Hans Hellmut Kirst
KEINER KOMMT DAVON ROMAN Auflage August 1979 1.-25. Tsd. - Auflage März 1980 26.-45. Tsd. - Auflage ...
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Hans Hellmut Kirst
KEINER KOMMT DAVON ROMAN Auflage August 1979 1.-25. Tsd. - Auflage März 1980 26.-45. Tsd. - Auflage Oktober 1982 46.-60. Tsd. Made in Germany © 1957 C. Bertelsmann Verlag GmbH, München Umschlagentwurf: Atelier Adolf & Angelika Bachmann, München Umschlagfoto: Bildagentur Mauritius, Mittenwald Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Verlagsnummer: 3763 Lektorat: Martin Vosseler - Herstellung: Harry Heiß ISBN 3-442-03763-8
Dieser Roman geht aus von den derzeitigen Machtkonstellationen der Weltpolitik, aber die auftretenden Personen sind frei erfunden. Den Gedankengängen, Publikationen und Aufrufen von Manfred v. Ardenne, Albert Einstein, Karl Jaspers, Charles-Noel Martin, Lauris Norstad, Robert Oppenheimer, Albert Schweitzer, Papst Pius XII. und den 18 Atomforschern des Göttinger Manifestes verdankt der Autor wertvolle Anregungen. Dieses Buch wurde geschrieben in Berlin, Juan-les-Pins, Sonneberg, Basel, Unna, Stuttgart, Grenoble und in Feldafing bei München. Der politische und militärische Teil wurde gestaltet unter Mitarbeit von Jesco von Puttkamer.
Scan: der Leser K&L: Yfffi Oktober 2002
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Von Hans Hellmut Kirst und als GoldmannTaschenbücher außerdem erschienen: 08/15 in der Kaserne Roman (3497) 08/15 im Krieg Roman (3498) 08/15 bis zum Ende Roman (3499) 08/15 heute Roman (1345) Die Nacht der Generale Roman (3538) Generalsaffären Roman (3906) Glück läßt sich nicht kaufen Roman (3711) Hund mit Mann Bericht über einen Freund (6434)
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Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr gut. Das erste Buch Mose. Erstes Kapitel
Wir können nur unablässig immer und immer wieder warnen; wir dürfen in unserem Bemühen nicht erlahmen, den Völkern der Welt, zumal ihren Regierungen, das unerhörte Unglück bewußt zu machen, das sie mit aller Bestimmtheit heraufbeschwören, wenn sie ihre Haltung gegeneinander und ihre Auffassung von der Zukunft nicht grundlegend ändern. Unserer Welt droht eine Krise, deren Umfang anscheinend denen entgeht, in deren Macht es steht, große Entscheidungen zum Guten oder zum Bösen zu treffen. Die entfesselte Macht des Atoms hat alles verändert, nur nicht unsere Denkweisen. Auf diese Weise gleiten wir einer Katastrophe ohnegleichen entgegen. Wir brauchen eine wesentlich neue Denkungsart, wenn die Menschheit am Leben bleiben soll. Diese Drohung abzuwenden, ist eines der vordringlichsten Anliegen unserer Zeit geworden. Albert Einstein
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DER ERSTE TAG »Wir sind dem Weltfrieden näher denn je«, sagte der Mann in die Mikrophone, die ihm entgegengehalten wurden. Und nachdem er das gesagt hatte, blickte er suchend seitwärts, mit müden Augen; er schien einen einzigen Mann ansehen zu wollen, der in der Menge stand. Aber dieser Mann erwiderte seinen Blick nicht. Es war ein Tag wie alle anderen Tage auch. Nichts Besonderes schien dieser schöne, strahlende Sommertag zu verkünden: ein Fußballänderspiel würde stattfinden, in einigen tausend Kinos rollten Zelluloidschlangen ab, Misswahlen standen auf dem Programm. Rundfunkstationen hüllten Europa in einen dichten Geräuschteppich. Auch in der großen Politik dominierten die kleinen Dinge: drei Staatsmänner hatten behauptet, jegliche Abrüstungsbestrebungen unterstützen zu wollen, drei andere riefen nach Sicherheit – merkwürdigerweise glaubten alle sechs, sich im Grundsätzlichen einig zu sein. Es »gärte« im Nahen Osten, »brodelte« in Südamerika, und auf den Inselgruppen zwischen Asien und Australien war es erneut zu »lokalen« Unruhen gekommen. »Nichts Besonderes – wie üblich«, sagte der mitteleuropäische Morgenzeitungsleser. Er schaltete seinen Radioapparat von Nachrichten auf Unterhaltungsmusik und widmete sich seinem Frühstück. Der Mann, der in ein halbes Dutzend Mikrophone vom »Weltfrieden« gesprochen hatte, von einem Weltfrieden, dem man näher sei »denn je«, war der Regierungschef der Volksrepublik Polen. Er stand auf dem Bahnhof in Warschau, mit müden Augen in dem mechanisch 4
lächelnden Gesicht. Er war soeben aus Moskau zurückgekommen. Die Genossen umringten ihn, die Menge drängte auf ihn zu; und irgendwo im Hintergrund begann eine Militärkapelle zu spielen. Sie übertönte einige schrille Pfuirufe mühelos. Wieder versuchte der Regierungschef einem Mann in die Augen zu sehen, der ein wenig seitwärts stand, neben dem Oberbefehlshaber der polnischen Armee. Dieser Mann erwiderte jetzt den Blick des Regierungschefs und nickte ihm, ein wenig mühsam, zu. »Er scheint womöglich noch zu glauben, er habe einen großen, verdienten Erfolg errungen«, sagte der General zu dem Mann, der dem Regierungschef ermunternd zugenickt hatte. Und fragend, fast lauernd, fügte er hinzu: »Sind Sie etwa auch dieser Meinung, Herr Doktor Reiners?« »Auf mich kommt es doch dabei nicht an«, sagte Reiners ausweichend, und er betrachtete mit einigem Schaudern die sich zusammendrängende Menge von blindbegeisterten, optimistischen Radaumachern, befohlenen Hurraschreiern, lauernden Spitzeln und kaltherzigen Beobachtern. »Ihre Ansicht, Herr Doktor Reiners, ist uns wertvoll«, versicherte der General höflich, doch mit warnendem Unterton. »Und wir legen Wert darauf, sie zu erfahren – und das hoffentlich bald und möglichst nicht aus dritter Hand.« Doktor Michael Reiners versuchte, die vorsichtige, doch unverkennbare Drohung zu überhören. Er lächelte freundlich und tat, als verstehe er des Lärms wegen kaum ein Wort. Er lächelte auch dann noch, als er merkte, daß der Mann, der sich an ihn heranschob, offenbar ein Geheimagent war. Ein Vorgang, der an sich 5
noch nicht viel zu bedeuten hatte – der Mann konnte schließlich zu seinem Schutz herbefohlen worden sein, nicht gleich zu seiner Überwachung. Doktor Reiners schien, auf den ersten Blick, ein zwar interessierter, doch harmloser Mann zu sein. Er, Philologe, vorzüglicher Kenner slawischer Sprachen, Verfasser anerkannter Bücher über russische Literatur und Geschichte, galt als inoffizieller Berater der Bundesregierung in Bonn und schien immer wieder als Gesprächspartner sogar von osteuropäischen Staatspolitikern geschätzt zu werden. Dieser Michael Reiners sah aus wie ein beharrlicher, aber auch gutmütiger Schullehrer; seine ein wenig wirre Haartracht über dem nachdenklichen Gesicht verlieh ihm zeitweilig sogar das Aussehen eines eigenwilligen Knaben, der ein wenig hilflos inmitten der Ereignisse herumsteht. »Sie glauben doch nicht etwa«, fragte der General hartnäckig, »daß die Reise des Chefs nach Moskau ein Erfolg war?« Michael Reiners antwortete hierauf nicht. Er drehte dem Geheimagenten, der ihn bedrängte, mit einer schroffen Bewegung den Rücken zu und lächelte den General verbindlich an, wobei er mit den Schultern zuckte. Reiners blickte zum polnischen Regierungschef hinüber und sah, daß ihn die Müdigkeit zu überwältigen drohte. Dennoch hörte er ihn sagen: »Ich muß zur Bevölkerung sprechen – zu den Arbeitern.« Der General neben Michael lachte kurz auf. Seine Haltung war ein einziger Protest. Dieser Anblick erfüllte Reiners zunächst nur mit Traurigkeit – dann, wenige Sekunden später, mit Besorgnis: der General hatte den Geheimagenten kurz 6
angesehen und ihm dann fast unmerklich zugenickt. Und Reiners glaubte zu spüren, wie sich der Geheimagent wieder auf ihn zuschob. An diesem Tag, um 9.00 Uhr, meldete Radio Warschau: Die Regierungsdelegation unter Führung des Genossen Parteisekretär ist nach fünftägigen Verhandlungen mit der sowjetischen Regierung aus Moskau zurückgekehrt. Wie bereits berichtet, wurde im Kreml ein Abkommen zwischen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und der Volksrepublik Polen unterzeichnet. Es sieht die Stationierung von sowjetischen Truppen auf dem Territorium der Volksrepublik Polen für weitere fünfzig Jahre vor. Die Benutzung der Ostseehäfen durch Kriegsschiffe der sowjetischen Flotte ist in dieses Abkommen eingeschlossen. In einem gleichzeitig unterzeichneten Handelsvertrag gewährt die Sowjetunion der Volksrepublik Polen einen langfristigen Kredit von zweihundert Millionen Rubel. Zur Ankunft der Regierungsdelegation hatten sich zahlreiche Abordnungen aus den Betrieben der Hauptstadt auf dem Bahnhof eingefunden. Sie bereiteten dem Genossen Parteisekretär einen überaus herzlichen Empfang. Heute um zwölf Uhr wird der Parteisekretär zur Warschauer Bevölkerung sprechen. Meldungen wie diese gab es dutzendweise; lediglich einige politisch gutorientierte Journalisten pflegten sie zu beachten. So wurde diese Meldung, zumeist schulterzuckend, zur Seite gelegt. Sie würde vermutlich in den Abendzeitungen auf der zweiten Seite erscheinen und 7
durch den Rundfunk an vierter oder fünfter Stelle ausgestrahlt werden. In Amerika waren in der vergangenen Nacht drei HBomben in kurzen Abständen hintereinander zur Detonation gebracht worden. Das war die Sensation des Tages. Michael Reiners verließ den Warschauer Hauptbahnhof ganz plötzlich, ohne sich von irgend jemandem zu verabschieden. Der Geheimagent folgte ihm. Reiners blieb vor einer Propagandatafel stehen. Der Agent tat, als betrachte er die Menschen auf dem Platz. Dieser Mann, stellte Reiners fest, war entweder fürchterlich plump oder er hielt es einfach nicht für notwendig, vorsichtig zu sein – beides war gefährlich. Reiners blieb, wie zufällig, vor dem Taxi, das auf ihn wartete, stehen. Dann sprang er hinein und ließ sich auf Umwegen in sein Hotel zurückfahren. Er stieg vor dem »Metropol« aus. Aus einem zweiten Taxi kletterte der Geheimagent. Reiners zahlte wie geistesabwesend weit mehr, als der Chauffeur verlangte, und begab sich in die Halle. Ein großer, stämmiger Mann erhob sich und kam auf Reiners zu. Er hatte ein braungebranntes Gesicht, das von zwei klugen, kühlen Augen beherrscht wurde. Er sah aus wie ein Farmer auf Urlaub, war aber der Sonderkorrespondent einer großen amerikanischen Nachrichtenagentur. »Wieder einmal einen Logenplatz gehabt, Doktor?« fragte er gemütlich. Michael Reiners nickte. »Gewiß, ich war dabei – jedoch nicht als Journalist«, sagte er. »Doktor, Sie werden doch nicht etwa Ihren journalistischen Instinkt im Hotel zurückgelassen haben?« fragte der Korrespondent, der allgemein nur 8
»Charly« genannt wurde. »Und deshalb wird Ihnen auch nicht entgangen sein, daß es bei dem angeblich freudigen und feierlichen Empfang Zwischenfälle gegeben hat - Pfuirufe, heftiges Gedränge und sogar eine Schlägerei.« »Kommen Sie mit auf mein Zimmer?« fragte Reiners den lauten Amerikaner. »Ich muß mir meine Hände waschen.« Michael Reiners warf einen kurzen Blick auf den Geheimagenten, der ihm vom Bahnhof bis in die Hotelhalle gefolgt war und der jetzt in einem Sessel neben dem Eingang saß. Charly folgte diesem Blick und wußte Bescheid. Er murmelte einen kräftigen Fluch und begab sich mit Reiners in dessen Zimmer. »Der Parteichef«, versuchte Reiners, nachdem er die Tür geschlossen hatte, zu erklären, »ist ein umstrittener Mann – und wer in seiner Situation wäre das nicht? Den einen ist er zu rücksichtslos, den anderen ist er nicht rücksichtslos genug. Aber Sie wissen ja selbst, daß der Westen ihn nicht halten kann und daß er mit Sowjetrußland nicht brechen darf. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken.« »Für Journalisten«, sagte Charly breit und nahezu gemütlich, »ist der Mann jedenfalls eine Fundgrube, und seine Situation ist bares Geld wert. Wollen Sie lesen, was ich an die Europazentrale meiner Agentur nach London gekabelt habe?« Michael Reiners zögerte. Sie waren beide auf bestimmten Gebieten, besonders beim Thema Deutschland, scharfe Gegner – was nicht ausschloß, daß sie herzliche Sympathie füreinander empfanden. »Kommen Sie nicht auf die Idee, Charly, mir wieder einmal ein Bein zu stellen«, warnte Reiners. »Sie können 9
mir Ihr Kabel zeigen, aber Sie werden keine zusätzlichen Informationen von mir als Gegenleistung bekommen.« Der amerikanische Korrespondent lächelte zufrieden, denn er hatte diese Reaktion vorausgesehen. Er zog aus seiner Brieftasche ein Blatt Schreibmaschinenpapier und reichte es Michael Reiners hinüber. Der nahm es, begab sich zu einem der Sessel im Zimmer, ließ sich dort nieder und begann zu lesen. Das Kabel war um 9.30 Uhr nach London abgegangen und lautete: Seit den gestrigen Abendstunden macht sich in der polnischen Hauptstadt eine auffallende Unruhe bemerkbar. Wenn man schon den Parteisekretär mit gemischten Gefühlen nach Moskau abreisen sah, so hat sich nach Bekanntwerden des neuen Stationierungsabkommens allenthalben der Eindruck verstärkt, daß die Regierung in Moskau eine Schlacht verloren hat. In politischen Kreisen der polnischen Hauptstadt hatte man gehofft, daß der Parteichef in Moskau eine erhebliche Reduzierung der in Polen stationierten Truppen erreichen würde. Dies ist nicht gelungen. Statt dessen halten sich in Warschau hartnäckig Gerüchte, nach denen die Delegation gezwungen worden sei, dem Bau zusätzlicher sowjetischer Raketenbasen an der Ostseeküste zuzustimmen. Vor allem die Studenten- und Künstlercafes waren in den gestrigen Abendstunden überfüllt. Überall wurde das Moskauer Abkommen erregt diskutiert. Eine Bestätigung oder ein Dementi der Gerüchte, daß bei der Regierung ein Protesttelegramm der Bergarbeiter-Gewerkschaft eingegangen sein soll, war vom Presseamt des Außenministeriums nicht zu erhalten. 10
Zum erstenmal seit Jahren war die ausländische Presse bei der Rückkehr des Parteichefs auf dem Bahnhof nicht zugelassen. Daher liegt die Vermutung nahe, daß die Regierung mit Protestaktionen gerechnet hat. »Nun«, fragte der Korrespondent neugierig, nachdem Reiners sein Kabel gelesen hatte, »was halten Sie davon, Doktor?« »Sie sind, wie immer, ganz ausgezeichnet informiert, Charly«, sagte Michael Reiners vorsichtig. »Stimmen Ihre Beobachtungen mit den meinen überein?« »Zum Teil schon«, gab Michael Reiners ausweichend zu. »Aber jeder von uns kann sich irren – nicht so sehr bei den Tatsachen, wohl aber bei den Schlußfolgerungen.« »Immerhin haben Sie mir bestätigt, was ich bisher nur vermutet hatte!« stellte Charly zufrieden fest. »Und was, bitte, sollte das gewesen sein?« »Sie haben mir bestätigt, daß es auf dem Bahnhof Unruhen gegeben hat.« »Ich bitte Sie, Charly«, sagte Michael Reiners. »Ich habe das nicht bestätigt. Ich habe mich jeder Äußerung dazu enthalten.« »Und damit bestätigt!« sagte der amerikanische Korrespondent zufrieden. Er schlug Reiners gemütlich auf den Rücken. »Ich werde sofort ein Blitzgespräch nach London anmelden«, verkündete er. »Aber natürlich nicht von Ihrem Apparat aus, Doktor – denn Sie werden offenbar schwer bewacht. Warum eigentlich? Wissen Sie schon wieder einmal zuviel?« 11
»Schon möglich«, sagte Reiners nachdenklich. »Wenn ich nur wüßte, was ich zuviel weiß?« »Dann würden Sie es mir mitteilen, Doktor«, sagte Charly, der schon an der Tür stand. »Ist das nicht so? Jeder von uns ist doch die beste Rückversicherung für den anderen! Niemand wird es wagen, uns beide gleichzeitig verschwinden zu lassen. Verschwindet aber nur einer von uns beiden, schlägt der andere Lärm. Einverstanden?« »Das kann ein teures Geschäft für mich und ein gutes für Sie werden, Charly«, sagte Reiners zögernd. »Aber für jeden von uns kein schlechtes«, sagte Charly und nickte. »Haben Sie eigentlich eine Ahnung, Doktor«, wollte er sodann wissen, »von welcher Seite aus Sie beschattet werden – von der Partei, der polnischen Armee, den Sowjets, von Pankow oder von Bonn aus?« »Nicht klar zu erkennen«, sagte Reiners. »Ich glaube jedoch, daß wir die KP in Polen, Pankow und Bonn ausschalten können – vorläufig wenigstens.« »Wir werden das herausbekommen«, versprach Charly und rieb sich die Hände. »Für solche Fälle habe ich meine eigenen, hochbewährten Methoden. Im übrigen rate ich Ihnen, Doktor, inzwischen ein wenig auf Privatleben zu schalten – das verwirrt diese Burschen immer mächtig.« »Genau das wollte ich jetzt tun«, versicherte Reiners lächelnd. »Wirklich«, fragte Charly zufrieden. »Das traue ich Ihnen zu, Doktor – denn in meinen Augen sind Sie ein ganz ausgekochter Bursche; und schon deshalb sympathisch. Es würde mir leid tun, an Ihrem Begräbnis teilnehmen zu müssen.« Michael Reiners öffnete die Tür seines Hotelzimmers 12
und sah auf den Korridor hinaus. Dort verschwand ein Mann um die Ecke ins Treppenhaus. Reiners überlegte kurz, ob er seinem Bewacher nachlaufen sollte, zog es dann aber vor, Charlys Rat zu befolgen und sich dem Privatleben zu widmen. Er verlangte eine Telefonverbindung nach Berlin. Er machte es sich bequem, legte den Rock ab und knöpfte seinen Kragen auf. Ein wenig Verwirrung unter seinen Überwachern zu stiften, schien ratsam, zumal er damit zugleich seinen privaten Wunsch erfüllen konnte. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete das Bild, das vor ihm in einem Lederetui auf dem Tisch stand. Dieses Foto zeigte einen Frauenkopf: langes Haar glitt zu beiden Seiten des Gesichtes hinunter, große, nachdenklich wirkende, fast ein wenig ängstliche Augen schienen den Betrachter anzublicken. Das Telefon schrillte heftig. Reiners nahm den Hörer auf, ohne das Foto aus den Augen zu lassen. Berlin meldete sich. Und er fragte: »Bist du das, Constance – wie geht es dir?« »Wie schön, daß du anrufst«, sagte eine sanft klingende Frauenstimme. »Kommst du nach Berlin?« Er glaubte, Constance Schubert, die Frau, die sein Foto zeigte, jetzt vor sich zu sehen: ihr überraschtes Lächeln, das immer noch den Zauber kindlicher Unberührtheit besaß; und das trotz all der seltsamen und nicht unbedenklichen Geschehnisse, denen sie sich nicht entzogen hatte. Sie war ein zartes, zerbrechliches Geschöpf, in dessen Gegenwart sich alle Männer stark fühlten und von dem Verlangen heimgesucht wurden, sie zu beschützen – nahezu alle Männer, und damit viel zu viele. »Es wäre schön, wenn du kommen würdest«, sagte 13
Constance. »Ich würde gern bei dir sein«, versicherte Michael. Und der sonst so klare, kühle, beherrschte Mann schien in seltsamer Weise verwandelt. »Leider geht das zur Zeit nicht.« »Aber wenn ich dich dringend brauche?« fragte Constance mit behutsam fordernder Ungeduld. »Wenn ich es für notwendig halten würde, dich hier – bei mir – zu haben?« »Ist irgend etwas nicht in Ordnung?« fragte Michael besorgt. »Aber nein, nein«, beeilte sich Constance zu versichern. Sie tat das spielerisch, gab sich besorgt, von ihm mißverstanden zu werden – und sie versuchte gleichzeitig durchblicken zu lassen, daß er sie nicht mißverstanden habe: sie wollte, daß er komme! »Mir geht es wirklich ganz ausgezeichnet. Du brauchst dich nicht um mich zu sorgen. Ich habe zwei neue Bilder gemalt, in azurnem Blau und blassem Rosa. Ich möchte sie dir gern zeigen.« Er dachte darüber nach, was er ihr sagen könnte, ohne damit zugleich den Überwachern dieses Telefongespräches auswertbare Hinweise zu geben. Es schmerzte ihn, nicht offen mit ihr reden zu können; aber Zärtlichkeit war nicht möglich in Gegenwart von mithörenden Spitzeln, die vermutlich breit grinsen würden. »Ich wollte jetzt ein Kinderbuch illustrieren, Michael«, berichtete Constance mit nervösem, irritierendem Eifer. »Oder soll ich lieber die Bühnenbilder für eine Komödie von Anouilh entwerfen, was man mir gestern vorgeschlagen hat – aber du kannst dir gewiß vorstellen, daß es mir schwerfallen muß, hier eine Entscheidung zu 14
treffen. Was meinst du – was soll ich tun?« »Wenn ich komme, sprechen wir darüber«, sagte Michael. Und lauschte dieser ein wenig spröden, dennoch klangvollen, eigenwilligen Stimme mit zunehmender Besorgnis, aber auch mit liebevoller Nachsicht, denn er wußte, daß fast alles, was sie sagte, kaum greifbar war, Stimmungen unterworfen, vom Augenblick geprägt: Schwingungen eines ebenso sensiblen wie labilen Geschöpfes. Es war wirklich schwer, zu erraten, was sie sich wünschte. »Ach, Michael«, sagte sie jetzt in einem Tonfall, der Freude auszudrücken schien – Freude darüber, daß er bald bei ihr sein würde. »Wenn du kommst, wirst du mich vermutlich gar nicht wiedererkennen - seit gestern trage ich eine neue Frisur: nach klassischem Vorbild - vorn streng und glatt, nach hinten zusammengefaßt.« »Du wirst, wie immer, bezaubernd aussehen«, sagte Michael Reiners. Und während er noch ihr Bild betrachtete und ihren Gedankensprüngen nachsann, knallte plötzlich die Tür seines Hotelzimmers auf. Herein flog ein Mann und landete auf dem Teppich. Charly schloß die Tür von innen in Eile. Dann stürzte er sich auf den Geheimagenten, den er auf diese turbulente Art hereintransportiert hatte, und packte ihn an den Rockaufschlägen. »Ich werde dir helfen, Bursche«, rief er grimmig und schüttelte den Mann. »Charly!« rief Reiners warnend. Er schien ein wenig besorgt, doch sonst nicht beeindruckt zu sein. Der breitschultrige Amerikaner schnaufte verächtlich. »Was hast du hier herumzuhorchen, Bursche!« rief er seinem keuchenden Opfer zu. Und ehe noch der Mann antworten konnte, hatte ihm 15
Charly die Brieftasche weggenommen und sie Reiners zugeworfen. Reiners zögerte nicht, sie sofort zu durchsuchen. In wenigen Sekunden hatte er herausgefunden, was wichtig war: der Agent gehörte zur Abwehr – er war also im Auftrag der Armee tätig. »Lassen Sie ihn los, Charly«, sagte Reiners. »Es war ein Irrtum. Der Herr ist dienstlich hier.« »So«, sagte Charly und gab sich überrascht. Er ließ den arg zerzausten Mann los und blinzelte Reiners zu. »Wenn das so ist, dann tut mir das natürlich leid.« Charly überreichte dem ein wenig taumelnden Agenten die Brieftasche und verbeugte sich grinsend. »Und wie mir das leid tut!« versicherte er laut. Dann öffnete er die Tür, schob den Mann hinaus und schloß die Tür wieder. »Starkes Stück, Charly«, sagte Reiners, nicht ohne Anerkennung. »Hoffentlich wird das keine Nachwirkungen haben.« »Warum denn? Er wird sich hüten, seinen Auftraggebern zu berichten, daß er sich auf eine derartig primitive Weise schnappen ließ das wäre nämlich sein Ruin. Aus welcher Richtung kommt der Bursche eigentlich?« »Armee«, sagte Reiners. »Abwehr. Offenbar nimmt man an, ich wäre mit dem polnischen Regierungschef etwas zu eng befreundet.« »Interessant«, sagte Charly gedehnt. »Das könnte also bedeuten: Armee gegen Regierung, und damit gegen die Partei und damit auch gegen Moskau!« »Nicht ausgeschlossen«, sagte Reiners vorsichtig. Und während er das sagte, zogen draußen, vor dem Hotelfenster, Marschkolonnen vorüber. Sie sangen kämpferische Lieder und trugen Transparente mit sich, auf denen geschrieben stand: 16
Ohne Freiheit kein Friede. Kurz vor 10 Uhr erreichte die Europazentrale der AP ein Blitzkabel ihres Warschauer Korrespondenten. Es lautete: Bei der Rückkehr der polnischen Regierungsdelegation ist es heute früh um 8 Uhr zu Zusammenstößen zwischen den Abordnungen gekommen, die sich zur Begrüßung des Parteichefs auf dem Bahnhof eingefunden hatten. Arbeiter und Studenten protestierten gegen das Stationierungsabkommen. Es kam zu Schlägereien, die von der Polizei nur mit Mühe geschlichtet werden konnten. Die Unruhe in der Stadt nimmt zu. Lastwagen mit Militär sind unterwegs zum Platz der Republik, wo um 12 Uhr ein Meeting stattfinden soll. Niemand weiß im Augenblick, ob der Parteichef auf dieser Versammlung sprechen wird. Constance Schubert liebte die Ruhe und die Stille. Sie pflegte allem, was nicht angenehm zu sein schien, auszuweichen – so lange, bis eine Begegnung mit dem Unangenehmen erzwungen wurde. Doch dann versuchte sie, an ihren Sorgen, die ihr geradezu körperliche Qualen zu bereiten vermochten, ihre Freunde zu beteiligen. Und sie fand die ersehnte Hilfe fast immer. Jetzt jedoch wünschte sie lebhaft, Michael Reiners wäre hier bei ihr in Berlin – und nicht in dem langweiligen Warschau. Sie stand, nervös und unglücklich, an einem Fenster ihrer Wohnung und sah auf den fast menschenleeren Steinplatz hinaus. Der Mann, der hinter ihr im Zimmer saß, sah ungeduldig auf seine Uhr. »Ich bin nicht extra deinetwegen von Kairo hierhergekommen«, sagte jetzt der Mann, »um mit dir 17
gemeinsam zu schweigen.« »Mach mir doch nicht alles so furchtbar schwer, Wolf«, sagte Constance; und ihre Stimme klang gequält. Wolf Beck hob lediglich ein wenig die Augenbrauen. Er hatte große blaue Augen, eine hohe Stirn, ein klassisch zu nennendes Profil. Er war aber Kaufmann und handelte mit allem, womit es sich zu handeln lohnte. Wolf Beck kontrollierte eine Schweizer Bank und damit mehrere Gesellschaften in der Schweiz; er dirigierte Import- und Exportagenturen in Kairo, Buenos Aires und Kapstadt. Von ihm wurde behauptet, daß alles, was er unternehme, gewinnbringend sei; nur ein einziges Mal in seinem Leben habe er sich gründlich verspekuliert – vor drei Jahren, als er Constance Schubert geheiratet hatte. »In deinem letzten Brief«, sagte er ruhig und geduldig, als spräche er mit einem Kinde, »hast du in eine Scheidung eingewilligt. Ich hoffe nicht, daß es sich dabei wieder um eine deiner Stimmungen gehandelt hat. Du weißt, wie knapp meine Zeit ist. Ich kann nicht wie du auf begnadete Stunden warten, ich muß mich auf die Schwankungen des Marktes konzentrieren. Bei mir geht es nicht um unsterbliche Bilder, sondern um greifbare Millionen.« »Es wäre sicherlich alles viel einfacher«, sagte Constance, »wenn Michael hier wäre.« »Dann laß ihn doch kommen!« rief Wolf Beck unwillig. Sein Unwillen richtete sich keineswegs gegen ihre Anregung, Michael herbeizuzitieren, sondern gegen ihre Unfähigkeit, sich auch nur eine halbe Minute mit seinen Plänen zu beschäftigen. Gewiß, sie war eine bezaubernde Frau – aber völlig ungeeignet dazu, seine Frau zu sein. »Ich weiß nicht recht«, sagte Constance zaghaft, »ob 18
ich das Michael zumuten darf. Ich habe vorhin mit ihm gesprochen – aber dieses Warschau scheint überaus wichtig für ihn zu sein. Und vielleicht – bedeute ich ihm nicht sehr viel.« »Ich werde mit ihm reden«, sagte Wolf Beck zielstrebig. Und doch war seine Besorgnis unverkennbar, daß Constance wieder und immer wieder versuchen würde, einer Entscheidung auszuweichen. »Ich bin überzeugt davon«, versicherte er suggestiv, »daß Michael keinen Augenblick zögern wird, hierherzukommen, wenn er weiß, daß du ihn brauchst. Und schließlich brauche ich ihn auch – denn ich bin ja, trotz allem, sein Freund. Wir müssen ihn einfach zwingen, zu kommen – nicht zuletzt natürlich in seinem eigenen Interesse.« Um 11.00 Uhr strahlte die Radiostation »Freies Europa« eine Nachrichtensendung in polnischer Sprache aus: Seit heute früh sind die Warschauer Garnison und die Polizei der polnischen Hauptstadt in Alarmzustand. Wie wir aus zuverlässiger Quelle erfahren, findet zur Zeit eine außerordentliche Sitzung des Zentralkomitees der Arbeiterpartei statt, auf der entschieden werden soll, ob die für 12 Uhr angesetzte Kundgebung abgesagt werden wird. Inzwischen bewegen sich jedoch Demonstrationszüge zum Platz der Republik, denen sich immer mehr Einwohner anschließen. In den Demonstrationszügen werden Transparente getragen, auf denen die Losung steht: »Zerreißt den Stationierungsvertrag! Wir brauchen keine russischen Beschützer!« Der Gefreite Schulze-Schwerin, Angehöriger der ostdeutschen Armee, fettete seinen Karabiner ein. Er tat 19
das sorgfältig, doch ein wenig mechanisch. Er sagte zu seinen Kameraden: »Heute abend werde ich mir das Gastspiel der Dresdener Oper ansehen. Seit Wochen freue ich mich schon darauf.« Die Kameraden grinsten. Schulze-Schwerin war nicht nur ein braver sozialistischer Patriot, sondern auch ein musischer Mensch – es mußte auch solche geben. Seine Heimat- und Vaterlandsgefühle fanden, was ihn sehr quälte, kein Betätigungsfeld; denn ein echter Soldat mußte kämpfen – natürlich für den Frieden. Er war noch sehr jung. Und im Grund tat er nichts anderes, was Jugend schon immer und zu allen Zeiten getan hatte: er wollte glauben! Der Hauptmann Müller-Marburg, Kompaniechef, Angehöriger des westdeutschen Bundesgrenzschutzes, saß in seinem Dienstzimmer und hielt eine Meldung in Händen, die er selbst vor einigen Tagen aufgesetzt hatte. Sie war jetzt wieder an ihn zurückgekommen – mit einer Bemerkung des Kommandeurs, die Müller-Marburg empörte. Er war bestrebt gewesen, durch kleine Reformen den Dienst mit der Waffe in betont demokratische Bahnen zu lenken. Er hatte vorgeschlagen, eine Art Verpflegungskomitee zu gründen, damit die Soldaten selbst bestimmen konnten, was sie essen wollten. Der Kommandeur aber hatte für diesen konstruktiven Vorschlag nur eine höhnische Randbemerkung übrig gehabt: »Es erscheint mir wenig begrüßenswert, wenn Offiziere bestrebt sind, ihre Pflichten den Mannschaften als fragwürdige Rechte zuzuschieben.« Der Kommandeur würdigte weder seine fürsorglichen Bestrebungen noch fand er jemals Anerkennung für seine soldatischen Qualitäten. Es war höchste Zeit, 20
glaubte der Hauptmann Müller-Marburg, zu erkennen, daß hier eine entscheidende Wandlung eintrat. In Sonneberg in Thüringen saß Martin vor seinem neuesten Modell einer Plastikpuppe. Er dachte an das Mädchen Maria, das in Schongau im Allgäu lebte. Martin hatte Maria in seinem letzten Urlaub kennengelernt. Die Puppe besaß eine Ähnlichkeit mit ihr. Immer wenn Martin sie ansah, mußte er lächeln. Eine ähnliche Puppe hatte er im vergangenen Jahr, als er seinen Urlaub bei entfernten Verwandten in Schongau am Lech verbrachte, auf der Straße gesehen. Es war eine alte, zerstoßene, verwaschene Puppe, mit Flecken und Beulen – eine jener unansehnlichen Puppen, die aber dennoch für Kinder Seligkeit bedeuten können. Dieser Puppe waren die Arme herausgerissen worden. Das Kind, dem dieses vielliebkoste Geschöpf aus Pappe, Gummi und Farbe gehörte, stand mit großen, feuchten Augen daneben. Ein Mädchen hatte sich, auf einer Steintreppe sitzend, darüber gebeugt und versuchte angestrengt, den Gummizug zwischen den Puppenarmen neu zu knüpfen. Martin blieb stehen und sah zu – ein wenig belustigt zunächst. Er sah dunkelbraune Haare, die in ein leichtgerötetes Gesicht fielen, sah fest zupackende, doch ungeübte Hände. Er lachte. Das Mädchen unterbrach sofort seine Tätigkeit, sah hoch, und ihre rehbraunen Augen blitzten Martin unwillig an. »Stehen Sie hier nicht herum«, sagte das Mädchen ärgerlich. »Sie machen das nicht richtig«, sagte Martin freundlich, denn das Mädchen gefiel ihm. »Können Sie das etwa besser?« »Ja«, sagte Martin. Er setzte sich neben sie, nahm ihr 21
die Puppe aus der Hand. Martin knotete, da die Haltehaken ausgebrochen waren, , den einen Arm fachgerecht fest; er zog die Gummischnur mit Hilfe eines schnell zurechtgebogenen Drahtstückes durch den Puppenkörper, blockierte ihn und knüpfte behutsam und sicher den zweiten Knoten. Und schon hatte die Puppe ihre Arme wieder. »So«, sagte Martin und betrachtete sein Werk. Dann gab er die Puppe zurück. »Danke«, sagte das Kind, drückte die Puppe an sich und lief davon. »Worauf warten Sie denn noch?« fragte das Mädchen. »Sie wollen doch nicht etwa hier neben mir sitzen bleiben?« »Ist das verboten?« fragte Martin; er hielt diese Bemerkung für einen Scherz. »Verboten nicht – aber unerwünscht!« sagte das Mädchen und stand auf, um sich zu entfernen. Das war die erste Begegnung zwischen Maria und Martin – vor fast genau einem Jahr. Und heute stand Maria in Schongau in ihrem kleinen Zimmer vor dem Kleiderschrank und musterte ihre Sachen. Auf dem Tisch lag ein absendebereiter Brief, der mit den Worten begann: »Ich freue mich auf Dich. Wir werden herrliche Tage verleben. Ich bin sehr glücklich, daß ich meinen Urlaub bei Dir verbringe.« Dieser Brief würde Martin in zwei, drei Tagen erreichen – und wenige Stunden später würde Maria bei ihm sein. Der amerikanische Botschafter in Warschau betrachtete besorgt eine Anzahl Telegramme, Meldungen und Notizzettel, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. Dann sah er hoch und blickte ein 22
wenig ratlos auf den Sonderkorrespondenten der Associated Press, der allgemein nur »Charly« genannt wurde und der jetzt lässig abwartend in der Mitte des Raumes stand. »Ich bin beunruhigt«, sagte der Botschafter schließlich. »Sie befürchten also Unruhen?« wollte Charly sofort wissen. Der Botschafter zwang sich zu einem Lächeln, was ihm offensichtlich schwerfiel. »Bemühen Sie sich bitte nicht, mich in Versuchung zu bringen, Ihnen mehr zu sagen, als ich selbst weiß.« »Also werden Sie jetzt nach Washington an das State Department telegraphieren: ›Unruhen sind nicht zu befürchten. ‹« »Auch das nicht«, sagte der Botschafter nachdenklich. »Sie haben doch nur diese zwei Möglichkeiten«, stellte Charly mit herausfordernder Gemütlichkeit fest. »Entweder Sie schläfern das State Department ein, oder Sie alarmieren es. Beides ist denkbar, aber eines ist genauso gefährlich wie das andere.« Der Botschafter lächelte vage. »Was würden Sie an meiner Stelle tun?« »Ich würde mich mit dem deutschen Doktor, mit diesem Michael Reiners, unterhalten. Der ist zwar eine Art demokratischer Großgermane, kennt aber die Verhältnisse im Osten zwanzig Jahre länger als wir beide. Und da er das Vertrauen der Bundesregierung in Bonn hat, dürfen wir annehmen, daß er auch uns nicht enttäuschen wird.« »Ich habe für Amerika zu denken und mich nicht nach der deutschen Mentalität zu richten. Was halten Sie persönlich von dieser Situation?« 23
»Sie wissen das genau, Herr Botschafter – Sie kennen meine Ansichten über selbstherrliche Militärs. Einige der uniformierten polnischen Patrioten leiden noch dazu seit fast zwanzig Jahren an Minderwertigkeitskomplexen, weil sie nicht einsehen können, daß auch der Tapferkeit Grenzen gesetzt sind.« »Ich werde mit großer Vorsicht berichten«, erklärte der Botschafter. »Aber auch mit der gebotenen Offenheit. Ich werde auch Ihre Ansichten, die mir wertvoll sind, berücksichtigen. Immerhin gelten Sie als einer unserer fähigsten Korrespondenten.« »Wenn hier tatsächlich das eintrifft, was ich erwarte«, sagte Charly gemütlich, »dann wäre mir jetzt auf Hawaii wesentlich wohler.« Charly, der Korrespondent, lächelte verkniffen seinen Botschafter an. Dann verabschiedete er sich von ihm, begab sich in das Vorzimmer und setzte sich auf den Schreibtisch der ein wenig ältlichen, aber immer noch attraktiven Sekretärin des Botschafters. »Baby«, sagte er unternehmungslustig, »wie wäre es, wenn wir beide uns ein wenig näherkommen würden? Was halten Sie von einem ganz gemütlichen Abendessen?« »Sie glauben doch nicht etwa«, sagte die Sekretärin ablehnend, »daß Sie von mir irgendwelche Informationen bekommen.« »Kann durchaus sein«, sagte der Korrespondent unbekümmert, »daß wir bereits heute abend keine Information mehr nötig haben – weil wir dann mehr wissen, als wir jemals wissen wollten!« Um 11.30 Uhr sandte der amerikanische Botschafter in Warschau folgendes Chiffretelegramm an das State Department in Washington: 24
Die politische Entwicklung der letzten Stunden nimmt beunruhigende Formen an. Demonstranten sind in vielen Straßen Warschaus anzutreffen. Das Zentralkomitee tagt seit acht Uhr. Die Armeeführung scheint bereit, die Regierung weiterhin zu unterstützen, sie verlangt aber eine Erklärung aller im Sejm vertretenen Parteien, daß sie den Stationierungsvertrag nicht ratifizieren werden. Die Kirchen sind überfüllt. Aus Pommern kommt die Nachricht, daß die sowjetischen Truppen in ihren Sperrgebieten alarmiert worden sind. Vereinzelte Verhaftungen in der Universität sind vorgenommen worden. Funktionäre des stalinistischen Flügels, die seit dem Oktober Umsturz des Jahres 1956 nicht mehr aktiv waren, wurden in Warschau gesichtet. Es hat den Anschein, als ob mit dem Ausbruch von Unruhen gerechnet werden muß. Soeben treffen Berichte ein, in denen behauptet wird, daß Demonstrationen in Krakau stattgefunden haben. Benachrichtigungen an Berlin, Prag und Budapest erscheinen empfehlenswert. Mutter Schwiefert, die Wirtschafterin von Constance Schubert, hatte es sich in vielen Jahren abgewöhnt, die nervöse Unruhe ihrer Brotgeberin zu teilen. Sie liebte Constance, wie eine Mutter ein kränkelndes Kind liebt; aber sie hatte sehr schnell herausgefunden, daß es ein Fehler war, das allzu deutlich zu zeigen. »Herr Beck wird dir sicherlich erzählt haben, daß Herr Reiners kommen wird«, sagte Constance. Sie hatte sich in die Küche begeben, stand hier neben dem Tisch und sah ihrer Wirtschafterin zu. »Wann, meinst du, könnte er hier sein?« »Heute abend«, sagte Mutter Schwiefert gelassen. 25
Und da sie Constance Schuberts gefühlsträchtige Phantasien mit robusten Eingriffen eindämmen mußte, fügte sie hinzu: »Wenn Herr Reiners überhaupt kommen will – oder kommen kann.« »Warum sollte er nicht kommen wollen?« fragte Constance; ihre Augen waren groß und vorwurfsvoll auf ihre Wirtschafterin und Vertraute gerichtet. »Was soll er denn hier?« fragte Mutter Schwiefert, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Sie heiraten ihn ja doch nicht.« »Woher willst du das wissen?« fragte Constance leicht empört. »Michael Reiners ist ein sehr liebenswerter, kluger und einflußreicher Mann.« »Er ist ein Trottel wie die meisten Männer«, stellte Mutter Schwiefert fest. »Daß er außerdem ein großes Tier ist, mit dem sich sogar der Bundeskanzler zusammen fotografieren läßt, ändert aber nichts daran, daß Sie mit ihm, wenn Sie wollen, Blindekuh spielen können. Und Sie wollen doch, wie ich Sie kenne!« »Ach, Mutter Schwiefert«, sagte Constance, »wer weiß denn schon, was mich wirklich bewegt?« »Was wollen Sie eigentlich, Kindchen?« fragte Mutter Schwiefert robust. »Sie haben in Herrn Beck einen Mann, der mehr Geld besitzt, als Sie jemals verbrauchen können.« »Was ist schon Geld!« sagte Constance mit großer Geste. »Ein Mann«, fuhr Mutter Schwiefert nachsichtig fort, »der noch dazu gut aussieht und sich zu benehmen versteht. Aber das scheint Ihnen nicht zu genügen.« »Das genügt auch nicht«, sagte Constance versonnen. »Und wird Ihnen denn Herr Reiners genügen?« fragte 26
Mutter Schwiefert. »Gewiß, er scheint viel Verstand zu haben, auch ein großes Herz, das er sich vermutlich für Sie aus der Brust reißen würde. Aber was ist das schon – reicht das für Sie aus?« »Man begegnet so bitter wenig Menschen im Leben, die wahrhaft selbstlos sind«, sagte Constance. »Und Michael Reiners gehört zu ihnen. Er ist anders als Wolf Beck – und schon gar nicht darf man ihn mit Henry Engel vergleichen.« »Dieser Herr Engel«, sagte Mutter Schwiefert und schloß die Tür des Schrankes, vor dem sie stand, energisch, »scheint es Ihnen besonders angetan zu haben. Sie schimpfen verdächtig viel auf ihn; Sie sind ihm offenbar völlig gleichgültig. Das spricht sehr für ihn.« »Henry Engel«, sagte Constance, als spreche sie von einem verlorenen Sohn, »ist sicherlich ein sehr unglücklicher Mensch – er tut mir leid. Das ist alles, was ich noch für ihn empfinde.« Henry Engel saß auf der Terrasse seines Hauses, das hoch über Kochel in den Berg hineingebaut war. In seinem Rücken hatte er das Massiv der Alpen – vor ihm lag Deutschland, in flirrende Hitze gehüllt. Henry Engel schien das alles nicht zu beachten. Er blätterte die Post durch, die ihm Friebe gebracht hatte. »Wolf Beck ist wieder in Deutschland«, sagte er, nachdem er ein Telegramm aufgerissen und es gelesen hatte. »Wenn Michael Reiners Zeit hat, ist es möglich, daß wir endlich wieder einmal zusammentreffen.« »Hier bei uns?« fragte Friebe. »Wo denn sonst«, sagte Henry Engel und begann eine Tageszeitung zu entfalten. Henry Engel war ein großer, sehr kräftig wirkender Mann. Sein kürbisartiger Kopf wurde von einer breiten 27
Stirn und einer stark vorspringenden knolligen Nase beherrscht. Er war Physiker und Chemiker zugleich. Einige seiner Erfindungen, die ein amerikanischer Konzern auswertete, hatten ihm frühzeitig ein Vermögen eingebracht, das es ihm ermöglichte, seinen privaten Neigungen zu leben. Er hatte sich ein großes, ein wenig abseits gelegenes Gelände gekauft und sich darauf ein Haus gebaut, das die einen eine »Höhle«, die anderen eine »Burg« nannten. Friebe war im letzten Krieg sein »Putzer« gewesen, vorher irgendwo Kriminalbeamter, der dem Verlangen nicht widerstehen konnte, selbst respektgebietenden Trägern der damaligen staatlichen Ordnung Vergehen nachzuweisen. Jetzt war Friebe, seit mehr als zehn Jahren schon, Kammerdiener, Chauffeur und Hausverwalter bei Henry Engel. Henry Engel legte die Zeitung zur Seite. »Ein Vertreter Ihrer amerikanischen Firma hat sich angemeldet«, berichtete Friebe. »Absagen!« entschied Henry Engel. »Er ist aber bereits hierher unterwegs. Offenbar will er Ihnen wieder ein paar neue Patente abjagen. Wenn der wüßte, woran Sie arbeiten, Chef – er würde ohne zu zögern einen Blankoscheck auf den Tisch legen.« »Friebe«, sagte Henry Engel nachdenklich, »zu unserem Haus führt doch nur ein einziger befahrbarer Weg – und zu diesem Weg gehört eine Brücke. Wenn nun diese Brücke nicht wäre …« »Zwei Kilo Dynamit reichen dafür aus«, sagte Friebe sachverständig. »Soll ich sie bereitlegen?« Henry Engel nickte versonnen. »Die doppelte Menge«, sagte er schließlich, »sicher ist sicher.« 28
»Sollen auch noch andere Vorbereitungen getroffen werden – etwa für den Empfang von Herrn Reiners und Herrn Beck?« »Sind wir auf diese beiden nicht immer vorbereitet?« fragte Henry Engel belustigt. »Wie man es nimmt«, sagte Friebe. Henry Engel fixierte seinen Friebe kurz, griff dann nach einem Buch, das neben ihm lag, und schlug es auf. Kaum vernehmbar sagte er dabei: »Es wäre mir eine Wonne, diesen beiden eine schon längst fällige Rechnung zu präsentieren. Meinen verehrten Freunden – und der Dame.« Michael Reiners saß in Warschau in seinem Hotelzimmer und wartete nachdenklich auf das angekündigte Gespräch aus Berlin. Wenn ihn Wolf Beck, den er in Kairo vermutet hatte, sprechen wollte, dann war das gewiß von einiger Wichtigkeit – und es konnte sich dabei eigentlich nur um Constance handeln. Es war also nötig, Geduld zu haben. Das Telefon schrillte. Reiners griff zum Hörer und meldete sich. Er vernahm eine dunkle, heiser klingende Stimme. »Herr Doktor Reiners«, sagte dieser Mann, »ich muß Sie bitten, Ihr Hotelzimmer nicht zu verlassen.« Reiners kniff die Augen ein wenig zusammen. Dann sagte er: »Das ist Freiheitsberaubung!« »Mißverstehen Sie uns, bitte, nicht«, sagte der Mann am Telefon eindringlich. »Wir glauben, in Ihrem Interesse zu handeln.« »Wer sind Sie?« fragte Reiners. »Von wo aus sprechen Sie? In wessen Auftrag handeln Sie?« »Ich werde Sie aufsuchen«, sagte der Mann ausweichend. »Bitte, halten Sie sich auf Ihrem Zimmer 29
bereit.« Ehe es Reiners gelang, nochmals zu protestieren, hatte sein Gesprächspartner aufgelegt. Er versuchte, Charly zu erreichen; der war nicht im Hotel. Reiners telefonierte hierauf mit der amerikanischen Botschaft; Charly hatte sie soeben, mit unbekanntem Ziel, verlassen. Reiners sagte sich, daß es besser wäre, jetzt in der Öffentlichkeit zu sein – in der Halle vielleicht, inmitten der Kollegen, an irgendeinem Ort jedenfalls, wo man ihn nicht verhaften konnte, ohne Aufsehen zu erregen. Aber er mußte hier auf das Telefongespräch mit Wolf Beck warten – das war er seinem Freund und Constance schuldig. Hoffentlich kam die Verbindung bald zustande. Er sah auf seine Armbanduhr. Um diese Zeit hatte er auf dem Platz der Republik sein wollen, wo die große Kundgebung stattfinden sollte. Er bedauerte, nicht dort zu sein. Er sah sich im Raum um. In der Ecke neben dem Fenster fand er den zentralgesteuerten Lautsprecher und schaltete ihn ein. Alsbald röhrte Blechmusik hernieder. Es war bereits zehn Minuten nach 12.00 Uhr. Ein Sprecher kündigte an, daß nunmehr umgeschaltet werde. Brodelnder, ohrenbetäubender Lärm rauschte auf. »Wir melden uns vom Platz der Republik«, sagte eine kraftvolle Stimme. Der Lärm schien sich zu verdoppeln, dumpfer und dröhnender zu werden. Michael Reiners erhob sich aus dem Sessel, der neben dem Telefonapparat stand. Er eilte ans Fenster: draußen rollte eine Lastwagenkolonne mit polnischer Infanterie vorüber; drei gepanzerte Straßenkampfwagen sowjetischer Bauart folgten. Das Telefon schrillte. Michael Reiners stürzte ins Zimmer 30
zurück und riß den Hörer von der Gabel. »Sind Sie für Berlin sprechbereit?« fragte die Telefonistin. »Ja«, rief Michael ungeduldig. »Machen Sie schnell.« Aber diese Verbindung nach Berlin schien auf erhebliche Schwierigkeiten zu stoßen. Reiners wurde jetzt von drei Geräuschen umdrängt: dem hohen Summen im Fernsprechnetz; dem Dröhnen der Motoren vor seinem Fenster; dem aufgeregten Gebrodel aus dem Lautsprecher. Über den Lärm auf dem Platz der Republik erhob sich die Stimme des Sprechers und wurde in Fetzen davongeweht: »Hunderttausende von Warschauern …. aus den Fabriken und Büros zusammengeströmt … erfüllt von dem Verlangen ihrer Regierung …« Und plötzlich vernahm Michael Reiners deutlich die klare, stets ein wenig überlegen klingende Stimme seines Freundes Wolf Beck: »Es war gar nicht so einfach, dich zu erreichen. Es ist einfacher, um den halben Erdball zu telefonieren als von Berlin nach Warschau. Ich hoffe, es geht dir gut?« »Freue mich, von dir zu hören, Wolf. Kann ich irgend etwas für dich tun?« »Wir müssen uns sehen, um eine dringende Sache zu besprechen.« »Dann wirst du vermutlich hierher nach Warschau kommen müssen«, sagte Michael; er versuchte, seine Aufmerksamkeit zu teilen – zwischen dem Telefongespräch und dem Lautsprecherlärm. »Aber ich rate dir nicht dazu.« »Warschau interessiert mich nicht«, sagte Wolf entschieden. »Du aber wirst in Berlin dringend gebraucht.« 31
»Vermutlich nicht so dringend wie hier in Warschau«, sagte Michael und lauschte dem Lautsprecherlärm, der mehr und mehr anzuschwellen schien. Aus dem Lautsprecher klang jetzt eine andere Stimme, die den Tumult der Menge zurückzudrängen schien: »Ich erkläre die Kundgebung für eröffnet! Es spricht der Genosse Parteisekretär.« Michael hob den Kopf. Ihm war, als sehe er vor sich den Platz der Republik, von Menschenmengen zum Bersten gefüllt; hunderttausend Augen starrten auf die Tribüne, wo jetzt der Regierungschef stand: klein, bleich, mit einem Lächeln – und in seinen Augen lag jetzt noch etwas anderes als nur Müdigkeit; es war die Furcht vor der brutalen Gewalt, die diesen Mann in den letzten Monaten niemals ganz verlassen hatte. »Hallo, hallo!« rief Wolf Beck ungeduldig. »Was ist denn da los? Sind wir etwa getrennt worden?« Michael nahm das unterbrochene Telefongespräch wieder auf. »Ich glaube, nicht«, sagte er, »daß es mir möglich sein wird, sofort nach Berlin zu kommen.« »Mein Lieber«, sagte Wolf Beck eindringlich, »ich würde niemals versuchen, dich von irgendwelchen Geschäften abzuhalten – oder wie du deine Unternehmungen auch immer bezeichnen magst. Aber es geht ja nicht so sehr um mich; es geht in erster Linie um Constance. Sie braucht dich! Sie wird ohne dich anscheinend nicht fertig.« »Machst du ihr etwa schon wieder Schwierigkeiten, Wolf?« fragte Michael mißtrauisch. »Wo denkst du hin! Ich bin froh, wenn dieses Kapitel für mich abgeschlossen ist. Und wie du weißt, ist es Constance, die sich selbst unentwegt Schwierigkeiten macht. Irgendwen braucht sie immer; und diesmal 32
verlangt sie nach dir. Das ist deine große Chance, mein Lieber. Wenn du nicht kommst, wird sie sich verlassen und betrogen fühlen. Und dir die Schuld daran geben! Also – sei klug und zögere nicht.« Es schien, als sei es das brandungsartige Anschwellen des Lautsprecherlärms, das dieses Gespräch davonspülte. Die Verbindung war unterbrochen. Und jetzt hörte Michael überdeutlich die Stimme des Parteisekretärs auf dem Platz der Republik. In dieser Stimme lag Leidenschaft; sie sollte Kraft ausstrahlen und Zuversicht; sie wollte überzeugen. Der Regierungschef wußte, daß er jetzt nicht nur zur Bevölkerung von Warschau sprach, sondern weit über Polen hinaus gehört wurde. Die Regierungen in London, Paris und Bonn hatten von ihren Informationsorganisationen sofortige und umfassende Nachrichten über die Ereignisse in Polen verlangt. Zahlreiche Bandgeräte liefen, damit kein Ton des Warschauer Senders verlorenging. »Es kann kein Zweifel darüber bestehen«, rief der Regierungschef, »daß die polnische Delegation in Moskau ihr Bestes getan hat. Das Entgegenkommen der sowjetischen Genossen …« Die Massen auf dem Platz der Republik brüllten auf! Sie brüllten sich gegenseitig an, sie versuchten, sich niederzubrüllen. Dann prasselte ein trockenes, hartes Geräusch in die Mikrophone. Die Menge schien zu erstarren. Jetzt waren ganz deutlich Schußsalven zu vernehmen – hart, trocken, trommelnd. Die Übertragung brach ab. Das Schweigen lastete schwer im Raum. Michael Reiners senkte den Kopf und schloß kurz seine Augen. 33
Eine weibliche Stimme klang aus dem sekundenlang schweigsamen Lautsprecher: »Wegen einer technischen Störung kann die Übertragung vom Platz der Republik leider nicht fortgesetzt werden. Wir senden Musik.« »Wir erwarten dich also«, sagte Wolf Beck fröhlich, und seine Stimme war jetzt wieder klar und deutlich vernehmbar. »Nimm das nächste Flugzeug. Du wirst hier ganz dringend gebraucht – und es kann dein Glück sein.« Und während Michael Reiners nachdenklich den Hörer auflegte, öffnete sich die Tür seines Zimmers. Dort stand ein kleiner, untersetzter Mann mit melancholischen Gesichtszügen. »Ich muß Sie bitten, mir zu folgen«, sagte er ruhig. »Sofort. Widerstand ist nicht ratsam. Fragen werden nicht beantwortet. Er liegt jedoch kein Grund zur Besorgnis vor.« Um 13.00 Uhr wurde von den westdeutschen Rundfunkstationen folgende Meldung ausgestrahlt: In Warschau sind heute Unruhen ausgebrochen. Weite Kreise der polnischen Bevölkerung sind mit dem am Vortage in Moskau zwischen der sowjetischen und der polnischen Regierung abgeschlossenen Stationierungsabkommen nicht einverstanden. Nach den Äußerungen, die von der polnischen Verhandlungsdelegation vor ihrer Abreise nach Moskau abgegeben wurden, hatte man allgemein erwartet, daß Polen wenn nicht einen Abzug, so doch eine Reduzierung der sowjetischen Truppen in Polen erreichen würde. Schon bei der Rückkehr des Parteichefs in den frühen Morgenstunden war es zu Zusammenstößen auf dem Bahnhof gekommen. Jetzt sind bei einer großen Kundgebung die ersten Schüsse gefallen. 34
Nach bisher noch unbestätigten Gerüchten haben Demonstranten versucht, die Regierungstribüne zu stürmen. Daraufhin eröffnete die Polizei das Feuer. Über die weitere Entwicklung der Lage liegen zur Stunde keine Meldungen vor. Korrespondentenmeldungen aus der polnischen Hauptstadt ergeben kein klares Bild. Offenbar sind an den Demonstrationen gegen die Regierung sowohl sogenannte stalinistische Gruppen als auch Anhänger des derzeitigen Regimes beteiligt. Unter letzteren sollen sich vor allem Studenten der Warschauer Universität befinden. Nach in Washington vorliegenden Berichten sind einige Studenten verhaftet worden. Meldungen über weitere Unruhen in Krakau, Lublin, Lodz und Posen haben sich vorerst nicht bestätigt. Ein Sprecher der Bundesregierung erklärte in Bonn, die Bundesregierung verfolge mit Besorgnis die Ereignisse in Polen. Noch zu gut sei in aller Erinnerung der Freiheitskampf des ungarischen Volkes im Jahre 1956. Die Bundesregierung hege für jedes Volk Gefühle wärmster Sympathie, das für seine Freiheit kämpfe. Diese Meldung, eine unter elf anderen, reichte keinesfalls aus, brave mitteleuropäische Bürger zu stören, weder in ihrem Verlangen nach einem Nachmittagsschlaf noch bei ihrer Arbeit. Unruhen in der Welt? Alltäglich! Wolf Beck speiste mit einem Geschäftsfreund bei Kempinski. Dort, wo er sich aufhielt, störte niemand die behagliche Ruhe. Er fühlte sich wohler als am Vormittag, denn er glaubte nicht nur neuen Geschäften entgegenzugehen, sondern auch endlich einmal Ordnung in sein Privatleben zu bringen. Constance Schubert ließ sich von Mutter Schwiefert einen Kaffee auf türkische Art servieren, nachdem sie ein 35
leichtes Mittagsmahl, bestehend aus Omelette und Früchten, verzehrt hatte. Sie saß in einer Ecke ihres englischen Sofas, betrachtete verträumt eine Zeitschrift und hörte dabei die Nachrichten. Bei dem Wort »Warschau« horchte sie auf. »Ach«, sagte sie, wobei sie Mutter Schwiefert zulächelte, »das ist aber interessant – für Michael. Er liebt derartige Erlebnisse, glaube ich.« Das Mädchen Maria in Schongau, das an Martin in Sonneberg dachte, besaß keinen Radioapparat. Die letzten Vorbereitungen für ihren Urlaub beschäftigten sie stark. Sie hatte Sehnsucht nach dem Menschen, den sie liebte – was konnte wichtiger sein? Martin, der in Sonneberg in seinem Arbeitsraum in der Spielzeugfabrik saß und seine Butterbrote verzehrte, hörte wohl die mittäglichen Rundfunknachrichten, die der Stadtfunk durch das offene Fenster hereinbrüllte. Aber diese Nachrichten kamen aus Ostdeutschland. Sie besagten, daß im befreundeten Polen ein lebhafter Meinungsaustausch im Gange sei und daß die erfreulichen Erfolge der polnischen Regierung ebenso anteilnehmend diskutiert würden wie das großzügige Entgegenkommen der sowjetischen Regierung. »Von mir aus!« stellte Martin großzügig fest. Henry Engel aber, der am Rand der Alpen saß, hörte diese Meldung mit unbeweglichem Gesicht. Nachdem sie verklungen war, verlangte er von Friebe einen doppelten Whisky. »Sie werden es schon noch schaffen«, sagte er grimmig. »Es ist fast rührend, wieviel Mühe sie sich geben, die alte Welt in Brand zu setzen.« Der Gefreite Schulze-Schwerin, Angehöriger der ostdeutschen Armee, studierte am Schwarzen Brett die Anschläge. Er informierte sich über den Wachdienst der nächsten sieben Tage und beiläufig schon wieder einmal darüber, daß man für den Frieden kämpfen müsse. 36
Der Hauptmann Müller-Marburg hingegen führte im Kasino ein weltweites Gespräch über Sicherheit durch Stärke und die Verteidigung der Freiheit. Hauptmann Müller-Marburg war ein humaner Geist. Er ärgerte sich jedoch heimlich darüber, daß ihn sein Kommandeur nachsichtig lächelnd anblickte. Der allgemeine Kommentar jedoch lautete: »Diese Polen sind schon immer ein sehr unruhiges Volk gewesen. Aber schaden kann es ja nicht, wenn sie den Sowjets Schwierigkeiten machen. Und da sieht man wieder einmal, wie stabil doch der Westen ist.« Ehe noch die Mittagsnachrichtensendung zu Ende ging – eine Meldung über die Einweihung einer neuen großen Brücke im nordrheinischen Gebiet, der sechsten von den sieben im letzten Krieg zerstörten, war gerade erfolgt -, räusperte sich der Sprecher, machte eine kurze, wohlgelungene Kunstpause und sagte dann: Soeben erreicht uns noch folgende Meldung: Wie der Korrespondent der amerikanischen Agentur United Press aus Warschau berichtet, ist es nach in der polnischen Hauptstadt vorliegenden Informationen auch in Krakau zu schweren Zusammenstößen und Schießereien gekommen. Der Sender Krakau hat sich eine halbe Stunde in den Händen einer stalinistischen Gruppe befunden, die eine sofortige Absetzung des Parteichefs gefordert habe. Der Putschversuch dieser Gruppe ist von der polnischen Armee niedergeschlagen worden. Es folgt eine Durchsage der Sendeleitung: Um neunzehn Uhr übertragen wir einen ersten Augenzeugenbericht unseres Korrespondenten in Warschau. Marias Mutter saß in dem kleinen Zimmer ihrer Tochter 37
und sah betrübt aus. Sie war eine kleine, sorgfältig gekleidete Frau, mit einem faltenreichen Gesicht und zwei traurigen, glanzlosen Augen. »Willst du wirklich – dorthin?« fragte sie. »Ja«, sagte Maria und sah ihre Mutter offen an. »In die Ostzone?« »Aber ja«, sagte Maria. »Sonneberg ist doch nicht aus der Welt! Mit dem Zug ist man in ein paar Stunden dort, mit dem Fahrrad brauche ich zwei oder drei Tage.« »Das gefällt mir nicht«, sagte Marias Mutter. »Das ist nicht gut. Und Vater meint das auch. Wozu soll denn das Ganze gut sein? Du könntest doch auch nach Italien fahren – der Prokurist deiner Firma wollte dich in seinem Auto mitnehmen. Er will das immer noch.« »Aber ich will nicht!« erklärte Maria entschieden. Und ihre dunklen Augen funkelten unwillig in ihrem ein wenig rundlichen, sommersprossigen Gesicht. Sie war mittelgroß, kräftig, fast ein wenig robust gebaut; sie hatte breite Schultern, wohlgerundete Hüften und eine straffe Brust. Sie sah gesund und lebenstüchtig aus. »Ich will nach Sonneberg und von dort aus durch den ganzen Thüringer Wald fahren und zwar mit Martin.« Maria hatte damals, als sie Martin zum erstenmal begegnet war, nicht damit gerechnet, daß sie jemals mit ihm ein gutes Wort wechseln würde, geschweige denn eine Zärtlichkeit austauschen könnte. Er hatte sie beschämt – noch dazu vor den Augen eines Kindes, so dachte sie. Er hatte die Puppe, die sie mühsam zu reparieren gedachte, mit zwei, drei sicheren Griffen wieder in Ordnung gebracht. Und dann hatte er gelacht. Sie war aufgestanden und weggegangen, ohne sich umzusehen. Aber sie hatte gehorcht, ob er ihr nachkommen würde. Zugetraut hatte sie es ihm; das 38
stand, sagte sie sich damals, in seinem Gesicht geschrieben – sein Lachen verriet es. Doch es war kein freches Lachen gewesen; eher hatte es selbstbewußt geklungen, vielleicht auch zufrieden. Er hatte es nicht gewagt, ihr nachzukommen. Und sie wußte nicht recht, ob sie darüber Befriedigung empfinden sollte oder Ärger oder gar Betrübnis. Sie hatte sich gefragt, ob sie ungerecht gewesen war oder zu schroff, vielleicht sogar undankbar – oder war sie einfach unansehnlich, nicht wert, daß man ihr nachging, um sich zu entschuldigen? Nichts geschah. Sie ging langsam. Sie horchte intensiver hinter sich - sie vernahm seine Schritte nicht. Schließlich blieb sie stehen und drehte sich um: die Straße war leer. »Schade«, hatte sie damals gesagt. Doch dann, kurz darauf: »Vielleicht ganz gut so.« Heute mußte sie lächeln, wenn sie an diese seltsamen, aufregenden und unvergeßlichen Minuten dachte. Heute war alles anders. »Ich weiß nicht«, sagte die Mutter und schüttelte zweifelnd den Kopf, »ob das gut geht.« »Besser jedenfalls, als wenn ich mit unserem Prokuristen nach Italien fahre! Davon bin ich überzeugt.« »Vater ist dagegen«, sagte jetzt die Mutter offen, »und ich bin es auch. Wir wollen dein Unglück nicht. Und deshalb werden wir dich nicht fahren lassen.« »Das tut mir leid«, sagte Maria leise, »aber das ändert nichts an meinem Entschluß. Ich werde fahren; und niemand kann mich daran hindern!« Einige Politiker waren es, denen an diesem Tag das Mittagessen nicht sonderlich schmecken wollte; sie 39
befanden sich in Warschau, in Moskau und in Washington. In Warschau glaubte man, in einen Hexenkessel geraten zu sein. Moskau arbeitete zäh und planvoll – wobei allerdings einige dieser fast automatisch in Kraft tretenden Pläne kaum etwas anderes als erweiterte Faustregeln zur Bekämpfung von Konterrevolutionären waren. In Washington beriet sich eine eilig zusammengetrommelte Gruppe von Europaexperten seit zwei Stunden. Sie taten das scheinbar gelassen. Ein Stapel Telegramme lag zwischen ihnen. Ständig kamen neue Telegramme dazu. Je übersichtlicher die Situation wurde, um so gefährlicher erschien sie ihnen. Der Leiter der Konferenz informierte telefonisch den Außenminister. Der Außenminister telefonierte mit dem Präsidenten. Die erste verbindliche Entscheidung erreichte die Konferenz kurz nach 13.00 Uhr. Sie entsprach genau ihren Erwartungen. Die bereits vorbereiteten Funksprüche wurden chiffriert. Der erste davon ging an den amerikanischen Stadtkommandanten in West-Berlin, erreichte diesen um 13.30 Uhr und lautete: Die Entwicklung in Polen gibt zu Besorgnis Anlaß. Nach Ansicht unseres Warschauer Botschafters ist ein Fortgang der Ereignisse, ähnlich denen 1956 in Ungarn, nicht ausgeschlossen. Die polnische Regierung scheint vor die Entscheidung gestellt worden zu sein, zum Moskauer Abkommen zu stehen oder aber den Bruch mit der Sowjetregierung herbeizuführen. Über das Verhalten der sowjetischen Truppen in Polen liegen noch keine eindeutigen Informationen vor. Mit ihrem Eingreifen ist jedoch zu rechnen. Sorgfältige Beobachtung der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und Ost-Berlins scheint dringend geboten. 40
Übermitteln Sie eine nachdrückliche Warnung an den Westberliner Senat, im Falle von Demonstrationen in Ost-Berlin unbedingt für Ruhe und Ordnung in WestBerlin zu sorgen. Der Botschafter in Bonn wird angewiesen, in gleichem Sinne bei der Bundesregierung vorstellig zu werden. Geben Sie ab 14.00 Uhr stündlichen Lagebericht. Kurz nach 14.00 Uhr erreichte Washington der erste Lagebericht des amerikanischen Stadtkommandanten in West-Berlin. Er bestand aus einem einzigen Satz: In Ost- und West-Berlin alles ruhig. Als der Deutschlandexperte dieses Kabel gelesen hatte, atmete er erleichtert auf. »Hoffentlich bleibt das auch so«, sagte er und überreichte diesen erfreulich lapidaren Bericht dem Chef der Europaabteilung. Martins Vater hatte den größten Teil seines Lebens damit zugebracht, Puppenköpfe zu bemalen. Er hatte sie mit grobem Pinsel grundiert oder sie in Farbwannen getaucht, oder sie mit Spritzgeräten vor einer Schutzwand bearbeitet. Seine groben, zerfressenen Hände sahen immer ein wenig rosa aus – die Farbe der Babypuppen haftete an ihnen. Auf sein Inneres hatte diese sanfte, melancholische Tätigkeit, durch die Tausende von gleichförmigen Gesichtern entstanden waren, keineswegs abgefärbt. Er durfte weit mehr als »rot« bezeichnet werden; er war jedoch kein Kommunist, vielmehr hielt er sich für einen Sozialisten. Er verbrachte die Mittagspause regelmäßig zu Hause – und das geschah aus einem einzigen Grund: er wollte Nachrichten aus Westdeutschland hören. »Aus Schulungsgründen!« pflegte er augenzwinkernd zu sagen. Und der Empfang des Bayerischen Rundfunks 41
war in Sonneberg ausgezeichnet. Seine Frau betrachtete ihren Mann mit Nachsicht. »Daß du das nicht lassen kannst!« sagte sie, mehr verwundert als vorwurfsvoll. »Das verstehst du nicht, Mutter«, sagte Martins Vater. »Hier handelt es sich um Politik. Und da kenne ich mich aus!« Die Mutter nickte ergeben. Hierauf zu antworten, hielt sie für völlig überflüssig. Der Mann hatte ihr ein ganzes Leben lang vorexerziert, was er unter Politik verstand: in der Weimarer Republik hatte er sich für nichts und wieder nichts die Hacken abgelaufen, bei den Nazis hatte er deshalb im Bau gesessen, und bei den Kommunisten galt er als unzuverlässiger Sozi – er hatte nichts anderes damit zustande gebracht, als daß sie immer gerade noch existieren konnten. Sonntags ein Huhn im Topf oder an Geburtstagen eine Torte auf dem Tisch hatte es bei ihnen nie gegeben. Und der unglückselige Radioapparat war ein Geschenk von Martin, der nicht ahnen konnte, was er damit anrichten würde, »Ich weiß genau, was du denkst!« sagte der Alte unwillig. »Und ich kann dir nur immer wieder sagen: gut, wir haben unsere Fehler gemacht! Aber aus Fehlern kann man lernen. Und eines Tages werden wir das alles korrigieren – und vielleicht ist dieser Tag nicht mehr fern!« »Welcher Tag denn?« fragte die Mutter unwillig. »Der Tag, an dem sie dich wieder einmal einbuchten werden?« »Hast du denn nicht die Nachrichten gehört?« fragte der Alte verwundert. »Bei Nachrichten bin ich grundsätzlich taub«, sagte die Mutter. »Sie können kommen, aus welcher Richtung sie 42
wollen.« Martins Vater schüttelte unwillig den Kopf. »Na schön«, sagte er schließlich, »überlasse das ruhig mir. Ich habe das Gefühl, besonders nach den heutigen Nachrichten, daß wir vor einer Entscheidung stehen. Und darauf muß man sich einstellen.« »Du wirst uns alle ins Unglück bringen, wenn du weiter so fürchterliches Zeug daherredest!« »Mutter«, sagte der Alte ernsthaft, »es gibt Verpflichtungen, denen sich niemand entziehen darf. Und auch ich werde, wenn die Stunde kommen sollte, meine Pflicht tun.« »Und ich tue jetzt die meine!« rief die Mutter entschlossen. Sie hob den Radioapparat hoch und schmetterte ihn auf den Boden. »Der Ministerpräsident bittet Sie um eine Unterredung«, sagte der Mann. Michael Reiners schrieb einige Zeilen für Charly und folgte dann dem Mann, der ihn ersucht hatte, mitzukommen. Er verließ mit ihm sein Hotelzimmer. Ein zweiter Mann, der sich auf dem Korridor postiert hatte, schloß sich ihnen an. Mit einer doppelten Bewachung schritt Reiners die Treppen hinunter. »Durch den Hinterausgang, bitte!« ordnete der untersetzte Besucher an. »Durch die Halle«, sagte Reiners entschlossen, »oder überhaupt nicht.« Er ging mit raschen Schritten voran; seine Bewacher folgten nach kurzem Geflüster. »Das ist nicht unbedenklich«, sagte dann der Wortführer. In der Halle sah Reiners, zu seiner Erleichterung, Charly stehen. Er ging sofort auf ihn zu. »Gut, daß ich 43
Sie treffe«, sagte er. »Ich bin zum Ministerpräsidenten gebeten worden.« »Dann komme ich mit«, erklärte Charly unverzüglich. »Ausgeschlossen!« sagte der Hauptbewacher. »Das geht unter keinen Umständen.« »Dann komme ich nicht mit«, erklärte Reiners fest. Die beiden Bewacher sahen sich unentschlossen an. Einer stürzte in die Telefonkabine der Portiersloge, schloß sie und führte dann dort ein längeres Gespräch. Als er herauskam, sagte er resigniert zu Charly: »Sie können Herrn Doktor Reiners begleiten. Aber nur er wird eine Unterredung mit dem Herrn Ministerpräsidenten haben.« Sie begaben sich auf die Straße hinaus, umschatten den Hotelblock und fanden in einer Nebenstraße eine auf sie wartende Limousine. »Ab mit der Post!« rief Charly gutgelaunt. Nach wenigen Minuten bereits saßen sie in einer großen Halle mit vielen Türen. Diese Halle konnte mit dem Innern eines Bienenkorbes verglichen werden: aufgeregte Geschäftigkeit erfüllte sie. Der private Sekretär des Parteichefs eilte auf Michael und Charly zu. »Bitte«, rief er, noch ehe er die beiden erreicht hatte, »gedulden Sie sich noch ein wenig. Der Chef wird gleich für Sie Zeit haben. Er will Sie sprechen. Auch Ihr amerikanischer Freund ist willkommen. In einer Situation wie dieser brauchen wir aufgeschlossene Beobachter, wir können nicht riskieren, mißverstanden zu werden. Sie verstehen?« Michael und Charly nickten; sie hatten verstanden. Dann sahen sie sich abwartend um. Sie lasen in den Gesichtern, was sie befürchtet hatten: die Situation war tödlich ernst. 44
Erneut tauchte der private Sekretär auf. »Der Chef«, sagte er, »hat jetzt endlich ein paar Minuten Zeit. Kommen Sie.« Michael Reiners und Charly folgten dem eilig vorausgehenden Sekretär. Sie gingen durch eine der vielen Türen, durchquerten drei Zimmer, in denen zusammengedrängte Menschen telefonierten, diktierten, berieten und Anordnungen trafen. An den Wänden hingen Pläne, über den Tischen lagen Karten; Notizzettel fielen achtlos zu Boden. Im vierten Raum saß der Parteiund Regierungschef. Michael Reiners betrachtete den Mann, der auf ihn zukam, als sehe er ihn nach langer Zeit zum erstenmal. Daß er ihn erst vor wenigen Stunden gesehen hatte, am Morgen dieses bewegten Tages auf dem Bahnhof in Warschau, vermochte er kaum zu glauben. »Herr Doktor Reiners«, sagte der Mann nach einem überraschend kraftvollen Händedruck, »ich wußte, daß Sie kommen würden. Ich danke Ihnen dafür und heiße auch Ihren amerikanischen Freund willkommen – die Tatsache, daß Sie ihn mitgebracht haben, ist gleichbedeutend für mich, daß Sie für ihn bürgen. Und wenn ich Ihnen beiden auch nichts anderes zu sagen habe, als das, was Sie bereits wissen, so können Sie doch immerhin behaupten: er hat es mir gesagt! Und das kann wichtig, vielleicht sogar entscheidend sein.« Michael Reiners entnahm dem Holzkästchen, das ihm der Regierungschef hinschob, eine Zigarette und zündete sie sich an. Charly betrachtete die angebotenen Zigaretten interessiert und zog dann seine eigenen vor. Der Regierungschef selbst rauchte ununterbrochen. »Stimmt es, Herr Ministerpräsident«, fragte Reiners behutsam, »daß die polnische Armee …?« 45
»Ja«, sagte der Regierungschef nahezu heftig, »es stimmt! Es war für mich keine Überraschung, und für Sie wird es auch keine sein.« »Sollten Sie etwa versuchen wollen, Ihre eigene Armee auszuschalten, Herr Ministerpräsident?« fragte Charly offen. »Soll ich Polen opfern, die Menschen, die darin leben? Soll ich Europa in Brand setzen – nur weil die Ehre einiger Generäle und der Freiheitsdurst diverser Studenten von mir eine sinnlos heroische Handlung erzwingen wollen?« »Sie glauben also, daß Moskau dazu entschlossen ist, seine politische Einflußsphäre zu halten – und wenn es sein muß: durch Gewalt!« »Wenn Sie, meine Herren, die Welt von Moskau aus betrachten müßten – was würden Sie tun? Uns einfach abschreiben? Abwarten, bis der Aufruhr Formen wie in Ungarn annimmt? Oder würden Sie schnell, gründlich und konsequent handeln?« Michael Reiners vermied es, hierauf zu antworten. Charly sagte ganz einfach: »Sie haben es eben nicht rechtzeitig fertiggebracht, sich die entscheidende Rückendeckung zu verschaffen – das ist wohl alles.« »Jede sogenannte Hilfe von außen«, sagte der Regierungschef eindringlich – »und darauf spielen Sie doch an? -, würde für uns nichts anderes bedeuten als sinnloses Blutvergießen. Schon jede Sympathiekundgebung im Westen kostet uns Menschenleben. Militärische Hilfe aus dieser Richtung aber würde uns von der Landkarte radieren und einen dritten Weltkrieg entfesseln. Das müssen Sie Ihren Freunden drüben klarmachen!« Der persönliche Sekretär erschien und drängte darauf, 46
die Unterredung zu beenden. Michael erhob sich bereitwillig. Selbst Charly verspürte kein Verlangen mehr, weitere Fragen anzubringen – die ganze Angelegenheit war erschreckend klar. Der amtliche Fotograf der obersten polnischen Parteileitung erschien. Der Regierungschef zwang sich zu einem breiten, zuversichtlichen Lächeln und reichte zuerst Reiners, dann Charly die Hand. Blitzlicht flammte mehrmals auf. Der Regierungschef schloß die Augen, als habe er Schmerzen. »Solange Sie noch in Warschau bleiben, Herr Doktor Reiners«, sagte der Partei- und Regierungschef, »sollten Sie die beiden Herren, die zu Ihrer Sicherheit eingesetzt sind, um sich dulden.« »Ist denn der Doktor bedroht?« wollte Charly sofort wissen. »Das ist damit nicht gesagt«, erklärte der Regierungschef ohne zu zögern. »Betrachten Sie das, bitte, als eine Vorbeugungsmaßnahme. – Leben Sie wohl!« Im Vorzimmer drückte der persönliche Sekretär dem deutschen Besucher einen Umschlag in die Hand und komplimentierte ihn hinaus. »Ihrem amerikanischen Freund«, sagte er dabei, »steht die gleiche Bescheinigung zur Verfügung – auf Anforderung in der amerikanischen Botschaft innerhalb von drei Stunden.« »Wird unbesehen angefordert«, erklärte Charly unverzüglich. Erst in der Halle kam Michael dazu, den Umschlag zu öffnen. Er enthielt eine mehrfach gestempelte und doppelt unterschriebene Anweisung. Sie besagte, daß für den Inhaber dieses Scheines ein Platz im Kurierflugzeug Warschau-Berlin zur Verfügung stehe. Das Flugzeug 47
ging um Mitternacht. »Mit Leibwache – ohne Tritt marsch!« rief Charly munter und winkte den beiden Bewachern zu, die wartend und sehr willig im Korridor standen. Maria saß in Schongau auf einer Bank in den schmalen Anlagen hinter der Stadtmauer. Unter ihr floß der Lech mit wenig Wasser durch die ausgespülten Halbmondkurven, mit denen er die Stadt zu umarmen schien. Sie saß nachdenklich da; ihre Hände berührten die Bretter der Bank. Immer schon war diese Bank ihr Lieblingsplatz gewesen – schon als Kind war sie hier gewesen und später, als sie zur Schule ging; und das blieb so die Jahre hindurch. Und sie hatte auch damals auf dieser Bank gesessen, als sie Martin zum zweitenmal gesehen hatte. Drei Tage waren vergangen, seitdem er ihr die Puppe weggenommen und sie repariert hatte. Er kam aus dem Tor in der Stadtmauer auf sie zu – er bog nicht nach links ab, wo sich die große Rasenfläche mit den kühlenden Bäumen befand; er ging vielmehr an den langen, bequemen Bänken vorbei, auf denen die Alten zumeist wortlos saßen, und bewegte sich geradenwegs auf sie zu. »Darf ich Sie stören?« fragte eine Stimme dicht bei Maria. Maria schreckte auf, sah hoch, und dort, wo damals Martin gestanden hatte, genau dort, stand jetzt ein Mann, der ganz anders als Martin war – allein schon in der Kleidung: gediegen, gut gebügelt, mit weißem Hemd und dezenter Krawatte. Es war der Prokurist ihrer Firma. »Liebes Fräulein Maria«, sagte er bedächtig und setzte sich unaufgefordert neben sie, »ich will Sie keinesfalls zu etwas überreden, das Ihnen unangenehm sein könnte. 48
Aber Sie dürfen meine Einladung, mich im Urlaub nach Italien zu begleiten, unter keinen Umständen mißdeuten. Wenn Sie es für richtig halten, werde ich meine Schwester bitten, mitzufahren.« »Das ist unnötig«, sagte Maria. »Ich kann leider nicht mitkommen.« »Sie sollten nicht einfach nein sagen, Fräulein Maria. Sie sollten sich das noch einmal überlegen. Sie arbeiten jetzt schon mehr als ein Jahr in meiner Firma – unter meiner Leitung; und Sie werden doch Wert darauf legen, daß das so bleibt. Ich persönlich würde es sehr begrüßen.« Maria schien an ihm vorbeizusehen, den langen schmalen Weg an der Stadtmauer entlang, auf dem damals Martin gekommen war. Sie hatte getan, als läge es nicht in ihrer Absicht, ihn überhaupt zu bemerken. Sie hatte sich intensiv mit ihrer Handarbeit beschäftigt. Martin war vor ihr stehengeblieben. Er schien einige Sekunden lang zu zögern. Dann hatte er, nahezu herausfordernd laut, gesagt: »Guten Tag.« »Guten Tag«, hatte sie gesagt und sich erhoben, einem spontanen Einfall folgend; sie war davongegangen und hatte ihn einfach stehenlassen. Und so, wie sie damals Martin stehenlassen hatte, so geschah es diesmal mit dem Prokuristen ihrer Firma: sie sagte »Guten Tag« und ging davon. »So können Sie mich doch nicht behandeln!« rief ihr der Mann nach. »Das werden Sie bestimmt noch einmal bereuen.« Gegen 14.00 Uhr traf sich eine Anzahl höherer und hoher Offiziere im NATO-Hauptquartier in Fontainebleau. Sie waren zu einer »außerordentlichen Lagebesprechung« gebeten worden. Der Chef des 49
Abwehrdienstes und der Leiter der polnischen Abteilung sollten Bericht erstatten. »Da scheint sich eine ganz schöne Schweinerei zusammenzubrauen«, sagte ein französischer General zu einem bundesdeutschen Oberst; der hörte aufmerksam zu und lachte dann kurz und zustimmend. Ein britischer Major ging an beiden vorüber und schien sie nicht zu sehen. Zwei amerikanische Offiziere saßen bereits am Konferenztisch und beschäftigten sich ausschließlich mit ihren Unterlagen. »Diese Polen«, sagte jetzt der französische General, dem der deutsche Oberst den Stuhl zurechtrückte, »sind ein tapferes Volk – wenn man noch dazu bedenkt, wie unzulänglich sie ausgebildet und ausgerüstet sind, muß man sie sogar als tollkühn bezeichnen.« Die Gespräche verstummten, als der NATOOberbefehlshaber mit seinem engeren Stab den Raum betrat, gefolgt von den Befehlshabern der Land-, Luftund Seestreitkräfte in Europa. Die Herren verschwendeten nicht sonderlich viel Zeit; ihre Begrüßungszeremonie war kurz und summarisch. »Vorinformationen an die einzelnen Abteilungen«, führte der Oberbefehlshaber aus, »haben auf die nicht unbedenkliche Situation in Polen hingewiesen. Weitere inzwischen eingetroffene Nachrichten lassen diese außerordentliche Lagebesprechung ratsam erscheinen. Ich bitte um die Berichte der einzelnen Experten.« Ordonnanzen rollten eine Kartenwand in das günstigste Blickfeld der versammelten Offiziere: in der Mitte wurde eine Karte von Polen sichtbar, rechts daneben eine von Mitteleuropa, auf der linken Seite befand sich der NATO-Organisationsplan. Der Chef des Abwehrdienstes und der Leiter der 50
polnischen Abteilung trugen, einander abwechselnd, ihr Material vor. Die Meldungen, die sie erreicht hatten, ergänzten sich in vielen Fällen, sehr oft überschnitten und nur selten widersprachen sie sich. Zusammenfassend wurde folgendes festgestellt und protokolliert: Die polnische Armeeführung scheint fest entschlossen, die Ratifizierung des Stationierungsvertrages zu verhindern. Sie beabsichtigt, die Stimmung im Lande auszunutzen, um weitere Unabhängigkeit von der Sowjetunion zu erlangen. Im Kriegsministerium sind in den frühen Morgenstunden eine Reihe von Offizieren verhaftet worden. Sie waren verdächtig, Verbindungen zu Funktionären des früheren Regimes zu unterhalten. Heute früh, 6.00 Uhr, hat der Generalstab an alle Korps- und Divisionsstäbe das Stichwort »Mir« ausgegeben. Seit 7.00 Uhr finden planmäßige Truppenbewegungen statt. Sie sollen zur Zernierung der sowjetischen Einheiten führen. Russische Reaktionen waren bisher nicht feststellbar. Mit Kampfhandlungen zwischen polnischen und sowjetischen Truppenteilen muß jedoch in den Abendstunden gerechnet werden. Truppenbewegungen an der sowjetisch-polnischen Grenze werden vermutet. Konkrete Meldungen hierüber liegen jedoch bis jetzt nicht vor. Polizei hat auf Demonstranten, die die sowjetische Botschaft stürmen wollten, das Feuer eröffnet. Seit 11.00 Uhr ist in Warschau der Ausnahmezustand verhängt worden. Aus Berlin, Prag, Budapest, Bukarest und Sofia wird Ruhe gemeldet. »Meine Herren«, sagte der NATO-Oberbefehlshaber, »das also ist im Augenblick die Situation. Sie erfordert 51
meines Erachtens die Ausgabe des Stichwortes ›Fledermaus‹. Wünscht jemand hierzu Stellung zu nehmen?« Keiner der Herren sprach diesen Wunsch aus. Der NATO-Oberbefehlshaber nickte, als habe er nichts anderes erwartet. »Also: Fledermaus«, sagte er. »Mit Wirkung von 15.00 Uhr.« Und damit waren alle NATO-Kommandostäbe bis zu den Korpskommandos in erhöhte Bereitschaft gesetzt. Die Sonne, die auf dem bleichen Gesicht von Constance Schubert lag, ließ diese zierliche Frau noch zarter erscheinen. Wolf Beck, der neben ihr auf der Terrasse eines Wannsee-Cafes saß, betrachtete sie mißtrauisch. Er hatte sie, wie er glaubte, ziemlich gründlich kennengelernt; in seinen Augen war sie gar nicht so ätherisch, wie es den Anschein hatte – er hielt sie vielmehr für katzenhaft. »Vielleicht will Michael gar nicht kommen«, sagte Constance sinnend. »Der kommt«, versicherte Wolf überzeugt. »Wenn auch er mich verläßt«, sagte Constance, »dann bin ich ganz allein.« Wolf hatte einige Mühe, nicht das zu sagen, wozu es ihn drängte. Für ihn war ihr Gerede von Einsamkeit, gelinde ausgedrückt, ein Komplex. Sie war kaum jemals länger als ein paar Tage »allein« geblieben; ihr Anlehnungsbedürfnis war viel zu groß. Wolf roch an dem französischen Kognak, den er sich hatte einschenken lassen. Er ließ seinen Blick über die Terrasse wandern, über das Ufer, auf den See hinaus. Er sah spielende Kinder, Frauen, die sie beaufsichtigten, Ruderboote, die auf dem Wasser trieben. Und darüber 52
einen endlos blauen Himmel. Er hörte Lachen, ein lautes Wort und sanftes Gedudel aus einem Lautsprecher. Er genoß diese kurze Stunde der Entspannung. Er fühlte sich immer wieder wohl in diesem Berlin, in dem er ein paar schöne Jahre seines Lebens verbracht hatte – schön trotz manchem; schön sogar trotz Constance. Er schloß ein wenig die Augen und träumte vor sich hin. Die Musik im Lautsprecher klang aus. Eine Frauenstimme machte die Absage, das Pausenzeichen war zu hören. Eine Männerstimme kündigte sodann das weitere Programm an und begann eine Nachricht zu verlesen: Über die polnische Hauptstadt ist seit dreizehn Uhr der Ausnahmezustand verhängt worden. Wie Radio Warschau meldet, haben Zusammenstöße auf dem Platz der Republik und vor der sowjetischen Botschaft insgesamt sechzig Todesopfer gefordert. Der Sender verliest jede Viertelstunde einen Aufruf der Regierung an die Bevölkerung, Ruhe und Ordnung zu wahren. Der Sejm wird um siebzehn Uhr zusammentreten, um zu dem Stationierungsabkommen Stellung zu nehmen. Inzwischen liegen auch aus weiteren polnischen Städten Meldungen über Unruhen vor. Wie bereits berichtet wurde, hat die Armee in Krakau einen gegen die Regierung gerichteten Putschversuch blutig niedergeschlagen. Hierzu wird weiter bekannt, daß der Putsch von zwei kommunistischen Funktionären geleitet wurde, die vor dem Oktober 1956 Ministerämter innehatten. Nach bisher unbestätigten Meldungen haben die Unruhen in Krakau über hundert Todesopfer gefordert. In den übrigen polnischen Städten sind die 53
Demonstrationen unblutig verlaufen. Polizei und Militär ließen die Demonstranten gewähren, die überall gegen den Stationierungsvertrag protestierten. »Was war denn das?« fragte Wolf Beck verwundert. Er hatte, eingesponnen in Jugenderinnerungen, nur Teile dieser Meldung vernommen, und selbst die nur undeutlich. »Wolf«, sagte Constance zart und spontan, mitten aus ihren Gedanken heraus, »sollen wir uns wirklich trennen? Wir haben uns nicht sonderlich gut verstanden, das mag sein. Aber wir haben versucht, dennoch eine gemeinsame Basis zu finden. Und ist das nicht entscheidend?« »Ich denke, wir sind uns einig«, rief Wolf alarmiert. »Ich glaubte, annehmen zu dürfen, daß alles klar zwischen uns ist, im Prinzip wenigstens. Über die Details werden wir uns noch einigen.« Sie sah ihn mit ihren großen, ein wenig kurzsichtigen und schon deshalb rührend hilflos wirkenden Augen an. Das ärgerte ihn, aber er verbarg auch diese Regung. Er schüttelte den Kopf, und sie senkte den Blick, was ihn noch mehr ärgerte – denn gerade der Anblick dieser mädchenhaft-zarten Nackenlinie hatte ihn früher immer wieder begeistert. Er überhörte völlig den Rest der Rundfunkmeldung: Nach Ansicht westlicher Beobachter in Warschau wird der weitere Gang der Ereignisse nicht nur von der bevorstehenden Sondersitzung des Sejm entscheidend beeinflußt werden, sondern vor allem vom Verhalten der polnischen Armee. In Warschau laufen Gerüchte von Bewegungen polnischer Truppen um. Das Kriegsministerium ist hermetisch abgesperrt. Kein westlicher Korrespondent hat Zutritt. 54
»Ich glaube«, sagte er, entschlossen, nunmehr keinerlei Mißverständnisse mehr aufkommen zu lassen, »daß ich ganz offen zu dir sein muß. Wir sind uns doch schon seit geraumer Zeit darüber klar, daß wir nicht mehr miteinander leben können. Unsere Welten sind zu verschieden. Du bist ein künstlerischer Mensch – ich bin ein Kaufmann. Aber ich brauche eine Frau; ich will ein Heim haben und Kinder. Und ich bin überzeugt, daß ich diese Frau jetzt gefunden habe.« »Das kann doch nicht wahr sein!« sagte Constance, geradezu entsetzt. Sie empfand es als qualvoll, daß tatsächlich Menschen existierten, die ihr vorgezogen wurden. »Liebst du wirklich eine andere?« »Allerdings«, sagte Wolf deutlich. »Es gibt tatsächlich noch andere Frauen außer dir. Vielleicht keine, die schöner oder feinfühlender sind – aber immerhin eine ganze Menge, die praktischer denken, die gesünder sind, die einen Sinn für das unverfälschte, ungekünstelte Leben haben.« »Wer ist diese Frau?« fragte Constance tonlos. »Du kennst sie nicht«, sagte Wolf Beck unbekümmert. »Sie heißt Ruth Winters und lebt in Hamburg. Sobald ich hier mit allem fertig bin, hole ich sie ab und nehme sie mit nach Kairo. Sonst noch eine Frage?« Constance sah ihn nur groß an und schüttelte den Kopf. Ihre Augen blicken vorwurfsvoll und verständnislos zugleich. Um 15.00 Uhr meldete der amerikanische Stadtkommandant nach Washington: In Ost- und West-Berlin Ruhe. Ruth Winters, die Wolf Beck nach Constance Schubert zu seiner zweiten Frau ausersehen hatte, lag völlig unbekleidet auf dem breiten Bett in ihrem Schlafzimmer. 55
Die Fenster waren der großen Hitze wegen offen; aber die Vorhänge waren zugezogen. Mattes Licht lag in dem Raum, der von einem starken süßlichen Parfüm angefüllt war. »Woran denkst du?« wollte der Mann, der neben ihr lag, wissen. »Immer dieselbe blöde Frage!« rief Ruth Winters mit plötzlich hervorbrechender Heftigkeit. Sie schnellte sich hoch und ging, ohne den Mann, der ausgestreckt auf dem Bett lag, zu beachten, ins Badezimmer. Das Verlangen beherrschte sie, kaltes Wasser auf ihrem Körper zu spüren. Sie war von blutvoller, sinnlicher Schönheit. Sie verstand es, sich raffiniert und mit Geschmack anzuziehen. Sie lebte gerne und gerne gut. Sie war in Hamburg Innenarchitektin ohne sonderlich viel Talent dafür; aus reiner Freude am Planen, Einkaufen und Ausstatten hatte sie diesen Beruf gewählt. Ruth Winters hatte bisher stets das Bestreben gehabt, frei, also unabhängig, zu leben, um das tun zu können, wonach es sie verlangte: elegante Kleider tragen, interessante Reisen machen, ansehnliche Männer kennenlernen. Sie hatte einige Zeit gebraucht, um einzusehen, daß das alles nicht der Inhalt eines ganzen Lebens sein könne. Sie war jetzt dreißig Jahre alt und bereit, die aufregende Unabhängigkeit gegen eine anregende Geborgenheit einzutauschen. Der Mann, der in ihrem Schlafzimmer lag, sah angenehm und bedeutungslos aus. Er war von südländischer Schönheit, erinnerte ein wenig an einen Filmstar, einen Heiratsschwindler oder einen singenden Schilehrer. Das dumpfe Rauschen des Wassers im Badezimmer schien ihn zu irritieren. »Komm doch endlich!« rief er unwillig. 56
Ruth Winters erschien wieder. Sie hatte sich in einen blauseidenen Bademantel gehüllt. Sie setzte sich, ohne ihn anzusehen, an ihren Toilettentisch. »Steh auf!« sagte sie hart. »Es ist aus!« Bernhardt richtete sich ein wenig auf und betrachtete sie erstaunt. Im Spiegel, vor dem sie saß, war sein kraftvoller, gebräunter, gut durchtrainierter Körper zu sehen. Sie beachtete ihn offenbar gar nicht. Und das erstaunte ihn noch mehr. »Was hast du?« fragte er. »Fehlt dir irgend etwas?« »Zieh dich an und laß mich allein – ich will dich nicht mehr sehen.« »Aber das kann doch nicht dein Ernst sein!« »Doch«, sagte sie. »Es wird höchste Zeit, daß wir Schluß machen.« »Und wenn ich nicht will?« fragte Bernhardt ein wenig drohend; um sofort mit wesentlich sanfterer Stimme hinzuzufügen: »Ich möchte dich nicht gern verlieren.« »Das ist doch wohl praktisch gar nicht möglich«, sagte Ruth Winters kühl. »Ich war niemals dein Eigentum, ich war auch keine Leihgabe für dich – wie kannst du mich also verlieren? Wir trennen uns – das ist alles.« »Lange gedauert hat es mit uns beiden gerade nicht«, sagte der Mann. »Daß es nicht ewig dauern würde, darüber waren wir uns doch wohl von Anfang an klar«, sagte sie unfreundlich. Und sie sah über sein Bild im Spiegel hinweg. Sie blinzelte in das träge Licht der Sonne, das sich durch die schweren Vorhänge drängte. Sie stand auf und riß diese Vorhänge zur Seite. Blendende Helligkeit flutete in den Raum und ließ das zerwühlte Bett schmutzig erscheinen. Ruth Winters zwang sich, auf die 57
Häusergruppe zu sehen, die den Horizont verdeckte, und auf den blauen Himmel, der sich über allem spannte – einem Himmel von einer strahlenden Klarheit, die in Mitteleuropa selten ist, in Kairo aber alltäglich sein würde. »Machen wir Schluß«, sagte sie. Und sie meinte damit nicht nur den Mann, der hinter ihr im Raum lag und der nur einer unter anderen war; sie meinte damit ihr ganzes bisheriges Leben, das angefüllt gewesen war mit Vergnügungen, tänzerischer Musik, schweißnassen Nächten, ermattenden Kopfschmerzen, grellem Morgenlicht. Schluß mit allem! Sie wollte endlich, mit Wolf Beck, ein neues Leben anfangen. »Vielleicht wird dir das noch einmal leid tun«, sagte Bernhardt mit leiser Drohung. »Du kannst mich doch nicht einfach abservieren, wenn es dir paßt. Das lasse ich mir nicht gefallen.« Um 15.00 Uhr hatte der Bundeskanzler eine außerordentliche Kabinettssitzung einberufen. Die Minister und Staatssekretäre hatten sich vollzählig eingefunden, bis auf diejenigen, die dienstlich oder im Interesse der Partei, oder privat verreist waren, oder nicht rechtzeitig benachrichtigt werden konnten. Der Pressechef des Kanzlers fertigte von dieser Sitzung folgende Notiz an, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war: Der Bundeskanzler teilte den Ministern mit, daß soeben der amerikanische Botschafter bei ihm gewesen sei, um ihn über die Besorgnis seiner Regierung in Kenntnis zu setzen. Die amerikanische Regierung blicke mit wachsender Sorge nach Polen. Sie halte eine Wiederholung der ungarischen Tragödie nicht für ausgeschlossen. Der Botschafter habe dem Bundeskanzler den Wunsch 58
seiner Regierung übermittelt, im Falle von Unruhen in der Sowjetzone alles zu tun, um in der Bundesrepublik und West-Berlin für Ruhe zu sorgen. Nach dieser Mitteilung des Bundeskanzlers ergab sich eine lebhafte Diskussion. Es ging um die Frage, ob ein Aufruf an die Bevölkerung der Sowjetzone erlassen werden solle oder nicht. Einig waren sich, laut Notiz, alle Teilnehmer an dieser Aussprache darüber, daß dieser Aufruf maßvoll sein müsse, aber kein Zeichen von Schwäche oder Ängstlichkeit enthalten dürfe. Ein Appell an die Klugheit, die Überlegenheit, den Glauben an die gerechte Sache – nicht jedoch und unter keinen Umständen jenes klägliche historische »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!« »Aber meine Herren«, sagte der Kanzler gemütlich, »wenn auch die Ruhe nicht gerade die erste Bürgerpflicht ist, so ist sie doch auch nicht die letzte für Minister. Fragen wir doch einfach mal den Bürgermeister von Berlin, was er von der ganzen Sache hält! Schließlich sitzt der Mann ja an der Quelle.« Ein Telefongespräch mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin gab schließlich den Ausschlag, von irgendeinem Aufruf vorläufig abzusehen. Der Bürgermeister sagte wörtlich: »Hier sieht es nicht nach Unruhen aus.« Martin saß in der Spielzeugfabrik vor seinem Arbeitstisch. Aber er arbeitete nicht. Vor ihm stand die Puppe, die er heimlich Maria nannte. Sie schien ihn anzulächeln; und er lächelte zurück. Er dachte nur noch an seinen Urlaub mit dem Mädchen, das aus Schongau zu ihm kommen würde. Sein Vater betrat den Arbeitsraum, der allgemein »die Werkstatt« genannt wurde. Er nickte dem Sohn zu und 59
ließ sich umständlich nieder. Er wies auf die Puppe, die auf dem Tisch stand, umgeben von den Prägeformen, den fabrikationsfertigen Mustern für die Einzelteile und den Farbtafeln für Haare, Augen und Teint. »Davon verstehst du ja einiges«, sagte der Vater anerkennend. »Ich hoffe es«, sagte der Sohn. Und er wartete gelassen auf das, was ihm der Vater mitzuteilen gedachte. Er war entschlossen, seinen eigenen Willen durchzusetzen, doch nicht abgeneigt, sich die Ansichten der anderen anzuhören. »Sieh mal«, sagte der Vater ein wenig mühsam, »es ist ja schön und gut, daß du dein Handwerk verstehst – aber das ist ja schließlich noch nicht alles im Leben. Da gibt es noch, zum Beispiel, die Politik.« »Mir sind die Puppen lieber«, sagte Martin. Der Vater schüttelte mißbilligend den Kopf. »So ist das«, sagte er tadelnd. »Die Jugend ist entweder dumm oder desinteressiert. Und du weißt mit deinem Urlaub tatsächlich nichts Besseres anzufangen, als mit einem Mädchen spazierenzufahren?« »Ich glaube, das ist das Beste, was ich mit meinem Urlaub anfangen kann«, sagte der Sohn. Er dachte an die Bank in Schongau, die ein wenig abseits an der alten Stadtmauer stand. Damals, als er Maria zum zweitenmal begegnete, war sie ihm ausgewichen; sie hatte nichts als »Guten Tag« gesagt und sich dann von ihm getrennt. Er kam am nächsten Tag wieder – und wieder saß sie auf dieser Bank. Er überlegte lange, ob er sie erneut ansprechen sollte. Aber er konnte sich nicht dazu entschließen. Zögernd ging er davon. 60
Einen Tag später war er wieder da – früher als zur gewohnten Zeit. Und jetzt war diese Bank leer. Er setzte sich und wartete; er war im Urlaub, hatte also Zeit. Es dauerte länger als eine Stunde, ehe sie kam. Von weitem schon sah er sie auf die Bank zugehen, mit zunächst schnellen, zielstrebigen Schritten, die dann plötzlich langsamer wurden: sie hatte ihn gesehen. Die Unruhe, die ihn dann befallen hatte, vermochte er nie wieder zu vergessen – sie hielt nur wenige Sekunden an, diese schienen aber endlos zu dauern. Sie näherte sich mit langsamen Schritten. Als sie vor der Bank stehenblieb, sah sie ihn nicht an und fragte mechanisch: »Erlauben Sie?« »Selbstverständlich.« »Ich hoffe«, sagte sie, »nicht zu stören – und gleichfalls hoffe ich, nicht gestört zu werden.« Sie streifte ihn, scheinbar flüchtig, mit abweisendem Blick. Sie schlug das Buch, das sie in der Hand hielt, auf und tat, als interessiere sie diese Lektüre ungemein. Und so begann damals die dritte Begegnung zwischen Martin und Maria. Martin lächelte jetzt, während er daran dachte. Sein Vater schwieg. Des Sohnes Gleichgültigkeit den Zeitproblemen gegenüber schien ihm mehr als nur beklagenswert. Er wollte noch irgend etwas von Deutschland sagen, vom ganzen Deutschland, dem er sich verpflichtet fühlte, aber er sah ein, daß das bei Martin zwecklos war. »Wie steht eigentlich dieses Mädchen politisch?« fragte er. »Das«, sagte Martin offen, »ist mir völlig gleichgültig.« »Langsam beginne ich, mir ernsthafte Sorgen deinetwegen zu machen«, sagte der Vater. »Daß du nicht in eine unserer Parteien eingetreten bist, nicht 61
einmal in irgendeine Organisation, das hab’ ich zunächst für Klugheit gehalten. Aber daß du sogar an Deutschland desinteressiert bist, schmerzt mich. Was willst du eigentlich?« »Meine Ruhe will ich haben und genügend zu essen! Und im Augenblick will ich nichts als Urlaub machen.« »Und wenn Deutschland dich braucht?« »Dann werde ich sagen: nach meinem Urlaub.« »Junge«, sagte der Vater, »es gibt Situationen, die dich zwingen könnten, eine Entscheidung zu treffen. Und ich, dein Vater, verlange dann von dir, daß du mitmachst.« »Vater«, sagte Martin, »du hast in deinem Leben einige tausend Puppenköpfe fabriziert – aber wie es in dem Kopf eines Menschen von meiner Sorte aussieht, weißt du nicht. Laß mir meinen Kopf und kümmere dich weiter um deine Puppen – das ist vorläufig alles, was ich dazu sagen kann.« Kurz nach 15.00 Uhr bremste vor der amerikanischen Botschaft in Warschau eine schwarze Limousine. Ihr entstieg ein General der polnischen Armee in Uniform. Er ging in das Botschaftsgebäude und verlangte Seine Exzellenz, den Botschafter, zu sprechen – und zwar: »Persönlich – und so schnell wie möglich!« Der Botschafter zögerte nicht, den General zu empfangen. Er ging, verbindlich lächelnd, seinem Besucher entgegen, nachdem er kurz einige Sicherheitsund Überwachungsanordnungen gegeben hatte. Er erkannte in dem Mann, der ihn militärisch grüßte, General P.. einen der einflußreichsten Offiziere der polnischen Armee. Der Botschafter wurde noch um Grade verbindlicher und bat General P.. Platz zu nehmen. Angebotene 62
Erfrischungen lehnte der Besucher ab. »Ich komme im Auftrag des Kriegsministeriums«, verkündete er. »Ich nehme an, das wird Sie interessieren.« »Gewiß«, versicherte der Botschafter lebhaft. »Darf ich fragen, ob Sie uns über die Situation zu orientieren wünschen?« »Soweit uns das nötig erscheint«, sagte General P. reserviert und blickte den Botschafter selbstbewußt an. »Wir legen einigen Wert darauf, uns gewissen Verpflichtungen bestimmten Mächten gegenüber nicht zu entziehen; schon gar nicht Ihrem Lande gegenüber.« Der Botschafter nickte zustimmend. Er begann bereits im Geiste den Text des Kabels zu fixieren, das er unmittelbar nach dieser Unterredung nach Washington senden würde. So würde es beginnen: Soeben suchte mich General P. im offiziellen Auftrag des Kriegsministeriums auf, um mich über die Lage zu orientieren. Das Auftreten des Generals und seine Andeutungen vermittelten den Eindruck, als habe die Armee die politische Führung übernommen und lege auf eine wohlwollende Haltung Amerikas besonderen Wert. Inzwischen jedoch ging das Gespräch weiter. Der Botschafter suchte nach Anhaltspunkten, um Informationen zu erlangen. Er gab sich Mühe, um aus dieser offenbar kurz und bündig gedachten Unterhaltung entscheidende Details zu gewinnen, die deutliche Hinweise gaben. »Glauben Sie, Herr General«, fragte der Botschafter, »daß der Sejm den Stationierungsvertrag ablehnen wird?« »Selbstverständlich«, sagte der General entschieden. »Vorausgesetzt, daß der Sejm überhaupt noch zusammentritt.« 63
»Wie soll ich das verstehen, Herr General? Soll das etwa heißen, daß die Armee den Rücktritt des Parteichefs fordert?« »Nein«, sagte General P. kurz. »Die Armee wird also das gegenwärtige Regime halten?« »Vereinzelte Verhaftungen von intellektuellen Heißspornen werden sich nicht vermeiden lassen«, gestand der General unwillig. »In unserem Lande darf es kein zweites Ungarn geben. Einmischungen von außen verbitten wir uns. Sagen Sie das Ihren Leuten.« Diesen Teil der Unterredung kabelte später der Botschafter mit folgenden Worten nach Washington: Die Armee scheint gewillt, die bisherige Regierung im Amt zu lassen, unter der Voraussetzung, daß einer Säuberungsaktion kein Widerstand entgegengesetzt wird. Eine Einmischung westlicher Regierungen erklärte der General als unerwünscht. Er bat mich, entsprechend an meine Regierung zu berichten. Das Gespräch war damit noch nicht beendet. Zwar schien der General offensichtlich gewillt, sich zu verabschieden, aber der Botschafter versuchte das zu verhindern. »Herr General«, fragte er offen, »sind Zusammenstöße zwischen sowjetischen und polnischen Truppen zu befürchten?« »Das hängt von den Russen ab«, sagte General P. ausweichend. »Dennoch scheinen Sie angesichts der Situation entschlossen, alles zu tun, um die nationalen Interessen Ihres Landes zu wahren?« »Ich würde sagen: wir müssen uns verteidigen, wenn 64
wir angegriffen werden.« Der Botschafter schwieg einige Sekunden lang bestürzt, vermochte dann aber seine Erregung zu meistern. Der General nützte die so entstandene kurze Gesprächspause und verabschiedete sich eilig: »Ich hoffe, Sie in ausreichender Weise informiert zu haben«, sagte er. Der Botschafter war immer noch nicht bereit, das Gespräch als beendet anzusehen. Zwischen Tür und Angel stellte er die Frage, ob auch die Botschafter Großbritanniens und Frankreichs in ähnlicher Weise unterrichtet werden würden. Hierauf antwortete der General kurz: »Das halten wir nicht für erforderlich. Wir haben aber auch nichts dagegen, wenn Sie das tun.« Damit verließ der General den Botschafter, stieg in seine vor dem Eingang wartende Staatslimousine sowjetischer Bauart und fuhr davon. Der Botschafter nahm sich nicht die Zeit, seinem Besucher sinnend nachzusehen. Er begab sich mit schnellen Schritten in sein Arbeitszimmer und fertigte hier einige Notizen an. Nur wenige Minuten später diktierte er das Kabel nach Washington direkt in die Chiffriermaschine. Sein Schlußsatz lautete: Die polnische Armee scheint nicht unbedingt mit einem Angriff sowjetischer Truppen von Rußland her zu rechnen. Die in Polen stationierten sowjetischen Truppen glaubt man durch demonstrative Stärke und Entschlossenheit an Aktionen hindern zu können. Ich fürchte, diese Einschätzung ist falsch. Eine Ablehnung des Moskauer Stationierungsabkommens wird für die sowjetische Regierung eine offene Kampfansage bedeuten. 65
16.00 Uhr. Der amerikanische Stadtkommandant von Berlin meldet nach Washington: In Ost- und West-Berlin alles ruhig. Constance Schubert saß in ihrer Berliner Wohnung in der Nähe eines Fensters, unter dem der Garten mit den vier alten Kastanienbäumen lag. Doch sie vermied es, sich sehen zu lassen. Sie lauschte belustigt, aber auch ein wenig nachdenklich, einem Gespräch, das dort geführt wurde. »Du bist schon ein richtiger Mann«, sagte eine Mädchenstimme, aus der Bewunderung klang. »Ja«, sagte die ein wenig verlegen klingende Stimme eines Jungen, der um männliche Gelassenheit bemüht war. »Wenn du das sagst, dann will ich das nicht abstreiten.« Constance bestaunte und bewunderte die liebenswerte plumpe Deutlichkeit der jungen Menschen, denen sie zuhörte. Und sie wünschte, sie selbst wäre jemals so unbekümmert naiv gewesen. Die halbwegs Erwachsenen, die sich unter ihrem Fenster unterhielten, waren: Isolde, die Tochter der Mutter Schwiefert, und deren Freund, der konsequent Peter gerufen wurde, obgleich er Otto hieß. Beide schienen seit einigen Wochen schon unzertrennlich zu sein. Sie wurden bereits die »siamesischen Ruinenzwillinge« genannt, weil sie sich mit Vorliebe in den letzten, inzwischen wohlgeordneten Trümmerresten der ehemaligen Reichshauptstadt aufhielten. Peter war Isolde zugelaufen – anders konnte man sich den Vorgang, wie ihn Mutter Schwiefert lachend erzählt hatte, nicht erklären. Peter tauchte eines Tages neben Isolde auf, die gerade von ihrem Abendkursus gekommen war. Er trabte beharrlich und zunächst 66
schweigend an ihrer Seite und erklärte dann: »Ich gehe mit Ihnen, wenn Sie nichts dagegen haben.« Isolde hatte nichts dagegen, zumal es sie, die Sechzehnjährige, erfreute, mit »Sie« angeredet zu werden; was unter »mit Ihnen gehen« zu verstehen war, interessierte sie vorerst wenig. Der Peter genannte Otto wurde ihr Trabant. Er verbrachte fortan jede freie Minute in ihrer Gegenwart und schien danach zu lechzen, sich für Isolde zu betätigen. Selbst vor gröberen Arbeiten schreckte er nicht zurück und klopfte sogar für Mutter Schwiefert, und damit für Constance, sämtliche Teppiche. »Sag mal, Peter«, wollte jetzt Isolde wissen, »wie groß bist du eigentlich?« »Na ja«, sagte der und schien zu überlegen, »so ein Meter fünfundsiebzig – mindestens.« »Das ist aber schön«, sagte Isolde. »Das ist genau die Größe, die ich mag.« »Fein«, murmelte Peter. »So kannst du bleiben«, sagte die sechzehnjährige Isolde. Und Constance, die diesem Gespräch mit einiger Wehmut gefolgt war, wünschte sich: ein Mann, der sie selbstlos lieben könnte, sollte um sie sein – bereit, sie vor den Unannehmlichkeiten des Lebens zu bewahren und ihr das Gefühl zu verschaffen, daß sie verstanden werde, gesichert sei und geschützt. Michael, dachte sie, könnte so ein Mann sein. Spontan griff sie nach dem Telefon. Sie suchte und bekam eine Verbindung mit der Telegrammannahme und gab den Auftrag, an Michael in Warschau drei Worte zu depeschieren. 67
Und diese drei Worte gelangten tatsächlich selbst an diesem Tage durch die überlasteten Leitungen. Sie lauteten: »Ich brauche dich.« Zwei Postbeamtinnen aus zwei verschiedenen Nationen fühlten sich angerührt und beförderten dieses Telegramm außer der Reihe. Der Intendant des Süddeutschen Rundfunks, inspiriert von seiner politischen Redaktion, hatte sich inzwischen entschlossen, jede Stunde die neuesten Nachrichten über die Situation in Polen auszustrahlen. Veranlassung hierzu war der Korrespondent des Süddeutschen Rundfunks, der in Warschau saß. Dieser Korrespondent war ein junger, cleverer, weitgereister Mann, mit guter Witterung und einem seltenen Geschick für die allerbesten Verbindungen zu Kontroll-, Zensur- und Propagandabeamten. Während der Suez-Krise war er der einzige Ausländer gewesen, der unbekümmert telefonieren und telegraphieren durfte. Um 16.00 Uhr sendete der Süddeutsche Rundfunk folgenden Bericht »unseres Warschauer Korrespondenten«: Einheiten der polnischen Armee haben die Universität besetzt und etwa zwanzig Studenten verhaftet. Die übrigen Studenten dürfen die Universität nicht verlassen. Wie unser Korrespondent in Warschau hinzufügt, ist die an sich schon verworrene Lage dadurch noch verworrener geworden. Es ist zur Zeit unmöglich, zu erkennen, auf welcher Seite die Armee steht. Warschau wartet mit Spannung auf die Sitzung des Sejm, die in einer Stunde beginnen soll. Zur Ratifizierung des Moskauer Abkommens wären noch Monate Zeit gewesen. Eine Ablehnung des Vertrages, wie sie Demonstranten gefordert haben, würde zunächst einem 68
Mißtrauensvotum gegen den Parteichef gleichkommen. Die Reaktion Sowjetrußlands hierauf kann nur vermutet werden; jedoch scheinen militärische Maßnahmen nicht ausgeschlossen zu sein. Niemand wagt in Warschau eine Voraussage, wie die Dinge dann weitergehen sollen. Die Demonstrationen in den übrigen Städten des Landes halten an. Auch aus Krakau wird die Verhängung des Ausnahmezustandes und die Verhaftung von Studenten gemeldet. Michael Reiners saß in der Halle seines Hotels in Warschau, das sich in eine Nachrichtenbörse verwandelt zu haben schien. Journalisten aus aller Herren Länder beherrschten das Feld. Die anderen Gäste des Hotels, Kaufleute zumeist, saßen bedrückt und fast wortlos herum. Die Journalisten hingegen bildeten Interessengruppen und redeten aufeinander ein. Sie witterten ihre Beute: die Nachricht. Und nicht wenige von ihnen erhofften einen kapitalen Fang: die sensationelle Nachricht. Reiners hatte sich einen doppelten Kognak servieren lassen. Er saß in einer Ecke und betrachtete die Geschäftigkeit. Da gab es: Nachrichtenjäger aus Passion und Freude am Beruf; verwirrende Spekulanten, die vorgaben, bereits die Sensationen von morgen zu kennen; listige Börsianer, die Information gegen Information tauschten; Goldgräber, die behaupteten, ihnen allein zugängliche Quellen anzapfen zu können. Das Nachrichtengeschäft blühte. Auch der Umsatz der Hotelbar war groß. Mehrere Flaschen des vergleichsweise sehr preiswerten und auch qualitativ hervorragenden Krimsektes – offiziell »sowjetischer Champagner« genannt – waren geleert worden. In diesem Hotel zu wohnen, war für alle in Polen 69
akkreditierten Journalisten nahezu Zwang. Und sie waren entschlossen, den großen Fischzug nach den »fetten«, den später fettgedruckten Nachrichten, den »Solokarpfen«, nicht zu versäumen. Der Portier rief aus seiner Loge: »Telegramm für Doktor Reiners.« Die lebhaften Gespräche schienen völlig zu verstummen. Die Anwesenden musterten den Deutschen, den einige von ihnen zumindest dem Namen nach kannten, mit Interesse. Reiners erhob sich ein wenig umständlich, schritt, von neugierigen Blicken gefolgt, zur Loge des Portiers. Hier nahm er sein Telegramm in Empfang. Dann ging er den gleichen Weg wieder zurück, setzte sich, öffnete das Telegramm und las es. Und als er es gelesen hatte, lächelte er und lehnte sich zurück. Als er wieder aufsah, stand vor ihm Charly, freundschaftlich grinsend. »Doktor«, sagte er gemütlich, »was gibt es Neues auf dem Rialto!« »Der Inhalt dieses Telegramms ist für Sie völlig wertlos«, erklärte Reiners. Der amerikanische Korrespondent nahm Platz; seine Behaglichkeit schien noch zugenommen zu haben. »Immerhin bemerkenswert«, sagte Charly, tief in seinem Sessel, die Beine weit von sich gestreckt, »daß überhaupt noch Telegramme an Privatpersonen durchkommen.« »Bemerkenswert und, in diesem speziellen Fall, erfreulich«, sagte Michael verbindlich. »Doch das ändert wirklich nichts an der Tatsache, Charly, daß dieses Telegramm für Sie völlig uninteressant ist.« »Ich schlage Ihnen ein Geschäft vor«, sagte der Amerikaner. »Charly«, sagte Doktor Reiners belustigt, »ich warne 70
Sie: stürzen Sie sich nicht in Unkosten – es lohnt sich wirklich nicht.« »Ich mache Ihnen folgenden Vorschlag, Doktor – Sie lassen mich Ihr Telegramm lesen, und ich nehme Sie dafür in die Sitzung des Sejm mit. Ich habe von meiner Botschaft zwei Einlaßscheine bekommen und mir außerdem einen Wagen zur Verfügung stellen lassen. Er steht vor der Tür, geschmückt mit der amerikanischen Flagge. Auch die habe ich mir von der Botschaft ausgeborgt; sie sieht sehr dekorativ aus und bedeckt den ganzen Kühler.« »Ein sehr verlockendes Angebot«, gab Michael Reiners zu. »Aber ich kann es nicht mit gutem Gewissen annehmen. Der Inhalt dieses Telegramms ist tatsächlich für Sie völlig unbedeutend, Charly. Sie werden ein schlechtes Geschäft machen.« »Das lassen Sie getrost meine Sorge sein, Doktor«, erklärte der Amerikaner unerschütterlich. »Charly, es widerstrebt mir, Sie zu übervorteilen«, sagte Doktor Reiners. »Ich weiß manchmal wirklich nicht, Doktor, ob ich Sie für ausgesprochen naiv oder für verdammt raffiniert halten soll. Aber auch das werde ich noch herausbekommen. Sagen Sie mal – haben Sie Ihre Koffer gepackt?« »Schon möglich«, sagte Reiners. »Das einzig Richtige«, behauptete der Amerikaner. »Denn was sollen wir noch hier? Die Entwicklung ist doch klar. Ich kenne diese Sorte Staatsvergnügen zur Genüge. Bleiben wir hier, dann haben wir Logenplätze, aber wir können so gut wie nichts damit anfangen – wir können über das Schauspiel, das uns geboten wird, nicht berichten. Jetzt ist es schon schwierig, ein normales 71
Telegramm abzusenden – wie wird das erst in drei oder vier Stunden sein? Fliegen wir also zu unserem neuen Beobachtungsstand – fliegen wir nach Berlin.« »Ich bewundere, wie immer«, sagte Michael, »in welchem Umfang Sie informiert sind.« »Bin ich hier, um Brötchen zu backen oder um Nachrichten zu sammeln?« fragte der Korrespondent zufrieden. »Ich war vorhin in der Universität. Die Jungen dort sind die geborenen Helden. Das ehrt sie – daß sie aber bei dieser Gelegenheit den ganzen Erdball anzünden, merken sie natürlich nicht. In einigen Fabrikhallen ist das nicht anders. Kurz: die Situation ist eindeutig.« »Ich wage nicht, Ihnen zu widersprechen«, sagte Michael ernst. »Unser Geschäft ist also perfekt«, sagte der Amerikaner zufrieden. »Wir sehen uns noch gemeinsam, ehe wir um Mitternacht abfliegen, den Sejm an. Doch vorher zeigen Sie mir Ihr Telegramm.« »Bitte«, sagte Michael Reiners bereitwillig. Charly nahm das ihm hingestreckte Telegramm mit Interesse entgegen. Er entfaltete es und las den Text, wobei sich, zu Reiners Überraschung, auf seiner so glatten Stirn nachdenkliche Falten bildeten. »Seit wann denn«, fragte Charly schließlich, »nennt sich das Auswärtige Amt in Bonn Constance? Und warum dieser delikat klingende Text? ›Ich brauche dich.‹ Gar nicht ungeschickt. Das hört sich tatsächlich wie ein Privattelegramm an.« »Es ist auch eins«, sagte Michael Reiners. »Wem erzählen Sie das?« fragte der Amerikaner zurück. 72
Der Präsident des Nachrichtendienstes der Bundesrepublik Deutschland war ein hagerer Mann, mit unbeweglichen, verschlossenen Gesichtszügen. Er saß in seinem fast schmucklosen Büro und wartete. Vor ihm lagen einige aufgeschlagene Akten; aber er las nicht in ihnen. Er wartete. Auf der elektrischen Uhr, die seinem Schreibtisch gegenüber an der Wand hing, kroch der Sekundenzeiger regelmäßig vorwärts. Es war 16.30 Uhr. Der Präsident, der auch unter seiner Zivilkleidung den Offizier nicht verbergen konnte und auch nicht verbergen wollte, sah fast ein wenig unruhig aus. Als er eilige Schritte hörte, die sich seinem Zimmer näherten, beugte er sich über seine Akten und schien sie angeregt zu studieren. Nach kurzem Klopfen öffnete sich die Tür. Der Leiter des Referates Sowjetunion stürzte in das Zimmer, auf den Tisch des Chefs des Nachrichtendienstes zu. »Funkmeldung von SL.. Herr General«, sagte er. Der mit »Herr General« angeredete Präsident hob seinen schmalen Kopf, der an Rennpferde erinnerte. Er blickte seinen Referenten aus verengten Augen nahezu gleichgültig an und nahm den angekündigten, bereits dechiffrierten Spruch entgegen. Er lautete: Truppenbewegungen im Raum Lemberg, Kowel, Brody, Brest und Grodno. Richtung polnische Grenze. Seit 12.00 Uhr MEZ. Erkannt bei Lemberg 22. und 23. motorisierte Division und 67. Panzerbrigade. Bei Kowel neue, bisher nicht festgestellte Einheit. Stärke etwa, zwei Kampfgruppen mit taktischen Atomwaffen. Truppenstärke Brest unbekannt. Der General vermied es, irgendwelche Regungen zu zeigen. Er blickte lediglich auf die Uhr. Sie zeigte jetzt 73
16.37 Uhr. Das war, fand der General, eine gute Zeit. Er durfte hoffen, damit anderen Nachrichtendiensten zuvorgekommen zu sein; und das war für ihn entscheidend. Die Verläßlichkeit seiner Organisation wurde damit überzeugend demonstriert. Mit unbewegtem Gesicht, mit tonloser, enervierend gleichgültiger Stimme ordnete der General an: »Amerikaner benachrichtigen.« Und dann sagte er: »Eine Verbindung mit dem Bundeskanzleramt auf der direkten Leitung.« Pünktlich um 17.00 Uhr erreichte Washington der stündliche Bericht des amerikanischen Stadtkommandanten von Berlin. Unverändert und kurz lautete er: In Ost- und West-Berlin alles ruhig. Ruth Winters betrachtete den dekorativen Mann, der Bernhardt hieß und der, jetzt flüchtig bekleidet, in ihrem Appartement stand, mit heftigem Mißtrauen. Sie wünschte, sie wäre ihm nie begegnet. Die moderne Einrichtung des Raumes wirkte erschreckend kalt. Denn neben den ernüchternden Zweckmöbeln schien hier kaum etwas Privates zu existieren. Gepackte Koffer standen in einer Ecke; zusammengefaltete Tücher lagen auf dem Tisch. »Was willst du denn noch?« fragte Ruth Winters gereizt. Der Mann ließ sich auf ihrer Couch nach rückwärts fallen. Er streckte sich aus, sah sie an und fragte: »Willst du nicht zu mir kommen?« »Du bist verrückt«, sagte Ruth Winters heftig. Sie stand mitten im Zimmer. Ihr Kleid lag eng um ihren Körper und spannte sich bei der geringsten Bewegung, 74
was er mit sichtlichem Behagen zur Kenntnis nahm: sein Lächeln verstärkte sich so sehr, daß seine schönen Zähne sichtbar wurden. »Zum Abschied«, sagte Bernhardt. »Nein!« rief sie. Es war, als müsse sie sich gegen diese Herausforderung, die sie zugleich beleidigte und verlockte, wehren. Und sie wandte sich mit heftiger Bewegung von ihm ab. Bernhardt dehnte seine breite Brust, er fühlte sich stark. Sie vermied es, ihn anzusehen. Sie sah die leeren Wände und die leuchtenden Flecke auf ihnen, die von den Bildern herrührten, die sie entfernt hatte. »Warum zierst du dich?« fragte er. »Oder glaubst du im Ernst, man kann von einem Tag auf den andern sein Leben ändern? Du bist doch am allerwenigsten dazu in der Lage.« »Verlaß sofort meine Wohnung!« rief Ruth. »Ich liebe dich viel zu sehr«, sagte Bernhardt, »um dir das antun zu können. Es würde dir leid tun – und das will ich nicht.« »Du widerst mich an«, sagte Ruth Winters tonlos. »Das ist eine neue Nuance«, stellte der Mann fest. »Und ich lasse mich immer wieder gern von dir überraschen. Im übrigen rate ich dir, in deinem und in meinem Interesse, nichts unnötig zu komplizieren. Du bist doch alles andere als eine treusorgende Hausfrau, zärtliche Gattin und liebende Mutter. Du liebst diesen Beck doch nur, weil er über Millionen verfügen kann.« »Hör zu!« rief Ruth Winters. Sie drehte sich zu ihm hin, kam einen Schritt auf ihn zu und funkelte ihn mit bösen Augen an. 75
»Aber so ein paar Millionen«, sagte Bernhardt, der diese Situation zu genießen schien, »sind noch schwerer zu hüten als eine Frau – selbst als eine Frau von deinem Format. Dein Herr Beck wird alle Hände voll zu tun haben, dauernd auf Reisen sein, sich fast immer müde fühlen – und was fängst du dann mit deinem Temperament an? Du wirst andere Männer brauchen – und warum eigentlich nicht mich, da wir uns doch so ausgezeichnet verstehen?« »Bin ich wirklich so schlecht?« fragte Ruth Winters fassungslos. »Für mich bist du prachtvoll«, sagte Bernhardt. »Und ich lege großen Wert darauf, daß das so bleibt.« Ruth starrte den schönen Mann, der vor ihr behaglich ausgestreckt lag, mit großen, nahezu angstvollen Augen an. Dann drehte sie sich um und verließ ihre Wohnung. Pünktlich um 17.00 Uhr begann im NATOHauptquartier in Fontainebleau die »zweite außerordentliche Lagebesprechung« des Tages. Die Herren warteten bereits seit mehreren Minuten auf den Oberbefehlshaber. Die Unterlagen, die sie mitgebracht hatten, waren wesentlich umfangreicher als ein paar Stunden vorher. Sie blickten auf die Lagekarte, auf der eine ganze Anzahl neuer taktischer Zeichen angebracht war. Der Oberbefehlshaber erschien mit dem engsten Stab. Der Abwehrchef begleitete ihn. Noch ehe die Herren, die aufgestanden waren, auf einen Wink des Oberbefehlshabers wieder Platz nehmen konnten, erhielt der Abwehrchef die Aufforderung, Bericht zu erstatten. Die wesentlichsten Punkte dieses mit zahlreichen Details ausgestatteten Berichtes lauteten: Ein Zusammenstoß zwischen polnischen und 76
sowjetischen Truppen ist stündlich zu erwarten. Übereinstimmende Dienstmeldungen lassen sowjetische Truppenbewegungen gegen die polnische Grenze deutlich erkennen, darunter befinden sich Einheiten, die mit taktischen Atomwaffen ausgerüstet sind. Die Häfen Gdingen und Kolberg sind vom Land her von der polnischen Armee bereits abgeriegelt. Die Zangenbewegung gegen die sowjetischen Stationierungseinheiten in Pommern und Schlesien macht rasche Fortschritte. Die sowjetischen Kommandeure sind offensichtlich noch ohne Weisungen, jedoch sind alle Truppen gefechtsbereit. Starke polnische Einheiten bewegen sich von Stargard auf Stettin zu. »Nunmehr, meine Herren«, sagte der Oberbefehlshaber, »sehe ich mich gezwungen, anzuordnen, daß das Kennwort ›Gazelle‹ mit sofortiger Wirkung in Kraft tritt.« Damit war die erhöhte Bereitschaft auf alle NATOVerbände, bis zu den Divisionskommandos einschließlich, ausgedehnt. Der Befehlshaber sah die Offiziere fordernd an, als erwarte er irgendeinen Einspruch oder wenigstens eine Frage. Die Offiziere schwiegen. Sie sahen auf die Lagekarte oder in ihre Unterlagen. Der amerikanische General sagte: »Meine Herren! Auf der Geheimsitzung des NATO-Rates, von der ich soeben komme, sind meine Maßnahmen gebilligt worden. Es wird aber nochmals auf äußerste Geheimhaltung hingewiesen. Die im Atlantikpakt verbündeten Regierungen sind fest entschlossen, alles zu tun, um einen Konflikt mit der Sowjetunion zu verhindern. Sie werden sich jeder Einmischung in die polnischen Ereignisse enthalten.« 77
Und der General fügte hinzu: »Unter allen Umständen!« Marias Mutter betrat erneut das kleine Zimmer ihrer Tochter. »Ich mußte noch einmal kommen«, sagte sie sorgenvoll. Marias Mutter war eine zähe, kleine Person, mit mausflinken Augen im faltenreichen Gesicht. Sie hatte sich ein Leben lang plagen müssen; zwei Kriege hatten ihr Bestreben, in gesicherten Verhältnissen zu leben, zerstört. Jetzt beherrschte sie nur noch ein Verlangen: ihrer Maria ein gesichertes Dasein zu bieten, zumindest sie auf den rechten Weg dorthin zu lenken. »Dieser Mensch dort in der Ostzone«, sagte sie, »zu dem du hinfahren willst, auf deinem Fahrrad noch dazu, während du in einem Wagen nach Italien fahren könntest, dieser Mensch kann kein Verantwortungsgefühl haben. Würde er dich sonst zu so etwas überreden?« »Erbrauchte mich nicht zu überreden, Mutter«, sagte Maria. »Du kannst unbesorgt sein – wir fühlen uns füreinander verantwortlich.« »Was heißt das?« wollte Marias Mutter wissen, und die Stimme schien ihr davongaloppieren zu wollen. »Es wird ihm doch klar sein, welch ein Elend er dir drüben bietet! Und mit einem Fahrrad! Der Prokurist hat einen Wagen, den man oben aufklappen kann.« »Mutter«, sagte Maria geduldig, »ich verbringe doch meinen Urlaub nicht mit einem Fahrrad oder einem Wagen mit Schiebedach, sondern mit einem Menschen. Und für mich ist Martin der Mensch, mit dem ich am liebsten zusammen bin.« Maria betrachtete ihren Reiseplan, der auf der Fensterbank lag. Dort war genau aufgezeichnet, wie weit 78
sie an jedem Tag fahren würde. Am frühen Nachmittag des dritten Tages würde sie an der Grenze sein – und dort wartete Martin auf sie. Die restlichen Tage gehörten dann ihnen gemeinsam. »Du solltest dir alles genau überlegen«, sagte jetzt die Mutter laut. »Da gibt es doch nichts mehr zu überlegen, Mutter. Alles ist gründlich vorbereitet und genau festgelegt. Martin wartet auf mich.« »Und wenn du plötzlich krank wirst?« fragte die Mutter lauernd. »Das kann doch jederzeit vorkommen. Das klingt glaubhaft; das muß er hinnehmen, ohne dir böse sein zu können. Du schickst ihm einfach ein Telegramm.« »Bitte, es ist zwecklos, weiter darüber zu reden. Ich fahre morgen früh.« »Man könnte ihm doch einfach ein Telegramm schicken«, sagte die Mutter beharrlich. Sie sah nachdenklich auf die Tochter, die am Fenster stand und ihr den Rücken zukehrte. »Das könnte man«, sagte sie nach kurzer Pause abermals und nickte dazu. Und sie sah aus, als wollte sie sagen: was tut eine Mutter nicht alles, um das Glück ihrer Tochter zu sichern. Wenn es durchaus sein muß, gegen ihren Willen! Der Warschauer Korrespondent des Süddeutschen Rundfunks hatte seinen großen Tag. Um 17.00 Uhr wurde folgende Nachricht gesendet, die mehrere Stationen übernahmen: In diesem Augenblick beginnt in Warschau die Sitzung des polnischen Sejm. Entgegen den vorherigen Ankündigungen wird der polnische Rundfunk die 79
Parlamentssitzung nicht übertragen. Trotz des Ausnahmezustandes bewegen sich seit einer halben Stunde Demonstrationszüge von Fabrikarbeitern zum Parlamentsgebäude. Polizei und Militär wagen nicht, auf die Menschenmassen zu schießen. Abermals werden Transparente mit Losungen gegen den Moskauer Vertrag mitgeführt. Ein offenbar außerhalb der Stadt zusammengestellter Demonstrationszug bewegte sich von Praga auf Warschau zu. Er führte Spruchbänder mit sich, auf denen die Forderung stand: Keinen Kampf gegen das russische Brudervolk! Er wurde von Polizei und Militär ohne Blutvergießen aufgelöst. Michael Reiners und Charly, der Korrespondent der AP, standen nebeneinander auf der überfüllten Presseund Besuchertribüne. Sie sahen in den großen Saal, in dem das polnische Parlament, der Sejm, zu einer Sondersitzung zusammengetreten war. Ihre Leibwache stand hinter ihnen. Auf den Straßen stauten sich die Massen der gelenkten freiwilligen Demonstranten, umkreist von Bereitschaftswagen, Kameraleuten und Spitzeln aus den verschiedensten Lagern. Durch die Gänge eilten Parlamentsdiener, Beamte, Polizisten in Zivil und die Einflüsterer der Parteiorganisationen. Die Abgeordneten im Saal waren unruhig, drehten sich nach rückwärts, beugten sich vor, flüsterten zu zweit oder in Gruppen miteinander, gingen einzeln hinaus, um bald darauf wiederzukommen. Einzelne saßen starr und wortlos auf ihren Plätzen, wie zermürbte Angeklagte kurz vor der Verkündung ihres Urteils. »Dieses sogenannte Parlament«, sagte Charly breit, »ist wie ein Bienenvolk – kurz vor dem Ausschwärmen.« 80
Das Gesicht des Partei- und Regierungschefs glänzte; es war schweißnaß. Seine Stimme jedoch klang kräftig, wenn auch rauh und härter als sonst. Seine Hände umklammerten das Rednerpult mit festem Zugriff, als brauche er einen sicheren Halt. Er sprach frei, nur gelegentlich auf seine Notizen blickend. »Hoffentlich verspricht er sich nicht«, sagte der Amerikaner trocken. Der Parteichef war mitten in einer ausführlichen Rede. Er versuchte darzulegen, warum die Regierungsdelegation es für richtig gehalten habe, den Stationierungsvertrag zu unterzeichnen. Dieser Stationierungsvertrag sei die Voraussetzung für einen Handelsvertrag gewesen. Der Handelsvertrag mit der Sowjetunion aber sei für Polen lebenswichtig. »Wir brauchen diesen Handelsvertrag!« rief der Parteichef mit starker Stimme, um die mehr und mehr anschwellende Unruhe des Hauses zu übertönen. »Und wir dürfen es nicht darauf ankommen lassen, daß die uns in den letzten Jahren gewährten Getreidelieferungen aufhören – und auch das wäre der Fall gewesen, wenn wir den Stationierungsvertrag nicht unterzeichnet hätten.« Lebhafte Zwischenrufe ertönten. Einige Abgeordnete am rechten Flügel sprangen auf. Der Präsident versuchte, den Lärm zu dämpfen, was ihm erst nach einigen Minuten gelang. »Das ist das heiße Eisen«, sagte der Amerikaner, »er ist dabei, sich mehr als nur die Finger zu verbrennen.« »Es ist nicht gut«, rief der Regierungschef heftig, »mit theoretischen Möglichkeiten zu spielen, wenn man reale Politik machen will. Was wir brauchen, ist eine umfassende Wirtschaftshilfe. Und die erhalten wir von anderer Seite nicht!« 81
Erneut brandete heftiger Lärm auf. Der Präsident des Sejm beugte sich vor. Der Parteichef sah zu ihm hoch; aber der schien dessen fragenden Blick nicht zu bemerken. Das Haus dröhnte vom Gebrüll aufgeregter Stimmen. »Es ist soweit«, sagte Charly. Und zum erstenmal trat so etwas wie Nachdenklichkeit, fast Trauer, in sein Gesicht. Der Präsident gab den Forderungen der einzelnen Sprecher der Parteigruppen nach und ordnete die sofortige Abstimmung an. Bereits wenige Minuten danach wurde das Ergebnis bekanntgegeben. Gegen die Stimmen von sechsunddreißig Abgeordneten der Arbeiterpartei hatte der Sejm den Stationierungsvertrag abgelehnt. »Jetzt nichts wie hier raus!« sagte der Amerikaner. »Leibwache voran! Wenn Sie einen Revolver haben sollten, Doktor, dann entsichern Sie ihn!« Die stündliche Meldung des amerikanischen Stadtkommandanten von Berlin lief pünktlich um 18.00 Uhr in Washington ein. Diese Meldung wurde von dem Deutschlandexperten, dem sie vorgelegt worden war, ebenso lakonisch wie erschöpfend kommentiert. Er sagte: »Aha!« Was er dann noch sagte, klang zwar sehr überzeugend, war aber keinesfalls protokollreif und alles andere als eine feinausgewogene diplomatische Äußerung. Die stündliche Meldung des amerikanischen Generals, die bisher lediglich aus den gleichen, fast stereotyp klingenden Worten bestanden hatte, umfaßte diesmal drei ganze Sätze. Sie lauteten: Seit einer halben Stunde sind in Ost-Berlin Polizeistreifen zu beobachten. An allen wichtigen 82
Punkten des Ostsektors sind Verstärkungen aufgezogen. In West-Berlin ist weiter alles ruhig. Wolf Beck war ein wenig unruhig geworden. Der Anlaß war ein Telefongespräch mit einem Geschäftsfreund aus dem Libanon, der sich gleichfalls in Berlin aufhielt. Dieser libanesische Überseekaufmann hatte zu Wolf Beck gesagt: »Ihre Nase möchte ich haben!« Das hatte Wolf stutzig gemacht. Denn schließlich war er lediglich einiger laufender Geschäfte und privater Angelegenheiten wegen hier – an ungewöhnliche Transaktionen hatte er nicht im geringsten gedacht. Er versicherte das seinem Geschäftsfreund aus dem Libanon nachdrücklich. Aber der hatte daraufhin zu Wolf Beck gesagt: »Sie brauchen sich gar nicht mehr zu verstellen, mein Bester – die Rundfunknachrichten lassen nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig.« Wolf Beck bat darum, daß ihm ein Radioapparat in sein Hotelappartement gestellt werde. Der riesige Kasten, der jetzt neben dem Fernsehapparat stand, dudelte sogenannte volkstümliche Musik, den »lustigen Eisverkäufer« aus der Suite »Promenade am Meer«. Wolf betrachtete nahezu haßerfüllt den Apparat. Es war kurz vor 18.00 Uhr. Da klingelte das Telefon. Wolf Beck schaltete das Radio ein wenig leiser, so daß es kaum noch zu vernehmen war und die Musik lediglich wie ein ferner Wind dahinseufzte. Er hob den Hörer auf und meldete sich. Ein Gespräch aus Hamburg wurde ihm angekündigt. »Bitte«, sagte Wolf. »Verbinden Sie.« Kurz danach vernahm er die Stimme von Ruth Winters. »Ich mußte dich noch einmal anrufen«, sagte sie. »Störe 83
ich dich in wichtigen Geschäften? Bist du mir deshalb böse?« »Aber nein«, sagte Wolf Beck. »Kannst du wirklich erst morgen kommen?« fragte Ruth. »Morgen oder übermorgen«, sagte Wolf. »Keinesfalls früher. Wie du weißt, habe ich hier noch einige entscheidende Dinge zu erledigen.« »Wird alles gut gehen?« wollte Ruth wissen. »Natürlich«, sagte er überzeugt, da er annahm, daß sich Ruth über die abschließenden Vorbereitungen für seine Scheidung Gedanken machte. Aber dann sagte er sich, daß Ruth gerade diese Angelegenheit bisher immer mit selbstverständlicher Gelassenheit hingenommen hatte. Sie vertraute ihm. Und dennoch war sie jetzt spürbar beunruhigt – weshalb eigentlich? »Ich habe soviel guten Willen«, sagte Ruth plötzlich; und ihre sonst so beherrscht klingende Stimme verriet jetzt so etwas wie Nervosität. »Das mußt du mir glauben, Wolf.« »Warum sollte ich dir das nicht glauben?« fragte Wolf Beck gedehnt und nachdenklich. »Ich will hier nicht mehr länger bleiben«, sagte Ruth Winters. »Am liebsten würde ich zu dir nach Berlin kommen – sofort, wenn du willst.« »Das«, sagte Wolf aufhorchend, »wäre wohl nicht unbedingt das Richtige. Du weißt, daß ich mich dir hier nicht so widmen kann, wie ich das gerne möchte – in Hamburg wird das eher möglich sein. Und ich habe dort noch dringend, wenn auch nur kurzfristig, zu tun.« »Ich werde nur noch für dich dasein«, sagte Ruth 84
Winters; und das klang sehr eindringlich. »Glaube es mir!« »Aber ja«, sagte Wolf, »natürlich! Selbstverständlich glaube ich das.« Als Wolf Beck nach beendetem Gespräch den Hörer auflegte, saß er noch geraume Zeit beunruhigt da. Was hat sie nur? fragte er sich. Sie ist doch sonst nicht so! Dann schüttelte er den Kopf, als müsse er sich von diesen unangenehmen Gedanken befreien. Er horchte auf – denn er hörte eine fremde, ferne Stimme im Raum. Sein Blick fiel auf den Radioapparat. Er schaltete ihn auf volle Lautstärke und vernahm noch Reste des letzten Satzes einer Nachricht: …hat sich direkt zum Kriegsministerium begeben. Dann schwieg die Stimme. »Verdammt«, sagte Wolf ärgerlich, »schon wieder verpaßt!« Die Nachricht, von der Wolf nur noch wenige abschließende Worte gehört hatte, wurde von 18.01 bis 18.04 Uhr ausgestrahlt. Sie lautete in ihren wesentlichsten Teilen: Das polnische Parlament hat in einer turbulenten Sitzung den Stationierungsvertrag mit der Sowjetunion gegen die Stimmen einiger Abgeordneter des stalinistischen Flügels der polnischen Arbeiterpartei abgelehnt. Die Sitzung wurde bis 19.00 Uhr unterbrochen. In der polnischen Hauptstadt wird die weitere Entwicklung mit Spannung erwartet. Wie unser Korrespondent berichtet, ist die Mehrheit der Sejm-Abgeordneten gegen eine Abberufung des Parteichefs. Niemand jedoch vermag zu sagen, welchen politischen Kurs er jetzt einschlagen kann. 85
Die Verhaftungen vieler Studenten und Schriftsteller weisen darauf hin, daß die derzeitige Regierung bemüht ist, einen allgemeinen Aufstand mit allen Mitteln zu verhindern. Soeben trifft noch folgende Meldung ein: Der Oberbefehlshaber der sowjetischen Stationierungstruppen in Polen ist, unter dem Schutz von einem Dutzend Panzerspähwagen von Praga kommend, in Warschau eingetroffen. Er hat sich direkt zum Kriegsministerium begeben. Es war die Zeit, in der die Menschen Mitteleuropas einem zumeist reichlichen Abendessen zustrebten. Aus den Büros strömten die Beamten und Angestellten nach Hause. Ladeninhaber schlössen ihre Geschäfte. Und in den großen Fabriken bahnte sich der Schichtwechsel an. Die Verkehrsmittel waren überfüllt. Autos krochen langsam in Schlangen durch die Großstädte. Restaurants und Filmtheater füllten sich. Selbst in den Kasernen ließ die große Geschäftigkeit nach. Hauptmann Müller-Marburg, dem bundesdeutschen Grenzschutz zugehörig, ließ sich in seinem Dienstwagen nach Hause fahren. Frau und Kind erwarteten ihn. Er hatte einen interessanten Tag hinter sich gebracht, und nur seines Kommandeurs nachsichtiges Lächeln haftete unangenehm in seiner Erinnerung. »Achten Sie genau auf die Verkehrszeichen, mein Lieber«, sagte er zu seinem Kraftfahrer. »Sicherheit geht allem anderen vor.« Der Gefreite Schulze-Schwerin, der ostdeutschen Armee angehörend, stand in der Kaserne im Waschraum seines Stockwerks. Er rasierte sich vor der Spiegelwand. Das Gesicht im Spiegel war jung, ernst und verriet Verantwortungsbewußtsein. Doch in ihm war die große 86
Vorfreude auf das Erlebnis, das ihm das Gastspiel der Dresdener Oper bereiten würde. Und er beschloß, vorher noch ein Eisbein zu essen mit Bratkartoffeln und hinterher ein Bier zu trinken, ein großes Bier. »Wir leben in einer großen Zeit«, sagte er zu sich. »Und einmal wird auch für mich die Stunde der Bewährung schlagen.« Der Tag war schön. Die Sonne hatte zwar viel von ihrer strahlenden Wärme verloren, jedoch nicht von ihrer Helligkeit. Ein angenehmer Sommerabend kündigte sich an. Die Menschen würden Spazierengehen, aus Fenstern blicken, auf Bänken sitzen. »Ein Tag wie aus Seide«, sagte einer. Was in Warschau geschehen war und immer noch geschah, beschäftigte außerhalb Polens eine Handvoll Politiker und Journalisten. Die wenigen Meldungen, die in die Öffentlichkeit gelangt waren, wurden zumeist überhört oder nicht wichtig genommen. Wichtig war jetzt das Abendessen – die Stunde danach – die Ruhe der Nacht. Eine Zeitung brachte ein Extrablatt. »Unruhen in Polen.« Es wurde kaum gekauft. Die kleinen Mädchen begannen, sich für das abendliche große Spiel zu putzen; sie wählten leichte Kleider. Die Welt war voller Verlangen; und die Erwartung vieler war groß. In den Fernsehstudios liefen sich die Kameras warm. Künstliches Licht bestrahlte zahllose Hoffnungen. Und im Hintergrund lauerte die große Enttäuschung. Aber niemand wollte sie wahrnehmen. Um 18.30 Uhr meldete der Sender »Freies Europa« in polnischer Sprache: 87
Wie wir soeben aus Warschau erfahren, hat der Befehlshaber der sowjetischen Stationierungstruppen im polnischen Kriegsministerium im Namen des sowjetischen Oberkommandos ein Ultimatum überreicht. Wenn die polnischen Truppen, heißt es in diesem Ultimatum, nicht bis 20.00 Uhr den Rückmarsch in ihre Standorte antreten, haben die sowjetischen Stationierungseinheiten den Befehl, das Feuer auf die polnischen Truppen zu eröffnen. Einer der Hörer, der mit einer gewissen Begeisterung den Sendungen von »Radio Freies Europa« lauschte, war Friebe – der Vertraute, Chauffeur, Hausmeister und Kammerdiener von Henry Engel. Friebe sprach mehrere slawische Sprachen. Sein Herr und Meister pflegte mit sichtlichem Genuß seinen präzisen, durch witzige Bemerkungen jedes Pathos entkleideten Übersetzungen zu lauschen. Er nannte diesen Vorgang »Lemurchens Märchenstunde«. Henry Engel saß auf der Terrasse seines Hauses und sah hinunter ins Tal. Er rauchte eine Zigarre und hörte sich Friebes Bericht an. »Hoffentlich stimmt diese Meldung«, sagte er nachdenklich. Friebe sah Henry Engel staunend an. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Chef!« sagte er. »Doch«, erklärte Henry Engel gelassen. Sein fleischiges Gesicht hatte in der Abendsonne einen asiatischen Ausdruck. »Dummheit kostet immer Geld und Blut. Und da die Polen ein armes Volk sind, werden sie bluten müssen. Je schneller das geschieht, um so kürzer und geringer wird das Blutvergießen sein.« »Und Europa?« 88
»Hat in Polen nicht sehr viel investiert.« »Und die Welt?« »Dreht sich weiter! Wer nicht hört, nicht sieht, nicht fühlt – kann auch nicht mitfühlen, will nicht mitdenken, sieht nicht ein, warum er handeln soll. Als ich noch in Köln lebte, wurde im gleichen Haus, fast unmittelbar über mir, ein Mensch ermordet – die Polizei sagte, daß er noch geschrien haben müsse. Ich aber hatte nichts davon gehört. Ich schlief – nur wenige Meter davon entfernt.« Friebe schwieg. Henry Engel rauchte gelassen weiter. »Sind die Gästezimmer vorbereitet?« fragte er. »Glauben Sie, daß Herr Beck kommen wird?« fragte Friebe zurück. »Vielleicht«, sagte Henry Engel gleichmütig. »Vielleicht er oder Doktor Reiners – vielleicht auch noch andere. Ich habe das Gefühl, daß wir hier nicht mehr lange allein bleiben werden.« »Gesellschaft könnte Ihnen gar nichts schaden«, sagte Friebe. »Ihre Gedanken werden immer dunkler.« »Sie werden klarer – aber vielleicht ist das dasselbe«, sagte Henry Engel und lächelte. »Und außerdem, mein Lieber, gelüstet es auch mich danach, einen Krieg zu führen! Es wird ein vergleichsweise kleiner Krieg werden, vermute ich; aber Herzblut kann dennoch fließen.« »Und wen wollen Sie zerstören, Chef?« »Ich bin in der überaus glücklichen Lage, Freunde zu besitzen, denen ich sehr zugetan bin. Ich werde jetzt nicht mehr zögern, sie um einen wahren Freundschaftsdienst zu bitten – damit aus ihm eine noch klarere Freundschaft erwachse!« »Ist noch etwas zu erledigen?« wollte Friebe wissen. 89
»Die Kiste, die sich im Keller befindet – auspacken!« »Drei Gewehre, zwei Maschinenpistolen, ein Maschinengewehr«, sagte Friebe ruhig. »Ich werde sie feuerbereit machen. Auch ich glaube jetzt langsam daran, daß wir sie brauchen können.« Um 19.00 Uhr meldete der amerikanische Stadtkommandant nach Washington: Vor kurzem sind Lastwagenkolonnen mit Einheiten der Volksarmee in Ost-Berlin eingetroffen. Sie haben begonnen, das Regierungsviertel und die sowjetische Botschaft Unter den Linden abzuriegeln. Der Verkehr zwischen den Sektoren verläuft normal. In West-Berlin herrscht Ruhe. Constance Schubert hielt sich in der Küche ihrer Wohnung auf, wo Mutter Schwiefert das Abendessen zubereitete. Auch in der Küche war Constance ein wenig hilflos oder gab doch wenigstens vor, es zu sein. Sie folgte den flinken Bewegungen ihrer Wirtschafterin nicht ohne Bewunderung. Der Wunsch wurde in ihr wach, das auch zu können! Constance wünschte, möglichst vieles zu beherrschen, und das zudem vollendet. Daß sie eine anerkannte Malerin mit eigenem, sehr eigenwilligem Stil war, vergaß sie oft. Publicity-Artikel überlas sie, die Bewunderung ihrer Freunde überhörte sie, auf die Anerkennung der Fachleute reagierte sie kaum. Das alles geschah nicht etwa aus Bescheidenheit, sondern aus beständiger Unzufriedenheit mit allem, was mit ihrem Leben zusammenhing, das ihr nicht genügend schlackenrein, glücksgesegnet und erfolgsverklärt zu sein schien. »Sie machen das großartig, Mutter Schwiefert«, sagte 90
Constance, nachdem sie lange zugesehen hatte. »Das habe ich auch gelernt«, sagte Mutter Schwiefert und durchknetete mit kraftvollen Händen die Teigmasse, aus der die Knödel auf böhmische Art entstehen sollten. »Um das zu können, habe ich Jahre gebraucht – und dabei so manchen Magen verdorben. Jetzt beherrsche ich das Kochen im Schlaf.« »Ich bin froh, daß ich Sie bei mir habe«, sagte Constance. Sie ermunterte gelegentlich Menschen, die ihr behilflich waren, mit sanfter Anerkennung, in ihren Bemühungen um sie fortzufahren. »Sie haben mich, solange Sie wollen – oder besser: solange Sie mich gut bezahlen und anständig behandeln.« »Dann habe ich Sie, solange ich lebe«, sagte Constance spontan. »Solange ich lebe«, verbesserte sie Mutter Schwiefert unbekümmert. »Wenn Ihre Tochter einmal heiratet«, sagte Constance, »dann werden Sie doch gewiß zu ihr ziehen.« »Warum denn das?« fragte Mutter Schwiefert breit. »Meine Isolde wird froh sein, wenn ich ihr keine Schwierigkeiten mehr mache. Die heiratet sicherlich ganz früh und dann für alle Zeiten.« »Diesen – Peter?« fragte Constance belustigt. »Wenn auch nicht gerade diesen Peter, so doch irgendeinen dieser Sorte.« »Ihre Isolde behandelt den Jungen eigentlich sehr klug, finden Sie nicht auch? Sie stärkt systematisch sein Selbstbewußtsein.« »Ja«, sagte Mutter Schwiefert zufrieden, »die Isolde ist 91
ein gerissenes kleines Luder – aber grundanständig! Dieser Peter wittert das – er frißt ihr aus der Hand. Und er ahnt, daß er auf dieser Erde so leicht keinen zweiten Menschen finden kann, mit dem er auf angenehmere Weise den Inhalt seiner Lohntüte teilen kann.« »Sind die beiden nicht noch sehr jung?« »Nun«, gab Mutter Schwiefert zu, »sie fangen reichlich früh an, das stimmt. Aber beide sind ganz der Typ, auch rechtzeitig damit aufzuhören. Und das ist wichtig. Wissen Sie«, sagte Mutter Schwiefert vertraulich, »rechtzeitig aufzuhören – und vorher gut eingekauft zu haben, gute Qualität, die sich lange hält: das ist es!« »Mag sein«, sagte Constance, die nicht umhin konnte, sich betroffen zu fühlen. »Aber schließlich muß jeder so leben, wie es für ihn am besten ist.« »Aber wer will denn ewig allein leben!« sagte Mutter Schwiefert. »Sie können das doch am wenigsten! Glauben Sie mir: es wird wirklich langsam Zeit, daß Sie sich entscheiden!« Kurz nach 19.00 Uhr, nach mehrfacher Ankündigung und einer längeren Sendepause, strahlte Radio Warschau eine Meldung aus, die geeignet war, wie es am nächsten Tag in mehreren Zeitungen hieß, »die Welt aufhorchen zu lassen«. Diese Meldung lautete: Die polnische Regierung hat ihren Botschafter in Moskau angewiesen, der sowjetischen Regierung folgende Note zu übermitteln: Mit Besorgnis stellt die polnische Regierung fest, daß die sowjetischen Stationierungstruppen auf polnischem Territorium eine feindliche Haltung gegenüber der polnischen Volksdemokratie an den Tag legen. Mit der falschen Behauptung, die polnische Armee bedrohe die sowjetischen Truppen, hat der Befehlshaber der 92
sowjetischen Einheiten in Polen der Regierung ein Ultimatum überreicht. In diesem Ultimatum wird angedroht, um 20.00 Uhr die Feindseligkeiten gegen die polnische Armee zu eröffnen. Die Regierung der Volksrepublik Polen weist dieses Ultimatum auf das schärfste zurück. Sie ersucht die sowjetische Regierung um Abberufung ihres Befehlshabers in Polen. Wenn das am gestrigen Tage zwischen der Regierung der Volksrepublik Polen und der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken signierte Abkommen über die Stationierung sowjetischer Truppen in Polen jetzt in der polnischen Öffentlichkeit auf Widerstand stößt, so ist dies eine innere Angelegenheit der polnischen Volksrepublik. Im Interesse der Aufrechterhaltung des Friedens unter den sozialistischen Staaten ersucht die Regierung der Volksrepublik Polen die Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken dringend darum, sich jeglicher Einmischung in die inneren Angelegenheiten Polens zu enthalten. Die Regierung der polnischen Volksrepublik versichert ihre feste Entschlossenheit, ihre Verpflichtungen aus dem Warschauer Pakt einzuhalten. Diese Meldung wurde von Radio Warschau alle fünf Minuten wiederholt. Und wahrhaftig: die Welt begann aufzuhorchen. Allerdings war die überwiegende Mehrheit der Ansicht, daß sich hier zwar eine Sensation anbahne, keinesfalls aber eine Katastrophe. Marias Mutter glaubte, sich alles genau überlegt zu haben. Als ihr Motiv bezeichnete sie das mütterliche Verantwortungsbewußtsein, kurz: ihre Pflicht. Es galt, die Tochter vor einem Leben in Armut, also 93
einem unglücklichen Leben, zu bewahren – und das mußte jetzt energisch in Angriff genommen werden. Auf ihren Mann war in dieser Beziehung kein Verlaß; er tat seine Arbeit, wollte am Abend sein Bier haben und möglichst eine Kalbshaxe dazu. Daß seine Tochter von Schongau am Lech nach Sonneberg in Thüringen fahren wollte, noch dazu mit einem Fahrrad, vermochte ihn nicht zu erregen. Marias Mutter saß in der Küche und sah auf den Hof hinaus. Dort überprüfte ihre Tochter noch einmal das Fahrrad. Das tat sie gewissenhaft, so daß die Mutter unwillig schnaufte. Es war jetzt endlich an der Zeit, mit der gebotenen Unnachsichtigkeit einzugreifen. Sie hätte das schon viel früher tun müssen, gewiß; aber sie hatte damals, vor einem Jahr, als diese unglückliche Geschichte begann, nicht genügend aufgepaßt – sie war zu großzügig gewesen. Marias Veränderung war ihr damals nicht entgangen. Maria war lebhafter und heiterer geworden. Natürlich war klar, daß ein Mann dahintersteckte. Aber das, so sagte sich die Mutter damals, war nur zu begrüßen. Das Kind kam langsam in das heiratsfähige Alter, ohne die geringsten Erfahrungen zu haben. Sie wich den Männern aus, hatte keine Freundinnen, sonderte sich ab – das konnte nicht gut gehen. Selbst dann noch, als ihr Maria diesen Mann vorstellte – »Das, Mutter, ist Martin« -, hatte sie nicht allzuviel gegen ihn einzuwenden gehabt. Sie duldete ihn, weil sie wußte, daß er doch bald abreisen würde, und weil sie überzeugt davon war, daß er die Veranlassung dafür war, daß Maria ein wenig eitler wurde: sie legte sich eine neue Frisur zu, trug Kleider, die ihre Figur betonten, begann, sich graziöser zu bewegen; sie wurde jetzt eher 94
bemerkt. Männer in gesetzterem Alter und in gefestigter Position würden nunmehr vermutlich auf sie aufmerksam werden. Und das traf auch ein – das große Interesse des Prokuristen bewies es. Aber statt an ihre Zukunft und an den Lebensabend ihrer Eltern zu denken, verließ sie die Heimat und die Menschen, die sich um sie sorgten. Und das nur, weil sie sich ein paar Wochen lang mit einem Jüngling herumtreiben wollte, den sie offenbar nicht vergessen konnte. Die Mutter wandte den Blick von ihrer Tochter ab und dem Zettel zu, der vor ihr auf dem Tisch lag. Sie strich dort, ohne weiter zu zögern, ein Wort aus und setzte ein anderes dafür hinzu. Dann betrachtete sie ihr Werk mit einiger Zufriedenheit. Auf diesem Zettel stand: »Bin krank, kann leider nicht kommen.« Die Mutter nickte. Sie faltete den Zettel mehrmals und steckte ihn in ihre Handtasche. Dann verließ sie das Haus und ging, durch das Tor in der Stadtmauer, den Berg hinunter, auf das Postamt zu. Hier angekommen, klingelte sie den diensttuenden Beamten heraus und fragte: »Kann ich noch ein Telegramm aufgeben?« »Von mir aus auch zwei«, sagte der Beamte. »Aber es soll in die Ostzone gehen.« »Von mir aus nach Honolulu«, sagte der Beamte. Um 19.30 Uhr fand in Fontainebleau, im NATOHauptquartier, die »dritte außerordentliche Lagebesprechung« statt. Der Abwehrchef berichtete dabei, laut Protokoll, unter anderem folgendes: 95
Im Raum Stolp wurden Kampfhandlungen zwischen polnischen und sowjetischen Truppen eröffnet, ohne bisher größeres Ausmaß anzunehmen. Nach Meldungen von der sowjetisch-polnischen Grenze haben die Spitzen der sowjetischen Verbände den Grenzverlauf erreicht, ohne vorerst weiterzumarschieren. Mit Ausbruch der Feindseligkeiten ist jedoch innerhalb der nächsten dreißig Minuten zu rechnen. Aus der Tschechoslowakei werden ebenfalls Truppenbewegungen in Richtung auf die polnische Grenze gemeldet. In der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands sind die Volksarmee und die sowjetischen Besatzungstruppen in Alarmzustand gesetzt worden. »Ich brauche diesen Ausführungen«, sagte der Oberbefehlshaber, »nichts mehr hinzuzufügen. Eine nochmalige Ausweitung unserer vorsorglichen Maßnahmen scheint mir im Augenblick nicht notwendig. Ich muß Sie jedoch bitten, sich für weitere Lagebesprechungen jederzeit bereitzuhalten. Jederzeit – jeder einzelne von Ihnen und sämtliche Offiziere Ihrer Stäbe. Irgendeine Ausnahme, selbst die kurzfristigste Beurlaubung, ist leider nicht möglich.« Um 20.00 Uhr meldete der amerikanische Stadtkommandant von Berlin nach Washington: Die Lage in Ost-Berlin ist unverändert. Zur Zeit sind Volksarmee-Einheiten in Stärke von etwa einem Regiment zusätzlich in den Ostsektor eingerückt. Die Lage in West-Berlin ist weiterhin ruhig. »Die Deutschen sind und bleiben doch ein zuverlässiges Volk«, kommentierte der zuständige Experte der amerikanischen Regierung. »Sie haben ein geradezu unheimlich sicheres Gefühl dafür, was 96
gewünscht wird, ohne befohlen worden zu sein.« Charly betrat die Bar des Warschauer Hotels ein wenig schwankend. Aus einer Kopfwunde floß Blut; es rann, zwei dünne, leuchtendrote Bahnen ziehend, aus den Haaren über der Stirn bis hinunter zum Kinn. »Whisky!« rief Charly mit kräftiger Stimme. Reiners eilte sofort auf ihn zu. »Charly!« rief er besorgt. »Was ist los?« »Ich mußte heftig niesen«, erklärte der unbekümmerte Amerikaner und grinste die sich um ihn scharenden Journalisten belustigt an. »Dabei bin ich mit dem Kopf gegen eine Wand geknallt.« Die Journalisten entfernten sich sofort. Charly hatte ihnen deutlich genug zu verstehen gegeben, daß er nicht daran dachte, sie auf seine Kosten mit Reportagematerial zu versehen. Eine Story, die er erlebte, pflegte er auch allein auszuwerten. Reiners griff nach Charlys Arm und führte ihn in eine Ecke der Bar. Der Whisky – doppelt, pur – wurde schnell serviert. »Was war nun wirklich los?« wollte Michael wissen. »Ganz einfach«, erklärte Charly zufrieden. »Ich habe unsere Beschützer abgeschüttelt – jetzt haben wir endlich freie Bahn und können ungestört in Warschau herumschnüffeln. Also los – hinein in den Jahrmarkt der Aufgeputschten.« »Charly«, sagte Reiners besorgt, »Sie haben tatsächlich mit den beiden Leuten, die uns der Ministerpräsident zur Verfügung gestellt hat, eine Schlägerei angefangen.« »Doktor!« rief Charly und gab sich in sehr komischer Weise empört. »Wie können Sie mir nur eine derartige Unhöflichkeit zutrauen! Die Sache war ganz einfach. Wir 97
werden doch deshalb von der Partei geschützt, weil wir von der Armee überwacht werden – das ist der besondere Vorteil und der typische Leerlauf dieser Geheimorganisationen. Ich habe mich ganz einfach draußen unter das Volk gemischt – die Beschützer waren neben mir und die Bewacher hinter mir her. Ich brauchte also nur über einen der Bewacher kräftig zu stolpern – daher diese paar Tropfen Blut -, und schon waren die Beschützer gezwungen, für mich die Fäuste zu schwingen. Die Burschen haben sich gegenseitig nicht schlecht bearbeitet!« »Jetzt brauche ich auch einen doppelten Whisky«, sagte Reiners. »Aber machen Sie schnell!« riet ihm Charly. »Der Weg ist für uns jetzt frei – also hinein ins Vergnügen.« »Im Rundfunk wird eine wichtige Meldung aus Moskau erwartet«, sagte Reiners. »Ich möchte Sie nicht versäumen.« »Na schön«, brummte Charly zustimmend. »Wenn Sie durchaus wollen! Aber wie diese Meldung lauten wird, weiß ich – das weiß ich seit fünfzehn Jahren. Solange kenne ich schon die Klaviatur dieser Friedensgangster.« »Ihre Melodie, Charly, ist mir auch schon seit ungefähr fünfzehn Jahren bekannt«, sagte Reiners, der Vorurteile jeglicher Art verabscheute, unfreundlich. Der Amerikaner lachte ungekränkt und trank seinen Whisky mit sichtlichem Genuß. »Doktor«, sagte er, »da wir gerade wieder einmal dabei sind, uns mit schöner Offenheit die Zeit zu verkürzen: wie ist das mit dem Telegramm, das Sie vorhin erhalten haben. Das stimmt doch: Bonn erwartet Sie zum Bericht! Irgend etwas anderes kann dieses sinnige ›Ich brauche dich‹ doch nicht bedeuten.« 98
»Sie wollen mir wirklich nicht glauben, Charly, daß es sich hierbei um eine ganz persönliche, rein private Angelegenheit handelt – und daß sich hinter dem Namen Constance keine Regierungsstelle verbirgt, am wenigsten ein Ministerium?« »Aber ich bin doch nicht von vorgestern, Doktor«, erklärte der Amerikaner gemütlich. »Seit einigen Jahren pendeln Sie munter zwischen Ost und West einher, parlieren in Moskau und Paris, lassen sich hier mit einem Parteisekretär, dort mit einem Bundeskanzler fotografieren, kreuzen bei der UNO auf und bei der großen sowjetischen Landwirtschaftsausstellung – dabei weiß jeder, daß Sie für Bonn arbeiten.« »Tue ich das?« fragte Reiners lächelnd. »Tun Sie das etwa nicht?« sagte Charly überzeugt. »In Bonn sitzt die für mich zuständige Regierung«, sagte Reiners. »Ich habe keinerlei Veranlassung, sie nicht zu respektieren und ihr illegal gegenüberzustehen – aber das ist vielleicht auch schon alles.« »Sie sind der geborene Amerikaner, Doktor!« sagte Charly anerkennend. »Auch wir könnten auf unsere Regierung schimpfen, daß die Wände wackeln. Aber wehe dem, der es wagen sollte, die Verfassung anzutasten. Die Regierung ist für uns ein Haufen bezahlter Angestellter – die Verfassung aber ist tabu.« »Um diese Einstellung beneide ich Sie«, sagte Michael Reiners. »Bei uns gibt es leider Leute, für die ist die Regierung gleichbedeutend mit Volk und Vaterland; und im Regierungschef wollen sie unbedingt einen Landesvater sehen.« »Bitte um etwas mehr Ruhe!« rief mit hoher Stimme ein Norddeutscher. »Wir wollen die Nachrichtensendung aus Moskau hören!« 99
Charly holte tief Luft. »Lassen Sie ihn, Charly«, sagte Michael Reiners besänftigend. »Es ist unser Rundfunkkorrespondent. Seitdem er wegen verschärfter Zensur nicht mehr laufend telefonieren kann, ist er ziemlich gereizt.« »Wenn der Junge einen Riecher hätte«, sagte der Amerikaner, »wüßte er, was jetzt kommt – aber der kann offenbar nur telefonieren.« »Moskau wird auf die polnische Note antworten«, sagte einer aus dem Dutzend, die den Radioapparat neben der Bar umlagerten. »Na-und?« rief Charly. »Natürlich werden die Sowjets antworten – und was sie antworten werden, kann sich jeder einigermaßen erfahrene Journalist aus den Fingern saugen.« »Ruhe!« rief einer aus der Reihe der Jüngeren. »Moskau beginnt.« Er und mehrere seiner Zunftgenossen beugten sich gespannt vor und pafften dicke Rauchwolken in die Luft. Selbst der Verkäufer hinter der Bartheke unterbrach seine Tätigkeit. »Mir jetzt einen Wodka!« rief Charly demonstrativ. »Hier ist Radio Moskau«, röhrte der Radioapparat mit voller Lautstärke. »Die Regierung der UdSSR hat durch ihren Botschafter in Warschau der polnischen Regierung folgende Note überreicht.« »Hoffentlich haben sie nicht die bewährten faschistischen Elemente vergessen?« sagte Charly. Faschistische Elemente in der polnischen Armee – so sagte der Sprecher – sind zu offenen Feindseligkeiten gegen die sowjetischen Stationierungstruppen in Polen übergegangen. Die gleichen Kräfte versuchen, die 100
polnische Bevölkerung gegen ihre Regierung und gegen den im Geiste echter Freundschaft am 22. Juli signierten Stationierungsvertrag aufzuhetzen. »Und so etwas«, sagte Charly, »erfüllt natürlich eine verantwortungsbewußte Regierung mit heftiger Besorgnis.« Mit aufrichtiger Besorgnis – so sagte der Sprecher – stellt die sowjetische Regierung fest, daß die Regierung der Volksrepublik Polen nicht mehr Herr der Lage zu sein scheint. Die Regierung der UdSSR fordert die Regierung der Volksrepublik Polen auf, unverzüglich alle Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, die Feindseligkeiten gegen die sowjetischen Truppen sofort zu unterbinden und die sowjetfeindlichen Demonstrationen abzustellen. Sollte sich erweisen, daß die polnische Regierung bis 24.00 Uhr nicht in der Lage ist, die Forderungen der sowjetischen Regierung zu erfüllen, wäre die Regierung der UdSSR gezwungen, im Interesse der Erhaltung des Weltfriedens und zur Sicherung der Einheit des sozialistischen Lagers mit allen gebotenen Mitteln für die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung in der Volksrepublik Polen Sorge zu tragen. »Das bedeutet: bewaffnete Auseinandersetzung!« rief einer der Journalisten, die den Apparat umlagerten. Charly war bemüht, Gelassenheit zu bewahren: »Hat etwa jemand geglaubt, die Sowjets würden den Polen vorschlagen, mit ihnen den Stationierungsvertrag auszupokern?« »Und jetzt?« fragte Reiners. »Packen wir unsere Koffer!« sagte Charly. »Was jetzt hier geschehen wird, weiß ich auswendig. Ich bin kein Akteur, schon gar nicht bei dieser Schmiere. Ich 101
bevorzuge Logenplätze.« »Gut«, sagte Reiners. »Fliegen wir also nach Berlin.« »Vorher jedoch«, sagte Charly, »mischen wir uns noch ein wenig unter das Volk. Mich interessiert, wie hoch die Herzen schlagen – und in welche Richtung!« An diesem Abend hatte sich Wolf Beck noch einmal in der Wohnung seiner Frau eingefunden. Behaglich saß er im Wohnzimmer, während sich Constance eine Art Abendkleid anzog. Sein Besuch hatte mehrere Gründe. Zunächst einmal wollte er Constance weiterhin gütig und geduldig zureden und sie in ihrer Zustimmung, sich von ihm zu trennen, bestärken – was bei Constance sicher nicht überflüssig war. Dann aber wollte Wolf wieder einmal Mutter Schwieferts Schweinebraten mit Knödel auf böhmische Art essen. Und schließlich wollte er endlich einmal in Ruhe die Nachrichten hören. Wolf Beck rauchte genußvoll eine Zigarre. Mutter Schwiefert deckte den Tisch. »Eigentlich schade«, sagte er, »daß auch Sie mich im Stich lassen, Mutter Schwiefert.« »Niemand hier läßt Sie im Stich«, sagte Mutter Schwiefert gemütlich, »und das wissen Sie auch ganz genau. Sie trennen sich von der gnädigen Frau, weil sie nicht zu Ihnen paßt – aber das hätten Sie schon früher wissen können, nämlich vor Ihrer Heirat. Das hätte Ihnen vermutlich viel Geld und Zeit erspart.« »Und mich um Ihren Schweinebraten gebracht!« Wolf Beck lachte unbekümmert; er mochte Mutter Schwiefert – und nicht nur ihrer Kochkünste wegen. »Warum sollten Sie eigentlich nicht zu mir kommen?« fragte er. »Weil ich hier nötiger gebraucht werde«, sagte Mutter Schwiefert. »Und außerdem fühle ich mich hier wohler – Sie kommandieren mir zuviel herum.« 102
»Constance kann glücklich sein, Sie zu haben«, sagte Wolf Beck. »Aber wenn einmal Umstände eintreten, die Ihren Aufenthalt hier unangenehm machen sollten, Mutter Schwiefert, schicken Sie mir einfach eine Karte oder ein Telegramm. Das Reisegeld kommt postwendend, und Sie ziehen zu mir nach Kairo. Dort können Sie sechs baumlange Nubier kommandieren und mit einem Cadillac einkaufen fahren, am Fuße der Pyramiden Kaffee trinken und auf Kamelen reiten.« »Ich halte nicht viel von Kamelen«, sagte Mutter Schwiefert, »und ich habe erst recht kein Verlangen danach, auf ihnen zu reiten.« Im Radioapparat wurde die Nachrichtensendung angekündigt. »Vielleicht«, sagte Wolf Beck, »sprechen wir später noch mal darüber; jetzt möchte ich ein paar Minuten ungestört zuhören.« Der Nachrichtensprecher begann: Die Lage in Warschau ist nach wie vor ungeklärt. Da die polnische Regierung eine Nachrichtensperre verhängt hat, besteht praktisch keine direkte Verbindung mehr mit Warschau. Wie aus tschechischen Quellen verlautet, hat der Sejm, der um neunzehn Uhr wieder zu einer Sitzung zusammengetreten ist, das Ultimatum des Befehlshabers der Stationierungstruppen abgelehnt und die polnische Note an Moskau einstimmig gebilligt. Zu der Parlamentssitzung waren etwa fünfzig Abgeordnete der polnischen Arbeiterpartei nicht mehr erschienen. Soeben wird bekannt, daß zur Stunde von Radio Moskau eine scharfe, ultimative Note der sowjetischen Regierung veröffentlicht wird. Nachdem Wolf diese Nachricht vernommen hatte, saß er längere Zeit nachdenklich da. 103
Er bemerkte nicht, daß Constance eingetreten war. Er sagte, als habe er soeben eine Rechnung abgeschlossen: »Lohnt sich nicht!« »Was lohnt sich nicht?« fragte Constance; und das klang fast ein wenig gekränkt. Wolf blickte zu ihr hin und stand auf. Er betrachtete Constance. Sie war, fand er, wirklich schön – zart, anmutig und graziös wie Mozartmusik. Doch er wußte, was sich dahinter verbarg; und das dämpfte seine Begeisterung. »Du wirst immer schöner«, sagte er galant. »Aber was lohnt sich nicht?« wollte Constance wissen. Wolf zuckte mit einer Schulter. »Ich habe gerade Nachrichten gehört«, sagte er. »In Polen kitzeln Zwerge die Fußsohlen eines Riesen, von dem bekannt ist, daß er keinen Spaß versteht.« »Was soll das heißen?« fragte Constance erstaunt. »Unruhen«, sagte Wolf Beck und schnupperte mit Wohlbehagen den Duft des Schweinebratens ein. »Alle paar Wochen gibt es irgendwo auf der Welt Unruhen. Das ist gewöhnlich ein guter Zeitpunkt für bestimmte geschäftliche Transaktionen. Aber in diesem Fall lohnt sich das nicht. Sowjetrußland ist kein interessanter Geschäftspartner – zu festgefahren, zuwenig wendig, durchkontrolliert bis zur letzten Schraube. Breitet sich allerdings diese Sache weiter aus, etwa bis nach Mitteleuropa hinein, dann könnten sich unter Umständen interessante Objekte anbieten.« »Aber in Warschau«, sagte Constance bestürzt, »hält sich doch Michael auf!« »Sicherlich nicht mehr lange«, sagte Wolf unbekümmert. »Er wird deinem Ruf folgen und 104
hierherkommen. Außerdem: was heißt denn schon Unruhen! Die Zahl der Todesopfer ist dabei zumeist äußerst gering – was sind ein paar hundert Menschen bei drei Millionen Einwohnern, die Warschau hat. Die Chance für Michael steht eins zu hunderttausend! Wir können beruhigt unseren Schweinebraten essen – den ganzen Tag freue ich mich schon darauf!« Martin saß im Familienkreis beim Abendessen und schien niemanden zu sehen – nicht einmal das Abendessen. Er löffelte mechanisch seine Suppe und schob dann, als er damit fertig war, den Teller von sich. Er stützte sich auf die Unterarme und blickte versonnen auf die Wand. Die Mutter lächelte darüber. Seine kleine Schwester starrte ihn verwundert an. Und der Vater konnte nur verständnislos den Kopf schütteln; seitdem Mutter kurz entschlossen seinen Radioapparat zertrümmert hatte, gab es nichts mehr, das ihn noch erregen konnte. »Kommst du nachher mit?« wollte er von seinem Sohn wissen. »Was?« fragte Martin aufgeschreckt. »Ob du nachher mitkommst, will ich wissen.« »Warum?« fragte Martin unkonzentriert. »Wohin soll ich mitkommen?« »Heute abend«, sagte der Vater spöttisch, »trifft deine Dame bestimmt nicht mehr hier ein – wenn sie überhaupt kommt; was ich mir an ihrer Stelle noch sehr überlegen würde. Aber wahrscheinlich weiß sie noch gar nicht, daß du außer deinen Puppen kaum noch irgendwelche Interessen hast, nicht einmal politische – und das in unserer Zeit!« »Welche Dame?« wollte die kleine Schwester wissen. 105
»Ihr sollt essen«, sagte die Mutter streng. »Die Kartoffeln werden sonst kalt, und dann schmecken sie nicht mehr.« Martin jedoch aß fast nichts. Er sah jetzt zum Fenster hinaus, dorthin, wo der Stadtberg mit der Wetterwarte liegen mußte und dahinter der Schleifenberg, weiter rechts die Sternwarte und ganz rechts das Haus, in dem Luther übernachtet hatte, als er auf dem Weg nach Worms war. Er freute sich darauf, das alles Maria zu zeigen. Das und vor allen Dingen das Spielzeugmuseum! Einmal würden dort auch Modelle von ihm stehen; dessen war er sicher. Was hatten er oder Maria mit der Politik zu schaffen? Sie interessierten sich nicht dafür – fertig! Und das war so, weil sie sehr schnell gespürt hatten, daß sie sich dafür nicht interessieren durften, wenn sie ihre Gemeinsamkeit nicht gefährden wollten. Das war ihnen gleich bei ihrem ersten längeren Gespräch klargeworden, das sie auf »Marias Bank« miteinander geführt hatten – die dann »ihre« Bank werden sollte. Damals wußten sie noch sehr wenig voneinander. »Und wenn Ihr Urlaub vorüber ist«, fragte Maria damals, »was machen Sie dann?« »Dann«, sagte Martin gedehnt, »gehe ich wieder zurück – ins Ausland.« »Wieso?« fragte Maria bestürzt. »Wo leben Sie denn?« »In Thüringen«, sagte Martin. »Und dann sprechen Sie vom Ausland?« sagte Maria. »Ist das nicht so?« fragte Martin zurück. »Wenn Sie in 106
die Schweiz wollen oder sogar nach Frankreich, mit dem wir doch mehrmals im Krieg gelegen haben – nun gut, dann fahren oder fliegen Sie eben dorthin. Ohne große Formalitäten. Aber wenn Sie zum Beispiel nach Sonneberg wollen – was meinen Sie, was für Schwierigkeiten Sie da haben? Wohl nirgendwo auf der Welt wird heute so infam geschimpft, intrigiert und gehetzt wie zwischen Deutschen und Deutschen.« »Haben wir beide irgend etwas damit zu tun?« fragte Maria. »Nein«, gestand Martin überrascht. »Dann wollen wir auch nicht weiter darüber sprechen«, sagte Maria. Und es schien, als sei damit dieses Thema erledigt. Beide wollten nichts dulden, das ihre Kreise störte. »Du könntest wirklich nachher mitkommen«, sagte jetzt der Vater zu seinem geistesabwesenden Sohn. »Ich treffe mich mit ein paar gleichgesinnten Kollegen im Gasthof zur Wurzelbürste. Es muß irgend etwas unternommen werden – darüber sind wir uns einig. Du hast doch sicher die letzten Nachrichten gehört.« »Warum sollte ich das?« fragte Martin gedankenverloren, um dann mechanisch hinzuzufügen: »Ist denn irgend etwas Besonderes los?« Der Vater ließ seine Gabel, die er zum Munde führen wollte, sinken. »Weißt du etwa nicht, was in Polen vor sich geht?« »Weißt du das?« fragte Martin. »In Polen, mein Junge«, sagte der Vater, »ist eine Art Revolution im Gange.« »Ist denn so etwas erlaubt?« »Dort kämpfen die Arbeiter und Bauern um ihre 107
Existenz!« »Tun sie das nicht immer?« »Junge«, sagte der Vater, »du bist entweder völlig unfähig, politisch zu denken …« »Das kann schon sein«, gab Martin zu. »… oder aber: du bist politisch verseucht!« »Auch das ist möglich«, sagte Martin friedlich. »Ich jedenfalls«, sagte der Vater, »werde mich jetzt mit meinen Arbeitskameraden besprechen. Wenn es not tut, werden wir uns mit unseren polnischen Freunden solidarisch erklären.« »Ist das angeordnet?« fragte die Mutter, die aus Erfahrung zur Vorsicht neigte. »Ach was!« rief der Vater aufgebracht. »Es wird endlich Zeit, daß unsere Brüder im Westen Respekt vor uns bekommen. Sie halten uns für Duckmäuser, Kriecher und Herdenvieh – das muß sich gründlich ändern!« Es war 21.00 Uhr. In Washington traf das stündliche Kabel des amerikanischen Stadtkommandanten von Berlin mit militärischer Pünktlichkeit ein. Sein Text lautete: Die Lage in Ost-Berlin ist unverändert. In West-Berlin herrscht Ruhe. Ruth Winters hatte in Hamburg in ihrem Lieblingslokal, dem »Fasan«, zu Abend gegessen – und zwar allein, worüber sie sehr zufrieden war. Es hatte Meerestiere gegeben, darunter Austern, und eine halbe Flasche Chablis. Den Kaffee nahm sie auf der Terrasse an der Alster. Sie stand am Geländer und sah in den Fluß. Ein Kellner, der sie kannte, näherte sich ihr. »Sie werden am Telefon verlangt, gnädige Frau«, sagte er. »Wer will mich sprechen?« fragte Ruth Winters. 108
»Herr Bernhardt«, sagte der Kellner. »Haben Sie ihm gesagt, daß ich hier bin?« fragte sie. Der Kellner lächelte diskret. »Ich habe Herrn Bernhardt gesagt, daß ich nachsehen würde, ob Sie hier wären.« »Dann ist es gut«, sagte Ruth erleichtert. »Teilen Sie ihm bitte mit, daß Sie nachgesehen haben – ich sei aber nicht hier.« »Selbstverständlich, gnädige Frau«, sagte der Kellner, nahm ein Trinkgeld entgegen und entfernte sich wieder. Die Unruhe, die sie bei der Nennung von Bernhardts Namen überfallen hatte, wollte nicht von ihr weichen. Sie hätte sich niemals mit ihm einlassen dürfen, sagte sie sich. Und unter keinen Umständen durfte Wolf Beck von der Existenz dieses Mannes und ihren Beziehungen zu ihm erfahren. Sie hatte ihr blutrotes Seidenkleid angezogen, das mit raffiniert gelegten Falten ihre Figur sehr betonte; es wirkte fast ein wenig zu auffällig, aber sie hatte es gern. Es war das Kleid, in dem sie eine Anzahl mehr oder weniger – zumeist weniger – erfreuliche Eroberungen gemacht hatte. Sie trug es immer dann, wenn gerade kein Mann für sie existierte. Und zumeist trug sie es nur einen Abend lang und dann für längere Zeit nicht mehr. Ein vergleichsweise noch junger Mann, der am Nebentisch saß und sie verbindlich lächelnd fixiert hatte, stand auf und näherte sich ihr. Er mußte, seiner Figur und seinem sicheren Auftreten nach zu schließen, Marineoffizier, Sportlehrer oder ein reicher, unabhängiger Nichtstuer sein – einer jener Männer jedenfalls, die erfahrungsgemäß amüsant und leicht zu beeinflussen waren. »Gestatten Sie?« fragte er. 109
»Nein«, sagte Ruth Winters kühl. Er zog sich verwirrt zurück. Sie zahlte und ging hinaus. Vor dem Eingang stand Bernhardt neben seinem Wagen und sah ihr entgegen. »Du machst es dir ein wenig zu einfach, meine Liebe. Aber bei mir kannst du damit nicht landen.« »Was willst du denn!« rief sie wütend. »Immer noch dasselbe«, sagte Bernhardt lächelnd und öffnete die Tür seines Wagens. »Sei vernünftig oder es kommt dich teuer zu stehen!« Er packte ihren Arm und schob sie in das Auto hinein. Um 21.30 Uhr fand in Bonn eine Sondersitzung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland statt. Um 21.30 Uhr fand außerdem eine Sondersitzung der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik statt, in Pankow. Hier führte der Bundeskanzler den Vorsitz, dort der Ministerpräsident. Beide waren zuversichtlich. Auf beiden Sondersitzungen wurde ein Überblick über die Lage gegeben. Dem Bundeskanzler wie auch dem Ministerpräsidenten wurde versichert, daß in ihren Bereichen zwar Ruhe herrsche, daß man aber nicht genau wisse, was an anderer Stelle geplant werde. Mit »anderer Stelle« bezeichneten die aus dem Osten die im Westen, und umgekehrt. So höflich gingen sie miteinander um, wenn die Öffentlichkeit keinen Zutritt hatte. Die Mitarbeiter des Bundeskanzlers stellten einen Aufruf an die ostzonale Bevölkerung zur Debatte. Die Genossen des Ministerpräsidenten empfahlen vorsorglich einen Aufruf an die Menschen in Westdeutschland, soweit sie friedlich gesinnt seien. Über den Inhalt eines derartigen Aufrufes konnte sich keine 110
Seite einigen. Einer in Bonn sagte: »Ein solcher Aufruf könnte im Augenblick eher Panik als Besonnenheit hervorrufen.« Und einer in Pankow sagte ungefähr das gleiche. So waren sie sich einig, ohne sich einigen zu können. »Jedenfalls«, sagte der Ministerpräsident, »wird uns jede Lage vorbereitet finden.« »Es sieht fast so aus«, sagte der Bundeskanzler, »als ob man sich ziemlich gründlich auf eine derartige Situation vorbereitet hat.« Der Regierende Bürgermeister von West-Berlin versicherte: »Kein Grund zur Besorgnis.« Der verantwortliche Oberbürgermeister von Ost-Berlin erklärte: »Nur keine Aufregung.« Die beiden »Kleinen«, Isolde, die Tochter von Mutter Schwiefert, und ihr Freund Otto, den sie Peter nannte, schlenderten Hand in Hand durch die Uhlandstraße. Sie gingen sehr langsam und sprachen nur wenig. Gelegentlich schauten sie in den Mond. »Du, Peter«, sagte Isolde; sie blieb an einer Litfaßsäule stehen, lehnte sich gegen sie und befand sich jetzt dem Jungen genau gegenüber, der ein wenig zurückwich, aus Höflichkeit, um sich nicht aufzudrängen. »Was würdest du zum Beispiel tun, wenn ich verreisen würde?« »Dann würde ich dir nachreisen«, sagte Peter. »Aber wenn ich ganz weit wegfahren müßte?« »Weiter als bis Köln?« »Viel weiter!« sagte Isolde und blickte ihn forschend an. »Das macht auch nichts«, sagte Peter. »Dir fahre ich sogar bis Paris nach.« 111
»Du bist ein guter Junge«, sagte Isolde. »Du denkst und handelst wie ein richtiger Mann. Du würdest mich nicht einsam unter den Wilden leben lassen.« »Aber niemals!« rief Peter und wurde gleich heftig verlegen. Diese Regung versuchte er mit Macht zu überspielen. »Doch weshalb – Wilde? Du willst doch nicht etwa nach Afrika?« »Ich will bei dir bleiben«, sagte Isolde feierlich. »Aber es kann durchaus sein, daß ich nach Afrika muß – und zwar zu den Nubiern!« »Was willst du denn bei denen?« erkundigte sich Peter verwundert, wobei er das Wort »Nubier« geschickt vermied, das er nicht kannte und unter dem er sich nichts Rechtes vorstellen konnte. »Sieh mal, Peter! Meine Mutter ist doch bei Frau Schubert; aber die Frau Schubert heißt eigentlich Beck, wenn auch wohl nicht mehr lange. Der Herr Beck nun ist ein schwerreicher Mann und hat eine Villa in Kairo und mindestens sechs Nubier. Und er hat gesagt, Mutter soll zu ihm kommen; das habe ich ganz deutlich gehört. Sie wird dann mit den Nubiern einkaufen gehen, im Cadillac fahren, bei den Pyramiden sitzen und Kamele reiten.« »Na schön«, sagte Peter entschlossen, »dann komme ich eben mit. Eltern habe ich nicht, den Verwandten liege ich dauernd zur Last, sagen sie, und meine Lehrzeit als Mechaniker ist auch vorbei. Hier braucht mich keiner.« »Ich werde dich immer brauchen!« versicherte Isolde. »Na ja«, sagte Peter. »Darf ich dir jetzt einen Kuß geben?« »Vielleicht in Ägypten«, sagte Isolde und lachte zufrieden. Um 22.00 Uhr fand im NATO-Hauptquartier die »vierte 112
außerordentliche Lagebesprechung« des Tages statt. Der Abwehrchef, ein französischer General, trug seinen Bericht vor, als handele es sich um eine liebenswürdige Plauderei über Literatur. Das Protokoll seiner Ausführungen, das dann in mehreren Sprachen angefertigt und verteilt wurde, las sich keineswegs wie ein Feuilleton. Es lautete: Die in der sowjetischen Note angegebene Frist, die auf Mitternacht angesetzt war, ist nicht eingehalten worden. Russische Truppen haben die polnisch-sowjetische Grenze vor kurzem bei Przemysl, Brest und Grodno überschritten. Sie sind in heftige Kämpfe mit Teilen der polnischen Armee verwickelt. In Pommern und Schlesien sind ebenfalls Gefechte zwischen polnischen und russischen Truppen im Gange. Zunächst ist damit zu rechnen, daß die polnischen Truppen gegenüber den sowjetischen Stationierungseinheiten die Oberhand behalten werden. Es muß jedoch angenommen werden, daß die aus der Sowjetunion heranrückenden russischen Verbände spätestens in den Vormittagsstunden des morgigen Tages die Vorstädte von Warschau erreichen. Nach diesem Bericht schwieg der Oberbefehlshaber geraume Zeit; und es hatte den Anschein, als tue er das nur, um den anwesenden Offizieren ausreichend Gelegenheit zu geben, über das Vorgetragene nachzudenken. »Herr General«, fragte er dann den Abwehrchef, während der Protokollführer auf seinen Wink hin mitschrieb, »wie ist die Lage in den übrigen Satellitenstaaten?« »In den übrigen Satellitenstaaten«, sagte der französische General ohne zu zögern, »sind vorerst 113
keine Anzeichen innerer Unruhen zu bemerken.« »Dann«, sagte der Oberbefehlshaber, »besteht die Hoffnung, den Konflikt vom Territorium der NATO fernzuhalten.« In dieser Nacht brannten die Lichterketten in den Straßenzügen der Städte Mitteleuropas wie in tausend Nächten vorher. Millionen Lampen erhellten Lokale, Stuben und Fabriken. Die Scheinwerfer der Autos drängten sich durch die Dunkelheit, die der Leuchttürme und Flugplätze zuckten unruhig über Wasser und Land. In den Zeitungshäusern dröhnten die Rotationsmaschinen, in den Elektrizitätswerken surrten die Turbinen. Wie in allen Nächten vorher nahmen sich auch in dieser Menschen ihr Leben, andere starben unter den Händen von Mördern. In Kliniken drängten neue Lebewesen ans Licht der Welt. In Polen brannten Dörfer und Städte. Maschinengewehre ratterten durch die Nacht; Panzer dröhnten über die Straßen, erschütterten die Häuser und trieben Menschen in die Keller; Flammenwerfer zischten, färbten den Himmel blutrot, verbrannten Menschen zu Asche und schienen riesige Fahnentücher aus Rauch und Feuer zu entfalten. Tausende starben so in dieser Nacht. Aber nur wenige hörten sie. Michael Reiners saß an einem Fenster der Maschine, die von Warschau nach Berlin flog. Er hatte den Kopf an das dicke Glas gepreßt und versuchte hinauszusehen. Aber er sah nichts als Dunkelheit. »Was wollen Sie eigentlich, Doktor«, sagte Charly, der neben ihm saß, »die Sicht ist schlecht, aber schließlich haben Sie ja Ihre Phantasie. Können Sie sich nicht 114
vorstellen, was jetzt dort unten passiert?« Reiners antwortete nicht und starrte weiter in die Nacht. Er spürte, wie Müdigkeit auf ihn zukroch. »Versuchen Sie zu schlafen«, sagte Charly und gähnte. »In den nächsten Tagen, schätze ich, werden wir nicht allzuviel Gelegenheit dazu finden.« Wolf Beck schlenderte mit Constance Schubert über den immer noch hellerleuchteten Kurfürstendamm. Sie waren im Schiller-Theater gewesen, wo eine ausgezeichnete Shakespeare-Inszenierung von Fritz Kortner gegeben worden war; selbst Wolf hatte nur selten gegähnt, was ein sicheres Zeichen für einen mitreißenden Theaterabend war. Sie hatten dann einen Kaffee und ein Glas Champagner getrunken und noch ein wenig geplaudert. »Nein«, sagte Wolf nachdenklich, »es lohnt sich wirklich nicht. Mit der Sowjetunion soll man nur direkte Geschäfte machen – keine indirekten.« »War die Gorvin nicht großartig?« fragte Constance versonnen. »Gewiß«, sagte Wolf Beck, ohne zu zögern. »Sie ist als Schauspielerin, wenn sie richtig eingesetzt wird, eine gute und sichere Kapitalsanlage. Und das sagt eigentlich schon alles.« »Stimmt«, sagte Constance und sah ihn an. »Das sagt alles.« Maria schlief schon seit zwei Stunden. Sie lag auf dem Rücken und schien zu lächeln. Der Rucksack, der in ihrer Kammer auf dem kleinen Stuhl stand, war fast fertig gepackt. Morgen, in aller Frühe, konnte sie aufbrechen. Und während Maria traumlos und fest schlief, stand Martin am Fenster seines Zimmers und sah in die Nacht, 115
als könne er dort Maria sehen. Die Stadt schlief friedlich. Der Himmel war sternenklar. Auch Luther, dachte Martin, hatte einst hier auf dieser Erde, unter diesem Himmel gestanden und die Sterne betrachtet. Er hörte Schritte. Der Vater kam, von zwei Freunden begleitet, nach Hause. Unter Martins Fenster verabschiedeten sie sich ausgedehnt. »Wir müssen uns mit ihnen solidarisch erklären«, sagte der eine, »das ist unsere Pflicht. Und dafür darf uns kein Opfer zu groß sein.« »Wir sind uns einig«, sagte Martins Vater. Frau Schwiefert stand vor der Tür des Hauses und wartete auf ihre Isolde. Sie tat das ohne Ungeduld, mehr aus dem Verlangen, sich noch ein wenig die Füße zu vertreten. Ein altes Weib wie ich, hatte sie sich gesagt, kann doch nicht einfach in den Mond starren – aber eine Nacht wie diese verführt dazu! Sie sah die beiden »Kleinen« kommen; genau wie vor Stunden schlenderten sie auch jetzt Hand in Hand. »Höchste Zeit!« rief ihnen Mutter Schwiefert entgegen. Die beiden kamen auf sie zu und blieben vor ihr stehen. Sie sahen sie erwartungsvoll an, ohne ein schlechtes Gewissen zu verraten. Mutter Schwiefert schwieg. »Na ja«, sagte Peter schließlich, durch das Schweigen dazu herausgefordert, »es ist meine Schuld – ich habe nicht auf die Uhr gesehen. Wir waren noch im Zoo.« »Ist er nicht ein guter Junge?« fragte Isolde strahlend. »Und immer so ritterlich!« »Wir wollen es hoffen«, sagte Mutter Schwiefert. »Aber einmal müssen schließlich auch die Ritter schlafen gehen.« 116
Ruth Winters lag in ihrem Bett und konnte nicht einschlafen. Sie fühlte sich matt, doch nicht müde. Sie hatte das ekelerregende Gefühl, schweißnaß und schmutzig zu sein. Sie hatte die Decke zur Seite geworfen und sah zum offenen Fenster hin. Von fern her klang das Surren der letzten Autos, die sich durch die Hauptstraße bewegten. Sie überkam das Verlangen, sich eiskalt zu duschen. Das Telefon klingelte. Sie drehte sich herum und starrte in den Raum. Es war die Zeit, um die jene Männer anzurufen pflegten, die sie nie mehr sehen wollte. Das Klingeln setzte sich mit enervierender Gleichmäßigkeit fort. Sie rührte sich nicht. Dann fiel ihr ein, daß es ja auch Wolf Beck sein könnte, der sie noch einmal von Berlin aus sprechen wollte. Nach kurzem Zögern richtete sie sich auf, beugte sich weit vor und nahm den Hörer von der Gabel. »Da bist du ja endlich«, sagte die Stimme von Bernhardt. »Hast du etwa schon geschlafen? Ich wollte nur fragen, wie du dich fühlst. War es nicht herrlich? Nicht wahr – damit sollten wir doch nicht einfach aufhören?« Ruth Winters warf, ohne ein Wort zu sagen, den Hörer auf die Gabel. Sie ließ sich rückwärts fallen. Im Nachbarhaus begann ein Grammophon zu spielen; ein Motorrad knatterte durch die Straße, in der sie wohnte. Und dann begann wieder das Telefon zu klingeln. »Ach!« rief Ruth Winters gequält, »endlich Schluß mit diesem Leben! Möglichst weit weg von hier – und so schnell, wie es geht!« Die Führungsstäbe in Moskau und Fontainebleau schliefen in dieser Nacht nicht oder nur wenig. Die polnischen und die sowjetischen Truppen in Polen hatten 117
sich ineinander verbissen. Niemand war sich darüber im unklaren, daß der andere die Schuld trug. Die einen sprachen von einem Überfall, die anderen ebenfalls: polnische Truppen haben Verbände auf sowjetrussischem Boden angegriffen – sowjetrussische Truppen sind in Polen eingefallen! Hauptmann Müller-Marburg hatte einen anregenden Abend im Kreise einiger Kameraden und deren Damen verbracht. Sie hatten sich ausgezeichnet verstanden. Und diesem kameradschaftlichen Kreis war es sogar gelungen, den Kommandeur zeitweilig vergessen zu lassen. Eine Festlichkeit war geplant worden. Sie sollte glanzvoll und gediegen sein. Die örtlichen Honoratioren von Staat, Verwaltung und den Parteien würden eingeladen werden. Und sagen sollten sie dann alle: Wie in den alten, guten Zeiten! Hauptmann Müller-Marburg litt heimlich darunter, daß in dieser so wenig verantwortungsbewußten Zeit auch die gesellschaftlichen Formen nicht gebührend beachtet wurden. Leider aber mußte er sich allerdings in diesem Augenblick an den Ausspruch seines Kommandeurs erinnern: »Soldaten sind keine Gigolos.« Und Hauptmann Müller-Marburg fragte sich abermals, was wohl zu geschehen habe, damit dieser Kommandeur nicht nur die soldatischen Fähigkeiten seiner Untergebenen wertete, sondern auch ihre menschlichen Qualitäten. Der Gefreite Schulze-Schwerin war inzwischen auch wieder in seine Kaserne »heimgekehrt«, in der er eine für diese nachtschlafende Zeit völlig ungewöhnliche Betriebsamkeit vorfand. Die Korridore und Kammern waren hell erleuchtet. Munition und eiserne Rationen wurden ausgegeben. Einige Offiziere liefen sogar bereits 118
in voller Kriegsausrüstung herum. Es handelte sich vermutlich, sagte sich der Gefreite, um einen der allwöchentlichen Routinealarme. Er zog den Feldanzug an, legte seine Waffen und Ausrüstungsgegenstände bereit und warf sich dann, den Alarm seiner Einheit erwartend, über sein Feldbett. Schulze-Schwerin hatte einen herrlichen Abend erlebt. Er war noch berauscht von Verdis Musik. Ein Erlebnis wie dieses bestärkte ihn in dem Entschluß, die neuen Errungenschaften seines Staates, vor allem auf kulturellem Gebiet, zu verteidigen. Henry Engel stand auf der Terrasse seines Hauses und sah in die Nacht. Er horchte auf das, was hinter seinem Rücken geschah. In der Halle, deren Fenster und Türen weit zur Terrasse hin geöffnet waren, hatte der geschickte Friebe sämtliche im Hause befindlichen Radioapparate, auch seinen kleinen Kofferempfänger, auch den Super aus dem Mercedes, vier im ganzen, nebeneinander montiert. Jeder war auf eine andere Station eingestellt: Moskau, Warschau, Leipzig, Stuttgart. Alle röhrten vor sich hin; jeweils derjenige, der Nachrichten sendete, wurde laut eingestellt. Jetzt um Mitternacht brüllten alle vier. Friebe grinste breit, als er die Nachrichten vernahm. Er blickte zu seinem Herrn hin, der unbeweglich dastand, vom Licht des Hauses umflutet. Stuttgart: … ist mit dem Ausbruch offener Feindseligkeiten zwischen Polen und der Sowjetunion noch in dieser Nacht zu rechnen. Leipzig: … die von kriegstreiberischen Mächten angefeuerte, aber isoliert dastehende polnische Armee … 119
Warschau: … nicht in dem Bemühen nachlassen, das Äußerste zu vermeiden, wenn auch eindeutig feststeht … Moskau: … die aggressive, seit langem bekannte Einstellung gewisser Teile des polnischen Offizierskorps, vor der wir bereits mehrfach gewarnt hatten … »Es ist soweit, Chef!« rief Friebe. Henry Engel drehte sich herum, kam auf seinen Vertrauten zu und sagte: »Stell das ab!« Mit vier Griffen schaltete Friebe die Radioapparate aus. Lastende Stille lag plötzlich im Raum, und die Nacht schien in ihn einzudringen. Henry Engel atmete schwer. »Hoffnungslos«, sagte er. Und damit endete der erste Tag.
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DER ZWEITE TAG Die Uhren Mitteleuropas zeigten 3 Uhr in der Nacht. Das ist die ruhigste von vierundzwanzig Stunden: die Stunde der Ermattung und der Stille, fast ohne Licht, fast ohne Lärm. In Polen aber schliefen nur wenige um diese Zeit. Die Menschen hockten in den Kellern oder knieten in den Kirchen. Sie stolperten über den Acker in den Tod oder warfen sich, um ihm zu entrinnen, auf die Erde. Sie horchten in die Nacht, folgten Kommandos, nahmen telefonische Anweisungen entgegen. Warschau schien keine Nacht zu kennen. Alle Lichter brannten – auch die auf den Straßen und Plätzen, aufgrund einer unmißverständlichen Verlautbarung der Regierung: Wir befinden uns in keinem Krieg. Wir ordnen daher auch keinerlei Kriegsmaßnahmen an. Unsere friedliebende Bevölkerung wird diese Haltung zu würdigen wissen. Was dennoch geschah, wurde als »Schutzmaßnahmen« bezeichnet: verstärkte Polizeistreifen, Bereitschaftsdienste, Werkschutz, freiwilliger Hilfsdienst … Zahlreiche Militärposten standen an Regierungsgebäuden, Brücken, Bahnhöfen und auf verkehrsreichen Plätzen. Die Bevölkerung strömte durch die Straßen, saß in den Gasthäusern, traf sich in Versammlungslokalen, suchte die Gotteshäuser auf oder fand sich in den Wohnungen zusammen. Der Regierungschef, der seit Tagen keinen richtigen Schlaf gefunden hatte, taumelte fast vor Müdigkeit. Er trank kannenweise Kaffee. Obgleich alles entschieden zu 122
sein schien, wartete er. Worauf er wartete, wußte niemand genau. »Vielleicht auf ein Wunder«, sagte einer bitter – und er meinte damit: auf einen Anruf aus Moskau. Das geschah, während Mitteleuropa fast ahnungslos einem neuen Tag entgegenschlief. Ein Tag, der langsam am Horizont heraufkroch. Er würde, wie die Wetterstationen erklärten, wiederum heiter und wolkenlos werden. Charly stand neben Michael Reiners in einem Raum, der zum Flugplatz Schönefeld bei Berlin gehörte. Sie hatten sich an die Wand gelehnt. Ihr geringes Gepäck befand sich auf einem Tisch, an dem sich uniformierte ostdeutsche Zollbeamte aufhielten – aber sie kontrollierten nichts. »Wie lange wollen diese Burschen eigentlich noch so tatenlos herumstehen?« fragte Charly unwillig. »Sie warten vermutlich auf nähere Weisungen«, sagte Reiners. »Das Kurierflugzeug, das wir benutzen konnten, ist hier außerplanmäßig gelandet. Die besondere Situation scheint eine besondere Maßnahme zu erfordern – aber wie die aussehen könnte, weiß vermutlich keiner, der hier tätig ist. Sie werden in Pankow nachfragen oder beim Staatssicherheitsdienst – oder eben gleich bei den Sowjets.« »Und wie lange kann das dauern, Doktor?« Reiners zuckte die Schultern. »Drei Stunden, zwei Tage, eine Woche – wer weiß! Schließlich befinden wir uns in einem Land der unbegrenzten Möglichkeiten.« Charly schien nachzudenken. Er starrte auf die schirmlose Lampe, die von der Decke herunterbaumelte. Er betrachtete aufmerksam die beiden Türen, die offenstanden. Die eine führte auf das Rollfeld hinaus, die andere in Nebenräume. 123
Reiners folgte den prüfenden Blicken seines explosiven amerikanischen Freundes mit einiger Sorge. Er wußte, daß Charly zu überraschenden Attacken neigte. Er musterte kurz die restlichen Passagiere, die ergeben auf einer Bank oder auf Gepäcktischen hockten. Die Beamten standen mürrisch und tatenlos herum. Charly setzte sich plötzlich entschlossen in Bewegung, auf die Tür zu, die auf das Rollfeld hinausführte. Zwei Beamte stellten sich ihm sofort in den Weg. »Kann man denn hier nicht einmal mehr pinkeln!« rief Charly. Er schob die Beamten zur Seite und schritt unbekümmert ins Freie. Die Uniformierten folgten ihm, offenbar gewillt, sein Verlangen zu respektieren, doch zugleich auch entschlossen, ihn nicht aus den Augen zu lassen. »Was soll das?« hörten die Zurückgebliebenen Charly rufen. »Ihr wollt doch nicht etwa dabei zusehen!« Reiners schüttelte seinen Kopf. Charlys Freude an Extravaganzen war nicht ganz unbedenklich – wenn auch zweifellos erheiternd. Bereits auf dem Flugplatz in Warschau hatte er es sich nicht nehmen lassen, innerhalb der »Hintertreppenkomödie«, wie er diesen Vorgang nannte, ein großes Solo in der Zollstation zu geben – er hatte Anstalten gemacht, sein Hemd auszuziehen und zu diesem Zweck begonnen, sich die Hosen aufzuknöpfen. Die Kontrolleure winkten eilig mit großen Gesten ab. Jetzt jedoch, als Charly, vom Rollfeld wiederkommend, den Raum des Ostberliner Flugplatzes betrat, sah er alles andere als unbekümmert aus. Er kam auf Reiners zu und sagte: »Nichts zu machen – überall stehen Posten herum.« »Keine Dummheiten, Charly«, sagte Reiners warnend. »Diese Leute hier haben kein Verständnis für Ihre Sorte 124
von Humor.« Die zu allem entschlossenen Uniformierten, die jung und rücksichtslos aussahen, musterten die Anwesenden. Sie hatten Zeit. Ihre Dienststunden gingen bis gegen Mittag. Dann würden andere kommen, die Zeit hatten. »Doktor«, gestand Charly nach längerem Zögern, »wir müssen hier raus – ich habe ein paar Sachen bei mir, die Dynamit sind. Eine gründliche Kontrolle kann ich mir nicht leisten.« Nachdem Charly das gesagt hatte, beobachtete er genau die Reaktionen des Doktors. Reiners verriet durch nichts, was er dachte. Nicht die geringste Veränderung war in seinem Gesicht zu sehen. Nur die Augen schienen sich zu verkleinern. Dann ging Reiners auf den Beamten zu, der offenbar der Vorgesetzte der anderen war. »Ich möchte telefonieren«, sagte er. »Wir sind hier nicht auf der Post«, erklärte der Uniformierte unfreundlich. Reiners ließ sich dadurch nicht im mindesten beeindrucken. Er holte sein Notizbuch hervor, riß eine Seite heraus und schrieb darauf eine Nummer und einen Namen. »Hier«, sagte er und reichte dem Beamten seinen Zettel. »Verbinden Sie mich mit diesem Herrn.« »Jawohl«, sagte der Beamte nach kurzem Blick. »Sofort. Bitte, folgen Sie mir.« Reiners erschien nach wenigen Minuten wieder. Er nickte Charly zu. Dann beschäftigte er sich mit seiner Zeitung. Etwa vierzig Minuten später betrat ein mittelgroßer, etwas beleibter, wie ein Schullehrer aussehender Mann den Raum, von Beamten flankiert. Er ging auf Reiners zu und begrüßte ihn herzlich. Charly wurde ihm vorgestellt. 125
»Ich bürge für diese beiden Herren«, sagte der Mann. »Sie sind sofort abzufertigen.« Knapp fünf Minuten später verließen sie den Flugplatz Schönefeld bei Berlin. Um 3.30 Uhr verabschiedete sich der polnische General P. vom amerikanischen Botschafter in Warschau. Er beendete seinen zweiten informatorischen Besuch »im Auftrag des Kriegsministeriums«. Er sagte: »Euer Exzellenz dürfen versichert sein, daß das Volk geschlossen hinter uns steht und daß wir Herr der Lage bleiben werden. Deshalb wird sich Moskau davor hüten, ein zweites Ungarn zu riskieren.« Der amerikanische Botschafter zögerte den Abschied seines Besuchers noch ein wenig hinaus. »Und Sie sind davon überzeugt, Herr General, daß ein Waffenstillstand zustande kommen wird?« »Spätestens heute vormittag«, sagte der General. »Und ich darf Sie nochmals nachdrücklich darum ersuchen, Ihrer Regierung von jeglicher Einmischung abzuraten.« »Ich werde über unser Gespräch sofort nach Washington berichten«, versprach der Botschafter und geleitete den General zur Tür. Der General grüßte stumm und korrekt den Botschafter und dessen Mitarbeiter. Dann machte er kehrt und schritt davon. Der Botschafter sah dem General einige Sekunden lang nach. Dann wandte er seinen Kopf und blickte den Militärattache an, der dieser Unterredung beigewohnt hatte. »Versuchen Sie, alle militärischen Einzelheiten, die der General erwähnt hat, aufzuschreiben – möglichst wortwörtlich. Wird das gehen?« »Jawohl«, sagte der Major. »Fangen Sie gleich damit an. Ich muß noch kurz mit 126
den anderen Herren der Botschaft konferieren.« Und während sich der Botschafter in den Nebenraum begab, wo bereits vier seiner Beamten mit Unterlagen auf ihn warteten, fing der Major an, zu schreiben: Der General P. schilderte die Lage wie folgt: Die Operationen gegen die sowjetischen Stationierungstruppen sind außerordentlich erfolgreich verlaufen. Die bei Stolp eingeschlossenen russischen Einheiten sind nach heftigen Kämpfen teils vernichtet, teils gefangengenommen worden. Stettin ist in der Hand der polnischen Armee. Weiteren sowjetischen Verbänden in Pommern und Schlesien, die ebenfalls eingeschlossen sind, wurde ein Ultimatum gestellt. Bis hierher schien der Bericht dem Major keine sonderliche Mühe zu bereiten. Dann jedoch richtete er sich auf und dachte nach. Der Rest der militärischen Ausführungen des Generals P. war wesentlich komplizierter gewesen; keine übersichtlichen strategischen Angaben mehr, sondern mehr Spekulationen, Mutmaßungen – kurz: Äußerungen, die für einen soldatisch denkenden Menschen wie den Major nicht leicht zu fassen waren. Mit gefurchter Stirn schrieb er, ein wenig mühsam, weiter: Die Tatsache, daß von Osten her auf Warschau und Lublin sowjetische Verbände vordringen, schien den General nicht sonderlich zu beeindrucken. »Wie Sie sich selbst ausrechnen können«, sagte General P. wörtlich, »sind unsere Kräfte mit den Operationen in Pommern und Schlesien erschöpft. Wir haben im Osten nur schwache Verbände, die sich hinhaltend kämpfend zurückziehen. Aber wir wissen genau, daß es sich die Sowjetunion nicht leisten kann, Warschau ein zweites 127
Mal zu zerstören. Das wäre das Ende des Warschauer Paktes. Wir können auf unsere Freunde in Prag und Budapest zählen.« Der amerikanische Major war kaum fertig, als der Botschafter wieder das Zimmer betrat. Der Militärattache überreichte seinem Chef wortlos die inzwischen angefertigten Notizen. Der Botschafter las sie aufmerksam durch, ersetzte das Wort »kann« durch »könnte« und sagte dann: »Ich glaube, das ist korrekt.« Der Botschafter dankte dem Major und entließ ihn. Er befahl seine Sekretärin zu sich und begann, anhand seiner Unterlagen den Funkspruch nach Washington zu fixieren. Er meldete die ihm bekanntgewordenen »Facts« und fügte hinzu: Nach mir von Regierungsseite zugegangenen Informationen wird der Optimismus des Kriegsministeriums von der Regierung geteilt. Da im Laufe der Nacht noch weitere Führer sowohl der stalinistischen als auch der zu weiterer Liberalisierung drängenden Gruppen verhaftet wurden, glaubt die Regierung, sicher zu sein, die Volksbewegung unter Kontrolle behalten zu können. Meine Lagebeurteilung geht dahin, daß der polnische Optimismus nur dann gerechtfertigt ist, wenn es heute in den übrigen Satellitenstaaten ruhig bleibt. Es war 3.58 Uhr. Nur wenige Minuten später erreichte der chiffrierte und gefunkte Text Washington. Eine knappe halbe Stunde später befand sich der gleiche Text, nur unwesentlich gekürzt und mit einem zweizeiligen Kommentarversehen, dessen Hauptwort »Nichteinmischung« hieß, in den Händen aller Botschafter der Vereinigten Staaten, die in Europa akkreditiert waren. 128
Um diese Zeit hatte Michael Reiners sein Hotel in West-Berlin erreicht. Charly begleitete ihn und bestand darauf, noch einen Whisky zu trinken. »Ich muß mich erholen«, behauptete er. Sie saßen in der Halle des »Bristol«, und der Nachtportier hatte, »mit Gewalt«, wie er sagte, eine Flasche Red-Label herbeigezaubert. Charly goß zwei Wassergläser halb voll und prostete Michael Reiners zu. »Doktor – Sie sollen leben! Überleben!« Sie tranken sich zu. Der Amerikaner war guter Laune. Er wartete darauf, daß Reiners nach den Dingen fragen würde, die Charly auf dem Flugplatz unter allen Umständen einer Kontrolle entziehen wollte. Aber er merkte sehr bald, daß Reiners nicht den geringsten Wert darauf legte, zum Mitwisser von Geheimnissen zu werden, die möglicherweise gefährlich und dennoch für ihn nutzlos waren. »Doktor«, sagte Charly, »nun mal ganz ehrlich – wer war eigentlich der Mann, den Sie auf den Flugplatz zitiert hatten und der uns dann jede Schwierigkeit aus dem Weg räumte?« »Ein Minister der Ostzonenregierung«, sagte Michael Reiners. »Wirklich?« fragte Charly; seine Stimme klang außerordentlich überrascht. Reiners lächelte. »Mein Lieber«, sagte er, »es ist Ihnen doch bekannt, daß der Mann ein Minister der Pankower Regierung war. Sie wissen auch genau, welches Ressort er bekleidet und wie er heißt. Versuchen Sie doch nicht, mit mir Blindekuh zu spielen.« »Pardon«, sagte Charly und sah zerknirscht aus. »Bin ich undankbar?« »Sie sind, wie Sie sind!« sagte Michael Reiners 129
ungekränkt und mit verständnisvollem Lächeln. Er trank sein Glas aus und erhob sich. »Noch eine kleine, unbedeutende, harmlose Frage am Rande«, sagte Charly gedehnt. »Eine Frage unter alten Freunden. Dieser Minister oder, um ganz deutlich zu sein, dieser stellvertretende Ministerpräsident – trägt er eigentlich, wie sagt man doch gleich bei euch in Deutschland: auf zwei Schultern?« »Lieber Charly«, sagte Reiners abschließend, »bei uns in Deutschland gibt es wohl zwei Regierungen, aber auf beiden Seiten Männer, die überzeugt sind, daß eine davon überflüssig ist.« »Welche?« fragte Charly prompt. »Die schlechtere natürlich«, sagte Reiners und ging in sein Zimmer. Die befohlenen Meldungen des amerikanischen Stadtkommandanten in West-Berlin, die dieser stündlich nach Washington funken ließ, zeigten bisher keinerlei ungewöhnliche oder gar sprunghafte Veränderungen. Gewisse Vorsichtsmaßnahmen im Ostsektor waren zu erwarten gewesen; sie stellten aber keine Besonderheiten dar. Die Meldung jedoch, die um 4.00 Uhr Washington erreichte und dem wartenden Deutschlandexperten vorgelegt wurde, sah wesentlich anders aus. Sie lautete: Von 24.00 bis 2.00 Uhr hat hier in West-Berlin in einer Privatwohnung in der Wilmersdorfer Straße ein sogenanntes Kampfkomitee der freiheitlichen Studenten der Ostberliner Humboldt-Universität getagt. Die Studenten haben für heute früh 8 Uhr Vorlesungsstreiks und Protestdemonstrationen für ihre verhafteten polnischen Kommilitonen beschlossen. Als unsere Sicherheitsorgane von der Zusammenkunft 130
erfuhren, war es bereits zu spät, um einzugreifen. Die Versammlungsteilnehmer waren nach Ost-Berlin zurückgekehrt. Der Wohnungsinhaber sagte bei seiner Vernehmung aus, daß die Studenten noch heute nacht Verbindung mit einigen ihnen befreundeten Betriebsräten Ostberliner Fabriken aufnehmen werden. Demnach muß mit Unruhen in Ost-Berlin gerechnet werden. Der zuständige Experte in Washington las diese Meldung mit unbeweglichem Gesicht zweimal durch. Daraufhin führte er unverzüglich mehrere Telefongespräche. Dann kabelte er nach Berlin zurück: Nehmen Sie sofort Rücksprache mit dem britischen und französischen Kommandanten. Ziehen Sie zu diesen Besprechungen den Westberliner Polizeipräsidenten hinzu, soweit seine Mitwirkung gebraucht wird. Setzen Sie, wenn nötig, die alliierten Einheiten in Berlin in Alarmzustand. Veranlassen Sie eine möglichst umfassende Überwachung dieser freiheitlichen Studenten und versuchen Sie, ihre Aktionen zu verhindern. Kabeln Sie ab sofort besondere Ereignisse unverzüglich und nur Routinemeldungen stündlich. In dem Augenblick, da Reiners sein Zimmer betrat, klingelte das Telefon. Er schaltete die Deckenbeleuchtung ein, hob den Hörer ab und meldete sich. »Hier spricht Conrad«, sagte eine Stimme, die Michael Reiners noch niemals vorher gehört hatte. »Ich habe Ihnen Grüße von Tante Elfriede zu übermitteln.« »Leider kann ich zu ihrem Geburtstag nicht kommen«, sagte Reiners mechanisch. Damit war in der schon seit langem vereinbarten Form der Kontakt zu K 2 hergestellt. K 2 war Conrad. Conrad war der Vertrauensmann von G. 131
M.. dem stellvertretenden Ministerpräsidenten der Regierung der DDR. Er hatte die Verbindung zwischen Reiners und G. M. aufrechtzuerhalten, denn direkte Telefongespräche zwischen West-Berlin und Ost-Berlin waren nicht möglich. Der stellvertretende Ministerpräsident hatte also in Ost-Berlin Conrad beauftragt, Doktor Reiners in West-Berlin anzurufen. »Herr Doktor«, sagte nunmehr Conrad, »G. M. muß Sie sprechen. Er konnte Ihnen, in Gegenwart Ihres amerikanischen Freundes, nicht alles sagen, was zu sagen war.« »Ich stehe ihm zur Verfügung – selbstverständlich«, sagte Michael Reiners ohne zu zögern. »G. M. bittet Sie, Berlin nicht zu verlassen, ohne mit ihm gesprochen zu haben.« »Sie werden mich jederzeit erreichen können«, sagte Reiners. »Die Telefonzentrale des Hotels wird immer wissen, wo ich mich aufhalte.« »Sie hören wieder von mir«, sagte Conrad. »Ich werde im Laufe des Tages versuchen, mich Ihnen persönlich vorzustellen.« Und damit war dieses Gespräch beendet. Michael Reiners behielt den Hörer nachdenklich in der Hand. Dann wählte er, nach kurzem Entschluß, eine Nummer, die er auswendig kannte. Er mußte geraume Zeit warten, bis sich jemand meldete. »Ich habe Sie geweckt, Frau Schwiefert«, sagte Reiners, nachdem er ein müdes, unwilliges »Hallo« gehört hatte. »Ich hoffe, Sie sind mir deshalb nicht allzu böse.« »Sind Sie tatsächlich wieder in Berlin, Herr Doktor?« fragte Mutter Schwiefert nahezu ungläubig, aber jetzt mit 132
einer wachen Stimme. »Soeben angekommen«, versicherte Reiners. »Die gnädige Frau wird sich freuen«, sagte Mutter Schwiefert. »Glauben Sie?« fragte Michael, dem diese spontane, ehrlich klingende Behauptung wohlzutun schien. »Bestimmt! Soll ich sie wecken?« »Aber nein«, sagte Michael Reiners sofort. »Sagen Sie ihr nur, wenn sie aufwacht, daß ich da bin – und daß sie mich jederzeit erreichen kann. Ich wohne wie immer im Hotel Bristol.« »Herr Beck wohnt auch dort«, berichtete Mutter Schwiefert bereitwillig. »Es ist gut«, sagte Michael, »daß Sie mich darauf vorbereiten.« Er legte den Hörer ab, begann sich auszukleiden und ging in das Badezimmer. Kurze Zeit danach legte er sich zu Bett und versuchte zu schlafen. Doch er fand keinen Schlaf. Er glaubte, vor sich das zarte Gesicht von Constance zu sehen. Aber ehe es noch an Klarheit und Leuchtkraft gewann, wurde es weggeweht von Fahnen aus Feuer. Blutroter Nebel stieg und hüllte ihn ein – und ihm war, als stürzten die brennenden Dörfer Polens auf ihn hernieder. Während noch der Wecker klingelte, der auf fünf Uhr gestellt war, stieg Maria aus ihrem Bett und ging ans Fenster. Sie schob die Vorhänge beiseite und sah hinaus. Der neue Tag schmerzte ihre Augen – doch sie sah, daß es ein herrlicher Tag war. Maria atmete tief ein und dehnte sich mit weit zurückgelegten Armen. Sie sah hinunter in das Tal, durch das sich der Lech wand. Drunten in den Papierfabriken 133
kroch Rauch aus den Schornsteinen – sonst aber schien sich noch nichts in der Stadt zu regen. Ihr war, als gehöre dieser Tag ihr ganz allein. Sie nahm den Krug, der auf ihrem Waschtisch stand, ging in die Küche und holte sich frisches Wasser. Und während das Wasser in den Krug lief, lächelte sie versonnen vor sich hin. Sie dachte an Martin und daran, daß sie jetzt bald bei ihm sein würde. So selbstverständlich ihr jetzt dieser Wunsch erschien – so sehr hatte sie noch vor einem Jahr gezögert, sich mit Martin in ein Gespräch einzulassen. »Bei Ihnen in der Ostzone«, hatte sie damals gesagt, während er sie bis zu ihrem Büro begleitete, »gibt es doch auch nette Mädchen.« »Gewiß«, versicherte er ernsthaft. »Und einige dieser Mädchen«, sagte sie, »werden doch auch sehr tüchtig sein.« »Ohne Zweifel«, sagte Martin höflich. »Und Ihr Mädchen?« fragte Maria und kam sich kühn vor. »Ich habe keines«, erklärte Martin. »Mögen Sie keine Mädchen?« hatte sie spontan gefragt. »Doch«, sagte Martin, und das klang fast heftig. »Sie mag ich!« Und er verbesserte sich eilig: »Ich meine – Mädchen, die so wie Sie sind, gefallen mir.« »Mädchen wie mich gibt es eine Menge.« »Mir genügt eines«, hatte er damals gesagt. Das Wasser rauschte jetzt dumpfer, und der Krug schien sich langsam zu füllen. Während Maria den Hahn zudrehte, sah sie ihre Mutter an der Küchentüre stehen. Sie stand wortlos da und betrachtete ihre Tochter. 134
»Guten Morgen, Mutter«, sagte Maria mit aller Freundlichkeit, die ihr dieser frohe, langersehnte Tag gab. »In knapp einer Stunde fahre ich.« »Du brauchst nicht zu fahren«, sagte die Mutter, »denn du wirst nicht erwartet.« »Aber Mutter«, sagte Maria, »wie kannst du so etwas behaupten!« »Du wirst nicht erwartet«, sagte die Mutter hartnäckig. »Denn ich habe ein Telegramm geschickt.« »Was?« fragte Maria verwundert. »Wem hast du ein Telegramm geschickt?« »Ihm«, sagte die Mutter, unwillig darüber, daß ihre Tochter nicht sofort verstand. »Ich habe ihm mitgeteilt, daß du nicht kommen kannst, weil du krank bist. Schon gestern abend habe ich das Telegramm abgeschickt.« Maria schwieg geraume Zeit. »Warum hast du das getan, Mutter?« fragte sie tonlos. »Warum, warum?« fragte die Frau heftig zurück und vermied es, ihrer Tochter in die Augen zu sehen. »Weil ich dein Bestes will! Und weil ich als deine Mutter weiß, was für dich das Beste ist! Du solltest dich wieder hinlegen und schlafen. Später einmal wirst du mir dankbar sein, daß ich dich vor deinem Unglück bewahrt habe.« Gegen 6.00 Uhr endeten in Berlin zwei Besprechungen. Sie hatten über das fast gleiche Thema stattgefunden, waren aber völlig verschieden verlaufen. Und sie hatten zu den verschiedenartigsten Ergebnissen geführt. Die erste dieser Besprechungen fand beim amerikanischen Stadtkommandanten von Berlin statt. Anwesend waren der britische und der französische 135
Stadtkommandant sowie in der letzten halben Stunde der Polizeipräsident von West-Berlin. Die Atmosphäre war angenehm: die Gespräche wurden außerordentlich höflich und mit einiger Gelassenheit geführt. »Wir sind uns also einig«, sagte der amerikanische Stadtkommandant. »Wir bleiben ab sofort in ständiger Verbindung miteinander. Wir ordnen für die uns unterstellten Truppen eine Dienstgestaltung an, die einer Alarmierung gleichkommt. Wir betrachten das alles als reine Vorbeugungsmaßnahme. Wir hier in Berlin haben im Laufe der letzten Jahre mancherlei Komplikationen erlebt – und überlebt. Auch diese wird uns nicht aus dem Gleichgewicht bringen.« Die zweite Besprechung an diesem Morgen verlief, schon rein äußerlich, wesentlich anders. Auf die Atmosphäre wurde kein Wert gelegt, liebenswürdige Redensarten konnte man sich schenken. Das Zentralkomitee der SED war an der Arbeit. Um 6.15 Uhr erging folgende Anweisung: An das Verteidigungsministerium, das Innenministerium und den Staatssicherheitsdienst der Deutschen Demokratischen Republik: Streng geheim! Organe des Staatssicherheitsdienstes haben festgestellt, daß klassenfeindliche Elemente unter den Studenten der Humboldt-Universität für heute staatsfeindliche Demonstrationen planen. Angesichts der Lage, die in der befreundeten Volksrepublik Polen herrscht, hat das ZK den Botschafter der UdSSR in der DDR konsultiert. In Übereinstimmung mit der Regierung der UdSSR wurde folgender Beschluß gefaßt: 1. Um das Eindringen feindlicher Agenten zu verhindern, wird die Sektorengrenze gesperrt. Der 136
Verkehr aus der DDR nach Berlin ist streng zu überwachen. 2. Die Demonstranten sind zunächst nicht zu behindern. Der Demonstrationszug muß jedoch unter umfassender Kontrolle stattfinden. Von der Waffe darf nicht Gebrauch gemacht werden. Um 11 Uhr ist der Demonstrationszug aufzulösen. Danach wird der Staatssicherheitsdienst die bekannten Rädelsführer verhaften. 3. Die Abteilung Propaganda und Agitation des ZK bereitet unverzüglich eine Kundgebung auf dem MarxEngels-Platz für den Nachmittag vor. Hieran nehmen nur der Partei treuergebene Genossen teil. Nähere Anweisungen folgen. 4. Entgegen den für Berlin gültigen Bestimmungen werden alle Sicherheitsorgane angewiesen, Demonstrationen in der DDR zu verhindern. Gegen derartige Versuche ist mit allen Mitteln vorzugehen. Knapp zwei Stunden später lag eine Kopie dieses Befehls auf dem Schreibtisch des amerikanischen Stadtkommandanten. Fast zur gleichen Zeit konnte der Leiter des Staatssicherheitsdienstes dem Zentralkomitee der SED mitteilen, daß sich die alliierten Truppen in West-Berlin in Alarmzustand befänden. Der Student Alexander, der an der HumboldtUniversität studierte, stürmte die drei Treppen hinauf, die zu seiner »Bude« führten. Ein wenig atemlos kam er oben an. Er öffnete die Tür und ging hinein. Seine Tante, die ihm Unterkunft und Essen gewährte, werkte bereits in der Küche. »Gut, daß du schon auf bist«, rief Alexander ihr entgegen. »Mache mir irgend etwas Kräftiges zu essen – 137
ich muß gleich wieder weiter.« Die Tante kam in den Korridor, wo Alexander seine Jacke aufhängte. Sie sah ihn mit ihren Eulenaugen vorwurfsvoll an. Dann sagte sie: »Du bist die ganze Nacht nicht zu Hause gewesen! Wo hast du dich herumgetrieben?« »Dreimal darfst du raten«, sagte Alexander und begab sich ins Badezimmer. Die Tante folgte ihm beharrlich nach. Alexander ließ Wasser in das Becken laufen und zog sich das Hemd über den Kopf. Er begann, sich zu rasieren. »Deine Eltern«, sagte die Tante, »haben dich mir anvertraut.« »Nur nicht so feierlich«, sagte Alexander und seifte sich ein. »Die Alten zahlen monatlich eine ganz hübsche Summe für diese Bude; im Augenblick kannst du mir mit einer tüchtigen Portion Spiegeleier und Speck am besten deinen guten Willen beweisen.« »Alexander«, sagte die Tante betrübt, »ich weiß genau, worauf du hinauswillst. Du forderst mich heraus, damit ich dir endlich kündige und du ungestört mit deinen Kumpanen zusammensitzen kannst, um mit politischen Reden die Zeit totzuschlagen, anstatt zu arbeiten.« »Mach bitte die Tür von außen zu«, sagte Alexander warnend. »Als deine Eltern dich mir anvertraut haben, wußten sie, warum sie es taten. Du solltest arbeiten und sonst nichts.« »Dann hätten sie mich Straßenarbeiter werden lassen sollen!« »Du warst also wieder mit deinen politischen Kumpanen zusammen! Und diesmal sogar die ganze 138
Nacht! Das werde ich deinem Vater mitteilen.« »Langsam«, sagte Alexander, dem dieses Gespräch bedenklich schien, »nur langsam. Du mußt nicht immer gleich das Beste annehmen. Ganz ehrlich, Tante – warst du denn selbst niemals in deinem Leben eine ganze Nacht unterwegs?« »Niemals!« rief die Tante empört. Alexander rasierte sich weiter. Und zwischendurch sagte er: »Also - wenn dich das so brennend interessiert, ich war bei einem Mädchen! Die ganze Nacht!« 7.00 Uhr. Der amerikanische Stadtkommandant meldete nach Washington: Seit heute früh 6.30 Uhr sind die Sektorenübergänge von der Volkspolizei für Fußgänger und Fahrzeugverkehr gesperrt. Der Stadtbahn- und Untergrundbahnverkehr ist vorläufig noch nicht unterbrochen, doch verkehren die Züge nur noch unregelmäßig, da die Volkspolizei an den Grenzbahnhöfen jeden Wagen kontrolliert und damit den Fahrplan durcheinandergebracht hat. Die meisten Arbeiter und Angestellten, die in WestBerlin wohnen und in Ost-Berlin zur Arbeit gehen, sind nach Hause zurückgekehrt. Mit einer vollständigen Abriegelung des Ostsektors muß in Kürze gerechnet werden. Die Westberliner Polizei hat die Streifen an der Sektorengrenze verstärkt. Zur Zeit herrscht in beiden Teilen der Stadt Ruhe. In Sonneberg saßen die Eltern und die kleine Schwester bereits am Eßtisch, als Martin die Küche betrat. Er hatte die Tür mit Schwung geöffnet. »Ein herrlicher Tag«, rief er ihnen zu. »Nicht so laut, Junge!« rief der Vater. »Ich will Nachrichten hören!« 139
»Hat denn Mutter den Radioapparat nicht kleingekriegt?« fragte Martin erstaunt. »Er hat sich schon wieder einen neuen besorgt«, erklärte die Mutter unwillig. »Jawohl«, sagte der Vater stolz. »Und zwar hat mir die Partei den Apparat zur Verfügung gestellt.« »Ausgerechnet dir?« fragte Martin mit zunehmender Verwunderung. »Nun ja«, sagte der Alte augenzwinkernd, »genaugenommen war es ja nicht die Partei, die mich beliefert hat, sondern der Leiter der Rundfunkzentrale – er gehört sogar zur Kreisleitung. Solange sich der alte, beschädigte Apparat in Reparatur befindet, hat er mir diesen zur Verfügung gestellt. Die machen das immer so mit den Genossen und den Sympathisierenden.« »Bist du etwa deshalb Genosse geworden?« fragte Martin. »Wo denkst du hin! Ich habe gesagt: ich sympathisiere! Aber ich habe nicht gesagt, mit wem ich sympathisiere.« »Er wird sich und uns allen noch einmal das Genick brechen«, murrte die Mutter. »Er ist dumm und hält sich für klug. Ich habe keinen Mann geheiratet, sondern einen Idealisten. Das war mein Fehler, und darunter müssen wir jetzt alle leiden.« Der leise eingestellte Radioapparat unterbrach seine fröhliche Morgenmusik. Ein Sprecher kündigte an, daß nunmehr der Bayerische Rundfunk Nachrichten senden werde. »Jetzt aber Ruhe«, sagte der Vater. Martin betrachtete ihn amüsiert. »Aber Vater«, sagte er dann, »du wirst doch nicht etwa deine Informationen aus dem feindlichen Ausland beziehen wollen – noch dazu über einen volks- und parteieigenen Apparat!« 140
»Mein Sohn«, sagte der Vater, »ich muß mich doch sehr wundern! Denn bisher hast du dich um derartige Dinge nie gekümmert; was ich immer bedauert habe. Außerdem ist Bayern kein feindliches Ausland, sondern allerhöchstens ein Land mit einer politisch irregeleiteten Bevölkerung. Außerdem aber will ich mich gar nicht informieren, sondern empören.« »Außerdem«, sagte der Vater, »habe ich eine Beschäftigung für dich, damit du nicht in Versuchung kommst, sogenannte Feindsender mitzuhören. Auf dem Fensterbrett liegt ein Telegramm für dich – aus Schongau vermutlich.« Martin erhob sich sofort, ging ans Fenster, fand dort das Telegramm und öffnete es ungeduldig. Der Vater lauschte währenddessen dem Nachrichtensprecher, der soeben ausführte: In Polen bietet sich ein chaotisches Bild der Lage. Überall im Lande ist es zu Kämpfen zwischen polnischen und sowjetischen Truppen gekommen. Starke Einheiten der sowjetischen Armee haben die russisch-polnische Grenze überschritten und befinden sich im Vormarsch auf Warschau. Wie der polnische Rundfunk meldet, finden sich bei den Dienststellen der polnischen Armee Tausende von Freiwilligen ein. Gleichzeitig aber geht die Polizei mit schärfsten Maßnahmen gegen neue Demonstrationen vor. »Das sieht ihnen ähnlich!« rief der Vater. Und er war sich gar nicht bewußt, wie zweideutig diese Formulierung war. Der Sprecher meldete weiter: In Warschau trugen Arbeiter und Studenten Spruchbänder mit der Aufschrift: »Nieder mit den Sowjets - für ein freies und unabhängiges Polen.« Sie wurden auf 141
der Straße verhaftet und mit Polizeiautos abtransportiert. »Unerhört!« rief der Vater aus. »Das ist einfach unerhört!« Obgleich seit Ablaufen des sowjetischen Ultimatums keine Antwort der polnischen Regierung bekannt wurde und sowjetische Truppen auch bereits in Polen eingedrungen sind, hält sich der sowjetische Botschafter noch immer in Warschau auf. »Hast du das gehört, Martin?« fragte der Vater erregt. »Was sagst du dazu?« »Maria kommt nicht«, sagte Martin, das Telegramm in der Hand. Er sah betrübt und hilflos aus. »Sie ist plötzlich krank geworden.« »Das tut mir aber leid«, sagte der Vater. »Sie wird schon wieder gesund werden.« »Wir haben uns wohl beide zu sehr auf unseren Urlaub gefreut«, sagte Martin. »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben!« sagte der Vater. »Und vielleicht ist das ganz gut so. Was soll sie hier? Denn es ist ja durchaus möglich, daß sich jetzt bei uns einiges ereignen wird. Schließlich müssen wir uns mit unseren polnischen Arbeitskollegen zumindest solidarisch erklären.« »Du hältst dich da heraus, Vater!« rief die Mutter streng. »Wie kann ich das denn? Ich bin doch schon mittendrin. Und was hier geschehen muß, wird auch geschehen. Das sind wir Deutschland schuldig!« »Welchem Deutschland denn?« »Unserem!« sagte der Vater. Im NATO-Hauptquartier in Fontainebleau fand um 7.30 Uhr die »erste außerordentliche Lagebesprechung« 142
dieses Tages statt. Der Oberbefehlshaber, der sie eröffnete, wirkte frisch und ausgeruht, als habe er glänzend geschlafen. Daß das nicht der Fall gewesen war, wußte jeder der Anwesenden. Dennoch strahlte der amerikanische General gerade dadurch viel Zuversicht aus – und nicht wenige Offiziere konnten sie brauchen. »Meine Herren«, begann der Oberbefehlshaber, »die Berichte, die Sie jetzt hören werden, erscheinen mir – bis auf eine Nachricht – nicht sonderlich beunruhigend. Ich bitte den Chef der Abwehr, zu beginnen.« Der Abwehrchef erhob sich lässig. Er hatte seinen Lagebericht bereits schriftlich niedergelegt und verlas ihn, als zitiere er aus einem Zeitungsaufsatz. Die polnische Armee hat überraschenderweise fast überall gegen die sowjetischen Stationierungstruppen beachtliche Erfolge erzielen können. Sie ist jedoch nicht in der Lage, die von Osten her angreifenden russischen Verbände auch nur für kurze Zeit aufzuhalten. Die Angriffsspitzen der sowjetischen Truppen werden noch in dieser Stunde die Vorstädte von Warschau erreichen. Während der ganzen Nacht haben Verhandlungen zwischen Warschau und Moskau stattgefunden. Sie lassen nach übereinstimmenden Berichten einen Waffenstillstand im Laufe des heutigen Vormittags möglich erscheinen. Der NATO-Oberbefehlshaber sah einige seiner Offiziere aufatmen. Der Abwehrchef legte das Blatt mit seinen Ausführungen in die Mappe zurück, die vor ihm lag. Aus der gleichen Mappe nahm der französische General nun ein zweites, offenbar nur mit einem einzigen kurzen Satz beschriebenes Blatt. Er zögerte ein wenig und sah zum Oberbefehlshaber hinüber; der nickte fast 143
unmerklich. »Meine Herren«, sagte der Abwehrchef vorsichtig, »ich habe eine Anzahl von Meldungen vorliegen, die sich nur selten widersprechen, und wenn, dann nur in unwesentlichen Punkten. Nach diesen Meldungen scheint es nicht ausgeschlossen, daß sich ein neuer Gefahrenherd in Berlin bilden könnte. Mit Unruhen im Ostsektor muß gerechnet werden.« Der Abwehrchef setzte sich. Jetzt lächelte keiner der anwesenden Offiziere mehr. Denn der französische General war bekannt dafür, daß er nicht nur ein Virtuose in seinem außerordentlich schwierigen Metier war, sondern daß er überdies einen in seinem Bereich höchst selten anzutreffenden Hang zum Untertreiben besaß. Wenn er sagte, daß mit Unruhen in Berlin gerechnet werden müsse, so war das gleichbedeutend damit, daß sie eintreten würden. »Meine Herren«, sagte der NATO-Oberbefehlshaber, »erlauben Sie mir, eine Beurteilung der Lage abzugeben.« Einige Offiziere richteten sich erwartungsvoll auf, andere betrachteten die Notizen und Karten, die vor ihnen lagen. Der Abwehrchef zündete sich eine Zigarette an. Er rauchte als einziger. Der Oberbefehlshaber führte wörtlich aus: Die uns vorliegenden Berichte lassen folgenden Schluß zu: Weder die sowjetische noch die polnische Regierung sind daran interessiert, es auf einen regelrechten Krieg zwischen beiden Staaten ankommen zu lassen. Ein solcher Krieg würde den Russen zwar in einer knappen Woche – ohne den Einsatz von Atomwaffen – den militärischen Sieg bringen, er würde aber auch Partisanenkämpfe für unbestimmte Zeit 144
auslösen. Auch die politische Lage der letzten Monate, vor allem die erfolgverheißenden Gespräche zwischen meiner Regierung und der Regierung der UdSSR, scheinen eine gewisse Gewähr dafür zu bieten, daß die Sowjetunion kein Interesse daran hat, Polen genauso blutig niederzuwerfen wie Ungarn im Jahre 1956. Ich schließe mich daher der Auffassung des Abwehrchefs an, daß wir noch heute mit einem Waffenstillstand rechnen können. Der Oberbefehlshaber machte an dieser Stelle eine kurze Pause, als wolle er hier deutlich zwei Gedankengänge voneinander trennen. Einige seiner Offiziere nannten diese Pausen »Umschaltung auf Langwelle«. Der Rest der Lagebeurteilung des NATOOberbefehlshabers lautete wie folgt: Was wir aber leider noch nicht wissen, ist die Antwort auf die Frage, ob der polnische Funke nicht doch noch zünden wird. Die Berichte aus Berlin geben zu einiger Besorgnis Anlaß. Sollten sich auch nur in annäherndem Umfang die Ereignisse des Jahres 1953 wiederholen, so könnten wir uns plötzlich einer Situation gegenübersehen, als deren Folge ein dritter Weltkrieg möglich erscheint. Die deutsche Bundesregierung hat wohl mehrfach versichert, daß sie in der Lage sei, die NATO bei neuen Unruhen in der sowjetischen Zone aus einem Konflikt herauszuhalten, dennoch müssen wir jederzeit mit dem Schlimmsten rechnen. Ich bitte Sie daher, den Ihnen unterstellten Befehlshabern nachdrücklich klarzumachen, daß die Gefahr keineswegs vorüber ist, wenn etwa in den nächsten Stunden die Meldung von einem Waffenstillstand in Polen eintreffen sollte. 145
In Michael Reiners’ unruhigen Hotelschlaf drang ein dumpfes, regelmäßiges Geräusch. Es war ihm, als vernehme er ferne, pausenlos dröhnende Trommeln. Er öffnete erschreckt die Augen. Das Dröhnen verlor an Heftigkeit. Michael richtete sich, ein wenig taumelnd, auf und starrte in das durch dicke Vorhänge abgeschirmte Halbdunkel des Raumes. Jemand pochte kräftig an seine Tür. Michael griff nach seiner Uhr, die er auf den Nachttisch gelegt hatte, und betrachtete sie mit müden Augen. Es war 8.18 Uhr. »Was soll das!« rief er unwillig. »Ich bitte, mich nicht zu stören.« »Du willst doch nicht etwa ewig schlafen?« rief eine Stimme, die er sofort als die von Wolf Beck erkannte. Und diese Stimme klang freudig und fordernd zugleich. »Kannst du nicht warten, Wolf?« fragte Reiners ein wenig mühsam. »Nein!« rief Wolf Beck zurück. »Mein Verlangen, dich zu sehen, ist nicht mehr zu bändigen.« Michael Reiners erhob sich, ging zur Tür und schloß sie auf. Er spürte ein paar kräftige Schläge auf seiner linken Schulter. »Alter Junge!« rief Wolf Beck. »Da bist du ja endlich!« Wolf drückte die Hand seines Freundes fest, begab sich dann unverzüglich an das Fenster und zog schwungvoll die Vorhänge beiseite. Helles Licht flutete in den Raum. Michael legte abwehrend die Hand über die Augen. »Ich bin erst kurz nach drei Uhr ins Bett gekommen«, sagte er. »Ich weiß«, sagte Wolf Beck. »Der Portier hat mich genau informiert. Deshalb ließ ich dich auch so lange schlafen. Fünf Stunden reichen aus.« 146
»Für dich vielleicht«, sagte Michael. »Ich komme sogar, wenn es sein muß, mit drei Stunden Schlaf aus«, versicherte Wolf Beck. »Aber mit dir muß man Nachsicht haben – du denkst zuviel, das macht müde. Wir frühstücken zusammen in einer halben Stunde – ist dir das recht?« »Diese Frage kannst du dir sparen«, sagte Michael. »Ein wahres Glück, daß du nicht dauernd hier bei uns in Deutschland bist. Wir kämen sonst kaum noch zum Schlafen.« »Jedenfalls«, sagte Wolf nun ernst, »danke ich dir, daß du gekommen bist – wir brauchen dich beide dringend, Constance und ich.« »Versuche nicht, mit Constance Geschäfte zu machen, bitte«, sagte Michael nicht minder ernsthaft. »Sie verdient das nicht.« »Ich will doch nicht an ihr verdienen«, sagte Wolf Beck, und er versuchte wieder zu scherzen. »Ich will aber auch nicht, daß es große Verluste gibt – für keinen von uns!« »Du bist ein wahrer Menschenfreund«, sagte Michael. »Schade, daß dich jetzt Henry nicht sehen kann. Er wäre sicherlich gerührt.« »Zum erstenmal in seinem Leben vermutlich«, sagte Wolf Beck lachend. Henry Engel war an diesem Tag ein wenig früher als sonst aufgestanden. Er hatte sich in sein Schwimmbassin fallen lassen und dann einen kurzen, schnellen Spaziergang gemacht. Jetzt stand er hinter dem Laboratoriumsschuppen und probierte seine Waffen aus. Er zielte, zunächst mit seiner Mauser 7,65, auf eine mannsgroße Scheibe, die Friebe aus Pappkarton 147
ausgeschnitten und auf eine Bretterwand montiert hatte. Henry schoß ein ganzes Magazin leer. Alle acht Kugeln durchdrangen die Figur in Brusthöhe. »Jetzt Sie, Friebe«, sagte Engel. Friebe benutzte eine Pistole 08 aus ehemaligen Wehrmachtsbeständen. Er sägte, auf nahezu zwanzig Meter Entfernung, die Stirn der Pappfigur von links nach rechts auf. »Gelernt ist gelernt«, sagte er gelassen. Engel schien zufrieden. Mit der gesprengten Brücke und einer Handvoll Waffen konnte dieses am Hang gelegene Haus zu einer Festung werden. Marodeure mit oder ohne Uniform würden es nicht leicht haben, hier einzudringen. »Die Waffen werden heiß«, sagte Friebe gleichmütig, »und der Kaffee wird kalt.« »Wird die Munition ausreichen?« »Für ein paar Dutzend und für uns bestimmt.« »Wenn wir Handgranaten hätten«, sagte Henry Engel nachdenklich, »könnte der Spaß vermutlich noch größer werden.« »Kleinigkeit für uns Chemiker«, sagte Friebe. »Aber zunächst scheint mir das Frühstück wichtiger.« Henry Engel begab sich auf die Terrasse und trank dort eine Tasse Kaffee. Dabei sah er nachdenklich in das weit unter ihm liegende Tal. In einer Zeit wie dieser, sagte er sich, muß man auf alles gefaßt sein – auf das Sinnlose ebenso wie auf das Sinnvolle. Denn Gott duldet Satan. Friebe betrachtete seinen Chef mit dem bei ihm gewohnten nachsichtigen Interesse. »Ich habe Räucheraal besorgt«, sagte er. »Wieviel Zentner?« fragte Henry gleichgültig. 148
»Null Komma null zwei«, sagte Friebe ohne die mindeste Verwunderung. »Ungewöhnliche Nachrichten?« fragte Engel. »Nein«, sagte Friebe. »Weit und breit niemand, der etwas anderes im Sinn hat, als den Weltfrieden zu erhalten.« »Ist eigentlich unser Aggregat in Ordnung?« fragte Henry Engel. »Ich glaube schon«, sagte Friebe. »Kraftstoff ist ausreichend vorhanden. Wir können uns mindestens vier Wochen lang allein mit Strom versorgen.« »Das dürfte genügen«, sagte der breitschultrige Mann auf der Terrasse, der weit mehr einem Bauern als einem Gelehrten glich. »Wieviel Whisky ist im Keller?« »Elf Flaschen«, sagte Friebe ohne zu zögern. »Zuwenig«, stellte Henry Engel fest. »Wenn meine Freunde kommen sollten, wird das nicht reichen. Erhöhe den Vorrat auf fünfundzwanzig.« »Welche Sorten?« »Gleichgültig – nur schottischer Whisky muß es sein.« »Frau Constance bevorzugt, wenn sie überhaupt trinkt, ›Black and White‹.« »Vermutlich nur der niedlichen Hunde wegen, die auf dem Etikett sind«, sagte Henry Engel und schien zu lächeln. »Also gut, fünf Flaschen davon – für alle Fälle.« »Ich habe immer noch nicht herausbekommen«, sagte Friebe nachdenklich, »welchen Whisky Herr Reiners bevorzugt.« »Keinen. Gewöhnlich trinkt er nicht – und wenn er trinkt, ist es ihm gleichgültig, was er trinkt.« »Und Herr Beck?« 149
»Bevorzugt alles, was teuer ist! Sein Geschmack richtet sich nach der Preisliste.« Friebe notierte sich kurz die Wünsche seines Chefs. Er ging zum Frühstückstisch und schob Henry Engel die Platte mit dem Aufschnitt zu. Der nahm eine Scheibe Salami und aß sie. »Noch eins, Friebe«, sagte er dann. »Du kannst meinen Kunsthändler anrufen. Ich nehme das Bild von Chagall – für dreißigtausend. Er soll es aber noch heute schicken.« »Für dreißigtausend!« rief Friebe erstaunt und vorwurfsvoll. »Was ist schon Geld«, sagte Henry Engel, »wenn die Zeit knapp ist? Und was ist schon Zeit, wenn plötzlich alle Uhren in der Welt zum Stillstand gebracht werden? Hiob war ein glücklicher Mann; er wußte wenigstens, was er zu verlieren hatte!« Das Bild, das sich dem Betrachter aus der Ferne bot, erinnerte zunächst an ein munteres Jahrmarktstreiben. Je mehr man sich jedoch dem Platz vor der HumboldtUniversität in dieser frühen Vormittagsstunde näherte, um so deutlicher wurde, daß die jungen Menschen, die sich auf ihm versammelt hatten, temperamentvoll miteinander debattierten. Kleine Gruppen schlossen sich zusammen. Andere schüttelten den Kopf und wandten sich ab. Einige Professoren standen interessiert auf der Treppe. Als die jugendlichen Stimmen immer lauter wurden, zogen sie es vor, sich zurückzuziehen. Sie setzten ihre Beobachtung im Innern der Universität, hinter einem geschlossenen Fenster, fort. Nach zwanzig Minuten sonderten sich aus der Menge 150
etwa hundert Studenten ab; sie strömten in der Mitte des Platzes zusammen. Einer von ihnen ging auf eine kleine Gruppe Polizisten zu. »Wollt ihr irgend etwas von uns?« rief er ihnen streitbar entgegen. Einer der Polizisten winkte großmütig ab. Die anderen taten, als hätten sie nichts gehört. Die Menge lachte, und der Student zog sich wieder zurück. Plötzlich tauchte, offenbar von einem Seiteneingang der Universität herkommend, ein breites Spruchband auf. Es schien hoch über den Köpfen der Studenten zu schweben. Sie blickten zu ihm auf. Sein Text lautete: »Laßt unsere polnischen Genossen frei!« Einige applaudierten; anfeuernde Rufe wurden laut. Ein zweites Transparent tauchte, diesmal mitten in der Menge, auf. »Verhindert ein zweites Ungarn!« war darauf zu lesen. Der Beifall verstärkte sich. Die Polizisten an den Ecken des Platzes schienen nicht lesen zu können oder nicht lesen zu wollen. Sie blickten unbewegt vor sich hin. Die hundert Studenten begannen sich zu formieren und in Bewegung zu setzen. Alexander schritt ihnen mit zwei anderen Kommilitonen voran. Sie bildeten Dreier- und Viererreihen. Sie bewegten sich von der Universität die Linden hinauf. Die Polizei ging zu beiden Seiten des Zuges mit. Die hundert Demonstranten, die mitten auf der Straße gingen, erhielten zunächst nur spärlichen Zuwachs. Aber zahlreiche Neugierige folgten ihnen auf dem Bürgersteig. Die Polizei trabte links und rechts von den Demonstranten. In den Nebenstraßen rollten, fast unbeachtet, die funkgelenkten Streifenund Überfallwagen. »Laßt unsere polnischen Genossen frei!« riefen die 151
demonstrierenden Studenten im Sprechchor. Und die sich auf den Bürgersteigen mehr und mehr ansammelnden Menschen wußten nicht recht, wie sie sich verhalten sollten. Sie zogen es vor, abzuwarten. »Verhindert ein zweites Ungarn!« riefen die Studenten, die vor der sowjetischen Botschaft angekommen waren. Auf ein Zeichen von Alexander und seinen Freunden schwenkten sie ein und versuchten, sich blockartig aufzubauen. »Weitergehen!« riefen die Polizisten sofort. »Nicht stehenbleiben!« Und sie versuchten, schnell aufrückend, mit ungesäumt auftauchenden Verstärkungen Doppelreihen bildend, die Demonstranten abzudrängen. Die Studenten drängten, unter Lachen und Zurufen, zurück. Da ertönte ein helles Pfeifen – ein dreifacher Triller, der von zwei Nebenstraßen her grell und dreifach beantwortet wurde. Zwei Wagen des Überfallkommandos fuhren, von genau entgegengesetzten Seiten kommend, mit heulendem Motor in die Demonstranten hinein und blieben, scharf bremsend, stehen. Volkspolizei sprang ab, formierte sich in Vierergruppen, die wieder den Winken einiger Zivilisten gehorchten. Sie packten eine Anzahl Studenten, die ihnen bezeichnet wurden, und zerrten sie zu ihren Wagen, deren Motoren unentwegt weiterliefen. Sie hoben und stießen die sich wehrenden Studenten hinauf und fuhren sofort wieder ab. »Weitergehen!« riefen die Polizisten. »Nur ruhig weitergehen!« »Es lebe die Freiheit!« riefen die Studenten. »Schon gut«, sagten die Polizisten, »schon gut. Immer mit der Ruhe und weitergehen.« 152
Um 9.00 Uhr meldete der amerikanische Stadtkommandant nach Washington: Studenten der Humboldt-Universität haben, wie erwartet, kurz nach 8.00 Uhr mit Demonstrationen begonnen. Die Volkspolizei riegelte den Demonstrationszug ab, ohne aber die Demonstranten am Marschieren zu hindern. Vor der sowjetischen Botschaft Unter den Linden kam es zu Zusammenstößen, weil die Polizei die Demonstranten zum Weitergehen zwang. Hierbei wurden zehn oder elf Studenten verhaftet. Die von der Botschaft abgedrängten Studenten machten vor dem von der Volkspolizei mit starkem Aufgebot abgesperrten Brandenburger Tor wieder kehrt und marschierten die Linden in Richtung auf den Lustgarten hinunter. Aus dem Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg wird ein zweiter Demonstrationszug gemeldet, der sich in Richtung auf die Stalinallee bewegt. Bisher ist dieser Zug von der Volkspolizei nicht behindert worden. In West-Berlin herrscht Ruhe. Maria ging in ihrem kleinen Zimmer unruhig auf und ab. Sie betrachtete ihre Sachen, die fertig gepackt dalagen, mit traurigen Blicken. Sie war verzweifelt; sie wußte nicht, was sie tun sollte. Die Mutter kam herein, ohne anzuklopfen. Sie blieb an der Tür stehen und sah ihre Tochter mit harten Augen an. »Was willst du denn noch?« fragte sie. »Beruhige dich endlich. Die Sache ist erledigt.« »Für mich nicht«, sagte Maria. Martin, so sagte sie sich, würde gewiß in ihrer Lage ähnlich empfinden. Aber was, so fragte sie sich, würde er 153
dann tun? Sie dachte darüber nach, und ihr fiel ihr erster gemeinsamer Spaziergang ein – damals, vor einem Jahr. Sie waren durch die Anlagen hinunter an den Lech gegangen. »Wissen Sie«, hatte Martin unvermittelt gefragt, als sei ihm dieser Gedanke ganz plötzlich gekommen, »was für mich das Wichtigste im Leben ist?« »Woher soll ich das wissen!« hatte sie geantwortet, denn sie empfand seine Bemerkung als viel zu vertraulich für eine so kurze Bekanntschaft. »Ehrlichkeit«, sagte Martin. »Dadurch wird alles einfacher. Lügen oder auch nur verschweigen ist Gift.« Jetzt, da Maria daran dachte, wurde ihr erst bewußt, was er damit gemeint hatte. »Wenn ich ihm einfach die Wahrheit sage, genau alles das, was geschehen ist, wie es zu diesem Telegramm kommen konnte – er wird mich verstehen! Warum mache ich mir Gedanken? Es ist im Grunde alles ganz einfach.« »Du wirst doch nicht etwa dennoch fahren wollen?« fragte die Mutter mißtrauisch. »Warum sollte ich das nicht tun?« sagte Maria. »Wenn du das tust«, erklärte die Mutter drohend, »dann werde ich dich daran hindern – und wenn es sein muß, mit Hilfe der Polizei.« »Ich bin nicht mehr minderjährig«, stellte Maria fest. »Wenn du das tust«, wiederholte die Mutter heftig, »dann ist es aus zwischen uns – für immer und alle Zeiten! Dann hast du kein Zuhause mehr und keine Eltern. Dann kannst du dich von mir aus in der Welt herumtreiben, mit wem du willst.« »Es bleibt mir keine andere Wahl«, sagte Maria fest. »Du willst uns verlassen«, rief die Mutter fassungslos, 154
»uns, die wir alles für dich getan haben, die dich großgezogen haben, denen du alles verdankst? Uns willst du verlassen?« »Warum zwingst du mich dazu, Mutter?« »Geh nur!« rief die alte Frau wild. »Fahr zu ihm und bleibe dort! Für uns existierst du nicht mehr, wenn du das tust! Wirst du es tun?« »Ja«, sagte Maria. »Das haben wir nicht verdient«, klagte die Mutter, und, plötzlich umschwenkend, fügte sie fast triumphierend hinzu: »Aber das Telegramm kannst du doch nicht aus der Welt schaffen.« »Doch, Mutter«, sagte Maria. »Durch ein zweites Telegramm.« 9.00 Uhr meldete RIAS Berlin: Seit heute früh 8 Uhr demonstrieren im Ostsektor Berlins Studenten und Arbeiter. In Sprechchören fordern sie die Freilassung der verhafteten polnischen Freiheitskämpfer. Vor der sowjetischen Botschaft kam es zu Zusammenstößen. Zahlreiche Verhaftungen wurden vorgenommen. »Etwas schwungvoll formuliert«, sagte der amerikanische Stadtkommandant, der in seinem Arbeitszimmer mithörte. Wie aus Ost-Berlin verlautet, findet gegenwärtig eine Sitzung des SED-Zentralkomitees statt. Man rechnet damit, daß die Pankower Regierung, um weiteren Demonstrationen zuvorzukommen, für den Nachmittag eine Kundgebung mit dem Betriebsschutz der Betriebe auf dem Marx-Engels-Platz einberufen wird. Bekanntlich bestehen die Werkschutzorganisationen, die mit Gewehren und Maschinenpistolen ausgerüstet sind, aus 155
ausgesuchten SED-Leuten. »Immerhin«, sagte der amerikanische General grimmig, »wurden nicht auch noch gleich ihre Nahkampfund Gefechtsausbildung und ihr scharfes Training im Handgranatenwerfen erwähnt.« In Polen ist die Lage nach wie vor ungeklärt. Nach neuesten Berichten sollen auch im polnisch besetzten Teil Ostpreußens schwere Kämpfe zwischen polnischen und sowjetischen Truppen im Gange sein. Radio Warschau spricht lediglich von vereinzelten Zusammenstößen zwischen polnischen und russischen Truppen. »Das klingt schon dezenter«, sagte der Stadtkommandant und nickte zustimmend. Zwischen den Regierungen in Washington, London, Paris und Bonn findet ein ständiger Meinungsaustausch statt. Auch im Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York herrscht fieberhafte diplomatische Aktivität. Auf die Frage eines amerikanischen Pressevertreters erklärte der polnische UNO-Delegierte, seine Regierung habe ihn nicht angewiesen, den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anzurufen. »Gut«, murmelte der amerikanische General, »soweit ganz gut.« Dann sagte er zu seinem Adjutanten, wobei er verkniffen lächelte: »Rufen Sie, bitte, den Direktor von RIAS an. Teilen Sie ihm mit, daß ich über die sachliche, jede Panikstimmung vermeidende Berichterstattung seines Senders erfreut bin. Sagen Sie ihm aber dann noch, diese Anerkennung schließe die Meldung über Ostberliner Demonstrationen nicht mit ein. Hoffentlich ist das deutlich genug?« »Sie könnten doch einfach befehlen, Herr General«, 156
glaubte der Adjutant einwenden zu müssen. »Denn schließlich ist RIAS eine amerikanische Station.« »Überzeugen ist immer besser als befehlen«, sagte der General. Michael Reiners betrat das Frühstückszimmer des Hotels, wo Wolf Beck auf ihn wartete. Wolf winkte und Michael kam an seinen Tisch, der bereits gedeckt war. »Du siehst glänzend aus«, stellte Michael Reiners mit freundschaftlichem Lächeln fest. »Deine Geschäfte scheinen also ausgezeichnet zu gehen.« »Wie man es nimmt«, sagte Wolf Beck, denn es gehörte zu seinen Prinzipien, niemals, auch vor Freunden nicht, Erfolge zuzugeben. »Und wie sieht es bei dir aus? Ölst du fleißig die Uhr der Weltgeschichte?« »Hast du von den Ereignissen in Polen gehört?« »Natürlich«, sagte Wolf Beck und spaltete ein Brötchen. »Ein belangloser Vorgang.« »Belanglos -?« fragte Reiners. »Sagtest du: ein belangloser Vorgang?« »Wirtschaftlich betrachtet!« beeilte sich Wolf zu versichern; er hatte Interesse daran, seinen Freund nicht zu verstimmen. Er registrierte, daß Michael auf politische Bemerkungen weit empfindlicher reagierte als früher. »Ich meinte: so gut wie belanglos, vom Standpunkt des Welthandels aus. Wie du weißt, habe ich schon immer die Ansicht vertreten, daß auch die Ostblockstaaten in ungetrübtem Wohlstand leben könnten …« »… wenn sie mit dir und deinesgleichen gute Geschäfte machen würden!« fiel Michael Reiners ein. »So ungefähr«, sagte Wolf Beck ungekränkt. »Jedenfalls ist Polen im Getriebe des Welthandels nicht einmal ein Zahnrädchen. Auf der ganzen Welt wird 157
Polens wegen nicht ein einziges Auto stillstehen müssen, weil es kein Benzin hat, keine Glühlampe wird irgendwo weniger brennen, auf keine Tasse Kaffee wird verzichtet werden.« »Lediglich eine Kleinigkeit kann uns passieren«, sagte Michael bitter. »Die auf unserer Erde aufgespeicherte Atomkraft könnte explodieren und uns als Staubkörnchen ins Weltall jagen.« »Immer noch der gleiche alte Kinderschreck!« sagte Wolf ablehnend. »Eine theoretische Spekulation! Eine Behauptung, die sich nicht beweisen läßt, die aber zu Drohungen mißbraucht wird; die genau besehen nichts anderes als eine gigantische Erpressung darstellt.« »Sage das alles bei Gelegenheit Henry Engel«, empfahl Michael, »und du wirst ein Schauspiel erleben!« »Auf meine Kosten? Danke!« Wolf schüttelte sich, als habe er einen scharfen Schnaps getrunken. »Was übrigens Polen anbelangt, Michael, so sieht es nach den letzten Nachrichten ganz so aus, als ob dort das Strohfeuer schon wieder erlischt.« »Hoffentlich hast du recht!« sagte Michael. »Ich kenne mich in dem Jargon, mit dem Massen in bestimmte Richtungen bewegt werden können, einigermaßen aus«, erklärte Wolf Beck. »Erst vor wenigen Monaten habe ich einen Reklamefeldzug für einen Schokoladekonzern, an dem ich beteiligt bin, persönlich geleitet und dabei einige Konkurrenzfirmen ausgeschaltet.« »Und damit ihre Arbeiter auf die Straße gesetzt!« »Quatsch!« erklärte Wolf. »Dieser engstirnige Sozialfimmel in Kleineuropa geht mir langsam auf die Nerven! Wir haben natürlich die Konkurrenzfabriken aufgekauft und die Arbeiter übernommen, die so das 158
Glück hatten, in einen krisensicheren Konzern eingegliedert zu werden. Doch bleiben wir bei Polen: einige haben sich die Schädel eingerannt, aber die Regierungen sind gerade dabei, sich zu verständigen.« »Wenn das gelingen würde, wäre viel gewonnen«, sagte Michael. »Nun aber zu uns«, sagte Wolf Beck entschlossen und schob seinen Frühstücksteller von sich. »Du wirst hier dringend gebraucht.« »Noch einen Augenblick«, sagte Michael Reiners und nahm einem Hotelangestellten einen Zettel ab, den ihm dieser auf einem Tablett hinhielt. Es handelte sich um ein zusammengefaltetes Blatt Papier, das von einem Block abgerissen war, wie ihn die Telefonistinnen für Mitteilungen verwenden. Auf diesem Zettel stand: »Herr Conrad bittet, unverzüglich die vereinbarte Telefonnummer anzurufen. Es handelt sich um eine äußerst dringende Angelegenheit.« »Offenbar will mich der Minister sprechen«, sagte Michael Reiners nachdenklich. »Welcher denn von den zweihundert, die ihr hier in Deutschland habt?« wollte Wolf Beck wissen. »Der, der mir heute nacht auf dem Flugplatz behilflich war.« »Dann will er kassieren«, rief Wolf. »Mach es kurz – sei nicht kleinlich; aber laß dich auch nicht übers Ohr hauen. Politiker neigen zu billigen Geschäften. Sie gehen gelegentlich sogar so weit, Blut mit Ehre zu bezahlen.« Der amerikanische Stadtkommandant hatte vor sich auf seinem Schreibtisch die neuesten Weisungen aus Washington liegen. Sie waren kurz und übersichtlich. An 159
Deutlichkeit ließen sie nichts zu wünschen übrig. Wer diese Weisungen las, glaubte den Mann, der sie verfaßt hatte, schreien zu hören. Der General gehörte nicht zu denen, die sich durch Geschrei einschüchtern ließen. Er legte sein ledernes Texanergesicht in diplomatische Falten und sah hoch. »Wir müssen eine wichtige Entscheidung treffen«, sagte er. Vor ihm im Raum saßen der britische und der französische Stadtkommandant; Generale beide, steif und wortkarg der eine, nonchalant und ein wenig unberechenbar der andere. Alle drei hielten Berlin für ein gefährlich heißes Pflaster, ihre Posten für Zielscheiben und ihre Aufgaben für unlösbar. Denn: mehr und mehr waren sie gezwungen, auf die deutsche Innenpolitik Rücksicht zu nehmen. Das ging so weit, daß sie kaum noch etwas anordnen konnten, ohne der Zustimmung oder doch der wohlwollenden Duldung zuständiger deutscher Stellen sicher zu sein. Die Zeiten, da sie frei schalten und walten konnten, waren vorbei. Vor dem amerikanischen General, dicht neben den Weisungen aus Washington, lag der stündliche Bericht, diesmal für 10.00 Uhr bestimmt. Er war nahezu absendebereit; aber der General gedachte, nach dieser Unterredung noch einen wichtigen Absatz hinzuzufügen. Bis jetzt lautete seine Meldung wie folgt: Die Demonstranten im Ostsektor zählen bereits mehrere tausend. Noch immer läßt sie die Polizei gewähren. Der Ostberliner Rundfunk hat inzwischen bekanntgegeben, daß der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund und die Sozialistische Einheitspartei um 16.00 Uhr eine Großkundgebung auf dem Marx160
Engels-Platz, dem früheren Lustgarten, veranstalten werden. Gleichzeitig wurde eine Verordnung des Ostberliner Polizeipräsidiums verlesen, nach der in der Zeit von 11.00 Uhr bis 15.00 Uhr alle weiteren Demonstrationen untersagt sind. Bei Zuwiderhandlungen wird sofortige Verhaftung angedroht. »Meine Herren«, sagte er zu den beiden Generalen, »Sie wissen, daß unsere Freunde im Ostsektor sehr mobil geworden sind.« »Ein wenig zu mobil – will mir scheinen«, sagte der französische General. »Stimmt«, sagte der britische General. »Aber solange es in unserem Bereich ruhig ist, können wir nichts anderes tun, als die Vorgänge im Ostsektor aufmerksam zu beobachten.« »Aber wenn es bei uns nicht ruhig bleibt?« fragte der Amerikaner und sah seine Gesprächspartner aufmerksam an. »Dann wird uns vermutlich nichts anderes übrigbleiben«, sagte der Franzose, »als Ruhe zu schaffen.« »Vorbeugende Maßnahmen sind besser«, erklärte der Brite gelassen. »Dann wollen wir das jetzt gemeinsam versuchen«, sagte der amerikanische Stadtkommandant und klingelte seinen Adjutanten herbei. »Ich lasse den Herrn Polizeipräsidenten bitten. Das, was wir von ihm erwarten, habe ich vorsorglich bereits mit dem Regierenden Bürgermeister durchgesprochen.« Der Polizeipräsident erschien. Er wurde von den Anwesenden begrüßt und begrüßte die Anwesenden; sie 161
tauschten ein paar allgemeinverbindliche Worte. Nachdem sie alle wieder Platz genommen hatten, kam der Amerikaner unverzüglich auf das entscheidende Gesprächsthema. »Der Herr Polizeipräsident«, so informierte er seine Kollegen, »hatte die Liebenswürdigkeit, mich davon in Kenntnis zu setzen, daß Westberliner Gewerkschaften eine Gegenkundgebung planen.« »Wirklich?« fragte der Brite überrascht. Der Polizeipräsident nickte. »Ich halte diesen Vorgang für nicht unwichtig und möchte nicht eher meine Zustimmung geben …« »Sie wollen Ihre Zustimmung geben?« fragte der französische General gedehnt. »Unter der Voraussetzung natürlich«, beeilte sich der Polizeipräsident zu versichern, »daß ich mit Ihrer Unterstützung rechnen darf. Die Bereitstellung von Truppen zur eventuellen Verstärkung der Polizeikräfte …« »Nicht ein Mann!« sagte der Amerikaner. »Dafür nicht ein Mann!« Der Polizeipräsident stutzte und glaubte, sich verhört zu haben; zumindest war er diese Tonart seit geraumer Zeit nicht mehr gewohnt. »Aber meine Herren!« rief er. »Ich kann doch nicht einfach eine derartige Kundgebung verbieten!« »Warum nicht?« fragte der französische Stadtkommandant. »Wir raten Ihnen dazu«, sagte der britische General. »Sie meinen wirklich …?« fragte der Polizeipräsident. »Jedenfalls«, sagte der Amerikaner, wobei er verkniffen lächelte, ohne einen der Anwesenden direkt 162
anzusehen, »bin ich sicher, daß wir uns einigen werden – zumal es hier wirklich nur eine einzige Lösung gibt. Sie haben sie bereits angedeutet, Herr Polizeipräsident. Jedenfalls kann ich Ihnen zu Ihrem Entschluß, diese Kundgebung zu verbieten, nur gratulieren. Der Regierende Bürgermeister vertritt die gleiche Ansicht wie Sie. Und in diesem Punkt haben Sie nicht nur unsere Zustimmung, sondern wir versichern Sie darüber hinaus unserer vollsten Unterstützung. Dafür steht Ihnen jeder unserer Männer zur Verfügung. Meine Herren, ich freue mich, daß wir so schnell eine Einigung erzielt haben.« Der Amerikaner erhob sich und verabschiedete seine Gäste, wobei er dem Polizeipräsidenten besonders herzlich die Hand drückte. Er eilte in einen Nebenraum, um das Kabel nach Washington aufzugeben. Er fügte noch einen kurzen Absatz hinzu, der folgenden Wortlaut hatte: Eine von den Westberliner Gewerkschaften geplante Gegenkundgebung vor dem Reichstag ist im Einvernehmen mit dem britischen und französischen Stadtkommandanten vom Polizeipräsidenten verboten worden. Martin schrieb einen Brief an Maria; und je länger er schrieb, um so trauriger wurde er. Er glaubte, sie vor sich zu sehen, wie sie bleich und fiebernd im Bett lag. Martin grübelte und wußte nicht, wie er alles das sagen sollte, was ihn bewegte. Plötzlich fragte er sich, ob vielleicht die Möglichkeit bestünde, daß Maria gar nicht kommen wollte – aber diesen Gedanken verwarf er sofort wieder. So war Maria nicht! Er erinnerte sich an jenen Tag, damals vor einem Jahr, als sie verabredet hatten, sich an der Sägemühle zu 163
treffen, die in den Wäldern auf dem Weg nach Peiting lag. Er war lange vor der angegebenen Zeit da gewesen, hatte sich an den Waldrand ins Gras gesetzt und in das Lechtal hinuntergesehen. Maria war pünktlich wie immer. Sie begrüßte ihn kurz, und ihr Gespräch begann etwas mühsam. Er bemerkte, daß ihr Gesicht glänzte und der Atem stoßweise ging sie war erhitzt und es bereitete ihr Mühe, regelmäßig zu atmen. »Haben Sie Fieber?« fragte er besorgt. »Aber nein!« rief sie heftig. »Sie sind erhitzt.« »Ich bin zu hastig gelaufen«, sagte sie. »Aber ich mußte es tun – ich hätte mich sonst verspätet.« »Ich hasse Unpünktlichkeit«, hatte sie damals gesagt. »Und ich pflege meine Versprechungen einzuhalten. Das hat nichts mit Ihnen zu tun!« Er nahm jetzt Marias letzten Brief, der neben ihm lag, und entfaltete ihn. Ihre Schrift war klar und schön, wie sie selbst. Immer wenn sie von Liebe schrieb, schien sie zu zögern; und die Worte, die sie dann brauchte, waren einfach. »Ich wünsche von Herzen«, so schrieb sie, »daß wir zusammen bleiben; so lange, bis einer von uns nicht mehr da ist. Doch auch dann werden wir nicht getrennt sein, denn verlieren können wir uns jetzt nicht mehr.« Martin las diese Stelle noch einmal. Und in diesem Augenblick war er fest davon überzeugt, daß er die Wahrheit las – nichts als Wahrheit. Plötzlich glaubte er zu wissen, was er zu tun hatte. Er stand auf und begab sich in die Küche, wo seine Mutter anfing, das Mittagessen vorzubereiten. »Mutter«, 164
sagte er entschlossen, »wenn Maria nicht zu uns kommen kann, dann muß ich zu Maria fahren. Das ist doch ganz einfach.« »Es ist gut«, sagte die Mutter, ohne aufzuschauen, »daß du selbst auf diese Idee kommst.« »Aber ich frage mich, Mutter, ob ich wirklich fahren darf – darf ich dich jetzt, in dieser Situation, allein lassen?« »Mach dir um mich keine Sorgen, mein Junge – und um Vater auch nicht. Ein Leben lang spielt er mit der Politik; er ist aber dabei immer zu spät gekommen und hat niemals einen Treffer gemacht. Das ist unser Glück. Es wird uns schon nicht verlassen.« »Und die Sitzungen mit seinen Freunden?« »Sie nehmen die Politik als Vorwand, Bier zu trinken.« »Sie wollen so etwas wie ein Streikkomitee gründen!« »Auch das ist nicht neu, mein Junge – sie werden, wie üblich, dieses Streikkomitee wieder auflösen! Das alles soll dich nicht beunruhigen, Martin. Fahre getrost zu ihr.« »Gleich nach dem Essen!« sagte Martin und fühlte sich wunderbar erleichtert. »Wenn ich mich sehr anstrenge, kann ich vielleicht schon morgen abend bei Maria sein!« Um 11.00 Uhr wurde gleichzeitig von Radio Moskau und Radio Warschau eine Erklärung verbreitet, die folgenden Wortlaut hatte: Provokatorische, klassenfeindliche Elemente haben in der polnischen Volksrepublik Unruhe und Verwirrung gestiftet. In einzelnen Städten versuchten sie, die Macht an sich zu reißen. Den gleichen subversiven Elementen, die von Agenten westlicher Mächte gelenkt wurden, ist es auch gelungen, einige Einheiten der polnischen Armee zum Aufruhr zu verleiten. Die Sowjetregierung sah sich daher gezwungen, zum 165
Schutze der sozialistischen Errungenschaften der polnischen Volksrepublik und zur Wahrung des Friedens Verstärkungen für ihre Stationierungstruppen nach Polen zu entsenden. Inzwischen ist es der polnischen Regierung gelungen, die Kontrolle im Lande wieder auszuüben. Um weiteres sinnloses Blutvergießen zu verhindern, wird zwischen der Regierung der UdSSR und der Regierung der Volksrepublik Polen folgendes Abkommen getroffen: 1. Um 15.00 Uhr wird in ganz Polen das Feuer eingestellt. 2. Jeder Offizier, der sich diesem Befehl widersetzt, wird erschossen. 3. Die polnischen Truppen treten, um 15.00 Uhr beginnend, den Rückmarsch in ihre Garnisonen an. Die sowjetischen Verbände, die vom Kaliningrader Gebiet aus die polnische Grenze überschritten haben, werden, um 15.00 Uhr beginnend, hinter die Grenze zurückgezogen. Die sowjetischen Verbände, die sich auf dem Wege nach Warschau befanden, werden, um 15.00 Uhr beginnend, hinter die Linie Rzescow-Rozwudow-LublinSiedlce-Lomza zurückgenommen. In wenigen Tagen werden in Warschau neue Verhandlungen zwischen der UdSSR und der Volksrepublik Polen aufgenommen, zu dem Zweck, das Stationierungsabkommen unter neuen Gesichtspunkten nochmals zu überprüfen. »Wir werden unser Gespräch auf einen späteren Zeitpunkt verschieben müssen«, sagte Michael Reiners, aus der Telefonzelle kommend, zu seinem Freund Wolf 166
Beck. »Ich muß zu einer dringenden Besprechung in den Ostsektor. Ich habe versucht, sie zu verschieben, aber ich glaube jetzt nicht mehr, daß ich das verantworten kann.« »Und mich hier einfach sitzenzulassen, das kannst du verantworten?« fragte Wolf Beck unwillig. »Schließlich bin ich deinetwegen zwölf Stunden durch die Gegend geflogen.« »Constances wegen«, korrigierte Reiners. »Das ist doch dasselbe!« rief Wolf Beck. »Oder soll Constance den Eindruck gewinnen, daß dich ihre Angelegenheiten erst in zweiter Linie beschäftigen?« »Keinesfalls«, versicherte Michael. »Essen wir mittags zusammen – wir drei?« »Ich will gern versuchen, mich dafür frei zu machen«, sagte Michael Reiners und ging dem Ausgang zu. Wolf Beck begleitete ihn. Er redet auf ihn ein, als habe er keine Sekunde zu verschenken. »Ich rechne auf dich, Michael«, sagte er eindringlich. »Du bist auch mit mir befreundet, nicht nur mit Constance – und unsere Freundschaft ist wesentlich älter. Und mir verdankst du schließlich, daß du Constance kennengelernt hast.« »Nicht dir, Wolf«, sagte Michael Reiners. »Es war Henry!« »Unser Freund Henry war für Constance bestenfalls eine Episode«, erklärte Wolf Beck, »aber mit mir war sie verheiratet.« »Sie ist es noch, Wolf«, sagte Michael Reiners. »Und warum sollte das eigentlich nicht so bleiben?« »Das fragst ausgerechnet du!« sagte Wolf Beck. »Niemand weiß so gut wie du, was für ein Mensch Constance ist.« 167
»Ein wunderbarer Mensch, Wolf!« »Mag sein«, sagte Wolf, »in deinen Augen – für dich!« Er folgte seinem Freund bis auf die Straße hinaus, wo der Portier bereits ein Taxi anrollen ließ. Hartnäckig blieb er bei seinem Thema, bemüht um Michaels Anteilnahme. »Nun gut – sie ist ein wunderbarer Mensch. Aber ich brauche kein Dekorationsstück, sondern eine Hausfrau und Mutter.« »Hast du die etwa gefunden?« »Ja«, sagte Wolf Beck. »Und deshalb bin ich jetzt auch entschlossen, die Scheidung endlich durchzusetzen. Constance braucht nur eine vorbereitete Erklärung zu unterschreiben, die dann notariell beglaubt wird. Dabei mußt du mir helfen, mein Freund. Ich muß diese Erklärung noch heute haben!« »Ich werde alles tun, um dir zu helfen«, versprach Michael, der in das wartende Taxi einstieg. »Aber ich werde selbstverständlich nichts unternehmen, was Constance schaden könnte.« Wolf Beck hielt die Tür des Taxis auf und beugte sich zu seinem Freund hinunter. »Das eine wollte ich dir noch sagen, Michael – ich bin sehr glücklich darüber, daß Constance in dir einen so guten Freund gefunden hat. Sie schwärmt manchmal von dir wie ein junges Mädchen. Kurz, mein Verehrtester – sie liebt dich. Denke daran! Aber sorge endlich dafür, daß dir die Politik nicht dein ganzes Privatleben blockiert. Sonst könntest du einmal mit leeren Händen dastehen.« »Aber mit sauberem Gewissen!« Während Michael Reiners in einem Taxi auf den Ostsektor zufuhr, hörte er Nachrichten, die aus dem Autoradio kamen. Es waren Nachrichten einer westdeutschen Station. 168
Wie unser Korrespondent nach Aufhebung der Nachrichtensperre aus Warschau berichtet, wird der Abschluß des Waffenstillstandsabkommens in der polnischen Hauptstadt allgemein als ein Sieg der Regierung gewertet. Man weist jedoch darauf hin, daß die sowjetischen Truppen weiterhin einen 60 bis 80 Kilometer breiten Streifen polnischen Territoriums besetzt halten. Von einer völligen Beruhigung in Warschau kann noch nicht gesprochen werden. Da die Regierung zahlreiche Verhaftungen vorgenommen hat, sammeln sich bereits neue Demonstranten, die die Freilassung der Gefangenen fordern. In ausländischen diplomatischen Kreisen spricht man die Befürchtung aus, daß die Regierung aufgrund der Entwicklung zu einem härteren Kurs gezwungen werden könnte. »Sehen Sie, so ist das«, kommentierte der Taxichauffeur. »Erst klettern sie auf die Palme, und dann müssen sie wieder herunter. Dabei hätten sie doch gleich von unten sehen können, daß oben keine Kokosnuß hängt!« Das Taxi hielt vor der Sektorengrenze, am Übergang sieben. »So«, sagte der Chauffeur, »da sind wir. Mich kriegen Sie keinen Meter weiter. Ich bin nämlich ein freiheitsliebender Mensch, müssen Sie wissen. Aber wenn Sie zehn Mark drauflegen, lasse ich eventuell mit mir reden.« »Ich will Ihre Ideale nicht gefährden«, sagte Reiners. »Ich werde drüben erwartet.« Er zahlte und ging dann auf die Sperre zu. Die hier eingesetzten Westberliner Polizisten ließen Michael Reiners ohne weiteres passieren. »Wenn Sie 169
durchaus wollen«, sagte einer, »bitte! Wie weit Sie allerdings kommen werden, können wir nicht sagen.« Michael Reiners durchschritt das leere Niemandsland und wurde auf der anderen Seite von neugierigen Volkspolizisten in Empfang genommen. Ehe die noch irgend etwas sagen konnten, kam ein Zivilist auf Reiners zu und bat ihn höflich, sich auszuweisen. Michael übergab ihm wortlos seinen Paß. Der Zivilist überprüfte die Personalangabe mit schnellen, sicheren Blicken. Dann gab er Reiners den Paß zurück und sagte: »Der stellvertretende Ministerpräsident erwartet Sie bereits, Herr Doktor. Bitte folgen Sie mir.« Knapp dreißig Meter vom Wachtposten entfernt stand eine schwarze Staatslimousine. Der Fahrer öffnete wortlos die Türen; Michael setzte sich nach hinten. Der Zivilist nahm vorne Platz und drehte, während der Wagen sofort anfuhr, den Radioapparat auf volle Lautstärke. Wieder vernahm Reiners Nachrichten. Diesmal kamen sie vom Ostberliner Rundfunk. Aufgehetzt durch die Lügenmeldungen des FrontstadtSenders RIAS über die Ereignisse in der Volksrepublik Polen und angestiftet durch Agenten der Westberliner Spionagezentralen, haben einige Studenten der Humboldt-Universität heute früh in Berlin demonstriert. Arbeiter und Bürger Berlins haben jedoch die Demonstranten bald von der Unsinnigkeit ihres Tuns überzeugt. In regen Diskussionen machten sie den Studenten klar, wie die wahre Lage in Polen ist. Die Demonstranten sind daraufhin wieder in die Universität zurückgekehrt. Um weitere Unbesonnenheiten zu verhindern, hat der Polizeipräsident, wie bereits bekanntgegeben, ein 170
Demonstrationsverbot bis 15.00 Uhr erlassen. Um 16.00 Uhr werden sich die Bürger des demokratischen Berlin auf dem Marx-Engels-Platz versammeln, um in einer machtvollen Kundgebung für die Einheit des sozialistischen Lagers zu demonstrieren. Sie werden ihre brüderlichen Grüße dem polnischen Volk entbieten, dem es gelungen ist, den Putschversuch faschistischer Elemente im Keime zu ersticken. Keiner der Insassen des Wagens sagte ein Wort. Die Straßen, durch die sie fuhren, waren nahezu leer. Die Fassaden der Häuser zu beiden Seiten trugen noch Spuren des letzten Krieges. Aus dem Lautsprecher klang jetzt Marschmusik. Ruth Winters war fest entschlossen, ihre persönlichen Dinge zu ordnen, bevor Wolf Beck kam. Sie wollte ihm frei und unabhängig entgegentreten können. Sie hatte Bernhardt, der ihr besondere Schwierigkeiten zu machen gewillt schien, um zwölf Uhr in ein Restaurant beim Rathaus bestellt. Sie erschien, wie immer durch ihre raffinierte Einfachheit Aufsehen erregend, mit einiger Verspätung. Der Vormittag war voller Arbeit gewesen. Alle Koffer waren gepackt und die letzten Rechnungen beglichen worden. Sie hatte den ihr zur Verfügung stehenden Teil des Architektenbüros an ihren Teilhaber übergeben, sich von ihren Mitarbeitern verabschiedet und noch einmal mit ihrer »Freundin« telefoniert. Diese Freundin war die Frau ihres bisherigen Teilhabers, ein nettes, hausfrauliches, doch ein wenig temperamentloses Geschöpf. Wenn sie in letzter Zeit dennoch oft mit dieser Frau zusammen gewesen war, so deshalb, weil sie glaubte, daß Wolf eine so seriöse und harmlose Bindung gern sehen würde; zumal er den 171
Architekten kannte und schätzte. Und Briefstellen wie diese lasen sich immer gut: »… habe ich mich ihnen angeschlossen, und wir besuchten ein Konzert …. aßen zusammen …. segelten gemeinsam …« Ruth hatte auch alle Briefe vernichtet, die sie besaß – bis auf die von Wolf natürlich. Sie hatte sie ohne Wehmut verbrannt; die meisten sah sie gern brennen. Bernhardt lächelte ihr entgegen und erhob sich verbindlich. Er rückte ihr den Stuhl zurecht und ließ sich dann ihr gegenüber nieder. »Du hast mir heute morgen einen Brief zustellen lassen«, sagte Ruth Winters ohne zu zögern, »der mir recht sonderbar vorkommt. Ich denke, ich bin gestern deutlich genug gewesen.« »Gewiß«, gab Bernhardt zu und entblößte ein wenig seine schönen Zähne. »Über einen ganz bestimmten Punkt sind wir uns auch einig – ist das nicht in der vergangenen Nacht wieder einmal deutlich geworden? Wenn du mich nicht mehr zu lieben glaubst, kann man natürlich nichts dagegen machen. Doch wir haben uns schließlich nicht nur geliebt, wenn ich unser Verhältnis so bezeichnen darf, sondern wir waren auch gute Freunde.« »Das ist mir neu«, sagte Ruth Winters. »Aber das soll dich natürlich nicht daran hindern, mir zu erklären, was du darunter verstehst – oder was du von mir erwartest.« »Ich bitte dich ganz einfach um einen Freundschaftsdienst.« »Es wird mir wohl kaum möglich sein«, sagte Ruth Winters ablehnend, »noch irgend etwas für dich zu tun. Ich verlasse, wie du weißt, vielleicht schon morgen Hamburg und habe bis dahin noch sehr viel zu erledigen.« »Es handelt sich nur um eine Kleinigkeit«, versicherte 172
Bernhardt. »Geld besitze ich so gut wie gar keins«, sagte Ruth Winters. »Ich habe zwar immer viel verdient, aber alles gleich wieder ausgegeben.« »Das interessiert mich nicht. Ich wollte dich bitten, dich bei Wolf Beck für mich zu verwenden. Bei seinen internationalen Beziehungen wird es für ihn eine Kleinigkeit sein, mir den einen oder anderen guten Job zu verschaffen.« »Ausgeschlossen«, sagte Ruth Winters hart. »Das mache ich nicht.« »Du wirst dir das überlegen«, sagte Bernhardt. »Du wirst darüber nachdenken und dann sicherlich zu dem Entschluß kommen, daß du mir diese Gefälligkeit nicht abschlagen darfst. Denn schließlich haben wir uns doch einmal geliebt; oder soll ich sagen: mehrmals geliebt?« Die große schwarze Limousine, die auf Michael Reiners an der Sektorengrenze gewartet hatte, hielt vor dem Gebäude, in dem der stellvertretende Ministerpräsident amtierte. Der Fahrer öffnete die Wagentür und Michael stieg aus. Der begleitende Zivilist sagte: »Bitte folgen Sie mir, Herr Doktor.« Reiners kannte die Atmosphäre der geschäftigen, fast lautlosen Sachlichkeit; sie störte ihn nicht, sie ließ ihm Zeit zum Nachdenken und zum Beobachten. Die Korridore des Ministeriums waren fast leer. In der hinteren Halle des neuen, kasernenähnlichen Hauses hatten sich einige Herren versammelt und schienen auf ihn zu warten. Der Zivilist jedoch, der Reiners voranging, beachtete sie nicht, er schritt durch sie hindurch in die Räume des stellvertretenden Ministerpräsidenten hinein. Der stellvertretende Ministerpräsident, der Reiners seit einigen Jahren gut bekannt war, stand auf und verbeugte 173
sich gemessen, allerdings ohne die Herzlichkeit, die er sonst zu zeigen liebte. Der Grund dafür wurde Reiners sofort klar, als er die anderen Herren sah, die im Zimmer des stellvertretenden Ministerpräsidenten saßen und ihn kritisch betrachteten. »Sie haben mich zu einer Unterhaltung zu sich gebeten«, sagte Reiners, bemüht, sofort eine Grenze zu ziehen. »Von einer Konferenz war keine Rede.« Der stellvertretende Ministerpräsident kam aus liberalen Kreisen des Landes. Er hatte sich mit Energie und Kompromissen auf seinem Posten gehalten. Er galt als brauchbares Aushängeschild der sozialistischen Einheitsregierung. Dennoch hatte er sich bisher eine gewisse Unabhängigkeit zu bewahren gewußt. Seine Freunde, die ihn einfach G. M. nannten, setzten große Hoffnungen in ihn. Er gehörte, sagte man, der Regierung an, um das Schlimmste zu vermeiden. Aber das war auch zu andern Zeiten von ganz anderen Leuten gesagt worden. »Darf ich fragen«, wollte Reiners hartnäckig wissen, »was diese Versammlung zu bedeuten hat?« G. M. versuchte zu lächeln. »Ich bin sicher, daß Sie meine Beweggründe verstehen werden«, sagte er. »Erlauben Sie mir zunächst, daß ich Ihnen die anwesenden Herren vorstelle.« Reiners nickte. »Wenn ich bitten darf«, sagte er, »dann nicht nur namentlich, sondern auch mit Angabe des Tätigkeitsbereichs.« G. M. stellte nunmehr Reiners einen der Herren nach dem anderen vor. Außer den Namen der Anwesenden nannte er Dienstbezeichnungen. Auf die einzelnen Tätigkeitsbereiche der Gesprächsteilnehmer ging er nicht näher ein. 174
Anwesend waren außer G. M. ein Minister, der ebenfalls aus liberalen Kreisen kam und zu den »Fachministern« zählte. Ferner: ein Oberregierungsrat aus dem Innenministerium, ein Abteilungsleiter aus dem Verteidigungsministerium, ein Beamter z.b.V. aus dem Stab des Ministerpräsidenten und zwei sogenannte »Spezialbeamte«, die vermutlich zum Staatssicherheitsdienst gehörten. »Sie sehen mich überrascht«, sagte Reiners und setzte sich. »Und im übrigen fürchte ich, daß Sie mich überschätzen.« »Herr Doktor Reiners«, sagte der stellvertretende Ministerpräsident sehr förmlich und wohlüberlegt, »uns allen ist Ihre Einstellung zum Problem der deutschen Wiedervereinigung bekannt. Wir können Ihre politischen Ansichten in vielen Punkten nicht teilen, vermögen sie jedoch zu respektieren.« »Sie können, Herr Minister«, sagte Reiners in höflichem Ton, »unverzüglich zum eigentlichen Anliegen kommen.« »Gut«, sagte G. M. Er war sichtlich erleichtert, einer längeren Einleitung enthoben zu sein. Er blickte zu seinen Genossen hinüber, die durch Unbewegtheit ihr Einverständnis kundtaten. »Es geht um folgendes, Herr Doktor Reiners: Die augenblickliche Situation läßt es ratsam erscheinen, sofort eine gewisse Verbindung mit westdeutschen, insbesondere Westberliner Partei- und Regierungskreisen aufzunehmen.« »Wenn Sie das erreichen wollen«, sagte Reiners, der seine ablehnende Haltung deutlich zeigte, »gibt es eine ganze Anzahl von Möglichkeiten.« »Wir sehen im Augenblick keine andere, die schneller und sicherer funktionieren könnte«, versicherte der stellvertretende Ministerpräsident. 175
»Ich bin weder ein Diplomat noch ein Parteipolitiker«, erklärte Reiners. »Und gerade das«, sagte G. M.. »ist der besondere Vorteil.« »Vorteil – für wen?« fragte Reiners. »Ich sagte Vorteil«, erklärte der stellvertretende Ministerpräsident eilig, »meinte jedoch Vorzug.« Und nahezu beschwörend fuhr er fort: »Es geht um deutsche Menschen! Wir müssen alles tun, um Blutvergießen zu verhindern.« »Wem sagen Sie das?« fragte Reiners unfreundlich; er wehrte sich gegen eine Last, die ihm hier, wie er deutlich spürte, aufgebürdet werden sollte. »Sie können sich Ihrer Verantwortung nicht entziehen«, rief G. M. dramatisch, was ihm die Anerkennung einiger seiner Zuhörer einbrachte. »Was wollen Sie eigentlich?« fragte Reiners heftig. »In Polen hat die Besonnenheit doch gesiegt. Ihre hundert demonstrierenden Studenten haben Sie mit Ihren Methoden mühelos in Schach halten können. Die eine Arbeitergruppe vom Prenzlauer Berg war verhältnismäßig harmlos. Ihre Nachmittagskundgebung wird der übliche große Erfolg werden. Also – wozu brauchen Sie mich? Es ist doch alles sozusagen in Ordnung.« »Leider nein«, sagte der stellvertretende Ministerpräsident und blickte zu den beiden Männern hinüber, die als »Spezialbeamte« vorgestellt worden waren. Einer der beiden nickte jetzt. G. M. erklärte: »Nicht nur die Studenten haben demonstriert. Nicht nur ein oder zwei Arbeitergruppen in Berlin. Demonstrationen haben ebenfalls in Halle, Leipzig, Chemnitz und Dresden stattgefunden, von kleineren Kundgebungen in Werdau und Saalfeld 176
abgesehen.« Hierauf fand Reiners zunächst keine Antwort. Er blickte den Minister an, dann die anderen Anwesenden. Sie schwiegen alle. Reiners hatte das bedrückende Gefühl, in ein dichtes Netz geraten zu sein. »Bedenken Sie«, sagte jetzt einer der »Spezialbeamten« mit einer Ruhe, die nervenstrapazierend wirkte, »daß diese Demonstranten durch westliche Agenten aufgeputscht worden sind. Bedenken Sie weiter, daß nichts so gefährlich unkontrollierbar ist wie eine fanatisierte Menge, deren Fanatismus ansteckend wirken kann – möglicherweise über die Sektorengrenze hinaus. Bedenken Sie dann, daß wir entschlossen sind, Ruhe und Ordnung unter allen Umständen aufrechtzuerhalten. Unter allen Umständen! Sie wissen, was das heißt.« »Was erwarten Sie von mir?« fragte Reiners leise. »Sie kennen den Regierenden Bürgermeister von West-Berlin«, sagte jetzt wieder der Spezialbeamte. »Sie kennen den Westberliner Polizeipräsidenten und einige führende Politiker. Sie haben darüber hinaus Verbindungen zu Ihrem Bundeskanzler und sicherlich auch zu einflußreichen Amerikanern. Schildern Sie ihnen die Situation, berichten Sie von unserer Entschlossenheit. Sie können damit Blutvergießen verhindern.« »Es ist Ihre Pflicht, Doktor Reiners, das zu tun«, sagte der stellvertretende Ministerpräsident beschwörend. »Es ist nahezu ein starkes Stück, mir das zuzumuten«, erkläre Reiners bedrückt. »Es sind Ihre Probleme, die ich mit bereinigen soll. Sie allein haben diese Situation heraufbeschworen; Agenten, die es vielleicht geben mag, nutzen doch nur aus, was sie fertig vorfinden. Aber die 177
Verantwortung liegt allein bei Ihnen.« »Streiten wir uns doch jetzt nicht um Theorien«, sagte der »Spezialbeamte« ungerührt. »Halten wir uns an die Tatsachen. West-Berlin und Westdeutschland müssen sich heraushalten, und zwar mit allen erdenklichen Konsequenzen. Es muß so sein, als existiere Westdeutschland nicht. Nur so kann Blutvergießen vermieden werden. Fragen Sie die westdeutschen und Westberliner Politiker, ob sie die Verantwortung für alles das, was geschehen könnte, übernehmen wollen. Aber mit diesem Auftrag liegt jetzt zunächst einmal die Verantwortung bei Ihnen.« Reiners betrachtete den »Spezialbeamten« erstaunt. Eine derartige Offenheit, die einer Erpressung gleichkam, hatte er nicht erwartet. Er konnte nur annehmen, daß der Mann die deutsche Sprache zu mangelhaft beherrschte, um feinere Formulierungen zu finden, die seiner Sache wenigstens den Anschein echter Sorge verliehen hätten. »Und wenn ich mich weigere?« fragte Reiners und sah den »Spezialbeamten« fest an. »Ich an Ihrer Stelle würde das nicht tun, Herr Doktor Reiners«, sagte der. »Und warum nicht?« »Wir haben bisher nur eine Bitte an Sie gerichtet – Sie sollten uns nicht zwingen, eine Forderung zu stellen. Wir halten Sie für einen Freund der guten und gerechten Sache. Für einen Patrioten. Nicht aber für einen Spion oder Verräter oder eine Art kriminellen Betrüger.« »Was soll das heißen?« fragte Reiners rauh. »Ich bitte Sie, uns nicht mißzuverstehen!« rief der stellvertretende Ministerpräsident nahezu beschwörend. »Ach was!« rief der »Spezialbeamte« brutal. »Es geht 178
hier um Tausende von Menschenleben. Wenn die zu retten sind, kommt es auf ein einziges nicht an.« Reiners hatte verstanden. Was gesagt worden war, konnte deutlicher nicht mehr gesagt werden. Er nickte. »Ich will es versuchen.« Um 12.30 Uhr gab der NATO-Oberbefehlshaber vor den versammelten Offizieren seines Stabes eine neue Beurteilung der Lage: Meine Herren. Unsere Analyse der Vorgänge in Polen hat sich als richtig erwiesen. Da beide Seiten an einer Fortführung der Kampfhandlungen nicht interessiert waren, wird nach übereinstimmenden Meldungen aus Polen der Feuereinstellungsbefehl in allen Teilen des Landes befolgt. Die von den Russen den Polen aufgezwungene Waffenstillstandslinie ermöglicht es den schnellen sowjetischen Verbänden, Warschau notfalls in zwei Stunden zu erreichen. Trotzdem ist zusammenfassend vom polnischen Raum zu sagen, daß von hieraus der Weltfrieden vorläufig nicht mehr bedroht wird. Leider scheint sich jedoch meine bereits in unserer letzten Lagebesprechung geäußerte Befürchtung, daß der polnische Funke überspringen könnte, zu bewahrheiten. Die derzeitige Ruhe in Ost-Berlin ist nur scheinbar: wir müssen damit rechnen, daß es bei der für 16.00 Uhr von der kommunistischen Regierung angeordneten Kundgebung zu ernsten Zwischenfällen kommt. Diese Befürchtung scheint um so begründeter, als ich soeben folgende Nachricht erhalten habe: Außerhalb der militärischen Kontrolle stehende westliche Untergrundorganisationen haben den Versuch gemacht, Verbindung mit den antikommunistischen Demonstranten 179
des heutigen Vormittags aufzunehmen, um sie zu einer Gegendemonstration um 16.00 Uhr zu veranlassen. Es sind auf politischer Ebene sofort Schritte eingeleitet worden, um dies zu verhindern. Bis zur Stunde war es noch nicht möglich, eine einwandfreie Bestätigung für Berichte zu erhalten, nach denen auch in sächsischen Industriestädten Demonstrationen stattgefunden haben sollen. Wir werden darüber in Kürze Klarheit besitzen. Sollten sich diese Meldungen jedoch als richtig erweisen, so werden wir vor die Entscheidung gestellt, ob das Stichwort »Antilope« herausgegeben werden soll. Ich bitte Sie, meine Herren, sich jederzeit zu einer neuen Besprechung bereitzuhalten. Inzwischen werde ich mich mit dem Generalsekretär beraten. Die Sorgen, die man sich in Mitteleuropa machte, hatten mehr mit der eigenen Familie als mit der Weltpolitik zu tun. Die Frage, ob ein Paar neue Schuhe für das Kind, ein Hemd für den Vater oder ein Kleid für die Mutter angeschafft werden sollten, war den Menschen wichtiger als das Dorf, das in Nordafrika niedergebrannt worden war. Die Entscheidung darüber, mit welcher Farbe der Zaun angestrichen werden sollte, ob Salzgurken oder Essiggurken zu bevorzugen seien, ob Toto oder Lotto – alles das bewegte die normalen Mitteleuropäer mehr als die Kämpfe in Polen und die Demonstrationen in Ost-Berlin. »Der Lichtblitz einer Atombombe«, so las Hauptmann Müller-Marburg in der neuen Ausbildungvorschrift, »ist bei klarem Wetter etwa hundertmal so hell wie die Sonne.« Er las das mit fachlichem Interesse, denn er wollte es seinen Soldaten im Unterricht beibringen. Der 180
Kommandeur, so hoffte er, würde das zu würdigen wissen. »Die unbeirrbare Entschlossenheit«, so las der ostdeutsche Gefreite Schulze-Schwerin in seiner Soldatenzeitung, »für die Freiheit des Vaterlandes, die sozialistischen Errungenschaften und die Erhaltung des Friedens zu kämpfen, muß so unerschütterlich sein, daß dem Gegner jeder Mut genommen wird, einen Angriffskrieg zu provozieren.« Er las das mit ehrlichem Glauben, denn auch er war ja für die Erhaltung des Friedens. Er war ein anständiger junger Mann, der das Beste wollte. Die Welt war schön und das Leben gut, zumindest für die, die sich liebten. Die kleine Isolde betrachtete die Hände ihres Peters, der eigentlich Otto hieß, und übersah, daß seine Fingernägel nicht sehr sauber waren. »Du hast schöne Hände«, sagte sie; und Peter war stolz und verlegen. Und Maria fuhr auf ihrem Fahrrad von Schongau nach Sonneberg, nicht ahnend, daß zur gleichen Zeit Martin von Sonneberg nach Schongau fuhr. Sie dachten aneinander und freuten sich auf ihr Wiedersehen. Das Telegramm, das Maria geschickt hatte, war unterwegs; es würde zu spät kommen. Sie fuhren aufeinander zu, ohne es zu wissen. »Das«, sagte Constance betrübt, »hätte ich von Michael nicht geglaubt.« Sie saß Wolf Beck gegenüber. Sie hatten das Mittagessen ohne Michael Reiners beenden müssen und tranken jetzt ihren Kaffee. »Michael«, sagte Wolf Beck, »ist ein Mann von großem Verantwortungsbewußtsein.« »Mir gegenüber leider nicht«, sagte Constance 181
Schubert und betrachtete vorwurfsvoll den leeren dritten Stuhl. »Immerhin hat er versucht, sich telefonisch zu entschuldigen«, sagte Wolf Beck begütigend. »Er weiß aber doch«, sagte Constance mit sanfter Traurigkeit, »daß wir ihn brauchen.« »Michael ist ein ganz besonderer Mensch«, sagte Wolf Beck in dem Bestreben, seinen Freund so gut wie möglich zu verkaufen, wobei er gleichzeitig nach dem Kognak Ausschau hielt. »Er hat Ambitionen, die ihn gelegentlich mehr beherrschen als seine persönlichen Wünsche. Er ist eine Art verhinderter Staatsmann, weißt du. Sein größter Fehler, der allerdings zugleich seinen guten Charakter verrät, besteht darin, daß er sich keiner Partei mit Regierungschancen angeschlossen hat – er wäre nämlich sonst schon Minister.« »Ich verstehe nichts von Politik«, sagte Constance. »Das ist einer deiner besonderen Vorzüge«, versicherte Wolf unbekümmert. »Aber es ist natürlich nicht ratsam, das Michael unbedingt wissen zu lassen.« »Manchmal glaube ich, daß ich Michael nur wenig bedeute«, sagte Constance. »So etwas darfst du nicht sagen«, behauptete Wolf Beck suggestiv. Er hatte endlich den Kognak erspäht, stand auf und goß sich ein Glas ein. »Vielleicht hast du gehört, was in Polen passiert ist. Keine Kleinigkeit, versichere ich dir. Und Michael wird seinen Anteil daran gehabt haben, entscheidenden Anteil – ich meine: bei der Beilegung des Konflikts. Er ist ein bedeutender Mann. Aber was tat er, und zwar genau in dem Augenblick, in dem die Krise ihren Höhepunkt erreicht hatte? Er kam zu dir! Zu uns – wenn du willst. Er brach alle seine Verhandlungen ab, nahm das nächste 182
Flugzeug, nur um bei dir zu sein.« »Ist das wirklich so?« fragte Constance. Wolf Beck goß sich einen neuen Kognak ein. Er hatte Constance im Verlauf der Jahre langsam, aber gründlich kennengelernt; er hatte herausgefunden, wie sie zu behandeln war und worauf sie am sichersten reagierte. Natürlich blieb immer noch, für ihn, ein Rest an Unklärbarem und Unfaßlichem. So bezaubernd schön und anmutig sie auch war – ihre seelischen Komplikationen waren ihm unbegreiflich. »Zum Essen hätte er wenigstens kommen können«, sagte Constance. »Das finde ich auch!« sagte Wolf Beck spontan. »Ohne Michael«, sagte Constance, »unterschreibe ich nichts!« »Er wird kommen«, versicherte Wolf Beck, der nur mit Mühe seinen Ärger verbergen konnte. »Und wenn er nicht kommen will, dann werde ich mal meine Helfershelfer spielen lassen – und das kannst du mir glauben: an unseren Leuten gemessen sind diese Kulis der Politik lahme Enten!« Die nächste »außerordentliche Lagebesprechung« war im NATO-Hauptquartier um 13.30 Uhr angesetzt. Ihr Beginn verzögerte sich um nahezu eine halbe Stunde. Der Oberbefehlshaber kam direkt von einer Konferenz mit dem Generalsekretär; der Abwehrchef begleitete ihn. Der Oberbefehlshaber setzte sich nicht. Er blieb hinter seinem Stuhl stehen, entfaltete einen Zettel und begann sofort mit seiner »Beurteilung der Lage«. Der erste Teil seiner Ausführungen wurde nicht mitstenographiert. Der Oberbefehlshaber hielt es für angebracht, mit einer sehr allgemein klingenden 183
Belehrung zu beginnen. Er sprach von gewissen, sich zwangsläufig ergebenden Differenzen zwischen politischen Maßnahmen und militärischen Notwendigkeiten. Es gäbe Ereignisse, wie die in Polen, die auf dem politischen Sektor noch lange nachklängen, während sie im militärischen Bereich bereits zu einer gewissen Zweitrangigkeit abgesunken seien. Ferner gäbe es Ereignisse, wie die in Ost-Berlin und in der Ostzone, deren mögliche Ausweitung politische Schatten vorauswerfe, während sie militärisch noch so gut wie bedeutungslos erschienen. »Nicht ungeschickt«, flüsterte ein Franzose seinem deutschen Nachbarn zu. »Der geborene Präsidentschaftskandidat!« Der Befehlshaber gab nun dem Stenographen das Zeichen, seine weiteren Ausführungen wörtlich festzuhalten. Er sagte, laut Protokoll: Meine Herren. Wie wir inzwischen erfahren haben, fanden tatsächlich in Halle, Leipzig und Dresden in den heutigen Vormittagsstunden Demonstrationen statt. Blut ist bisher nicht geflossen, aber aus allen Städten werden zahlreiche Verhaftungen gemeldet. Das für Ost-Berlin bis 16.00 Uhr befristete Demonstrationsverbot ist inzwischen für die sächsischen Städte bis heute nacht 24.00 Uhr verlängert worden. Zur Zeit herrscht offenbar wieder Ruhe. Der Anfang ist aber gemacht, und wir müssen, wenn nicht noch heute abend, so spätestens morgen, mit Unruhen in der sowjetischen Besatzungszone rechnen. Ich habe dem Generalsekretär gegenüber meine Besorgnisse über die Entwicklung zum Ausdruck gebracht und ihm mitgeteilt, daß ich gezwungen sein könnte, in den nächsten Stunden mit dem Stichwort 184
»Antilope« Alarmbereitschaft für alle NATO-Einheiten anzuordnen. Der Generalsekretär hat mich darüber informiert, daß heute nacht um 1.00 Uhr MEZ in London eine Geheimsitzung des NATO-Rates stattfinden wird, zu der nicht nur die Außenminister, sondern auch die Verteidigungsminister erscheinen. Die beiden amerikanischen Minister sind bereits von Washington abgeflogen. Wir werden also die weitere Entwicklung abwarten. Wenn es die Lage erlaubt, fliege ich heute nacht selbst nach London. Der Regierende Bürgermeister von West-Berlin hatte Michael Reiners, der ihm persönlich gut bekannt war und den er schätzte, ohne seine politischen Anschauungen in allen Punkten zu teilen, sogleich empfangen. Er hörte sich den Bericht seines Besuchers mit steigender Anteilnahme an, ohne ihn auch nur mit einer einzigen Frage zu unterbrechen. Der Regierende Bürgermeister war ein tüchtiger Verwaltungsbeamter, er vermochte die Belange der stationierten Truppen, der politischen Parteien, der Wirtschaftsgruppen und sonstigen Organisationen ohne größere Komplikationen zu koordinieren. »Lieber Herr Reiners, ich beneide Sie nicht um Ihre Mission.« »Ich hoffe«, sagte Michael Reiners, »daß das nicht Ihre einzige Reaktion auf meinen Bericht ist.« »Keineswegs«, beeilte sich der Regierende Bürgermeister zu versichern. »Ich erkenne die Bedeutung Ihrer Ausführungen, und ich weiß auch, daß Eile geboten ist. Ich werde sofort die führenden Männer der Parteien zu mir bitten, ferner den Polizeipräsidenten 185
und den Präsidenten des Abgeordnetenhauses. Ich bitte Sie dann, vor diesen Herren Ihren Bericht zu wiederholen. Ferner habe ich die Absicht, den amerikanischen Stadtkommandanten von unserem Gespräch zu verständigen.« »Einverstanden«, erklärte Reiners. Kaum mehr als eine halbe Stunde später hatten sich die angekündigten Personen beim Regierenden Bürgermeister versammelt. Unter den Anwesenden befand sich auch Franz Friedrich Baumann, der zwar nicht der entscheidende Mann seiner Partei war, einer der größten Berlins, aber sicher der bekannteste Redner der Westberliner Massenkundgebungen; brillant, aggressiv und volkstümlich – ein Meister der Kunst, die Volksseele zum Kochen zu bringen. Michael Reiners berichtete abermals von seinem Gespräch in Ost-Berlin, mit der gebotenen Zurückhaltung. Die Anwesenden nahmen seine Ausführungen gelassen zur Kenntnis. Lediglich Franz Baumann, auch Aufbaumann oder kurz FF genannt, schien sich mächtig zu amüsieren. »Die Burschen drüben scheinen ja die Hosen gestrichen voll zu haben«, sagte er, nachdem Reiners geendet hatte. »Bitte, mein Verehrtester«, sagte der Regierende Bürgermeister, »wir sind hier nicht vor dem Schöneberger Rathaus.« »Dort würde ich mich gewählter ausdrücken«, erklärte FF Baumann ungeniert. »Jedenfalls«, sagte der Regierende Bürgermeister, »enthält der Bericht von Doktor Reiners eine unmißverständliche Warnung.« 186
»Meiner Ansicht nach«, erklärte Baumann, »bedeutet der ganze faule Zauber nichts anderes als eine Bankrotterklärung. Die Burschen merken, daß sie baden gehen, was seit Monaten, seit Jahren vorauszusehen war; und jetzt haben sie die Frechheit, ausgerechnet von uns zu erwarten, daß wir ihnen einen Rettungsring hinwerfen. Aber ganz so blöd, wie sie uns gerne machen möchten, sind wir ja denn doch nicht. Sollen sie doch ruhig in ihrem Mist ersticken, aber uns nicht als Müllabfuhr mißbrauchen.« Michael Reiners sah den Regierenden Bürgermeister an; der sah zum Präsidenten des Abgeordnetenhauses hin. »Nach diesen Ausführungen über die eine Seite der Angelegenheit«, sagte der Präsident des Abgeordnetenhauses bedächtig, »scheint es nötig, auch andere Gesichtspunkte geltend zu machen. Mich hat besonders beunruhigt, daß man in der Ostzone entschlossen scheint, mit allen Mitteln gegen Demonstranten vorzugehen.« »Das ist doch ein alter Hut!« erklärte Baumann robust. »Das wird seit Jahr und Tag dort so gemacht.« »Es ist aber wohl noch niemals zuvor mit dieser Deutlichkeit ausgesprochen worden«, sagte der Präsident. »Und selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, wer von uns könnte in einer derartigen Situation die Verantwortung für Gegendemonstrationen übernehmen?« »Sie wollen doch nicht etwa die freie Meinungsäußerung verbieten?« fragte Baumann streitbar. »Die freie Meinungsäußerung wird garantiert«, erklärte der Polizeipräsident. »Zusammenrottungen jedoch 187
werden verboten! In diesem Punkt weiß ich mich mit den alliierten Stadtkommandanten einig.« »Meine Herren«, sagte Michael Reiners ernst, »ich bin nach dem in Ost-Berlin geführten Gespräch fest davon überzeugt, daß in der sowjetisch besetzten Zone Auseinandersetzungen für möglich gehalten werden, die einem Existenzkampf auf Leben oder Tod gleichkommen. Entsprechend wird das Vorgehen der dortigen Regierungsgewalt sein. Von Ihrer Haltung wird es entscheidend abhängen, ob Blut fließen wird – und unter Umständen könnten es Ströme von Blut sein.« »Der amerikanische Stadtkommandant«, berichtete der Polizeipräsident, »ist entschlossen, jede Gegendemonstration zu unterbinden. Äußerste Zurückhaltung bezeichnet er als selbstverständlich.« Der Präsident bat formell um das Wort. »Ich schlage vor, unverzüglich eine Sondersitzung des Abgeordnetenhauses einzuberufen, die Situation vor diesem Forum zu diskutieren, dann der Bundesregierung Bericht zu erstatten und um eine Stellungnahme zu ersuchen.« Dieser Vorschlag wurde angenommen. Lediglich Baumann protestierte wirkungslos. Michael Reiners begann aufzuatmen. Im Nachrichtendienst des Bayerischen Rundfunks um 14.00 Uhr wurden unter anderem folgende Meldungen durchgegeben: In der sowjetischen Besatzungszone herrscht zur Zeit Ruhe. Nach Meldungen des Ostberliner Rundfunks wird überall das Demonstrationsverbot eingehalten. In zwei Stunden findet im früheren Lustgarten, dem jetzigen Marx-Engels-Platz, eine von der Ostberliner Regierung angeordnete Kundgebung statt. 188
Nach Berichten aus West-Berlin werden bewaffnete Betriebsschutzgruppen aus Betrieben der Provinz Brandenburg auf Lastwagen nach Ost-Berlin befördert. Die Stalinallee, der Alexanderplatz, die Linden und der Marx-Engels-Platz wurden von Volkspolizeieinheiten abgeriegelt und für jeglichen Verkehr gesperrt. Auf der Regierungstribüne auf dem Marx-Engels-Platz ist ein Spruchband befestigt worden mit der Aufschrift: »Nieder mit den Klassenfeinden! Rettet die Einheit des sozialistischen Weltfriedenslagers!« Die polnische Regierung hat den über Warschau und andere Großstädte verhängten Ausnahmezustand noch nicht aufgehoben. Demonstranten, die in den Mittagsstunden die Freilassung der Verhafteten forderten, wurden von Polizei und Militär auseinandergetrieben. Dabei sind zahlreiche weitere Verhaftungen vorgenommen worden. Constance Schubert schien sich zu verändern, als sie hörte, daß Michael Reiners gekommen war. Sie entschuldigte sich kurz bei Wolf Beck, der sicherlich erfreut darüber war, daß der Freund endlich zur Verfügung stand. »Schön, daß du da bist«, sagte Constance, die vor Michael auf dem Korridor stand. »Auch ich freue mich«, versicherte Michael. Er sah in Constance einen anderen Menschen als Wolf Beck. Für ihn war sie die Verkörperung eines fraulichen Ideals – voll Zartgefühl, romantisch und edel. Sie verband Hoheit mit Anmut. Die Hilfsbedürftigkeit, die sie ausstrahlte, war nach Michaels Ansicht ein Zeichen ihrer still und tapfer ertragenen Verlorenheit in einer Welt, die laut, roh und rücksichtslos geworden war. »Ich muß mich bei dir entschuldigen«, sagte Michael 189
und überreichte ihr die Blumen, die er mitgebracht hatte – es waren Gladiolen, von denen er wußte, daß Constance sie gern sah. »Aber ich darf dir versichern, daß mein Gewissen nicht allzu belastet ist. Ich glaube, ich konnte nützlich sein. Jetzt aber stehe ich ganz zu deiner Verfügung.« »Wolf wartet auch auf dich«, sagte sie und wies auf die Tür, die in das Speisezimmer führte. Sie erkundigte sich danach, ob er bereits gegessen hatte; und als er verneinte, aber betonte, nicht im geringsten hungrig zu sein, bestand sie darauf, ihm eine Kleinigkeit zubereiten zu lassen. Sie begab sich zu Mutter Schwiefert in die Küche. Er ging in den Raum, in dem Wolf Beck bereits auf ihn wartete. »Endlich!« rief Wolf. »Ich muß schon sagen, besonders freundschaftlich war das nicht! Aber jetzt kann es losgehen.« Michael setzte sich, betrachtete seinen geschäftigen Freund und goß sich einen Kognak ein. Wolf holte ein Schriftstück aus seiner Brusttasche und breitete es vor sich aus. »Also«, sagte Wolf Beck, »grundsätzlich sind wir, Constance und ich, uns einig. Wir sind entschlossen, uns scheiden zu lassen – aus beiderseitigem Verschulden, damit die Sache einfacher geht.« »Du willst doch nicht etwa behaupten«, fragte Michael, »daß Constance so etwas wie einen Ehebruch begangen hat?« Wolf Beck warf einen kurzen, prüfenden Blick auf seinen Freund. Dann beeilte er sich zu versichern: »Eine Formalität! Nichts anderes. Wir haben uns darauf geeinigt, den bequemsten und schnellsten Weg zu gehen.« 190
»Du darfst Constance juristisch nicht ins Unrecht setzen«, erklärte Michael. »Schon gut, schon gut«, sagte Wolf Beck unwillig. »Menschenskind, was denkst du denn von mir? Ich werde so schonend und delikat wie nur irgend möglich vorgehen.« »Entschuldige, Wolf«, sagte Michael sofort. Constance betrat den Raum. Sie hielt ein Tablett vor sich und blieb an der Türe stehen. »Störe ich?« fragte sie. »Natürlich nicht«, versicherte Michael eilig. Denn er spürte, daß Wolf ihr ungeniert versichern wollte, daß sie selbstverständlich störe. Er sprang auf, um Constance das Tablett abzunehmen. »Die Unterlagen haben noch ein wenig Zeit«, sagte er dabei. »Aber allzuviel Zeit auch nicht«, brummte Wolf unzufrieden. »Für mich ist das im Augenblick die wichtigste Sache auf der Welt.« Der amerikanische Stadtkommandant lächelte noch ein wenig verkniffener als gewöhnlich, nachdem er durch seinen Adjutanten vernommen hatte, welche Heimsuchung ihm zugedacht war: Charly, der amerikanische Korrespondent, hatte das dringliche Verlangen ausgesprochen, ihn zu sehen. »Dagegen«, sagte der General, auf komische Weise ergeben, »ist wohl nichts zu machen. Ich lasse also bitten.« Der Adjutant nickte, als bedürfe der General einer Ermunterung. Dann ging er. Kurz darauf betrat Charly den Raum. »Sie sehen blendend aus, General!« rief Charly. »Der 191
Frieden scheint Ihnen glänzend zu bekommen.« Der General kannte Charly seit mehr als einem Jahrzehnt. Damals war Charly einer seiner Offiziere gewesen – unbekümmert, unternehmungslustig und nicht umzubringen. »Charly«, sagte der General und entnahm seinem Panzerschrank eine Whiskyflasche und zwei Gläser, »was kann ich für Sie tun?« Charly übernahm die Flasche und die Gläser und goß ein. »Wir werden beide jetzt in aller Ruhe eine Pressekonferenz veranstalten.« »Hemmungen«, sagte der General amüsiert, »haben Sie sich wohl immer noch nicht zugelegt.« »Es hat einmal eine Zeit gegeben«, erklärte Charly, »da hatten Sie gegen meinen Mangel an Bescheidenheit nichts einzuwenden. Damals war es Ihr Job, das Letzte aus mir herauszuholen; jetzt ist es mein Job, sozusagen das gleiche mit Ihnen zu tun.« »Ich hätte Ihnen ein paar Orden ersparen sollen«, sagte der General gutgelaunt. »Weinen Sie nicht Ihren Jugendsünden nach, General – ich bin ein harter Mann. Und deshalb brauchen Sie auch keinerlei Bedenken zu haben, mir die ganze Wahrheit zu sagen. Denn hier stinkt es doch gewaltig!« »So ungefähr«, gab der General ein wenig zögernd zu. »Und Sie werden sich heraushalten – soweit Sie das noch können. Sie werden alle zurückpfeifen, die vorprellen. Ein bißchen Unruhe in der Ostzone kann Ihnen ganz recht sein, aber richtige Unruhen unmittelbar vor den Toren – das können Sie natürlich nicht dulden.« »Das ist im Prinzip richtig«, sagte der General offen. »Zumal Sie, General, garantiert der erste wären, der im Ernstfall dran glauben müßte.« 192
»Lassen Sie das, Charly«, sagte der General. »Ich werde jetzt etwas tun, was zwar nicht den Vorschriften entspricht, was ich aber vor meinem Gewissen verantworten kann – weil ich Sie gut kenne, Charly, weil wir Kriegskameraden sind und weil Sie immer als verantwortungsbewußter Amerikaner gehandelt haben.« »Machen Sie mich nicht brotlos, General«, sagte Charly verlegen. »Ich werde Ihnen Einblick in meine Unterlagen geben«, sagte der General. Er nahm den roten Aktendeckel, der unmittelbar vor ihm auf dem Schreibtisch lag, und reichte ihn Charly hinüber. Charly nahm ihn, ohne zu zögern, schlug ihn auf und begann zu lesen. Als er mit seiner Lektüre fertig war, blickte er auf. Sein Gesicht war ungewöhnlich ernst. »Sie haben recht, General«, sagte er dann. »In einer derartigen Situation können Sie sich nur noch als Feuerwehr betätigen. Und zwar mit allen zur Verfügung stehenden Spritzen.« »Werden Sie mir dabei helfen?« fragte der General. »Wofür halten Sie mich?« fragte Charly. »Ich werde unverzüglich in der Weltpresse für einen Platzregen plädieren! In der Zwischenzeit helfe ich hier löschen – selbstverständlich nicht, ohne gleichzeitig darüber zu schreiben.« Ruth Winters versuchte, unter allen Umständen zu verbergen, wie beunruhigt sie war. Sie gab sich überlegen, aber ihre Hände wollten nicht zur Ruhe kommen. Und in den Blicken, die Bernhardt nur streiften, lag Haß. »Das, was du hier versuchst«, sagte sie, »wird gewöhnlich mit Erpressung bezeichnet.« 193
»Ich bitte dich«, sagte der Mann, »nicht zu komplizieren, was im Grunde höchst einfach und nahezu selbstverständlich ist – ich bat dich um einen Freundschaftsdienst. Von nichts sonst war die Rede.« »Nun gut«, sagte Ruth Winters herausfordernd, »dann wisse, daß ich es entschieden ablehne, dir diesen sogenannten Freundschaftsdienst zu leisten.« »Das würde ich an deiner Stelle nicht tun, liebe Ruth«, sagte Bernhardt. »Es könnte ja sein, daß Herr Beck ein edeldenkender Mann ist. Dann wird er möglicherweise wenig Verständnis dafür haben, daß du deine guten alten Freunde gerade dann im Stich läßt, wenn du irgend etwas für sie tun kannst. Sollten wir Herrn Beck diese Enttäuschung nicht ersparen?« Ruth Winters drückte die Zigarette, die sie gerade angeraucht hatte, nervös im Aschenbecher aus. Was ihr hier präsentiert wurde, war die Rechnung, die sie seit langem erwartet hatte. Sie war zu wahllos in ihren Bekanntschaften gewesen. Als junger Mensch vermochte sie immer nur sich zu sehen; sie hatte gearbeitet und an eine Karriere gedacht und an die Selbständigkeit, die der Lohn dieser Arbeit sein sollte. Dann, vor einigen Jahren, als sie beruflich alles erreicht und menschlich nichts gewonnen hatte, begann sie zu fürchten, »das Leben« zu versäumen. »Das Leben« – das war für sie Vergnügen, Luxus, Reisen und Abenteuer. Sie verbrauchte viel Menschen und viel Zeit, ehe sie bemerkte, in welchem Ausmaß sie sich selbst verbrauchte. Die Nächte wurden immer trostloser, und die Morgensonne wirkte greller von Tag zu Tag. Da begegnete sie Wolf Beck, der keine Vergnügungen, sondern eine Frau suchte, mit der er leben konnte. Ruth 194
nahm alle ihre Klugheit und ihre Geschicklichkeit zusammen, um diese Bekanntschaft andauern zu lassen. Sie war entschlossen, mit ihm zu leben – und war gewillt, das mit neugewonnener Ehrlichkeit zu tun. Sie spürte, welch ein Glück hier ihren Weg kreuzte; und sie war sicher, daß sich das niemals mehr wiederholen würde. Nichts durfte sie dulden, was sie hierbei stören konnte – nichts und niemanden! Sie versuchte zu lächeln. Sie sagte zu Bernhardt, der sie aufmerksam betrachtete: »Warum sollte ich dir eigentlich nicht behilflich sein? Laß mich darüber nachdenken, wie ich es am besten anstelle.« Um 15.30 Uhr läutete in Bonn im Vorzimmer des Bundeskanzlers das Telefon. Es meldete sich der Senat von Berlin. Der Regierende Bürgermeister bat darum, unverzüglich den Bundeskanzler sprechen zu dürfen. Die Verbindung wurde sofort hergestellt. Das gleichzeitig in Bonn und in Berlin auf Tonband aufgenommene Gespräch, das dann unmittelbar danach auch noch schriftlich niedergelegt wurde, lautete folgendermaßen: Der Regierende Bürgermeister: Herr Bundeskanzler, die Sorge um die Entwicklung in Ost-Berlin veranlaßt mich, Sie anzurufen. Ich möchte Sie von dem Ergebnis einer soeben beendeten Senatssitzung in Kenntnis setzen. Wie Sie wissen, Herr Bundeskanzler, beginnt in einer halben Stunde im Lustgarten eine von den Kommunisten inszenierte Großkundgebung. Die SED hat alle nur möglichen Maßnahmen getroffen, um an dieser Kundgebung ausschließlich linientreue Arbeiter und Funktionäre teilnehmen zu lassen. Pankow scheint Moskau gegenüber mit dieser Kundgebung die Stabilität des Regimes beweisen zu wollen. 195
Der Bundeskanzler: Na, sollen sie doch! Wir haben im Augenblick andere Sorgen. Der Regierende Bürgermeister: Herr Bundeskanzler, wir haben einwandfreie Informationen darüber, daß die gleichen Kräfte, die bereits heute früh demonstrierten, alle Anstalten treffen, eine Gegendemonstration zu organisieren. Die SED ist darüber informiert und hat uns über Doktor Reiners wissen lassen, daß das Blutvergießen bedeuten würde. Denn die in den Lustgarten befohlenen Demonstranten sind zum großen Teil Angehörige des sogenannten Betriebsschutzes. Diese Leute haben Waffen, und sie haben diesmal auch Munition – sie wurde heute mittag ausgegeben. Der Bundeskanzler (schweigt). Der Regierende Bürgermeister: Hallo, Herr Bundeskanzler, hören Sie noch? Der Bundeskanzler: Ich höre Sie ganz gut, Herr Bürgermeister. Aber ich glaube meinen Ohren nicht zu trauen. Der Senat hat uns wiederholt versichert, daß es in Berlin ruhig bleiben wird, und uns abgeraten, einen Aufruf zu erlassen. Und jetzt sprechen Sie von Blut! Der Regierende Bürgermeister: Nach Lage der Dinge müssen wir auf das Äußerste gefaßt sein, wenn wir auch im Augenblick nichts Bestimmtes sagen können und auf Vermutungen angewiesen sind. Aber in einer Stunde kann viel passieren. Der Bundeskanzler (nach einer kurzen Pause): Was haben Sie denn nun beschlossen? Der Regierende Bürgermeister: Der Senat ist sich mit den alliierten Kommandanten einig, in West-Berlin keine Kundgebungen zu gestatten. Wenn aber drüben wirklich Blut fließt, Herr Bundeskanzler, wenn sich die Ereignisse von dreiundfünfzig wiederholen, dann wird es auch bei 196
uns Demonstrationen geben. Das wollen wir unter allen Umständen vermeiden, denn wir können doch nicht mit unserer eigenen Polizei gegen die Westberliner vorgehen! Wir werden daher um 16.00 Uhr über den RIAS und den Sender Freies Berlin einen Aufruf an die Berliner richten, Ruhe und Ordnung zu bewahren. Der Bundeskanzler: Einen Augenblick – mir wird gerade ein Fernschreiben vorgelegt (Pause). Herr Bürgermeister, der Bundesbevollmächtigte in Berlin äußert ähnliche Besorgnisse wie Sie. Ja, ich denke auch, daß ein Aufruf jetzt angebracht ist. Ich habe für 18.00 Uhr eine Kabinettssitzung anberaumt. Lassen Sie mich bitte laufend unterrichten, wie sich dort die Dinge entwickeln. Damit endete das Gespräch, soweit es aufgezeichnet wurde. Michael Reiners hatte noch immer keine Zeit gefunden, zu Wolfs Unterlagen Stellung zu nehmen. Er telefonierte seit einer Stunde nahezu ununterbrochen, wurde angerufen, rief an. Seine wichtigsten Gesprächspartner waren: das Büro des Regierenden Bürgermeisters, Conrad, der Verbindungsmann zum stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR, und Charly, der gelegentlich so tat, als sei er der amerikanische Stadtkommandant persönlich. Um 15.35 Uhr meldete sich Conrad, der Verbindungsmann zu G. M.. erneut. »Ich muß Sie dringend sprechen«, sagte er, und seine Stimme klang aufgeregt. »Ich komme sofort zu Ihnen. Sie müssen mir helfen.« »Nicht in dieses Haus!« wehrte Reiners entschieden ab. »Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren«, sagte Conrad und hängte ab. 197
Reiners unterrichtete seinen Freund Wolf Beck über das soeben geführte Gespräch. »Tut mir aufrichtig leid, Wolf, daß Constances Wohnung für derartige Zwecke mißbraucht wird. Und bedauerlich auch, daß wir auf diese Weise kaum mit unserer Besprechung weiterkommen.« »Mach doch endlich mit deiner blöden Politik Schluß!« rief Wolf Beck. »Tauziehen und Strohdreschen – das ist doch auf die Dauer eine höchst alberne Beschäftigung. Denn was kommt dabei heraus? Dein Privatleben erlöscht – und außerdem belästigst du noch die wenigen Menschen, die dir nahestehen, mit peinlichen und nicht ungefährlichen Spitzelbesuchen.« »Wolf«, sagte Michael ein wenig erschöpft, »du kannst versichert sein, daß ich alles tun werde, um Constance und dich aus derartigen Sachen herauszuhalten.« »Ich aber muß deshalb mein Nachmittagsflugzeug versäumen! Wenn du jetzt nicht endlich zu meinen Unterlagen Stellung nimmst, dann verpasse ich am Ende noch das Abendflugzeug nach Hamburg. Ich werde dort erwartet, Michael – und nicht nur von Geschäftspartnern. Also los – jetzt keine Umstände mehr! Du kannst doch Constance und mich nicht ewig warten lassen.« »Können wir diese Angelegenheit nicht noch ein wenig verschieben?« fragte Michael, den andere Dinge beschäftigten. »Conrad muß jeden Augenblick erscheinen. Außerdem beginnt um vier Uhr die Kundgebung, und da wollte ich …« »Menschenskind!« rief Wolf Beck empört. »Ist dieser Minister dein Freund – oder bin ich es? Ist dir irgendein Lautsprechergeschnatter wichtiger – oder Constance? Nein, mein Lieber – erst die Unterlagen, dann das Vergnügen. Und je schneller du mit dieser Arbeit fertig 198
bist, um so eher kannst du dich deinen Toreros widmen.« »Nun gut«, sagte Michael. Er setzte sich hin, schlug die Unterlagen auf und begann, sie durchzulesen. Er zwang sich dazu, das gründlich zu tun; und er wurde sehr nachdenklich dabei. Mutter Schwiefert erschien und meldete, daß »ein Mann« da sei, für Doktor Reiners. Und Doktor Reiners wisse schon, hatte der Mann gesagt, um was es sich handele. »Soll er hereinkommen?« »Bitte«, sagte Reiners. Und er wandte sich an Wolf Beck. »Du kannst ruhig hierbleiben. Du störst mich nicht.« »Ich bin doch kein Idiot!« rief Wolf. »Ich lege nicht den mindesten Wert darauf, Augen- und Ohrenzeuge von fragwürdigen politischen Manipulationen zu werden. Ich warte im Nebenraum – aber hoffentlich nicht allzulange!« Wolf Beck ging verärgert hinaus. Conrad betrat den Raum. Er war noch jung, offenbar eine Art Idealist, begeisterter Leser von Leitartikeln und Abenteuerromanen. »Herr Doktor Reiners«, sagte Conrad ohne jede weitere Einleitung. »Ich bitte um Ihren Schutz, Sie müssen mir erlauben, hierzubleiben und dann versuchen, G. M. zu informieren und um seine Hilfe zu bitten.« »Wie stellen Sie sich das vor!« sagte Reiners. »Diese Wohnung gehört nicht mir, sondern Freunden, die ich unter keinen Umständen in diese Affäre hineinziehen darf. Ich frage mich, was G. M. veranlaßt hat, mir einen Verbindungsmann zuzuteilen, dem die Geheimpolizei auf den Fersen ist – und um welche Geheimpolizei handelt es sich eigentlich?« »Das ist schwer zu sagen«, erklärte Conrad. »Es können genausogut Leute aus Ost-Berlin wie aus West199
Berlin sein – in die Hände fallen möchte ich keinem von ihnen; wenn es aber durchaus sein muß, dann den Amerikanern. Sie werden doch auch in dieser Richtung Beziehungen haben, Herr Doktor?« »Warten Sie hier!« sagte Doktor Reiners. Dann begab er sich in den Nebenraum, in dem Wolf Beck wartete, und versuchte, eine Verbindung mit Charly herzustellen. Er erreichte Charly in der amerikanischen Stadtkommandantur und berichtete ihm, was vorgefallen war. Charly versprach, sofort zu erscheinen – mit einem Jeep und zwei Militärpolizisten. »Inzwischen«, sagte Wolf Beck, dem nichts wichtiger zu sein schien als ein schneller Abschluß, »könnten wir uns wieder mit den Unterlagen beschäftigen. Schließlich ist soweit alles klar – bis auf Punkt 4.« »Nun gut«, sagte Michael widerstrebend, um hinzuzufügen: »Vielleicht ist es wirklich wichtig, daß wir uns damit beeilen. Du willst also, wie ich aus deinem Schriftsatz ersehe, an Constance monatlich zweitausend Mark zahlen – bis zu ihrer eventuellen Wiederverheiratung?« »Das ist doch großzügig oder etwa nicht? Ich bin juristisch nicht im geringsten dazu verpflichtet, aber ich möchte Constance sichern. Dieser Passus, mein Lieber, kann mich Hunderttausende kosten.« »Kann – wird es aber nicht!« sagte Michael überzeugt. »Constance ist nicht der Mensch, der allein bleibt. Sie wird bestimmt wieder heiraten.« »Mit meinem Segen! Aber nicht mit meinem Geld!« erklärte Wolf Beck. »Ich hoffe sehr«, sagte Michael nachdenklich, »daß du mich nicht mißverstehst – aber ich möchte Constance nicht nur gesichert wissen, sondern auch in Sicherheit.« 200
– »Wie soll ich das verstehen?« »Ich will dir ganz offen sagen, Wolf, was mich bewegt: Constance darf nicht länger in Berlin bleiben. Sie ist schon durch ihre Zartheit gefährdet und hier in erhöhtem Maße, nach dem, was in dieser Wohnung geschehen ist und noch geschehen wird. Das Auftauchen dieses Conrad ist ein Alarmsignal. Außerdem kenne ich niemanden, der Krisen weniger gewachsen wäre als sie. Deshalb müssen wir beide dafür sorgen, daß Constance diese Stadt so schnell wie möglich verläßt – am besten noch heute. Wir müssen eine überzeugende Begründung finden. Und nur wenn das gelingt, werde ich dafür sorgen, daß Constance alles unterschreibt, was du willst.« Mutter Schwiefert erschien wieder. »Zwei Männer«, sagte sie unwillig. »Sie wollen die Wohnung durchsuchen. Ich habe ihnen zunächst einmal die Tür vor der Nase zugeschlagen. Was soll weiter geschehen?« »Lassen Sie mich das machen«, sagte Reiners. »Sorgen Sie vor allen Dingen dafür, Mutter Schwiefert, daß Frau Schubert nichts von diesem Besuch erfährt.« »Sie ist in ihrem Atelier und malt«, sagte Frau Schwiefert. »Bei dieser Beschäftigung läßt sie sich durch nichts und niemanden stören.« »Ich jedenfalls«, erklärte Wolf Beck unverzüglich, »bin nicht hier und auch in letzter Zeit nicht hier gewesen. Ich habe nichts gesehen, nichts gehört – ich weiß von nichts!« Michael Reiners nickte zustimmend. Conrad tauchte aus dem Nebenzimmer auf und rief beschwörend: »Liefern Sie mich nicht den Deutschen aus, ganz gleich, für wen Sie arbeiten! Wenn sich aber eine Auslieferung nicht vermeiden läßt, dann nur an die Amerikaner, 201
Doktor!« »Ich erledige alles«, erklärte Reiners entschlossen. Er durchquerte das Zimmer, ging durch den Korridor zur Wohnungstür und öffnete sie. Draußen standen zwei Männer. Sie wollten sich sofort hereindrängen, aber Michael stellte sich ihnen in den Weg. »Langsam«, sagte er warnend, »immer eins nach dem anderen. Ich werde mich ausweisen – Sie werden sich ausweisen. Hierauf werden Sie mir mitteilen, was Sie wollen, und ich werde dazu Stellung nehmen.« »Wir suchen einen Ostzonenspitzel«, sagte einer der Zivilisten. »Er hat sich hierher geflüchtet. Geben Sie ihn heraus, und die Sache ist erledigt.« »Das geht leider nicht«, erklärte Reiners mit höflichem Bedauern. »Das geht«, behauptete der ältere der beiden Zivilisten entschlossen. »Und wenn Sie hier Schwierigkeiten machen, dann müssen wir leider von unseren Schußwaffen Gebrauch machen.« »Sie wollen sich tatsächlich in amerikanische Interessen einmischen?« fragte Reiners belustigt. »Was behaupten Sie da?« fragte der Wortführer, drohend und mißtrauisch zugleich. Die Antwort darauf blieb Reiners erspart. Im Treppenflur tauchte Charly mit zwei steifen, baumlangen, dumpf blickenden amerikanischen Militärpolizisten auf. »Wo ist das Opfer?« rief Charly. »Schon verpackt?« »Zunächst«, sagte Reiners erleichtert, »scheint es nötig, diese beiden Herren aufzuklären.« »Haut ab, Jungens!« rief Charly unbekümmert. »Tummelt euch! Das hier ist unser Revier. Was denn, was denn? Soll ich euch etwa abräumen lassen?« 202
Die beiden Zivilisten entfernten sich murrend. Charly ließ sich Conrad ausliefern und übergab ihn den Militärpolizisten. »Abführen!« rief er. Um 16.00 Uhr brachte der Westdeutsche Rundfunk Nachrichten, nach vorheriger Ankündigung und nachdem das Nachmittagsprogramm abgeändert worden war. Der Sprecher verlas mit gewohnter Sachlichkeit seinen Text: Der Senat von Berlin hat soeben einen Aufruf an die Bevölkerung von Ost- und West-Berlin erlassen, in dem er die Berliner ermahnt, sich nicht von kommunistischen Propagandamanövern provozieren zu lassen. Die Berliner werden aufgerufen, Ruhe und Ordnung zu bewahren. In diesem Augenblick beginnt in Ost-Berlin die Kundgebung im alten Lustgarten, an der mehrere tausend organisierter kommunistischer Arbeiter und Funktionäre teilnehmen. Die innenpolitische Lage in Polen ist weiterhin ungeklärt. Der Waffenstillstandsvertrag wird jedoch offenbar von beiden Seiten eingehalten. Seit einer Stunde befinden sich die sowjetischen Einheiten, die bis an die Weichsel vorgedrungen waren, auf dem Rückmarsch nach Osten. Wir schalten nun um nach Berlin und bringen von dort eine Gemeinschaftssendung der deutschen Rundfunkanstalten. Charly wurde mit Wolf Beck bekannt gemacht und sagte: »Habe schon viel von Ihnen gehört – und zwar so viel, daß ich niemals versuchen würde, gegen Ihre Interessen Geschäfte zu machen.« »Mein Ruf ist also besser, als ich annahm«, sagte Wolf Beck. »Wer Ihnen begegnet, darf sich glücklich schätzen, 203
wenn er kein Kaufmann ist«, versicherte Charly grinsend. »Jedenfalls danke ich Ihnen herzlich«, versicherte Reiners. »Sie haben mir mindestens so viel geholfen, wie ich Ihnen in der vergangenen Nacht auf dem Flugplatz.« »Schon gut«, sagte Charly abwehrend. »Wir verrechnen das alles bei nächster Gelegenheit, Doktor. Ich werde veranlassen, daß Ihr Conrad auf Eis gelegt wird – wenigstens für die nächsten vierundzwanzig Stunden. Er wird also keinerlei Gelegenheit erhalten, irgend etwas auszuplaudern.« »Sehr gut, Charly«, versicherte Michael Reiners. »Was nicht ausschließt, daß Sie mir persönlich einiges über Conrad erzählen.« »Soll geschehen, Charly. Zumal ich für ihn Ersatz brauche und hoffe, daß Sie ihn mir besorgen werden.« »Wir werden sehen, was sich machen läßt, Doktor.« »Da also alles klar ist«, sagte nunmehr Wolf Beck zu Reiners, »könnten wir beide uns wieder mit unseren Unterlagen beschäftigen.« »Ehe ich mich hier hinauswerfen lasse«, sagte Charly, ohne gekränkt zu sein, »muß ich noch eins sagen: die beiden Zivilisten, die wir abgeschoben haben, sind zwei besonders hartnäckige Bullen der westdeutschen geheimen politischen Polizei – sogar meine Begleiter haben mich vor ihnen gewarnt. Und wenn wir auch diesen Greifern mit vereinten Kräften Conrad vor der Nase weggeschnappt haben, so ist damit noch nicht gesagt, daß sie den Fall Conrad aufgeben werden.« »Sie werden weiterschnüffeln?« »Klar«, sagte Charly. »Sie werden ihre Nasen überall dort hineinstecken, wo sie einen möglichen Zusammenhang vermuten.« 204
»Am Ende gehöre dann auch ich zu ihren Objekten!« rief Beck alarmiert. »Bestimmt«, versicherte Charly mit Genuß. »Gehen wir von der Annahme aus, daß dieser Conrad ein ostzonaler Spitzel oder Verbindungsmann ist. Dann ist es nicht nur wichtig, ihn selbst zu schnappen, sondern auch die, zu denen er Verbindung aufgenommen haben könnte. Und da ist einmal Doktor Reiners – und da existiert dann noch zu allem Überfluß Wolf Beck – ein internationaler Geschäftsmann. Das genügt doch wohl, um heftiges Interesse zu erregen – finden Sie nicht auch?« Damit verabschiedete sich Charly. Wolf und Michael blieben nachdenklich zurück. »Ich muß mich aus dieser Geschichte unter allen Umständen heraushalten«, erklärte Beck. »Ich kann keine Schwierigkeiten gebrauchen. Erledigen wir also alles schnell, was noch zu erledigen ist.« Reiners nickte zustimmend. »Also«, sagte Wolf Beck, »wir sprachen vorhin von zweitausend Mark monatlich. Wenn ich diesen Betrag regelmäßig in Constances Händen weiß, brauche ich mir keine Sorgen um sie zu machen. Deine Idee allerdings, daß sie Berlin verlassen soll, und zwar so schnell wie möglich, finde ich ein wenig überspannt. Gefahrlos lebst du heute nirgends mehr.« »Natürlich nicht, aber es gibt Abstufungen. Die Riviera ist sicherer als Algier, Hawaii angenehmer als Chikago, und die Schweiz ist Berlin vorzuziehen. Denn dieses Berlin kann jeden Augenblick zu einer Frontstadt werden. Man sollte Kinder und Frauen daraus entfernen.« Wolf schien entschlossen, seinen Beitrag zur Sicherung Constances auszuhandeln. »Natürlich steht es Constance frei«, sagte er, »die ihr 205
monatlich zustehenden zweitausend Mark auch im Ausland zu verbrauchen – wo sie will. Ich zahle in jeder Währung.« »Ich gehe von der Voraussetzung aus«, sagte Michael Reiners, »daß Constance jederzeit selbst in der Lage ist, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie ist eine ausgezeichnete, international anerkannte Malerin – gewiß, sie ist kein Genie, aber gerade das hat seine Vorteile. Ihre Bilder werden nämlich gekauft; und eine Zeitlosigkeit -« »Michael«, unterbrach Wolf drängend, »ich will keine Kunstkritik, ich will eine finanzielle Angelegenheit zum Abschluß bringen.« »Ich bin zu der Ansicht gekommen«, versicherte Michael, »daß eine einmalige Abfindung für Constance die beste Regelung ist.« »An welche Summe hast du denn gedacht?« »An etwa dreihunderttausend Mark«, erklärte Michael nach kurzem Zögern, wobei er vermied, den Freund anzusehen. Wolf saß längere Zeit wortlos da und schien seine Hände zu betrachten. Sein Gesicht blieb völlig ausdruckslos. Er rechnete. Schließlich fragte er: »In bar – und in welcher Währung?« »Du bist einverstanden?« fragte Michael verwundert. »Ich habe lediglich nach Details gefragt«, sagte Wolf Beck ausweichend. »Ich habe mir folgendes vorgestellt: Du kaufst für Constance ein Haus und ein Grundstück im französischen oder italienischen Teil der Schweiz; vielleicht am Genfer See oder bei Lugano. Dieses Objekt muß einen Wert von dreihunderttausend Mark haben. Es 206
kann in deinem Besitz bleiben – du mußt lediglich Constance garantieren, daß ihr dieses Haus auf Lebenszeit, ohne jede Kosten für sie, zur Verfügung steht.« »Ist das«, fragte Wolf, seine Ungeduld beherrschend, »deine einzige Bedingung?« »Meine einzige – aber auch zugleich die einzige, die ich für akzeptabel halte.« »Constance kann mit dir zufrieden sein«, sagte Wolf Beck. »Aber rechne nicht mit Dankbarkeit. Constance ist davon überzeugt, unbezahlbar zu sein.« »Mir brauchst du das nicht zu sagen«, versicherte Michael abweisend. »Ich bin also einverstanden«, sagte Wolf Beck und lehnte sich zurück, als sei für ihn dieses Gespräch beendet. »Es ist jetzt sechzehn Uhr …« »Wieviel Uhr?« fragte Michael aufgeschreckt. Er eilte zum Radioapparat und stellte ihn ein. »Sechzehn Uhr«, wiederholte Wolf Beck sachlich. »Um siebzehn Uhr können wir beim Notar sein. Alles andere läßt sich bestimmt in zwei Stunden erledigen. Damit erreiche ich noch das Flugzeug nach Hamburg kurz nach zwanzig Uhr.« »Und der Kaufauftrag an einen Agenten geht heute noch hinaus!« sagte Michael, den plötzlich Unruhe gepackt hatte. Er starrte auf den Radioapparat, der gleichförmig zu brummen begann. Dann ertönte, sich aus dem Gebrumm herauslösend, die Stimme eines Reporters: …mit unserem Mikrophon am Potsdamer Platz, zwei Meter von der Sektorengrenze entfernt, die hier am Rande des Bürgersteiges durch ein Geländer 207
gekennzeichnet ist. Wir blicken hinüber in die Leipziger Straße – und was wir zuerst erblicken, ist eine enge Sperrkette graugrün uniformierter Volkspolizisten, die den Ostsektor quer über den Potsdamer Platz absperren. Sie haben die Karabiner von der Schulter genommen und halten sie in der Höhe ihrer Hüften … Wolf Beck schaltete energisch den Radioapparat aus. »Was soll das?« fragte er unwillig. »Das stört doch nur.« »Constance muß Berlin so schnell wie möglich verlassen«, erklärte Michael Reiners. »Am besten heute abend noch. Wir müssen ihr klarmachen, daß sie ihr neues Haus persönlich begutachten muß, und zwar sofort.« »Nur Ruhe«, sagte Wolf Beck besänftigend. »Ganz so schnell geht das ja nun auch wieder nicht.« Und selbst ein wenig beeindruckt von Michaels Besorgnis fügte er hinzu: »Glaubst du denn wirklich, daß es hier gefährlich werden könnte?« »Es ist möglich«, sagte Michael unruhig. »Und deshalb muß Constance abreisen – wenn auch nicht gleich in die Schweiz, so doch dorthin, wo sie wenigstens einigermaßen sicher ist. Nach München!« »Doch nicht etwa zu unserem Freund Henry Engel?« fragte Wolf. »Er ist unser Freund«, sagte Michael. »Du willst allen Ernstes das Lamm in die Höhle des Löwen schicken?« »Immer noch besser, als sie in einer Hölle zurücklassen.« Mutter Schwiefert erschien. »Die beiden Männer von vorhin sind schon wieder da«, verkündete sie. Charly telefonierte mit der amerikanischen Stadtkommandantur. Die Auskunft, die er dort erhielt, veranlaßte ihn dazu, sich unverzüglich ein Taxi zu chartern. »Potsdamer Platz!« rief er dem Chauffeur zu. 208
»Sie wollen doch nicht etwa zur Kundgebung?« fragte der Taxichauffeur gemütlich. Der unbekümmerte Amerikaner, der vorn neben ihm Platz genommen hatte, schien ihm zu gefallen, und die amerikanische Großzügigkeit war ihm willkommen. »Wenn uns nichts anderes übrigbleibt«, sagte Charly grinsend, »dann singen wir sogar deren Lieder mit – mit einem eigenen Text natürlich.« »Das geht, das geht sogar sehr gut, Hauptsache: gebrüllt!« Das Taxi hielt am Potsdamer Platz. Charly sah auf der einen Seite eine Ansammlung schaulustiger Westberliner, auf der anderen Seite Volkspolizei. Die einen versuchten, mit den anderen »ins Gespräch zu kommen« – aber die Uniformierten schwiegen. Charly reckte sich hoch und blickte die Leipziger Straße hinab. Sie war, bis weit hinter das ehemalige Luftfahrtministerium, völlig menschenleer. »Zum Brandenburger Tor!« rief Charly seinem Taxichauffeur zu. Die direkte Straße, die früher am Garten der Reichskanzlei entlangführte, war noch ein Stück des Ostsektors. Der Taxichauffeur fuhr durch den neuen, nahezu baumlosen Tiergarten. An einem Gebüsch, halb verdeckt, stand eine Funkstelle der britischen Truppen. Nicht weit davon entfernt war eine Gruppe Offiziere zu sehen, darunter auch Amerikaner und Franzosen; sie schienen miteinander zu plaudern und guter Stimmung zu sein. Der Taxichauffeur bremste seinen Wagen an der Zollkontrollstelle auf der Straße des 17. Juni, der früheren West-Ost-Achse – schräg gegenüber dem sowjetischen Ehrenmal. Schaulustige auch hier; 209
ruhestörende Elemente waren unter der Menge nicht zu entdecken. Die russischen Posten vor dem Ehrenmal schauten unbeteiligt drein. Charly nahm an, daß sie überhaupt nichts dachten, sondern mit heroischem Gleichmut ihre Runden schoben, wie das Soldaten in aller Welt tun, gleichgültig, ob sie Munitionslager, Freßkisten, Geheimakten oder ein Ehrenmal bewachen. Währenddessen stand – und das wußte Charly aus Erfahrung – ein sowjetischer Offizier im Innern des Ehrenmals, in seinem turmartigen Aufbau. Er meldete jede besondere Bewegung in den Ostsektor. Charly kehrte dem Ehrenmal seinen breiten Rücken zu und betrachtete die Menge. Und während seine Blicke über die Menschen dahinglitten, kam plötzlich ein Objekt in sein Blickfeld, das er hier und zu dieser Stunde am wenigstens erwartet hatte: ein Sendewagen. Charly schob sich durch die Menge auf den Funkwagen zu. Ein Reporter saß auf dem Dach des kastenartigen Aufbaus, hatte ein Mikrophon vor sich und sprach dort lebhaft hinein, gestenreich und mit der aufmunternden Stimme, wie sie bei Fußballspielen angewandt wird: … wohin wir auch blicken, zwischen den Säulen des Brandenburger Tors, rechts und links davon, überall stehen sie – die Volkspolizisten! Bis zu den Zähnen bewaffnet. Abwehrend und fast finster schauen sie zu uns … »Was ist da los?« fragte Charly einen Westberliner Polizisten. »Üben die etwa?« »Die senden«, sagte der Polizist. »Verflucht!« rief Charly, nachdem er seine Verblüffung überwunden hatte. »Das kann doch nicht wahr sein!« 210
Dann schob er sich durch die Menge auf seinen Taxichauffeur zu und rief: »Wo kann man hier telefonieren! Sofort zur nächsten Telefonzelle.« Ruth Winters lag in ihrer Wohnung in Hamburg auf der Couch und starrte auf die Decke. Ihr Hausanzug leuchtete in hellem seidigem Blau und kontrastierte mit ihrem gebräunten Gesicht. Dieses Effektes wegen war er seinerzeit gekauft worden. Ruth Winters erwartete niemanden. Sie hatte neben sich auf einem kleinen Tisch ein Glas Pernod stehen, bereits gemischt mit Eiswasser, so daß er eine milchiggelbe Färbung zeigte. Eine Langspielplatte lief; im Lautsprecher prasselten südamerikanische Rhythmen, eine hohe kehlige Stimme schwebte darüber. Ruth Winters, von dem scharfen Geruch des Pernods und von tropischen Musikfetzen angeweht, versuchte, einen Vorgang zu durchdenken, dem sie vorher noch nie Beachtung geschenkt hatte: ihre Gedanken kreisten um den Tod; um Befreiung, um Erlösung durch Tod. Es war natürlich nicht ihr Tod, an den sie dachte; und was sie unter Erlösung und Befreiung verstand, war die Beseitigung einer Drohung. Daß Leidenschaft nicht zu dauern pflegte, das wußte sie; daß Liebe, oder was dafür gehalten wird, in Haß zu enden vermochte, hatte sie erfahren. Daß sie aber den Wunsch verspüren könnte, einen Menschen, mit dem sie einstmals zusammengelegen hatte, nicht mehr leben zu sehen – das erfüllte sie mit fieberhafter Erregung. Diese Gedanken glaubte sie Wolf Becks wegen zu denken. Er würde sie mit sich nehmen; und das wäre die Erlösung. Und wenn es hier ein Hindernis gab, ein einziges nur; und wenn es nur noch eine einzige Möglichkeit gab, dieses Hindernis zu beseitigen – mußte 211
es dann nicht geschehen? Ihretwegen und Wolfs wegen! Sie atmete gepreßt. Sie trank den Pernod aus und stellte die Schallplatte ab. Dann rief sie Bernhardt an, den Mann, an den sie gedacht hatte. »Wollen wir den Abend gemeinsam verbringen?« fragte sie. »Natürlich irgendwo draußen, wo uns niemand kennt, wo wir beide allein sind.« »Du scheinst vernünftig geworden zu sein«, sagte er. »Ich habe eingesehen«, sagte sie, »daß ich dir nicht ausweichen kann.« Der amerikanische Stadtkommandant von West-Berlin hatte für sich und seine engeren Mitarbeiter im Konferenzzimmer, das unmittelbar neben seinem Büro lag, eine Art Befehlszentrale eingerichtet. Hier liefen alle Nachrichten zusammen. Sie gingen zunächst an die einzelnen Spezialisten und dann, soweit sie überprüft und ausgewertet waren, sofort an ihn. Seine Anordnungen und Befehle gingen denselben kurzen, reibungslosen Weg. »Die Organisation klappt«, sagte der General und blickte zufrieden in die Runde. »Keine Besonderheiten im britischen Bereich«, meldete sein Verbindungsoffizier. »Planmäßiger Verlauf im französischen Sektor«, berichtete ein anderer. »An den Sektorengrenzen herrscht noch Ruhe«, verkündete der Boß der zivilen Beobachter. Der General nickte; langsam begann die Spannung von ihm zu weichen. Seine vorsorglichen Maßnahmen schienen gewirkt zu haben. Die Kundgebung in OstBerlin wurde »planmäßig« durchgeführt; und West-Berlin sah gleichmütig zu – das war erfreulich, kam aber nicht 212
ganz unerwartet: wo nicht gekocht wird, kann auch nicht gegessen werden! Dämpfen, eindämmen, schweigen! Das war die Methode. Das Telefon, das unmittelbar vor dem General stand, klingelte. Er nahm den Hörer und meldete sich. Dann sagte er: »Ja, gut, verbinden Sie mich.« Und dann rief er munter: »Hallo, Charly.« »Hören Sie auch, Radio, General?« fragte Charly. »Sie sollten das tun. Da wird die Volksseele im Augenblick zum Kochen gebracht.« Der General warf den Hörer in die Gabel, erhob sich eilig und begab sich an den Radioapparat. Er schaltete ein und wartete ungeduldig, bis der Apparat warm wurde. … haben die Karabiner gefällt und die Mündungen auf die Menge gerichtet. Daß diese Karabiner scharf geladen sind, weiß jeder Westberliner. Aber diese Drohung wird … »Verdammt«, rief der General wütend. »Wie konnte das nur passieren! Sofort eine Verbindung mit dem Regierenden Bürgermeister! Sofort!« Der General ging unruhig im Raum auf und ab. Sie hatten an alles gedacht, an die Parteien, an die Organisationen, an die Gewerkschaften, an die Polizei, die Truppen, die Agenten, an den Senat, Washington und die Bundesregierung – nur eins hatten sie vergessen, eine Kleinigkeit: die Rundfunkanstalten. Verdammt sie hatten sie einfach vergessen. Der Regierende Bürgermeister meldete sich. »Sie hören wohl auch niemals Radio?« fragte der General mit erregter Stimme. »Sonst wüßten Sie nämlich, daß jetzt der Rundfunk eine Gemeinschaftssendung vom Brandenburger Tor macht. Das ist doch unglaublich! Die Leute sind doch schon 213
nervös genug. So etwas putscht doch auf! Sie müssen das sofort abstellen!« »Herr General«, sagte der Regierende Bürgermeister, »ich bedaure natürlich, daß so etwas passieren konnte, aber wie kann ich denn …« »Was heißt das?« rief der General nahezu grob. »Es sind doch keine normalen Zeiten mehr! Reden Sie sofort mit dem Berliner Intendanten. Er muß die Übertragung unverzüglich abbrechen. Sagen Sie ihm, daß das auch mein ausdrücklicher Wunsch ist. Und dann informieren Sie Ihren Bundeskanzler; auch er muß ein Machtwort sprechen! Der Bundeskanzler kann das, und er wird es auch tun.« »Herr General«, sagte der Regierende Bürgermeister, »ich bin zwar ganz Ihrer Ansicht …« »Dann ist es gut«, rief der General. »Beeilen Sie sich. Jede Minute ist kostbar. Auch ich werde durch unseren Botschafter in Bonn den Bundeskanzler informieren lassen. Wenn die nicht in spätestens zehn Minuten Unterhaltungsmusik senden, bin ich versucht, ihnen den Laden mit meinen Truppen zu sperren!« Maria hatte auf ihrem Fahrrad die Reise von Schongau nach Sonneberg angetreten. Ein Rucksack, ein kleiner Koffer und eine Tasche waren auf den beiden Gepäckträgern verstaut worden. Sie schaffte pro Stunde fast fünfzehn Kilometer. Das Telegramm, das sie an Martin aufgegeben hatte und mit dem sie ihr Kommen ankündigte, empfand sie als erlösend. Sie fühlte sich frei und leicht. Die Menschen, denen sie begegnete, trugen überraschend neue Züge für sie. Sie bemerkte Kinder, die aussahen, wie Martin einmal ausgesehen haben könnte. Es gab junge Leute, die einiges von Martin 214
besaßen – der eine seinen Gang, der andere sein Lächeln, ein dritter hatte Schultern wie er und wieder ein anderer eine ähnliche Haartracht. Zur gleichen Zeit fuhr Martin auf seinem Fahrrad von Sonneberg in Thüringen nach Schongau am Lech. Und während er das tat, erreichte seinen Vater ein Zettel, auf dem geschrieben stand: Martin wird ersucht, sich unverzüglich auf der SED-Kreisleitung, Zimmer 17, einzufinden. »Was soll denn das schon wieder bedeuten?« fragte der Vater mißtrauisch. »Unangenehmes!« sagte die Mutter überzeugt. »Und wenn die dort erst einmal erfahren, daß sich Martin im Westen aufhält, wird alles noch unangenehmer.« Um 17.00 Uhr berichtete der amerikanische Stadtkommandant nach Washington. Seine Meldung war wesentlich umfangreicher als alle vorhergehenden, und sie begann mit der Feststellung: Die Entwicklung in Berlin gibt zu den schlimmsten Befürchtungen Anlaß. Nach dieser Einleitung, die von Charly stammte und erst nach kurzer Debatte die Zustimmung des Generals gefunden hatte, wurde Washington gebeten, gemeinsam mit London und Paris, den alliierten Kommandanten von West-Berlin Sondervollmachten zu erteilen. Es folgte eine eingehende Begründung dieser Forderung. Dann hieß es in der Meldung des Generals: Die Kundgebung auf dem Marx-Engels-Platz begann kurz nach 16.00 Uhr mit einer Rede des SEDGeneralsekretärs. Beobachter meldeten, daß nach einer Viertelstunde auf der Regierungstribüne Unruhe bemerkbar wurde. Auf dem anderen Spreeufer, jenseits des Bahnhofs 215
Friedrichstraße, also noch außerhalb des Sperrgürtels der Polizei, hatten sich Demonstranten versammelt. Der Zug dieser Demonstranten, in Stärke von etwa zweihundert Personen, bewegte sich rasch in Richtung auf den Marx-Engels-Platz und durchbrach die Sperrketten der Polizei, die keinen Schießbefehl hatte. Gegen 16.30 Uhr erreichten die Demonstranten den Ort der Kundgebung. Sie trugen Spruchbänder mit der Aufschrift: »Gerechtigkeit für Polen«. Sie riefen in Sprechchören: »Freiheit!« Was dann geschah, konnte nach wenigen Stunden bereits in den Extraausgaben der West- und Ostberliner Presse nachgelesen werden – in den verschiedenen Variationen natürlich. Den einzigen Augenzeugenbericht eines geschulten Beobachters brachte Der Abend, dessen Chefreporter sich mit traumhaft sicherem Instinkt genau an der Stelle befunden hatte, an der es geschah. Der entscheidende Teil seines Berichtes lautete folgendermaßen: An der Spitze des Zuges, von drei, vier anderen flankiert: ein junger Student. Er heißt Alexander. Noch kennen nur die Freunde seinen Namen – wenige Stunden später wird ihn ganz Berlin kennen. Alexander schreitet geradeaus. Er schweigt – die Rufer, die »Freiheit« fordern, sind hinter ihm. Sein Gesicht ist ernst. Als erster hatte er die Sperrketten der Polizei durchschritten – langsam, aber unaufhaltsam sicher ging er auf die Mündungen zu. Und seine Freunde strömten ihm nach. Und wieder geht Alexander Gewehrmündungen entgegen. Leute vom bewaffneten Werkschutz haben sich vor ihm aufgebaut. Die Stimme des SEDGeneralsekretärs flattert, aus dem Lautsprecher 216
kommend, über ihnen. »Zurück!« rufen die Bewaffneten am Rande der Massenkundgebung. »Zurück – oder wir schießen!« Alexander schreitet weiter. Zögern die, die neben ihm gehen? Bleiben die, die ihn begleiten, ein wenig zurück? Alexander schreitet unbeirrbar vorwärts, auf die Gewehrmündungen zu. Und auf seinem ernsten Jünglingsgesicht zeigt sich ein Lächeln, das zu sagen scheint: »Laß das doch, Freund – nimm dein Gewehr weg. Ein Bruder wird doch nicht auf den anderen schießen!« »Zurück, wir schießen!« rufen die Bewaffneten. »Freiheit, Freiheit«, rufen Alexanders Freunde und drängen nach. »Frieden!« dröhnt die Stimme des SEDGeneralsekretärs aus dem Lautsprecher. Und Alexander geht auf die Mündungen, die ihm entgegenstarren, unbeirrt zu – noch fünf Schritte, noch drei, einen Schritt noch. Die Mündung eines Gewehrs steht jetzt dicht vor Alexanders Brust. Alexander schlägt das Gewehr zur Seite. In diesem Augenblick fällt ein Schuß – und der Student Alexander bricht zusammen. Der 17.00-Uhr-Bericht des amerikanischen Stadtkommandanten endete mit folgenden Worten: Es kam zu einem Zusammenstoß zwischen den Demonstranten und den Kundgebungsteilnehmern, bei dem Schüsse fielen. Unser Berichterstatter hat mindestens zwanzig Tote mit Sicherheit gesehen. Ehe er seinen Beobachtungsplatz verließ, konnte er feststellen, daß die Demonstranten überwältigt wurden. Soeben werden weitere Demonstrationszüge gemeldet. Sie bestehen zumeist aus Arbeitern, kommen aus Lichtenberg und marschieren in Richtung auf die 217
Stadtmitte. Während Michael Reiners im Treppenflur mit den politischen Geheimpolizisten verhandelte, war Wolf Beck in Eile dabei, seine Abreise vorzubereiten. Wolf Beck hatte beschlossen, aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen Constance einfach vor vollendete Tatsachen zu stellen. Es wäre ihm gewiß auch gelungen, sie zu dem, was Michael und er mit ihr vorhatten, zu überreden. Das allerdings hätte einige Zeit gedauert – es galt aber keine Minute mehr zu verlieren. Er rief Mutter Schwiefert zu sich herein und sagte: »Packen Sie die Koffer von Frau Schubert. Sie macht eine kleine Reise und wird etwa drei, vier Tage unterwegs sein.« Mutter Schwiefert nickte nur. Sie kannte Wolf Beck und wußte, daß er nichts Unbegründetes tat; am allerwenigsten jetzt, da Michael Reiners in unmittelbarer Nähe war. Und während sie packen ging, telefonierte Wolf: zuerst mit dem Notar, der versicherte, zur Verfügung zu stehen; dann mit seinem Reisebüro, das einen Flug nach Hamburg fest buchte und einen weiteren nach München. Mit den Schwierigkeiten auf der Agentur wurde Wolf Beck nicht belästigt, denn es war bekannt, daß er mit dem Hauptaktionär dieser internationalen Transportfirma eng befreundet war. Für Persönlichkeiten wie Wolf Beck wurden auch hier ohne Zögern Sonderflugzeuge zur Verfügung gestellt. Danach ließ Beck an Henry Engel ein dringendes Telegramm schicken: »Constance trifft mit Flugzeug aus Berlin kommend um 22.15 in München ein und wird bei dir wohnen. Schicke Wagen zum Flugplatz. Nähere Einzelheiten erfährst du rechtzeitig. Herzliche Grüße von 218
Wolf und Michael.« Nachdem das geschehen war, begab sich Wolf in Constances Arbeitszimmer. Dieser Raum wurde auch »das Atelier« genannt, obgleich er eher einer Bibliothek glich, in der lediglich eine Staffelei und ein Zeichentisch aufgestellt waren. Constance sah von ihrer Arbeit hoch und sagte: »Schau, Wolf – wie gefällt dir das?« »Ausgezeichnet«, versicherte Wolf nach einem kurzen Blick. »Aber du solltest diese Arbeit unterbrechen und dich ein wenig um deine Sachen kümmern. Du mußt nämlich heute noch verreisen.« »Wo ist Michael?« fragte Constance aufgeschreckt. »Er hat im Augenblick zu tun, wird aber bald wieder hier sein«, behauptete Wolf. »Inzwischen treffe ich alle notwendigen Vorbereitungen. Wir haben uns nämlich geeinigt. Wir werden von einer laufenden Abfindung für dich Abstand nehmen, statt dessen bekommst du als einmalige Abfindung ein Haus.« »Ein Haus?« fragte Constance mit großen Kinderaugen. »Ja«, sagte Wolf Beck und sah auf die Uhr, »ein Haus in der Schweiz. Du mußt die in Frage kommenden Objekte morgen oder übermorgen besichtigen. Alles muß jetzt sehr schnell gehen. Und deshalb fliegst du kurz vor einundzwanzig Uhr erst einmal nach München.« »Nach München?« fragte Constance leise. »Jawohl«, sagte Wolf, »nach München. Meine Idee ist das nicht – sie stammt von Michael. Michael besteht darauf. Ich habe an Henry Engel bereits telegraphiert, er wird dich vom Flugplatz abholen lassen.« »Aber ich muß doch nicht zu Henry hinausfahren«, wehrte sich Constance schwach, »ich kann doch 219
genausogut in München bleiben.« »Darüber mußt du dich mit Michael unterhalten, nicht mit mir«, sagte Wolf, der keine Zeit mehr verlieren wollte. »Michael ist jedenfalls der Ansicht, daß du bei Henry in guten Händen bist. Er hat Vertrauen zu dir. Und Henry Engel ist unser Freund, Michael genügt das.« Damit verließ Wolf Beck das Atelier. Als er über den Korridor zu Mutter Schwiefert gehen wollte, traf er auf Michael Reiners. »Hast du die Burschen abgewimmelt?« fragte er. »Vorläufig ja«, sagte Michael Reiners. »Ich habe mit allen Ausweisen operiert. Ich habe keine Frage, die Conrad betraf, beantwortet – sondern deswegen konstant an die Amerikaner verwiesen.« »Ist nach mir gefragt worden?« Reiners zögerte ein wenig. Dann sagte er offen: »Ja. Sie wußten, daß du mit Constance verheiratet bist und dich in Berlin aufhältst.« »Dann muß ich sofort einen meiner Rechtsanwälte ansetzen«, sagte Wolf Beck. »Am besten einen, der politische Beziehungen hat.« »Das kann nichts schaden.« »Auf alle Fälle muß ich so schnell wie möglich hier weg«, sagte Wolf zielstrebig. »Ich habe nicht die geringste Lust, mir von Geheimpolizisten in meine Geschäfte hineinpfuschen zu lassen. Und was wird aus dir, Michael?« »Um mich brauchst du dir keine Gedanken zu machen«, sagte Reiners lächelnd. »Es gehört zu meinem Metier, sich auch mit Gesindel herumzuschlagen. Es gibt schlimmere Dinge, Wolf – und die sind leider zur Zeit näher gerückt, als ich es jemals für möglich gehalten 220
hätte.« Um 18.00 Uhr fand in Bonn, im Palais Schaumburg, eine als »Sondersitzung des Bundeskabinetts« bezeichnete Besprechung statt, an der allerdings nicht alle Minister teilnahmen. Eine Fülle von Telefongesprächen, Einzel- und Gruppenbesprechungen im internen Kreis, mit Vertretern der befreundeten Mächte und sogar mit der Opposition, hatten bereits vorher stattgefunden. Die Sitzung verlief planmäßig; für die Eingeweihten gab es keine Überraschung. Die Situation war klar; es war nur noch nötig, sie in den wichtigsten Einzelheiten zu fixieren: das Protokoll verlangte sein Recht. Folgendes wurde schriftlich niedergelegt: Sondersitzung des Bundeskabinetts. Beginn 18.00 Uhr. Anwesend: der Bundeskanzler, der Außenminister, der Innenminister, der Minister für gesamtdeutsche Fragen, der Verteidigungsminister, der Pressechef der Bundesregierung. Der Bundeskanzler: Meine Herren! Die Ereignisse in Berlin haben eine tragische Wendung genommen. Es ist Blut geflossen. Ich bitte zunächst den Herrn Innenminister, uns einen Überblick über die Lage zu geben. Der Innenminister: Herr Bundeskanzler, meine Herren! Wie Sie bereits wissen, wurde um 16.30 Uhr der Versuch einer Gegendemonstration auf dem Marx-Engels-Platz von den dort versammelten Betriebsschutzgruppen mit Waffengewalt blutig niedergeschlagen. Nach bisher vorliegenden Berichten sind dort siebenundzwanzig Todesopfer zu beklagen. Inzwischen hat die Volkspolizei generellen Schießbefehl erhalten. Vor einer halben Stunde hat es auch in der Stalinallee 221
Tote gegeben. Es handelte sich um einen anderen Demonstrationszug, der ebenfalls zum Marx-Engels-Platz strebte und vorwiegend aus Arbeitern gebildet wurde. In der Stalinallee war es allerdings nicht Volkspolizei, die von der Schußwaffe Gebrauch gemacht hat, sondern eine reguläre Einheit der sogenannten Volksarmee. Damit ist eine klare Verletzung des Viermächtestatuts von Berlin gegeben. Es ist anzunehmen, daß die drei westlichen Alliierten deswegen bei den Sowjets protestieren werden. Wie der Regierende Bürgermeister von Berlin mitteilt, rechnen die Westberliner Kommandanten damit, daß die Russen in Kürze einen sowjetischen General als Stadtkommandanten von Berlin einsetzen und den Ausnahmezustand verhängen werden. Aus den übrigen Städten der sowjetischen Zone liegen bisher keine beunruhigenden Meldungen vor. Ich möchte von irgendwelchen offiziellen Schritten oder Aufrufen der Bundesregierung abraten, solange in der Sowjetzone Ruhe herrscht. Die Berliner Situation fällt in erster Linie unter die Verantwortung der Alliierten. Der Bundeskanzler: Meine Herren, ist jemand von Ihnen anderer Meinung? Das Protokoll verzeichnet an dieser Stelle: Kurze Pause. Der Bundeskanzler weiter: Nun, auch ich halte es nicht für ratsam, jetzt irgendwie einzugreifen. Denn es ist kaum anzunehmen, daß vor morgen früh die Meldungen über die Berliner Ereignisse Reaktionen in der Zone bewirken werden. Deshalb können wir weitere Entschlüsse bis nach der Londoner Konferenz von heute nacht zurückstellen, an der der Außenminister und der Verteidigungsminister teilnehmen werden. Ich bitte Sie im 222
übrigen, Bonn ohne mein Einverständnis nicht zu verlassen. Henry Engel hatte an diesem Nachmittag in seinem »Verlies« am Rande der Alpen zwei Besucher empfangen: seinen Kunsthändler aus München und den Bevollmächtigten eines großen amerikanischen Konzerns. Seine Neuerwerbung, das Bild von Marc Chagall, hing in der Halle. Darunter saß immer noch der Amerikaner. »Warum kommen Sie nicht zu uns«, sagte der Abgesandte des Konzerns, der einige von Henry Engels Erfindungen auswertete; gegen Beteiligung, die monatlich abgerechnet wurde. »Mir gefällt es hier«, sagte Henry Engel. Er betrachtete liebevoll seinen Chagall: ein über dunklen Dächern schwebendes Liebespaar, umspielt von magisch blauen Leuchten und angestaunt von einer dunkelroten Kuh, die auf einer Wolke von Blüten gelagert war – als wäre die Nacht überwunden und die große Ruhe für alle Ewigkeit erreicht. »Wir würden Ihnen ein modernes Laboratorium in den USA zur Verfügung stellen, wo Sie wollen«, sagte der Amerikaner mit einer Selbstverständlichkeit, die selbst Henry Engel nicht unbeeindruckt ließ. »Warum soll ich nicht offen sein? Sie wissen genau, daß wir Sie brauchen.« »Für das, was ich erreichen kann, genügt mein Experimentierschuppen«, sagte Henry höflich ablehnend. »Ist es wahr, daß Sie Ihre Legierung HE siebzehn A bereits selbst verbessert haben?« fragte der Beauftragte des Konzerns. »Nach den Meßapparaturen, die Sie bei uns vor einigen Monaten angefordert haben, halten das unsere Experten für nicht ausgeschlossen.« 223
»Möglich ist alles«, sagte Henry Engel lakonisch. »Schließlich existiert nichts, das sich nicht noch verbessern ließe – sofern es sich um Menschenwerk handelt, meine ich.« »Aber warum geben Sie uns denn nicht die neuen Formeln?« fragte der Amerikaner. »Sie würden die Überlegenheit unseres Konzerns steigern – und damit auch zugleich die Endsumme Ihres Bankkontos.« »Lieber, verehrter Freund«, sagte Henry Engel und blickte dabei auf seinen Chagall, dessen glückseliges Schweben in der Stille ihm mehr und mehr Freude bereitete, so daß er lebhaft wünschte, möglichst bald wieder mit diesem Bild allein zu sein. »Die Legierung HE siebzehn A ist bisher von niemandem nachgemacht, geschweige denn übertroffen worden – und solange das nicht der Fall ist, verdiene ich damit recht gut. Warum soll ich mich selbst überbieten wollen, wenn das nicht unbedingt notwendig erscheint?« »Wir sind, wie Sie wissen, nicht kleinlich«, sagte der Bevollmächtigte so, als spreche er über das Wetter. »Wir würden eine vertragliche Möglichkeit finden, die für Sie jeden denkbaren Verlust ausschließt, wenn uns dadurch ein einzigartiger Vorsprung gesichert wird. Bitte, denken Sie darüber nach. Und ziehen Sie, bitte, auch unseren Vorschlag in Erwägung, Ihre Arbeitsstätte von Deutschland nach Amerika zu verlegen. Denn, Herr Engel – ich kann mir nicht gut vorstellen, warum Sie hier in dem alten, so unruhig gewordenen Europa leben wollen. Warum ausgerechnet hier?« »Weil hier die größten Gedanken der Menschheit entstanden sind – und zugleich die größten Dummheiten, deren Menschen überhaupt fähig scheinen. Das fasziniert mich. Ich will bewundern und lachen dürfen. Und das kann man nur an den Quellen.« 224
Friebe trat ein und überreichte Henry Engel ein Telegramm. Der öffnete es und las es, wobei er zu lächeln begann. Es war das Telegramm, mit dem ihm Wolf und Michael den Besuch von Constance ankündigten. »Und hier«, sagte er dann, »ist für mich noch ein Grund, vorläufig nicht an Amerika zu denken: hier nämlich kann ich meine Freunde empfangen – und was wären wir ohne sie? Ich weiß nur soviel: fast das einzige, was sich der Mensch in seinem Leben in voller Freiheit aussuchen darf, sind seine Freunde. Das allein schon macht sie wertvoll.« »Ich respektiere Ihre Ansichten – selbstverständlich«, versicherte der Amerikaner. »Ich begrüße Ihre Offenheit – sie gibt mir die Möglichkeit, in gleicher Weise offen zu sein. Ist Ihnen bekannt, Herr Engel, daß die von Ihnen erfundene Legierung HE siebzehn A eine besondere Rolle bei der Herstellung der neuen H-Bomben spielt?« »Ich wußte es nicht mit Bestimmtheit«, gestand Henry Engel mit ungewöhnlich leiser Stimme. »Aber ich habe es geahnt. Und ich kann mir denken, was Sie daraus folgern wollen.« Der Amerikaner nickte: »Wir wünschen nicht nur, daß Sie zu uns kommen, Herr Engel, ich möchte vielmehr sagen: Sie müssen zu uns kommen! Sie gehören zu den wenigen Menschen, die für unsere Existenz von größter Wichtigkeit sind. Und, um noch deutlicher zu werden: wir können es nicht riskieren, Sie – rein räumlich gesehen – näher an der Sowjetunion zu wissen als an Amerika.« »Ich werde niemals arbeiten, wenn ich mit Gewalt dazu gezwungen werde«, sagte Henry Engel warnend. »Ich bitte Sie, das gründlich zu bedenken«, sagte der Amerikaner eindringlich. »Bei Menschen von Ihrem 225
Format geht es nicht mehr um die persönliche Zufriedenheit, sondern um die Existenz der Menschheit.« »Sie überschätzen mich«, erklärte Henry Engel ablehnend. »Ich bin nur ein Rädchen im großen Getriebe. Ein paar hundert waren vor mir, einige hundert werden nach mir sein.« »Im Augenblick aber, Herr Engel, sind Sie ein wichtiges Bindeglied, auf das die freiheitlich gesinnte, demokratische Welt nicht verzichten kann.« »Aber ich kann auf die Atombomben verzichten, die man mit meiner Hilfe gebaut hat und noch bauen will!« »Herr Engel«, sagte der Amerikaner kaum vernehmbar, »ich glaube nicht daran, daß die Entscheidung hierüber bei Ihnen liegt.« »Ich lasse mich zu nichts zwingen!« »Sie sollen vorerst nichts weiter tun als über das, was ich Ihnen sagen mußte, nachdenken. Allerdings kann sein, daß Sie nur noch wenig Zeit dazu haben. Ich halte mich in Ihrer Nähe auf. Hier ist meine derzeitige Adresse und die Telefonnummer, unter der Sie mich Tag und Nacht erreichen können. Ich selbst werde mich immer wieder in kurzen Abständen bei Ihnen melden.« »Zwecklos«, sagte Henry Engel. »Für uns«, sagte der Amerikaner, »darf in Ihrem Fall dieses Wort nicht existieren. Ich bin überzeugt davon: eines Tages werden Sie drüben bei uns arbeiten – und das wird in nicht allzu ferner Zeit sein.« Michael Reiners hatte zwei strapaziöse Besprechungen hinter sich. Er war zwischen Ost- und West-Berlin hin und her gependelt. Er hatte mit Politikern konferiert, die auf ihre Art durchaus ehrenwerte Männer waren. 226
Der Abgrund zwischen Ost und West schien aber in diesen Kreisen nicht zu überbrücken. Es war fast schon als ein Glücksfall anzusehen, daß sich nicht allzu viele fanden, die diesen Abgrund noch mehr vertiefen wollten. Bei allen Bemühungen aber ergab sich ein Hindernis, das sich als unüberwindlich erwies: die Toten. Niemand wollte für sie verantwortlich sein. Ermüdet und sich dennoch verbissen gegen das Gefühl der Hoffnungslosigkeit wehrend, traf Michael Reiners in Constances Wohnung ein. Und hier wenigstens erlebte er eine angenehme Überraschung: Wolf Beck hatte offenbar ganze Arbeit geleistet. Constances Koffer standen gepackt im Korridor, und das veränderte, unterschriebene und notariell beglaubigte Abkommen lag auf dem Tisch. Michael überprüfte es kurz; es war, wie erwartet, in Ordnung – Wolf hatte sein Versprechen gehalten. Michael erfuhr, daß sich Constance im Badezimmer aufhielt und vor Ablauf einer halben Stunde nicht erwartet werden konnte. Sie scheine sich auf ihre Reise zu freuen, versicherte Mutter Schwiefert. Sie brachte Michael eine Tasse Kaffee, die er mit Dank entgegennahm, entfernte sich jedoch nicht, blieb vielmehr erwartungsvoll vor ihm stehen. »Daß Frau Schubert Berlin verlassen soll«, sagte sie schließlich, »das ist Ihre Idee, Herr Doktor, nicht wahr?« »Ja«, sagte Michael und sah Mutter Schwiefert offen an. »Ich halte es für notwendig. Und im Augenblick mehr denn je.« »Und wann«, fragte Mutter Schwiefert, »soll ich nachfahren?« »Wollen Sie denn das?« fragte Michael überrascht. »Muß ich das nicht? Wenn Frau Schubert längere Zeit wegbleibt, wird sie mich brauchen – erst recht dann, 227
wenn sie ein neues Haus bezieht. Um diese Wohnung kann sich in der Zwischenzeit meine Schwester kümmern. Sie kennt sich hier aus und ist absolut verläßlich.« »Ich bin sehr glücklich darüber«, sagte er, »daß Constance einen Menschen wie Sie gefunden hat.« »Wann soll ich also fahren?« fragte Mutter Schwiefert. »Noch heute nacht? Denn Sie scheinen ja zu glauben, daß alles sehr schnell gehen muß? Und wohin soll ich fahren?« »Mutter Schwiefert«, sagte Michael und legte kurz seine Hand auf ihren Arm. »Ich weiß natürlich nicht, was sich ereignen wird – aber ich glaube, man muß auf Schlimmes gefaßt sein. Deshalb möchte ich Frau Schubert in Sicherheit wissen – aber zugleich möchte ich sie unter keinen Umständen beunruhigen.« »Ich verstehe«, sagte Mutter Schwiefert zustimmend. »Ich werde ihr kein Wort davon sagen, daß ich ihr nachfahre.« »Das wäre gut«, sagte Michael. »Hat Frau Schubert erst Berlin verlassen, regeln wir alles andere gemeinsam. Einverstanden?« »Ich bin mit allem einverstanden, was für die gnädige Frau gut ist«, sagte Mutter Schwiefert entschlossen. »Haben sich eigentlich die beiden Männer von vorhin noch einmal sehen lassen?« wollte Michael wissen. »Nicht bei uns!« versicherte Mutter Schwiefert. »Aber sie schnüffeln hier im Haus herum und fragen die Nachbarschaft aus. Ist das schlimm?« »Das ist, vorläufig wenigstens, nicht gefährlich. Eines allerdings kann jetzt entscheidend werden: keine außenstehende Person darf erfahren, daß irgend 228
jemand, der zu dieser Wohnung gehört, Berlin verlassen will! Das ist wichtig! Darauf müssen Sie achten, denn sonst kann kurz vor Toresschluß noch irgend etwas fürchterlich schiefgehen.« Um 19.00 Uhr meldete der amerikanische Stadtkommandant nach Washington: Ich erhalte soeben das Schreiben eines sowjetischen Generalmajors Melnikow, der eine Panzerdivision kommandiert. Er teilt mir mit, daß er vom sowjetischen Oberkommando als Stadtkommandant von Ost-Berlin eingesetzt worden ist. Er bat den Ausnahmezustand über den Ostsektor der Stadt verhängt und Ausgangssperre ab 18.00 Uhr angeordnet. Generalmajor Melnikow verlangt in scharfem Ton, daß die westlichen Stadtkommandanten das weitere Eindringen »subversiver, provokatorischer, faschistischer Elemente« in den demokratischen Sektor verhindern sollen. Der Wortlaut des Briefes wird soeben chiffriert und folgt im Anschluß an diese Meldung. In Ost-Berlin herrscht zur Zeit Ruhe. Der Kommentar Charlys dazu lautete: »Wenn du nicht bald aus meinem Blickfeld verschwindest«, sagte der Wolf zum Lamm, »dann bist du schuld daran, wenn ich dich fresse.« »Aber ich bitte dich«, sagte das Lamm zum Wolf, »ich halte mich doch nur in meinem Schafstall auf!« »Dein Pech«, sagte der Wolf zum Lamm, »denn dein Schafstall liegt in meinem Blickfeld.« »Ich weiß nicht recht, Charly«, sagte der General, »ob ich anstelle der Russen wesentlich anders handeln würde.« Ruth Winters ging durch die Straßen der Hamburger Innenstadt und versuchte, Ruhe zu gewinnen. Sie hatte 229
kein festes Ziel, nur das Bedürfnis, Zeit zu überwinden und das Alleinsein zu vermeiden. Sie wollte, es wäre möglich, Tage zu überspringen. Sie sah wahllos in die Schaufenster. Aber sie schien weder die Waren noch ihr Spiegelbild in den großen Scheiben zu sehen. Sie blieb vor einem Herrenmodegeschäft stehen. Eine Fotografie, die dort zu Werbezwecken aufgestellt war, schien sich ihr aufzudrängen: ein Mann band sich eine Krawatte; er lächelte dabei außerordentlich zufrieden. Und Ruth fand, daß dieser lächelnde junge Mann Bernhardt glich, jenem Bernhardt, den sie weit weg oder tot wünschte. Der Mann auf der Fotografie, dessen Anblick körperliches Unbehagen in Ruth Winters auslöste, war sportlich gekleidet, mit Hosen und Schuhen, wie sie zum Segeln getragen werden. Und das Wasser im Hintergrund dieses Bildes, blau, tief und still, zog ihre Gedanken magisch an. Sie segelte gern und gut; er, der sie zwang, an ihn zu denken, verstand nicht viel davon, war aber ein gewandter Segelpartner. Er konnte jedoch so gut wie gar nicht schwimmen und vermochte sich nur kurze Zeit über Wasser zu halten. Deshalb kam er nie bei sehr windigem Wetter zum Segeln mit. Ruth Winters sah hoch – der Himmel war klar. Er würde also mitkommen, wenn sie heute noch segeln wollte. Das wäre gut zu begründen: sie wollten ungestört sein. Um aber ungestört zu sein, müßten sie sich von allen anderen Seglern und Booten absondern – dies ließ sich also überzeugend begründen. Was aber weiter? Eine schnelle, heftige, überraschende Wendung, so daß das Boot kenterte oder doch in eine Lage kam, bei der mit einem Abrutschen 230
eines unvorbereiteten Menschen gerechnet werden konnte? Oder ein Stoß? Was aber dann weiter? Ruth Winters versuchte, diesen Gedanken zu entfliehen. Sie wandte sich schroff von dem Schaufenster ab und starrte die vielen Menschen an, die sich an ihr vorbeidrängten – Menschen, die ihr wie Puppen vorkamen, die sich mechanisch vorwärts bewegten. Ruth Winters eilte ihrer Wohnung zu, als müsse sie so schnell wie möglich dem Sog der Menge entfliehen. Sie fand ein Telegramm von Wolf vor, riß es hastig auf und las, daß er um 21.35 Uhr in Hamburg landen würde. Ruth sah auf die Uhr. Sie hatte nur noch etwa zwei Stunden Zeit. Der Volkspolizist, der auf Martins Vater zutrat, sah noch sehr jung und unbekümmert aus. »Sie sollen zur Kreisleitung kommen«, sagte er, »aber Tempo! Zimmer 17!« Martins Vater nickte der Mutter zu, die in Gegenwart des Volkspolizisten kein Wort sagte. Er legte kurz die Hand auf den Hinterkopf seiner kleinen Tochter. Dann ging er hinaus. Der Volkspolizist setzte sich an seine Seite. »Bin ich etwa verhaftet?« fragte Martins Vater. »Wie kommen Sie darauf?« fragte der Volkspolizist zurück. »Ich begleite Sie, weil wir zufällig den gleichen Weg haben.« Der Vater nickte. Das konnte wahr sein oder auch nicht – unter diesem Regime nahmen die Überraschungen kein Ende. Man war inzwischen auf alles gefaßt. Sie bewegten sich über die Hauptstraße am Volkspark vorbei, vorbei am sogenannten »Haus der Dame«, einem staatlich gelenkten Kleiderladen. Als seine hochtrabende 231
Bezeichnung aufkam, wurde die Frauentoilette auf dem Bahnhof »Palast der Dame« genannt. Aber auch dieser Witz geriet wieder in Vergessenheit. Sie bogen nach rechts ab, wo – nicht allzu weit von der sowjetischen Kommandantur entfernt – die Kreisleitung der SED lag, in der mehr als ein halbes hundert Funktionäre werkten. Das dem Vater Martins angegebene Zimmer befand sich im ersten Stockwerk; und auf der Tür las er, überrascht und verwundert zugleich: Kultur und Erziehung. Er wurde erwartet. Ein Funktionär fragte ihn: »Vor einigen Stunden haben wir Ihrem Sohn Martin einen Zettel geschickt – warum ist er nicht gekommen?« »Er ist nicht da.« »Warum wurde uns das nicht mitgeteilt?« »Der Zettel war an meinen Sohn gerichtet. Aber jetzt haben Sie ja mich herkommen lassen.« »Wo ist Ihr Sohn?« »Weggefahren.« »Wohin?« »Zu seiner Braut.« »Und wo befindet sich seine Braut?« »In Schongau.« »Und wo liegt Schongau?« »Am Lech.« »Und wo fließt der Lech?« »In Bayern.« Hier wurde das Frage- und Antwortspiel plötzlich unterbrochen. Eine längere Pause entstand. Der Funktionär sah forschend Martins Vater an. Dessen Gesicht glänzte vor Schweiß. 232
Der Funktionär erhob sich wortlos und ging hinaus. Martins Vater wagte sich kaum zu rühren. Er starrte auf die Bilder und Spruchplakate, die an den Wänden hingen; doch er nahm lediglich ihre Existenz zur Kenntnis, nicht das, was sie darstellten oder aussagten. Der Funktionär kam zurück und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Man konnte ihm nicht ansehen, ob er inzwischen ausgetreten war oder ein wichtiges Telefongespräch geführt hatte. »Sie haben sich morgen vormittag wieder hier einzufinden«, sagte der Funktionär zu Martins Vater. Um 20.00 Uhr wurde zu Beginn des Nachrichtendienstes im Ostberliner Rundfunk folgende Meldung verlesen: In Berlin und der DDR herrscht Trauer. Ein unglaubliches Verbrechen ist geschehen. Bewaffnete Banden aus West-Berlin sind in den demokratischen Sektor der Stadt eingedrungen und haben auf die Demonstranten der demokratischen Organisationen der DDR einen feigen Überfall verübt. Auf dem Marx-EngelsPlatz ist Arbeiterblut geflossen. Durch diese ungeheuerliche Tat faschistischer Verbrecher ist der Frieden und die Sicherheit der DDR bedroht. Die Regierung der DDR, die gewillt ist, sich auch in dieser Stunde an die internationalen Abmachungen zu halten, kann wegen des besonderen Status der Stadt Berlin nicht mit eigenen Kräften für die Sicherheit der Stadt garantieren. Der Ministerrat der DDR hat sich daher an die Regierung der UdSSR gewandt, mit der Bitte, Verbände der verbündeten Sowjetarmee mögen für Ruhe und Ordnung in Berlin sorgen. Die Regierung der UdSSR hat dieser Bitte entsprochen. Im Anschluß an die Nachrichten verlesen wir einen 233
Befehl des vom sowjetischen Oberkommando in Deutschland zum Kommandanten von Berlin ernannten Generalmajors Melnikow. »Wir haben auch diesmal wieder so wenig Zeit füreinander gehabt«, sagte Constance Schubert. »Wir werden dieses Versäumnis gründlich nachholen«, versprach Michael und griff nach ihrer Hand, die sie ihm willig überließ. Sie standen in der Eingangshalle des Flughafens Berlin-Tempelhof, an der Seite, an der sich die Postschalter befanden. Und plötzlich, mitten in der Unruhe des Tages, war ihnen eine Viertelstunde gegönnt, die sie für sich allein hatten: das Gepäck war aufgegeben, die Maschine stand startbereit auf dem Rollfeld; an dem Zeitpunkt, der zum Einsteigen bestimmt war, fehlten noch fünfzehn Minuten. »Es ist schön«, sagte sie, zärtlich und leise, »daß du trotz deiner vielen Verpflichtungen hierhergekommen bist, um mir auf Wiedersehen zu sagen.« »Vielleicht sage ich dir morgen schon wieder guten Tag; spätestens übermorgen. Aber auf alle Fälle wird sich Wolf um dich kümmern, sobald er von Hamburg nach München kommt. Und bis dahin hast du ja Henry.« Constance sah Michael mit großen Augen an, als er Henrys Namen erwähnte. Michael wich diesem fragenden Blick aus. Er betrachtete die Menschen, die sich am Zeitungskiosk und an den Verkaufsständen aufhielten, die zum schlauchartig gebauten Restaurant hinübergingen oder vor den Tischen der Flugbüros standen: nirgendwo vermochte er besondere Unruhe zu entdecken. Das beruhigte ihn; Constance schien nicht zu ahnen, was die Freunde dazu veranlaßt hatte, auf diese Abreise 234
zu drängen. Morgen würde sie es vielleicht erfahren – morgen, wenn sie bei Henry Engel war. »Michael«, sagte Constance und beugte sich ein wenig vor, so daß er ihre Stimme mit ungewohnter Klarheit vernahm, »du darfst dir meinetwegen keinerlei Sorgen machen – Henry Engel ist für mich nichts anderes als ein Freund.« »Er ist auch mein Freund«, sagte Michael, »und ich möchte weder dich noch ihn verlieren.« Constance betrachtete Michael mit verhaltener Zärtlichkeit; ihr schmales Gesicht war in diesem Augenblick von unbewegter Schönheit, aber ihre Augen leuchteten. »Komm bald«, sagte sie, »ich warte auf dich.« Dann ging sie an den Beamten vorbei, die ihren Paß bereits kontrolliert hatten, auf den Raum zu, in dem sich die Fluggäste aufhielten. Sie sah nicht mehr zurück. Sie schritt noch aufrechter als gewöhnlich dahin, was ihrer Erscheinung eine abweisende Strenge verlieh. »Eine unwahrscheinliche Person!« sagte eine kräftige Stimme neben Michael. »Kaum zu glauben, daß es so etwas gibt.« Michael wandte sich überrascht und unwillig zugleich der Stimme zu, die er zu kennen glaubte. Neben ihm stand Charly, der amerikanische Korrespondent. »Da staunen Sie, Doktor, was?« rief Charly und schlug Reiners auf den Rücken. »Wie kommen Sie hierher?« fragte Michael Reiners; und da er damit rechnete, daß der alberne Charly eine witzig-nichtssagende Antwort geben würde – hier etwa: zu Fuß! – fügte Michael hinzu: »Was suchen Sie hier?« »Ich habe die Aufgabe«, erklärte Charly 235
augenzwinkernd, »Sie zu überwachen, Doktor Reiners. Denn wie Sie wohl bereits vermuten werden, bin ich ein Agent des FBI, volkstümlich Spitzel genannt, ein Aushorcher, Zutreiber und Beschatter, der sich als Journalist tarnt.« »Lassen Sie diese Scherze, Charly«, sagte Reiners. »Sie können sich getrost alle Umwege sparen.« »Ganz einfach«, erklärte Charly bereitwillig. »Ich sammle Eindrücke über die allgemeine Stimmung – ich war auf einigen Bahnhöfen, bin mit Omnibussen gefahren und landete schließlich hier auf dem Flugplatz, der so praktisch mitten in der Stadt liegt.« »Und Ihre Eindrücke, Charly?« »Bisher ist keinerlei Panikstimmung zu bemerken. Im Gegenteil. Der Drang nach vorne ist vorerst häufiger als der nach rückwärts. Sie allerdings scheinen da eine Ausnahme zu machen. Wer war denn diese herrliche Dame?« »Die Frau meines Freundes Wolf Beck«, sagte Michael, der Wahrheit entsprechend. »Ach so«, sagte Charly offenbar enttäuscht. »Aber erfreulich, daß das nicht Ihre Frau ist – hätten Sie sonst Zeit, sich mit Politik zu beschäftigen? Sie sind ein alter Schlangenbeschwörer, Doktor. Ich bin sonst nicht sehr für Ausgleichen, Besänftigen und Einschläfern – aber in diesem Fall scheint gar nichts anderes mehr übrigzubleiben, wenn wir eine Katastrophe vermeiden wollen. Und es brodelt in den Gaststätten, Fabriken und Versammlungsräumen, Die gerechte Empörung steht marschbereit. Der Ruf nach Frieden wird immer mächtiger, aber natürlich nicht nach Frieden um jeden Preis.« »Ist es Ihnen gelungen, mir einen neuen 236
Verbindungsmann zu besorgen, Charly?« »Klar. Sogar einen mit Funkgerät. Auch habe ich mich bereit erklärt, auf ein normales Abendessen zu verzichten und den amerikanischen Stadtkommandanten um ein Dutzend Sandwiches zu erleichtern. Kommen Sie mit – ich gebe Ihnen zwei davon ab.« Um 21.00 Uhr ergriff F. F. Baumann nach heftigen Diskussionen innerhalb des internen Führungskreises seiner Partei das Wort. Er sprach im Sender Freies Berlin, im Rahmen der kürzlich angelaufenen Sendereihe: »Das offene Wort.« Der hierfür vorgesehene Professor, der sich für die moderne Kunst einzusetzen gedachte, insbesondere für Mondrian, trat selbstverständlich zurück. F. F. Baumann, der wortvergewaltigende Streiter für Freiheit und Frieden, hatte versichert, maßvoll, doch nicht kleinmütig, behutsam, aber mahnend und warnend zu sprechen. Der Intendant, vorsichtig geworden nach dem in seinen Augen unverschämten Eingriff der Amerikaner, über den Bundeskanzler und den Regierenden Bürgermeister, in seine Programmgestaltung, hatte persönlich das Manuskript von F. F. Baumann überprüft. Seine nationalbewußte Grundeinstellung ließ ihn schließlich »ja« zu dieser Sendung sagen. Und F. F. Baumann hatte wieder eine seiner berühmten großen Viertelstunden. Die ihm stets zur Verfügung stehende Leidenschaftlichkeit verwandelte das Manuskript in helles Feuer. Er führte, unter anderem, folgendes aus: In Ost-Berlin herrscht das Schweigen des Todes. Die genaue Zahl der Opfer ist zwar noch nicht bekannt, aber es sind über dreißig Menschen, die ihr Leben für die 237
Freiheit hingaben. Arbeiter und Studenten wollten den kommunistischen Machthabern zeigen, daß die Freiheit des polnischen Volkes ihnen nicht gleichgültig sein kann. Sie wurden von sich deutsch nennenden Mördern niedergemetzelt. Und wieder, wie im Jahre 1953, hat die sowjetische Besatzungsmacht eingegriffen und den Belagerungszustand verhängt. Sowjetische Panzer stehen an den Straßenkreuzungen Ost-Berlins. Was wird der nächste Tag bringen? Wird die Bevölkerung der Sowjetzone diese Blutopfer hinnehmen? Wird das Weltgewissen schweigen? Wieder einmal blickt die Welt nach Berlin! Wieder einmal steht Berlin im Mittelpunkt des Weltgeschehens. Niemand von uns kann wünschen, daß aus den Vorgängen in Ost-Berlin eine Bedrohung des Weltfriedens erwächst. Niemand unter uns existiert, der nicht von Herzen wünschen würde, in Ruhe und Frieden und Ordnung zu leben. Aber welcher gute Deutsche kann ruhig mit ansehen, wenn seine Brüder und Schwestern unter kommunistischen Kugeln fallen? Das freie Berlin appelliert an das Weltgewissen, dem Blutvergießen ein Ende zu setzen. Mutter Schwiefert begann, für sich einen Koffer zu packen und dazu zwei weitere, in die sie die verschiedenartigsten Sachen legte, die Constance Schubert besonders liebte. Es handelte sich um einige Bücher, Bilder, Briefe, Stoffe und fernöstliche Kunstgegenstände. Als das geschehen war, übergab Mutter Schwiefert ihrer Schwester, der Frau eines Straßenbahners, die Wohnung. Sie erklärte ihr, was wichtig, was besonders 238
wichtig und was ungewöhnlich wichtig sei. Währenddessen saß ihre Tochter Isolde mit ihrem Freund Otto, den sie Peter nannte, draußen am Rand der Straße auf einem Steinhaufen. Beide sprachen nicht viel miteinander. Sie lehnten sich aneinander und preßten ihre Hände. Isolde seufzte. »Ich werde nie mehr einen Jungen finden«, sagte sie schließlich dunkel und traurig, »der so ist wie du. So einen Jungen wie dich gibt es nicht noch einmal.« »Du hast mich ja«, sagte Peter. »Aber wie lange noch«, sagte Isolde betrübt. »Solange du willst«, sprach Peter fest. »Und wenn ich fort muß?« fragte sie vorsichtig. »Dann komme ich mit«, versicherte er. »Das ist abgemacht.« »Und wenn ich noch heute nacht fort muß?« »Dann komme ich eben heute nacht mit«, sagte Peter. Und er dachte, ohne es ihr sagen zu können: Was soll ich hier ohne dich? Du bist die erste und einzige, die mich liebt, und du sollst auch die einzige bleiben, denn ich liebe dich auch. Die anderen, meine Verwandten – denn meine Eltern habe ich nie gekannt, sie sollen irgendwo unter diesen Steinen liegen -, die schimpfen nur mit mir. Und sie sagen, daß ich schon mehr esse, als ich jemals verdienen könnte. Sie werden also froh sein, wenn sie mich loswerden. »Es ist schön«, sagte Isolde leise, »daß du mich nicht verlassen willst – aber vielleicht fahren wir sehr weit.« »Zu diesen Schwarzen?« fragte Peter tapfer. »Vielleicht in die Schweiz«, sagte Isolde. »Auch dort«, sagte Peter zuversichtlich, »werden sie 239
einen guten Mechaniker brauchen. Du wirst schon sehen, ich kann dich und auch noch deine Mutter durchbringen, wenn es sein muß.« »Dann ist es gut«, sagte Isolde und seufzte erleichtert. »Dann kannst du inzwischen deine Siebensachen zusammenpacken und deine Papiere bereitlegen. Wenn es soweit ist, sage ich dir Bescheid. Meine Mutter werden wir erst dann aufklären, wenn wir im Zug sitzen. Ich glaube, wir fahren zuerst einmal nach München.« »Geht in Ordnung«, sagte Peter ohne Zögern. »Jetzt darfst du mir einen Kuß geben«, flüsterte Isolde. »Wenn ihr damit fertig seid«, sagte ein Mann mit rauher Stimme, »könnten wir uns vielleicht einmal ein wenig unterhalten.« »Was sind Sie denn für einer?« wollte Isolde empört wissen. »Gehören Sie etwa zu der Sorte, die Liebespaare belauscht?« »Ich knalle Ihnen eine!« versprach Peter mannhaft. Der Mann, der im Schatten einer Ruinenwand gestanden hatte, trat näher. Er wandte sich an Isolde. »Du bist doch die Kleine von der Frau Schwiefert.« »Warum duzen Sie mich?« fragte Isolde. »Haben wir zusammen im Sand gespielt?« Der Mann nahm von dieser Empörung keine Notiz. Er sagte: »Deine Mutter ist doch in Stellung bei Frau Schubert, die eigentlich Beck heißt. Du kennst sicherlich einen Doktor Reiners. Kennst du auch den anderen Mann, der heute nachmittag bei euch in der Wohnung war?« »Ich kenne Sie«, sagte Isolde, »und das genügt mir. Sie wollten heute nachmittag in unsere Wohnung eindringen. Sie fragen alle Leute über uns aus. Aber 240
mich können Sie dabei aus dem Spiel lassen. Ich bin nämlich noch ein kleines Kind, das jeder Hergelaufene duzen kann.« »Na, höre mal«, sagte der Mann verblüfft, »so kannst du doch nicht mit mir sprechen! Aber schön – wenn du willst, dann sage ich auch Sie zu dir.« »Zu spät«, erklärte Isolde. »Es ist sehr spät geworden und ich muß nach Hause. Begleite mich, Peter. Deinen Arm, bitte.« »Dieser F. F. Baumann«, sagte Charly kauend, »benimmt sich wie eine Wildsau im Schrebergarten.« »Dennoch Charly«, sagte Michael Reiners, »sollten Sie nicht vergessen, daß auch Baumann ein ehrlicher Patriot ist – ein aufrechter Kämpfer für die Gerechtigkeit.« »Kann sein«, sagte Charly, an seinem Sandwich würgend, »kann durchaus sein. Ich weiß jedenfalls, daß Baumann ein ausgemachter Idiot ist – das eine schließt das andere ja nicht aus.« »Ich neige dazu«, sagte der amerikanische Stadtkommandant verbindlich, »Doktor Reiners recht zu geben. Was hier in Berlin seit mehr als zehn Jahren geschieht, ist einfach unerträglich.« »Stimmt«, gab Charly zu. »Es ist ein Aufstapeln von Pulverfässern! Die ganze deutsche Situation erinnert an die Vorarbeit für eine gigantische Sprengung. Aber erst muß es knallen, bis einige aufhorchen und mit Staunen erkennen, daß hier langjährige deutsche Spannungen mit Dynamit beseitigt werden sollen.« »Wir haben sie nicht herbeigeführt«, sagte der General. »Und was haben Sie getan, um sie zu verhindern?« fragte Charly herausfordernd. 241
Sie saßen im Arbeitszimmer des amerikanischen Stadtkommandanten. Der General wartete auf eine wichtige Entscheidung aus Washington. Er hatte einige Sandwiches und Tee reichen lassen und für Charly noch Rum. Daß Charly Doktor Reiners mitgebracht hatte, war dem General willkommen. »Sie glauben also, Herr Doktor Reiners«, fragte jetzt der General, »daß bei Ihren Gesprächspartnern im Osten eine gewisse Versteifung eingetreten ist?« Reiners bemühte sich, vorsichtig zu formulieren. »Ich würde nicht Versteifung sagen. Es ist vielmehr so etwas wie ein Ausgeliefertsein an unausweichliche Konsequenzen. Das Furchtbare vielmehr scheint mir zu sein, daß im Laufe der Jahre aus tausend und aber tausend zweckmäßigen oder notwendigen oder sich anbietenden Erklärungen, Behauptungen, Aussagen, Hinweisen und Angaben ganz langsam eine einzige Meinung zusammengewachsen ist, einer Mauer vergleichbar, von niemandem zu übersteigen …« »… so daß nichts anderes übrigbleibt«, ergänzte Charly, »als diese Mauer in die Luft zu sprengen.« »Man kann auch versuchen«, sagte der General bedächtig, »die Mauer abzubauen. So etwas kommt in der Praxis häufiger vor, als allgemein angenommen wird. Aber um die einmal in eine bestimmte Richtung gelenkte öffentliche Meinung umzudirigieren, braucht man Zeit.« »Ich fürchte«, sagte Reiners leise, »wir haben jetzt nur noch wenige Stunden zur Verfügung.« »Dann sollten Sie sie ausnutzen, Herr Doktor Reiners«, sagte der General. »Soweit ich Ihnen dabei helfen kann, wird es geschehen.« »Ihr Entgegenkommen ist geradezu beunruhigend«, sagte Charly. »Aber unser Doktor wird, wie ich ihn kenne, 242
mit beiden Händen zugreifen. Er ist nämlich einer von der Sorte, die gefährlicher werden können als Wölfe, wenn sie entschlossen sind, eine Schafherde zu beschützen.« Als Wolf Beck in Hamburg aus dem Flugzeug stieg und über das Rollfeld ging, sah er Ruth Winters an der Sperre stehen. Er winkte ihr kurz zu. Sie hob lediglich eine Hand, hielt sie aber mehrere Sekunden lang hoch. Ruth betrachtete den auf sie zukommenden Wolf Beck, wie sie ihn noch nie betrachtet hatte: kritisch, forschend, unnachsichtig um Erkenntnis bemüht. Die Sicherheit, die Wolf ausstrahlte, war das erste, was ihr auffiel, sie lag in seinem raumgreifenden Gang, in seinen lässigen Bewegungen und schon in der Art, wie er seine schmale Aktenmappe spielerisch unter dem Arm trug. Dann spürte sie seine natürliche Überlegenheit; sie zeigte sich in seinen Augen, die schnell und gründlich alles zu überblicken schienen, was um ihn vorging. Und Ruth Winters, ihn unentwegt anblickend, sagte sich: ich will mit ihm leben; ein Leben mit ihm wird mir alles geben, was ich mir wünsche – Geborgenheit vor allem. Um dieses Leben zu erreichen, darf mir kein Preis zu hoch sein! Ein Mann, der in der Nähe der Sperre auf dem Rollfeld stand, trat auf Wolf Beck zu, lüftete seinen Hut, zeigte flüchtig seinen Ausweis und fragte: »Herr Wolf Beck? Darf ich einige Fragen an Sie richten?« »Nicht jetzt, nicht hier und nur in Gegenwart meines Rechtsanwaltes«, erklärte Wolf Beck sofort. »Entschuldigen Sie, bitte, vielmals«, sagte der Kriminalbeamte mit großer Höflichkeit, »aber es handelt sich nicht um Sie selbst, Herr Beck. Wir brauchen lediglich ein paar Auskünfte über einen Mann, der Herrn Doktor Reiners aufgesucht hat.« 243
»Darüber«, sagte Wolf Beck unverzüglich, »kann ich Ihnen leider keine Auskünfte geben – ich habe niemanden gesehen, ich weiß von nichts. Das Empfehlenswerte wäre, sich mit Doktor Reiners direkt in Verbindung zu setzen. In Bonn ist immer bekannt, wo sich Doktor Reiners aufhält, Sie brauchen sich nur an den Staatssekretär des Bundeskanzlers zu wenden. Und wenn Sie über mich Auskünfte haben wollen, so kann sie Ihnen der Wirtschaftsminister persönlich geben.« Damit ließ Wolf Beck den Geheimpolizisten stehen. In dem jetzt fällig gewordenen Bericht nach Berlin wollte der Geheimpolizist deutlich werden. »Willkommen!« sagte Ruth Winters, als Wolf Beck vor ihr stand. Sie beugte sich vor und berührte seine Wange mit der ihren; flüchtig, doch mit großer Zärtlichkeit. »War irgend etwas Unangenehmes?« fragte sie besorgt. »Alles in Ordnung«, sagte er und sah sie fröhlich an. Sie nahm seinen Arm und schmiegte sich, ganz leicht nur, an ihn; denn sie wußte, daß er Zärtlichkeiten vor fremden Menschen nicht liebte. »Ich würde am liebsten«, gestand sie, »sofort mit dir verreisen, sofort – irgendwohin.« »Hast du alles erledigt?« fragte er sachlich. »So gut wie alles!« sagte sie. »Ich habe alle meine Aufträge abgeschlossen oder weitergegeben, mein Büro ist aufgelöst, die Wohnung ist gekündigt; was ich nicht verkauft oder verschenkt habe, steht bei dem Spediteur, den du mir angegeben hast. Alles andere hat in ein paar Koffern Platz.« »Gut«, sagte Wolf Beck zufrieden. Ihm gefiel die Promptheit, mit der sie ihre Vorbereitungen durchgeführt hatte; und er fand Gefallen an der Übersichtlichkeit ihres 244
Berichtes – sie konnte selbständig denken und handeln, war praktisch veranlagt, zur Organisation befähigt, sie besaß Energie und schien über Ausdauer zu verfügen. Außerdem war sie eine dekorative Person – er konnte sich keine bessere Frau wünschen. »Morgen oder übermorgen reisen wir«, sagte er. »Zunächst vermutlich in die Schweiz – dann wahrscheinlich nach Südamerika; dort sind die Formalitäten für eine Eheschließung, bei meinen Beziehungen, gleich null. Vorher jedoch habe ich hier noch einiges zu erledigen. Alle Voraussetzungen scheinen günstig – schon im Flugzeug ist mir bei einem Gespräch mit einem Reeder eine Unsicherheit aufgefallen; es schien mir, als werde eine schleichende Krise für den deutschen Markt befürchtet. Das ist für mich jetzt günstig, zumal ich in Devisen zahlen kann. Hast du die letzten Nachrichten gehört?« »Nein«, sagte Ruth Winters wahrheitsgemäß. »Hat sich irgend etwas Besonderes ereignet?« »Wie man es nimmt«, sagte Wolf Beck unbekümmert. »Mein Freund Michael glaubt schon wieder einmal, das Gebälk krachen zu hören. Dieser Vorgang scheint sich hier in Deutschland von Zeit zu Zeit zu wiederholen – seine wirtschaftlichen Auswirkungen sind nicht uninteressant. Aber ich will dich nicht langweilen, Ruth.« »Mich interessiert alles, was dir wichtig ist«, versicherte sie. »Und ich will alles tun, was in deinem Interesse liegt. Alles!« Es war kurz vor 22.00 Uhr, als der amerikanische Stadtkommandant die ungeduldig erwartete Antwort aus Washington in die Hände bekam. Er las sie eilig durch und atmete dann erleichtert auf. Er sagte zu seinem Adjutanten: »Bitte, verständigen 245
Sie sofort den britischen und den französischen Stadtkommandanten. Teilen Sie den Herren mit: Auch Washington sagt ja! Damit tritt der von uns in der gemeinsamen Abendbesprechung vorbereitete Plan, dem bereits London und Paris zugestimmt haben, sofort in Kraft. Die von uns vorgesehenen und eingewiesenen Offiziere haben ihre Tätigkeit unverzüglich aufzunehmen. Das vorbereitete Schreiben an den Regierenden Bürgermeister ist diesem auf dem schnellsten Weg durch den wartenden Kurier zu überbringen.« Der Adjutant verließ rasch das Arbeitszimmer des Generals. Das Schreiben, das der bereitstehende Kurier dem Regierenden Bürgermeister kurz nach 22.00 Uhr übergab, war von den drei alliierten Kommandanten unterzeichnet und hatte folgenden Wortlaut: Die ungewöhnliche Situation zwingt uns zu ungewöhnlichen Maßnahmen. Aus gegebenem Anlaß sehen wir uns genötigt, vorübergehend zur Wahrung der Sicherheit West-Berlins die Pressezensur einzuführen. Wir können es nicht zulassen, daß in unverantwortlicher Weise Kommentare und Berichte verbreitet werden, die geeignet sind, die Westberliner Bevölkerung zu beunruhigen oder zu unbesonnenen Handlungen zu verleiten. Ab sofort wird daher jeder Redaktion und dem deutschen Sender ein Kontrolloffizier zugeordnet. Wir bitten Sie, die Verlagsleitungen und den Intendanten entsprechend zu unterrichten. Wir berufen uns mit dieser Anordnung auf unsere Sondervollmachten aus dem Kleinen Besatzungsstatut. Gezeichnet: Der amerikanische Stadtkommandant von Berlin, Der britische Stadtkommandant von Berlin, Der französische 246
Stadtkommandant von Berlin. Die Nacht, durch die Constance Schubert fuhr, war strahlend und klar. Friebe, der sie vom Flugplatz in München abgeholt hatte und der jetzt vor ihr am Steuer des großen Wagens saß, hatte das Fenster neben sich heruntergelassen, so daß wohltuende Kühle auf sie zuströmte. »Wie geht es ihm?« fragte Constance vertraulich. »Besser als gewöhnlich«, sagte Friebe. Er kannte Constance seit Jahren, noch von der Zeit her, als sie und Henry Engel unzertrennlich schienen. »Er hat sich heute ein neues Bild gekauft – von einem russischen Franzosen, glaube ich. Er hat ein Vermögen dafür ausgegeben, aber es scheint ihm Freude zu machen. Außerdem bereiten ihm die schlechten Nachrichten so etwas wie Vergnügen – manchmal glaube ich fast, er hat sie erwartet.« In dieser Stunde begannen die Zensuroffiziere in WestBerlin ihre Arbeit. Die Zensuroffiziere in Ost-Berlin waren ebenfalls, wie schon seit Jahren, tätig. Im Ostsektor schienen die Straßen wie ausgestorben. Im Zentrum West-Berlins waren die Restaurants überfüllt. In einem Schuppen lagen achtundzwanzig Tote. Der amerikanische Stadtkommandant sprach mit Washington, Charly telefonierte mit New York, der Regierende Bürgermeister von West-Berlin berichtete dem Bundeskanzler, der Oberbürgermeister von OstBerlin nahm an einer Sitzung des SED-Zentralkomitees teil, der neuernannte sowjetische Stadtkommandant inspizierte seine Einheiten, und der Chefkommentator des Ostberliner Senders sprach zwei verschiedene Versionen des Themas »Berlin den Berlinern - nicht den Faschisten!« auf Tonband. 247
Mutter Schwiefert packte ihre Koffer, während Tochter Isolde unterwegs war, um Fahrkarten zu kaufen. Peter begleitete sie. »Du glaubst nicht, wie ich mich freue!« versicherte er. »Jetzt beginnt für mich das Leben erst richtig!« »Für uns«, korrigierte ihn Isolde. Maria hatte an diesem Tag mehr als hundert Kilometer auf ihrem Fahrrad zurückgelegt; Martin ebenfalls; sie fühlten sich näher denn je – und ahnten nicht, wie nah sie sich waren. Maria hatte in der Nähe von Donauwörth ein Zimmer in einem Gasthof gefunden. Sie schlief zwischen den blauweiß-karierten Tüchern traumlos und fest. Martin vermochte noch nicht zu schlafen. Er saß im Wirtsgarten und sah den Keglern zu, die bei offenen Türen ihre Kugeln schoben, heiter lärmten und Biere tranken. Der Mond hing hoch am Himmel. Und Martin dachte: Es ist der gleiche Mond, der jetzt in Marias Fenster scheint. »Eine gute Nacht, Maria«, sagte er leise – es war nicht vernehmbar, denn die Kegelkugeln überdröhnten die Stille. Hauptmann Müller-Marburg, Westdeutschland, dem Grenzschutz zugehörig, saß in seiner Neubauwohnung: Zentralheizung, fließendes warmes Wasser, eingebaute Radio- und Fernsehanschlüsse, Müllschacht – ein Fahrstuhl fehlte, und die Garagen waren mangelhaft. Hauptmann Müller-Marburg hatte sich eine bequeme Jacke angezogen, und seine Füße steckten in Filzpantoffeln. Er rauchte bedächtig eine Zigarre. Dem Radioapparat entströmte sanftes Tanzgedudel – er hörte es nicht: er dachte noch über die Nachrichten nach, die er schon vor geraumer Zeit gehört hatte. Sie 248
beschäftigten ihn so stark, daß er darüber sogar seinen Kommandeur vergaß. »Das Kind schläft jetzt endlich«, sagte seine Frau und setzte sich neben ihn. »Tapfere Menschen – diese Arbeiter und Studenten«, sagte der Hauptmann Müller-Marburg. »Sie handeln so planmäßig und entschlossen, als hätten sie Befehle bekommen. Man muß sie bewundern, denn sie lassen sich ihren Glauben an Deutschland nicht nehmen - kein Terror reicht dazu aus.« »Das Kind ist immer den ganzen Tag müde«, sagte seine Frau. »Aber wenn der Abend kommt, will es nicht schlafen gehen.« »Auch wenn uns die Grenzen trennen«, sagte der Hauptmann, »haben wir doch niemals unser Zusammengehörigkeitsgefühl verloren – das wird jetzt wieder einmal deutlich. Und ich finde es befriedigend, daß wir auch sie verteidigen – ihren Glauben an das Recht, ihr Verlangen nach Freiheit!« »Sei bitte leise«, sagte seine Frau. »Sonst weckst du das Kind auf.« Der Gefreite Schulze-Schwerin saß mit einigen Kameraden in der Kantine II seiner Kaserne. Auch sie hatten Nachrichten gehört. Und da »volle Bereitschaft«, also praktisch Alarmstufe 1 angeordnet war, hatten sie Zeit, lange Gespräche zu führen. Wie immer in solchen Fällen sprachen die meisten über Frauen – hier »Weiber« genannt. Schulze-Schwerin versuchte jedoch, die Kameraden, die sich in seiner Nähe befanden, zu Gesprächen zu verlocken, die ihm wichtiger erschienen. Er sprach von Opernmusik, fand jedoch wenig Aufgeschlossenheit für dieses Thema. »Jedermann«, sagte er schließlich 249
enttäuscht, »muß doch irgend etwas haben, das zu verteidigen sich lohnt.« »Aber doch nicht Opern, Mensch!« sagte einer empört. »Gewiß«, gab Schulze-Schwerin bereitwillig zu, »die sozialistischen Errungenschaften sind uns wichtiger! Aber die kulturellen Werte dürfen nicht unterschätzt werden. Bei uns gehen die Soldaten in ihrer Freizeit in die Oper – anderswo sehen sie sich Gangsterfilme an.« »Sie hetzen unsere Leute auf«, sagte einer aus der Runde. »Sie gönnen uns keine Ruhe. Daß ich heute nicht bei meiner Braut sein kann, ist ihre Schuld. Wenn das so weitergeht, werden wir womöglich noch in ernsthafte Sachen verwickelt.« »Gar nicht ausgeschlossen«, stimmte ein anderer zu. »Idioten, die sich verführen lassen, gibt es genug.« »Das sind keine Idioten«, erklärte Schulze-Schwerin mit Nachdruck, »das sind Verräter!« Henry Engel stand auf der hellerleuchteten Terrasse seines Hauses und sah dem Wagen entgegen, der Constance Schubert zu ihm brachte. Der Wagen bewältigte die letzten hundert Meter, die stark anstiegen, leicht. Friebe fuhr in den Seitenhof, schaltete die Scheinwerfer aus und den Motor ab. Henry Engel ging auf Constance zu. Er lächelte und streckte ihr wortlos seine Hand entgegen. Sie versuchte, sein Gesicht zu erkennen, aber es lag im Schatten. »Ich hoffe«, sagte sie dann, »ich bin dir willkommen.« »Jederzeit«, sagte er. »Ich werde deine Gastfreundschaft nicht lange in Anspruch nehmen«, sagte Constance eilig und schien verlegen. »Wie du willst«, sagte er. 250
Constance und Henry gingen über die Terrasse in das Haus hinein. Es war, als scheuten sie, durch Worte zu verraten, was sie dachten. »Ich soll Grüße bestellen«, sagte Constance, »Grüße von Michael und Wolf.« »Danke«, sagte er. Er griff nach einer Maschinenpistole, die auf einem Stuhl lag, und stellte sie in eine Ecke. »Beide wollen dich, wenn sie können, in den nächsten Tagen aufsuchen«, sagte Constance und vermied es, ihn anzusehen. »Wir haben viel von dir gesprochen. Freust du dich, sie zu sehen?« »Ja«, sagte er. Und plötzlich, als habe er nach langem Zögern einen gewagten Entschluß gefaßt, sagte er: »Ich freue mich sogar, dich wiederzusehen. Selbst unter diesen Umständen.« Hunde jaulten durch die Nacht. Viele Menschen schliefen. Mattes Licht schimmerte in den Kirchen, in den Krankenhäusern und in manchen Schlafzimmern. Lampen brannten auf den Tischen von Politikern, Militärs und Redakteuren; sie erhellten die Korridore von Kasernen, Operationszimmer, Wachlokale und Portierslogen. Schiffe und Flugzeuge hatten Positionslichter gesetzt; Leuchttürme und Signalmasten flammten durch die Nacht. Die Lichterketten in den Großstadtstraßen beleuchteten die sterbende Geschäftigkeit. Menschen starben, Menschen wurden geboren. Die Waffen der Vernichtung brauchen keinen Schlaf. Panzer, Kanonen und Bomben stehen jederzeit 251
aufgereiht bereit wie Bleistifte auf dem Schreibtisch eines Buchhalters, wie Bücher im Regal eines Gelehrten, wie Blumen in den Beeten des Gärtners. Sie warten. Solange die Menschheit existiert, das weiß jedes Kind, hat es Kriege gegeben. Aber wie lange existiert diese Menschheit noch? Um Mitternacht schienen die Sterne in überwältigender Klarheit zu funkeln. Sie spiegelten sich in den Wassern Mitteleuropas und leuchteten in die Dunkelheit der Wälder. Tiere hoben die Köpfe zum Himmel. Und damit endete der zweite Tag.
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DER DRITTE TAG Flugzeugmotoren dröhnten auch in dieser Nacht über Mitteleuropa. Die Verkehrsmaschinen zogen ihre Lärmfahnen von Berlin nach London, von Paris nach Rom, von Warschau nach Prag. Dazwischen surrten die kleinen Kurierund Spezialflugzeuge durch international vereinbarte Korridore, in vorgeschriebenen Höhen, durch Sprechfunk mit der Erde verbunden. Jedoch: das gewaltigste Gedröhn, das fauchende Pfeifen von Düsenverkehrsmaschinen, das heulende Gesurr hochtouriger Spezialflugzeuge war in dieser Nacht nicht auf einem der Weltflughäfen zu vernehmen, sondern abseits in England – unweit von Brighton, in der Grafschaft Sussex. Hier griffen die Lichtfinger der Kesselscheinwerfer in den blauschwarzen Himmel. Die Lampenketten zu beiden Seiten der Fahrbahnen glühten weithin sichtbar. Die Radarschirme kreisten in die Dunkelheit. Der Militärflugplatz war von einer dreifachen Sperrkette umgeben. Militärpolizei stand neben Geheimpolizei. Seit einer Stunde landete eine schwere Maschine nach der anderen und rollte auf das Flughafengebäude zu. Herren in Zivil und Uniform entstiegen ihnen und wurden kurz begrüßt. Sie begaben sich dann in einen provisorisch eingerichteten Verhandlungsraum. Es war 1.00 Uhr. Die Geheimsitzung des Atlantikrates konnte beginnen. Die anwesenden Staatsmänner und Militärs begrüßten sich nahezu formlos; sie kannten einander fast alle. Sie sprachen zumeist gedämpft. Die Erfrischungen, die auf einem langen Tisch im Hintergrund standen, wurden kaum berührt. 254
Der britische Premierminister drängte darauf, die Sitzung pünktlich zu beginnen. Die Anwesenden orientierten sich kurz über die Sitzordnung und nahmen dann die Plätze am großen, rechteckigen Konferenztisch ein. Sie legten ihre Unterlagen zurecht und verstummten dann ohne besondere Aufforderung. Das Protokoll dieser Sitzung verzeichnete neben allgemeinen Erklärungen, Hinweisen, Rückfragen folgende wesentliche Einzelheiten: Der britische Premierminister: Meine Herren, es ist jetzt 1.10 Uhr MEZ. Ich eröffne unsere außerordentliche Sitzung. Ich begrüße Sie und schlage vor, daß wir unverzüglich in die Tagesordnung eintreten. In Übereinstimmung mit dem Herrn Generalsekretär haben wir den Oberbefehlshaber der NATO in Europa zur Berichterstattung hierhergebeten. Es folgte eine kurze Aufforderung an die Teilnehmer der Sitzung, eventuelle Wünsche über die Reihenfolge der einzelnen Punkte zu äußern. Er, der britische Premier jedenfalls, schlage vor, zunächst dem Oberbefehlshaber der NATO das Wort zu erteilen. Da kein Widerspruch erfolgte, wurde der General gebeten, mit seinem Bericht zu beginnen. Der Oberbefehlshaber der NATO: Meine Herren. Die Lage in Europa ist in den letzten fünf Stunden kritisch geworden. Nachdem es zunächst den Anschein hatte, als würden die Ereignisse sich in Polen lokalisieren, ist nun doch der Funke nach Deutschland übergesprungen. Der vortragende General befaßte sich nunmehr ausführlich mit der augenblicklichen Situation in Polen. Er war überzeugt, daß die Bedingungen des Waffenstillstandsabkommens von beiden Seiten genau 255
eingehalten werden. Fazit dieses Teils seiner Ausführungen: von Polen droht zur Zeit keine Gefahr. Er fuhr fort: Was sich aber von heute früh an in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands abspielen wird, ist noch völlig ungewiß. Nachdem bei der gestrigen Kundgebung in Ost-Berlin Blut geflossen ist, haben die Sowjets im Ostsektor der Stadt die vollziehende Gewalt übernommen und sind mit Panzereinheiten eingerückt. Angesichts dieser Übermacht ist es ziemlich unwahrscheinlich, daß es in Ost-Berlin zu neuen Demonstrationen kommt. Dem Aufklärungsdienst liegen jedoch Informationen darüber vor, daß Widerstandsgruppen sowohl in Sachsen als auch in Brandenburg beabsichtigen, in den heutigen Morgenstunden wegen der Todesopfer von Berlin zu demonstrieren. Wir müssen damit rechnen, daß es zumindest in Sachsen und Brandenburg zu Unruhen kommt. Die Gefahr für Verwicklungen an der Zonengrenze ist damit gegeben. Der General versuchte sodann, die Situation in WestBerlin zu analysieren. Er vertrat mit Nachdruck die Ansicht, daß die freiheitlich gesinnte Bevölkerung von Berlin eine taktvolle Behandlung verdiene, aber auch mit Vorsicht anzufassen sei. Kundgebungen in West-Berlin konnten nicht gut einfach verboten werden. Hierzu teilte der General mit, daß Anweisung an die alliierten Kommandanten ergangen sei: es ist auf jeden Fall zu verhindern, daß sich diese Kundgebungen in der Nähe der Sektorengrenze abspielen. Und abschließend: Die NATO-Stäbe sind bis hinunter zu den Divisionen in Bereitschaft gesetzt. Bei den Truppen selbst ist vorläufig noch nichts bekannt. Sollten jedoch heute früh Unruhen in der Ostzone bekanntwerden, so sehe ich mich 256
gezwungen, allgemeine Alarmbereitschaft zu befehlen. Nach diesen Ausführungen des Oberbefehlshabers schlug der britische Premierminister vor, eine kurze Pause einzulegen, um den Anwesenden Gelegenheit zu geben, sich innerhalb ihrer Delegation noch einmal zu beraten und eventuell bereits vorbereitete Stellungnahmen erneut zu überprüfen. Außerdem, so erklärte er als Gastgeber, ständen Erfrischungen bereit. Die Erfrischungen wurden nicht angerührt. Der amerikanische Außenminister beugte sich weit vor und sprach auf den britischen Premier ein. Der Oberbefehlshaber der NATO gab einem französischen General Auskunft auf einen kritischen Einwand hin, der sich schließlich als Übersetzungsfehler entpuppte. Der deutsche Außenminister schien dem deutschen Verteidigungsminister anhand eines Stadtplanes von Berlin irgend etwas erklären zu wollen. Der Verteidigungsminister hörte unbewegt zu. Schließlich nickte er zustimmend. Die Geheimsitzung des Atlantikrates wurde fortgesetzt. Der amerikanische Außenminister: Meine Herren. Die Regierung der Vereinigten Staaten ist fest entschlossen, den Ausbruch eines dritten Weltkrieges zu verhindern. Wir werden keine Übergriffe von Seiten der Sowjets dulden. Wir werden unsererseits aber auch alles vermeiden, was die sowjetische Regierung provozieren könnte. Die anwesenden Staatsmänner und Militärs erklärten dann ohne Ausnahme, mit diesen Ausführungen des amerikanischen Außenministeriums voll übereinzustimmen. Die Auffassung der Regierung der Vereinigten Staaten sei auch die der von ihnen vertretenen Regierungen. 257
Der amerikanische Außenminister erklärte, daß ihn diese Zustimmung befriedige; er habe sie auch erwartet. Er kündigte an – in Übereinstimmung mit den Regierungen des Vereinigten Königreichs und der Französischen Republik: wir werden heute früh in Moskau eine Note überreichen, in der gegen die Anwesenheit von Einheiten der Volksarmee in Ost-Berlin protestiert wird. Weiter wörtlich: Der Präsident der Vereinigten Staaten hat mich beauftragt, die hier anwesenden Vertreter der Bundesrepublik Deutschland noch einmal nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß es wesentlich von der Haltung der Bundesrepublik abhängen wird, ob es uns gelingt, den Weltfrieden zu bewahren. Die freie Welt hat volles Mitgefühl mit dem Schicksal des deutschen Volkes. Es mag verständlich sein, daß die Bundesrepublik dem unterdrückten Volk der sowjetrussischen Besatzungszone zu Hilfe eilen möchte. Aber die Regierung der Bundesrepublik muß sich darüber klar sein, daß ein solcher Schritt den Atomkrieg auslösen könnte. Nach diesen Ausführungen des amerikanischen Außenministers herrschte zunächst Schweigen. Der britische Premier blickte fragend zur deutschen Delegation hinüber. Der deutsche Außenminister sah den deutschen Verteidigungsminister an, der blickte starr geradeaus, fast so, als ginge ihn das soeben Gehörte nichts an. Der französische General, der neben ihm saß, zündete sich mit kaum spürbarem Lächeln eine Zigarette an. Überraschenderweise meldete sich der italienische Außenminister zu Wort: 258
Der italienische Außenminister: Wäre es denn nicht möglich, meine Herren, die Einheiten der deutschen Bundeswehr weiter von der Grenze zurückzunehmen, um die Gefahrenmomente auf ein Minimum herabzusetzen? Der deutsche Verteidigungsminister hob lässig die rechte Hand. Er hatte ein schmales, kluges Gesicht, seine Augen wirkten kühl, sein Blick war um Distanz bemüht. Er pflegte nie zu lächeln, zumindest dann nicht, wenn er fotografiert wurde. Er mied die Öffentlichkeit, wie es die Tradition deutschen Soldatentums gebot. Seine Formulierungen wirkten knapp, jedoch präzise; die Stimme, mit der er sie vortrug, vermied jeglichen Effekt. Der deutsche Verteidigungsminister: In unmittelbarer Nähe der Zonengrenze sind keine Einheiten der Bundeswehr stationiert. Alle Standorte unserer Armee sind nach den Planungen der NATO festgelegt. In Grenznähe befindet sich der sogenannte Bundesgrenzschutz, eine kasernierte Polizeiformation, die dem Innenministerium untersteht. Diese Truppe ist fest in der Hand der Regierung. Es besteht kein Anlaß zu der Annahme, daß sie sich zu Unbesonnenheiten verleiten lassen könnte. Der amerikanische Außenminister: Namens der Regierung der Vereinigten Staaten stelle ich den Antrag, daß der NATO-Befehlshaber die Weisung erhalten soll, vor Einleitung weiterer militärischer Maßnahmen den NATO-Rat zu konsultieren. Der Oberbefehlshaber der NATO: Meine Herren. Meine Befugnisse waren bisher eindeutig festgelegt. Ich gebe zu bedenken: Rückfragen beim NATO-Rat können schon dann, wenn es sich nur um die Ausgabe von Alarmstufen handelt, eine Erschwerung für das Funktionieren meines Befehlsapparates bedeuten. 259
Nach kurzer Diskussion wurde der Antrag des amerikanischen Außenministers angenommen. Der britische Premierminister: Meine Herren. Es ist 2.15 Uhr MEZ. Ehe wir auseinandergehen, möchte ich nochmals den Wunsch unserer Regierungen bekräftigen, daß ein Weltkonflikt auf jeden Fall vermieden werden muß. Ich danke Ihnen, meine Herren. Die Geheimsitzung des Atlantikrates war damit beendet. Constance Schubert saß unter dem Bild von Marc Chagall. Sie hatte die Zeit vergessen; sie spürte kaum Verlangen danach, schlafen zu gehen. Sie betrachtete Henry Engel und hörte seinen ihr wunderlich, aber auch außerordentlich unterhaltsam erscheinenden Reden zu. »In kaum fünfzig Jahren haben zehn oder zwanzig Männer und drei Frauen es geschafft, die Atomkraft zu entfesseln. Jetzt sind Tausende am Werk, diese Entdeckung zu mißbrauchen – und ich bin einer von denjenigen, der sie dabei unterstützt! Nicht weil ich sie unterstützen will, sondern weil ich denken und arbeiten muß und weil das, was ich entdecke, für sie von Nutzen ist. Aber bin ich ein Mörder, nur weil ich Messer produziere – von denen ich wünsche, daß sie zum Brotschneiden benutzt werden und nicht zum Durchstoßen von Gurgeln!« »Du hast dich nicht verändert«, sagte Constance und lächelte ihm zu. »Du auch nicht!« rief Henry. »Du lebst in Berlin und weißt nicht, daß ein paar hundert Meter von dir entfernt mehr als dreißig Menschen erschossen werden.« »Henry«, sagte Constance, »ich verstehe doch nichts von Politik.« »Ihr werdet der Politik so lange ausweichen«, rief 260
Henry Engel heftig, »bis euch alle der Teufel holt. Und dann werdet ihr fragen: warum? Aber ihr werdet keine Antwort bekommen, weil es zu spät ist.« Henry Engel erhob sich unruhig. Er nahm sein Whiskyglas mit und wanderte, schwere Schatten werfend, im Raum hin und her. »Jetzt habe ich ja Michael«, sagte Constance und blickte Henry Engel mit ihrem verwirrend scheuen Lächeln an. »Und Michael weiß, was Politik ist.« »Einen Dreck weiß dieser Bursche!« rief Henry Engel heftig. »Und ich nenne ihn so, weil ich ein Recht dazu habe – denn er ist mein Freund, und ich liebe ihn.« »Ich liebe ihn auch«, sagte Constance herausfordernd. »Ich aber«, sagte Henry Engel, »liebe ihn so sehr, daß es mich schmerzt, ihn unter den Händlern der Politik zu wissen. Er behauptet, das Menschenmögliche zu tun – aber was ist das schon? Er schließt Kompromisse, gleicht aus, predigt Verständnis und Nachsicht.« »Ist das nicht eine wirkliche Tat?« fragte Constance, die beglückt und amüsiert zugleich zu dem wuchtigen Mann aufschaute. »Wo Politik zum Geschäft wird, ist es das schmutzigste Geschäft. Geschäfte mit Ehre, Vaterlandsliebe, Freiheit und Frieden!« »Was willst du eigentlich?« fragte Constance kopfschüttelnd. »Offenheit!« rief Henry Engel nach reichlichem Whiskygenuß ein wenig mühsam. »Offenheit zum Beispiel darüber, daß ein Satz wie Deutschland, Deutschland über alles verlogen ist! Die französischen Rotweine sind aromatischer, der holländische Käse ist fetthaltiger, die amerikanische Technisierung ist 261
vollkommener, die italienischen Früchte sind edler, die schwedischen Frauen sind dekorativer, die englischen Männer sind politisch klüger, der dänische Schnaps ist klarer. Weitere Beispiele stehen zur Verfügung! Man müßte den Völkern ihren Glauben an ihre Einmaligkeit und Auserwähltheit nehmen. Aber was tut man? Das Gegenteil!« »Bist du eifersüchtig auf Michael?« fragte Constance. »Ach was!« rief Henry Engel grob. »Ich bin müde! Ich kann kaum noch klar denken. Es ist kurz vor drei Uhr früh. Höchste Zeit, daß wir schlafen gehen.« Er schloß, nachdem Constance gegangen war, die Tür, die auf die Terrasse hinaufführte. Mechanisch nahm er die Maschinenpistole, die er vorhin in eine Ecke gestellt hatte. Er hängte sie sich flüchtig um und löschte das Licht. Das Telefon, das neben dem Bett von Ruth Winters stand, klingelte. Es klingelte wieder und wieder. Ruth wälzte sich herum, ergriff, noch halb im Schlaf, den Hörer und sagte: »Bist du das, Wolf?« »Ist er denn nicht bei dir?« fragte eine selbstbewußte, angenehm klingende Männerstimme. Ruth richtete sich auf. »Was willst du?« fragte sie. »Fragen, wie es dir geht«, sagte Bernhardt und lachte. »Gestern abend hatte ich leider keine Zeit, mit dir segeln zu gehen. Außerdem, taktvoll, wie ich nun einmal bin, wollte ich dich nicht stören und dich ganz deinem Verlobten überlassen – oder wie nennst du deinen Herrn Beck?« »Was willst du?« »Dich an dein Versprechen erinnern!« sagte der Mann. »Hast du mit ihm gesprochen? Brennt er darauf, meine 262
Bekanntschaft zu machen? Wie ich dich kenne, hast du das erreicht – denn du erreichst ja alles, was du willst. Zumindest alles, was irgendwie mit Männern zu tun hat. Oder solltest du dich innerhalb von vierundzwanzig Stunden grundlegend verändert haben?« Ruth Winters biß die Lippen zusammen. Jetzt erst schaltete sie die Lampe, die auf ihrem Nachttisch stand, ein. Sie zwang sich zur Konzentration. Sie hatte mit Wolf Beck gespeist, und alles war klar und gut gewesen. Die Geschäfte von Wolf schienen sich reibungslos abzuwickeln. Wenn sich das nicht überraschend änderte, konnte sie schon morgen Hamburg verlassen für lange Zeit; vielleicht für immer. Es galt also, Zeit zu gewinnen; eine verhältnismäßig kurze Spanne Zeit. Sie zwang sich dazu, verbindlich zu wirken. Sie sagte: »Natürlich habe ich Wolf vorbereitet – allerdings konnte ich ihm nicht deutlich genug klarmachen, was ich von ihm für dich erhoffte. Du mußt ein wenig Geduld haben; vielleicht nur noch ein oder zwei Tage.« »Du willst mich hinhalten«, sagte der Mann unnachsichtig. »Das kannst du aber mit mir nicht machen. Ich brauche Klarheit, und das bald. Ich bin großzügig – sagen wir: bis Mittag, zwölf Uhr. Keine Stunde länger. Wenn ich bis dahin nicht einen einwandfrei positiven Bescheid bekomme, werde ich, so leid mir das auch tut, deinen Herrn Beck aufklären müssen. Über uns beide! Über deine speziellen Qualitäten! Ist das klar?« »Ja«, sagte Ruth mühsam und hängte ab. Sie ließ sich in die Kissen fallen. Sie schaltete das Licht aus und starrte auf die Zimmerdecke, die sich ihr erdrückend zu nähern schien. »Was soll ich tun?« sagte 263
sie. Eine Lichtreklame drängte sich in ihr Zimmer und warf ihren flackernden Schein mattrot auf die Wände. Sie wagte kaum noch zu atmen. Früh begann dieser Tag für Maria: bereits um fünf Uhr pochte die Wirtin des Gasthofes, in dem sie übernachtet hatte, an die Tür. Maria war sofort hell wach. »Ja«, rief sie, »danke! Ich komme gleich.« Sie sprang aus dem Bett und eilte zum offenen Fenster, schob die Vorhänge auseinander und schaute hinaus. Der Tag versprach Sonne und einen ungetrübten blauen Himmel – damit: Hitze. Maria war »ein fröhliches Gemüt«. Nichts vermochte ihre stille Fröhlichkeit trüben – vom Wetter war sie am allerwenigsten abhängig. Brütete die Sonne, sprach sie von wohliger Wärme; regnete es, pries sie die Leuchtkraft der Natur, war der Tag kalt und sonnenlos, nannte sie ihn angenehm erfrischend. Maria schaute in den Spiegel: sie wirkte ein wenig robust. Sie war ein mütterlicher Mensch, für einen rechtschaffenen Mann, ein kleines Haus und eine Horde Kinder geboren. Für Martin geboren – so sagte sie sich. Diese Gedanken bereiteten ihr Freude. Sie tauchte das Gesicht in kühles Wasser. Es war ein braunes, gutes, lachendes Mädchengesicht, wie es nicht mehr allzu viele gibt. Maria betrachtete, noch während sie sich abtrocknete, die Streckenkarte, die sie sich gekauft hatte: sie würde heute, mindestens, von Donauwörth nach Norden bis über Nürnberg hinausfahren. Sie würde also am Abend Martin wieder um mehr als hundert Kilometer näher sein. Ungefähr in der Mitte der Strecke, die Maria zurückzulegen gedachte, lag eine kleine Stadt, die den Namen Roth trug. Maria glitt mit dem Finger über diesen 264
Namen hinweg, ohne ihn sonderlich zu beachten. Und Martin, der fast um die gleiche Zeit seine Streckenkarte studierte, sagte sich, daß er heute über Nürnberg hinaus, nach Süden, auf Donauwörth zufahren würde. Er hoffte, morgen bei Maria zu sein. Auch sein Finger glitt über den Namen Roth; auch er nahm ihn zur Kenntnis, ohne ihn sonderlich zu beachten. Dieses Roth lag ziemlich genau in der Mitte ihrer Wege. 6.00 Uhr. Der amerikanische Stadtkommandant meldete nach Washington: Im Ostsektor ist die Lage unverändert. Patrouillen der Sowjetarmee und der Volksarmee kontrollieren alle Straßen. Der Verkehr ruht. Neue Zusammenstöße sind in Ost-Berlin kaum zu erwarten. In West-Berlin wird um zehn Uhr eine Kundgebung auf dem Rudolf-Wilde-Platz vor dem Schöneberger Rathaus stattfinden. In Übereinstimmung mit dem Senat wird die Westberliner Polizei dafür Sorge tragen, daß die Kundgebung auf diesen Raum beschränkt bleibt. Für die alliierte Garnison besteht seit heute früh vier Uhr Alarmzustand. Um diese Zeit hatte die Infanterieeinheit, zu der auch der Gefreite Schulze-Schwerin gehörte, ihre Kaserne und ihren Standort bereits verlassen. »Mit unbekanntem Ziel«, wie verkündet wurde. »Man kann es nicht wagen, uns herauszufordern«, sagte Schulze-Schwerin zu seinen Kameraden, neben denen er auf dem Transportwagen saß: feldmarschmäßig; das große Marschgepäck auf dem Anhänger, das kleine Sturmgepäck unter dem Sitz. Die meisten dösten vor sich hin, denn sie waren noch 265
müde. Auch hielten sie den Mund geschlossen, um nicht unnötig Staub schlucken zu müssen. Die Transportwagenkolonne, die über die von der Sonne ausgetrockneten Schotterstraßen rollte, zog den Staub in langen Fahnen hinter sich her. Er legte sich auf die Zeltplane der Fahrzeuge, auf die Uniformen der Soldaten, auf ihre Gesichter, die langsam ein verwegenes Aussehen bekamen. Und der Schweiß, der über diese Gesichter rann, spülte durch die Staubschichten hindurch, vermischte sich mit ihnen und ließ die Haut dunkelfleckig erscheinen. Schulze-Schwerin genoß auf seine Weise die Fahrt, die durch Täler und Wälder führte: sie regten seine Phantasie an, und er dachte an die Oper »Freischütz«, aus der er den Jägerchor vor sich hin summte. »Halt die Schnauze«, sagte der Mann neben ihm, »du schluckst sonst zuviel Staub.« Der Offizier, der die Kolonne führte, in der sich der Gefreite Schulze-Schwerin befand, kannte als einziger das vorläufige Marschziel. Es hieß: Gassenreuth. Auch der Hauptmann Müller-Marburg, der zum bundesdeutschen Grenzschutz gehörte, erhielt an diesem Morgen einen Marschbefehl. Sein Ziel hieß: Hof. Gassenreuth und Hof lagen einander gegenüber. Nur wenige Kilometer groß war der Raum zwischen ihnen – und in der Mitte verlief eine sogenannte Grenze. Um sieben Uhr ging beim Präsidenten des Nachrichtendienstes der Bundesrepublik folgende Meldung ein: Bei den Zeiss-Werken in Jena hat sich über Nacht ein Streikkomitee gebildet, das aus Protest gegen die Erschießungen in Ost-Berlin zum Generalstreik aufgefordert hat. Das Komitee bat Verbindung mit 266
illegalen Gruppen in Gera, Halle, Zwickau, Chemnitz und Leipzig. Streikaufrufe sind auch in diesen Städten zu erwarten. Dresdener Arbeiter werden um acht Uhr einen Schweigemarsch durch die Stadt antreten. Weitere Streikaufrufe in Stendal, Rathenow, Genthin, Brandenburg und Sonneberg sind wahrscheinlich. Der Präsident zeichnete mit unbewegtem Gesicht diese Meldung ab. Er sagte: »Bundesregierung benachrichtigen, Amerikaner benachrichtigen.« Charly stürmte in das Hotelzimmer von Michael Reiners. Er riß die Vorhänge auseinander und zog Reiners die Bettdecke weg. »Doktor!« rief er und knallte ein Paket Zeitungen auf den Tisch, »Sie wollen doch nicht ewig schlafen!« »Wann werde ich endlich einmal vor Ihnen Ruhe haben, Charly?« fragte Reiners, sich langsam erhebend. »Doktor«, sagte Charly und ließ sich in den bequemsten Sessel nieder, »wie können Sie an Ruhe denken – kaum einer denkt im Augenblick daran.« »Was wollen Sie denn jetzt schon wieder von mir?« fragte Reiners mit mühsam unterdrücktem Gähnen. »Ich bringe Ihnen etwas«, sagte Charly, »natürlich nicht ohne eine entsprechende Gegenleistung.« »Sie scheinen in prächtiger Stimmung zu sein, Charly«, sagte Michael Reiners aufmerksam. »Es sieht also schlimm aus.« »Wie man es nimmt«, gab Charly zu. »Was Katastrophen anbetrifft, so befinden wir uns ja schließlich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Und ich finde es haarsträubend, daß die wenigen Leute, die vielleicht noch einiges verhüten können, schlafend in Hotelbetten liegen.« 267
»Was erwarten Sie denn schon wieder von mir?« fragte Reiners. »Zunächst einmal, daß Sie sich anziehen«, sagte Charly. »Und während Sie das tun, werde ich Ihnen aus Artikeln der Weltpresse vorlesen. Ich habe Ihnen großzügig die neusten Zeitungen mitgebracht, auch amerikanische, kaum mehr als zwölf Stunden alt – bereits überholt, wenn auch immer noch ganz interessant.« »Haben Sie sich einen eigenen Kurierdienst eingerichtet?« fragte Reiners vom Badezimmer her. »Die amerikanische Regierung arbeitet für mich«, erklärte Charly. »Vor einer knappen Stunde ist ein Kurierflugzeug aus Washington eingetroffen, mit Whisky und Weisungen, sauberer Wäsche für den Adjutanten, einem Paket Zeitungen für mich und einem Sonderbevollmächtigten für den General.« »Vom State Department oder vom Pentagon?« »Das erzähle ich Ihnen vielleicht später. Jetzt erfreue ich Sie und mich mit den neuesten Pressestimmen.« Charly blätterte in den mitgebrachten Zeitungen, überflog deren erste und letzte Seite, die mit den großen und die mit den letzten Meldungen und Kommentaren. Das geschah mit der Sicherheit eines Mannes, der möglichst viel bei geringstem Zeitaufwand wissen muß. Besonders markante Stellen las er vor und erläuterte sie auf seine Art. Die Times schrieb: Die Welt kann aufatmen, die Vernunft hat gesiegt. Das Waffenstillstandsabkommen zwischen der Sowjetunion und der polnischen Volksrepublik beweist, daß Mächte eine Ausweitung des Konflikts verhindern wollen. Der Frieden ist bewahrt geblieben. 268
Die New York Times schrieb: Die Hauptgefahr ist gebannt. Noch aber wissen wir nicht, ob es auch im übrigen Europa ruhig bleiben wird. Die Wiederholung eines 17. Juni 1953 in der sowjetischen Besatzungszone könnte den Frieden abermals gefährden. Wir können jedoch gewiß sein, daß die Regierung der Bundesrepublik Deutschland alles daransetzen wird, die Ruhe und Ordnung im Herzen Europas zu bewahren. Der Figaro schrieb: Die Gefahr für den Weltfrieden heißt nicht mehr Polen, sondern Deutschland. Kann man den Versicherungen der westdeutschen Regierung glauben, daß sie sich im Falle von Unruhen in der DDR nicht einmischen wird? Die Verantwortung für die nächsten Tage liegt bei den deutschen Generälen. »Genug damit, Charly«, sagte Reiners. Er hatte sich angezogen und stand nun vor seinem Besucher. »Doktor, Sie sollten endlich wieder in die Praxis steigen«, sagte Charly. »Und deshalb bin ich hier. Sie sind einer der wenigen, auf den in Ost und West gehört wird – und vielleicht sogar der einzige, der im Augenblick zur Stelle ist.« »Bitte, überschätzen Sie mich nicht«, sagte Reiners warnend. »Bitte, unterschätzen Sie mich nicht«, parodierte Charly ihn. »Und unterschätzen Sie vor allen Dingen nicht mein Verlangen, mit Ihnen Geschäfte zu machen. Ich kenne Ihre Hingabe zum sogenannten ganzen Deutschland, Doktor. Ich ehre und achte das, im Ernst – aber warum sollte ich es nicht auch ausnützen?« »Gewiß«, gab Reiners zu, »ich habe neuerliche Unterredungen vorbereitet. Ich werde um zehn Uhr mit 269
Leuten aus Ost-Berlin konferieren.« »Na bravo!« rief Charly. »Nur so weiter! Dem General habe ich tüchtig eingeheizt. Gegen Mittag fliegt die Kuriermaschine, die aus Washington gekommen ist, nach Bonn und kommt am Abend wieder hierher zurück. Wenn Sie wollen, wird es der General möglich machen, daß Sie mitfliegen, Doktor.« »Ohne Sie, Charly?« fragte Reiners. »Wo denken Sie hin, Doktor!« rief Charly. »Ich kann Sie doch nicht allein lassen!« Mutter Schwiefert werkte unentwegt in der Berliner Wohnung von Constance Schubert. Ihre Tochter Isolde hatte einen Zug ausgesucht, der erst am späten Nachmittag nach Westdeutschland abfuhr. Und Isolde hatte behauptet, daß dieser Zug der fahrplanmäßig günstigste sei, außerdem bequemer als alle anderen. Isolde, dachte Mutter Schwiefert, mußte das ja wissen, denn schließlich besuchte sie die Handelsschule und war auch sonst ein überaus praktisch denkendes Kind. Daß Isolde allein Peters wegen, dem es nicht gleich gelungen war, alle Papiere zusammenzubringen, die Abreise verschoben hatte, kam Mutter Schwiefert erst gar nicht in den Sinn. Mutter Schwiefert nutzte die gewonnene Zeit und werkte: sie rollte die Teppiche zusammen, verstreute reichlich Mottenpulver, überzog Sessel mit sackartig zusammengenähten Laken, zog Lampen und sonstige elektrische Geräte aus den Steckkontakten, drehte die Sicherungen heraus und die Haupthähne zu. Als sie gerade den Eisschrank entleerte, standen die beiden »Kleinen«, wie sie allgemein genannt wurden, Hand in Hand in der Küchentür. »Wir möchten gern Spazierengehen«, sagte Isolde. 270
»Ist der Keller sauber?« wollte Mutter Schwiefert wissen. »Prima!« versicherte Isolde. »Und auf dem Boden ist auch aufgeräumt. Können wir jetzt gehen?« »Ihr werdet zunächst frühstücken«, befahl Mutter Schwiefert und betrachtete die beiden aufmerksam. Sie schienen ihr allzu unbekümmert für einen Trennungsschmerz. »Immerhin ist es nett von dir, Otto, daß du uns heute zum Abschied noch Gesellschaft leistest. Ist heute eigentlich ein Feiertag, Otto?« fragte Mutter Schwiefert und nahm ihre Arbeit wieder auf. »Warum soll heute ein Feiertag sein?« fragte der Junge, der taktvoll überhörte, daß er Otto genannt wurde und nicht Peter. »Weil du nicht bei deiner Arbeit bist«, sagte Frau Schwiefert. »Ach so!« sagte Peter gedehnt und sah fragend zu Isolde hinüber. »Er hat sich frei genommen«, erklärte Isolde. »Außerdem wird heute vormittag in den meisten Betrieben sowieso nicht gearbeitet, sondern demonstriert.« An die Wohnungstür wurde geklopft. Die beiden Männer, die schon gestern da gewesen waren, standen im Treppenflur. »Sie haben wohl gar nichts anderes zu tun, als nur Ihre Pfoten an meiner Tür abzuwischen?« fragte Frau Schwiefert. »Wir müssen einige Fragen an Sie stellen!« Die Männer drängten sich weiter vor, bis in den Korridor hinein. »Das genügt«, erklärte Frau Schwiefert. »Vielleicht 271
haben Sie ein Recht darauf, fremde Wohnungen zu betreten, aber nirgendwo steht etwas davon geschrieben, daß Sie im Salon empfangen werden müssen.« »Sind Sie allein?« »Wenn Sie sich als Luft betrachten – dann ja.« »Wo ist Frau Schubert?« »Verreist.« »Wohin?« »Das weiß ich nicht genau. Sie fragt mich nämlich niemals vorher um Erlaubnis, ob sie darf und wohin sie darf. Ist das nicht allerhand.« Die beiden Besucher sahen sich an und blickten dann auf Frau Schwiefert. »Wollen Sie etwa auch verreisen?« »Haben Sie irgend etwas dagegen?« »Haben Sie den Mann, der hier gestern nachmittag Herrn Reiners aufgesucht hat, schon öfters gesehen? Kennen Sie ihn?« »Ich weiß von nichts«, erklärte Frau Schwiefert. »Er kam rein und ging wieder raus – ich war im ganzen etwa fünf Sekunden lang in seiner Nähe, aber ich kann nicht einmal sagen, wie er ausgesehen hat.« »War es Doktor Reiners, der Ihnen geraten hat, das und nichts anderes auszusagen?« »Herr Doktor Reiners hat es gar nicht nötig, mir Ratschläge zu erteilen. Aber er hat mir für Sie eine Bestellung aufgegeben.« »Für uns?« »Jawohl«, sagte Frau Schwiefert, »Herr Doktor Reiners läßt Ihnen ausrichten, daß Sie nicht mich ausfragen sollen, sondern den amerikanischen Stadtkommandanten. In dieser Sache weiß der mehr als 272
ich.« Wolf Beck saß im Frühstückszimmer seines Hotels in Hamburg. Neben ihm saß Ruth Winters. Im Radioapparat, der auf Wunsch von Wolf eingestellt war, erklang das Pausenzeichen vor den Vormittagsnachrichten. Das Frühstückszimmer war fast leer. In der Mitte des Raumes saß ein älteres Ehepaar, unmittelbar daneben ein junges, hastig essendes Mädchen. Ein hochgewachsener Mann, selbstbewußt und mit leicht entblößtem Gebiß, betrat den Raum: es war Bernhardt; er sah sich kurz suchend um und steuerte dann zielbewußt auf einen Tisch zu, der sich in der Nähe von Wolf und Ruth befand. Ruth, sehr gepflegt, schien Wolf ein wenig nervös, leicht überreizt. Er vermutete, daß sie nicht ganz ausgeschlafen sei. Sein Hang zur Sachlichkeit, der auch sein Privatleben bestimmte, verbot es ihm, in seiner Anwesenheit die Ursache für Ruths Unruhe zu sehen – schließlich waren sie keine Kinder mehr. Vielmehr nahm er an, daß Ruth überarbeitet sei; der Abschluß ihrer Tätigkeit in Hamburg, die Auflösung ihres Haushalts würden recht anstrengend gewesen sein. Wolf beschäftigte sich fast automatisch mit seinem Frühstück, denn der Nachrichtensprecher begann, die ersten Meldungen zu verlesen. Die Regierungen der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs haben heute früh durch ihre Botschafter in Moskau eine Protestnote überreichen lassen. Darin wird die Anwesenheit von Einheiten der Volksarmee der DDR im Ostsektor Berlins als eine klare Verletzung des Viermächtestatus der Stadt bezeichnet. Die deutschen Behörden des unter sowjetischer 273
Kontrolle stehenden Teils Deutschlands haben durch ihre Handlungsweise eine ernste Gefahr für die Sicherheit Europas heraufbeschworen, heißt es in der Note weiter. Deshalb ersuchen die drei Regierungen die Regierung der UdSSR, dafür Sorge zu tragen, daß sich derartige Übergriffe in Zukunft nicht wiederholen. Und während Wolf, auf den Nachrichtensender konzentriert, ein zweites Brötchen aufschnitt, bemerkte er, wie der dekorative Herr am Nebentisch sein Lächeln verstärkte und sich sodann grinsend verneigte. »Kennst du ihn?« fragte Wolf; und diese Frage klang ein wenig gedehnt. »Ja«, sagte sie, »ich kenne ihn – flüchtig. Er heißt Bernhardt.« Wolf betrachtete ganz kurz den auffälligen Mann. Dann sah er Ruth Winters an, die sich unbeteiligt gab, aber mit ihren Fingern Brot zerkrümelte. Hierauf wandte sich Wolf wieder seinem Frühstück zu, wobei er dem Nachrichtensprecher zuhörte. Die Autobahn zwischen West-Berlin und Helmstedt und zwischen West-Berlin und Hof sowie die Bundesstraße Berlin-Hamburg sind seit heute früh fünf Uhr von den Sowjetzonenbehörden für den gesamten Interzonenverkehr gesperrt worden. Berlin ist zur Zeit nur noch auf dem Schienenweg zu erreichen. Die ausländischen Fluggesellschaften, die Berlin-Tempelhof anfliegen, haben bekanntgegeben, daß sie ihren Flugdienst auf dieser Strecke verstärken werden. Nachdem Wolf das gehört hatte, stellte er ganz schnell ein paar Überlegungen an. Zunächst: wichtig für ihn waren einwandfreie Telefonverbindungen und schnelle, sichere Reisemöglichkeiten. Die ganze, seit mehr als zehn Jahren total verfahrene Situation könnte sich unter besonders ungünstigen Voraussetzungen unangenehm 274
komplizieren. Er mußte sicher sein, die notwendigen Verhandlungen schnell abschließen, um dann ausweichen zu können – ausweichen nach Norden, über die skandinavischen Länder, was einem erheblichen Umweg gleichkam, oder nach Süden, wo ihm die politisch bequemere Welt ungehindert offenstand; ihm und natürlich auch Ruth. »Warum«, fragte Ruth, und es war ihr anzusehen, daß sie diese Frage einige Überwindung kostete, daß sie sie aber für notwendig hielt, »warum wolltest du wissen, ob ich den Herrn dort drüben kenne oder nicht?« »Weil sonst die Möglichkeit bestanden hätte«, sagte Wolf, »daß er mich kennt, also annimmt, daß ich ihn auch kenne.« Und er sagte das verhältnismäßig unbeteiligt, da ihn immer noch die sicheren Verbindungsmöglichkeiten beschäftigten. »Mir laufen so viele Leute über den Weg – wenn sie geschäftlich uninteressant sind, vergesse ich sie sofort wieder.« Da der Nachrichtensprecher erneut seine Aufmerksamkeit erforderte, fand Wolf keine Zeit, die große Erleichterung Ruth Winters zu bemerken. Sie nickte dem dekorativen Mann zu; dabei lächelte sie sogar. Die letzten Nachrichten lauteten: In Ost-Berlin herrscht seit Verhängung des Ausnahmezustandes Ruhe. Die Westberliner Parteien und der Gewerkschaftsbund haben die Bevölkerung West-Berlins für 10.00 Uhr zu einer Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus aufgerufen. Nach in Bonn vorliegenden Informationen sind die Belegschaften einiger Betriebe in Sachsen und Brandenburg in einen Proteststreik gegen die Erschießungen in Ost-Berlin getreten. »Polen«, sagte jetzt Wolf Beck nachdenklich, »war für 275
mich uninteressant. Deutschland ist das aber nicht; es ist das niemals gewesen. Seine Industrie hat zwei gewaltige Katastrophen mit erstaunlicher Zähigkeit überlebt; ich bin sicher: sie würden auch noch eine dritte schaffen. Sie fallen hier immer wieder auf die Beine. Es lohnt sich schon, bei ihnen zu investieren – und besonders dann, wenn sie sich in Krisen befinden und die Kurse fallen.« »Heißt das etwa, daß wir Hamburg nicht so schnell verlassen werden«, fragte Ruth mit einem kurzen Seitenblick zum Nebentisch. »Die Verhandlungen, derentwegen ich hier bin«, sagte Wolf und trank seinen Kaffee aus, »können in ein paar Stunden erledigt sein. Was sich in Deutschland sonst noch anbietet, kann auch von irgendwo anders erledigt werden – zum Beispiel: von München aus. Die Hauptsache ist nur, daß wir in Reichweite bleiben.« »Ja«, sagte Ruth spontan und leise; sie wollte vermeiden, daß ihre Worte auch am Nebentisch gehört wurden. »Fahren wir woandershin.« »Gern«, sagte Wolf lächelnd. »Fahren wir also. Schon um nicht mehr dieses Zahnpasta-Reklame-Lächeln sehen zu müssen.« Martins Vater meldete sich, so wie ihm das gestern abend befohlen worden war, in der Kreisleitung der SED, Zimmer 17, Kultur und Erziehung. Er blieb wartend an der Tür stehen. Der Funktionär bedeutete ihm, näher zu treten. »Haben Sie schlecht geschlafen – heute nacht?« fragte der Funktionär. »Mein Gewissen ist rein«, versicherte der Alte. »Aber Ihr Martin ist auf und davon!« »Er kommt wieder, bestimmt. Er ist nur zu seiner Braut 276
gefahren, weil die plötzlich krank geworden ist. Sonst wäre die nämlich hierhergekommen. So ist die Maria. Sie macht sich nichts daraus, bei uns zu leben.« »Immerhin«, erklärte der Funktionär, »hat Ihr Martin vor einiger Zeit eine Ausreiseerlaubnis beantragt – obwohl doch diese Braut angeblich kommen wollte?« »Die beiden«, berichtete der Vater, »hatten die Absicht, bei uns im Thüringer Wald ihren Urlaub gemeinsam zu verleben. Dann wollte Martin wieder das Mädchen, die Maria, nach Hause begleiten, in die Bundesrepublik.« »In die amerikanisch besetzte Zone – das meinen Sie doch wohl damit.« »Jawohl – das meinte ich damit.« »Und dort wollte Ihr Martin dann bleiben!« »Bestimmt nicht«, versicherte der Alte nahezu feierlich. »Martin gehört zu uns. Er ist unser bester Puppenmacher – er gehört zu Sonneberg.« »Viel Sinn für unser sozialistisches Aufbauwerk hat er bisher nicht gezeigt.« »Er denkt eben nur an diese Puppen«, versicherte der Alte. »Er ist kein politischer Mensch – leider.« »Sie sind aber auch nicht in der Partei«, sagte der Funktionär vorwurfsvoll, »dabei sollen Sie doch früher einmal Sozialdemokrat gewesen sein.« »Ach, wissen Sie, ich bin einfach schon zu alt«, sagte Martins Vater ausweichend. »Wir brauchen jetzt jüngere, vitale Kräfte, solche, wie Sie sind. Ich sympathisiere nur noch.« »Na schön«, sagte der Funktionär, der sich geschmeichelt fühlte, »so unrecht haben Sie da nicht, das ist nämlich ein Generationsproblem. Die Hauptsache 277
ist schließlich, daß Sie sympathisieren.« »Das tue ich«, versicherte der Alte mit Nachdruck. »Wir hatten einen wichtigen und dringenden Auftrag für Ihren Sohn, den Martin. Er ist ein geschickter Zeichner und hat Sinn für Farben.« »Das hat er von mir«, versicherte der Vater, der mit großer Erleichterung spürte, daß dieses Gespräch an Schärfe und Gefährlichkeit verloren hatte. »Das glaube ich auch«, sagte der Funktionär, »und deshalb habe ich Sie herbestellt. Wir wollen eine Figur bauen, die alles in den Schatten stellt, was bisher in dieser Richtung gemacht wurde. Und zwar: die Figur einer Puppe – aus Brettern, Pappe, Leinwand und Farben. Flächig, zehn, zwölf, fünfzehn Meter hoch, alles überragend. Läßt sich das machen?« »Warum nicht«, sagte der Alte interessiert. »Das wäre gigantisch«, sagte der Funktionär. »Wir stellen diese Figur am Bahnhof auf, wo früher einmal dieses Kaufhaus stand.« »Auf jedem verwahrlosten Platz«, sagte der Alte, der fest daran glaubte, vorerst einmal jegliche Gefahr überwunden zu haben. »Auf diese Weise wird man den ganzen Mist nicht sehen.« »Das, was Sie Mist nennen, haben amerikanische Bomber produziert – vergessen Sie das nicht.« »Niemals!« beeilte sich der Alte zu versichern. »Und wie viele Wochen Zeit habe ich für diese Riesenpuppe?« »Wochen?« sagte der Funktionär unwillig; »Tage! Zwei Tage höchstens. Gerade jetzt nämlich muß irgend etwas geschehen. Wir müssen wieder einmal an das Gewissen appellieren und zugleich das Heimatgefühl stärken. Daher auch diese Puppe.« 278
»Kann ich mir Hilfskräfte nehmen?« »Soviel Sie wollen! Alle verlangten Hilfskräfte werden Ihnen zur Verfügung gestellt«, versicherte der Funktionär. Martins Vater hatte alle Mühe, ein zufriedenes Grinsen zu unterdrücken. Er würde alle seine Freunde und Gesinnungsgenossen einspannen. Material standen ihnen in Hülle und Fülle zur Verfügung. Sie waren plötzlich an der Quelle. »Ich fange sofort an!« sagte der Alte unternehmungslustig. »Das ist mir recht«, sagte der Funktionär. »Mit Ihrem Betrieb kommen wir schon klar. Also los, die Puppe wird echt Sonneberg sein, das Spruchband aber, das sie tragen wird, echt Deutsche Demokratische Republik.« »Steht denn der Text schon fest?« fragte Martins Vater interessiert. »Klar«, sagte der Funktionär. Er überreichte dem Alten ein Blatt Papier, auf dem folgendes in großen Buchstaben geschrieben stand: Puppen für unsere Kinder, die einmal Mütter sein werden. Alle Mütter lieben den Frieden und damit die Deutsche Demokratische Republik. »Nun – was sagen Sie dazu?« wollte der Funktionär wissen. »Beeindruckt mich stark«, erklärte der Alte ein wenig mühsam. Als Friebe den Garten betrat, wo er die Wege säubern sollte, sah er Constance Schubert am Rand des Schwimmbassins sitzen; sie hatte die Knie bis zum Kinn hochgezogen und starrte in das Wasser. »Pardon«, sagte Friebe, bereit, sich sofort 279
zurückzuziehen. »Ich konnte natürlich nicht wissen, gnädige Frau, daß ich Sie hier schon so früh antreffen würde – nachdem Sie in der letzten Nacht so lange aufgeblieben sind.« »Mein lieber Herr Friebe«, sagte Constance heiter, »warum sollte ich mich verändert haben – ich fühle mich durch Sie nie gestört.« Friebe lächelte Frau Schubert fast ritterlich an und widmete sich dann seiner Arbeit: er entfernte das Unkraut von den Wegen und glättete deren Ränder. Er hörte, daß sich Constance ins Wasser gleiten ließ. Er verehrte diese Frau auf seine Weise. Auch er sah sie anders als die anderen. Für ihn war sie ein junges, gesundes, ein wenig scheues Mädchen, das nichts anderes brauchte als ein Gefühl herrlicher Freiheit. Aber zugleich müßte sie das Bewußtsein haben, daß sie gebraucht werde und gebunden sei – sie wollte freiwillig das tun, was Pflicht genannt wird; dann erst war ihr dieses Gefühl der Verpflichtung heilig. Daß sie allerdings unvergleichlich schön war, ebenmäßig, zart und graziös, das war wohl ihr Unglück: sie wurde verwöhnt, bedrängt und verführt. An einem Mann wie Henry Engel aber mußte sie scheitern – und er an ihr. Sie waren beide überaus eigenwillig und doch grundverschieden; sie liebten aneinander das Ungewöhnliche – eine Harmonie zwischen ihnen war so gut wie ausgeschlossen. Es sei denn: einer von ihnen gab sich auf; aber daran war bei keinem zu denken. »Hat Herr Engel Feinde?« fragte Constance. »Nicht mehr und nicht weniger als jeder von uns«, sagte Friebe. »Und wie jeder von uns kann er plötzlich von irgendeiner Regierung einige Millionen Feinde 280
zudiktiert bekommen.« »Hat er schon immer Waffen in seinem Haus gehabt?« »Immer schon«, bestätigte Friebe, »und er gehört zu denen, die mit Waffen umgehen können.« »Hat Herr Engel Sorgen?« fragte Constance. »Es geht ihm äußerlich besser denn je«, versicherte Friebe. »Seine Patente bringen ihm viel Geld und machen ihn unabhängiger, als es wohl jemals ein König war. Dennoch arbeitet er viel und gern. Sein Labor wird immer vollkommener, seine Schallplattensammlung ist einzigartig, und er hat allein in den letzten zwei Monaten ein Vermögen für vier neue Bilder ausgegeben.« »Spielt er des Nachts sehr viel Klavier?« »Ja«, gab Friebe nach kurzem Zögern zu. »Und er spielt fast nur noch Bach. Außerdem trinkt er heftig.« »Was hat ihn so unglücklich gemacht?« fragte Constance leise. Friebe schaute sie kurz an; dann sah er weg, auf seine Arbeit hin. »In der letzten Zeit«, sagte Friebe schließlich, »schimpft er in der fürchterlichsten Weise auf Deutschland – er liebt es zu sehr.« Um 9.00 Uhr fand eine Sondersitzung des Bundeskabinetts im Palais Schaumburg statt. Sie bestand im wesentlichen aus zwei Teilen: Bericht des Außenministers über die Geheimsitzung des Atlantikrates, Stellungnahme des Bundeskanzlers. Die Ausführungen des Außenministers deckten sich, bis auf einige besondere Redewendungen, theoretische Andeutungen und fachlich bedingte Hinweise, in den entscheidenden Punkten ziemlich genau mit dem bekannten Protokoll der Geheimsitzung. Der 281
Verteidigungsminister, schweigsam und distanziert wie immer, verzichtete auf zusätzliche Ausführungen. Der Bundeskanzler, der schon vorher eine interne Unterredung mit seinem Außen- und seinem Verteidigungsminister gehabt hatte, also wohl vorbereitet war, führte abschließend mit der ihm eigenen Deutlichkeit folgendes aus: Meine Herren. Es ist klar, daß in diesem Augenblick nicht nur die Franzosen, sondern auch alle anderen Verbündeten mit Sorge und wohl auch mit einigem Mißtrauen zu uns herüberschauen. Unsere Politik und unsere Partnerschaft waren darauf aufgebaut, den Westen gegen einen möglichen Angriff aus dem Osten gemeinsam zu verteidigen. Jetzt aber ist der Fall eingetreten, der im atlantischen Bündnis am meisten befürchtet wurde – der zweite Aufstand in der Sowjetzone. Der Aufstand ist zwar noch nicht da, aber wir müssen mit ihm rechnen. Die besondere Situation West-Berlins zwingt uns – und ich möchte fast sagen: bedauerlicherweise – dazu, Kundgebungen der politischen Parteien zuzulassen. Wir können aber ähnliches in der Bundesrepublik auf keinen Fall gestatten und werden das auch nicht tun. Wir müssen die bittere Wahrheit erkennen, daß wir unseren Brüdern und Schwestern in der Sowjetzone nicht helfen können, wenn wir nicht einen Weltkrieg heraufbeschwören wollen. Im übrigen, meine Herren, müssen wir uns auch darüber klar sein: sollten wir etwa irgend etwas auf eigene Faust unternehmen, so stünden wir allein. Keiner unserer Verbündeten würde sich militärischen Aktionen gegen die Sowjetzone anschließen. Es gibt für uns also nur eine mögliche Haltung, nämlich die, daß wir uns strikt nach den Beschlüssen des Atlantikrates richten. 282
Ich nehme an, daß noch im Laufe des heutigen Tages die kriegsmäßige Unterstellung der Bundeswehr unter die volle Kommandogewalt der NATO erfolgt. An dieser Stelle machte der Bundeskanzler eine längere Pause, wobei nicht ganz klar wurde, ob er Wert darauf legte, seinen Ministern Zeit zum Nachdenken zu geben, oder aber, ob er den nun folgenden Satz besonders herauszustellen wünschte. Er blickte von seinen Notizen auf und sagte: Sie, Herr Innenminister, sind mir persönlich dafür verantwortlich, daß sich auch der Bundesgrenzschutz jeder provozierenden Handlung enthält. Im übrigen, meine Herren, müssen wir abwarten, was uns der heutige Tag bringt. Ich danke Ihnen. Maria bremste langsam ihr Fahrrad ab, denn sie hörte ein Kind weinen. Sie hielt bei einem Gehöft, das an einem kleinen Fluß am Rande einer Ortschaft lag. Das Haus schien verlassen zu sein, und der Garten daneben machte keinen gepflegten Eindruck. Maria lehnte ihr Rad an den Zaun. Sie fand das Kind im Hausflur sitzend und näherte sich ihm. Da hörte das Kind zu weinen auf. »Was fehlt dir?« fragte Maria und beugte sich vor. Sofort schrie das Kind wieder. Es war ein etwa zweijähriges Mädchen; es saß ohne Unterkleider auf dem ausgetretenen Steinfußboden. Es hatte ein sackartiges, blauleinenes Kleid an, und seine Haare waren flüchtig zu Zöpfen zusammengedreht. Das schmale Gesicht war von Tränen gerötet. »Du sollst nicht weinen«, sagte Maria und versuchte, das Kind, das ängstlich zurückwich, zu berühren. »Willst du mir nicht sagen, warum du weinst?« 283
Das Kind schüttelte heftig den Kopf, wurde aber still. Seine grauen Katzenaugen blickten furchtsam Maria an. Dann, mit plötzlich hervorbrechendem Zutrauen, zeigte das Mädchen auf sein Bein: es war am Knie blaufleckig. »Du hast dich gestoßen?« fragte Maria. Das Kind nickte heftig. Maria kniete nieder und nahm das kleine Mädchen in ihre Arme. Sie sah sich suchend um; dann stieß sie die nächstliegende Tür auf, die in eine verwahrloste Küche führte. »Ist hier jemand?« rief Maria; aber niemand meldete sich. Maria setzte das Kind auf einen Stuhl. Sie fand ein schmutziges Handtuch; sie fand nach längerem Suchen eine Schüssel, goß Wasser hinein und machte sodann das Handtuch naß. Das Kind war ganz still geworden und sah sie mit großen Augen an. Maria legte das nasse Handtuch über die blutunterlaufene Stelle. »Gut?« fragte Maria. »Gut!« sagte das Kind. »Du mußt schön vorsichtig sein, hörst du?« sagte Maria. »Sie braucht Aufsicht«, sagte eine Stimme von der Küchentür her. »Aber es ist niemand da, der sie beaufsichtigen kann.« Maria sah einen mittelgroßen Mann in schäbiger Arbeitskleidung. Müde Augen blickten aus einem versorgten Gesicht. Dieser Mann schien gar nicht sonderlich überrascht, Maria hier vorzufinden. »Wo ist die Mutter dieses Kindes?« fragte Maria. »Getürmt«, sagte der Mann. »Vor etwa einer Woche. Mit irgendeinem Lastwagenfahrer. Es ist ein schönes Kind, nicht wahr?« »Ja«, sagte Maria mechanisch, da sie ihr Erstaunen 284
über die Worte des Mannes noch nicht überwunden hatte. »Die Mutter war auch schön«, sagte der Mann. »Zu schön für das hier. Zu fein für unsere Arbeit – verstehen Sie?« Maria nickte. Sie hatte den Mann verstanden; aber sie begriff nicht ganz, was er ihr gesagt hatte. »Du bist gut«, sagte das Kind. »Bleib hier.« Es war 9.30 Uhr, als sich der königlich britische Botschafter beim Bundesaußenminister melden ließ. Der Außenminister beeilte sich, den von ihm persönlich, nach einer unlängst vor der Presse abgegebenen Erklärung, »ungemein geschützten« Diplomaten unverzüglich zu empfangen. Der Außenminister, ein mit Ausdauer um Würde und Ansehen bemühter Mann, ging seinem Besucher entgegen und geleitete ihn mit freundlichen Worten in sein Arbeitszimmer. Der Botschafter Ihrer Majestät quittierte die höflichen Redewendungen mit gemessener Verbindlichkeit. Seine betonte Zurückhaltung, die in der meist bieder-herzlichen Atmosphäre der bundesrepublikanischen Hauptstadt stets eine wohltuende Abkühlung bewirkte, schien diesmal noch betonter zu sein. »Ich habe die Ehre«, erklärte der Botschafter, »ein Schreiben meiner Regierung zu überbringen.« Der Außenminister versicherte, daß er mit außerordentlichem Interesse jeder Äußerung der Regierung Ihrer Majestät entgegensehe. Der Botschafter überreichte dann das angekündigte Schreiben. Es war eine »Verbalnote« und hatte folgenden Wortlaut: Mit größter Sorge hat die Regierung Ihrer Majestät 285
Informationen zur Kenntnis genommen, nach denen in der vergangenen Nacht Agenten von Organisationen, die der Regierung der Bundesrepublik Deutschland nahestehen, in verschiedenen Orten der Deutschen Demokratischen Republik versucht haben, die Arbeiter zu Streiks zu veranlassen. Die Regierung Ihrer Majestät wünscht die Aufmerksamkeit der Regierung der Bundesrepublik Deutschland auf diese Vorgänge zu lenken und gibt ihrer Hoffnung Ausdruck, daß die Regierung der Bundesrepublik Deutschland alles tun wird, um ähnliche Aktionen in der Zukunft zu verhindern. Gleichzeitig macht die Regierung Ihrer Majestät darauf aufmerksam, daß sie ihren in Deutschland stationierten Truppen den Befehl erteilt hat, sich von dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland zurückzuziehen, falls eine Einmischung der Bundesrepublik in die Ereignisse auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik erkennbar wird. Mit dieser Warnung wünscht die Regierung Ihrer Majestät eindeutig zum Ausdruck zu bringen, daß sie nicht gewillt ist, sich in einen Konflikt zwischen den beiden deutschen Staaten hineinziehen zu lassen. »Ich muß gestehen«, sagte der Außenminister nach aufmerksamer Lektüre, »daß ich dieses Schreiben als ungewöhnlich bezeichnen muß, wobei ich natürlich keineswegs bezweifle, daß die Regierung Ihrer Majestät alle vorliegenden Unterlagen gewissenhaft geprüft und somit in gutem Glauben gehandelt hat.« »Ich bin zwar nicht der Verfasser, sondern lediglich der Überbringer dieses Schreibens«, versicherte der britische Botschafter, »aber ich möchte ausdrücklich betonen, daß sich meine Ansichten mit denen meiner Regierung völlig 286
decken. Es existieren ohne Zweifel gelenkte oder unverbindlich unterstützte oder auch nur nachsichtig geduldete Organisationen, die zu gewissen Zeiten ihre Berechtigung haben mögen, die aber in dieser Situation eine eindeutige Gefahr darstellen.« »Ich respektiere Ihre Ansichten«, sagte der Außenminister, »ohne ihnen vorbehaltlos zustimmen zu können. Ich werde diese Verbalnote unverzüglich dem Kabinett vorlegen.« »Ich bin sicher«, sagte der britische Botschafter abschließend, »daß der Herr Bundeskanzler mit der ihm eigenen Energie die richtigen Maßnahmen treffen wird.« Isolde und Peter schlenderten an den Resten der Gedächtniskirche vorbei – die als Ruine zu einer wirklichen Gedächtniskirche geworden war. Sie gingen auf den Zoo zu, wo sie sich in den unteren Räumen des Aquariums exotische Fische ansehen wollten. Fische, wie sie möglicherweise in den Flüssen jener Länder schwimmen könnten, in die sie das Schicksal verschlagen würde. »Eigentlich komisch«, sagte Peter nachdenklich, »da gibt es diesen Herrn Beck, und der sagt zu deiner Mutter: ›Kommen Sie zu mir – zu den Schwarzen nach Afrika oder zu den Braunen nach Südamerika.‹ Und dann kommen wir mit.« »Höre mal, Peter, du darfst nichts komisch finden, was mit mir zusammenhängt, und dann«, fügte Isolde hinzu, wobei sie seine Hand besonders fest hielt, »fährst du ja nicht wegen Herrn Beck in die Welt – sondern meinetwegen.« »Ja, da hast du recht«, stimmte Peter sofort zu. Und er legte ihre Hand, die in der seinen lag, auf seine Brust und bedeckte sie mit seiner freien Hand. 287
Einige Passanten, die ihnen begegneten, lächelten über diese beiden jungen Menschen, die ihre Umgebung offenbar vergessen hatten. Isolde und Peter sahen nicht die Menschen, die sich sammelten, die diskutierten und Gruppen bildeten, sich dann formierten und abzogen. Politik interessierte sie nicht. Sie waren sogar am Aquarium vorbeigegangen. »Aber deine Mutter«, sagte Peter zögernd, »die habe ich auch gern.« »Du bist der beste und liebste Junge, den ich mir denken kann.« Peter wurde rot. So, wie Isolde zu ihm war, so gut war noch nie ein Mensch zu ihm gewesen. Sie war ein wunderbares Wesen; sie machte ihn glücklich und auch stolz. »Aber«, sagte er schließlich, »ich weiß nicht, ob wir nicht doch deiner Mutter sagen sollten, daß ich mitkomme.« »Peter«, sagte Isolde, »kommst du eigentlich mit mir – oder mit meiner Mutter?« »Mit euch beiden!« »Dann laß alles andere meine Sorge sein«, sagte Isolde fröhlich. »Es genügt, wenn sich Mutter mit irgendwelchen Schnüfflern herumschlagen muß – mit unseren Problemen werden wir allein fertig.« »Gestern noch«, sagte G. M.. stellvertretender Ministerpräsident der Deutschen Demokratischen Republik, während er mit Michael Reiners verhandelte, »ging es lediglich darum, die maßgeblichen westdeutschen Politiker um eine Art neutrale Haltung zu ersuchen – heute schon ist weit mehr als nur das notwendig: die Bundesregierung muß offiziell erklären, daß sie keinerlei Demonstrationen wünscht und sich entschieden von jeder Art Rebellion distanziert – ja, sie 288
sogar scharf verurteilt.« Diesmal saß neben dem Minister lediglich ein ihm engbefreundeter Abgeordneter, der der gleichen, sich liberal nennenden Partei angehörte. Auf einen größeren Kreis war, auf ausdrücklichen Wunsch von Michael Reiners, verzichtet worden: man sollte in aller Offenheit sprechen können. Und Reiners war gewillt, das auch zu tun. »Was Sie da von mir verlangen«, sagte er ablehnend, »das ist geradezu absurd.« »Lieber Doktor Reiners«, sagte der stellvertretende Ministerpräsident eindringlich »absurd ist die ganze Situation! Ich habe Auftrag, Sie mit rückhaltloser Offenheit zu informieren. Hören Sie also: in fast allen größeren Städten Sachsens sind die Arbeiter in einen Sitzstreik getreten. Sie haben sich gegen die bewaffneten Betriebsschutzgruppen in ihren Werkhallen verbarrikadiert. Diese Streikwelle dehnt sich rasch über die übrigen Provinzstädte der Zone aus. Es sind Versuche gemacht worden, Schweigemärsche zu veranstalten. Die Demonstranten wurden auseinandergetrieben.« »Von wem?« fragte Michael Reiners. »Von der Polizei, der Volksarmee und Einheiten der Sowjetarmee.« »Das ist schlimm«, sagte Reiners. »Ist Blut geflossen?« Der Minister nickte. »Es hat Tote gegeben«, sagte er leise, »in Dresden und in Leipzig.« – »Das ist Mord«, sagte Reiners. »Es ist Notwehr!« »Billigen auch Sie dieses Vorgehen?« fragte Reiners 289
mit einiger Schärfe. »Wenn Sie das tun, dann haben wir uns nichts mehr zu sagen.« Der stellvertretende Ministerpräsident reagierte auf diese Frage nicht. Er beeilte sich zu sagen: »Und selbst wenn es Mord sein sollte, Herr Doktor Reiners, dann vergessen Sie die nicht, die zu diesem Mord angestiftet haben. Ich weise nur auf folgendes hin: Hetzkommentare, Agententätigkeit, schweigendes Einverständnis mit Verrätern und Saboteuren – und gerade jetzt, genau um diese Stunde, die aufreizende Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus!« »Diese Kundgebung«, sagte Reiners, »wird abgeschirmt; keiner der Teilnehmer wird auch nur in die Nähe der Sektorengrenze gelassen.« »Aber das allein genügt doch nicht!« rief G. M. »Das sind halbe Maßnahmen. Die westdeutsche Regierung und alle westdeutschen Politiker müssen erklären: Wir distanzieren uns nicht nur von den Aufständischen – wir verurteilen den Aufstand. Das muß mit aller Deutlichkeit ausgesprochen werden, entschieden und mit Schärfe.« »Unmöglich«, sagte Reiners erregt. »Was Sie und Ihre Freunde verlangen, das wäre Untreue und Verrat. Sie leisten sich einfach alles, aber von uns fordern Sie Verstand und Einsicht – bis zur Selbstaufgabe.« »Dann wird es eben zum Mord kommen«, sagte G. M. verzweifelt. »Und Sie alle werden mit schuld daran sein, wenn noch mehr Blut fließt, wenn wieder und wieder Blut fließen wird.« »Doktor!« rief Charly, nachdem ihm Reiners von seiner Unterredung mit G. M. berichtet hatte. »Wo sind wir denn hingeraten! Da müssen ein paar hundert arme, gutgläubige Kreaturen ins Gras beißen, nur weil zwei Regierungen so weit vorgeprellt sind, daß sie nicht mehr 290
rechtzeitig in ihre Ausgangsstellungen zurück können – die eine Regierung hat zu schnell geschossen, die andere hat zu laut geredet; oder zuviel versprochen, wie man es nimmt.« »Die Haltung der Bundesregierung ist völlig einwandfrei.« »Natürlich!« stimmte Charly grimmig zu. »Und die Haltung der Ostzonenregierung ist auch einwandfrei – vom Standpunkt ihrer Funktionäre aus bestimmt. Einwandfrei! Was ist das schon? Und außerdem weiß ich etwas, was Sie noch nicht wissen – mein Freund, der General, hat mich informiert: während nämlich die Ruhe in Polen einigermaßen wiederhergestellt zu sein scheint, beginnt es nun auch noch in Prag zu brodeln; die wichtigsten Punkte dieser Stadt sind von Polizei besetzt. Und zu allem Überfluß sind tschechische Truppenbewegungen in Richtung auf die west- und auf die ostdeutsche Grenze gemeldet worden.« »Das«, sagte Reiners schwer, »ist fürchterlich. Ich weiß wirklich nicht, was jetzt geschehen soll. Offenbar bleibt nichts anderes übrig, als in Westdeutschland an die Vernunft zu appellieren – und das heißt: für einen Verzicht plädieren, der gleichbedeutend mit Untreue ist.« »Versuchen Sie das mal!« rief Charly skeptisch. »Treue ist hier immer noch das Mark der Ehre. Und für die Ehre wird hier gestorben! Auch wenn die ganze Welt dabei zugrunde geht.« »Wir spielen vielleicht diese Tragödie – arrangiert haben wir sie nicht!« »Sondern: Amerika! Weil Amerika das arme, unglückliche Deutschland überfallen und vergewaltigt und einen stattlichen Teil davon den Sowjets zum Fraß vorgeworfen hat! Wollten Sie das etwa sagen? Tun Sie 291
das nicht, Doktor. Sonst entpuppt sich Ihre deutsche Tragödie als ein Schwank aus Krähwinkel. Soll ich Ihnen sagen, was die beste, schnellste und gründlichste Lösung wäre? Fallen Sie jetzt nicht um – sie ist ganz einfach: die Amerikaner und Sowjets sollten beide deutsche Regierungen aufs Eis legen und einfach von vorn anfangen.« »Das nicht!« rief Michael Reiners. »Zutiefst haben wir die letzte Katastrophe noch nicht überwunden – ein Rückfall wäre verheerend! Er würde uns die letzten Reste eines Staatsbewußtseins nehmen.« »Immer noch nicht so schlimm wie eine zertrümmerte Welt!« sagte Charly grob. Doch als der Amerikaner Reiners’ Befremden spürte, lächelte er versöhnlich: er schlug dem deutschen Doktor herzlich auf die Schulter und fragte: »Wissen Sie denn eine andere Lösung, mein Freund?« »Vielleicht«, sagte Michael Reiners mühsam, »vielleicht.« Ruth Winters glaubte die einzige Möglichkeit gefunden zu haben, Wolf Beck vor unangenehmen Überraschungen, also vor Bernhardt, zu schützen: sie wich ihm, soweit das überhaupt möglich war, nicht mehr von der Seite. Jetzt, während er mit seinen Geschäftsfreunden telefonierte, stand sie auf dem Gang vor den Telefonzellen. Sie wartete. Sie war entschlossen, sich zwischen Beck und Bernhardt zu stellen – zwischen ihre hoffnungsvolle Zukunft und der fürchterlich bedrohlichen Vergangenheit. Die Ausdauer, mit der sie ihn begleitete, kam ihm nahezu rührend vor. Constance hatte nie mit dieser Selbstverständlichkeit auf ihn gewartet. Wolf lächelte durch das Glas der Telefonzelle Ruth zu; 292
er legte die Fingerspitzen seiner rechten Hand auf seinen Mund und hielt sie dann hoch. Und sie erwiderte die zärtliche, bei Wolf ungewöhnliche Geste. Dann ging sie über den roten Läufer, auf den Nebenraum zu. Denn dort stand der Mann, den sie von Wolf fernhalten wollte. »Nun, wie läuft die Sache?« fragte Bernhardt. Sein ebenmäßiges Gesicht kam ihr jetzt glatt, nichtssagend und auf abstoßend primitive Weise erregt vor. »Du kannst hier nicht bleiben«, sagte sie. »Er darf uns nicht zusammen sehen.« »Weiß er denn nicht schon, daß wir uns kennen?« »Du warst beim Frühstück reichlich unvorsichtig«, sagte sie. »Natürlich habe ich ihm erzählt, daß wir uns kennen – aber wie sehr wir uns kennen, weiß er selbstverständlich nicht.« »Von mir wird er es nicht erfahren«, sagte Bernhardt; und er fügte hinzu: »Wenn du mich nicht dazu zwingst!« Ruth Winters lächelte mechanisch in dieses leere Kinogesicht hinein, vor dem ihr jetzt schauderte. Und doch, sagte sie sich bitter, war es das gleiche Gesicht, das sie so oft über sich geduldet hatte. Dieses schöne, ewig lächelnde Gesicht mit den müden, zynisch blickenden Augen, den vollen, fast fraulichen Brauen und der Kette entblößter Pferdezähne – sie hatte es geküßt, auf ihrer Brust gefühlt, mit den Händen abgetastet. Ekelhaft! Wieder wünschte sie, dieser Mensch möchte nicht mehr existieren. Noch niemals vorher hatte sie etwas so brennend und heftig gewünscht. Mit ihm würde alles sterben, was Vergangenheit war: keuchende Atemlosigkeit, erquälte Lust, schweißige Ermattung! 293
»Ich tue, was ich kann«, sagte sie. »Ich bereite ihn langsam vor. Er hat hier so viele Geschäfte zu erledigen, daß er froh sein wird, wenn er jemanden findet, der ihm einige davon abnimmt.« »Wann?« fragte Bernhardt. »Morgen – übermorgen«, sagte sie. »Du darfst nicht ungeduldig werden.« »Heute«, sagte er. »Nicht so schnell, bitte.« »Heute mittag«, sagte Bernhardt hartnäckig. »Keine Stunde später.« »Du solltest nichts überstürzen«, sagte sie. »Das könnte gefährlich werden.« »Für wen?« Ruth Winters biß sich auf die Lippen; sie zwang sich dazu, Ruhe und Gelassenheit zu bewahren. Sie blickte schnell in den Nebenraum, in dem sich die Telefonzellen befanden. »Du mußt Geduld haben«, sagte sie hastig. »Geh jetzt – ich glaube, er kommt.« Der dekorative Mann machte eine übertriebene Verbeugung und entfernte sich dann, einem Tennischampion vergleichbar, der die Stätte seines Sieges verläßt. Sie wandte sich schroff um und ging wieder in den Nebenraum, wo Wolf Beck gerade seine Telefongespräche beendet hatte. »Die normalen Geschäfte«, sagte er zufrieden, »wickeln sich ohne Komplikationen ab – und nicht nur das, sie erweisen sich als sehr zufriedenstellend.« »Das freut mich für dich«, versicherte Ruth Winters. »Überdies«, sagte Wolf Beck und legte seinen Arm um ihre Schultern, »scheinen sich ganz unvorhergesehene neue, vielversprechende Geschäfte anzubahnen.« 294
»Heißt das«, fragte Ruth vorsichtig, »daß unsere Abreise hinausgeschoben wird?« »Ich weiß das noch nicht«, sagte Wolf Beck nachdenklich. »Wir werden abwarten. Außerdem hat es den Anschein, als ob ich einem Gespräch mit irgendwelchen Geheimpolizisten nicht entgehen kann. Sie sind höflich, lassen sich aber nicht mehr abweisen. Das verdanke ich meinem Freund Michael Reiners – der ist nämlich ein großer Mann, mußt du wissen. Das ist für seine Umgebung nicht ganz ungefährlich.« 11.00 Uhr. Der amerikanische Stadtkommandant von West-Berlin kabelte nach Washington seinen stündlichen Bericht. Diese Meldung schien, ihren ersten Formulierungen nach zu urteilen, verhältnismäßig harmlos zu sein. Der letzte Satz jedoch lautete: In West-Berlin scheint sich eine Katastrophe anzubahnen. Die ganze Meldung hatte folgenden Wortlaut: Die Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus nimmt einen verhältnismäßig ruhigen Verlauf. Dank der dichten Absperrung durch die deutsche Polizei waren keine Versuche zu beobachten, den Platz der Kundgebung in Richtung Ostsektor zu verlassen. Es haben sich allerdings vorher nicht gemeldete Demonstrationszüge, deren Initiatoren noch nicht bekannt sind, in anderen Stadtteilen gebildet. Zur Zeit bewegt sich ein Demonstrationszug, der inzwischen auf mindestens 500 Personen angewachsen ist, vom Wedding durch die Müller- und Chausseestraße in Richtung auf die Sektorengrenze. Ein anderer Demonstrationszug, der sich am ErnstReuter-Platz gesammelt hatte und die Straße des 17. Juni auf das Brandenburger Tor hinuntermarschierte, ist 295
inzwischen vor dem sowjetischen Ehrenmal unmittelbar vor dem Brandenburger Tor eingetroffen. Der britische Stadtkommandant hat das sowjetische Ehrenmal durch Einheiten britischer Militärpolizei abriegeln lassen. Um nicht mit amerikanischen Einheiten im Berliner Straßenbild erscheinen zu müssen, war ich gezwungen, zwei Kompanien des deutschen Labour-Service zur Verstärkung an das Brandenburger Tor zu schicken. Die Demonstranten hören nicht mehr auf die Anweisungen der deutschen Polizei. Einige Polizisten wurden niedergeschlagen. In West-Berlin scheint sich eine Katastrophe anzubahnen. »Ich muß weiter«, sagte Maria; und es schien ihr nicht leichtzufallen, das zu sagen. Der Mann, der in der Küche stand und ihr zugesehen hatte, nickte. Die Augen des Kindes wurden dunkel und feucht. Es verbarg die Hände auf dem Rücken und wich ein wenig zurück. »Sei nur ruhig«, sagte der Mann und legte unbeholfen eine Hand auf den Kopf des Kindes, das sich ausweichend zur Seite beugte. »Das Fräulein war sehr nett zu dir. Du solltest dich bedanken. Aber nicht heulen!« »Danke«, sagte das Kind. »Gib dem Fräulein die Hand.« Das Kind schüttelte heftig den Kopf und wich noch weiter zurück. »Sie müssen nicht denken, daß das Kind undankbar ist«, sagte der Mann schwer. »Es ist nur mißtrauisch, es hat Angst – seitdem die Mutter einfach durchgebrannt 296
ist.« »Sie sollten sich mehr um die Kleine kümmern«, sagte Maria. »Das ist nicht so einfach«, sagte der Mann. »Der Hof ist zwar klein, aber doch ist ein Mann tagsüber voll beschäftigt. Es bringt nicht sehr viel ein. Wenn ich mich mehr um das Kind kümmere, habe ich weniger Zeit zum Arbeiten, und wir können uns dann kaum ernähren.« »Sie brauchen jemanden, der Ihnen hilft«, sagte Maria. »Das stimmt«, sagte der Mann. »Aber ich finde niemanden. Eine Magd könnte ich zwar ernähren, doch nicht zusätzlich bezahlen. Eine Frau wäre das billigste. Aber der, die ich hatte, war es hier zu ärmlich, und eine zweite werde ich kaum finden, mit diesem Kind und in dieser Hütte. Die Frauen von heute, wissen Sie, können ohne Kino wohl nicht mehr leben; es muß immer etwas da sein, das ihnen Abwechslung bereitet. Aber hier gibt es nichts davon, weit und breit nicht. Hier fahren immer nur die Autos vorüber. Keiner von denen hört das Kind weinen – der Lärm des Motors hindert sie daran. Aber ich höre diese Automenschen auch nicht mehr; ich habe mich an sie gewöhnt, mir sind sie gleichgültig. Doch meine Frau, die hörte sie immer; und sie hat ihnen nachgeschaut und über sie nachgedacht. Und eines Tages stieg sie dann in eins dieser Autos ein.« »Es gibt auch andere Frauen«, sagte Maria. »Die mit Fahrrädern fahren, werden immer seltener«, sagte der Mann und schien bemüht, ein wenig zu lächeln. »Ich wäre gerne noch geblieben«, sagte Maria und blickte das Kind an. »Doch ich muß weiter. Aber vielleicht, wenn ich wieder einmal vorbeikomme …« »Wann?« fragte das Kind. 297
»Das weiß ich noch nicht, mein Kleines«, sagte Maria. »Bald?« fragte das Kind. »Schon möglich«, sagte Maria und legte zum Abschied ganz leicht eine Hand auf den Kopf des Kindes. Dann ging sie hinaus. »Sie sind ein guter Mensch«, sagte der Mann mühsam, nachdem er Maria bis vor die Haustür, wo das Fahrrad stand, begleitet hatte. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich wiederkommen werde«, erklärte Maria. »Ich habe das nur gesagt, um das Kind zu beruhigen. Aber es wird mich schnell wieder vergessen. Sie haben also keinerlei Veranlassung, mir zu sagen, daß ich ein guter Mensch sei.« »Sie sind ein guter Mensch«, behauptete der Mann beharrlich. »Und ich sage das nicht, um Sie zu loben, sondern nur, um Sie zu warnen. Vertrauen Sie niemandem! Das ist alles, was mich das Leben gelehrt hat – denn am Ende sind Sie immer allein; Sie haben sich verbraucht, und Ihre Sorgen haben sich vermehrt, und das nur, weil Sie Vertrauen hatten.« »So dürfen Sie nicht reden«, sagte Maria und schob ihr Fahrrad wieder auf die Straße zu. »Schließlich haben Sie das Kind.« »Deshalb rede ich ja so«, sagte der Mann hart. »Denn dieses Kind hat das Blut von seiner Mutter; es hat die Augen von ihr, die Haare von ihr und das Kinn von ihr. Es wird im Elend aufwachsen, und wenn es groß geworden ist, wird es mich verlassen – und mit mir das Elend. Verstehen Sie: für dieses Kind wird sein Vater und das Elend ein und dasselbe sein! Aber fahren Sie jetzt endlich – und hoffentlich nicht in Ihr Unglück hinein.« Die Theoretiker des Zufalls sind Legion. Und für jede Sache scheint es tausend Ursachen zu geben. 298
Für das, was an diesem Tag in Berlin, kurz nach 11 Uhr, genau: um 11.09 Uhr geschah, könnte eine ganze Kette Schuldiger oder in Schuld Verstrickter oder unschuldig schuldig Gewordener gebildet werden. Aber Schuld hat auch derjenige, der für den Stein verantwortlich war, der auf der Straße lag! Dieser Stein war kaum größer als ein Taubenei. Er war glatt, rund und griffig; er ließ sich leicht vierundzwanzig Meter weit werfen – bis zu jener Stelle, wo ein sowjetischer Soldat stand. Der hielt Wache vor dem Ehrenmal der Roten Armee. Vor jenem Ehrenmal, das sich im Westsektor Berlins befindet. Jedenfalls: ein Zeitgenosse trat auf den Stein, bückte sich, hob ihn auf. Und dann warf er diesen Stein. Niemand wußte, wer der Mann mit dem Stein gewesen war. Einige wollten ihn gesehen haben – ohne seinen Namen zu wissen, ohne genau beschreiben zu können, wie er aussah, wo er wohnte, woher er kam. Über die Motive, die zu diesem Steinwurf geführt hatten, wurden die verschiedensten Behauptungen aufgestellt, und diese jeweils mit unbeirrbarer Hartnäckigkeit. Demnach war der Zeitgenosse, der den Stein geworfen hatte: a) ein irregeleiteter Fanatiker mit pseudo-religiösen Motiven; b) ein amoklaufendes Opfer faschistischer Haßpropaganda; c) ein systematisch operierendes Mitglied westlicher Terrorverbände; d) ein systematisch operierendes Mitglied östlicher Terrorverbände; e) ein ahnungsloser, dummer Junge, der die Schule geschwänzt hatte; 299
f) ein ehrenwerter älterer Herr, der beim Anblick der sowjetischen Soldaten seine bisher sorgsam gehütete Selbstbeherrschung verlor, weil er sich lebhaft an die Schändung seiner Tochter erinnert fühlte, der er hatte beiwohnen müssen; g) ein hysterisches Frauenzimmer. Weitere Deutungen lagen vor. Das änderte jedoch nichts daran, daß der Stein geworfen worden war. Er traf einen Sowjetsoldaten. Dessen Haut über einem Backenknochen platzte auf, und ein wenig Blut sickerte heraus; und zehn Sekunden später lagen neun Tote auf der zementierten Erde. Aber das war erst der Anfang. Es war 11.09 Uhr. Noch zehn Minuten vorher wollten die Demonstranten nur deutlich machen, was sie dachten und was endlich wieder einmal gesagt werden mußte: Macht euch nicht zu breit in unserem Berlin! Der Demonstrationszug marschierte auf der Straße des 17. Juni. Er wurde schnell länger und breiter. Mehr als zweitausend Menschen schoben sich schließlich auf das sowjetische Ehrenmal zu. Und wieder wurde die alte Frage, mal ironisch, mal provokant, gestellt: warum ein Ehrenmal für die Sowjets in Berlin, und wenn schon, warum dann ausgerechnet im Westen? Die Demonstranten stießen auf einen Sperrgürtel, den britische Militärpolizei um das sowjetische Ehrenmal gebildet hatte. Die Menge drängte von rückwärts nach und schob die sich zäh und wortlos dagegenstemmenden Briten zur Seite. Die beiden sowjetischen Soldaten standen breitbeinig und starrten in die Menge, die sich auf sie zuschob. Die Mündungen ihrer Maschinenpistolen senkten sich. Die 300
Menge blieb stehen. Schimpfworte ertönten aus dem Hintergrund. Die Sowjetsoldaten verstanden kein Wort; das half ihnen, scheinbar gelassen zu bleiben. Aber ihre Augen hatten sich verengt und die Hände, in denen die Maschinenpistolen lagen, waren verkrampft. Dann wurde der Stein geworfen. Und fast unmittelbar danach zuckten aus den Mündungen der Maschinenpistolen grellgelbe kurze Flammenstöße. Die Menge brüllte, so daß das trockene Geknatter vom Aufschrei der Empörung überdröhnt wurde. Viertausend Füße stampften auf das Ehrenmal zu. Neun Demonstranten wurden getötet, siebzehn schwer verletzt. Die zwei sowjetischen Posten wurden von der Menge niedergetrampelt. 11.30 Uhr. Der amerikanische Stadtkommandant berichtet nach Washington. Der Schluß seiner Meldung lautete: Es gelang der britischen Militärpolizei, den wachhabenden Offizier und die acht übrigen Sowjetsoldaten in Schutzhaft zu nehmen. Die Menge wandte sich daraufhin dem Brandenburger Tor zu, in der Absicht, wie schon im Jahre 1953, die rote Fahne herunterzuholen. Die deutsche Polizei, die gezwungen war, von ihren Schutzknüppeln Gebrauch zu machen, wurde überrannt. Als sich die Menge dem Tor näherte, eröffnete die Volkspolizei das Feuer. Die Zahl der Opfer ist im Augenblick noch nicht bekannt. Der britische Stadtkommandant hat sich entschlossen, ein Bataillon der Welsh-Guards ausrücken zu lassen und die Absperrung im Tiergarten zu verstärken. 301
Der in der Chausseestraße gemeldete Demonstrationszug konnte von deutscher Polizei und von französischer Militärpolizei abgedrängt werden. Aber auch dieser Demonstrationszug hat jetzt Richtung auf den Tiergarten genommen. Als Constance von ihrem Vormittagsspaziergang zurückkam, sah sie Henry Engel in der Halle sitzen. Zwölf Uhr war bereits vorbei – Henry Engel aber frühstückte. Neben ihm stand Friebe. »Ich will den Amerikaner nicht sehen«, erklärte Henry Engel unwillig. »Sag ihm, daß es gar keinen Zweck hat, wenn er sich hier aufhält. Sein Scheckbuch interessiert mich nicht, und unsere neuen Formeln bekommt er auch nicht.« »Er hat diesmal eine Art Leibwache mitgebracht«, sagte Friebe grinsend. »Ein Riesenbaby!« »Du kannst dem Jungen unseren improvisierten Schießplatz zeigen«, empfahl Henry, »und ihm eine Lektion im Pistolenschießen erteilen – vielleicht wird er dann kleiner. Das ist alles, was ich im Augenblick für meinen amerikanischen Konzern zu tun gewillt bin.« Friebe nickte und schien sich auf die kleine Komödie zu freuen, die er inszenieren würde. Er entfernte sich, wobei er laut, so daß es Henry Engel hören mußte, Constance Schubert guten Tag sagte. Henry machte keinerlei Anstalten, sich zu ihrer Begrüßung zu erheben. »Eine gute Freundschaft«, sagte er, an einer Scheibe Landschinken herumsäbelnd, »gewährt Eigenleben – nur Liebende sind versessen darauf, einander abzurichten.« »Du hast es herrlich hier«, sagte sie, bemüht, den Eindruck zu erwecken, daß sie seine Worte nicht verstanden hatte. »Du bist zu beneiden.« »Ich habe Glück gehabt!« sagte er und ließ sich nicht 302
bei seinem Frühstück stören. »Du neigst immer noch dazu, alles zu bagatellisieren«, stellte Constance fest. Sie setzte sich zu ihm und nahm ungeniert mit den Fingern ein Stück Schinken von seinem Teller. »Du willst nicht zugeben, daß du ein Ausnahmemensch bist.« »Ach was!« rief Henry Engel. »Ich bin ein Kuli – wie alle anderen auch. Diese sogenannten Ausnahmemenschen, auf die das Volk starrt wie das Kaninchen auf die Schlange, sind auch nur Zufallsprodukte – geboren aus günstigen Gelegenheiten.« – »Auch ich?« fragte Constance empört. »Selbstverständlich auch du«, sagte Henry Engel, ohne zu zögern. »Du bist ungewöhnlich schön, aber das sind ein paar Dutzend andere auch. Du hast Talent – aber das haben viele Maler. Du hast ein sicheres Gefühl für zarte Farbtöne und kannst deinen Hang zu romantischer Verträumtheit in Bildern ausdrücken. Unser robustes Zeitalter findet gelegentlich Freude daran. Deine Konjunktur ist das Aquarell – etwa so, wie meine die derzeit sehr gefragte Mischung aus Physik und Chemie ist.« »Ich habe es mir langsam abgewöhnt, dich in diesem Punkte ernst zu nehmen«, sagte Constance. »Es wird auch höchste Zeit, daß du es lernst, deine Zeitgenossen nicht allzu ernst zu nehmen«, versicherte Henry Engel, dem dieses Gespräch sehr zu behagen schien. »Die meisten Menschen haben eine falsche Blickrichtung: sie schauen entweder zu jemandem hinauf oder auf jemanden hinab – sie sollten sich gegenseitig anschauen.« »Der Fichtenwald hinter dem Wiesenhang ist herrlich«, 303
sagte Constance ablenkend. »Was sind wir schon groß!« rief Henry Engel, nicht gewillt, sich ablenken zu lassen. »Vor dem Krieg habe ich mich mühsam durchgeschlagen, während des Krieges durfte ich mitmarschieren, nach dem Krieg experimentierte ich hungernd. Ich hätte genausogut in der Gefangenschaft vegetieren oder mit Schrott und Eipulver Geschäfte machen können. Doch nein: die zufällig glückliche Konstellation aus Chemie und Physik, die Entdeckung einiger Formeln, die von der herrschenden Konjunktur heißhungrig verschlungen wurden – und ich war ein gemachter Mann.« »Du könntest heute Chef großer Forschungsstätten sein!« »Diese Weisheit hast du von Wolf Beck. Er weiß, wie man Geld verdient. Aber weiß er auch, wie man lebt? Wenn es nach ihm ginge und vielleicht auch nach dir, wäre ich jetzt irgendwo Boß einer Serie von Laboratorien; pressereif, fernsehwürdig, mit protziger Villa, beleuchtetem Swimmingpool und illustren Weekendgästen.« »Wäre das so schlimm?« »Es wäre fürchterlich! Eine Schraube ohne Ende. Ausgeliefert an Geschäftsleute, Spürhundreporter und Zweckfreunde! Belästigt von Geschwätz. Aufgerieben durch Nichtigkeiten. Kein Leben für mich - das ist überhaupt kein Leben.« »Aus dir spricht purer Hochmut«, sagte Constance überzeugt. »Du lebst hinter einer hohen Mauer.« »Die ich mir selbst gebaut habe!« »Und du versuchst immer wieder, mich davon zu überzeugen, daß du recht hast – du allein – und wie sehr ich im Unrecht bin.« 304
»Lassen wir doch die alten Geschichten ruhen«, sagte Henry Engel leise und eindringlich; er blickte sie forschend an. »Du solltest dieses Thema vermeiden. Wir haben uns geliebt, und wir haben uns getrennt - nach reiflicher Überlegung. Jetzt aber bist du mein Gast. Meine Freunde, die einzigen, die ich besitze, haben dich mir anvertraut. Wir wollen das nicht vergessen.« »Es ist herrlich bei dir«, sagte Constance versonnen. »Du hast dir einen wunderbaren Fleck Erde ausgesucht.« »Ich habe ein Stück Land und ein Haus«, sagte Henry Engel, offenbar froh darüber, das intime Gespräch beenden zu können. »Ich habe mir den Traum meiner Jugend erfüllt. Auch andere hätten diese Möglichkeit, wenn ihr Leben normal verlaufen wäre. Doch der Staat schluckt das, was sie verdienen, und den Rest erledigt der Krieg – oder eben die Vorbereitungen dazu, die mit der Begründung betrieben werden: der Staat sei dazu da, seinen Bürgern die Möglichkeit zu schaffen, in Ruhe sein Geld zu verdienen!« »Wollen wir lieber von deinem Garten sprechen?« »Welch ein Irrsinn!« rief Henry Engel unbeirrt. »Da pulvern die Staaten Milliardenbeträge in ihre Rüstungen – nicht einmal, nein: immer wieder! Gewaltige Summen werden in Kasernen, Fahrzeuge, Gewehre, Kanonen, Flugzeuge, Bomben und Schlachtschiffe verwandelt – nicht etwa in Schulen, Straßen, Parks, Theater, Kunsthallen und Krankenhäuser. Die Welt wäre ein großer Garten, hätten wir diese verfluchten Armeen nicht.« »Die Rosen in deinem Garten blühen herrlich, Henry!« »Welch ein Irrenhaus!« rief Henry. »Millionen Menschen holen sie aus Fabriken, Bauernhöfen, Büros, 305
Gewächshäusern und Werkstätten – und stecken sie in Uniform. Bei den Sowjets, bei denen kaum einer zwei Anzüge im Schrank oder den Magen regelmäßig voll hat; bei den Amerikanern, die den Hunger der ganzen Welt stillen könnten, wenn sie wollten. Aber was tun sie? Sie lauern sich gegenseitig auf.« »Ich höre dir gerne zu, wenn du so redest«, sagte Constance mit entwaffnendem Lächeln. »Du siehst dann fast aus wie ein Kind.« Henry Engel war froh, daß sie ihn aus dem Konzept gebracht hatte. »Gehen wir in den Garten – ich werde Rosen für dich schneiden, aber keine roten.« »General«, sagte Charly zum amerikanischen Stadtkommandanten von West-Berlin, »wenn Sie nicht bald Washington tüchtig einheizen, dann werde ich in aller Öffentlichkeit Gestank machen.« »Mich würde interessieren«, fragte der General, »was Sie eigentlich von Washington erwarten?« »Freie Hand für Sie! Denn, wenn Sie jetzt nicht bald handeln, General, sind Sie verkauft – Sie und das Ansehen Amerikas in Mitteleuropa dazu.« »Lesen Sie das«, sagte der General. »Es ist um 12.30 Uhr, also vor nicht ganz einer halben Stunde, hier eingetroffen.« Er nahm von seinem Tisch ein Kabel und reichte es Charly hinüber. Es kam aus Washington und lautete wie folgt: In Übereinstimmung mit den Regierungen des Vereinigten Königreiches und der Französischen Republik übernehmen die drei alliierten Mächte die vollziehende Gewalt in West-Berlin. Die Zustimmung der deutschen Bundesregierung liegt bereits vor. 306
Sie, als rangältester General, werden zum alliierten Gouverneur ernannt. Der britische und der französische Stadtkommandant sind Ihnen in militärischer Hinsicht unterstellt. Sie werden sofort ein Versammlungs- und Demonstrationsverbot erlassen und zusammen mit der deutschen Polizei die Sektorengrenze gegen jegliche weitere Übergriffe schützen. »Jetzt aber ran, Herr Gouverneur«, sagte Charly befriedigt, »so schnell und so gründlich wie nur irgend möglich!« 14.00 Uhr. Die sowjetische Regierung veröffentlichte eine Protestnote an die Regierungen der USA, Englands und Frankreichs. In dieser Note wurden die drei genannten Staaten in ultimativer Form aufgefordert, weitere Übergriffe faschistischer Elemente in West-Berlin sofort zu unterbinden. Die Sowjetunion müsse in diesen Provokationen eine Bedrohung ihrer Sicherheit sehen. 14.00 Uhr. Die drei westlichen Regierungen veröffentlichen in Washington, Paris und London eine Note an die Sowjetunion. In dieser Note teilen die drei Westmächte mit, daß sie zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung die vollziehende Gewalt in West-Berlin übernommen haben. Sie fordern die Sowjetunion nochmals auf, die Einheiten der Volksarmee in Ost-Berlin abzuziehen. In der Note wird für 17.00 Uhr eine Zusammenkunft zwischen dem soeben ernannten alliierten Gouverneur und dem sowjetischen Stadtkommandanten vorgeschlagen. Wolf Beck hatte mit großem Genuß sein Mittagessen in der »Blauen Traube« verzehrt. Es hatte zunächst Aalsuppe auf hamburgische Art gegeben, dann 307
gebackene Langusten nach Marseiller Vorbild, hierauf Nieren gedünstet, in Madeira-Soße. Dazu hatte er Escherndorfer Eulengrube getrunken, 1953, Spätlese, bestes Faß, mit der Silbermedaille preisgekrönt. Jetzt trank Wolf Beck einen Wodka und rauchte dazu eine Sumatra der leichtesten Sorte. Zufrieden blinzelte er zu Ruth Winters hinüber, die sich in ihrem Taschenspiegel betrachtete und eine winzige Korrektur ihrer Lippenschminke mit dem kleinen Finger vornahm. »Das Essen war gut«, sagte er. »Von mir aus dürfte es das Abschiedsessen von Hamburg gewesen sein«, versicherte Ruth; und sie versuchte, das leichthin zu sagen. »Du bist sehr ungeduldig«, sagte er. »Ich bin voller Erwartung, Wolf! Wirst du heute noch deine Geschäfte zum Abschluß bringen?« »Die normalen Geschäfte«, sagte er, an seiner Zigarre ziehend, »wären mit einem Telefongespräch abzuschließen.« »Und warum tust du das nicht?« »Offene Verträge schaffen für den, der das meiste Interesse an ihnen hat, eine gewisse Bereitwilligkeit – zu Konzessionen, zu Hinweisen der verschiedensten Art. Ich weiß inzwischen von bereits vier, fünf anderen Geschäften, die sich lohnen könnten, wenn gewisse Voraussetzungen noch ein wenig günstiger werden.« »Welche Voraussetzungen, Wolf?« Wolf Beck schien diese Frage nicht zu hören. Er sah zum offenen Fenster hin. Von dort her war die Stimme eines Zeitungsausrufers zu hören: »Extraausgabe der Morgenpost! Zweiunddreißig Todesopfer in Berlin! Extraausgabe der Morgenpost! Wellen der Erregung in 308
Berlin!« Wolf winkte einen Kellner herbei und gab ihm den Auftrag, für ihn diese Extraausgabe zu kaufen. Und während der Kellner davoneilte, widmete sich Wolf seiner Zigarre, die nicht zu ziehen schien. Er knetete sie sorgfältig im Mittelteil. Ihm entging dabei, daß Ruth Winters plötzlich unwillig, fast erschreckt aufsah, dann, nach einem schnellen Blick auf ihn, eine kurze, heftig abwehrende Geste machte. »Ich hoffe, nicht zu stören«, sagte eine singend-sonore Stimme. Wolf Beck sah überrascht hoch. An ihrem Tisch stand die Prachtausgabe von Mann, deren Anblick schon am Vormittag, beim Frühstück, seinen belustigten Unwillen erregt hatte. Wolf hob ein wenig seine Augenbrauen und betrachtete den Dekorativen nicht ohne Interesse. »Ich wollte nicht versäumen, die gnädige Frau zu begrüßen«, sagte Bernhardt. »Guten Tag«, sagte Ruth Winters. Und sie sagte es bei aller Verbindlichkeit mit derartig abweisendem Unterton, daß Wolf Beck nunmehr sie aufmerksam ansah. Der gutaussehende Mann beugte sich über die steif ausgestreckte Hand von Ruth Winters und deutete einen Handkuß an. Wolf dachte: Wie im Kino! Dann sah er auf das Extrablatt der Morgenpost, das der Kellner vor ihm auf den Tisch legte. Schnell überflog er den ersten, groß- und fettgedruckten Absatz: Die Zahl der Todesopfer an der Berliner Sektorengrenze hat sich inzwischen auf zweiunddreißig erhöht. Wie bereits berichtet, hat der amerikanische Stadtkommandant seit 13 Uhr die vollziehende Gewalt in West-Berlin übernommen. Der Stadt hat sich eine ungeheure Erregung bemächtigt. Überall stehen 309
Menschen herum, die erregt diskutieren. Aus allen Häusern tönen die Lautsfrecher. »Darf ich dich bitten, mich Herrn Beck vorzustellen?« verlangte nunmehr mit verbindlichem Lächeln der dekorative Mann. Beck registrierte zwei Dinge: der Mann kannte seinen Namen; er duzte Ruth. Er hörte, daß Ruth einen Namen nannte, aber er verstand ihn nicht. Wolf deutete automatisch eine Verbeugung an und sagte: »Setzen Sie sich doch zu uns.« Er sagte das ein wenig gedankenlos, denn die Extraausgabe der Morgenpost verlangte seine Aufmerksamkeit. Er las jetzt dort: Die beiden Westberliner Sender verbreiteten jede Viertelstunde einen Aufruf des Senats, in dem die Bevölkerung aufgefordert wird, Ruhe und Ordnung zu bewahren und den Anordnungen des alliierten Gouverneurs Folge zu leisten. »Ich wollte aber wirklich nicht stören«, versicherte der unentwegt verbindlich lächelnde Herr und setzte sich. Eine Verlegenheitspause trat ein. Wolf dachte gar nicht daran, sie zu überbrücken. Er widmete sich wieder seiner Extraausgabe, in der er jetzt las: Die Lage in der Zone ist ungeklärt. Über Demonstrationen liegen keine Meldungen vor, jedoch scheinen die Belegschaften der Betriebe in den meisten Städten ihren Streik fortzusetzen. »Es ist mir eine besondere Freude, Sie kennenzulernen«, versicherte jetzt der Dekorative mit verbindlicher Ergebenheit. »Ruth hat mir schon soviel von Ihnen erzählt.« »So«, sagte Wolf Beck aufhorchend, wobei er die 310
Extraausgabe entschlossen zur Seite schob. »Hat man Ihnen von mir erzählt? Was denn, zum Beispiel?« Isolde und Peter saßen auf einer Bank in den unteren Räumen des Aquariums. Sie schauten lange und wortlos auf die Glaswände, hinter denen die buntschillernden exotischen Fische schwammen. »Warum«, fragte Peter schließlich, »sind bei uns die Fische nicht auch so schön?« »Vielleicht«, sagte Isolde nach langem Nachdenken, »würden die Südamerikaner unsere Fische schöner finden als die ihren.« Peter sagte lange Zeit nichts. Die Fische schwebten lautlos und gelassen hinter ihren Glaswänden. Isolde spürte, daß Peter sie mit zunehmender Kraft an sich zog. »Isolde«, sagte er, »ich will aber nicht, daß du den Südamerikanern gefällst. Dann bleiben wir lieber hier in Berlin!« Isolde lachte lautlos, der verzaubernden Stille wegen, die sie umgab – unter seinem Arm fühlte er ihre Schultern zucken. »Peter, es schadet doch gar nichts, wenn ich vielen Menschen gefalle – die Hauptsache ist doch, daß du mir von allen allein gefällst.« »Das ist wahr«, sagte Peter. Das Aquarium am Zoo war fast leer. Sie hatten das Gefühl, völlig allein zu sein. Sie wußten nichts von dem, was sich nur wenige Kilometer entfernt von ihnen ereignete. Sie verspürten nichts von der empörten Erregung. Sie ahnten nichts von den Toten, die in ihrer Nähe in der Ecke einer Halle lagen. Das alles ging sie nichts an. »Komm«, sagte Peter, »jetzt gehen wir nach oben, wo die Schlangen sind.« 311
»Uh!« rief Isolde und tat ängstlich. Peter legte mit großer Geste seinen Arm um sie. So schritten sie die Steintreppen hoch, in das Obergeschoß. Isolde schmiegte sich an ihn, fast so, als müsse sie Schutz bei ihm suchen. Das gefiel ihm sehr. »Schau!« rief er fröhlich. »Eine Schlange!« »Das ist keine Schlange«, sagte Isolde heiter. »Das ist ein Gartenschlauch.« Sie lachten und sahen sich an. Sie fanden es herrlich, beieinander zu sein. Und die Welt war schön, weil sie beieinander waren. Und sie schworen sich: Die Welt soll immer schön bleiben. »Schau!« rief Peter. »Noch ein Gartenschlauch!« »Das ist kein Gartenschlauch«, sagte Isolde. »Das ist eine Schlange.« Und sie lachten unterdrückt und bekamen rote Köpfe. Und sie drohten fast am unterdrückten Gelächter zu ersticken, als sie sich anstießen. Sogar ein Krokodil, so schien ihnen, hob erstaunt seinen Kopf und sah sie mit müden Augen voller Nachsicht an. »Ach!« rief Isolde glücklich. Der Gefreite Schulze-Schwerin lag mit etlichen Kameraden unter einem Fichtenbaum. Ihre Einheit veranstaltete eine Geländeübung; und sie waren als »Reserve« eingeteilt. Einer hielt Blickverbindung – die restlichen Soldaten legten sich in den Schatten und sahen in den Himmel. »Eigentlich seltsam«, sagte der Gefreite SchulzeSchwerin, »daß jenseits der Grenze verhetzte Menschen, die die gleiche Sprache wie wir sprechen, gegen uns aufmarschieren können. Dieser Gedanke bedrückt mich.« 312
»Dann denke doch irgend etwas anderes«, sagte der Soldat neben ihm unwillig, da er sich in seinem trägen Dahindämmern gestört fühlte. »Denke zum Beispiel an deine Opern. Aber daß du ja nicht singst!« »Die gleiche Sprache schafft noch keine Verbundenheit«, sagte Schulze-Schwerin aus tiefem Nachdenken heraus, »wichtiger ist, welche Zeitungen und welche Bücher man liest, welche Filme man sieht. Thälmann ist wertvoller als Dillinger, der Gangsterboß, Lenin wichtiger als Sigmund Freud, und die Ulanowa ziehe ich der Marilyn Monroe vor.« »Das ist Geschmackssache«, sagte der Soldat, der neben ihm lag, genußvoll. »Das«, sagte Schulze-Schwerin, »ist eine Angelegenheit der inneren Haltung, der Gesinnung.« »Der günstigen Gelegenheit«, sagte der Soldat, der immer noch an die Monroe dachte. »Habt ihr denn keine anderen Sorgen!« rief ein Gefreiter aus dem Hintergrund und legte sich ein blaues Taschentuch als Licht- und Sonnenschutz über das Gesicht. »Du mußt ja nicht hinhören!« rief Schulze-Schwerin gekränkt. Der angesprochene Soldat produzierte einen kräftigen Ton, der allgemeine Heiterkeit auslöste. »Moderne Musik!« rief er. Ein anderer Soldat richtete sich ein wenig auf, blinzelte zu Schulze-Schwerin hinüber und fragte: »Da wir gerade von Musik sprechen – was hältst du vom Jazz?« »Jazz ist dekadent«, erklärte Schulze-Schwerin. »Die Anfänge dieser Musik haben ihre Berechtigung, zumal sie sogar Sozialrevolutionären Charakter tragen – die 313
Gesänge der Negersklaven zum Beispiel. Aber skrupellose Geschäftemacher haben aus dieser Musik ein Mittel des Massenrausches gemacht, das auf primitiven Rhythmen beruht.« »Hochinteressant«, versicherte der Soldat, »du bist also ein Gegner dieser Art von Musik.« »Ganz entschieden!« sagte der opernhörige Gefreite. »Nun nimm einmal an: du befindest dich in einem Lokal, in dem Jazzmusik gespielt wird …« »Ausgeschlossen«, behauptete Schulze-Schwerin sofort. »Ich würde ein derartiges Lokal niemals besuchen.« »Laß mich ausreden: du befindest dich in einem solchen Lokal – weil sich dort ein Mädchen aufhält, das du gern näher kennenlernen möchtest. Dieses Mädchen ist aber schwer bewacht, durch eine Tante oder so etwas Ähnliches. Aber es gibt eine Möglichkeit, an sie heranzukommen, nämlich dadurch, daß du sie zum Tanz aufforderst. Nun ganz ehrlich, Schulze – würdest du in einem solchen Fall nach Jazzmusik tanzen?« »Was ist das für eine Frage!« rief der Gefreite SchulzeSchwerin. »Natürlich nicht!« »Auch nicht, wenn es sich um ein besonders nettes Mädchen handelt?« »Es kann sich doch gar nicht um ein nettes Mädchen handeln«, erklärte Schulze-Schwerin mit entwaffnender Logik. »Würde es denn wohl sonst ein Lokal aufsuchen, in dem dekadente Musik gespielt wird?« »Mensch!« sagte einer, »du sprichst schon so, wie bei uns in den Zeitungen geschrieben wird.« Darüber, was eigentlich die Pflicht eines guten Deutschen ist, haben verschiedene Regierungen 314
verschiedene Ansichten – es gibt somit in Deutschland zunächst mindestens zwei. Nun existiert aber neben jeder Regierung noch eine Opposition – die eine offiziell, die andere illegal. Und damit existieren nunmehr auch bereits vier Auslegungen über deutsche Pflichten. Hinzu kommen dann noch die Meinungen der Kirchen, der Verbände, der Außenseiter. So ist es zum Beispiel die Pflicht jedes guten Deutschen, sein Vaterland zu verteidigen. Aber es ist auch Pflicht, dabei auf Deutsche zu schießen – natürlich nur auf solche, die ein falsches Vaterland haben? Diese Frage hat Kaiser Wilhelm bereits mit einem unvergeßlichen »Ja« beantwortet – wenn befohlen wird, muß auch auf Eltern und Brüder geschossen werden! Einige Vertreter der westdeutschen Regierung haben ähnliches behauptet - einige der ostdeutschen Regierung natürlich auch. Nun dürfen aber beide Regierungen unter keinen Umständen miteinander verglichen werden; auch sie selbst lehnen das entschieden ab. So wird denn der Deutsche von gutwilligen Demokraten ebenso beansprucht wie von kämpferischen Kommunisten; außerdem von stolzbrüstigen Monarchisten, grollenden Nationalisten brauner Färbung – und von verträumten, verlogenen, hilflosen, gutgläubigen Europäern oder Kleinstaatlern aller Schattierungen. Das Ergebnis ist: Unberechenbarkeit, Unsicherheit. Und so gehen die geladenen Flinten besonders leicht los. Aber durchaus nicht immer in der Richtung, die sich die Lieferanten dieser Flinten ausgesucht hatten. Um 15.00 Uhr konnte der Agent »G 73« eine Meldung in den Äther schicken, die bei ihren westlichen Empfängern zwei Empfindungen zugleich auslöste: 315
Triumph und Besorgnis! Diese Meldung hatte folgenden Wortlaut: Um die Zeiss-Werke in Jena sind Kämpfe entstanden. Der Betriebsschutz und zwei Kompanien der in Jena stationierten Volksarmee-Einheit sind zu den streikenden Arbeitern der Zeiss-Werke übergegangen. Damit sind die Arbeiter im Besitz von Waffen. Sie verteidigen das Werk seit einer Stunde gegen Volkspolizeiverbände, die aus Weimar herangeführt wurden. Martin hatte sich in Nürnberg aufhalten lassen, und zwar durch das Spielzeug, das er dort in den Schaufenstern sah. Besonders interessierten ihn die ausgestellten Puppen. Er lehnte in einer Straße außerhalb des Zentrums sein Fahrrad an eine Litfaßsäule, ging über den Bürgersteig auf einen Laden zu, der Puppen ausgestellt hatte, die er noch nie vorher gesehen hatte: sie waren offenbar ganz aus porösem Gummi, mit wenigen Farben angemalt oder gar angebrannt? Wenn ein derartiges Verfahren möglich war, mußte es die Produktion beschleunigen und verbilligen; und das war für ein armes Land, wie das seine wichtig – denn alle Kinder sollten Puppen haben. Interessiert beugte er sich vor, bis sein Kopf das Schaufensterglas berührte. »Gefallen sie Ihnen?« fragte eine angenehm klingende Frauenstimme. »Sehr!« sagte Martin spontan. Er richtete sich auf. Vor ihm stand ein Mädchen in einem blauen Leinenkittel, offenbar eine Verkäuferin; und sie lächelte ihn an. Sofort sagte Martin abwehrend: »Ich will aber nichts kaufen!« »Das müssen Sie auch nicht«, sagte das Mädchen und lächelte noch freundlicher. »Aber mit diesen Puppen kann man Kindern viel Freude machen.« 316
»Ich habe keine Kinder«, sagte Martin reserviert. »Mich interessieren diese Puppen aus beruflichen Gründen.« »Sie sind Geschäftsmann?« fragte das Mädchen. »Ich entwerfe Puppen«, sagte Martin bescheiden. »Habe ich welche von Ihnen in meinem Geschäft?« wollte das Mädchen wissen. »Das glaube ich nicht«, sagte Martin. »Ich arbeite in der Ostzone - in Sonneberg.« »Schon als Kind habe ich Sonneberger Spielzeug geliebt«, beeilte sich das Mädchen zu versichern, denn der junge, sympathische Mann begann ihr zu gefallen. »Unser Spielzeug«, sagte Martin, »ist einfach, phantasieanregend und solid gebaut. Leider haben wir mit unserer Puppenfabrikation ein wenig den Anschluß verpaßt – die großen Fabriken einiger westlicher Länder und der Amerikaner mit modernen Maschinen und neuartigem Material sind uns überlegen. Bisher! Jetzt aber geht unsere erste Plastikpuppe in die Fabrikation – ich habe sie entworfen.« »Eine moderne Puppe?« »Eine Puppe für Kinder! Sehr bunt, sehr beweglich und praktisch unzerstörbar.« »Können Sie veranlassen, daß ich ein Angebot bekomme?« fragte das Mädchen. Martin sah sie erneut prüfend an. Sie sah recht zielbewußt aus, trotz ihres verbindlichen Lächelns und ihrer abwartenden Haltung. »Ich werde meine Direktion bitten, mit Ihnen Verbindung aufzunehmen«, sagte er bereitwillig. »Dann kommen Sie bitte herein«, forderte ihn das Mädchen auf. »Ich will Ihnen meine Adresse geben.« Sie ging voran, und Martin folgte ihr bereitwillig. 317
Er betrachtete die Warenbestände. Das meiste darunter war konventionelles, zum Teil mechanisiertes Spielzeug. Aber manches war ungewöhnlich, originell: kurios geformte Keramikflaschen aus Vallauris, lustige Stoffesel aus der französischen Schweiz, bizarre Fabeltiere mit suggestiven Augen aus Spanien. »Ich liebe alles, was ein wenig seltsam wirkt und geeignet ist, die gedankenlose Primitivität der rein kommerziell denkenden Spielzeugindustrie herauszufordern.« »Ich finde das großartig«, sagte Martin begeistert. »Es schafft mir viel freie Zeit«, sagte das Mädchen, ein wenig resigniert. »Mein Geschäft ist zumeist leer. Aber so kann ich Ihnen in Ruhe alles zeigen, was Sie sehen wollen.« »Ich bin in Eile«, sagte Martin und wurde verlegen. »Wer sich mit Puppen beschäftigt, muß viel Geduld haben«, sagte das Mädchen heiter und beugte sich ein wenig vor, ihm entgegen. »Auf ein paar Minuten mehr oder weniger wird es Ihnen doch gewiß nicht ankommen. Sagen Sie doch selbst: gibt es eine Beschäftigung, die angenehmer ist?« Um 16.1 j Uhr beendete das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) seine außerordentliche Sitzung. Sie hatte kaum mehr als eine halbe Stunde gedauert. Die erfahrenen Praktiker in der Behandlung der Massen waren sich in allen Punkten schnell einig geworden. »Wir haben nunmehr«, sagte der Generalsekretär geschäftig, ohne innere Regung, »lediglich noch die einzelnen Punkte zusammenzufassen. Die Einleitungsformel wird folgendermaßen lauten: Vom Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei 318
Deutschlands und vom Ministerrat der DDR ergeht folgende Direktive an die Regierungsbehörden der DDR und an die Kommandostellen der Volksarmee!« Die Anwesenden hielten es für überflüssig, auch nur zustimmend zu nicken. »Zunächst die allgemeinen Anordnungen«, sagte der Generalsekretär. Der hierfür zuständige Spezialist, ein Ministerialrat des Innenministeriums, begann, zusammenfassend vorzutragen. Seine Ausführungen wurden sofort schriftlich niedergelegt. Sie lauteten: Gegen die Aufstandsbewegung der klassenfeindlichen Elemente ist mit allen Mitteln sofort durchzugreifen. Die Unruheherde in den einzelnen Fabriken und Werken sind abzuriegeln. Jede Verbindung zwischen streikenden Arbeitern und der Bevölkerung muß unterbunden werden. Die Rädelsführer der Streikenden müssen umgehend verhaftet werden. »Nächster Punkt«, ordnete der Generalsekretär an. »Entwaffnung.« Der hierfür zuständige Sachbearbeiter machte die folgenden Ausführungen: Dort, wo die Rebellen im Besitz von Waffen sind, ist der Widerstand mit allen Machtmitteln zu brechen. Wo die eigenen Kräfte nicht ausreichen, werden Einheiten der verbündeten Sowjetarmee die Truppen der deutschen Volksarmee unterstützen. Das Oberkommando der Volksarmee und das Kommando der Grenzpolizei haben strengste Anweisung erhalten, die Grenze gegen Westdeutschland hermetisch abzusperren. Der Generalsekretär strich, mit einer kurzen Bewegung, auch diesen Punkt von seiner Liste. Er tat 319
das fast einem Buchhalter vergleichbar, der einzelne Warenposten abstreicht. Sein Gesicht blieb unbewegt, nur seine listigen, intelligenten Augen blickten überlegen. Seine Mitarbeiter pflegten ihn den »alten Fuchs« zu nennen; seine Gegner nannten ihn »den Schakal«; das entsprach nicht ganz seinem Wesen. Er war eher ein erfahrener Steppenwolf; er kannte den Hunger, die Einsamkeit, die Beute. Er war unheimlich zäh, ungenießbar und fast allen Strapazen gewachsen. Er sagte abschließend mit der gleichbleibenden Undurchdringlichkeit: Der Botschafter der UdSSR hat die Regierung der DDR darauf hingewiesen, daß im Interesse der Erhaltung des Weltfriedens an der Grenze für Ruhe gesorgt werden muß. Jeder Kontakt zwischen den Aufständischen und Westdeutschland muß daher unterbunden werden. Michael Reiners fand Charly in der Halle seines Berliner Hotels vor. Charly hatte sich tief in einen Sessel hineingelümmelt und die langen Beine ausgestreckt; ein Whiskyglas stand neben seiner rechten, schlaff herabhängenden Hand. Dieser Anblick vermochte sogar Reiners ein wenig aufzuheitern. Denn Reiners wußte, daß Charly es liebte, seiner Umwelt bei jeder sich bietenden Gelegenheit, und besonders wenn er sich geärgert hatte, das Standardbild eines »waschechten« amerikanischen Reporters zu präsentieren - möglichst herausfordernd. »Die Kerle fallen auf jeden Mist herein, warum nicht auch auf diesen«, pflegte er zu sagen. In Wirklichkeit hatte der robuste Charly, was aber nur seine intimen Freunde wußten – und irgendwie gehörte auch Michael zu ihnen -, eine Schwäche für Mozartmusik, für zierliche, anschmiegsame Frauen und für milden Moselwein. Whisky verabscheute er, 320
kanadischen besonders – aber er verlangte stets nachdrücklich amerikanischen Whisky, wenn er schlechter Stimmung war. Er hatte in den letzten Tagen, so fand er selbst, viel zuviel von diesem Whisky getrunken. »Gott grüße Sie, Doktor!« rief Charly. »Wenn er Sie nicht schon verlassen hat – wofür ich Verständnis hätte.« »Sie pausieren?« fragte Reiners erstaunt, nachdem er sich neben Charly niedergelassen hatte. »Ich mache Schluß«, verkündete der Amerikaner lässig, »zumindest hier in Berlin.« »Sie geben auf?« fragte Reiners, sich vorbeugend. »Was habe ich denn schon groß aufzugeben!« rief Charly verärgert. »Die Uhren sind gestellt, die Zeitzünder ticken. Oder, wenn Ihnen dieses Bild besser gefällt: der Zug rollt – genau auf den Abgrund zu. Warum sollte ich mich anstrengen, dort noch aufzuspringen?« Reiners lehnte sich, ganz langsam, als bereite ihm jede Bewegung Mühe, in seinen Sessel zurück. Er war an diesem Tag von Besprechung zu Besprechung geeilt, war von den Westsektoren in den Ostsektor gefahren und wieder zurück. Er hatte mit Politikern und Militärs gesprochen, mit Parteibeamten und Bearbeitern der öffentlichen Meinung – und diese Gespräche waren noch lange nicht beendet. »Sie halten doch nicht etwa die Situation für aussichtslos?« fragte er. »Doktor«, sagte der amerikanische Korrespondent grimmig, »bei eurem Kuhhandel sträuben sich mir die Haare – und ich empfinde es langsam als ausgemachte Sauerei, daß ihr Amerika zwingt, sich daran zu beteiligen. Unser General muß sich manchmal vorkommen wie ein Hausknecht.« 321
»Sie haben doch nicht etwa versucht, ihn davon zu überzeugen?« fragte Michael Reiners. »Ich habe ihm klargemacht, daß es praktisch nur noch zwei Möglichkeiten für Amerika gibt, sein Gesicht zu wahren und den Frieden zu erhalten. Entweder: die Amerikaner verständigen sich auf eigene Faust mit den Sowjets und beide ziehen sofort ab und lassen die deutschen Brüder aufeinander los. Oder aber: die Amerikaner übernehmen die volle Verantwortung und damit auch die ganze Gewalt in den westlichen Sektoren; das aber heißt: Ausschaltung der Regierung, Lahmlegung der Parteien, Abriegelung von allem, was Waffen trägt, Übernahme des gesamten Informationsapparates.« »Also der Zustand von neunzehnhundertfünfundvierzig!« sagte Reiners. »Immer noch besser als eine vergrößerte Neuauflage der Jahre neunzehnhundertneununddreißig bis neunzehnhundertfünfundvierzig!« »Charly«, sagte Reiners eindringlich, »Sie müssen diese Ansichten revidieren – wir können gemeinsam mit dem General …« »Lassen Sie mich doch mit Ihren Schaukeleien in Ruhe!« rief Charly grob. »Meine Flugkarte ist gebucht – eine zweite steht Ihnen zur Verfügung. Plaudern wir also in Bonn weiter oder in Paris – am besten gleich in New York. Wenn wir den Anschluß nicht verpassen!« »Sie müssen Geduld haben!« »Das ist gleichbedeutend mit Zeit haben! Und die hat keiner mehr. Ich spüre das. Und wissen Sie, Doktor, seit wann ich das genau spüre – seit fünfundvierzig Minuten. Vor fünfundvierzig Minuten nämlich bin ich hier auf ein Mädchen geprallt, bei dessen Anblick mir das Herz lachte 322
– höchstens alle drei Jahre einmal läuft mir so ein Mädchen über den Weg. Eines von der Sorte, mit dem man ein Häuschen beziehen möchte – mit Garten und einer Mauer darum. Und dann sich einschließen und ein paar Wochen lang nichts von der Welt sehen oder hören. Verstehen Sie das?« »Ich glaube schon«, sagte Michael lächelnd. »Aber dann«, sagte Charly grollend, »spürte ich ganz deutlich: es hat keinen Zweck! Es bleibt keine Zeit mehr dafür! Es lohnt sich nicht mehr, anzufangen! Ach – ich könnte diese Roßtäuscher der Politik abservieren.« Charly erhob sich schwer und ging durch die Halle auf eine Tür zu, die mit den Worten »Herren – Messieurs – Gentlemen« beschriftet war. Reiners vermied es, ihm nachzublicken – er trank Charlys Glas leer. »Darf ich Sie kurz sprechen?« fragte ein Mann, der auf Reiners zugekommen war. »Sie erinnern sich gewiß an mich?« Reiners sah hoch und erkannte den Mann, der vor ihm stand, einen der Teilnehmer seiner ersten halboffiziellen Besprechung mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR – es war einer jener Beamten, deren Herkunft ebensowenig feststellbar gewesen war wie seine Dienststellung und sein Aufgabenbereich. Er sollte Einfluß und bis zu einem gewissen Grade sogar Entscheidungsfreiheit haben. Bei allen weiteren Besprechungen war er nicht mehr aufgetaucht – und G. M. hatte sogar mit einigem Nachdruck vor ihm gewarnt. »Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte Reiners interessiert. »Was kann ich für Sie tun?« Der Mann setzte sich. Dabei schien er kurz seine Umgebung zu kontrollieren. Er sah auf die Uhr in der 323
Halle. Er schien es sehr eilig zu haben. »Herr Doktor Reiners«, sagte er unverzüglich, »ich darf mich glücklich schätzen, einem Mann gegenüberzusitzen, der die realen Gegebenheiten der Politik kennt. Sie werden erkannt haben, daß Ihr Einherpendeln zwischen zwei Fronten gefährlich geworden ist.« »Ich habe meine selbstgewählte Aufgabe niemals für ungefährlich gehalten«, erklärte Reiners vorsichtig. »Ich bitte Sie, mich nicht mißzuverstehen«, antwortete sein Gesprächspartner verbindlich. »Ich habe nicht im geringsten die Absicht, irgendeine Warnung auszusprechen – ich traf lediglich eine Feststellung. Und das als Einleitung. Vielmehr gedenke ich Ihnen ein Angebot zu machen, Herr Doktor Reiners. Wir sind bereit, Ihre Sicherheit zu garantieren, und nicht nur im Bereich der DDR, auch in der UdSSR und in den mit uns sympathisierenden Ländern.« »Was erwarten Sie als Gegenleistung von mir?« »Die Schaffung einer Verbindung.« »Seit Tagen tue ich nichts anderes!« »Wir denken an eine ganz bestimmte Verbindung, Herr Doktor Reiners – an eine Verbindung mit Henry Engel. Wir sind doch nicht falsch orientiert, wenn wir annehmen, daß Sie mit Herrn Engel befreundet sind?« »Das ist richtig«, sagte Michael, der einige Mühe hatte, sein Erstaunen zu verbergen. »Aber diese Freundschaft hat nicht das geringste mit geschäftlichen oder politischen Dingen zu tun. Henry Engel ist Wissenschaftler. Die Erfindungen, die er macht, pflegt er zu verkaufen, an eine amerikanische Firma, soweit ich orientiert bin. Wenn Sie ihm ein günstiges Angebot unterbreiten können, wird er vermutlich gar nicht zögern, 324
auch mit Ihnen Geschäfte zu machen.« »Wissen Sie eigentlich«, fragte jetzt der Besucher gedehnt, »worin die Erfindungen Ihres Freundes Henry Engel bestehen?« Hauptmann Müller-Marburg hatte in Hof in Bayern, wo er mit seiner Einheit eingetroffen war, den Kontakt zwischen den zivilen Behörden und den neuen Uniformträgern hergestellt: er hatte sich beim Bürgermeister melden lassen. Vorher hatte er sich jedoch beim Kommandeur des Grenzschutzbataillons erkundigt, ob ein solcher Schritt erwünscht sei oder nicht. Der Kommandeur hatte lediglich gesagt: »Wenn Sie wollen – von mir aus!« Hauptmann Müller-Marburg wollte natürlich. Das mangelhafte Ansehen der neuen Uniform- und Waffenträger schmerzte ihn. Die Uniform sollte wieder willkommen sein. Der Bürgermeister von Hof, ein freiheitlich gesinnter Mann, empfand das Verhalten von Hauptmann MüllerMarburg als angenehm. Sie plauderten miteinander einige Minuten lang unverbindlich. Sie versicherten einander, daß zwar die Situation Aufmerksamkeit erfordere, jedoch zu ernsthaften Besorgnissen keinerlei Anlaß gebe. »Wir im Westen«, sagte der Bürgermeister, »haben uns immer korrekt verhalten – von den Umtrieben einiger verantwortungsloser Elemente abgesehen. Wir können also mit gutem Gewissen die Entwicklung der Dinge abwarten.« »So ist es«, bestätigte der Hauptmann. Doch bereits eine knappe halbe Stunde später bat der Bürgermeister, im Bemühen um enge Zusammenarbeit, den Hauptmann Müller-Marburg erneut zu sich. 325
Was der Bürgermeister zu berichten wußte, stimmte den Hauptmann nachdenklich, war aber zugleich geeignet, seine Zuversicht zu heben. »Die Haltung unserer Brüder im Osten«, sagte er schließlich, »verdient unsere Bewunderung. Sie zeigt deutlich, daß sich auch ein langjähriger Terror am Ende als wirkungslos erweist.« »Ich bin da ganz Ihrer Meinung. Aber diese Haltung ist nicht ganz ungefährlich«, warf der Bürgermeister ein. »Gewiß nicht – in dieser Situation«, stimmte der Hauptmann zu. »Und deshalb empfehle ich, den Kommandeur unseres Grenzschutzbataillons unverzüglich in Kenntnis zu setzen.« Der Kommandeur wurde verständigt. Er stellte einige klärende Fragen und tat dann genau dasselbe, was auch mit ihm geschehen war: er benachrichtigte seine vorgesetzte Dienststelle – und übergab ihr damit die Verantwortung. Und da sein durch die Einheit MüllerMarburg verstärktes Bataillon direkt dem Grenzschutzkommando Süd unterstellt war, konnte er den bisher zuständigen Regimentskommandeur in Coburg übergehen. Seine Meldung, die um 16.17 Uhr beim Grenzschutzkommando Süd eintraf, lautete folgendermaßen: Wie ich soeben aus dem Bürgermeisteramt erfahre, ist hier eine Arbeiterdelegation aus Plauen eingetroffen. Diese Leute kündigten an, daß die Streikleitung ihres Werkes beabsichtigt, morgen einen Demonstrationsmarsch an die Zonengrenze zu organisieren. Die Bevölkerung von Plauen ist auf Seiten der Streikenden. Die örtlichen Polizeieinheiten verhalten sich passiv, so daß keine Gefahren für die Demonstranten zu erwarten sind. 326
Der Bürgermeister hat der Delegation erwidert, daß alle Behörden im Zonengrenzgebiet strengste Anweisung haben, alles zu vermeiden, was zu Spannungen an der Zonengrenze führen könnte. Es sei ihm daher unmöglich, von sich aus eine Begegnung zwischen Einwohnern Hofs und den Plauener Demonstranten an der Zonengrenze zu fördern. Selbstverständlich könne er die Delegation aber nicht von ihrem Vorhaben abhalten. Der Kommandeur war überzeugt davon, damit alles Wesentliche berichtet zu haben. Dennoch zögerte er, diese Meldung als abgeschlossen zu betrachten. Es kostete ihn einige Überwindung, noch einen Absatz hinzuzufügen, in dem über die Gepflogenheiten einer Meldung hinaus Ansichten geäußert wurden, die einen persönlichen Charakter trugen. Dennoch schrieb er folgendes nieder: Der Bürgermeister von Hof ist von mir gefragt worden, warum er den Plauenern ihr Vorhaben nicht auszureden versucht habe. Die Antwort des Bürgermeisters lautete: »Sie haben nicht mit diesen Leuten gesprochen – Sie hätten ihnen auch nichts ausreden können!« Constance fand Henry Engel auf der Terrasse; er saß unter einem Sonnenschirm und las in einem Buch von Karl Kraus. Neben ihm stand Friebe. Henry Engel schien nicht gewillt, seine Lektüre zu unterbrechen. »Sie waren heute noch gar nicht im Labor«, sagte Friebe. »Damit erzählen Sie mir nichts Neues«, sagte Engel unwillig. »Soll der letzte Versuch abgebrochen werden?« fragte Friebe. 327
»Vielleicht«, sagte Henry Engel gedehnt, »ist es wirklich der letzte Versuch.« Und entschlossen fügte er hinzu: »Warum sollen wir uns damit beeilen! Was wir bisher getan haben, scheint mir mehr als ausreichend zu sein. Wenn Europa ausradiert werden sollte, können wir in dem Bewußtsein zu Asche zerfallen, daß auch wir unseren Teil dazu beigetragen haben …« Friebe murmelte irgend etwas, das wie »wenn nicht – dann eben nicht« klang und ging davon. Als er an Constance vorüberkam, machte er eine Geste der Resignation. Constance Schubert ging langsam, mit leisen Schritten, auf Engel zu. Henry schien sich intensiv mit seiner Lektüre zu beschäftigen. Sie betrachtete ihn mit liebevoller Nachsicht. Er glich einem Bauern, der sein Tagewerk vollbracht hat – er war ein gedrungener Mann, der weiß, wie Pferde gebändigt werden, und der es gewohnt ist, mit prüfenden Augen den Horizont abzutasten, um das kommende Wetter zu bestimmen. Der Anblick dieses schwerblütigen Mannes, der immer dann am gelassensten erschien, wenn er schwere persönliche Krisen durchstand, erweckte in ihr den Wunsch, ihm wie einst nahezustehen. Sie spürte das Verlangen, wieder seine nahezu uferlose Heiterkeit zu erleben, seine jugendliche Unbekümmertheit und seinen gelegentlich überraschend durchbrechenden Hang, knabenhaft albern zu sein. Die wilde Freude an Zynismen aber, die bei ihm in letzter Zeit immer häufiger durchbrach, beunruhigte sie sehr. »Es wäre bedauerlich«, sagte sie leise, neben ihm stehenbleibend, »wenn ich die Veranlassung dafür wäre, daß du keine Freude an deiner Arbeit findest.« Er sah, nach kurzem Überlegen, zu ihr hoch und sah 328
sie offen an. »Wenn das so wäre«, sagte er mit Nachdruck, »dann würde auch ich das bedauerlich finden.« »Früher«, sagte sie, sich auf die Lehne seines Liegestuhles setzend, »hat dich meine Anwesenheit niemals von deiner Arbeit abgehalten und bin ich hier nicht das einzig störende Element in deiner Welt?« »Auf dieser Terrasse«, sagte er, »befinden sich ein Dutzend Stühle.« Constance war nicht im geringsten gekränkt, vielmehr nahm sie an, daß diese Schroffheit seinem Verlangen entsprach, ihr nicht allzu deutlich seine Sympathie zu zeigen – mehr als das: seine Zuneigung, die durch nichts erschüttert werden konnte. Denn, so folgerte sie nur zu gern, hätte er sonst hier gelebt, ohne sich eine Frau, eine Nachfolgerin für sie, anzuschaffen? Wenn er das gewollt hätte – er würde auch das gekonnt haben. Für Frauen, die heiraten wollten, war er ideal – und welche Frau wollte nicht heiraten? Sie stieß, fast burschikos, gegen seinen Arm, löste sich dann von ihm und setzte sich in einen Stuhl, der in der Nähe stand. Sie lehnte sich weit zurück, dehnte sich und atmete genußvoll ein. »Hier möchte ich bleiben«, sagte sie unbekümmert, gelöst und glücklich. »Für immer!« »Es besteht kaum die Möglichkeit, daß ich dieses Haus Michael Reiners überlasse«, sagte er. »Auch Wolf Beck hätte es nicht kaufen können – ganz abgesehen davon, daß ich mit ihm niemals ein Geschäft machen würde.« »Verkaufst du es mir?« fragte Constance verspielt. »Dir würde ich es nicht einmal schenken«, sagte er heftig. »Also beunruhige ich dich doch!« stellte Constance zufrieden fest. 329
Henry Engel klappte sein Buch zu, richtete sich auf und sah sie abweisend an. »Constance«, sagte er gemessen, »ich möchte nicht gerne wiederholen, was ich dir schon zweimal mit der gebotenen Deutlichkeit gesagt habe: du bist mein Gast, weil mich meine Freunde darum baten – nicht etwa, weil ich das Verlangen habe, alte, längst abgeklungene Romanzen zu neuem Leben zu erwecken.« »Wirklich nicht?« fragte Constance naiv. »Unter keinen Umständen!« rief Henry Engel heftig; und es schien, als müsse er sich ihrer erwehren. »Warum kannst du denn nicht arbeiten?« wollte Constance nunmehr wissen. »Ich kann arbeiten – ich will aber nicht! Ich will nicht – verstehst du? Mit dir hat das gar nichts zu tun. Du störst mich nicht mehr als ein blühender Baum in meinem Garten. Oder denkst du etwa, daß ich Monate voller Unruhe auf dich gewartet habe – und daß ich jetzt, da du endlich wieder da bist, kurz davor bin, meinen Verstand zu verlieren?« »Dein Herz wiederzuentdecken, Henry«, korrigierte ihn Constance. »Quatsch!« rief Henry Engel grob und erhob sich. »Ich empfehle dir, dein Gedächtnis ein wenig aufzufrischen. Als wir uns damals getrennt haben, geschah es auf deinen Wunsch – ich sagte nicht: es war deine Schuld. Wir waren uns einig: die tiefste Zuneigung läßt sich nicht erzwingen, du vermochtest sie nicht aufzubringen, ich konnte sie nicht hervorzaubern – und deshalb gingen wir auseinander. Aber doch nicht, um bei passender Gelegenheit das alte Spiel wieder aufzunehmen!« »Und wenn das alles damals ein Irrtum war?« »Meine liebe Constance«, sagte Henry Engel 330
überlegen, denn es war ihm gelungen, einige Distanz zurückzugewinnen. »Langsam haben wir uns kennengelernt – ich weiß genau, was mit dir los ist. Ich kenne dein Anlehnungsbedürfnis und deinen Hang zur angeblichen Geborgenheit, unter der du im Grunde nichts anderes verstehst, als wohltuende Bettwärme – Wärme nur, damit deine Kälte ein wenig gemildert wird, doch nicht etwa durch das Feuer der Leidenschaft. Denn das schaffst du nie.« »Nur weiter«, sagte Constance fast tonlos; ihr edles Gesicht sah tief erschreckt aus – was aber, zu ihrer Verwunderung, nicht den erwarteten Eindruck auf Henry Engel machte. »Nimm keine Rücksicht auf mich – du hast es ja nie getan.« »Ich habe bisher nichts anderes getan!« widersprach Henry mit Kraft. »Aber ich werde es niemals mehr tun. Denn es ist ja nicht so, daß du keine Rücksichtnahme verdienst – wahr ist vielmehr, daß sie dir schadet! Und ich werde dir in Zukunft nichts mehr ersparen, das versichere ich dir. So! Und jetzt gehe ich ins Labor – aber nicht, um dort zu arbeiten. Ich will nur in Ruhe mein Buch weiterlesen.« Martins Vater arbeitete in Sonneberg mit seinen Gesinnungsgenossen in der Turnhalle, die ihm von der Kreisleitung der SED für seine Aufgabe zur Verfügung gestellt worden war. Sie waren unentwegt tätig – doch nicht gerade im Sinne ihrer Auftraggeber. »Das ist der beste Witz seit langem!« erklärte der Alte mit revolutionärem Schwung. »Wir organisieren hier Streikkomitees – und die bestreikt werden sollen, helfen uns noch dabei.« Seine Freunde lachten; aber dieses Lachen klang grimmig und rauh. Sie spürten genau, daß sie sich in ein 331
Abenteuer eingelassen hatten. Aber die Hoffnung auf die Brüder im Westen war groß. Ihre Tarnung schien ihnen vollkommen. Ein Teil von ihnen war dabei, die geforderte Puppenfassade entstehen zu lassen. Teile des Gerüstes wurden zusammengeschweißt. Einer von Martins Entwürfen für seine Plastikpuppe wurde mit Hilfe eines Storchschnabels vergrößert, dann in Quadrate eingeteilt, abermals vergrößert und auf riesige Pappflächen übertragen. Die Höhe der Puppe sollte zwölf Meter betragen. Die SED-Kreisleitung lieferte mit staunenswerter Großzügigkeit alles, was angefordert wurde: Stahlrohre, Papierrollen, Pappflächen, Leinwandballen, Farben, Lacke, Leime. Martins Vater war versucht, über soviel ungeahnte Leistungsfähigkeit Respekt zu empfinden. Doch dafür fand er kaum Zeit. Denn während ein Teil seiner Gesinnungsfreunde an der Puppenfassade arbeitete, stellten andere, ein Rohr unter den Arm geklemmt oder einen Farbtopf in der Hand, die Verbindung mit den Sympathisierenden her, die in verschiedenen Betrieben tätig waren. Die volkseigene Porzellanfabrik würde fast geschlossen mitmachen, ein treuhänderisch verwaltetes Transportunternehmen ebenfalls, und Verlaß war auch auf die Belegschaft der Hausgerätefabrik. »Wie ist es mit den Stadträten?« fragte einer. »Das sind doch nicht alle Kommunisten! Vielleicht könnten wir über den einen oder anderen an die Stadtverwaltung heran?« »Die sind zu schlau, um noch ehrlich zu sein«, entschied Martins Vater ablehnend. »Die sind entweder in der Partei oder gar nichts, oder 332
so etwas wie sozialistische Kapitalisten. Sie werden keinen Finger für uns krumm machen – was wollen sie dabei schon gewinnen? Und die haben in den ganzen zehn Jahren nicht umgelernt. Ich sage euch nur das eine: ohne Hausbesitzer!« Zwei beschäftigten sich damit, Zusatzstücke für bereits bestehende Spruchbänder anzufertigen. Sie glaubten, eine ebenso primitive wie geniale Lösung gefunden zu haben. Sie operierten einfach mit dem Wörtchen »nicht«. Verkündete so ein Plakat etwa: Wer den Frieden wählt, wählt die Deutsche Demokratische Republik! würde das gleiche Plakat nach ihrer Bearbeitung verkünden: Wer den Frieden wählt, wählt die Deutsche Demokratische Republik nicht. Der auftraggebende Funktionär, vom Beobachtungsposten rechtzeitig angekündigt, erschien mit zwei Mitarbeitern und besichtigte das gut fortschreitende Werk. Was er sah, schien ihn zu befriedigen. »Es geht offenbar voran«, sagte er anerkennend. »Das kann man wohl sagen«, versicherte der Alte zufrieden. »Und selbstverständlich machen wir Überstunden.« »Sehr gut«, sagte der Funktionär. »Wir schieben alle freiwillig ein paar Extraschichten – für den Frieden!« Der Kommandeur des in Hof stationierten und durch die Einheit des Hauptmanns Müller-Marburg verstärkten Grenzschutzbataillons hatte in langen Dienstjahren vielfältige Erfahrungen gesammelt. Er kannte die Wege, 333
die Meldungen zu gehen pflegten, und auch die Reaktionen derjenigen, in deren Hände solche Meldungen gelangten: abschieben nach oben, absichern nach unten. Der Kommandeur des verstärkten Grenzschutzbataillons gab erfahrungsgemäß seinem Vorgesetzten, dem Kommandeur des Grenzschutzkommandos Süd, eine Zigarrenlänge Zeit – also etwa fünfunddreißig Minuten. Daher zündete er sich, nachdem seine Meldung abgegangen war, eine seiner Zigarren, Marke »Weifenstolz, II. Wahl«, an. Der Major vertrieb sich die Wartezeit damit, daß er, mit der Soldatenzeitung unter dem Arm, austreten ging. Hierauf bearbeitete er einen Beförderungsvorschlag und blätterte sodann, während die Zigarre niederbrannte, in den Richtlinien Über das Verhalten im Atomkrieg. Er las: »Die radioaktive Strahlenwirkung der Atomkampfmittel wird meist übertriebener dargestellt, weil sie unheimlicher erscheint und schwerer zu begreifen ist als Hitze- oder Druckwirkung.« Er hatte seine Zigarre zu Ende geraucht und betrachtete kurz den übriggebliebenen Rest, von dem eine müde, dünne Rauchfahne aufstieg. Das Telefon klingelte. Der Major meldete sich. Der Kommandeur des Grenzschutzkommandos Süd, ein Oberst, verlangte ihn zu sprechen. Der Oberst: »Ich habe da soeben Ihre Meldung gelesen, Herr Major. Ich finde, das ist eine verdammt unangenehme Geschichte. Da wollen also diese Leute morgen früh einen Demonstrationsmarsch organisieren und ausgerechnet an der Zonengrenze aufkreuzen, noch dazu in unserem Abschnitt. Mit Hilfe der Plauener Polizei! Am Ende rollen die womöglich noch mit Lastwagen an – 334
unter Polizeischutz. Aber wie sich die Grenzpolizei drüben verhalten wird, danach haben diese Idealisten natürlich nicht gefragt!« Der Major: »Ist nicht, Herr Oberst, unter Umständen sogar damit zu rechnen, daß drüben die Grenzpolizei mit regulären Truppen verstärkt wird?« Der Oberst: »Ich bin grundsätzlich auf alles gefaßt. Jedenfalls scheint sich da eine verfluchte Sauerei anzubahnen. Was machen denn Ihre Kompanien?« Der Major: »Sie haben, verstärkt durch die Einheit des Hauptmanns Müller-Marburg, seit heute früh die befohlenen Räume bezogen – wie bereits gemeldet.« Der Oberst: »Das brauchen Sie nicht zu betonen, Herr Major – ich weiß, was mir gemeldet worden ist. Jedenfalls werde ich mir Ihren Abschnitt heute abend noch ansehen.« Der Major: »Um welche Zeit, Herr Oberst?« Der Oberst: »Das werden Sie schon rechtzeitig erfahren – wenn ich das für richtig halte. Was jedoch diese unerfreuliche Geschichte mit den Demonstranten anbelangt, so werde ich deshalb mit Bonn sprechen. Das eine kann ich Ihnen schon jetzt sagen, Herr Major: Finger weg - Abstand nehmen – raushalten! Soll doch der Zoll die Demonstranten empfangen!« Der Major: »Jawohl, Herr Oberst!« Damit war dieses Telefongespräch beendet. Der Oberst hatte also die Entscheidung Bonn zugeschoben und sich bei dem ihm unterstellten Kommandeur abgesichert. Jetzt war wieder der Major am Zug. Er hob den Hörer ab und sagte: »Eine Verbindung mit Hauptmann Müller-Marburg.« Wolf Beck hatte sich in sein Hotelzimmer begeben. Er 335
wollte ungestört noch ein paar abschließende Telefongespräche führen, dann sich rasieren und umziehen. Er hatte mit Ruth Winters vereinbart, den Abend außerhalb der Stadt zu verbringen. Während er das Oberhemd wechselte, klopfte jemand an die Tür. Er begab sich unwillig in das Badezimmer und rief: »Herein.« Bernhardt betrat mit verbindlichem Lächeln das Appartement und näherte sich mit großer Selbstverständlichkeit Beck. »Ich erinnere mich nicht«, sagte Wolf unfreundlich, »daß wir miteinander verabredet waren.« »Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, sagte der Mann. »Aber ich glaubte, daß Ruth Sie bereits über mich informiert hat.« »Sie sprechen von Frau Winters?« fragte Wolf Beck mit lauernder Aufmerksamkeit. Er hatte das Oberhemd in Eile in seine Hosen gesteckt und stand nun, in Hausschuhen, vor seinem betont eleganten Besucher. »Ruth und ich«, sagte jetzt Bernhardt vertraulich, »sind sozusagen gute alte Freunde.« »Das ist nicht meine Angelegenheit«, sagte Wolf Beck reserviert. »Ruth hatte die Absicht, sich für mich zu verwenden.« »Das ist die Angelegenheit von Frau Winters«, erklärte Wolf mit zunehmender Befremdung. »Natürlich«, versicherte der Mann lächelnd, trotz Wolfs deutlicher Ablehnung, »kann ich mir lebhaft vorstellen, daß Sie andere, wichtigere, intimere Dinge zu besprechen hatten.« »Das ist unsere Angelegenheit«, sagte Wolf; er war bemüht, seinen Besucher zu irritieren. »Gewiß«, gab Bernhardt geschmeidig zu. 336
»Werden Sie deutlich«, forderte Wolf Beck ihn auf. »Nun«, sagte der Dekorative entschlossen, »ganz wie Sie wollen. Meine, ich darf wohl sagen: sehr tiefgehende Freundschaft zu Ruth brachte mich auf den Gedanken, auch Ihnen meine Dienste anzubieten.« »Was verstehen Sie darunter?« fragte Wolf und hob ein wenig das Kinn. Das war eine für Beck sehr bezeichnende Geste, mit der sich seine gefürchtete Kampfbereitschaft anzukündigen pflegte; sein Besucher kannte zu seinem Unglück dieses alarmierende Signal nicht. »Ruth und mich«, sagte Bernhardt, der betörend zu lächeln glaubte, »verbindet vieles – es fällt mir sehr schwer, mich von ihr zu trennen. Aber ich will natürlich ihrem Glück nicht im Wege stehen.« »Dann machen Sie doch, daß Sie fortkommen«, sagte Wolf gelassen. »Sie werden, so hoffe ich zuversichtlich, meine Dienste doch nicht zurückweisen wollen!« Bernhardt versuchte seine sicher wirkende Haltung zu wahren. Wolfs ablehnende Gleichgültigkeit, die er für Raffinesse hielt, begann ihm ein wenig auf die Nerven zu gehen. »Sie legen doch Wert darauf, Herr Beck, eine Frau mit einwandfreiem Ruf zu ehelichen – und es könnte doch mehr als peinlich für Sie sein, wenn sich herausstellen sollte, daß nahezu das Gegenteil der Fall ist. Ihr großes Ansehen in der internationalen Geschäftswelt …« Der Besucher, der bei seinen letzten Sätzen vergessen hatte, unentwegt verbindlich zu lächeln, kam bis hierher und nicht weiter. Wolf hatte sich in einen Sessel fallen lassen und lachte schallend. Und dieses Gelächter klang durchaus echt. »Mann!« rief Wolf aus. »Sie wollen mich doch nicht 337
etwa erpressen!« »Davon«, beeilte sich der Mann zu sagen, »kann keine Rede sein!« Wolf brach sein Gelächter überraschend plötzlich ab. Fast übergangslos schaltete er auf kalte Sachlichkeit. Er stand auf und sagte: »Für wen halten Sie mich eigentlich? Ich bin weder ein dummer Junge noch ein ahnungsloser alter Trottel. Ich habe Lust, Ihnen in den Hintern zu treten, aber Sie sind nicht einmal das wert. Ich werde später den Hausknecht damit beauftragen.« »Erlauben Sie, bitte!« »Ich erlaube Ihnen gar nichts! Wenn ich mich überhaupt noch mit Ihnen abgebe, dann nur, um Frau Winters einige Peinlichkeiten zu ersparen. Hören Sie mir mal gut zu, Jüngling! Eine Frau von dreißig Jahren ist selbstverständlich kein unbeschriebenes Blatt mehr – schon gar nicht, wenn es sich um eine schöne, temperamentvolle Frau handelt. Für so blöd, daß ich in der Vergangenheit einer derartigen Frau herumzuschnüffeln begehre, dürfen Sie mich nicht halten! Was gewesen ist, interessiert mich nicht. Daß allerdings auch ein Exemplar wie Sie zu dieser Vergangenheit gehört, ist fast peinlich – aber Dummheiten machen wir schließlich alle.« »Sie mißverstehen mich – gründlich.« »Dann will wenigstens ich unmißverständlich sein: raus hier, Sie Lackaffe!« 17.00 Uhr. Fontainebleau. Stabsbesprechung im NATO-Hauptquartier. Anwesend: der Oberbefehlshaber, die Befehlshaber, der Vertreter des NATO-Rates; dazu der Abwehrchef, Sachbearbeiter, Spezialisten, Adjutanten, zwei Dolmetscher, ein Stenograph. Kühle Sachlichkeit beherrschte die Atmosphäre. Was 338
gestern noch »außerordentliche« Sitzung genannt wurde, war heute schon eine Routine-Stabsbesprechung. Von Spannung oder gar von nervöser Unruhe konnte kaum noch die Rede sein. Der französische General behandelte den deutschen General, der die Landstreitkräfte in Mitteleuropa kommandierte, nahezu kameradschaftlich aufmerksam. Die wichtigsten Ausführungen während dieser Stabsbesprechung hatten folgenden Wortlaut: Der Oberbefehlshaber: Meine Herren! Die Entwicklung in Berlin und in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands hat im Laufe des Tages immer gefährlichere Formen angenommen. Ich habe die Zustimmung des NATO-Rats erhalten, das Stichwort »Löwe« auszugeben. Damit war Alarmzustand für alle NATO-Einheiten befohlen. Darüber hinaus wurden durch dieses Stichwort alle nationalen Unterstellungsverhältnisse aufgehoben. Die vereinigte westliche Welt stand im Zentrum des Abendlandes aktionsbereit. Der Oberbefehlshaber, ein amerikanischer General mit den vertrauenerweckenden, intelligenten Gesichtszügen von uniformierten Diplomaten, verriet mit keiner Bewegung, mit keinem Wort, ob er in dieser Stunde Triumph oder Verantwortung fühlte. In diesem »historischen Augenblick« erhielten die Vereinigten Armeen von Europa zum erstenmal Gelegenheit, ihren Wert praktisch zu beweisen. Der deutsche Befehlshaber der Landstreitkräfte vermied es, irgend jemanden von den anwesenden Offizieren anzusehen. Der General mit dem freundlichen, nachdenklichen Professorengesicht, der so erfreulich wenig dem Typ des Militärs preußischer Prägung 339
entsprach, der im letzten Weltkrieg eine Entschlossenheit bewiesen hatte, die viele selbst in diesem Hauptquartier für rücksichtslos hielten, schien die Ankündigungen des Oberbefehlshabers ohne Genugtuung zu vernehmen. Er konnte die Lehren, die das Schicksal Deutschland und ihm erteilt hatte, nicht vergessen. Der Oberbefehlshaber wandte sich nach einer kleinen Pause direkt an den deutschen General. Der Oberbefehlshaber: Herr General. Auf Ihren Schultern ruht in den nächsten Stunden die Hauptlast der Verantwortung. Unsere Situation ist im Augenblick geradezu paradox. Wir wissen zwar, daß sich die sowjetischen Truppen an der gesamten Front in Alarmzustand befinden. Wir haben auch Informationen darüber, daß in den weißrussischen und ukrainischen Militärbezirken Truppenverschiebungen in Richtung auf die sowjetische Westgrenze begonnen haben. Wir wissen schließlich auch, daß die Armeen der Warschauer-Pakt-Staaten dem sowjetischen Oberkommando West unterstellt worden sind. Offen ist nur die Frage, wie sich die polnische Armee verhalten wird. Aber dieser Punkt ist unerheblich. Denn nach allen Informationen ist die sowjetische Regierung bestrebt, einen Krieg zu vermeiden. Und die Polen sind nicht gewillt, die Sowjetunion abermals herauszufordern. Unsere Situation ist deswegen paradox, weil wir uns nicht darauf einstellen, jenen potentiellen Gegner zu erwarten, auf den wir uns seit Jahr und Tag vorbereitet haben, sondern weil wir alles daransetzen müssen, jede Berührung mit diesem Gegner zu vermeiden. Der Oberbefehlshaber befaßte sich nach dieser mehr theoretischen Abhandlung über das, was er als »paradox« bezeichnete, mit der augenblicklichen Lage. 340
Er widmete sich ausführlich den Truppenbewegungen in der Tschechoslowakei. Der Abwehrchef unterstützte die Ausführungen des Oberbefehlshabers durch Agentenmaterial. Demnach verfolgten diese Truppenbewegungen lediglich den Zweck, die Grenze nach Polen und nach der Sowjetunion abzuschirmen, und zwar, wie sich der Abwehrchef ausdrückte, »gegen das Überspringen des revolutionären Funkens«. Abschließend, wörtlich: Truppenbewegungen, die Angriffsabsichten auf das NATO-Territorium erkennen lassen, sind nicht festzustellen. Dann sagte der Oberbefehlshaber über die »Lage in der Sowjetzone«, von der er einleitend offen erklärte, daß sie »stündlich an Gefahren« zunehme, laut Protokoll: Die Streikwelle hat jetzt fast alle Städte erfaßt. In Halle, Magdeburg und Schwerin hat sich dasselbe wie in Jena, abgespielt. Einige Einheiten der Volkspolizei und der Volksarmee sind zu den streikenden Arbeitern übergegangen, so daß an den genannten Orten ein regelrechter Bürgerkrieg im Gange ist. Das Oberkommando der Volksarmee hat vor kurzem die sowjetischen Besatzungstruppen um Hilfe gebeten. Es sind jetzt noch dreieinhalb Stunden bis zur Dunkelheit, und daher dürfte auch für diesen Tag der Frieden noch einmal gewonnen sein. Wir können aber mit Sicherheit damit rechnen, daß morgen im gesamten Gebiet der Sowjetzone offener Aufruhr herrscht. Die Sowjets haben der von uns vorgeschlagenen Begegnung zwischen dem amerikanischen Stadtkommandanten von West-Berlin und dem mit ähnlichen Befugnissen im Ostsektor eingesetzten russischen General zugestimmt. Wir werden vielleicht in 341
Kürze mehr über die sowjetische Haltung wissen. Ich werde Sie über den Ausgang dieser Begegnung informieren. Ende der Stabsbesprechung des NATOHauptquartiers. Fontainebleau: 17.50 Uhr. Die Puppen in Nürnberg waren schuld daran, daß sich Martin länger in dieser Stadt aufhielt, als er zuvor beabsichtigt hatte. Denn einige Puppen waren wirklich ungewöhnlich – und die Verkäuferin, die gleichzeitig Inhaberin dieses Spielwarengeschäftes war, kannte sich in der Materie gut aus. Als Fachleute unterhielten sie sich hier so angeregt – daß sie sich darüber hinaus auch sympathisch fanden, konnte sicherlich auch auf das gemeinsame Fachinteresse zurückgeführt werden. »Noch eine Tasse Kaffee?« fragte das Mädchen. »Nein, nein«, sagte Martin, »ich muß jetzt wirklich weiter.« »Aber erst, nachdem Sie die neuen französischen Puppen gesehen haben«, sagte sie und füllte seine Tasse mit angenehm duftendem Kaffee nach. Martin sah sich aus dreifachem Anlaß zu einer weiteren Ausdehnung seines Aufenthalts verführt: der Kaffee, für ihn ein seltener Genuß, war ungewöhnlich gut; der Anblick der französischen Puppen schien ihm, als Fachmann, verlockend; das Mädchen verdiente seine Aufmerksamkeit. Dieses Mädchen wirkte trotz des Arbeitskittels kraftvoll und geschmeidig; ein sportlicher, moderner Typ mit künstlerischen Ambitionen. »Es ist wirklich schade«, sagte das Mädchen, »daß Sie so schnell weitermüssen.« 342
»Ich bedauere das auch.« »Vielleicht besuchen Sie mich wieder einmal – wenn Sie hier vorbeikommen.« »Das ist nicht ausgeschlossen.« »Ich würde mich sehr darüber freuen«, sagte sie und fügte, nach kurzer Pause, hinzu: »Bekanntschaften wie die unsere sind ganz selten – es gibt wohl nur ganz wenige Erwachsene, die etwas von Puppen verstehen und sich gerne mit ihnen beschäftigen.« Martin stimmte von Herzen zu. Die Zeit war in diesem kleinen Geschäft schnell und angenehm vergangen. Das war ein richtiges kleines Reiseabenteuer, und er würde es Maria ausführlich erzählen – zurückhaltend natürlich, um sie nicht zu beunruhigen. »Kann ich jetzt die französische Puppe sehen?« fragte Martin unruhig, da die Zeit drängte. »Nein«, sagte das Mädchen lächelnd. »Nicht heute – ich darf Sie wohl wirklich nicht länger aufhalten. Sparen wir uns also die französischen Puppen bis zu Ihrem nächsten Besuch auf.« Martin verabschiedete sich. Sie begleitete ihn vor die Tür und sah ihm zu, wie er sein Fahrrad bestieg. Er winkte kurz und fuhr davon. Sie hob ein wenig die Hand und sah ihm nach. Martin verließ eilig Nürnberg und fuhr nach Süden, auf Schwabach und Roth zu. Die Hitze des Tages lag immer noch prall auf der Straße. Martin versuchte, die Puppen zu vergessen; er dachte an Maria – und er war sicher, daß auch Maria an ihn dachte. Und so war es auch. Marias Gedanken beschäftigten sich mit Martin. Sie fuhr nach Norden, auf Roth und Schwabach zu. 343
Der Mann, der an einem fast leeren Schreibtisch saß, schien unbeweglich zu sein. Er erinnerte an eine Bulldogge. An der Wand hinter ihm hing die Flagge der USA. Auf seinem Schreibtisch befanden sich zwei Telefone, eine Sprechanlage, ein Ständer mit Miniaturflaggen, die Air-Force-Symbole trugen. Vor ihm, in mehr als zwölf Meter Entfernung, fast die ganze Wand einnehmend, hing eine Spezialkarte. Der Mittelpunkt dieser Spezialkarte war Amerika. Genauer: das Territorium der Vereinigten Staaten. Von dort aus umspannten Kreise den ganzen Erdball. Diese Kreise waren Sicherheitszonen. Und jetzt leuchtete auf dieser Spezialkarte im Osten, inmitten der ersten und zweiten Sicherheitszone, eine Lampe auf, verlosch wieder, leuchtete erneut auf. Ein gedämpfter Summerton war gleichzeitig zu vernehmen. Der Mann am Schreibtisch schaltete, fast ohne sich zu bewegen, denn seine Hand lag bereits unmittelbar neben der Schalttaste, die Sprechanlage ein. Er sagte: »Vollzug melden.« Dieser Mann war der Kommandierende General der strategischen Luftkommandos. Seine »Vollzugsmeldung« ging an das Pentagon in Washington. Dort: an den Vorsitzenden des ständigen Rates des amerikanischen Generalstabschefs. Seine Vollzugsmeldung besagte, daß sich nunmehr ein Drittel der strategischen Bomberflotte in der Luft befand. Nachdem die NATO das Stichwort »Löwe« ausgegeben hatte, ordnete das amerikanische Oberkommando Alarmstufe I für das strategische Luftkommando an. Zwischen »Löwe« und dem Start der ersten Maschine der Bomberflotte lag eine Zeitspanne von vierzehn Minuten. 344
Von jetzt an befand sich also ein Drittel der strategischen Bomberflotte ständig in der Luft. Alle diese Flugzeuge waren mit ausgesuchten, langerprobten Soldaten besetzt. Die Funksprechverbindungen mit ihnen waren technisch nahezu vollkommen. Der Kommandierende General konnte mit der Besatzung jedes einzelnen Bombers, die er zu sprechen wünschte, innerhalb einer Minute von seinem Schreibtisch aus verbunden werden. Alle diese Flugzeuge hatten Atombomben an Bord. Peter stand in der Bahnhofshalle am Zoo und wartete auf Isolde. Die Menschen umfluteten ihn, drängten ihn zur Seite. Immer neue strömten auf ihn zu. Er war ein wenig unruhig, obgleich er nicht den geringsten Grund dafür zu haben glaubte. Immerhin stand er zum erstenmal vor einer langen und weiten Reise, die ihn unter Umständen bis nach Afrika führen konnte – zumindest bis nach München. Er versuchte, sich die Wartezeit dadurch zu verkürzen, daß er die Titelseiten der an einem Kiosk ausgehängten und ausgelegten Illustrierten betrachtete. Doch das lenkte ihn nicht ab, denn er glaubte überall das gleiche Mädchen zu sehen – und es war mit Isolde nicht zu vergleichen. Das empfand er besonders, als er seine kleine Freundin jetzt auf sich zukommen sah. »So«, sagte Isolde, »das wäre geschafft. War aber gar nicht leicht.« »Jedenfalls hast du es geschafft«, sagte Peter anerkennend. »Und das war auch von dir zu erwarten. Kann ich meine Fahrkarte haben?« »Ich behalte alle«, sagte Isolde entschieden, »dann gehen sie nicht verloren.« »Ich will sie nur einmal sehen.« 345
Isolde nickte und überreichte Peter die für ihn gekaufte Fahrkarte. Er betrachtete sie genau und fand tatsächlich dort das Wort »München« – das erfüllte ihn mit Erregung, denn er war bisher noch nie aus Berlin hinausgekommen. Und während sich Isolde in der Spiegelscheibe einer Zigarettenreklame prüfend betrachtete und sich die Haare zurechtschob, versuchte sich Peter dieses München vorzustellen: riesiger Maßkrug, eine Kirche, deren zwei Hauben wie umgestülpte Kupferkessel aussahen; ein krummbeiniger Dackel, der einem knorrigen Mann gehörte, der nur aus Schnauzbart, Lederhose und Waden zu bestehen schien. »Gut«, sagte Isolde, die die Korrektur ihrer Haartracht beendet hatte, »gut, daß wir deine Fahrkarte erst jetzt gekauft haben.« »Ich konnte das Geld nicht früher zusammenkriegen«, versicherte Peter. »Ich sage dir doch: es ist gut so«, belehrte ihn Isolde. »Die Leute scheinen nämlich ganz wild danach zu sein, zu verreisen. Da machen die Beamten sich wieder einmal wichtig: sie geben Platzkarten aus!« »Hast du auch welche bekommen?« fragte Peter. »Klar«, sagte Isolde. »Für den Zug, der morgen vormittag um neun Uhr sieben hier abgeht.« »Reisen wir denn heute nicht mehr?« fragte Peter enttäuscht. Isolde betrachteter Peter mit Nachsicht. »Alle Züge vor morgen neun Uhr sieben waren bereits belegt – so verrückt sind die Leute. Aber so haben wir wenigstens noch einen ganzen Abend für uns.« »Und eine ganze Nacht«, sagte Peter, ohne weiter 346
nachzudenken. »In der wir uns einmal gründlich ausschlafen können«, ergänzte Isolde sachlich. Die Besprechung zwischen dem zum »alliierten Gouverneur« ernannten amerikanischen Stadtkommandanten von West-Berlin und dem russischen Panzergeneral, dem die Funktion eines sowjetischen Stadtkommandanten übertragen worden war, fand um 19 Uhr statt. Die beiden Gesprächspartner schritten, von Adjutanten und Beratern flankiert, aufeinander zu. Sie nannten ihre Namen und deuteten dabei zugleich eine Verbeugung an. Sie vermieden es, sich die Hände zu reichen. Es war, trotz der beginnenden Dämmerung, drückend heiß. Die Gesichter der Militärs glänzten. Bei einem der Berater, der offensichtlich weitaus mehr Fett angesetzt hatte, als das bei Soldaten allgemein üblich ist, drang der Schweiß von den Achselhöhlen durch den Uniformrock. Dennoch stellte der Adjutant des amerikanischen Generals in Gedanken fest: überaus frostige Atmosphäre. Die Generale setzten sich an einem vorbereiteten Tisch einander gegenüber. Der sowjetische General begann, kaum daß sie Platz genommen hatten, im harten Russisch einige Sätze zu sprechen, die er offenbar von dem Konzept, das vor ihm lag, ablas, wenn es auch den Anschein hatte, als trage er sie in freier Rede vor. Er wird seine einleitenden Worte auswendig gelernt haben, sagte sich der amerikanische General und tat, als höre er aufmerksam, höflich und gelassen zu. Er verstand kein Wort von dem, was sein Gesprächspartner sagte. Er wußte lediglich, was »njet« hieß; und damit waren seine russischen Sprachkenntnisse bereits 347
erschöpft. Dennoch versäumte er nicht, zweimal sinnend, wenn auch nicht zustimmend, vor sich hin zu nicken. ‘ »Um Hörfehler zu vermeiden«, sagte der amerikanische General, nachdem ihn die erste Wortkaskade übersprüht hatte, »bitte ich um eine möglichst wortgetreue Übersetzung.« Der sowjetische General nickte zustimmend, doch mit spürbarer Ungeduld. Sein Dolmetscher beeilte sich; er sagte: »Der Herr General hat zunächst festgestellt, daß die Vertreter der westlichen Alliierten Mitschuld an den Zusammenstößen des gestrigen und des heutigen Tages tragen.« »Fragen Sie, bitte, Ihren Herrn General«, warf der Amerikaner ein, »ob es sich bei dieser Behauptung um seine persönliche Meinung handelt oder um die seiner Regierung.« Der Dolmetscher zögerte ein wenig und übersetzte dann diese Frage. Die Antwort kam schnell und sehr heftig. Der Dolmetscher sagte: »Der Herr General erklärte: Meine persönliche Meinung ist völlig nebensächlich – im übrigen deckt sie sich genau mit der meiner Regierung, in deren Auftrag ich hier bin und deren Weisungen ich ausführe.« »Ich nehme es zur Kenntnis«, sagte der amerikanische General. Der Dolmetscher fuhr nunmehr fort, die restlichen Ausführungen des sowjetischen Generals zu übersetzen. Es handelte sich zunächst um zusätzliche Erklärungen, die das bereits Gesagte verstärkten und verschärften. Dann aber sagte er: »Schließlich erklärte der Herr General: Wenn es sich herausstellen sollte, daß die westlichen Alliierten ähnliche Zwischenfälle in Zukunft nicht verhindern können, so müsse das sowjetische 348
Oberkommando erwägen, selbst für Ruhe und Ordnung in ganz Berlin zu sorgen.« Das, fand der amerikanische General, war eine unüberhörbar deutliche Drohung, die ihm reichlich unverschämt erschien. Der Amerikaner erwiderte daher unverzüglich, mit Schärfe: »Ich weise diese Drohung auf das entschiedenste zurück. Die westlichen Verbündeten haben eine Garantie für die Sicherheit West-Berlins übernommen und werden selbstverständlich ihre Verpflichtungen erfüllen. Ich mache mit Nachdruck darauf aufmerksam, daß jede Einmischung sowjetischer Organe in West-Berlin die ernstesten Folgen für den Weltfrieden nach sich ziehen muß.« Das übersetzte nunmehr der amerikanische Dolmetscher für den sowjetischen General. Er tat das ein wenig schleppend; die russischen Worte klangen aus seinem Mund weniger guttural als sonst. Die sowjetischen Militärs schienen zu erstarren. Sie schwiegen. Dieses Schweigen hielt an. Auch die Amerikaner sprachen geraume Zeit kein Wort. Die Stille wirkte erdrückend. »Gut!« rief plötzlich der sowjetische General hart und in deutscher Sprache, von der er wußte, daß sie der Amerikaner ebenfalls beherrschte. »Das ist also gesagt, das ist klar. Was jetzt? Können wir nicht trotzdem gemeinsam .. .« »Selbstverständlich!« rief der Amerikaner sofort; er sprach ebenfalls deutsch. »Ich kann mir durchaus vorstellen, daß konkrete Vorschläge für eine gewisse gemeinsame Zusammenarbeit gemacht werden könnten.« Es schien fast, als versuche der sowjetische General 349
zu lächeln; zumindest sah er etwas erleichtert aus. Er holte aus seiner Brusttasche ein Zigarettenetui, öffnete es und wollte hineingreifen. Er zögerte kurz. Dann hielt er, mit weit vorgestreckter Hand, das Etui dem Amerikaner entgegen. Der nahm eine Zigarette. Und die Adjutanten beeilten sich, den Generalen Feuer zu geben. Der Bericht, den der amerikanische General nach Beendigung seiner Besprechung mit dem sowjetischen Stadtkommandanten aufsetzte und dann nach Washington kabeln ließ, endete wie folgt: Nach unseren einleitenden grundsätzlichen Erklärungen einigte ich mich mit dem sowjetischen General sehr rasch, mit gewissen Problemen in Ost- und West-Berlin gleichermaßen zu verfahren. So wird die Ausgangssperre in beiden Teilen der Stadt von abends 18.00 Uhr bis morgens 8.00 Uhr dauern. Sie tritt ab heute abend um 20.00 Uhr in Kraft. Einige weitere Vereinbarungen wurden bezüglich der Stromversorgung, des Luftverkehrs und des Schienenverkehrs getroffen. Auf meine Frage, ob sich noch Einheiten der Volksarmee in Ost-Berlin befinden, antwortete der sowjetische General: »Ich habe keine Anweisung, diese Frage zu beantworten.« Constance Schubert unternahm mit Henry Engel einen Abendspaziergang. Sie schlenderten durch das Fichtenwäldchen, das sich neben der Straße befand, die hinunter ins Tal führte. Ein Duft aus getrocknetem Heu und warmem Harz lag in der Luft. Die brütende Sonne war untergegangen. Keiner von beiden bemerkte den Mann, der hinter einem Baum stand und sie beobachtete. »Du lebst hier in einem Paradies«, sagte Constance und griff nach seinem Arm. »Aber wir«, sagte er, »sind nicht Adam und Eva.« 350
»Bedauerst du das nicht manchmal?« wollte Constance leise wissen; und sie machte vorsichtig den Versuch, sich ihm noch ein wenig mehr zu nähern. Henry wich ihr, einen Baumstumpf umgehend, aus. »Ich will weder so leben wie Adam noch so weise sein wie Moses; ich will nicht Mohammed nachahmen noch Heinrich VIII. – ich will mein Leben leben, solange ich das kann, so gut ich es vermag.« »Und für mich ist wirklich kein Platz darin?« fragte Constance. »Du bist hier«, sagte er abweisend. »Das ist alles – und das muß genügen.« Sie war verändert; er spürte das deutlich. Früher hatte sie niemals auch nur entfernt daran gedacht, in so herausfordernder Weise mit ihm zu spielen. Sie war immer sehr zurückhaltend gewesen, fast tierhaft scheu – sie ließ nahezu teilnahmslos alles über sich ergehen. Oft schien es, als lege sie Wert darauf, wie ein kostbares Bild bewundert zu werden und als unberührt zu gelten. »Warum haben wir uns damals eigentlich trennen müssen?« fragte sie und lehnte sich behutsam an ihn. »Die Landluft scheint dir ausgezeichnet zu bekommen«, sagte er. »Du bist lebhaft geworden. Aber deine Stimmungen pflegen nicht lange vorzuhalten. Wie lange noch – und du bist wieder auf deine Art müde, verträumt und angefüllt mit Sehnsucht nach unerlebten Ereignissen.« »Ich bin wirklich anders geworden«, versicherte sie. »Möglich«, gab er widerstrebend zu. »Wolf Beck ist in diesen Dingen ein ungewöhnlich erfolgreicher Lehrmeister. Für ihn ist das Leben eine große Rechnung – und da stimme ich ihm, mit wenigen Einschränkungen, auch zu. Bei Wolf herrschen klare Verhältnisse. Er gibt 351
und fordert zugleich; er denkt nicht daran, irgend etwas zu verschenken. Und er reagiert hart, wenn er merkt, daß er geprellt wird.« »Ich habe viel bei ihm gelernt«, gab Constance bereitwillig zu. »Ich weiß jetzt, daß auch mir nichts geschenkt wird.« »Aber er hat dich aufgegeben! Er hat das Konto, das deinen Namen trägt, abgeschlossen. Der großzügigste Rechner, den ich kenne, hat dich als auf die Dauer unwägbaren Verlust abgebucht.« »Vielleicht nur, weil ich dich nicht vergessen konnte, Henry.« »Und was ist mit Michael?« fragte Henry Engel, empört über soviel dahintaumelnde, stets erlebnisbereite Unzuverlässigkeit. »Michael ist der beste, gütigste, gutmütigste Mensch, den ich kenne – oftmals so naiv, daß ich ihn nur einen Phantasten nennen kann. Daß soviel heroische Dummheit in einem einzigen Geschöpf überhaupt Platz hat! Er verteidigte die ganze Welt, er glaubt an Europa, er liebt Deutschland – und zu allem Überfluß: er gerät an dich!« »Ihr seid Freunde – er mußte mich kennenlernen.« »So kann sich Freundschaft auswirken!« rief Henry Engel. »Unserem Wolf habe ich dich gegönnt! Wenn einer dir Vernunft beibringen kann, wenn einer den Mut findet, die Glaswände, mit denen du dich umgibst, zu zertrümmern, dann, so habe ich mir immer gesagt, wird er es sein. Aber er gibt auf – und Michael kommt, unser Gralsritter. Der arme Kerl! Vermutlich betet er für dich, auch für Deutschland natürlich – während du dich nicht scheust, einem Zyniker Herztöne zu entlocken.« »Ich muß immer das tun, wozu es mich hinzieht«, sagte Constance und blickte verloren vor sich hin. »Ich 352
kann nichts dagegen machen – und ich will das auch nicht.« »Zum Glück«, sagte Henry Engel schwer, »gehören dazu zwei. Und ich bin bereits vergeben – ich gehöre meinen Freunden.« Michael Reiners begab sich in das Hotelzimmer, in dem sich Charly aufhielt. Charly lag bekleidet auf dem Bett; nicht einmal die Schuhe hatte er abgestreift. Er blätterte in einem amerikanischen Magazin. Diese Tätigkeit schien ihn anzuwidern. »Nichts als Weiber!« rief er Michael Reiners entgegen. »Sich ausziehen – sich fotografieren lassen – sich wieder anziehen, um jemanden zu finden, vor dem sie sich ausziehen können, damit er sie fotografiert! Und wenn sie zugeknöpft sind bis zum Hals – sie wirken dennoch nackt. Alle!« »Kommen Sie, Charly«, forderte ihn Michael Reiners auf, »sehen wir uns Berlin bei Nacht an.« – »Ich bin Bevölkerung!« rief Charly. »Ich habe Ausgangssperre.« – »Wir bekommen einen Passierschein«, sagte Michael Reiners. »Ich habe bereits mit der amerikanischen Kommandantur telefoniert – sie schicken einen Kurier; er kann jeden Augenblick im Hotel eintreffen.« »Dieser Schreibtischsoldat mit seinen halben Maßnahmen kann mir gestohlen bleiben!« rief Charly. »Er sichert sich die nötige Nachtruhe aber morgen geht das Theater wieder von neuem los. Hat er den Regierenden Bürgermeister kaltgestellt, die Sender abgeschaltet, die Politiker in Urlaub geschickt, die Gewerkschaften lahmgelegt, die Regierung in Bonn eine Überlandpartie machen lassen? Nichts davon! Er hat ihnen ein Schläfchen verordnet, damit sie morgen mit frischen Kräften wieder loslegen können. Also: Gute 353
Nacht! Morgen nehmen wir das erste Flugzeug, das aufsteigen darf.« »Wieviel Whisky haben wir getrunken, Charly?« fragte Reiners besorgt. »Nicht genug!« sagte Charly prompt. Reiners betrachtete den Amerikaner mit Zuneigung. Charly war nicht betrunken – er war nicht einmal angetrunken. Er war enttäuscht und daher wütend. Er war unbeherrscht, weil er seine große Besorgnis verbergen wollte. Michael Reiners schaltete den Radioapparat an, der an Charlys Bett stand. Der Amerikaner betrachtete diese Tätigkeit mit leicht zusammengekniffenen Augen. »Sie wollen doch nicht etwa versuchen, mich zu erheitern, Doktor – das schaffen Sie mit diesen Nachrichten nicht, denn ich habe Phantasie genug, um jetzt schon zu wissen, was der Leierkasten tönen wird.« Die erste Nachricht, die sie hörten, lautete: In West- und Ost-Berlin besteht seit 20.00 Uhr Ausgangssperre für die Bevölkerung. Der Verkehr ruht. Flugzeuge dürfen die Stadt nur noch in der Zeit zwischen 10.00 Uhr vormittags und 16.00 Uhr anfliegen. Die Millionenstadt scheint ein totes Häusermeer geworden zu sein. Beiderseits der Sektorengrenze herrscht Ruhe. Entsprechend einer Vereinbarung zwischen dem alliierten Gouverneur und dem sowjetischen Stadtkommandanten sind die deutschen Polizeiverbände auf beiden Seiten der Sektorengrenze zurückgezogen worden. »Das klingt wirklich beruhigend«, sagte Reiners. »Das klingt blöd!« sagte Charly aggressiv. »Die Millionenstadt – ein totes Häusermeer! Verfassen diese Burschen eigentlich Gedichte oder Nachrichten?« 354
»Diese Ausgangssperre«, sagte Reiners, »ist eine gute Lösung – für den Augenblick wenigstens.« »Zu spät«, sagte Charly, bemüht, Reiners aus dem Gleichgewicht zu bringen. »Ich bin zu spät darüber informiert worden. Erinnern Sie sich noch, Doktor, an das nette Kind, von dem ich Ihnen erzählt habe? Das hätte ich einladen sollen. Kleines Abendessen im Hotel. Natürlich kann sie wegen der Ausgangssperre nicht nach Hause – was soll die arme Kleine also machen? Sie bleibt hier! Schicksal! Und dann fotografiere ich sie.« Die nächste Nachricht, die sie sich beide anhörten, hatte folgenden Wortlaut: An die Stelle der zurückgezogenen deutschen Polizei sind im Westen amerikanische, englische und französische, und im Osten russische Soldaten getreten. Sie stehen sich, soweit dies die Häuserfluchten erlauben, in einem Abstand von jeweils einhundert Metern bis zur Grenze gegenüber. Durch Berlin zieht sich jetzt ein zweihundert Meter breiter Streifen Niemandsland. Die Bevölkerung, die in diesem Streifen wohnt, wird zur Zeit evakuiert. »Das sollten wir uns ansehen«, sagte Reiners, in dem Bemühen, Charly wieder für eine aktive Tätigkeit zu gewinnen. »Dieser Vorgang ergibt sicherlich einen ungewöhnlichen Bericht.« »Was soll daran ungewöhnlich sein?« wollte Charly wissen. »Was sind denn schon ein paar Straßenzüge?« »Tausende von Menschen«, sagte Reiners eindringlich. »Na schön – werden sie also in Schulen, Kirchen und Kinos schlafen. Sie werden fluchen, ihre Wohnungen abschließen und dann irgendwo in der Nähe schlafen. Sie werden schlafen, Doktor! Noch ist nichts zerbombt, 355
noch liegen keine Leichen herum, noch schmort kein Feuer den Asphalt auf, so daß sie steckenbleiben, von Flammen gefressen werden und wie Fackeln aussehen. Eine humane Evakuierung also – ein paar Straßen werden geräumt. Doktor – ich habe gesehen, wie die Menschen großer Städte in Marsch gesetzt wurden. Ich habe ganze Landstriche gesehen, die menschenleer waren – bis auf die Soldaten, die sie menschenleer gemacht hatten.« Reiners verstärkte die Stimme, die aus dem Lautsprecher tönte: Noch immer besteht kein klares Bild über die Vorgänge in der sowjetischen Besatzungszone. In Jena, Halle, Magdeburg und Schwerin haben Kämpfe zwischen streikenden Arbeitern und Volksarmee stattgefunden. Aufrufe des Ostzonenrundfunks an die Arbeiter, sich nicht von faschistischen Elementen provozieren zu lassen, werden stündlich gesendet. Hieraus ist zu schließen, daß inzwischen die gesamte Sowjetzone von der Streikwelle erfaßt wurde. »Doktor«, fragte Charly, der die Nachrichtensendung gar nicht zu beachten schien, »warum sind die Menschen so fürchterlich feige, daß sie eine panische Angst davor haben, nicht als tapfer zu erscheinen?« »Viele sind wirklich tapfer«, versicherte Reiners. »Wäre das nicht so, würde die Welt versumpfen – und die Brutalität hätte leichtes Spiel.« »Nicht selten scheinen die am tapfersten, die am wenigsten zu verlieren haben. Andere wieder scheinen tapfer, weil sie nichts verlieren wollen – ob es sich nun um Aktienpakete, Macht oder Ansehen handelt. Doktor, ich habe so oft die Tapferkeit gemeinsam mit der Dummheit Arm in Arm gehen sehen, daß ich nachdenklich geworden bin. Und das Widerlichste ist, diese Dummen und Tapferen von den Schlauen und 356
Brutalen mißbraucht zu sehen – das ist es, was mich mehr als mißtrauisch macht!« Der Nachrichtensprecher sagte: Der Bundeskanzler hat vor einer halben Stunde über alle Sender der Bundesrepublik gesprochen. Er hat der Bevölkerung der Sowjetzone die Grüße und besten Wünsche aller Deutschen übermittelt. Gleichzeitig rief der Bundeskanzler die Bevölkerung der Bundesrepublik auf, Ruhe und Ordnung zu bewahren. Die Bundesregierung und mit ihr die Regierungen der freien Welt würden alles tun, um den Weltfrieden zu bewahren. Der Deutsche Bundestag wird morgen früh um 9.00 Uhr zu einer Sondersitzung zusammentreten. »Hüten Sie sich davor, zu verallgemeinern, Charly«, sagte Michael Reiners eindringlich. »Wohin ich auch höre«, sagte Charly, »nichts tönt mir entgegen als Phrasen! Jeder hat recht - unrecht haben immer nur die anderen. Keiner macht einen Fehler – die anderen machen alle. Jeder denkt gut, handelt gut, will das Beste – die anderen aber tun nichts als lügen, betrügen und Schlechtigkeiten ausbrüten. Wann endlich, Doktor, wird einer aufstehen und sagen: Ich habe mich geirrt, das war ein Fehler von mir, es tut mir leid, daß ich dieses gesagt und jenes getan habe. Oder wenigstens doch? Das, was du sagst, klingt gut, ich will mir das überlegen, wir müssen das gemeinsam durchsprechen. Wann endlich wird das einmal geschehen!« Die letzte Nachricht in dieser Sendung: In Hamburg, Frankfurt und München sowie in einigen Großstädten Nordrhein-Westfalens mußte die Polizei einschreiten, weil unter der Bevölkerung ein Sturm auf die Lebensmittelgeschäfte einsetzte. »Freiheit!« rief Charly unbeherrscht. »Auch das ist 357
Freiheit! Die Freiheit, mehr fressen zu können als andere!« Wolf Beck betrachtete Ruth Winters, die neben ihm im Garten saß, aufmerksam – erst jetzt kam er dazu, das mit der notwendigen Ruhe zu tun. Die Abendstunden waren schnell vergangen; letzte Besprechungen und Verpflichtungen hatten sie ausgefüllt. Jetzt begann der Tag auszuklingen. Sie saßen scheinbar einträchtig nebeneinander; mattes Licht wurde gegen die Bäume gestrahlt; und der Wein, der vor ihnen stand, funkelte mild. Der Hausherr, Mitinhaber einer Werft, war persönlich in den Weinkeller gestiegen; die Hausfrau hatte mit ihrem Personal noch einige Kleinigkeiten zu besprechen. Ein weiteres eingeladenes Ehepaar war zur Elbe hinuntergegangen. »Wir haben heute sehr wenig Zeit für uns allein gehabt«, sagte Ruth Winters behutsam; und sie legte ihre Hand, die heiß und trocken war, auf die von Wolf. »Gibt es denn noch etwas Wichtiges«, fragte Wolf gedehnt, »das wir nicht miteinander besprochen hätten?« Ihm schien, als würde die trockene, heiße Hand von Ruth Winters feucht. Er hatte ihr noch nichts von Bernhardts gewinnsüchtigem Besuch in den späten Nachmittagsstunden erzählt, von diesem Schakal mit dem zähen Weiberlächeln, der geglaubt hatte, ihn, einen Wolf Beck, erpressen zu können. Er hatte ihr bisher aus mehreren Gründen nichts davon erzählt – einmal, weil er kaum Zeit und Gelegenheit dafür gefunden hatte, dann aber, weil er glaubte, darauf warten zu müssen, daß sie davon anfing – ehrlich und unmißverständlich, um zu bereinigen, was nicht zwischen ihnen als heimliche Belastung existieren durfte. »Mich wundert ein wenig«, sagte er, nachdem er mit 358
Bedacht von seinem Wein getrunken hatte, »daß du dich so leicht von Hamburg trennen kannst und das überdies mit bemerkenswerter Schnelligkeit tun willst – es ist eine noble und tüchtige Stadt, großzügig und weltoffen. Hast du keine guten Erinnerungen an die Zeit, in der du hier warst?« »Städte sind nicht so wichtig wie Menschen«, beeilte sich Ruth zu versichern. »Für mich bist du allein wichtig geworden.« Wolf sah in die klare Nacht, die noch von der Hitze des Tages durchströmt war. Das Wasser der Elbe schien unbewegt, grausilbern und müde vor ihm zu liegen. Fern tuckerte der Motor eines Schleppers und verwob sich mit der Ellington-Musik, die von der Halle herklang. »Ich habe das Gefühl«, sagte jetzt Wolf, »daß du unruhig bist. Was beunruhigt dich, Ruth?« »Es wäre unrecht von mir, dich damit zu belasten«, sagte Ruth nach langem Zögern. »Vielleicht entlastet es dich«, sagte Wolf entgegenkommend. »Und das könnte für uns beide wichtig sein. Du weißt, daß ich nicht kleinlich bin.« »Das will ich aber nicht ausnützen!« rief Ruth nahezu heftig. »Aber es soll dir erleichtern, dich mir anzuvertrauen.« »Gut«, sagte Ruth nach abermaligem Zögern, doch dann entschlossen, »ich will jetzt ganz ehrlich zu dir sein – und ich sage offen, daß ich keinen anderen Ausweg mehr sehe! Du erinnerst dich doch an den Mann, der mittags an unseren Tisch kam und den ich dir vorgestellt habe?« Wolf nickte erwartungsvoll und erleichtert zugleich. Er war froh, daß sie endlich ganz aufrichtig zu ihm sein 359
wollte. Und zugleich bangte er ein wenig davor, daß die erlösende Wahrheit vielleicht doch nur eine halbe veränderte oder gefärbte »Wahrheit« sein könnte. »Vielleicht«, sagte Ruth Winters, »werde ich dich mit dem, was ich zu sagen habe, tief enttäuschen.« »Vielleicht«, sagte Wolf, ihr eine letzte Hilfe anbietend, »ist das, was du mir zu sagen hast, nicht einmal so wichtig, wie die Tatsache, daß du es mir gesagt hast!« Auch Agenten sind nur Nachrichtenbienen. Sie tragen emsig zusammen, was ihnen unter die Finger gerät. Die Arbeit eines einzelnen ist so gut wie wertlos; erst aus der Fülle entsteht das Bild – ein Stein ergibt noch kein Mosaik. Aber viele Meldungen, die zusammenströmen, sich ergänzen, verstärken, können zu einer brauchbaren Unterlage werden. Agenten arbeiten ähnlich wie Meteorologen; der einzelne mißt die Temperatur, den Luftdruck, die Windstärke in seinem Bereich – aus der Arbeit vieler entstehen die Wetterkarten, beziehungsweise die Situationsberichte. Die einen arbeiten sehr präzise, mit feinsten Instrumenten – andere mehr individuell, instinktiv, dem Zufall preisgegeben und vom eigenen Urteilsvermögen abhängig. Die Zusammenstellung der Wetterkarten läßt sich erlernen. Wenn aber aus vagen Agentenmeldungen umfassende Situationsberichte werden sollen, so kommt es ganz darauf an, in wessen Hände die winzigen Beiträge der Spionagebienen gelangen. Der Präsident des Nachrichtendienstes der Bundesrepublik gehörte nicht zu den Phantasten. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, Phantasie durch Realitäten zu ersetzen. Diese Methode war zwar weniger »schöpferisch«, verschlang viel Geld, durfte jedoch als 360
einigermaßen sicher bezeichnet werden. Aus den nahezu zweihundert Agentenmeldungen, die an diesem Nachmittag bis in die späten Abendstunden hinein eingegangen waren, ergaben sich kaum mehr als ein Dutzend greifbarer Tatsachen. Die aber sahen so aus: Verschiedene Streikkomitees stehen untereinander in Verbindung. Sie befinden sich in den Städten Plauen, Eisenach, Nordhausen, Wernigerode, Sonneberg und Salzwedel. Sie haben beschlossen, morgen früh Demonstrationszüge an die Zonengrenze zu schicken. Weitere Streikkomitees existieren in Dresden, Leipzig, Magdeburg und Brandenburg. Diese beabsichtigen, Delegationen in die Bundesrepublik zu entsenden, die Hilferufe nach Bonn überbringen sollen. Die Delegationen aus Dresden und Leipzig sind bereits unterwegs. In den meisten Kreisen der Sowjetzone ist die vollziehende Gewalt bereits von der Volkspolizei zusammen mit den örtlichen Sowjetkommandeuren übernommen worden. In den meisten Gegenden besteht seit 20.00 Uhr Ausgangssperre. Daher scheint es fraglich, ob die Delegationen noch heute nacht die Zonengrenze überschreiten können. Nachdem der Präsident des Nachrichtendienstes der Bundesrepublik diese Aufstellung seiner Mitarbeiter begutachtet, überprüft und abgezeichnet hatte, schob er sie seinem Adjutanten zu. Der Präsident verlor hierbei kein überflüssiges Wort. »Bundesregierung und Amerikaner benachrichtigen«, sagte der Adjutant routinegemäß. Diese Nacht war noch wärmer als die vorhergehende. Von Skandinavien bis hinunter nach Italien wurde 361
Windstärke 0 gemeldet. Flüsse bewegten sich träge. Viele Fenster standen offen und starrten wie leere Augen in die Nacht. In Polen verlosch die letzte Glut. Auf osteuropäischen Straßen rollten sowjetische Divisionen. Und in der Luft dröhnten die schweren Flugzeuge der amerikanischen strategischen Bomberkommandos. In der Nähe des Städtchens Hof »lagen« inmitten westdeutscher und ostdeutscher Verbände der Hauptmann Müller-Marburg und der Gefreite SchulzeSchwerin einander gegenüber. Der eine beschäftigte sich mit pädagogischen Fragen, der andere mit Opernmusik. Beide dachten außerdem an Deutschland – in der Nacht. Es ist die Aufgabe der Soldaten, so heißt es allgemein, sich auf den Krieg vorzubereiten. Daß damit zugleich der Krieg vorbereitet wird, will niemand wahrhaben. Maria und Martin dachten aneinander – ohne voneinander viel zu wissen. Sie glaubten, getrennt zu sein; aber die Entfernung zwischen ihnen betrug nur wenige Kilometer. Und in den späten Nachmittagsstunden waren sie sich sehr nahe gekommen, ohne sich gesehen zu haben. Das geschah in Roth, südlich von Nürnberg. Maria kam von Süden, Martin von Norden. Beide waren, da sie sich verspätet hatten, in Eile. Sie radelten auf das Städtchen zu. Und fast schien es, als würden sie zusammenprallen. Das geschah aber nicht. Ein Leiterwagen, beladen mit Heu, versperrte Maria die Sicht. Der Gegenverkehr hinderte sie daran, dieses Fahrzeug zu überholen. Als sie nach rechts sah, bemerkte sie, kurz vor dem Marktplatz, eine Kolonialwarenhandlung, vor der einige Körbe mit Obst aufgereiht dastanden. Sie hielt, stieg ab, lehnte das Rad an einen Baum und ging, in der Absicht, 362
sich eine preiswerte Abendmahlzeit zu besorgen, in das Geschäft hinein. Und Martin fuhr an diesem Geschäft vorbei. Um 23.00 Uhr fand in Bonn eine Sondersitzung des Bundeskabinetts statt. Anwesend waren alle erreichbaren Minister. Den Vorsitz führte der Bundeskanzler. Der Bundeskanzler begann mit folgenden Worten: »Meine Herren. Wir haben einige Entschlüsse zu fassen, von denen im wahrsten Sinne des Wortes der Weltfrieden abhängen kann.« Einige der Minister sahen überrascht hoch. Der Ernst, mit dem der Kanzler begonnen hatte, ließ sie aufhorchen. Sie hatten witzige Souveränität erwartet, humorige Unerschütterlichkeit, und jenen gemütlich klingenden, gelegentlich schwer verletzenden Spott, mit dem der Kanzler zu operieren liebte. Das Schauspiel, das der Regierungschef diesmal bot, war ungewöhnlich. Der Bundeskanzler erklärte zunächst, daß er das, was er zu sagen habe, zumindest aus zwei verläßlichen Quellen schöpfe: aus dem eigenen Nachrichtendienst und aus dem der Amerikaner. Er führte dann, wörtlich, folgendes aus: »Wir müssen damit rechnen, daß morgen die sich wehrende Bevölkerung der Sowjetzone mit uns Verbindung suchen wird. Soweit diese unglücklichen Menschen nicht vorher von deutschen oder sowjetischen Kugeln getroffen werden, wollen sie versuchen, mit Demonstrationszügen die Zonengrenze zu erreichen. Außerdem sind Delegationen der Streikkomitees einiger größerer Städte hierher, meine Herren, unterwegs, um uns und den Deutschen Bundestag um Hilfe zu bitten. Wenn auch nur eine Delegation hierher durchkommt – 363
was wollen sie dann, meine Herren, diesen Menschen antworten?« Die angesprochenen und befragten Minister schwiegen zunächst. Es schien, als warteten sie darauf, daß der Kanzler irgendeinen von ihnen unmittelbar um seine Ansicht bitte. Aber der Bundeskanzler sah keinen direkt an, forderte keinen unmißverständlich auf. Er wartete – er hatte Geduld. Schließlich sagte der Minister für gesamtdeutsche Fragen: »Wir können natürlich diese Delegationen nicht mit Gewalt von ihrem Vorhaben abhalten – aber es ist immerhin anzunehmen, daß ostdeutsche Polizeikräfte oder Truppenverbände das tun werden.« »Ich muß Sie enttäuschen, Herr Kollege«, sagte der Innenminister. »Nach einwandfreien Meldungen scheinen ostdeutsche Polizeiverbände mit den Demonstranten gemeinsame Sache zu machen. Es ist also durchaus anzunehmen, daß diese Abordnungen bei uns erscheinen werden.« Der Bundeskanzler hielt Debatten für sehr fruchtbar, unter der Voraussetzung, daß er sie beenden konnte. Er blickte den Minister für gesamtdeutsche Fragen auffordernd an. Der deutete den Blick des Kabinettschefs richtig und sagte: »Wenn das, was der Herr Innenminister vorauszusehen glaubt, wirklich eintreffen sollte, dann müssen wir dafür sorgen, daß diese Delegationen nicht wieder zurückkehren können!« »Sie wollen doch nicht etwa diese Leute verhaften?« fragte der Verteidigungsminister. Sein kluges, asketisches Gesicht verzog sich ironisch. »Der Herr Außenminister, bitte«, sagte der 364
Bundeskanzler. Der Außenminister erklärte: »Es ist völlig ausgeschlossen, daß wir in irgendeiner Form zu erkennen geben, daß die Bundesregierung bereit wäre, die Bevölkerung der Sowjetzone zu unterstützen. Unsere Alliierten bestehen darauf, daß wir uns jeder Einmischung in die Ereignisse der Sowjetzone enthalten. Der Vorschlag unseres Kollegen war gar nicht so schlecht. Da wir den Leuten nichts sagen können, dürfen die Delegationen nicht zurückkehren.« Das überlegene Lächeln auf dem Gesicht des Verteidigungsministers vertiefte sich ein wenig. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück, als wolle er andeuten, daß er an diesen Erwägungen keinen Anteil nehme. Er blieb auch hier, was er immer war: gelassen, schweigend, abwartend – ein preußischer Offizier, der seine bayerische Energie und Vitalität mit bewundernswerter Konsequenz hinter einer nahezu asiatisch unbewegten Ruhe verbarg. Erneut meldete sich der Minister für gesamtdeutsche Fragen zu Wort: »Die Gefahr, daß mehrere dieser Delegationen Bonn erreichen werden, ist wohl nicht allzu groß. Aber ungleich gefährlicher scheinen mir die geplanten Demonstrationen an der Zonengrenze. Was soll hier geschehen? Will etwa der Herr Innenminister dem Grenzschutz erlauben, auf diese Menschen zu schießen?« »Das«, sagte der Innenminister prompt und heftig, »ist eine Annahme, die ich entschieden zurückweisen muß!« Der Bundeskanzler fertigte während dieser Auseinandersetzung einige Notizen an, lieh dem hinter ihm sitzenden Pressechef sein Ohr, nahm andere, ihm zugeschobene Notizzettel entgegen, verwarf sie oder 365
reihte sie in seine Unterlagen ein. Abschließend sagte er: »Der Herr Innenminister wird sich mit den Innenministern der Bundesländer, die hierfür in Frage kommen, in Verbindung setzen. Er wird sie über einige Beschlüsse der Bundesregierung informieren.« Diese Beschlüsse der Bundesregierung wurden folgendermaßen formuliert: Keine deutsche Behörde in Grenznähe – seien es Gemeinden, Bürgermeisterämter, Landratsämter oder Regierungsbezirke - darf irgendeinen offiziellen Kontakt mit Demonstranten aufnehmen. Diese Demonstranten werden möglicherweise morgen früh an der Zonengrenze erscheinen. Kontakt mit der örtlichen Bevölkerung kann selbstverständlich nicht verhindert werden. Dieser vollzieht sich unter dem Schutz des Grenzschutzes und der Bereitschaftspolizei der Länder. Die Offiziere dieser Verbände müssen nochmals auf strengste Zurückhaltung hingewiesen werden. Insbesondere soll jede Berührung mit sowjetzonaler Grenzpolizei oder gar mit Einheiten der Volksarmee vermieden werden! Diese Sondersitzung der Bundesregierung wurde um 23.52 Uhr beendet. »Diese Welt«, sagte Henry Engel in Gegenwart von Constance Schubert, die aufmerksam zu ihm aufsah, das jedoch nicht, weil seine Ausführungen sie fesselten, sondern weil es sie erregte, ihn derartig impulsiv zu sehen, »diese alte, morsche Welt steht seit Millionen Jahren; seit zehntausend Jahren haben Menschen auf ihr existiert, die denken konnten – die Errungenschaften eines halben Jahrhunderts scheinen auszureichen, sie wieder zurück ins All zu sprengen.« 366
»Und wenn es wirklich so wäre«, sagte Constance ergeben, »was können wir schon dagegen tun?« »Unsere Not hinausschreien! Auf brüllen! Die blind in die Vernichtung Taumelnden nicht mehr schlafen lassen! Sie zwingen, endlich nachzudenken – damit sie sich nicht mehr als Politiker unter Politikern gebärden, sondern endlich als Menschen für die Menschheit handeln.« »Mach den Anfang«, sagte Constance, »komm näher zu mir.« »Du ahnst nicht«, sagte Henry Engel bitter, »in welch unvorstellbarer Vielheit du auf dieser Erde existierst. Du bist ein Teilchen jener Masse, die nur an sich denkt. Und diese Masse kann die Welt aus ihrer Bahn reißen. Ich habe Angst, daß ihr das gelingen könnte. Und deshalb bitte ich dich: gehe schlafen, solange du noch schlafen kannst – ich weiß nicht viel und doch zuviel; ich bin für das, was du ein normales Leben nennst, nicht mehr zu gebrauchen.« Und damit endete der dritte Tag.
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DER VIERTE TAG Die Nacht schien durch die Elektrizität mehr und mehr verdrängt zu werden. Früher brannten vereinzelte Feuer in den Nächten, Fackelträger durchliefen sie. Später wurden Laternen ausgehängt, noch später Lichterketten gezogen. Schließlich gab es allerorts Lampen, von denen behauptet wurde, sie wären hell wie der Tag. Einst gehörten die Nächte den Liebenden und den Wächtern, den Astronomen, den Dichtern und den Ärzten. Heute werken die Armeen der Arbeiter während der Nächte, Züge und Lastwagen rollen auf ihre Bestimmungsorte zu, ein Heer von Menschen macht Musik, schleppt Gläser und Flaschen, betrinkt sich, tanzt, begehrt einander, sucht Vergessen. Die Zeiten, in denen selbst der Krieg eine Nachtruhe gekannt hatte, sind vorbei. Manche glauben, die Menschheit habe einen langen Schlaf nötig. Die Straßen der Stadt Hamburg, durch die einst Heinrich Heine gegangen war, von schwerem Wein, den Genüssen der Tafel und der schlechten Beleuchtung sprechend, waren auch in den Stunden nach Mitternacht erhellt. Sogar die Leuchtreklamen brannten noch. Und der Chauffeur des Wagens, in dem Ruth Winters und Wolf Beck saßen, fuhr mit abgeblendetem Licht. Ruth und Wolf unterhielten sich, wie immer in der Gegenwart unbekannter Menschen, über belanglose Dinge. Aber das schien Ruth Winters diesmal besonders schwerzufallen. Sie hatte in dieser Nacht Wolf alles gesagt, was sie ihm sagen zu müssen glaubte – und nicht versucht, sich dabei zu schonen. Wolf hatte aufmerksam zugehört, aber zunächst vermieden, sich zu 369
äußern. »Wenn es dir recht ist«, sagte Wolf jetzt, »dann verabschieden wir uns heute noch nicht voneinander. Wir könnten uns noch eine halbe Stunde in die Bar meines Hotels setzen; sie ist um diese Zeit fast leer und ein angenehmer Ort, an dem man ungestört miteinander sprechen kann. Bist du damit einverstanden?« »Mit allem, was du vorschlägst!« versicherte Ruth. Wolf nickte zufrieden. Er gab dem Chauffeur Anweisung, zum Hotel zu fahren. In den letzten Minuten dieser Fahrt sprach niemand ein Wort. Wolf und Ruth stiegen aus. Sie gingen in das Hotel, durchquerten die erleuchtete Halle und strebten der kleinen Bar zu. Hier saßen um diese Zeit nur noch wenige Gäste, die sich zudem nur gedämpft unterhielten. Noch ehe sie einen genehmen Platz gefunden hatten, wurde Wolf Beck ein Telegramm übergeben. Er öffnete es unverzüglich und las: Bereit zum Abschluß entsprechend Ihren Vorschlägen vom März dieses Jahres. Stop. Auch mit Ausweitung der Auswertungsklausel auf Südamerika einverstanden. Stop. Besondere Bedingung jedoch ist, daß Henry Engel sich verpflichtet, jede seiner Erfindungen zuerst unserem Konzern anzubieten. Stop. Wir legen auf beschleunigten Vertragsabschluß großen Wert. »Angenehme Nachrichten?« fragte Ruth. »Wie man es nimmt«, sagte Wolf Beck nachdenklich und schob das Telegramm in seine Rocktasche. »Ich kann eins der größten Geschäfte der letzten Jahre machen – aber dazu brauche ich jemand, von dem ich in dieser Beziehung nichts als nur Schwierigkeiten zu erwarten habe.« 370
»Wer sollte so etwas dir gegenüber fertig bringen?« »Mein Freund Henry Engel«, sagte Wolf Beck kurz und sah sich nach einem Platz um. »Aber das ist im Augenblick nicht so wichtig, weit wichtiger scheint es mir zunächst, zwischen uns die notwendige Klarheit zu schaffen.« Sie fanden einen freien Ecktisch. Wolf verlangte Kerzenbeleuchtung anstelle der Tischlampe. Dann bestellte er Champagner, Mumm Cordon-Rouge, extra Brut. Er fragte: »Einverstanden?« »Natürlich«, sagte Ruth hastig. Sie gab sich dabei Mühe, ihre Unruhe zu verbergen. Das war jedoch vergeblich. Sie begriff das und wünschte sofort, die unvermeidliche Entscheidung möge schnell erfolgen. Sie fragte: »Warum willst du Champagner trinken – ist das ein Abschied?« »Ja«, sagte Wolf und sah sie lächelnd an. »Es handelt sich tatsächlich in gewisser Weise um einen Abschied.« Ruth brauchte längere Zeit, um hierauf antworten zu können. Sie wich Wolfs Blicken aus; sie starrte in das rötliche Halbdunkel der Bar, das durchweht war vom Rauch der Zigaretten, sich verdoppelte in den Spiegeln der Wände, ohne dadurch an Helligkeit zu gewinnen. Sie hörte eine helle, fast grell auflachende Frauenstimme. Und dieses Gelächter tat ihr weh. »Gut«, sagte sie schließlich, nunmehr beherrscht. »Was ich dir gesagt habe, das stimmt – und es ist leider nicht rückgängig zu machen. Ich versuche, mich in dich hineinzudenken. Und ich kann dir deiner Haltung wegen keinen Vorwurf machen.« »Warum solltest du das auch«, sagte Wolf Beck und schien sich dabei sogar ein wenig zu amüsieren. »Dennoch«, sagte Ruth erregt, »hätte ich zumindest 371
von dir ein Bedauern erwartet.« »Warum so kompliziert«, sagte Wolf unbekümmert. Mehr sagen konnte er nicht; auch Ruth fand keine Gelegenheit, hierauf zu antworten. Der Kellner kam und brachte den Champagner. Da er in dieser Nacht nur wenige Gäste zu bedienen hatte, öffnete er zeremoniell und mit feierlicher Umständlichkeit die Flasche. Er goß ein wenig Champagner in Wolfs Glas; der kostete davon. Er nickte dem Kellner zu. Die beiden Gläser wurden gefüllt. Der Kellner entfernte sich taktvoll. Wolf ergriff sein Glas und sah Ruth lächelnd an. »Trinken wir«, sagte er. »Und nehmen wir damit Abschied von deiner Vergangenheit – vergessen wir sie ganz und für immer. Auf ein neues, gutes gemeinsames Leben.« Ruth starrte mit erstaunten, ungläubigen Augen in sein lächelndes Gesicht, das groß und beherrschend vor ihr war. Sie vermochte es nicht, nach ihrem Glas zu greifen. Sie begriff nur mühsam, was er soeben gesagt hatte. Und als sie den Sinn seiner Worte voll erfaßt hatte, verlor sie ihre Beherrschung. Sie weinte; ganz plötzlich, sehr heftig und völlig lautlos. »Aber Ruth«, sagte er gerührt, »was hast du denn?« »Ich bin glücklich«, stammelte sie wie ein Kind. »Schon gut«, sagte Wolf ein wenig verlegen. Von Ruth hatte er diesen unbeherrschten, wenn auch liebenswerten Ausbruch am wenigsten erwartet. Es war das erstemal, daß sie sich in seiner Gegenwart zu einem derartig heftigen Gefühlsausbruch hinreißen ließ. Sie erspürte sofort, was ihn bewegte. Sie mühte sich um Fassung, richtete sich auf, lächelte ihn an und ergriff ihr Glas. »Das, Wolf«, sagte sie, »werde ich dir nie vergessen! Niemals!« 372
»Schon gut«, sagte er und blickte sie lächelnd an. »Zwei Menschen, die zusammen leben wollen, müssen auch bereit sein, sich gegenseitig zu helfen – und so schwer das manchmal auch fallen mag, um so größer kann der Gewinn sein, der sich schließlich daraus ergibt.« Und während er das sagte, griff er instinktiv dorthin, wo sich das Telegramm des amerikanischen Konzerns befand – jenes Telegramm, das eins der größten Geschäfte seines Lebens ankündigte, wenn es ihm gelang, Henry Engel zu verpflichten. Und er war entschlossen, vieles zu wagen, damit ihm das gelang. In einem Raum, der zur amerikanischen Stadtkommandantur von West-Berlin gehörte, saßen sechs Mann – auf Feldbetten, wie sie gewöhnlich in Lazaretten stehen. Diese Leute waren nackt. Sie hatten sich amerikanische Militärdecken umgehängt und rauchten Zigaretten. Vor der Tür dieses Raumes stand ein Posten mit Maschinenpistole. Diese Tatsache jedoch beunruhigte die sechs Mann nicht; sie fühlten sich, im Gegenteil, geborgen. Sie waren um 0.30 Uhr von Patrouillen des 6. Infanterieregimentes in Haft genommen worden, nachdem sie von Sakrow aus die Havel durchschwommen hatten. »Ob wir lange warten müssen, bis sich jemand um uns kümmert?« fragte der eine und warf seine Zigarette in die Blechbüchse, die auf dem Tisch stand und als Aschenbecher diente. »Ich kann sowieso nicht schlafen«, sagte ein anderer und mehrere stimmten ihm zu. »Sie werden uns verhören wollen – und sie werden staunen, was wir zu berichten haben.« 373
»Amerikaner«, sagte ein Mann, der offenbar der älteste war, »staunen über nichts mehr – das haben sie nämlich verlernt. Und das ist eigentlich bedauerlich. Das kann sogar gefährlich sein.« Die Tür wurde geöffnet. Drei Männer, alle in Zivil, mittleren Alters, unbestimmbarer Staatsangehörigkeit, vermutlich also Amerikaner, betraten den Raum. Sie trugen Aktenmappen unter dem Arm und sahen ziemlich unternehmungslustig aus. Der eine von ihnen, ein kleiner, auf den ersten Blick unscheinbar wirkender Mann, mit Nickelbrille und versorgtem Dackelgesicht, schien der Wortführer zu sein. Er war der einzige von den dreien, der in der nächsten halben Stunde sprach. Er behauptete, schlecht sehen zu können und verlangte hellere Beleuchtung. Sofort wurden, von amerikanischen Posten, zwei Glühbirnen ausgewechselt – grelles Licht fiel in den Raum und auf die Gesichter der sechs Männer, die durch die Havel geschwommen waren. Der Wortführer der drei Ausfrager wollte wissen, ob die sechs »Freunde« irgendeinen Wunsch hatten. Zigaretten, Kaffee, Brote? Die sechs wünschten sich Kaffee. Der Mann mit dem Dackelgesicht nickte zustimmend; er wartete, bis der Kaffee gebracht und ausgeschenkt worden war – dabei jedoch betrachtete er die »Freunde« genau. Der Eindruck, den er gewann, schien ihn zu befriedigen. »Fangen wir also an«, sagte das Dackelgesicht. Der Mann begab sich an den Tisch, an dem bereits die beiden anderen Ausfrager saßen, und nahm Platz. Die sechs gruppierten sich vor ihm. »Von woher kommen Sie?« »Aus Brandenburg«, sagte der Älteste, der offenbar als 374
ihr Sprecher bestimmt worden war. »Wann haben Sie Brandenburg verlassen?« »Heute nachmittag.« »Es ist kurz vor zwei Uhr früh«, sagte der Mann mit dem Dackelgesicht ruhig, ohne Vorwurf, auch nicht ironisch. »Gestern nachmittag also«, sagte der Sprecher der sechs. »Kurz vor 15 Uhr. Wir haben uns über Werder, unter Umgehung von Potsdam, nach Sakrow durchgeschlagen.« Das Dackelgesicht wollte nunmehr Einzelheiten über den Betrieb in Brandenburg wissen, dem die sechs angehört hatten. Er erkundigte sich nach dem Namen des Direktors, den Fabrikaten, der Zubringerindustrie; er fragte nach der Lage der Geräteschuppen, des Kesselhauses, der Bahnstation; er verlangte Auskünfte über Gehälter, Familienverhältnisse und die örtliche Parteiorganisation. Die sechs »Freunde« waren zunächst verblüfft über derartige Fragen. Dann, leicht erheitert, machten sie dies ihnen merkwürdig und überflüssig erscheinende Spiel mit. Sie gaben bereitwillig Auskunft. Ihre stille Heiterkeit nahm mehr und mehr zu. Sie verschwand jedoch schnell, als sie merkten, daß der Mann mit dem Dackelgesicht alles andere als harmlos war. Der Wortführer der Ausfrager brach seine Plauderei plötzlich ab. Einer seiner Assistenten reichte ihm ein dickes Aktenstück hinüber, auf dem geschrieben stand: »Brandenburg«. Es war dort aufgeschlagen, wo die Unterlagen mit allen erdenklichen Details über den Betrieb begannen, dem die sechs angehörten. Das Dackelgesicht verglich die Angaben der »Freunde« mit seinen Aufzeichnungen – sie stimmten 375
überein. Diese Tatsache schuf eine freundliche, gelöste Atmosphäre. Nachdem so die Glaubwürdigkeit der nächtlichen Havelschwimmer erwiesen worden war, begann die entscheidende Vernehmung – schnell, sicher, sich auf das Wesentliche beschränkend! Der Bericht, den später das Dackelgesicht, der »Leiter der Untersuchungskommission zur besonderen Verwendung«, dem amerikanischen Stadtkommandanten übergab und den dieser unverzüglich nach Washington weiterleitete, begann nach einleitenden Feststellungen »zur Person und zur Sache« mit folgenden Worten: Es handelt sich um Arbeiter des oben näher bezeichneten Betriebes in Brandenburg. Sie berichten, daß gestern nachmittag um ij.00 Uhr ihre Fabrik von sowjetischen Einheiten im Kampf genommen worden sei. Die Arbeiter hatten sich seit gestern früh im Sitzstreik befunden und sich verbarrikadiert. Sie waren durch schon seit längerer Zeit bestehende konspirative Verbindungen zur Volkspolizei mit Waffen versorgt worden. Der Kommandeur der Brandenburger Volkspolizeieinheiten soll sich nach Aussage der Arbeiter geweigert haben, die Fabrik anzugreifen. Er ist verhaftet worden. Dackelgesicht begann sich nunmehr intensiv für die eingesetzten sowjetischen Truppen zu interessieren. Er wollte wissen, um welche Verbände es sich handelte, wie sie zusammengesetzt und ausgerüstet waren. Die Antworten, die er erhielt, befriedigten ihn nicht. »Panzer ist nicht gleich Panzer – um welches Modell handelte es sich, um welches Baujahr? Kann mir irgend jemand von euch wenigstens die Umrisse eines der eingesetzten Panzer aufzeichnen? War euch einer von den kommandierenden Offizieren bekannt? Habt ihr Namen gehört?« 376
Derartige Details konnte keiner der Anwesenden angeben. Einer wußte wenigstens, daß es sich nicht um T 34 gehandelt habe, sondern um ein neueres Modell. Dackelgesicht war betrübt. Heimlich bedauerte er das rapide Schwinden der militärischen Kenntnisse eines Volkes, das doch den Militarismus erfunden hatte. Nach weiteren Fragen ergab sich für den Bericht folgender Absatz: Die sowjetischen Einheiten griffen mit Panzern an. Sie hatten in einer knappen halben Stunde den Widerstand gebrochen. Die Arbeiter wurden auf dem Fabrikhof zusammengetrieben. Das Streikkomitee wurde vor ihren Augen erschossen. Den sechs Flüchtlingen, von denen einer angibt, dem Streikkomitee angehört zu haben, gelang es, im allgemeinen Durcheinander zu entkommen. Nunmehr wollte das Dackelgesicht präzise wissen, wie das Streikkomitee zusammengesetzt war, wie es gearbeitet hatte, welche Verbindungen es besaß. Hierzu konnte der Sprecher der sechs umfangreiche Angaben machen. Hiervon verstand er erstaunlich viel – fast zuviel, so daß der Wortführer der Ausfrager leicht mißtrauisch wurde. »Behaupten Sie etwa«, fragte das Dackelgesicht, »daß es sich hierbei um eine Bewegung gegen das SEDRegime gehandelt habe?« »Wo denken Sie hin!« sagte der alte Arbeiter augenzwinkernd. »Wir haben uns natürlich unter Anleitung und Aufsicht der Partei organisiert.« »Gegen Westdeutschland?« »Klar! Um ganz genau zu sein: gegen faschistische Elemente! Die wollten wir bekämpfen. Na, und haben wir das nicht auch getan?« 377
Der abschließende Teil des Berichtes lautete wie folgt: Das Streikkomitee-Mitglied berichtet, daß bis zu dem sowjetischen Angriff auf das Werk verhältnismäßig gute Verbindungen zwischen den Streikleitungen einzelner großer Städte bestanden haben. Ob inzwischen das gesamte Fernsprechnetz von militärischen Stellen übernommen wurde, konnte der Flüchtling nicht sagen. Aus seinen Aussagen geht hervor, daß sich in Magdeburg, Leipzig und Dresden gewisse Führungszentren des Widerstandes herausgebildet haben. Verbindungen in die nördlichen Gebiete der Sowjetzone, also in die Mark und nach Mecklenburg, scheinen nicht zu bestehen. Dieser Bericht erreichte den amerikanischen Stadtkommandanten um 3.15 Uhr. Um 3.42 Uhr lag er in Washington vor. In einer Villa in West-Berlin, in der Nähe des Wannsees, brannte die ganze Nacht hindurch Licht. Diese Villa gehörte einer älteren, alleinstehenden Dame, die von den Gewinnen einiger ihr in Westdeutschland verbliebener Fabriken lebte. Die der Familie gehörenden Fabriken in der derzeitigen Ostzone waren blockiert; doch sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben, durch eine günstige Wendung wieder über sie verfügen zu können. Sie glaubte, diesem Ziel näher zu kommen, indem sie die ihr zweckmäßig erscheinenden Verbindungen zwischen Westen und Osten aufrechterhielt. Ihre Neigung zu interessanten Gesprächen, ihre Vorliebe für ungewöhnliche Persönlichkeiten, förderte ihre Bestrebungen: sie empfing bei sich ostdeutsche Schriftsteller, französische Journalisten, tschechische Diplomaten, britische Geschäftsleute. Sogar Parteileute von beiden Seiten verkehrten bei ihr. 378
In diesen frühen Morgenstunden war die Dame des Hauses nicht mehr anwesend. Nur noch drei Männer saßen in der Bibliothek: Michael Reiners, Charly und G. M.. der stellvertretende Ministerpräsident der Ostzonenregierung. Für sie hatte die angeordnete Ausgangssperre keine Geltung; sie besaßen Sonderausweise. Aber G. M. wagte es nicht, sich mehrmals kontrollieren zu lassen; er gedachte diese Nacht hier im Hause zu verbringen. »Warum eigentlich«, fragte Charly, der sich von Reiners hatte mitschleifen lassen, »quatschen wir hier stundenlang von Politik? Sie sitzen hier herum und beklagen das deutsche Schicksal. Aber was tun Sie, um es weniger beklagenswert zu gestalten? Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, warum es gerade immer wieder die jungen Menschen sind, die Grenzen beseitigen wollen, die an Verbrüderung glauben, an den guten Willen aller – zumindest sofern sie nicht systematisch verhetzt worden sind? Warum, so frage ich, sind diese jungen Menschen so? Weil sie lieben können!« »Glauben Sie nicht«, sagte der stellvertretende Ministerpräsident, »daß es diesen jungen Menschen zumeist nur an Erfahrung und Einsicht fehlt?« »Was Sie Erfahrung oder Einsicht nennen, das ist in Wirklichkeit nichts anderes als Trägheit der Herzen. Zerbrochene Flügel. Der Mensch wird krumm, dienert, schließt Kompromisse.« »Langsam, Charly«, sagte Reiners. »Widersprechen Sie sich nicht? Haben Sie nicht kürzlich jugendliche Demonstranten mit einer ziellos ausbrechenden Hammelherde verglichen?« »Ja«, rief Charly. »Aber wer macht diese Jugend blind, 379
wer verführt sie zu Dummheiten, die unter anderen Umständen Tugenden sein könnten, wer schiebt sie vor und benutzt sie, beutet sie aus – schamlos und gerissen oder unbewußt? Ihr! Ihr Realisten aus Feigheit! Ihr bequemen Einebner und Selbstversorger.« »Lieber Charly«, sagte Reiners voller Nachsicht, »Sie haben vielleicht nicht so unrecht. Erst der Anblick des Unglücks läßt uns Ursachen erkennen.« »Bitte«, sagte G. M.. »vergessen Sie über das, was sein könnte, nicht das, was tatsächlich ist: ein zweigeteiltes Deutschland, zwei deutsche Armeen, zwei deutsche Regierungen.« »Dann schaffen Sie doch endlich eine dritte Regierung, die Ihr ganzes Deutschland repräsentiert!« rief Charly heftig. »Das sagen Sie als Amerikaner?« fragte G. M. »Jawohl«, erklärte Charly. »Denn ich habe nicht die geringste Lust, unser Amerika in euren verdammten Familienkrieg hineinziehen zu lassen!« »Charly«, erklärte Doktor Reiners nach längerem Zögern bedächtig, »was Sie da vorher von einer dritten deutschen Regierung sagten, das könnte in der Tat der letzte Ausweg sein – vielleicht sogar: der einzige. Und ich will jetzt ganz offen sein: ich habe nicht nur an diese Möglichkeit gedacht – ich habe sogar Vorbereitungen dafür getroffen.« »Davon darf ich keinerlei Kenntnis nehmen«, beeilte sich der stellvertretende Ministerpräsident zu versichern. »Sie werden mehr als dies tun«, sagte Reiners mit Bestimmtheit. »Sie werden mitmachen.« Ruth Winters lag mit offenen Augen neben Wolf Beck. Sie sah in das verdunkelte Hotelzimmer, durch dessen 380
Vorhänge sich der erwachende Tag drängte. Sie war eingeschlafen und wieder aufgewacht. Ihre Hand schob sich behutsam auf Wolf zu. Sie berührte ihn sanft. »Kannst du nicht schlafen?« fragte Wolf Beck. »Vielleicht hätte ich das nicht tun sollen«, sagte Ruth tonlos. »Was?« fragte Wolf, mühsam seinen Schlaf überwindend. »Ich hätte nicht hierher mitkommen dürfen«, sagte Ruth und näherte sich ihm behutsam, als müsse sie bei ihm Schutz suchen. »Aber ich konnte nicht anders – und vielleicht ist das schlimm.« »Es ist herrlich«, sagte Wolf Beck; er behielt seine Augen geschlossen, als könne er so besser spüren, daß sie ihm nahe war. »Ich war so glücklich über deine Großmut«, sagte sie, dicht neben ihm. »Ich habe wohl nie ein größeres Geschenk erhalten – das mußt du mir glauben. Ich wollte dankbar sein – so gut ich es konnte. Und deshalb habe ich zu dir gesagt: ich will bei dir bleiben – diese Nacht.« Wolf Beck legte seinen Arm um sie. »Wir gehören doch zusammen. Und wenn du nichts gesagt hättest – ich hätte dich darum gebeten. Auch ich wollte mit dir zusammen sein.« »Dann ist es gut«, sagte Ruth und legte ihren Kopf auf seine Brust. Sie schwiegen. Wolf dachte: sie ist glühender und hingebungsvoller als es Constance jemals gewesen war. Ruth blinzelte zu den Vorhängen an den Fenstern, durch die fahlgrau der neue Tag kroch. Aus dem Hotelzimmer begann die Dunkelheit zu weichen; Schränke und Stühle wurden sichtbar, auch die Bilder an 381
den Wänden zeichneten sich ab. Auf dem Tisch lag das Telegramm, mit dem das große Geschäft angekündigt wurde. Sie schloß die Augen und schmiegte sich an Wolf. »Ich will jetzt nicht mehr«, sagte er kaum vernehmbar, »daß du hier in Hamburg bleibst. Du mußt diese Stadt verlassen. Heute vormittag noch – in wenigen Stunden.« »Und du?« fragte Ruth. »Ich komme nach«, sagte Wolf; »wenn ich hier meine Verhandlungen abgeschlossen habe – heute abend vielleicht schon oder morgen. Du aber mußt hier fort.« »Jetzt ist mir alles recht«, sagte Ruth. »Jetzt kann mich niemand mehr beunruhigen.« »Ich will«, sagte Wolf Beck, »daß du wirklich ruhig und zufrieden sein kannst. Niemand darf dich mehr belästigen.« »Es hat jetzt keine Bedeutung mehr«, sagte Ruth müde. »Vielleicht ist es auch aus anderen Gründen gut, wenn du schon vorausreist. – Wer weiß zum Beispiel, was diese politischen Narren noch alles anzetteln! Du wirst also nach München fliegen und bei Henry Engel, meinem Freund, wohnen. Von dort hole ich dich ab.« »Werde ich ihm willkommen sein?« »Wie ich dich kenne«, sagte Wolf, ohne sie anzusehen, »wird es dir nicht sonderlich schwerfallen, ihn zu begeistern. Und ich würde es sehr begrüßen, wenn du ihm gefällst.« Um 7.00 Uhr wurde im Hessischen Rundfunk unter anderem folgende Nachricht verlesen: In Berlin ist die Nacht beiderseits der Sektorengrenze ruhig verlaufen. Noch eine Stunde lang, bis 8 Uhr, 382
besteht in beiden Teilen der Stadt Ausgangssperre. Nach Informationen aus West-Berlin und aus Bonn ist es den sowjetischen und den ostzonalen Behörden bis gestern abend nicht gelungen, den überall aufflackernden Widerstand der Sowjetzonenbevölkerung zu brechen. Nach unbestätigten Gerüchten bestehen in einigen Großstädten Streikkomitees, die gleichzeitig die Leitung des Widerstandes in den umliegenden Gebieten übernommen haben. Nach Meldungen aus Niedersachsen, Hessen und Bayern war es heute früh an der Zonengrenze ruhig. Ebenfalls um 7.00 Uhr ging in Washington ein chiffrierter Spruch des Warschauer Botschafters ein. Er lautete: Seit gestern abend 24 Uhr befindet sich ein sowjetischer Marschall in der Stadt. Es war bisher nicht möglich, festzustellen, um wen es sich handelt. Eine nachfolgend wiedergegebene Information aus dem polnischen Kriegsministerium legt jedoch die Vermutung nahe, daß es sich um den Oberbefehlshaber der sowjetischen Westfront handelt. Unser Informant aus dem Verteidigungsministerium berichtet: während der ganzen Nacht haben Verhandlungen zwischen dem polnischen Generalstab und dem sowjetischen Marschall stattgefunden. Wegen der Ereignisse in Deutschland soll die polnische Regierung zugestimmt haben, die im Waffenstillstandsabkommen festgelegten Bedingungen als hinfällig zu betrachten. Die polnische Regierung hat ausdrücklich ihre mit dem Warschauer Pakt übernommenen Verpflichtungen bekräftigt. Nach Aussage des Informanten soll die sowjetische Armee seit heute früh j .00 Uhr wieder volle 383
Bewegungsfreiheit in Polen besitzen. Gleichfalls um 7.00 Uhr telefonierte der Kommandeur des Grenzschutzkommandos Süd mit dem für ihn zuständigen Beamten im Bundesinnenministerium. Sein Bericht lautete wie folgt: Ich habe soeben die Inspektion meines Abschnitts abgeschlossen. Entsprechend unserem Plan ist der Grenzabschnitt Tschechoslowakei heute nacht allein von der Bayerischen Bereitschaftspolizei übernommen worden. Vorauseinheiten des frei gewordenen Regiments Deggendorf haben ihr Eintreffen in Bayreuth bereits gemeldet. An der Zonengrenze herrscht Ruhe. Ich befinde mich zur Zeit in Coburg, werde aber in einer halben Stunde mit meinem Stab nach Münchberg verlegt. Jedem Offizier ist der ausgegebene Geheimbefehl eröffnet worden. Henry Engel betrat, ausgeschlafen und gut gelaunt, die Terrasse seines Hauses. Friebe wartete bereits mit dem Frühstück auf ihn und hielt ihm ein Glas Milch entgegen; Henry Engel nahm es, trank davon und sah zum Himmel hinauf und ins Tal hinunter. »27 Grad«, berichtete Friebe sachlich, »gemessen an der Hauswand, die in der Morgensonne liegt. Es wird also ein heißer Tag werden.« »Weitere erfreuliche Nachrichten?« »Allgemeines Herumgerede im Westen, Spekulationen bei den Neutralen, dumpfstolze Zuversicht im Osten«, berichtete Friebe. »Das ist schlimm«, sagte Henry Engel. »Wenn keine konkreten, unzweideutigen Berichte vorliegen, keine übersichtlichen Maßnahmen angekündigt werden – dann 384
ist eben alles im Fluß; das heißt: alles kann ersaufen!« »Immerhin«, gab Friebe zu bedenken, »ist ein großer Teil der Sowjettruppen durch das Waffenstillstandsabkommen in Polen blockiert. Damit verfügen die Sowjets praktisch über keine ausreichende Aufmarschbasis mehr.« »Ist dieser Gedankenblitz Ihr eigenes Produkt?« fragte Henry Engel belustigt. »Ein Rundfunkkommentator ist auf diese Idee gekommen«, gab Friebe zu. »Das freut mich für Sie, Friebe. Denn Abkommen können verändert, umgedeutet, negiert und auf andere Arten korrigiert werden.« »Die gnädige Frau kommt«, sagte Friebe erleichtert, diesem Morgengespräch entrinnen zu können. Er zog sich ziemlich eilig zurück. »Ich habe gut geschlafen«, sagte Constance heiter und ging auf Henry Engel zu. »Ich nehme an, daß du mich danach fragen willst. Und du hast auch gut geschlafen, besonders gut sogar – das weiß ich. Denn du warst durch nichts aufzuwecken.« »Einige Mühe hast du dir immerhin gegeben.« »Du hast mich gehört?« fragte Constance, sah ihn groß an und schien damit fragen zu wollen: und du bist nicht gekommen? »Ich habe dich nicht gehört, sondern den Tumult, den der Plattenspieler verursacht hat, das Klirren von Gläsern und das Schlagen von Türen.« »Und warum bist du nicht gekommen?« »Weil ich zu müde war. Aus Bequemlichkeit, aus Klugheit, aus mangelndem Interesse – suche dir das Passende aus. Im übrigen aber hättest du ja genausogut 385
zu mir kommen können.« »In dein Schlafzimmer?« fragte Constance und tat, als habe sie sich verhört, gab ihm zugleich damit die Chance, sich zu korrigieren. Henry Engel dachte nicht daran, das zu tun. Er war fest entschlossen, ihr alle Deutlichkeiten zu sagen, die er einstmals glaubte verschweigen zu müssen, Deutlichkeiten, die sie nötig hatte und die ihr gut tun würden – wenn sie überhaupt fähig war, sie zu begreifen. »Wenn du nämlich«, sagte er herausfordernd, »bis an die Tür meines Schlafzimmers gelangt wärst, hättest du gemerkt, daß ich mich eingeschlossen hatte – vor dir, in meinem eigenen Haus.« Constance lächelte ungekränkt – und genoß sein Erstaunen. »Du hattest deine Tür nicht abgeschlossen«, sagte sie heiter. »Woher willst du das wissen?« »Ich weiß es«, sagte Constance, ließ ihn stehen, nicht ohne ihn noch einmal angelächelt zu haben. Dann ging sie in den Garten. Henry Engel sah ihr verblüfft nach. Das Ausmaß ihrer Veränderung schien ihm unglaubhaft. Offenbar hatte er sie damals völlig falsch behandelt; und der maßlose heimliche Ärger, den ihm ihre porzellanzarte Passivität zu bereiten vermochte, war womöglich nur das Resultat einer endlosen Kette von Fehlern, die er selbst begangen hatte. Und doch: die Idee, daß sie jemals zur Nachtzeit an die Tür seines Schlafzimmers kommen würde, blieb einfach absurd – offenbar hatte sie ihn geblufft. Natürlich hatte er sein Zimmer nicht abgeschlossen – er hatte es noch nie getan. 386
Aber woher konnte ausgerechnet sie das so genau wissen? Der Kommandeur des Grenzschutzbataillons Hof stand am Ortsausgang von Tragen, an der Straße, die auf die Autobahn zuführt. Adjutant und Ordonnanzoffizier flankierten ihn. Hinter ihnen, in einem Busch, lag ein »erweiterter« Sprechfunktrupp bereit. Die Sonne schien kräftig. Die Soldaten des Meldetrupps bedauerten es jetzt schon, dem Kommandeur zugeteilt zu sein, der Erleichterungen jeglicher Art für überflüssig, wenn nicht für disziplingefährdend hielt. »Meldung von Hauptmann Müller-Marburg!« rief ein Soldat. Der Kommandeur nahm persönlich die Sprechfunkverbindung mit der Kompanie Müller-Marburg auf. Der nachfolgende Adjutant erhielt schließlich die Weisung, mitzuschreiben. Hauptmann Müller-Marburg hatte – Uhrzeit 8.03 – folgendes zu melden: Herr Major, ich befinde mich nördlich der Autobahn auf dem Bahndamm. Beiderseits der Bahnlinie bewegen sich, von Gutenfürst kommend, nach Süden Demonstrationszüge mit schwarz-rot-goldenen Fahnen. Am östlichen Sperrstreifen sind wie bisher nur Doppelposten zu erkennen. Es handelt sich um etwa einhundert Demonstranten. »Weiterbeobachten, laufend mit mir in Verbindung bleiben«, ordnete der Kommandeur an. »Meldung vom Chef der 2. Kompanie!« rief ein Soldat. Der Major nahm – Uhrzeit 8.07 – auch diese Meldung, die folgenden Wortlaut hatte, persönlich entgegen: 387
Von Hirschberg aus bewegt sich ein Zug von etwa fünfzig Demonstranten mit Fahnen und Spruchbändern auf die Grenze zu. Auf unserer Seite nähern sich einige Bauern, die den Zug entdeckt haben, der Grenze. »Sie respektieren die Grenze nicht«, sagte der Adjutant besorgt. »Warum sollten sie auch«, grollte der Kommandeur kaum vernehmbar. Und zur abermaligen Verwunderung des Adjutanten, der von seinem Kommandanten bisher kaum je eine private Äußerung gehört hatte, sagte der Major: »Verwunderlich nur, daß es so lange gedauert hat, bis ein Haufen Menschen den Mut fand, diese künstlichste aller Grenzen einfach niederzutrampeln.« »Was soll jetzt geschehen?« fragte der Adjutant. »Nur Geduld«, sagte der Kommandeur unbestimmt, »und die Hoffnung nicht aufgeben.« »Hauptmann Müller-Marburg!« rief der Soldat am Sprechfunkgerät. Der Major nickte, meldete sich und nahm den Bericht entgegen. Herr Major, der dritte Zug meiner Kompanie erkennt auf der Autobahn, von Plauen herkommend, eine militärische Kolonne. Sie besteht aus Lkw und Schützenpanzerwagen und nähert sich in rascher Fahrt der Grenze. Ich begebe mich zum dritten Zug. »Jetzt haben wir die Schweinerei!« rief der Ordonnanzoffizier. »Wie man es nimmt«, sagte der Kommandeur nachdenklich. Er angelte sich eine bereits abgeschnittene, leicht zerdrückte Zigarre aus der Brusttasche und setzte sie in Brand. »Jedenfalls«, erklärte der Adjutant, »ist Hauptmann 388
Müller-Marburg genauestens über die gebotene Verhaltensweise belehrt worden, zweimal schriftlich durch Bataillonsbefehl, beziehungsweise durch Anordnung des Grenzschutzkommandos Süd; ordnungsgemäße Quittung der erteilten Befehle liegt vor.« »Dann kann ja wohl nichts schiefgehen«, erklärte der Ordonnanzoffizier breit. Hauptmann Müller-Marburg wurde von dem erregenden Gefühl beherrscht, den Krieg auf sich zumarschieren zu sehen. Er lag in einer Mulde, hatte seinen Oberkörper mit beiden Ellbogen abgestützt und betrachtete das vor ihm befindliche Gebäude durch sein Zeiss-Glas. Er zwang sich, mit der gebotenen Sachlichkeit alles das zu registrieren, was er sah. Und plötzlich schien ihm alles selbstverständlich, als befinde er sich auf einem Truppenübungsplatz bei irgendeiner Felddienstübung. Und er lächelte sogar, als er drüben, etwa 1,3 Kilometer entfernt, einen Offizier liegen sah – der vermutlich ebenfalls durch ein Zeiss-Glas das Gelände beobachtete. Deutlich erkannte der Hauptmann eine Kompanie der Volksarmee, die sich gefechtsmäßig gegen den Bahndamm zu entfaltete. Die Leute bewegten sich schnell und zielstrebig. Sie waren gut gedrillt, sagte sich Müller-Marburg, wenn auch nach veralteten Methoden; ihre Infanterietaktik war die des Zweiten Weltkriegs. Die Demonstranten schritten unterdessen unbeirrt weiter auf die Grenze zu. Sie bewegten sich schweigend und stetig. Die Fahnen über ihnen schienen in der Hitze matt zu taumeln. Der Hauptmann erkannte jetzt die Absicht der gegnerischen Kompanie. Er betrachtete das Manöver der 389
Soldaten mit steigender Besorgnis. Sie versuchten, die Demonstranten links zu überflügeln, um vor ihnen in unmittelbarer Grenznähe zu sein – was ihnen wohl auch gelingen würde. Und während sie vorwärts eilten, zogen sich die Doppelposten der ostzonalen Grenzpolizei zurück. »Schneller, schneller!« rief der Hauptmann, den dieses Schauspiel zu erregen begann – und er meinte damit: die Demonstranten sollten schneller gehen, um vor den Soldaten die Grenze zu erreichen. Aber das taten die Demonstranten nicht. Die Soldaten der Volksarmee überflügelten jetzt die Demonstranten. Sie gingen dicht bei der Grenze in Stellung. Die Mündungen ihrer Waffen zeigten parallel zur Grenze. »Was mache ich, wenn diese Schweine jetzt schießen?« fragte sich Hauptmann Müller-Marburg. Und während er auf eine Funksprechverbindung mit seinem Kommandeur wartete, beobachtete er durch sein Glas eine gegnerische MG-Gruppe. Die Munitionstrommeln waren eingelegt. Der Richtschütze, der die Demonstranten anvisierte, schien seinen Finger am Abzug zu halten. Dieser Soldat war der Gefreite Schulze-Schwerin. Der Major, der das Grenzschutzbataillon kommandierte, verlangte eine Verbindung mit dem Oberst. Es meldete sich der Ordonnanzoffizier des Grenzschutzkommandos Süd. »Der Kommandostab«, sagte der Offizier, »verlegt gerade nach Münchberg. Der Oberst und der Chef sind nur durch Funk zu erreichen. Sie müssen Geduld haben!« »Verdammt«, rief der Major. »Soll ich etwa ruhig zusehen, wenn vor meinen Augen Menschen 390
zusammengeknallt werden!« »Herr Major«, sagte der Ordonnanzoffizier alarmiert, »lassen Sie sich unter keinen Umständen provozieren!« »Und wenn wir angegriffen werden?« »Das kann nicht passieren«, sagte der Offizier des Kommandos suggestiv. »Wir besitzen einwandfreie Berichte von drüben, nach denen so etwas nicht geschehen kann.« »Herrgott!« rief der Major heftig. »Wenn Sie hier an meiner Stelle wären, würden Sie sich hüten, einen derartigen Blödsinn zu verzapfen! Hier bahnt sich eine Riesensauerei an und Sie reden von Schreibtischbefehlen, mit denen sich hier niemand mehr auch nur den Hintern abwischen wird, wenn die Scheiße da ist!« Vor soviel Deutlichkeit verstummte der Ordonnanzoffizier. Er war maßlos erstaunt, gerade diesen bisher außerordentlich bedächtigen und überlegenen Offizier derartig unbeherrscht erlebt zu haben. »Das«, sagte der Offizier besorgt, »wird mir der Oberst nicht glauben.« Der Gefreite Schulze-Schwerin lag hinter seinem Maschinengewehr und starrte auf die Demonstranten, die den östlichen Grenzstreifen erreicht hatten. Er sah Männer mit Gesichtern, die ihm wild, finster und drohend erschienen. Es waren Menschen, entschied er, die aufgehetzt worden waren und nun selber Aufhetzer geworden sind – Opfer einer skrupellosen faschistischen Propaganda, volksfeindliche Verräter in fremdem Sold! Der Gefreite Schulze-Schwerin, beide Hände in den Haltegriffen, den Zeigefinger der rechten Hand 391
ausgestreckt gegen den Abzug gelegt, sah jetzt, wie sich diese Volksfeinde auf den Stacheldraht zuschoben und ihn mit Drahtscheren zu durchschneiden begannen. »Das darf man doch nicht dulden!« rief SchulzeSchwerin empört. Er wartete auf den Befehl, das Feuer auf diese Subjekte zu eröffnen, die ihr Volk und Land verrieten, die nicht das mindeste Gefühl für Dankbarkeit und Verantwortungsbewußtsein besaßen, die leichtfertig zerstören wollten, was in langen, harten, mühsamen Jahren erworben und ausgebaut worden war und was er bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen gelobt hatte. Aber dieser Schießbefehl kam nicht! War das Entschlußlosigkeit – oder gar Verrat? Das Drahthindernis wurde zur Seite gezerrt. Die Verräter johlten. Ein Fahnenträger, von zwei anderen Subjekten flankiert, schickte sich an, die Zonengrenze zu überschreiten. Und da zog der Gefreite Schulze-Schwerin, überwältigt von ehrlicher Empörung, sich aufbäumend gegen dieses Bild der Zersetzung, den Abzugshebel durch. Das Maschinengewehr zuckte in rhythmischen Stößen und es war, als zittere es vor hemmungsloser Wut. Im Gedröhn der Explosionen, durch aufzuckenden Feuerschein und dünne Rauchschleier, sah der Gefreite Schulze-Schwerin den Fahnenträger taumeln, vorwärtskippen und zusammenbrechen. Der Hauptmann Müller-Marburg sah, wie die Menschen die Arme hochrissen, übereinanderfielen, auseinanderliefen, sich zur Erde warfen und in Deckung zu kriechen versuchten – Menschen, die der Glaube an eine bessere Zukunft beseelt hatte, die nichts sehnlicher wünschten als Freiheit. Und ihm war, als hörte er erst 392
später, viele Sekunden später, die kalte Heftigkeit des Maschinengewehrfeuers, das wilde, verzweifelte, anklagende Geschrei der Menschen – dieser braven, guten, sauber gebliebenen Männer! Er sagte sich, hastig, impulsiv, unkontrolliert: das darf nicht sein! Sie dürfen nicht schießen. Sie hätten sie mit Kolben nach Hause treiben können. Diese Menschen tragen doch keine Waffen. Es ist ein Verbrechen, gegen sie mit dieser Brutalität vorzugehen – ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wider die Natur, gegen die Gesetze Gottes. Und er schrie: »Feuer!« Die Maschinengewehre der Kompanie Müller-Marburg ratterten los, kaum daß er dieses Wort ausgesprochen hatte. Und plötzlich flackerten von allen Seiten die Mündungsfeuer auf. Es war, als habe sich die flirrende Hitze des Tages in ein wild-fieberndes Gedröhn verwandelt. Ketten von Kugeln zischten sich entgegen, über die Menschen hinweg, die die Freiheit gesucht hatten und die sich jetzt an die Erde krallten. Was vordem Grenze hieß, war jetzt Niemandsland. Deutschland war zum Schlachtfeld der Deutschen geworden. »Vollgas!« schrie der Kommandeur, als er die ersten Schüsse an der Grenze aufpeitschen hörte. Der Kübelwagen, in dem er saß, schien vorwärtszuspringen. Er beugte sich vor, als könnte er so die Entfernung zwischen sich und seinem Ziel verringern. »Feuer einstellen!« schrie der Major, als er die Kompanie des Hauptmanns Müller-Marburg erreicht hatte. »Feuer einstellen!« riefen sich die Soldaten zu. Und ihre Waffen schwiegen – die auf der anderen Seite auch. 393
Aber in die plötzliche Stille hinein, die fast wie eine Betäubung wirkte, fiel ein ferner, dumpfer Knall – der zunächst harmlos schien, sich nach Sekunden wiederholte, diesmal mit einem krachenden, zerfetzenden Zerbersten inmitten der Kompanie MüllerMarburg. Fetzen aus Dreck, Stein und Eisen sprühten gegen den Major, rissen seine Uniform auf, drangen in seine Brust, zerschnitten sein Gesicht, löschten es aus. Der Major fiel wie ein Baum. »Granatwerferfeuer!« schrie ein Mann. »Volle Deckung!« Mutter Schwiefert saß im überfüllten Interzonenzug, der Berlin um 9.07 Uhr hätte verlassen sollen. Die amtlich angegebene Abfahrtszeit war bereits um neun Minuten überschritten, und immer noch waren keine Anzeichen dafür vorhanden, daß sich der Zug in Bewegung setzen würde. Unruhe breitete sich unter den Fahrgästen aus. Das ließ Mutter Schwiefert gleichgültig, denn sie wußte, daß sie doch nichts ändern konnte: es waren Beamte am Werk. Und bei Beamten, sagte sich Mutter Schwiefert, muß man auf vieles gefaßt sein – sogar auf unangenehme Überraschungen. Davon war sie überzeugt; denn ihr Mann war auch Beamter gewesen. Was sie, die breit und gelassen dasaß, dennoch unwillig stimmte, war ihre Tochter Isolde, die fehlte und vermutlich noch immer von ihrem Peter Abschied nahm. Mutter Schwiefert, die wußte, daß es nie gut ist, Abschiedsszenen übermäßig auszudehnen, erhob sich, belegte ihren und Isoldes Platz und bat auch ihre Mitreisenden, darauf zu achten. Mutter Schwiefert drängte sich durch die Menschen, die dicht nebeneinander im Gang standen, überstieg 394
einige Koffer, Kartons und Kisten und fand schließlich Isolde und Peter, die dicht aneinandergedrängt durch ein Korridorfenster hinaussahen. Damit Isolde es bequemer habe, hatte Peter ritterlich schützend seinen Arm um sie gelegt. Diese Szene betrachtete Mutter Schwiefert mit steigendem Mißtrauen: keiner der beiden schien irgend etwas wie Trennungsschmerz zu empfinden. »Habt ihr euch denn immer noch nicht voneinander verabschiedet?« fragte Mutter Schwiefert hinter ihnen. Die beiden »Kleinen« drehten sich um und sahen sie unbekümmert an. »Aber Mutter«, sagte Isolde, »der Zug fährt doch noch gar nicht.« »Er kann aber jeden Augenblick abfahren!« »Die Abfahrt dieses Zuges«, erklärte Peter, »ist auf unbestimmte Zeit verschoben.« »Euer Abschied jedoch nicht!« stellte Muter Schwiefert fest. »Du kommst jetzt mit, Isolde – ich habe nämlich dauernd Scherereien, dir deinen Platz freizuhalten.« »Dann wird es wohl das beste sein, wenn du mitgehst«, sagte Peter. Isolde nickte. »Wiedersehen!« sagte sie leichthin und lächelte Peter zu. Dann folgte sie ihrer Mutter. Als die Frau und das Mädchen ihr Abteil betraten, sahen sie auf ihren Plätzen einen dicken, streitbar um sich blickenden Mann sitzen. »Erlauben Sie«, sagte Mutter Schwiefert, »der Platz, auf dem Sie sitzen, gehört mir.« »Haben Sie ihn etwa gekauft?« fragte der Mann. »Können Sie das beweisen? Sehen Sie – das können Sie nicht. Was wollen Sie also? Wer sitzt, der sitzt. Aber ich bin ja kein Unmensch – ich rücke ein wenig zur Seite. 395
Wenn Sie sich nicht allzu breit machen, dann dürfen Sie neben mir Platz nehmen.« »Stehen Sie sofort auf!« rief Mutter Schwiefert streitbar. »Sie!« rief der Mann empört, »seien Sie nicht undankbar! Es gibt hundert andere in diesem Zug, die sich glücklich schätzen würden, wenn ich ihnen einen Platz anbiete.« Mutter Schwiefert sah sich hilfesuchend um. Einige der Insassen des Abteils murrten, andere sahen zur Seite, wieder andere schienen sich über dieses Intermezzo zu amüsieren. Mit Mutter Schwiefert sympathisierten fast alle – aber keiner war bereit, handgreifliche Hilfe zu leisten. Ein Zugbeamter erklärte sich schließlich für nicht zuständig - Fahrkarte und Platzkarte, letztere einwandfrei für diesen Wagen geltend, wären »bei dem Herrn« in Ordnung. »Hat man denn so etwas schon erlebt! Anstatt daß diese Person mir dankbar ist, macht sie mir Schwierigkeiten! Und das in einer Zeit, in der wir alle zusammenhalten sollten. Aber wer ist denn heute schon dankbar! Nicht einmal Verständnis können diese Leute aufbringen, die zu ihrem Vergnügen durch die Gegend reisen – oder vielleicht sogar, weil sie die Hosen voll haben und unser Berlin im Stich lassen. Soweit kommt das noch! Da kann ich nur sagen: Herrschaften – Sie fahren in der falschen Richtung. Sie gehören nämlich in einen Zug nach Sibirien.« Peter, inzwischen von Isolde über die Situation aufgeklärt und herbeigeholt, betrat das Abteil. Er betrachtete den doppelzentnerschweren Mann und fand sofort, daß nur die Kräfte eines Athleten ausreichen würden, diesen Fleischberg in Bewegung zu setzen. Er 396
dachte jedoch nicht daran, zu resignieren. Suchend bemerkte er inmitten der Gepäckstücke von Isolde und Mutter Schwiefert zwei Aktentaschen, die offenbar dem wutschnaubenden Monstrum gehörten. Eine davon zerrte er herunter und fragte: »Ihr Eigentum?« »Nehmen Sie gefälligst Ihre schmutzigen Finger von meiner Tasche, Sie Schnösel!« rief der Mann. »Sofort!« sagte Peter, von Isoldes vertrauensvollen Blicken angefeuert. Und mit Schwung warf er die Tasche zum offenen Abteilfenster auf den Bahnsteig hinaus. Der Mann erhob sich erregt schnaufend und stürzte hinaus. Peter warf ihm alle seine Gepäckstücke hinterher. »Ihre Plätze, Frau Schwiefert!« sagte er dann galant. Der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland hatte seinen Arbeitstag zur üblichen Zeit und in gewohnter Weise begonnen, den Berichten seines Pressechefs zugehört, kurz mit dem Präsidenten des Nachrichtendienstes telefoniert und bei all dem unerschütterliche Ruhe auszustrahlen versucht. Das ihn umgebende Personal atmete erleichtert auf: der Kanzler blieb gelassen, also konnte die Lage nicht so bedenklich sein, wie das gewisse neutrale Stimmen wahrhaben wollten. Außerdem kursierte die Behauptung, der Kanzler habe gelacht; worüber, das konnte zwar niemand genau angeben; die Hauptsache aber war: er hatte gelacht. Der Kanzler jedoch, der mindestens aus drei Quellen schöpfte, also immer mehr wußte als sein jeweiliger Nachrichtenzuträger, hatte Mühe, seine Besorgnisse nicht allzu deutlich sichtbar werden zu lassen. Er war auf Schlimmes gefaßt, zugleich aber überzeugt davon, daß 397
es, wie immer, vorübergehen würde. Um 9.00 Uhr meldete sich der Innenminister beim Kanzler und behauptete, daß die Lage an der Zonengrenze katastrophal sei. »Ich weiß sehr wohl«, sagte der Bundeskanzler, »daß an der Zonengrenze Demonstrationszüge eingetroffen sind. Der Delegation der Streikleitung aus Leipzig ist es sogar gelungen, bis nach Bebra zu kommen. Die Leute verlangen, nach Bonn gebracht zu werden. Und in einer halben Stunde beginnt die Bundestagssitzung. Viel mehr kann doch wohl kaum noch passieren.« »Herr Bundeskanzler«, sagte der Innenminister. »Ich muß eine weitere beunruhigende Nachricht übermitteln.« Der Bundeskanzler forderte genauen Bericht. Das Gespräch, das nun folgte, lautete: Der Innenminister: Im Abschnitt des Grenzkommandos Süd, bei Hof, wurden Demonstranten in unmittelbarer Grenznähe, zum Teil bereits auf unserem Gebiet, von einer Kompanie der Volksarmee unter Feuer genommen. Ein Kompaniechef des Bundesgrenzschutzes ließ daraufhin das Feuer auf die Volksarmee eröffnen. Bei dem Versuch, verwundete Demonstranten von der anderen Seite der Zonengrenze zu bergen, ist das Grenzschutzbataillon in ein regelrechtes Gefecht mit der Volksarmee verwickelt worden. Der Gegner hat inzwischen Verstärkungen nachgezogen. Im Zuge der Kampfhandlungen ist der Grenzschutz zwei Kilometer auf Sowjetzonengebiet vorgedrungen. Der Abschnittskommandeur hat versucht, das Bataillon, dessen Kommandeur unglücklicherweise gefallen ist, vom Gegner zu lösen. Diese Versuche sind bisher fehlgeschlagen. Außerdem hat die Volksarmee einen vom Abschnittskommandeur ausgeschickten 398
Parlamentär beschossen. Damit bestanden auch keine Möglichkeiten, über ein Feuereinstellungsabkommen zu verhandeln. Der Bundeskanzler (nach längerer Pause): Warum ist denn nicht sofort ein Rückzugsbefehl gegeben worden? Der Innenminister: Der Abschnittskommandeur weigert sich, einen solchen Befehl zu geben, Herr Bundeskanzler. Die örtlichen Verhältnisse lassen ein Lösen vom Gegner nur unter schweren eigenen Verlusten zu. Der Kommandeur hat im Gegenteil Verstärkungen nachgezogen. Der Bundeskanzler: Ein derartiges Verhalten grenzt an Wahnsinn. Der Mann muß zurück! Und wenn es ihn die Hälfte seiner Soldaten kostet. Der Innenminister: Herr Bundeskanzler – kann ich von dem Oberst verlangen, daß er wider seine Verantwortung handelt? Der Bundeskanzler: Herr Innenminister, es ist jetzt nicht der Zeitpunkt, darüber zu diskutieren. Ich erinnere an Zeiten, wo von deutschen Obersten noch ganz andere Dinge verlangt worden sind, ohne daß sie auf die Idee gekommen wären, auf ihre Überzeugung zu pochen. Doch lassen wir das. Die Truppen müssen sofort zurückgenommen werden. Wenn der Oberst diesen Befehl nicht bedingungslos ausführt, dann lassen Sie ihn verhaften. Diese Geschichte muß unverzüglich bereinigt werden. Der Innenminister: Herr Bundeskanzler, dann muß ich auch den Kommandeur des Nordabschnitts verhaften lassen. Bei Herrnburg in der Nähe von Lübeck hat sich fast dasselbe abgespielt. Nur daß dort im Verlaufe des Gefechts Einheiten der Volksarmee auf das Gebiet der Bundesrepublik vorgedrungen sind. 399
Der Bundeskanzler (schweigt). 9.42 Uhr. Der Bundeskanzler an seinen Staatssekretär: »Rufen Sie den Bundestagspräsidenten an. Wegen außerordentlicher Ereignisse lasse ich den Herrn Präsidenten bitten, im Einvernehmen mit dem Ältestenrat die Sitzung des Bundestags um zwei Stunden zu verschieben. Das Kabinett muß zu einer Sondersitzung zusammentreten und kann nicht eher im Parlament erscheinen. Rufen Sie die Kabinettsmitglieder für zehn Uhr zusammen. Bitten Sie den Verteidigungsminister sofort hierher. Lassen Sie ein Gespräch nach Washington anmelden. Ich möchte den amerikanischen Außenminister sprechen.« 9.52 Uhr. Gespräch des Bundeskanzlers mit dem amerikanischen Außenminister. Wörtlich, ungekürzt: Der Bundeskanzler: Herr Minister, an unserer Zonengrenze zur sowjetischen Besatzungszone ist eine Krisenlage entstanden. Im Norden und im Süden sind Einheiten des Bundesgrenzschutzes in Kämpfe mit der Volksarmee verwickelt. Der amerikanische Außenminister: Herr Bundeskanzler, ich bin darüber vor wenigen Minuten unterrichtet worden. Ich habe soeben mit dem Präsidenten gesprochen. Die amerikanische Regierung ist bestürzt. Sie macht die deutsche Bundesregierung nochmals nachdrücklich auf die NATO-Beschlüsse aufmerksam. Und das muß ich im Augenblick auch im Namen der anderen verbündeten Regierungen sagen. Herr Bundeskanzler, die NATO ist nicht angegriffen worden! Und es sieht auch nicht so aus, als hätten die sowjetischen Truppen diese Absicht. Wenn deutsche Einheiten jetzt unbesonnen in Schwierigkeiten geraten, 400
so kann die NATO nicht helfen. Wir wollen keinen Weltkrieg, Herr Bundeskanzler. Der Bundeskanzler: Auch wir wollen keinen Krieg! Der amerikanische Außenminister: Davon ist die Regierung der Vereinigten Staaten überzeugt, Herr Bundeskanzler. Aber Sie müssen jetzt alles tun, um die Situation an der Grenze so schnell und so eindeutig wie nur irgend möglich zu bereinigen. Der Bundeskanzler: Ich versichere Ihnen, daß die Bundesregierung alles, was in ihren Kräften steht, tun wird. 9.58 Uhr. Bericht des Staatssekretärs an den Bundeskanzler: »Herr Bundeskanzler. Die Kabinettsmitglieder sind versammelt. Leider muß ich Ihnen mitteilen, daß der Herr Bundestagspräsident den Ältestenrat nicht von der Notwendigkeit einer Verschiebung der Plenarsitzung überzeugen konnte. Die Opposition hat soeben einen Antrag eingebracht, daß Sie, Herr Bundeskanzler, sofort vor dem Parlament erscheinen mögen. Der Antrag wird mit Sicherheit angenommen.« 10.05 Uhr. Der Bundeskanzler vor den Mitgliedern seines Kabinetts: »Wir müssen jetzt alle Bedenken zurückstellen und einen Schritt vom Wege unserer bisherigen Politik tun. Ich halte es für meine Pflicht, dem Bundestag vorzuschlagen, daß Regierung und Parlament einen gemeinsamen Appell an die Regierung in Ost-Berlin richten, das Blutvergießen unter Deutschen sofort einzustellen. Ich bitte um Ihre Zustimmung.« Der Verteidigungsminister hob seinen schmalen Kopf, blickte den Bundeskanzler an und sagte mit seiner kühlen, unpersönlich klingenden Stimme: »Dagegen.« 401
»Ebenfalls!« rief der Minister für gesamtdeutsche Fragen überraschend heftig. »Schließe mich an«, sagte ein dritter. »Für die Menschen dort drüben – alles! Für ihre sogenannte Regierung – nichts. Es war bisher unser Prinzip, die Leute in Pankow als nicht existent zu betrachten; es kann gar kein Ereignis geben, das uns von dieser unserer wohlerwogenen Haltung abbringen könnte.« »Also«, sagte der Kanzler unbewegt. »Drei Stimmen dagegen. Das ist die Minderheit. Mein Vorschlag ist angenommen.« Maria wußte nicht, daß die kleine Grenzstation südlich Sonneberg schon seit vielen Monaten geschlossen war. Das war ein »normaler« Vorgang gewesen – er half mit, den Strom der Ein- und Ausreisenden auf wenige vorzüglich bewachte Stationen zu konzentrieren. Im Augenblick jedoch existierte vieles von dem nicht mehr, was noch gestern »normal« erschienen war. Je näher Maria abseits der großen Straße an die Grenze kam, um so mehr hatte sie den Eindruck, in eine fröhliche, nahezu turbulente Gegend geraten zu sein. Die Menschen, die sie hier antraf, schienen ihr lebhafter; es gab sogar Gruppen, die singend auf Lastwagen an ihr vorbeifuhren. Und der Grenzübertritt war wesentlich anders, als sich Maria ihn vorgestellt hatte – daß er etliche Kilometer weiter wieder ganz anders war, konnte sie nicht wissen. Wohl sah sie das vielbeschriebene »Niemandsland«, sah Stacheldraht auf den Feldern und einen Wachtturm. Aber eine Grenzsperre sah sie nicht; dafür aber einen zur Seite geworfenen Schlagbaum. Und die Grenzpolizisten, die herumstanden, schienen sie fröhlich zu mustern. Sie winkten und lachten den Menschen zu, die an ihnen vorübergingen. Sie dachten offenbar gar nicht daran, sie zu kontrollieren. 402
Maria näherte sich zwei von ihnen, die mitten auf der Straße standen und miteinander redeten. Sie trugen verschiedene Uniformen; aber sonst sahen sie einander sehr ähnlich. »Darf ich über die Grenze?« fragte Maria. Die beiden Uniformierten betrachteten Maria belustigt und neugierig zugleich. Dann grinsten sie sich an. »Über welche Grenze?« fragte einer erstaunt. »Ich will in die Ostzone«, sagte Maria. »In welche Ostzone?« fragte einer der Uniformierten, und beide lachten. »In die Deutsche Demokratische Republik«, sagte Maria, leicht verwirrt. »Was ist denn das?« wurde sie gefragt. »Kommen Sie etwa vom Mond, Fräulein?« »Nein«, sagte Maria ärgerlich. »Ich komme aus der Bundesrepublik Deutschland.« »Was Sie nicht sagen!« Die Männer schienen sich zu amüsieren. »Bundesrepublik? Schon lange überholt, Fräulein. Sie sind in Deutschland – mitten in Deutschland! Sie können gehen, wohin Sie wollen. Seit zwei Stunden gibt es nämlich wieder ein einziges Deutschland – zumindest hier bei uns.« »Und wie lange wird dieser Zustand dauern?« fragte Maria ahnungslos. Sie wußte wirklich nicht, was geschehen war und wie sie das alles zu deuten hatte. Sie war frühmorgens aufgestanden und pausenlos durchgefahren, ohne mit irgendeinem Menschen zu sprechen. Außerdem verstand sie nichts von Politik – sie hatte sich niemals auch nur die geringste Mühe gegeben, irgend etwas davon zu verstehen. Sie nahm alles hin, was die Politik ihr bescherte. Sie 403
hatte sich einen Paß besorgt, weil das von ihr gefordert worden war. Sie gedachte eine Grenze zu überqueren, weil eben diese Grenze existierte und ihr ohnehin nichts anderes übrig blieb, als sie zu respektieren. Martin hatte ihr nur gesagt: »Alle Dinge, die uns trennen oder auch nur beunruhigen können, darf es für uns nicht geben. Wichtig ist allein, daß wir uns lieben!« »Warum wollen Sie eigentlich nach drüben?« hörte sie jetzt einen der uniformierten Grenzbeamten fragen. »Ich will meinen Bräutigam besuchen«, sagte Maria, die gerne von Martin sprach. »Wir wollen unseren Urlaub gemeinsam verbringen.« »Hier bei uns im Thüringer Wald?« fragte der eine, der die Uniform der ostdeutschen Grenzpolizei trug. »Kommen Sie von weit her?« »Von Oberbayern«, sagte Maria. »Großartig!« rief der Uniformierte begeistert. »Ehrengeleit!« rief der westdeutsche Grenzpolizist. Die beiden hatten offenbar etwas getrunken, sie schienen guter Laune, ungewohnt verträglich und auf angenehme Art unternehmungslustig. »Das muß gefeiert werden«, sagte der eine. »Drüben, auf der anderen Seite, in der ehemaligen Zollbaracke.« »Aber ohne mich«, sagte Maria. »Ich habe es eilig.« »Fräulein«, erklärte der eine, »heute ist ein ganz besonderer Tag. Und deshalb erlauben wir uns auch, eine ganz besondere Art von Zoll zu erheben. Wir durchsuchen weder Sie noch Ihre Koffer, wir beschlagnahmen nichts und erheben auch keine Gebühr – wir bestehen nur darauf, daß Sie mit uns ein Gläschen trinken. Auf Ihr Wohl, auf unser Wohl und auf das Wohl von Deutschland!« 404
Der Lautsprecher, der im Flughafenrestaurant in Hamburg hing, verkündete: Aus technischen Gründen strahlen die Rundfunkanstalten der Deutschen Bundesrepublik von jetzt an ein gemeinsames Programm aus. Wir senden in Kürze Nachrichten. Wolf Beck, der in der Nähe des Lautsprechers mit Ruth Winters saß, unterbrach sein Gespräch und hob lauschend den Kopf. Er vernahm nichts als ein anhaltendes dumpfes Summen. Er sah auf die Uhr, die groß an der Stirnwand des Restaurants hing. Es war kurz vor 11 Uhr. »Komm bald nach«, sagte Ruth und legte ihre Hand zärtlich auf die seine. »Um mich«, sagte Wolf, ihr zulächelnd, »brauchst du dir keinerlei Sorgen zu machen. Ich denke immer sehr viel an mich – und jetzt auch an dich.« Der Nachrichtensprecher sagte: Vor wenigen Minuten hat der Deutsche Bundestag in einer Sondersitzung, die von allen Sendern der Bundesrepublik übertragen wurde, an die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik einen Appell gerichtet, unverzüglich dem Blutvergießen in der sowjetisch besetzten Zone und an den Grenzen ein Ende zu setzen. Die Regierung in Ost-Berlin wird aufgerufen, die Kampfhandlungen an der Zonengrenze zu beenden. »Bei Henry Engel«, sagte Wolf Beck, der diese Nachrichtensendung nicht zu beachten schien, »wirst du dich glänzend amüsieren. Er ist beinahe schon so etwas wie ein Original. Er gibt sich gern den Anschein, als könne er Bäume ausreißen, dabei ist er nicht einmal in der Lage, eine lästige Fliege zu töten. Im Grunde will er nichts als die Menschheit beglücken, aber da sich die 405
Menschheit das nicht gefallen lassen will, wünscht er sie zum Teufel.« »Er kennt mich noch gar nicht«, sagte Ruth, »vermutlich ahnt er nicht, daß ich überhaupt existiere.« »Der gute Henry«, sagte Wolf Beck, »will stets den Anschein erwecken, daß er durch nichts erschüttert werden kann. Er wird dich empfangen, als hättest du mit ihm im Sand gespielt. Aber es ist nicht unbedingt ratsam, ihm ebenso zu begegnen. Henry liebt das Zwanglose, Selbstverständliche, doch nichts, das vertraulich oder gar intim wirken könnte.« »Ich werde immer bemüht sein, dich nicht zu enttäuschen«, versicherte Ruth. Wolf wich ihrem Blick aus und sah auf die Uhr. Er hatte Ruth bei Henry Engel ein wenig ungenau angekündigt – nicht ganz ohne Absicht, wie er sich eingestehen mußte. Henry war ein phantasievoller Kopf und ein unruhiger Geist; er würde Ruth Winters, ganz wie es seine Art war, nur zum Teil respektieren. Hätte Wolf unmißverständlich gekabelt: ich schicke dir meine zukünftige Frau – wäre Henrys Reaktion völlig klar vorauszusehen gewesen. Er hätte dann Ruth unter allen Umständen respektiert. So aber war durchaus zu erwarten, daß Henry das Verlangen packen würde, Ruth ziemlich genau unter die Lupe zu nehmen. Überstand sie dann Henry, hatte sie viel überstanden. Ganz gleich jedoch, was sich auch ergeben würde – auf das sich abzeichnende große Geschäft konnte es nur, geschickt ausgespielt, fördernd wirken. Der Nachrichtensprecher: Wie aus Bayern gemeldet wird, sind nördlich von Hof immer noch schwere Kämpfe zwischen Einheiten des Bundesgrenzschutzes und der Volksarmee im Gange. 406
Der Feuerüberfall der Volksarmee auf den Demonstrationszug ans Plauen war, wie wir bereits mehrfach berichtet haben, der Ausgangspunkt für diese Kampfhandlungen zwischen Grenzschutz und Volksarmee. Er hat unter den Demonstranten zwanzig Todesopfer gefordert. »Bayern?« fragte Ruth, eine leichte Unruhe verbergend. »Geschieht so etwas in Bayern?« Und das hörte sich so an, als sei sie lediglich erstaunt darüber, was es doch alles in Bayern, in das sie hineinzufliegen im Begriff war, gäbe. »Bayern«, sagte Wolf unbekümmert, »ist groß – jedenfalls so groß, daß ein paar herumschießende Kompanien im nördlichsten Teil keinen Dackel in München beunruhigen. Und das Haus von Henry Engel liegt noch weiter südlich – von dort aus ist es nicht weit nach Österreich oder in die Schweiz. Dort bist du in den Alpen und damit schon so gut wie in Italien.« »Auf deinen Freund bin ich gespannt«, versicherte Ruth, nunmehr beruhigt. »Das kannst du auch sein«, sagte Wolf gedehnt. Und er fragte sich, wie weit er Ruth über seinen ein wenig eigenwilligen Freund aufklären sollte, beschloß jedoch im gleichen Augenblick, alles ein wenig treiben zu lassen. Auf Henrys inquisitorische Neugier konnte er rechnen. Der Nachrichtensprecher sagte, nachdem er ausführliche Details über den Grenzzwischenfall bei Hof verlesen hatte, folgendes: Auch südlich von Lübeck sind zur Zeit Kampfhandlungen zwischen Einheiten des Grenzschutzes und der Volksarmee im Gange. Hier war, wie wir ebenfalls schon berichteten, die Volksarmee auf das Gebiet der Bundesrepublik vorgedrungen, um 407
flüchtende Demonstranten zu verhaften. Die Kämpfe spielen sich westlich von Herrnburg ab, etwa auf der Mitte zwischen Grenze und Elbe-Lübeck-Kanal nördlich des Ratzeburger Sees. »Das klingt besorgniserregend – findest du das nicht auch, Wolf?« »Halb so wild«, sagte Wolf Beck. »Solange Amerika und die Sowjetunion nur zuschauen – und mehr können sie nicht riskieren - werden unsere passionierten Vaterlandsverteidiger kaum größeren Schaden anrichten.« »Was mich ein wenig besorgt macht«, gestand Ruth nach kurzem Zögern, »ist die Begegnung mit deiner Frau.« »Constance«, sagte Wolf Beck, »ist ein außerordentlich verträglicher Mensch, von ungewöhnlicher Gutmütigkeit und Toleranz. Sie wird froh sein, wenn du nett zu ihr bist – und das verdient sie auch. Und ob du ihr heute begegnest oder in ein paar Monaten, spielt doch gar keine Rolle – einmal müßte das doch geschehen. Und außerdem wirst du sehr schnell merken, wie froh Constance im Grunde darüber ist, daß unsere Ehe zu Ende geht.« Im Lautsprecher wurde nunmehr die letzte Nachricht dieser Sendung verlesen: Die Ostzone befindet sich seit heute früh in offenem Aufruhr. In verschiedenen Städten finden Straßenkämpfe statt. Die sowjetische Armee hat fast überall die vollziehende Gewalt übernommen und in die Kämpfe zwischen Arbeitern und Volkspolizei eingegriffen. Die schwersten Kämpfe sollen sich nach in West-Berlin eingetroffenen Berichten in Magdeburg, Halle und Leipzig abspielen. Auch aus Ost-Berlin werden wieder 408
Schießereien gemeldet. Einzelheiten sind noch nicht bekannt. »Ich komme bald nach«, versprach Wolf Beck. »Ich werde die wichtigsten Geschäfte schnell abschließen und dich dann bei Henry abholen. Und es ist wichtig, daß du bei Henry bleibst, bis ich komme – laß dich durch nichts davon abbringen.« »Befürchtest du Komplikationen?« fragte Ruth. »Ich kalkuliere immer alle Möglichkeiten ein«, sagte Wolf Beck beruhigend. »Und ich verlasse mich auf Henry.« Und er dachte dabei: Henry wird Ruth analysieren, als handle es sich um ein Laboratoriumsobjekt. War er damit fertig, würde er nicht zögern, Wolf das Endergebnis mitzuteilen – aus Forschereitelkeit und als Freundschaftsdienst. Und allein das schon würde sie menschlich ein wenig näherbringen: daraus aber könnte sich auch eine günstige geschäftliche Atmosphäre ergeben. »Kann ich Herrn Engel in jeder Beziehung vertrauen?« wollte Ruth wissen. Wolf nickte. Henry Engel stand am Fenster seines Arbeitszimmers und sah in den Garten hinunter. Constance Schubert stand neben ihm. Jeder von ihnen schien darauf zu warten, daß der andere sprach. Die große Hitze machte die Luft flimmern. Es war, als sei der Rasen eine grün schimmernde, zitternde Wasserfläche. Das Rot der Rosen leuchtete matt. Die Hunde lagen wie leblos im Schatten eines Baumes. »Ich hätte noch mehr Blumen pflanzen sollen«, sagte Henry Engel schließlich. 409
»Ich wäre dir gerne behilflich dabei gewesen«, versicherte Constance. »Dir fehlt die Geduld«, sagte Henry abweisend. »Nur beim Malen scheinst du sie zu haben – sonst nie. Was sonst noch gelegentlich bei dir wie Geduld aussieht, ist Apathie. In Wirklichkeit kannst du dich auf nichts konzentrieren – auf kein Buch, auf keine Blume, auf kein Tier. Du siehst das alles wohl, findest es schön oder auch weniger schön und hast es sofort wieder vergessen.« »Es gibt aber doch Dinge«, sagte Constance dicht neben ihm, »die ich nie vergessen kann.« »Du störst mich«, sagte er grob. Er ging in den Raum hinein und ließ sich in den großen Sessel fallen, der in einer Ecke zwischen Bücherregalen stand. Er griff wahllos nach einem Buch, schlug es demonstrativ auf und schien darin lesen zu wollen. Sie blieb am Fenster stehen, den Rücken gegen die Scheiben gelehnt, und betrachtete ihn aufmerksam. »Du darfst mir das glauben«, sagte sie leise. »Nach diesem Haus, seiner Stille, seinem Garten habe ich mich immer wieder gesehnt.« »Klar«, sagte Henry Engel, ohne aufzusehen. »Zwischen zwei Cocktailpartys, am Morgen nach einer strapaziösen Nacht, während einer öden Plauderei.« »Nicht nur dann«, sagte Constance. »Immer wieder einmal«, sagte Henry Engel unnachsichtig, »überfällt die gnädige Frau die Sehnsucht nach dem Primitiven, dem Unverfälscht-Natürlichen. Da will die Dame Schwarzbrot statt Kuchen essen, rosige Kinder an der Brust nähren, in einem duftenden Heuhaufen liegen, Kirschen vom Baum pflücken und einen richtigen Hahn krähen hören – so ein- bis zweimal 410
in vier Monaten!« »Es ist zu hell hier«, sagte Constance und blinzelte in das Licht. »Findest du das nicht auch?« Sie zog ein wenig hastig, doch entschlossen, die schweren Vorhänge an beiden Fenstern zu. Mattes, an Morgendämmerung erinnerndes Halbdunkel lag plötzlich im Raum. Dann schloß Constance die Tür und kam auf ihn zu. »So habe ich es gern«, sagte er. »Der Tag wird zur Nacht gemacht. Im Hochsommer denkt die Dame ans Schlittschuhlaufen und im tiefsten Winter will sie nackt in der Sonne liegen. Die Natur überlisten - das beliebte Gesellschaftsspiel der Zeit!« »Früher einmal«, sagte sie, sich neben ihn auf die Lehne seines Sessels setzend, »haben dich ganz andere Probleme beschäftigt.« »Damals,« sagte er ausweichend, »habe ich dich auch noch für einen halbwegs normalen Menschen gehalten.« »Henry«, sagte sie, sich zu ihm hinunterbeugend, »warum willst du gewisse Dinge nicht vergessen. Jeder Mensch macht Fehler – warum trägst du mir die meinen nach?« »Herrschaften, sagte der Angeklagte, ich habe niemand ermorden wollen – das muß man mir glauben. Die Hand ist mir ausgerutscht - das ist alles. Daß in dieser Hand ein Messer war, ist ein peinlicher Zufall. Als ich dann stolperte, wollte ich zwischen Arm und Oberkörper hindurchstechen – ich traf aber ins Herz. Das tut mir leid – es war ein Fehler. Aber macht nicht jeder Mensch seine Fehler?« »Du bist hartherzig, Henry.« »Ich bin Michaels Freund.« 411
»Henry – wie oft soll ich denn noch erklären, daß mich mit Michael nichts anderes verbindet als eine gute Freundschaft. Ich mag ihn gern - aber ich kann nicht sagen, daß ich ihn liebe. Ich habe ihm kein Versprechen gegeben.« »Aber er liebt dich!« »Das mag sein.« »Das ist so«, korrigierte sie Henry unnachsichtig. »Und habt ihr nicht im letzten Winter gemeinsam zwei Wochen in St. Moritz verbracht – zwei herrliche Wochen, wie Michael mir gegenüber strahlend behauptet hat?« »Aber natürlich, ohne daß irgend etwas passiert ist!« versicherte Constance eindringlich. »Nichts?« »Nicht das geringste! Michael hätte sich doch niemals Zudringlichkeiten erlaubt. Er ist ein ritterlicher Mensch.« »Wenn das wirklich so ist, dann ist er ein Trottel.« »Dir«, sagte Constance empört, »könnte etwas Derartiges natürlich nicht passieren.« »Natürlich nicht«, sagte Henry. »Das muß man sich einmal vorstellen: man fährt mit einer Frau, die man liebt und von der man annehmen kann, daß sie einen auch liebt, in eine der herrlichsten Gegenden dieser Erde – man wohnt zwei Wochen lang Tür an Tür, versichert sich gegenseitig, wie sehr man sich zugetan ist, ist von morgens bis abends zusammen, tanzt und trinkt miteinander, redet sich gegenseitig ein, daß man gemeinsam leben möchte. Und das ist alles!« »Ich hätte es tun sollen«, sagte Constance, dicht neben ihm, »aber ich konnte es nicht – deinetwegen nicht.« Henry Engel hörte Constance atmen. Er roch den 412
herben, mädchenhaften Duft ihrer Haut, den kein Parfüm störte; er spürte einen Arm, der sich, als müsse sie sich stützen, um seine Schulter gelegt hatte. »Mein liebes Kind«, sagte er mühsam. Er war fest entschlossen, ihr nicht zu verraten, wieviel sie ihm immer noch bedeutete – ihm immer bedeutet hatte. »Du solltest einen alten Mann nicht leichtfertig herausfordern. Meine stürmischen Jugendjahre sind vorüber. Ich brauche meine Kräfte vermutlich für unseren neuen Gast.« »Wir bekommen Besuch?« fragte Constance. »Und was für welchen!« rief Henry Engel, wobei er bemüht war, sich von ihr zu lösen. »Wir werden die Ehre und hoffentlich auch das Vergnügen haben, Wolfs neueste Errungenschaft kennenzulernen.« Er sprang, sich befreiend, auf, ging zu den Fenstern und zog die Vorhänge zur Seite. Grelles Licht blendete sie beide. »Chef!« rief Friebe draußen im Garten. »Am Tor sind zwei Männer und wollen sich nicht abwimmeln lassen.« Henry Engel beugte sich zum Fenster hinaus. »Auch nicht mit Gewalt?« fragte er. »Ich kann das ja mal ausprobieren«, sagte Friebe, »aber ich möchte Ihnen nicht gerne Ihre Geschäfte versauen, Chef. So stürmisch jedenfalls war die Nachfrage bisher noch nie!« »Um so besser«, entschied Henry Engel. »Das erhöht die Preise. Sage den Burschen: wir stellen gerade unsere Produktion auf Seide um.« »Ich fürchte, Chef, die Konjunktur dafür ist nicht sehr groß.« »Ach was!« rief Henry Engel. »Sogar mit Seide kann man Menschen umbringen – und mehr wollen diese 413
Leute doch nicht. Wir sind jedenfalls nicht mehr bereit, ihnen ihr Handwerk zu erleichtern!« Der amerikanische Stadtkommandant – neuerdings: Gouverneur von West-Berlin – hatte den Konferenzraum verlassen und sich in sein Arbeitszimmer begeben. Er setzte sich, erwartungsvoll und distanzgebietend, hinter seinen Schreibtisch. Er gab Order, die auf ihn wartenden Besucher hereinzulassen. Es erschienen Michael Reiners und Charly; der eine war gelassen, der andere schien bemüht, seine Empörung durch polternde Munterkeit zu überspielen. »General«, rief Charly noch im Türrahmen, »für Sie scheint die Zeit stillzustehen – wir schreiben jetzt nicht 1944, ich bin nicht mehr Ihr Captain und Ihnen in keiner Weise unterstellt.« »Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte der General förmlich, ohne sich zu erheben. »Ich stehe lieber!« sagte Charly, der sehr verärgert zu sein schien. Michael Reiners setzte sich wortlos in einen der angebotenen Stühle. Charly schob seine Hände tief in die Hosentaschen und sah den General herausfordernd an. Einige Sekunden lang herrschte Schweigen. »Ich habe Sie hergebeten«, begann der General zögernd. »Sie haben uns so gut wie vorführen lassen«, warf Charly ein. »Anders kann ich diesen Vorgang nicht bezeichnen. Aber Sie haben nicht die geringste Verfügungsgewalt über uns.« »Charly«, sagte der General begütigend, »ich bedauere das Mißverständnis – der Leutnant, der Sie hergebracht hat, scheint nicht sehr taktvoll gewesen zu 414
sein, gehandelt jedoch hat er genau nach meinen Anforderungen. Ich brauche Sie dringend.« »Die Situation entschuldigt alles«, erklärte Reiners verbindlich. »Danke, Doktor«, sagte der General. »Aber diese Situation zwingt mich auch dazu, ohne Umstände zum Wesentlichen zu kommen. Sie waren in der vergangenen Nacht sechs Stunden lang in einem Haus in West-Berlin mit einem amtierenden Minister der Ostzonenregierung zusammen, und zwar mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten G. M. – stimmt das?« »Lassen Sie uns überwachen, General?« fragte Charly grollend. »Sie nicht – aber den stellvertretenden Ministerpräsidenten«, erklärte der amerikanische Gouverneur. »Und der hat immer noch nicht West-Berlin verlassen – und vermutlich will er das auch gar nicht. Mit ihm befinden sich in der Westberliner Villa ein Begleiter und ein Chauffeur. Dieser Begleiter ist gleichzeitig sein Sekretär; der Chauffeur ist ein vorzüglicher Kurzwellenamateur. Seit den frühen Morgenstunden werden dort Funksprüche ausgestrahlt und empfangen.« »Dann machen Sie doch die Bude zu und lochen Sie diese Gesellschaft ein!« empfahl Charly empört. »Aber lassen Sie uns aus dem Spiel! Wenn wir mit irgend jemand plaudern, so heißt das doch noch lange nicht, daß wir mit ihm giftige Suppen kochen.« »Besteht Grund zu der Annahme«, fragte Doktor Reiners, »daß diese Funkstelle im Verkehr mit sowjetischen und ostzonalen Staatsoder Geheimdiensten steht?« »Das«, sagte der General plötzlich sehr lebhaft, »ist der springende Punkt. Zwei verschiedene 415
Funküberwachungsdienste, die wir unverzüglich, aber getrennt auf diese Stelle angesetzt hatten, glauben, daß es sich hierbei um eine Art Privatverkehr handelt.« »Auch ich neige zu dieser Ansicht«, bestätigte Doktor Reiners nach längerem Nachdenken. »Nach Agentenberichten«, sagte nunmehr der General, »existiert um diesen Ostzonenminister ein Kreis von Politikern, die nicht als kommunistisch bezeichnet werden können.« »Stimmt«, sagte Reiners offen. »Diese Gruppe ist nicht groß, hat aber einigen Einfluß; sie ist christlich orientiert, demokratisch und sehr deutsch.« »Deutschnational also?« bemerkte Charly. »Derartige Details dürfen uns jetzt nicht interessieren«, sagte der General schnell. »Aber ehe ich Ihnen nun sage, was mir an der ganzen Sache interessant erscheint, bitte ich Sie, diese Meldung zu lesen. Sie ist um 11.30 Uhr von hier aus nach Washington gegangen. Sie werden daraus schon ersehen, worauf es mir ankommt. Und insbesondere hoffe ich, Charly, daß Sie erkennen, wie sehr ich Ihnen vertraue und daß mir nichts ferner lag, als Ihnen Befehle zu erteilen. Ich bitte vielmehr abermals um Ihre Mitarbeit.« »General«, sagte Charly versöhnt, »Sie bringen mich um meine besten Artikel und um ein geruhsames Privatleben. Im Geiste habe ich bereits an meiner Schlagzeile gearbeitet: Kolonialmethoden in Berlin – General behandelt freien Bürger wie Sklaven – Zitiert ihn vor einen Untersuchungsausschuß!« »Sie wissen ja, wo der Whisky steht«, sagte der General. Die Meldung des Generals nach Washington, die Reiners und Charly jetzt lasen, hatte folgenden Wortlaut: 416
In den Ostberliner Randgemeinden Mahlsdorf, Köpenick und Grünau sind Kämpfe ausgebrochen. Offenbar haben sich die Widerstandsgruppen Waffen verschaffen können. Es wurde der Versuch unternommen, eine neue Besprechung mit dem General, der als sowjetischer Stadtkommandant eingesetzt ist, anzuberaumen. Dieser Versuch ist gescheitert. Der amerikanische Kurieroffizier, der meine Einladung überbringen sollte, wurde bereits an der Sektorengrenze von den sowjetischen Truppen abgewiesen. »Ich glaube Sie zu verstehen«, sagte schließlich Reiners gedehnt. »Sie brauchen dringend Verbindungen mit der Ostzone.« »Hat der General doch in Mengen!« rief Charly. »Ich wette, daß jetzt etliche Dutzend Agenten unentwegt morsen.« »So ungefähr«, sagte der General ausweichend. »Was aber immer noch fehlt, ist eine Verbindung zu den höchsten Regierungsstellen der Zone, mit einem möglichen Einfluß auf diese Regierung – oder auf eine andere, die sich vielleicht bilden könnte. Alles das scheint sich hier anzubieten.« »Also - dann nichts wie ran an den Freund, Doktor!« rief Charly. »Herr Doktor Reiners«, sagte der amerikanische General, »wird dringend in Bonn gebraucht. Die Bundesregierung hat mich gebeten, das Doktor Reiners zu sagen. Werden Sie diesem Wunsch entsprechen?« Reiners nickte. Einem derartigen Ruf konnte er sich nicht entziehen – und er wollte das auch gar nicht: er hatte diese Aufforderung erwartet. Sie paßte gut in seine eigenen Pläne. 417
»Bevor Sie aber mit einer Kuriermaschine abfliegen, Doktor«, sagte der General, »haben Sie noch drei Stunden Zeit, um einen lockeren Kontakt zwischen uns und dem Ostzonenmann, diesem stellvertretenden Ministerpräsidenten, in der Westberliner Villa herzustellen. Sagen Sie ihm, daß wir von seiner Tätigkeit wissen und sie stillschweigend dulden wollen, darüber hinaus wären wir nicht abgeneigt, ihn zu unterstützen: Er kann unsere Nachrichtennetze im Westen benutzen; wir können für ihn Funkverbindung nach fast allen größeren Orten der Ostzone herstellen. Wir sind sogar bereit, für ihn und seine Mitarbeiter einige Plätze in einer unserer Kuriermaschinen zu reservieren.« »Und wenn es uns gelingen sollte, Herr General, einen derartigen Kontakt herzustellen – was dann weiter?« »Dann fliegen Sie nach Bonn – und Charly fungiert an Ihrer Stelle als Verbindungsmann.« »Sie dürfen versichert sein, General«, sagte Charly grimmig, »daß Sie in meinem Testament nicht einmal erwähnt werden.« »Mir genügt«, sagte der General erleichtert, »daß Sie meinen Vorschlag annehmen – und ich war absolut sicher, daß Sie ihn annehmen werden. Sie werden sich eine derartige Story doch nicht entgehen lassen.« 13.00 Uhr. Fontainebleau. Lagebesprechung im NATO-Hauptquartier. Beurteilung der Lage durch den Oberbefehlshaber: Meine Herren, die Lawine rollt unaufhaltsam. Der sowjetische Aufmarsch hat begonnen. Seit heute nacht gehen russische Militärtransporte durch Polen. Die polnische Armee hat den Schutz der Bahnlinien übernommen. Die ostdeutsche Regierung hat immer noch nicht auf 418
den Appell des westdeutschen Parlaments geantwortet. Anscheinend ist sie nicht mehr Herr der Lage. Der Gefahrenherd nördlich von Hof weitet sich aus. Es stehen jetzt schon fast zwei volle Bataillone des Bundesgrenzschutzes im Kampf auf dem Territorium der Sowjetzone. An dieser Stelle vermerkte das amtliche Protokoll: kurze Pause – interne Besprechungen. Doch während dieser kurzen Pause kam es im Rahmen der sogenannten internen Besprechungen, die zumeist aus Dialogen zwischen dem Oberbefehlshaber und wechselnden Partnern bestanden, zu einem Wortwechsel, der Aufsehen erregte, obgleich er keineswegs von der betont sachlich-verbindlichen Umgangsform abwich, die in diesem Hauptquartier gepflegt wurde. Der Oberbefehlshaber hatte gerade dem französischen General einige Hinweise und Anregungen für den Bereich »Abwehr« gegeben, als er sich, fast unvermittelt, an den deutschen Befehlshaber wandte. Was er dabei sagte, schien dem französischen General derart interessant, so daß er sich, obwohl dieser Vorfall über seinen Bereich hinausging, auch hiervon Notizen machte. »Herr General«, sagte der Oberbefehlshaber, »als Amerikaner und als Patriot habe ich Verständnis für Ihre Grenzschutzoffiziere. Als Soldat kann ich das nicht haben. Diese Offiziere handeln gegen einen Befehl.« »Herr General«, antwortete der Deutsche, »diese Offiziere waren ihr Leben lang nur Soldaten. Jetzt handeln sie zum erstenmal als wirkliche Patrioten.« Hierauf zu antworten, hielt der amerikanische Oberbefehlshaber für überflüssig. Der französische 419
General schrieb in seinen Notizen: Dem OB fällt dazu nichts ein – mir auch nicht; gegen Patriotismus hilft keine Logik. Nach einer weiteren Analyse der deutschen Situation, nach der Kenntnisnahme neuer, inzwischen eingelaufener Berichte, Auskünfte und Informationen, erklärte der Oberbefehlshaber abschließend: Die deutsche Regierung will alles versuchen, eine weitere Ausdehnung des Gefahrenherdes zu vermeiden. Nach Einbruch der Dunkelheit werden sich die Grenzschutzeinheiten vom Gegner lösen und hinter die Zonengrenze zurückgehen. Die Grenzschutzeinheiten im Raum südlich Lübeck haben Befehl erhalten, hinter den Elbe-Lübeck-Kanal zurückzugehen. Wir müssen hoffen, daß die dort eingedrungenen Verbände der Volksarmee nicht nachstoßen und daß der Kampf auf diese Weise beendet wird. Martin hatte, von Donauwörth kommend, Augsburg erreicht und durchfahren. Er war entschlossen, sich nicht mehr länger als unbedingt notwendig aufhalten zu lassen. Er befand sich um die Mittagszeit in einem Wirtsgarten südlich der Stadt, um sich für den Rest der Reise zu stärken – gegen Abend würde er in Schongau sein; bei Maria, wie er glaubte. Der Tag war bisher anstrengend gewesen; die Hitze schien zugenommen zu haben, der Verkehr auch. Auf der Straße, die er gefahren war, hatten Fahrzeugkolonnen die unter der Sonne aufgeweichte Asphaltdecke aufgerissen; Fahrrinnen hatten sich gebildet; und ein scharfer Teergeruch hatte in der Luft gelegen. Auch die Stadt Augsburg, die er durchfahren hatte, schien von ungewöhnlich regem Leben erfüllt: Frauen 420
standen Schlange vor Lebensmittelgeschäften, und an den einzelnen Tankstellen standen lange Fahrzeugketten. Martin bewunderte diese Geschäftigkeit sehr. Was er sah, glaubte er, für die Auswirkungen des vielgepriesenen Wirtschaftswunders halten zu müssen. Martin dachte darüber nach, daß er eigentlich allen Grund habe, mit seinem Los zufrieden zu sein. Die wenigen Menschen, die Einfluß auf sein Leben nahmen, waren gut und liebenswert: das Mädchen Maria, die Mutter, der Vater. An seine Eltern dachte er in diesem Augenblick besonders: sie hatten ein gutes, vorbildliches Leben geführt – trotz kleiner Mißverständnisse, Zwistigkeiten und der vielen Sorgen, die aus der Armut und der harten, eintönigen Arbeit erwuchsen. Und Martin lächelte, als er an Vaters immer ein wenig kurios wirkende »politische« Ambitionen dachte. Der Mann jedoch, dessen politisches Anliegen von seiner Umgebung unbekümmert als »ein wenig kurios« bezeichnet wurde, leitete von der Turnhalle aus die Protestaktionen »gegen das Regime« und die Ausschaltung seiner Funktionäre für den ganzen Sonneberger Kreis. Es war, als habe Martins Vater ein Leben lang auf diesen seinen großen Tag hingearbeitet. Seine Anordnungen erschienen wie gründlich durchdacht und von langer Hand vorbereitet – dennoch erfolgten sie improvisiert und mit getrost revolutionär zu nennendem Schwung. Sonneberg war in der Hand der Gesinnungsgenossen. Und Martins Vater war die entscheidende Kraft. Seine Freunde hatten sämtliche Schlüsselstellungen besetzt. Martins Mutter erschien und brachte ihrem Mann das 421
Mittagessen im dreiteiligen Geschirr. »Ich hätte große Lust, dich auszuhungern«, sagte sie. »Aber du tust mir leid.« Der Vater besprach noch kurz mit einem seiner Freunde die Weiterverwendung des Bürgermeisters. »Für den ist doch die Hauptsache«, sagte er, »daß er Bürgermeister bleibt. Und solange er immer dem gehorcht, der gerade zu befehlen hat, kann nichts dabei schiefgehen. Der Mann von der Kartenstelle, der zu uns gehört, soll ihm auf die Finger sehen.« »Du bist zu großzügig«, warnte der Freund. »Ach was!« erklärte Martins Vater überzeugt. »Ich bemühe mich nur, einigermaßen korrekt zu sein – ich will mit ihnen nicht das machen, was sie mit uns gemacht haben.« »Das kann ein Fehler sein«, sagte der Freund und entfernte sich. Der Vater wandte sich nunmehr an seine Frau. »Na – was sagst du jetzt?« wollte er wissen. »Gar nichts«, erklärte die Frau. »Es gibt nichts mehr zu sagen, es ist zu spät dazu.« »Ein paar Worte der Anerkennung«, sagte der Alte, der sich schon wieder einmal gründlich mißverstanden fühlte, »hätten nicht geschadet.« »An anderen Orten«, sagte die Mutter, »sind die Rädelsführer, wie sie im Rundfunk genannt werden, an die Wand gestellt worden.« »Davon habe ich gehört«, sagte der Alte, »das sind Ausnahmefälle. So etwas soll in zwei, drei Städten tatsächlich passiert sein – gestern schon, als sie noch glaubten, unseren Widerstand mit brutaler Gewalt brechen zu können. Aber heute hat sich das Volk in 422
Hunderten von Städten erhoben.« »Dann werden sie eben ein paar Tausend erschießen.« »Ehe sie noch dazu kommen, Mutter, ist Deutschland frei und geeinigt und von den Amerikanern und den Sowjets anerkannt.« »Sie werden dich einsperren und Martin dazu – wenn nichts Schlimmeres passiert«, sagte die Mutter. »Wir werden dann wieder hungern und Maria kann nicht zu uns kommen. Warum denkst du immer nur an dich – warum nimmst du keine Rücksicht auf uns, ein wenig nur?« »Ich denke an Deutschland, Mutter.« »Hat denn dieses Deutschland jemals an dich gedacht? Du warst in diesem Deutschland immer nur ein Mensch zweiter Klasse – ein roter Arbeiter war immer schon so etwas wie ein rotes Tuch.« »Du verstehst mich nicht«, sagte der Alte, »du wirst mich nicht verstehen. Aber du wirst dich noch wundern.« »Ich wundere mich jetzt schon«, sagte die Mutter. »Du solltest erkennen«, sagte der Alte überlegen, »wie planvoll und zielsicher wir hier vorgehen. Wir sind doch keine Abenteurer! Als heute morgen in Saalfeld zwei volkseigene Fabriken in Flammen aufgegangen sind und der SED-Häuptling mitten auf dem Marktplatz aufgehängt wurde, da marschierten alle hier stationierten Sowjettruppen zur Hilfe und die Volkspolizei fuhr hinterher. Da war die Gelegenheit günstig – und wir griffen ein.« »Und wann werden die Truppen wieder hierher zurückkommen«, fragte die Mutter, »und die Volkspolizei …?« 423
Der Wirt beendete Martins freundliche Gedanken an seinen guten Vater und an dessen »immer ein wenig kurios wirkende politische Ambitionen«. Im Grunde, sagte sich Martin, ist der Alte ein braver Mann, der wohl gerne große Reden führt, aber gar nicht daran denkt, sich für phantastische Spekulationen in Gefahr zu begeben. Der Wirt brachte die bestellte Milch und die Brote. Er schob sie Martin zu. Dann wartete er auf Bezahlung. Martin öffnete seine Geldbörse und suchte, zwischen Ostgeld, nach westdeutschen Markstücken, um seine Zeche zu bezahlen. Er bekam das geforderte Geld zusammen und legte es auf den Tisch. »Sie kommen aus der Ostzone?« fragte der Wirt. »Ja«, sagte Martin. »Dann«, sagte der Wirt mit überraschender Großzügigkeit, »sind Sie mein Gast. Denn ihr Leute aus der Ostzone habt unsere ganze Sympathie. Für euch sind wir gern bereit, Opfer zu bringen. Wenn Sie wollen, bekommen Sie noch ein zweites Glas Milch – ebenfalls kostenlos.« Der Kommandierende General des Bundeswehr-Korps in Ulm überprüfte noch einmal anhand seines Alarmkalenders die getroffenen Maßnahmen. Keiner der aufgeführten Punkte war übersehen worden. Die Organisation klappte, wie immer, vorzüglich. Der Kommandierende General war ein mittelgroßer, wohlgenährter Mann; sein rundliches Gesicht verriet eine gewisse Zufriedenheit; es war ihm gelungen, die ihm unterstellten Verbände in einer weit kürzeren Zeitspanne zu alarmieren, als planmäßig vorgesehen war. Er traf Anstalten, ins Kasino zum wohlverdienten Mittagessen zu gehen, und wusch sich die Hände in 424
einem Becken, das in einem Schrank verborgen war. Da summte das Telefon auf seinem Schreibtisch. Er ging, sich dabei die Hände abtrocknend, auf das Telefon zu. Er legte sich das Handtuch über den linken Arm und ergriff mit der Rechten den Hörer. »Was gibt es denn noch?« wollte er wissen. »Der Kommandeur des Grenzschutzkommandos Süd«, verkündete der Adjutant. »Er sagt, es sei dringend.« »Na schön«, sagte der General. »Verbinden Sie.« Er war nicht sonderlich erfreut über diesen Anruf, der in seinem wohldurchdachten Tagesplan nichts anderes als eine Störung bedeutete. Aber den Kommandeur des Grenzschutzkommandos Süd pflegte er niemals abzuweisen – besondere Erlebnisse verbanden beide miteinander; sie hatten im letzten Weltkrieg, wie sie es nannten, Schulter an Schulter gekämpft, der Division, die er zu kommandieren die Ehre gehabt hatte, zu Ruhm und Ansehen verholten und sich sogar das Leben gerettet. »Wie geht es Ihnen, mein Lieber!« rief der Kommandierende General kameradschaftlich. »Wie ich hörte, sollen einige Ihrer Einheiten ganz schön rangegangen sein. Hat sich das wenigstens gelohnt?« »Herr General«, sagte der Kommandeur des Grenzschutzes, »hier ist die Schweinerei komplett! Sowjetische Einheiten haben in den Kampf eingegriffen. Meine beiden Bataillone sind abgeschnitten.« »Das ist schlimm«, sagte der General in Ulm; und er war bemüht, durch sein Bedauern eine gewisse Reserve hindurchklingen zu lassen. Denn er begann zu ahnen, daß der Oberst kurz davor war, in alarmierender Weise an einen Kriegskameraden zu appellieren. »Herr General«, rief der Oberst fordernd, »ich brauche 425
dringend Hilfe. Ich kann nicht zulassen, daß die Sowjets meine beiden Bataillone vernichten. Es muß gelingen, diese Männer, die sich prachtvoll schlagen, wieder herauszuhauen!« »Gewiß«, sagte der Bundeswehrgeneral beunruhigt. »Zwei Bataillone«, rief der Grenzschutzoberst nahezu beschwörend, »genügen zur Zeit noch, um die Einschließung aufzubrechen. Dann können wir alle unsere Einheiten hinter die Grenze zurücknehmen. Auf diese Weise erreichen wir die Wiederherstellung der Lage, vielleicht noch vor dem Abend. Zwei Bataillone nur, Herr General.« Der General in Ulm stand, unruhig geworden, an seinem Schreibtisch und fuhr sich mit dem Handtuch, das er immer noch nicht weggelegt hatte, über die Stirn. »Herr Oberst«, sagte er, »Sie verlangen Unmögliches von mir. Die Bundeswehr ist in Alarmzustand. Die nationalen Unterstellungsverhältnisse sind aufgehoben worden. Ich habe mich ausschließlich nach den Befehlen aus Fontainebleau zu richten.« »Aber Ihr unmittelbarer Vorgesetzter, Herr General, ist doch auch ein Deutscher. Er muß uns verstehen!« »Hören Sie, mein lieber Kamerad«, sagte der General, »die Situation, von hier aus gesehen, ist doch folgende: Sie gehören zum Grenzschutz. Die Bundeswehr ist seit 24 Stunden keine deutsche Truppe mehr. Und der Befehlshaber der Landstreitkräfte hat ebenfalls aufgehört, ein deutscher General zu sein. Ihm unterstehen auch amerikanische, englische und französische Verbände.« »Aber das alles weiß ich doch, Herr General!« rief der Oberst hartnäckig. »Das ändert doch nichts daran, daß wir zuerst einmal Deutsche sind. Wenn Sie mir nicht 426
helfen wollen, dann werde ich auf eigene Faust zusammenkratzen, was überhaupt für mich greifbar ist. Das Regiment Deggendorf habe ich an den Mittelabschnitt abgeben müssen. Aber ein paar hundert Mann werde ich dennoch auftreiben können, ob sie nun voll ausgebildet sind oder nicht. Und vielleicht hilft mir sogar die Bereitschaftspolizei.« »Herr Oberst«, sagte der General eindringlich, »Sie müssen mich verstehen – Sie unterstehen mir nicht. Ich kann nichts für Sie tun.« »Ich verstehe«, sagte der Oberst kaum vernehmbar, mit plötzlich sehr müde gewordener Stimme. Und bitter fügte er hinzu: »Soweit ist es also mit uns gekommen. Die Zeiten von Rschew sind vergessen.« »Niemals!« rief der General spontan, fast empört, als sei seine Ehre angegriffen worden. – Damals war er der Kommandeur einer Panzerdivision und mit seinem Stab und einigen Einheiten hoffnungslos eingeschlossen gewesen. Der heutige Grenzschutzoberst hatte ein Panzerregiment geführt; er durchbrach den Umschließungsring, kämpfte sich durch und befreite die Eingekesselten. Daß der General noch lebte, daß er jetzt hier in Ulm als Kommandierender eines Korps stehen konnte, verdankte er diesem Oberst. »Warum sprechen Sie nicht mit dem Innenminister?« rief der General unruhig. »Herr General, mit Zivilisten kann man in einer derartigen Situation nicht reden.« Das schien der General sofort einzusehen; das war ein Argument, das ihn überzeugte. »Nun gut«, entschied er. »Ich will sehen, ob sich etwas machen läßt. Ich werde mich sofort mit dem Verteidigungsminister in Verbindung setzen. Es ist jetzt 13.07 Uhr. Erwarten Sie in etwa einer 427
halben Stunde meinen Anruf.« Henry Engel fuhr mit dem großen Wagen nach München, um persönlich die von Wolf Beck angekündigte Ruth Winters auf dem Flugplatz in Empfang zu nehmen. Henry hatte diese Fahrt aus mehreren Gründen unternommen: Einmal wollte er sich davon überzeugen, ob bereits jetzt schon irgendwelche Veränderungen allgemeiner Art spürbar waren; die letzten alarmierenden Nachrichten, die er gehört hatte, ließen das unmöglich erscheinen. Dann aber interessierte ihn sein neuer Gast in ungewöhnlicher Weise; das Telegramm, das ihn ankündigte, war mit einer bemerkenswerten, bei Wolf völlig ungewöhnlichen Unklarheit abgefaßt worden. Schließlich jedoch wollte er Constance entfliehen; sie begann ihn wieder unsicher und nervös zu machen. Henry Engel bemerkte auf seiner Fahrt genau das, was er erwartet hatte. Die zahlreichen nach Süden fahrenden Autos schienen nicht nur Geschäftsleute und Urlaubsreisende fortzutragen, sondern auch schon begüterte, vorausschauende Flüchtlinge; zahlreiche Tankstellen in Großstadtnähe gaben vor, »ausverkauft« zu sein und hatten geschlossen. In Kolonialwarenläden, Spirituosen- und Rauchwarengeschäften herrschte Hochbetrieb: der Ansturm der Versorger hatte begonnen. Auf dem Flugplatz war ein Gedränge anzutreffen, wie sonst nur auf Bahnhöfen. Die Büros der Fluggesellschaften und der barähnliche Ausschank in der Halle waren umlagert von laut redenden Menschen. Ein Mann bot für eine Flugkarte nach Rom das Zehnfache des normalen Preises. Zollbeamte verhafteten zwei Devisenschieber. Und eine »Dame« verhandelte über ihr zusätzliches Gepäck. Selbst Henry Engel vermochte alle die Vorgänge nicht 428
mehr als amüsant zu empfinden. Ihm war, als erlebe er den Beginn eines großen Erdrutsches. Vorerst waren nur die schlauen Primitiven in Aktion, die Leute mit dem »Riecher«, denen eine gewisse Geschicklichkeit zu eigen war. Dabei würden die Brutalen aufgeweckt werden, die Holzhammermenschen, und dann würde es krachen. Das Flugzeug aus Hamburg traf pünktlich ein. Henry vertraute seiner Kenntnis der Wolf Beckschen Mentalität und ging auf eine Frau zu, die er ungewöhnlich attraktiv fand, jedoch nicht herausfordernd, die damenhaft war, ohne überheblich zu wirken. »Sie werden vermutlich Ruth Winters sein«, sagte er. »Ja«, sagte sie erleichtert. »Ich bin Henry Engel«, sagte er. Er zog sie aus dem Gedränge zur Seite, in die Nähe eines Bücherstandes, wo sie einigermaßen ungestört sprechen konnten, bis die Koffer ausgeladen waren. »Ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt«, sagte Ruth. »Scheußlicher?« fragte er. »Frecher«, sagte sie. »Wolf war der Ansicht, Sie würden mich sofort umarmen.« »Dann wollen wir den Guten nicht enttäuschen«, erklärte Henry. Er ging zwei Schritte auf sie zu, legte die Arme um ihre Schultern, beugte sich vor und zog sie zugleich an sich, sein Gesicht gegen das ihre drückend. »Die fehlenden Küsse«, sagte er dabei, »holen wir bei der nächsten günstigen Gelegenheit nach.« Ruth Winters fand Henry Engel zumindest originell. Er gefiel ihr vom ersten Augenblick an; und sie spürte deutlich, daß er ähnlich auf sie reagierte. Sie vergaß den unangenehmen Flug, die Hitze, die Enge, die bedrückenden Gespräche und die plötzlich nachlässig 429
gewordene Arbeit der Stewardessen, die sich für alles mögliche zu interessieren schienen, nur nicht für das Wohl ihrer Fluggäste. Henry hatte das Gefühl, Ruth Winters schon lange zu kennen. Constance glich einer bleichen Göttin, die Distanz gebot – Ruth jedoch war ein Wesen aus Fleisch und Blut, dem man möglichst nah sein wollte. »Trinken wir einen Kognak?« fragte er. »Wir trinken zwei«, sagte sie, »ich bin heilfroh, daß ich diesen Flug überstanden habe.« »Und dabei wissen Sie noch gar nicht«, sagte Henry Engel amüsiert, »was Ihnen noch alles bevorsteht. Sie haben eine Stärkung dringend nötig.« Er führte Ruth an den Ausschank und verlangte, nachdem er sich mit einiger Mühe bis zur Theke vorgeschoben hatte, zwei doppelte Kognaks. Er erhielt sie nach längerem Warten. Sie wurden zu einem Preis verkauft, der weit den überstieg, der auf einer Tafel verzeichnet war. Henry machte dezent darauf aufmerksam. »Seien Sie froh«, sagte das Mädchen, das den Ausschank betreute, »daß Sie überhaupt noch Kognak bekommen.« »Bei mir zu Hause«, sagte Henry zu Ruth, »werden wir den Rest der Flasche austrinken.« »Einverstanden«, sagte Ruth. Sie stieß mit ihm an und leerte das Glas auf einen Zug. »Endlich eine Frau, die trinken kann«, sagte Henry zufrieden. »Sie haben mich noch nicht danach gefragt, wie es Wolf geht«, sagte Ruth mit mildem Vorwurf. »Unnötig«, versicherte Henry. »Wolf geht es nie 430
schlecht. Und jetzt, da es Sie für ihn gibt, geht es ihm sicherlich ausgezeichnet. Er läßt mich herzlich grüßen und mir sagen, daß er bald nachkommt. Ich weiß das: Grüßen läßt er mich immer. Und bald nachkommen wird er diesmal bestimmt. Selbst ich würde eine Frau wie Sie nicht allzulange alleine lassen.« »Soll das etwa ein Kompliment sein?« fragte Ruth und gab sich belustigt. »Das«, sagte Henry, »wird sich in Kürze herausstellen.« Als er, mit einem Teil von Ruths Gepäck beladen, dem Ausgang zustrebte, sah er den Amerikaner auf sich zukommen, der die Verhandlungen für den Konzern führte. Engel schüttelte bei seinem Anblick unwillig den Kopf. »Keine Zeit für Dummheiten!« rief er ihm zu. »Ich wollte Ihnen nur guten Tag sagen«, behauptete der Amerikaner und gab sich leicht gekränkt. »Ich kenne das«, sagte Henry Engel mit entschiedener Ablehnung. »Und am Ende stellt sich heraus, daß mich jeder Händedruck zehntausend Dollar kostet. Dies wird mir zu teuer. Kommen Sie Weihnachten wieder.« Der Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland, groß, schlank, elastisch, hörte unbeweglich zu, was ihm der Kommandierende General in Ulm zu berichten hatte. Sein Gesicht verriet dabei weder Empörung noch Überraschung, noch sonst irgendeine Anteilnahme. Selbst vor seinen engsten Freunden und Mitarbeitern legte er Wert darauf, undurchdringlich zu erscheinen. Sein dunkler Anzug wirkte wie eine Uniform; seine Haltung war soldatisch straff, ob er ging, stand, oder, wie jetzt, vor seinem Schreibtisch saß. Seine Bewunderer nannten ihn, nicht ganz neidlos, »Super-Seeckt«, was 431
seine Gegner heimtückisch in SS abkürzten. Fest jedoch schien zu stehen, so behaupteten wenigstens die Storyschreiber und Anekdotenerfinder, daß es in deutschsprechenden Armeen seit Moltkes Zeit keinen größeren Schweiger gegeben hatte. Seine Wortkargheit war ein Protest gegen die Geschwätzigkeit der Zeit. Er verschmähte es, Reden zu halten, Diskussionen zu führen, sich fotografieren zu lassen oder sich den Fernsehkameras zu stellen. Er war bestrebt, die schlichte Klarheit und Korrektheit des dienenden, verantwortungsbewußten Soldatentums zur Schau zu tragen. Das hielt er für entscheidend, nachdem, nicht nur seiner Ansicht nach, lange Zeit die Armee zu einem propagandasüchtigen Revueensemble degradiert worden war. »Herr Minister«, sagte der Kommandierende General in Ulm, »durch den Einsatz von zwei Bataillonen könnten wir den sich tapfer wehrenden Kameraden nicht nur helfen, sondern auch mit einem Schlag die Situation bereinigen und wieder hinter die Grenze zurückgehen.« Der Minister schwieg. Er sah prüfend auf die Karte, die in seinem Zimmer hing. Der Vorschlag, zwei Bataillone in Marsch zu setzen, mißfiel ihm; ein Regiment mit leichten Waffen zu entsenden, wäre vorteilhafter. »Herr Minister«, sagte der General, »es ist mir selbstverständlich bewußt, daß das Risiko groß ist. Aber ich finde, daß wir nicht tatenlos zusehen können, wenn zweitausend deutsche Soldaten in der Ostzone umgebracht werden. Sie, Herr Minister, sind der Befehlshaber der Bundeswehr. Die Auseinandersetzung mit der NATO übernehme ich in diesem Fall gerne – in drei Stunden, wenn alles vorüber ist.« Der Minister schwieg. Er hielt den Hörer, ohne sich 432
dabei aufzustützen, mit der Rechten; die linke Hand hatte er zwanglos, doch in geradem Winkel auf die fast leere Tischplatte gelegt. Der Raum, der ihn umgab, war betont einfach gehalten. Außer Karten hing nur ein einziges Bild an der Wand. Es zeigte Friedrich den Großen nach der Schlacht von Leuthen. »Herr Minister«, sagte jetzt der General, »ich bin fest davon überzeugt, daß zum Beispiel die Engländer in einer ähnlichen Situation gleichfalls nationale Überlegungen voranstellen würden.« Jetzt endlich begann der Minister zu sprechen. Er sagte: »Setzen Sie ein Regiment ein, Herr General. Sie haben drei Stunden Zeit – erst dann werde ich mit Paris sprechen.« Der Zug, der kurz nach 9 Uhr Berlin verlassen haben sollte, rollte jetzt mit mehr als vierstündiger Verspätung langsam, beunruhigend langsam, durch die Ostzone. Die Menschen, die sich in ihm befanden, sprachen wenig. Mutter Schwiefert sah zum Fenster hinaus. »Wird Peter dir schreiben?« fragte sie plötzlich und sah zu Isolde hinüber. »Nein«, sagte Isolde spontan; und sie wollte hinzufügen: warum soll er schreiben, er ist ja da – er steht im benachbarten Wagen auf dem Gang! Rechtzeitig besann sie sich jedoch darauf, daß ja Peter und sie – auf ihre Anregung hin selbstverständlich – beschlossen hatten, Mutter Schwiefert erst nach Verlassen der Ostzone mit der Mitteilung zu überraschen, daß nunmehr drei Personen zur engeren Familie gehörten. Isolde stand auf, schlängelte sich durch das Abteil, drängte sich auf den Gang hinaus und verschwand zwischen Koffern, Kisten und Menschen. Mutter Schwiefert sah ihr liebevoll und ein wenig besorgt 433
nach. Es war nicht leicht, so ein Kind zu verstehen. Die vermögende Dame, die in ihrer mehr als ausreichenden Freizeit weit vorausschauend Ost-WestKontakte herstellte, die durchaus völkerversöhnend gedacht waren, sah in ihrer Westberliner Villa diesmal schon am frühen Nachmittag zahlreiche Gäste. Sie plauderten in der Halle, standen im Musikzimmer herum und saßen auf der Terrasse. Sie waren besorgt, glaubten aber auf das, was sie Weltgewissen nannten, hoffen zu können. Nicht ohne gläubige Hoffnung waren auch die Gespräche, die in der Bibliothek geführt wurden: zwischen Doktor Reiners und Charly einerseits und dem stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR und einer jüngeren Dame, die er als seine Sekretärin vorgestellt hatte, andererseits. Diese Sekretärin schien Charly besonders zu interessieren. Er fand, daß sie eine erdhafte, naturnahe Frau war, von prachtvoller, rustikaler Schönheit. Verwunderlich, sie in einem Salon anzutreffen; sie gehörte vielmehr in einen Garten oder auf eine Waldwiese. »Ich teile Ihre Besorgnis«, versicherte Reiners dem stellvertretenden Ministerpräsidenten. »Und ich begrüße jeden Versuch, gutwillige, unabhängige und zudem noch mutige Menschen zu mobilisieren.« »Dieses Bemühen«, sagte der Minister, »hat nur dann einen Sinn, wenn es nicht einseitig bleibt. In dieser Beziehung hoffe ich auf Ihre Mitarbeit, Herr Doktor Reiners.« »Herrschaften«, sagte Charly ungeduldig, »reden wir doch offen miteinander. Oder sollten Sie etwa nicht für Offenheit sein, Fräulein?« 434
»Immer«, sagte die Sekretärin des Ministers, und das meinte sie ernst. »Wir verstehen uns«, versicherte Charly. »Und wir werden uns immer besser verstehen, davon bin ich überzeugt.« »Wie meinen Sie das?« fragte die Sekretärin reserviert. Sie war klein, aber kräftig. Ihre glatt gekämmten Haare waren tiefschwarz und erschienen so fest und stark, so daß sie den Vergleich mit einer Pferdemähne herausforderten. Ihr ein wenig zu breites Gesicht sah in reizvoller Weise konzentriert aus. Ihre vollen Lippen, fand Charly, wirkten herausfordernd. »Wir werden viel Spaß bei unserer Zusammenarbeit haben«, versicherte Charly herzlich. »Wie soll ich«, sagte G. M.. der stellvertretende Ministerpräsident, der diesem Intermezzo mit Erstaunen und Mißbilligung gefolgt war, »Ihre Anspielungen verstehen?« »Also«, sagte Charly entschlossen, »mit aller Offenheit: es ist dem amerikanischen Stadtkommandanten bekannt, was Sie hier treiben.« »Was soll das bedeuten?« fragte der stellvertretende Ministerpräsident, bemüht, sein Erschrecken hinter Empörung zu verbergen. »Das könnte bedeuten«, erklärte Charly ungeniert, »daß der amerikanische Stadtkommandant Sie mit Ihrem Funker und Ihren Mitarbeitern einsperren und Ihnen dann den Prozeß machen – oder daß er Sie, was vielleicht noch effektvoller wäre, mit allem Beweismaterial den Sowjets übergeben könnte.« Der Ostzonenminister schien verstummt. Seine Sekretärin funkelte Charly böse an. Er fand, daß sie schöne Augen hatte und Temperament besaß. Auch 435
Doktor Reiners schwieg. »Ja«, sagte Charly, der in glänzender Stimmung zu sein schien, »das alles könnte passieren. Aber es wird nicht passieren. Der amerikanische Stadtkommandant läßt Ihnen völlig freie Hand – wenn er Ihnen dafür von Zeit zu Zeit sein Ohr leihen darf.« »Bitte, Herr Doktor Reiners«, sagte der stellvertretende Ministerpräsident mühsam, »wollen Sie mir erklären, was das bedeuten soll?« »Die Erklärung ist sehr einfach«, sagte Reiners, der im Grunde froh war, in kürzester Zeit ein so weites Stück vorwärtsgekommen zu sein, wenn er auch Charlys grobe Methoden mißbilligte. »Der amerikanische General, der in ständiger Verbindung mit Washington steht, ist daran interessiert, daß alle Möglichkeiten, auch die äußersten, ausgeschöpft werden, die Situation zu bereinigen oder wenigstens zu entspannen.« »Und was versteht er unter den äußersten Möglichkeiten?« fragte G. M. gespannt. »Herr Ministerpräsident«, sagte Michael Reiners, »die Amerikaner haben offenbar erkannt, daß eine sichtbar in Erscheinung tretende dritte Kraft in Deutschland zur gegebenen Zeit die letzte Rettung werden könnte.« »Etwas Derartiges würde weit über unsere Absichten hinausgehen«, sagte G. M. nachdenklich. »Wohl möglich, daß die Zeit dafür reif werden könnte – aber ich weiß noch nicht, ob die Bereitschaft dafür schon ausreichend ist.« »Das ist doch ganz einfach«, sagte Charly. »Es gibt zwei deutsche Regierungen; beide sind so gut wie festgefroren, haben sich eingemauert und eingenebelt. Sie sind für schnelle und geschickte Manöver nicht mehr zu gebrauchen. Wenn sie sich erst ineinander verbissen 436
haben, und sie sind gerade dabei, kann man sie nur noch zur Seite rollen, um den Weg frei zu machen. Dann, Freunde, wird eine dritte, bewegliche Kraft gebraucht.« »Ja«, sagte Michael Reiners, »eine dritte, gesamtdeutsche Regierung.« »Eine gesamtdeutsche Regierung«, wiederholte der stellvertretende Ministerpräsident nahezu ungläubig. »Seit Jahren träumen wir davon.« »Ohne Konzessionen an die Vereinigten Staaten oder an Sowjetrußland - nur allein Deutschland gegenüber verpflichtet!« sagte Reiners suggestiv. »Wir sollten es versuchen«, sagte G. M. Vor dem Haus des Bundestags in Bonn standen zwei Dutzend Menschen: still und geduldig. Sie waren einfach, fast schäbig gekleidet. Auf den ersten, flüchtigen Blick wirkten sie wie Bettler. Sie schauten erwartungsvoll auf die helle, saubere Fassade. Das war die Delegation aus der Ostzone, der es gelungen war, über Bebra nach Bonn vorzudringen. Um sie drängte sich die Bevölkerung, mehr als tausend Personen. Die meisten starrten die Menschen aus der Ostzone an, als wären sie ausgestellte Sehenswürdigkeiten. Einige wenige versuchten mit ihnen in ein Gespräch zu kommen. Sie stellten Fragen und erhielten Auskunft; sie gaben Ratschläge und fanden aufmerksame Zuhörer. Dennoch schien zwischen diesen beiden Menschengruppen eine Trennungslinie zu existieren, die kaum zu überwinden war. Sie hatten einige Mühe, sich zu verständigen und die rechten Worte zu finden. Schließlich redeten sie nur noch untereinander, um am Ende ganz zu verstummen. 437
Es war 15.00 Uhr. Um diese Zeit begann eine Kabinettssitzung im Palais Schaumburg. Der Bundeskanzler stellte dabei zunächst fest, daß »unsere NATO-Partner« von Unruhe und Nervosität beherrscht zu sein scheinen und daß sich die Haltung, die man der Bundesrepublik entgegenbringe, dem »offenen Mißtrauen« nähere. Wörtlich: Der NATO-Generalsekretär hat mitgeteilt, daß die sowjetischen Truppen in absehbarer Zeit ihre Ausgangsposition erreicht haben werden. Damit scheint festzustehen, daß die Sowjets mit der Möglichkeit rechnen, daß der Krieg nicht mehr zu vermeiden ist. Die Ansicht ist weit verbreitet, daß die Schuld daran nicht zuletzt bei uns liegt. Es muß jetzt von uns aus etwas geschehen, um Ost und West unsere Friedensabsichten zu beweisen. Der Minister für gesamtdeutsche Fragen meldete sich zu Wort. Er führte, unter anderem, folgendes aus: Die Lage in der Sowjetzone ist noch katastrophaler als am /7. Juni 1953. Dort ist ein Bürgerkrieg im Gange. Die Hilferufe mehren sich. Die erste Delegation ist bereits in Bonn eingetroffen und steht vor dem Bundeshaus. Der Präsident des Bundestages hat den Führer dieser Delegation empfangen. Hierauf folgte eine längere Aussprache über diesen Vorgang. Einige der anwesenden Minister empfanden das Vorgehen des Präsidenten des Bundestages als bedenklich und unklug. Andere erklärten, daß es eine Selbstverständlichkeit sei, die Delegation zu empfangen. Wieder andere empfahlen, die Delegierten offiziell als nicht existent zu betrachten, inoffiziell sie jedoch wie Gäste zu behandeln. Und vor allem: »Kein Wort darüber 438
in der Presse!« Der Bundeskanzler: Meine Herren, wir sind uns doch wohl darüber einig, daß es notwendig geworden ist, zu beweisen, daß wir nichts unversucht lassen, den Frieden zu erhalten. Es gibt da eine Möglichkeit, die wir in Erwägung ziehen sollten: wir könnten die Schweizer Regierung um Vermittlung bitten. Die Schweiz unterhält eine Delegation in Berlin. Zwar ist der Sitz dieser Delegation West-Berlin, aber es ist anzunehmen, daß die Sowjets Wagen mit der Schweizer Flagge nach Pankow durchlassen werden. Angehörige der Schweizer Delegation müßten unser Angebot überbringen, alle Kampfhandlungen an der Zonengrenze zu einem bestimmten Zeitpunkt – etwa. 17.00 Uhr – einzustellen. Der Außenminister: Ich gebe zu bedenken, daß es sich hierbei um einen diplomatischen Umweg handeln würde, der nicht sonderlich überzeugend wirkt und überdies zeitraubend ist. Es fällt mir nicht leicht, nunmehr das auszusprechen, was ich als wirkungsvollste, als schlagartige Lösung der Situation anzusehen mich berechtigt fühle. Ich schlage vor, der ostzonalen Regierung direkte Verhandlungen anzubieten. Gegen diese Worte des Außenministers wurde mehrfach scharf protestiert. Sehr heftig und mit Entschiedenheit wurde erklärt, daß jeder, der einen derartigen Schritt unternehme, damit der kämpfenden Bevölkerung in der Sowjetzone in den Rücken falle. Die Verwirklichung eines derartigen Vorschlags bedeute ein Paktieren mit Menschen und Institutionen, die Deutschland verraten und das Volk betrogen hätten. Der einzige, der kein Wort sagte, war der Verteidigungsminister. Der Bundeskanzler stellte fest, daß hier Ansicht gegen 439
Ansicht stünde und er das Gefühl habe, daß die Mehrheit den Vorschlag des Außenministers entschieden ablehne. Dieser Meinung schließe auch er sich an. »Ich bitte um Abstimmung.« Der Vorschlag des Außenministers wurde mit zwei Stimmen Mehrheit abgelehnt. Der Vorschlag des Bundeskanzlers, die Schweizer Regierung um Intervention zu bitten, wurde angenommen. Der Schweizer Gesandte wurde in das Palais Schamburg gebeten. Es war 15.47 Uhr. Immer noch standen vor dem Haus des Bundestags die zwei Dutzend Menschen: still und geduldig. Sie schauten erwartungsvoll auf die helle, saubere Fassade. Es war, als existiere für sie keine Sprache mehr, die auszudrücken vermochte, was sie bewegte. Ruth Winters und Constance Schubert begegneten sich mit spürbarer Zurückhaltung. Ihre Hände, die sie sich zur Begrüßung entgegenhielten, schienen sich kaum zu berühren. »Ich freue mich«, behauptete Constance, »Sie endlich kennenzulernen.« »Ich habe viel von Ihnen gehört«, sagte Ruth. Constances Lächeln erstarrte. Das, fand sie, war taktlos; denn das konnte nur bedeuten, daß Wolf mit dieser Ruth Winters über sie gesprochen hatte, und zwar »viel«. »Sie sind für mich seit langen Jahren ein Begriff«, sagte Ruth Winters ; Constances kühle, abweisende Reaktion war ihr nicht entgangen. Das stärkte ihr Selbstvertrauen. »Ich kannte Sie, lange bevor ich Wolf kennengelernt hatte – ich meine: ich kannte Ihre Arbeiten.« »Ach so«, sagte Constance erleichtert. 440
»Ich habe Ihre Bilder immer gerne gemocht«, versicherte Ruth Winters. »Wenn ich besonders helle, lichtdurchflutete Räume einzurichten hatte, sagte ich meistens: hier würde ein Aquarell von Constance Schubert besonders gut hineinpassen. Und das geschah dann auch fast immer.« »Nett von Ihnen«, sagte Constance nahezu gönnerhaft. »Sie waren in meinen Augen schon eine berühmte Frau«, versicherte Ruth Winters, »als ich noch zur Schule ging.« Das, fand Henry Engel, der danebenstand und sich herrlich amüsierte, war eine besondere Glanzleistung liebenswürdig klingender Bosheit. In Wirklichkeit waren beide Frauen nahezu gleich alt, wenn auch grundverschieden – eine geschickte Mischung aus beiden würde vermutlich ein ungemein köstliches Exemplar Weiblichkeit ergeben. »Darf ich jetzt in mein Zimmer gehen?« fragte Ruth, die ihre letzte Bemerkung für einen wirksamen Szenenschluß hielt. »Ich will mich ein wenig frisch machen.« »Das haben Sie auch gewiß dringend nötig – nach einer derartig strapaziösen Reise«, sagte Constance. Weiter so, sagte sich Henry Engel nahezu genießerisch. Ein behutsam vorgetragenes, mit liebenswürdigstem Lächeln durchgeführtes Duell war zu erwarten: Derartige Abwechslungen waren geeignet, ein wenig von der düsteren allgemeinen Atmosphäre abzulenken. Henry Engel sah auf die Terrasse hinaus, auf der die Hitze flimmerte. »Es wird ein Gewitter geben«, sagte er abschätzend. 441
»Ich fürchte mich davor«, sagte Constance. »Ich freue mich darauf«, beeilte sich Ruth zu versichern. »Wir werden sehen«, sagte Henry Engel. Er geleitete seinen neuen Gast in das obere Stockwerk und zeigte Ruth das für sie bestimmte Zimmer, in dem schon die Koffer standen, die Friebe hinaufgebracht hatte. »Ich werde mich beeilen«, versprach Ruth und sah ihn mit ihren grün schimmernden Augen vertraulich an. »Überstürzen Sie nichts«, empfahl ihr Henry Engel. Er ging wieder hinunter, in die Halle hinein, in der Constance immer noch an derselben Stelle und in der gleichen Haltung stand wie vorher. Sie sah ihm entgegen. »Mir gefällt sie nicht«, erklärte Constance. »Dir braucht sie ja auch nicht zu gefallen«, sagte Henry Engel nachsichtig. Er ging zu dem kleinen Tisch, der in der Nähe der aufmontierten Radioapparate stand. Hier fand er eine Karte vor, von Mitteleuropa, auf der mit Rotstift eine größere Anzahl von Einzeichnungen gemacht worden waren. Diese Karte hatte er gemeinsam mit Friebe angelegt; jede in den Nachrichtensendungen der letzten drei Tage genannte Stadt war gekennzeichnet worden. In den vergangenen vier Stunden, in denen er unterwegs gewesen war, um sich in München umzusehen und Ruth Winters vom Flugplatz abzuholen, hatte Friebe eine ungewöhnliche Menge neuer Zeichen angebracht. Die Karte sah bereits beunruhigend aus. »Gefällt sie dir etwa?« wollte jetzt Constance wissen. »Sehr«, sagte Henry, ohne seinen Blick von den 442
Zeichen der Unruhe abzuwenden. Und er sagte fast unmittelbar danach: »Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann bitte ich dich, Friebe zu mir zu schicken.« Constance ging hinaus und nach kurzer Zeit erschien Friebe. Er stellte sich vor die Karte und betrachtete sie ebenfalls. »Nicht sehr erfreulich«, sagte Henry Engel, auf die Karte weisend. »Aber überzeugend«, sagte Friebe. »In zwölf Stunden, schätze ich, wird der Anblick dieser Karte noch weit unerfreulicher sein – es sei denn, diese Eintragungen genügen uns. Wir schalten einfach die Radioapparate nicht mehr ein und haben so unsere Ruhe. Es gibt ja doch nur zwei Möglichkeiten: entweder sie schaffen es, oder sie schaffen es nicht! Schaffen sie es nicht, haben wir uns unnötig aufgeregt; schaffen sie es – warum sollen wir uns vorher noch unnötig aufregen?« »Ich bin immer auf alles gefaßt – und neuerdings auf das Schlechteste in erster Linie. Aber leider können wir es uns jetzt nicht mehr leisten, nur an uns zu denken. Meine lieben Freunde haben mir ein tüchtiges Stück Verantwortung aufgepackt.« »Ich mache einen Vorschlag, Chef – wir unternehmen mit den Damen eine kleine Reise in den Süden. Sie haben Ferien dringend nötig, und die Damen sind dabei auf angenehmste Art und Weise in Sicherheit gebracht worden.« »Das geht nicht«, sagte Henry. »Ich bin entschlossen, hierzubleiben.« »Dann lassen Sie mich die Damen abtransportieren, Chef – und wir haben mit einem Schlag eine Menge Sorgen weniger.« »Das«, sagte Henry Engel nachdenklich, »ist 443
eingehender Überlegung wert. Wir wollen sehen, wie sich die Sache weiter entwickelt. Wir werden die Radioapparate aus der Halle nehmen und sie im Keller aufmontieren.« »Im Weinkeller«, riet Friebe. »In der Trinkstube neben dem Weinkeller – dort stört uns wenigstens niemand. Aber wie wir die Damen transportbereit machen sollen, wenn sich die Situation erwartungsgemäß verschlechtert, das ist mir vorläufig noch schleierhaft.« »Ach, Chef«, sagte Friebe unbekümmert, »wir sind schon mit ganz anderen Problemen fertig geworden.« 16.00 Uhr. Lagebesprechung im NATO-Hauptquartier. Vorgesehen: Beurteilung der Lage durch den Oberbefehlshaber. Der Beginn der Besprechung verzögerte sich um mehrere Minuten. Das war ungewöhnlich und schaffte leichte Unruhe. Der Oberbefehlshaber rauchte, was er sonst nie tat, wenn er den Vorsitz führte. »Wir müssen noch auf den Abwehrchef warten«, sagte er. Die Anwesenden blickten auf den leeren Stuhl des französischen Generals. Bisher hatten sie gar nicht bemerkt, daß er fehlte. Denn dieser General war, bei aller Beweglichkeit und Beredsamkeit, überaus leise – es geschah oft, daß man ihn weder kommen noch gehen hörte: plötzlich stand er da, in ein Gespräch eingreifend; und es war dann, als habe er seit längerer Zeit schon dieses Gespräch verfolgt. Der Abwehrchef schien die Liebenswürdigkeit in Person; er fand jedoch Gefallen an unerwarteten, effektvollen Überraschungen, so daß seine Ironie zumeist mehr verwirrte als ergötzte. Vor diesen lächelnden Bemerkungen war niemand sicher, auch der 444
Oberbefehlshaber nicht – nur ein einziger wurde konsequent davon ausgenommen: der deutsche General, der die Landstreitkräfte befehligte. Bei diesem Mann schien der Abwehrchef jedes, auch das geringste Mißverständnis peinlichst vermeiden zu wollen. Der Oberbefehlshaber sah auf seine Armbanduhr. Dann lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und wartete weiter. Soviel Geduld, sagten sich die Anwesenden, konnte nur einer ungewöhnlichen Sache gelten. Der Oberbefehlshaber richtete sich wieder auf und beugte sich ein wenig vor, als der Abwehrchef den Raum betrat und ihm mit ungewöhnlich ernstem Gesicht zunickte. »Das Wort hat der Abwehrchef«, sagte der Oberbefehlshaber. Der französische General, der Abwehrchef der NATOOrganisation, hielt nichts als einen schmalen, roten Zettel in der Hand, auf dem nur wenige Worte standen. Diesen Zettel legte er vor sich hin. Es schien ihm nicht leicht zu fallen, das zu sagen, was jetzt gesagt werden mußte. »Bitte, Herr General«, sagte der Oberbefehlshaber. Der Abwehrchef blickte, wie suchend, über die verschiedenartigen Uniformen der Offiziere und schließlich blieb sein Blick auf dem deutschen Befehlshaber der Landstreitkräfte haften. Er wandte sich zunächst allein an diesen Mann. »Herr General«, sagte er, »ich bitte von vornherein um Entschuldigung für das, was ich jetzt vorzutragen mich gezwungen sehe.« Dazu lächelte er, ein wenig betrübt, ein wenig bedauernd, um Verständnis bemüht. Die Anwesenden betrachteten ihn fasziniert. Der Abwehrchef sagte: »Meine Herren, mir liegen zuverlässige Informationen darüber vor, daß Einheiten der Bundeswehr sich auf dem Marsch in das 445
Kampfgebiet bei Hof befinden.« »Herr General«, erklärte der deutsche Befehlshaber der Landstreitkräfte sofort, »das kann unmöglich stimmen!« Der deutsche General gab diese Erklärung mit großer Festigkeit ab, er schien seiner Sache völlig sicher. Und da auch er sich stets um Verbindlichkeit und gute Atmosphäre bemühte, fügte er hinzu: »Sie wissen, Herr General, wie sehr ich Ihre Arbeit und die Ihrer Dienststelle schätze. Aber hier muß ein Irrtum vorliegen. In meinem Befehlsbereich hat nicht eine einzige Einheit ihre befohlenen Stellungen oder Standorte verlassen.« Der französische General hatte sich diese ausführliche Stellungnahme mit höflicher Aufmerksamkeit angehört. Sein vieldeutiges Lächeln war nicht gewichen, seine Stimme klang um keine Nuance weniger verbindlich. »Herr General«, sagte er, »ich bat bereits um Entschuldigung, Sie in wenig angenehmer Weise überraschen zu müssen. Aber an meinen Informationen kann kein Zweifel bestehen.« »Unmöglich!« sagte der deutsche General. Der Oberbefehlshaber schob wortlos den Telefonapparat, der vor ihm stand, auf den Befehlshaber der Landstreitkräfte zu. Der Deutsche nahm unverzüglich den Hörer ab und verlangte direkt und so schnell wie möglich mit dem Inspekteur der Bundeswehr verbunden zu werden. »Verstärkeranlage einschalten«, ordnete der Oberbefehlshaber an. Der Lautsprecher, der an die Stirnwand des Sitzungssaales montiert war, begann zu summen; nach mehreren Sekunden dröhnte er alles das in den Raum, was im Telefon zu hören war. Die Offiziere blickten mit 446
wachsender Spannung auf den lässig dastehenden französischen General, auf den um Ruhe und Zuversicht bemühten deutschen Befehlshaber, auf den regungslos abwartenden amerikanischen Oberbefehlshaber. Der Inspekteur der Bundeswehr meldete sich in Bonn. Der deutsche General in Fontainebleau trug vor, was der Abwehrchef behauptet hatte. Der Inspekteur sagte darauf: »Davon weiß ich nichts. Im übrigen unterstehen jetzt alle Kampfverbände Ihnen. Wenn also etwas Derartiges geschehen wäre, müßten Sie es befohlen haben.« »Ich habe nichts befohlen«, sagte der deutsche General in Fontainebleau erleichtert und legte den Hörer auf. Dann sah er den Abwehrchef fragend an. »Verzeihen Sie, bitte, meine Hartnäckigkeit«, sagte der französische General, »und erlauben Sie mir, Ihnen den Rat zu geben, beim Kommandierenden General des dortigen Befehlsbereiches – es handelt sich um Ulm – anzufragen.« Der Deutsche schien kurz davor, unwillig zu werden. Einige Sekunden lang sagte er kein Wort. Niemand im Raum sprach. Dann unterbrach der deutsche General die lastende Stille und verlangte eine Verbindung mit Ulm. Es meldete sich der Chef des Stabes. »Ich will den Kommandierenden General sprechen«, verlangte der deutsche Befehlshaber in Fontainebleau. »Der Herr General«, sagte der Chef des Stabes in Ulm, »ist zur Grenze geflogen.« Der Oberbefehlshaber betrachtete den deutschen General forschend. Der französische Abwehrchef hatte zu lächeln aufgehört. Die anderen Offiziere schienen erregt. »Was hat der General an der Grenze zu suchen!« rief 447
in Fontainebleau der deutsche Befehlshaber in das Telefon. »Was ist dort überhaupt los? Hat irgend jemand einen Einsatzbefehl gegeben? Wenn ja: wer? Und was ist eingesetzt worden?« Der Chef des Stabes berichtete: »Einsatzbefehl wurde vom Verteidigungsminister gegeben. Einsatzstärke: ein Regiment. Einsatzort: Hof. Der Befehl erreichte uns vor zwei Stunden. Die befohlene Einheit kann jeden Augenblick am Einsatzort eintreffen.« Der deutsche General in Fontainebleau ließ den Hörer sinken und legte ihn dann langsam, fast kraftlos auf die Gabel. Der Lautsprecher dröhnte dumpf auf. Der General erhob sich. »Das«, sagte er, »habe ich bei Gott nicht gewollt.« Und dann wandte er sich an den Oberbefehlshaber und sagte: »Herr General – ich spreche die Bitte aus, mich von meinem Kommando zu entbinden.« Der NATO-Befehlshaber schwieg einen Augenblick lang. Er schien außerordentlich konzentriert nachzudenken. Dann sagte er wörtlich, laut Protokoll: »Herr General. Ich weiß, daß Sie das nicht gewollt haben. Nach wie vor besitzen Sie mein Vertrauen – unser Vertrauen, Herr General. Was Ihren Rücktritt anbelangt, so steht mir darüber keine Entscheidung zu. Ich werde mich mit dem NATO-Rat in Verbindung setzen. Bis dahin, Herr General, arbeiten Sie bitte in unveränderter Weise weiter. Zunächst aber ersuche ich Sie, unverzüglich dafür Sorge zu tragen, daß das in Marsch gesetzte Regiment sofort aufgehalten wird. Es darf die Grenze nicht erreichen – unter keinen Umständen. Wenn das nicht gelingt, meine Herren, ist die Katastrophe da.« Erst als Maria in Sonneberg vor dem Haus stand, an 448
dessen einer Tür sie den Namen von Martins Vater lesen würde, empfand sie zum erstenmal während der Reise Besorgnis. Auf der Fahrt war alles einfach und unkompliziert gewesen; jetzt jedoch beherrschte sie das bedrückende Gefühl, zwar angekommen zu sein, doch ihr Ziel noch nicht erreicht zu haben. Sie lehnte ihr Fahrrad an die Hauswand. Sie sah sich um; sie erwartete ein bekanntes Gesicht zu sehen – das von Martin. Der konnte, so meinte sie, jeden Augenblick um eine Ecke auf sie zukommen, aus der Tür des Hauses ihr entgegentreten, aus einem Fenster schauen und ihr zuwinken. Aber die Menschen, die sie sah, kannte sie nicht – sie waren ihr fremd. Nichts als hastige, dumpf wirkende Betriebsamkeit schien sie zu umgeben. Sie betrat das Haus, ging durch einen engen Flur zu den Treppen, stieg hinauf, an Türschildern, die sie aufmerksam las, vorbei. Es dauerte geraume Zeit, ehe sie den Namen fand, der zu Martin gehörte. Sie zögerte; und plötzlich beherrschte sie das Verlangen, einfach umzukehren. Sie mußte sich dazu zwingen, anzuklopfen. Und ihr Klopfen klang sehr zaghaft – es war kaum vernehmbar. Die Tür öffnete sich spaltbreit und ein rundes, gutmütiges Kindergesicht schaute hinaus. Das kleine Mädchen, das lange, straff geflochtene Zöpfe hatte, musterte Maria mißtrauisch und öffnete dann erst die Tür ein wenig weiter. »Guten Tag«, sagte Maria freundlich. »Guten Tag«, sagte das Kind, nahezu abweisend. »Ist Martin zu Hause?« »Nein«, sagte das Kind. 449
»Du bist sicherlich seine kleine Schwester«, sagte Maria. »Wenn wir noch einen Säugling hätten«, sagte das Kind, offenbar höchst unzufrieden darüber, als »klein« bezeichnet worden zu sein, »dann wäre ich dessen große Schwester.« »Gewiß«, stimmte Maria zu; der Umgang mit diesem Kind, fand sie, war ein wenig mühsam. Sie fragte: »Weißt du, wo Martin jetzt ist?« »Nein«, sagte das Kind und ließ Maria nicht aus den Augen. »Weißt du denn, wo deine Mutter ist?« »Ja«, sagte das Kind. »Willst du mir das sagen?« »Nein«, sagte das Kind. Maria befahl sich Geduld. Sie überlegte, was sie mit dem kleinen Mädchen anfangen sollte; und plötzlich wurde ihr klar, daß die irritierenden Antworten, die sie erhalten hatte, alle richtig waren – nur ihre Fragestellung war falsch gewesen. – »Ich möchte gerne deine Mutter sprechen«, sagte Maria. »Das«, sagte das Kind höchst ernsthaft, »werde ich meiner Mutter ausrichten.« Es schloß die Tür und Maria hörte kleine, energische Schritte, die sich entfernten. Maria brauchte nicht mehr allzulange zu warten. Bald öffnete sich die Tür wieder. Eine Frau, die große Ähnlichkeit mit dem Kind hatte und ebenfalls gutmütig und ernsthaft zugleich aussah, nur daß sie um gute dreißig Jahre älter war, musterte Maria eindringlich. Hinter ihr lugte das Kind neugierig hervor. Die Frau, die unverkennbar Martins Mutter war, sagte plötzlich: »Sie sind Maria – nicht wahr?« 450
Maria vermochte nur zu nicken. Die jähe Freude, die das Gesicht der Frau überflogen hatte, tat Maria gut, nahm ihr alle Besorgnis – sie hatte das beglückende Gefühl, willkommen zu sein. »Das ist Maria!« rief das Kind ein wenig atemlos, aber herzlich. Und es drängte sich vor, dem Besuch entgegen. »Kommen Sie doch herein, Maria«, sagte Martins Mutter. »Sie sind hier zu Hause.« Maria war nahe daran, vor Glück zu weinen. Alles, was sie erlebt hatte, schien sie in diesen wenigen Sekunden noch einmal zu erleben: die lange Fahrt in glühender Hitze, die endlosen Gedanken an Martin in den vielen Stunden, in denen sie ganz allein gewesen war, die merkwürdig erregte Heiterkeit an der Grenze, die Spannung der letzten Stunde. Jetzt aber war sie, wie Martins Mutter sagte, zu Hause. Sie mußte sich in der guten Stube niedersetzen; eine Tasse Kaffee wurde für sie bereitet, und das Kind redete auf sie ein. Dann fragte Martins Mutter, wie die Reise gewesen wäre. Und sie sagte immer wieder, daß sie sich freue, endlich Maria kennenzulernen und daß sie sie nicht mehr fortlassen werde. Sie redete viel und mit Eifer, und es war ihr deutlich anzumerken, daß das nicht ihre Art war. »Wo ist Martin?« vermochte Maria schließlich zu fragen. Sie stellte diese Frage fast ein wenig angstvoll – denn das Gefühl hatte sich ihr aufgedrängt, daß Martins Mutter dieser Frage mit einer gewissen Furcht entgegensah. »Ja«, sagte Martins Mutter und verstummte. »Ist Martin nicht da?« »Er ist Ihnen entgegengefahren, Maria.« 451
»Das wollte er ja auch tun«, sagte Maria mit Eifer. »Wir hatten verabredet, uns an der Grenze zu treffen. Aber wahrscheinlich habe ich irgendeinen Fehler gemacht und bin an einem falschen Grenzübergang gewesen.« »Maria«, sagte Martins Mutter mühsam. »Der Junge ist nicht nur bis zur Grenze gefahren. Er dachte, Sie wären krank. Das zweite Telegramm kam zu spät. Er ist nach Schongau gefahren, Maria.« »Mein Gott«, sagte Maria fassungslos. »Was muß ich jetzt tun?« Im Verlaufe einer Stunde spielten sich im Bundeskanzleramt in Bonn folgende Ereignisse ab: 16.32 Uhr: Der NATO-Generalsekretär protestierte im Namen der in der NATO verbündeten Regierungen gegen das eigenmächtige Vorgehen der Bundeswehr. Er verlangte die sofortige Zurücknahme der Bundeswehreinheiten. 16.39 Uhr: Der Regierende Bürgermeister von Berlin teilte mit: Der Chef der Schweizer Delegation, der den Auftrag hatte, zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik eine mögliche Verhandlungsbasis über ein neutrales Land zu schaffen, konnte die Sektorengrenze nicht passieren. Er wurde von sowjetischen Truppen abgewiesen. 16.53 Uhr: Der Innenminister berichtete: Teile der südlich Lübeck in das Gebiet der Bundesrepublik eingedrungenen Volksarmee-Einheiten sind zum Grenzschutz übergegangen. Daraufhin wurden sowjetische Panzereinheiten eingesetzt. Sie überschritten die Grenze, um die Volksarmee zu entwaffnen. 452
17.04 Uhr: Der Bundeskanzler versucht zum zweitenmal, den Verteidigungsminister zu sprechen. Er wies darauf hin, daß er schon einmal vergeblich nach dem Verteidigungsminister gerufen habe, und zwar im Anschluß an sein Gespräch mit dem NATOGeneralsekretär. 17.11 Uhr: Dem Bundeskanzler wurde vom Staatssekretär im Verteidigungsministerium folgendes mitgeteilt: Der Verteidigungsminister hat Bonn vor einer Stunde verlassen. Er ist nach Bayern geflogen. Er wird nicht vor 19 Uhr zurückerwartet. 17.14 Uhr: Der Bundeskanzler berief eine Kabinettssitzung für 17.30 Uhr ein. 17.17 Uhr: Die Ankunft von Dr. Reiners aus Berlin wird gemeldet. Der Bundeskanzler entschied: Doktor Reiners wird gebeten, sich zur Verfügung zu halten. 17.26 Uhr: Der Bundeskanzler telefonierte mit dem Bundespräsidenten. Der Bundeskanzler sagte: »Ich muß die sofortige Absetzung des Verteidigungsministers verlangen.« Der Architekt, an dessen Firma bis vor kurzem auch Ruth Winters als Innenarchitektin beteiligt gewesen war, saß mit seiner Frau und Wolf Beck in der Bar des Hotels. Wolf hatte beide zu einem Cocktail gebeten, einmal, um sich für die Freundschaft zu bedanken, die sie Ruth entgegengebracht hatten, dann aber, um mit dem Architekten einen Auftrag besonderer Art zu besprechen. 453
Sie tranken sich zu. Es war das dritte Glas. Die kleine, zierliche, doch sehr brav und bieder aussehende Frau des Architekten wurde langsam immer gesprächiger. »Ruth«, sagte sie, »ist ein prachtvoller Mensch, sehr weitherzig, sehr großzügig.« »Wie habe ich das zu verstehen?« fragte Wolf Beck scheinbar freundlich. »Meine Frau«, beeilte sich der Architekt zu versichern, »will sicherlich damit sagen, daß Fräulein Winters eine große Anzahl liebenswerter Eigenschaften besitzt – unter anderen auch diese.« »Liebenswerte Eigenschaften?« fragte Wolf gedehnt. »O ja, sie war sehr beliebt«, erklärte die Frau des Architekten. »Bei wem in Besonderheit?« wollte Wolf prompt wissen. »Bei uns allen!« sagte der Architekt schnell. »Aber Sie wollten mir von einem Projekt erzählen, Herr Beck, von einem Auftrag besonderer Art.« »Auch das«, sagte Wolf. Er winkte dem Kellner, damit die Cocktailgläser nachgefüllt würden. Er hatte, ohne zu fragen, Martinis servieren lassen; die seinen waren besonders mild – das entsprach einer internen Abmachung zwischen ihm und dem Barmixer. Wolf beobachtete seine Gäste, die er, wie fast alle Menschen, denen er seine Zeit widmete, nicht ohne Grund eingeladen hatte. Er sagte: »Ich will, gemeinsam mit einer Interessentengruppe, ein Hochhaus im Zentrum von Kairo bauen – modern, repräsentabel und mit allem erdenklichen Komfort, wie Expreßlift, Müllschächte, Schwimmbassin und Dachgarten; dazu eine dreifache Wasserleitung, für normales Wasser, heißes Wasser und eisgekühltes Wasser. Kostenpunkt etwa vier bis fünf 454
Millionen Dollar. Würde Ihnen ein derartiger Auftrag zusagen?« »Unbedingt«, sagte der Architekt sichtlich begeistert. »Ägypten!« sagte seine Frau schwärmerisch. »Sie entwerfen die Pläne und überwachen die Gestaltung. Die Baufirmen bestimmen wir gemeinsam. Ihr Büro wird von uns eingerichtet und mit unserem Personal besetzt. Ein einheimischer Architekt wird Ihnen als Assistent zur Verfügung gestellt, ebenfalls ein Dolmetscher. Weiterhin stellen wir Ihnen, solange Sie in Kairo arbeiten, eine kleinere Villa mit Personal und einen Wagen zur Verfügung.« »Herrlich!« rief die Frau des Architekten. »Wie ein Märchen.« »Ich wähle Ihren Mann«, sagte Wolf Beck, »weil ich schon mehrfach mit ihm zusammengearbeitet habe und auch, weil er nicht übermäßig kostspielig baut. Er hat Geschmack, er ist ein guter Kalkulator – und Sie beide sind neuerdings gewissermaßen Freunde meines Hauses.« »Wünschen Sie, daß ich mit Ihrer Frau – Verzeihung: mit Fräulein Winters zusammenarbeite?« fragte der Architekt. »Ich würde es gerne tun.« »Die Hauptsache ist zunächst«, sagte Wolf Beck ausweichend, »daß wir beide gut zusammenarbeiten. Und dazu gehört natürlich auch ein gewisses Vertrauen.« »Das ist selbstverständlich«, versicherte der Architekt. »Ich hätte mich gefreut«, erklärte Wolf Beck bedächtig, »wenn das schon früher selbstverständlich gewesen wäre.« »Wie darf ich das verstehen, Herr Beck?« fragte der Architekt mit betonter Höflichkeit. 455
»Wir alle«, sagte Wolf Beck und gab sich großmütig, »sind mehr oder weniger von anderen Menschen abhängig, wir sind Krisen unterworfen und gegen Versuchungen nicht immun. In solchen Fällen ist es immer gut, wenn man auf die Hilfe, zumindest auf die Anteilnahme seiner Freunde zählen kann.« »Gewiß«, sagte der Architekt und versuchte vergeblich zu ergründen, wovon Wolf Beck eigentlich sprach. »Sie«, sagte jetzt Wolf Beck, »haben täglich mit Fräulein Winters Tür an Tür gearbeitet. Sie, gnädige Frau, sind oftmals mit ihr zusammengewesen.« »Sehr oft!« versicherte die Frau des Architekten mit Eifer. »Dann verstehe ich nicht ganz«, sagte Wolf Beck, und das, was er sagte, war nun eindeutig als Vorwurf zu erkennen, »wie die peinliche Geschichte mit diesem gelackten Nichtstuer namens Bernhardt überhaupt passieren konnte!« »Ich war dagegen!« rief die Frau des Architekten. »Von Anfang an!« »Aber Sie haben es dennoch geduldet.« »Was sollten wir denn machen?« fragte die Architektenfrau. »Zum Beispiel: Fräulein Winters ins Gewissen reden, ihr Schwierigkeiten machen, diesen Gigolo kaltstellen – oder aber: mich benachrichtigen.« »Wenn Sie erlauben«, sagte der Architekt entschlossen, »dann werde ich die Angelegenheit mit diesem Menschen bereinigen – und zwar mit allen Konsequenzen.« »Das habe ich bereits getan«, sagte Wolf Beck. »Was Ihnen beiden jetzt noch zu tun übrigbleibt, ist folgendes: 456
ich will, mit der gebotenen Offenheit, alle Einzelheiten dieser peinlichen Geschichte wissen. Sind Sie dazu bereit? Gut. Dann fangen Sie an.« 17.25 Uhr. Fontainebleau. NATO-Hauptquartier. Zimmer des Oberbefehlshabers. Der stellvertretende Befehlshaber der Landstreitkräfte in Europa, ein französischer General, stürzte unangemeldet herein. Sein scharfes Troupiersgesicht, unter Afrikas Sonne gebräunt, sah jetzt beängstigend gelb aus. Er hielt einen Funkspruch in der Hand, die kaum merklich zitterte. Der Oberbefehlshaber, der ein wenig unwillig von seiner Arbeit aufgesehen hatte, empfand diesen Anblick des sonst unerschütterlich erscheinenden Mannes als alarmierend. Gerade jetzt, zu diesem Zeitpunkt höchster Konzentration, konnte er niemand gebrauchen, der sich durch irgend etwas aus dem Gleichgewicht bringen ließ. »Bitte, Herr General«, sagte der Oberbefehlshaber fordernd. »Der Befehlshaber der Landstreitkräfte«, sagte der französische General, »hat sich soeben an seinem Schreibtisch erschossen. Vor ihm lag dieser Funkspruch.« Der NATO-Oberbefehlshaber starrte den Franzosen ungläubig an. Er sah dessen kühle, befehlsgewohnte Augen, die Hunderte von Menschen hatten sterben sehen. Würgende Stille trat ein. Dann sprang der Oberbefehlshaber auf. Er streckte seine Hand fordernd nach dem Funkspruch aus. Der Franzose hielt das Blatt Papier hin, als übergebe er einen Degen. Der Funkspruch, den der deutsche General, der Befehlshaber der Landstreitkräfte der NATO, nicht 457
überleben zu können glaubte, hatte folgenden Wortlaut: Erstes und drittes Bataillon des 4. Grenadierregiments um 16.40 Uhr zum Angriff angetreten. Abstoppen der Bewegung unmöglich. Wir kämpfen unsere Kameraden frei. Bis zum Abend ist die Lage hereinigt. Der sich bereits langsam bewegende Zug, der immer noch durch die Ostzone fuhr, wurde noch langsamer, kroch ein paar hundert Meter mühsam dahin und stand dann still. Er befand sich nun in der Nähe einer kleinen Bahnstation, auf einem Abstellgleis. »Niemand darf aussteigen!« riefen die Zugbeamten, die sich in Eile draußen neben den Gleisen postiert hatten. Die Unruhe der Menschen im Zug nahm schlagartig zu. Sie sprachen lauter und schneller. Die Wagenfenster waren nach beiden Seiten dicht besetzt. Ein ostzonaler Beamter stürzte aus dem Bahngebäude, schwenkte heftig eine rote Signalflagge, stolperte über eine Eisenbahnschwelle, fiel hin, raffte sich wieder auf und rief: »Aussteigen verboten!« »Wir haben gar kein Verlangen danach!« rief ein Mann aus einem Abteilfenster zurück. »Wann geht es weiter?« »Unbestimmt!« rief der Bahnbeamte. Er gesellte sich, mit einiger Vorsicht, seinen westdeutschen Kollegen zu, vermutlich, um sie darüber aufzuklären, daß er auch nicht mehr wußte als sie. Die westzonalen Beamten hatten den Befehl gehabt, den Zug durch die Ostzone zu fahren; weiterhin hatten sie den Befehl, jedes gegebene Signal unter allen Umständen zu beachten. Und das letzte Signal lautete: Halt! Selbstverständlich war es befolgt worden. Die Frau, die neben Isolde saß, war aufgestanden und hatte sich an das Fenster begeben. Peter, auf dem Gang 458
lauernd, benutzte die Gelegenheit, die der vorübergehend frei gewordene Platz bot; er näherte sich Isolde und ihrer Mutter mit erfreutem Lächeln. »Peter!« sagte Mutter Schwiefert, »Peter! Ich weiß noch nicht genau, was ich mit dir anfangen werde. Aber bis wir im Westen sind, wird mir schon das Richtige einfallen.« »Das kann aber sehr lange dauern, Mutter«, glaubte Isolde feststellen zu müssen. »Ja«, sagte Peter. »Ein Herr im Nebenabteil hat gesagt, er kennt sich da aus. Wenn wir dieses Schneckentempo mit Pausen weiterhin beibehalten, brauchen wir mindestens noch einen Tag. Wenn wir überhaupt jemals ans Ziel kommen!« »Das ist eine schöne Bescherung«, sagte Mutter Schwiefert beunruhigt. »So etwas kann doch überall vorkommen«, sagte Peter, der offenbar von dem Herrn im Nebenabteil gründlich aufgeklärt worden war. »Bei den Amerikanern soll neulich ein Zug drei Tage lang mitten in der Wüste gestanden haben, denn vor ihm war eine Brücke vom Hochwasser weggespült worden und hinter ihm auch. In England wird oft gestreikt und in Frankreich fast immer; die Züge fahren dort sehr schnell oder überhaupt nicht. Das kommt von der verwahrlosten Wirtschaft und von der kapitalistischen Profitgier. Aber in Sibirien …« »Hör mit diesem fürchterlichen Unsinn auf«, sagte Mutter Schwiefert ärgerlich. »Mutter«, sagte Isolde, »wenn Peter immer in unserer Nähe bleiben könnte, brauchte er so etwas nicht aufzuschnappen.« »Das ist wahr«, stimmte Peter unbedenklich zu. 459
Mutter Schwiefert seufzte ein wenig auf und entschloß sich, zu kapitulieren – vorläufig wenigstens. Sie sah zur Seite und hörte wieder auf die Gespräche der Mitreisenden. Die allgemeine Erregung hatte noch zugenommen. Es wurde angeordnet, die Fenster zu schließen. Das geschah unter heftigem Murren. Beschimpfungen wurden laut. Die Bahnbeamten, die sich nur mühsam verständlich machen konnten, beteuerten, unschuldig an dieser Maßnahme zu sein; aber sie könnten nicht umhin, zu gehorchen. Nichts existiere in dieser Welt, das maßgeblicher für sie sei, als Eisenbahnsignale. Die Fenster knallten zu. Die Luft in den Wagen wurde sofort drückend. Sie lastete mit dumpfer Schwere auf den schweißnassen Gesichtern. Draußen rollten, in kurzen Abständen, zwei lange, schwer beladene Züge vorüber. »Truppentransporte«, sagte ein Mann. Und ein plötzlich einsetzendes Schweigen ließ das Rattern der vorübereilenden Räder wie ein betäubendes Gedröhn erscheinen. »Sowjetische Truppentransporte.« Isolde und Peter schien das alles nichts anzugehen. Sie hielten sich unbekümmert an den Händen. 17.30 Uhr. Kabinettssitzung im Palais Schamburg. Obgleich sie mit einer Verspätung von 12 Minuten begann, wurde dennoch die offiziell angesetzte Zeit notiert. Es folgen: Auszüge aus dem Protokoll. Ferner: Notizen eines Ministers, unmittelbar nach der Sitzung zu den verschiedenen Punkten angefertigt. Der Bundeskanzler begrüßte kurz die anwesenden Minister, Staatssekretäre und Sachbearbeiter. Ohne weitere Einleitungen erklärte er folgendes: 460
»Meine Herren. Der Herr Bundespräsident hat, auf meinen Vorschlag hin, die Absetzung des Verteidigungsministers verfügt. Der Innenminister wird die Leitung dieses Ressorts übernehmen.« In seinen weiteren Ausführungen erläuterte der Bundeskanzler, welche Ereignisse und Überlegungen zu dieser Maßnahme geführt hätten. Diese Begründung bestand im wesentlichen aus zwei Punkten: Der Verteidigungsminister hat unverantwortlich und Staats- und bündnisgefährdend gehandelt, als er den Einsatzbefehl an die Bundeswehr gab. Der Verteidigungsminister hat entgegen der bestehenden Anordnung Bonn verlassen, die Beschlüsse des Kabinetts mißachtet, anscheinend, um – wörtlich – »selbst Krieg zu führen«. Zu diesem Punkt notierte der oben angeführte Minister folgendes: »Die Tage des Verteidigungsministers waren bereits gezählt, bevor sie noch begonnen hatten. Er war zu sehr Soldat und deshalb zuwenig Politiker. Das Zivil, das er trug, wirkte stets wie eine Uniform. Er mißachtete die Demokratie, weil sie den primitivsten soldatischen Grundgesetzen widersprach. Für ihn war die Armee eine Religion und das Offizierkorps ein Orden. Sein Schweigen war Verachtung.« Der Bundeskanzler kam sodann auf die allgemeine Lage zu sprechen und dann auf die Situation der Bundesrepublik. Er sagte: »Ich zögere nicht, das Wort ›katastrophal‹ zu gebrauchen. Bei Hof stehen die angreifenden Bundeswehrverbände im Kampf mit sowjetischen Einheiten. Bei Lübeck ist zwar das Feuer eingestellt, aber die Russen, die dort auf das Gebiet der Bundesrepublik 461
vorgedrungen sind, machen keine Anstalten, sich zurückzuziehen. Sie haben zwischen Herrnburg und der Nordspitze des Ratzeburger Sees einen Brückenkopf gebildet, der bis an die Bahnlinie Lübeck-Ratzeburg reicht.« Nach diesem Bericht wurde die Kabinettssitzung durch das Schrillen des Telefons unterbrochen. Der Generalsekretär der NATO verlangte dringend den Bundeskanzler zu sprechen. Der Generalsekretär der NATO teilte mit: Der deutsche Befehlshaber der Landstreitkräfte der NATO hat sich erschossen. Ich spreche der Regierung der Bundesrepublik Deutschland zu diesem tragischen Tod mein aufrichtiges Beileid aus. Ich bin der Ansicht, daß der Posten eines Befehlshabers der Landstreitkräfte auf jeden Fall wieder mit einem deutschen General besetzt werden muß. Ich erwarte Ihren Vorschlag. Ich werde mich diesbezüglich mit den übrigen Regierungen in Verbindung setzen. Nach dieser Mitteilung erhoben sich alle, die an dieser Kabinettssitzung teilnahmen, von ihren Plätzen. Es erfolgte eine kurze Beratung. Das Kabinett beschloß, auf Vorschlag des Bundeskanzlers, den Inspekteur der Bundeswehr als Nachfolger für den toten General zu nominieren. Das Kabinett beauftragte sodann den Innenminister, für die Bereinigung der Lage bei Hof zu sorgen. Der erwähnte Minister, der Verkehrsminister, verfaßte auch hierzu eine Notiz. Er, der lediglich ein sogenanntes »Fachressort« verwalten durfte, hatte schon immer den Mangel an bewußtem, kompromißlosem Patriotismus in der Bundesrepublik beklagt. Er war sich, zu jeder Stunde, seiner nationalen Verpflichtung voll bewußt gewesen – 462
ohne das jemals mit der ganzen Offenheit aussprechen zu können. Seine Notiz lautete folgendermaßen: »Wenn es gelingt, aus dieser Katastrophe Deutschland herauszukristallisieren, ein einziges, einiges, starkes, unabhängiges Deutschland, so wie wir es verstehen – wenn das gelingt, ist niemand umsonst gestorben.« Henry Engel ließ »seine« Damen, wie er sie amüsiert nannte, auf der Terrasse allein, stieg in den Keller, wo Friebe bereits auf ihn wartete. Friebe hatte in der schmucklosen, doch gemütlich wirkenden, ganz mit Holz verkleideten Trinkstube sämtliche Radioapparate des Hauses, vier im ganzen, montiert. Sie waren auf »leise« gestellt und dudelten schmalzige Musik vor sich hin. Auf dem Tisch stand eine halbleere Flasche Rotwein. Henry Engel warf einen Blick auf das Etikett: es war Burgunder, ein Chambertin, Jahrgang 1953. »Mein lieber Friebe«, sagte er erheitert, »Ihr Geschmack wird zusehends kostspieliger.« »Das macht der ständige Umgang mit Ihnen, Chef«, erklärte Friebe grinsend. »Eines Tages«, sagte Henry Engel, »wird es keinen Wein mehr geben – kein reines Getränk existiert dann mehr, das mit Regen und Sonne und der Kraft der Erde entstanden ist. Alles wird verseucht sein, wenn wir mit den Atomexperimenten fortfahren – was aber dann sein wird, wenn wir einen Atomkrieg über uns ergehen lassen müssen, das weiß nur Gott.« »Das genügt schon«, sagte Friebe, »denn wie es noch auf dieser Erde aussehen wird, kann uns doch höchst gleichgültig sein – wir werden es nicht erleben. Bis dahin, finde ich, sollten wir so wenig von dem köstlichen Wein 463
übriglassen, wie es uns nur möglich ist.« »Heute schon«, sagte Henry Engel, »nach kaum viel mehr als einem Dutzend H-Bombenexplosionen, gibt es übermäßig radioaktives Meerwasser, radioaktives Regenwasser, radioaktives Leitungswasser, radioaktive Fische und Pflanzen. Selbst die Milch der Kühe ist schon verseucht.« »Das kann alles sein«, sagte Friebe, »und gerade deshalb dürfen wir es nicht riskieren, daß Ihre edelsten Weine Geigerzähler zum Ticken bringen!« Henry Engel setzte sich auf eine Holzbank; er sah dabei kurz auf seine Uhr: bis zum Beginn der Nachrichtensendung hatte er noch mehrere Minuten Zeit. »Friebe«, sagte er unvermittelt, »warum haben Sie eigentlich niemals geheiratet?« »Weil mich niemand gewollt hat«, sagte Friebe ausweichend und füllte sein Glas nahezu andächtig mit Chambertin. »Aber es hat doch sicherlich Frauen gegeben, die Sie gewollt haben?« fragte Engel. »Früher einmal schon«, sagte Friebe gedehnt. »Aber im Verlauf der Jahre hat sich das gelegt.« – »Schlechte Erfahrungen?« »Wie man es nimmt, Chef.« Friebe hielt prüfend seinen Wein gegen das Licht. Er funkelte purpurrot. Genießerisch trank er ein wenig davon. »Solange ein Mann jung ist, will er viele Frauen. Aber wenn er erst einmal alt geworden ist, dann ist eine schon zuviel.« »Dann sind Sie vermutlich niemals der richtigen Frau begegnet, Friebe.« »Was verstehen Sie denn unter einer ›richtigen‹ Frau, Chef? Eine kluge, eine scharfe, eine sanfte Frau – oder 464
was? Denken Sie an die beiden Damen oben – welche würden Sie denn als richtig bezeichnen? Sicher gibt es Situationen, in die die eine oder die andere genau hineinpaßt – aber auf die Dauer, Chef, können Sie doch nur sich selbst ertragen.« »Vergessen Sie die Nachrichten nicht, Friebe«, sagte Henry Engel. Friebe nickte. Dann drehte er einen der Apparate, der auf einen Sender der Bundesrepublik eingestellt war, voll auf: Pausenzeichen – Stationsmeldung – Uhrzeit – die erste Nachricht. Sie lautete: Die russischen Panzer, die südlich von Lübeck auf das Gebiet der Bundesrepublik vorgedrungen sind, liegen kampflos den Verbänden des Bundesgrenzschutzes gegenüber. Nördlich von Hof jedoch sind immer noch schwere Kämpfe im Gange. Wie verlautet, haben russische Einheiten in das Gefecht eingegriffen. Ein Sprecher der Bundesregierung beschuldigte die Regierung in Ost-Berlin, diesen tragischen Bruderkrieg ausgelöst zu haben. Zwei Versuche, die Feuereinstellung zu erreichen, sagte der Sprecher der Bundesregierung, sind gescheitert. Der Grenzschutz kämpft in Notwehr. Parlamentäre, die die Volksarmee zum Abbruch des Kampfes bewegen wollten, sind beschossen worden. Der deutsche Befehlshaber der NATO-Landstreitkräfte in Europa ist heute in seinem Hauptquartier einem Herzschlag erlegen. In Übereinstimmung mit den verbündeten Regierungen wurde der Inspekteur der Bundeswehr zu seinem Nachfolger ernannt. »Warum, Chef«, fragte Friebe, »stirbt ein General an Herzschlag – ausgerechnet in einer Situation wie dieser?« »Vielleicht, weil er, wie wir alle, nicht mit dem Leben 465
fertiggeworden ist.« »Werden Sie nun beide Damen abtransportieren lassen, Chef – oder nur eine? Wenn nur eine - welche von beiden? Die, die Sie enttäuscht hat, oder die, die Sie enttäuschen wird?« Bevor Henry Engel antworten konnte, kam die nächste Nachricht: Die Kämpfe in der Ostzone und in Ost-Berlin dauern an. Aus Magdeburg und Halle wird berichtet, daß die sowjetischen Truppen gefangene Widerstandskämpfer auf der Stelle erschossen haben. Wie soeben aus New York gemeldet wird, hat die amerikanische Regierung eine Sondersitzung des Sicherheitsrats beantragt. Der Sicherheitsrat soll die Lage in Zentraleuropa überprüfen. In Moskau ist das Zentralkomitee der Partei zusammengetreten. »Wir werden beide Damen abtransportieren«, sagte Henry Engel. »Wenn sie sich abtransportieren lassen«, ergänzte Friebe skeptisch. Martin fuhr die letzte Steigung vor Schongau hinauf. Bereits von der Höhe hinter Peiting hatte er die ganze Stadt übersehen können; und er fand, über dem Bahnhof, dicht hinter der Stadtmauer, das Haus, in dem Maria wohnte. Auf dieses Haus fuhr er jetzt zu. Er stellte das Rad an die Mauer, begab sich in das Haus, stieg eine Treppe hoch, klopfte an, öffnete eine Tür und ging hinein. Es war alles ganz einfach. »Guten Tag«, sagte er. »Wie geht es Maria.« »Sie!« sagte Marias Mutter und starrte ihn ungläubig an. »Ich habe das Telegramm bekommen – also bin ich 466
da«, sagte Martin. Er ging unbekümmert auf Marias Mutter zu und streckte ihr die Hand entgegen. Diese Geste wurde nahezu mechanisch erwidert. Sie drückten einander fest, doch ohne Herzlichkeit die Hände. »In dem Telegramm«, sagte Marias Mutter ausweichend, »steht nichts davon, daß Sie kommen sollten.« Sie hatte sich weder von ihrem Stuhl erhoben, noch dem Besucher einen Platz angeboten. »Aber in dem Telegramm steht, daß Maria krank ist – selbstverständlich bin ich sofort gekommen. Bitte, sagen Sie mir: wie geht es ihr, woran ist sie erkrankt, wo finde ich sie?« Marias Mutter schwieg; und ihr Schweigen sagte ihm deutlich, wie ungerne sie ihn sah. Das überraschte ihn nicht; er wußte, daß es so war und daß viel Zeit vergehen mußte, ehe es sich ändern würde. Er nahm es hin. Maria hatte ihn nie darum gebeten; aber sie hatte mehrmals versucht zu erklären, warum ihre Mutter so und nicht anders auf die Tatsache reagieren würde, daß er in ihr Leben getreten war und sie für sich beanspruchte. »Meine Mutter«, hatte Maria damals zu ihm gesagt, »hat ein schweres Leben gehabt, und sie ist auch nicht der Mensch, irgend etwas leicht zu nehmen. Ihre Jugend muß sehr hart gewesen sein; und Vater ist ein guter, einfacher Mann, der zweimal durch zwei Kriege alles aufgeben mußte, was er sich mühsam erarbeitet hatte. Mein älterer Bruder ist in Rußland gefallen. Für Mutter bin ich jetzt alles – sie will, daß es mir besser geht, als es ihr gegangen ist, sie will mich vor der Armut bewahren. Eine gute Zukunft für mich, so glaubt sie, bedeutet auch für sie einen gesicherten Lebensabend.« »Bitte«, sagte Martin, »ich will zu Maria.« »Maria ist nicht hier«, sagte die Frau. 467
»Wo ist sie?« »Maria ist auch nicht krank«, sagte die Frau. »Das Telegramm war ein Irrtum!« »Sie müssen mir jetzt sofort sagen, wo ich Maria finden kann«, verlangte Martin voller Ungeduld. »Maria«, sagte die Frau und sah ihn nicht frei von Bosheit an, »Maria ist nach Sonneberg gefahren!« Um 19.00 Uhr veröffentlichte der sowjetische Rundfunk zwei Noten der Regierung der UdSSR. Die erste dieser Noten war an die Regierung der Bundesrepublik Deutschland in Bonn gerichtet. Sie hatte folgenden Wortlaut: Die Regierung der UdSSR weist die Regierung der Bundesrepublik Deutschland darauf hin, daß die in der Deutschen Demokratischen Republik entstandene Lage ebenso wie die Situation an der Grenze zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland allein auf das Verschulden der Bundesrepublik Deutschland zurückzuführen ist. Die sowjetische Regierung ist im Besitz von Beweisen, daß die Streiks und Unruhen in der Deutschen Demokratischen Republik das Werk von Agenten der Bundesrepublik sind. Außerdem sind Einheiten der Armee der Bundesrepublik an verschiedenen Stellen zum offenen Angriff auf das Territorium der Deutschen Demokratischen Republik angetreten. In Verfolg ihrer Bündnisverpflichtungen gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik ist die Regierung der UdSSR daher gezwungen, folgende Forderungen gegenüber der Regierung der Bundesrepublik Deutschland zu erheben. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland 468
verpflichtet sich, ab sofort sich jeglicher Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Deutschen Demokratischen Republik zu enthalten. Die Regierung der Bundesrepublik befiehlt ihren auf das Territorium der DDR vorgedrungenen Streitkräften die sofortige Feuereinstellung und zieht diese Streitkräfte bis heute abend 22.00 Uhr hinter die Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR zurück. Die zweite Note der sowjetischen Regierung wurde an den Rat der nordatlantischen Verteidigungsorganisation in Paris gerichtet. Sie hatte folgenden Wortlaut: Die Regierung der UdSSR stellt mit Besorgnis fest, daß an der Grenze der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik eine ernste Lage entstanden ist, die eine schwere Bedrohung des Weltfriedens bedeutet. Da die Bundesrepublik Deutschland, die das Verschulden an dieser Situation trifft, Mitglied der NATO ist und ihre Streitkräfte dem militärischen Oberkommando der NATO unterstehen, wendet sich die Regierung der UdSSR an die Regierungen der NATO-Mächte mit dem dringenden Ersuchen, unverzüglich für die Einstellung der Kampfhandlungen an der Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR zu sorgen. Andernfalls ist die Regierung der UdSSR gezwungen, mit ihren Streitkräften die Sicherheit der DDR zu gewährleisten. Unmittelbar im Anschluß an die Bekanntgabe dieser beiden Noten veröffentlichte Radio Moskau drei gleichlautende Noten an die Regierungen der Vereinigten Staaten, England und Frankreich. Diese Noten hatten folgenden Wortlaut: Die Regierung der UdSSR richtet an die Regierungen 469
Amerikas, Englands und Frankreichs eine ernste Warnung wegen der in Berlin entstandenen Lage. Trotz Übernahme der vollziehenden Gewalt in den drei westlichen Sektoren Berlins durch die Alliierten werden von Westberliner Agentenzentralen aus die Unruhen in Ost-Berlin und der DDR systematisch geschürt und gesteuert. Die Regierung der UdSSR ersucht die drei genannten Regierungen, unverzüglich dafür zu sorgen, daß diese Agentenzentralen ihre Tätigkeit einstellen, da durch sie auch die Sicherheit der Streitkräfte der UdSSR gefährdet ist. Charly begann die Rolle, die ihm zugedacht war, zu gefallen. Der Grund hierfür war nicht nur das immer interessanter werdende Material, das ihm hier aus vielen und oft sehr merkwürdigen Quellen in die Hände geriet – einer der Hauptgründe für seine freudige Mitarbeit war die Sekretärin des stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR. Sie hieß, wie er schnell herausbekommen hatte, Gabriele – worauf er sie »Gaby« nannte. Ihre anfänglichen Proteste gab »Gaby« bald auf; sie sah ein, daß sie völlig sinnlos waren. »Charly und Gaby«, rief er fröhlich und derartig lautstark, als lege er Wert darauf, in allen Räumen der in West-Berlin gelegenen Villa gehört zu werden, »klingt das nicht fast so schön wie Romeo und Julia? Ich bin gespannt darauf, ob morgen früh, wenn wir aufwachen, eine Nachtigall singen wird. Oder eine Lerche.« »Wir werden die Nacht durcharbeiten«, erklärte Gabriele, »und keine Zeit haben, auf irgendwelche Vögel zu achten. Sorgen Sie lieber dafür, daß Doktor Reiners in Bonn so schnell wie möglich seine Vorschläge macht. Und fragen Sie ihn bitte noch einmal, ob er sich nicht 470
auch für ein Amt zur Verfügung stellen will – der Minister legt großen Wert darauf.« »Soll ich Ihnen einmal verraten, Gaby, worauf ich großen Wert lege?« wollte Charly, sich zu ihr hinunterbeugend, wissen. »Und vergessen sie bitte nicht«, sagte Gabriele, »daß Sie hier lediglich als Verbindungsmann zwischen Doktor Reiners und uns fungieren – Sie sind nicht berechtigt, in unsere Planungen einzugreifen.« Die Sekretärin des Ministers ging hinaus, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen. »Sie haben etwas Wichtiges vergessen!« rief ihr Charly nach. Allzeit pflichtbewußt, wie sie war, drehte sie sich sofort herum. »Was denn?« fragte sie. »Sie haben vergessen, mir einen Abschiedskuß zu geben!« rief Charly und amüsierte sich köstlich über ihre Verblüffung. Sie schlug die Tür, hinter sich zu. Charly lachte schallend. Dann blätterte er seine Notizen durch. Dieser Doktor Reiners, fand er dabei, war so etwas wie ein konspiratives Genie. Er hatte in Bonn in kürzester Zeit drei Leute aufgetrieben, die bereit zu sein schienen, sich für eine provisorische gesamtdeutsche Regierung zur Verfügung zu stellen: ein angesehener Atomwissenschaftler; ein Minister der Regierung in Bonn, und zwar der Verkehrsminister; und außerdem, was eine besondere Prachtleistung darstellte, ein General der Bundeswehr. Jetzt war Doktor Reiners dabei, mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen zu verhandeln, 471
um eventuell von dort aus Rückendeckung zu bekommen. Gelang es Reiners, den Generalsekretär der UNO für seinen Plan zu interessieren, war das Wichtigste geschafft. Und der Generalsekretär würde vermutlich nicht nein sagen, wenn sich ihm hier eine Lösung der katastrophalen Situation anbot – denn es handelte sich um eine Situation, die unweigerlich das Ende der Vereinten Nationen herbeiführen würde, wenn es nicht gelang, sie in letzter Minute zu bereinigen. Die Sekretärin erschien wieder und kam triumphierend direkt auf Charly zu. »Unsere Liste«, sagte sie, »weist bereits sieben Namen auf; wir arbeiten also schneller.« »Aber nicht unbedingt erfolgreicher«, sagte Charly. Er betrachtete sie angeregt, so daß sie ein wenig zu erröten schien – seinetwegen, glaubte Charly. »Wenn diese sieben Leute Nullen sind, können wir sie nicht brauchen.« »Es handelt sich um Patrioten«, erklärte Gabriele. »Das schließt doch nicht aus, Gaby, daß es sich um Nullen handeln kann!« sagte Charly. 20.00 Uhr. Pressekonferenz in Bonn. Der Bundespressechef gab, ohne jeden weiteren Kommentar, folgendes bekannt: Die Bundesregierung hat die um 19.00 Uhr eingegangene und inzwischen bekannt gewordene Note der sowjetischen Regierung bereits beantwortet. Die Antwort hat folgenden Wortlaut: Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland weist die Anschuldigungen der sowjetischen Regierung zurück. Weder die Regierung noch eines der ihr nachgeordneten Organe hat in irgendeiner Form Einfluß auf die Ereignisse in der DDR genommen. Sie ist im Gegenteil über diese Ereignisse außerordentlich 472
bestürzt, die nach ihrer Meinung ausschließlich auf die Politik der Regierung der DDR zurückzuführen sind. Die Bundesregierung versucht bereits seit Stunden, eine Einstellung der Kampfhandlungen an ihrer Ostgrenze herbeizuführen. Ihr Appell an die Regierung der DDR blieb unbeantwortet. Es ist der dringende Wunsch der Bundesregierung, den Weltfrieden zu erhalten. Sie hat ihren Einheiten, die in der Gegend von Hof in Bayern auf das Gebiet der DDR vorgestoßen sind, bereits den Rückzugsbefehl erteilt. Die Bundesregierung macht die Regierung der UdSSR aber darauf aufmerksam, daß auch das Territorium der Bundesrepublik zunächst von Einheiten der ostdeutschen Volksarmee und danach von Verbänden der sowjetischen Armee verletzt wurde. Die sowjetischen Einheiten befinden sich zur Stunde noch auf dem Territorium der Bundesrepublik. Die Bundesregierung ersucht daher die Regierung der UdSSR, auch diese Streitkräfte unverzüglich zurückzuziehen. »Nein«, sagte Henry Engel entschieden, »ich bin nicht gewillt, zur Zeit irgendeine Veränderung zu akzeptieren. Ich bleibe, wo ich bin.« Er sprach mit dem Vertreter jenes amerikanischen Konzerns, der seine Patente auswertete. Die Hartnäckigkeit dieses Mannes war erstaunlich; seine Angebote wurden von Tag zu Tag großzügiger und in gleichem Umfang nahm seine drängende Unruhe zu – offenbar stand für ihn eine besonders hohe Provision auf dem Spiel. »Herr Engel«, sagte der Amerikaner eindringlich, »spüren Sie denn nicht, in welchem Ausmaß Sie hier bedroht sind? Wenn es zu einem Krieg kommt, wird sich höchstwahrscheinlich ein Atomkrieg daraus entwickeln. 473
Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, daß die amerikanischen Streitkräfte über weit mehr als zweitausend Atombomben aller Größenordnungen verfügen.« »Nicht so großzügig!« sagte Henry. »Die Hälfte davon genügt für das alte Europa!« »Herr Engel«, sagte der Amerikaner, »selbst wenn Sie beabsichtigen sollten, in Zukunft Ihre Verträge über Herrn Beck abzuschließen, was ich persönlich durchaus verstehen könnte, so muß ich Sie doch darauf aufmerksam machen, daß die Zeit drängt jede Minute ist jetzt wichtig. Und Herr Beck ist weit.« »Wie kommen Sie auf Wolf Beck?« fragte Henry überrascht. »Sie sehen, ich bin informiert!« sagte der Amerikaner und kam sich überlegen vor. »Aber es bleibt Ihnen doch gar keine andere Wahl, als meine Angebote anzunehmen. Ich spreche direkt für den Konzern; Herr Beck wäre nichts als ein Bindeglied – ein teures noch dazu, wie ich bemerken möchte. Schlagen Sie ein, kommen Sie mit! Schon morgen kann es zu spät sein.« »Sie brauchen mir keine Schreckgespenste an den Horizont zu malen«, erklärte Henry unzugänglich, »soviel Phantasie besitze ich auch, zu erkennen, daß wir uns hier in Mitteleuropa nicht gerade in einem Ferienparadies befinden. Aber gerade das amüsiert mich weit mehr, als es jemals einer Broadwayrevue gelingen könnte.« »Meine Vollmachten reichen sehr weit«, sagte der Amerikaner gedehnt. »Und meine Geduld ist nicht endlos. Sie haben hier in Deutschland eine Redensart, an die Sie denken sollten – vielleicht müssen wir Sie zu Ihrem Glück zwingen.« »Ihre Kenntnisse der deutschen Sprache sind 474
mangelhaft«, stellte Henry gelassen fest. »Das entschuldigt Sie. Adieu!« Dieses Gespräch bestärkte Henry Engel in seiner Erkenntnis, daß es jetzt an der Zeit war, zu handeln. Er mußte Constance in Sicherheit bringen – auch Ruth Winters natürlich. Aber in erster Linie Constance; nicht etwa, weil sie ihm besonders viel bedeutete, so redete er sich ein, sondern weil er es Michael schuldig war. Friebe hatte alles vorbereitet: der große Wagen, voll aufgetankt, stand startbereit. Das Ziel war Genf, Hotel Metropol – in sechs bis sieben Stunden scharfer, pausenloser Fahrt durchaus zu erreichen. »Morgen vormittag, spätestens gegen Mittag, bin ich wieder zurück«, erklärte Friebe zuversichtlich. Henry Engel begab sich in die Halle. Constance und Ruth saßen vergleichsweise friedlich beieinander; sie schienen zu lesen. »Meine Damen«, sagte Henry Engel unverzüglich, »Friebe steht mit dem Wagen bereit – bitte, die Koffer zu packen. In einer halben Stunde geht es los.« Ruth Winters sah, offenbar ein wenig belustigt, von ihrer Lektüre auf – sie schien nicht die Absicht zu haben, irgend etwas zu erwidern. Sie sah zu Constance hinüber, die ihr Buch zugeschlagen und zur Seite gelegt hatte. »Ich fahre nicht«, sagte Constance überraschend fest und sah dabei Henry Engel an. »Ich bitte dich darum, Constance!« sagte Henry Engel eindringlich. »Nein«, sagte sie. Henry Engel betrachtete sie prüfend und erkannte, daß Constance sich verändert hatte; sie schien plötzlich zu wissen, was sie wollte. Das war kaum faßbar. 475
»Wir wollen jetzt einmal ganz offen miteinander reden, Constance«, sagte er hart. »Ich kann dich hier nicht gebrauchen. Ich will die Verantwortung, die ich für dich übernommen habe, loswerden. Ist das klar?« »Das«, sagte Constance tonlos und schwer verletzt, »kann nicht dein Ernst sein.« »Du mußt langsam aufhören«, sagte Henry Engel wütend, »daran zu glauben, daß du der Nabel der Welt bist. Für mich bedeutest du im Augenblick nichts als eine Belastung.« »Wenn das so ist«, sagte Constance leise, mit dekorativ gebeugtem Nacken, »dann will ich dich nicht länger belästigen.« Sie stand auf und ging, mit tränenfeuchten Augen und schleppenden Schritten, hinaus. Dieser Anblick quälte ihn. »Beeile dich!« rief er ihr nach. »Nicht sehr taktvoll«, sagte Ruth Winters; und das klang lediglich wie eine Feststellung, nicht wie ein Vorwurf. »Für Sie«, rief Henry Engel unbeherrscht, »gilt genau das gleiche.« »Aber ich reagiere anders darauf«, sagte Ruth Winters lächelnd. »Auch Sie können hier nicht bleiben.« »O doch. Ich bleibe, weil ich auf Wolf warten muß. Wenn Sie mir Ihre Gastfreundschaft versagen, ziehe ich in das Dorfgasthaus und bleibe dort so lange, bis Wolf mich abholt.« »Der Teufel wird Sie holen!« rief Henry. 22.00 Uhr. Fontainebleau. Lagebesprechung im NATO-Hauptquartier. Grelles, kaltes Licht fiel auf die Tische, die mit Karten bedeckt waren. Die Gesichter der Anwesenden verrieten 476
nichts davon, was in den Hirnen dieser Männer vorging. Kein lautes Wort fiel. Niemand lächelte – auch nicht der französische General. Der NATO-Oberbefehlshaber saß steif in seinem großen Stuhl. Seine Augen waren geschlossen, es schien, als höre er konzentriert zu. Daß er nicht, wie üblich, persönlich das Wort zur Lagebeurteilung ergriffen hatte, fanden seine Mitarbeiter erstaunlich – sie waren sich jedoch nicht darüber einig, was das zu bedeuten hatte. Es gab nur zwei lapidare Möglichkeiten: entweder hatte sich die Situation verbessert und der Oberbefehlshaber hielt seine persönliche Initiative nicht mehr für notwendig – oder sie hatte sich verschlechtert und der Oberbefehlshaber war sich noch nicht klar darüber, was nun zu geschehen habe. Inzwischen führte der Chef des Stabes folgendes aus: Die Bundeswehrführung hatte die Hoffnung, die Lage wiederherstellen und die nördlich von Hof eingeschlossenen Grenzschutzeinheiten befreien zu können. Diese Hoffnung hat getrogen. Die Situation ist im Gegenteil weitaus gefährlicher als heute früh. Nach anfänglichen Angriffserfolgen, die zu einem Entsatz der eingeschlossenen Einheiten führten, traten die deutschen Verbände befehlsgemäß den Rückzug auf die Grenze an. Im Nachstoßen haben jedoch die Verbände der Volksarmee in Stärke von etwa zwei Infanteriebataillonen und Einheiten der sowjetischen Armee in Stärke von drei Panzerkompanien die Grenze in westlicher Richtung überschritten. Die Kämpfe dauern auf dem Territorium der Bundesrepublik an. Die Bewegungen des Gegners deuten darauf hin, einen Brückenkopf etwa in der Linie Hirschberg, Zedtwitz, Bobenneukirchen zu bilden. 477
Die rote Lampe am Telefon, das vor dem Oberbefehlshaber stand, leuchtete mehrfach auf. »Kurze Unterbrechung«, ordnete der General an; er nahm den Hörer ab und meldete sich. Er hörte einige Sekunden lang zu und sagte dann: »Verlesen Sie, bitte, den Text.« Nachdem der Oberbefehlshaber nahezu zwei Minuten lang schweigend zugehört hatte, sagte er schließlich: »Verstanden.« »Meine Herren«, sagte er dann. »Soeben erreichte mich ein Funkspruch, der die vorgetragene Lagebeurteilung hinfällig macht. Einheiten der Volksarmee sind in Hof eingedrungen.« »Dieser Angriff«, erklärte der Chef des Stabes ohne zu zögern, »muß von den Bundeswehrverbänden unverzüglich abgeriegelt werden. Wenn das nicht geschieht, existieren plötzlich an mehreren Stellen Brückenköpfe des Gegners, ohne daß der Krieg überhaupt angefangen hat.« Diesem Vorschlag begegnete der Oberbefehlshaber mit einem längeren Schweigen. Er schien, unbeweglich dasitzend, auf einen Gegenvorschlag oder auf Zustimmung zu warten. Aber seine Mitarbeiter schwiegen wie er. Das leise Sirren der Neonlampen war deutlich zu vernehmen. Schließlich sagte der Oberbefehlshaber: »Ich bitte den Chef des Stabes, in seiner Berichterstattung fortzufahren.« Der Stabschef brauchte Sekunden, um zu verwinden, daß sein soeben gemachter Vorschlag einfach, ohne jede Stellungnahme, übergangen worden war. Das, fand er, war zumindest unhöflich. Der Oberbefehlshaber sah ihn kühl und fragend an. Ein wenig hastig fuhr der Chef des Stabes in seinem Bericht fort: 478
Die Lage südlich Lübeck ist unverändert. Die Sowjets haben die Grenze in Stärke von etwa einem Panzerbataillon überschritten und Stellung bezogen. Sie verhalten sich zur Zeit ruhig. Inzwischen ist auch im Mittelabschnitt eine ungeklärte Lage bei Witzenhausen entstanden. Hier sind nach einem Feuergefecht Einheiten der Volkspolizei auf das Gebiet der Bundesrepublik nachgestoßen. Sie sind am nördlichen Werraufer bis in die Höhe von Witzenhausen vorgedrungen. Nun ergriff der NATO-Oberbefehlshaber das Wort. Er sprach, ohne sich zu erheben, mit einer Stimme, die gepreßt klang. Wir scheinen uns auf dem Höhepunkt der Krise zu befinden. In der sowjetischen Besatzungszone herrscht Chaos. Alle Anzeichen weisen daraufhin, daß es den Russen immer noch nicht gelungen ist, die Ruhe wenigstens teilweise wiederherzustellen. Dem Nachrichtendienst liegen außerdem Informationen vor, daß auch in Ungarn die Bevölkerung unruhig geworden ist. Meine Herren. Ich bedaure, sagen zu müssen, daß ich unter diesen Umständen an der Möglichkeit zweifle, einen Krieg zu vermeiden. Der Zug, der Mutter Schwiefert und die »Kleinen« von Berlin aus in den Westen fahren sollte, hielt immer noch. Nach wie vor durfte niemand aussteigen. Das westdeutsche Zugpersonal hatte Befehl erhalten, sich vollzählig auf der Station zu melden – dort befand es sich seit zwei Stunden: bewacht und in einer Ecke zusammengedrängt. Das Feuer in der Lokomotive war erloschen. Die Beleuchtung im Zug war nicht angeschaltet worden. Die Menschen, die in der 479
Dunkelheit auf ihren Plätzen saßen oder auf den Koffern und Kisten hockten, sprachen nur noch wenig. Manche starrten, durch die jetzt wieder heimlich geöffneten Fenster, in die strahlend klare Sommernacht. Ein immer schärfer werdender Geruch aus Schweiß und Abfällen beengte das Atmen der müde und ergeben wartenden Menschen. Das ostdeutsche Bahnpersonal, das draußen Wache stand, schien von Stunde zu Stunde Verstärkung zu erhalten. Einige Männer in Kombinationsanzügen tauchten auf, die Armbinden und Waffen trugen. Von der Bahnstation her war ein Motor zu vernehmen, der offenbar zu einem schweren Lastwagen gehörte. Plötzlich flammten Scheinwerfer auf und beleuchteten den abgestellten Zug. Isolde und Peter schien das alles nicht zu beunruhigen. Mutter Schwiefert schlief; »auf Vorrat«, wie sie gesagt hatte. Die beiden »Kleinen« saßen eng aneinander gepreßt in einer Ecke des Ganges und flüsterten angeregt von Dingen, die sie für wichtig hielten. »Mir ist es völlig gleichgültig«, versicherte Peter, »wen unsere Frau Schubert heiratet.« »Das darf dir aber nicht gleichgültig sein«, behauptete Isolde ernsthaft. »Denn für die nächsten zwei, drei Jahre sind wir noch von ihr abhängig.« »Das ist doch seltsam«, sagte Peter verwundert. »So eine nette Frau – und sie kann uns nach Bonn bringen, nach Amerika oder nach Afrika. Man sollte ihr einmal klarmachen, welche Verantwortung sie für uns hat.« »Aber das ist schwer«, meinte Isolde seufzend. »Da hat sie nun den besten Mann der Welt, einen Mann mit Autos und Häusern und Kamelen und Geld – und sie ist nicht damit zufrieden!« 480
»Ich«, sagte Peter betrübt, »habe nichts.« »Du hast doch mich«, belehrte ihn Isolde. »Achtung, Achtung!« brüllte eine Stimme auf. Sie kam aus einem Lautsprecher, der inzwischen draußen, auf einer an den Bahndamm grenzenden Wiese, aufmontiert worden war. »Dieser Zug fährt nicht weiter.« Die Menschen in den Wagen taumelten aus ihrem Halbschlaf hoch, drängten sich an die Fenster, flüsterten miteinander. Ein Mann fluchte heftig, ein Kind schrie schrill. Und Mutter Schwiefert, die erwacht war, rief: »Isolde, Peter – wo seid ihr?« »Achtung, Achtung!« brüllte der Lautsprecher. »Alles aussteigen – und zwar nach links, von der Fahrtrichtung aus gesehen. Nach links! Nach rechts aussteigen ist streng verboten. Wer nach rechts aussteigt, läuft Gefahr, erschossen zu werden. Achtung! Alles nach links aussteigen. Gepäck mitnehmen. Nichts darf im Zug liegen bleiben.« Verwünschungen wurden laut. Die Menschen rafften in der Dunkelheit ihr Gepäck zusammen. Sie stießen sich und stritten sich. Eine Frau stöhnte auf und brach mitten im Gang zusammen. Eine Scheibe zersplitterte klirrend. Und ein Mann schlug mit wilden Bewegungen um sich. Der dumpfe, aufbegehrende Lärm in den Wagen wurde von erneutem Lautsprechergebrüll zunächst nur mit Mühe übertönt, dann jedoch rasch zum Schweigen gebracht. »Achtung, Achtung! Alles versammelt sich auf der Wiese. Männer nach rechts! Frauen und Kinder nach links!« »Hörst du das, Peter!« fragte Mutter Schwiefert. »Ja«, sagte Peter dumpf. »Dann muß ich mich also verabschieden.« 481
»Meine Koffer mußt du tragen – und sonst nichts«, entschied Mutter Schwiefert. »Bilde dir nicht ein, mein Kleiner, daß du schon ein Mann bist!« »Ich bin aber einer«, erklärte Peter mit düsterem Stolz. »Du wirst dich jetzt ganz klein machen und deinen Schnabel halten!« ordnete Mutter Schwiefert unnachgiebig an. »Du bist jetzt mein Sohn, verstanden! Und als solcher bist du mein Kind!« 23.00 Uhr. Nachrichtendienst des Westdeutschen Rundfunks. Die wichtigste Meldung hatte folgenden Wortlaut: Die deutsche Bundesregierung bat sich an den Generalsekretär der Vereinten Nationen gewandt und die Weltorganisation um Hilfe gebeten. Sie lenkt die Aufmerksamkeit der Vereinten Nationen auf die Tatsache, daß ihr Territorium durch sowjetische Verbände und Einheiten der Volksarmee verletzt worden ist. Dadurch, so heißt es in dem Schreiben, ist eine ernsthafte Bedrohung des Weltfriedens entstanden. In Sonneberg saß Maria neben Martins Mutter in der Küche. Sie warteten auf den Vater. Martins kleine Schwester, die Gefallen an Maria gefunden hatte und entschlossen schien, ihr nicht mehr von der Seite zu weichen, war auf ihrem Stuhl eingeschlafen. »Glaube mir«, sagte Martins Mutter, »es ist bestimmt das beste, wenn du bei uns bleibst. Martin wird sich in Schongau bestimmt nicht lange aufhalten – schon deshalb nicht, weil deine Eltern ihn nicht allzu gerne sehen.« »Das ist leider so«, gab Maria zu. »Mein Gott«, sagte Martins Mutter begütigend, »das ist doch gar nicht so schlimm. Deshalb mußt du dir keine Gedanken machen, Maria. Uns jedenfalls bist du herzlich 482
willkommen. Das weiß Martin auch. Und deshalb wird er sofort wieder umkehren.« »Das kann schon sein«, sagte Maria beruhigt. »Das einzige, was mir wirklich Sorgen bereitet«, gestand Martins Mutter offen, »ist unser Vater. Der hat sich nämlich der Politik verschrieben – einer Politik, die nicht gerade erwünscht ist. Warum tut so ein Mann das? Hier bei uns, wo doch der Wind immer nur aus einer Richtung zu wehen hat! Martin ist, Gott sei Dank, anders.« Maria nickte. Sie war fest davon überzeugt, daß Martin ganz anders war als alle anderen Männer. Und das sagte sie auch. Und Martins Mutter ergriff die günstige Gelegenheit, von ihrem Sohn zu berichten, den sie liebte und den sie, wie sie nachdrücklich versicherte, von Herzen gern in Gesellschaft von Maria sehe. »Er hat eine gute Wahl getroffen – alles, was recht ist!« Maria kam nicht mehr dazu, bescheiden abzuwehren. Hastige Schritte polterten die Treppe hinauf, auf die Wohnung zu. »Das ist Vater«, sagte Martins Mutter. Der Vater stürzte in den Raum und sah sich, noch an der Tür stehend, um. »Das Kind muß sofort ins Bett«, sagte er, ein wenig atemlos auf Martins kleine Schwester deutend. »Ich will gleich weiter – ich brauche eine Kleinigkeit zum Essen und etwas Proviant.« »Das ist Maria«, sagte Martins Mutter. »Wie schön«, sagte der Vater mit spontan hervorbrechender Herzlichkeit. Und während die Mutter Martins kleine Schwester, die heftig, aber vergeblich protestierte, aus der Küche hinausschob, betrachtete der Vater Maria und sagte 483
dann, trotz seiner Unruhe, zufrieden lächelnd: »Schön, daß Sie da sind!« »Ihre Frau hat mich aufgenommen, als ob ich zur Familie gehörte!« »So muß es auch sein«, sagte der Vater. »Leider sind Sie in einem Augenblick gekommen, in dem es hier alles andere als gemütlich ist.« Martins Mutter kam wieder zurück. »Das Kind habe ich zu Bett gebracht«, sagte sie. »Erwarte keine Erklärungen von mir«, sagte der Vater hastig. »Wir haben nicht mehr viel Zeit. Ich muß weg – vielleicht für ein oder zwei Tage.« »Ich habe es befürchtet«, sagte die Mutter kaum vernehmbar. »Was hast du getan?« »Meine Pflicht«, sagte der Vater. »Jetzt geht es ums Ganze. Die Zeit ist reif. Im Augenblick allerdings müssen wir ausweichen. Sie haben fremde Polizei eingesetzt und Militär. Aber in ein, zwei Tagen ist der ganze Spuk vorüber.« »Großer Gott«, sagte die Mutter nur und starrte ihren Mann an. »Ich brauche Brot und Butter«, sagte der. »Vor allen Dingen Brot, soviel du entbehren kannst. Auch Obst. Und Speck. Die Büchse Bratheringe, die im Küchenschrank liegt, kannst du mir auch mitgeben. Wir werden in Gottes freier Natur auf das warten, was kommen muß – auf unsere westdeutschen Brüder nämlich.« Martins Mutter beeilte sich, alles einzupacken, was sie an Vorräten besaß. Der Vater schnitt sich inzwischen eine Scheibe Brot ab und Maria bestrich sie mit Schmalz und legte sie auf einen Teller. »Was meinen Sie wohl«, wollte Maria wissen, »was 484
wird Martin tun?« »Im Westen bleiben«, sagte der Alte entschieden. »Was denn sonst?« »Sie glauben nicht, daß er herkommen wird?« »Ausgeschlossen«, sagte der Vater, sein Brot kauend, »Martin wird heute nacht in Schongau sein – bis er wieder hier sein kann, vergehen zwei Tage. Dann ist die Grenze längst geschlossen.« »Am Nachmittag war sie noch offen«, gab Maria zu bedenken. »Jetzt aber«, sagte der Vater überzeugt, »wird sie kaum noch offen sein – und wenn, dann höchstens noch ein paar Stunden. Inzwischen ist Militär angerollt – auch Sowjets mit Panzern. Aber das kann uns nicht imponieren. Und gegen die Amerikaner werden die Sowjets bestimmt nicht vorgehen. In ein paar Tagen sieht die Welt anders aus!« »Martin kommt also nicht?« sagte Maria. »Nein, das kann er nicht! Und er wird das auch gar nicht wollen. Der Junge hält sich aus der Politik heraus. Ich habe das immer bedauert – aber jetzt hat das seine Vorteile. Ich bin fest davon überzeugt: der bleibt im Westen, bis hier der Rummel vorbei ist!« »Dann«, sagte Maria leise, »muß ich zu Martin.« Draußen, vor dem Haus, kreischten heftig Bremsen. Martins Vater eilte in den Nebenraum, der dunkel war; hier starrte er durch das Fenster. Auf der Straße hielt ein Fahrzeug – vier Mann sprangen hinaus und eilten auf das Haus zu. Der Vater stürzte wieder in die Küche, nahm der Mutter den noch nicht fertig gepackten Proviant ab und sagte hastig: »Ihr habt mich nicht gesehen! Ich bin den ganzen 485
Tag nicht hier gewesen!« Dann lief er ins Schlafzimmer, öffnete das Fenster, das in den Hof hinausführte. Er stieg auf ein Schuppendach, überquerte es vorsichtig und sprang dann in das Dunkel. An der Wohnungstür wurde wild gepocht. Das Gepolter übertönte die fliehenden Schritte. »Das ist furchtbar«, sagte die Mutter. »Ich muß zu Martin«, sagte Maria leise. »Sofort. Ehe es zu spät ist.« Diese Nacht, die dunkelglühend über Mitteleuropa leuchtete, war voller Unruhe. Noch schliefen viele; und die meisten von ihnen waren ahnungslos. In dieser Nacht telefonierte Michael Reiners von Bonn aus mit dem Generalsekretär der UNO in New York. Wolf Beck saß in seinem Hotel in Hamburg und sah die günstigen Verträge durch, die er überraschend schnell hatte abschließen können. Henry Engel stand mit Ruth Winters, die ihm leicht amüsiert zusah, vor den vier Radioapparaten in seinem Weinkeller; aus zwei stark gedrosselten Lautsprechern plärrte monotone Marschmusik. »Eine einzige H-Bombenexplosion«, sagte Henry Engel, »entspricht der Explosion von zweitausend ABomben vom Hiroshima-Typ. Eine einzige H-Bombe ist gleichbedeutend mit einer Million Tonnen Trotyl. Und eine Million Tonnen Trotyl entspricht fast genau der gleichen Bombenmasse, die auf Deutschland in sechs Jahren abgeworfen wurde. Heute, in unseren Tagen, kann innerhalb von sechs Minuten das Hundertfache dieser Kraft wirksam werden. Was ist da Deutschland? Eine Apfelsine unter einem Dampfhammer!« Constance fuhr, neben Friebe sitzend, durch die 486
leuchtende Sommernacht. Sie hatten die Schweizer Grenze passiert. Auf den Straßen herrschte ein Verkehr, wie sonst nur am Alltag in jenen späten Nachmittagsstunden, in denen die Arbeitszeit zu enden pflegte. Sie wurden viermal kontrolliert. »Halb so wild«, sagte Friebe. »Die Hauptsache ist, Sie sind in Sicherheit – vorläufig wenigstens.« Und dann fügte er, reichlich unüberlegt, einen Satz hinzu, der Constance aufhorchen ließ. Er sagte: »Daß das gelungen ist, wird den Chef freuen.« Mutter Schwiefert stand immer noch auf der Wiese neben dem Bahndamm. Vor ihr, auf den Gepäckstücken, saßen die beiden »Kleinen« Hand in Hand. Gelegentlich fiel grelles Scheinwerferlicht voll auf sie; und dann duckten sie sich noch mehr, von Mutter Schwiefert energisch dazu angehalten. Maria fuhr, von Sonneberg aus, auf die Grenze zu, die am Nachmittag noch offen gewesen war. Sie geriet dabei in die Marschkolonnen sowjetischer Truppen. Aber das vermochte sie nicht daran zu hindern, ihrem Ziel zuzustreben. Martin schlief um diese Zeit in Schongau in einem Schuppen, in dem ein großer Lastzug stand. Der Chauffeur dieser beiden schweren Wagen hatte sich bereit erklärt, Martin am nächsten Morgen bis nach Nürnberg mitzunehmen. Von dort nach Sonneberg, wo Maria und die Mutter auf ihn warteten, wo der Vater werkte und für die Familie sorgte, war es nicht mehr allzu weit – dachte Martin. Charly sprach in Berlin mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR über die Liste der »provisorischen gesamtdeutschen Regierung«. Dabei vergaß er nicht, mit Gaby zu scherzen. Er gab eine Reihe 487
Funksprüche an die Verbindungsstelle in Bonn für Michael Reiners. Dann konferierte er mit dem amerikanischen Stadtkommandanten und erreichte, daß dieser ein Flugzeug in Bereitschaft hielt – eine kleine, zweimotorige Kuriermaschine, die im Höchstfall 12 Menschen Platz bot. Im Lazarett in Flauen lag der schwer verwundete Gefreite Schulze-Schwerin. Er war davon überzeugt, ein Held zu sein – obgleich er nichts anderes getan hatte als seine Pflicht. Er würde befördert und dekoriert werden, in Zeitungen stehen und im Rundfunk genannt werden. Er hatte gehandelt wie ein echter sozialistischer Patriot. Das bereitete ihm ein erschaudernd-beglückendes Gefühl. Hauptmann Müller-Marburg saß in Bayreuth, in einem Gefängnis – streng isoliert; er hatte noch in dieser Nacht eine hochnotpeinliche Vernehmung durch Offiziere des Bundesverteidigungsministeriums zu erwarten. Der Hauptmann glaubte, nach längerem, intensivem Nachdenken, zu erkennen, daß sein Fall nichts anderes war als eine deutsche Tragödie: er hatte, als guter Patriot, für Deutschland gekämpft, war verwundet und eingesperrt worden; ja, er hatte, weil er Deutschland liebte, für Europa gestritten, für die Freiheit und für die Menschenwürde …Und jetzt saß er hier. Und er dachte: Armes Deutschland! Kurz vor Mitternacht unterzeichnete der Schweizer Bundespräsident in Bern das Mobilmachungsgesetz. Der schwedische König erklärte, daß alle Maßnahmen in Kraft treten würden, die für den »Kriegsfall« vorgesehen seien. Gleichzeitig gaben Schweden und die Schweiz die Schließung ihrer Grenzen bekannt. In den Staaten des Atlantikpaktes wurden die ersten Anordnungen zur Einberufung von Reserven und zur 488
Alarmierung des Luftschutzes und der Luftabwehr bekanntgegeben. Der chinesische Staatschef veröffentlichte eine Warnung an die Welt: China werde im Falle eines Krieges auf der Seite der Sowjetunion kämpfen. Der indische Ministerpräsident befand sich in einem Düsenflugzeug auf dem Weg nach New York. Er war entschlossen, sich bei den Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens einzusetzen. Der Vatikansender berichtete, Seine Heiligkeit der Papst verharre im Gebet für den Frieden der Welt. Um Mitternacht betrug die Zahl der Toten bei den Aufständen in der Ostzone achthundert. Von den Kämpfen an den Zonengrenzen lagen noch keine Zahlen vor; es wurde aber angenommen, daß weit mehr als tausend Soldaten – deutsche Soldaten zum größten Teil – gefallen waren. Die Regierung der DDR verließ Ost-Berlin und siedelte in die vorbereitete Unterkunft im Spreewald über. In Bonn wurden ebenfalls Vorbereitungen getroffen, die vorgesehenen Ausweichquartiere zu beziehen. Der Präsident der USA inspizierte den ihm persönlich zur Verfügung stehenden Hubschrauber. Von Moskau aus flog eine Vorausabteilung der Regierung in Richtung Ural ab. In Mitteleuropa erhöhte sich über Nacht der Benzinpreis um 300 Prozent. Mehr als einhundert Flugzeuge des strategischen Bomberkommandos der Vereinigten Staaten waren jetzt ständig in der Luft. Sie schraubten sich immer näher an die Grenze der Ostblockstaaten heran. Sie trugen HBomben an Bord. In der Sowjetunion und in den Ländern ihrer Verbündeten standen 15 000 Bomber startbereit, davon 489
mehr als hundert mit Atombomben. Die Abschußbasen der Raketengeschosse waren gefechtsklar. So endete der vierte Tag.
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DER FÜNFTE TAG In dieser Nacht lag die Hitze mit erdrückender Schwere über Mitteleuropa. Die Dunkelheit brachte nicht die geringste Kühlung. Die dumpf-warme, verbrauchte Luft stand zäh und betäubend in den Straßen und Hinterhöfen, kroch mühsam über die Landstraßen und Felder. Es war, als wolle die Natur keinen anderen Schlaf dulden als den der Erschöpfung. Häuser starrten mit Millionen offenen Fenstern in die Nacht. Die Hitze erschwerte den Menschen das Atmen; viele röchelten, als wären sie dem Tode nah. Die Tiere waren unruhig in dieser Nacht. Die Kreatur witterte die Nähe des Todes. Aber der größte Teil der Menschheit hatte längst verlernt, das Unhörbare zu hören; er vernahm nur noch das Laute, das sich aufdrängte. Auf die Stimme des Gewissens hörten die meisten schon lange nicht mehr. Maria stand vor einem sowjetischen Major, der sie lange Zeit lauernd betrachtete. Dieser Major saß an einem Tisch. Das Licht der abgeblendeten Lampe zog einen hellen Strich auf den Fußboden der Bauernstube – ein Lichtbalken, der wie ein dicker Trennungsstrich wirkte. »Hast du Angst?« fragte der Major. Maria schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts Unrechtes getan. Ich bin hier vor wenigen Stunden über die Grenze gekommen – niemand hat mich daran gehindert. Jetzt will ich wieder zurück. Daß sich hier inzwischen Truppen eingefunden haben, konnte ich nicht wissen. Aber warum sollte ich mich deshalb ängstigen?« Der Major lachte kurz auf; und die Soldaten, die im Raum herumlagen oder hinter Maria standen, lachten 492
ebenfalls. Es war ein Gelächter ohne Freude. »Hast du denn noch nicht gehört, daß jeder bei uns Angst haben muß, auch wenn er nichts Unrechtes getan hat? Wir gehen bekanntlich über Leichen! Das kannst du drüben in jeder Zeitung nachlesen. Mädchen aber vergewaltigen wir kompanieweise. Und wenn sie nicht daran sterben, dann schlagen wir sie tot, oder wir nehmen sie mit, solange sie noch zu gebrauchen sind. So sind wir doch eurer Meinung nach. Oder?« »Herr Major«, sagte Maria, »ich bin seit zwei Stunden hier. In diesen zwei Stunden bin ich ausgefragt, aber nicht belästigt worden.« »Weil ich das verboten habe«, sagte der Major. »Dann kann mir doch nichts passieren«, sagte Maria und sah ihn offen an. Der Major schüttelte den Kopf, und es schien fast, als sträube er sich dagegen, für einen Ehrenmann gehalten zu werden. »Du bist hier im Bereich der Roten Armee. Spionieren willst du nicht, das haben wir herausbekommen. Also, was willst du dann?« »Ich will über die Grenze«, sagte Maria. »Weil dort drüben der Mensch ist, den ich liebe.« Der Major schwieg wieder. Die Luft im engen, stark belegten, des Lichtes wegen dicht geschlossenen Zimmer war würgend dick und zäh. Ein scharfer Geruch aus Holz, Leder, Schweiß, Brot, Stroh und Schnaps bedrängte Maria. »Was kümmert uns ein Mensch, der geliebt wird«, sagte der Major bitter. »Was bedeutet schon ein Mensch, der liebt. Nichts ist bei uns der Mensch! Wir verbrauchen Menschen bekanntlich millionenweise - in den Zuchthäusern, bei der Zwangsarbeit, bei unseren Massendeportationen! Wir unterdrücken unser Volk, 493
versklaven alle Nachbarländer und bedrohen die Welt mit Krieg! Hat man dir das nicht beigebracht?« »Ich glaube an den Menschen«, sagte Maria. »Und dieser Glaube ist durch nichts zu erschüttern?« »Nein«, sagte Maria mit schlichter Überzeugungskraft. »Du bist dumm, du bist jung, du bist unerfahren!« rief der Major. »Du weißt nicht, was auf dieser Welt gespielt wird. Du ahnst nicht, was alles geschehen kann. Es soll wieder Krieg geben! Menschen werden auf Menschen schießen.« »Ich habe keinen Anteil daran«, sagte Maria leise. Der Major schlug mit beiden Händen, die er wie anklagend ausgestreckt hatte, auf den Tisch. Eine große, staunende Stille lag im engen Raum. Plötzlich sagte der Major ruhig zu einem Leutnant, der hinter Maria stand: »Bring sie nach vorne. Rufe den Soldaten dort drüben zu, daß ein Mädchen kommt. Rufe das zwei- und dreimal, bis sie verstanden haben. Dann schicke sie hinüber.« Maria betrachtete den Major mit Dankbarkeit. »Ich danke Ihnen«, sagte sie leise. »Gehen Sie«, sagte der Major. Maria ging zur Tür. »Hören Sie!« rief der Major ihr nach. »Sagen Sie den Soldaten drüben: wir wollen keinen Krieg! Sagen Sie das! Wir wollen den Frieden.« Um 1.00 Uhr wurde in Washington eine Note der amerikanischen Regierung veröffentlicht. Sie war an die Regierung der UdSSR gerichtet und hatte folgenden Wortlaut: Die Regierung der Vereinigten Staaten weist unter schärfstem Protest die Note der Regierung der UdSSR 494
zurück. Der von den drei westalliierten Mächten für West-Berlin eingesetzte Gouverneur hat binnen kurzem Ruhe und Ordnung in West-Berlin wiederhergestellt. Die Behauptung, daß von West-Berlin aus die Unruhen in der sowjetischen Besatzungszone und in Ost-Berlin geschürt werden, entspricht nicht den Tatsachen. Die Regierung der Vereinigten Staaten macht die Regierung der UdSSR darauf aufmerksam, daß die Vereinigten Staaten mit Großbritannien und Frankreich die Garantie für die Sicherheit und Unverletzbarkeit West-Berlins übernommen haben. Die drei Regierungen sind gewillt, diese Verpflichtung einzuhalten. »Das ist Wahnsinn!« sagte Henry Engel. »Diese Leute behaupten, daran zu glauben, daß auf die Dauer Kriege geführt werden können ohne Atombomben, aber bei ständigen Drohungen mit Atombomben.« »Ist die Freiheit nicht mehr wert als das Leben?« fragte Ruth Winters. »Bestimmt nicht für alle.« »Aber für die Menschheit?« Henry Engel betrachtete mit nachsichtigem Lächeln seinen Gast, der offenbar bemüht war, ihm zu gefallen. »Viele Dummheiten dieser Welt werden von Millionen Menschen angebetet. Ihre Wahrheiten werden es auch. Aber wer darf so vermessen sein, behaupten zu wollen, die einzig richtige Entscheidung treffen zu können?« Sie saßen auf der Terrasse des Hauses. Kein Licht brannte. Ihre Augen hatten sich so an die Dunkelheit gewöhnt, daß sie ihre Gesichter fast deutlich sahen und mühelos ihre Gläser fanden, aus denen sie Frankenwein tranken. Sie rückte ihren Stuhl vor, um ihm näher zu sein. 495
»Leben oder Freiheit«, sagte Henry Engel, ohne ihrer Annäherung Beachtung zu schenken. »Wir sollten uns klar darüber werden, was eine derartige Entscheidung bedeutet. Nehmen wir an, daß Atombomben abgeworfen werden; sie würden wahrscheinlich alles Leben zerstören – aber das ist nicht sicher. Nehmen wir dann an, daß es gelingen würde, uns der Freiheit zu berauben; das würde das Leben nicht mehr lebenswert machen – aber das nicht sicher. Nicht für alle Zeiten.« »So existiert nichts als Unsicherheit?« fragte Ruth und gab sich bestürzt. »Nicht überall«, sagte Henry Engel. Er beugte sich vor, ihr entgegen. Diese seine Geste verwirrte sie, sie kam zu überraschend. Sein Gesicht näherte sich mehr und mehr dem ihren; es war hochstirnig und großflächig, und seine Augen blickten unverwandt in die ihren. Sie wich ihm behutsam aus. Als er dicht bei ihr war, kurz davor, sie zu berühren, begann er, unmittelbar an ihrem Ohr, zu flüstern: »Wenn ich schieße, werfen Sie sich auf die Erde. Wenn ich laufe, gehen Sie sofort ins Haus.« »Ja«, sagte Ruth Winters. Er wich wieder von ihr zurück, ohne sich ganz in seinen Stuhl hineinzulegen. Er begann erneut laut zu sprechen; und während er das tat, sah sie, wie er eine Pistole aus seiner Hosentasche zog. »Was die meisten Experten übersehen«, sagte er, »ist die Möglichkeit, daß sich der Atomkrieg ganz langsam in den sogenannten normalen Krieg hineinschleichen könnte.« »Atombomben sind doch keine Heimlichkeiten«, sagte Ruth. Henry Engel horchte ihren Worten nach, weniger dem 496
Sinn, als dem Klang. Diese Frau vor ihm verriet nicht die mindeste Erregung. Sie war, und sicher nicht nur in dieser Beziehung, eine ungewöhnliche Frau – diese Kaltblütigkeit jedoch war von ihr am allerwenigsten zu erwarten. Er blinzelte in den Garten hinein, wo er jetzt deutlich den Schatten eines Mannes sah, der neben dem Schlehdorngebüsch stand. »Vor einigen Jahren noch«, sagte er, »existierte lediglich eine Sorte Atombomben: die sogenannte ABombe. Heute meint fast jeder, der von Atombomben spricht, die H-Bombe. Morgen schon wird es die Superbombe geben, die die tausendfach stärkere HBombe noch einmal um das Tausendfache überbietet. Und plötzlich tauchen mehr und mehr kleine Ausgaben dieser Ungeheuer auf, auch Baby-Bomben genannt, was besonders witzig ist. Und so gibt es denn Atomgeschütze, Atomminen und vielleicht bald auch Atomgranatwerfer. Auf diese Weise entsteht dann eine fast lückenlose Teufelsbrücke zwischen den ›normalen‹ Geschossen und der Kobaltbombe – bald wird niemand mehr klar erkennen können, wann eigentlich ein Atomkrieg anfängt. Wann er aufhört, wird kaum einer erleben.« Plötzlich begann Henry Engel aufzuspringen, zu schießen und zugleich vorwärts zu laufen. Ruth warf sich neben der Steinbrüstung der Terrasse auf den Boden. Vorsichtig richtete sie sich hoch. Sie sah die massige Figur Henrys und das Aufblitzen des Mündungsfeuers. Eine Gestalt löste sich aus dem Schatten eines Gebüsches und rannte talwärts durch den Garten, sprang über den Zaun und verschwand. Nach wenigen Minuten kam Henry Engel zurück. Er atmete schwer, versuchte aber zu lachen. »Es fiel mir gar 497
nicht leicht, vorbeizuschießen«, sagte er. »Ist Ihnen irgend etwas passiert?« fragte Ruth besorgt und eilte ihm entgegen. »Ich habe meine Lungen ein wenig strapaziert«, sagte er unbekümmert. »Das verdienen diese Burschen gar nicht.« »Was sind das für Leute?« fragte Ruth. »Sie wollen mich beschützen«, sagte Henry, »und dagegen wehre ich mich.« »Sie benehmen sich wie ein richtiger Mann!« sagte Ruth bewundernd. »Wie gut, daß wir das Licht ausgeschaltet haben«, sagte er, »Sie könnten sonst sehen, wie ich erröte. Aber ich gebe Ihnen den guten Rat, Ruth, mich nicht allzu oft in Verwirrung zu setzen. Sie wollen irgend etwas von mir – was das ist, weiß ich noch nicht genau. Ich weiß nur, daß Sie Ihr Ziel am leichtesten durch Offenheit erreichen werden. Versuchen Sie es doch einmal damit.« Um 2.00 Uhr wurde in Paris eine Note des Nordatlantikrates veröffentlicht. Sie trug die Unterschrift des Generalsekretärs und war an die Regierung der UdSSR gerichtet. Sie hatte folgenden Wortlaut: Im Namen der Regierungen der 15 im Atlantikpakt verbündeten Mächte bestätige ich den Eingang der Note der Regierung der UdSSR. Die 15 Regierungen beobachten mit großer Sorge die Entwicklung in Deutschland. Sie weisen die Regierung der UdSSR daraufhin, daß im Zuge der Kampfhandlungen des gestrigen Tages das Territorium der Bundesrepublik von bewaffneten Streitkräften verletzt wurde. Ein Angriff auf das Territorium der Bundesrepublik 498
Deutschland ist einem Angriff auf jeden einzelnen der fünfzehn verbündeten Staaten gleichzusetzen. Die im Nordatlantikpakt verbündeten Regierungen ersuchen daher die Regierung der UdSSR, dafür Sorge zu tragen, daß die auf das Territorium der Bundesrepublik eingedrungenen Streitkräfte sofort zurückgezogen werden. Die zwei Motoren der kleinen Maschine, die in WestBerlin am Rande des Rollfeldes stand, liefen sich heiß. Kein Scheinwerfer war in Tätigkeit. Kein Licht brannte; nicht einmal die Positionsleuchten waren eingeschaltet. »Mehr kann ich nicht tun«, sagte der amerikanische Stadtkommandant zu Charly. »Was Sie getan haben, General«, versicherte Charly, »reicht vollkommen aus, Sie ins Zuchthaus oder ins Pentagon zu bringen – je nachdem, wie sich diese Sache entwickelt. Und wie sie sich auch entwickeln wird, es ist jammerschade, daß dieser Doktor Reiners keine amerikanische Staatsangehörigkeit besitzt.« »Seine Berichte klingen phantastisch«, sagte der General. »Rechnen Sie trotzdem damit, daß dieser Mann zu Untertreibungen neigt. Er gehört zu jenen gründlichen Deutschen, die selbst Haare, die sie in der Suppe finden, genau analysieren möchten.« »Ich hätte nie geglaubt, daß es jemals – noch dazu in derartig kurzer Zeit – gelingen würde, eine einigermaßen akzeptable dritte deutsche Regierung auf die Beine zu stellen.« Der General blickte Charly mit etwas unsicherem Lächeln an. »Daß der Wunsch nach einer dritten Kraft seit Jahren besteht, und zwar in beiden Teilen Deutschlands, haben wir gewußt – wir haben es aber nicht für möglich gehalten, daß sich daraus reale 499
Gegebenheiten entwickeln könnten.« »Wenn wir uns wiedersehen«, sagte Charly, »sind Sie entweder ein Verräter oder ein Held, ein armer Irrer oder ein kühner Idealist. Und wie es auch immer sein wird, ich jedenfalls werde behaupten können: Sie haben Mut! Und Sie haben ein selbständiges Verantwortungsgefühl, wie es in unserem Zeitalter der Hörigkeit kaum noch anzutreffen ist. Doch lassen wir das! Ich fliege also mit meinem Haufen nach Hannover. Sobald ich dort bin, nehme ich Verbindung mit Ihnen auf.« »Mit mir – oder mit der amerikanischen Botschaft in Bonn.« »General«, sagte Charly rauh, »vielleicht tröstet es Sie, wenn ich Ihnen sage: sobald es Sie hier in Berlin nicht mehr gibt, existiert nach wenigen Stunden auch keine amerikanische Botschaft in Bonn mehr. Was der Doktor Reiners in Hannover versucht, ist die letzte Möglichkeit – dort ist Endstation Deutschland.« Ein Mann in Zivil kam auf den General zu. »Das Flugzeug muß jetzt starten«, sagte er. »Die Rollbahn wird etwa zwei Minuten lang beleuchtet werden – aber nur mit halbem Licht. Es ist damit zu rechnen, daß sich sowjetische Nachtjäger in der Luft befinden.« »Keine Sorge«, sagte Charly. »Wenn die uns unterwegs abknallten, bekämen sie dafür keinen Orden, nicht einmal einen Punkt auf ihrer Abschußliste – offiziell ist ja der Krieg noch nicht erklärt. Es lohnt sich also vorläufig noch nicht, ein Held zu sein – das ist unser Glück.« »Ich begleite Sie noch ein paar Meter«, sagte der General. »Natürlich nicht bis zum Flugzeug – schließlich darf ja Ihre eigenartige Fracht für mich offiziell nicht existieren.« 500
»Ich hätte Ihnen gerne meine Braut vorgestellt«, erklärte Charly. Er war spürbar bestrebt, diese letzten Minuten ein wenig aufzulockern. »Das ist ein Mädchen, mit dem man sogar den Krieg betrügen könnte. Vielleicht bummeln wir drei einmal gemeinsam in New York – aus Anlaß Ihrer Beförderung, General.« Sie standen jetzt knapp hundert Meter von dem Flugzeug entfernt. Das Gebrumm der sich warm laufenden Motoren schien sie gegen jeden Lauscher abzuschirmen. Es war, als wären sie auf der weiten, leeren Fläche des Flughafens allein. »Charly«, sagte der General, »wir müssen damit rechnen, daß die Sowjets angreifen werden.« »Rechnen wir damit nicht schon seit Jahren, General – und sah es nicht manchmal so aus, als ob wir nur darauf warteten, daß diese Rechnung einmal aufgeht?« »Seit Stunden«, sagte der General, »läuft eine Meldung nach der anderen auf meinem Schreibtisch ein, die von Verlusten berichtet – hier in Berlin. Wir stoßen immer wieder aufeinander – in U-Bahnschächten, an Kanalsperren, an Straßenecken, in den Häusern. Vor einer Stunde wurde ein Gefangener eingebracht, der einen Befehl mit sich trug. Nach diesem Befehl werden die Sowjets hier in Berlin angreifen. In den frühen Morgenstunden.« »Werden Sie sich überrollen lassen, General? Wenn Sie klug sind, werden Sie es tun.« »Ich bin Soldat, Charly«, sagte der General. »Und ich bin Amerikaner. Wo ich mit meinen Truppen stehe, ist Amerika.« »Goldene Worte«, sagte Charly, »passen in jedes Lesebuch. Übertreiben Sie es nur nicht.« Dann fügte er leise und herzlich hinzu: »Viel Glück, General!« und ging 501
auf das Flugzeug zu. Um 3.00 Uhr ging im NATO-Hauptquartier folgende Lagemeldung des Befehlshabers der Landstreitkräfte ein: Die über Nacht zur Abriegelung der drei feindlichen Brückenköpfe herangeführten Bundeswehreinheiten haben seit 2.10 Uhr die befohlenen Räume bezogen. Im Raum Lübeck und im Raum Hof keine Gefechtstätigkeit. Im Raum Witzenhausen wurde der Versuch des Gegners, die Eisenbahnbrücke bei Oberrieden in Besitz zu nehmen, von der Bundeswehr zurückgeschlagen. Im Zuge dieser Operation wurden von der Bundeswehr die Höhen nordostwärts Oberrieden besetzt und dabei die Zonengrenze an mehreren Stellen überschritten. Die abgeschnittenen Einheiten der Volksarmee sind zur Bundeswehr übergegangen. »Das hier sind Kinder«, sagte Mutter Schwiefert energisch. »Und ich bin die Mutter dieser Kinder.« Sie hockten immer noch auf der Wiese neben dem Bahngelände. Die Männer waren bereits mit unbekanntem Ziel abtransportiert worden. Jetzt wurden die Frauen ausgesondert und die Kinder überprüft. Isolde und Peter blickten zu den Männern hoch, die sie musterten. Hinter ihnen stand Mutter Schwiefert. Sie hatte ihre Hände schwer auf die Schultern der »Kleinen« gelegt, als wollte sie verhindern, daß sie aufstanden und sich in ihrer vollen Größe präsentierten. »Wie alt bist du?« fragte einer der Männer und sah Peter scharf an. »Nicht alt genug!« erklärte Mutter Schwiefert entschieden. »Das haben wir zu bestimmen«, sagte der Mann. 502
»Ich bin die Mutter!« sagte Frau Schwiefert. »Und ich bestimme über meine Kinder. Und so lange ich das kann, werde ich dafür sorgen, daß sie nichts mit dem Krieg zu tun haben.« »Auch wir sind gegen den Krieg«, sagte der Mann. »Was wollen Sie dann noch hier bei mir?« fragte Mutter Schwiefert sofort zurück. Sie blinzelte in das Licht der Scheinwerfer. Ihre Füße waren im hohen Gras naß geworden und taten ihr weh. Aber Müdigkeit verspürte sie nicht. »Eine Schande, uns hier so lange stehen zu lassen«, sagte sie. »Nicht unsere Schuld«, sagte der Mann, der kein Auge von Peter ließ. »Beklagen Sie sich in Bonn.« »Lassen Sie mich dorthin – dann tue ich es«, sagte die Mutter sofort. »Na schön«, sagte der Mann, der offenbar kein weiteres Verlangen mehr verspürte, sich mit der Schwiefert langwierig auseinanderzusetzen. »Notieren wir also: eine Frau und zwei Kinder. Aber Sie sind mir für den Jungen verantwortlich!« »Das brauchen Sie mir nicht extra zu sagen«, erklärte Mutter Schwiefert erleichtert. »Sie können im Bahnhofsgebäude übernachten, Wartesaal zwei.« »Übernachten ist gut!« sagte Mutter Schwiefert grimmig. »Kommt, Kinder.« Sie packte einen Koffer, Peter schleppte zwei, und Isolde trug eine Anzahl Taschen und Kartons hinterher. Sie gingen im Scheinwerferlicht die Gleise entlang, an Männern mit Karabinern vorbei. »Mach dich gefälligst klein!« rief Mutter Schwiefert 503
Peter zu. Peter zuckte zusammen. »Das«, sagte er dann zögernd, »habe ich nicht verdient.« »Sondern: ein paar hinter die Ohren und eine Knarre in die Hand, was?« sagte Frau Schwiefert unnachsichtig. »Du hast dich fabelhaft gehalten«, versicherte Isolde unverzüglich. »Wirklich, Peter – ganz fabelhaft! Mutter meint das auch – sie kann das nur nicht so ausdrücken.« »Klar«, sagte Mutter Schwiefert. »Du bist ganz einmalig. Du strapazierst mein Herz; aber dafür schleppst du wenigstens mein Gepäck.« Sie schoben sich in den überfüllten Wartesaal hinein, in dem Frauen und Kinder lagen, auf Decken, Mänteln oder auf der bloßen Erde. Viele schliefen schon. Einige starrten vor sich hin. Ein Kind schrie; und es schien, als drohe es zu ersticken. Mutter Schwiefert ließ sich auf Knien nieder und preßte sich zwischen zwei Menschen. Peter verstaute sofort die Koffer am Kopfende der Lagernden, unmittelbar an der Fensterwand. Er zog seinen Rock aus und legte ihn auf die Erde. »Für dich«, sagte er zu Isolde. Isolde lächelte ihn ein wenig müde an und ließ sich dann nieder. Peter wollte sich sofort neben sie legen. »So weit sind wir noch lange nicht«, erklärte die aufmerksame Mutter Schwiefert. »Der eine schläft links, der andere rechts von mir. Wir wollen doch die Schweinerei, in die wir hineingeraten sind, nicht noch leichtfertig vergrößern.« 5.05 Uhr. Ein Funkspruch des amerikanischen Stadtkommandanten erreichte Washington und das NATO-Oberkommando. Sein Text bestand aus drei Worten. Sie lauteten: 504
Sowjets greifen an. Henry Engel schreckte aus seinem unruhigen Schlaf hoch. Jetzt hörte er deutlich, daß an die Tür seines Schlafzimmers geklopft wurde. Er richtete sich auf und massierte sein Gesicht. »Was soll das!« rief er unwillig. Die Tür öffnete sich. Er schaltete die Lampe ein, die sich neben seinem Bett befand. Ruth Winters betrat den Raum. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie und gab sich verlegen. »Aber ich konnte nicht schlafen!« »Ich werde nichts dagegen tun können«, sagte er abwehrend. »Nehmen Sie Schlaftabletten.« »Ich glaube, irgendwelche Geräusche gehört zu haben«, sagte sie und kam näher. Sie hatte sich einen Bademantel übergezogen, den sie oben am Hals sorgfältig mit der Hand zusammenraffte, was unten, in der Gegend der Hüften, weitaus notwendiger gewesen wäre. »Wahrscheinlich schleichen wieder irgendwelche Kerle um das Haus herum.« »Irgend jemand umschleicht uns immer«, sagte er. »Wir können von Glück reden, wenn es sich nur um ein paar Kerle im Osten handelt. – Der Krieg geht um.« Das Licht des neuen Tages drängte sich durch die Vorhänge. Es kroch über den Wollteppich auf den breiten Kleiderschrank zu. Ein von Constance Schubert gemaltes Bild, das über dem Bett hing, leuchtete im magischen Meergrün auf. Ruth Winters setzte sich auf den einzigen Stuhl, der im Raum stand. Sie schlug die Beine übereinander und zog dann ihren verrutschten Bademantel zurecht, diesmal unten, so daß die oberen Partien auseinanderklafften. »Was können wir dagegen tun?« fragte sie. 505
»Wogegen? Gegen die Leute im ganzen oder gegen den Atomkrieg?« »Gegen den Atomkrieg«, sagte sie, durch seinen prüfenden Blick ein wenig verwirrt, »gibt es keinen Schutz dagegen?« »Während wir hier zusammensitzen, existieren irgendwo auf dieser Welt etwa zweitausend Atombomben. Vielleicht auch mehr. Der besondere Witz ist nun, daß die meisten von ihnen atomsicher gelagert sind. Aber einige davon dürften jetzt, in diesem Augenblick, an Bord der Bomber sein oder in Raketenabschußbasen bereitliegen.« »Aber ist die Menschheit wirklich dieser fürchterlichen Vernichtung ausgeliefert? Das kann doch nicht sein!« »Es könnte sehr rasch der Zeitpunkt eintreten«, sagte Henry Engel, »in dem das furchtbare Wort gesprochen wird: zu spät!« »Nur, was hat zu geschehen, Henry, damit dieses Wort niemals gesprochen zu werden braucht?« »Da müßte viel geschehen. Die Menschheit muß sich ändern!« »Kann sie das?« »Es bleibt ihr keine andere Wahl. Entweder hören die Menschen auf das, was Einstein, Schweitzer, Jaspers oder die Atomforscher selbst, die als einzige wirklich wissen, was geschieht, ihnen zu sagen haben, oder sie hören auf, Menschen zu sein.« Ruth sah Henry Engel, der sich aufgerichtet hatte, fragend an. Sie beugte sich vor und schob ihm das Kissen zurecht. Er ließ das, fast unbeweglich, geschehen. »Henry«, sagte sie fordernd, »antworten Sie mir – was 506
müssen wir tun?« »Wir müssen wieder lernen, das zu sagen, was wir wirklich denken. Jede, auch die kleinste Handlung, muß wieder wesentlich werden. Unsere Worte müssen wahr sein.« »Ich bin bereit zur Offenheit«, sagte Ruth. »Wer in der Öffentlichkeit von sittlicher Verantwortung spricht und sich in seinem Privatleben verantwortungslos verhält, der ist von Übel. Wer von Gott redet und zugleich die Geschäftemacher im Namen Gottes nicht von sich weist, verdient nichts anderes, als daß er zugrunde geht.« »Es macht mir Angst, dir zuzuhören«, sagte Ruth Winters. »Ich hoffe, du vergißt dabei Wolf Beck nicht.« »Seinetwegen bin ich doch hier!« erklärte Ruth. Er sah sie überrascht an. »Du willst doch nicht etwa für ihn Geschäfte machen wollen – und noch dabei mit mir?« »Ich will dich davon überzeugen, Henry, daß du dich immer und in jeder Situation auf uns verlassen kannst. Du solltest dich Wolf bedingungslos anvertrauen.« »Er will meine Patente haben!« rief Henry Engel erstaunt. »Ist es das? Hat er dich etwa deshalb hierhergeschickt? Er kann doch nicht im Ernst auf die Idee gekommen sein, mit unserer Freundschaft Geschäfte machen zu wollen?« 5.30 Uhr. Der NATO-Oberbefehlshaber: An alle Kommandostellen der NATO: Sowjetische Truppen greifen seit 3.00 Uhr MEZ in West-Berlin an. Gemäß den Vereinbarungen der im Atlantikpakt verbündeten Staaten schlägt die NATO zurück. Zweck unseres Gegenschlages soll es sein, die 507
Sowjets an der Eröffnung des Krieges in Europa zu hindern. Hierzu befehle ich: 1. Das Stichwort »Gegenschlag« tritt sofort in Kraft. Die Landstreitkräfte in Europa beziehen die befohlenen Gefechtsräume. 2. Die zweite taktische Luftflotte greift mit Atombomben die sowjetischen Anmarschwege an der deutschpolnischen Grenze entlang der Oder an. Im Abschnitt zwischen Stettin und der Neißemündung. 3.. Ein zweiter Atomschlag wird von der zweiten taktischen Luftflotte gegen die bekannten sowjetischen Raketenbasen im osteuropäischen Raum geführt. 4. Die vierte taktische Luftflotte belegt die sowjetischen Anmarschwege an der deutsch-polnischen Grenze mit Atombomben. 5. x-Zeit für die Angriffe auf die deutsch-polnische Grenze 6.30 Uhr. 6. Gemäß dem Plan »Schwarzer Panther« nehmen die dafür vorgesehenen Raketenbatterien um 6.30 Uhr die sowjetischen Aufmarschräume Schwerin-Ludwigslust Stendal-Magdeburg Langensalza-Gotha-Suhl unter Feuer. Plan »Schwarzer Panther« tritt ohne die in der Tschechoslowakei angegebenen Ziele in Kraft. Tausende Militärsender in Westeuropa traten in Aktion. Der Äther schien zu kochen. In den sowjetischen Funkpeilstellen herrschte fieberhafte Tätigkeit. Der Chef des 5. Büros in Moskau ließ unverzüglich alle verfügbaren Experten zur Entschlüsselung dieser Funksprüche ansetzen. Sofortige Resultate jedoch 508
wollten sich nicht einstellen. Alle erreichbaren Agenten erhielten Sonderweisung. Und Tausende Militärsender funkten weiter: 6.30 Uhr – 6.30 Uhr – 6.30 Uhr. Wolf Beck war es gelungen, eine Sondermaschine zu chartern. Seine außergewöhnlichen Beziehungen funktionierten immer noch. Dieses Spezialflugzeug landete, von einem privaten Gelände weit außerhalb Hamburgs kommend, auf dem großen Flugfeld, rollte aus und stand still. Wolf versuchte sich durch die Menschenmenge zu schieben, die sich in der Halle des Flugplatzes staute. Die Menschen murrten, schimpften dumpf, drängten und schoben sich vorwärts. Polizeieinheiten, vom Flugplatzpersonal unterstützt, hatten alle Aus- und Eingänge abgesperrt und sogar die Zufahrtsstraßen abgeriegelt. »Achtung! Achtung!« brüllte der Lautsprecher. »Es finden keine planmäßigen Flüge statt. Diese Anordnung gilt bis auf weiteres. Es ist zwecklos, zu warten. Es finden keine planmäßigen Flüge statt.« Die Menschen waren verstummt und sahen hoch, dorthin, woher der Lautsprecherlärm kam. Und es schien fast, als glaubten sie den Sprecher dieser beängstigenden Ankündigung sehen zu können. In ihren Gesichtern lag viel Enttäuschung und Angst. Wolf schob sich weiter vor, der Ausgangssperre zu, die den Flugplatz von der jetzt wild rufenden und gestikulierenden Menge trennte. Er boxte sich rücksichtslos bis an die Sperre vor. Sein Koffer war ihm dabei aus der Hand gerissen worden. Er prallte zu Boden und öffnete sich. Niemand achtete darauf; auch Wolf nicht. Dutzende von Füßen zertrampelten seine Sachen. Wolf hielt seine Aktentasche hoch über sich, als gelte es, 509
ein Stück Fleisch vor dem Zugriff wild gewordener Tiere zu bewahren. »Ich muß auf das Rollfeld!« rief er eingeengt und mit gepreßter Stimme. »Das dort ist mein Flugzeug!« »Schweinerei«, brüllte ein Mann. Wolf Beck unterlief die Absperrkette, mit spontan gefaßtem Entschluß. Er warf sich auf die Erde, kroch vorwärts, rutschte zwei Treppen hinunter und befand sich keuchend am Rande des Rollfeldes. Ein Ordnungsbeamter des Flughafens stürzte sofort auf ihn zu. »Wenn das dort Ihr Flugzeug ist, dann haben Sie sich strafbar gemacht.« »Und wenn schon!« rief Wolf. Er säuberte sich eilig die Hände und ordnete seinen Anzug. »Das Flugzeug ist ohne Anweisung gelandet. Das ist verboten. Das wird Sie viel kosten!« lamentierte der Ordnungsbeamte. Er trabte neben Beck einher, der ohne zu zögern seiner Sondermaschine zustrebte, die mit laufendem Motor dastand. »Schicken Sie mir die Rechung!« rief Wolf unwillig und eilte zielstrebig weiter auf sein Flugzeug zu. Hinter ihnen, an der Sperre, brüllte die Menge auf und drückte sich nach vorne. Die Polizeibeamten stemmten sich mit letzter Kraft dagegen. Einer von ihnen erhielt einen Schlag ins Gesicht. Blut sprudelte aus der Stirn. Der Polizist griff mit beiden Händen danach. Die Absperrkette war durchbrochen. Und die Menschen zerbrachen die Barrieren, drängten sich durch die zersplitterten Türen und stürzten auf das Rollfeld hinaus. »Alles zurück!« schrie der Ordnungsbeamte, der Wolf Beck begleitete. »Alles zurück – oder ich lasse von den Schußwaffen Gebrauch machen!« 510
Niemand hörte auf ihn. Wolf Beck begann zu laufen. Die Menge lief hinter ihm her. Ihre Füße dröhnten auf dem Zement des Rollfeldes. Der Motor des wartenden Flugzeuges brüllte auf; sein Propeller zeichnete einen zitternden, silberweißen Kreis. Wolf warf seine Aktentasche durch die offene Tür der Maschine und kletterte aufwärts; der Mann, der auf ihn gewartet hatte, zog ihn herein. Wolf rief keuchend: »Fort! Nichts wie fort!« Er schlug die Tür hinter sich zu und starrte, schwer atmend, nach draußen. Die Menschen hatten das Flugzeug, das sich langsam in Bewegung setzte, fast erreicht. Der Pilot sah entschlossen geradeaus. Das Flugzeug rollte weiter. Ein Ordnungsmann mit roter Flagge sprang zur Seite. Zwei Menschen prallten gegen den rechten Flügel der Maschine und wurden zu Boden gerissen. »Weiter!« schrie Wolf Beck. Der Pilot nickte kaum merklich. Das Dröhnen des Motors ging in helles, schwirrendes Pfeifen über. Das Flugzeug rollte schneller und schneller und stieg dann langsam, ein wenig schwankend, auf. Die Streitkräfte der NATO marschierten. Die Langstreckenbomber schraubten sich den befohlenen Zielen zu. Die Wehrbereichskommandos in der Bundesrepublik gaben höchste Alarmstufe für alle Verbände der Heimatverteidigung. In den Ostblockstaaten war die Mobilmachung in vollem Gang. Die aus Moskau entsandten Berater hatten praktisch überall die militärischen und politischen Spitzenfunktionen übernommen. Den Experten des 5. Büros war es endlich mit Hilfe von Agentenmeldungen gelungen, den neuen, erst vor wenigen Stunden in Kraft getretenen Geheimcode der 511
NATO-Streitkräfte zu entschlüsseln. Kurz danach ging ein offener Funkspruch an die Truppen der UdSSR und der mit ihr verbündeten Staaten. Er lautete: NATO greift an. Mit dem Abwurf von Atombomben muß gerechnet werden. »Ich warne Sie!« sagte der Oberleutnant der Bundeswehr, dem Maria gegenübersaß. »Mir können Sie keinen Bären aufbinden – und schon gar keinen russischen!« Der Oberleutnant lächelte, als er das sagte. Aber Maria lächelte nicht. Der Oberleutnant war zunächst ein wenig enttäuscht darüber. Dann aber sagte er sich, daß diese Person, die dort vor ihm saß, ja auch nicht den geringsten Grund zum Lächeln habe. Er, der Abteilung G 2 des Regimentsstabes zugeteilt, mit der Untersuchung dieses Falles betraut, glaubte allen Anlaß zu haben, dieses Mädchen als »der Spionage hinreichend verdächtig« ansehen zu können. »Sie behaupten also, von den Sowjets ganz einfach zu uns herübergeschickt worden zu sein?« »Ich habe Ihnen das alles schon mehrfach erklärt. Die Soldaten dort drüben«, sagte Maria geduldig, »haben mich verhört und dann über die Grenze geschickt.« »Mit welchem Auftrag?« wollte der Oberleutnant beharrlich wissen. Maria sah ihn groß an und schüttelte dann leicht, kaum wahrnehmbar, den Kopf. Sie saßen sich in einer Schule in Grenznähe gegenüber – zwischen ihnen war ein schmaler Tisch. Hier lag ein Blatt Papier, auf dem ihr Name geschrieben stand und sonst bisher noch nichts. »Sie wollen doch nicht etwa im Ernst behaupten«, 512
sagte jetzt der Abwehroffizier, »daß die Sowjets Sie in einer Anwandlung von Menschenfreundlichkeit haben laufen lassen?« »So ungefähr war es«, sagte Maria. »Mädchen!« rief der Oberleutnant. »Das können Sie mir doch nicht einreden! Auf diesem Gebiet kenne ich mich nämlich aus.« »Glauben Sie das wirklich?« fragte Maria. Der Oberleutnant stutzte. Ihm unzureichende Kenntnisse auf seinem Spezialgebiet vorzuwerfen, betrachtete er als Herausforderung. Jetzt noch weiterhin höflich und rücksichtsvoll zu sein, hielt er für Zeitverschwendung. Er sah durch das Fenster, in den frühen Tag hinein. Er sah Fahrzeuge, die auf dem Schulhof standen, Soldaten, die wartend herumsaßen oder schliefen, von der Morgensonne nachsichtig beschienen. Er sah die Funkstelle des Regiments in eifriger Tätigkeit. Im Befehlsomnibus saß der Kommandeur, über Generalstabskarten oder über eine Tageszeitung gebeugt. »Also los!« sagte der Oberleutnant entschlossen. »Wir haben nicht viel Zeit zu verlieren. Wie lautet Ihr Auftrag?« »Eine Art Auftrag habe ich tatsächlich bekommen«, sagte Maria gedehnt. »Na also!« rief der Oberleutnant. »Warum nicht gleich so? Nur mit Offenheit kommen Sie bei mir weiter. Also – wie lautet Ihr Auftrag?« »Drüben«, sagte Maria langsam, wobei sie den jungen, selbstbewußten Oberleutnant offen ansah, »war ein Major. Und der hat mir folgendes aufgetragen: Sagen Sie den Soldaten auf der anderen Seite: wir wollen keinen 513
Krieg – wir wollen den Frieden!« Der Oberleutnant war zunächst maßlos verblüfft und schwieg längere Zeit. Sein sonst offen wirkendes sportliches Jungengesicht verdüsterte sich zusehends. »Hören Sie mal«, sagte er schließlich, »Sie haben doch hier keinen dummen Jungen vor sich!« »Ich hoffe es«, sagte Maria. »Sie können von Glück sagen«, erklärte der Oberleutnant bitter, »daß Sie hier bei uns gelandet sind. Wir sind keine Sowjets!« »Auch bei den Sowjets gibt es Menschen!« »Diese Leier kennen wir zur Genüge, meine Dame. Damit dürfen Sie mir nicht kommen! Ich werde Ihnen jetzt weitere Gelegenheit geben, gründlich nachzudenken. Sie werden eingesperrt. Sie sind spionageverdächtig.« »Bitte – nein!« rief Maria erschreckt. »Das ist nicht wahr! Das dürfen Sie von mir nicht glauben.« Der Oberleutnant stutzte erneut. Dieser Ausruf wirkte ehrlich und beeindruckte ihn. Abermals schwieg er geraume Zeit. Schließlich fragte er: »Können Sie mir das Gegenteil beweisen?« »Aber womit denn?« rief Maria erregt. »Welche Truppenformationen liegen auf der anderen Seite?« fragte der Oberleutnant hastig. »Womit sind sie bewaffnet? Haben Sie Namen gehört? Panzer gesehen? Geschützstellungen bemerkt?« Maria schüttelte den Kopf. »Es war dunkel«, sagte sie leise. »Und ich habe auf solche Dinge nicht geachtet. Davon weiß ich nichts. Ich weiß nur, daß ich anständig behandelt worden bin. Tun Sie es – bitte auch!« »Schluß mit dem Unsinn!« erklärte der Oberleutnant 514
empört. »Abführen!« Um 6.00 Uhr gab der deutsche Rundfunk eine Erklärung der Bundesregierung durch, die alle 10 Minuten wiederholt wurde. Sie lautete: Sowjetische Truppen haben heute früh den Angriff auf West-Berlin begonnen. Zur Stunde toben schwere Straßenkämpfe zwischen sowjetischen und alliierten Einheiten in West-Berlin. Damit ist für die NATO der Kriegsfall eingetreten. Die in der NATO verbündeten Staaten werden diesen Angriff nicht unbeantwortet lassen. Das bedeutet, daß auch für die Bundesrepublik unmittelbare Kriegsgefahr besteht. Die Bevölkerung wird aufgefordert, sich in Ruhe und Besonnenheit den Anordnungen der militärischen und zivilen Behörden zu fügen. In einer halben Stunde werden die örtlichen Sender die Evakuierungsprogramme der Großstädte bekanntgeben. Hierbei handelt es sich lediglich um vorsorgliche Maßnahmen. Der Deutsche Bundestag tritt um 7.00 Uhr zu einer Sondersitzung zusammen. Henry Engel schaltete den Radioapparat aus und stand längere Zeit unbeweglich und wortlos da. Ruth Winters saß hinter ihm im Raum. Sie betrachtete seine mächtige, gebückte Gestalt, die breiten Schultern, in denen jetzt keine Spannkraft mehr zu sein schien, den gesenkten, nervigen Nacken. »Warum«, sagte sie, »haben wir uns nicht früher kennengelernt?« »Zu spät«, sagte Henry Engel mühsam. »Zu spät.« »Wenn es Menschen wie dich und Wolf früher für mich 515
gegeben hätte«, sagte Ruth Winters, »dann wäre mir vieles erspart geblieben.« »Auch ich hätte Constance vieles ersparen können«, sagte Henry Engel bitter. »Du liebst sie wieder?« »Ich habe nie aufgehört, sie zu lieben«, gestand Henry Engel. »Aber ich habe schon lange kein Recht mehr dazu.« »Das läßt sich revidieren, Henry!« Engel schüttelte den Kopf. »Der Zauber ist zerstört. Zu spät … Nicht nur für mich und Constance – für uns alle. Gott läßt sich nicht ungestraft herausfordern.« »Du hast weniger Mut als ich«, sagte Ruth Winters und kam auf ihn zu. »Ich habe Angst, weil ich mehr weiß als du«, sagte Henry und starrte auf den Radioapparat. »Henry«, sagte Ruth Winters und legte ihre Hand auf seinen Arm, »Kriege hat es immer gegeben – solange die Menschheit besteht.« »Aber dieser wird der letzte sein!« »Das hat man auch das vorige Mal gesagt. Warum soll die Atombombe das Ende sein? Die Leuchtziffern in allen Armbanduhren der Welt sollen mehr Radioaktivität ausstrahlen, als jemals in der Luft gewesen ist.« »Welch ein Unsinn!« rief Henry Engel. »Den Menschen ist es gelungen, für den winzigen Bruchteil einer Sekunde die Sonne auf Erden zu entzünden und Temperaturen von mehr als 100 Millionen Grad zu entfachen. Und viele Kilometer davon entfernt und fast 14 Tage danach sind Menschen durch Staubwolken umgekommen: es regnete den Tod! Federleichte Flocken, weißlicher Staub, wie Puder, löschte Menschenleben aus.« 516
»Still«, sagte Ruth, »ich höre Schritte.« Henry Engel schob sich vor sie und lauschte in das leere Haus hinein. Es schien, als atme niemand. Die Stille war bedrückend schwer. Um diese Zeit stand Seine Heiligkeit der Papst in dem fast leeren Audienzsaal des Vatikans. Seine Mitarbeiter blickten mit weißen, maskenstarren Gesichtern zu ihm auf. Vor ihm stand ein Mikrophon. Der Papst sagte: »Ich rufe das Gewissen der Welt. Ich appelliere an die verantwortlichen Staatsmänner aller Nationen. Ich beschwöre die Menschheit, den Frieden zu bewahren. Ich werde zu Gott beten und ihn bitten, daß er uns gnädig sei.« Die Stimme drohte ihm zu versagen. Er weinte. Niemand von denen, die er anrief, hörte ihn. Es war 6.30 Uhr. In Mitteleuropa detonierte die erste Heliumbombe, die jemals über ein von Menschen besiedeltes Gebiet abgeworfen worden war. Und das Licht der Sonne verblaßte. Die Schritte, die auf Ruth Winters und Henry Engel zukamen, wurden immer deutlicher vernehmbar. Sie machten vor dem Keller halt. Dann wurde langsam, doch nicht behutsam oder gar vorsichtig, die Tür geöffnet. Friebes Gesicht schaute grinsend herein. »Ich hoffe nicht zu stören, Chef«, sagte er. Er hielt nach einer Flasche Wein Ausschau. Henry Engel schob ihm sein eigenes Glas zu, das Friebe gegen das Licht hielt und dann genußvoll, ohne abzusetzen, austrank. »Daß es Ihnen vergleichsweise gut geht, das sehen wir«, sagte Ruth Winters; sie war bemüht, dem stark 517
beunruhigten Henry Engel beizustehen. »Aber wie geht es Frau Constance?« Friebe schien sehr erschöpft zu sein. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und füllte sein Glas, wobei seine Hände zitterten. »Wenn Sie sich einigermaßen erholt haben, Friebe«, erklärte Henry Engel ungeduldig, »dann verraten Sie mir bitte, warum Sie jetzt schon zurück sind. Sie können unmöglich in Genf gewesen sein.« »Stimmt!« sagte Friebe. »Und Frau Schubert?« »Ist in Genf«, erklärte Friebe. Seine Augen glänzten fieberhaft; er schien tagelang nicht geschlafen zu haben. »Auf den Straßen ist der Teufel los«, berichtete er sodann. »Die fahren dort kreuz und quer wie die Wilden! Wie besessen. Ich habe die großen Fernstraßen vermieden und kam dadurch noch einigermaßen vorwärts. Wir gehörten zu den letzten, die in die Schweiz eingelassen wurden. Jetzt sind die Grenzen so gut wie zugemauert.« »Offenbar nicht für Sie, Friebe!« »Ich bin mit der gnädigen Frau bis nach St. Gallen gefahren. Von dort aus habe ich in Genf angerufen und im Metropol ein Zimmer bestellt. Der Name Beck, Kairo, wirkt dort selbst in diesen Zeiten noch Wunder. Dann habe ich einen hochseriösen Schweizer Major der Reserve aufgetrieben, der sich in Lausanne melden muß. Er hat geschworen, die gnädige Frau in Genf abzuliefern und war glücklich, daß er ein so gutes und schnelles Transportmittel auftreiben konnte.« »Gut«, sagte Henry Engel anerkennend. »Und wie bist du zurückgekommen?« 518
»Natürlich nicht mit unserem Wagen – der bleibt vorläufig in Genf, zu unserer Disposition! Das finde ich, ist meine besondere Meisterleistung. Einen schweren eigenen Wagen in der Südschweiz können wir vielleicht noch einmal gut gebrauchen – finden Sie das nicht auch, Chef?« »Ja, du bist ein Genie«, sagte Henry Engel. »Halb so wild!« Friebe winkte großzügig ab. »Hinaus lassen die Schweizer jeden, der so verrückt ist, das zu wollen – nur herein lassen sie keinen mehr. Als ich dann ziemlich mühelos wieder im geliebten deutschen Vaterland gelandet bin, habe ich mir ein Motorrad organisiert – die stehen an der Grenze zu Dutzenden herum. Auch Autos jeder Sorte und Größe kann man dort haben – aber was soll man auf diesen vollgestopften Straßen mit einem Cadillac? Mit einem Motorrad kommt man fast überall durch. Leider ist mir zum Schluß das Benzin ausgegangen: die letzten vier Kilometer mußte ich laufen. Das war eine ausgesprochene Strapaze!« »Du hättest die Schweiz nicht mehr verlassen sollen!« sagte Henry Engel. »Was willst du hier?« »Bei Ihnen bleiben! Sie abholen! Sie nicht allein lassen! Noch eine Flasche Rotwein trinken. Ach, Chef – es gibt einen Haufen Gründe.« Henry Engel nickte Friebe freundschaftlich zu. Dann lächelte er, ein wenig mühsam, Ruth Winters an. »Das nenne ich noch Freiheit«, sagte er. »Wir haben uns den Ort, an dem wir umkommen werden, aussuchen können.« »Ich habe mir erzählen lassen, Chef«, sagte Friebe, »daß nahezu tausend Atombomben fallen müssen, ehe ganz Deutschland ein einziger, etwa sechzig Meter tiefer Krater ist. Das ist aber schon ein stattlicher Teil der 519
gesamten Weltproduktion – und alles werden sie ja doch nicht bei uns abladen.« »Ein Fünftel genügt, um ganz Deutschland auf Jahre hinaus zu verseuchen!« »Bis es aber so weit ist, Chef, könnten wir uns doch immerhin noch ein wenig betätigen – zum Beispiel als Weintrinker und gegebenenfalls als Brückensprenger.« »Panik also auf allen Straßen«, stellte Henry Engel fest. »Nun gut – sperren wir den Zufahrtsweg zu unserem Haus.« »Ich kann aber auch die Brücke auf der Hauptstraße in die Luft jagen«, gab Friebe zu bedenken. »Dann gehört uns die Straße nach Süden allein.« Henry Engel schüttelte den Kopf. Friebe nickte; er wußte, das bedeutete: vorläufig nicht! Er leerte sein Glas und ging hinaus. »Henry, ist es denn wirklich so schlimm!« rief Ruth Winters erregt. »Was wirklich schlimm ist, Ruth, das wissen wir alle noch nicht – wir können es nur ahnen!« »Aber«, sagte Ruth und suchte verzweifelt nach Argumenten, »das darf doch nicht sein, das kann doch …« Sie verstummte unter seinem Blick. »Du willst sagen: das kann doch Gott nicht zulassen.« »Ja«, sagte Ruth, »das meinte ich!« Henry Engel löste seinen Blick von ihr und starrte vor sich hin. Sein Gesicht sah aus, als habe er starke Schmerzen. Seine Stimme war kaum vernehmbar. »Gott kann doch nicht! Gott darf doch nicht! Gott soll! Gott muß! Erpressungsversuche und Heucheleien – durch Jahrtausende hindurch! Er hat die Menschheit, als letzte Prüfung, das Atom, das Unteilbare, teilen lassen. Er hat 520
den Sterblichen die Sonne in die Hand gegeben – sie können sie leuchten lassen oder sich an ihr verbrennen!« »Gott ist gnädig – ist es nicht so?« »Er ist endlos und ewig. Eine Erde, die in Flammen aufgeht, ist wie ein Staubkorn an seinem Mantel. Die Geschichte der Menschheit ist vor Gott wie ein Atemzug. Daß Gott ist, ist genug!« Es war 7.00 Uhr. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages erhoben sich von ihren Sitzen. Der Präsident betrat den Saal und begab sich an seinen Platz. Niemand sprach. Viele Stühle, auch auf der Regierungsbank, standen leer. Die scharrenden Geräusche der sich Setzenden störten nicht die dumpfe, erwartungsvolle Feierlichkeit. Kameras surrten. Grelles Licht schoß gegen den großen, die Stirnwand beherrschenden Adler. »Meine Damen und Herren«, sagte der Präsident, »wir sind in ernster Stunde zu einer Sondersitzung zusammengekommen. Wenn ein soeben veröffentlichter Friedensappell Seiner Heiligkeit des Papstes, die Interventionen des indischen Ministerpräsidenten und die in einer Stunde beginnende Sitzung der Vereinten Nationen nicht in letzter Minute das Verhängnis abwenden, dann, meine Damen und Herren, bleibt unserem Land ein neuer Krieg nicht erspart.« Der Präsident blickte in den Saal, als müsse er sich davon überzeugen, daß er nicht alleine anwesend sei. Die Gesichter, die ihm entgegensahen, schienen ausdruckslos. Das Licht flackerte. »Meine Damen und Herren«, sagte der Präsident mit Anstrengung, »in dieser ernsten und schweren Stunde versichern wir noch einmal der Welt unsere Bereitschaft 521
zum Frieden und unseren Willen, ihn um jeden Preis – auch um den schwerer Opfer – zu erhalten. Wir versichern feierlich, daß wir alles tun werden, was in unserer Macht steht, um die Menschheit vor einem neuen, furchtbaren Krieg zu bewahren. Wir bitten zu Gott, daß dieser Kelch noch einmal an uns vorübergehen möge.« Das Schweigen der Abgeordneten schien ratlos und bedrückt. Der Bundeskanzler saß unbeweglich auf seinem Platz. »Meine Damen und Herren«, rief der Präsident plötzlich mit starker Stimme, als gelte es, einen heftig ausbrechenden Lärm zu übertönen. »Die Ereignisse sind bekannt. Die NATO-Streitkräfte haben mit der Verteidigung der westlichen Welt begonnen. In dieser Situation glaubt die Regierung verpflichtet zu sein, einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch den der Kriegszustand für die Bundesrepublik Deutschland erklärt wird. Wünscht der Herr Bundeskanzler das Wort zur Begründung dieses Gesetzentwurfes?« Der Bundeskanzler sah auf und schüttelte dann langsam den Kopf. »Ich sehe«, rief der Präsident des Bundestages, »das ist nicht der Fall. Wünscht einer der Herren Abgeordneten das Wort?« Niemand meldete sich. »Ich sehe«, rief der Präsident, »das ist auch nicht der Fall. Wir kommen zur Abstimmung. Wer für diesen Gesetzentwurf ist, den bitte ich um das Handzeichen.« Alle Anwesenden standen auf und erhoben die rechte Hand. Der Präsident sagte: »Ich stelle fest: das Gesetz ist einstimmig angenommen.« 522
Um 7.10 Uhr begann der deutsche Rundfunk eine Meldung auszustrahlen und sie pausenlos zu wiederholen – so lange, wie das möglich war. Diese Meldung hatte folgenden Wortlaut: Achtung, Achtung! Mit feindlichen Luftangriffen ist zu rechnen. Abwürfe von Atombomben sind nicht ausgeschlossen. Hamburg, Frankfurt und alle Städte über hunderttausend Einwohner im Rhein-Ruhr-Gebiet werden bereits nach vorbereiteten Plänen evakuiert. Achtung, Achtung! Mit feindlichen Luftangriffen ist zu rechnen. Wir geben nunmehr einige Hinweise über das Verhalten bei Atomangriffen. 1. Auch Atombomben sind in ihrer Wirkung begrenzt. 2. Schutz vor Atombomben ist möglich. 3. Die ersten 20 Sekunden sind die gefährlichsten. 4. Suche tiefe Deckungslöcher, Unterstände und tiefliegende Keller auf. Grabe dich ein! 5. Wer eine Gasmaske besitzt, setze sie auf! Bleibt keine Zeit mehr übrig, Vorbereitungen zu treffen, dann schütze Gesicht und Hände – gleichgültig wie! Wirf dich auf den Boden. Bleibe dort, möglichst im Tageslichtschatten, eine Minute liegen. Meide Wälder als Schutzmöglichkeit. Die Druckwelle der Explosion kann Bäume umlegen. In einem Landhaus in der Nähe von Hannover begegneten sich Charly und Michael Reiners wieder. Sie gingen aufeinander zu und reichten sich die Hände. »Wer hätte das gedacht, Doktor!« sagte Charly, der nicht mehr so unbekümmert wirkte wie sonst. »Da glauben wir, an den Zahnrädern der Weltgeschichte herumzudrehen und was haben wir erreicht? Auch wir sind gegen Windmühlenflügel 523
angeritten.« »Wir müssen jetzt schnell handeln«, sagte Doktor Reiners und warf seinen staubigen Wettermantel auf einen Stuhl. »Jede Minute kann jetzt Hunderttausende von Menschenleben kosten.« Charly führte Reiners in die Halle hinein, in der Hilfskräfte eine Art Büro eingerichtet hatten. »Ihr Ostzonenpartner fordert meinen Kopf«, sagte er beiläufig. Doktor Reiners ging nicht darauf ein. »Die Herren, die ich mobilisieren konnte«, sagte er, »müssen jeden Augenblick hier eintreffen.« »Ihr Verkehrsminister ist schon da!« berichtete Charly. »Der scheint es besonders eilig zu haben. Er konferiert bereits mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR. Soweit ich informiert bin, will er der neue Kanzler werden.« Michael Reiners schüttelte entschlossen den Kopf. »Dafür«, sagte er, »kommt nur ein völlig neutraler Mann in Frage. Und den habe ich bereits gefunden: Professor H.. Atomwissenschaftler und Nobelpreisträger.« »Ich möchte nur wissen«, sagte Charly bedenklich, »wie Sie diese Leute in der kurzen Zeit unter einen Hut bringen wollen.« »Es sind alles gute Deutsche.« »Zweifellos«, erklärte Charly, »und jeder auf eine andere Art. Jeder hält sich für Deutschland – mindestens.« Gabriele, die Sekretärin des stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR, kam aus einem Nebenraum und eilte auf Reiners zu. »Gut, daß Sie endlich da sind, Herr Doktor!« rief sie. »Wir brauchen Sie 524
dringend.« »Gaby würdigt meine Anwesenheit nicht genügend«, sagte Charly und zwinkerte Reiners zu. »Sie tut das aber nur, um mir nicht restlos zu verfallen.« »Hoffentlich befreien Sie uns von diesem Menschen«, sagte Gabriele zu Reiners. »Er hat uns nichts als Schwierigkeiten gemacht.« »Und wie nennen Sie das, was Sie mir machen?« fragte Charly. Reiners lächelte. Der Anblick dieser beiden streitbaren Verliebten entspannte ihn ein wenig. »Wie ich sehe«, sagte er zu Gabriele, »haben Sie gute Vorarbeit geleistet.« In dem geräumigen Landhaus, das in einem Park lag, herrschte lebhafte Tätigkeit: ein Dutzend Menschen saß um den langen Tisch in der Halle und schien an Entwürfen zu arbeiten. Eine provisorisch eingerichtete Vermittlung, mit Soldaten der Bundeswehr besetzt, befand sich in einem Nebenraum. »Das alles war nicht sonderlich schwer«, sagte Gabriele. »Uns wurden Regierungsbeamte und sogar Soldaten zur Verfügung gestellt. Der Oberbürgermeister von Hannover gehört zu unserem Kreis, der Standortälteste ebenfalls.« »Der eine will vermutlich Innenminister, der andere Korpskommandeur werden«, behauptete Charly. »Genügend Handlanger finden sich in Deutschland immer, auch wenn es sich um Nazis oder Sowjets handelt.« »Sogar die Amis«, sagte Gabriele, »blieben nicht ohne Gefolgschaft.« »Und daran sollten Sie sich ein Beispiel nehmen, 525
Gaby!« »Gegen neun Uhr«, sagte Reiners, »müssen wir so weit sein, daß wir eine erste gemeinsame Sitzung wagen können. Spätestens um elf Uhr muß sich die gesamtdeutsche Regierung gebildet haben. Ein erster Aufruf geht dann sofort über den uns zur Verfügung stehenden Sender.« »Und die Vereinten Nationen, Doktor?« »Wir können mit der Sympathie des Generalsekretärs rechnen«, erklärte Reiners. »Auch er hält diese Lösung für den vielleicht einzig möglichen Ausweg. Lange nächtliche Telefongespräche haben zu diesem Ergebnis geführt. Es ist die eigentliche, entscheidende Voraussetzung für alles Weitere.« »Respekt!« sagte Charly. 7.30 Uhr. Washington veröffentlichte eine Note, die an die Regierung der UdSSR gerichtet war. Sie hatte folgenden Wortlaut: Wider alles Völkerrecht haben sowjetische Truppen den Kampf in West-Berlin eröffnet. Die Regierung der Vereinigten Staaten hat die Regierung der Sowjetunion Jahre hindurch vor einem solchen Aggressionsakt gewarnt. In Übereinstimmung mit den verbündeten Regierungen hat die Regierung der Vereinigten Staaten ihrer Luftwaffe den Befehl zum Gegenangriff gegeben. Um die Welt noch in letzter Minute vor einem furchtbaren Atomkrieg zu bewahren, fordert die Regierung der Vereinigten Staaten die Regierung der UdSSR auf, die Kampfhandlungen in Berlin bis 9.00 Uhr MEZ einzustellen und die sowjetischen Truppen aus den West-Sektoren der Stadt zurückzuziehen. 526
In diesem Falle wird die Regierung der Vereinigten Staaten ihrerseits jede Kampfhandlung sofort abbrechen. 7.30 Uhr. Radio Moskau veröffentlichte eine Note an die Regierung der USA. Sie hatte folgenden Wortlaut: Mit dem verbrecherischen Angriff amerikanischer und britischer Flugzeuge auf die friedliebende Bevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik und Polen haben die westlichen Aggressionsmächte alle Friedensbemühungen der Sowjetunion zunichte gemacht. Zum Schütze der Völker des sozialistischen Weltfriedenslagers ist die Sowjetunion gezwungen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Sie fordert die Regierung der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs auf, ihre Aggressionsakte unverzüglich einzustellen. Geschieht dies nicht, so erhalten die sowjetischen Truppen Befehl, zum Angriff gegen den Aggressor überzugehen. »Sie sind, vorläufig wenigstens, in Sicherheit«, sagte der Schweizer Major der Reserve, der Constance von St. Gallen nach Genf gefahren hatte. »Sie dürfen beruhigt sein.« »Ich begreife noch immer nicht, was geschehen ist«, sagte Constance. »Es ist zu verwirrend, zu unglaubhaft, zu phantastisch.« Sie standen in einem der unteren Räume des Hotels Metropol in Genf und sahen zum offenen Fenster hinaus, auf den See. Die Fontäne jagte heute keinen Wasserstrahl gen Himmel; sie war nicht in Betrieb gesetzt worden. Der schwere Wagen, mit dem Constance hierhergebracht worden war, befand sich auf der anderen Straßenseite, in der Nähe der Blumenuhr. Der Verkehr auf der Seeuferstraße war größer als 527
gewöhnlich. Dennoch wirkte er, vergleichsweise, wohltuend ruhig. Hier schien es sogar noch Menschen zu geben, die spazierengingen. Der lichtblaue Himmel verkündete einen glühend heißen Tag. »Die Nachrichten, die wir im Radioapparat des Autos gehört haben«, sagte jetzt der Schweizer, der bewundernd zu Constance aufsah, da sie ein wenig größer war als er, »halte ich gar nicht für so ungünstig, wie es vielleicht den Anschein gehabt haben könnte.« »Es sind aber doch Atombomben geworfen worden!« rief Constance. »Gewiß, das ist furchtbar«, gab der Schweizer Major der Reserve zu. Er trug Zivil. Sein väterlich wirkendes Gesicht lächelte; und es schien, als wolle er Constance mit seiner deutlich zur Schau getragenen Zuversichtlichkeit beruhigen. »Aber diese Atombomben sind bisher doch offenbar nach rein taktischen Gesichtspunkten abgeworfen worden.« »Genügt es denn nicht, daß sie überhaupt abgeworfen worden sind?« »O nein!« sagte der Major der Reserve beschwichtigend. »Das Schlimmste ist noch nicht eingetroffen. Noch gibt es Hoffnung. Die Möglichkeit einer weltumspannenden Katastrophe scheint das Zurückschrecken vor dem Äußersten bewirkt zu haben.« »Ich verstehe das alles nicht«, sagte Constance. »Ich kann nicht begreifen, daß Menschen dazu fähig sind.« »Gnädige Frau«, sagte der Major, »Sie dürfen überzeugt sein, daß es vielen ähnlich geht. Aber wer sich, wie ich, mit diesen Problemen systematisch befassen mußte, der wird sehr schnell erkennen, daß etwas geschehen ist, das wir erhofft, doch kaum für möglich gehalten haben: der erste sogenannte große 528
Atomschlag, der automatisch die Zentren der westlichen und der östlichen Welt ausradiert haben würde, ist nicht erfolgt. Vielmehr scheint versucht zu werden, die Atombombenabwürfe auf das eigentliche Kampfgebiet zu beschränken.« »Aber ist nicht alles das schon grausam genug?« »Gewiß, gnädige Frau. Aber es ist noch nicht das Grausamste, das vorstellbar ist.« Hinter ihnen klirrte Geschirr. Ein wohltuender Duft von frischgebranntem Kaffee breitete sich im Raum aus. Der Kellner Georg kam auf sie zu und sagte: »Es ist serviert.« Um 8.00 Uhr meldeten sich der Bayerische Rundfunk München, der Süddeutsche Rundfunk Stuttgart und der Südwestfunk Baden-Baden. Die Sprecher sagten: Die Sender des westdeutschen und norddeutschen Sendegebiets sind vorübergehend ausgefallen. Sowjetische Flugzeuge haben in der Zeit zwischen 7.15 Uhr und 7.50 Uhr die Städte Hamburg, Bremen und Frankfurt und das Ruhrgebiet zwischen Dortmund, Essen, Düsseldorf und Köln mit Atombomben angegriffen. Feuer feindlicher Atomraketen liegt auf den Räumen Quakenbrück, Osnabrück, Rheine-Münster, sowie in Rheinland-Pfalz in den Gebieten um Wittlich, Bittburg, Trier; weiter in dem Gebiet Idar-Oberstein, Kaiserslautern, Pirmasens, Landau. Flüchtlinge werden gewarnt, die getroffenen Städte zu betreten und die unter Raketenbeschuß liegenden Gebiete zu durchfahren. Die Bundesregierung hat Bonn verlassen. Die zur Aufrechterhaltung von Ordnung, Sicherheit und Versorgung notwendigen Behörden sind mit dem 529
Kabinett an einen vorbereiteten Ort in der Eifel übergesiedelt. Flüchtlinge haben sich den Anordnungen der Polizei, der Flüchtlingskommissare und der Militärbehörden im Interesse ihrer eigenen Sicherheit unbedingt zu fügen. Der deutsche Rundfunk wird Warnungen vor atomverseuchten Gebieten alle 15 Minuten durchgeben. Allen Frauen und Kindern, die in der Bahnhofsbaracke dicht nebeneinander lagen, wurde befohlen, sich sofort auf der Straße zu versammeln. »Jeder darf nur so viel Gepäck mitnehmen, wie er etwa eine Stunde lang ohne Beschwerden tragen kann«, sagte der Mann in Arbeitskombination. Er trug eine weiße Armbinde und hatte sich ein Gewehr über die Schulter gehängt. Einige Frauen murrten dumpf; andere begannen mit hohen, kreischenden Stimmen zu protestieren. Ein Kind schrie auf, denn auf eins seiner Händchen war ein Koffer gefallen. »Ruhe!« brüllte der Mann mit der Armbinde. Mutter Schwiefert erhob sich ächzend, wischte sich den Schlaf aus dem Gesicht und nickte den beiden »Kleinen« zu. Peter raffte sofort, ohne ein Wort zu sagen, das ganze Gepäck zusammen; Isolde half ihm mit Eifer dabei. »Was kann uns schon passieren«, sagte sie und lächelte ihn tapfer an, »solange wir zusammen sind.« »Ruhe!« brüllte der Mann mit der Armbinde abermals. »Ihr habt zu parieren und sonst nichts. Bedankt euch dafür bei Bonn! Jetzt packt eure Sachen und raus auf die Straße! Je mehr ihr hier herumtrödelt, um so schneller müssen wir nachher gehen. Und vergeßt nicht: überflüssiges Gepäck bleibt hier! Das kann zur Aufbewahrung abgegeben werden!« »Das könnte euch so passen!« rief eine Frau und 530
lachte schrill auf. »Beklauen wollt ihr uns!« Der Mann mit der Armbinde stürzte auf diese Frau zu und schlug ihr heftig ins Gesicht. »Beleidigen lassen wir uns nicht!« schrie er. »Wir haben schließlich diesen Krieg nicht angefangen!« Die Frauen verstummten. Die Kinder sahen hilflos zu ihnen auf. Die Bewaffneten machten düstere Gesichter und begannen die Baracke zu räumen: sie zerrten alle, die sie ergreifen konnten, zur Tür und stießen sie ins Freie hinaus. Mutter Schwiefert, von den Kleinen dicht gefolgt, verließ die Bretterbude. Der Zug der Frauen und Kinder war über hundert Meter lang. Als er sich unter den Zurufen der Bewaffneten in Bewegung setzte, scharrten mehr als achthundert Füße den Staub der Straße auf, der fortan mit den dahintrottenden Menschen mitzuziehen schien. Mutter Schwiefert schien das vorausgeahnt zu haben: sie bewegte sich mit den »Kleinen« an der Spitze des Zuges. Peter schnaufte unter der Last von zwei Koffern, zeigte aber keinerlei Anzeichen von Erschöpfung oder Unwillen. Isolde betrachtete ihn mit liebevoller Aufmerksamkeit; sie trug seine Handtasche, in der sich alle seine Sachen befanden: Wäsche und Waschzeug; mehr besaß er nicht. »Ohne dich, Peter«, sagte Mutter Schwiefert mit ehrlicher Anerkennung, »wären wir hier verkauft.« »Halb so schlimm«, sagte Peter und wurde rot vor Freude und Stolz darüber, sich endlich gewürdigt zu wissen. Die Sonne schien glühend auf die sich vorwärtsschleppenden Frauen und Kinder herab. Schweiß zerfraß die Puderschichten auf manchen 531
Gesichtern und zersetzte die Schminke auf den Lippen; es war, als sammelten sich in den Mundwinkeln Tropfen von Blut. Einige der Frauen hatten ihre Schuhe und Strümpfe ausgezogen. Mühsam, mit sichtlichen Schmerzen, schritten sie verkrampft über die staubige, steinige Straße. Wer zurückblieb, wurde vorwärtsgestoßen. Wer abermals zurückblieb, dem wurde das Gepäck weggerissen und in den Straßengraben geworfen. Frauen, die zusammenbrachen, wurden von einem Kastenwagen, der hinterherfuhr, aufgesammelt. Der Bewaffnete mit der Binde, der den Zug anführte, ein kräftiger Mann im mittleren Alter, mit einem fast viereckigen Gesicht, rief: »Nur keine Müdigkeit vorschützen! Krieg ist Krieg, und so ganz schuldlos daran wird keiner von euch sein.« »Wo gehen wir hin?« fragte Mutter Schwiefert. Der Bewaffnete fragte, auf Isolde deutend: »Ist das Ihre Tochter? Strammes Mädchen!« Mutter Schwiefert hielt Peter, der sich vorwärtsstürzen wollte, am Oberarm fest. »Wir sind einfache Leute wie ihr«, sagte sie zu dem Bewaffneten. »Sie zum Beispiel könnten mein Bruder sein. Warum schikanieren Sie uns? Warum geben Sie sich zu so etwas her? Ist denn nicht schon genug Furchtbares in Deutschland passiert?« »Was wollen Sie eigentlich?« fragte der Bewaffnete. »Wir bringen Sie doch in Sicherheit! Hier in der Nähe gibt es ein altes Lager – das haben noch die Nazis errichtet. Da bringen wir euch hin.« »Und wenn wir da sind?« »Dann werden wir weitersehen«, sagte der Bewaffnete; und dabei sah er Isolde an. 532
8.30 Uhr. New York. Im Gebäude der Vereinten Nationen ging die vom Generalsekretär einberufene, außerordentlich turbulent verlaufene Sondersitzung zu Ende. Die Vertreter der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten beantragten eine Vertagung, beziehungsweise eine eingehende Aussprache. Der indische Delegierte forderte eine sofortige Ablehnung dieser Anträge. Der Generalsekretär stimmte zu. Nur wenige Minuten später hatte sich eine gemeinsam operierende Mehrheit gebildet, die vorwiegend aus den Delegierten des arabischasiatischen Blocks und der südamerikanischen Staaten bestand. Diese Mehrheit verurteilte die Sowjetunion auf der einen und die im Atlantikpakt zusammengeschlossenen Staaten auf der anderen Seite als Aggressoren. Die UNO forderte die beiden kriegführenden Seiten auf, die Kampfhandlungen unverzüglich einzustellen. »Die Brücke ist gesprengt«, berichtete Friebe. »Unerwünschte Besucher werden es fortan noch schwerer haben, uns zu belästigen.« »Dann sitzen wir hier also wie in einer Mausefalle«, stellte Ruth Winters fest. »Unter Umständen kann eine Falle die Maus vor der Katze schützen«, sagte Henry Engel und nickte Friebe zu. »Aber wir kennen noch einen Umgehungsweg.« »Ich habe ihn zusätzlich getarnt«, sagte Friebe. »Soll ich jetzt ein Frühstück zubereiten?« »Das Beste, was wir im Hause haben«, ordnete Henry Engel an. »Wir wollen jede Minute feiern, die uns noch bleibt.« Friebe verließ die Halle. Ruth Winters lehnte sich tief in ihren Sessel. Henry Engel stand auf, begab sich an das 533
große Fenster und sah hinaus. Vor ihm lag, unter den flirrenden Hitzewellen, das weite Land: flach und ruhig, fast unberührt erscheinend, in verblichenen, graugrünen Farben, durchzogen von den Bändern der Straßen, auf denen sich Fahrzeuge wie Ameisen bewegten. »Dort unten«, sagte Henry Engel, »nur noch wenige hundert Kilometer von uns entfernt, beginnt der Krieg seine Massengräber zu schaufeln. Vorläufig befinden wir uns noch am Rand des größten Kessels, den jemals die Hölle auf Erden errichtet hat. In wenigen Stunden schon kann dieser Kessel überkochen und Europa überfluten – bis zu den Meeren hin, die aufbrodeln und vielleicht ihren Urgrund verlassen werden.« »Willst du fliehen?« fragte Ruth Winters hinter ihm. Henry Engel drehte sich zu ihr herum. »Würdest du das wollen?« »Nein«, sagte sie. »Ich habe hier auf Wolf zu warten, aber bei dir ist alles anders. Vielleicht wartet jetzt Constance auf dich in Genf. Du könntest beruhigt reisen, denn ich werde dieses Haus hüten als ob es mein eigenes wäre.« »Das Haus und die Pläne meiner Erfindungen, das meinst du doch damit, Ruth? Nur deshalb willst du hier auf Wolf warten!« Ruth sah Henry Engel betrübt an. »Wie wenig du doch deine Freunde kennst«, sagte sie leise. »Ich kenne Wolf«, sagte Henry Engel – »aber von dir weiß ich so gut wie nichts.« »Du mußt mir vertrauen, Henry, damit ich dir beweisen kann, daß ich es verdiene.« »Was ist los mit dieser Welt?« fragte Henry Engel 534
heftig. »Weißt du, wo Wolf Beck ist und was er mir bedeutet? Weiß Wolf Beck, wer du bist? Wolf ist einer meiner Freunde – ich habe das seltene Glück im Leben gehabt, zwei Freunde zu finden, und wenn ich einen meinen Freund nenne, dann ist er mir wert wie Bruder und Vater! Er kann nicht den Auftrag erteilt haben, mir meine Pläne abzuschwindeln. Das darf nicht sein!« »Henry«, sagte Ruth, »ich heirate Wolf. Ich weiß, daß er dein Freund ist und daß du der seine bist. Was das bedeutet, begreife ich erst jetzt, nachdem ich ihn und dich kennengelernt habe. Henry, glaube mir, ich werde niemals etwas tun, das diese Freundschaft zerstören könnte – denn ich weiß, daß ich dadurch auch die Liebe zwischen Wolf und mir zerstören würde.« »Was bist du für ein Mensch!« rief Henry aus. »Ich werde nicht klug aus dir!« »Wenn du wüßtest«, sagte Ruth leise, »wie ich noch vor ein paar Tagen war, welche Gedanken und Gefühle mich bewegten – du würdest über meine Veränderung staunen. Ich habe zunächst nicht vollkommen begreifen können, wie Wolf wirklich ist. Ich mußte erst dich kennenlernen, um ihn ganz zu verstehen. Ich will jetzt bewußt leben, Henry - mit Wolf und für ihn; wenn du mir dein Vertrauen schenkst, wird er sehr glücklich darüber sein – und ich erst recht.« »Du führst mich in Versuchung, das zu tun, wogegen ich mich sträube und wonach ich mich sehne: den Menschen zu glauben! Aber alles, was ich erlebte, vereitelte es mir.« »Kann nicht auch eine Frau ein Freund sein, Henry?« Die Augen von Ruth schimmerten grünlich. Sie atmete gepreßt. Ihr Körper wirkte krampfhaft gespannt. Sie sah Henry Engel fordernd an. 535
9.00 Uhr. Gefechtsstand des NATOOberbefehlshabers. Der Befehlshaber von Zentraleuropa gab folgenden Lagebericht: Der sowjetische Atomschlag gegen Hamburg, Bremen, Rhein-Ruhr-Gebiet, Köln und Frankfurt hat zu entsetzlichen Verlusten unter der Zivilbevölkerung geführt. Die Verluste unter den eigenen Truppen sind vergleichsweise gering. Folgende Flüchtlingsbewegungen zeichnen sich ab: Von Hamburg nach Norden. Von Bremen nach Nordwesten und Westen. Vom Rhein-Ruhr-Gebiet nach Westen und Süden. Von Frankfurt nach Süden. Das sowjetische Raketenfeuer hat auf den Basen der zweiten und der vierten taktischen Luftflotte Ausfälle zwischen 30 und 40 Prozent verursacht. Beide Flotten operieren jetzt wie vorgesehen von den Ausweichbasen in Frankreich, Belgien und Holland aus. Seit einer Stunde sind sowjetische Erdtruppen an vier Stellen zum Angriff angetreten. An zwei anderen Stellen lassen Luftaufklärung, Agentenmeldungen und Artillerievorbereitungen weitere Angriffe erwarten. Im Norden operieren zwei Verbände mit starken Panzerspitzen aus dem Brückenkopf südlich Lübeck und aus dem Raum Lauenburg mit Stoßrichtung auf Hamburg. Die eigenen Truppen weichen befehlsgemäß unter Aufgabe Hamburgs nach Südwesten auf die Weserlinie aus. Der zweite sowjetische Angriff mit starken Panzerverbänden rollt auf einer Breite von 100 Kilometern auf den Raum Helmstedt mit Stoßrichtung Braunschweig-Hannover. Die eigenen Verbände gehen befehlsgemäß auf die Weserlinie zurück. Der dritte sowjetische Stoß führt über Göttingen, 536
Hannoversch-Münden, Kassel in südwestlicher Richtung. Die eigenen Verbände gehen auf die Linie Höxter, Warburg, Eder, Marburg zurück. Die vierte sowjetische Angriffsgruppe dringt aus dem Brückenkopf Hof in südsüdwestlicher Richtung vor. Seit 8.30 Uhr sind auch die in der Tschechoslowakei stationierten Raketeneinheiten in Aktion getreten. Ihr Feuer liegt auf dem Raum Ulm, Augsburg, Landsberg, Fürstenfeldbruck. Maria saß im Keller des Schulgebäudes, das sich in der Nähe der Grenze befand, auf einer Kiste. Sie starrte auf das schmutzig-graue verwitterte Fenster, durch das sich die Sonne drängte. Der Soldat, der an der Tür stand, betrachtete sie forschend. »Wie konnten Sie das nur tun«, sagte der Soldat schließlich. »Das bringt doch nichts ein.« »Ich habe nichts getan«, sagte Maria. »Und warum sitzen Sie dann hier?« »Ich bin wohl nicht der erste Mensch, der eingesperrt wurde, ohne auch nur im geringsten schuldig zu sein.« Sie lächelte ein wenig. Das, was mit ihr geschehen war, nahm sie jetzt hin, als handele es sich um etwas Unvermeidliches, Unabwendbares. Gestern noch – war das erst gestern? – hatte sie ein klares Ziel gehabt: Martin und Sonneberg. Heute war alles anders. In den Stunden, in denen sie nachdenken konnte, dachte sie über Martin nach und darüber, wie sie zu ihm kommen könnte. Sie wußte nur, daß ihr das gelingen mußte – wie es aber zu erreichen war, wußte sie nicht mehr. Und fortan beherrschte sie der Glaube an die Vorsehung ganz, machte sie nahezu zufrieden und immer geduldig. »Wenn ich Ihnen doch nur helfen könnte!« sagte der 537
Soldat. »Ich würde es wirklich gerne tun.« Maria sah ihn an. Er war noch sehr jung; vielleicht ein oder zwei Jahre jünger als sie. In seiner Gegenwart kam sie sich fast alt vor. Er hatte das Gesicht eines Kindes und Augen, die zutrauliche Wärme ausstrahlten. »Sie gefallen mir«, sagte der Soldat spontan; um sofort hinzuzufügen: »Wie eine Schwester!« Aber es war ihm deutlich anzumerken, daß es kaum brüderliche Gefühle waren, die ihn beim Anblick von Maria bewegten. Mit ihr allein in diesem Keller zu sein, bedeutete für ihn ein einzigartiges Erlebnis. Seine Kameraden hatten ihn um den Auftrag, sie zu bewachen, beneidet. »Soll ich Sie freilassen?« fragte er und kam näher auf sie zu. In diesem Augenblick krepierte draußen auf dem Hof ein Geschoß. Der Boden erzitterte. Das Fenster zerplatzte mit dumpfem Knall und eine Wolke aus Staub wehte herein. Der Soldat taumelte ein wenig, raffte sich dann auf und stürzte hinaus. Er schloß die Tür hinter sich und verriegelte sie. Maria hörte seine hastigen, davoneilenden Schritte. »Volle Deckung!« brüllte ein Mann. »Sowjetische Artillerie!« Das Krepieren weiterer Granaten löschte diese Stimme aus. Die Erde dröhnte. Maria warf sich zu Boden. Die Decke über ihr zerbarst; Staub prasselte wie heftiger Regen auf sie herab. Die Tür klaffte auf. Ihre Bretter zerfetzten und rissen ihre Hände blutig, die neben dem Kopf auf dem Lehmboden lagen. Die Granaten der sowjetischen Artillerie wühlten sich um sie in die Erde. »O Gott!« stöhnte sie. Sie schluckte den Staub, der wie ein dichter Nebel den Kellerraum durchwallte. Sie hustete heftig. 538
Plötzlich war Stille um sie. Dann hörte sie das Gewimmer eines Verwundeten und das Prasseln von Flammen. Sie raffte sich auf und stolperte hinaus. Das Schulgebäude war eine brennende Ruine. Leichen lagen im Hof. Der Befehlsomnibus bestand nur noch aus einem Gewirr von zertrümmerten und verbogenen Eisenteilen, an denen Fetzen von Menschen und Uniformen hingen. Der Soldat, der sie bewacht hatte, lag tot vor der Tür. Sein kleines, wachsgelbes Kindergesicht zeigte fassungsloses Erstaunen. Maria zerrte ihr Fahrrad aus den Trümmern des Kellers und fuhr, wie gehetzt, davon. Um 9.30 Uhr meldete sich der deutsche Rundfunk wieder. Bis vor einer Stunde noch hatten Nachrichtensendung und Marschmusik einander abgelöst. Dann fiel die Marschmusik aus. In der Folge wurde zwischen den Nachrichten, Bekanntmachungen und Hinweisen nur noch das Pausenzeichen gesendet. Jetzt sagte der Sprecher: Hier ist der deutsche Rundfunk mit seinen Sendern im bayerischen, süddeutschen und südwestdeutschen Raum. Angeschlossen sind wieder der Norddeutsche und der Westdeutsche Rundfunk mit Behelfsstationen. Das Innenministerium richtet nochmals einen dringenden Appell an alle Flüchtlinge, sich den Anweisungen der polizeilichen und militärischen Behörden zufügen und nur solche Straßen zu benutzen, die für Ziviltrecks freigegeben sind. Zuwiderhandlungen können den eigenen Untergang zur Folge haben. Das Innenministerium weist daraufhin, daß kein Grund zur Panik vorhanden ist. Ein Schutz gegen Atombomben ist durchaus möglich. Gefährdet sind in erster Linie 539
Industriezentren, Flugplätze und große Städte. Eine Evakuierung der Kranken, Frauen, Kinder und Greise aus den gefährdet erscheinenden Gebieten bis zu einem Umkreis von 50 Kilometern ist ausreichend. Verwaltungsbeamte, Versorgungsangestellte und Arbeitskräfte sollen die Stadtkerne verlassen und in städtische Randgebiete umquartiert werden. Das Innenministerium gibt ferner bekannt: Trinkwasser ist zu horten und möglichst in Kellerräumen zu lagern. Mit der Unterbrechung der Stromzufuhr ist jederzeit zu rechnen. Lebensmittelwerden in wenigen Tagen wieder in ausreichender Menge zur Verfügung stehen. Weiterhin gibt das Innenministerium bekannt: Alle Lebensmittelgeschäfte und alle Tankstellen sind ab sofort zu schließen, Bestandsaufnahmen sind zu machen und unverzüglich den zuständigen Versorgungsbehörden zu melden. Sämtliche Kraftfahrzeuge stehen zur Verfügung der Behörden, der Polizei und der Bundeswehr. Jede Menschenansammlung ist zu vermeiden. Deshalb werden ab sofort sämtliche öffentliche Veranstaltungen untersagt und alle Restaurants, Filmtheater und Bühnen geschlossen. Zuwiderhandlungen werden nach den Kriegsgesetzen bestraft. Außer den bisher bekanntgegebenen atomgefährdeten Gebieten Hegen jetzt auch die Räume Ulm, Augsburg, Fürstenfeldbruck und Landsberg unter planmäßigem Beschuß mit Atomraketen. München ist unmittelbar gefährdet. Sowjetische Truppen haben Angriffshandlungen in den Gebieten Lübeck-Hamburg, Braunschweig, Wolfenbüttel, Göttingen-Kassel und Hof-Bayreuth begonnen. Die Bevölkerung dieser Räume wird gewarnt. Auch hier muß 540
mit dem Einsatz von Atomartillerie gerechnet werden. Soeben fand ein sowjetischer Atomangriff im Raum Manheim-Ludwigshafen-Heidelberg statt. Wie das Verteidigungsministerium bekanntgibt, richten sich die Atomgegenschläge der NATO auf strategische Ziele in der sowjetischen Besatzungszone, Polen und der Tschechoslowakei. 10.00 Uhr. Im Bunker des Bundeskanzlers in der Eifel fand eine Kabinettssitzung statt. Anwesend: der Bundeskanzler; der Innenminister, zugleich Verteidigungsminister; der Finanzminister; der Wirtschaftsminister; die Staatssekretäre im Bundeskanzleramt und im Verteidigungsministerium; der neuernannte Inspekteur der Bundeswehr. Der Bundeskanzler: »Das Wort hat der Verteidigungsminister.« Der Verteidigungs-, zugleich Innenminister: »Die Lage ist chaotisch. Unsere schlimmsten Befürchtungen sind weit übertroffen. Im Verteidigungsministerium türmen sich die Funksprüche deutscher und verbündeter Militärbefehlshaber zu Bergen, die sich darüber beschweren, daß die Flüchtlingsströme nicht energisch genug gelenkt werden. Verbündete Militäreinheiten waren bereits gezwungen, gegenüber den Flüchtlingen von der Waffe Gebrauch zu machen. Die Panik ist allgemein. Nördlich der Mainlinie ist der Wirrwarr am größten, weil hier die Flüchtlinge nicht wissen, wohin sie sich wenden sollen. Im Osten finden Kampfhandlungen statt, im Norden, Süden und Westen liegen atomverseuchte Gebiete. Immer wieder kommt es vor, daß Straßen, die das Militär benötigt, in beiden 541
Richtungen durch Flüchtlingstrecks verstopft sind. Südlich der Mainlinie wälzt sich eine Flüchtlingswelle nach Süden, die zwangsläufig morgen, spätestens übermorgen zu einem entsetzlichen Chaos in Südwürttemberg und Südbayern führen muß. Hinzu kommt, daß der NATO-Oberbefehlshaber uns davon in Kenntnis gesetzt hat, daß die NATO unter Umständen noch heute nacht gezwungen sein könnte, Atomfeuer auf die östlichen Randgebiete der Bundesrepublik zu legen. Wir müssen uns darüber klar sein, daß der zentrale zivile Befehlsapparat praktisch nicht mehr funktioniert. Dank der Vorbereitungen des Bundespresseamts ist es lediglich möglich, über den Rundfunk Anweisungen an die Bevölkerung zu geben, so lange die Sender noch arbeiten können. Im übrigen liegen alle Aufgaben jetzt bei den örtlichen Behörden. Selbst die Landesregierungen haben kaum noch die Möglichkeit, Einfluß auszuüben. Hamburg, Bremen und Düsseldorf melden sich zur Zeit nicht. Die niedersächsische Regierung verläßt Hannover.« Der Bunker des Bundeskanzlers in der Eifel, in dem diese Sitzung stattfand, war fast ausschließlich durch Funkstellen mit der Außenwelt verbunden. Diese Funkapparaturen waren amerikanische Spezialfabrikate. Einige von ihnen konnten mühelos Kontinente überbrücken. Der Telefonapparat, der vor dem Bundeskanzler auf der Tischplatte stand, ermöglichte in erster Linie die Verbindung mit den angeschlossenen Befehlsbunkern. Die rote Lampe an diesem Telefonapparat begann bereits während der Ausführungen des Innen- und Verteidigungsministers in alarmierender Weise 542
aufzuglühen. Der Kanzler bedeutete seinem Staatssekretär, das Gespräch für ihn entgegenzunehmen. Es meldete sich der Präsident des Bundesnachrichtendienstes. Der Staatssekretär zog einen Notizblock herbei und schrieb, in großen Buchstaben, Wortreihen auf das Papier. Sobald ein Zettel gefüllt war, schob er ihn dem Bundeskanzler zu. Der las, was ihm vorgelegt wurde. Sein Gesicht wirkte grau und schlaff und unendlich müde. Der Innen- und Verteidigungsminister hatte schon lange zu sprechen aufgehört. Immer noch schrieb der Staatssekretär Wort um Wort. Der Bundeskanzler hatte sich vorgebeugt und las nun das Geschriebene bereits, ehe es ihm zugeschoben wurde. Dann stand der Bundeskanzler auf. Er sagte: »Meine Herren. Der Herr Bundespräsident hat seinem Leben ein Ende gemacht.« Die Anwesenden schienen nicht fähig zu sein, sich zu bewegen. Das Neonlicht legte bläuliche Schatten auf ihre Gesichter. Schließlich erhob sich, schwer, der Wirtschaftsminister. Dann standen die übrigen ebenfalls auf. Nahezu eine Minute des Schweigens verging. Der Bundeskanzler: »Meine Herren, unsere Politik war immer auf den Frieden gerichtet. Die Geschichte wird entscheiden, auf welcher Seite die Schuld an diesem Wahnsinn der Menschheit liegt. Meine Herren, ich erwarte, daß Sie Ihren Posten nicht verlassen. Die Regierung wird sich nach den Beschlüssen des Atlantikrates richten. Es wäre falsch, sich in dieser Stunde noch irgendwelche Hoffnungen zu machen. Wenn kein Wunder geschieht, 543
ist Deutschlands Untergang besiegelt. Es gibt keine deutsche Politik mehr.« Nach diesen Worten blickte der Bundeskanzler die ihm noch verbliebenen Mitarbeiter forschend an. Dann ordnete er die Notizzettel, die ihm sein Staatssekretär zugeschoben hatte. Dabei schienen seine edlen, alten, zerbrechlich wirkenden Hände zu zittern. Er sagte: »Ich warne Sie aber davor, meine Herren, zu glauben, einer von uns könnte noch dem Rad der Geschichte in die Speichen greifen. Zu dieser Warnung veranlaßt mich eine Meldung des Bundesnachrichtendienstes. Danach scheinen der Verkehrsminister, der Minister für gesamtdeutsche Fragen und einige Generale der Bundeswehr Verbindung mit ostzonalen Kräften aufgenommen zu haben, in Besonderheit mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR. Diese Verbindungen sind offenbar von langer Hand vorbereitet worden. Der Initiator scheint Doktor Michael Reiners zu sein. Diese Hoch- und Landesverräter verfügen über Hilfsmittel aus uns noch unbekannten amerikanischen Quellen. Das Ziel dieses Wahnsinnsunternehmens soll es sein, in letzter Stunde so etwas wie eine gesamtdeutsche Regierung zu konstituieren. Das aber, meine Herren, ist Verrat an der freien Welt. Ich werde gegen die Verantwortlichen mit aller Schärfe vorgehen. Doktor Reiners ist sofort zu verhaften.« In der Bibliothek des Landhauses bei Hannover verhandelten ein Dutzend Menschen über die Errichtung der provisorischen gesamtdeutschen Regierung und über den ersten Aufruf, mit dem sie an die Öffentlichkeit treten wollte. Die Leitung dieser Verhandlungen hatte, bis zur 544
Wahl eines Regierungschefs, Doktor Michael Reiners. Charly hielt sich inzwischen in der Halle auf. Er beobachtete die Vorbereitungen für die Aufstellung eines »Regierungsapparates«, die wesentlich reibungsloser vonstatten gingen, als die Bildung der Regierung selbst. Jüngere Beamte, Offiziere und einige Journalisten waren am Werk. Es gab Regierungsräte, die als Staatssekretäre fungierten, und Hauptleute, die sich auf Transport- und Versorgungswesen spezialisierten; ein international angesehener Reporter organisierte das Nachrichtenwesen im In- und Ausland. Sie alle taten das mit der Vitalität, der Energie und der Unbedenklichkeit ihrer Jugend. In dieser Stunde der großen schöpferischen Improvisionen waren sie genau am richtigen Platz. Der Organisator des Nachrichtenwesens, der praktisch der Pressechef der neuen gesamtdeutschen Regierung war, kam auf Charly zu. »Hören Sie«, sagte er, »Sie müssen Ihrem Freund Reiners Dampf machen. Ich brauche dringend den ersten Aufruf der Regierung – ich habe Verbindung mit zwei deutschen Sendern und mit fast allen großen Nachrichtenagenturen.« »Verehrter Herr Informationsminister«, sagte Charly. »Doktor Reiners tut, was er kann. Einigkeit kann er nicht herbeizaubern – die gibt es mehr im Deutschlandlied als im deutschen Wesen. Und schon gar nicht, wenn es um Ministerposten geht.« »Verehrter Charly, ich fürchte, Sie irren. Der Deutsche schwärmt für klare Befehle, wenn überzeugende Machtmittel dahinterstehen. Vielleicht sind Sie so liebenswürdig, der Tradition Ihres Landes treu zu bleiben und für amerikanischen Druck zu sorgen. In dieser 545
Situation wäre es endlich angebracht.« Charly versuchte, überlegen zu lächeln. Dann beschäftigte er sich mit Reiners’ Notizen, die dieser ihm vor der Sitzung übergeben hatte: es war die Konzeption zu einem Aufruf. Charly sollte sagen, was er davon halte. Aber Charly beherrschte mehr und mehr das beunruhigende Gefühl, daß die Zeit verging, ohne daß es den Männern, die in der Bibliothek verhandelten, gelang, die Regierung zusammenzubringen. Gabriele betrat die Halle. Sie sah sich suchend um und eilte dann auf Charly zu. »Es ist furchtbar!« sagte sie. »Was sollen wir nur tun? Sie kommen zu keiner Einigung.« »Das ist schlimm«, sagte Charly. »Ich bin erfreut!« »Warum sollten Sie erfreut sein?« fragte Gabriele verblüfft. »Weil Sie mit diesen Ihren Sorgen zu mir kommen, Gaby.« »Aber«, sagte sie, »das ist doch selbstverständlich – Sie besitzen das Vertrauen von Doktor Reiners.« »Und für Doktor Reiners schwärmen Sie, wie?« Gabriele schüttelte energisch den Kopf. »Ich bewundere seine politische Konzeption. Sein Plan ist klug und folgerichtig, er ist zur Zeit das einzig Mögliche. Aber allein drei Mann werden als Bundeskanzler angepriesen. Eine östlich orientierte Gruppe nennt den bisherigen stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR; eine andere Gruppe hat als ihren Kandidaten den Verkehrsminister der Bundesrepublik aufgestellt. Doktor Reiners besteht auf der Ernennung eines bisher politisch nicht hervorgetretenen Mannes, der aber einen guten Namen besitzt und auf allgemeine Anerkennung rechnen kann. Und das ist richtig! Professor H.. der 546
Atomwissenschaftler und Nobelpreisträger, kommt allem als Kanzler der neuen provisorischen gesamtdeutschen Regierung in Frage.« »Und was sagt der Professor selbst zu diesem Tauziehen?« »Nichts. Er ist zu selbstlos und sicherlich auch zu vornehm, um in Hyänenkämpfe einzugreifen.« »Und Doktor Reiners?« »Verfolgt mit Zähigkeit seinen Plan. Wenn es wirklich einem Menschen gelingen könnte, diese Regierung auf die Beine zu stellen, dann ihm. Aber langsam«, sagte Gabriele fast verzagt, »verliere selbst ich die Hoffnung auf eine glückliche Lösung. Und ich habe mich mit großem Vertrauen dieser Sache gewidmet.« Charly betrachtete sie mit Besorgnis; seine turbulente Unbekümmertheit schien in diesem Augenblick niemals existiert zu haben. »Gaby«, sagte er, »geht Ihnen das Ganze so nahe?« »Ja«, sagte sie und sah ihn mit großen, betrübten Augen an. »Sie sollten es gemerkt haben, Charly. Aber Sie scheinen das ja nicht spüren zu wollen.« »Lassen wir das im Augenblick«, sagte Charly nachdenklich. »Es steht also fest, daß Reiners da drin nicht weiterkommt?« »Er kommt zu langsam vorwärts!« »Und es scheint sicher, daß sein Plan gut und realisierbar ist?« »Er ist besser als alle anderen!« »Nun gut«, sagte Charly mit großem Entschluß. »Dann lassen wir doch diese Kuhhändler und Roßtäuscher tagen – und während sie sich heiser reden, werden wir so tun, als sei bereits alles entschieden. Wir 547
veröffentlichen einfach die von Reiners vorgesehene Kabinettsliste und übergeben den ersten Aufruf der Regierung, nach den Entwürfen des Doktors, die ich bei mir habe, der Weltöffentlichkeit.« »Das würden Sie tun, Charly?« fragte Gaby erregt. »Für dich, Gaby«, erklärte Charly, bereits wieder recht munter. Er fügte hinzu: »Nicht rot werden. An den Weltfrieden denke ich schon auch dabei. Sofern der noch zu retten ist.« 11.00 Uhr. Gefechtsstand des NATOOberbefehlshabers bei Bayonne, im Süden Frankreichs, an der Küste des Atlantiks. Es meldete sich der Befehlshaber Zentraleuropas. Sein Lagebericht hatte folgenden Wortlaut: Feindliche Angriffsspitzen haben Hamburg, Braunschweig, Kassel und Bayreuth erreicht. Im Norden stößt der Feind beiderseits Hamburg vorbei. Eine weitere Gruppe dreht auf Bremen ab. Die Angriffsrichtung der übrigen feindlichen Verbände bleibt unverändert. Die Bewegungen der eigenen Truppen vollziehen sich planmäßig. Nachdem der NATO-Oberbefehlshaber diesen Bericht erhalten hatte, arbeitete er mit seinem engeren Stab folgenden Befehl aus: Der Feind ist an der ganzen Front im zügigen Angriff. Seine Absicht, die Rheinlinie möglichst rasch zu erreichen, ist klar erkennbar. Der Befehlshaber Zentraleuropa wird angewiesen, bis morgen früh 6.00 Uhr die im Plan »Blau« festgelegte Linie zu halten. Die Luftstreitkräfte des zentraleuropäischen 548
Kommandobereichs führen um 12.00 Uhr MEZ einen zweiten Atomschlag mit Schwerpunkten auf Rostock, Magdeburg, Chemnitz und die Raketenabschußbasen im Raum Budweis. Der Befehlshaber Südeuropa wird angewiesen, die sowjetischen Raketenbasen in Albanien auszuschalten. Seit 10.00 Uhr MEZ ist der Angriffsbefehl an die amerikanischen und britischen strategischen Luftverbände ergangen. Die erste sowjetische Wasserstoffbombe hat um 11.17 Uhr MEZ London getroffen. 11.39 Uhr. Weisung des Präsidenten der Vereinigten Staaten an den Generalstab in Washington: Sowjetrussisches Gebiet ist erst dann mit Atombomben zu belegen, wenn einwandfrei sowjetische Angriffsabsichten auf das Hoheitsgebiet der USA erkannt sind. »Es ist eine Schande, gnädige Frau«, sagte Georg, der Kellner, der Constance Schubert im Hotel Metropol bediente. Er sagte das mit der gebotenen Diskretion, doch nicht ohne die erforderliche Deutlichkeit. »Finden Sie das nicht auch?« »Was meinen Sie, Georg?« fragte Constance. Sie sah aufmerksam zu dem jungen Mann hoch. Sie kannte ihn von früher her. Sie wußte, daß er deutscher Staatszugehörigkeit war. Er hatte sie stets mit besonderer Aufmerksamkeit bedient. »In Mittel- und Westdeutschland sind Atombomben gefallen. Ausgerechnet auf unser armes, unglückliches Land.« »Das kann nicht wahr sein«, sagte Constance entsetzt. »Das ist leider die bittere Wahrheit, gnädige Frau!« 549
sagte der Kellner Georg eindringlich. »Morgen sollte mein Urlaub beginnen. Ein ganzes Jahr habe ich mich darauf gefreut. Meine Frau ist mit den Kindern bereits vorausgefahren. Vater ist Weinbauer und lebt in der Nähe von Kitzingen, am Main. Warum mußte das alles passieren?« »Vielleicht handelt es sich um eine Übertreibung, Georg?« sagte Constance hastig. »Sie wissen doch, daß Zeitungen aufbauschen, daß in der Politik gelogen wird, daß sehr oft Dinge behauptet werden, die es gar nicht gibt?« »Atombomben«, sagte Georg, der Kellner, der völlig vergessen zu haben schien, daß es im Hotel Metropol außer Frau Constance Schubert noch andere Gäste gab, »können nicht mißverstanden werden.« Constance starrte in den dunkelroten, mit schweren Möbeln ausgestatteten Raum, der im Erdgeschoß neben der Bar lag. Hier pflegten die Gäste vor dem Mittagessen ihren Aperitif zu nehmen. Das grelle Licht des Tages, das trotz der dichten Vorhänge hineinfiel, ließ die Wände blutigrot erscheinen. Die Bilder an diesen Wänden, französische Landschaften darstellend, wirkten so verstaubt wie prunkvoll. Sie waren nicht mit den leuchtenden Farben der Bilder Henrys zu vergleichen: nicht mit dem verträumten, beseligenden Chagall, nicht mit Feiningers leuchtender Architektur, nicht mit der fraulichen Kraft der verinnerlichten Paula Modersohn-Becker. »Dieses arme Land«, sagte Georg, der Kellner. »Bluten und ausgesogen seit Jahrzehnten, von den Nazis betrogen, dann in zwei Teile gerissen: Die eine Seite von den Amis mit Dollars vollgepumpt und zu wohlhabenden Söldnern der Trusts und Konzerne 550
degradiert; die andere Seite von den Sowjets schamlos ausgeplündert und systematisch verdummt. Der Abgrund zwischen gefährlichem Reichtum und gefährlicher Armut war nicht mehr zu überbrücken. Mußten wirklich erst Atombomben fallen, um ihn zu beseitigen? Jetzt, im Untergang, werden beide Seiten endlich vereint sein.« Constance antwortete nicht. Während Georg sprach, erkannte sie klar, was sie bei dem letzten nächtlichen Gespräch mit Friebe nur vermutet hatte: Henry Engel wollte sie, um jeden Preis, in Sicherheit wissen; und damit das geschehen konnte, war er nicht einmal davor zurückgeschreckt, sie zu beleidigen und zurückzustoßen. Das, fand Constance beglückt, konnte nur ein Übermaß an Liebe fertigbringen! »Was sind wir denn schon?« fragte jetzt Georg. »Für viele nichts anderes als eine Nation, deren Soldaten halb Europa verwüstet haben; die Henker der Freiheit und die Vernichter von Millionen Juden. Niemand wird zögern, auf das Land, in dem solche Menschen leben, Atombomben fallen zu lassen!« Georg, der Kellner, war laut geworden. Einige Gäste betrachteten ihn unwillig. Einer der aufsichtsführenden Angestellten des Hotels eilte herbei, stellte sich neben ihn und sagte leise: »Sie vergessen sich, Georg!« »Lassen Sie mich doch in Ruhe!« rief Georg heftig. »Kommen Sie sofort mit«, ordnete der leitende Angestellte des Hotels an. »Ihr Dienst ist beendet.« »Georg«, fragte Constance Schubert mit spontanem Entschluß, »haben Sie einen Führerschein?« »Jawohl, gnädige Frau«, sagte der verblüfft. »Wollen Sie mit mir nach Deutschland fahren?« fragte Constance. 551
»Aber ja!« rief Georg. »Gut«, sagte Constance. Sie war jetzt fest entschlossen, Henry Engel gerade in dieser Situation nicht allein zu lassen. »Mein Wagen steht draußen, in der Nähe der Blumenuhr. Hier sind die Schlüssel. Wir fahren so bald wie möglich.« Um 12.00 Uhr meldete sich der Sender Hannover. Sein Sprecher verkündete: Achtung, Achtung! Hier spricht Hannover, der Sender der soeben gebildeten provisorischen gesamtdeutschen Regierung. Um 12.10 Uhr verlesen wir einen Aufruf. Die Ankündigung wurde, nur von einem kurzen Pausenzeichen unterbrochen – die Anfangstakte der 5. Symphonie von Ludwig van Beethoven – laufend wiederholt. Um 12.10 Uhr sagte der Sprecher: Soeben hat sich in einem kleinen Ort südlich von Hannover eine gesamtdeutsche Regierung konstituiert. Den Vorsitz dieser Regierung führt der Atomwissenschaftler und Nobelpreisträger Professor H. Seine Stellvertreter sind der Verkehrsminister der Bundesrepublik Deutschland und der stellvertretende Ministerpräsident der Deutschen Demokratischen Republik. Dieser Regierung gehören ferner Politiker und Generale aus beiden Teilen Deutschlands an. Die provisorische gesamtdeutsche Regierung erklärt die bisherigen Regierungen der Bundesrepublik und der DDR für nicht mehr aktionsfähig und für nicht mehr legitimiert, im Namen Deutschlands zu sprechen. Einziges Ziel der provisorischen gesamtdeutschen Regierung ist es, der entsetzlichen Menschenvernichtung sofort ein Ende zu setzen. 552
Zu diesem Zweck verkündet die provisorische gesamtdeutsche Regierung die Neutralität des deutschen Reichsgebiets in den Grenzen von 194;. Sie fordert Soldaten, Offiziere und Generale der deutschen Bundeswehr und der Volksarmee der DDR auf, den Kampf sofort abzubrechen und sich der provisorischen gesamtdeutschen Regierung zu unterstellen. Die provisorische gesamtdeutsche Regierung wendet sich an die Vereinten Nationen mit der Bitte, ihre Bemühungen zu unterstützen. Es geht um die Rettung Deutschlands! Wir rufen alle, die guten Willens sind! Hier spricht Hannover! Hier spricht Hannover, der Sender der provisorischen gesamtdeutschen Regierung. Wir bitten alle Sender in Deutschland, diesen Aufruf zu übernehmen. Diesen Aufruf verlas der Sprecher des Senders Hannover dreimal hintereinander. Dann erklang Beethovens 5. Symphonie. Hierauf wurden Aufrufe des Papstes, des indischen Ministerpräsidenten und des Nobelpreiskomitees verlesen. Danach wurde erneut dreimal hintereinander die erste Verlautbarung der provisorischen gesamtdeutschen Regierung verkündet. Um 12.30 Uhr und 12.45 Uhr übernahmen der Bayerische und der Süddeutsche Rundfunk diesen Aufruf aus Hannover, desgleichen der Ostberliner Deutschlandsender. Die übrigen westund ostdeutschen Rundfunkstationen schwiegen oder verbreiteten weiter Atomwarnungen und Marschmusik. »Ich sage mich von allen Leidenschaften los«, erklärte Henry Engel ohne das geringste Pathos, vielmehr mit einer Schlichtheit, die ebenso überraschend wie 553
überzeugend wirkte. »Du scheinst in diesem Augenblick wirklich zu glauben, daß dir das gelingen wird«, sagte Ruth Winters und sah ihn aufmerksam an. Friebe erschien in der Halle, in der sie saßen. Er nahm, ohne sich um sie zu kümmern, einige Bilder von den Wänden: den neu erworbenen Chagall, ein in leuchtendem Blaugrün und dampfendem Rot gehaltenes Nachtbild von Berlin, das Beckmann gemalt hatte, eine in wilden, zerfließenden Farben gemalte Badeszene von Corinth, einen Nolde, einen Sievogt, einen Dufy. »Du entwickelst dich langsam zum Kunstkenner, Friebe«, sagte Henry Engel nicht ohne Anerkennung. »Ich gehe einfach nach den Preisen«, erklärte Friebe, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. »Du willst deine Gemälde in Sicherheit bringen?« fragte Ruth Winters. »Wir richten uns einen Prunkkeller ein, gnädige Frau«, erklärte Friebe. »Wenn wir schon wie Maulwürfe leben müssen, dann wenigstens wie kunstsinnige Maulwürfe.« Er verschwand wieder, nicht ohne den pastellroten Bucharateppich mitgenommen zu haben, einen vergoldeten Buddha aus Siam und eine Negerplastik aus Liberia. »Warum bleibst du noch hier, Henry?« fragte Ruth Winters. »Du könntest, wenn du wolltest, bei Constance sein.« Henry Engel schüttelte heftig den Kopf. »Nein«, sagte er hart. »Ich erkenne meine Schuld und zögere nicht, für sie zu büßen. Hier ist meine Welt – hier, wo Menschen meine Sprache sprechen und so denken wie ich.« »Das sagst du, Henry – du, der du diesen Menschen 554
mißtraust. Du machst dich über sie lustig, für sie bist du ein Außenseiter, aber du kannst dich von ihnen nicht trennen!« »Wir alle«, rief Henry Engel, »sind miteinander verbunden, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Wir atmen die gleiche Luft, gehen über dieselben Straßen, sehen die gleichen Bäume wachsen …« »Das sagst du, Henry, der du die Welt liebst – die weite Welt! Frankreich und Schottland, Norwegen und Tirol, Neapel und Oslo!« »Hier, in diesem Land«, sagte Henry Engel, »habe ich Männer gefunden, die mir das Gefühl der Geborgenheit gegeben haben. Wir drei, Michael, Wolf und ich, haben uns in den letzten Jahren nur selten gesehen. Wir haben kaum jemals Briefe gewechselt. Aber es hat keine Sekunde gegeben, in der wir nicht wußten, daß wir füreinander da waren.« »Jetzt verstehe ich dich erst!« rief Ruth Winters. »Du wartest hier auf deine Freunde! Deshalb bist du hiergeblieben! Du glaubst, für sie der rettende Hafen zu sein, das letzte Leuchtfeuer im Herzen Europas, auf das sie zusteuern können.« »So ungefähr«, gab Henry Engel lächelnd zu. »Wir alle drei hatten gemeinsame Schmerzen und die gleiche Sehnsucht, über die wir nie gesprochen haben. Über manche Dinge, die man liebt, spricht man fast niemals offen, weil man dabei das Gefühl der Schamlosigkeit hätte. Aber jetzt, glaube ich, kann ich ungehemmt darüber reden: wir drei haben Deutschland geliebt!« »Nie ist mir etwas Derartiges bei Wolf Beck aufgefallen!« »Du weißt nicht, was Wolf für Deutschland in der Welt getan hat. Er hat im Ausland tausendfach die bedrohte 555
Existenz schuldloser Deutscher gesichert. Er hat mitgeholfen, Deutschland den Weltmarkt zu erobern. Er hat für viele hundert Millionen Devisen nach Deutschland gebracht. Aber er hat nie darüber gesprochen.« »Und du, Henry?« Henry Engel zuckte mit den Schultern. Über sein großflächiges Gesicht ging hilflose Traurigkeit. »Vorbei das alles«, sagte er, »vorbei. Es ist nicht nur die heimliche Sucht dieses Volkes nach heroischem Untergang, wobei dann millionenfacher Tod mit Worten wie Ehre und Treue bemäntelt und abgetan wird – es ist das geschäftige, rücksichtslose Geltungsbedürfnis, das mir den Rat gegeben hat. Durch nichts sonst ist es zu erklären, daß dieses Volk die nahezu 20 Millionen Menschen in der Ostzone dem Untergang auslieferte, ohne alles zu wagen, um den Brüdern mit brüderlicher Selbstlosigkeit Hilfe zu bringen.« »Du versuchst dich deiner Liebe zu Constance zu entziehen«, sagte Ruth Winters. »Aber du spürst, daß du es nicht kannst. Das macht dich so bestürzend grausam.« »Ich habe zu meinen Freunden zurückgefunden«, sagte Henry Engel. »Wenn wir diese Katastrophe überleben sollten, werden wir gemeinsam ein neues Leben anfangen. Wolf wird verwalten und zu Geld machen, was ich erfinde. Und Michael wird, nicht zuletzt für uns, endlich die Bücher schreiben, für die er bisher keine Zeit gefunden hat.« »Heißt das auch«, fragte Ruth Winters, »daß du jetzt zu mir Vertrauen haben willst?« »Du behauptest, Wolf Beck zu lieben?« »Mehr als mein Leben, Henry.« Das Flugzeug, in dem Wolf Beck saß, röhrte mit 556
mechanischer Eintönigkeit durch den blaßblauen Himmel. Wolf schlief erschöpft. Der Pilot starrte mit verkrampften Gesichtszügen auf die drei weißen Kondensstreifen, deren metallene Spitzen sich mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zu bewegten. Er sah die kurzen Zuckungen aufblitzenden Feuers. Er schob den Steuerknüppel mit rücksichtsloser Kraft nach vorne. Das Flugzeug erzitterte und drohte zu zerbrechen. Wolf Beck schreckte auf. Vor seinen Augen wurde die Wand neben ihm aufgerissen. Das Blut des Piloten spritzte in sein Gesicht. Dann umwallte ihn ein wild hervorbrechender Feuerball. Wolf Beck verbrannte, ehe noch das Flugzeug aufschlug. Der Bundeskanzler saß im Schatten eines Zeltdaches vor seinem Bunker in der Eifel. Er sah in das hügelige, bewaldete Land. Neben ihm stand der Innenminister, der zugleich der Verteidigungsminister war. »Herr Bundeskanzler«, sagte der Verteidigungsminister, »mein Befehl, den Sender Hannover durch Einheiten der Militärpolizei zu besetzen, konnte nicht ausgeführt werden. Das Funkhaus wird von zwei Kompanien der Division Burghardt geschützt, des gleichen Generals, der Mitglied der provisorischen Regierung ist. Außerdem hat sich der Führer der Militärpolizei geweigert, mit Waffengewalt gegen das Funkhaus vorzugehen.« Der Bundeskanzler sah in den flirrenden Himmel über dem friedlich daliegenden Land. Er betrachtete die Vögel, die unruhig über dem Waldgebiet kreisten. Der Verteidigungsminister betrachtete den Kanzler mit respektvoller Nachsicht. »Meine Politik«, sagte der Bundeskanzler, »war immer 557
auf Deutschlands Größe und Stärke gerichtet. Sie hätte uns in den Rang einer Weltmacht führen können. Wäre mir das gelungen, säße ich jetzt nicht hier. Aber eben weil ich jetzt hier sitze, nach einer Anstrengung und einem Wagnis sondergleichen, vermögen mir diese Leute in Hannover kaum ein Lächeln abzunötigen. Was wollen sie erreichen, was noch retten? Woran soll ich sie hindern?« »Herr Bundeskanzler«, sagte der Verteidigungsminister eindringlich, »wenn es uns nicht gelingt, diese sogenannte provisorische Regierung auszuschalten, verlieren wir jeden Einfluß auf die Bundeswehr – und allein damit schon, Herr Bundeskanzler, könnten wir unseren Alliierten so wertlos werden, daß sie uns unbedenklich fallen lassen.« »Die deutschen Generale«, sagte der Bundeskanzler, und es war, als spreche er allein zu sich, »sind immer schon bedauernswerte Geschöpfe gewesen. Sie haben niemals den rechten Maßstab für sich und ihren Beruf gefunden. Sie hielten sich gerne für den Nabel der Welt. Sie sind mit Phrasen aufgezogen worden. Am Ende glaubten sie dann, daß sie allein das personifizierte vaterländische Gewissen wären und die Ehre der Nation gepachtet hätten. In der Bundeswehr haben wir endlich dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen und der Sinn für solides Waffenhandwerk wieder geschärft wird.« »Der General jedoch, Herr Bundeskanzler, der der sogenannten provisorischen gesamtdeutschen Regierung angehört …« »Ist eine Ausnahme!« sagte der Bundeskanzler überzeugt. »Ich bedaure aufrichtig«, sagte der 558
Verteidigungsminister behutsam, »hier nicht zustimmen zu können, Herr Bundeskanzler. Bereits zwei Generale der Bundeswehr sitzen in dieser Regierung. Drei weitere haben sich mit ihr solidarisch erklärt. Andere werden vermutlich folgen.« »Verhaften Sie doch endlich diesen Doktor Reiners«, sagte der Bundeskanzler mit überraschender Schärfe. »Und Sie werden erleben, daß sich dieses sinnlose Schattenkabinett in ein Nichts auflöst!« Martin war auf seinem Fahrrad bis nach Nürnberg gekommen. Er hatte sich durch die hin- und herflutenden Kolonnen durchgearbeitet, sich durch verstopfte Straßen gezwängt. Er ging nun auf die Straße zu, in der das Mädchen wohnte, dem das Spielzeuggeschäft gehörte. Je weiter Martin in Nürnberg eindrang, um so ungehinderter konnte er sich bewegen. Menschen mit Koffern, Kartons und Kleiderbündeln liefen an ihm vorüber. Viele zogen kleine Transportwagen mit ihrer Habe oder schoben sie auf Fahrrädern oder in Kinderwagen vor sich her. Die Stadt wurde evakuiert. Straßenbahnen rollten an ihm vorüber. Stadteinwärts waren sie leer; stadtauswärts überfüllt mit Menschen und Gepäck. An ihren Endstationen warteten Omnibusse, um die Bevölkerung auf das freie Land hinauszufahren. Der Plan »leerer Raum« wurde durchgeführt. Martin wußte davon nichts. Er war erschöpft von seinem pausenlosen Anrennen gegen den Strom, von seinen Versuchen, Brücken, Städte und Verkehrsknotenpunkte zu umgehen. Er klopfte gegen die geschlossene Tür des Spielwarengeschäftes. Er mußte es mehrmals tun; und er tat es mit zunehmender Heftigkeit. 559
»Kennen Sie mich noch?« fragte er das Mädchen, das die Tür spaltbreit öffnete. »Aber ja!« rief sie. »Kommen Sie herein!« Er betrat den Verkaufsraum und durchschritt ihn, ihr folgend. Er gelangte in das Hinterzimmer, das zugleich Wohnraum, Werkstatt, Büro und Schlafzimmer des Mädchens war. Glieder von Puppen lagen herum, Strohfiguren und Keramikteller, die teilweise mit Figuren bemalt waren, wie sie Miro erdacht hatte. »Bleiben Sie hier?« fragte Martin. »Wo soll ich hin?« sagte das Mädchen. Sie forderte ihn auf, Platz zu nehmen. »Wollen Sie Kaffee trinken?« fragte sie. Martin nickte. Er ließ sich in einem seltsam gekrümmten, aber überraschend bequemen stahlblauen Sessel nieder. Er streckte die Beine von sich und atmete tief. »Noch gibt es elektrisches Licht«, sagte das Mädchen. »Aber ich habe vorsorglich Kerzen besorgt, auch Holz und Kohlen. Zwei Wochen werde ich damit reichen, wenn ich sparsam bin. Alle Gefäße, die ich besitze, sind mit Wasser gefüllt. Auch Konserven habe ich gekauft.« »Was ist hier los?« fragte Martin. »Die Bevölkerung ist aufgefordert worden, die Stadt zu verlassen«, sagte das Mädchen. »Aber ich kann doch nicht mein Geschäft preisgeben. Im Zentrum sollen schon Plünderungen vorgekommen sein.« »Plünderungen?« fragte Martin erstaunt. »O ja«, sagte das Mädchen. »Plünderer werden zwar bestraft, zwei oder drei sollen sogar an Ort und Stelle erschossen worden sein, aber die meisten kriegt man doch nicht. Und wenn sie es auch nicht gerade auf 560
Puppen und Spielzeug abgesehen haben – sie nehmen alles mit, sagt man, was ihnen in die Hände fällt.« »Sie sind sehr mutig«, sagte Martin mit aufmerksamer Bewunderung. »Vielleicht bin ich nur dumm«, sagte das Mädchen. »Wenn man sich in meinem Alter noch mit Geschöpfen aus Stoff, Draht, Gummi und Holzwolle beschäftigt, kann das wohl nicht ohne Folgen bleiben. Aber wie geht es Ihnen? Warum sind Sie so schnell wieder zurück? Wollten Sie nicht zu Ihrer Braut?« »Ja«, sagte Martin müde. »Aber ich habe sie nicht angetroffen. Sie war inzwischen zu mir gefahren, nach Sonneberg – und dort muß sie jetzt sein. Aber wie ich dorthin kommen soll, weiß ich nicht – ich weiß nur, daß ich es versuchen muß.« »Das tut mir leid«, sagte das Mädchen. »Ich wollte, ich könnte Sie trösten – aber ich weiß nicht, wie. Doch ich will mir Mühe geben; das verspreche ich Ihnen.« 14.30 Uhr. Gefechtsstand des Oberbefehlshabers der NATO, an der Küste des Atlantik. Der Befehlshaber der Landstreitkräfte in Zentraleuropa, ein deutscher General, wurde gemeldet. Er berichtet: »Herr General, ich komme mit Billigung des Herrn Befehlshabers für Zentraleuropa direkt zu Ihnen. Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen persönlich zu melden, daß bisher im ganzen sieben Kampfgruppen der Bundeswehr die befohlenen Bewegungen abgebrochen und die Kampfhandlungen eingestellt haben. Es handelt sich um zwei selbständig operierende Bataillone, drei Regimentsverbände und zwei Divisionsstäbe. Diese Einheiten haben gemeldet, daß sie sich der provisorischen gesamtdeutschen Regierung unterstellen.« 561
Der Oberbefehlshaber: »Herr General, Ihre Meldung überrascht mich nicht. Ich habe sie erwartet, wenn auch erst zu einem etwas späteren Zeitpunkt. Ihr Deutschen seid ein unglückliches Volk.« Der deutsche General, Befehlshaber der Landstreitkräfte in Zentraleuropa: »Herr General, ich schlage vor, gegen die verantwortlichen Offiziere ein Standgerichtsverfahren zu eröffnen. Die neu zu ernennenden Kommandeure, die ich bereits vorgesehen habe, könnten mit Hubschraubern an den Ort ihres Einsatzes geflogen werden.« Der NATO-Oberbefehlshaber: »Lassen Sie diese Truppen laufen, Herr General. Sie werden uns nicht schaden; und ich bezweifle, daß sie uns nützen könnten. Sie rennen in das eigene Verderben. Der Zeitpunkt ist vorauszusehen, an dem die Sowjets in Hannover sein werden. Dann gibt es keinen Sender mehr, und der ganze Spuk der gesamtdeutschen Regierung ist weggefegt. Oder glauben Sie etwa, daß diese Handvoll Idealisten von irgendwelchem Interesse für die Russen wäre?« Der deutsche General: »Da es um Deutschland geht, möchte ich nichts unversucht lassen, unsere Kampfkraft zu erhalten. Ich bitte um die zusätzliche Zuteilung von Luftlandeeinheiten.« Der NATO-Oberbefehlshaber: »Geht es wirklich noch um Deutschland? Oder wird hier nicht vielmehr der seit langem erwartete Kampf zwischen Ost und West ausgetragen?« Der deutsche General: 562
»Um es ganz präzis und mit der wohl jetzt gebotenen Offenheit zu sagen: ein Kampf zwischen Amerika und Rußland.« Der NATO-Oberbefehlshaber: »Ich habe bereits vor geraumer Zeit der Weltöffentlichkeit unmißverständlich erklärt: Die Sowjets können nicht zugleich Europa und Amerika überfallen, dazu reichen ihre Kräfte nicht aus. Sie haben Europa gewählt, und hier müssen wir sie schlagen. Sie können uns furchtbaren Schaden zufügen, aber das Endergebnis wird ihre eigene Vernichtung sein.« »Und die Vernichtung Europas!« sagte der deutsche General. Das sogenannte »Lager«, in das die Frauen und Kinder des Interzonenzuges »eingeliefert« wurden, bestand aus einem wiesenähnlichen, von Unkraut überwucherten Stück Land in der Größe eines Sportplatzes. An seinem Rand befand sich eine Baracke, die »Lagerkommandantur«. Das Ganze war mit einem zwei Meter hohen Stacheldrahtzaun umgeben. Mutter Schwiefert hatte für die »Kleinen« und für sich einen Platz ausgesucht, der eine dicke Grasschicht besaß. »Wenn wir hier bleiben müssen«, sagte sie, »wollen wir es wenigstens etwas weicher haben.« »Mutter«, sagte Isolde, »dürfen diese Leute das mit uns tun?« »Ich werde mich wehren«, sagte Peter dumpf. »Du wirst dich klein machen und deinen Schnabel halten«, gebot Mutter Schwiefert. »Ein Held kann man nur unter bestimmten Voraussetzungen sein. Auch du, Isolde, mußt auf alles gefaßt sein und den Menschen selbst das Ungeheuerlichste zutrauen. Wenn sie erst einmal ihre Hemmungen verloren haben, sind sie zu 563
allem fähig.« Die Frauen und Kinder legten ihre Sachen auf die Erde und hockten sich daneben. Sie waren von dem Marsch hierher völlig erschöpft. Wenige Stunden hatten genügt, sie nahezu willenlos zu machen. »Wir brauchen Wasser!« riefen einige Frauen. »Wasser!« »Haltet die Schnauzen!« schrie ein noch junger Bursche, der sich um seine Kombination einen Gurt geschnallt hatte, an dem eine Pistolentasche baumelte. Er pendelte drohend einen Knüppel in der Rechten. Und mit diesem Knüppel schlug er einer Frau auf die Hände, die sie in das Drahtgitter des Tores gekrallt hatte. »Hört mal zu!« sagte jetzt dieser Bursche fordernd. »Dieses Lager untersteht mir. Ich dulde kein Geschrei. Wenn ihr was wollt, dann sagt es einzeln, laut und deutlich.« Die Frauen starrten ihn an. Er stand, den Knüppel unter den Arm geklemmt, vor ihnen. Hinter ihm hielten sich zwei Mann mit Gewehren auf. Die Frauen sahen Stacheldraht, die Baracke der »Lagerleitung«, versumpfte Wiesen, ein Waldstück im Hintergrund, einen Feldweg, der dorthin führte – und sonst nichts; keine menschliche Siedlung schien sich in der Nähe zu befinden. »Können wir Wasser bekommen?« fragte eine Frau. »Nur Trinkwasser«, sagte der Bursche. »Und das erst in ein paar Stunden. Wasser ist knapp. Zum Waschen wird keines geliefert.« »Wir haben Hunger«, sagte eine andere Frau. »Das schadet euch nichts«, erklärte der Bursche ungerührt. »Die meisten von euch sind sowieso zu fett. 564
Bisher habt ihr immer nur gefressen. Aber vielleicht gibt es abends Verpflegung.« »Wo können wir austreten?« »Macht euch in die Hosen oder hockt euch in eine Ecke«, sagte der Jüngling. »Oder glaubt ihr etwa, wir bauen euch hier eine Serie Wasserklosetts hin?« Die Frauen schwiegen teils verstört, teils wütend und empört. Der junge Bursche musterte sie mit verkniffenem Lächeln. Einer der Bewaffneten hinter ihm, der dem Transport hierher voranmarschiert war, flüsterte ihm grinsend etwas zu. Der revolvertragende Jüngling blickte zu Isolde hinüber. Mutter Schwiefert bemerkte diesen Blick und stellte sich breit vor ihre Tochter. Peter schnaufte erregt. »Warum sind wir hier?« fragte eine Frau. »Wenn ihr den genauen Grund wissen wollt«, sagte der Bursche grinsend, »dann sollt ihr ihn auch hören: eure Soldaten haben uns angegriffen und eure Amerikaner schmeißen Atombomben auf unser Land. Hunderttausende sind schon tot. Auch die Stadt, in der meine Eltern leben, ist ausradiert. Das ist eure Schuld!« »Blödsinn!« rief Peter laut. »Sei still!« sagte Mutter Schwiefert warnend. »Bist du lebensmüde, du Knabe?« fragte der bewaffnete Bursche und kam langsam, eine Hand an der Revolvertasche, auf Peter zu. »Kein Wort!« flüsterte Mutter Schwiefert beschwörend. Der Jüngling zog seinen Revolver und hielt ihn spielerisch auf der flachen Hand. Dabei betrachtete er Peter herausfordernd und spöttisch. Dann glitt sein Blick seitwärts, auf Isolde. »Ich brauche ein paar Freiwillige zum 565
Kartoffelschälen«, sagte er. Einige Frauen meldeten sich. Der Bursche sah sie nur flüchtig an. Er wandte sich erneut Isolde zu. »Du willst nicht?« fragte er. »Nein!« rief Mutter Schwiefert entschieden und setzte sich vor ihre beiden Kleinen. »Na schön«, sagte der junge Bursche und gab sich belustigt. »Wir haben noch viel Zeit, überlege es dir, Kleine. Es wird dein Schaden nicht sein. Früher oder später wirst du bestimmt kommen. Aber nur freiwillig, das bitte ich mir aus – anders macht die Sache keinen Spaß.« 16.00 Uhr. New York. UNO-Gebäude. Die Vollversammlung tagte in Permanenz. Die Delegationen der kriegführenden Mächte hatten den Raum verlassen. Der Generalsekretär erklärte, daß dadurch die Beschlußfähigkeit des Hauses nicht gefährdet sei. Vor einer halben Stunde war der Aufruf der provisorischen gesamtdeutschen Regierung bekannt geworden. Die Vollversammlung nahm einstimmig eine Resolution an, mit der diese provisorische gesamtdeutsche Regierung anerkannt wurde. Der letzte Satz dieser Resolution lautete: Die Vollversammlung stellt das für neutral erklärte Deutschland unter den Schutz der Vereinten Nationen. »Es ist geschafft, und es ist vorbei«, sagte Michael Reiners zu Charly und Gabriele. Sie standen in dem großen Park, der das Landhaus bei Hannover umgab, in dem sich die provisorische gesamtdeutsche Regierung gebildet hatte. »Lassen Sie sich unter keinen Umständen 566
ausschalten, Doktor«, sagte Charly. »Wälzen Sie alle Schuld auf mich, stempeln Sie mich zum alleinigen Sündenbock. Ich habe ein dickes Fell.« »Er hat uns entscheidend geholfen«, sagte Gabriele spontan. »Wie können wir ihm danken?« Michael Reiners lächelte und betrachtete die beiden mit freundschaftlicher Zuneigung. Charly legte wortlos seinen Arm um Gabriele. Beide lächelten glücklich, vermieden es aber, sich anzusehen. Doktor Reiners sah jetzt in den fahlblauen, glühenden Himmel über den alten Bäumen des Parks. »Nach unseren Informationen«, sagte Michael Reiners schließlich, »können die sowjetischen Truppen in einer Stunde hier sein, Was werdet ihr beide tun?« »Wir werden uns in die Büsche schlagen«, sagte Charly. »Durch die Büsche hindurch, westwärts, nach Frankreich. Ich habe Freunde in Nancy, Orleans und Bordeaux.« Reiners nickte zustimmend. »Das Beste, was ihr tun könnt«, sagte er. »Ich gebe euch noch die Adresse meines Freundes Henry Engel und einige Adressen, unter denen ihr Wolf Beck erreichen könnt.« »Kommen Sie mit, Doktor!« rief Charly. Michael Reiners schüttelte den Kopf. »Die Regierung ist gebildet«, sagte er. »Zwar durch den Zwang der Situation, mit viel List und nicht gerade sehr rücksichtsvoll – aber sie ist gebildet worden. Damit ist meine Aufgabe hier beendet. Ich werde nicht mehr gebraucht; ganz abgesehen davon, daß ich kaum noch erwünscht bin. Die Regierung bereitet ihre Umsiedlung nach Münster über Bielefeld vor. Von dort aus hat sie nicht mehr weit nach Frankreich.« 567
»Und was werden Sie tun, Herr Doktor Reiners?« fragte Gabriele besorgt. »Mein Weg ist vorgezeichnet«, sagte Michael. »Die provisorische gesamtdeutsche Regierung ist bisher nur von Bonn und von Pankow aus abgelehnt worden. Die Vereinten Nationen haben sie bestätigt. Aber weder die Vereinigten Staaten noch die Sowjetunion haben bisher dazu Stellung genommen. Das aber könnte bedeuten, daß die beiden kriegführenden Mächte an einer dritten deutschen Kraft selbst jetzt nicht uninteressiert sind.« »Doktor!« rief Charly eindringlich. »Tun Sie das nicht!« »Es bleibt mir keine andere Wahl«, sagte Reiners leise. »Was heißt das?« fragte Gabriele. »Das heißt«, sagte Charly grollend, »daß der Doktor den Sowjets nicht ausweichen will.« »Ja«, gestand Reiners offen. »Ich werde hierbleiben und mich den sowjetischen Truppen ergeben. Ich werde dann versuchen, dort Einfluß zu gewinnen – es gibt führende Sowjetpolitiker, die mich kennen und die mich zumindest anhören werden.« »Das ist gefährlich, Doktor.« »Ach, Charly«, sagte Michael Reiners mit müdem Lächeln, »wer ist denn heute nicht gefährdet! Eine einzige Atombombe kann im Bruchteil einer Sekunde Hunderttausende vernichten. Es gibt keinen Quadratmeter Boden mehr in Europa, den der Krieg nicht erreichen kann. Bald wird es Gebiete geben, in denen jeder Atemzug gefährlich ist.« Charly sah Reiners wortlos und nachdenklich an. Gabriele stand dicht neben ihm. Die Sonne schien den kühlen Park in ein atembeklemmendes, dumpf brütendes 568
Sumpfgelände verwandelt zu haben. »Warum tun wir das alles, Doktor!« rief Charly schließlich. »Warum?« fragte Michael Reiners leise, kaum vernehmbar. »Für Deutschland? Für Europa? Für den Frieden der Welt? Vielleicht nur, um als Mensch bestehen zu können? Ist das nicht sinnvoll?« »Doktor«, sagte der Amerikaner, »ich möchte Ihr Freund sein.« »Das bist du bereits, Charly«, sagte Michael Reiners. Er nickte ihm und Gabriele zu und ging davon. Um 17.00 Uhr schwieg der Sender der provisorischen gesamtdeutschen Regierung. Die sowjetischen Truppen hatten Hannover besetzt. Um 17.00 Uhr wurde eine Wasserstoffbombe auf Paris abgeworfen. Sie explodierte in einer Höhe von 500 Metern über dem Louvre. Knapp eine Sekunde später hatte die Stadt Paris aufgehört zu existieren. Um 17.00 Uhr meldeten die restlichen deutschen Rundfunksender folgendes: In Abwehr der sowjetischen Erdangriffe haben Verbände der NATO-Luftwaffe Hannover, Kassel und Braunschweig mit Atombomben belegt. Durch die Kampfhandlungen und den Atombeschuß von beiden Seiten ist jetzt auch das Passieren folgender Räume gefährlich geworden: Lüneburg-Rothenburg-Soltau Celle-Hannover-Hildesheim Marburg-Fulda Bamberg-Bayreuth-Coburg. Maria fuhr auf ihrem Rad, wie gehetzt, Nürnberg zu. 569
Die Straße von Bamberg über Erlangen, die sie benutzte, war blockiert von Fahrzeugen. Sie sah starre, bleiche, angstverzerrte und wutbebende Gesichter. Sie hörte Schreien, Fluchen und Weinen, das Würgen der Motoren und das Heulen der Hupen. Sie mußte sich streckenweise, das Fahrrad schiebend, neben der Hauptstraße halten. Sowjetische Flugzeuge beschossen die festgefahrenen Kolonnen mit Phosphormunition. Mehrere Fahrzeuge explodierten und brannten aus. Eine Kreuzung wurde von amerikanischen Panzern mit deutscher Besatzung »freigemacht«. Die Panzer rollten auf die Fahrzeuge zu, rammten sie und schoben sie von der Fahrbahn in die Gräben oder auf das freie Feld. Einige Menschen gerieten unter ihre Raupenketten und wurden zermalmt. Maria stolperte vorwärts. Sie vermochte kaum mehr zu denken. Sie wußte nur, daß sie nach Süden mußte – in die Richtung, in der Schongau lag. Wieder schrien Menschen auf. Eine Kette sowjetischer Flieger brauste heran und entleerte die Magazine. Winzige Fontänen des Todes sprühten auf. Maria ließ ihr Rad fallen und warf sich in ein Erdloch. Sie preßte sich an den Boden. Sie hatte das Gesicht zwischen die Arme vergraben, um nichts zu sehen. Und doch schien es ihr plötzlich, als umgebe sie blendende Helligkeit. Hilflos und erschöpft lag sie lange Zeit da. Es war ihr, als werde sie mit mächtigem, anhaltendem Druck auf die Erde gepreßt. Sie weinte lautlos, mit zuckendem Körper. Ihr Trommelfell schien zu zerbersten. Sie schrie: »Martin! Martin! Martin!« Als sie endlich wieder die Kraft fand, aufzustehen, sah 570
sie am rückwärtigen Horizont eine riesenhafte dunkle Wolkensäule, die sich zu dehnen und auszubreiten schien, ohne an Dichtigkeit zu verlieren. Diese Wolkensäule trug eine dachartige Krone – sie war ein gigantischer Pilz, der himmelwärts schwebte. 18.00 Uhr. Das Oberkommando der NATO gab bekannt: Die Operationen der verbündeten Armeen verliefen erfolgreich. Dem an der ganzen Front mit überlegenen Erdstreitkräften angreifenden Gegner wurden schwere Verluste zugefügt. Die verbündeten Truppen verteidigen sich auf der Nord-Süd-Linie von Bremen über Minden, Hameln, Höxter, Warburg, Marburg, Frankfurt, Würzburg, Nürnberg, Regensburg. In einem Zelt, in der Nähe von Göppingen, saßen zwei Amerikaner in Zivil. Sie hatten vor sich eine Liste liegen, die zwölf Namen enthielt. Neun von diesen Namen waren bereits durchgestrichen. »Bleiben noch drei Mann übrig«, sagte der eine. »Diese drei aber«, sagte der andere, »weigern sich, freiwillig mitzukommen.« Die Amerikaner sahen sich kurz an. Dann sahen sie zu der Zeltöffnung hinaus, auf einen Platz, der von dichtem Gebüsch umstanden war. In diesem Gebüsch befanden sich, gut getarnt, sechs Hubschrauber. Die dazugehörige Mannschaft war nicht zu sehen. Die beiden Amerikaner betrachteten wieder ihre Liste. Einer der drei Namen, die noch nicht durchgestrichen waren, lautete: Henry Engel. Er stand an vorletzter Stelle. »Sind wirklich alle Möglichkeiten erschöpft worden?« 571
fragte der eine der Amerikaner gedehnt. Der andere, offenbar untergeordnete, nickte. »Zureden hat nichts geholfen. Meine Agenten haben alle Summen geboten, die sie als oberste Grenze nennen dürfen. Diese Herren wollen nicht in Amerika arbeiten – sie wollen es hier tun.« »Ihre Ansicht kann sich inzwischen geändert haben«, sagte der Frager. »In den letzten 24 Stunden ist Entscheidendes passiert. Jedenfalls haben wir den Auftrag, diese zwölf Mann nach Amerika zu bringen. Sie gehören zu den für uns wichtigsten Wissenschaftlern, die in Deutschland leben. Wir müssen sie haben.« »Mit Gewalt?« »Wenn es durchaus nicht anders geht! Stellen Sie drei Expeditionsgruppen zusammen. Eine übernehme ich, die andere der Kommandeur der Hubschrauber, die dritte Sie! Ich werde mich persönlich um diesen Herrn Engel bemühen. Spätestens morgen vormittag müssen alle Leute reisefertig sein.« 19.00 Uhr. Das Oberkommando der NATO gab bekannt: Verbände des strategischen Luftkommandos der USA und England haben mit Wasserstoffbomben Vergeltungsangriffe gegen die Sowjetunion geflogen. Interkontinentale Atomraketen wurden gegen strategische Ziele in der Sowjetunion eingesetzt. Sowjetische Wasserstoffbomben trafen London, Paris und Ziele auf dem amerikanischen Kontinent. »Jetzt«, sagte Henry Engel, »habe ich keine Hoffnung mehr. Die Würfel sind gefallen – das heißt, die entscheidenden Atombomben sind gefallen, auf das Gebiet der Sowjetunion. Nun gibt es kein Zurück mehr. Das Ende wird die Vernichtung sein.« 572
»In gewisser Weise«, gab Friebe zu bedenken, »sind wir hier so gut wie atomsicher. Das nächste lohnende Ziel, München, liegt mehr als hundert Kilometer von uns entfernt. Und unser Atombunker ist eine unvergleichliche Prunkhöhle geworden.« »Was hält uns hier noch!« rief Ruth Winters heftig. »Warum fliehen wir nicht?« Friebe öffnete unverzüglich die Tür. »Bitte, gnädige Frau«, sagte er. »Ich bleibe hier«, sagte Henry Engel entschieden. »Ich muß auf meine Freunde warten.« »Glaubst du denn noch immer nicht daran«, sagte Ruth Winters, »daß in Genf Constance Schubert auf dich wartet?« »Friebe«, sagte Henry Engel nach kurzem Zögern. »Ich entlasse dich aus meinem Dienst. Du kannst den zweiten Wagen nehmen. Du kannst alles nehmen, was du willst. Frau Winters wird dich begleiten.« »Tut mir leid«, sagte Friebe rauh, »aber ich lasse mich nicht so einfach entlassen – zumindest so lange nicht, wie unser Vorrat an Burgunder reicht. Daß Sie mir so etwas zumuten, Chef, schmerzt mich tief. Ihre Schuld, wenn ich mich jetzt besaufe.« Damit ging Friebe und ließ Henry und Ruth allein. »Auch für dich«, sagte Engel, »gilt mein Angebot. Alles, was du haben willst, steht dir zur Verfügung. Ich besitze sogar noch ein paar tausend Dollar in bar – sie gehören dir, wenn du willst. Entscheide dich.« Ruth Winters sah ihn groß an. Dann sagte sie: »Ich bleibe hier!« 20.00 Uhr. Das Oberkommando der NATO gab bekannt: 573
Sowjetische Truppen sind unter Mißachtung der österreichischen Neutralität - von der Tschechoslowakei und Ungarn aus in die Bundesrepublik Österreich eingedrungen. Michael Reiners wurde dem sowjetischen General vorgeführt, in dessen Bereich er gefangengenommen worden war. Ein Abwehroffizier begleitete ihn. Sie standen an einer Funkstelle. »Doktor Reiners«, sagte der Abwehroffizier, »wünscht Verbindung mit dem Außenministerium, Deutschlandabteilung.« Der sowjetische General antwortete hierauf nicht. Er betrachtete den Wagenpark, der ihn umstand, mit forschendem Mißtrauen. Der Anblick seiner Panzerfahrzeuge aber schien ihn zu versöhnen. »Unsere Panzer sind besser als die der Amerikaner«, sagte er – »es sind die besten Panzer der Welt.« »Davon verstehe ich nichts«, sagte Michael Reiners. »Was halten Sie von Stalin?« fragte der General unvermittelt. »Ich habe Stalin persönlich gekannt«, sagte Reiners ausweichend. »Ist das wahr?« fragte der General überrascht. »Sie kannten ihn, haben vielleicht sogar mit ihm gesprochen?« »Mehrmals«, sagte Reiners. »Ich hatte zwei offizielle Unterredungen mit ihm.« »Können Sie das beweisen?« fragte der grundsätzlich mißtrauische General. »Fragen Sie im Außenministerium nach«, empfahl Reiners suggestiv. »Und sagen Sie dort, ich hätte wichtige Informationen zu geben und entscheidende 574
Vorschläge zu machen.« Der General betrachtete Reiners lauernd. Dann sagte er nach plötzlichem Entschluß: »Wenn ich das tue, überschreite ich meine Kompetenzen. Doch ich will es wagen. Wenn Sie mich aber getäuscht haben sollten …« »Dann kostet das meinen Kopf«, ergänzte Reiners. »Das weiß ich. Die Spielregeln sind mir bekannt.« 21.00 Uhr. Das Oberkommando der NATO gab bekannt: Die jugoslawische Volksrepublik hat den sowjetischen Truppen das Durchmarschrecht gewährt. Die im Atlantikpakt verbündeten Regierungen haben der jugoslawischen Regierung ein bis 24.00 Uhr befristetes Ultimatum gestellt, diese Maßnahme rückgängig zu machen. Im Falle der Nichterfüllung der Forderungen der Atlantikpaktmächte wird die NATO Jugoslawien als Feindgebiet ansehen. Die Frauen und Kinder, die interniert worden waren, lagen auf der jetzt feuchten Erde und horchten in die Nacht. Aus der Baracke, in der die »Lagerleitung« untergebracht war, ertönte Grammophonmusik, schrill und blechern. Eine trunkene Stimme sang einen unverständlichen Text. Eine Frau kreischte auf. Peter und Isolde lagen dicht nebeneinander. Mutter Schwiefert lag auf dem Rücken und starrte in den Himmel. Eine Kranke in ihrer Nähe stöhnte vor Schmerzen. »Sie soll still sein«, rief eine Frau heftig. »Mein Kind kann nicht schlafen.« Peter und Isolde drängten sich aneinander. So nahe 575
waren sie sich noch niemals gewesen. Ihr Atem vermischte sich. Die Tür der Baracke wurde aufgestoßen; heller Lichtschein fiel in breiten Streifen auf das Feld. Eine Frau, deren Kleid weit aufgerissen war, stürzte hinaus. Zwei Männer liefen ihr nach, holten sie ein und zerrten sie mit brutalen Griffen wieder hinein. Peter spürte, daß Isolde zu zittern begann. Er preßte sie an sich. Er sagte: »Niemals werde ich zulassen, daß dir so etwas passiert. Niemals!« »Lieber würde ich sterben«, sagte Isolde tonlos. »Vorher sagen das alle«, sprach Mutter Schwiefert mit überraschend klarer Stimme, »aber nachher tut das kaum eine – und das ist richtig so! Der Mensch kann mehr ertragen, als er glaubt. Er kann geschändet und entehrt werden und sterben wollen – und dennoch überleben. Und dann sieht er, daß sein Körper verletzt worden ist, aber nicht das, was man Seele nennt.« »Mutter«, sagte Isolde zitternd, »ich habe Angst.« 22.00 Uhr. Das Oberkommando der NATO gab bekannt: Ein Versuch der sowjetischen Schwarzmeerflotte, die Durchfahrt durch den Bosporus zu erzwingen, wurde von türkischen Streitkräften erfolgreich abgewiesen. An der bulgarisch-türkischen und an der sowjetischtürkischen Grenze sind schwere Kämpfe im Gange. Im nordeuropäischen Raum herrscht Ruhe. Martin saß in Nürnberg in einem Keller. Trübes Licht fiel von einer Lampe in den dicht mit Kisten, Kartons und Möbeln vollgestopften Raum. Das Mädchen, dem das Spielwarengeschäft gehörte, das sich über diesem Keller befand, hockte zu seinen Füßen und sortierte 576
Gliedmaßen von Puppen. »Der Puppenkopf ist das Wichtigste – nicht wahr?« fragte sie. »Der Kopf, das Haar, die Bekleidung! Rumpf und Gliedmaßen werden seit Jahrzehnten fast immer nach dem gleichen Schema hergestellt.« Martin nickte. »Wissen Sie, was ich mir seit Jahren wünsche?« fragte das Mädchen. »Ein Material für Puppenköpfe, das geschmeidig und leicht zu bearbeiten ist – das aber nach der Bearbeitung elastisch und bruchsicher bleibt. Wenn ich dieses Material bekommen könnte, würde ich Hunderte von individuellen Puppen anfertigen.« »Das konnten Sie?« fragte Martin. Das Madchen, das mit Hosen und Pullover bekleidet zu seinen Fußen hockte, nickte. »Das wäre die Lösung«, sagte sie überzeugt. »Puppen, denen man nicht die maschinelle Fertigung sofort ansieht – individuelle, persönlich gestaltete Puppen!« »Seltsam«, sagte Martin und sah zum vernagelten und mit Holzwolle verstopften Kellerfenster hoch, »daß Sie sich in dieser Situation mit Spielzeug beschäftigen.« »Ich tue es doch nur«, sagte das Mädchen nahezu heftig, »um nicht immer wieder anderen Gedanken zu verfallen.« »Können wir denn überhaupt an etwas anderes denken, als an das, was jetzt draußen vorgeht?« fragte Martin. Sie horchten in die Nacht. Die Stadt schien ausgestorben zu sein. Die Menschen, die noch in ihr lebten, hatten sich in den Kellern vergraben. Nur noch vereinzelte Polizisten patrouillierten an den dunklen Häusern vorbei. Ein Fahrzeug fuhr langsam durch die einsamen 577
Straßen. Eine Stimme, die aus einem Lautsprecher kam, brüllte durch die Nacht: Achtung, Achtung! Verlassen Sie die Stadt. Nehmen Sie nur das notwendigste persönliche Gepäck mit. Über das zurückbleibende Eigentum wachen die verstärkten Polizei- und Luftschutzverbände. Das Mädchen im Keller lachte bei dieser Ankündigung verächtlich auf. Das Licht flackerte unruhig. Martin starrte weiter zum Fenster empor. Die brüllende Stimme entfernte sich mehr und mehr. Sie rief: Achtung, Achtung! Bürger von Nürnberg! Auch auf diese Stadt kann ein Angriff mit Atombomben erfolgen. Bringt euch in Sicherheit. An allen Ausgangsstraßen der Stadt, nach Süden und nach Westen, stehen Omnibusse, Lastwagen und Personenwagen bereit, um die Bevölkerung 30 bis 50 Kilometer weiter in sichere Gebiete zu transportieren. Achtung, Achtung! Bürger von Nürnberg! Macht euch keine Sorgen um Notunterkünfte. Alles steht bereit. Alle Schulen, Kirchen, Gaststätten, öffentliche Gebäude und Lagerhäuser in der Umgebung der Stadt sind beschlagnahmt und zu eurer Verfügung. Verlaßt Nürnberg sofort! »Vielleicht sollten auch wir dieser Aufforderung nachkommen?« fragte Martin. »Ich bleibe hier«, sagte das Mädchen entschieden. »Hier befindet sich alles, was ich besitze, was ich mir in zehn Jahren erarbeitet habe. Ich trenne mich nicht davon. Aber selbstverständlich halte ich Sie nicht zurück.« »Ich kann Sie jetzt, mitten in der Nacht, doch wohl nicht gut allein lassen«, sagte Martin behutsam. »Sie 578
waren sehr gastfreundlich. Aber morgen früh muß ich weiter – man wartet auf mich.« »Morgen früh können vielleicht schon die Russen hier sein.« Martin nickte. »Dann befinden wir uns hinter der Front«, sagte er, »und die Möglichkeit, Sonneberg zu erreichen, wird für mich dadurch greifbarer. Ich will nichts anderes!« 23.00 Uhr. Das Oberkommando der NATO gab bekannt: West-Berlin ist nach heldenhaftem Kampf der amerikanischen, englischen und französischen Streitkräfte um 21.00 Uhr von sowjetischen Truppen erobert worden. Die drei alliierten Stadtkommandanten sind inmitten ihrer Soldaten gefallen. Der Gegner hat die Bevölkerung dieser tapferen Stadt in unvorstellbar grausamer Weise behandelt. Selbst bereits eroberte Häuserblocks sind mit allen ihren Insassen in die Luft gesprengt oder angezündet worden. Der Gegner gibt vor, daß es sich um einen Akt der Notwehr handelt. Die Berliner Bevölkerung habe in die Kämpfe eingegriffen und viele sowjetische Soldaten heimtückisch ermordet. Das ist eine Lüge. Wahr ist vielmehr, daß zum Angriff auf den demokratischen Sektor dieser Stadt Straf- und Bewährungsregimenter aus dem asiatischen Raum angesetzt worden sind. Diesen kriminellen Elementen wurde »freie Bahn« gegeben. Das Ergebnis ist eine endlose Kette unvorstellbarer Gewaltverbrechen. Der Wagen, den Georg, der Kellner aus dem Hotel Metropol, steuerte, hielt an der Schweizer Grenze. Constance stieg aus, atmete tief und starrte in die Nacht. Dort drüben, sagte sie sich, liegt Deutschland – dort ist 579
Henry Engel. Mehrere Zollbeamte versammelten sich um den Wagen. Sie schienen ihn und seine Insassen zu bestaunen, als hätten sie noch niemals vorher etwas Derartiges gesehen. Einige von ihnen schüttelten verwundert die Köpfe. »Können wir passieren?« fragte Constance. Die Zollbeamten starrten sie an. »Sie wollen nach Deutschland?« fragten sie. Und dann rief einer in die Nacht hinein, dorthin, wo neben der Straße schweizerische Soldaten auf Wache standen: »Die wollen nach Deutschland!« »Ist das verboten?« fragte Georg, der Kellner, streitbar. Ein älterer Herr in Zivil erschien; die Zollbeamten wurden bei seinem Anblick auffallend leise. Der Herr, der unverkennbar die biedere Ehrbarkeit des guten Schweizer Bürgers ausstrahlte, stellte sich als Leiter der Zollstation vor und ersuchte Constance und Georg, ihm in sein Büro zu folgen. Hier angekommen, nahmen Constance und Georg Platz. Der Schweizer setzte sich ebenfalls. »Darf ich Ihnen irgendeine Erfrischung anbieten?« fragte er höflich. Constance verneinte; Georg tat das, wesentlich entschiedener, ebenfalls. »Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte er. Der Schweizer antwortete hierauf nicht. Er betrachtete Constance zunächst mit forschender Aufmerksamkeit, sodann mit spürbarer Anteilnahme. »Gnädige Frau«, sagte er sodann, »wollen Sie wirklich nach Deutschland?« Constance nickte. Georg fragte: »Wollen Sie uns etwa Schwierigkeiten machen?« Der Schweizer Beamte in Zivil sah unentwegt 580
Constance an. »Ich habe lediglich Anweisung, niemand ohne Sondergenehmigung in die Schweiz hereinzulassen. Hinaus kann jeder, der das will. Aber in den letzten Stunden wollte das niemand mehr.« »Wir wollen!« rief Georg entschlossen. »Gnädige Frau«, sagte der Schweizer, »offiziell habe ich nichts weiter zu tun, als die bisher üblichen Zollformalitäten zu erledigen.« »Dann tun Sie das doch!« sagte Georg. »Wir wären Ihnen wirklich sehr dankbar«, versicherte Constance, »wenn Sie uns passieren ließen.« »Offiziell steht dem nichts im Wege«, versicherte der Schweizer mit ein wenig umständlicher Fürsorglichkeit. »Aber ich erlaube mir, gnädige Frau, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie sich in ein gefährliches Abenteuer begeben. Nur ein paar Meter von hier befindet sich die deutsche Zollstelle. Dahinter finden Sie nichts als verstopfte Straßen, Not, Elend und Panik. Wenn Sie die Grenze passiert haben, werden Sie nicht hundert Meter weit fahren können. Sie werden auf Gewalt und Verzweiflung stoßen. Sie erwartet nichts als Gefahr.« »Ich bitte Sie dennoch, uns passieren zu lassen«, sagte Constance unbeirrbar. »Nicht wahr, Georg?« »Selbstverständlich«, sagte der. »Ich habe Sie gewarnt«, sagte der Schweizer betrübt. »Mehr kann ich nicht tun.« Die noch intakten westdeutschen Sender strahlten pausenlos – bis um Mitternacht – eine Warnung vor atomgefährdeten Gebieten in den Äther. Diese Warnung hatte folgenden Wortlaut: Von Atomangriffen getroffen und daher in einem Umkreis von 50 Kilometern nicht zu betreten sind 581
folgende Städte: Hamburg – Bremen – Hannover – Braunschweig – Kassel – Dortmund – Essen – Düsseldorf – Köln – Frankfurt – Mannheim – Ludwigshafen und Heidelberg. Durch Fernraketen oder während der Kämpfe durch Raketen und Atomartillerie getroffen und daher im Umkreis von 50 Kilometern nicht zu betreten sind folgende Gebiete: Lüneburg – Rothenburg – Soltau – Celle – Hildesheim – Quakenbrück – Osnabrück – Münster – Marburg – Alsfeld – Fulda – Bittburg – Trier – Würzburg – Wittlich – Idar-Oberstein – Kaiserslautern – Landau – Bamberg – Bayreuth – Amberg – Ulm – Augsburg – Fürstenfeldbruck – Landsberg. »Seit etwa drei Millionen Jahren«, sagte Henry Engel, »gibt es Leben auf dieser Erde. Erst zehntausend Jahre ist die Menschheit alt. Noch im Mittelalter dauerten Reisen von einem Kontinent zum anderen Jahre. Vor kaum viel mehr als einem halben Jahrhundert erregte ein phantasievoller Autor seine Zeitgenossen mit der Vision, daß die Erde in achtzig Tagen umfahren werden könnte. Vor zehn Jahren wurde die Schallmauer durchbrochen. Heute gibt es Raketen, die Entfernungen von zehn- bis zwölftausend Kilometern in einer Stunde zurücklegen. Die Chance, die Menschen bei Atomangriffen durch Raketengeschosse zu alarmieren, ist also genauso groß wie bei einem Erdbeben – sie ist gleich null!« Kurz vor Mitternacht gab das Innenministerium folgende Information für die Bevölkerung Deutschlands bekannt: Die Behauptungen über die Wirkung von Atomwaffen, die von unverantwortlichen Panikmachern verbreitet werden, treffen nicht zu. Die radioaktive Strahlenwirkung 582
der Atomkampfmittel wird zumeist übertrieben dargestellt. Wer sich richtig schützt, kann ohne Schädigung oder nur mit einer leichten Erkrankung davonkommen! Der Lichtblitz einer Atomexplosion ist bei klarem Wetter etwa 100mal so hell wie die Sonne. Er blendet besonders, wenn er auf kurze Entfernung in der Blickrichtung eines Menschen liegt. Er blendet bei Tage etwa für die Dauer von 30 und bei Nacht für etwa 60 Minuten so stark, daß kaum etwas zu sehen oder zu erkennen ist. Diese vorübergehende Blindheit ist jedoch ungefährlich. Nach dieser »Information« erfolgte ein »Aufruf der Regierung«. Er war vom Bundeskanzler unterzeichnet und hatte folgenden Wortlaut: Deutsche Männer und Frauen! Unser geliebtes Vaterland hat in diesen Stunden die gewaltigste Heimsuchung erfahren müssen, die bisher jemals die Menschheit zu bestehen hatte. Aber die Erlösung aus dieser Not ist nahe. Über Deutschland sind Atombomben gefallen. Feindliche Horden versuchen, unsere Heimat zu überschwemmen. Nicht wenige unter uns drohen den Glauben an Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit zu verlieren. Aber der Atomkrieg verlagert sich über die Grenzen Deutschlands hinaus; und der Zeitpunkt ist bereits abzusehen, in dem er sich erschöpft haben wird. Schon in Kürze wird Mitteleuropa wieder befreit werden. Unser Vaterland wird wie ein Phönix aus der Asche neu entstehen. Bis dahin, deutsche Männer und Frauen, harret aus! 583
Meidet die großen Städte, betretet nicht die mit gelben Flaggen gekennzeichneten Räume! Laßt euch von den asiatischen Horden überrollen und schadet ihnen, wo ihr könnt! Deutschland wird nicht untergehen! Die Zahl der Wasserstoffbomben, die an diesem Tag über Mitteleuropa abgeworfen worden waren, lag zwischen 18 und 21. Etwa 50 ABomben, »Baby«Bomben und Atomgeschosse waren explodiert. In kaum mehr als 12 Stunden war das Vielhundertfache jener Kraft entfesselt worden, die in den fünf Jahren des Zweiten Weltkrieges Deutschland an den Rand der Vernichtung gebracht hatte. Das bedeutete: den Tod von zwanzig Millionen Menschen. Das hieß: Verwüstung des Landes durch radioaktive Verseuchung auf Jahre hinaus. Das Abendland, die Heimat der Christenheit, war dem Untergang nahe. Denn: kaum viel mehr als siebzig Atomexplosionen waren bisher erfolgt. Die Atommächte aber verfugten über dreitausend Exemplare dieser Werkzeuge des Infernos. Die Menschheit war dabei, sich auszulöschen. Und damit endete der fünfte Tag.
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DER SECHSTE TAG Der neue Tag, der große Teile von Mitteleuropa rauchend und in Trümmern sah, in Blut ertrinkend und beleuchtet von der Brandfackel der Vernichtung, begann mit einer Propagandaschlacht zwischen der östlichen und der westlichen Welt. Jeder bezichtigte den anderen des Friedensbruches und des verbrecherischen Angriffskrieges. Überzeugende Dokumente dafür schienen auf beiden Seiten vorzuliegen. Um die Schuldfrage endgültig zu klären, kam es nur noch darauf an, wer siegen würde. Inmitten dieser Welt aus Tod, Qual und Haß war in den ersten Minuten des neuen Tages eine erregte Stimme ungeahnten Triumphes zu vernehmen. Sie kam aus Pankow. Die Regierung der DDR verkündete, mit Zustimmung ihres sowjetischen Beraters, folgendes: Deutsche! Die Stunde der Befreiung hat geschlagen. Die von der amerikanischen Rüstungsindustrie ausgehaltene Regierung in Bonn ist ebenso hinweggefegt worden, wie die Zusammenrottung reaktionärer Elemente in Hannover. Jetzt gibt es kein getrenntes Deutschland mehr – jetzt endlich existiert wieder ein vereintes, einiges, friedliebendes Deutschland. Diese neue, große Deutsche Demokratische Republik ist bereits von der UdSSR und den ihr verbündeten Ländern anerkannt worden. Die Vereinten Nationen sind benachrichtigt. Ab sofort übernehmen die Organe der neuen Deutschen Demokratischen Republik, deren Hauptstadt 586
Berlin ist, die vollziehende Gewalt in allen bisherigen Besatzungszonen. Die Regierung erwartet die loyale Mitarbeit aller Deutschen, die guten Willens sind. Volksverräter, Söldner und Kriegsgewinnler müssen ausgeschaltet werden. Es lebe unser geliebtes, freies, friedliebendes Vaterland! Inmitten des brodelnden Kessels Europa schien es, für kurze Zeit wenigstens, noch immer so etwas wie Idylle zu geben: in einem verlassenen botanischen Garten blühte die Königin der Nacht in einsamer Schönheit auf; junge Menschen erlebten ungetrübte Minuten reiner Liebe; ein Greis hatte das Glück, still und friedlich zu sterben – er hielt ein Buch in der Hand und lächelte. Die dumpf-erhitzte Nacht schien erfüllt von leuchtender Schwermut. Das geheimnisvolle Blau des hochsommerlichen Halbdunkels wurde von glühendem Rot abgelöst. Die Luft war voll Rauch und dem süßlichen Geruch der Verwesung. Durch den Mittellandkanal fuhr ein Boot. Es wurde von einem Außenbordmotor angetrieben. Es kam von Hannover her und bewegte sich westwärts auf den Rhein zu. In diesem Boot saßen Charly und Gabriele und noch vier weitere Menschen. Unter ihnen befand sich ein Stabsoffizier; er sollte dafür sorgen, daß Charly möglichst ungehindert und gesichert vorwärts kam. Reiners hatte seinem amerikanischen Freund wichtige Informationen für den Generalsekretär der UNO und das State Department in Washington mitgegeben. Der Motor surrte. Das zumeist flache Land glitt schemenhaft und schnell an ihnen vorüber. »Diese Wasserstraßen«, sagte der Stabsoffizier, der Zivilkleider trug und von einem blutjungen Menschen begleitet war, 587
der offenbar Adjutantendienste zu leisten hatte, »scheinen die einzigen zu sein, die noch zu passieren sind.« Charly zog die Decke, die verrutscht war, über Gabrieles Schultern. Sie war eingeschlafen und atmete schwer. »Sieht alles eigentlich ganz friedlich aus«, sagte der blutjunge Mensch, der neben dem Stabsoffizier in Zivil auf einem Querbrett saß. »Das täuscht«, sagte der Stabsoffizier. »In diesem Winkel gibt es kommunistische Sabotagetrupps. Außerdem sind hier noch eigene Sprengtrupps angesetzt, die den Auftrag haben, bewegungsunfähige Wasserfahrzeuge in die Luft zu sprengen – besonders natürlich dann, wenn sie mit kriegswichtigen Gütern beladen sind.« »Das muß man euch lassen«, sagte Charly müde, »auch von dieser Art Organisation versteht ihr etwas.« Der Stabsoffizier in Zivil schien diese Bemerkung für ein Kompliment zu halten. Er sagte: »Die Transportwege sind die Nervenstränge der Armeen. Werden sie unterbrochen, kann der Gesamtkörper nicht mehr einwandfrei funktionieren. Nach dieser Nacht wird es vermutlich in der Gegend ostwärts der Rheinlinie keine intakten Brücken, Straßenengen, Bahnknotenpunkte, Flugplätze, Material- und Nachschublager mehr geben.« »Die einen sprengen also, damit nichts mitgenommen wird, und die anderen sprengen, damit nichts zurückbleibt«, sagte Charly und starrte in das träge dahinfließende Wasser des Kanals. »Das Volk der, Dichter und Denker scheint sich in den letzten zwei Jahrzehnten zu einer Nation von Sprengmeistern entwickelt zu haben.« 588
»Da überschätzen Sie unsere Ausbildungsmöglichkeiten erheblich«, sagte der Stabsoffizier ernsthaft. Er hatte zu dieser Flucht den Außenbordmotor und einen Teil des Treibstoffes organisiert und schien sich auf dem Boot die Rolle des Kommandanten angeeignet zu haben. »Wenn jetzt nämlich von einer Katastrophe gesprochen werden kann, so nur deshalb, weil wir viel zu spät mit der Aufrüstung angefangen haben.« »Ich kenne diese Melodie«, sagte Charly. »Wenn die Amerikaner damals nicht mit den Sowjets paktiert hätten, wäre jetzt schon Rußland von der Landkarte radiert. Die Deutschen wußten schon, was sie wollten. Sie haben nur einen ganz kleinen Kunstfehler gemacht – und der hieß Hitler.« »Streiten wir uns jetzt nicht«, sagte der Oberleutnant großzügig. »Fest steht jedenfalls: die deutsche Jugend war, wie stets, willig, gehorsam, begeisterungsfähig und zu jedem Einsatz bereit …« Charly hörte nicht mehr auf sein Geschwätz. Er spürte Gabriele dicht neben sich und dachte: nur hinaus aus diesem unglücklichen Land! Irgendwohin, wo es keine Helden gab und keine Idioten – wo der Mensch noch allein sein konnte: Fischer am großen Strom, Jäger in den dichten Wäldern, ein kleines Haus in den Bergen oder am Rand der Prärie – dort mit Gabriele leben, ein paar Tieren, einem Regal voller Bücher – an den Feiertagen die Begegnung mit Menschen, wie Michael Reiners einer war … »Fahren Sie mal auf den Kahn dort zu«, ordnete der Stabsoffizier in Zivil an. Der Mann, der den Außenbordmotor bediente, nickte und steuerte nach rechts hin. Dort lag ein plump wirkender, schwerfälliger, tankartiger Schleppkahn. Seine Silhouette zeichnete sich 589
deutlich gegen den Himmel ab. »Was soll das!« rief Charly, dem dieses Manöver gründlich mißfiel. Und er rief es mit einiger Heftigkeit, so daß Gabriele erwachte. »Scheint ein völlig verlassener Kahn zu sein«, schätzte der Stabsoffizier in Zivil. »Wir sollten ihn untersuchen – vielleicht finden wir einiges, das wir gut gebrauchen können.« Der blutjunge Mensch, der dicht neben ihm saß, sah bewundernd zu ihm auf. Der angesteuerte Schleppkahn wuchs schnell zu imposanter Größe. »Wir werden ihn entern!« rief der Anführer schneidig. Gabriele lehnte sich eng an Charly; sie hatte seit Stunden kein Wort mehr gesprochen. »Lassen Sie doch jetzt wenigstens diese idiotische Soldatenspielerei!« rief Charly grob. Aber das Boot steuerte schon flott auf den wuchtigen, kantigen, Schleppkahn zu, der offenbar ein einziges Benzinbassin war. Ehe sie diese dunkle Masse erreicht hatten, schien sie sich mit gewaltiger Kraftanstrengung auf sie zuzubewegen und zerbarst mit dumpfdröhnendem Knall. Fetzen aus Metall und Holz jagten durch das rotblaue Halbdunkel. Ein öliger Regen, wie aus riesigen Eimern gegossen, überfiel das Boot. Der Stabsoffizier brach zusammen. Charly und Gabriele hatten sich auf den Boden geworfen. Charly sprang auf, glitt im klebrigen, stinkenden Öl aus, stürzte sich auf das Steuer und riß es herum. Mit zitternden Fingern gab er Vollgas. Der Motor brüllte auf. Und plötzlich verwandelte sich die Welt um sie in einen einzigen Flammenteppich. Der Kanal brannte. Die Flammen flatterten wie todbringende Fahnentücher. Sie erschlugen das Boot und seine Insassen. Nichts blieb von ihnen übrig als ölige Asche, die spurlos im 590
Wasser des Kanals versank. 2.00 Uhr. Der NATO-Befehlshaber Zentraleuropa: An das NATO-Oberkommando: Der Gegner hat im deutschen Kampfraum mit Luftlandeverbänden die Atomsperriegel übersprungen. Er ist in den Räumen Bielefeld-Herford, Wiesbaden-Mainz und Stuttgart gelandet. Der Kampf auf dem Gebiet der Bundesrepublik hat sich fast überall in Einzelgefechte im Bataillons- oder Kampfgruppenrahmen aufgelöst. Die Verluste der Truppen sind außerordentlich hoch. Der Stab eines Armeekorps und vier Divisionsstäbe sind durch Atomtreffer ausgefallen. 2.00 Uhr. Der Befehlshaber Nordeuropa: An das atlantische Oberkommando: Sowjetische Angriffsaktion auf den skandinavischen Raum seit heute nacht 24.00 Uhr. Sowjetischer Atomangriff auf Stockholm, Oslo und Kopenhagen. Seit 1.00 Uhr Landungsunternehmen: In Schweden beiderseits Karlskrona, ferner auf der Insel Gotland, in Dänemark auf der Insel Bornholm und auf Laaland. 2.00 Uhr. Der Befehlshaber Südeuropa: An das atlantische Oberkommando: Sowjets in zügigem Vormarsch gegen geringen Widerstand durch Österreich. Angriffsziel die Nord-SüdAlpenpässe. Seit 24.00 Uhr sowjetischer Angriff gegen Griechenland. Atomangriff auf Athen. Stärke der von Albanien aus angreifenden Verbände etwa ein Gebirgskorps. Von Bulgarien her zwei Panzerkorps im Angriff. 591
An der sowjetisch-türkischen Grenze sind bisher von den Sowjets keine Atomwaffen eingesetzt worden. Die türkischen Verbände konnten sich überall behaupten. Michael Reiners wartete seit Stunden auf einen Entscheid der Deutschlandabteilung des Außenministeriums in Moskau. Er befand sich in einer Villa im brandenburgischen Raum, nicht allzu weit von Berlin entfernt. Das Zimmer, das ihm »zur Verfügung« gestellt war, wurde bewacht. Auf einem kleinen Tisch lag weißes Papier schreibbereit. Auf einem anderen Tisch stand eine Schüssel mit Kaviar, daneben waren Brot und Butter vorzufinden und eine Flasche Wodka. Reiners hatte nichts davon angerührt. Er wurde ungeduldig. Der Offizier, ein Oberst, der für ihn die vorbereitenden Verhandlungen führte, war ihm von Moskau her bekannt. Er war einer jener belesenen, aufgeschlossenen jüngeren Offiziere, die einen weltoffenen Blick hatten – mit ihnen konnte man sich über vieles unterhalten, nur nicht über den Kommunismus. Mit bedingungslos Gläubigen zu diskutieren, lohnt sich niemals. Reiners sah auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor 4.00 Uhr. Der neue Tag kroch bereits über den Horizont; weißglühend, wie geschmolzenes Metall. Der sowjetische Oberst betrat den Raum. Er war groß, hager und hatte asketische Gesichtszüge. In seinen tiefliegenden hellen Augen schimmerte fahle Müdigkeit. Reiners betrachtete ihn aufmerksam. Dann sagte er: »Also nein.« Der Oberst nickte. »Ich habe getan, was in meiner Macht lag«, versicherte er. »Ich glaube es Ihnen, Herr Oberst«, sagte Reiners. 592
Der Oberst ließ sich in seinem Sessel nieder und goß sich ein wenig Wodka in ein Glas. Er trank es aus. »Zur Zeit«, sagte er, »wird die Deutschlandpolitik nicht in Moskau bestimmt, sondern von Pankow aus gelenkt. Alle unsere zuständigen Experten halten sich dort auf. Sie haben den Auftrag, der Regierung der DDR weitgehend freie Hand zu lassen. Es gibt also praktisch im Augenblick eine andere Stelle, an der deutsche Politik gemacht wird.« »Kann ich dorthin?« fragte Reiners ohne zu zögern. Der Oberst nickte schwer. »Das ließe sich ermöglichen«, sagte er, »unter einer ganz bestimmten Voraussetzung allerdings – aber ich rate Ihnen nicht dazu, Herr Doktor Reiners.« »Um welche Voraussetzung handelt es sich?« wollte Reiners wissen. »Bleiben Sie lieber unser Gast«, sagte der Oberst ausweichend. »Bleiben Sie hier in meiner unmittelbaren Nähe. Ich versichere Ihnen, daß ich mich freue, mit Ihnen gelegentlich zu plaudern. Vielleicht wird schon in ein paar Tagen wieder die Deutschlandpolitik von der Sowjetunion aus gesteuert – dann werden wir Sie vielleicht brauchen können. Bleiben Sie also hier, zu unserer Verfügung. Die Zustimmung des Außenministeriums liegt vor.« »Ich bat Sie, Herr Oberst, mir zu sagen, unter welcher besonderen Voraussetzung ich mit der Regierung der DDR Verbindung aufnehmen kann.« »Herr Doktor Reiners«, sagte der sowjetische Offizier mit sanfter Eindringlichkeit, »es gibt im Augenblick kein deutsches Problem mehr, auf das Sie Einfluß nehmen könnten.« »Aber es wird – trotz allem – immer noch deutsche Menschen geben.« 593
»Einige – gewiß«, gab der Oberst mit einer grausam klingenden Verbindlichkeit zu. »Aber sie werden dann wohl nichts anderes mehr sein, als ein kleiner Bestandteil einer großen Machtgruppe. Ein Baustein unter vielen anderen; gut vielleicht nur noch als Straßenpflaster, auf dem sich die großen Wanderungen bewegen.« »Sind Sie sicher, daß die Sowjets es sein werden, die diese Machtgruppe bilden?« »Absolut sicher«, sagte der Oberst. »Und das in Besonderheit nach den letzten Meldungen. Bisher nämlich, Doktor Reiners, sind keine Atombomben auf das Gebiet der Sowjetunion gefallen – und auf das der USA auch nicht. Wenn die führenden Staatsmänner klug genug sind, an dieser Tatsache nichts zu ändern, dann wird der große Machtkampf im wesentlichen auf europäischem Boden stattfinden. Danach wird dann endlich Klarheit herrschen. Die Erde ist aufgeteilt. Die USA verfügen über Nordund Südamerika und Australien; wir über das Gebiet der UdSSR und ganz Europa. Im asiatischen Raum gehören die chinesisch-japanischen Gebiete zu unserer Interessensphäre, Afrika einschließlich Naher Osten zur amerikanischen. Ein großes, trennendes neutrales Mittelgebiet wird aus Indien und von Indien abhängigen Länder- und Inselgruppen bestehen.« »Wie lautet die besondere Voraussetzung«, wiederholte Reiners, »die es mir ermöglicht, mit der Regierung der DDR Fühlung aufzunehmen?« »Sie sind sehr hartnäckig«, sagte der Oberst seufzend. »Nun gut, ich will Ihnen diese Voraussetzung nennen. Und ich betone noch einmal: das wäre die einzige Möglichkeit – im Augenblick. Eine andere Wahl bleibt uns bei dieser Konstellation nicht. Wir brauchen diese Regierung jetzt dringender als jemals zuvor, und sie darf 594
nicht durch krasse Befehle kopfscheu gemacht werden. Um ganz offen zu sein: Sie, Herr Doktor Reiners, sind es uns zu diesem Zeitpunkt einfach nicht wert, daß wir Ihretwegen eine Verstimmung treuer Gefolgsleute riskieren.« »Ich verstehe«, sagte Reiners tonlos. »Dennoch kann ich nicht anders, als Sie zu bitten, mich auszuliefern.« »Sie sind sich wirklich darüber im klaren, Herr Doktor Reiners, was das für Sie bedeuten könnte?« fragte der sowjetische Offizier eindringlich. »Ich wage es trotzdem«, sagte Michael Reiners. Um 4.00 Uhr gab der NATO-Oberbefehlshaber folgenden Befehl heraus: Die Absicht des Gegners, in schnellem Zugriff Westeuropa zu besetzen, ist klar zu erkennen. Im Einvernehmen mit dem amerikanischen und britischen Oberkommando wird der Feind mit massiven Atomangriffen abgewehrt. Die Erfolge der strategischen Luftwaffenverbände sind ausgezeichnet. Der Nachschub des Gegners an Menschen und Material im polnischen Raum ist fast völlig zum Erliegen gekommen. In der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien sind Aufstände ausgebrochen. Die Truppenbewegungen des Gegners sind auch in diesen Räumen außerordentlich erschwert. Die in Zentraleuropa kämpfenden NATO-Einheiten werden, beginnend um 5.00 Uhr, hinter die Rheinlinie zurückgenommen. Dem Befehlshaber der Luftstreitkräfte in Nordeuropa ist ab heute früh 6.00 Uhr ein Atombombengeschwader der britischen Heimatluftflotte unterstellt. Der Befehlshaber der Seestreitkräfte Südeuropa wird 595
angewiesen, in die Kämpfe in Griechenland einzugreifen und die Angriffe gegen die sowjetischen Schwarzmeerbasen und gegen sowjetische Ölgebiete fortzusetzen. Die Sowjetunion veröffentlicht ein Ultimatum an die Regierungen der Türkei und Spanien, sich bis spätestens 9.00 Uhr neutral zu erklären und bis spätestens 12.00 Uhr alle Kampfhandlungen gegen sowjetische und die mit ihnen verbündeten Truppen einzustellen. Andernfalls werde von Atomwaffen Gebrauch gemacht. Dieses Ultimatum, das den entscheidenden Kampf um den Mittelmeerraum einleitet, wird von beiden Staaten abgelehnt werden. Zusätzlich geplante Absicherungen sind demnach nicht erforderlich. Kurz vor fünf Uhr flackerte das Gegröle in der Baracke, in der sich die sogenannte Lagerleitung befand, wieder auf. Die Frauen und Kinder, die im Freien auf der Erde lagen und keinen Schlaf gefunden hatten, blickten angstvoll auf. Eine Flasche wurde durch das Fenster der Baracke geschleudert und zerschellte an einem Stein. »Laßt euch dadurch nicht beunruhigen«, sagte Mutter Schwiefert zu den beiden »Kleinen«, die neben ihr auf einem Wettermantel lagen. »Das ist so gut wie gar nichts. Da habe ich noch ganz andere Sachen erlebt.« »Diese Schweine!« sagte Peter wutbebend. »Mein Kleiner«, sagte Mutter Schwiefert begütigend, »du mußt dich nicht unnötig aufregen. Kriege verwandeln Menschen in wilde Tiere, auch manchmal ganz sanft und harmlos erscheinende Menschen. Damit mußt du dich abfinden.« Isolde zitterte. Die Erde, auf der sie lagen, dampfte in der Morgensonne. Es roch nach faulem Sumpfboden, durchschwitzten Kleidern und süßlichem Rauch. Keiner 596
der Menschen konnte mehr schlafen. Ihre Gesichter schienen sich über Nacht verwandelt zu haben. In ihnen lag jetzt weniger Angst als Hoffnungslosigkeit. Die Tür der Baracke krachte auf. Zwei Frauen, die nackt waren, wurden herausgestoßen. Sie fielen auf die Erde und rafften sich wieder auf. Ein Mann, der nur mit Hemd und Hose bekleidet war, warf lachend den Frauen ihre Sachen nach. Sie rafften sie zusammen und versuchten, sie hastig anzuziehen. »Sieh nicht hin!« sagte Isolde zu Peter. »Ach, Kinder«, sagte Mutter Schwiefert schwer. »Was ist denn das schon, verglichen mit dem, was noch passieren kann. Im letzten Krieg mußte ich zusehen, wie einem Mann das Geschlecht abgeschnitten wurde. Die das getan haben, lachten. Ein Mädchen wurde von zwanzig Soldaten mißbraucht, und ihr Vater mußte dabeistehen, mit einer Laterne. Die zusahen, lachten. Eine alte Frau und ihre Tochter wurden gezwungen, sich nackend auszuziehen und vor besoffenen Kerlen zu tanzen. Die Betrunkenen lachten. Wer das nicht mit sich machen ließ, wurde totgeschlagen. Wer es mitmachte, hatte die Chance, zu überleben. Und überall war Gelächter!« »Warum ist mir das niemals gesagt worden?« fragte Peter würgend. »Warum wissen wir nichts davon? Man sollte diese asiatischen Bestien ausrotten!« »Mein guter Junge«, sagte Mutter Schwiefert dunkel, »es hat einmal eine sogenannte hochentwickelte Kulturnation gegeben, angeblich ein Volk der Dichter und Denker – und seine Menschen haben mindestens sechseinhalb Millionen Juden verhungern lassen und auf andere Weise umgebracht und sie schließlich verheizt, vergast und massakriert. Und kaum zehn Jahre später 597
war alles so gut wie vergessen – und ganz besonders bei denen, die direkt oder indirekt daran beteiligt waren. Das kann Gott nicht dulden. Vielleicht geschieht jetzt auch deshalb das alles.« Aus der Baracke trat, ein wenig taumelnd, der junge Bursche, der dieses Lager »leitete«. Er hielt in der einen Hand einen Revolver, in der anderen eine Flasche Krimsekt. Er winkte den bewaffneten Posten zu, die interessiert näher kamen. Er stieß die Drahtgittertür mit dem Fuß auf und begann durch die Reihen der Menschen zu gehen, die auf der Erde lagen. »Ihr sollt auch Sekt saufen!« rief der Bursche mit der Pistole. Er war sichtlich betrunken, aber er schwankte kaum; allein seine grölende Stimme verriet ihn. »Ihr habt das nicht verdient, denn ihr seid mit schuld daran, daß unsere Städte von den amerikanischen Verbrechern bombardiert wurden. Alle sind tot! Alle – auch meine Eltern, meine Geschwister, meine Freunde, meine Braut. Alle! Und ihr seid schuld, ihr Säue! Aber wir sind nicht so wie ihr – wir nicht. Wir sind Menschen! Und deshalb sollt ihr auch Sekt saufen!« Er schoß mit seiner Pistole den Hals der Flasche ab. Der Sekt schäumte auf und sprudelte über seine Hand auf die Erde. Er goß den restlichen Inhalt der Flasche einer Frau, die angstvoll stillhielt, über das verzerrte Gesicht. »Da hast du!« rief er. Und die Wächter lachten dröhnend. Dann sah der Bursche Isolde. Er ließ die Flasche fallen und kam auf sie zu. Er winkte mit der Pistole und sagte: »Komm mit.« Peter sprang auf und stellte sich vor das Mädchen. Er stemmte die Beine auseinander und sah den Burschen, der verwundert grinsend auf ihn zukam, wutbebend an. Isolde wollte sich dazwischen stürzen. Aber Mutter Schwiefert hielt sie fest. 598
»Was willst du, Knabe?« fragte der mit der Pistole und kam noch näher, so daß Peter seinen Schnapsatem spürte. Peter streckte eine Hand abwehrend aus. Der Bursche schlug mit der Pistole darauf. »Peter – tu das nicht!« schrie Mutter Schwiefert angstvoll auf. Peter aber sprang auf den Burschen und riß ihn nieder. Dessen Kopf krachte auf einen Stein. Diesen Stein packte Peter und schlug damit in das verzerrte, keuchende Gesicht, das sich rot färbte und seine Konturen verlor. Zwei Schüsse aus den Karabinern der Wächter peitschten auf. Die Kugeln trafen Peter. Er richtete sich auf und sah mit weit aufgerissenen Augen in den Himmel, der auf ihn niederzustürzen schien. Dann brach er zusammen. 7.00 Uhr. Bunker des Bundeskanzlers in der Eifel. Die noch verbliebenen Kabinettsmitglieder und die engsten Mitarbeiter des Regierungschefs waren versammelt. Der Bundeskanzler sagte: »Meine Herren! Die erste Phase dieses Krieges ist für uns beendet. Die Bundesregierung hat in dieser tragischen Situation nicht die geringsten Möglichkeiten mehr, etwas für das Schicksal der Bundesrepublik zu tun. Jeder Mann ist nunmehr auf sich selbst gestellt. Das NATO-Oberkommando rechnet stündlich mit einem neuen sowjetischen Atomschlag längs der Rheinlinie. Unmittelbar darauf werden Flugzeuge des strategischen Bomberkommandos einen parallelen Atomschlag führen. Damit hofft man, die massierten Truppenansammlungen der Sowjets zu zerschlagen. Aber das wird auch zugleich die Vernichtung eines 599
großen Teils der Bundesrepublik bedeuten. Meine Herren! Gemäß Beschluß des NATO-Rates, der Ihnen allen bekannt ist, verlegt die Bundesregierung ihren Sitz nach Südfrankreich, in die Nähe von Carcasonne. Die dann folgende Station wird Spanien sein. Wir fliegen in einer halben Stunde. Der Verteidigungsminister und der Stab des Inspekteurs der Bundeswehr begeben sich zum Gefechtsstand des NATO-Oberkommandos, nach Bayonne. Gott sei uns gnädig!« Henry Engel stand auf der Terrasse seines Hauses und starrte, fasziniert und mit dunklem Erschrecken, auf das Schauspiel, das sich ihm bot: weit unter ihm in der Ferne wurde der fahle Himmel von einem dicken, senkrechten Strich durchzogen, der von brodelnden Wolkenbergen in die Stratosphäre gesaugt zu werden schien. »Wir haben Glück!« schrie Friebe vom Dach des Hauses her. »Windstärke eins bis zwei. Richtung Nordost.« Seit der Detonation dieser Atombombe, die man im Innern des Hauses, im Keller, deutlich gespürt hatte, waren mehr als fünf Minuten vergangen. Den Schutzraum früher zu verlassen, hatte Henry Engel niemandem erlaubt. Jetzt saß Ruth Winters, bleich und mit fiebernden Augen, in der Halle und trank. Friebe spielte mit seinen Apparaturen. Und Henry Engel konnte sich von diesem Augenblick des Mahnmals gewaltigster Kraftentfaltung, des Menetekels einer untergehenden Welt, nicht lösen. Friebe eilte vorbei. »Wo mag das sein, Chef?« »Der Atompilz einer H-Bombe«, sagte Henry Engel, 600
»erreicht eine Höhe von vierzig Kilometern. Aber nach 12 Kilometern bereits beginnt er sich schirmförmig in der Stratosphäre auszubreiten. Berechnungen ohne Instrumente sind so gut wie unmöglich. Ich nehme aber nicht an, daß die Explosion über München stattgefunden hat. Ich schätze, daß es sich um eine weit größere Entfernung handeln muß. Was halten Sie von der Vermutung, daß der betroffene Raum bei Regensburg liegen kann?« Friebe antwortete nicht. Henry Engel sah forschend zu ihm hinüber. Friebe starrte in eine ganz andere Richtung. Und was er sah, schien ihn zu erstaunen. »Was ist los, Friebe?« fragte Henry Engel. »Das kann doch nicht wahr sein!« rief Friebe erregt. Er eilte wieder in das Haus hinein, an Ruth vorüber, die in der Halle saß. Er verschwand in Henrys Arbeitszimmer und kam mit einem Fernglas wieder. Er stellte es, sichtlich unruhig, auf die für ihn günstige Schärfe ein und blickte dann in das Gelände zu seinen Füßen. Dann rief er: »Frau Constance kommt!« Henry Engel riß ihm das Glas aus der Hand. Dann sah er damit in die von Friebe bezeichnete Richtung. Ruth Winters, durch den Ruf, daß Constance komme, aufgeschreckt, betrat die Terrasse und betrachtete die beiden Männer beunruhigt. Henry Engel warf das Fernglas Friebe zu. Er lief die Treppen hinunter, durch den Garten, den Hügel abwärts. Es war Constance, die er auf sich zukommen sah. Sie stürzte in seine Arme. Sie hielten sich fest umschlungen und hörten ihre Herzen schlagen. »Wie konntest du das nur tun«, sagte Henry Engel. Constance klammerte sich, wortlos, an ihn. »Du lebst 601
noch!« sagte sie kaum vernehmbar. Henry Engel löste sich behutsam von ihr. »Wie konntest du das nur tun«, sagte er abermals. Und er fügte hinzu: »Michael ist nicht hier.« »Ich bin zu dir gekommen«, sagte Constance. »Das darf nicht sein«, sagte Henry Engel. »Es mußte sein«, sagte Constance. Und in ihren Augen lag so viel Zärtlichkeit und hingebungsvolle Leidenschaft, daß er erschrak. Gemeinsam gingen sie den Hügel hinauf, auf das Haus zu. Friebe kam ihnen entgegen. Ruth blieb auf der Terrasse stehen und lächelte ungläubig. »Das«, sagte sie, »sieht beinahe wie ein Märchen aus! Aber ich kann nicht glauben, daß es in dieser Welt noch so etwas wie Märchen gibt.« Und leise, fast unhörbar, fügte sie hinzu: »Ich möchte gern daran glauben – aber ich fürchte mich vor der Wahrheit.« An diesem Tag, um 9.00 Uhr, existierten in der Bundesrepublik Deutschland nur noch zwei Sendestationen. Das waren: der Bayerische Rundfunk in München und der Südfunk in Baden-Baden. Beide Stationen waren jedoch nicht mehr an die Netze der Weltnachrichtendienste angeschlossen. Was sie sendeten, hatten sie zumeist von anderen Sendern aufgefangen. Bevor auch sie außer Betrieb gesetzt wurden, strahlten sie – jeder für sich – noch folgende Nachrichten aus: Ein neuer sowjetischer Atomangriff traf um 7.45 Uhr die Rheinlinie, Kaum zwanzig Minuten später führten die NATO-Luftstreitkräfte einen Gegenschlag. Einzelheiten sind nicht bekannt. Sowjetische Luftlandeeinheiten sind an verschiedenen 602
Orten abgesetzt worden, so bei Stuttgart, Karlsruhe und Kaiserslautern. Stuttgart ist besetzt worden. Auch vor Würzburg und Regensburg werden russische Truppen gemeldet. Flüchtlingszüge haben alle Straßen von Norden nach Süden in Bayern und Württemberg überfüllt. Die Straßen mußten teilweise von Militär und Polizei gewaltsam geräumt werden. Der Gebrauch von Schußwaffen war unvermeidlich. Paris und London schweigen. Rom ist, auf Intervention des Papstes, zur offenen Stadt erklärt worden. Die Schweiz ist hermetisch abgeriegelt; ihre Grenzen werden durch die Armee geschützt. Im skandinavischen Raum erklärte Schweden wiederholt seine Neutralität. Die Truppen des Landes weichen den Aggressoren teilweise kampflos aus. In Norwegen hat sich eine zweite Regierung gebildet. Dänemark hat den Versuch gemacht, sich unter den Schutz des britischen Königreiches zu stellen. Aufstände werden neuerdings auch aus Frankreich gemeldet. In Bordeaux und Marseille sind sogenannte Befreiungskomitees gegründet worden. Welches Ziel sie verfolgen, ist unklar. In Nantes, Le Havre und Lyon haben Militärs die Regierungsgewalt übernommen. Die Balkanländer sollen sich teilweise im offenen, blutigen Aufruhr befinden. Attentate werden aus Sofia und Bukarest gemeldet. Athen und Belgrad sind durch Atombomben vernichtet worden. Aus Kairo wird die Internierung aller Briten, Franzosen und Amerikaner gemeldet. In Algier und Marokko finden sogenannte Vergeltungsmaßnahmen statt, denen Tausende zum Opfer gefallen sein sollen. In der Südafrikanischen Union revoltieren die Eingeborenen. 603
Der Präsident der Vereinigten Staaten hat einen Farbigen zum stellvertretenden Verteidigungsminister ernannt. New Yorker Polizei hat das Gebäude der Vereinten Nationen besetzt. Als Grund dafür wurden Schutz- und Sicherheitsmaßnahmen angegeben. Die Regierung der UdSSR appelliert in pausenlosen Aufrufen ihrer europäischen Sender an die Volker der Welt. Sie verspricht sofortigen Waffenstillstand, wenn die USA sich bereit erklären, den europäischen Kontinent zu räumen. Andernfalls, so heißt es, werden die bisher noch nicht eingesetzten Atomraketen in Tätigkeit treten, die innerhalb einer Stunde jeden Punkt der USA erreichen könnten. Maria verließ die Kirche. Sie war am vergangenen Abend vor Erschöpfung zusammengebrochen. Eine Frau hatte sie bis hierher mitgeschleppt und sie dann in eine der Kirchenbänke gelegt. Maria fuhr jetzt auf Nürnberg zu. Man warnte sie davor. Aber Maria hörte nicht darauf; es war, als vermöge sie nichts anderes mehr zu sehen als die Straße, die sie zu Martin führen sollte. »Ich habe für uns gebetet«, sagte sie leise vor sich hin. Ihre Kleider waren beschädigt und verschmutzt. Über ihr Gesicht lief eine blutverkrustete Schramme. Ihr linkes Knie war notdürftig verbunden; es schmerzte heftig. »Wo wollen Sie hin, Fräulein?« fragte ein Polizist, der an einer Straßenkreuzung nördlich von Nürnberg stand. »Immer geradeaus«, sagte Maria. »Fahren Sie um Nürnberg herum«, riet ihr der Polizist. Maria schüttelte nahezu mechanisch den Kopf. »Nein«, sagte sie mit dumpfer Hartnäckigkeit. »Nürnberg ist fast ganz evakuiert«, sagte der Polizist. 604
»Ein paar tausend Irre sind allerdings noch drin – Gewalt anwenden dürfen wir ja nicht. Wir können nur warnen. Scharf wird bei uns erst dann geschossen, wenn sie den Verkehr gefährden, oder wenn sie plündern, oder wenn sie feindliche Aufrufe verbreiten und Greuelpropaganda betreiben.« »Ich will geradeaus fahren«, sagte Maria beharrlich. »Einmal schon muß ich an einem Menschen, den ich treffen will, vorbeigefahren sein. Das darf nicht noch einmal passieren. Er kennt meinen Weg ganz genau. Ich darf nicht davon abweichen.« »Ich habe Sie gewarnt«, sagte der Polizist und zuckte mit den Schultern. Er ging auf einen Handwagen zu, den eine Frau aus der Stadt hinauszog. Er mußte ihn befehlsgemäß kontrollieren. Maria fuhr langsam weiter. Ihr verletztes Knie behinderte sie stark. Doch sie verbiß tapfer die stechenden Schmerzen. Je näher sie der Stadt Nürnberg kam, um so geringer wurde der Verkehr auf den Straßen. Sie sah Fahrzeuge, die beladen wurden, Menschen, die Gepäckstücke transportierten. Ein Mann schleppte eine Standuhr über die Straße. Zwei herrenlose Hunde liefen unruhig herum. Die Stadt, nach der der Krieg noch nicht gegriffen hatte, trug dennoch schon die Zeichen des Krieges: die Straßen waren verschmutzt, Türen vernagelt und Fensterscheiben mit Papierstreifen beklebt. Überall, auf Hauswänden, Schaufenstern und Litfaßsäulen, klebten rote, gelbe und weiße Plakate. Auf den weißen Plakaten stand: Kein Grund zur Panik! Auf den gelben Plakaten war die Überschrift zu lesen: Du kannst dich vor Atomangriffen schützen! 605
Maria las das, ohne es richtig zu begreifen. Sie suchte unter den Menschen, die sie sah, Martin. Und mehrmals war es ihr, als sehe sie ihn. Ihr Gesicht hatte nicht sonderlich viel von seiner kraftvollen Anmut verloren. Nur die Lippen zeigten keine Fülle mehr; sie waren zusammengepreßt, sahen rissig und blutleer aus. Und ihre Augen glänzten wie im Fieber. »Ich werde Martin finden«, sagte sie vor sich hin. »Ich werde Martin finden. Ich muß ihn finden. Wenn ich nicht weiterkomme, werde ich an der Strecke liegenbleiben. Aber ich will wenigstens noch dorthin, wo das Kind ist, das keine Mutter hat. Das Kind braucht mich. Und ich brauche jemand, für den ich da sein kann.« Und wieder war es ihr, als sehe sie Martin. Ein Mann, der ihr wie Martin erscheinen wollte, stand in einer Tür neben einem Spielwarengeschäft. Aber das konnte, sagte sie sich, Martin nicht sein. Der Mann hatte Martins Haare, Martins Haltung, er hatte ein Gesicht wie er. Es war Martin! »Martin!« schrie sie. Der Mann, der knapp dreißig Meter von ihr entfernt dastand, starrte sie an. Er schien nicht glauben zu können, was er sah. »Maria«, sagte er, erfüllt von grenzenlosem Staunen. Marias Rad fuhr über einen Stein, glitt zur Seite und schlug um. Maria fiel auf die Straße mit glücklichem, ungläubigem Gesicht. Sie ließ ihn nicht aus den Augen, als sie sich aufzuraffen versuchte. »Martin!« rief sie. Erlief auf sie zu. Er näherte sich ihr, mit schnellen, hastigen Schritten. Sie sahen sich an. Und in ihren Augen strahlte reine, beglückende, erschöpfende Seligkeit. Nur noch drei Meter trennten sie. In diesem Augenblick waren sie im Mittelpunkt der 606
Sonne. Ein Ball aus Feuer umhüllte sie. Im Bruchteil einer Sekunde waren sie ausgelöscht. Die Atombombe über Nürnberg explodierte in einer Höhe von 600 Metern. Bis zu einer Entfernung von 3 Kilometern zerfiel die Materie in Staub und wurde in den Himmel geschleudert. Bis zu 6 Kilometern wurde alles vernichtet, selbst Gebäude aus Eisenbeton. Noch 9 Kilometer weiter stand kein einziges Haus mehr. 15 Kilometer vom Ort der Explosion entfernt zerrissen Backsteinmauern von 30 cm Dicke. 24 Kilometer weiter wurde das Laub von der Hitze versengt und mehrstöckige Häuser fielen zusammen. Noch 35 Kilometer weiter schwärzte der Lichtblitz Telegraphenmasten, Dächer und Mauern und zerbrach sämtliche Fensterscheiben. Alles das geschah in einem Zeitraum von 1,23 Sekunden. Da war der Soldat Karlmann. Karlmann verehrte seinen Oberleutnant, liebte Deutschland und hatte der Bundesrepublik Treue gelobt. Karlmann lag neben seinem Oberleutnant in einem Straßengraben. Er war Melder. »Ich bin jetzt Bataillonskommandeur«, sagte der Oberleutnant. »Jawohl«, sagte Karlmann und sah zu seinem Vorgesetzten mit dienstwilliger Erwartung auf. »Gestern«, sagte der Oberleutnant, »war ich neutral, weil unser Oberst neutral war. Beide gibt es jetzt nicht mehr – weder den Oberst noch die Neutralität. Vorgestern noch war ich Kompanieführer; morgen kann ich vielleicht schon Regimentskommandeur sein.« 607
»Sie hätten das verdient, Herr Oberleutnant«, sagte Karlmann. Seiner Ansicht nach gab es keinen zweiten, der auch nur annähernd so war wie sein Oberleutnant. Der marschierte mit ihnen, machte seine Spaße, forderte viel, doch nichts, was er nicht auch zu tun bereit war; er war Vorgesetzter und Kamerad zugleich, Vorbild und Freund. Karlmann war bereit, für ihn, wie er es nannte, durchs Feuer zu gehen. »Vor ein paar Tagen«, sagte der Oberleutnant, »war alles fast noch wie beim Alten Fritz. Dann gab es einige Stunden lang etwas wie den Rußlandkrieg. Später haben wir Partisanen gespielt. Und jetzt weiß ich ums Verrecken nicht, was eigentlich los ist.« Karlmann wußte es auch nicht. Der Oberleutnant blickte in das Gelände. Er sah eine Landschaft, die einen friedlichen Eindruck machte. Vom Feind sah er nichts; aber er glaubte ihn zu hören. Was das war, was er hörte, wußte er nicht genau. Waren es Panzer, Zugmaschinen, Lastwagen? Oder wurde nur irgendwo eine landwirtschaftliche Maschine angetrieben? Flog eine Rakete auf sie zu? »Wir liegen hier herum«, sagte der Oberleutnant, »wie Pakete auf Postämtern. Aber ohne Adresse. Niemand weiß, wem wir zugestellt werden sollen. Seit zwei Stunden haben wir keine Verbindung zur Division mehr. Wer mein rechter Nachbar ist, weiß ich nicht. Wer jetzt links liegt, weiß ich auch nicht. Vor einer Stunde wußte ich das noch, aber der Major dort hat immer nur von Frankreich geredet. Kennen Sie Frankreich, Karlmann?« »Nein, Herr Oberleutnant«, sagte der. »Werden Sie kennenlernen – wenn wir Glück haben, Karlmann«, sagte der Oberleutnant. »Ein herrliches Land 608
– sie wissen dort zu trinken, zu essen und zu lieben.« »Gute Soldaten sollen sie nicht sein«, wagte Karlmann einzuwerfen. »Sie waren einst die besten Soldaten der Welt«, sagte der Oberleutnant. »Immer ist irgend jemand der Beste! Die einen unter Hannibal, die anderen unter Cäsar, die dritten unter dem Prinzen Eugen, die nächsten unter Napoleon. Auch wir kamen mal an die Reihe. Jetzt sind die Sowjets am Zug. Je primitiver ein Volk, um so bessere Soldaten hat es. Nur Hunnen können Welten erobern – aber sie bewahren können sie nicht.« »Jawohl, Herr Oberleutnant«, sagte Karlmann verwirrt. Karlmann war Freiwilliger. Er war, wie er es ausdrückte, zu den Fahnen geeilt; voll guten Willens und bereit, für Deutschland und für die Freiheit zu kämpfen. Wer den Frieden will, sagte er sich immer wieder, muß auch bereit sein, ihn zu verteidigen. Daß sein Oberleutnant genauso dachte, davon war er – bis jetzt – überzeugt gewesen. »Vor uns«, sagte der Oberleutnant, »können die Sowjets sein, hinter uns aber auch. Vor ein paar Stunden sind drei ganze Kompanien durch eine einzige Atomgranate zerfetzt worden. In jedem Augenblick kann uns das gleiche passieren.« »Das ist Soldatenschicksal!« murmelte Karlmann unsicher. »Quatsch!« sagte der Oberleutnant. »Ein Soldat hat zu kämpfen - Kraft gegen Kraft, List gegen List, Gewalt gegen Gewalt. Er will schneller sein als der Gegner, geschickter, entschlossener. Aber wir, Karlmann, sind nichts als ausgeliefert. Selbst das gejagte und umstellte Wild noch hat ein königliches Ende, verglichen mit uns.« »Aber es geschieht doch für Deutschland«, sagte 609
Karlmann kläglich. »Deutschland!« sagte der Oberleutnant dumpf. »Ich kenne kein Wort, das mehr mißbraucht wurde. Ich habe genug. Ich mache Schluß!« Michael Reiners sah den engsten Mitarbeiter des augenblicklichen Ministerpräsidenten der DDR auf sich zukommen, jener DDR, die sich jetzt die »neue« nannte und Anspruch auf ganz Deutschland erhob. Sie befanden sich im Saal eines Dorfgasthauses, im Osten von Berlin, unweit des Ortes, in dem sich die Regierung aufhielt. Hierher war Reiners transportiert worden. Sowjetische Soldaten hatten ihn, gegen Quittung, Beamten des ostzonalen Geheimdienstes übergeben. Zwei davon hielten sich in der Nähe der Eingangstür auf. Der Mitarbeiter des Ministerpräsidenten blieb vor Reiners stehen. Er hatte ein hartes, energisches Gesicht, dessen scharfe Augen den Mann, der vor ihm stand, kühl betrachteten. Er war einfach gekleidet und schien seinen grauen Anzug seit Tagen nicht mehr gewechselt zu haben. Plötzlich, wie nach jähem, überraschend gefaßtem Entschluß, streckte er Doktor Reiners die Hand hin. Der ergriff sie. Sie sahen sich dabei prüfend an. »Ich würde mich freuen«, sagte der Mitarbeiter des Ministerpräsidenten, der den Rang eines Staatssekretärs bekleidete, »wenn ich zu Ihnen sagen könnte: Willkommen, Herr Doktor Reiners.« »Was sollte Sie daran hindern?« fragte Reiners. »Nichts – so hoffe ich.« »Welche Bedingungen sind an. dieses ›Nichts‹ geknüpft, Herr Staatssekretär?« »Keine einzige – wenn Sie aus freien Stücken 610
gekommen sind.« »Es war mein Wunsch.« »Dann, Herr Doktor Reiners«, sagte der Funktionär und lächelte kaum merklich, »kommt es nur noch darauf an, daß wir im Grundsätzlichen übereinstimmen. Ihre Mitarbeit wäre uns ungeheuer wertvoll – ich erkläre das offen. Ich habe den Auftrag, Ihnen ein Ministeramt in unserer neuen Regierung anzubieten – selbstverständlich unter ganz bestimmten Voraussetzungen.« »Ich erstrebe keinen Posten«, erklärte Reiners. »Ich habe mir selbst eine Aufgabe gestellt und versuche, sie zu erfüllen.« »Wir sind bereit, mit Ihnen zusammenzuarbeiten – aber diese Zusammenarbeit bedingt selbstverständlich völlige Klarheit; Loyalität allein genügt nicht. Wir erwarten die Demonstration Ihrer freundschaftlichen Gesinnung.« »Ich beginne zu verstehen«, sagte Reiners tonlos. Der Staatssekretär schien interessiert die Papiergirlanden und Spruchbänder zu betrachten, die an den Saalwänden hingen. Die beiden Geheimpolizisten standen dreißig Meter von ihnen entfernt, scheinbar gleichgültig, an der Eingangstür. Sie schienen auf einen Zuruf des Staatssekretärs zu warten. »Sie erwarten also vermutlich von mir«, sagte Reiners, »daß ich so eine Erklärung abgebe, in der die Regierung der Bundesrepublik Deutschland als verbrecherisch und amerikahörig bezeichnet wird, und in der die provisorische gesamtdeutsche Regierung als Unternehmen von Spekulanten und Reaktionären erscheint.« »Ich bewundere Sie, Herr Doktor Reiners«, erklärte der Staatssekretär. »Sie kennen die Spielregeln. Was die 611
genauen Formulierungen Ihrer Erklärung betrifft, so werden wir sie gemeinsam erarbeiten – ein Teil davon ist bereits vorbereitet worden.« »Und Sie glauben im Ernst«, fragte Reiners nahezu erstaunt, »daß ich etwas Derartiges aufsetzen und unterschreiben würde?« »Natürlich«, sagte der Staatssekretär unbeirrt. »Die Öffentlichkeit kennt Sie als Berater der Bundesregierung. Wir wissen außerdem, daß Sie der eigentliche Initiator der sogenannten provisorischen gesamtdeutschen Regierung waren. Als solcher haben Sie einige unserer Minister und Generale zu einer Zusammenarbeit mit dem Feind überredet. Ihre Anwesenheit hier könnte bedeuten, daß Sie Ihre Tätigkeit fortzusetzen gedenken. Man könnte eine ganze Reihe von Anschuldigungen gegen Sie erheben Spionage, Hochverrat, Landesverrat …« »Sie bekommen das fertig«, sagte Reiners. Der Staatssekretär nickte zustimmend. »Versetzen Sie sich, bitte, in unsere Lage«, sagte er. »Unsere Regierung für das ganze Deutschland kann wirkungsvolle propagandistische Unterstützung brauchen. Sie kommen wie gerufen. Entweder finden wir in Ihnen einen Freund, der die Machenschaften der Verderber Deutschlands überzeugend entlarvt – oder wir haben in Ihnen endlich einen der Hauptschuldigen gefunden, durch den wir die Machenschaften der Verderber Deutschlands überzeugend entlarven können.« Michael Reiners sagte: »Ich werde niemals gegen meine Überzeugung handeln.« »Herr Reiners«, sagte der Staatssekretär unberührt, »außer Ihrer Überzeugung haben Sie ja doch wohl noch Ihren Verstand und Ihr Gefühl für politische Realitäten. Und vielleicht haben Sie außerdem irgendwo einen 612
Menschen, für den Sie leben wollen.« »Sie drohen mir mit dem Tod?« »Ich biete Ihnen, an unserer Seite, eine glänzende Zukunft. Sie bekommen drei Stunden Zeit – keine Minute mehr. Bis dahin muß Ihre Erklärung ausgearbeitet und unterschrieben sein. Eine Weigerung würde Sie als Schuldigen erweisen. Das bedeutet, in der Tat, das Todesurteil. Die Wahl dürfte nicht schwer sein. Denken Sie darüber nach.« 15.00 Uhr. Der Befehlshaber Zentraleuropa an den NATO-Oberbefehlshaber. Diese Meldung hatte folgenden Wortlaut: Absetzbewegung hinter den Rhein verläuft planmäßig. Die Einheiten in Norddeutschland gehen hinter die Ems zurück. Nach dem sowjetischen Atomschlag auf die Rheinlinie sind nur noch folgende Übergänge passierbar: Wesel, Neuwied, Wiesbaden-Mainz, Speyer, Kehl, Breisach und Neuenburg. Die an drei Stellen eingesetzten Luftlandeeinheiten in Regimentsstärke sind vernichtet worden. Der Feind drängt nur noch zögernd nach. Seine nördliche Angriffsgruppe hat Kiel erreicht. Unsere in Schleswig-Holstein abgeschnittenen Verbände gehen auf die dänische Grenze zurück. Bremerhaven ist vom Gegner besetzt, Bremen im Süden umgangen. Die feindlichen Angriffsspitzen stehen südlich Oldenburg. Der südlich und nördlich Hannover operierende Feind hat die Weserlinie erreicht und die Verbindung mit seinen Luftlandetruppen im Raum Herford-Bielefeld hergestellt. Im Raum Frankfurt am Main sind schwere Kämpfe im Gange, um die Rheinübergänge bei Wiesbaden und Neuwied offenzuhalten. Erbitte Verstärkung der 613
Jagdabwehr für diesen Raum und einen Atomangriff auf Linie Marburg, Gießen, Frankfurt, Aschaffenburg. Im Süden greift der Gegner mit zwei Stoßrichtungen an. Die eine über Würzburg in Richtung auf Stuttgart, Angriffsspitzen bei Bad Mergentheim. Die andere über Regensburg auf München, Angriffsspitze bei Abensberg. München ist von zwei Fernraketen getroffen. Damit ist die letzte deutsche Rundfunkstation, über die Verbindung zur Bevölkerung bestand, ausgefallen. Die im Ausland eingesetzten Ersatzsender, die mit den Wellenlängen der deutschen Stationen arbeiten, werden vom Gegner systematisch gestört. Isolde hockte auf der Erde. Neben ihr lag der tote Peter. Mutter Schwiefert stand vor ihnen und blickte zu der Baracke hin, in der sich die »Lagerleitung« befand. Die Frauen und Kinder, die in ihrer Nähe gelegen hatten, waren von ihnen fortgekrochen. Lastende Stille umgab sie. »Ich habe in meinem Leben viele Menschen sterben sehen«, sagte Mutter Schwiefert. »Und noch mehr Menschen, die ich kannte, sind gestorben, ohne daß jemand wahrgenommen hat, wie sie vom Leben in den Tod fielen. Und bei einigen habe ich gesagt: vielleicht gut so – wer weiß, was ihnen alles erspart geblieben ist.« Isolde schien nicht zu hören, was ihre Mutter sagte. Sie starrte auf Peters wachsbleiches Gesicht. Es war jetzt ganz das Gesicht eines Kindes. »Der Tod hat viele Gesichter«, sagte Mutter Schwiefert. »Mein Großvater starb an einem Herzschlag; er hatte sich am Abend zu Bett gelegt, ohne zu ahnen, daß es ein Morgen für ihn nicht mehr gab. Mutter hörte ich viele Stunden lang schreien und stöhnen; sie starb an Gallensteinen. Einer meiner Brüder ertrank beim Baden, 614
vor unseren Augen. Meine Schwester überlebte die Geburt eines Kindes nicht mehr. So grundverschieden die Menschen auch sein mögen – allen gewiß ist der Tod. Er ist das Selbstverständlichste von dieser Welt.« Isolde regte sich nicht. Ihr kleines Gesicht war maskenhaft starr. Sie streckte eine Hand aus und legte sie auf Peters zusammengefaltete Hände. Die Kühle, die sie spürte, ließ ihr Herz heftiger schlagen. Sie blickte zum Himmel empor, der sich mehr und mehr zu verdunkeln schien. »Die Welt ist voll von Toten«, sagte Mutter Schwiefert. »Und im Krieg liegen sie nicht nur auf den Friedhöfen – sie liegen in den Ruinen, auf den Straßen, in den Gräben und Feldern, in Teichen, zwischen Blumen und Steinen. Sie sind zusammengepreßt, auseinandergezerrt, zerstückelt, halbiert, in Fetzen gerissen, zu Brei zerstampft, zu Kohle verbrannt, pulverisiert und in winzigen Teilchen ins All gesprengt.« Der Himmel war jetzt dunkel. Frauen und Kinder starrten in die riesenhaften Wolken, die plötzlich aufgetaucht waren und nun mit unheimlicher Geschwindigkeit auf sie zuschwebten. Und aus diesen Wolken flatterte jetzt, merkwürdig glitzernd, wie feinzerfetztes Blattsilber, ein lautloser Regen auf sie herab. Puderflocken fielen nieder. Sie bedeckten den Boden, die Kleider der Frauen und Kinder, die Köpfe, die Gesichter, die Hände. »Warmer Schnee«, rief ein Kind und griff mit den Händen nach dem funkelnden Staub. Lähmende Stille hatte die Menschen befallen. Niemand wußte, was das war, das auf sie herniederschwebte. Und doch hatte jeder das Gefühl, daß es der Tod war, der sie mit schwebender Lautlosigkeit einzuhüllen begann. 615
Fast 200 Kilometer weiter war vor 11 Minuten eine Atombombe explodiert. »Ich sterbe gerne«, sagte Isolde. 17.00 Uhr. Das Oberkommando der NATO gab bekannt: Die Operationen verlaufen planmäßig. Im nordeuropäischen Raum wurden zwei sowjetische Landungsversuche mit Atomwaffen abgewehrt. In Zentraleuropa haben sich die Einheiten der verbündeten Armeen erfolgreich hinter den Rhein abgesetzt. Sowjetische Atomangriffe trafen die Rheinlinie zwischen dem Rhein-Ruhr-Gebiet und Karlsruhe. Gegenschläge der NATO wurden auf strategische Ziele in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone und im Raum Marburg-Frankfurt-Aschaffenburg geführt. Im süddeutschen Raum stehen die Truppen der NATO noch teilweise in Abwehrkämpfen ostwärts des Rheins. München wurde abermals von feindlichen Atomraketen getroffen. Der Gegner ist nunmehr gezwungen, die Stadt zu umgehen. Luftlandeverbände der NATO mit taktischen Atomwaffen sind im westlichen Österreich gelandet und stehen in Kämpfen mit sowjetischen Verbänden. Große Teile der Bevölkerung Österreichs befinden sich auf der Flucht. Wien existiert nicht mehr. Auf dem Balkan stehen russische Truppen im Kampf mit Aufständischen. Die NATO griff strategische Ziele in Bulgarien und im Schwarzmeerraum mit Atomwaffen an. In Griechenland wurde der Vormarsch der sowjetischen Verbände aufgehalten. Siegreiche türkische Truppen sind in Sowjetarmenien eingedrungen. 616
Der Hubschrauber zog zwei Schleifen über Henry Engels Haus und schwebte dann langsam nieder. Er landete im Garten, auf der Rasenfläche, die der Terrasse vorgelagert war. Kurz danach wurde das kochende Motorengebrodel erstickt; der Propeller stand still. Eine der beiden Insassen des Hubschraubers kletterte hinaus. In seiner dicken Kombination wirkte er unförmig und fast ein wenig komisch. Aber niemand, der ihn kommen sah, lächelte. Henry Engel stand erwartungsvoll an seinem Lieblingsplatz, an der hüfthohen Steinmauer der Terrasse. Er machte keinerlei Anstalten, seinen Besuchern entgegenzugehen. In der großen Glastür zur Halle standen Constance, Ruth Winters und Friebe. »Mir scheint es ratsam«, sagte Friebe, »das MG in Stellung zu bringen.« Er ging unverzüglich in das Haus hinein, zum ersten Stockwerk hoch. »Herr Engel!« rief der Amerikaner, »seit Stunden schon suche ich Sie. Es war ein Kunststück, Sie zu finden. Einer meiner Kollegen hatte an Ihrer Stelle einen Zahnarzt Doktor Engel aufgestöbert und nach Südfrankreich transportiert. Ein bedauerlicher Irrtum! Aber jetzt haben wir Sie endlich gefunden. Für irgendwelche Gastfreundlichkeiten ist keine Zeit mehr. Bieten Sie uns also keinen Whisky an! Packen Sie nur Ihre Unterlagen in eine Aktenmappe und dann steigen Sie ein. Sie haben 15, sagen wir 20 Minuten Zeit.« »Sie haben die gleiche Zeit, meinen Garten wieder zu räumen«, entgegnete Henry Engel. »Es sei denn, Sie könnten uns vier Plätze zur Verfügung stellen.« »Einen einzigen Platz, Herr Engel!« rief der Amerikaner sichtlich bestürzt. »Unter keinen Umständen mehr!« 617
»Dann wünsche ich Ihnen eine gute Heimreise in die Staaten«, sagte Henry Engel, drehte sich um und ging langsam auf das Haus zu. Der Amerikaner wurde plötzlich in ungeahnter Weise beweglich. Er sprang hinter Engel her, auf die Terrasse hinauf und rief: »So einfach geht das nicht, Herr Engel! Ich habe den Auftrag, Sie mitzunehmen und bin entschlossen, diesen Auftrag auch durchzuführen.« Henry Engel blieb stehen und sah den jetzt außerordentlich bedrohlich und entschlossen wirkenden Mann beunruhigt an. Constance und Ruth Winters waren dieser Szene mit Erregung gefolgt. Der zweite Amerikaner hatte den Hubschrauber verlassen und kam langsam, mit einer Maschinenpistole im Arm, auf das Haus zu. »Freunde!« rief Friebe von oben. »Benehmt euch, oder ihr werdet euer schönes Amerika nicht mehr wiedersehen. Ich habe hier oben ein Maschinengewehr. Paßt auf – ich werde euch einmal zeigen, wie gut es funktioniert. Und keine Angst, noch schieße ich weder auf euren Hubschrauber noch auf euch!« Friebe ratterte ein MG-Magazin leer. Abgeschossene Blätter und zerfetzte Äste einer Kastanie regneten auf den erstaunten Amerikaner mit der Maschinenpistole nieder. »Nur keine Panik!« rief Friebe. »Wir haben noch ganz andere Sachen auf Lager.« »Herr Engel«, sagte jetzt der wortführende Amerikaner, »bitte keine Späße mehr in dieser Stunde. Ich bitte Sie, mit mir zu kommen. Die freie Welt braucht Sie!« »Sie wollen«, sagte Henry Engel, »nicht mich, Sie wollen die Pläne meiner Erfindungen.« »Sie müssen sich in Sicherheit bringen«, sagte der Amerikaner. »Das sind Sie der Wissenschaft schuldig. In 618
wenigen Stunden schon kann Europa ein einziges Trümmerfeld sein. Wenn Sie hierbleiben, werden Sie dem Atomkrieg zum Opfer fallen. Wenn Sie mitkommen, können Sie Ihr Lebenswerk vollenden.« »Die Mitarbeit an der Plutoniumbombe, die wiederum eine tausendfach vergrößerte Wirkungskraft gegenüber der H-Bombe erreichen wird? Nein. Ich lehne ab.« »Der Amerikaner hat recht«, sagte Constance entschlossen. »Du hast noch vieles vor dir. Du könntest mit dazu beitragen, daß der Menschheit geholfen wird, diese Katastrophe zu überwinden. Du mußt nach Amerika fliegen, Henry.« »Sehr richtig!« rief der Amerikaner anerkennend. »Sie hören meine Entscheidung in drei Minuten«, sagte Henry. Er ließ seine aggressiven Besucher, von Friebe bewacht, auf der Terrasse stehen. Dann ging er mit den beiden Frauen in das Haus. Er bat sie, sich zu setzen, während er vor ihnen stehenblieb. »Das Problem ist ganz einfach«, sagte er. »Hätten wir vier Plätze zur Verfügung, würden wir gemeinsam fliegen. Es ist aber nur ein einziger Platz da – für dich, Constance.« »Ich will ihn nicht«, sagte Constance fest. Henry Engel nickte ihr liebevoll zu. Er hatte diese Entscheidung von ihr erwartet. »Dann«, sagte er entschieden, »wird Ruth mitfliegen.« »Nein«, sagte Ruth schnell. »Du wirst es tun«, sagte Henry Engel eindringlich. »Wolfs wegen! Ich gebe dir alle Dinge mit, derentwegen du hier bist. Du bekommst alle Unterlagen, die ich besitze; meine bereits veröffentlichten Erfindungen 619
ebenso wie die neuen, die zum großen Teil bereits abgeschlossen sind. Ich gebe dir weiter eine umfassende Vollmacht für Wolf Beck mit; er soll das alles zu treuen Händen nehmen.« »Das willst du tun?« fragte Ruth Winters freudig erregt. »Ich vertraue Wolf; und dir auch«, sagte Henry Engel. »Ich habe dich zunächst mißverstanden, Ruth. Später, als ich merkte, mit welcher Intensität du dich für Wolfs Pläne eingesetzt hast, habe ich mich darüber heimlich gefreut. Jetzt finde ich Gelegenheit, dir zu beweisen, daß ich dich für einen Menschen halte, der zu uns gehört.« »Henry«, sagte Ruth Winters; und in ihre Augen stiegen Tränen. »Du mußt dich beeilen«, sagte Engel rauh. »Die freie Welt braucht unsere Pläne. Die Unfreien müssen mit Gewalt glücklich gemacht werden.« 20.00 Uhr. Das NATO-Oberkommando gab bekannt: Amerikanische und britische Verbände führten Vergeltungsschläge mit Wasserstoffbomben gegen die Sowjetunion. Rüstungszentren wurden durch Fernraketen vernichtet. Leningrad, Moskau, Minsk und Kiew sind zerstört. 21.00 Uhr. Das Oberkommando der sowjetischen Streitkräfte gab bekannt: An der ganzen Front ist die Sowjetarmee im siegreichen Vorgehen gegen den Aggressor. Sowjetische Truppen sind in Norwegen, Schweden und Dänemark im erfolgreichen Angriff. Die Bundesrepublik Deutschland befindet sich fast vollständig im Besitz der Roten Armee. An zwei Stellen wurde der Rhein überschritten. Geschwader der sowjetischen Luftwaffe flogen 620
Atomangriffe gegen Ziele in Deutschland, Frankreich, England und Italien. In den späten Nachmittagsstunden dieses Tages nahmen sowjetische Spezialeinheiten den amerikanischen Kontinent unter den Beschuß von Atomraketen. Der junge Offizier, ein Leutnant der Volksarmee, der vor Michael Reiners stand, sah auf seine Armbanduhr. Er schien nervös zu sein. Michael betrachtete ihn mit Nachsicht. »Unterschreiben Sie das doch endlich!« rief der Leutnant fordernd. Er wies auf das Blatt Papier, das in dem engen Hinterzimmer, in dem sie sich aufhielten, auf einem schäbigen, stark beschädigten Tisch lag. Reiners begann, den Leutnant aufmerksam zu betrachten. »Warum reden Sie mich an? Das ist Ihnen doch sicherlich verboten worden?« »Warum unterschreiben Sie das nicht?« »Hat man Ihnen nicht verboten, sich mit mir zu unterhalten? Sie dürfen doch sicher nicht einmal mich alleine sprechen lassen – es könnte ja sein, daß Sie Dinge hören, die Sie unter keinen Umständen hören dürfen …die Wahrheit, zum Beispiel.« »Herr Doktor«, sagte der Leutnant erregt, »mein Auftrag ist viel klarer umrissen, als Sie anzunehmen scheinen. Nein, ich darf nicht mit Ihnen reden und auch nicht dulden, daß Sie es versuchen. Aber ich soll auf zwei Dinge warten: darauf, daß Sie unterschreiben; oder darauf, daß Sie nicht unterschreiben. Unterschreiben Sie, habe ich Sie freizulassen und zu einem Wagen zu geleiten, der draußen auf Sie wartet. Unterschreiben Sie nicht, dann …« 621
»Dann werden Sie mich vermutlich vor die Gewehre Ihrer Leute stellen, Herr Leutnant.« »Jawohl«, sagte der. »Dann habe ich den Befehl, einen Spion zu erschießen.« Michael Reiners schien kaum wahrnehmbar zu lächeln. Er sah auf seine Hände; sie waren schmutzig. Der junge Leutnant betrachtete diesen Menschen, den er nicht kannte und von dem er nichts Näheres wußte – diesen Menschen, den er vielleicht erschießen lassen mußte. Er würde dann der erste sein, dessen Tod durch seinen Befehl erfolgte. Und das Gesicht, in das der Leutnant sah, dieses zunächst unscheinbar, fast ein wenig einfältig wirkende Gesicht, das jetzt im dunklen Glanz der letzten Sonnenstrahlen dieses Tages lag – es leuchtete in stillem Frieden. »Warum wollen Sie nicht leben?« rief der Leutnant beschwörend. »Weil ich nicht so leben darf, wie ich leben muß!« sagte Reiners. »Ich hasse den Krieg«, sagte der Leutnant hervorbrechend. »Und ich liebe den Frieden. Aber ich muß meine Pflicht tun.« »Sie tun mir leid«, sagte Michael Reiners und sah in die versinkende Sonne, »so wie die Millionen anderen mir leid tun, die Ihnen ähnlich sind. Sie lassen sich einreden, daß Kriege geführt werden müssen, um den Frieden zu erhalten. Von all den vielen Phrasen, die diese Welt durchtönen, ist das die abscheulichste. Sie behaupten, den Krieg zu hassen – aber Sie helfen mit, ihn zu führen. Und Sie glauben sogar, daß es Ihre Pflicht ist, Menschen zu morden.« »Schweigen Sie!« rief der Leutnant empört. »Es ist Ihnen verboten, mit mir zu sprechen.« 622
»Das alles tun die Menschen, weil sie feige sind«, sagte Michael Reiners. »Denn es gehört mehr Mut dazu, einen Mordbefehl zu verweigern, als ihm zu folgen. Nicht selten ist Heldentum nichts als Notwehr. Die Feiglinge verkriechen sich in der Masse, weil es leicht ist, in der Masse mutig zu sein. Die Masse ist nichts anderes als eine Zusammenrottung von Feiglingen.« »Ihre Zeit ist um!« rief der Leutnant. »Für Sie und Ihresgleichen ist kein Platz mehr in dieser Welt.« Reiners nickte. Er erhob sich. Die Sonne war erloschen. Der Leutnant stieß die Tür auf. Draußen standen zwei Soldaten mit Karabinern. »Ihr jungen Menschen«, sagte Reiners, »seid mutig und gutgläubig. Ihr wollt die Welt verbessern und geratet dabei immer wieder an die großen Wegelagerer der Menschheit. Und dieses euer Unglück wird zum Unglück der Welt. Denn nur mit eurer jugendlichen Kühnheit, Gläubigkeit und Kraft lassen sich Kriege führen. Aber Kühnheit ohne Verstand, Gläubigkeit ohne Ehrfurcht vor dem Leben und Kraft ohne Güte sind wie ein Stück Land, das zuviel Sonne, aber zuwenig Wasser hat. Es muß verdorren.« Der Hubschrauber, in dem sich Ruth Winters befand, geriet in ein Luftlandemanöver sowjetischer Verbände und wurde abgeschossen. Friebe, der den Befehl hatte, sich mit Henry Engels’ restlichen Papieren, Devisen und Wertsachen in die Schweiz durchzuschlagen, starb kurz vor dem Ziel bei dem Versuch, die Grenze illegal zu überschreiten, in einem Minenfeld. Eine fehlgesteuerte Atomrakete, die mithelfen sollte, die Rückzugsbewegungen der NATO-Streitkräfte im Süden Deutschlands abzuriegeln, explodierte in der Nähe von Henrys Haus. Er und Constance verbrannten. 623
Sie hatten sich umarmt; die Asche, die von ihnen blieb, schien die eines einzigen Körpers zu sein. Michael Reiners wurde erschossen. Er duldete keine Augenbinde. Er sah in die Läufe der Gewehre, als betrachte er die untergehende Sonne – nicht frei von Wehmut, doch sich still dem Unvermeidlichen fügend. Sein letztes Wort war kaum vernehmbar. Es lautete: »Europa.« Die Trichter des Todes klafften in Europa, Asien und Amerika. Sie glichen hervorbrechenden Geschwüren und breiteten sich über die Erde aus wie eine Seuche – mit der Geschwindigkeit des Schalls. Die Atompilze vergifteten die Atmosphäre und verdunkelten die Sonne. In Afrika begannen Treibjagden gegen sogenannte »volksfremde Elemente«. In zwei afrikanischen Negerrepubliken wurde die Internierung aller Weißen angeordnet. Im Norden dieses Kontinents standen französische Truppen in hoffnungslosem Abwehrkampf gegen die »mit einer Brutalität ohnegleichen« angreifenden Eingeborenen. Über ihnen allen jedoch schwebten die tödlichen radioaktiven Wolken aus mehr als tausend Atomexplosionen. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika gab bekannt: Die verbissenen und grausamen sowjetischen Atomangriffe haben zu großen Verlusten geführt, jedoch die Nervenzentren unseres Landes nicht zerstören können. Noch liegen die Opfer an Menschenleben unter 20 Millionen. Wenn es den Sowjets gelingen sollte, ihre verbrecherischen Angriffe mit der gleichen Intensität fortzuführen, werden ihre Mittel in zwei, spätestens drei 624
Tagen total erschöpft sein. Amerika kann wohl zerstört, aber niemals vernichtet werden. Am Ende wird der Sieg unser sein. Die Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gab bekannt: Die verbrecherischen Atomangriffe der Amerikaner auf unser friedliebendes Land haben uns schwere Wunden geschlagen, aber auch den Angreifer total erschöpft. In wenigen Stunden schon wird Europa befreit sein und dann einer besseren Zukunft entgegensehen. Die Sowjetunion ist unbesiegbar. Der Generalsekretär der UNO versuchte, einen »letzten Aufruf« der Weltöffentlichkeit zu übergeben. Er verkündete: Rettet die Menschheit um jeden Preis! Laßt die Waffen schweigen! Es kann jetzt nur noch Frieden geben oder Untergang. Dieser »letzte Aufruf« erreichte niemand mehr. Der Generalsekretär wurde tot aufgefunden. In seiner starren Hand befanden sich die Entwürfe zu gleichlautenden Telegrammen an den Präsidenten der Vereinigten Staaten und den Ministerpräsidenten der Sowjetunion. Beide wurden beschworen, sich zu verständigen. Es werde keinen Sieger geben – höchstens: Überlebende! »Wer das nicht einsieht und alle Konsequenzen daraus zieht, wird zum Verbrecher an der Menschheit und zum Mörder seines Volkes. Ein Volk aber, das ein solches Staatsoberhaupt duldet, verdient nichts anderes als den Untergang!« »Zu spät«, sagte der Mann, der den Toten fand. Gegen Mitternacht meldete der Befehlshaber in Europa an den Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte: 625
Der Kampf um Deutschland ist planmäßig beendet worden. Die verbündeten Truppen vollführen die befohlenen Absetzbewegungen. Es gab kein Deutschland mehr. Und so endete der sechste Tag. Den siebten Tag überlebte Europa nicht. Die Stunden der Menschheit waren gezählt.
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