihre Tochter in der klassischen Haltung der Verzweifelten - das Gesicht im Laken vergraben auf dem Bett, das Kissen über dem Kopf. Ihr Schluchzen war nur gedämpft zu hören. Es war lange her, seit Emma so geweint hatte. Grace setzte sich auf die Bettkante. Sie wusste, was kommen würde. A l s Emma wieder sprechen konnte, fragte sie nach ihrem Daddy. Grace antwortete, er sei auf Geschäftsreise. Emma sagte, sie glaube ihr nicht. Emma wollte die Wahrheit wissen. Grace wiederholte,
Jack wäre nur geschäftlich unterwegs. Alles wäre in bester O r d nung. Emma ließ nicht locker. Sie wollte wissen, wo Daddy wäre, warum er nicht angerufen hätte, wann er nach Hause käme. Grace erfand Erklärungen, die in ihren Ohren ziemlich plausibel klangen - Jack wäre in London, wüsste nicht, wie lange er dort bleiben müsse. Er hätte angerufen, als Emma geschlafen hatte. London liege in einer anderen Zeitzone. Sie wusste nicht, ob Emma ihr das abnahm. Grace gehörte n i c h t zu den Eltern, die alles m i t ihren Kindern besprachen. Die oberste Aufgabe einer Mutter war es, ihre K i n der zu beschützen. Emma war nicht alt genug für die Wahrheit. So einfach war das. Wenige M i n u t e n später sagte sie Max und Emma, sie sollten sich anziehen, sie würden einen Ausflug machen. Beide Kinder packten ihre Gameboys und stiegen in den Fond des Wagens. Scott Duncan machte Anstalten, sich auf den Beifahrersitz zu setzen. Cram verstellte i h m den Weg. »Wo liegt das Problem?«, fragte Duncan. »Ich möchte m i t Mrs. Lawson sprechen, bevor es losgeht. Bleiben Sie hier.« Duncan ahmte einen militärischen Gruß nach. Cram warf i h m einen Blick zu, der hätte töten können. Er und Grace gingen ins Hinterzimmer. Cram schloss die Tür. »Sie sollten nicht m i t i h m fahren«, begann Cram. »Vielleicht nicht. Aber ich muss es tun.« Cram kaute auf der Unterlippe. Es gefiel i h m zwar nicht, doch er hatte Verständnis. »Haben Sie eine Handtasche dabei?«
»Ja.« »Zeigen Sie mal her.« Sie hob ihre Handtasche hoch. Cram zog eine Pistole aus dem Gürtel. Sie war klein, wirkte beinahe wie ein Spielzeug. »Das ist eine Glock 26, Kaliber 9 Millimeter.« Grace hob abwehrend die Hände. »Nein, das w i l l ich nicht.«
»Stecken Sie sie in die Handtasche. M a n kann sie auch in einem Halfter am Fußgelenk tragen, aber dazu müssten Sie eine Hose anziehen.« »Ich habe n o c h nie geschossen.« »Erfahrung wird überbewertet. M a n zielt mitten auf die Brust und drückt ab. Ist nicht kompliziert.« »Ich mag Schusswaffen nicht.« C r a m schüttelte den Kopf. »Was soll das?« »Wenn ich m i c h n i c h t täusche, ist Ihre Tochter heute ernsthaft bedroht worden, oder?« Das brachte sie zum Schweigen. Cram steckte die Pistole in ihre Tasche. Sie wehrte sich nicht. »Wie lange werden Sie weg sein?«, fragte Cram. »Ungefähr zwei Stunden. Höchstens.« »Mr. Vespa w i l l u m 19 U h r hier sein. Er sagt, es sei wichtig. Sie müssten reden.« »Ich werde da sein.« »Meinen Sie, diesem Duncan ist zu trauen?« »Weiß i c h nicht genau. Aber mein Gefühl sagt mir, dass wir bei i h m sicher sind.« Cram nickte. »Dann w i l l ich mal lieber auf Nummer sicher gehen.« »Wie denn?« Cram schwieg. Er begleitete sie hinaus. Duncan telefonierte m i t seinem Handy. Grace gefiel der Ausdruck in Duncans Gesicht überhaupt nicht. Er beendete das Gespräch, als er sie kommen sah. »Was gibt's?« Scott Duncan schüttelte den Kopf. »Können w i r fahren?« Cram ging auf i h n zu. Duncan w i c h n i c h t zurück, ängstigte sich jedoch unübersehbar. Cram blieb dicht vor i h m stehen und winkte m i t dem Finger. »Zeigen Sie mir mal Ihre Brieftasche.«
»Wie meinen?« »Sehe ich wie jemand aus, der sich gern wiederholt?« Scott Duncan sah Grace an. Sie nickte. Cram winkte noch immer mit dem Finger. Duncan gab ihm seine Brieftasche. Cram nahm sie mit zu einem Tisch und setzte sich. Hastig durchsuchte er den Inhalt und machte sich dabei Notizen. »Was machen Sie da?«, fragte Duncan. »Während Sie unterwegs sind, Mr. Duncan, werde ich mich über Sie erkundigen.« Er sah auf. »Falls Mrs. Lawson etwas zustößt - werde ich ...« Er machte eine Kunstpause. »... angemessen reagieren. Habe ich mich klar ausgedrückt?« Duncan sah Grace an. »Wer zum Teufel ist dieser Kerl?« Grace war bereits an der Tür. »Uns passiert schon nichts, Cram.« Cram zuckte die Schultern und warf Duncan die Brieftasche zu. »Eine angenehme Fahrt, wünsche ich.« In den ersten Minuten im Auto sagte niemand ein Wort. Max und Emma hatten Kopfhörer auf und spielten auf ihren Gameboys. Scott Duncan saß neben ihr, die Hände im Schoß. »Wer war das am Telefon?«, fragte Grace. »Eine Gerichtsmedizinerin.« Grace wartete. »Ich habe Ihnen doch erzählt, dass die Leiche meiner Schwester exhumiert wurde.«
»Ja.« »Die Polizei hielt eine Obduktion nicht für nötig. Zu teuer. Ist vermutlich verständlich. Jetzt habe ich die Kosten übernommen. Ich kenne diese Person. Sie hat für einen Gerichtsmediziner gearbeitet, der auch privat Autopsien vorgenommen hat.« »Und die hat Sie gerade angerufen?« »Ja. Ihr Name ist Sally Li.« »Und?« »Und sie möchte mich dringend sprechen.« Duncan sah sie
v o n der Seite an. »Ihr Büro ist in Livingston. W i r können auf dem Rückweg vorbeifahren.« Er sah wieder in Fahrtrichtung. »Ich möchte, dass Sie mitkommen. Einverstanden?« »In ein Leichenschauhaus?« »Nein, nichts dergleichen. Sally n i m m t die Autopsien im St. Barnabas Hospital vor. W i r fahren zu ihrem Büro, wo sie die Schreibtischarbeit erledigt. G i b t auch ein Vorzimmer, wo wir die Kinder abstellen können.« Grace sagte nichts. Die Bedminster Eigentumswohnanlage war ein riesiger, einheitlicher Komplex, wie es die Bezeichnung eigentlich schon erwarten lässt. Jedes Haus hatte die gleiche hellbraune A l u m i n i u m Verkleidung aus Fertigteilen, drei Etagen m i t Tiefgarage, wie das Gebäude zur Rechten und zur Linken, das dahinter und das davor. Die Anlage sah aus wie ein endloser khakifarbener Ozean. Grace kannte den Weg dorthin gut. Es war Jacks Route ins Büro. Sie hatten kurz überlegt, ob sie in diese Siedlung ziehen sollten. Weder Jack noch Grace waren begeisterte Heimwerker. Eigentumswohnungen hatten den Vorteil, dass man sich für eine monatliche Gebühr weder um Reparaturen noch um den Garten kümmern musste. Es gab Tennisplätze, einen Swimmingpool und einen Kinderspielplatz. Dennoch war die Eintönigkeit der Anlage kaum zu überbieten. Vorstädte an sich sind bereits eine Subkultur der Gleichförmigkeit. Warum sollte man diese also auf die Spitze treiben, indem man auch noch das eigene H e i m gleichschaltete? Max hatte den komplexen, grellbunt leuchtenden Spielplatz schon entdeckt, noch bevor der Wagen anhielt. Er wartete ungeduldig darauf, zur Schaukel laufen zu können. Emma gab sich eher gelangweilt. Sie behielt ihren Gameboy in der Hand. Normalerweise hätte Grace protestiert - Gameboys waren nur im A u t o erlaubt, besonders wenn die Alternative Spiele an der frischen Luft waren -, aber wieder einmal schien für Prinzipienreiterei jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.
Grace legte die Hand schützend über die Augen, als die beiden losliefen. »Ich kann sie doch hier nicht allein lassen.« »Mrs. Alworth wohnt gleich dort drüben«, sagte Duncan. »Wenn wir draußen vor der Tür bleiben, behalten wir sie im Auge.« Sie gingen auf den Eingang im Erdgeschoss zu. Auf dem Spielplatz war es ruhig. Es regte sich kein Lüftchen. Grace atmete tief ein. Es roch nach frisch gemähtem Gras. Sie standen Seite an Seite, sie und Duncan. Er klingelte. Grace wartete und fühlte sich wie eine Zeugin Jehovas. Eine knarzige Stimme, einer Hexe aus einem alten DisneyFilm nicht unähnlich, ertönte: »Wer ist da?« »Mrs. Alworth?« »Wer ist da?«, schnarrte es erneut. »Ich bin es, Scott Duncan, Mrs. Alworth.« »Wer?« »Scott Duncan. Wir haben vor gar nicht langer Zeit miteinander gesprochen. Über Ihren Sohn, Shane.« »Gehen Sie weg! Ich habe Ihnen nichts zu sagen.« »Wir bräuchten Ihre Hilfe. Dringend.« »Ich weiß nichts. Gehen Sie!« »Bitte, Mrs. Alworth. Ich muss mit Ihnen über Ihren Sohn reden.« »Ich habe schon alles gesagt. Shane lebt in Mexiko. Er ist ein guter Junge. Er hilft den Armen.« »Wir brauchen Auskünfte über einige seiner Freunde von früher.« Scott Duncan sah Grace an, nickte ihr aufmunternd zu. »Mrs. Alworth«, begann Grace. Die kratzige Stimme klang jetzt vorsichtiger. »Wer sind Sie?« »Ich bin Grace Lawson. Ich glaube, Ihr Sohn hat meinen Mann gekannt.« Schweigen. Grace wandte sich von der Tür ab und beobachtete Max und Emma. Max war auf der Rutschbahn. Emma saß im Schneidersitz daneben und spielte auf ihrem Gameboy.
Durch die Tür fragte die Stimme: »Wer ist Ihr Mann?« »Jack Lawson.« Nichts. »Mrs. Alworth?« »Kenne ich nicht.« »Wir haben ein Foto«, sagte Scott Duncan. »Wir würden es Ihnen gern zeigen.« Die Tür wurde geöffnet. Mrs. Alworth trug ein Hauskleid, das mindestens aus der Zeit vor der Invasion in der Schweinebucht stammen musste. Sie war Mitte siebzig, kräftig gebaut, die Sorte mollige alte Tante, in deren Umarmung man förmlich versinkt. Als Kind hasst man diese A r t körperlicher Vereinnahmung. Als Erwachsener sehnt man sich danach. Sie hatte ausgeprägte Krampfadern. Auf ihrem enormen Busen schaukelte eine Lesebrille an einer Kette. Sie roch nach Zigarettenrauch. »Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit«, erklärte sie. »Zeigen Sie mir das Foto!« Scott Duncan reichte ihr den Abzug. Lange sagte die alte Frau kein Wort. »Mrs. Alworth?« »Warum hat jemand die hier ausgestrichen?«, fragte sie. »Sie war meine Schwester.« Sie warf ihm einen hastigen Blick zu. »Sagten Sie nicht, Sie seien von der Staatsanwaltschaft?« »Bin ich auch. Meine Schwester wurde ermordet. Ihr Name war Geri Duncan.« Mrs. Alworth wurde leichenblass. Ihre Unterlippe zitterte. »Sie ist tot?« »Ermordet. Vor 15 Jahren. Erinnern Sie sich an sie?« Mrs. Alworth schien völlig die Fassung zu verlieren. Sie wandte sich an Grace und keifte: »Worauf starren Sie da eigentlich dauernd?« Grace hatte sich zu Max und Emma umgewandt. »Auf meine
Kinder.« Sie deutete zum Spielplatz hinüber. Mrs. Alworth folgte ihrem Blick. Sie erstarrte. Sie schien in Gedanken verloren, völlig verunsichert. »Haben Sie meine Schwester gekannt?«, wollte Duncan wissen. »Was hat das mit mir zu tun?« »Ja oder nein? Kannten Sie meine Schwester?« Duncans Stimme war streng geworden, »Ich erinnere mich nicht. Ist lange her.« »Ihr Sohn war eng mit ihr befreundet.« »Er ist mit 'ner Menge Mädels gegangen. Shane war ein hübscher Junge. Genau wie sein Bruder Paul. Der ist Psychologe in Missouri. Warum lassen Sie mich nicht in Ruhe? Reden Sie mit ihm.« »Bitte denken Sie nach.« Scott wurde lauter. »Meine Schwester ist ermordet worden.« Er deutete auf Shane Alworth auf dem Bild. »Das ist doch Ihr Sohn, Mrs. Alworth?« Sie starrte lange auf das seltsame Foto. Dann nickte sie. »Wo ist er?« »Hab ich doch schon gesagt. Shane lebt in Mexiko, Er hilft den Armen.« »Wann haben Sie zum letzten Mal mit ihm gesprochen?« »Vergangene Woche.« »Hat er Sie angerufen?« »Ja.« »Wo?« »Was meinen Sie mit >Wo« Scott Duncan trat einen Schritt vor. »Ich habe Ihre Anrufliste überprüft, Mrs. Alworth. Sie haben im letzten Jahr weder einen Anruf aus dem Ausland erhalten noch eine ausländische Nummer gewählt.« »Shane benutzt immer eine Telefonkarte«, kam es ein wenig zu prompt. »Vielleicht werden die von den Telefongesellschaften nicht erfasst. Woher soll ich das wissen?«
Duncan trat noch einen Schritt näher. »Hören Sie, Mrs. A I worth. U n d hören Sie mir gut zu. Meine Schwester ist tot. Ihr Sohn ist verschwunden. Dieser M a n n hier ...« Er deutete auf das B i l d von Jack. »... der Ehemann meiner Begleiterin, Jack Lawson, wird ebenfalls vermisst. U n d diese Frau hier ...« Sein Finger berührte das rothaarige Mädchen. »... heißt Sheila Lambert. V o n ihr fehlt in den letzten zehn Jahren ebenfalls jede Spur.« »Ich sage Ihnen doch, ich habe damit nichts zu schaffen«, beharrte Mrs. A l w o r t h . »Fünf Personen sind auf dem Foto. Vier davon konnten wir identifizieren. A l l e sind verschwunden. Eine ist tot. Könnte gut sein, dass auch die restlichen n i c h t mehr am Leben sind.« »Ich habe doch schon gesagt, Shane i s t . . . « »Sie lügen, Mrs. A l w o r t h . Ihr Sohn ist Absolvent der Vermont University. Genau wie Jack Lawson und Sheila Lambert. Sie müssen befreundet gewesen sein. Er war der Freund meiner Schwester. Das wissen wir beide. Also, was ist m i t ihnen passiert? Wo ist Ihr Sohn?« Grace legte die Hand auf Scotts A r m . Mrs. A l w o r t h starrte jetzt zum Spielplatz hinüber. Sie betrachtete die Kinder. Ihre U n terlippe zitterte. Sie war aschfahl. Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie schien wie benommen. Grace versuchte ihr den Blick zu verstellen. »Mrs. A l w o r t h « , sagte sie sanft. »Ich b i n eine alte Frau.« Grace wartete ab. »Ich habe euch nichts zu sagen.« »Ich versuche, meinen M a n n zu finden«, erklärte Grace. Mrs. A l w o r t h ' Blick ruhte noch immer auf dem Spielplatz. »Ich versuche, ihren Vater zu finden.« »Shane ist ein guter Junge. Er hilft den Armen.« »Was ist m i t i h m geschehen?«, fragte Grace. »Lassen Sie m i c h in Ruhe.«
Grace versuchte den Blick der älteren Frau auf sich zu ziehen, doch sie schien nichts mehr zu registrieren. »Seine Schwester...« Grace deutete auf Duncan. »... mein M a n n , Ihr Sohn. Was i m mer ihnen zugestoßen ist, es geht uns alle an. W i r wollen helfen.« Doch die alte Frau schüttelte nur den Kopf und wandte sich ab. » M e i n Sohn braucht Ihre Hilfe nicht. U n d jetzt gehen Sie. Bitte.« Sie trat in ihr Haus zurück und schloss die Tür.
33 Zurück im Wagen sagte Grace: »Sie haben Mrs. A l w o r t h ' Telefonverbindungen auf Telefongespräche m i t dem Ausland überprüft ... ?« Duncan schüttelte den Kopf. »Das war ein Bluff.« Die Kinder waren wieder m i t ihren Gameboys beschäftigt. Scott Duncan rief die Gerichtsmedizinerin an. Sie erwartete sie. » W i r kommen der A n t w o r t näher, oder?«, sagte Grace. »Ich glaube, ja.« »Gut möglich, dass Mrs. A l w o r t h die Wahrheit sagt. I c h meine, v o n ihrem Standpunkt aus.« »Wie kommen Sie darauf?«, fragte er. »Damals, vor 15 Jahren, muss etwas passiert sein. Jack hat sich nach Übersee abgesetzt. Vielleicht haben Shane A l w o r t h und Sheila Lambert dasselbe getan. Ihre Schwester ist aus einem unerfindlichen G r u n d geblieben und ermordet worden.« Er sagte nichts. Seine Augen glänzten plötzlich feucht. Seine M u n d w i n k e l zuckten. »Scott?« »Sie hat m i c h angerufen. Geri, meine ich. Zwei Tage vor diesem Brand.« Grace wartete ab. »Ich war auf dem Sprung. Verstehen Sie. Geri war v o n jeher
sehr emotional. Immer melodramatisch. Sie hat gesagt, sie müsse mir was Wichtiges mitteilen, aber i c h dachte, das kann warten. Dachte, sie wollte sich wieder mal über eine ihrer neuesten Schwärmereien auslassen ... Aromatherapie, ihre neue Rockband, ihre Malerei, was auch immer. Habe versprochen, sie später wieder anzurufen.« Er hielt inne und zuckte m i t den Schultern. »Aber dann hab ich's vergessen.« Grace wusste darauf nichts zu sagen. Tröstliche Worte waren in diesem Fall möglicherweise unangebracht. Sie umfasste das Steuerrad und sah in den Rückspiegel. Emma und Max saßen auf dem Rücksitz, die Köpfe über ihre Computer gebeugt, während die Daumen die Knöpfe an den kleinen Konsolen bearbeiteten. Sie fühlte, wie es sie wieder einmal zu überwältigen drohte, das pure Hochgefühl, das Normalität, das G l ü c k des Alltäglichen bei ihr auslöste. »Ist es okay, wenn wir jetzt bei der Gerichtsmedizinerin vorbeifahren?«, fragte Duncan. Grace zögerte. »Ist nur eine Meile weit entfernt. Biegen Sie an der nächsten A m p e l einfach links ab.« Wer A sagt, muss auch B sagen, dachte Grace. Sie fuhr. Er wies ihr den Weg. Eine M i n u t e später deutete er in Fahrtrichtung. »Das Eckgebäude da v o r n ist es.« Das Ärztehaus schien v o n Zahnärzten und Kieferorthopäden beherrscht. Als sie die Eingangstür öffneten, schlug ihnen der Geruch v o n Desinfektionsmitteln entgegen. Scott Duncan deutete auf einen N a m e n auf der großen Tafel. »Sally L i , Dr. med. Das ist sie.« Die Tafel sagte ihnen, dass ihr Büro im Erdgeschoss lag. Einen Empfang gab es nicht. Eine Klingel ertönte, als sie die T ü r öffneten. Das Büro war entsprechend spartanisch eingerichtet. Das Mobiliar bestand aus zwei durchgesessenen Sofas und einer flackernden Deckenbeleuchtung, die selbst auf dem Floh-
markt keinen Käufer mehr gefunden hätte. Der ausliegende Lesestoff war ein Katalog v o n Instrumenten für Pathologen. Eine Frau asiatischer Herkunft, M i t t e vierzig und m i t müdem Blick, steckte den Kopf aus der Tür, die zum eigentlichen Büro führte. »Hallo, Scott.«
»Hallo, Sally.« »Wen hast du mitgebracht?« »Grace Lawson«, antwortete er. »Sie hilft mir.« »Freut mich«, sagte Sally. »Bin gleich bei euch.« Grace erlaubte den Kindern, weiter m i t ihren Gameboys zu spielen. Die Gefahr und in diesem Fall gleichzeitig das Großartige bei diesen Spielen war, dass durch sie die Außenwelt v o l l kommen ausgeblendet wurde. Sally öffnete die Tür. »Kommt rein.« Sie trug saubere Chirurgenkleidung und Schuhe m i t hohen Absätzen. In der Brusttasche ihres Kittels steckte eine Packung Marlboro. Das Büro, wenn man es so nennen wollte, sah aus, als sei hier kürzlich eine Bombe eingeschlagen. Überall lagen Papiere herum, ergossen sich wasserfallähnlich über den Schreibtisch und quollen aus Regalen. Dazwischen lagen aufgeschlagene Pathologiebücher. Ihr Schreibtisch aus M e t a l l wirkte reichlich altersschwach. Bilder, Fotos oder andere persönliche Gegenstände waren nirgends zu entdecken - m i t Ausnahme eines überdimensionalen Aschenbechers, der in der M i t t e des Schreibtischs unangefochten seinen Platz behauptete. Überall stapelten sich turmhoch Fachzeitschriften. Etliche dieser Stapel waren bereits eingestürzt. Sally hatte sich nicht die M ü h e gemacht, sie wieder aufzuschichten. Sie sank auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch. »Werfen Sie das Zeug einfach auf den Boden. Setzt euch.« Grace nahm einen Stapel Papiere v o m Stuhl und nahm Platz. Duncan tat es ihr gleich. Sally verschränkte die Hände und legte sie in den Schoß.
»Patientenpsychologie ist nicht mein Ding, das wissen Sie, Scott.« »Ja, weiß ich.« »Zum Glück können sich meine Patienten nie beschweren.« Sie war die Einzige, die lachte. »Jetzt wisst ihr, weshalb m i c h niemand zum Essen einlädt.« Sally griff nach einer Lesebrille und kramte in den A k t e n . »Wo habe i c h denn ... Wartet, hier ist es.« Sally fischte einen braunen Umschlag aus dem Chaos. »Ist das der Autopsiebericht meiner Schwester?«, fragte Duncan.
»Ja.« Sie schob i h n zu Duncan hinüber. Er öffnete i h n . Grace beugte sich zu i h m . Darüber stand in Großbuchstaben D U N C A N , GERI. Fotos waren beigelegt. A u f einem entdeckte Grace e i n braunes Skelett, das auf einem Tisch ausgebreitet lag. Sie wandte sich entsetzt ab. Sally Li hatte jetzt die Füße auf den Schreibtisch gelegt, die Hände im Nacken verschränkt. »Also, Scott ... wollen Sie v o n mir die ganze Prozedur erklärt bekommen oder genügt Ihnen eine kurze Zusammenfassung?« »Das Wesentliche, bitte.« »Ihre Schwester war zum Zeitpunkt ihres Todes schwanger.« Duncan zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Grace rührte sich nicht. »Ich kann nicht sagen, in welchem M o n a t sie war. Aber mehr als im vierten oder fünften Monat dürfte sie kaum gewesen sein.« »Das begreife i c h nicht«, sagte Duncan. »Die müssen doch schon damals eine Autopsie durchgeführt haben.« Sally nickte. »Da b i n ich sicher.« »Warum haben sie es dann n i c h t entdeckt?« »Wollen Sie meine Meinung hören? Sie haben es entdeckt.« »Aber ich hatte keine A h n u n g ...«
»Warum sollten Sie? Sie waren damals Student. Vermutlich haben sie es Ihrer Mutter oder Ihrem Vater gesagt. Sie waren nur der Bruder. U n d ihre Schwangerschaft hatte m i t der Todesursache nichts zu tun. Sie ist bei einem Brand in einem Studentenheim umgekommen. Die Tatsache, dass sie schwanger war, war irrelevant.« Scott Duncan saß einfach nur da. Er sah v o n Grace zu Sally L i . »Können Sie eine DNA-Analyse des Fötus vornehmen?« »Vermutlich. Warum?« »Wie lange dauert ein solcher Vaterschaftstest?« Grace überraschte die Frage nicht. »Sechs Wochen.« »Geht es auch schneller?« »Ich kann's versuchen. Aber versprechen kann ich nichts.« Scott wandte sich an Grace. Sie wusste, was er dachte. »Geri war m i t Shane A l w o r t h befreundet«, sagte sie. »Sie haben das Foto gesehen.« Hatte sie. Die A r t und Weise, wie G e r i zu Jack aufgesehen hatte. Geri hatte nicht gewusst, dass die Kamera auf sie gerichtet war. A l l e waren n o c h dabei gewesen, sich für das Foto in Stellung zu bringen. Doch das, was die Kamera eingefangen hatte, Geris Gesichtsausdruck, nun, der verriet, dass Jack mehr gewesen sein musste als nur ein guter Kumpel. »Machen Sie den Test«, schlug Grace vor.
34 Charlaine hielt Mikes Hand, als seine Lider zuckten und er die Augen aufschlug. Sie rief schrill nach einem Arzt, der das Offensichtliche umgehend als ein »gutes Zeichen« wertete. M i k e hatte furchtbare Schmerzen. Der A r z t legte i h m eine intravenöse M o r p h i u m p u m pe. M i k e weigerte sich zuerst, wieder einzuschlafen. Er zog eine
Grimasse und versuchte, die Schmerzen auszuhalten. Charlaine blieb bei i h m und hielt seine Hand. A l s die Schmerzen schlimmer wurden, klammerte er sich fest an sie. »Geh nach Hause«, sagte M i k e . »Die Kinder brauchen dich.« Sie bedeutete i h m , still zu sein. »Versuch zu schlafen.« »Du kannst hier nichts für m i c h tun. G e h nach Hause.« »Pssst.« M i k e sank erneut in Schlaf. Sie schaute auf i h n herab. Sie erinnerte sich an die Tage an der Vanderbilt University. Eine bunte Skala v o n Emotionen überwältigte sie. Da war Liebe und Zuneigung, dessen war sie sicher, aber was Charlaine im Augenblick Angst machte, war - auch während sie Mikes Hand hielt, und sogar als sie die starke Verbindung zu diesem M a n n fühlte, der das Leben m i t ihr teilte, sogar als sie betete und m i t G o t t , den sie so lange ignoriert hatte, einen Handel schloss -, dass sie wusste, dass diese Gefühle n i c h t v o n Dauer sein würden. Das war das Beängstigende an der Sache. M i t t e n in dieser Gefühlsaufwallung wusste Charlaine, dass die Zuneigung abebben würde, dass das, was sie empfand, einen flüchtigen Charakter hatte, und sie hasste sich dafür, dass sie es wusste. Vor drei Jahren hatte Charlaine eine Selbsthilfeveranstaltung in der Continental Arena in East Rutherford besucht. Der Redner war dynamisch und kraftvoll, Charlaine war begeistert gewesen. Sie hatte sämtliche Hörkassetten gekauft. Sie hatte begonnen zu tun, was er vorschlug - hatte sich Ziele gesetzt, sich daran gehalten, sich überlegt, was sie v o m Leben erwartete, versucht, den Dingen eine Perspektive zu geben, hatte ihre Prioritäten geordnet und restrukturiert, so dass sie Fortschritte machen konnte - doch noch während dieser Bemühungen, selbst als sich ihr Leben zum Besseren veränderte, hatte sie gewusst, dass es n i c h t v o n Dauer sein würde. Es war nur eine vorübergehende Veränderung, eine neue Lebensweise, ein Bewegungsprogramm, eine Diät gewesen - und diesmal war es genauso.
U n d es würde kein Glück bis ans Ende aller Tage geben. Hinter ihr ging die T ü r auf. »Ihr M a n n ist aufgewacht, habe i c h gehört.« Es war Captain Perlmutter. »Ja.« »Ich habe gehofft, m i t i h m sprechen zu können.« »Da müssen Sie noch warten.« Perlmutter machte einen Schritt ins Zimmer. »Sind die K i n der noch bei ihrem Onkel?« »Er hat sie zur Schule gebracht. W i r wollen, dass das Leben ganz normal für sie weitergeht.« Perlmutter trat neben sie. Sie wandte den Blick nicht von M i k e . »Haben Sie was herausgefunden?« »Der M a n n , der auf Ihren M a n n geschossen hat ... Er heißt Eric W u . Sagt Ihnen das was?« Sie schüttelte den Kopf. »Wie sind Sie darauf gekommen?« »Durch die Fingerabdrücke in Sykes' Haus.« »Ist er vorbestraft?« »Ja. Er ist gerade auf Bewährung frei.« »Was hat er getan?« »Das U r t e i l lautete auf schwere Körperverletzung. Allerdings n i m m t man an, dass er noch viel mehr auf dem Kerbholz hat.« Das überraschte sie nicht. »Schwere Verbrechen?« Perlmutter nickte. »Darf ich Sie was fragen?« Sie zuckte m i t den Achseln. »Sagt Ihnen der Name Jack Lawson etwas?« Charlaine runzelte die Stirn. »Hat er zwei Kinder an der W i l lard-Schule?«
»Ja.« »Ich kenne i h n n i c h t persönlich, aber Clay, mein Jüngster, geht noch in die Willard-Schule. I c h sehe seine Frau manchmal beim Abholen.« »Meinen Sie Grace Lawson?« »Ja, ich glaube, so heißt sie. Hübsche Frau. Sie hat eine Tochter. Emma. Sie ist ein oder zwei Klassen unter Clay.«
»Kennen Sie sie?« »Nein, nicht w i r k l i c h . I c h sehe sie bei den Abschlusskonzerten und so. Warum?« »Ist vermutlich nicht v o n Bedeutung.« Charlaine runzelte die Stirn. »Haben Sie den Namen einfach so aus dem Zylinder gezaubert, oder was?« »War nur so eine Vermutung«, sagte er wegwerfend. »Ich wollte Ihnen übrigens danken.«
»Wofür?« »Dass Sie m i t Mr. Sykes gesprochen haben.« »Er hat mir n i c h t viel erzählt.« »Er hat Ihnen v o n AI Singer erzählt.« »Na und?« »Unsere Computerexpertin hat den Namen auf Sykes' C o m puter entdeckt. AI Singer. W i r glauben, dass Wu sich unter diesem Namen in einer Internet-Kontaktbörse registrieren ließ. So hat er Freddie Sykes kennen gelernt.« »Er hat den Namen AI Singer benutzt?«
»Ja.« »War das eine Kontaktbörse für Schwule?« »Für Bisexuelle.« Charlaine schüttelte den Kopf und hätte beinahe laut gelacht. Na, wenn das nicht der Hammer ist! Sie sah Perlmutter herausfordernd an. Er verzog keine Miene. Sie sahen beide wieder auf M i k e herab. M i k e regte sich. Er schlug die Augen auf und lächelte sie an. Charlaine erwiderte sein Lächeln und strich i h m das Haar glatt. Er schloss die Augen und schlief weiter. »Captain Perlmutter?«
»Ja?« »Bitte gehen Sie jetzt.«
35 Während Grace auf Carl Vespa wartete, begann sie das Schlafzimmer aufzuräumen. Jack, das wusste sie, war ein großartiger Ehemann und Vater. Er war klug, witzig, liebevoll, fürsorglich und treu. A l s Gegengewicht hatte G o t t i h n mit dem Ordnungssinn eines Schimpansen ausgestattet. Er war, schlicht ausgedrückt, ein Chaot. Nörgeleien v o n ihrer Seite - und Grace hatte es weiß G o t t versucht - prallten an i h m ab. Also hatte sie es aufgegeben. W e n n das Glück von Kompromissen abhing, dann schien ihr das ein guter Kompromiss zu sein. Grace hatte längst aufgehört, Jack dazu bewegen zu wollen, den Stapel Zeitschriften neben seinem Bett aufzuräumen. Sein nasses Duschhandtuch landete nie auf dem Handtuchständer. Keines seiner Kleidungsstücke schaffte es je bis in den Schrank oder die Kommode. Im Augenblick hing ein T-Shirt halb aus dem Wäschekorb, als versuche es der drohenden Waschmaschine zu entkommen. Einen M o m e n t starrte Grace bewegungslos auf das T-Shirt. Dann griff sie danach. Der Spezies M a n n war sie stets m i t gesundem Zynismus begegnet. Sie hatte ihre Gefühle im Zaum gehalten. Sie öffnete sich nicht leicht anderen Menschen. An Liebe auf den ersten Blick hatte sie nie geglaubt - tat es noch immer nicht -, doch als sie Jack getroffen hatte, war der Funke sofort übergesprungen, sie hatte Schmetterlinge im Bauch bekommen, und, so sehr sie das jetzt auch zu leugnen versuchte, schon damals, bei der ersten Begegnung, hatte ihr eine innere Stimme eingeflüstert, dass dies der M a n n sei, den sie heiraten würde. Cram war m i t Emma und Max in der Küche. Emma hatte sich wieder gefangen, ihre theatralischen Anwandlungen überwunden, wie das nur Kindern gegeben ist - schnell und hundertprozentig. Sie aßen Fischstäbchen, Cram eingeschlossen, und ignorierten die
Beilage aus Erbsen. Emma las Cram ein Gedicht vor. Cram war ein dankbares Publikum. Sein Lachen war raumfüllend und ließ die Fensterscheiben klirren. Als Zuhörer hatte man nur zwei Möglichkeiten: mitzulachen oder m i t den Zähnen zu knirschen. N o c h blieb etwas Zeit, bis Vespa eintreffen sollte. Grace w o l l te nicht an Geri Duncan denken, an ihren Tod, ihre Schwangerschaft, die A r t , wie sie Jack auf dem verdammten Foto angesehen hatte. Scott Duncan hatte gefragt, was ihr Ziel sei. Sie hatte geantwortet, sie wolle ihren M a n n zurückhaben. Das stimmte noch immer - im Wesentlichen. Aber nach allem, was sie erlebt hatte, war da vielleicht auch der Wunsch aufgekommen, die Wahrheit zu erfahren. M i t diesem Gedanken lief Grace die Treppe hinunter und schaltete den Computer ein. Sie wählte sich bei Google ein und tippte »Jack Lawson« in das entsprechende Suchfeld. Die Trefferquote lag bei 1200 Ergebnissen. Zu viel, um nützlich zu sein. Sie versuchte es m i t »Shane A l w o r t h « . K e i n einziges Ergebnis. Interessant. Grace gab »Sheila Lambert« ein. Unter den Ergebnissen war eine Baseballspielerin desselben Namens. Nichts v o n Bedeutung. D a n n begann sie es m i t Kombinationen zu versuchen. Jack Lawson, Shane A l w o r t h , Sheila Lambert und Geri D u n can: die vier Personen, die zusammen auf dem Foto abgebildet waren. Es musste eine Verbindung zwischen ihnen geben. Sie probierte die unterschiedlichsten Kombinationen aus. Sie versuchte, Vor- und Familiennamen zu mischen. Nichts tauchte auf, das v o n Interesse gewesen wäre. Sie tippte noch immer und durchforstete die 227 nutzlosen Ergebnisse auf die Eingabe »Lawson« und »Alworth«, als das Telefon klingelte. Grace starrte auf das Display. Es war Coras Nummer. Sie hob den Hörer ab. »Hallo.« »Hallo.« »Entschuldige«, sagte Grace. »Mach dir deshalb keinen Kopf. Dumme Kuh.«
Grace lächelte und betätigte weiter den Cursor. Die Ergebnisse waren unbrauchbar. »Also, was ist? W i l l s t du meine Hilfe noch?«, fragte Cora. »Ja, schätze schon.« »Klingt richtig begeistert. So gefällst du mir. Erzähl!« Grace beschränkte sich auf eine oberflächliche Zusammenfassung. Sie vertraute Cora, aber sie wollte nicht gezwungen sein, ihr zu vertrauen. N a t ü r l i c h war das nicht besonders logisch. Nur: war Graces Leben bedroht, würde sie sich umgehend an Cora wenden. Waren jedoch die Kinder in Gefahr ... nun, dann würde sie schon zögern. Das Beunruhigende jedoch war, dass sie Cora mehr vertraute als jedem anderen - was bedeutete, dass sie sich nie zuvor im Leben so isoliert und allein gefühlt hatte. »Du lässt die Namen also durch die Suchmaschine laufen?«, wollte Cora wissen.
»Ja.« »Irgendwelche relevanten Ergebnisse? Bisher meine ich?« »Kein einziges.« Dann: »Warte mal!« »Was ist?« U n d wieder, Vertrauen h i n oder her, Grace fragte sich, welchen Sinn es hatte, Cora mehr zu erzählen als unbedingt nötig. »Ich hab da was. Rufe dich gleich zurück.« Grace legte auf und starrte auf den Bildschirm. Ihr Puls ging schneller. Sie hatte beinahe alle Namenskombinationen ausgeschöpft, als ihr ein Künstlerfreund namens M a r l o n Coburn einfiel. Er beklagte sich ständig, dass sein Name falsch geschrieben wurde. M a r l o n wurde zu M a r l i n , Marlan oder Marien, und Coburn wurde zu Cohen oder Corburn verballhornt. Jedenfalls fand Grace, es sei einen Versuch wert. Die vierte Fehler-Kombination, die sie versuchte, war »Lawson« und »Allworth« m i t zwei »1« statt m i t einem. Sie bekam 300 Ergebnisse - keiner der beiden Namen war selten -, doch es war das Ergebnis Nr. 4, das ihr ins Auge stach.
Die Überschrift lautete: CRAZY DAVEY'S BLOG Grace wusste vage, dass ein Blog so etwas wie ein Internettagebuch war, auf der Leute ihre Gedanken veröffentlichten. Andere wiederum fanden auf unerklärliche Weise Befriedigung darin, diese Ergüsse zu lesen. Eigentlich hatte ein Tagebuch früher eher als i n t i m gegolten. Heutzutage dagegen versuchte man, m i t möglichst schrillen Bekenntnissen die Massen zu erreichen. Das Kleingedruckte unter der Überschrift lautete: »John Lawson am Keyboard und Sean Allworth, ein Zauberer an der Gitarre ...« Jacks richtiger Name lautete eigentlich John. Sean klang ähnlich wie Shane. Grace klickte das L i n k an. Die Seite war endlos lang. Sie ging zurück und klickte auf »speichern«. Als sie auf die Seite zurückkehrte, waren die Worte »Lawson« und »Allworth« markiert. Sie ließ den Cursor laufen und entdeckte einen zwei Jahre alten Eintrag: 26. April He, Leute. Terese und ich haben uns ein Wochenende in Vermont gegönnt. Wir haben uns in der Frühstückspension Westerley's eingemietet. War eine Schau. Sie hatten dort einen Kamin, und nachts haben wir Schach gespielt... Crazy Davey war nicht zu stoppen. Grace schüttelte den Kopf. Wer zum Teufel las diesen Blödsinn? Sie klickte drei Abschnitte weiter. Am Abend bin ich mit Rick, einem alten Kumpel von der Uni, zu Wino's gegangen. Ist eine alte Studentenkneipe. Die reinste
Bruchbude. Während des Studiums waren wir Stammgäste. Und ihr glaubt es nicht, wir haben wieder Kondom-Roulette gespielt wie in alten Tagen. ]e gespielt? Jeder Typ rät eine Farbe es gibt sexy Rot, Mach-mir-den-Hengst Schwarz, Zitronengelb, Orange-Orange. Okay, die letzten beiden sind ein Witz, aber ihr habt's hoffentlich begriffen. Auf dem Klo hängt der Gummi-Automat. Immer noch! Jeder legt einen Dollar auf den Tisch. Einer nimmt einen Vierteldollar und holt ein Kondom. Er bringt es zum Tisch zurück. Er macht die Schachtel auf und Bingo, wenn es deine Farbe hat, hast du gewonnen. Rick hat die erste Runde gewonnen. Er hat uns einen ausgegeben. Die Band damals hat reingehauen. Erinnere mich, als Erstsemester eine Gruppe namens Allaw gehört zu haben. Bestand aus zwei Tussen und zwei Jungs. Eine Tussi saß am Schlagzeug. Die Jungs waren John Lawson am Keyboard und Sean Allworth, ein Zauberer an der Gitarre. So sind sie auf den Namen gekommen, schätze ich. Allworth und Lawson. Zusammengezogen Allaw. Rick hatte noch nie von denen gehört. Jedenfalls haben wir unser Bier getrunken. Ein paar heiße Geräte sind reingekommen, haben uns aber übersehen. Haben uns verdammt alt gefühlt... Das war alles. Grace startete eine Suche m i t A l l a w . Nichts. Sie versuchte weitere Kombinationen. Nichts. N u r diese eine Notiz aus einem Blog. Crazy Davey hatte sowohl den Vornamen Shane als auch den Familiennamen falsch geschrieben. Jack wurde Jack genannt, jedenfalls solange Grace i h n kannte, aber vielleicht war er damals als John aufgetreten. Möglich, dass der Typ auch seinen Namen verwechselt oder i h n nur geschrieben gesehen hatte. Allerdings hatte Crazy Davey v o n vier Bandmitgliedern gesprochen, darunter zwei Frauen und zwei Männer. A u f dem Foto allerdings waren fünf Personen, doch die eine Frau, die nur verschwommen am Rand zu sehen war - vielleicht gehörte sie gar
nicht zur Gruppe. U n d was hatte Scott über den letzten A n r u f seiner Schwester gesagt? Dachte, es ginge um irgendein neues Steckenpferd - Aromatherapie, ihre neue Rockband ... Rockband. Konnte das sein? War es das Foto v o n einer Rockgruppe? Sie suchte auf Crazy Daveys Website nach einer Telefonnummer oder dem kompletten Namen. Es gab nur eine E - M a i l - A d resse. Grace klickte das L i n k an und tippte hastig: »Brauche Ihre Hilfe. Habe eine wichtige Frage bezüglich A l law, der Band, die Sie während Ihrer Studienzeit gehört haben. Bitte rufen Sie m i c h per R-Gespräch an.« Sie tippte ihre Telefonnummer ein und schickte die E-Mail ab. Was hatte das zu bedeuten? Sie versuchte das Puzzle auf ein Dutzend unterschiedliche A r ten zusammenzufügen. Nichts passte. Einige M i n u t e n später hielt eine Limousine in der Auffahrt. Grace sah aus dem Fenster. Carl Vespa war da. Er hatte einen neuen Chauffeur, einen riesigen Muskelmann m i t militärisch kurzem Haarschnitt und dem entsprechenden Gesicht, der jedoch nicht halb so gefährlich aussah wie Cram. Sie legte ein Lesezeichen für Crazy Davey's Blog an und ging den Korridor entlang zur Haustür. Vespa kam grußlos herein. Er sah in seinem geradezu göttlich maßgeschneiderten Blazer noch immer wie aus dem Ei gepellt aus, wirkte ansonsten jedoch ungewohnt zerzaust. Er trug sein Haar zwar nie glatt gestriegelt, das war nicht sein Stil, doch es gibt einen feinen Unterschied zwischen einem unkonventionellen Haarschnitt und ungekämmtem Haar. Diese Grenze war überschritten. Seine Augen waren gerötet. Die L i n i e n um seinen M u n d waren tiefer, ausgeprägter. »Was ist passiert?« »Wo können wir ungestört reden?«, fragte Vespa.
»Die Kinder sind bei Cram in der Küche. Gehen wir ins Wohnzimmer.« Er nickte. In der Ferne ertönte Max' volles Lachen. Vespa hielt abrupt inne. »Ihr Sohn ist jetzt sechs, stimmt's?«
»Ja.« Vespa lächelte unvermittelt. Grace konnte seine Gedanken nicht erraten, doch das Lächeln brach ihr das Herz. »Als Ryan sechs war, hat er wie besessen Baseballkarten gesammelt.« »Max steht auf Yu-Gi-Oh!« »Yu-Gi-Was?« Sie schüttelte den Kopf zum Zeichen, dass sich Erklärungen n i c h t lohnten. Vespa blickte Grace versonnen an. Sie lächelte sanft. Dann war der Augenblick vorbei. Seine Züge wurden schlaff. »Er w i r d auf Bewährung entlassen.« Grace sagte nichts. »Wade Larue. Seine Freilassung wurde vorgezogen. Er kommt morgen raus.«
»Oh!« »Was sagen Sie dazu?« »Er war fast fünfzehn Jahre im Gefängnis«, antwortete sie. »Achtzehn Menschen sind gestorben.« Diese A r t der Unterhaltung widerstrebte ihr. Die Zahl - achtzehn - war für i h n irrelevant. N u r einer zählte. Ryan. In der K ü che explodierte erneut M a x ' Lachen. Vespa verzog keine Miene, doch Grace sah, dass etwas in i h m gärte. Er sagte kein W o r t . Das war auch n i c h t nötig. Die Frage lag auf der Hand: Angenommen es hätte M a x oder Emma getroffen. Könnte sie die Sache dann rationaler betrachten? Würde sie Larue den bekifften Außenseiter abnehmen, der sich m i t Drogen v o l l gedröhnt hatte und in Panik geraten war? Wäre sie dann so schnell bereit, zu verzeihen? »Erinnern Sie sich an den Sicherheitsbeamten, Gordon MacKenzie?«, fragte Vespa.
Grace nickte. Er war der Held jener Nacht gewesen, dem es gelungen war, zwei verschlossene Notausgänge zu öffnen. »Er ist vor einigen Wochen gestorben. An einem Gehirntumor.« »Ich weiß.« M a n hatte Gordon MacKenzie bei den Veröffentlichungen zum Jahrestag des Massakers die meisten Kommentare gewidmet. »Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod, Grace?« »Ich weiß nicht.« »Was ist m i t Ihren Eltern? Werden Sie sie eines Tages wieder sehen?« »Keine Ahnung.« »Kommen Sie, Grace! I c h w i l l wissen, was Sie denken.« Vespas Blick wurde bohrend. Sie wurde unruhig. » A m Telefon ... da haben Sie m i c h gefragt, ob Jack eine Schwester hat.« »Sandra Koval.« »Warum also die Frage?« »Gleich«, sagte Vespa. »Ich w i l l Ihre Meinung hören. Was geschieht m i t uns, wenn wir sterben, Grace?« Ihr war klar, dass es sinnlos war, m i t i h m zu streiten. Ein falscher U n t e r t o n hatte sich in ihr Gespräch geschlichen. Etwas war anders. Er fragte sie nicht als Freund, als Vaterfigur oder aus Neugier. Er klang aggressiv. Ja, sogar wütend. Sie fragte sich, ob er getrunken hatte. »Es gibt ein Shakespeare-Zitat«, sagte sie. »Aus Hamlet. Es heißt, wenn ich m i c h recht erinnere, so ungefähr der Tod sei ein unentdecktes Land, aus dem kein Reisender je zurückkehrt.« Vespa zog eine Grimasse. » M i t anderen Worten wir wissen gar nichts.« »So ist es.« »Sie wissen, dass das Blödsinn ist.« Sie sagte nichts. »Sie wissen, dass da nichts ist. Dass ich Ryan nie wieder sehen
werde. Die Menschen wollen es nur nicht wahrhaben. Der schwache Geist erfindet unsichtbare Götter und Gärten und ein Wiedersehen im Paradies. Andere, wie Sie, fallen auf diesen Unsinn nicht rein, finden es jedoch zu schmerzlich, die Wahrheit beim Namen zu nennen. Also schieben sie diese > Woher-sollen-wir-das-wissen
»Seine A n w ä l t i n war brillant. Sie hat die Begnadigungskomission um den Finger gewickelt. Ich wette, dasselbe gelingt ihr m i t der Presse.« Er hielt inne und wartete. Grace war im ersten M o m e n t verdutzt, doch dann kroch ihr die Kälte in die Knochen. Carl Vespa sah es deutlich. Er nickte und trat zurück. »Erzählen Sie mir v o n Sandra Koval«, forderte er. »Ich kann nämlich n i c h t verstehen, wie ausgerechnet Ihre Schwägerin dazu kommt, jemanden wie Wade Larue zu verteidigen.«
36 Indira Khariwalla wartete auf den Besucher. In ihrem Büro waren sämtliche Lichter gelöscht. Ihre A r b e i t als Privatdetektiv war für heute abgeschlossen. Indira saß gern im Dunkeln. Das Problem der westlichen Welt, davon war sie überzeugt, bestand in der Reizüberflutung der Sinne. A u c h sie war natürlich diesen Reizen ausgeliefert. Das war der springende Punkt. Niemand konnte sich dem entziehen. Die westliche W e l t verführte einen m i t ihren Reizen, der konstanten Bombardierung m i t Farben, L i c h t und Tönen. Es hörte nie auf. W a n n immer möglich, besonders am Ende des Tages, saß Indira gern im D u n keln. N i c h t um zu meditieren, wie man aufgrund ihrer Herkunft glauben könnte. N i c h t , um im Lotossitz, den Daumen an den Zeigefinger gelegt, dazusitzen. N e i n . Sie brauchte nur Dunkelheit. Um 22 U h r wurde leise an die T ü r geklopft. »Kommen Sie rein.« Scott Duncan betrat den Raum. Er machte sich nicht erst die Mühe, das L i c h t anzuknipsen. Indira war froh darüber. Das machte es leichter. »Was gibt's denn so Wichtiges?«, fragte er.
»Rocky C o n w e l l ist ermordet worden«, sagte Indira. »Das habe ich im Radio gehört. Wer ist das?« »Der M a n n , den ich auf Jack Lawson angesetzt habe. Er sollte i h n beschatten.« Scott Duncan sagte nichts. »Wissen Sie, wer Stu Perlmutter ist?«, fuhr sie fort. »Der Cop?« »Ja. Er war gestern bei mir. Er hat m i c h über Conwell ausgefragt.« »Haben Sie sich auf die anwaltliche Schweigepflicht berufen?« »Habe ich. Er w i l l mich m i t einer richterlichen Verfügung zum Reden zwingen.« Scott Duncan wandte sich ab. »Scott?« »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er. »Sie wissen nichts.« Indira war sich n i c h t so sicher. »Was werden Sie tun?« Duncan trat aus dem Büro. Er griff hinter sich nach dem Türknauf und begann die T ü r zu schließen. »Die Sache im K e i m ersticken«, antwortete er.
37 Die Pressekonferenz war für 10 U h r angesetzt. Grace brachte zuerst die Kinder zur Schule. Cram saß am Steuer. Er trug ein übergroßes Flanellhemd lose über der Hose. Darunter hatte er eine Waffe im Gürtel. Das wusste sie. Die Kinder sprangen aus dem Wagen. Sie verabschiedeten sich v o n Cram und liefen davon. Cram legte den ersten Gang ein. »Fahren Sie noch nicht«, sagte Grace. Sie sah den Kindern nach, bis diese sicher im Schulgebäude verschwunden waren. D a n n nickte sie zum Zeichen, dass er losfahren konnte.
»Keine Sorge«, versicherte Cram ihr. »Ich habe einen M a n n zur Beobachtung abgestellt.« Sie wandte sich i h m zu. »Kann ich Sie was fragen?« »Schießen Sie los!« »Wie lange sind Sie schon bei Mr. Vespa?« »Sie waren dabei, als Ryan starb, stimmt's?« Die Frage brachte sie etwas aus der Fassung. »Ja.« »Ryan war mein Patenkind.« A u f den Straßen war es noch ruhig. Sie schaute i h n an. Sie hatte keine A h n u n g , was sie t u n sollte. Sie konnte ihnen nicht trauen - n i c h t in Bezug auf ihre Kinder, nicht nachdem sie am Vorabend Vespas Gesicht gesehen hatte. Doch was blieb ihr anderes übrig? Vielleicht sollte sie es noch einmal m i t der Polizei versuchen. Aber waren die w i r k l i c h willens oder in der Lage, sie zu beschützen? U n d Scott Duncan - selbst der hatte zugegeben, dass ihre Allianz nur vorübergehend war. Als habe er ihre Gedanken erraten, sagte Cram: »Mr. Vespa vertraut Ihnen immer noch.« » U n d was ist, wenn er beschließt, es nicht mehr zu tun?« »Er würde Ihnen niemals etwas antun.« »Sind Sie sich da ganz sicher?« »Wir treffen Mr.Vespa in der Stadt. Bei der Pressekonferenz. Soll ich das Radio anstellen?« Trotz des Berufsverkehrs kamen sie schnell voran. A u f der George Washington Bridge wimmelte es noch immer von. Polizisten, eine der Folgen des 11. Septembers, an die sich Grace nicht gewöhnen konnte. Die Pressekonferenz sollte im Crowne Plaza, in der Nähe des Times Square stattfinden. Vespa erzählte ihr, Boston sei ebenfalls im Gespräch gewesen - es wäre passender gewesen -, aber jemand aus der Gruppe um Larue hatte erkannt, dass dort, so dicht am Schauplatz der Tragödie, die Emotionen zu hoch kochen könnten. Außerdem hoffte die Larue-Seite, dass weniger Familienangehörige den Weg nach New York auf sich nehmen würden.
Cram setzte sie am Bürgersteig vor dem H o t e l ab und fuhr auf den nahe gelegenen Parkplatz. Grace blieb einen M o m e n t auf der Straße stehen und versuchte, sich zu sammeln. Ihr Handy klingelte. Sie warf einen Blick auf das Display. Die Nummer des Anrufers war ihr unbekannt. Die Vorwahl lautete 617. Das war die Region v o n Boston, falls sie sich richtig erinnerte.
»Hallo?« »Hallo. David Roff hier.« Sie war dicht am Times Square mitten in New York. Es herrschte ein unheimliches Gedränge. Niemand schien zu reden. Keine Hupen ertönten. Dennoch war der Lärm ohrenbetäubend. »Wer?« »Vermutlich kennen Sie m i c h eher als Crazy Davey. Aus meinem Internettagebuch. Hab Ihre E-Mail bekommen. Passt es gerade nicht?« »Nein, überhaupt nicht.« Grace merkte, dass sie brüllte, um gehört zu werden. Sie hielt sich das andere O h r zu. »Danke, dass Sie sich melden.« »Schien dringend zu sein.« »Ist es auch. Sie erwähnen auf Ihrer Website eine Band namens Allaw.« »Richtig.« »Ich versuche alle Informationen über die Gruppe zu bekommen, die i c h kriegen kann.« »Dachte ich mir schon. Aber ich glaube nicht, dass ich helfen kann. Ich hab die nur mal an einem A b e n d gehört. Ich und meine Kumpels sind in der Nacht regelrecht versackt. W i r haben Mädels kennen gelernt, viel getanzt und noch mehr getrunken. Hinterher haben wir m i t der Band gesprochen. Deshalb erinnere ich m i c h noch so gut.« »Ich heiße Grace Lawson. Jack ist m e i n Mann.« »Lawson? Das war doch der Bandleader, oder? Erinnere m i c h an ihn.« »Waren die gut?«
»Die Band? Also daran erinnere ich m i c h nicht w i r k l i c h . Aber ich glaube schon. Bereiten Sie eine Überraschung für i h n vor oder was?« »Überraschung ?« »Ja, eine Überraschungsparty oder ein A l b u m v o n den alten Zeiten.« »Ich versuche nur Informationen über die Bandmitglieder zu kriegen.« »Wünschte, ich könnte helfen. Glaube nicht, dass die Band lange bestanden hat. Hab nie wieder v o n ihr gehört. Aber ich weiß, dass sie noch einen A u f t r i t t in der Lost Tavern hatten. Das war in Manchester. Mehr kann ich leider nicht bieten.« »Trotzdem vielen Dank für Ihren Anruf.« »Gern geschehen. O h , warten Sie. Da fällt mir noch was ein.« » u n d das wäre?« »Der A u f t r i t t von Allaw in Manchester. Da waren sie die Aufwärmband für Still Night.« Massen v o n Fußgängern drängten sich an ihr vorbei. Grace presste sich m i t dem Rücken flach an eine Mauer, um ihnen auszuweichen. »Still Night kenne ich nicht.« »Die kennen auch nur ausgekochte Musikfreaks. Hat auch nicht lange existiert. Jedenfalls nicht in der Zusammensetzung.« In der Leitung knackte und knisterte es, doch Grace konnte noch die folgenden Worte v o n Crazy Davey deutlich hören: »Aber ihr Leadsänger war Jimmy X.« Grace fühlte, wie jede Kraft aus ihrer Hand schwand, die das Handy hielt. »Hallo?« »Ich b i n noch da«, sagte Grace. »Sie wissen doch, wer Jimmy X ist, oder? >Pale Ink Das Massaker v o n Boston?« »Ja.« Ihre Stimme klang wie von einem anderen Stern. »Ich erinnere mich.«
Cram kam v o m Parkplatz zurück. Er sah ihr Gesicht und ging schneller. Grace dankte Crazy Davey und legte auf. Seine N u m mer war in ihrem Handy gespeichert. Sie konnte i h n jederzeit zurückrufen. »Alles in Ordnung?« Sie versuchte das Kältegefühl abzuschütteln. Es gelang ihr nicht. » M i r geht's gut«, brachte sie schließlich leise heraus. »Wer war das am Telefon?« »Sind Sie jetzt schon mein Sekretär?« »Schon gut.« Er hob die Hände. »War nur eine Frage.« Sie gingen ins Crowne Plaza, Grace versuchte, das eben Gehörte zu verarbeiten. Ein Zufall. Mehr nicht. Ein bizarrer Zufall. Ihr M a n n hatte i n einer Studentenband gespielt. Das traf auf M i l lionen andere zu. U n d zufällig war er in derselben kleinen Kneipe aufgetreten wie Jimmy X. Na und? Sie hatten offenbar zur selben Zeit in derselben Gegend gelebt. Das musste mindestens ein, wenn n i c h t gar zwei Jahre vor dem Massaker v o n Boston gewesen sein. U n d Jack hatte es ihr gegenüber vermutlich nie erwähnt, weil er es für unwichtig hielt und er Angst hatte, es könne sie aufregen. Ein Jimmy-X-Konzert hatte sie traumatisiert. Sie war dadurch für ihr Leben gezeichnet. Also hatte er keine Notwendigkeit darin gesehen, diesen unwichtigen Umstand zu erwähnen. Nichts Weltbewegendes, oder? Abgesehen davon, dass Jack nie ein W o r t darüber verloren hatte, jemals in einer Band gespielt zu haben. Abgesehen davon, dass die Mitglieder v o n Allaw mittlerweile alle entweder t o t oder gerade n i c h t auffindbar waren. Sie versuchte etwas Ordnung in diese bruchstückhaften Informationen zu bringen. W a n n genau war Geri Duncan eigentlich ermordet worden? Grace war in physiotherapeutischer Behandlung gewesen, als sie v o n dem Brand im Studentenheim gelesen hatte. Das bedeutete, es musste einige Monate nach dem Massaker gewesen sein. Grace nahm sich vor, das genaue Datum heraus-
zufinden. Außerdem musste sie den exakten zeitlichen A b l a u f der Ereignisse überprüfen, denn wenn sie ehrlich war, konnte die Verbindung zwischen Allaw und Jimmy X einfach k e i n Zufall sein. Aber wie h i n g das alles zusammen? Nichts v o n alledem ergab einen Sinn. Sie ging noch einmal alles durch. Ihr M a n n spielte in einer Band. Bei einer Gelegenheit trat diese Gruppe zusammen m i t einer Band auf, zu der Jimmy X gehört hatte. E i n oder zwei Jahre später - das hing davon ab, ob Jack damals im ersten oder zweiten Studienjahr gewesen war - singt der inzwischen berühmte Jimmy X bei einem Konzert, das auch sie, Grace Sharpe, besucht. Die Veranstaltung endet in Chaos und Panik. Sie wird dabei schwer verletzt. Weitere drei Jahre vergehen. Sie trifft Jack Lawson auf einem anderen Kontinent und sie verlieben sich. Es passte alles nicht zusammen. Der Aufzug kam im Erdgeschoss an. »Sind Sie w i r k l i c h okay?«, fragte Cram. »Mir geht's blendend.« »Wir haben noch zwanzig M i n u t e n , bevor die Pressekonferenz beginnt. Dachte, es ist besser, Sie gehen da allein rein, wenn Sie sich Ihre Schwägerin vorher noch schnappen wollen.« »Sie sind eine sprudelnde Quelle guter Ideen, Cram.« Die Türen öffneten sich. »Dritter Stock«, sagte er noch. Grace trat ein. Sie war allein. V i e l Zeit blieb ihr nicht. Sie zückte ihr Handy und die Karte, die Jimmy X ihr gegeben hatte. Sie wählte die Nummer. Die Stimme seiner Mailbox ertönte. Grace wartete auf den Piepton. »Ich weiß, dass Still Night zusammen m i t Allaw aufgetreten ist. Rufen Sie m i c h an.« Sie hinterließ ihre Nummer und legte auf. Der Lift hielt. A l s sie hinaustrat, empfing sie eines dieser schwarzen Schilder m i t den auswechselbaren weißen Buchstaben, die den Weg zu Ratzenbergs Bar-Mizwa oder der Hochzeit der Familie Smith-Jones
wies. Dieses besagte: »Burton & Crimstein Pressekonferenz.« Sie folgte dem Pfeil zu einer Tür, holte tief Luft und stieß sie auf. Das Ganze erinnerte sie an eine Szene in einem Gerichtsfilm an jenen dramatischen Höhepunkt, wenn die Überraschungszeugin durch die Schwingtüre t r i t t . A l s Grace den Saal betrat, schienen alle die Luft anzuhalten. Es wurde schlagartig still. Grace kam sich verloren vor. Sie sah sich um, und was sie sah, machte sie ganz schwindelig. Sie trat einen Schritt zurück. Die trauernden Gesichter, älter zwar, doch keineswegs geläuterter, verschwammen vor ihren Augen. Da waren sie wieder - die Garrisons, die Reeds, die Weiders. Ihre Gedanken schweiften zurück zu den Anfangstagen im Krankenhaus. Sie hatte alles wie durch einen Nebel, wie durch einen Duschvorhang gesehen. Jetzt war es wieder so. Sie kamen stumm zu ihr. Sie umarmten sie. Keiner sprach ein W o r t . Das war nicht nötig. Grace nahm die Umarmungen h i n . Sie fühlte noch immer die Trauer, die diese Leute umfing. Sie erkannte die W i t w e von Lieutenant Gordon MacKenzie. Einige behaupteten, er habe Grace in Sicherheit gebracht. W i e die meisten echten Helden hatte Gordon MacKenzie nur selten darüber gesprochen. Er behauptete, sich n i c h t erinnern zu k ö n nen, was genau er getan habe, aber ja, er habe die Türen geöffnet und Leute herausgezogen, jedoch eher aus einem Reflex heraus als aus Tapferkeit. Grace umarmte Mrs. MacKenzie besonders herzlich. »Mein herzliches Beileid«, sagte Grace. »Er ist jetzt beim lieben Gott.« Mrs. MacKenzie hielt sie fest. Darauf gab es eigentlich keine A n t w o r t . Grace nickte ledigl i c h . Sie ließ sie los und sah über ihre Schulter. Sandra Koval hatte den Saal durch eine Seitentür betreten. Fast gleichzeitig entdeckte sie Grace, und es geschah etwas Seltsames. Ihre Schwägerin lächelte, beinahe als habe sie diese Begegnung erwartet. Grace trat v o n Mrs. MacKenzie zurück. Sandra neigte
leicht den Kopf, zum Zeichen, sie solle zu ihr kommen. Die A b sperrung aus einer Samtkordel trennte sie. Ein Sicherheitsbeamter vertrat ihr den Weg. »Schon gut, Frank«, sagte Sandra. Er ließ Grace passieren. Sandra ging voraus. Sie eilte einen Gang entlang. Grace hinkte hinterher, unfähig, m i t ihr Schritt zu halten. Sandra blieb stehen und öffnete eine Tür. Sie betraten einen riesigen Ballsaal. Ober waren damit beschäftigt, Tafelsilber aufzudecken. Sandra führte sie in eine Ecke. Sie griff sich zwei Stühle und stellte sie einander gegenüber. »Du scheinst nicht überrascht, m i c h zu sehen«, begann Grace. Sandra zuckte die Achseln. »Ich dachte mir, dass du den Fall in den Medien verfolgst.« »Habe ich nicht.« »Ist auch egal, schätze ich. Bis vor zwei Tagen wusstest du nicht einmal, wer ich bin.« »Was geht hier vor, Sandra?« Sie antwortete nicht sofort. Das leise Klirren des Silbers b i l dete den musikalischen Hintergrund. Sandras Blick schweifte zu den Obern in der Saalmitte. »Warum vertrittst du Wade Larue?« » M a n hat i h m ein Verbrechen vorgeworfen. I c h b i n Strafanwältin. Das ist mein Beruf.« »Sei n i c h t so verdammt belehrend.« »Du willst wissen, wie ich ausgerechnet zu diesem Mandanten gekommen bin. Ist es das?« Grace sagte nichts. »Liegt das nicht auf der Hand?« »Nicht für mich.« »Du bist es, Grace.« Sie lächelte. »Du bist der Grund, weshalb ich Mr. Larue vertrete.« Grace machte den M u n d auf, machte i h n wieder zu und versuchte es noch einmal. »Wovon redest du überhaupt?«
»Du hast nichts v o n mir gewusst. Du hast nur gewusst, dass Jack eine Schwester hat. Aber i c h wusste alles über dich.« »Ich kann noch immer n i c h t ganz folgen.« »Es ist ganz einfach, Grace. Du hast meinen Bruder geheiratet.«
»Und?« »Als i c h erfuhr, dass du meine Schwägerin werden würdest, wurde ich neugierig. I c h wollte mehr über dich erfahren. Ist doch verständlich, oder? I c h habe einen meiner Ermittler beauftragt, Nachforschungen über dich anzustellen. Deine Bilder sind übrigens wunderbar. Ich habe zwei gekauft. Sie hängen bei mir zu Hause in Los Angeles. W i r k l i c h großartige Kunst. Meine älteste Tochter, Karen - sie ist siebzehn - liebt sie. Sie möchte M a l e r i n werden.« »Ich verstehe nicht, was das m i t Wade Larue zu t u n hat.« » W i r k l i c h nicht?« Ihre Stimme klang seltsam heiter. »Seit meinem Juraexamen arbeite ich als Strafverteidigerin. Angefangen habe i c h bei Crimstein in Boston. I c h habe dort gelebt, Grace. I c h wusste alles über das Massaker von Boston. U n d dann hat sich mein Bruder in eine der Hauptbeteiligten verliebt. Das hat meine Neugier nur noch mehr angestachelt. I c h habe angefangen, mehr über den Fall zu lesen - und weißt du, was mir dabei klar geworden ist?« »Was denn?« »Dass Wade Larue v o n einem unfähigen A n w a l t um die besten Jahre seines Lebens gebracht worden ist.« »Wade Larue war für den Tod v o n achtzehn Menschen verantwortlich.« »Er hat einen Schuss abgefeuert, Grace. U n d n i c h t mal jemanden getroffen. Die Lichter gingen aus. Menschen schrien. Er stand unter Alkoholeinfluss. Er geriet in Panik. Er glaubte - oder bildete es sich zumindest w i r k l i c h ein -, in unmittelbarer Gefahr zu schweben. Es gab zu diesem Zeitpunkt keine, überhaupt keine Möglichkeit, abzusehen, was er damit angerichtet hat. Sein ers-
ter A n w a l t hätte einen Deal aushandeln müssen. Bewährungsstrafe, höchstens achtzehn Monate. Aber niemand wollte diesen Fall übernehmen. Larue schickte man ins Gefängnis, damit er dort verrotten sollte. Tja, Grace, wegen dir habe i c h über i h n gelesen. Wade Larue war beschissen worden. Sein A n w a l t hat die Sache vermasselt und i h n dann allein gelassen.« »Deshalb hast du den Fall übernommen?« Sandra K o v a l nickte. »Pro bono. Vor zwei Jahren sind w i r zusammengekommen. Seither haben w i r den A n t r a g auf Entlassung auf Bewährung vorbereitet.« Bei Grace fiel der Groschen. »Jack hat es gewusst, stimmt's?« »Das kann i c h n i c h t sagen. W i r sprechen n i c h t miteinander, Grace.« »Willst du n o c h immer behaupten, du hättest an jenem A b e n d nicht m i t i h m telefoniert? N e u n M i n u t e n , Sandra. Die Telefongesellschaft hat ein Telefonat v o n neun M i n u t e n registriert.« »Jacks A n r u f hatte nichts m i t Wade Larue zu tun.« » W o m i t hatte er dann zu tun?« » M i t dem Foto.« »Was war damit?« Sandra beugte sich vor. »Zuerst beantworte mir eine Frage. U n d ich möchte die Wahrheit hören. Woher hast: du dieses Foto?« »Habe i c h dir schon gesagt. Es steckte zwischen den Abzügen meines Films.« Sandra schüttelte ungläubig den Kopf. » U n d du glaubst, der Typ aus dem Fotolabor hat es unter die Fotos geschmuggelt?« »Da b i n i c h nicht mehr so sicher. Aber du hast mir noch nicht gesagt... weshalb dieses Foto Jack veranlasst hat, d i c h anzurufen.« Sandra zögerte. »Ich weiß über G e r i Duncan Bescheid«, sagte Grace. »Du weißt was über G e r i Duncan?« »Sie ist das Mädchen auf dem B i l d . U n d sie wurde ermordet.«
Sandra richtete sich abrupt auf. »Sie ist bei einem Zimmerbrand ums Leben gekommen. Es war ein Unfall.« Grace schüttelte den Kopf. »Das Feuer ist vorsätzlich gelegt worden.« »Wer hat dir das erzählt?« »Ihr Bruder.« »Moment! Woher kennst du ihren Bruder?« »Sie war schwanger, musst du wissen. Ich meine, Geri Duncan. A l s sie bei diesem Brand ums Leben kam, war sie guter Hoffnung.« Sandra starrte Grace entsetzt an. »Grace, was machst du da eigentlich?« »Ich versuche, meinen M a n n zu finden.« »Und du glaubst, das hilft dir weiter?« »Gestern hast du behauptet, keine der Personen auf dem Foto zu kennen. Aber eben hast du zugegeben, Geri Duncan zu kennen. Du hast gewusst, dass sie bei einem Brand umgekommen ist.« Sandra schloss die Augen. »Hast du Shane A l w o r t h oder Sheila Lambert gekannt?« Ihre Stimme war leise. »Nein, n i c h t wirklich.« »Nicht wirklich? Die Namen sind dir also nicht völlig fremd?« »Shane A l w o r t h war ein Klassenkamerad v o n Jack. Sheila Lambert, glaube ich, war eine Freundin v o m College. Na und?« »Hast du gewusst, dass die vier zusammen in einer Band gespielt haben?« »Vielleicht einen Monat lang. Also was soll das?« »Die fünfte Person auf dem Foto. Die, die den Kopf abgewandt hat. Weißt du, wer das ist?« »Nein.« »Bist du es, Sandra?« Sie sah zu Grace auf. »Ich?« »Ja. Bist du's?« E i n seltsamer Ausdruck trat in Sandras Gesicht. »Nein, Grace. Das b i n nicht ich.«
»Hat Jack Geri Duncan umgebracht?« Die Worte sprudelten einfach so aus ihr heraus. Sandra riss die Augen auf, als habe sie eine Ohrfeige bekommen. »Bist du übergeschnappt?« »Ich w i l l nur die Wahrheit wissen.« »Jack hatte m i t ihrem Tod nichts zu tun. Er war zu dem Zeitpunkt bereits in Europa.« »Warum ist er dann bei diesem Foto ausgeflippt?« Sie zögerte. »Warum, verdammt noch mal?« »Weil er bis zu dem Zeitpunkt n i c h t gewusst hat, dass Geri tot ist.« Grace war verwirrt. »Waren die beiden ein Liebespaar?« »Liebespaar«, wiederholte sie, als sei das ein völlig neues W o r t für sie. »Das ist ein reichlich erwachsener Ausdruck für das, was die beiden waren.« »War sie nicht m i t Shane A l w o r t h zusammen?« »Schätze schon. Aber sie waren doch alle noch Kinder.« »Jack hat m i t der Freundin seines Freundes rumgemacht?« »Keine A h n u n g , wie eng befreundet Jack und Shane gewesen sind. Aber ja, Jack hat m i t ihr geschlafen.« Grace schwirrte der Kopf. »Und Geri Duncan wurde schwanger.« »Darüber weiß i c h nichts.« »Aber du weißt, dass sie tot ist.«
»Ja.« »Und du weißt, dass Jack sich aus dem Staub gemacht hat.« »Bevor sie umgekommen ist.« »Bevor sie schwanger wurde?« »Ich hab doch schon gesagt. I c h hatte keine A h n u n g , dass sie schwanger war.« »Und was hat Jack gesagt, als er dich angerufen hat?« Sie seufzte tief. Ihr Kopf sank nach vorn. Einen M o m e n t war sie still.
»Sandra?« »Hör mal. Das Foto muss - fünfzehn, sechzehn Jahre alt sein. Als du es ihm einfach so, aus heiterem Himmel, gegeben hast... was glaubst du wohl, ist da in ihm vorgegangen? Vor allem angesichts der Tatsache, dass über Geris Gesicht ein dickes X gemalt war? Jack ist an seinen Computer gegangen. Er hat eine Suche übers Internet gestartet - ich glaube, er hat das Archiv des Boston Globe benutzt. Er hat herausgefunden, dass sie schon seit Jahren tot ist. Deshalb hat er mich angerufen. Er wollte wissen, was ihr zugestoßen ist. Ich hab's ihm gesagt.« »Du hast ihm was gesagt?« »Was ich wusste - dass sie bei einem Unfall ums Leben gekommen ist.« »Warum sollte das Jack veranlassen, wegzulaufen?« »Das weiß ich nicht.« »Warum hat er sich damals überhaupt nach Europa abgesetzt?« »Du musst endlich damit aufhören.« »Was ist mit den fünf jungen Leuten passiert, Sandra?« Sie schüttelte den Kopf. Grace ergriff Sandras Hände. »Ich glaube, er steckt in Schwierigkeiten.« »Dann hilft das, was ich weiß, ihm auch nicht.« »Man hat heute meine Kinder bedroht.« Sandra schloss die Augen. »Hast du gehört?« Ein Mann im eleganten Anzug öffnete die Tür. »Es ist Zeit, Sandra!«, verkündete er. Sandra nickte. Sie entzog Grace ihre Hände, stand auf und strich ihr Kostüm glatt. »Du musst damit aufhören, Grace. Geh nach Hause. Beschütze deine Familie. Das würde Jack von dir erwarten.«
38 Die Drohung im Supermarkt hatte nicht gewirkt. Wu war nicht überrascht. Er war in einem sozialen Umfeld groß geworden, das die Macht der Männer und die Unterwerfung der Frau begünstigt hatte. Wu allerdings hatte das stets eher als Wunsch denn als Tatsache empfunden. Frauen waren zäher. Sie waren unberechenbarer. Sie konnten Schmerzen besser ertragen - das wusste er aus persönlicher Erfahrung. Ging es darum, ihre Lieben zu beschützen, waren sie bei weitem skrupelloser. Männer opferten sich aus Männlichkeitswahn, Dummheit oder in dem blinden Glauben, dass sie nur gewinnen konnten. Frauen opferten sich, ohne sich irgendetwas vorzumachen. Er war von Anfang an gegen diese Drohgebärde gewesen. Mit Drohungen schuf man sich Feinde und Unwägbarkeiten. Grace Lawson schon zu einem früheren Zeitpunkt zu eliminieren, wäre dagegen reine Routine gewesen. Sie im Nachhinein auszuschalten, war erheblich riskanter. Wu musste zurückkehren und die Sache selbst in die Hand nehmen. Er stand in Beatrice Smith' Duschkabine und färbte sein Haar in seiner ursprünglichen Farbe. Normalerweise färbte er es hellblond. Und zwar aus zwei Gründen. Der erste war von. grundsätzlicher Natur: Er gefiel sich mit blondem Haar. Vielleicht war es Eitelkeit, aber wenn Wu in den Spiegel sah, fand er, dass das Surfer-Blond seines mit Gel gestylten Haares gut an ihm aussah. Grund Nummer zwei, die Farbe - ein grelles Gelb - war insofern nützlich, als sich die meisten daran erinnerten. Sobald er sein Haar wieder typisch asiatisch schwarz und glatt gekämmt trug, und seine hippe Bekleidung mit einem konservativen Outfit vertauschte und eine randlose Brille aufsetzte, war die Verwandlung täuschend perfekt.
Er packte Jack Lawson und schleifte i h n in den Keller h i n u n ter. Lawson leistete keinen Widerstand. Er war kaum noch bei Bewusstsein. Es ging i h m nicht gut. Seine Psyche war stark angeschlagen. Er war auf dem besten Weg, sich aufzugeben. Seine Tage waren gezählt. Der Keller war nur teilweise ausgebaut und feucht. Wu erinnerte sich an ein ähnliches Szenario in San Mateo, Kalifornien. Die Instruktionen waren präzise gewesen. M a n hatte i h n engagiert, einen M a n n genau exakt acht Stunden lang zu foltern warum ausgerechnet acht Stunden, hatte Wu nie erfahren - und i h m dann A r m e und Beine zu brechen. Wu hatte die Bruchstellen so gewählt, dass sie neben Nervensträngen oder dicht unter der Hautoberfläche lagen. Jede Bewegung, auch die leichteste, verursachte unerträgliche Schmerzen. Wu hatte den Keller abgeschlossen und den M a n n allein gelassen. Einmal pro Tag hatte er nach i h m gesehen. Der M a n n hatte i h n angefleht, doch Wu war stumm und hart geblieben. N a c h elf Tagen war der M a n n verhungert. Wu kettete Lawson an ein solide aussehendes Abflussrohr. Zusätzlich fesselte er i h m die Hände auf den Rücken an einen Pfeiler. Er steckte den Knebel wieder in seinen M u n d . Dann beschloss er, die Fesseln zu überprüfen. »Sie hätten sich jeden einzelnen Abzug v o n diesem Foto beschaffen sollen«, flüsterte W u . Jack Lawsons Augäpfel kippten nach oben. »Jetzt muss ich Ihrer Frau einen Besuch abstatten.« Ihre Blicke trafen sich. Es verging eine Sekunde, n i c h t mehr, dann kam Leben in Lawson. Er begann heftig m i t den A r m e n zu zucken. Wu beobachtete i h n . Ja, das war ein guter Test. Lawson kämpfte mehrere M i n u t e n lang wie ein Fisch an der Angelschnur. Keine Fessel löste sich. Wu ließ den noch immer m i t seinen Ketten Kämpfenden allein, um Grace Lawson zu finden.
39 Grace wollte n i c h t zur Pressekonferenz bleiben. Im gleichen Raum m i t all den Trauernden ausharren zu müssen ... Sie benutzte das W o r t »Aura« ungern, aber es passte irgendwie. Der Saal hatte eine schlechte Aura. Gebrochene Menschen starrten sie m i t einer Sehnsucht an, die sie beinahe körperlich spürte. N a t ü r l i c h hatte Grace Verständnis dafür. Sie war n i c h t länger das Bindeglied zu den verlorenen K i n d e r n dieser Leute - dazu war zu v i e l Zeit vergangen. Jetzt war sie die Überlebende. Sie war da, lebendig, atmend, während ihre K i n der in ihren Gräbern verrotteten. An der Oberfläche war da noch Zuneigung, doch unterschwellig fühlte Grace ihre W u t über die Ungerechtigkeit des Schicksals. Sie hatte überlebt — ihre Kinder nicht. Die Jahre hatten sie n i c h t geläutert. Jetzt, da Grace selbst Kinder hatte, hatte sie ein gewisses Verständnis für ihr Verhalten. Vor fünfzehn Jahren war sie dazu noch n i c h t in der Lage gewesen. Sie wollte gerade zur Hintertür hinausschlüpfen, als sich eine H a n d fest um ihr Handgelenk schloss. Sie drehte sich um. Es war Carl Vespa. » W o h i n wollen Sie?«, fragte er. »Nach Hause.« »Ich nehme Sie mit.« »Nicht nötig. Ich rufe ein Taxi.« Der G r i f f um ihr Handgelenk wurde einen Moment fester, und erneut glaubte Grace zu sehen, wie etwas grell in seinen Augen aufflackerte. »Bleiben Sie«, sagte er. Das war keine Bitte. Ihr Blick glitt prüfend über sein Gesicht. Es blieb seltsam unbewegt. Zu unbewegt. Sein Verhalten - das so gar n i c h t in die Umgebung passen wollte, das so anders war als die W u t , die sie am Vorabend gesehen hatte - jagte ihr erneut
Angst ein. War das w i r k l i c h der M a n n , dem sie das Leben ihrer Kinder anvertraute? Sie setzte sich neben i h n und beobachtete, wie Sandra Koval und Wade Larue auf dem Podium Platz nahmen. Sandra zog das M i k r o p h o n zu sich heran und eröffnete die Veranstaltung m i t den üblichen Sprüchen über Vergebung, Neuanfang und Resozialisierung. Grace beobachtete, wie die Gesichter um sie herum immer verschlossener wurden. Einige weinten. Andere spitzten die Lippen. Wieder andere schüttelten ostentativ den Kopf. Carl Vespa tat nichts v o n alledem. Er schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück. Er verfolgte die Prozedur m i t einer Gelassenheit, die sie mehr ängstigte, als es die finsterste Miene hätte tun können. Fünf M i n u t e n nachdem Sandra Koval m i t ihrer Einlassung begonnen hatte, schweifte Vespas Blick zu Grace. Er sah, dass sie i h n beobachtete. D a n n tat er etwas, das ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Er blinzelte ihr zu. »Kommen Sie!«, flüsterte er. »Machen wir, dass wir hier rauskommen!« N o c h während Sandra in ihrer Ansprache fortfuhr, erhob sich Carl Vespa und ging zur Tür. Köpfe drehten sich um, und es wurde plötzlich ganz still im Saal. Grace folgte i h m . Sie fuhren schweigend m i t dem Aufzug hinunter. Die Limousine stand bereits vor dem Eingang. Der große, bullige Kerl saß hinter dem Steuer. »Wo ist Cram?«, fragte Grace. »Er hat was zu erledigen«, antwortete Vespa, und Grace glaubte, den A n f l u g eines Lächelns zu erkennen. »Erzählen Sie mir v o n Ihrem Gespräch m i t Mrs. Koval.« Grace gab die Unterhaltung m i t ihrer Schwägerin wieder. Vespa blieb stumm, starrte aus dem Fenster, während sein Zeigefinger rhythmisch gegen sein K i n n trommelte. Als sie geendet hatte, fragte er: »Ist das alles?«
»Ja.«
»Sind Sie sicher?« Sein schnippischer T o n gefiel ihr nicht. »Was ist m i t Ihrem ...« Vespa sah auf, schien nach dem richtigen W o r t zu suchen. »Besucher v o n neulich?« »Sie meinen Scott Duncan?« Vespas Grinsen mutete seltsam an. »Sie sind sich natürlich bewusst, dass Scott Duncan für den Generalstaatsanwalt arbeitet.« »Gearbeitet hat«, korrigierte sie. »Ja, gearbeitet hat.« Es klang alles zu salopp. »Was hat er v o n Ihnen gewollt?« »Das habe ich Ihnen schon gesagt.« » A c h wirklich?« Er verlagerte sein Gewicht in den Polstern, ohne sie anzusehen. »Haben Sie mir w i r k l i c h alles erzählt?« »Was soll das heißen?« »Nur eine Frage. War dieser Mr. Duncan in letzter Zeit Ihr einziger Besucher?« Grace gefiel die Wendung, die das Gespräch nahm, immer weniger. Sie zögerte. »Niemand sonst, v o n dem Sie mir erzählen möchten?« Sie wollte in seinen Zügen nach einem Fingerzeig suchen, doch er hielt den Kopf abgewandt. W o v o n redete er? Sie überlegte, ging die vergangenen Tage noch einmal durch ...
Jimmy X? War es möglich, dass Vespa erfahren hatte, dass Jimmy X nach seinem Konzert kurz bei ihr gewesen war? M ö g l i c h war es natürl i c h . Schließlich hatte er Jimmy X als Erster wieder entdeckt also wäre es nur logisch, wenn er i h n beschatten ließ. W i e also sollte Grace sich verhalten? W e n n sie jetzt etwas sagte, würde das die Verstimmung noch vertiefen? Vielleicht wusste er nichts v o n Jimmy. Vielleicht geriet sie nur noch mehr in Schwierigkeiten, wenn sie jetzt den M u n d aufmachte. Leg d i c h n i c h t gleich fest, ermahnte sie sich. Warte ab, wo die Reise hingeht. »Ich weiß, ich habe Sie um Hilfe gebeten«, sagte
sie in bestimmtem Ton. »Aber ich glaube, v o n jetzt an möchte ich das allein durchstehen.« Vespa drehte sich endlich zu ihr um und sah sie an. »Wirklich?« Sie wartete. »Warum, Grace?« »Wollen Sie die Wahrheit wissen?« »Ich würde es vorziehen.« »Sie machen mir Angst.« »Glauben Sie, ich würde Ihnen etwas antun?« »Nein.« »Aber?« »Ich glaube nur, dass es vielleicht das Beste i s t . . . « »Was haben Sie i h m über m i c h erzählt?« Die Kehrtwendung traf sie unvorbereitet. »Scott Duncan?« »Gibt es denn noch jemanden, m i t dem Sie über m i c h gesprochen haben?« »Wie? Nein.« »Also, was haben Sie Scott Duncan über m i c h gesagt?« »Nichts.« Grace versuchte nachzudenken. »Was könnte ich i h m denn schon sagen?« »Stimmt.« Er nickte wie zu sich selbst. »Aber Sie waren immer reichlich vage in Bezug auf den G r u n d für M r . Duncans Besuch.« Vespa faltete die Hände in seinem Schoß. » M i c h würden Einzelheiten interessieren. Sehr sogar.« Genau das wollte sie nicht - wollte n i c h t mehr, dass er sich m i t ihren Angelegenheiten befasste -, doch sie konnte sich dem nicht entziehen. »Es ist wegen seiner Schwester.« »Was ist m i t ihr?« »Erinnern Sie sich an das Mädchen, dessen Gesicht auf dem Foto durchgestrichen ist?« »ja.« »Ihr Name war Geri Duncan. Sie war seine Schwester.«
Vespa runzelte die Stirn. » U n d deshalb ist er zu Ihnen gekommen?«
»Ja.« »Weil seine Schwester auf dem Foto ist?« »ja.« Er lehnte sich zurück. »Also, was ist m i t ihr, m i t dieser Schwester?« »Sie ist vor fünfzehn Jahren bei einem Brand ums Leben gekommen.« U n d jetzt überraschte Vespa Grace. Er stellte keine weitere Frage. Er bat um keinerlei Erklärung. Er wandte sich einfach nur ab und starrte aus dem Fenster. Er sagte kein W o r t mehr, bis der Wagen in ihre Einfahrt einbog. Grace wollte die T ü r öffnen, um auszusteigen, doch sie war verriegelt. W i e bei der Kindersicherung in meinem Wagen, dachte sie. Der bullige Fahrer kam zu i h rer Seite und griff nach dem Türgriff. Sie wollte Carl Vespa fragen, was er n u n zu t u n gedenke, ob er sie in Ruhe lassen wolle, doch seine Körpersprache verbot es ihr. I h n überhaupt angerufen zu haben, war ein Fehler gewesen. U n d indem sie i h m jetzt sagte, dass sie seine Hilfe n i c h t mehr wollte, hatte sie möglicherweise alles noch schlimmer gemacht. »Meine Männer bleiben auf dem Posten, bis Sie Ihre Kinder v o n der Schule geholt haben«, erklärte er, ohne sie anzusehen. »Danach sind Sie auf sich allein gestellt.«
»Danke.« »Grace?« Sie sah zu i h m zurück. »Sie sollten m i c h nie belügen.« Seine Stimme war eisig. Grace schluckte schwer. Sie wollte etwas entgegnen, i h m sagen, dass sie nicht gelogen hatte, doch sie fürchtete, dadurch nur noch mehr in die Defensive zu geraten. A l s o nickte sie nur. Sie verabschiedeten sich nicht voneinander. Grace ging allein
die Auffahrt entlang. Sie schwankte, und daran war nicht nur ihr krankes Bein schuld. Was hatte sie getan? Sie fragte sich, was sie als Nächstes t u n sollte. Ihre Schwägerin hatte es am besten ausgedrückt: Beschütze die Kinder. Wäre Grace an Jacks Stelle, wäre sie aus irgendeinem Grund plötzlich verschwunden, dann wäre das auch ihr Wunsch gewesen. Denk nicht an mich, würde sie i h m sagen. Sorge für die Sicherheit der Kinder. Damit war ihre Rolle als Retterin ihres Mannes beendet, ob es ihr gefiel oder nicht. V o n n u n an war Jack auf sich allein gestellt. Sie würde packen. Sie wollte bis drei U h r warten, bis die Schule aus war, und dann würde sie die Kinder abholen und m i t ihnen nach Pennsylvania fahren. Sie würde sicher ein H o t e l finden, wo man keine Kreditkarte brauchte. Oder eine Pension. Oder ein Fremdenheim. Was auch immer. Sie würde die Polizei anrufen. Vielleicht sogar diesen Perlmutter. Sie würde i h m sagen, was los war. Aber zuerst musste sie die Kinder bei sich haben. Sobald sie in Sicherheit waren, sobald sie die beiden sicher in ihrem Wagen hatte und auf der Landstraße war, war alles in Ordnung. Sie erreichte ihre Haustür. A u f der Treppe lag ein Paket. Sie bückte sich und hob es auf. Die Schachtel trug einen Poststempel aus N e w Hampshire. Der Absender lautete: Bobby Dodd, Sunrise Seniorenwohnheim. Es waren Bob Dodds Papiere.
40 Wade Larue saß neben seiner A n w ä l t i n Sandra Koval. Er trug nagelneue Kleidung. Der Saal roch nicht nach Gefängnis, nicht nach jener scheußlichen Mischung aus Fäulnis und Desinfektionsmitteln, aus fetten Gefängniswärtern und U r i n , aus Rückständen jedweder A r t , die sich nicht beseitigen lassen und die
an sich schon ein seltsames Geruchsgemisch bildeten. E i n Gefängnis wird irgendwann zu deiner Welt, die Freilassung zu einem irrealen Tagtraum, unvorstellbar wie das Leben auf einem anderen Planeten. Wade Larue war m i t zweiundzwanzig hineingekommen. Jetzt war er siebenunddreißig. Das bedeutete, dass er den größten Teil seines Lebens als Erwachsener hinter G i t t e r n verbracht hatte. Dieser Geruch, dieser widerliche Gestank war alles, was er kannte. Ja, er war noch jung. Er hatte, wie Sandra Koval gebetsmühlenhaft wiederholte, sein ganzes Leben noch vor sich. Im Augenblick allerdings kam i h m das überhaupt nicht so vor. Eigentlich hatte eine Schulaufführung Wade Larues Leben ruiniert. Er war in einer Kleinstadt in Maine aufgewachsen, wo alle der einhelligen Meinung gewesen waren, dass Wade das Talent zum Schauspieler hatte. Er war ein lausiger Schüler. Er war ein mäßiger Sportler. Aber er konnte singen und tanzen, und was am wichtigsten war, er hatte, was einer der Reporter des Lokalblatts - nachdem er Wade in der Hauptrolle als N a t h a n Detroit in Guys and Dolls gesehen hatte - eine geradezu »übernatürliche Ausstrahlung« genannt hatte. Wade hatte jenes gewisse Etwas, jenes Unfassbare, das talentierte Möchtegerne v o n den echten Cracks unterscheidet. Vor seinem letzten Jahr an der Highschool rief Mr. Pearson, der Direktor der Theatergruppe, Wade in sein Büro, um i h m v o n seinem »ewigen Traum« zu erzählen. Mr. Pearson hatte v o n jeher den Wunsch gehegt, Don Quichotte zu inszenieren, hatte jedoch bis zu diesem Zeitpunkt - nie einen Schüler gehabt:, der in der Lage gewesen wäre, den Edlen v o n La Mancha zu verkörpern. Jetzt, zum ersten M a l , wollte er es m i t Wade wagen. A l s es jedoch September wurde, zog M r . Pearson fort, und M r . A r n e t t übernahm seinen Posten als Direktor. Er setzte: Vorsprechtermine an - normalerweise für Wade eine reine Formsache -, doch Mr. A r n e t t zeigte sich n i c h t beeindruckt. Zum Entsetzen der ganzen Stadt wählte er schließlich Kenny Thomas für die Haupt-
rolle aus, einen Nichtskönner. Kennys Vater war Buchmacher, und Mr. A r n e t t , so hielt sich das Gerücht, schuldete i h m zwanzig Lappen. Da brauchte man nur zwei und zwei zusammenzuzählen. Wade wurde die Rolle des Barbiers angeboten - eine winzige Nebenrolle -, und er schmiss alles h i n . U n d wie naiv er gewesen war: Er hatte geglaubt, sein Abgang werde einen Aufschrei der Empörung in der Stadt hervorrufen. High-Schools werden v o n unterschiedlichen Typen beherrscht: V o n dem gut aussehenden Quaterback. Dem Kapitän des Basketballteams. Dem Schuldirektor. Dem Hauptdarsteller einer jeden Schulaufführung. Larue war überzeugt gewesen, die ganze Stadt würde gegen die Ungerechtigkeit, die i h m widerfahren war, A m o k laufen. Aber niemand hatte den M u n d aufgemacht. Zuerst dachte Wade, sie hätten Angst vor Kennys Vater und dessen möglichen Mafiaverbindungen, aber die Wahrheit war viel einfacher: Es war ihnen egal. W a r u m sollten sie sich aufregen? Es ist so leicht, ins falsche Fahrwasser zu geraten. Der Grat ist schmal und rutschig, auf dem wir uns bewegen. Ein falscher T r i t t , die Unachtsamkeit eines Augenblicks, und manchmal, ja manchmal führt dann kein Weg mehr zurück. Drei Wochen später betrank Wade sich, brach in seine Schule ein und zerstörte die Kulissen für das Theaterstück. Er wurde v o n der Polizei geschnappt und von der Schule verwiesen. V o n da an ging's bergab. M i t der Zeit nahm Wade immer mehr Drogen, ging nach Boston, mischte im Drogengeschäft mit, l i t t unter Verfolgungswahn, trug eine Waffe. U n d jetzt war er hier auf diesem Podium gelandet, er ein bekannter Schwerverbrecher, dem man den Tod v o n achtzehn Menschen anlastete. Die Gesichter, die zu i h m aufsahen, waren ihm bereits aus seinem Prozess vor fünfzehn Jahren vertraut. Wade kannte die meisten mit Namen. Bei den Verhandlungen damals hatten sie i h n m i t einer Mischung aus Trauer und Verwirrung angesehen, wie benommen
von dem plötzlichen Schicksalsschlag. Damals hatte Wade sie verstanden, ja sogar Mitgefühl für sie empfunden. Jetzt, fünfzehn Jahre später, waren die Blicke feindseliger. Trauer und Verwirrung waren zu W u t und Hass kondensiert. Beim Prozess war Wade Larue diesen Blicken noch ausgewichen. Damit war es vorbei. Er trug den Kopf hoch erhoben. Er sah ihnen in die Augen. Sein Mitgefühl, sein Verständnis, war durch die ausgebliebene Bereitschaft, ihm zu vergeben, sichtbar reduziert worden. Er hatte nie die Absicht gehabt, jemandem ein Leid zuzufügen. Das wussten sie. Er hatte sich entschuldigt. Er hatte einen hohen Preis bezahlt. Sie, diese Familien, hatten ihren Hass dennoch gepflegt und konserviert. Zum Teufel m i t ihnen. Sandra Koval neben i h m seifte sie m i t ihrer Beredsamkeit ein. Sie sprach v o n Verzeihen und Vergeben, v o n Neuanfang und Sinneswandel, v o n Verständnis und dem menschlich verständlichen Wunsch nach einer zweiten Chance. Larue hörte einfach n i c h t mehr h i n . Er entdeckte Grace Lawson neben Carl Vespa. Beim A n b l i c k Vespas hätte i h n panische Angst ergreifen müssen, doch nein, auch darüber war er hinweg. Während der ersten Tage im Gefängnis war Wade übel zusammengeschlagen worden - zuerst v o n Leuten, die für Vespa arbeiteten, und dann v o n denen, die sich dadurch einen Vorteil versprachen. Wärter eingeschlossen. Wade war ein Gefangener seiner eigenen Angst geworden, und aus diesem Käfig hatte es kein Entrinnen gegeben. Die Angst war wie der Gestank ein natürlicher Bestandteil seines Lebens, seiner W e l t geworden. Vielleicht erklärte das, weshalb er mittlerweile gegen beides i m m u n war. Irgendwann hatte Larue in Waiden doch Freundschaften geschlossen. Aber entgegen alledem, was Sandra Koval jetzt ihrem Publikum erzählte, war ein Gefängnis keine Charakterschmiede. Eine Haftanstalt reduziert den Menschen auf die unterste Stufe seiner Existenz, auf den Zustand eines Primaten. U n d alles, was man nur anstellt, um zu überleben, ist niemals nett. Egal. Jetzt
war er draußen. Das gehörte der Vergangenheit an. Das Leben ging weiter. Aber noch nicht ganz. Im Saal herrschte mehr als normale Stille. Es war, als habe man die Luft aus dem Raum gepumpt. Die Familien saßen auf ihren Plätzen, physisch und psychisch unbewegt. Aber es ging keine Energie v o n ihnen aus. Sie waren innerlich leer, zerbrochen und machtlos. Sie konnten i h m nichts anhaben. N i c h t mehr. Plötzlich und ohne jede Vorwarnung stand Carl Vespa auf. Einen Augenblick lang - aber nur für einen Augenblick - geriet Sandra Koval aus dem Konzept. Grace Lawson erhob sich ebenfalls. Wade Larue verstand nicht, was die beiden miteinander zu schaffen hatten. Es ergab keinen Sinn. Er fragte sich, ob das etwas änderte, ob er Grace Lawson bald wieder sehen würde. War es von Bedeutung? A l s Sandra Koval geendet hatte, beugte sie sich zu i h m herüber und flüsterte: »Kommen Sie, Wade. Sie können den Hinterausgang nehmen.« Zehn M i n u t e n später, draußen in den Straßen von Manhattan, war Wade Larue zum ersten M a l seit fünfzehn Jahren ein freier M a n n . Sein Blick wanderte hinauf zu den Wolkenkratzern. Der Times Square war sein erstes Ziel. Hier war es laut und voller M e n schen - richtigen Menschen, keinen Häftlingen. Larue wollte keine Einsamkeit. N i c h t einmal nach grünen Wiesen oder Bäumen stand i h m der Sinn - die konnte man auch v o n seiner Gefängniszelle aus sehen, in der finsteren Provinz v o n Waiden. Er sehnte sich nach Lichtern und Geräuschen und Menschen, richtigen Menschen, keinen Häftlingen, und ja, vielleicht nach der Gesellschaft einer guten (oder besser unanständigen) Frau. Doch das musste warten. Wade Larue sah auf die Uhr. Es war fast so weit. Er wandte sich auf der 43rd-Street in westliche Richtung. N o c h
bestand eine Chance, den Rückzug anzutreten. Er war dem Port Authority Bus Terminal schmerzlich nahe. Er könnte einfach in einen Bus steigen, in irgendeinen Bus, und irgendwo neu anfangen. Er konnte seinen Namen ändern, vielleicht auch ein wenig das Aussehen, und es an einem Provinztheater versuchen. Er war noch jung. Er hatte noch immer dieses ungewöhnliche Charisma. Bald, dachte er. Er musste zuerst reinen Tisch machen. Die Sache hinter sich bringen. Bei seiner Entlassung hatte i h m einer der Häftlingsbetreuer den üblichen Vortrag darüber gehalten, dass die Freilassung für i h n entweder ein Neuanfang oder ein böses Ende bedeuten könne. Der Berater hatte Recht gehabt. Heute würde er entweder alles hinter sich lassen oder sterben. Wade bezweifelte, dass es einen M i t t e l w e g geben konnte. Vor sich entdeckte er eine schwarze Limousine. Er erkannte den M a n n , der m i t verschränkten A r m e n seitlich an einer T ü r lehnte. Er war der Erste gewesen, der Larue vor all den Jahren zusammengeschlagen hatte. Er hatte wissen wollen, was in der Nacht des Massakers von Boston geschehen war. Larue hatte i h m die Wahrheit gesagt: Er wusste es nicht. Jetzt wusste er es. »Hallo, Wade.« »Cram.« Cram öffnete den Wagenschlag. Wade Larue glitt auf den Rücksitz. Fünf M i n u t e n später fuhren sie auf dem West Side Highway dem Schlussakt entgegen.
41 Eric Wu beobachtete, wie die Limousine in der Auffahrt des Lawson-Hauses anhielt. Ein riesiger Kerl, der ganz und gar nicht wie ein Chauffeur aus-
sah, stieg aus, knöpfte mühsam das stramm sitzende Jackett zu und öffnete die rückwärtige Tür. Grace Lawson stieg aus. Sie ging auf ihre Haustür zu, ohne Abschied, ohne einen Blick zurück. Der riesige Kerl beobachtete noch, wie sie ein Paket aufhob und im Haus verschwand. Dann stieg er wieder in den Wagen und fuhr davon. Der riesige Kerl gab Wu Rätsel auf. Grace Lawson, so hatte man i h m gesagt, könne sich mittlerweile Personenschutz zugelegt haben. Sie war bedroht worden. Ihre Kinder waren bedroht worden. Der bullige Bursche war n i c h t v o n der Polizei. Da war Wu sicher. Aber ein Chauffeur war er ebenfalls nicht. Vorsicht war geboten. Wu begann in sicherem Abstand das Grundstück zu umkreisen. Es war ein klarer Tag. Bäume und Sträucher explodierten vor frischem Grün. Versteckmöglichkeiten gab es genug. Wu hatte k e i n Fernglas - was seine Aufgabe erleichtert hätte -, aber das spielte keine Rolle. N a c h wenigen M i n u t e n hatte er einen M a n n ausgemacht. Er war hinter der freistehenden Garage postiert. Wu schlich näher. Der M a n n sprach in ein Funkgerät. Wu horchte. Er fing nur Wortfetzen auf, aber das genügte. Im Haus war noch ein M a n n postiert. U n d vermutlich ein weiterer an der Grundstücksgrenze auf der anderen Straßenseite. Das war n i c h t gut. Wu rechnete sich dennoch gute Chancen aus. Allerdings musste er schnell zuschlagen. U n d dazu musste er zuerst wissen, wo der M a n n stand, der die andere Grundstücksgrenze bewachte. Den einen würde er m i t bloßen Händen, den anderen m i t der Waffe aus dem Verkehr ziehen. Dann würde er ins Haus stürmen. Leider war dadurch der M a n n im Inneren des Hauses bereits gewarnt. Trotzdem würde er m i t i h m fertig werden. Wu sah auf die Uhr. Zwanzig M i n u t e n vor drei. Er trat gerade den Rückzug um das Grundstück herum an, als die Hintertür des Hauses aufging. Grace trat ins Freie. Sie hatte einen Koffer in der Hand. Wu hielt inne und beobachtete sie. Sie
legte den Koffer in den Kofferraum ihres Wagens. Sie ging ins Haus zurück. Sie tauchte m i t einem zweiten Koffer und einem Paket wieder auf - dasselbe Paket, so schätzte er, das sie vor der Haustür aufgehoben hatte. Wu eilte zu dem Wagen zurück, den er benutzte - es war, Ironie des Schicksals, der Ford Windstar der Lawsons, allerdings hatte er an der Palisades M a l l das Nummernschild ausgetauscht und einige Aufkleber an der Stoßstange angebracht, um v o n diesem Umstand abzulenken. Die Leute erinnerten sich eher an Aufkleber als an Kennzeichen oder Automarken. Einer davon wies i h n als stolzen Elternteil eines Einser-Examensstudenten aus. E i n zweiter warb für die N e w York Knicks und lautete ONE T E A M , ONE N E W YORK. Grace Lawson setzte sich ans Steuer ihres Wagens und ließ den M o t o r an. Gut, dachte W u . Es war wesentlich einfacher, sich die Frau dort zu schnappen, wo - und egal wo - sie anhielt. Seine Instruktionen waren eindeutig. Er sollte herausfinden, was sie wusste, und die Leiche verschwinden lassen. Er schaltete die A u t o matik des Ford Windstar auf »Start« und ließ den Fuß auf der Bremse. Zuerst musste er feststellen, ob ihr jemand folgte. K e i n Wagen tauchte hinter ihr in der Einfahrt auf. Wu hielt Abstand. Andere Verfolger gab es nicht. Die Männer hatten offenbar nur den Auftrag, das Haus zu bewachen. Wu grübelte über den Koffer, ihr Fahrziel und über die Länge ihrer Reise nach. Er war überrascht, als sie plötzlich in kleine Nebenstraßen einbog. U n d noch erstaunter war er, als sie vor einem Schulhof anhielt. N a t ü r l i c h . Es war kurz vor drei Uhr. Sie holte ihre Kinder v o n der Schule ab. Er dachte wieder an die Koffer und was die zu bedeuten hatten. Beabsichtigte sie, die Kinder abzuholen und eine Reise anzutreten? W e n n ja, konnte das durchaus eine Fernreise sein. In diesem Fall würde es Stunden dauern, bevor sie wieder anhielt.
Wu wollte nicht stundenlang warten. Andererseits könnte sie ebenso gut nach Hause und in die Obhut der beiden Wächter auf dem Grundstück und des Mannes im Haus zurückkehren. Diese Alternative war auch nicht besser. Damit sah er sich den alten Problemen und in diesem Fall zusätzlich der Tatsache gegenüber, dass er es auch noch mit den Kindern zu tun hatte. Wu war weder blutrünstig noch sentimental. Er war Pragmatiker. Eine Frau zu verschleppen, deren Mann bereits verschwunden war, mochte Verdacht erregen, ja sogar ein Eingreifen der Polizei provozieren, aber wenn noch zwei Kinderleichen hinzukamen, dann brach die Hölle los. Nein, das war denkbar ungünstig, erkannte Wu. Es war am besten, sich Grace Lawson hier und jetzt zu schnappen. Bevor die Kinder aus der Schule kamen. Die Zeit drängte. Immer mehr Mütter trafen ein und standen in Gruppen zusammen, während Grace Lawson im Wagen blieb. Sie schien zu lesen. Es war zehn Minuten vor drei. Damit hatte Wu exakt zehn Minuten Zeit. Dann fiel ihm die erste Drohung ein. Sie hatten ihr gesagt, man würde ihre Kinder entführen. In diesem Fall musste er damit rechnen, dass auch die Schule überwacht wurde. Das musste er überprüfen. Und zwar schnell. Es dauerte nicht lange. Der Van parkte eine Querstraße weiter, am Ende einer Sackgasse. Offensichtlicher ging es nicht. Wu bedachte auch die Möglichkeit, dass mehr als ein Wagen involviert war. Er überflog hastig die Umgebung. Nichts zu sehen. Die Zeit lief ihm davon. Er musste handeln. In fünf Minuten war die Schule zu Ende. Sobald die Kinder auf der Bildfläche erschienen, würde das die Situation ins Unermessliche verkomplizieren. Wus Haar war wieder schwarz. Er setzte eine Goldrandbrille auf. Er trug weite, lässige Kleidung. Er versuchte sich den A n schein von Schüchternheit zu geben, als er auf den Van zuging. Er sah sich um, als habe er sich verlaufen. Er ging geradewegs zur
Hecktür und wollte sie gerade öffnen, als ein M a n n m i t Schweißperlen auf der Stirn seinen kahlen Schädel heraussteckte. »Was gibt's, Kumpel?« Der M a n n trug einen blauen Trainingsanzug. Unter der Jacke lugte sein dichtes, krauses Brusthaar hervor. Er war groß und vierschrötig. Wu streckte die rechte Hand aus und packte den M a n n am Hinterkopf. Dann schnellte sein A r m vor. Sein linker Ellbogen grub sich tief in den Adamsapfel des Mannes. Er durchbrach den Kehlkopf. Die Luftröhre knackte wie ein morscher Ast. Der M a n n ging in die Knie, sein Oberkörper zuckte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Wu stieß i h n in den Van und schlüpfte hinterher. D r i n n e n lagen ein Walkie-Talkie, ein Fernglas und eine Pistole. Wu steckte die Waffe in den Hosenbund. Der Oberkörper des Mannes zuckte noch immer wie w i l d . Lange würde er n i c h t mehr leben. Drei M i n u t e n bis die Schulklingel ertönen sollte. Wu schloss die Hecktür des Vans ab und lief zu der Straße zurück, wo Grace Lawson parkte. Mütter standen am Zaun, aufgereiht und erwarteten ihre Kinder. Grace Lawson war inzwischen aus dem Wagen gestiegen und wartete allein an der Straße. Das war gut. Wu ging auf sie zu.
* A u f der gegenüberliegenden Seite des Schulhofes dachte Charlaine Swain über Kettenreaktionen und Dominoeffekte nach. Hätten sie und M i k e keine Probleme gehabt. Hätte sie n i c h t aus dem Fenster gesehen, als Eric Wu sich gezeigt hatte. Hätte sie nicht das Schlüsselversteck geöffnet und die Polizei verständigt. Doch in dem Augenblick, als sie am Spielplatz vorbeiging, holte die Kettenreaktion sie erneut in der Gegenwart ein: Hätte M i k e n i c h t das Bewusstsein wieder erlangt, hätte er n i c h t darauf
bestanden, dass sie sich um die Kinder kümmerte, hätte Perlmutter sie n i c h t über Jack Lawson ausgefragt, nun, dann hätte Charlaine n i c h t in Grace Lawsons Richtung gesehen. Aber M i k e hatte darauf bestanden. Er hatte sie daran erinnert, dass die Kinder sie brauchten. Deshalb war sie hier. Holte Clay v o n der Schule ab. U n d Perlmutter hatte Charlaine gefragt, ob sie Jack Lawson kenne. A l s Charlaine daher den Schulhof erreichte, war es nur natürlich, wenn n i c h t unvermeidlich, dass sie hier nach der Frau dieses Mannes Ausschau hielt. U n d so kam es, dass Charlaine zu Grace Lawson hinübersah. Sie war versucht gewesen, Grace anzusprechen - denn eigentl i c h war das der G r u n d gewesen, weshalb sie Clay so bereitwillig v o n der Schule abholte -, doch dann sah sie, wie Grace ihr Handy zückte und zu telefonieren begann. Charlaine beschloss, sich zurückzuhalten. »Hallo, Charlaine!« Eine beliebte, für ihre Redseligkeit bekannte Mutter, die sich bisher nie dazu herabgelassen hatte, m i t Charlaine zu sprechen, stand plötzlich m i t gespielter Besorgnis im Gesicht vor ihr. In den Zeitungen war Mikes Familienname nicht erwähnt worden. Es wurde lediglich v o n einer Schießerei berichtet. D o c h in einer Kleinstadt funktionieren die Buschtrommeln ausgezeichnet. »Ich habe das m i t M i k e gelesen. Ist er okay?« »Bestens.« »Was ist passiert?« Zu ihrer Rechten baute sich eine andere Frau auf. Zwei weitere drängten nach. D a n n n o c h zwei. Sie kamen jetzt aus allen R i c h tungen, die Mütter, versperrten ihr den Weg und beinahe auch den Blick. Beinahe. Einen M o m e n t lang war Charlaine unfähig, sich zu bewegen. Sie stand wie erstarrt da und beobachtete, wie er sich Grace Lawson näherte.
Er hatte sein Äußeres verändert. Er trug jetzt eine Brille. Sein Haar war n i c h t mehr blond. Aber es gab keinen Zweifel. Es war derselbe M a n n . Es war Eric W u . N o c h in einer Entfernung v o n über dreißig Metern überlief e i n Schaudern Charlaine, als Wu seine H a n d auf Grace Lawsons Schulter legte. Sie beobachtete, wie er sich hinunterbeugte und ihr etwas ins O h r flüsterte. U n d dann sah sie, wie Grace Lawson erstarrte.
Grace wunderte sich über den Asiaten, der auf sie zukam. Sie erwartete, dass er an ihr vorbeigehen würde. Er war zu jung, um zur Elterngemeinde zu gehören. Grace kannte die meisten Lehrer. Er war keiner v o n ihnen. Vermutlich ein neuer Referendar. Das musste es sein. Sie dachte nicht weiter darüber nach. Sie hatte andere Sorgen. Grace hatte die Sachen für eine mehrtägige Reise gepackt. Sie hatte eine Cousine, die in der Nähe der Penn State University m i t t e n in Pennsylvania wohnte. Das war ein mögliches Ziel. Sie hatte sich nicht telefonisch angemeldet. Sie wollte keinerlei Spuren hinterlassen. Nachdem sie wahllos ein paar Kleidungsstücke in den Koffer geworfen hatte, zog sie die T ü r ihres Schlafzimmers zu. Sie nahm die kleine Pistole heraus, die Cram ihr gegeben hatte, und legte sie aufs Bett. Lange betrachtete sie sie einfach nur. Sie war v o n jeher eine leidenschaftliche Gegnerin v o n Waffen gewesen. W i e bei den meisten vernünftigen Menschten war die Vorstellung davon, was eine im Haus herumliegende Waffe anrichten konnte, Abschreckung genug. Aber wie Cram am Vortag treffend bemerkt hatte: M a n hatte das Leben ihrer Kinder bedroht. Die Trumpfkarte.
Grace schnallte sich das leichte Nylonhalfter um ihr gesundes Bein. Das Material kratzte und war unbequem. Sie tauschte i h ren Rock gegen Jeans m i t leicht ausgestellten Hosenbeinen. A u f diese Weise war die Waffe unsichtbar, ohne dass sie sich eingeengt fühlen musste. Sie griff sich Bob Dodds Paket m i t den Utensilien aus dessen Büro bei der New Hampshire Post und fuhr zur Schule. Sie hatte noch ein paar M i n u t e n Zeit, blieb im Wagen und schaute die Sachen durch. Grace hatte keine A h n u n g , was sie sich davon versprochen hatte. Das Paket enthielt eine Menge Schreibtischutensilien - eine kleine amerikanische Flagge, einen Kaffeebecher, einen Adressenstempel, einen Briefbeschwerer v o n Lucite. Füller, Bleistifte, Radiergummis, Büroklammern, Tintenkiller, Heftzwecken und Heftklammern, Haftnotizzettel. Grace ging das Zeug eilig durch, um sich dann den A k t e n zuzuwenden, doch die Ausbeute war gering. Dodd hatte seine A r beiten offenbar hauptsächlich am Computer erledigt. Sie fand einige Disketten, sämtlich unbeschriftet. An schriftlichen Unterlagen konnte sie lediglich Zeitungsausschnitte entdecken. Es waren A r t i k e l aus der Feder v o n Bob Dodd. Grace blätterte sie hastig durch. Cora hatte Recht gehabt. Es handelte sich hauptsächlich um unbedeutende Enthüllungsgeschichten. Leser beschwerten sich. Bob Dodd recherchierte. Kaum der Stoff, aus dem Morde aus Rache gemacht sind. Oder doch? Oft sind es die kleinen Dinge, die Lawinen auslösen. Sie wollte gerade aufgeben - hatte eigentlich schon aufgegeben -, als sie zuunterst das Schreibtischfoto entdeckte. Es lag m i t der Vorderseite nach unten. M e h r aus Neugier als in der Hoffnung, etwas Aufschlussreiches zu finden, drehte sie es um. Es war das klassische Urlaubsfoto. Bob Dodd m i t seiner Frau Jillian stand am Strand, beide lächelnd m i t strahlend weißen Zähnen,
beide in Hawaiihemden. Jillian hatte rotes Haar. Ihre Augen standen weit auseinander. Grace begriff plötzlich, was Bob Dodd m i t der ganzen Sache zu t u n hatte. U n d sein Beruf als Reporter spielte dabei nicht die geringste Rolle. Seine Frau, Jillian Dodd, war Sheila Lambert. Grace schloss die Augen und massierte sich die Nasenwurzel. Dann legte sie alles sorgfältig in den Karton zurück. Sie stellte i h n auf den Rücksitz und stieg aus dem Wagen. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Die vier Mitglieder der Band Allaw - alles lief auf sie hinaus. Sheila Lambert, das wusste Grace jetzt, war im Land geblieben. Sie hatte ihre Identität gewechselt und geheiratet. Jack hatte sich in ein kleines Dorf in Frankreich zurückgezogen. Shane A l w o r t h war entweder tot oder an einem unbekannten O r t - vielleicht, wie seine Mutter behauptete, half er den A r m e n in Mexiko. Geri Duncan war ermordet worden. Grace sah auf die Uhr. In wenigen M i n u t e n sollte die Schulglocke klingeln. Dann fühlte sie ihr Handy am Gürtel vibrieren. »Hallo?«, meldete sie sich. »Mrs. Lawson. Hier spricht Captain Perlmutter.« »Hallo, Captain. Was kann i c h für Sie tun?« »Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.« »Ich hole gerade meine Kinder v o n der Schule ab.« »Soll ich bei Ihnen vorbeikommen?« »Meine Kinder haben in wenigen M i n u t e n Schule aus. I c h komme aufs Revier.« Erleichterung überkam sie. Diese unausgegorene Idee, nach Pennsylvania zu flüchten, war des Guten zu viel. Vielleicht wusste Perlmutter ja etwas. Vielleicht würde er ihr jetzt glauben, nach allem, was sie mittlerweile über das Foto wusste. »Ist das in Ordnung?« »Ausgezeichnet. Ich warte.« Kaum hatte Grace das Handy zugeklappt, fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Sie drehte sich um. Die Hand gehörte zu dem
jungen Mann asiatischer Herkunft. Er beugte den Kopf an ihr Ohr. »Ich habe Ihren Mann«, flüsterte er.
42 »Charlaine? Alles in Ordnung?« Es war die beliebte, so gesprächige Mutter. Charlaine achtete nicht auf sie. Okay, Charlaine, denk nach. Was, so fragte sie sich, würde die dämliche Heldin im Film jetzt tun? So hatte sie das Spiel in der Vergangenheit gespielt sich vorgestellt, wie das dumme Weibchen handeln würde, und dann das Gegenteil davon getan. Mach schon, mach schon ... Charlaine versuchte, diese lähmende Angst abzuschütteln. Sie hatte nicht erwartet, diesen Mann jemals wieder zu sehen. Eric Wu wurde von der Polizei gesucht. Er hatte auf Mike geschossen. Er hatte Freddy überfallen und ihn gefangen gehalten. Die Polizei besaß seine Fingerabdrücke. Sie kannten seinen Namen. Sie würden ihn wieder ins Gefängnis schicken. Also was machte der Kerl dann hier? Wen interessiert das, Charlaine? Tu etwas. Aber was? Die Antwort war kein sonderlicher Intelligenzbeweis: Ruf die Polizei an. Sie griff in ihre Handtasche und zog ihr Motorola-Handy heraus. Die Mütter plapperten noch immer munter durcheinander. Charlaine klappte ihr Handy auf. Der Akku war leer. Typisch und doch leicht zu erklären. Sie hatte es während der Verfolgungsjagd benutzt. Und sie hatte es die ganze Zeit über eingeschaltet gelassen. Das Handy war zwei Jahre alt. Das ver-
dammte D i n g hatte einen schwachen A k k u . Sie sah quer über den Schulhof. Eric Wu sprach m i t Grace Lawson. Sie wandten sich beide zum Gehen. Dieselbe Frau fragte erneut: »Stimmt was nicht, Charlaine?« »Ich brauche dein Handy«, sagte sie. »Sofort.«
Grace starrte den M a n n nur an. »Wenn Sie freiwillig mitkommen, bringe ich Sie: zu Ihrem M a n n . Sie können i h n sehen. In einer Stunde sind Sie zurück. In einer M i n u t e klingelt die Schulglocke. W e n n Sie nicht mitkommen, ziehe ich meine Waffe. I c h erschieße Ihre Kinder. I c h schieße wahllos auf andere Kinder. Kapiert?« Grace brachte kein W o r t heraus. »Viel Zeit bleibt Ihnen nicht.« Sie fand ihre Stimme wieder. »Ich komme mit.« »Sie fahren. Gehen Sie ruhig neben mir her. Bitte machen Sie nicht den Fehler, jemandem ein Zeichen zu geben. Ich bringe sie um. Verstanden?«
»Ja.« »Vermutlich wundern Sie sich, wo der M a n n bleibt, der Sie beschützen soll«, fuhr er fort. »Ich darf Ihnen versichern, dass er mir nicht mehr in die Quere kommen wird.« »Wer sind Sie?«, fragte Grace. »Die Glocke läutet gleich.« Er wandte den Blick ab, ein flüchtiges Lächeln auf den Lippen. »Wollen Sie, dass ich noch hier b i n , wenn Ihre Kinder herauskommen?« Schrei, dachte Grace. Schrei wie eine Verrückte und lauf davon. Doch sie konnte die Umrisse seiner Waffe erkennen. Sie sah die Augen des Mannes. Er bluffte nicht. Er meinte, was er sagte. Er würde töten. U n d er hatte Jack. Sie begannen zum Wagen zu gehen, Seite an Seite, wie zwei
Freunde. Graces Blick zuckte über den Spielplatz. Sie entdeckte Cora. Cora warf ihr einen verdutzten Blick zu. Grace wollte nichts riskieren. Sie sah weg. Grace ging weiter. Sie erreichten ihren Wagen. Sie hatte gerade die Türen aufgeschlossen, als die Schulglocke zu läuten begann. Die gesprächige Mutter kramte in ihrer Handtasche. »Wir haben einen halsabschneiderischen Handy-Vertrag. Hal ist manchmal so geizig. Unsere Freiminuten sind schon in der ersten Woche aufgebraucht, und dann müssen wir den restlichen M o n a t jedes Gespräch auf die Goldwaage legen.« Charlaine sah in die anderen Gesichter. Sie wollte keine Panik verursachen und zwang sich, ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu geben. »Bitte, hat jemand ein Handy, das i c h benutzen kann?« Sie hielt den Blick auf Wu und Lawson gerichtet. Sie hatten inzwischen die Straße überquert und standen vor Graces Wagen. Sie sah, wie Grace die Fernbedienung drückte und die Türen öffnete. Grace blieb neben der Fahrertür. Wu ging zur Beifahrerseite. Grace Lawson machte keinerlei Anstalten, wegzulaufen. Ihr Gesicht war kaum zu erkennen, doch sie wirkte kaum wie jemand, der unter Zwang handelte. Die Schulglocke schrillte. A l l e Mütter wandten sich dem Schultor zu, ein Pawlowscher Reflex, und warteten darauf, dass ihre Kinder herauskamen. »Hier, Charlaine.« Eine der Mütter reichte Charlaine, den Blick auf die Schultür gerichtet, ihr Handy. Charlaine zwang sich, es ihr nicht aus der Hand zu reißen. Sie hob es ans Ohr, während sie noch einmal zu Grace und Wu hinübersah. Sie erstarrte. Wu hatte den Blick auf sie gerichtet. Als Wu diese Frau wieder sah, fuhr seine Hand instinktiv zur
Waffe.
Er würde sie erschießen. Hier und jetzt. Vor allen anderen. Wu war n i c h t abergläubisch. I h m war klar, dass es k e i n abwegiger Zufall war, dass sie wieder hier war. Sie hatte Kinder. Sie wohnte in der Gegend. Das traf auf mindestens zwei- bis dreihundert Mütter zu. Dass sie eine v o n ihnen war, machte Sinn. U n d trotzdem wollte er nur eines: sie umbringen. Abergläubisch gedacht, wollte er sich eines Dämons entledigen. Praktisch gedacht, hinderte er sie damit daran, die Polizei zu verständigen. Davon abgesehen konnte er die darauf folgende Panik zur Flucht nutzen. W e n n er sie erschoss, würden alle zu der getroffenen Frau laufen. Es war das ideale Ablenkungsmanöver. Die Sache hatte nur einen Haken. Erstens war sein Ziel gut dreißig Meter entfernt. U n d er kannte seine Stärken wie seine Schwächen. Im Kampf m i t den bloßen Händen war er einsame Spitze. M i t einer Pistole war er eher Mittelmaß. Möglicherweise verletzte er sie nur, oder schlimmer noch, verfehlte sie. N a t ü r l i c h würde auch dann Panik ausbrechen, aber falls niemand getroffen wurde, erbrachte die A k t i o n n i c h t das v o n i h m beabsichtigte Ablenkungsmanöver Seine Zielperson - der Grund, weshalb er hier war - war Grace Lawson. Sie hatte er in seiner Gewalt. Sie gehorchte i h m . Sie war Wachs in seinen Händen, denn sie hoffte noch immer, dass ihre Familie alles überleben würde. Falls sie merkte, dass er abgelenkt war, bestand die Gefahr, dass sie in Panik geriet und floh. »Steigen Sie ein«, sagte er. Grace Lawson öffnete die Wagentür. Eric Wu starrte auf die Frau auf der anderen Seite des Schulhofs. A l s sich ihre Blicke trafen, schüttelte er nur bedächtig den Kopf und deutete auf seinen Gürtel. Sie würde verstehen. Sie war i h m schon einmal in die Quere gekommen, und er hatte geschossen. Er würde es wieder tun. Er wartete, bis die Frau das Handy sinken ließ. Ohne den Blick v o n ihr abzuwenden, g l i t t Wu in den Wagen. Sie fuhren aus der Parklücke und verschwanden den Morningside Drive hinunter.
43 Perlmutter saß Scott Duncan gegenüber. Sie befanden sich im Büro des Captains auf dem Polizeirevier. Die Klimaanlage war im Eimer. Dutzende v o n Cops, den ganzen Tag über in U n i f o r m , und keine funktionstüchtige Klimaanlage - in der Bude begann es allmählich zu stinken. »Sie sind v o n Ihrem A m t bei der Staatsanwaltschaft beurlaubt«, sagte Perlmutter. »Das ist richtig«, erwiderte Duncan. »Im Augenblick arbeite ich als freier Anwalt.« »Verstehe. U n d I h r Mandant hat Indira Khariwalla engagiert - halt, ich korrigiere mich, Sie haben Mrs. Khariwalla im Auftrag Ihres Mandanten engagiert.« »Das werde i c h weder bestätigen noch leugnen.« » U n d Sie wollen mir auch n i c h t sagen, ob I h r Mandant die Überwachung von Jack Lawson angeordnet hat. Oder weshalb.« »Korrekt.« Perlmutter spreizte die Finger. »Was genau wollen Sie eigentl i c h , M r . Duncan?« »Ich möchte wissen, was Sie über den verschwundenen Jack Lawsons in Erfahrung gebracht haben.« Perlmutter lächelte. »Okay. Also wenn ich Sie richtig verstanden habe, soll ich Ihnen alles sagen, was ich über einen M o r d und die Ermittlungen im Fall Lawson weiß, obwohl I h r Mandant m i t großer Wahrscheinlichkeit in die Sache verwickelt ist. I c h dagegen erfahre von Ihnen nichts. N u l l . Trifft das so ungefähr den Kern?« »Nein, tut es nicht.« »Gut, dann belehren Sie m i c h eines Besseren.« »Es geht n i c h t um einen Mandanten.« Duncan legte den Fuß auf sein Knie. »Ich b i n in den Lawson Fall persönlich involviert.«
»Wie bitte?« »Mrs. Lawson hat Ihnen das Foto gezeigt.« »Richtig. I c h erinnere mich.« »Das Mädchen, dessen Gesicht m i t einem X durchgestrichen ist«, sagte er, »war meine Schwester.« Perlmutter lehnte sich zurück und pfiff leise durch die Zähne. »Vielleicht erzählen Sie mir die Geschichte mal v o n Anfang an.« »Ist eine lange Geschichte.« »Wenn ich jetzt behaupte, ich hätte alle Zeit der Welt, wäre das eine Lüge.« W i e zur Bestätigung flog die Tür auf. Daley steckte den Kopf herein. »Telefon für dich. A u f Leitung 2.«
»Was gibt's?« »Charlaine Swain. Sie sagt, sie hat gerade Eric Wu vor dem Schulhof gesehen.«
Carl Vespa starrte auf das Gemälde. Es stammte v o n Grace. Er besaß acht ihrer Bilder Dennoch war es dieses, das i h n am stärksten berührte. Es war, so vermutete er, ein Portrait v o n Ryan in den letzten M i n u t e n seines Lebens. Graces Erinnerungen an jenen A b e n d waren undeutlich und verschwommen. Wichtigtuerei war ihr fremd, aber diese Vision dieses scheinbar alltägliche B i l d eines jungen Mannes am Rande eines Albtraums - hatte ihr angeblich ihr Unterbewusstsein eingegeben. Grace Lawson behauptete, v o n dieser N a c h t nur aus Träumen zu wissen. Diese, so sagte sie, wären die einzige Ebene, auf der ihre Erinnerungen existierten. Vespa hing seinen Gedanken nach. Sein Zuhause lag in Englewood, N e w Jersey. Die Gegend war einst fest in der Hand der alten, reichen Familien gewesen. Jetzt wohnte Eddie Murphy am Ende der Straße. Vespas Anwesen,
einst im Besitz eines Vanderbilt, war weitläufig und nach außen hin abgeschottet. 1988 hatte Sharon, seine damalige Frau, das Gebäude im Stil der Jahrhundertwende abreißen und ein Haus bauen lassen, das damals als modern galt. Der Zahn der Zeit war ihm nicht bekommen. Es sah aus wie eine wahllose Aneinanderreihung gläserner Würfel. Es gab viel zu viele Fenster. Und im Sommer wurde es im Inneren unerträglich heiß. Es sah nicht nur aus wie ein Gewächshaus, man fühlte sich darin auch wie in einem verdammten Gewächshaus. Sharon war längst nicht mehr da. Bei der Scheidung hatte sie keinen Wert auf das Haus gelegt. Sie hatte überhaupt kaum Forderungen gestellt. Vespa hatte nicht versucht, sie aufzuhalten. Ryan war die Klammer gewesen, die sie zusammengehalten hatte. Im Tod mehr noch als im Leben. Eine ungesunde Konstellation. Vespa warf einen Blick auf den Monitor der Überwachungsanlage, auf dem die Einfahrt zu sehen war. Die Limousine bog gerade um die Ecke. Er und Sharon hatten sich mehr Kinder gewünscht, doch es war bei dem einen geblieben. Die Schuld lag bei Vespa. Natürlich hatte er das nie erzählt, sondern stattdessen unterschwellig angedeutet, der Fehler sei bei Sharon zu suchen. Es war ein unschöner Gedanke, aber Vespa glaubte, hätten sie mehr Kinder gehabt, wäre Ryan nicht der Einzige gewesen, hätte das die Tragödie, wenn auch nicht leichter, so doch zumindest erträglicher gemacht. Das Problem bei Tragödien ist jedoch, dass das Leben weitergeht. Man hat keine Wahl. Man kann sich nicht einfach ausklinken und es abwettern. Hat man noch mehr Kinder, begreift man das automatisch. Das eigene Leben mag zu Ende sein, aber für andere steigt man dennoch jeden Morgen aus dem Bett. Kurz gesagt, gab es für ihn keinen Grund mehr, morgens überhaupt noch aufzustehen. Vespa ging hinaus und beobachtete, wie die Limousine anhielt. Cram stieg als Erster aus, das Handy ans Ohr gepresst. Wade La-
rue folgte. Larue war rein äußerlich keine Angst anzumerken. Er wirkte seltsam gelassen, betrachtete die luxuriöse Umgebung. Cram sagte leise etwas zu Larue - Vespa konnte n i c h t hören, was es war - und kam dann die Treppe herauf. Wade Larue schlenderte davon wie ein zufälliger Feriengast. »Wir haben eine Problem«, sagte Cram. Vespa wartete. Sein B l i c k folgte Wade Larue. »Richie meldet sich nicht. Sein Funkgerät ist tot.« »Wo war er stationiert?« »In einem Van bei der Schule der Kinder.« »Wo ist Grace?« »Das wissen w i r nicht.« Vespa sah Cram an. »Es war drei Uhr. W i r wussten, dass sie weggefahren ist, um Emma und M a x v o n der Schule abzuholen. Richie sollte ihr v o n dort aus folgen. Bei der Schule ist sie angekommen. Soviel wissen wir. Richie hat uns das rüber gefunkt. Seitdem ist Funkstille.« »Hast du jemanden hingeschickt?« »Simon hat nach dem Van gesehen.«
»Und?« »Er steht noch da. Parkt an der gleichen Stelle. Aber die Gegend w i m m e l t vor Polizei.« »Was ist m i t den Kindern?« »Wissen wir n o c h nicht. Simon glaubt, sie auf dem Schulhof gesehen zu haben. Aber er wagt sich wegen der Cops n i c h t zu nahe ran.« Vespa ballte die Hände zu Fäusten. »Wir müssen Grace finden.« Cram schwieg. »Was ist?« Cram zuckte die Schultern. »Ich glaube, du bist auf dem falschen Dampfer. Das ist alles.« Danach sagte keiner v o n beiden mehr einen Ton. Sie standen nur da und beobachteten Wade Larue. Er schlenderte, Zigarette
in der Hand, übers Gelände. Vom höchsten Punkt des Anwesens aus hatte man einen herrlichen Blick auf die George Washington Bridge und dahinter die ferne Skyline von Manhattan. Von hier aus hatten Vespa und Cram die sich wie aus dem Hades aufblähenden Staubwolken gesehen, als die Twin Towers einstürzten. Vespa hatte Cram zu diesem Zeitpunkt seit achtunddreißig Jahren gekannt. Vespa hatte nie jemanden gesehen, der besser mit einem Messer oder einer Pistole umgehen konnte. Er verschaffte sich Respekt mit nicht mehr und nicht weniger als einem Blick. Die gemeinsten Kerle, die brutalsten Psychotiker winselten um Gnade, bevor Cram sie auch nur berührte. Doch an jenem Tag, während sie stumm auf dem Grundstück gestanden und zugesehen hatten, wie sich dicker Staub und dichter Qualm einfach nicht verflüchtigen wollten, hatte Vespa erlebt, dass selbst Cram hemmungslos weinen konnte. Sie sahen gleichzeitig zu Wade Larue hinüber. »Hast du überhaupt ein Wort mit ihm gesprochen?«, wollte Vespa wissen. Cram schüttelte den Kopf. »Keine Silbe.« »Er wirkt verdammt ruhig.« Cram sagte nichts. Vespa entfernte sich in Richtung Larue. Cram blieb, wo er war. Larue drehte sich nicht um. Drei Meter vor Larue blieb Vespa stehen und sagte: »Sie wollten mich sprechen?« Larue starrte weiterhin zur Brücke hinüber. »Wunderschöne Aussicht«, bemerkte er. »Die zu bewundern, sind Sie nicht hier.« Er zuckte die Schultern. »Bedeutet nicht, dass ich es nicht trotzdem genießen kann.« Vespa wartete. Wade Larue drehte sich noch immer nicht um. »Sie haben gestanden.«
»Ja.« »Aus ehrlicher Überzeugung?«, fragte Vespa. »Zu dem Zeitpunkt? Nein.«
»Was heißt >zu dem Zeitpunkt« »Sie wollen wissen, ob i c h die beiden Schüsse damals abgefeuert habe.« Wade Larue wandte sich endlich Vespa zu und sah i h m direkt in die Augen. »Warum?« »Ich w i l l wissen, ob Sie meinen Jungen umgebracht haben.« »Wie auch immer, i c h habe i h n n i c h t erschossen.« »Sie wissen, wie das gemeint war.« »Darf i c h Sie was fragen?« Vespa wartete. »Tun Sie das für sich? Oder für Ihren Sohn?« Vespa dachte nach. »Nicht für mich.« »Also für Ihren Sohn?« »Er ist tot. Es nützt i h m nichts mehr.« »Wem dann?« »Das spielt keine Rolle.« »Für m i c h schon. W e n n es hier n i c h t um Sie oder um Ihren Sohn geht, warum dann dieser Wunsch nach Rache?« »Es muss vollendet werden.« Larue nickte. »Die W e l t muss im Gleichgewicht bleiben«, fuhr Vespa fort. »Yin und Yang?« »So was Ähnliches. Achtzehn Menschen sind gestorben. Jemand muss dafür bezahlen.« »Sonst gerät die W e l t aus den Fugen?«
»Ja.« Larue zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. Er bot Vespa eine Zigarette an. Vespa schüttelte den Kopf. »Haben Sie an jenem A b e n d die beiden Schüsse abgefeuert?«, fragte Vespa.
»Ja.« In diesem Augenblick fuhr Vespa aus der Haut. Es war sein Temperament. Er konnte in Sekundenbruchteilen v o n 0 auf 180 schalten. Adrenalin schoss durch seine A d e r n wie die; nach oben
schnellende Quecksilbersäule eines Thermometers in einem Comicfilm. Er ballte die Faust und schlug sie Larue ins Gesicht. Larue knallte brutal auf den Rücken. Er setzte sich auf. Die Hand fuhr an seine Nase. Sie war blutig. Larue sah lächelnd zu Vespa auf. »Bringt sie das wieder ins Gleichgewicht?« Vespa atmete schwer. »Ist ein Anfang.« »Yin und Yang«, sagte Larue. »Die Theorie gefällt mir.« Er wischte sich mit dem Unterarm übers Gesicht. »Die Frage ist, ist dieser weltumspannende Balanceakt - generationenübergreifend?« »Was zum Teufel soll das heißen? Larue lächelte. Blut klebte an seinen Zähnen. »Schätze, das wissen Sie.« »Ich bringe Sie um. Das wissen Sie.« »Weil ich was Schlimmes getan habe? Wofür ich bezahlen muss?«
»Ja.« Larue kam auf die Beine. »Und was ist mit Ihnen, Mr. Vespa?« Vespa ballte die Fäuste, doch der Adrenalinschub verebbte. »Sie haben Schlimmes getan. Haben Sie dafür bezahlt?« Larue neigte den Kopf leicht zur Seite. »Oder hat das Ihr Sohn für Sie besorgt?« Vespa landete einen mächtigen Schwinger in Larues Magengrube. Larue sackte in die Knie. Vespas Faust traf als Nächstes den Kopf. Larue ging erneut zu Boden. Vespa trat ihm ins Gesicht. Larue lag jetzt flach auf dem Rücken. Vespa machte einen Schritt vorwärts. Blut tropfte aus Larues Mund, aber der Mann lachte noch immer. Tränen rannen nur bei Vespa, nicht bei Larue. »Was gibt's da zu lachen?« »Ich war wie Sie. Ich wollte Rache.« »Wofür?« »Dafür, dass ich in dieser Zelle saß.« »Das war nicht meine Schuld.«
Larue setzte sich auf. »Ja und nein.« Vespa tat einen Schritt zurück. Er sah sich um. Cram beobachtete die Szene regungslos. »Sie sagten, Sie wollten reden.« »Damit warte ich lieber, bis Sie sich an mir ausgetobt haben.« »Sagen Sie mir jetzt, warum Sie angerufen haben.« Wade Larue tastete m i t der H a n d über seinen M u n d . Er wirkte beinahe glücklich, als er das Blut an seinen Fingern sah. »Ich wollte Rache. I c h kann Ihnen gar n i c h t sagen, wie sehr. Aber jetzt, heute, als ich rausgekommen b i n , als ich plötzlich frei war ... Da war's vorbei. I c h habe fünfzehn Jahre im Gefängnis geschmort. I c h habe meine Strafe abgesessen. Ihre Strafe - reden w i r n i c h t lang drum rum - die endet nie. Stimmt's, M r . Vespa?« »Was wollen Sie?« Larue stand auf. »Es tut I h n e n so verdammt weh.« Seine Stimme war plötzlich sanft, einfühlsam wie eine Liebkosung. »Sie sollen alles erfahren, Mr. Vespa. I c h möchte, dass Sie die Wahrheit wissen. Es muss endlich ein Ende haben. Heute. A u f die eine oder andere A r t . I c h w i l l mein Leben leben. Ich möchte nicht immer über die Schulter sehen müssen. Deshalb erzähle ich Ihnen, was ich weiß. I c h werde Ihnen alles sagen. U n d danach können Sie entscheiden, was Sie t u n müssen.« »Hatten Sie nicht gesagt, dass Sie die Schüsse abgefeuert haben?« Larue ging nicht weiter darauf ein. »Erinnern Sie sich an Lieutenant G o r d o n MacKenzie?« Die Frage traf Vespa unerwartet. »Den Sicherheitsbeamten? Natürlich.«. »Er hat m i c h im Gefängnis besucht.«
»Wann?« »Vor drei Monaten.« »Warum?« Larue lächelte. »Ging wieder mal um die Geschichte m i t dem
Gleichgewicht. Die Dinge sollten zurechtgerückt werden. Sie nennen es Y i n und Yang. MacKenzie hat v o n G o t t gesprochen.« »Verstehe i c h nicht.« »Gordon MacKenzie hatte den Tod vor Augen.« Larue legte die H a n d auf Vespas Schulter. » U n d bevor er starb, hatte er das dringende Bedürfnis, seine Sünden zu beichten.«
44 Die Pistole steckte in Graces Knöchelhalfter. Sie ließ den M o t o r an. Der Asiate saß neben ihr. »Die Straße runter und dann nach links.« Grace hatte Angst, das war nur natürlich. U n d dennoch war in ihr eine seltsame Ruhe. Sie fühlte sich, überlegte sie, wie im Auge des Orkans. Es geschah etwas. U n d das gab ihr die Möglichkeit, A n t w o r t e n zu finden. Sie versuchte, Prioritäten zu setzen. Erstens: Bring i h n weit weg v o n den Kindern. Das war ihr oberstes Gebot. Emma und M a x waren gut aufgehoben. Die Lehrer blieben immer auf dem Schulgelände, bis alle Kinder abgeholt waren. W e n n sie nicht erschien, würden sie entnervt aufseufzen und die beiden ins Sekretariat bringen. Der alte Drachen, die Sekretärin Mrs. Dinsmont, würde angesichts der pflichtvergessenen Mutter genussvoll m i t der Zunge schnalzen und die Kinder barsch anweisen, zu warten. Drei Monate zuvor hatte es schon einmal eine Unregelmäßigkeit gegeben. Grace war in einen Stau vor einer Baustelle geraten und hatte sich erheblich verspätet. Voller Schuldgefühle und m i t der Vorstellung, fast wie bei einer Szene aus Oliver Twist, einen verzweifelten M a x vorzufinden, war sie in die Schule gestürmt. M a x jedoch hatte im Schulbüro gesessen und friedlich das B i l d eines D i n o sauriers ausgemalt. Er wäre am liebsten noch geblieben.
Mittlerweile war die Schule außer Sichtweite. »Biegen Sie nach rechts ab.« Grace gehorchte. Ihr Entführer, falls man i h n so nennen konnte, hatte gesagt, er würde sie zu Jack bringen. Sie wusste nicht, ob das stimmte, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass er die Wahrheit sagte. Aber natürlich tat er das nicht aus purer Menschenliebe. Sie war gewarnt. Sie war i h m zu nahe gekommen. Er war gefährlich - und davon hatte sie nicht nur die Pistole in seinem Gürtel überzeugt. In seiner Nähe herrschte ein atmosphärisches Knistern, war die Luft wie elektrisch aufgeladen, so dass man ahnte, einfach spüren musste, dass dieser M a n n überall nur verbrannte Erde zurückließ. Dennoch war Grace verzweifelt entschlossen, abzuwarten, w o h i n das führte. Sie hatte ihre Waffe im Knöchelhalfter. W e n n sie es schlau anstellte, wenn sie vorsichtig war, konnte sie das Überraschungsmoment ausnutzen. Das immerhin war etwas. Vorerst würde sie alles mitmachen. Aber hatte sie überhaupt eine andere Wahl? Was ihr Sorgen machte, war, wie sie die Waffe ziehen und handhaben sollte. Ließ sich die Pistole schnell und problemlos aus dem Halfter nehmen? Löste sich w i r k l i c h ein Schuss, sobald sie den Abzug bediente? Zielte man einfach und drückte ab? U n d selbst wenn es ihr gelang, die Waffe rechtzeitig aus dem Halfter zu ziehen - was ihr angesichts der Aufmerksamkeit, m i t der der M a n n sie beobachtete, zweifelhaft erschien -, was sollte sie dann tun? Sie auf i h n richten und verlangen, dass er sie zu Jack brachte? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass das funktionierte. Erschießen konnte sie i h n auch nicht. Fragen über G u t und Böse oder ob sie den M u t aufbringen würde abzudrücken, waren müßig. Dieser M a n n war möglicherweise ihre einzige Verbindung zu Jack. Tötete sie i h n , was dann? Dann hatte sie die einzige konkrete Spur zu Jack vernichtet, und damit vielleicht auch die einzige Chance vertan, i h n zu finden.
A b w a r t e n und gute Miene zum bösen Spiel machen, war das Beste. Es blieb ihr auch gar nichts anderes übrig. »Wer sind Sie?«, fragte Grace. Seine Miene blieb steinern. Er griff nach ihrer Handtasche und kippte den Inhalt in seinen Schoß. Er prüfte jeden Gegenstand, warf einige Teile auf den Rücksitz. D a n n entdeckte er ihr Handy, nahm den A k k u heraus und warf i h n ebenfalls in den Fond des Wagens. Grace bombardierte i h n weiterhin m i t Fragen - wo ist mein M a n n , was wollen Sie v o n uns -, doch er ignorierte sie. A l s sie vor einer roten A m p e l anhielten, tat der M a n n etwas völlig U n erwartetes. Er legte seine H a n d auf ihr lädiertes Knie. »Sie haben ein krankes Bein«, sagte er. Grace wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Seine Berührung war leicht, fast wie das Streicheln einer Feder. D a n n schlossen sich seine Finger jäh und ohne jede Vorwarnung wie eine Stahlkralle um ihr Gelenk. Seine Fingerspitzen gruben sich tief unterhalb der Kniescheibe in die Vertiefung über dem Schienbein. Grace zuckte wie elektrisiert zusammen. Der Schmerz überwältigte sie so plötzlich, war so übermächtig, dass sie nicht einmal aufschreien konnte. Ihre Hand fuhr zu der Stelle. Sie packte seine Finger, versuchte sie vergeblich zu lösen. Sein G r i f f war hart wie Beton. Seine Stimme war nur ein Flüstern. »Wenn ich noch ein bisschen mehr zudrücke und dann ziehe ...« Schwindel erfasste sie. Sie war nahe daran, das Bewusstsein zu verlieren. »... könnte ich Ihnen die Kniescheibe herausreißen.« A l s die A m p e l auf G r ü n schaltete, ließ er los. Grace wäre vor Erleichterung beinahe in Ohnmacht gefallen. Der Zwischenfall hatte n i c h t einmal fünf Sekunden gedauert. Der M a n n sah sie an. E i n A n f l u g eines Lächelns umspielte seine Lippen.
»Ich möchte, dass Sie jetzt m i t dem Gequatsche aufhören, kapiert?« Grace nickte. Er deutete nach vorn. »Fahren Sie weiter.«
* Perlmutter hatte sämtliche Einheiten in Alarmbereitschaft versetzt. Charlaine Swain war so geistesgegenwärtig gewesen, sich sowohl die Automarke als auch das Kennzeichen zu merken. Der Wagen war auf Grace Lawson zugelassen. Das war nicht überraschend. Perlmutter war mittlerweile in einem n i c h t gekennzeichneten Wagen auf dem Weg zur Schule. Scott Duncan begleitete
ihn. »Also wer ist dieser Eric Wu?«, fragte Duncan. Perlmutter war im Zwiespalt. Er war unsicher, wie viel er gegenüber Duncan preisgeben durfte, sah jedoch keinen triftigen Grund, i h m etwas zu verschweigen. »Bis jetzt wissen wir, dass er in ein Haus eingebrochen ist, den Besitzer überfallen und so schwer verletzt hat, dass dieser zeitweise gelähmt war. Außerdem hat er auf einen anderen M a n n geschossen und vermutlich Rocky C o n w e l l umgebracht - den M a n n , der Lawson beschattet hat.« Darauf wusste Duncan nichts zu erwidern. Zwei Streifenwagen waren bereits am Schauplatz. Perlmutter gefiel das n i c h t - Polizei vor einer Schule! Die Beamten waren wenigstens so schlau gewesen, die Sirenen auszustellen. Das war ein Fortschritt. Die Eltern, die ihre Kinder abholten, reagierten auf zwei A r t e n . Einige trieben ihre Kinder hastig in die Autos, als müssten sie sie vor einer Schießerei in Sicherheit bringen. A n dere befriedigten ihre Neugier. Sie umringten die Streifenwagen, dachten einfach n i c h t daran oder missachteten den Umstand, dass dieses Szenario Gefahr verheißen konnte. Charlaine Swain war da. Perlmutter und Duncan gingen auf
sie zu. Ein junger Streifenpolizist namens Dempsey stellte ihr Fragen und machte sich Notizen. Perlmutter schob i h n beiseite und fragte: »Was ist passiert?« Charlaine berichtete, wie sie zur Schule gekommen war und auf G r u n d v o n Perlmutters Hinweisen nach Grace Lawson Ausschau gehalten hatte. Dabei hatte sie Eric Wu in Begleitung v o n Grace entdeckt. » U n d Sie konnten nicht erkennen, ob sie v o n i h m bedroht wurde?« Charlaine sagte: »Nein.« »Sie könnte also auch freiwillig m i t i h m gegangen sein?« Charlaine warf einen flüchtigen Blick auf Scott Duncan und sah dann wieder Perlmutter an. »Nein. Sie ist nicht freiwillig mitgegangen.« »Woher wollen Sie das wissen?« »Weil Grace hergekommen ist, um ihre Kinder abzuholen«, antwortete Charlaine.
»Und?« »Sie würde sie doch n i c h t freiwillig einfach hier zurücklassen. Außerdem konnte selbst ich euch Jungs nicht sofort anrufen. A u c h auf die Entfernung - ich war wie gelähmt.« »Das kapier ich jetzt nicht«, sagte Perlmutter. »Wenn Wu auf die Entfernung schon eine solche W i r k u n g auf m i c h hatte, wie muss es dann erst Grace Lawson ergangen sein? Er stand dicht hinter ihr und hat ihr was ins O h r geflüstert.« E i n anderer Streifenpolizist namens Jackson sprintete auf Perlmutter zu. Seine A u g e n waren weit aufgerissen. Perlmutter kannte die Anzeichen. Der junge M a n n versuchte, seine Panik zu unterdrücken. A u c h die Eltern sahen es. Sie wichen einen Schritt zurück. » W i r haben was gefunden«, sagte Jackson. »Was?« Jackson beugte sich näher zu Perlmutter, damit die anderen
i h n n i c h t hören konnten. »Einen Van. Er parkt zwei Querstraßen weiter. I c h glaube, Sie sollten sich das mal ansehen.«
Sie sollte die Waffe ziehen. Jetzt. Graces Knie pochte. Es tickte wie eine Bombe unmittelbar vor der Detonation. Ihre Augen brannten vor Anstrengung, die Tränen zurückzuhalten. Sie war nicht sicher, ob sie m i t dem Bein überhaupt noch gehen konnte. Immer wieder warf sie ihrem Peiniger h e i m l i c h Seitenblicke zu. Er ließ sie keinen M o m e n t aus den Augen, beobachtete sie m i t leicht amüsiertem Gesichtsausdruck. Sie versuchte nachzudenken, versuchte Ordnung in ihre Gedanken zu bringen, die immer nur um die H a n d auf ihrem Knie kreisten. Die Gelassenheit, m i t der er ihr Schmerzen zugefügt hatte! Hätte er Emotionen, Freude oder Verachtung dabei gezeigt, wäre das etwas anderes gewesen. Nichts dergleichen hatte er erkennen lassen. Es war beinah ein bürokratischer A k t gewesen. Ohne A n strengung, ohne Schweiß. Gefolgt von einer lakonischen A n k ü n digung. Hätte er es gewollt, hätte er ihr die Kniescheibe m i t einer Leichtigkeit herausgerissen, m i t der andere Flaschen entkorkten. Inzwischen hatten sie die Grenze zum Bundesstaat: N e w York passiert. Sie fuhren auf der Interstate 287 in Richtung Tappan Zee Bridge. Grace wagte k e i n W o r t zu sagen. Ihre Gedanken schweiften immer wieder zu ihren Kindern. Cora hatte Grace vor dem Schulhof gesehen. Dasselbe galt für andere Mütter. W ü r d e n sie etwas unternehmen? D o c h das war jetzt n i c h t v o n Bedeutung, eine Verschwendung geistiger Energie. Sie musste sich auf die unmittelbar vor ihr liegenden Aufgaben konzentrieren. Denk an die Pistole. Grace versuchte sich in Gedanken den A b l a u f einzuprägen. Sie wollte m i t beiden Händen nach der Waffe greifen. M i t der
Linken das Hosenbein hochschieben, mit der Rechten die Pistole fassen. Wie war die Pistole im Halfter befestigt? Grace versuchte, sich zu erinnern. Ein Riemen hielt sie im Halfter. Sie hatte ihn selbst geschlossen. Er musste zuerst geöffnet werden. Anderenfalls blieb die Waffe einfach stecken. Okay, gut. Zuerst den Riemen öffnen. Dann ziehen! Sie dachte an das Timing. Der Mann hatte unglaubliche Kräfte. Und er war äußest gewaltbereit. Sie würde auf eine günstige Gelegenheit warten müssen. Am Steuer konnte sie logischerweise nichts ausrichten. Sie musste also einen Stopp vor einer Ampel abpassen ... oder warten, bis sie den Wagen verließen. Das konnte funktionieren. Vorausgesetzt es gelang ihr, den Asiaten irgendwie abzulenken. Er ließ sie nicht aus den Augen. Und er war bewaffnet. In seinem Hosenbund steckte eine Pistole. Vielleicht war er schneller als sie. Sie musste sich also vergewissern, dass er sie gerade nicht anschaute, dass er abgelenkt war. »Nehmen Sie die nächste Ausfahrt.« Auf dem Hinweisschild stand ARMONK. Sie waren lediglich drei oder vier Meilen auf der 287 gefahren. Er hatte demnach nicht vor, die Tappan Zee Bridge zu überqueren. Sie hatte darauf spekuliert, dass sich auf der Brücke eine günstige Gelegenheit bieten würde. An der Brücke gab es Mautstellen. Hier wäre es vielleicht möglich gewesen, einen Fluchtversuch zu wagen oder die Aufmerksamkeit eines Kassierers zu erregen, auch wenn sie nicht so recht daran glauben konnte. Ihr Entführer hätte sich gerade an einer Mautstelle bestimmt keine Blöße gegeben. Und sie hätte wetten können, dass er seine Hand auf ihr Knie gelegt hätte. Sie lenkte den Wagen nach rechts in die Ausfahrt und fuhr die Rampe hinauf. Wieder legte sie sich einen Plan zurecht. Vernünftig betrachtet bot sich ihre beste Chance, wenn sie ihr Ziel erreicht hatten. Falls er sie tatsächlich zu Jack brachte, nun, dann waren sie schon zu zweit. Das klang logisch.
U n d mehr noch. Sobald der Wagen anhielt, mussten sie beide aussteigen. Das war günstig. Er stieg auf seiner Seite aus, sie auf der anderen. Damit war sie für einige Sekunden unbeobachtet. Erneut begann sie die Situation wieder und wieder im Geiste durchzuspielen. Sie würde die Wagentür öffnen. Während sie die Beine hinaus schwang, konnte sie das Hosenbein hochschieben. Sobald ihre Füße den Boden berührten, war i h m die Sicht durch das Chassis des Wagens versperrt. W e n n sie es geschickt anstellte, stieg er zur gleichen Zeit auf seiner Seite aus. Er würde ihr den Rücken zuwenden. U n d sie bekäme Gelegenheit, die Waffe zu ziehen. »Die nächste rechts«, befahl er. » U n d die zweite links.« Sie fuhren durch eine ihr unbekannte Stadt. Hier gab es mehr Bäume als in Kasselton. Die Häuser waren älter, abgewohnter, vereinzelter. »Fahren Sie in die Auffahrt dort drüben. Die dritte links.« Grace hielt das Lenkrad fest umklammert. Sie bog in die Auffahrt ein. Er befahl ihr, vor dem Haus anzuhalten.
Perlmutter hatte so etwas noch nie gesehen. Der M a n n im Van, ein übergewichtiger Hüne im StandardTrainingsanzug der Mafiosi, war tot. Seine letzten M i n u t e n dürften kaum angenehm gewesen sein. Der Hals des massigen M a n nes war flach, vollkommen platt gedrückt, als habe i h n eine Dampfwalze überrollt, ohne dabei Kopf und Torso zu berühren. Daley, der nie um ein W o r t verlegen war, sagte: »Himmelschreiende Sauerei.« U n d dann fügte er hinzu: »Kommt mir bekannt vor.« »Richie Jovan«, sagte Perlmutter. »Macht die Drecksarbeit für Carl Vespa.« »Vespa?«, wiederholte Daley. »Ist er in die Sache verwickelt?«
Perlmutter zuckte die Achseln. »Das hier jedenfalls ist Wus Handschrift.« Scott Duncan wurde leichenblass. »Was zum Teufel geht hier vor?« »Ist doch ganz einfach, Mr. Duncan.« Perlmutter wandte sich direkt an i h n . »Rocky Conwell hat für Indira Khariwalla gearbeitet, die Privatdetektivin, die Sie engagiert haben. Dieser Eric Wu hat Conwell, den bedauernswerten kleinen Gauner, umgebracht und wurde zuletzt gesehen, wie er vor der Schule m i t Grace Lawson in ein A u t o gestiegen und m i t ihr davongefahren ist.« Perlmutter ging auf i h n zu. »Möchten Sie uns nicht endlich erklären, was hier w i r k l i c h los ist?« Ein weiterer Streifenwagen hielt m i t quietschenden Bremsen. Veronique Baltrus sprang heraus. »Ich hab's.« »Was?« »Eric Wu bei yenta'match.com. Er hat den Namen Stephen Fleisher benutzt.« Sie lief auf sie zu, das rabenschwarze Haar streng im Nacken aufgesteckt. »Yenta-match ist eine Kontaktbörse für jüdische W i t w e n und Witwer. Wu hatte dort drei O n line-Flirts gleichzeitig laufen. Die eine Frau ist aus Washington, D . C . Eine andere lebt in Wheeling, West Virginia. U n d die dritte und letzte, eine Beatrice Smith, wohnt in A r m o n k , New
York.« Perlmutter startete durch. K e i n Zweifel, dachte er. D a h i n musste Wu gefahren sein. Scott Duncan folgte i h m . Die Fahrt nach A r m o n k würde kaum länger als zwanzig M i n u t e n dauern. »Ruf die Kollegen in A r m o n k an«, brüllte er Baltrus zu. »Sag ihnen, sie sollen sofort alle verfügbaren Einheiten rüberschicken. «
45 Grace wartete darauf, dass der M a n n ausstieg. Das Grundstück war dicht m i t Bäumen bewachsen, so dass das Haus v o n der Straße aus kaum zu sehen war. Das Haus besaß zahlreiche neugotische Türmchen und große Terrassenflächen. Grace erkannte einen altersschwachen G r i l l . Es gab eine Reihe von Gartenleuchten im Stil alter Straßenlaternen, doch sie waren verwittert und schadhaft. Im Hintergrund standen verrostete Kinderschaukeln wie Überbleibsel aus einer längst vergangenen Zeit. Offenbar hatte man hier einst Partys gefeiert. Eine Familie hatte hier gelebt. Menschen, die sich gern Gäste eingeladen hatten. Das Haus hatte etwas von der Geisterhaftigkeit einer alten Westernstadt. Fehlte nur noch, dass der W i n d Steppenhexen über den Weg blies. »Stellen Sie den M o t o r ab.« Grace ging alles noch einmal durch. T ü r öffnen. Beine hinaus schwingen. Die Waffe ziehen. Zielen ... U n d was dann? I h m befehlen, die Hände h o c h zu heben? I h m in die Brust schießen? Oder was? Sie schaltete die Zündung aus und wartete, dass er zuerst ausstieg. Er streckte die Hand nach dem Türgriff aus. Sie machte sich bereit. Sein Blick war auf die Vordertür des Hauses gerichtet. Sie ließ ihre H a n d nur millimeterweit sinken. Sollte sie es jetzt versuchen? N e i n . Warte lieber, bis er aussteigt. U n d dann ja n i c h t zögern. Jedes Zaudern würde das Überraschungsmoment zunichte machen. Der M a n n hielt inne, die Hand am Türgriff. Dann drehte er sich um, ballte die Faust und schlug Grace m i t solcher W u c h t in den unteren Rippenbereich, dass sie für einen M o m e n t glaubte, ihr Brustkorb müsse einknicken wie eine Streichholzkonstruktion. Es gab einen dumpfen Schlag und ein Knacken.
Heißer, brennender Schmerz breitete sich über ihre rechte Körperhälfte aus. Sie glaubte, sämtliche Körperfunktionen müssten aussetzen. Dann packte der Asiate sie m i t einer Hand am Kopf. Die andere glitt seitlich über ihren Brustkasten. Sein Zeigefinger verharrte auf dem Punkt an der Unterseite, den er kurz zuvor getroffen hatte. Seine Stimme war sanft. »Sagen Sie mir bitte, wie Sie an das Foto gekommen sind.« Sie machte den M u n d auf, brachte jedoch kein W o r t heraus. Er nickte, als habe er nichts anderes erwartet. Seine Hand fiel v o n ihr ab. Er öffnete die A u t o t ü r und stieg aus. Grace war schwindelig vor Schmerzen. Die Pistole, dachte sie. Zieh die verdammte Pistole! D o c h er war bereits auf ihrer Wagenseite. Er riss ihre T ü r auf. Seine Hand packte sie im Nacken, Daumen auf der einen, Zeigefinger auf der anderen Seite. Er drückte auf die Akupressurpunkte und begann sie hochzuziehen. Grace versuchte, der Bewegung zu folgen, die sich wie eine Welle bis in die letzte Rippe fortsetzte. Es fühlte sich an, als hätte jemand einen Schraubenschlüssel zwischen zwei Knochen gesteckt und bewegte i h n jetzt h i n und her. Er zog sie beim Nacken aus dem Wagen. Jeder Schritt war ein neues Schmerzerlebnis. Sie versuchte nicht zu atmen. A l s sie endlich vorsichtig Luft holte, war es, als würden ihre Sehnen bei der geringsten Dehnung der Rippen zerreißen. Er zerrte sie zum Haus. Die Haustür war nicht verschlossen. Er drehte den Knauf herum, stieß die T ü r auf und schubste sie ins Innere. Sie schlug hart zu Boden und verlor beinahe das Bewusstsein. »Bitte sagen Sie mir, wie Sie an das Foto gekommen sind.« Er kam langsam auf sie zu. Die Angst brachte augenblicklich Klarheit in ihre Gedanken. Sie redete schnell. »Ich habe die Abzüge von einem frisch entwickelten F i l m aus dem Fotolabor geholt«, begann sie. Er nickte so, als höre er ihr gar nicht zu. Er kam immer näher.
Grace redete weiter und versuchte dabei vor i h m zurückzuweichen. Seine Miene verriet nichts. Er wirkte wie ein M a n n , der eine ganz prosaische Aufgabe zu erledigen hatte, wie zum Beispiel Saatgut einpflanzen, einen Nagel einschlagen, Holz hacken. D a n n war er direkt über ihr. Sie versuchte, sich zu wehren. A n gesichts seiner Kraft ein lächerliches Unterfangen. Er hob sie gerade so weit hoch, dass er sie auf den Bauch drehen konnte. Ihre Rippen wurden auf den harten Boden gepresst. Ein Schmerz anderer A r t fuhr wie ein glühendes Messer durch ihren Körper. Vor ihren Augen lag ein Schleier. Sie befanden sich noch immer in der Diele. Er setzte sich rittlings auf ihren Rücken. Sie: versuchte nach i h m zu treten und trat ins Leere. Er drückte sie zu Boden. Grace lag bewegungslos wie in einem Schraubstock. »Bitte sagen Sie mir, wie Sie an das Foto gekommen sind.« Sie fühlte die Tränen aufsteigen und gestattete sich nicht, zu weinen. D u m m . Machogehabe. Trotzdem würde sie nicht weinen. Sie wiederholte ihre A n t w o r t m i t dem Fotolabor. N o c h i m mer rittlings auf ihr sitzend, ihre Rippen zwischen seinen Knien, legte er seinen Zeigefinger auf die wunde Unterseite ihres Brustkorbs. Grace versuchte sich der Berührung zu entwinden. Er fand den Punkt, wo es am meisten wehtat und verharrte m i t seiner Fingerspitze genau dort. Für einen M o m e n t rührte er sich nicht. Sie bockte wie ein junges Fohlen. Sie warf ihren Kopf vor und zurück. Sie schlug m i t den A r m e n um sich. Er wartete nur eine Sekunde. D a n n noch eine. U n d dann stieß er m i t dem Finger zwischen die gebrochenen
Rippen. Grace schrie gellend auf. »Bitte sagen Sie mir, wie Sie an das Foto gekommen sind«, fragte die Stimme unverändert gleichmütig. Jetzt flossen ihre Tränen. Er ließ sie weinen. Sie begann erneut zu erklären, wählte andere Worte, hoffte, dass es n u n glaubhafter klingen würde, überzeugender. Er schwieg.
D a n n legte er den Zeigefinger erneut auf die gebrochene Rippe. In diesem Augenblick klingelte sein Handy. Der Asiate seufzte. Er stützte die Hände auf ihren Rücken und stemmte sich hoch. Ihre Rippen knirschten. Grace hörte ein W i m m e r n und merkte, dass es v o n ihr kam. Sie hielt sofort inne. Es gelang ihr, einen Blick über die Schulter zu werfen. Ohne sie aus den Augen zu lassen, nahm er sein Handy aus der Tasche und klappte es auf.
»Ja.« Sie hatte nur einen Gedanken: H o l dir die Pistole. Er starrte auf sie herab. Es war ihr schon fast egal. Jetzt nach der Waffe zu greifen, wäre Selbstmord gewesen, aber sie wollte nur eines - dem Schmerz entfliehen. Um jeden Preis. Egal welches Risiko sie dabei einging. N u r weg v o n dieser Folter. Der Asiate hielt noch immer das Handy ans Ohr. Emma und Max. Ihre Gesichter schwebten in einer A r t Nebelschwade auf sie zu. Grace versenkte sich in dieses B i l d . U n d dann geschah etwas Seltsames. W i e sie dort lag, noch immer auf dem Bauch, eine Wange auf den Fußboden gepresst, lächelte Grace. Tatsache, sie lächelte. N i c h t aus warmer mütterlicher Zuneigung, obwohl diese Gefühle eine Rolle spielen mochten, sondern weil sie sich an einen besonderen Umstand erinnerte. Sie erinnerte sich an die Atemtechnik, die sie in ihrem Geburtsvorbereitungskurs gelernt hatte. Die Wehenschmerzen bei Emmas Geburt waren schlimmer gewesen als das, was sie gerade erlebte. U n d sie hatte sie dank dieser Technik und m i t Jacks H i l fe durchgestanden. Für ihre Tochter. U n d dann, wie durch ein Wunder, war sie willens gewesen, es erneut für Max zu riskieren. Also, mach es wieder, sagte sie sich. Vielleicht war sie schon nicht mehr ganz bei sich. Doch das spielte keine Rolle. Sie lächelte weiter. Grace sah Emmas entzü-
ckendes Gesicht vor sich. U n d sie sah M a x ' vor sich. Sie blinzelte, und sie waren verschwunden. Aber auch das war nicht mehr wichtig. Sie starrte auf den grausamen M a n n m i t dem Telefon am Ohr. K o m m schon, du verdammtes Schwein. M a c h schon! Er beendete sein Telefongespräch. Er k a m zu ihr. Sie lag noch immer auf dem Bauch. Er setzte sich erneut auf sie. Grace schloss die Augen. Tränen quollen unter den Lidern hervor. Sie wartete. Der M a n n packte ihre Hände und legte sie ihr auf den Rücken. Er fesselte sie an den Gelenken m i t Isolierband und stand auf. D a n n zog er sie auf die Knie, die Hände auf dem Rücken gebunden. Ihre Rippen brannten wie Feuer, doch vorerst hatte sie den Schmerz im Griff. Sie sah zu i h m auf. »Bleiben Sie, wo Sie sind«, sagte er. Er wandte sich ab und ließ sie allein. Sie lauschte. Sie hörte, wie eine T ü r geöffnet wurde und dann Schritte. Er schien in den Keller hinunterzugehen. Sie war allein. Grace versuchte, die Handfesseln abzustreifen, doch sie saßen viel zu fest. Keine Chance, an die Waffe zu kommen. Sie spielte m i t dem Gedanken, aufzustehen und wegzulaufen, doch das erschien ihr sinnlos. Die Lage ihrer Arme, die brennenden Schmerzen im Brustkorb und natürlich die Tatsache, dass sie schon unter normalen Umständen Schwierigkeiten beim Gehen hatte, ließen eine Flucht nicht als realistische Alternative erscheinen. Aber war es vielleicht v o n Vorteil, wenn es ihr gelang, die auf dem Rücken gefesselten Hände nach vorn, vor den Bauch zu bringen? A u f diese Weise kam sie möglicherweise an ihre Waffe. Es war immerhin ein Plan. Grace hatte keine A h n u n g , wie lange er fortbleiben würde viel Zeit gab sie sich nicht -, aber sie musste es wagen. Sie presste die Schulterblätter zusammen. Sie streckte die
A r m e so lang sie konnte. Jede Bewegung - jeder Atemzug - entfachte glühendes Feuer in ihrem Brustkorb. Sie kämpfte dagegen an. Sie stand auf. Sie beugte den Oberkörper nach vorn. Dehnte die A r m e so lang wie möglich. Sie gewann Zentimeter um Zentimeter. M i t aufrechtem Oberkörper beugte sie die Knie und hätte beinahe aufgeschrien. Sie kam ihrem Ziel näher. Verdammt! Er kam wieder die Treppe herauf. Sie war wie gefangen in ihrem Bewegungsablauf, die gefesselten Hände schon unterhalb vom Gesäß. Großer G o t t ! Beeil dich. Egal wie. Entweder die Hände wieder auf den Rücken oder weitermachen. Sie beschloss, weiterzumachen. Die Sache würde hier und jetzt enden. Die Schritte waren langsam. Schwer. Es klang, als schleppe er eine Last hinter sich her. Grace zog und drückte weiter. Ihre Hände blieben stecken. Sie beugte Oberkörper und Knie noch tiefer. Sie drohte vor Schmerz ohnmächtig zu werden. Sie schloss die Augen und schwankte. Sie zog die A r m e noch weiter nach hinten, bereit, sich die Schultergelenke auszurenken, solange das nur half, ihr Ziel zu erreichen. Die Schritte verstummten. Eine T ü r wurde geschlossen. Er war wieder da. Sie zwängte die A r m e unter sich durch. Es funktionierte. Im nächsten M o m e n t hatte sie sie vor dem Körper. Doch es war zu spät. Der M a n n war wieder da. Er stand im Raum, kaum eineinhalb Meter von ihr entfernt. Er sah, was sie getan hatte. N u r Grace registrierte das nicht. Sie sah ihren Peiniger nicht an. Sie starrte m i t offenem M u n d auf seine rechte Hand. Der M a n n löste seinen Griff. U n d gleich neben i h m auf den Boden fiel Jack.
46 Grace war m i t einem Satz bei i h m . »Jack? Jack?« Er hatte die A u g e n geschlossen. Sein Haar klebte an der Stirn. Trotz der Fesseln nahm sie sein Gesicht in beide Hände. Jacks Haut fühlte sich kalt und feucht an. Seine Lippen waren trocken und verkrustet. Seine Fußgelenke waren m i t Isolierband zusammengebunden. An seinem rechten Handgelenk h i n g eine Handschelle. Sein linker Handknöchel war wund und blutverkrustet. N a c h den W u n d e n zu urteilen, musste er auch an den Händen und das längere Zeit - gefesselt gewesen sein. Sie rief erneut seinen Namen. Keine Reaktion. Sie legte das O h r an seinen M u n d . Er atmete. Flach zwar, aber er atmete. Sie rutschte näher an seine Seite und bettete seinen K o p f in ihren Schoß. Ihre Rippen protestierten, doch das spielte jetzt keine Rolle. Er lag flach auf dem Rücken, ihr Schoß sein Kissen. Ihre Gedanken wanderten zurück zu den Lauben in den Weinbergen v o n Saint-Emilion. Sie waren ungefähr drei Monate zusammengewesen und verliebt über beide Ohren, als sie Pastete, Käse und natürlich W e i n eingepackt hatte. Der Tag war v o n der Sonne geküsst, der H i m m e l v o n einem nahezu unwirklichen Blau. Sie lagen auf einer Wolldecke, sein Kopf in ihrem Schoß - so wie jetzt. Sie hatte mehr Zeit damit verbracht, i h n anzusehen als die W u n der der Natur, die sie umgaben. Sie folgte m i t ihren Fingern den L i n i e n seines Gesichts. Sie versuchte, ihrer Stimme einen sanften Klang zu geben, um ihre wahnsinnige Angst nicht zu zeigen.
»Jack?« Seine Lider zuckten. D a n n schlug er die A u g e n auf. Seine Pupillen erschienen ihr unnatürlich groß. Es dauerte einen M o ment, bis er den Blick auf sie richtete und sie erkannte. Im ersten
Augenblick verzogen sich seine verkrusteten Lippen zu einem Lächeln. Grace fragte sich, ob auch er an dieses besondere Picknick in den Weinbergen zurückdachte. Es brach ihr das Herz, doch sie brachte ein Lächeln zustande. Die Heiterkeit währte nur wenige Sekunden, dann gewann die W i r k l i c h k e i t die Oberhand. Jacks Augen wurden noch größer. Diesmal vor Angst. Sein Lächeln verschwand. Sein Gesicht verzerrte sich. Vor Verzweiflung. »Großer Gott!« »Ist ja gut«, sagte sie hastig, obwohl ihr das unter den gegebenen Umständen selbst mehr als dämlich vorkam. Er versuchte, die Tränen zurückzuhalten. »Es tut mir so Leid, Grace.« »Pssst... Ist schon in Ordnung.« Jacks Augen bewegten sich wie Suchscheinwerfer, bis sie den Entführer gefunden hatten. »Sie weiß nichts«, sagte er zu i h m . »Lassen Sie sie gehen.« Der M a n n trat einen Schritt näher. Er kauerte nieder. »Wenn Sie noch ein W o r t sagen«, drohte er Jack, »tu ich ihr was an. N i c h t Ihnen. Ihr. U n d das nicht zu knapp. Kapiert?« Jack schloss die Augen und nickte. Ihr Peiniger erhob sich. Er beförderte Jack m i t einem Fußtritt aus ihrem Schoß, packte Grace beim Haar und zerrte sie auf die Beine. M i t der anderen H a n d packte er Jack im Nacken. »Wir müssen noch mal los.«
47 Perlmutter und Duncan waren gerade v o m Garden State Parkway zur Interstate 284 abgebogen, kaum fünf M e i l e n v o m Haus in A r m o n k entfernt, als der A n r u f über Funk kam: »Sie waren hier - Lawsons Saab steht noch in der Auffahrt -, aber jetzt sind sie verschwunden.«
»Was ist m i t Beatrice Smith?« »Nirgends zu sehen. Bis jetzt nicht. W i r sind gerade erst angekommen. W i r suchen im Haus weiter.« Perlmutter überlegte. » W u muss geahnt haben, dass Charlaine Swain uns alarmiert hat. Deshalb ist er erst mal den Saab losgeworden. Wissen Sie, ob Beatrice S m i t h einen Wagen hat?« »Noch nicht. Nein.« »Kein anderes A u t o in der Auffahrt oder der Garage?« »Bleiben Sie dran.« Perlmutter wartete. Duncan sah i h n an. Zehn M i n u t e n später: »Kein anderer Wagen.« »Dann muss er ihr A u t o genommen haben. Stellen Sie fest, welche Marke und welches Kennzeichen. U n d geben Sie sofort eine Fahndung raus.« »In Ordnung. Warten Sie! Sekunde noch, Captain.« Am anderen Ende war es wieder still. »Ihre Computerexpertin«, sagte Scott Duncan unvermittelt. »Sie hält Wu für einen Serienmörder.« »Sie hält es jedenfalls für eine Möglichkeit.« »Aber Sie glauben nicht daran?« Perlmutter schüttelte den Kopf. »Er ist ein Profi. Er pickt sich seine Opfer nicht zum Spaß raus. Sykes hat allein gelebt. Beatrice S m i t h ist W i t w e . Wu wechselt ständig den Standort, um ungestört agieren zu können. Deshalb hat er sich dieses Anwesen ausgesucht. Er braucht immer einen neuen Unterschlupf.« »Er ist also ein Auftragskiller?« »So was in der Richtung.« »Irgendeine Idee, für wen er arbeitet?« Perlmutter hatte die Hände am Steuer. Er nahm die Ausfahrt A r m o n k . Sie hatten nur noch eine Meile bis zum Ziel. »Ich hatte gehofft, Sie oder Ihr Mandant hätten da eine Idee.« Das Funkgerät begann zu knacken. »Captain? Sind Sie noch
da?« »Bin ich.«
» A u f Mrs. Beatrice S m i t h ist ein Wagen zugelassen. Handelt sich um einen braunen Landrover. Kennzeichen 472-JXY.« »Geben Sie die entsprechende Fahndung raus. W e i t können Sie n o c h n i c h t gekommen sein.«
48 Der braune Landrover blieb auf Nebenstraßen. Grace hatte kein e n Schimmer, w o h i n die Reise gehen sollte. Jack lag vor der Rückbank auf dem Fahrzeugboden. Er war bewusstlos. Seine K n ö chel waren m i t Isolierband zusammengebunden. Seine H ä n de waren m i t Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Graces Hände waren noch immer vor ihrem Körper und gefesselt. Ihr Entführer, so vermutete sie, hatte keine Veranlassung gesehen, das zu ändern. Jack stöhnte im Fond wie ein verwundetes Tier. Grace sah ihren Peiniger an, seine selbstgefällige Miene, eine Hand am Steuerrad wie ein Familienvater, der seine Lieben zu einem Sonntagsausflug kutschiert. Alles tat ihr weh. Jeder Atemzug war eine Erinnerung daran, was er m i t ihren Rippen angestellt hatte. Ihr Knie fühlte sich an, als steckte ein spitzer Gegenstand in der Kniescheibe. »Was haben Sie m i t i h m gemacht?«, fragte sie. Sie spannte sämtliche Muskeln an, wappnete sich gegen den Schlag, der kommen musste. Schmerzen interessierten sie n i c h t mehr w i r k l i c h . Der M a n n schlug n i c h t zu. Er blieb stumm. Er deutete m i t dem Daumen auf Jack. »Nichts so Schlimmes wie das,« begann er, »was er I h n e n angetan hat.« Sie erstarrte. »Was zum Teufel wollen Sie damit sagen?« In diesem M o m e n t und zum allerersten M a l verzog er das Gesicht zu einem aufrichtigen Lächeln. »Schätze, das wissen Sie genau.«
»Ich habe n i c h t die leiseste Ahnung«, widersprach sie. Angesichts dieses Lächelns begannen irgendwo tief in ihrem Inneren die nagenden Zweifel zu wachsen. Sie versuchte, sie zu verdrängen, versuchte, sich auf eine Chance zu konzentrieren, all dem Unglück zu entkommen und Jack zu retten. » W o h i n bringen Sie uns?«, fragte sie. Keine A n t w o r t . »Ich habe gefragt...« »Sie haben verdammt viel M u t « , unterbrach er sie. Sie sagte nichts. »Ihr M a n n liebt Sie. Sie lieben i h n . Das macht es leichter.« »Macht was leichter?« Er warf ihr einen Blick zu. »Sie mögen beide bereit sein, Schmerzen zu riskieren. Aber werden Sie es zulassen, dass i c h I h rem M a n n etwas antue?« Sie antwortete nicht. » I h m habe i c h dasselbe gesagt: W e n n Sie noch mal den M u n d aufmachen, werde i c h Ihrer Frau sehr wehtun.« Der M a n n hatte Recht. Es funktionierte. Sie schwieg. Sie blickte aus dem Fenster. Die Baumkulisse verschwamm vor ihren Augen. Sie bogen auf einen zweispurigen Highway ein. Grace hatte keine Vorstellung, wo sie sich befanden. Die Gegend war ländlich. So viel war zu erkennen. N a c h zwei weiteren Landstraßen erkannte Grace plötzlich, dass sie auf dem Palisades Parkway waren und in Richtung Süden, zurück nach N e w Jersey fuhren. Die Glock steckte noch immer in ihrem Knöchelhalfter. Sie spürte den leichten Druck der Waffe an ihrer Haut. Sie schien sich in Erinnerung bringen zu wollen, sich über sie lustig zu machen, weil sie gleichzeitig so nah und doch so unerreichbar war. Grace musste eine Möglichkeit finden, an die Waffe zu kommen. Sie hatte keine andere W a h l . Dieser M a n n würde sie beide umbringen. Das war sicher. Er wollte Informationen - über die Herkunft dieses Fotos zum Beispiel -, aber sobald er diese bekom-
men hatte, sobald i h m klar wurde, dass sie v o n Anfang an die Wahrheit gesagt hatte, würde er sie beide töten. Sie musste irgendwie die Glock erreichen. Der M a n n beobachtete sie unaufhörlich aus dem Augenwinkel. Es bot sich einfach keine Gelegenheit. Sie überlegte. Sollte sie warten, bis der Wagen anhielt? Das hatte sie schon einmal versucht, und es hatte nicht funktioniert. Einfach handeln? Die Waffe ziehen und es darauf ankommen lassen? Eine Möglichkeit sicher, aber sie glaubte kaum, schnell genug sein zu können. Das Hosenbein hochziehen, den Sicherheitsriemen öffnen, den G r i f f der Pistole fassen, sie aus dem Halfter ziehen ... und das alles, bevor er reagieren konnte ? Ausgeschlossen. Sie ging im Geiste eine langsamere Version durch. Dazu musste sie die Hände seitlich allmählich tiefer nehmen, versuchen, das Hosenbein Stück für Stück hochzuziehen, so tun, als würde es sie am Bein jucken. Grace verlagerte ihr Gewicht auf dem Autositz und sah auf ihr Bein hinunter. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals ... Ihr Hosenbein hatte sich hochgeschoben. Das Knöchelhalfter. Es lugte hervor. Panik erfasste sie. Sie warf einen hastigen Blick auf ihren Peiniger, hoffte, dass i h m das entgangen war. Vergeblich. Er hatte es gesehen. Seine Augen weiteten sich. Er starrte auf ihr rechtes Bein. Jetzt oder nie. Doch noch als ihre Hand zum Fußgelenk schnellte, erkannte Grace, dass sie keine Chance hatte. Sie war n i c h t schnell genug. Ihr Peiniger legte seine Hand wieder auf ihr Knie und drückte zu. Der Schmerz pulsierte m i t gnadenloser Schärfe durch ihren Körper, raubte ihr beinahe das Bewusstsein. Sie schrie. Ihr Oberkörper erstarrte. Ihre Hände fielen kraftlos herab. Er hatte sie im Griff. Sie wandte sich i h m zu, blickte i h m in die Augen und sah nur
Leere. Dann, ohne Vorwarnung, n a h m sie hinter i h m im Augenw i n k e l eine Bewegung wahr. Grace h i e l t den A t e m an. Es war Jack. Irgendwie war es i h m gelungen, sich einer Fata Morgana gleich über den Rücksitz aufzurichten. Der M a n n drehte sich um, mehr aus Neugier als aus Sorge. Schließlich war Jack an Händen und Füßen gefesselt. Jack war ausgepumpt, am Ende. Was hätte er schon ausrichten können? M i t wildem Blick und geradezu animalischem W i l l e n warf Jack seinen Kopf zurück und stieß vor. Dieser Überraschungsangriff traf ihren Peiniger v ö l l i g unvorbereitet. Jacks S t i r n schlug gegen den rechten Backenknochen des Mannes. Es gab ein dunkles, hohles Knacken. Der Wagen kam m i t quietschenden Bremsen zum Stehen. Der M a n n ließ Graces Knie los. »Lauf, Grace!« Das war Jacks Stimme. Grace tastete nach der Pistole. Sie öffnete den Sicherheitsriemen. D o c h ihr Peiniger hatte sich schon wieder erholt. M i t einer H a n d packte er Jack im Nacken. M i t der anderen griff er erneut nach ihrem Knie. Sie rutschte zur Seite. Er versuchte es wieder. Grace wusste, dass ihr keine Zeit mehr blieb, an die Waffe zu kommen. Jack konnte ihr n i c h t helfen. Er hatte all seiine Energie aufgebraucht und sich für diesen einen A n g r i f f geopfert. U n d es war alles vergebens gewesen. Der M a n n rammte seine Finger erneut in Graces Rippen. G l ü hende Pfeile schossen durch ihren Körper. Übelkeit stieg aus i h rem Magen auf. Schwindel erfasste sie. Sie fühlte, wie ihr die Sinne zu schwinden drohten. Sie konnte sich nicht mehr halten ... Jack versuchte weiter, um sich zu schlagen, doch für ihren Peiniger war er nicht mehr als ein lästiges Insekt. Der M a n n drückte die Finger in Jacks Nacken zu. Jack gab keinen Laut mehr v o n sich und hörte auf, sich zu bewegen.
Der M a n n streckte seine Hand nach Grace aus. Sie packte die
Türklinke. Seine H a n d umfasste ihren A r m . Sie konnte sich nicht rühren. Jacks lebloser Kopf rutschte über die Schulter des Mannes und blieb auf seinem Unterarm liegen. M i t geschlossenen Augen öffnete Jack plötzlich den M u n d und biss kräftig zu. Der M a n n jaulte auf und ließ Grace los. Er schüttelte heftig seinen A r m und versuchte Jack abzuschütteln. Jack biss die Zähne zusammen und ließ nicht los, wie eine Bulldogge. M i t seiner freien Hand schlug der M a n n Jack auf den Kopf. Jack sackte kraftlos zur Seite. Grace drückte den G r i f f hinunter und warf sich gegen die Tür. Sie fiel aus dem Wagen und landete auf dem Asphalt. Dort rollte sie sich weiter, um Abstand zwischen sich und ihren Peiniger zu bringen. Sie schaffte es tatsächlich bis zur gegenüberliegenden Bankette des Highways. Ein Wagen w i c h ihr schleudernd aus. H o l dir die Waffe! Ihre Hand fuhr an ihren Knöchel. Der Sicherheitsriemen war gelöst. Sie wandte sich dem Landrover zu. Der M a n n stieg aus. Er hob sein H e m d hoch. Grace sah seine Pistole. Sie sah, wie er danach griff. Graces Pistole glitt aus dem Halfter. Sie hatte keine Zweifel mehr, keine moralischen Vorbehalte mehr. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, i h n zu ermahnen, die Hände über den Kopf zu nehmen. Ihr fehlte jede moralische Entrüstung. Kultur, Menschlichkeit, Erziehung, das alles hatte sie längst hinter sich gelassen. Grace drückte ab. Ein Schuss löste sich. Sie drückte noch einmal ab. U n d wieder. Der M a n n taumelte. Ihr Finger zog erneut den Abzug. Sirenengeheul kam näher. Grace feuerte noch einmal.
49 Zwei Krankenwagen trafen ein. Der eine raste m i t Jack davon, bevor Grace auch nur einen Blick auf i h n werfen konnte. Zwei Sanitäter verarzteten sie, stellten Fragen, während sie sich um sie bemühten, doch die Worte drangen nicht bis zu ihr durch. M a n schnallte sie auf eine fahrbare Trage und rollte sie zum Krankenwagen. Inzwischen war auch Perlmutter eingetroffen. »Wo sind Emma und Max?«, fragte Grace. » A u f dem Revier. In Sicherheit.« Eine Stunde später lag Jack im OP. Mehr wollte man ihr n i c h t sagen. Er wurde operiert. E i n junger A r z t schleuste Grace durch eine Untersuchung nach der anderen. Sie hatte mehrere gebrochene Rippen. Der A r z t legte ihr einen elastischen Verband an und gab ihr eine Spritze. A l l m ä h l i c h ließen die Schmerzen nach. Ein Orthopäde untersuchte ihr Knie und schüttelte einfach nur den Kopf. Perlmutter kam ins Zimmer und stellte eine Menge Fragen. Grace beantwortete die meisten. Bei einigen Themen blieb sie absichtlich vage. Sie wollte der Polizei eigentlich nichts vorenthalten, doch andererseits - wollte sie es eben doch. Perlmutter blieb ebenfalls reichlich ungenau. Der Name ihres Peinigers jedenfalls lautete Eric W u . Er war vorbestraft, hatte im Gefängnis gesessen. In Waiden. Das überraschte Grace kaum. A u c h Wade Larue hatte in Waiden gesessen. Es fügte sich alles zusammen. Das alte Foto. Jacks Band Allaw. Die Jimmy-X-Band. Wade Larue. U n d ja, sogar Eric W u . Perlmutter beantwortete die meisten ihrer Fragen ausweichend. Sie drang nicht weiter in i h n . Scott Duncan war ebenfalls anwesend. Er hielt sich jedoch im Hintergrund und sagte kein Wort. »Woher haben Sie gewusst, dass Eric Wu m i c h entführt hat?«, fragte Grace.
Diese Frage schien Perlmutter kaum in Verlegenheit zu bringen. »Kennen Sie Charlaine Swain?« »Nein.« »Ihr Sohn Clay geht auch auf die Willard-Schule.« »Okay, richtig. B i n ihr schon begegnet.« Perlmutter berichtete ihr v o n Charlaine Swains eigener leidvoller Begegnung m i t Eric W u . U n d zwar ausführlich. U n d m i t Absicht, dachte Grace, damit er auf den Rest n i c h t näher eingehen muss. Perlmutters Handy klingelte. Er entschuldigte sich und trat in den Korridor hinaus. Grace war m i t Scott Duncan allein. »Was denken die?«, fragte sie. Scott kam näher. »Man nimmt an, dass Eric Wu für Wade Larue gearbeitet hat.« »Wie kommen die denn darauf?« »Sie wissen, dass Sie heute Morgen auf Larues Pressekonferenz gewesen sind. Das ist Anhaltspunkt Nummer eins. Wu und Larue haben nicht nur zur gleichen Zeit in Waiden eingesessen, sondern waren sogar drei Monate lang Zellengenossen.« »Anhaltspunkt zwei«, schloss Grace messerscharf. »Und worauf, glauben sie, war Larue aus?« » A u f Rache.« » A n wem?« »Einmal an Ihnen. Sie haben gegen i h n ausgesagt.« »Ich habe in seinem Prozess ausgesagt, nicht gegen i h n . I c h kann m i c h an nichts, was damals geschehen ist, erinnern.« »Trotzdem. Es gibt eindeutig eine Verbindung zwischen Eric Wu und Wade Larue - wir haben die Telefonlisten des Gefängnisses überprüft. Die beiden haben ständig miteinander telefoniert - und was Sie m i t Larue verbindet, ist auch klar.« »Aber selbst wenn Larue sich an mir rächen wollte, warum sollte er dann Jack entführen? Warum nicht mich?« »Die Polizei meint, Larue wollte Sie treffen, indem er Ihrer Familie Schaden zufügte. Er wollte Sie leiden sehen.«
Sie schüttelte den Kopf. » U n d das groteske Foto? W i e glauben Sie, passt das in diesen komischen Mix? Ganz zu schweigen v o n dem M o r d an Ihrer Schwester? Oder der Sache m i t Shane A l w o r t h oder Sheila Lambert? Oder Bob Dodd, der in N e w Hampshire erschossen wurde?« »Klar, die Theorie hat viele Löcher«, sagte Duncan. »Aber die sehen das alles nicht mit unseren Augen. Meine Schwester ist vor fünfzehn Jahren ermordet worden. Was soll das m i t der Gegenwart zu tun haben, fragen die sich. Dasselbe gilt für die anderen. U n d Bob Dodd ist für die von irgendwelchen Gangs aus dem Verkehr gezogen worden. Die halten sich vorerst an das einfache Strickmuster: Wu kommt aus dem Knast. Er entführt Ihren M a n n . Vielleicht hätte er sich noch andere geschnappt, wer weiß?« » U n d weshalb hat er Jack nicht umgebracht?« » W u hat i h n gefangen gehalten, bis Wade Larue entlassen wurde.« »Was heute geschehen ist.« »Richtig. Heute. D a n n greift sich Wu die Ehefrau. Er war m i t Ihnen auf dem Weg zu Larue, als Sie i h m entkommen sind.« »Damit Larue ... uns selbst töten konnte?« Duncan zuckte m i t den Achseln. »Das ergibt doch keinen Sinn, Scott. Eric Wu hat mir die Rippen gebrochen, weil er wissen wollte, woher ich dieses Foto habe. Er hat das Verhör unterbrochen, weil er einen unerwarteten A n ruf gekriegt hat. Danach hat er uns ohne zu zögern in den Wagen verfrachtet. Nichts davon war geplant.« »Perlmutter hat das gerade erst erfahren. K a n n sein, dass sie jetzt ihre Meinung ändern.« » U n d überhaupt! Wo ist eigentlich Larue?« »Scheint niemand zu wissen. Sie suchen ihn.« Grace sank in ihre Kissen zurück. Ihre Glieder waren schwer wie Blei. Tränen traten in ihre Augen. »Wie schlimm steht es um
Jack?«
»Schlimm.« »Kommt er durch?« »Können sie noch nicht sagen.« »Lassen Sie n i c h t zu, dass die m i c h anlügen.« »Keine Angst, Grace. Aber versuchen Sie erst mal zu schlafen, okay?«
* Draußen im Korridor telefonierte Perlmutter m i t dem Captain der Polizei von A r m o n k , A n t h o n y Dellapelle. Seine Leute durchkämmten noch immer das H e i m v o n Beatrice Smith. » W i r haben gerade den Keller untersucht«, sagte Dellapelle. »Da unten wurde jemand gefangen gehalten.« »Jack Lawson. Soviel wissen wir schon.« Dellapelle sagte einen M o m e n t lang nichts. »Vielleicht.« »Was soll das heißen?« »Hängen noch immer Handschellen an einem Abflussrohr.« » W u hat Lawson rausgeholt. U n d die Handschellen vermutl i c h zurückgelassen.« »Könnte sein. Außerdem sind da Blutspuren - n i c h t viel, aber sie sind ziemlich frisch.« »Lawson hat etliche Schnittwunden.« Am anderen Ende war es wieder still. »Was ist los?«, fragte Perlmutter. »Wo sind Sie gerade, Stu?« »Valley Hospital.« »Wie lange brauchen Sie, um her zu kommen?« »Fünfzehn M i n u t e n . M i t Sirene«, antwortete Perlmutter. »Warum?« »Wir sind da drunten auf was gestoßen«, antwortete Dellapelle. »Etwas, das Sie sich vielleicht selbst ansehen sollten.«
Gegen Mitternacht quälte sich Grace aus dem Bett und ging den Korridor entlang. Die Kinder waren kurz zu Besuch gewesen. Grace hatte darauf bestanden, sie n i c h t im Bett liegend zu empfangen. Scott Duncan hatte ihr Kleidung besorgt - einen AdidasTrainingsanzug. Sie wollte die Kinder n i c h t unnötig erschrecken und ließ sich eine Spritze gegen die unerträglichen Schmerzen geben. Sie wahrte tapfer die Fassung bis zu dem Augenblick, als Emma ihr Gedichtheft herauszog. Da begannen plötzlich die Tränen zu fließen. Alles hatte seine Grenzen. Die Kinder verbrachten die N a c h t in ihren eigenen Betten. Cora war bei ihnen, übernachtete in Jacks und Graces Schlafzimmer. Coras Tochter, Vickie, schlief im Zimmer neben Emma. Perlmutter hatte ihnen über N a c h t eine Polizistin zugeteilt, die im Haus blieb. Grace war dankbar dafür. Im Krankenhaus war es jetzt dunkel. Grace h i e l t sich nur m i t M ü h e auf den Beinen. Der Weg schien k e i n Ende zu nehmen. Die unmenschlichen Schmerzen meldeten sich zurück. Ihr Knie fühlte sich an wie Pudding m i t Glasscherben. Im Korridor war alles ruhig. Grace wusste, w o h i n sie wollte. M a n würde versuchen, sie aufzuhalten, da war sie sicher, doch das würde sie n i c h t zulassen. I h r Entschluss stand fest. »Grace?« Sie wandte sich zu der Frauenstimme um, auf alles gefasst. Doch Kampfbereitschaft war nicht gefragt. Grace erkannte die Frau v o m Spielplatz. »Sie müssen Charlaine Swain sein.« Die Frau nickte. Sie gingen aufeinander zu, eine v o m Blick der anderen gefangen. Sie teilten etwas, das keine v o n beiden so recht in Worte fassen konnte. »Ich glaube, ich muss m i c h bei Ihnen bedanken«, begann Grace. »Beruht auf Gegenseitigkeit«, erwiderte Charlaine. »Sie haben i h n getötet. Der A l b t r a u m ist vorbei.«
»Wie geht es Ihrem Mann?«, fragte Grace. »Er wird wieder gesund.« Grace nickte. »Wie ich höre, ist Ihrer noch nicht über den Berg«, sagte Charlaine. Über Platitüden waren beide Frauen längst hinweg. Grace war für die Offenheit dankbar. »Er liegt im Koma.« »Sind Sie schon bei ihm gewesen?« »Ich bin gerade auf dem Weg.« »Heimlich?« »Ja.« Charlaine nickte. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen.« Grace stützte sich auf Charlaine Swain. Die Frau war kräftig. Der Korridor war leer. Von fern hörten sie das Klappern von Absätzen auf dem Fliesenboden. Es brannte nur eine Notbeleuchtung. Sie kamen an einer verwaisten Schwesternstation vorbei und stiegen in den Aufzug. Jack lag im dritten Stock auf der Intensivstation. Dass Charlaine Swain an ihrer Seite war, kam Grace seltsamerweise normal, ja logisch vor. Die Intensivstation bestand aus vier, durch Glaswände getrennten Räumen. Eine Schwester saß in der Mitte. Sie überwachte alle vier Einheiten. In dieser Nacht war nur eine belegt. Grace und Charlaine blieben stehen. Jack lag in seinem Bett. Als Erstes registrierte Grace, dass ihr großer, kräftiger Mann, der ihr allein schon durch seine Statur stets das Gefühl von Sicherheit gegeben hatte, hier erschreckend klein und zerbrechlich aussah. Sie wusste, es war Einbildung. Es waren nur zwei Tage gewesen. Er war vollkommen dehydriert gewesen. Er hatte Gewicht verloren. Doch das war nicht der Grund. Jack hatte die Augen geschlossen. Ein Schlauch führte in seinen Hals. Ein weiterer führte in seinen Mund. Beide waren mit weißem Heftpflaster befestigt. Und ein dritter Schlauch schlängelte sich aus seiner Nase. Der vierte führte in die Armbeuge.
Neben dem Bett stand ein Infusionsständer. Jack war v o n zahllosen medizinischen Geräten umgeben. Er bot einen A n b l i c k wie aus einem futuristischen A l b t r a u m . Grace fühlte, wie sie zu schwanken begann. Charlaine fing sie auf. Grace erlangte ihr Gleichgewicht wieder und ging zur Tür. »Sie können da n i c h t rein«, sagte die Schwester. »Sie möchte nur an seinem Bett sitzen«, erklärte Charlaine. »Bitte.« Die Schwester sah sich um. Dann wandte sie sich an Grace: »Zwei Minuten.« Grace ließ Charlaine los. Charlaine stieß die Tür für sie auf. Grace ging allein hinein. E i n Konzert aus Pieptönen, dunklen Tropflauten und einem Gurgeln, als würde Wasser durch einen Strohhalm gesaugt, empfing sie. Grace setzte sich neben das Bett. Sie griff n i c h t nach Jacks Hand. Sie gab i h m keinen Kuss auf die Wange. »Die letzte Strophe w i r d dir gefallen«, sagte Grace. Sie schlug Emmas Gedichtheft auf und begann zu lesen: »Baseball, Baseball, Wer ist dein bester Freund? Ist es der Schläger, Der dir das Hinterteil verbläut?« Grace lachte und blätterte weiter, doch die nächste Seite - wie auch der Rest des Heftes - war leer.
50 Wenige M i n u t e n bevor Wade Larue starb, glaubte er endlich, den wahren Frieden gefunden zu haben. Er hatte auf Rache verzichtet. Es dürstete i h n nicht mehr nach
der ganzen Wahrheit. Er wusste genug. Er wusste, wo i h n Schuld traf und wo nicht. Es war Zeit, das alles hinter sich zu lassen. Carl Vespa hatte keine W a h l . Er würde sich nie davon erholen. Das Gleiche galt für diesen schrecklichen Flickenteppich aus Gesichtern - dieses verschwommene B i l d der Trauer -, dem er sich damals im Gerichtssaal und erneut heute bei der Pressekonferenz gezwungenermaßen gegenübergesehen hatte. Wade hatte Zeit verloren. Aber Zeit ist relativ. Der Tod ist es nicht. Er hatte Vespa alles gesagt, was er wusste. Vespa war ein böser M a n n , k e i n Zweifel. Der Mensch war zu unaussprechlicher Grausamkeit fähig. In den vergangenen fünfzehn Jahren war Wade Larue einer ganzen Reihe ähnlicher Charaktere begegnet, aber nur wenige waren so einfach gestrickt gewesen. M i t Ausnahme v o n durchgeknallten Psychopathen sind die meisten Menschen, selbst die gemeinsten unter ihnen, in der Lage, andere zu lieben, sich um sie zu sorgen, in Verbindung m i t ihnen zu treten. Das war k e i n Widerspruch. Das war schlicht menschlich. Larue redete. Vespa hörte zu. Irgendwann während seiner Ausführungen erschien Cram m i t einem Handtuch und Eiswürfeln. Er gab beides Larue. Larue bedankte sich. Er nahm das Handtuch - die Eiswürfel wären zu klobig gewesen - und tupfte sich damit das Blut ab. Vespas Schläge taten schon n i c h t mehr weh. Larue hatte im Lauf der Jahre Schlimmeres überstanden. W e n n man erst einmal ausreichend Prügel eingesteckt hat, fürchtet man sie entweder so sehr, dass man in Zukunft alles dafür tut, um sie zu vermeiden, oder man hält sie aus und verlässt sich darauf, dass alles im Leben irgendwann vorübergeht. Irgendwann während der Haft hatte sich Larue Letzteres zu Eigen gemacht. Carl Vespa sprach kein W o r t . Er unterbrach i h n nicht, er forderte keine weitere Aufklärung. A l s Larue geendet hatte, stand Vespa nur m i t ungerührter Miene da und wartete auf mehr. D o c h da kam nichts mehr. Da drehte sich Vespa wortlos um und ging.
Er machte Cram ein Zeichen. Cram trat näher. Larue hob den Kopf. Er hatte nicht vor, davonzulaufen. Damit war er durch. »Kommen Sie. Gehen wir«, sagte Cram. Cram setzte i h n m i t t e n in Manhattan ab. Larue spielte m i t dem Gedanken, Eric Wu anzurufen, doch er wusste, dass das beim augenblicklichen Stand der Dinge zwecklos war. Er machte sich auf zum Port-Authority-Busterminal. Er war bereit für den Rest seines Lebens. Sein Ziel war Portland, Oregon. Warum, wusste er selbst n i c h t genau. Er hatte im Gefängnis über Portland gelesen und irgendwie schien es zu passen. Er sehnte sich nach einer großen Stadt m i t einer freigeistigen Atmosphäre. N a c h allem, was er gelesen hatte, schien Portland eine Hippie-Kommune zu sein, die sich zu einer wichtigen Metropole ausgewachsen hatte. Vielleicht bekam er dort eine faire Chance. Allerdings würde er seinen Namen ändern, sich einen Bart zulegen und sein Haar färben müssen. Mehr äußere Veränderungen waren seiner Ansicht nach n i c h t nötig, um die vergangenen fünfzehn Jahre hinter sich zu lassen. Es mochte vielleicht naiv sein, aber Wade Larue glaubte noch immer, dass für i h n eine Karriere als Schauspieler im Bereich des Möglichen lag. Er hatte noch immer Talent, Er hatte noch immer dieses außergewöhnliche Charisma. Warum sollte er's n i c h t auf einen Versuch ankommen lassen? W e n n nichts daraus wurde, konnte er sich noch i m mer um einen ganz normalen Job bemühen. Er scheute keine harte Arbeit. Er würde wieder in einer Großstadt leben. Er würde frei sein. Doch Wade Larue ging nicht zum Port-Authority-Busterminal. Die Vergangenheit ließ i h n noch nicht los. Er brachte es n i c h t über sich, sang- und klanglos zu verschwinden. Eine Querstraße vor dem Bahnhof blieb er stehen. Er sah die Busse aus der Zufahrt und zum Viadukt hinüberdonnern. Er beobachtete die Szene einen Moment, dann wandte er sich der Reihe öffentlicher Telefone zu.
Einen letzten A n r u f wollte er tätigen. Eine letzte Wahrheit wollte er erfahren. Jetzt, eine Stunde danach, drückte i h m jemand einen Pistolenlauf in die weiche Vertiefung unterhalb seines Ohrs. Es war komisch, an was man angesichts des Todes dachte. Diese weiche Vertiefung war eine v o n Eric Wus bevorzugten Pressurpunkten. Wu hatte i h m erklärt, dass es nichts nützte, nur diese Stelle zu kennen. M a n konnte n i c h t einfach den Finger dort h i nein stecken und zudrücken. Das mochte vielleicht Schmerzen verursachen, aber außer Gefecht setzen würde es den Gegner nicht. Das war es. Dieser läppische Gedanke, jenseits jeden Mitgefühls, war Wade Larues letzter, bevor die Kugel in sein G e h i r n drang und seinem Leben ein Ende setzte.
51 Dellapelle führte Perlmutter in den Keller. Er war ausreichend beleuchtet, und dennoch benutzte Dellapelle eine Taschenlampe. Er richtete den Lichtkegel auf den Fußboden. »Hier.« Perlmutter starrte auf die Betonfläche und spürte einen kalten
Hauch. »Denken Sie, was ich denke?«, fragte Dellapelle. »Dass vielleicht ...« Perlmutter hielt inne und versuchte, die Sache einzuordnen. »... dass Jack Lawson n i c h t der Einzige war, der hier unten gefangen gehalten wurde.« Dellapelle nickte. »Aber wo ist der andere?« Perlmutter sagte nichts. Er starrte nur auf den Fußboden. Hier war offensichtlich jemand gefangen gehalten worden. Jemand, der einen Kieselstein gefunden und zwei Worte in Großbuchstaben in den Fußboden geritzt hatte. Es war ein Name, der Name
einer weiteren Person auf diesem seltsamen Foto, ein Name, den er gerade v o n Grace Lawson erfahren hatte: »SHANE A L W O R T H . «
Charlaine Swain blieb, um Grace in ihr Zimmer zurückzubegleiten. Ihr Schweigen war tröstlich. Grace dachte darüber nach. Sie dachte über viele Dinge nach. Sie fragte sich, wovor Jack vor all den Jahren davongelaufen war. Sie fragte sich, warum er nie diesen Treuhandfond angerührt hatte, weshalb er seiner Schwester und seinem Vater die Kontrolle über seinen A n t e i l überlassen hatte. Sie fragte sich, warum er so kurz nach dem Massaker aus Boston geflüchtet war. Sie fragte sich, warum Geri Duncan zwei Monate später hatte sterben müssen. U n d sie fragte sich, und das erschien ihr das Rätselhafteste, ob ihre Begegnung m i t Jack an jenem Tag in Frankreich, die Tatsache, dass sie sich in i h n verliebt hatte, mehr als nur ein Zufall gewesen war. Sie fragte sich längst nicht mehr, ob all das in einem Zusammenhang stand. Sie wusste, dass es so war. A l s sie Graces Zimmer erreicht hatten, half Charlaine ihr zurück ins Bett. Sie wandte sich zum Gehen. »Würden Sie noch ein paar M i n u t e n bleiben?«, bat Grace. Charlaine nickte. »Gern.« Sie redeten. Sie begannen m i t dem, was sie gemeinsam hatten - Kinder -, doch es war klar, dass keine v o n beiden lange dabei verweilen wollte. Eine Stunde verging wie im Flug. Grace wusste n i c h t einmal mehr genau, worüber sie gesprochen hatten. Nur, dass sie dankbar dafür war. Gegen zwei U h r morgens klingelte das Krankenhaustelefon auf Graces Nachttisch. Einen M o m e n t starrten beide Frauen verdutzt auf den Apparat. D a n n hob Grace den Hörer ab. »Hallo? »Ich habe Ihre Nachricht erhalten. Über Allaw und Still Night.«
Sie erkannte die Stimme. Es war Jimmy X. »Wo sind Sie?« »Im Krankenhaus. U n t e n in der Eingangshalle. Sie wollen m i c h nicht reinlassen.« »Ich b i n in einer M i n u t e bei Ihnen.«
* In der Eingangshalle war alles ruhig. Grace wusste nicht recht, wie sie sich verhalten sollte. Jimmy X saß, die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt, auf einem Stuhl. Er sah n i c h t auf, als sie auf i h n zuhinkte. Die Frau am Empfang las in einer Illustrierten. Der Wachmann pfiff leise vor sich h i n . Grace fragte sich, ob der Wachmann sie beschützen würde. M i t einem M a l vermisste sie diese Pistole. Vor Jimmy X blieb sie stehen, sah auf i h n herab und wartete. Er hob den Kopf. Ihre Blicke trafen sich, und Grace wusste Bescheid. Sie kannte keine Einzelheiten. Sie kannte kaum die groben Umrisse. Aber sie wusste Bescheid. Seine Stimme klang beinahe flehentlich. »Wie sind Sie h i n ter die Sache m i t Allaw gekommen?« »Durch meinen Mann.« Jimmy wirkte verwirrt. »Mein M a n n ist Jack Lawson.« Seine Kinnlade klappte herunter. »John?« »So hat er sich damals genannt, schätze ich. Im Augenblick liegt er oben, im dritten Stock. K a n n sein, dass er stirbt.« »Großer Gott!« Jimmy verbarg das Gesicht in den Händen. »Wissen Sie, was m i c h immer beschäftigt hat?«, fragte Grace. Er antwortete nicht. »Dass Sie weggelaufen sind. K o m m t nicht gerade oft vor - ein Rockstar, der einfach alles hinschmeißt. Es gibt Gerüchte über Elvis und Jim Morrison, aber nur weil sie tot sind. Es gab auch einen F i l m Eddie and the Cruisers, aber das war eben ein Film. Im ech-
ten Leben - also The Who sind nach C i n c i n n a t i auch nicht einfach untergetaucht. U n d die Stones n i c h t nach A l t a m o n t Speedway. Also warum, Jimmy? Warum sind Sie davongelaufen?« Er hielt seinen Kopf wieder gesenkt. »Ich weiß über die Verbindung zu Allaw Bescheid. Ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand zwei und zwei zusammenzählt.« Sie wartete. Er ließ die Hände sinken und rieb die Handflächen aneinander. Sein Blick schweifte zum Wachmann. Grace wäre fast einen Schritt zurückgewichen, hielt dann aber doch die Stellung. »Wissen Sie, weshalb Rockkonzerte immer erst so spät angefangen haben?«, fragte Jimmy. Die Frage verblüffte sie. »Wie bitte?« »Ich sagte ...« »Ich habe schon gehört. N e i n , ich weiß nicht, weshalb.« »Weil wir so fertig waren - besoffen, bekifft, stoned - suchen Sie sich was aus -, dass unsere Helfer eine ganze Zeil: brauchten, um uns so weit wieder auszunüchtern, dass wir überhaupt auftreten konnten.« »Worauf wollen Sie hinaus?« » A n jenem Abend war ich fast bewusstlos v o n Koks und A l k o hol.« Sein Blick schweifte ab, seine Augen waren gerötet. »Daher die endlose Verspätung. Deshalb ist die Menge so ungeduldig geworden. Wäre ich nüchtern gewesen, wäre ich rechtzeitig auf der Bühne erschienen ...« Er verstummte m i t einem Achselzucken. Sie hatte seine Ausflüchte satt. »Erzählen Sie mir v o n Allaw.« »Ich kann's n i c h t fassen.« Er schüttelte den K o p f »Jack Lawson ist Ihr Mann? W i e zum Teufel ist denn das passiert?« Darauf wusste sie keine A n t w o r t . Sie fragte sich, ob sie diese Frage je würde beantworten können. Das Herz war ein seltsames Organ. Konnte das ein Teil der Faszination gewesen sein, etwas Unterbewusstes, das Wissen, dass sie beide diese schreckliche Nacht überlebt hatten? In Gedanken war sie plötzlich wieder m i t Jack an diesem Strand. War es Schicksal gewesen, vorherbe-
stimmt - oder geplant? Hatte Jack die Frau kennen lernen wollen, die zur Symbolfigur für das Massaker von Boston geworden war? »Ist mein M a n n an jenem A b e n d im Konzert gewesen?«, fragte sie. »Was? Das wissen Sie nicht?« »Wir können dieses Spielchen auf zwei A r t e n spielen, Jimmy. Erstens kann ich so tun, als wüsste ich alles und wollte nur noch Ihre Bestätigung. Aber so ist es nicht. I c h werde die Wahrheit vielleicht nie erfahren, wenn Sie sie mir nicht sagen. Sie könnten also Ihr Geheimnis durchaus für sich behalten. Aber ich bleibe Ihnen auf den Fersen. Genau wie Carl Vespa und die Garrisons und die Reeds und die Weiders.« Er sah auf. Sein Ausdruck hatte etwas Kindliches. »Zweitens - und ich glaube, das ist wichtiger - kommen Sie m i t sich selbst n i c h t mehr klar. Sie sind bei mir gewesen, weil Sie Absolution wollten. Sie wissen, es ist Zeit.« Er senkte den Kopf. Grace hörte das Schluchzen. Sein Körper wurde davon geschüttelt. Grace sagte kein W o r t . Sie legte i h m keine Hand auf die Schulter. Der Wachmann sah herüber. Die Empfangsdame blickte v o n ihrer Illustrierten auf. Mehr passierte nicht. Sie befanden sich in einem Krankenhaus. Weinende Erwachsene waren hier kaum etwas Ungewöhnliches. Eine M i n u t e später beruhigte sich Jimmy X. Seine Schultern zuckten nicht mehr. »Wir sind uns in einem Laden in Manchester begegnet«, sagte Jimmy und wischte sich m i t dem Ä r m e l die Nase. »Ich war damals m i t einer Gruppe zusammen, die sich Still Night nannte. Es standen vier Bands auf dem Programm. Eine davon war Allaw. So habe ich Ihren M a n n kennen gelernt. W i r haben hinter der Bühne rumgelungert und uns v o l l gedröhnt. Er war charmant und so, aber Sie müssen verstehen - Musik war alles für mich. M i r schwebte so was vor wie Born to Run, wissen Sie. I c h wollte die Musikwelt verändern. Ich habe Musik gegessen, geschlafen,
geträumt und geschissen. Lawson hat's n i c h t so verbissen gesehen. Die Band hatte Spaß, das war's. Sie hatten ein paar ganz gute Songs drauf, aber Stimmen und Arrangements waren amateurhaft. Lawson hatte keine großen Rosinen im Kopf ... ich meine, er hat nicht damit gerechnet, dass sie mal groß rauskommen würden oder so.« Der Wachmann hatte wieder zu pfeifen begonnen. Die Frau am Empfang war wieder in die Lektüre ihrer Illustrierten vertieft. Ein Wagen fuhr vor dem Eingang vor. Der Wachmann lief hinaus und deutete in Richtung Notaufnahme. »Ein paar Monate später, glaube ich, hat sich Allaw aufgelöst. Aber Lawson und ich sind in Verbindung geblieben. A l s ich die Jimmy-X-Band gegründet habe, hätte i c h i h n beinahe gebeten, mitzumachen.« »Und was hat Sie davon abgehalten?« »Er war im Endeffekt einfach nicht gut genug.« Jimmy stand so abrupt auf, dass Grace erschrak. Sie trat einen Schritt zurück. Sie behielt i h n im Blick, suchte noch immer den Blickkontakt m i t ihm, als könne allein das sein Bleiben sichern. »Ja, Ihr M a n n ist damals beim Konzert gewesen. Hatte i h m fünf Karten direkt vor der Tribüne besorgt. Er hat ein paar seiner alten Bandmitglieder mitgebracht. Zwei hat er sogar hinter die Bühne geschleust.« Er hielt inne. Sie standen sich gegenüber. Er sah fertig aus, und Grace fürchtete für einen Moment, dass er ihr entgleiten könnte. »Erinnern Sie sich noch, wer das gewesen ist?« »Sie meinen, wer v o n den ehemaligen Bandmitgliedern?«
»Ja.« »Zwei Frauen. Eine hatte tizianrotes Haar.« Sheila Lambert. » U n d die andere? War es Geri Duncan?« »Kannte keine m i t Namen.« »Was war m i t Shane Alworth? War er auch dabei 7 « »War er der Typ am Keyboard?«
»Ja.« »Nicht hinter der Bühne. Da habe ich nur Lawson und die beiden Mädels gesehen.« Er schloss die Augen. »Was ist passiert, Jimmy?« Seine Züge wirkten plötzlich eingefallen, er sah um Jahre gealtert aus. »Ich war ziemlich zu. I c h konnte die Menge draußen hören. Zwanzigtausend sind's gewesen. Sie haben meinen N a men skandiert. Sie haben geklatscht. Alles, damit endlich das Konzert losgehen sollte. Aber ich konnte m i c h kaum rühren. M e i n Manager ist reingekommen. Ich brauche Zeit, habe ich gesagt. Er ist wieder gegangen. I c h war allein. U n d dann ist Lawson m i t den beiden Tussis aufgetaucht.« Jimmy blinzelte und sah Grace an. »Gibt's hier irgendwo eine Cafeteria?« »Ist geschlossen.« »Ich könnte eine Tasse Kaffee brauchen.« »Pech für Sie.« Jimmy begann auf und ab zu gehen. »Was ist passiert, nachdem die drei in Ihre Garderobe gekommen waren?« »Keine A h n u n g , wie die's überhaupt hinter die Bühne geschafft haben. I c h hatte ihnen keinen entsprechenden Passierschein verschafft. Lawson ist plötzlich wie aus dem Nichts vor mir aufgetaucht und hat den alten Kumpel markiert. Glaube, ich hab m i c h sogar gefreut. Aber dann, keine A h n u n g , wie, aber auf einmal ist alles aus dem Ruder gelaufen.« »Inwiefern?« »Es war Lawson. Er ist ausgeflippt. Er muss noch besoffener gewesen sein als ich. Hat angefangen, m i c h herumzuschubsen, m i c h zu bedrohen. Hat rumgebrüllt, ich sei ein Dieb.« »Ein Dieb?« Jimmy nickte. »Blanker Unsinn, natürlich. Er hat behaup-
t e t . . . « Er verstummte jetzt und sah ihr endlich in die Augen. »Er hat behauptet, ich hätte seinen Song geklaut.« »Welchen Song?« »Pale Ink.« Grace war wie gelähmt. D a n n lief ein Zittern durch ihre linke Körperhälfte. Sie bekam Herzflimmern. »Lawson und der andere, dieser A l w o r t h , haben einen Song für Allaw geschrieben >Invisible Ink<. Aber der T i t e l ist auch schon die einzige Gemeinsamkeit. Sie kennen den Text v o n >Pale Ink<, oder?« Sie nickte. Sie versuchte erst gar nicht, etwas zu sagen. »>Invisible Ink< hatte eine ähnliche Thematik, schätze ich. G i n g auch darum, wie zweifelhaft Erinnerungen sein können. Aber das war auch schon alles. U n d das habe i c h John gesagt. Er war wie v o n Sinnen. W i e ich auch argumentiert habe, es hat i h n nur noch wütender gemacht. Er hat m i c h ständig geschubst. Eines der Mädels, die m i t dem rabenschwarzen Haar, hat i h n auch noch dauernd aufgehetzt. Sie hat gedroht, sie würden, mir sämtliche Knochen brechen oder so was. I c h hab um Hilfe geschrien. Lawson hat mir einen Fausthieb verpasst. Erinnern Sie sich noch an die Meldung, ich wäre bei den Tumulten verletzt worden?« Grace nickte erneut. »In W i r k l i c h k e i t war's Ihr M a n n . Er hat mir einen Kinnhaken verpasst und sich dann auf m i c h gestürzt. I c h habe versucht, i h n abzuschütteln. Er hat gebrüllt, er bringt m i c h um. Es war, keine A h n u n g , aber die Szene war bizarr. Er wollte Hackfleisch aus mir machen.« Das Zittern breitete sich wellenartig aus. Sie fröstelte. Sie hielt den A t e m an. Das konnte nicht sein! Bitte, lieber Gott, lass es n i c h t wahr sein! »Mittlerweile war die Sache derart eskaliert, dass die Rothaarige versucht hat, Lawson zu beruhigen. H a t gesagt, es wäre die Sache nicht wert. Hat i h n angefleht, er soll es vergessen. Aber er
hat nicht auf sie gehört. Er hat m i c h nur angegrinst und dann ... dann hat er ein Messer gezogen.« Grace schüttelte den Kopf. »Er wollte mich erstechen. Hat er selbst gesagt. M i t t e n ins Herz. Ich war total zu. Aber das hat mich schlagartig ernüchtert. W e n n du jemand nüchtern kriegen willst, dann brauchst du i h n nur ernsthaft m i t einem Messer zu bedrohen.« Er verstummte erneut. » U n d wie haben Sie reagiert?« Hatte sie das gesagt? Grace wusste es selbst nicht. Es hatte wie ihre Stimme geklungen. Allerdings schien die irgendwoher aus dem Weltraum zu kommen. Aus Jimmys Zügen w i c h jede Spannung, als er sich erinnerte. »Ich wollte m i c h nicht einfach so abstechen lassen. Also habe ich m i c h auf i h n gestürzt. Er hat das Messer fallen gelassen. W i r haben miteinander gerungen. Die Mädchen haben gekreischt. Sie haben versucht, uns auseinander zu bringen. U n d dann, als wir auf dem Boden lagen, habe ich den Schuss gehört.« Grace schüttelte noch immer den Kopf. N i c h t Jack. Jack war in dieser Nacht nicht dort gewesen, unmöglich, völlig ausgeschlossen ... »Es war so verdammt laut, wissen Sie. Als wäre die Waffe d i rekt an meinem O h r losgegangen. U n d dann brach die Hölle los. Schreie. U n d dann zwei, vielleicht drei weitere Schüsse. N i c h t im Zimmer. Die kamen v o n weiter her. Wieder Schreie. Lawson rührte sich nicht mehr. Es war Blut auf dem Boden. Er war im Rücken getroffen. I c h hab i h n v o n mir weggestoßen. Dann habe ich den Sicherheitsbeamten gesehen. Gordon MacKenzie. Er hatte die Pistole noch in der Hand.« Grace schloss die Augen. »Augenblick mal. W o l l e n Sie damit sagen, dass Gordon MacKenzie den ersten Schuss abgegeben hat?« Jimmy nickte. »Er hat den Krach gehört, meine Hilfeschreie und ...« Seine Stimme erstarb. »Wir haben uns nur sekundenlang angestarrt. Die Weiber kreischten, aber das ging mittler-
weile im Getöse der Massen draußen unter. Dieses Geräusch, ich weiß nicht, manche sagen, es wäre wie der Schrei eines verwundeten Tiers. Jedenfalls ich habe nie wieder was gehört, das m i t Angst und Panik einer Menschenmenge zu vergleichen wäre. Aber wem sage ich das.« Sie hatte überhaupt keine A h n u n g , wovon er sprach. Das Schädeltrauma hatte sämtliche Erinnerungen gelöscht. Dennoch nickte sie, um i h n bei der Stange zu halten. »Jedenfalls stand MacKenzie sekundenlang wie v o m Donner gerührt da. U n d dann ist er einfach davongelaufen. Die beiden Mädchen haben sich Lawson gepackt und i h n rausgeschleppt.« Er zuckte die Achseln. »Den Rest kennen Sie ja, Grace.« Sie versuchte, das alles zu begreifen. Sie versuchte, die Bedeutung v o n Jimmys Bericht zu verstehen, versuchte, i h n m i t ihrer eigenen W i r k l i c h k e i t in Einklang zu bringen. Sie hatte nur wenige Meter v o m Geschehen entfernt gestanden, auf der anderen Seite der Bühne. Jack, ihr M a n n , war mittendrin gewesen. W i e konnte das sein? »Nein«, sagte sie. »Was nein?« »Nein, ich kenne den Rest nicht, Jimmy.« Er sagte nichts. »Die Geschichte war an dieser Stelle noch nicht zu Ende. Allaw hatte vier Mitglieder. Ich habe den Zeitablauf überprüft. Zwei M o nate nach der Massenpanik hat jemand einen Auftragskiller beauftragt, eines der Bandmitglieder, nämlich Geri Duncan, zu ermorden. M e i n Mann, derjenige, der Sie, wie Sie behaupten, tätlich angegriffen hat, hat sich nach Europa abgesetzt, hat sich den Bart abgenommen und sich von da an Jack genannt. Nach Aussage von Shane A l w o r t h ' Mutter lebt Shane seitdem auch auf einem anderen Kontinent, aber ich glaube ihr nicht. Sheila Lambert, die Rothaarige, hat ebenfalls ihren Namen geändert. Ihr M a n n ist vor kurzem erschossen worden, und sie ist seither unauffindbar.«
Jimmy schüttelte den Kopf. »Von alledem weiß ich nichts.« »Halten Sie das alles für Zufall?« » W o h l kaum«, antwortete Jimmy. »Vielleicht haben die Angst vor dem, was passiert, wenn die Wahrheit rauskommt. Sie wissen, wie es war ... in jenen ersten Monaten - alle wollten Blut sehen. Sie hätten vielleicht ins Gefängnis gemusst, vielleicht schlimmer noch ...« Grace schüttelte den Kopf. » U n d was ist m i t Ihnen, Jimmy?« »Was soll m i t mir sein?« »Warum haben Sie das all die Jahre für sich behalten?« Er schwieg. »Wenn es stimmt, was Sie mir gerade erzählt haben, dann haben Sie sich nichts zuschulden kommen lassen. Sie waren derjenige, der angegriffen wurde. Warum haben Sie der Polizei nicht die Wahrheit gesagt?« Er machte den M u n d auf und gleich wieder zu. Dann versuchte er es noch einmal: »Es ging nicht nur um mich. Da war schließl i c h auch noch Gordon MacKenzie. Er ist danach zum Helden geworden. W e n n rausgekommen wäre, dass er den ersten Schuss abgegeben hat, was glauben Sie, wäre m i t i h m geschehen?« »Soll das heißen, Sie haben all die Jahre gelogen, um MacKenzie zu schützen?« Keine A n t w o r t . »Warum, Jimmy? Warum haben Sie geschwiegen? Warum sind Sie davongelaufen?« Sein Blick wurde unstet. »Hören Sie, ich hab Ihnen gesagt, was i c h weiß. I c h gehe jetzt nach Hause.« Grace trat näher zu i h m . »Sie haben den Song geklaut, stimmt's?« »Wie? Nein.« Doch jetzt war ihr alles klar. »Das war Ihr Teil der Schuld. Sie haben den Song gestohlen. Hätten Sie das nicht getan, wäre das alles n i c h t passiert.«
Er schüttelte nur unaufhörlich den Kopf. »Nein, das ist es nicht.« »Deshalb sind Sie untergetaucht. N i c h t weil Sie im Drogenrausch gewesen sind. Der Song, der Sie zum Star gemacht hat, war geklaut. D a m i t hat alles angefangen. Sie haben Allaw in Manchester auf der Bühne gehört. Ihr Song hat I h n e n gefallen. Sie haben i h n gestohlen.« Er schüttelte reflexhaft den Kopf. »Es gab Ä h n l i c h k e i t e n ...« U n d dann traf sie wie aus heiterem H i m m e l ein anderer Gedanke. »Wie weit würden Sie gehen, um Ihr Geheimnis zu hüten, Jimmy?« Er sah sie an. »>Pale Ink< lief nach der Katastrophe noch besser. Das A l b u m hat M i l l i o n e n eingespielt. Wer hat das Geld?« Er schüttelte den Kopf. »Sie irren sich, Grace.« »Haben Sie vielleicht doch gewusst, dass ich m i t Jack Lawson verheiratet bin?« »Wie bitte? Natürlich nicht.« »Sind Sie deshalb kürzlich spätabends bei mir zu Hause aufgekreuzt? W o l l t e n Sie herausfinden, wie viel ich weiß?« Er schüttelte immer nur den Kopf. Tränen rannen i h m übers Gesicht. »Das ist nicht wahr. I c h wollte nie, dass jemand zu Schaden kommt.« »Wer hat Geri Duncan umgebracht?« »Darüber weiß ich nichts.« »Wollte sie reden? Ist es das? U n d dann, fünfzehn Jahre später wird jemand auf Sheila Lambert alias Jillian Dodd angesetzt, aber ihr M a n n k o m m t dem Mörder in die Quere. W o l l t e sie endlich reden, Jimmy? Hat sie gewusst, dass Sie ein Comeback geplant haben?« »Ich muss jetzt gehen.« Sie vertrat i h m den Weg. »Davonlaufen ist nicht mehr. N i c h t noch einmal. Dazu ist zu viel passiert.«
»Ich weiß«, sagte er beinahe flehentlich. »Das weiß ich besser als alle anderen.« Er drängte sich an ihr vorbei und lief hinaus. Grace war versucht zu schreien »Haltet ihn!«, doch sie bezweifelte, dass der fröhlich pfeifende Wachmann viel ausrichten konnte. Jimmy war schon fast außer Sichtweite. Sie hinkte hinter i h m her. Schüsse - drei an der Zahl - zerrissen die Stille der Nacht. Reifen quietschten. Die Frau am Empfang ließ ihre Illustrierte fallen und griff zum Telefonhörer. Der Wachmann hörte auf zu pfeifen und sprintete zur Tür. Grace eilte hinter i h m her. A l s Grace ins Freie kam, sah sie einen Wagen wie ein Geschoss die Ausfahrtsrampe hinunterrasen. Im nächsten M o m e n t hatte die Dunkelheit i h n verschlungen. Die Insassen hatte Grace nicht erkannt. Doch sie glaubte zu wissen, wer den Wagen gefahren hatte. Der Wachmann beugte sich über den leblosen Körper. Zwei Ärzte kamen im Laufschritt heraus und hätten Grace beinahe umgerannt. Aber es war zu spät. Fünfzehn Jahre nach den tragischen Ereignissen forderte das Massaker von Boston sein undurchschaubarstes Opfer.
52 Vielleicht, so überlegte Grace, wird die ganze Wahrheit niemals ans L i c h t kommen. Vielleicht ist sie auch gar n i c h t wichtig. Am Ende blieben viele Fragen offen. Zu viele der Figuren in diesem Spiel waren mittlerweile tot. Jimmy X, m i t bürgerlichem Namen James Xavier Farmington, war durch drei Kugeln gestorben. Sie hatten i h n m i t t e n in die Brust getroffen. Wade Larues Leiche wurde in der Nähe des Port-AuthorityBusterminals in N e w York gefunden. Keine vierundzwanzig Stunden nach seiner Freilassung. Jemand hatte i h m aus nächster
Nähe in den Kopf geschossen. Es gab nur eine konkrete Spur: Einem Reporter der N e w York Daily News war es gelungen, Wade Larue nach der Pressekonferenz im Crowne Plaza zu folgen. N a c h seiner Aussage war Larue in eine schwarze Limousine eingestiegen. Die Beschreibung des Mannes, der den Wagen gefahren hatte, passte auf Cram. Danach hatte man Larue n i c h t mehr lebend gesehen. Niemand wurde verhaftet. Dennoch lag die Lösung auf der
Hand. Grace versuchte zu verstehen, was Carl Vespa getan hatte. Fünfzehn Jahre waren vergangen. Sein Sohn war nicht wieder lebendig geworden. Eine bizarre Vorstellung, aber möglicherweise passte es. Für Vespa hatte sich nichts verändert. Zeit war nicht alles. Captain Perlmutter hatte nichts gegen i h n in der Hand. Doch Vespa war ein Profi, wenn es darum ging, Spuren zu verwischen. Sowohl Perlmutter als auch Duncan kamen nach dem M o r d an Jimmy ins Krankenhaus. Grace erzählte ihnen alles. Sie hatte nichts mehr zu verbergen. Perlmutter bemerkte beinahe nebenbei, dass die Worte SHANE A L W O R T H in den Betonboden v o n Beatrice Smith' Keller geritzt worden waren. » U n d was hat das zu bedeuten?«, erkundigte sich Grace. »Wir suchen noch nach Spuren, aber möglicherweise war Ihr M a n n n i c h t der einzige Gefangene in diesem Keller.« Das erschien Grace plausibel. N a c h fünfzehn Jahren tauchten alle auf die eine oder andere A r t wieder auf. A l l e Personen auf diesem Foto. Um vier U h r morgens lag Grace wieder in ihrem Krankenhausbett. Es war dunkel im Zimmer, als die T ü r aufging. Lautlos glitt ein Schatten herein. Er glaubte, sie schliefe. Einen M o m e n t sagte Grace kein W o r t . Sie wartete, bis er wieder auf dem Stuhl Platz genommen hatte, genau wie damals vor fünfzehn Jahren, bevor sie i h n ansprach: »Hallo, Carl.«
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Vespa. »Haben Sie Jimmy X umgebracht?« Danach war es lange still. Der Schatten bewegte sich nicht. »Was in jener Nacht geschehen ist«, kam es schließlich, »war seine Schuld.« »Schwer zu sagen.« Vespas Gesicht lag im Dunkeln. »Sie sehen zu viele Grautöne.« Grace versuchte sich aufzurichten, aber ihr wunder Oberkörper versagte ihr den Dienst. »Woher wissen Sie das mit Jimmy?« »Von Wade Larue«, antwortete er. »Sie haben ihn auch getötet.« »Wollen Sie Anschuldigungen loswerden oder die Wahrheit wissen?« Sie war versucht, zu fragen, ob das alles wäre, was ihm wichtig sei, nämlich die Wahrheit, doch sie kannte die Antwort bereits. Die Wahrheit würde niemals genug sein. Rache und Gerechtigkeit würden niemals genug sein. »Wade Larue hat am Tag vor seiner Entlassung Kontakt zu mir aufgenommen«, sagte Vespa. »Er hat um ein Gespräch gebeten.« »Ein Gespräch? Worüber?« »Wollte er nicht sagen. Ich habe Cram geschickt, ihn in der Stadt abzuholen. Er ist in mein Haus gekommen. Angefangen hat er mit der Mitleidsmasche. So nach dem Motto, er könne meinen Schmerz verstehen. Er sagte, er sei mit sich im Reinen, dass er keine Rachegefühle mehr hege. Das Gequatsche hat mich nicht interessiert. Ich wollte, dass er auf den Punkt kommt.« »Und, ist er?« »Ja.« Der Schatten verstummte erneut. Grace spielte kurz mit dem Gedanken, nach dem Lichtschalter zu greifen, ließ es dann jedoch bleiben. »Er hat mir erzählt, dass Gordon MacKenzie ihn vor drei Monaten im Gefängnis besucht hat. Wissen Sie, warum?«
Grace nickte. Sie begann zu begreifen. »MacKenzie hatte Krebs im Endstadium.« »Richtig. Er hoffte noch immer, eine Einfachfahrkarte ins Gelobte Land zu ergattern. U n d plötzlich konnte er n i c h t mehr m i t dem leben, was er getan hatte.« Vespa neigte den Kopf leicht zur Seite und lächelte. »Erstaunlich, wenn man sowieso' das Zeitliche segnet, was? Das T i m i n g entbehrt n i c h t einer gewissen Ironie, wenn man's überlegt. Er gesteht, sobald kein persönliches Risiko mehr damit verbunden ist. U n d wenn du an diesen Schwachsinn v o n >beichte-und-es-wird-dir-vergeben< glaubst, dann erwartet dich auch noch eine fette Prämie.« Grace wusste darauf nichts zu sagen. Sie schwieg. »Jedenfalls hat Gordon MacKenzie die Schuld auf sich genommen. Er war für den hinteren Bühneneingang verantwortl i c h . Er hat sich v o n einem hübschen jungen D i n g ablenken lassen. A u f diese Weise konnte sich Lawson m i t zwei Mädels an i h m vorbei mogeln. Aber das ist nichts Neues für Sie, oder?« »Nicht ganz, nein.« »Sie wissen, dass MacKenzie auf Ihren M a n n geschossen hat?«
»Ja.« » U n d damit brach die Hölle los. MacKenzie hat sich m i t Jimmy X getroffen, nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte. Sie haben Stillschweigen vereinbart. Jacks Verletzung oder die Möglichkeit, dass die Mädchen reden könnten, machte ihnen zwar Sorgen, aber die drei hatten selbst 'ne Menge zu verlieren.« »Also haben alle die Klappe gehalten.« »So ungefähr. MacKenzie wurde zum Helden erklärt. Danach bekam er einen Job bei der Bostoner Polizei. H a t es bis zum Capt a i n gebracht. Alles nur wegen seiner Heldentaten in jener Nacht.« » U n d was hat Larue getan, nachdem MacKenzie i h m alles gestanden hatte?« »Was glauben Sie denn? Er wollte, dass die Wahrheit bekannt
wird. Er wollte Rache. U n d er wollte endlich freigesprochen werden. « » U n d warum hat Larue es niemandem erzählt?« »Oh, das hat er.« Vespa lächelte. »Dreimal dürfen Sie raten, wem.« Grace wusste sofort Bescheid. »Seiner Anwältin?« Vespa spreizte die Finger. »Ein gefundenes Fressen für die Dame.« »Aber wie konnte Sandra Koval i h n überreden, den M u n d zu halten?« »Oh, der Teil ist brillant. In gewisser Weise - und dafür muss man der Dame gratulieren - hat sie das getan, was für ihren M a n danten und ihren Bruder das Beste ist.« »Wie denn das?« »Sie hat Larue überzeugt, dass er eine bessere Chance hat, auf Bewährung freizukommen, wenn er nicht die Wahrheit sagt.« »Das verstehe ich nicht.« »Sie kennen sich m i t den Bewährungsregeln nicht aus, was?« Sie zuckte m i t den Schultern. »Also die Kommission, die über den Straferlass entscheidet, w i l l keine Unschuldsbeteuerungen hören. Die wollen ihre mea culpas hören. Willst du raus, musst du das Büßergewand anziehen. Du hast gefehlt, erzählst du denen. Du nimmst alle Schuld auf dich - das ist der erste Schritt zu einer Rehabilitierung. W e n n du auf deiner U n schuld beharrst, kannst du im Knast verschimmeln.« »Hätte MacKenzie n i c h t aussagen können?« »Dazu war er schon viel zu krank. Larues Unschuld juckte die Kommission nicht. Hätte Larue diesen Weg einschlagen wollen, hätte er eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen müssen. Das hätte Monate, wenn nicht gar Jahre gedauert. N a c h Sandra Kovals Meinung - und in diesem Punkt hat sie die Wahrheit gesagt - bestand Larues größte Chance, rauszukommen, in einem Schuldbekenntnis.«
» U n d sie hatte Recht.«
»Ja.« » U n d Larue wusste nicht, dass Sandra Jacks Schwester ist?« Vespa spreizte erneut die Finger. »Woher sollte er?« Grace schüttelte den Kopf. »Trotzdem war es für Wade Larue noch nicht vorbei. Er w o l l te noch immer Rache. U n d er wollte v o n jeder Schuld freigesprochen werden. Er wusste, er muss nur warten, bis er aus dem Gefängnis ist. Die Frage war allerdings, wie er es anstellen sollte. Er kannte die Wahrheit. Aber wie sollte er sie beweisen? Wer sollte, verzeihen Sie den Ausdruck, seinen biblischen Zorn zu spüren kriegen? Wer war w i r k l i c h an dem schuld, was in jener Nacht passiert ist?« Grace nickte. Wieder ein Stein, der ins Puzzle passte. »Also hat er sich Jack geschnappt.« »Der, der das Messer gezogen hat, jawohl. Larue hat seinen alten Gefängniskumpel Eric Wu geschickt, um Ihren M a n n zu entführen. Larues Plan war, sich nach seiner Entlassung umgehend m i t Eric Wu zusammenzutun. Er wollte Jack zwingen, die Wahrheit zu sagen, das auf Video aufnehmen und i h n dann umbringen. Letzteres war allerdings noch nicht beschlossene Sache.« »Er hätte einen M o r d begangen, sobald er den Beweis seiner Unschuld hatte?« Vespa zuckte die Achseln. »Er war wütend, Grace. Vielleicht hätte er i h m auch einfach nur eine Tracht Prügel verabreicht oder i h m sämtliche Knochen gebrochen. Wer weiß?« »Was ist also passiert?« »Wade Larue hat seine Meinung v o n G r u n d auf geändert.« Grace runzelte die Stirn. »Sie hätten i h n reden hören sollen. Seine Augen waren v o l l kommen klar. I c h hatte i h m gerade einen K i n n h a k e n verpasst. I c h habe i h n getreten, sein Leben bedroht. Aber dieser Friede in
seinen Zügen ... er war nicht zu erschüttern. In dem Augenblick, als Wade frei war, muss er erkannt haben, dass er die Sache überwunden hatte.« »Was meinen Sie m i t >überwunden< ?« »Genau das, was es heißt. Seine Strafe gehörte der Vergangenheit an. Eine völlige Entlastung konnte es nicht geben, weil er keine weiße Weste hatte. Er hatte wahllos in eine Menschenmenge geschossen. Er hatte die Hysterie und Panik erst richtig angeheizt. Aber es war mehr. Er war w i r k l i c h frei. Nichts konnte i h n mehr an die Vergangenheit fesseln. Er war nicht mehr im Gefängnis, aber mein Sohn ist n i c h t v o n den Toten auferstanden. Verstehen Sie?« »Ich glaube schon.« »Larue wollte sein Leben leben. U n d er hatte Angst davor, was ich i h m antun konnte. Also wollte er verhandeln. Er hat mir die Wahrheit gesagt. Er hat mir Wus Nummer gegeben. U n d als Gegenleistung sollte ich i h n in Ruhe lassen.« »Dann haben Sie Wu angerufen?« »Das hat Larue übernommen. A b e r ja, ich habe m i t i h m gesprochen.« » U n d Sie haben Wu angewiesen, uns zu I h n e n zu bringen?« »Ich hatte keine A h n u n g , dass Sie bei i h m waren. Ich dachte, nur Jack sei da.« »Was hatten Sie vor, Carl?« Er schwieg. »Hätten Sie auch Jack umgebracht?« »Spielt das noch eine Rolle?« » U n d was hätten Sie m i t mir gemacht?« Er nahm sich Zeit. »Es gab Dinge, die haben mir Rätsel aufgegeben«, sagte er schließlich. »Rätsel worüber?« »Über Sie.« Sekunden vergingen. Im Korridor ertönten Schritte. Eine
Krankentrage m i t quietschendem Fahrgestell wurde an der T ü r vorbeigerollt. Grace horchte auf die leiser werdenden Geräusche. Sie versuchte, ruhiger zu atmen. »Einerseits sind Sie beim Massaker v o n Boston fast zu Tode getrampelt worden - andererseits haben Sie den M a n n geheiratet, der für alles verantwortlich ist. Außerdem weiß ich, dass Jimmy X nach dieser Bühnenprobe bei I h n e n gewesen ist. Davon haben Sie mir nie ein W o r t erzählt. U n d dann die Tatsache, dass Sie sich so wenig an die Ereignisse erinnern können. U n d ich meine jetzt n i c h t nur an die Nacht des Konzerts. Sie wissen ja nicht einmal mehr, was in der Woche davor geschehen ist.« Sie versuchte, ruhig zu atmen. »Sie dachten ...« »Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Aber jetzt vielleicht .... Ich glaube, Ihr M a n n ist ein guter Mensch, der einen fatalen Fehler gemacht hat. I c h denke, nach der Katastrophe ist er einfach davongelaufen. I c h glaube, er fühlte sich schuldig. Deshalb wollte er Sie kennen lernen. Er hatte die Zeitungsberichte gelesen und wollte sich vergewissern, dass m i t Ihnen alles in Ordnung ist. Vielleicht hatte er sogar vor, sich zu entschuldigen. Also hat er Sie an diesem Strand in Frankreich aufgesucht. U n d dann hat er sich in Sie verliebt.« Sie schloss die Augen und lehnte sich zurück. »Es ist jetzt vorbei, Grace.« Sie schwiegen beide. Es gab nichts mehr zu sagen. Wenige M i nuten später schlich sich Vespa aus dem Zimmer, lautlos wie die Nacht.
53 Doch es war noch nicht vorbei. Vier Tage vergingen. Grace erholte sich. An jenem ersten Nachmittag fuhr sie nach Hause. Cora und Vickie blieben bei i h -
nen. Am ersten Tag kam auch Cram vorbei, doch Grace bat i h n , wieder zu gehen. Er nickte und gehorchte. Die Medien stürzten sich wie die Aasgeier auf die Geschichte. Sie wussten nur Bruchstücke von dem, was geschehen war, doch die Tatsache, dass der berühmt-berüchtigte Jimmy X endlich aus der Versenkung aufgetaucht war, nur um ermordet zu werden, versetzte die Meute in Aufruhr. Perlmutter postierte einen Streifenwagen vor Graces Haus. Emma und M a x gingen weiter zur Schule. Grace verbrachte den größten Teil des Tages bei Jack im Krankenhaus. Charlaine Swain leistete ihr häufig Gesellschaft. Grace dachte über das Foto nach, das alles ins Rollen gebracht hatte. Sie vermutete mittlerweile, dass einer der vier Mitglieder von Allaw es auf irgendeine Weise in ihren Fotoumschlag geschmuggelt haben musste. Warum? Eine schwierige Frage. V i e l leicht war einem v o n ihnen klar geworden, dass die achtzehn toten Seelen niemals Ruhe geben würden. D a n n war da noch die Frage nach dem Timing: Warum gerade jetzt? Warum nach fünfzehn Jahren? Mögliche A n t w o r t e n gab es genug. Vielleicht wegen der Freilassung v o n Wade Larue. Vielleicht wegen des Todes v o n Gordon MacKenzie. Vielleicht wegen des Presserummels zum Jahrestag des Massakers. Die wahrscheinlichste, weil logischste Erklärung, war Jimmy X' Rückkehr ins Musikgeschäft. U n d wer war w i r k l i c h verantwortlich für die Ereignisse jener N a c h t ? War es Jimmy, weil er geistigen Diebstahl begangen hatte ? Jack, weil er i h n angegriffen hatte? Gordon MacKenzie, weil er diesen verhängnisvollen Schuss aus seiner Waffe abgegeben hatte? Wade Larue, der eine illegale Waffe bei sich gehabt hatte, in Panik geraten war und einfach in eine bereits hysterische M e n schenmenge geschossen hatte? Grace wusste es nicht. Kleine U r sache, große W i r k u n g . Hinter der Katastrophe steckte keine Verschwörung. Alles hatte m i t zwei Amateur-Bands angefangen, die am selben Tag in einer Kneipe in Manchester gespielt hatten.
N a t ü r l i c h gab es noch Ungereimtheiten in der Geschichte. Viele sogar. Doch die Auflösung musste warten. Es gibt wichtigere Dinge als die Wahrheit. Jetzt, in diesem Moment, sah Grace auf Jack herab. Er lag still in seinem Krankenhausbett. Der behandelnde Arzt, ein M a n n namens Stan Walker, saß neben ihr. Dr. Walker faltete die Hände und sprach m i t Grabesstimme. Grace hörte zu. Emma und M a x warteten draußen im Korridor. Sie w o l l t e n dabei sein. Grace wusste nicht, was sie t u n sollte. W i e sollte sie entscheiden? Sie wünschte, sie hätte Jack fragen können. Sie wollte i h n nicht fragen, weshalb er sie all die Jahre belogen hatte. Sie wollte keine Erklärung dafür, was er in jener schrecklichen N a c h t getan hatte. I h n n i c h t fragen, ob er an jenem Strand aufgetaucht war, weil er sie gesucht hatte, ob sie sich deshalb i n einander verliebt hatten. A l l das wollte sie n i c h t v o n Jack hören. Sie wollte i h m nur eine Frage stellen: W o l l t e er seine Kinder bei sich haben, w e n n er starb? Schließlich beschloss Grace, dass die Kinder bleibten sollten. Zu dritt versammelten sie sich zum letzten M a l als Familie um Jacks Bett. Emma weinte. M a x hatte den Blick auf den Fliesenboden gerichtet. U n d dann fühlte Grace m i t einem sanften Ziehen in der Herzgegend, wie Jack für immer v o n ihr ging.
54 Die Beerdigung stand ihr noch bevor. Grace trug normalerweise Kontaktlinsen. Doch an jenem Tag nahm sie sie heraus und setzte auch keine Brille auf. Alles schien leichter zu ertragen, wenn m a n die Umgebung nur durch einen Schleier wahrnahm. Sie saß in der ersten Kirchenbank und dachte an Jack. Sie stellte sich n i c h t mehr vor, wie er in den Weinbergen oder am Strand gewesen war. Der A n b l i c k , an den sie sich am intensivsten erin-
nerte, das Bild, das sie für immer bewahren würde, war Jack, der Emma nach der Geburt im A r m hielt - wie diese großen Hände das Baby gehalten hatten, voller Angst, das kleine Wunder zu zerbrechen, zu verletzen. U n d wie er sich ihr zugewandt hatte m i t einem Ausdruck schierer Ehrfurcht auf dem Gesicht. So war es, wie sie i h n in Erinnerung behalten würde. Der Rest, alles, was sie von seiner Vergangenheit wusste, war nur noch weißes Rauschen. Sandra Koval tauchte zur Beerdigung auf. Sie hielt sich im Hintergrund. Sie entschuldigte den Vater, der aus Altersgründen n i c h t kommen könne. Grace zeigte Verständnis. Die beiden Frauen umarmten sich nicht. Scott Duncan war ebenfalls da. W i e auch Stu Perlmutter und Cora. Grace hatte keine A h n u n g , wie viele Leute sich versammelt hatten. Es war ihr auch gleichgültig. Sie hielt ihre beiden Kinder fest an der Hand und stand es eisern durch. Zwei Wochen später gingen die Kinder wieder zur Schule. U n d natürlich gab es Probleme. Emma und M a x wurden v o n Trennungsängsten geplagt. Das war normal. Sie wusste es. Grace brachte sie zur Schule. Sie war da, bevor die Schulglocke k l i n gelte, um sie abzuholen. Sie litten. Das, darüber war Grace sich im Klaren, war der Preis, den man dafür bezahlte, einen liebevollen und fürsorglichen Vater gehabt zu haben. Dieser Schmerz würde bleiben. Doch jetzt war es an der Zeit, die Sache zu Ende zu bringen. Jacks Autopsie. Einige würden sagen, dass der Autopsiebericht, nachdem sie i h n gelesen und verstanden hatte, Graces W e l t erneut in Stücke reißen musste. Doch so war es nicht. Der Autopsiebericht war lediglich die objektive Bestätigung dessen, was sie bereits wusste. Jack war ihr Ehemann gewesen. Sie hatte i h n geliebt. Sie hatten dreizehn Jahre zusammengelebt. Sie hatten zwei Kinder. U n d
während er ganz zweifellos Geheimnisse vor ihr gehabt hatte, gibt es Dinge, die ein M a n n vor seiner Frau n i c h t verbergen kann. Manche Dinge lassen sich n i c h t verstecken. Also hatte Grace Bescheid gewusst. Sie kannte seinen Körper. Sie kannte seine Haut. Sie kannte jeden Muskel an seinem Rücken. Daher brauchte sie den A u t o p siebericht nicht w i r k l i c h . Die Ergebnisse der äußeren pathologischen Untersuchung brauchte sie nicht. Sie stellten, lediglich fest, was sie längst wusste. Jack hatte keine größeren Narben am Körper gehabt. U n d das bedeutete, dass - im Gegensatz zu dem, was Jimmy gesagt hatte, im Gegensatz zu dem, was G o r d o n MacKenzie Wade Larue erzählt hatte - Jack niemals eine Schusswunde erlitten hatte.
* Zuerst suchte Grace das Fotolabor auf und stellte Sauerkrautbart Josh zur Rede. Dann fuhr sie zurück nach Bedminster, zu der Wohnanlage, in der Shane A l w o r t h ' Mutter lebte. Danach arbeitete sie sich durch die Rechtsbestimmungen des Treuhandfonds v o n Jacks Familie. Grace kannte einen A n w a l t aus Livingston, der inzwischen als Sportagent in Manhattan arbeitete. Er errichtete ständig Treuhandfonds für seine wohlhabenden A t h l e t e n . Er überprüfte die Bestimmungen und erklärte Grace so viel, dass sie alles verstand. U n d dann, als sie alle Fakten hübsch beieinander hatte, stattete sie Sandra Koval, ihrer Schwägerin, in der Kanzlei v o n Burt o n und Crimstein in N e w York einen Besuch ab.
Diesmal holte Sandra Koval Grace n i c h t persönlich an der Empfangstheke der Kanzlei ab. Grace betrachtete gerade die Fotoserie an der Wand, als eine Frau in einer Country Bluse sie bat, ihr
zu folgen. Sie führte Grace einen Korridor entlang und in genau das Konferenzzimmer, in dem sie und Sandra sich vor einem halben Leben zum ersten M a l gesprochen hatten. »Mrs. Koval ist gleich bei Ihnen.« »Prima.« Grace blieb allein. Das Zimmer hatte sich seit jenem ersten M a l nicht verändert. Allerdings lag diesmal ein gelber Schreibblock m i t Stift vor jedem Stuhl auf dem Tisch. Grace wollte sich nicht setzen. Sie lief, oder vielmehr hinkte, auf und ab und ging im K o p f noch einmal alles durch. Ihr Handy zirpte. Sie telefonierte kurz und schaltete es dann aus. Dennoch behielt sie es in Reichweite. Für alle Fälle. » H i , Grace.« Sandra Koval rauschte in den Raum wie eine Schlechtwetterfront. Sie ging geradewegs zu dem kleinen Kühlschrank, öffnete i h n und spähte hinein. »Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?« »Nein.« Den Kopf noch im Mini-Kühlschrank fragte sie: »Wie geht's den Kindern?« Grace antwortete nicht. Sandra Koval förderte eine Flasche Perrier zutage. Sie schraubte den Verschluss auf und setzte sich. »Also, was gibt's?« Sollte sie erst mal m i t dem Zeh die Temperatur fühlen oder gleich ins kalte Wasser springen, überlegte Grace. Sie entschied sich für Letzteres. »Ich war nicht der Grund, aus dem du Wade Larue als Mandanten angenommen hast«, begann sie unvermittelt. »Du hast das Mandat übernommen, weil du an i h m dranbleiben wolltest.« Sandra Koval goss sich Perrier in ein Glas. »Das mag - hypothetisch gesehen - richtig sein.« »Hypothetisch gesehen?« »Ja. Rein hypothetisch habe ich Wade Larue vielleicht vertre-
ten, um ein gewisses Familienmitglied zu schützen. Aber falls dem so gewesen sein sollte, hätte ich immer dafür gesorgt, meinem Mandanten m i t allen mir zur Verfügung stehenden M i t t e l n den effektivsten Rechtsbeistand zu gewährleisten.« »Zwei Fliegen m i t einer Klappe?« »Vielleicht.« » U n d das gewisse Familienmitglied. Das wäre danin dein Bruder gewesen?« »Durchaus möglich.« »Möglich«, wiederholte Grace. »Aber so ist es in diesem Fall n i c h t gewesen. Du hattest nicht im Sinn, deinen Bruder zu schützen.« Ihre Blicke trafen sich. »Ich weiß Bescheid«, sagte Grace. » A c h ja?« Sandra trank einen Schluck. »Dann klär m i c h auf.« »Du bist - wie alt? - siebenundzwanzig gewesen? Frisch v o n der U n i und hast als Strafverteidigerin gearbeitet?«
»Ja.« »Du warst verheiratet. Deine Tochter war zwei Jahre alt. Du hattest eine viel versprechende Karriere vor dir. U n d dann hat dein Bruder alles vermasselt. Du bist in jener Nacht (dabei gewesen, Sandra. Im Boston Garden. Du bist die zweite Frau hinter der Bühne gewesen. N i c h t Geri Duncan.« »Verstehe«, sagte sie unbeeindruckt. » U n d woher willst du das wissen?« »Jimmy X hat die eine Frau als rothaarig bezeichnet - das war Sheila Lambert - und über die andere, die Jack angeblich noch mehr aufgehetzt hat, hat er gesagt, sie hätte schwarzes Haar gehabt. Geri Duncan war eine Blondine. Schwarzhaarig bist du, Sandra.« Sie lachte. » U n d was soll das beweisen?« »Es soll gar nichts beweisen. N i c h t automatisch. Ich b i n n i c h t mal sicher, ob es wichtig ist. Geri Duncan war vermutlich eben-
falls dort. Sie könnte diejenige gewesen sein, die Gordon MacKenzie abgelenkt hat, damit ihr drei euch hinter die Bühne schleichen konntet.« Sandra Koval machte eine vage Handbewegung. »Weiter. Das ist interessant.« »Soll ich einfach zum Kern der Sache kommen?« »Ich bitte darum.« »Nach Aussagen v o n Jimmy X und Gordon MacKenzie ist an dem A b e n d auf deinen Bruder geschossen worden.« »Richtig«, sagte Sandra. »Er lag drei Wochen im Krankenhaus.« »In welchem Krankenhaus?« Es gab k e i n Zögern, kein Zucken des Auges, k e i n verräterisches Zeichen. »Mass General.« Grace schüttelte den Kopf. Sandra zog eine Grimasse. »Willst du behaupten, du hättest jedes Krankenhaus in Boston und Umgebung überprüft?« »Musste ich gar nicht«, sagte Grace. »Es gab keine Narbe.« Stille. »Weißt du, Sandra, eine Schusswunde hätte eine Narbe h i n terlassen. Die Logik ist simpel. M a n hatte auf deinen Bruder geschossen. M e i n M a n n hatte keine Narbe. Dafür gibt es nur eine Erklärung.« Grace legte die Hände auf den Tisch. Sie zitterten. »Ich b i n niemals m i t deinem Bruder verheiratet gewesen.« Sandra Koval sagte kein W o r t . »Dein Bruder, John Lawson, wurde an jenem A b e n d erschossen. Du und Sheila Lambert, ihr beide habt i h n während des heillosen Durcheinanders rausgeschleppt. Seine Verletzung war tödl i c h . Jedenfalls hoffe ich das, denn die einzige Alternative dazu wäre, dass du i h n umgebracht hast.« » U n d weshalb hätte ich das t u n sollen?« »Ganz einfach. Hättest du i h n in ein Krankenhaus gebracht, hätten die Ärzte die Schussverletzung melden müssen. Wärst du
m i t einer Leiche aufgetaucht - oder hättest i h n irgendwo auf der Straße liegen gelassen -, hätte die Polizei Ermittlungen angestellt und herausbekommen, wo und wie er erschossen worden ist. D u , die viel versprechende junge A n w ä l t i n , bist in Panik geraten. U n d i c h wette, dasselbe traf auf Sheila Lambert zu. A l l e W e l t spielte verrückt nach dem Massaker. Der Generalstaatsanwalt - ja sogar Carl Vespa - sie alle sind im Fernsehen aufgetreten und haben nach Vergeltung geschrien. W i e die Familien der Opfer. Wärst du in die Sache verwickelt gewesen, hätten sie dich verhaftet ... oder noch schlimmer.« Sandra Koval blieb stumm. »Hast du deinen Vater angerufen? Hast du i h n um Rat gebeten? Hast du dich an einen deiner ehemaligen Mandanten aus dem Verbrechermilieu gewandt und um Hilfe gebeten? Oder hast du die Leiche einfach selbst verschwinden lassen?« Sie kicherte. »Du hast vielleicht eine blühende Phantasie, Grace. Darf ich dich was fragen?« »Klar doch.« »Wenn John Lawson vor fünfzehn Jahren gestorben ist, wen hast du dann geheiratet?« »Ich habe Jack Lawson geheiratet«, entgegnete Grace. »Früher besser bekannt als Shane A l w o r t h . « Eric Wu hatte im Keller nicht zwei Männer gefangen gehalten, so viel war Grace inzwischen klar. N u r einen. Denjenigen, der sich geopfert hatte, um sie zu retten. Denjenigen, der vermutl i c h gewusst hatte, dass er sterben würde, und der noch eine letzte Wahrheit in der i h m einzigen möglichen Weise in den Stein geritzt hatte. Sandra Koval deutete ein Lächeln an. »Das ist ja eine großartige Theorie.« »Jedenfalls eine, die sich leicht beweisen lässt.« Sie lehnte sich zurück und verschränkte die A r m e vor der Brust. »Etwas an deinem Szenario verstehe ich nicht. W a r u m
habe ich die Leiche meines Bruders nicht einfach versteckt und behauptet, er sei untergetaucht?« »Weil dann zu viele Leute zu viele Fragen gestellt hätten«, antwortete Grace. »Aber genau das ist mit Shane Alworth und Sheila Lambert passiert. Sie sind einfach verschwunden.« »Das stimmt schon«, gab Grace zu. »Aber vielleicht ist die Antwort in eurem Familien-Trust zu suchen.« Sandras Miene erstarrte. »Im Trust?« »Ich habe die Unterlagen über das Treuhandvermögen in Jacks Schublade gefunden. Ich habe sie von einem befreundeten Anwalt prüfen lassen. Demnach hat dein Großvater sechs Treuhandfonds errichtet. Er hatte zwei Kinder und vier Enkel. Aber reden wir erst mal nicht vom Geld. Reden wir über Stimmrechte. Jeder von euch hat die gleiche Anzahl stimmberechtigter Aktien erhalten, wobei dein Vater die überzähligen vier Prozent für die Stimmenmehrheit zugeschlagen bekam. Auf diese Weise behielt deine Seite der Familie mit zweiundfünfzig zu achtundvierzig Prozent die Kontrolle über das Vermögen. Großvater wollte jedoch, dass alles in der Familie bleibt. Sollte einer von euch vor der Vollendung des fünfundzwanzigsten Lebensjahres sterben, mussten dessen Stimmrechtsaktien zu gleichen Teilen unter den Überlebenden aufgeteilt werden. Als dein Bruder in jener Nacht des Massakers gestorben ist, bedeutete dies, dass deine Seite der Familie, du und dein Vater, in Zukunft nicht mehr die Majorität an Aktien halten konnten.« »Du bist ja völlig durchgeknallt.« »Vielleicht«, sagte Grace. »Aber jetzt im Ernst, Sandra. Was hat dich dazu getrieben? War es die Angst, erwischt zu werden oder die Angst, die Kontrolle über das Familienunternehmen zu verlieren? Vermutlich war es eine Kombination aus beidem. In jedem Fall weiß ich, dass du Shane Alworth dazu gebracht hast, den Platz deines Bruders einzunehmen. Das ist leicht zu bewei-
sen. W i r graben alte Fotos aus. W i r lassen einen DNA-Test machen. I c h meine - es ist vorbei.« Sandras Finger entfachten einen Trommelwirbel auf der Tischplatte. »Wenn das stimmt«, sagte sie, »dann hat dich der M a n n , den du geliebt hast, all die Jahre belogen.« »Das ist richtig. Daran gibt's nichts zu deuteln«, erwiderte Grace. »Wie hast du i h n nur dazu gebracht?« »Die Frage kann doch w o h l nur rein rhetorisch gemeint sein, oder?« Grace zuckte m i t den Schultern. »Mrs. A l w o r t h hat mir erzählt, dass sie arm wie die Kirchenmäuse gewesen sind. Shanes Bruder Paul konnten sie nicht mal das College bezahlen. Sie haben in einer Bruchbude gewohnt. Aber ich schätze, dass du i h m gedroht hast. W e n n erst mal ein M i t g l i e d v o n Allaw für das Massaker verantwortlich gemacht werde, dann konnte den anderen dasselbe blühen. Vermutlich dachte er, er hätte keine andere
Wahl.« »Komm schon, Grace. Glaubst du w i r k l i c h , ein Arme-LeuteK i n d wie Shane A l w o r t h hätte sich all die Jahre erfolgreich als mein Bruder ausgeben können?« »Was sollte daran schon schwierig gewesen sein? Du und dein Vater haben geholfen, da b i n ich sicher. Einen Ausweis zu kriegen, war kein Problem. Du hattest die Geburtsurkunde und alle einschlägigen Unterlagen. Ihr brauchtet nur zu behaupten, seine Brieftasche wäre gestohlen worden. Die Kontrollen waren damals noch nicht so streng. Ihr habt einen neuen Führerschein, Pass und sämtliche Papiere neu ausstellen lassen. Du hast einen neuen A n w a l t für den Trust in Boston aufgetan. M e i n e m Freund ist aufgefallen, dass der Trust plötzlich nicht mehr v o n einer Kanzlei in Los Angeles, sondern v o n einem A n w a l t in Boston betreut wurde. Der hatte keine A h n u n g , wie John Lawson ausgesehen hatte. Du, dein Vater und Shane, ihr seid alle m i t gültigen Ausweispapieren bei i h m erschienen. D e i n Bruder hatte sein Examen
an der Vermont University bereits in der Tasche, also musste er dort nicht wieder mit einem neuen Gesicht auftauchen. Shane konnte nach Europa gehen. Falls ihm dort jemand über den Weg lief, brauchte er sich nur Jack zu nennen und behaupten, er sei ein anderer Lawson. Ist schließlich kein seltener Name.« Grace wartete. Sandra verschränkte erneut die Arme. »Ist das jetzt die Stelle, wo ich zusammenbrechen und ein Geständnis ablegen soll?« »Du? Nein, ich denke nicht. Aber komm schon, du weißt, dass es vorbei ist. Es ist kein Problem zu beweisen, dass mein Mann nicht dein Bruder war.« Sandra Koval ließ sich Zeit. »Das mag ja sein«, begann sie schließlich nachdenklicher. »Aber ich kann kein Verbrechen darin erkennen.« »Wie denn das?« »Sagen wir - wieder rein hypothetisch -, du hättest Recht. Sagen wir, ich hätte deinen Mann dazu gekriegt, sich als mein Bruder auszugeben. Das ist fünfzehn Jahre her. Und verjährt. Meine Cousins und Cousinen könnten mich wegen der Sache mit dem Treuhandfonds verklagen, aber die sind nicht gerade scharf auf einen Skandal. Wir würden uns einigen. Und selbst wenn stimmte, was du behauptest, dann hätte ich kein Schwerverbrechen begangen. Wäre ich tatsächlich bei diesem Konzert gewesen - wäre es denn verwunderlich gewesen, wenn ich in den ersten Tagen nach der Katastrophe völlig verstört gewesen wäre. Wer sollte mir das übel nehmen?« Graces Stimme klang sanft. »Ich würde es dir nicht übel nehmen.« »Also bitte. Was soll das dann?« »Zuerst hast du eigentlich nichts wirklich Schlimmes getan. Du bist zu diesem Konzert gegangen, um Gerechtigkeit für deinen Bruder zu fordern. Du hast einen Mann zur Rede gestellt, der einen Song gestohlen hatte, den dein Bruder und ein Freund ge-
schrieben hatten. Das ist kein Verbrechen. Aber die Dinge sind aus dem Ruder gelaufen. D e i n Bruder ist gestorben. Nichts konnte i h n wieder lebendig machen. Also hast du das getan, was du für das Beste hieltest.« Sandra Koval breitete die A r m e aus. »Was willst du dann eigentlich noch v o n mir, Grace?« »Antworten, schätze ich.« »Sieht so aus, als hättest du einige schon bekommen.« D a n n hob sie den Zeigefinger und fügte hinzu: »Hypothetisch gesprochen.« »Vielleicht auch Gerechtigkeit.« »Gerechtigkeit wofür? Du hast doch gerade selbst gesagt, dass verständlich ist, was passiert ist.« »Der erste Teil, ja«, konterte Grace in unverändert sanftem Ton. »Wenn die Sache damit zu Ende gewesen wäre, ja, dann würde i c h m i c h vermutlich damit zufrieden geben. Aber dem ist nicht so.« Sandra Koval lehnte sich zurück und wartete. »Als Shane einverstanden war, die Rolle v o n John Lawson zu übernehmen, musste er, als Jack, alle Brücken hinter sich abreißen und nach Europa gehen. Für Geri Duncan war er wie v o m Erdboden verschluckt. Einen M o n a t später erfährt sie, dass sie schwanger ist. Sie versuchte verzweifelt, den Vater ihres Kindes zu finden. Deshalb kam sie zu dir. Vermutlich hatte sie vor, einen Neuanfang zu wagen. Sie wollte die Wahrheit sagen, einen sauberen Schnitt machen und ihr K i n d zur W e l t bringen. Du kanntest meinen M a n n . Er hätte Geri niemals m i t einem K i n d sitzen gelassen. Vielleicht hätte auch er reinen Tisch machen wollen. U n d dann? Was wäre dann m i t dir passiert, Sandra?« Grace betrachtete ihre Hände. Sie zitterten noch immer. »Du musstest Geri zum Schweigen bringen. Du bist Strafanwält i n . Zu deinen Mandanten gehören Kriminelle. U n d einer v o n denen hat dir einen Killer namens Monte Scanion vermittelt.«
»Nichts v o n alledem kannst du beweisen«, sagte Sandra. »Die Jahre vergingen«, fuhr Grace fort. »Jack Lawson war i n zwischen mein Ehemann geworden.« Grace verstummte. Carl Vespa fiel ihr ein und dass er gesagt hatte, Jack Lawson hätte gezielt nach ihr gesucht. Dieser Punkt war noch immer nicht geklärt. »Wir hatten Kinder. Ich wollte zurück in die Staaten. Jack war dagegen. I c h b i n hartnäckig geblieben. Wegen der Kinder. Vermutlich ist das mein entscheidender Fehler gewesen. Ich wünschte, er hätte mir damals einfach die Wahrheit gesagt...« » U n d wie hättest du reagiert, Grace?« Sie überlegte. »Ich weiß es nicht.« Sandra Koval lächelte. »Er hat es vermutlich auch nicht gewusst.« Das Argument war n i c h t v o n der Hand zu weisen. A b e r für Betrachtungen dieser A r t war jetzt n i c h t der richtige Zeitpunkt. »Schließlich sind wir nach New York gezogen. Was dann passiert ist, weiß ich nicht. Da musst du mir helfen, Sandra. Ich glaube, angesichts des Jahrestages des Massakers und Wade Larues Freilassung, haben Sheila Lambert - oder vielleicht auch Jack - beschlossen, dass es an der Zeit war, die Wahrheit zu sagen. Jack hat schon immer unter Schlafstörungen gelitten. M ö g l i c h , dass beide endlich ihr Gewissen erleichtern wollten. Was du natürl i c h n i c h t zulassen konntest. D e n beiden hätte man vermutlich verziehen. Aber dir? Niemals! Du hast immerhin Geri Duncan ermorden lassen.« »Darf ich mal fragen, wie du das, bitte schön, beweisen
willst... ?« »Dazu kommen wir noch«, sagte Grace. »Du hast m i c h v o n Anfang an belogen. Aber in einem Punkt warst du aufrichtig.« »Bin i c h n i c h t ein Prachtstück?« Ihr Sarkasmus war n i c h t mehr zu überbieten. »Klär m i c h auf. Wobei war ich denn so ehrlich?« »Als Jack das alte Foto in der Küche gesehen hat, hat er Geri
Duncan über die Suchmaschine im Computer ausfindig machen wollen. Dabei hat er erfahren, dass sie tot, bei einem Brand ums Leben gekommen ist. Er muss sofort vermutet haben, dass das kein U n f a l l war. Also hat er dich angerufen. N e u n M i n u t e n habt ihr telefoniert. Du musstest befürchten, er könnte dem Druck nicht mehr standhalten. Schnelles Handeln war angesagt. Du hast Jack damit vertröstet, alles erklären zu wollen, aber nicht am Telefon. Du hast ein Treffen am New York Thruway vorgeschlagen. D a n n hast du Larue angerufen und i h m gesagt, dass die perfekte Gelegenheit, sich zu rächen, gekommen sei. Du hast gedacht, Larue würde Wu veranlassen, Jack umzubringen. Damit, dass er i h n nur entführen würde, hattest du n i c h t gerechnet.« »Ich muss mir das n i c h t anhören!« D o c h Grace war n i c h t aufzuhalten. »Mein Fehler war, dir bei unserer ersten Begegnung das Foto zu zeigen. Jack hatte keine A h n u n g , dass ich eine Kopie v o m Original gemacht hatte. Da war es also. E i n Foto v o n deinem toten Bruder und dem M a n n , der in seine Fußstapfen getreten war. A l l e W e l t konnte es sehen. Folglich musstest du m i c h ebenfalls zum Schweigen bringen. Du hast diesen K e r l geschickt, den m i t der Frühstücksbox meiner Tochter. Er sollte mir Angst einjagen. Aber ich wollte n i c h t k l e i n beigeben. Also hast du Wu auf m i c h angesetzt. Er sollte rausfinden, was i c h wusste, und m i c h dann umbringen.« »Okay. M i r reicht's jetzt.« Sandra Koval stand auf. »Raus aus meinem Büro!« »Du hast dem nichts hinzuzufügen?« »Ich warte noch immer auf Beweise.« »Habe ich eigentlich nicht so richtig«, gestand, Grace ein. »Aber vielleicht legst du ja ein Geständnis ab.« Das fand sie lustig. Sie lachte herzlich. »Glaubst du w i r k l i c h , ich weiß nicht, dass du verdrahtet bist? I c h habe nichts gesagt oder getan, was m i c h belasten könnte.« »Schau aus dem Fenster, Sandra.«
»Wie bitte?« »Das Fenster. Schau auf den Bürgersteig runter. K o m m schon! I c h zeig's dir.« Grace hinkte zum großen Panoramafenster und deutete nach unten. Sandra Koval folgte zögernd, als erwarte sie, v o n Grace hinuntergestoßen zu werden. Doch da lag sie falsch. V o l l k o m men falsch. A l s Sandra Koval den Blick nach unten richtete, schnappte sie u n w i l l k ü r l i c h kurz nach Luft. A u f dem Bürgersteig gingen Carl Vespa und Cram wie zwei Löwen auf der Pirsch auf und ab. Grace drehte sich um und ging zur Tür. » W o h i n willst du?«, fragte Sandra. »Moment noch«, sagte Grace. Sie schrieb etwas auf ein Stück Papier. »Das ist Captain Perlmutters Telefonnummer. Du hast die W a h l . Du kannst anrufen und das Gebäude m i t Perlmutter an deiner Seite verlassen. Oder du versuchst dein G l ü c k auf dem Bürgersteig.« Sie legte den Zettel auf den Konferenztisch. U n d dann, ohne einen Blick zurück, verließ Grace den Raum.
Nachspiel Sandra Koval entschied sich für den Anruf bei Captain Stuart Perlmutter. Dann nahm sie sich einen Anwalt. Hester Crimstein, die Legende persönlich, übernahm das Mandat. Es war schwierig, eine wasserdichte Anklage zusammenzuzimmern, doch der Bezirksstaatsanwalt war aufgrund gewisser Entwicklungen zuversichtlich. Eine dieser Entwicklungen war die Rückkehr des rothaarigen Mitglieds der Band Allaw, Sheila Lambert. Nachdem Sheila von der Verhaftung erfahren hatte - sie war in den Medien aufgerufen worden, sich zu melden -, stellte sie sich. Die Beschreibung des Mannes, der ihren Mann erschossen hatte, passte auf den Kerl, der Grace im Supermarkt bedroht hatte. Sein Name war Martin Brayboy. Er wurde verhaftet. Er war bereit, als Zeuge der Anklage aufzutreten. Sheila Lambert sagte gegenüber der Staatsanwaltschaft aus, Shane Alworth sei in der fraglichen Nacht ebenfalls bei dem Konzert gewesen, habe sich jedoch im letzten Augenblick entschlossen, nicht mit hinter die Bühne zu gehen, um Jimmy X zur Rede zu stellen. Sie konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, was seinen Sinneswandel bewirkt hatte, aber sie vermutete, dass Shane erkannt hatte, dass John Lawson so betrunken war, so unter Strom stand, dass er jeden Moment auszuflippen drohte. Grace hätte das eigentlich ein Trost sein müssen. Doch so ganz sicher war sie sich nicht. Captain Perlmutter hatte sich mit Scott Duncans ehemaliger Chefin Linda Morgan, der Generalstaatsanwältin, zusammengetan. Gemeinsam gelang es ihnen, einen der Männer aus dem innersten Zirkel um Carl Vespa umzudrehen. Gerüchteweise hieß
es, seine Verhaftung stünde unmittelbar bevor, auch wenn es schwierig werden würde, i h m den M o r d an Jimmy X nachzuweisen. Eines Nachmittags rief Cram Grace an. Er sagte ihr, Vespa zeige keinerlei Lebensgeist mehr. Er verbringe viel Zeit im Bett. »Ist, wie i h m beim Sterben zuzuschauen«, berichtete er. Grace wollte das nicht w i r k l i c h hören. Charlaine Swain brachte M i k e aus dem Krankenhaus nach Hause. Sie nahmen ihr gleichförmiges, wohlgeordnetes Leben wieder auf. M i k e arbeitet wieder. Sie sehen jetzt gemeinsam fern, statt sich in zwei getrennte Zimmer zurückzuziehen. M i k e wird noch immer früh müde. I h r Liebesleben gestaltet sich etwas i n tensiver, aber es ist alles viel zu verkrampft. Charlaine und Grace sind enge Freundinnen geworden. Charlaine beklagt sich nie, aber Grace sieht ihre Verzweiflung. Irgendwann, das weiß Grace, wird die Last zu schwer werden. Freddy Sykes ist noch immer in der Reha. Er hat sein Haus zum Verkauf ausgeschrieben und ist dabei, sich eine Eigentumswohnung in Fair Lawn, N e w Jersey, zu kaufen. Cora blieb Cora. M e h r ist dazu n i c h t zu sagen. Evelyn und Paul A l w o r t h , Jacks - oder in diesem Fall sollte sie w o h l sagen Shanes - M u t t e r und Bruder, haben sich ebenfalls gemeldet. Im Lauf der Jahre hatte Jack das Geld aus dem Treuhandfonds dazu benutzt, Paul eine Ausbildung zu finanzieren. Als er bei Pentocol Pharmaceuticals angefangen hatte, hatte er seiner Mutter die Eigentumswohnung in der Neubausiedlung gekauft, damit sie sich regelmäßig sehen konnten. Sie hatten zumindest einmal pro Woche zusammen zu M i t t a g gegessen. Beide, Evelyn und Paul, verspürten den aufrichtigen Wunsch, am Leben der Kinder teilzuhaben - immerhin waren sie Emmas und M a x ' Großmutter beziehungsweise O n k e l , verstanden jedoch, dass dies erst allmählich wachsen musste. Was Emma und M a x betraf, so gingen sie m i t ihrem tragischen Verlust ganz unterschiedlich um.
Max spricht häufig und gerne von seinem Vater. Er w i l l wissen, wo Daddy ist, wie es im H i m m e l aussieht, ob Daddy sie auch w i r k l i c h v o n oben sehen kann. Er braucht die Gewissheit, dass sein Vater noch immer an den Schlüsselerlebnissen seines j u n gen Lebens teilhaben kann. Grace versucht seine Fragen zu beantworten, so gut sie kann - versucht sie i h m plausibel zu machen -, doch ihre Worte haben den hohlen Klang des Zweifels. M a x verlangt v o n Grace, dass sie m i t i h m Limericks in der Badewanne dichtet, wie Jack es getan hatte, und wenn M a x darüber lacht, k l i n g t das so sehr nach seinem Vater, dass Grace glaubt, es müsse ihr hier und jetzt das Herz zerreißen. Emma, Vaters kleine Prinzessin, spricht nie v o n Jack. Sie stellt keine Fragen. Sie betrachtet keine Fotos und schwelgt n i c h t in Erinnerungen. Grace versucht die N o t ihrer Tochter zu lindern, ist sich jedoch der Richtigkeit ihres Handelns niemals sicher. Psychiater propagieren stets, wie wichtig es ist, sich zu öffnen. Grace, die ihr eigenes Päckchen an tragischen Verlusten zu tragen hat, zweifelt. A u c h ein gesunder Verdrängung;smechanismus, das hat sie gelernt, hat seine Vorteile. Seltsamerweise macht Emma einen glücklichen Eindruck. Sie ist gut in der Schule. Sie hat viele Freunde. D o c h Grace weiß es besser. Emma schreibt keine Gedichte mehr. Sie würdigt ihr Gedichtheft keines Blickes mehr. Sie besteht darauf, bei geschlossener Zimmertür zu schlafen. Grace steht oft noch spät nachts vor dem Zimmer ihrer Tochter und glaubt manchmal leises Schluchzen zu hören. Am Morgen, wenn Emma zur Schule gegangen ist, geht Grace in ihr Zimmer. I h r Kopfkissen ist immer nass. Außenstehende nehmen automatisch an, dass Grace viele Fragen an Jack hätte, würde er noch leben. Das ist richtig. Dennoch beschäftigt es sie längst n i c h t mehr, was e i n verängstigter, m i t Drogen v o l l gepumpter Zwanzigjähriger angesichts v o n Zerstörung, Tod und den Auswirkungen all dessen getan hatte.
Rückblickend war sie allerdings der Meinung, dass er es ihr hätte sagen müssen. Aber was, wenn er es getan hätte? Angenommen Jack hätte ihr v o n Anfang an die Wahrheit gesagt? Oder zumindest einen Monat nachdem sie eine Beziehung angefangen hatten? Oder ein Jahr später? W i e hätte sie reagiert? Wäre sie bei i h m geblieben? Sie denkt dann an Emma und Max, an die einfache Tatsache ihrer Existenz, und der nicht eingeschlagene Weg lässt sie erschaudern. Spät nachts also, wenn Grace allein in ihrem viel zu großen Bett liegt und m i t Jack spricht, und sich komisch vorkommt, weil sie n i c h t w i r k l i c h glaubt, dass er ihr zuhört, sind ihre Fragen mehr praktischer A r t : Max möchte der Turniermannschaft des Fußballclubs v o n Kasselton beitreten, aber ist er dafür n i c h t noch zu jung? Die Schule möchte, dass Emma an einem Englischprogramm für Begabte teilnimmt, aber setzt sie das nicht zu sehr unter Druck? Sollen wir auch ohne d i c h im Februar nach Disney W o r l d fahren oder weckt das nur schmerzliche Erinnerungen? U n d was, Jack, soll ich gegen dieses verdammte immer nass geweinte Kissen in Emmas Bett unternehmen? Fragen wie diese. Scott Duncan kam eine Woche nach Sandras Verhaftung vorbei. A l s sie die Tür öffnete, sagte er: »Ich habe was gefunden.« »Was denn?« »Das war bei Geris Sachen«, antwortete Duncan. Er reichte ihr eine abgewetzte Kassette. Sie trug keinen Aufkleber. Jemand hatte mit schwarzer Tinte ALLAW darauf geschrieben. Sie gingen wortlos ins Arbeitszimmer. Grace steckte die Kassette in den Recorder ihrer Anlage und drückte auf die Play-Taste. »Invisible Ink« kam als dritter Song. Es gab Ä h n l i c h k e i t e n m i t »Pale I n k « . Hätte ein Gericht aufgrund dieser Aufnahme Jimmy des geistigen Diebstahls für schuldig befunden? Es war eine Gratwanderung, doch Grace glaubte, dass nach all den Jahren die A n t w o r t vermutlich Nein lauten
musste. Es gab so viele Musikstücke, die ähnlich klangen. U n d wo lag die Grenze zwischen Einfluss und Plagiat? »Pale I n k « , so schien es ihr, war vermutlich irgendwo in der M i t t e anzusiedeln. So vieles, was schief ging, lag in schwer zu definierenden Grenzbereichen. »Scott?« Er sah sie n i c h t an. »Findest du nicht, es ist an der Zeit, reinen Tisch zu machen?« Er nickte bedächtig. Sie wusste n i c h t recht, wie sie anfangen sollte. »Als du entdeckt hattest, dass deine Schwester ermordet worden ist, hast du d i c h wie besessen darangemacht, den Fall zu untersuchen. Du hast deinen Job aufgegeben. Du warst wie v o n Sinnen.« »Stimmt.« »Kann nicht so schwierig gewesen sein, herauszufinden, dass sie damals einen Freund gehabt hat.« »Nein, überhaupt nicht«, stimmte Duncan zu. »Du hattest herausbekommen, dass sein Name Shane A l w o r t h gewesen ist.« »Ich habe schon vor dieser Geschichte v o n Shane gewusst. Sie waren sechs Monate zusammen gewesen. Aber ich dachte, Geri sei bei einem U n f a l l ums Leben gekommen. Deshalb gab es keinen Grund, seine Spur zu verfolgen.« »Richtig. Aber nachdem du m i t M o n t e Scanion gesprochen hattest, hast du es getan.« »Ja«, sagte er. »Das war das Erste, das ich getan habe.« »Du hast rausgefunden, dass er ungefähr zum Zeitpunkt des Mordes an deiner Schwester v o n der Bildfläche verschwunden ist.« »Stimmt.« » U n d das kam dir komisch vor.« »Milde ausgedrückt.« »Schätze, du hast seine alten Studienunterlagen überprüft,
vielleicht sogar seine Zeugnisse v o n der Highschool. Du hast m i t seiner Mutter gesprochen. Kann nicht schwer gewesen sein. N i c h t wenn man weiß, wonach man sucht.« Scott Duncan nickte. »Du hast also gewusst - noch bevor wir uns getroffen haben -, dass Jack Shane A l w o r t h war.« »Ja«, gab er zu. »Ich hab's gewusst.« »Du hattest i h n im Verdacht, deine Schwester umgebracht zu
haben?« Duncan lächelte freudlos. »Ein M a n n ist der Liebhaber deiner Schwester. Er macht Schluss m i t ihr. Sie wird ermordet. Er n i m m t einen anderen Namen an und verschwindet für fünfzehn Jahre v o n der Bildfläche.« Er zuckte die Achseln. »Was würdest du daraus schließen?« Grace nickte. »Du hast mir mal gesagt, es würde dir Spaß machen, auf den Busch zu klopfen.« »Ganz recht.« »Und du hast gewusst, dass du Jack n i c h t einfach auf das Schicksal deiner Schwester ansprechen konntest. Du hattest nichts gegen i h n in der Hand.« »Auch richtig.« »Also«, sagte sie, »hast du auf den Busch geklopft.« Schweigen. »Ich habe m i c h m i t Josh v o m Fotolabor unterhalten«, fing Grace wieder an. »Aha. W i e viel hast du i h m bezahlt?« »Tausend Dollar.« Duncan schnaubte. »Von mir hat er nur fünfhundert gekriegt.« » U m das Foto in meinen Umschlag zu schmuggeln.«
»Ja.« Die Melodie änderte sich. Allaw spielte jetzt einen Song über Stimmen und W i n d . Ihr Sound war schlicht, aber er hatte Potenzial.
»Du hast den Verdacht auf Cora gelenkt, um m i c h daran zu hindern, Josh in die Zange zu nehmen.«
»Ja.« »Du hast darauf bestanden, dass i c h dich zu Mrs. A l w o r t h begleite. Du wolltest herausfinden, wie sie reagiert, wenn sie die Kinder sieht.« »Ich habe eben wieder mal auf den Busch geklopft«, stimmte er zu. »Hast du den Ausdruck in ihren Augen gesehen, als sie Emma und M a x beobachtet hat?« Grace hatte i h n gesehen. Sie hatte nur nicht gewusst:, was er bedeutete und weshalb sie ausgerechnet in einer Wohnanlage gelandet war, die direkt an Jacks Weg zu seinem Arbeitsplatz lag. Jetzt natürlich war ihr alles klar. »Und weil man dich gezwungen hatte, deine Stelle aufzugeben, konntest du das FBI nicht benutzen, um uns zu beobachten. Also hast du eine Privatdetektivin engagiert, die Rocky Conwell beschäftigt hat. Du hast die Kamera bei uns im Haus installiert. W e n n du schon auf den Busch klopfen musstest, wolltest du zumindest sehen, wie deine Zielperson reagierte.« »Wie wahr.« Sie dachte an das Endergebnis. »Für das, was du getan hast, mussten mehrere Menschen sterben.« »Ich wollte den Mörder meiner Schwester zur Strecke bringen. Du kannst nicht erwarten, dass ich m i c h dafür entschuldige.« Schuld, dachte sie erneut. So viel, dass jeder etwas davon abbekam. »Du hättest m i c h einweihen können.« »Nein. N e i n , Grace, ich konnte dir nie trauen.« »Du hast gesagt, wir seien Verbündete - wenn auch nur vorübergehend.« Er sah sie an. E i n Schatten lag in seinem Blick. »Das«, sagte er, »war eine Lüge. Verbündete sind wir nie gewesen.« Sie richtete sich auf und stellte die Musik leiser. »Du erinnerst dich gar nicht an das Massaker, stimmt's?«
»Das ist nichts Ungewöhnliches«, entgegnete sie. »Es hat nichts m i t Gedächtnisschwund oder Ä h n l i c h e m zu tun. Ich habe einen so kräftigen Schlag auf den K o p f bekommen, dass ich ins Koma gefallen bin.« »Schädeltrauma«, sagte er m i t einem N i c k e n . »Ich weiß alles darüber. I c h habe viele solcher Fälle erlebt. Zum Beispiel beim so genannten Central-Park-Jogger. Die meisten erinnern sich nicht einmal mehr an die Tage davor.«
»Und?« »Wie bist du dann an jenem A b e n d auf die Tribüne direkt vor der Bühne gekommen?« Diese Frage kam völlig unerwartet. Sie zuckte regelrecht zusammen. Sie suchte in seiner Miene nach einem Zeichen. Doch da war nichts. »Wie bitte?« »Ryan Vespa, oder vielmehr sein Vater, hat ein Ticket für vierhundert Piepen auf dem Schwarzmarkt gekauft. Die Mitglieder v o n Allaw hatten ihre Eintrittskarten von Jimmy höchstpersönlich. Die einzige Möglichkeit, dort auf die Tribüne zu kommen, war, entweder eine Menge Schotter hinzublättern oder Beziehungen zu haben.« Er beugte sich vor. »Wie bist du auf die T r i büne direkt vor der Bühne gekommen, Grace?« »Mein Freund hatte Karten.« »Wer sollte das gewesen sein? Todd Woodcroft? Der Typ, der dich nie im Krankenhaus besucht hat?«
»Ja.« »Bist du sicher? Früher hast du mal behauptet, du könntest dich nicht erinnern.« Sie machte den M u n d auf und wieder zu. Er rückte näher. »Grace, i c h habe m i t Todd Woodcroft gesprochen. Er ist gar nicht bei diesem Konzert gewesen.« Etwas in ihrer Brust geriet gefährlich ins Schlingern. Sie fröstelte unwillkürlich. »Todd hat dich nicht besucht, weil du zwei Tage vor dem K o n -
zert m i t i h m Schluss gemacht hattest. Er dachte, es würde einen komischen Eindruck machen. U n d weißt du was, Grace? Am gleichen Tag hat Shane A l w o r t h meiner Schwester den Laufpass gegeben. Geri ist nie bei diesem Konzert gewesen. Also wen, meinst du, hat Shane stattdessen mitgenommen?« Grace fror. Das Zittern wurde stärker. »Ich verstehe nicht ganz.« Er zog das Foto heraus. »Das ist das Original. Das Foto, das du gefunden hast, habe ich aus diesem hier heraus vergrößert. Meine Schwester hatte das Datum auf die Rückseite geschrieben. Die Aufnahme wurde einen Tag vor dem Konzert gemacht.« Grace schüttelte den Kopf. »Diese geheimnisvolle Frau rechts außen, die wir kaum erkennen können ... Du dachtest, es sei Sandra Koval. N u n vielleicht, Grace - und nur vielleicht - bist du es.« »Nein ...« » U n d vielleicht, wenn wir schon dabei sind, die Schuld auf immer mehr Leute zu verteilen, sollten wir uns fragen, wer das hübsche Mädchen gewesen ist, das Gordon MacKenzie abgelenkt hat, damit die anderen zu Jimmy X hinter die Bühne gelangen konnten. W i r wissen, dass es weder meine Schwester noch Sandra Koval oder Sheila Lambert gewesen sein kann.« Grace schüttelte unaufhörlich den Kopf. Dann schoss ihr wieder der Tag am Strand durch den Kopf, als sie Jack das erste M a l gesehen hatte, an das eiskalte Gefühl in der Magengrube. W i e war das zu deuten? Es war das Gefühl, das man hatte ... ... wenn einem jemand schon einmal begegnet war. Ein Dejä-vu-Erlebnis der seltsamsten A r t . Der Art:, wenn es bereits zwischen zwei Menschen »Klick« gemacht hatte, im ersten Rausch des Verliebtseins. M a n hält Händchen, und sobald alles in einem in Aufruhr gerät, setzt dieses panische Gefühl in der Magengegend ein, als gleite seine Hand aus deiner Hand ... »Nein«, wehrte Grace jetzt entschiedener ab. »Du irrst dich. Das kann nicht sein. I c h hätte m i c h daran erinnert.«
Scott Duncan nickte. »Du hast vermutlich Recht.« Er stand auf und nahm die Kassette aus dem Recorder. Er gab sie ihr. »Sind alles nur verrückte Spekulationen. I c h meine, genauso gut könnte diese geheimnisvolle Frau der G r u n d gewesen sein, warum Shane n i c h t hinter die Bühne gegangen ist. V i e l leicht hat sie's i h m ausgeredet. Vielleicht ist i h m auch klar geworden, dass dort auf der Tribüne etwas Wichtigeres auf i h n wartete - etwas, das wichtiger war als all das, was er in einem Song hätte finden können. Vielleicht hat er noch drei Jahre später dafür gesorgt, es wieder zu finden.« Danach verabschiedete sich Scott Duncan. Grace stand auf und ging in ihr Atelier. Seit Jacks Tod hatte sie nicht mehr gemalt. Sie schob die Kassette in ihren tragbaren Recorder und drückte auf die Play-Taste. Sie griff nach einem Pinsel und versuchte zu malen. Sie w o l l te i h n malen. Sie wollte Jack malen - nicht John, nicht Shane. Jack. Sie dachte, es würde dabei etwas Chaotisches und Wirres entstehen, doch nichts dergleichen geschah. Der Pinsel rauschte und tanzte über die Leinwand. Sie dachte erneut darüber nach, wie wenig wir eigentlich über unsere Lieben wissen. U n d wenn man es sich recht überlegte, wussten w i r ja n i c h t einmal alles über uns selbst. Die Kassette war zu Ende. Sie spulte sie zurück und startete sie erneut. Sie arbeitete wie in einem herrlichen Rausch. Tränen rannen über ihre Wangen. Sie wischte sie nicht weg. Irgendwann sah sie auf die Uhr. Bald war es Zeit aufzuhören. Der Schulschluss nahte. Sie musste die Kinder abholen. Emma hatte heute Klavierunterricht. M a x hatte Training m i t der Turniermannschaft des Fußballclubs. Grace nahm ihre Handtasche und schloss die Tür hinter sich ab.
Danksagung Der A u t o r bedankt sich bei folgenden Personen für ihre Fachkenntnisse: M i t c h e l l F. Reiter, M D , Chefarzt für Neurochirurgie; David A. Gold, M D ; Christopher J. Christie, Staatsanwalt für N e w Jersey; Captain K e i t h K i l l i o n v o m Ridgewood Police Department; Steven Miller, M D , Leiter der Kindernotfallmedizin, Children's Hospital des N e w York Presbyterian; John Elias, A n thony Dellapelle (nicht die fiktive Figur), Jennifer van Dam, Linda Fairstein und Craig Coben. W i e immer gilt auch diesmal: Sämtliche Fehler sind ihre Schuld. I c h habe es satt, immer den Kopf dafür hinzuhalten. Des Weiteren gilt meine Anerkennung Carole Baron, M i t c h Hoffman, Lisa Johnson und allen v o n der D u t t o n und Penguin Group U S A ; Jon Woods, Malcolm Edwards, Susan Lamb, Juliet Ewers, N i c k y Jeanes, Emma Noble und der ganzen Truppe bei O r i o n ; A a r o n Priest, Lisa Erbach Vance, Bryant und H i l (für ihre Hilfe über die erste Hürde), M i k e und Taylor (für ihre Hilfe über die zweite), und Maggie G r i f f i n . Die Figuren in diesem Buch mögen zwar die Namen mir bekannter Personen tragen, sind jedoch frei erfunden. Der ganze Roman ist erfunden. Das heißt, ich rühre dieses Süppchen höchstpersönlich an. M e i n besonderer Dank geht an Charlotte Coben für Emmas Gedichte. A l l e Rechte vorbehalten, wie es so schön heißt.