Heiß brannte die Sonne vom wolkenlo sen Himmel New Mexicos. Die drei Conestoga-Frachtwagen zo gen eine lange Staubfah...
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Heiß brannte die Sonne vom wolkenlo sen Himmel New Mexicos. Die drei Conestoga-Frachtwagen zo gen eine lange Staubfahne hinter sich her. Die Fracht der Wagen war für den Ge neral Store in Tularosa bestimmt - Le bensmittel, Textil- und Lederwaren, Werkzeuge, Ölkanister und Whiskyfäs ser. Die Wagen wurden von drei bewaffne ten Reitern eskortiert. Die Frachtwa gen-Gesellschaft hatte diese Vorsichts maßnahme getroffen, weil in den letzten Monaten immer wieder Transporte auf dem Weg von Roswell nach Tularosa oder von Las Cruces nach Tularosa überfallen worden waren. Die Fahrer und Begleitreiter des Transports freuten sich nach der langen, monotonen Fahrt auf die Rast in Tularo
sa auf ein kühles Bier und ein gutes Es sen. Alles war bisher gutgegangen. Noch ein paar Meilen, und dann zum Teufel mit dem Job. So dachten sie. Simon Bradford, der Kutscher des er sten Wagens, sah den Baumstamm, der den Weg hinter einer Biegung blockierte, erst im letzten Augenblick. Er war ein er fahrener Mann, und er handelte schnell und besonnen. Er warnte die nachfolgen den Fahrer mit einem Alarmschrei und zügelte das Gespann. Es gelang Bradford, den Wagen gerade noch vor der Sperre anzuhalten. Der Kutscher des zweiten Wagens mußte sein ganzes Geschick aufwenden, um ebenso schnell zu stoppen. Das dicht aufgefahrene Gespann wäre wohl gegen den so abrupt haltenden ersten Wagen
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geprallt, wenn der Kutscher nicht im zu hören. Ein seltsam schrilles Lachen. letzten Moment in einem waghalsigen Die Männer des Transports starrten Manöver seinen Wagen zwischen den er zur Felswand empor. Von dort oben war sten und die Felswand gelenkt hätte, die das Lachen ertönt. den Trail zur Linken begrenzte. Doch niemand war zu sehen. Der Conestoga schrammte an der Fels Al Dennison fluchte wild. wand vorbei und hielt ebenso dicht vor „Aber, aber", ertönte dann die Stimme der Barriere wie Simon Bradfords Ge auf den Trail herab. „Wer wird denn so fährt. böse Sachen sagen!" Wieder war das Der Fahrer des dritten Wagens hatte schrille Lachen zu hören. keine Mühe, rechtzeitig zu stoppen; sein Einer der Begleitreiter verlor die Ner Kollege hatte ihm Platz verschafft. ven. Er schoß blindlings zu der Felswand Die Begleitreiter hinauf. hatten sofort bei Si Eines der Ge Die Hauptpersonen des Romans: mon Bradfords spannpferde wieher Lobo — Das Halbblut findet das Pferd Alarmschrei ihre Ge te. Der Schuß hallte eines verschollenen US-Marshals und wehre hochgerissen. von den Felsen wi kommt einem Geheimnis auf die Spur. der. „Überfall!" schrie Ferguson — Der Marshal von Tularosa einer durch das „Ihr seid doch nicht befürchtet, daß er die nächste Wahl nicht gewinnen kann. Doch dann Knirschen der Wa lebensmüde, oder?" kommt seine große Stunde. genräder und den Jetzt hatte die Stim Kingman — Der Banditenboß hält sich für einen König und träumt vom gro Hufschlag. me des unsichtbaren ßen G o l d . Bis er einen Zeh verliert. Banditen einen kal Die Blicke der Mary-Ann — Das Mädchen weiß, daß es verloren ist, wenn es nicht alles ten und harten Ton Männer tasteten das auf eine Karte setzt. angenommen. „Wir Terrain ab, suchten Holloway — Der Totengräber von Tula rosa lacht oft zum unpassenden Zeit könnten euch auf der nach Angreifern. punkt. Er ist nicht der einzige, dem Stelle abservieren. Kein Bandit war zu das Lachen vergeht. Ihr habt keine Chan sehen. ce. Also werft eure Eines der Führ pferde schnaubte, dann herrschte plötz Eisen weg und seid vernünftig!" lich gespenstische Stille. Als wollte er seinen Worten Nachdruck verleihen, fielen jetzt Schüsse. Von allen Staub senkte sich. „Zurück!" rief Al Dennison, der Boß der Seiten. Jenseits der Sperre blitzte es plötzlich Begleitreiter. „Und wie, du Blödmann?" brüllte Si auf, rechts zwischen den niedrigen Fels blöcken, hinter ihnen und von oberhalb mon Bradford zornig. Sein Ärger war berechtigt. Es gab keine der Felswand knallte es. Sie hatten wirklich keine Chance. Möglichkeit zum Wenden. Zögernd ließen sie ihre Waffen fallen. Sie steckten in der Falle. Der Bandit oben auf der Felswand Immer noch ließ sich niemand blicken. lachte. „Prächtig, Gentlemen. So dürft ihr Kein Schuß fiel. noch ein bißchen am Leben bleiben. Ein Die Stille war bedrückend. „Vielleicht ist das nur ein Zufall", sagte bißchen!" Den Männern des Transports wurde es einer der Reiter mit rauher Stimme. „Ein bei diesen Worten kalt. Trotz der brüten vom Blitz gefällter Baum ..." „Hast du schon mal erlebt, daß der Blitz den Hitze, die ihnen bisher auf dem Weg 'nen Baum sauber absägt?" gab Simon so sehr zu schaffen gemacht hatte. Bradford zurück. Sein Blick tastete nervös und ange spannt die Felsen ab. „Haaaar, ihr Schnecken! Ihr vierbeini In diesem Augenblick war ein Lachen
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gen Würmer! Schneller, ihr lahmen Mist käfer!" Sam Shoemaker trieb das Gespann mit der Peitsche an. Die Kutsche raste durch die Ebene. Sam Shoemaker ließ seinen Blick zu den Hügeln im Südwesten gleiten. Noch etwa sechs Meilen bis Tularosa. Der Kutscher grinste. Er dachte an seine Prämie, die er in der Stadt bekommen würde. Es war nicht die übliche Prämie. Aber er hatte ja auch nicht die üblichen Passagiere an Bord. In der Kutsche saßen vier Frauen. Und was für welche. Sagen wir besser Weiber, korrigierte sich Sam Shoemaker in Gedanken. Eine blonde, zwei schwarze und eine rothaari ge - wenn man nur mal nach der Haar farbe ging. Sie waren auch anders zu be schreiben: Eine schlank und langbeinig, eine üppig, eine klein und grazil und eine besonders vollbusig — das war die Rot haarige. Die Rothaarige gefiel Sam am besten. Vielleicht lag das auch daran, daß sie ihm bei der Abfahrt in Roswell die Zu satzprämie versprochen hatte. Er durfte eine Nacht lang ihr Gast sein in dem Etablissement, in dem sie in Tula rosa arbeiten würde. Sam Shoemaker lachte, als er sich vor stellte, was für ein Etablissement das sein mußte. Sie hatten es ihm nicht gesagt, aber er war schließlich kein grüner Jun ge. Die vier Ladys gehörten zu der Sorte, die das Geld im Schlaf verdient. Es war für Sam nicht schwer gewesen, zu erraten, daß sie Nachschub für Barba ra Goldsmith's Haus mit der roten Laterne waren, das sie hochtrabend Etablisse ment nannte, das im Volksmund aber ei nen ganz anderen Namen hatte. Egal, dachte Sam Shoemaker, als er das Gespann über den gewundenen Trail durch die Hügel trieb. In diesem frau enarmen Land kann man nicht immer wählerisch sein. Die anständigen Frauen mußten umworben sein. Das konnte lan ge dauern, bis man da zum Zuge kam.
Und natürlich wollten sie geheiratet werden, bevor sie sich mit einem Mann einließen. Aber Sam Shoemaker war nicht wild aufs Heiraten. Der Kutscher war fünfunddreißig und fühlte sich wie ein siebzehnjähriger in seiner Sturm- und Drangzeit. Er fühlte sich recht wohl als Junggeselle. Er hatte einmal mit dem Gedanken ge spielt, sich trauen zu lassen, mit einem et was einfältigen, aber lieben Farmermäd chen. Bis er dann dessen Familie kennen gelernt hatte. Der Vater ein Trunken bold, die Mutter ständig am Keifen und die vier Brüder furchteinflößende Row dys. Eine feine Familie, die er dann am Hals gehabt hätte. Da hatte Sam Shoe maker sich schnell aus dem Staub ge macht. Ohne sich zu verabschieden. Sein Verzicht auf die Ehe im allgemei nen und auf die Farmerstochter im be sonderen hatte Folgen gehabt. Eine Zeit lang waren ihre Brüder hinter Sam her gewesen. Mit dem Versprechen, ihn blau und grün und außerdem noch windel weich zu schlagen, wenn sie ihn in die Finger bekommen würden. Aber sie hatten ihn nicht in die Finger bekommen. Seither war Sam Shoemaker keine fe ste Bindung mehr eingegangen, und das nicht nur aus Mangel an Gelegenheit. Er dachte an die Rothaarige - Nelly hieß sie - und er freute sich auf die Nacht mit ihr. Dann fiel der Schuß, und Sam Shoema ker freute sich nicht mehr. Die Kugel fegte ihm zwar nur den Hut vom Kopf, aber der Schreck war groß, und Sam erkannte jäh, daß aus dem Ver gnügen mit Nelly wohl nichts mehr wer den würde. Er beeilte sich, das Gespann zu zügeln. In der Kutsche schrien die Mädchen durcheinander. Sam Shoemaker hütete sich, nach der Schrotflinte zu greifen, die für den Not fall unter dem Sitz zu seinen Füßen lag. Es war ein Notfall, aber er erkannte so
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fort, daß er keine Chance hatte. Denn links und rechts des Trails tauch ten jetzt Reiter auf. Alle mit schußbereiten Gewehren. Die Kutsche hielt mit einem Ruck. Sam Shoemaker drehte die Bremse fest und reckte die Hände in die Höhe. Er ver fluchte den Augenblick, in dem er sich von den vier leichten Damen hatte an heuern lassen. Bei der planmäßigen Fahrt war immer ein Begleitfahrer da bei, mit dem Gewehr in der Hand, und auch von den männlichen Passagieren hätte man Hilfe erwarten können. Nicht aber von Nelly und ihren Kolle ginnen ... Die Reiter umzingelten die Kutsche. Ei ner von ihnen, ein hagerer Bursche mit einem wuchernden schwarzen Vollbart und einer auffällig spitzen, leicht ge krümmten Nase, lachte schrill und rief: „Dann steigt mal, aus, ihr Hübschen, da mit wir euch begutachten können!" Sie wissen, wer die Passagiere sind! durchfuhr es Sam Shoemaker. Das ist kein zufälliger Überfall von Wegelage rern. Sie wissen genau Bescheid. Als die Mädchen in Roswell die Kut sche gemietet hatten und Sam Nelly auf mögliche Gefahren hingewiesen hatte, hatte die Rothaarige nur gelacht: „Was haben wir denn schon zu verlieren ..." Die Unschuld bestimmt nicht, hatte Sam bei sich gedacht und nicht weiter auf einem Beifahrer bestanden. Der hätte jetzt wohl auch nichts ge nutzt. Sam Shoemaker wandte den Kopf und schaute zu, wie die Mädchen aus der Kut sche kletterten. Nelly als erste. Ihr rotes Haar leuchtete in der Sonne. Ihre gepuderten Wangen zeigten jetzt hektische rote Flecke. Ihr Busen hob und senkte sich unter heftigen Atemzügen. Nelly stemmte die Hände in die Taille und blickte die Banditen zornig an. Sie ignorierte die lüsternen Blicke der Män ner, die ihren Körper förmlich abtaste ten. „Was soll das?" fragte sie mit ihrer rau
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chigen Stimme. „Bei uns ist nichts zu ho len. Wir sind arme ..." Der Bandit mit dem schwarzen Bart lachte schrill. „He, Schwester, du bist wirklich gut. So ärmlich siehst du gar nicht aus. Eher mächtig reich, wenn ich mir das so ansehe." Die vier anderen Banditen grinsten und betrachteten Nelly und ihre Kolle ginnen. Besonders die üppige Lilian Zuckerstangen-Lil wurde sie von allen genannt wegen ihrer Vorliebe für Zuk kerstangen — schien es den Kerlen ange tan zu haben. Sie trug als einzige ein tief dekolletiertes Kleid. Einer der Banditen, ein junger Bursche mit hungrigem Blick, rief: „He, Sam, soll ten wir gleich mal eine kleine Probe ...?" „Halt die Klappe", erwiderte der schwarzbärtige Bandit namens Sam. „Alles zu seiner Zeit." Er lachte wieder seltsam schrill. Da habe ich aber einen verdammten Namensvetter, dachte Sam Shoemaker. Nelly blickte zu ihm, hilfesuchend und zugleich voller Angst. Er zuckte mit den Schultern und ver spürte ohnmächtige Wut. „Babys, ihr könnt wieder einsteigen", sagte der bärtige Sam, nachdem er die Mädchen der Reihe nach gemustert hatte. Wie ein Viehhändler Rinder auf der Versteigerung ansieht, dachte Sam Shoe maker angewidert. Sein Namensvetter schwang sich vom Pferd und drängte die Mädchen in die Kutsche zurück. Nelly schrie auf, als er sie hart am Arm packte. Der Bandit lachte nur. Er stieg hinter Nelly in die Kutsche. Ein anderer Bandit kletterte zu Sam Shoemaker auf den Kutschbock. „Fahr los!" sagte er hart und stieß Shoemaker die Gewehrmündung in die Rippen. Sam Shoemaker unterdrückte einen Aufschrei. „Und wohin?" fragte er unsicher. Der Bandit grinste. „In die Hölle, mein Freund!"
Sie kann doch nicht spurlos ver schwunden sein! Immer wieder kehrten Marshal Frede rick Palls Gedanken auf diesen Punkt zurück. Seit fünf Tagen suchte er seine Tochter Mary-Ann. Sie war mit drei Begleitern auf dem Weg nach Tularosa gewesen, wo er sie erwartet hatte. Sie war nicht in Tularosa eingetroffen. Nach zwei Tagen des Wartens hatte Marshal Pall es nicht mehr in Tularosa ausgehalten. Zumal eine telegraphische Rückfrage in Roswell ergeben hatte, daß seine Tochter und ihre Begleiter pünkt lich von dort losgeritten waren. Marshal Pall ahnte, daß irgend etwas passiert sein mußte. Voller Sorge ritt er über den Trail, der nach Roswell führte. Er hoffte, daß er ei ne natürliche Erklärung für das Ausblei ben seiner Tochter geben konnte, doch mit jeder Meile wuchs seine Unruhe. Sicher, Mary-Ann war ein impulsives Mädchen. Sie kam auf ihre Mutter, die vor drei Jahren bei einem Reitunfall ums Leben gekommen war. Es war ihr schon zuzutrauen, daß sie sich unterwegs in ei nen der drei jungen Begleiter verliebt hatte und mit ihm durchgebrannt war. Aber dann hätten die anderen doch in Tularosa eintreffen und ihn benachrich tigen müssen. Einer der Männer war Palls Neffe, und auch die anderen beiden kannte er gut genug, um ihnen zu ver trauen. Trotzdem machte der Marshal sich jetzt Vorwürfe, daß er seine Tochter nicht selbst in Roswell abgeholt hatte. Aber er hatte erst verspätet in Ferien gehen können. Sein Vertreter war er krankt, und Marshal Pall war nicht der Mann, der eine Stadt im Stich ließ. So war er in Alamogordo geblieben und hatte seine Tochter von den drei Jungen abho len lassen. An einer Station dreißig Meilen nord östlich von Tularosa erfuhr der Marshal schließlich, daß seine Tochter und ihre
Begleiter dort gerastet hatten und wei tergeritten waren. Irgendwo auf den letzten dreißig Meilen vor Tularosa muß ten sie verschwunden sein. Spurlos, wie es schien. Marshal Pall ritt auf seiner Fährte zu rück. Er war kein schlechter Spurenleser. Dennoch stand ihm das Glück zur Seite, als er etwa sieben Meilen von Tularosa entfernt das Halstuch seiner Tochter fand. Es lag am Rande des Trails, halb von Sand verdeckt, und Palilhätte es wahr scheinlich übersehen, wenn er nicht ge rade ein paar Yards entfernt angehalten hätte, um einen Schluck Wasser aus der Feldflasche zu trinken. Dann entdeckte er die Spuren von sechs oder sieben Reitern - genau war das nicht zu erkennen. Die Fährte führte nach Osten vom Trail fort in die Sacramento Mountains. Der Marshal wurde immer unruhiger. Er erinnerte sich an das Gespräch mit dem Marshal von Tularosa. Sein Freund hatte ihm erzählt, daß in den letzten Mo naten einige Bürger von Tularosa spurlos verschwunden, daß Frachtwagen nie eingetroffen waren, daß Barbara Gold smith ihre Mädchen aus Roswell vermißte und daß jede Suche erfolglos geblieben war. Es wurde Frederick Pall heiß und kalt zugleich. Er spürte, daß er einem Geheimnis auf der Spur war. Es mußte einen Zusammenhang mit dem Verschwinden seiner Tochter und den anderen Fällen geben. Mit jeder Meile wuchs die Anspannung des Marshals. Mary-Ann war offensichtlich entführt worden. Aber warum? Die Tochter eines Marshals, der keinerlei Ersparnisse hat te. Irgendwelche Feinde, die sich rächen wollten? Möglich. Aber wer konnte schon wissen, daß seine Tochter in Roswell bei einer Tante wohnte? Ein anderer Gedanke durchfuhr den Marshal.
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Mary-Ann war ein attraktives Mäd chen. Wenn Banditen sie mit in ihr Versteck genommen hatten... Frederick Pall wagte nicht, den Gedan ken fortzuführen. Er hatte einmal ein Mädchen aus einem Banditencamp be freit. Er hatte vorher ein Bild von ihr ge sehen. Als er das Mädchen dann in natura sah, wollte er zuerst nicht glauben, daß es sich um ein und dieselbe Person handelte. Aus dem jungen, blühenden Mädchen war ein Wrack geworden. Die Verbrecher hatten sie seelisch und körperlich zerbrochen. Allmächtiger, laß es nicht wahr sein, flehte alles in ihm. Er versuchte, sich einzureden, daß alles eine harmlose Erklärung finden würde, aber er wußte, daß er sich selbst belog. Das Halstuch war für seine Tochter wie ein Talisman. Ihre erste Liebe, ein Nach barsjunge, hatte ihr das Seidentuch ge schenkt. Ihre Initialen waren eingestickt. Sie trug das Tuch zu jeder Kleidung, selbst wenn sie in ihrem feinsten Kleid zum Tanzen ging. Sie hätte es niemals weggeworfen. Vielleicht hat sie es nur verloren, dach te Frederick Pall. Doch immer stärker spürte er, daß es nicht so war. Mary-Ann hatte damit ein Zeichen geben wollen. Die Fährte führte tief in das Bergland. Und was erwartet mich an ihrem En de? fragte sich der Marshal. Er hatte sich auf dem stundenlangen Ritt keine Pause gegönnt. Ungeduld und Sorge trieben ihn an. Plötzlich war die Fährte zu Ende. Sie endete in einem Gestrüpp zwischen mächtigen Felsen. Der Marshal untersuchte den Boden, umrundete das Gestrüpp, sein Blick ta stete die Felsblöcke ab, suchte nach einer Fortsetzung der Fährte - aber er konnte nichts entdecken. Die Reiter schienen sich in Luft aufge löst zu haben. Blödsinn! dachte Frederick Pall. Er war ein entschlossener Mann, erfahren in den dreizehn Jahren seiner Dienstzeit als
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Marshal. Er wußte, daß es für alles eine Erklärung gab. Des Rätsels Lösung lag irgendwo zwischen den angrenzenden Felsen, irgendeine versteckte Spalte, der Zugang zu einer Schlucht oder einem Tal. Dann entdeckte er einen abgeknickten Zweig. Erregung packte ihn. Er war dem Geheimnis auf der Spur. Irgendeine innere Stimme warnte ihn. Er lauschte und blickte angespannt in die Runde. Ein entfernter Vogelruf, dann umgab ihn wieder tiefe Stille. Der Marshal saß ab, zog sein Gewehr aus der Sattelhalfter und wollte zu Fuß durch das dichte Gestrüpp am Fuße mehrerer bizarrer Felsen. Er kam genau drei Schritte weit. Dann blitzte es zwischen den vertrock neten Sträuchern und Büschen vor ihm auf, und das Krachen eines Schusses zer riß die Stille. Marshal Frederick Pall verspürte ei nen Schlag gegen die Brust, taumelte zu rück und fiel. Mary-Ann! schrie eine Stimme in ihm. Wieder knallte es. Und dann wurde es schlagartig dunkel um Frederick Pall, und er spürte nichts mehr.
Lobo fand das Pferd etwa acht Meilen vor Tularosa. Es war ein großer, brauner Wallach mit weißer Stirnblesse und drei fast gleichmäßigen weißen „Strümpfen". Vielleicht hätte Lobo das Tier zwischen den Felsen am Rande des Trails nicht be merkt. Doch Lobos Morgan-Hengst schnaubte, und der Wallach antwortete mit einem Wiehern. Lobo, dessen Sinne vom Leben in einer gnadenlosen Wildnis geschärft waren, zog sofort seinen Army Colt und trieb den Morgan-Hengst vom Trail weg in Dek kung. Er mußte mit zumindest einem Reiter rechnen. Wachsamkeit war das oberste Gebot für ein Überleben in der Wildnis. Jeder
zeit und überall konnten Gefahren lau ern, und oft genug waren es zweibeinige Bestien, die den Tod bringen konnten. Lobo war mißtrauisch genug, kein Ri siko einzugehen. Er verharrte einige Zeit in sicherer Deckung, den Colt schußbereit, und war tete, was sich tun würde. Minutenlang geschah gar nichts, dann ertönte Hufschlag. Lobo spähte vorsichtig um einen Felsen herum und sah das Pferd, das auf den Trail lief und wieherte, als wollte es sei nen Artgenossen begrüßen. Lobo registrierte, daß das Pferd gesat telt war. Wo mochte der Reiter sein? Das Tier blieb am Rand des Trails ste hen, mit erhobenem Kopf und gespitzten Ohren und witterte zu Lobo herüber. Lobo wartete ab. Keine Menschenseele ließ sich blicken. Ob der Reiter gestürzt war? Das Gewehr steckte in der Sattelhalf ter. Lobo saß ab. Der Morgan-Hengst stand wie eine Statue. Lobo stieß seinen Colt in die Halfter und zog seine Winchester aus dem Sattel schuh. Er schlich ein paar Dutzend Yards in Deckung der Felsen am Trail zurück und tauchte dann, mit dem Gewehr im Hüftanschlag an einer völlig anderen Stelle auf, um einen möglichen Beobach ter zu überraschen. Nichts geschah. Nur das Pferd wandte den Kopf und blickte ihn fast traurig an. Lobo lief über den Reitweg und sah sich zwischen den Felsen auf der anderen Sei te um. Er fand die Spuren des Pferdes, aber nichts, was darauf hinwies, daß der Rei ter in der Nähe war. Das Tier mußte seinen Reiter entweder irgendwo anders abgeworfen haben, durchgegangen oder einfach entlaufen sein. Lobo gab nach einer halben Stunde die Suche auf. Er merkte sich die Stelle, an der er den
Wallach entdeckt hatte, und nahm ihn mit nach Tularosa. Es war ein gutes Tier mit einem teuren McClellan-Sattel. Warum sollte er es in der Wildnis zurücklassen? Vielleicht kannte jemand in Tularosa das Pferd und seinen Besitzer. In den Satteltaschen hatte er nichts ge funden, was einen Hinweis auf den Rei ter geben konnte, nur das Übliche, was jeder Reiter auf einen längeren Ritt mit nahm: Proviant, Zündhölzer, Verbands zeug und Ersatzwäsche. Lobo traf am Abend in Tularosa ein. Die Lampen an den Gehsteigen brann ten bereits und schaukelten sanft im Abendwind, der von den Sacramento Mountains herantrieb. Auf der Main Street herrschte reges Leben und Treiben. Ein flacher Farmwa gen rollte über die Fahrbahn, zwei Reiter begegneten ihm, Passanten kreuzten die Straße oder schritten über die Gehsteige. Als Lobo zum Mietstall ritt, hörte er aus einem Saloon laute Stimmen, Gitarren klang und Frauenlachen. Ein langer Ritt lag hinter ihm. Er war von Fort Sumner gekommen und hatte viele Nächte im Freien kampieren müs sen. Er freute sich auf ein heißes Bad, mit dem er den Staub und Schweiß abspülen konnte, auf ein Bier oder zwei und auf gutes Essen und die anderen Annehm lichkeiten, die eine Stadt zu bieten hat. Er besaß noch vierundachtzig Dollar. Dafür konnte er sich schon ein paar schö ne Tage leisten und von seinem letzten Job ausruhen. Irgendwann dann würde er mal wieder etwas für die Kasse tun und einen neuen Auftrag annehmen müssen. Aber das lag für Lobo im Augenblick noch in weiter Ferne. Er entdeckte ein Schild, das auf „Mil ler's Livery Stable" hinwies. Der rote Pfeil zeigte in eine Seitengasse. Lobo ritt hinein und fand den Stall am Ende der Gasse. Irgendwo begann ein Hund zu bellen. Ein kleiner Junge rannte an Lobo vor bei und starrte ihn mit einer Mischung
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aus Furcht und Neugier an. Das Stalltor stand offen. Lobo ritt in den dunklen Stall hinein und rief nach dem Stallmann. Seine Worte waren noch nicht verklun gen, als aus dem Dunkel rechts von ihm eine harte Stimme drohte: „Hände hoch und keine Bewegung, sonst knallt's!" „Sie haben aber 'ne freundliche Art, Ih re Kunden zu empfangen", sagte Lobo. Seine Augen hatten sich jetzt an die Dunkelheit gewöhnt, und er konnte Ein zelheiten erkennen. Vor einer der Boxen war die Silhouette eines kleinen, gebeug ten Mannes zu erkennen. Der Mann hielt eine Schrotflinte im Anschlag. Lobo seufzte und hob die Hände. Dabei zog er die Füße aus den Steigbü geln. „Solche Kunden empfängt man am be sten mit 'ner Ladung Schrot", sagte die Stimme aus dem Dunkel. „Wenn du nur laut atmest, fängst du Blei, du Hunde sohn!" Langsam stieg Unmut in Lobo auf. „Mein seltsamer Freund", sagte er ru hig. „Was immer dieses Spielchen auch bedeuten mag - es gefällt mir nicht. Nimm die Flinte weg, bevor ich's mir überlege und diesen miesen Mietstall verlasse, um zur Konkurrenz zu gehen." Falls es eine gibt, fügte er in Gedanken hinzu. „Du gehst nirgendwo mehr hin!" Die Stimme klang grimmig und zufrieden. Der Mann trat langsam auf Lobo zu. Er ging leicht gebückt, und seine Haltung verriet Anspannung. Und Nervosität. „Runter vom Gaul!" Lobo gehorchte. Ein nervöser Mann mit einer Schrotflinte durfte nicht unter schätzt werden. Lobo konnte sich keinen Reim auf das Verhalten des Mannes ma chen. Er konnte nur hoffen, daß er bald eine Erklärung erhalten würde. Der Stallmann war nach Stimme und gebeugter Haltung zu urteilen ein älterer Mann. Aber er benahm sich wie ein jun ger Heißsporn. Es war sein Fehler, daß er von Lobo verlangte, abzusitzen. Und es
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war ein Fehler, daß er den Hengst um runden wollte, um Lobo dabei im Auge behalten zu können. Lobo nutzte seine Chance. Er trieb den Hengst an. Aus dem Stand rammte das Tier den völlig überraschten Mann. Der Mann stürzte mit einem Aufschrei. Lobo schnellte sich bereits aus dem Sattel, flog auf den verdutzten und be nommenen Stallmann zu und schlug ihm die Schrotflinte aus den Händen. Er stieß die Waffe mit der Stiefelspitze fort und zog seinen Colt. „So, mein Lieber, jetzt werden wir..." Er wirbelte herum, denn er hörte ein Geräusch und erahnte eine Bewegung hinter sich. Da traf ihn auch schon der Hieb. Der Schlag hatte eigentlich seinem Hinterkopf gegolten, doch Lobos Reak tion war gerade noch rechtzeitig erfolgt. Der Revolverkolben traf nur seine Schul ter. Aber das war schmerzhaft genug. Lobos Unmut hatte sich längst in Zorn gesteigert. Wenn die beiden Kerle glaub ten, ihn bedrohen und niederschlagen zu können, dann sollten sie sich gewaltig geirrt haben. Bevor der zweite Gegner seine Waffe umdrehen konnte, sprang Lobo ihn an. Er stieß den Gegner zu Boden, seine Linke ergriff das rechte Handgelenk des Mannes und drehte es um, bis der Mann mit einem schmerzerfüllten Ächzen die Waffe losließ. Lobo stieß die Waffe mit dem Fuß aus der Reichweite. Sein Gegner trat mit dem Knie zu. Lobo verspürte einen heißen Schmerz. Zugleich wuchs sein Zorn über diesen Empfang in Tularosa. Zum Teufel, er kannte keine Menschenseele in der Stadt. Was hatte das alles zu bedeuten? Lobo hatte keine Lust auf einen länge ren Kampf. Außerdem mußte er noch mit dem Stallmann rechnen. Deshalb schlug er den zweiten Gegner mit dem Army Colt nieder. Der Mann sank stöhnend zurück und
blieb reglos liegen. Lobo war bereits zu dem Stallmann herumgeruckt. Der Mann wollte gerade an die Schrotflinte heran. „Stoß!" sagte Lobo, und seine Stimme war schneidend. Der Stallmann verharrte in seiner Be wegung, die Hand immer noch nach der Schrotflinte ausgestreckt. „Steh auf!" sagte Lobo. Er selbst erhob sich, hielt den Army Colt im Anschlag und schritt auf den Mann zu, der sich schwankend aufrichte te. „Gibt es in diesem komischen Laden 'ne Lampe, Mister?" fragte Lobo. Der Stallmann wies wortlos zur Seite. „Anzünden!" sagte Lobo nur. Der Stallmann gehorchte. Schließlich fiel der Schein der Lampe auf sein Gesicht. Es war ein altes, zer furchtes Gesicht mit eingefallenen Wan gen, dünnen, blutarmen Lippen, einem spitzen, stoppelbärtigen Kinn und dunk len Augen. In den Augen flackerte Furcht. Er starrte auf den Colt in Lobos Hand, dann irrte sein Blick an Lobo vorbei zu der reglosen Gestalt des zweiten Mannes. „Ich denke, du wirst mir jetzt einige Fragen beantworten", sagte Lobo ruhig. „Fangen wir an. Wer bist du?" „Ich bin Miller." „Okay, Miller", fuhr Lobo fort. „Und wer ist der andere unfreundliche Knabe da?" Lobo wies mit der Linken über die Schulter. „Das ist Sid Ferguson", lautete die Ant wort. „Der Marshal von Tularosa."
Es war für Lobo offensichtlich der Tag der Überraschungen. Er blickte zu dem bewußtlosen Marshal hin. Sid Ferguson begann sich gerade zu regen. „Das ist mein erster", murmelte Lobo. „Was, erster?" fragte Miller verständ nislos. Lobo grinste ihn an. „Marshal, den ich
k.o. geschlagen habe." Miller starrte ihn feindselig an. „Tun Sie doch nicht so, Sie verdammter ..." Lobos kalter Blick ließ ihn verstum men. Lobo schaute zu dem Pferd, das ihm unterwegs über den Weg gelaufen war. Es war ihm klargeworden, daß der Wal lach eine Rolle in dieser seltsamen Ange legenheit spielen mußte. Ob der Besitzer ein verdammter - und so weiter gewesen war? Ob man ihn durch das Pferd mit dem Mann in Verbindung brachte? Der Marshal richtete sich stöhnend auf, betastete seinen Kopf und stöhnte noch lauter. Dann schien seine Erinnerung einzu setzen. „Miller, hast du den Bastard ...?" „Der Bastard ließ mich nicht", erklärte Miller traurig. Der Marshal wandte den Kopf, und erst jetzt sah er anscheinend wieder völlig klar. Er fluchte. Lobo hielt noch seinen Army Colt in der Hand. „Wie wäre es mit einer Erklärung?" fragte er ruhig. Das schien dem Marshal die Sprache zu verschlagen. Er blinzelte, schaute Lobo fast verblüfft an und sagte: „Erklärung? Was haben Sie mit Frederick Pall ge macht?" „Wer ist Frederick Pall?" „Der Besitzer dieses Pferdes." Der Mar shal wies auf den Wallach. Lobo schob seinen Colt in die Halfter. Jetzt begriff er so einiges. Er erzählte, daß er das Pferd in der Wildnis gefunden hatte. Ohne Reiter. Die beiden Männer blickten immer noch mißtrauisch. Damit man ihn nicht noch für einen Pferdedieb oder gar Schlimmeres hielt, sagte er: „Wenn ich Pall das Pferd abge nommen hätte, dann hätte ich es be stimmt nicht hergebracht. Es ist ein ziemlich auffälliges Tier ..." „Eben", murmelte der Marshal. Er blickte Lobo ernst und immer noch miß trauisch an. „Sie wurden schon gesehen, als sie noch nicht in der Stadt waren. Das
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Pferd ist hier bekannt." Er wies auf den Stallmann. „Sein Enkel hat uns beide alarmiert." „So ist das also", sagte Lobo. „So ist das", wiederholte der Marshal. Er klopfte sich Staub und Stroh von sei ner Hose, ging zu seinem Peacemaker und hob ihn auf. Dann richtete er die Waffe auf Lobo. Miller sprang sofort zu seiner Schrot flinte. „Was soll das?" fragte Lobo. Die Aktion des Marshals hatte ihn völlig überrascht. Der Marshal grinste. Ein unsympathi sches Grinsen, wie Lobo fand. „Du bist verhaftet!" sagte Marshal Fer guson kalt. Und Miller fügte ein gemeines Schimpf wort hinzu. Eine freundliche Stadt mit so netten Leuten! dachte Lobo bitter. „Und warum?" fragte er gelassen. „Pferdediebstahl, Widerstand gegen das Gesetz. Und ich wette, da kommt noch einiges mehr zusammen, vielleicht sogar Mord ..." „Dann wetten Sie mal, Sie Hampel mann ..." „Und Beleidigung", fügte der Marshal grimmig hinzu. Lobo holte tief Luft. „Ich will Ihnen mal was sagen, Sie..." ,,Spar dir das für den Richter", unter brach ihn der Marshal hart. „Ab jetzt, in den Käfig. Und laß dir nicht einfallen, et was zu versuchen. Ich schieße sofort!" Er spannte den Colthammer. „Miller, ent waffne ihn!" Lobo ballte unbewußt die Rechte zur Faust. Er bezweifelte nicht, daß der Marshal seine Drohung ernstgemeint hatte. In was war er da nur hineingeraten? Jetzt fehlte nur noch, daß der Richter von Tularosa ein ebensolcher Narr war wie dieser seltsame Marshal. Lobo ließ sich den Army Colt von Mil ler abnehmen. Der Stallmann drückte ihm die Doppelmündung der Schrotflinte ins Kreuz. Lobo sagte knapp und präzise, was er
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von der ganzen Angelegenheit hielt. Er versuchte mit sachlichen Argumenten den Marshal zu überzeugen, aber es war, als redete er gegen eine Wand. „Marshal, es wird Ihnen noch leid tun", sagte Lobo schließlich. „Spätestens ..." „Wenn du baumelst", sagte der Stall mann kichernd. „Los jetzt, geh schon!" sagte der Mar shal. Lobo zuckte mit den Schultern. Es hatte keinen Sinn, aufzubegehren. Bald würde sich die Verwechslung oder was immer den Marshal zu seinem Vorgehen veran laßte, herausstellen. Aber mit einem gemütlichen Abend wurde es wohl vorerst nichts. Er blickte den Stallmann an, der zwei Schritte zurückgetreten war und seine Schrotflinte auf ihn gerichtet hielt. „Du kümmerst dich um mein Pferd, Al ter. Und zwar gut, sonst wirst du es be reuen." Miller lachte krächzend. „Keine Sorge, der Gaul wird schon gut versorgt. Was kann das Tier dafür, daß es von einem Dreckskerl geritten wird?" Auch diese Worte nahm Lobo scheinbar gleichmütig hin. Seine Miene verriet nichts von der Wut, die in ihm tobte. Er verließ den Stall und verschränkte die Hände im Nacken, wie es ihm der Marshal befohlen hatte. Marshal Ferguson folgte dichtauf. Sie gingen durch die dunkle Gasse zur Main Street. „Bis zur Mitte der Straße und dann nach rechts!" kommandierte der Mar shal. Er genoß es offensichtlichem Mit telpunkt des Interesses zu stehen. Im Nu waren Schaulustige herbeige laufen. Selbst aus den Saloons eilten Gaf fer herbei. Lobo schritt durch eine Gasse der Feindseligkeit. Er versuchte, die Blicke der Neugierigen zu ignorieren. Ganz ge lang es ihm nicht. „Bravo, Marshal!" rief eine helle Frau enstimme vom Gehsteig herüber. „Wann wird er aufgehängt?" Lobo warf einen Blick zu der Frau. Sie
war hellblond, groß und ziemlich drall. Er schätzte sie auf Mitte Dreißig. Nicht unattraktiv. Aber in diesem Augenblick äußerst unsympathisch. „Eh, der sieht ja aus wie'n Indianer", johlte einer in der Menge. Stimmenge wirr entstand. Lobo preßte die Lippen aufeinander und bemühte sich, nicht hinzuhören. Er war es gewohnt, wegen seiner Ab stammung von manchen weißen Chri stenmenschen verspottet, ja sogar ver achtet zu werden. Es gab leider immer noch Menschen, die andere nach ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft, nach ihrer Kleidung und ihrem Geldbeutel beurteil ten, statt nach dem Kern. Intoleranz und Vorurteile würden wohl nie ganz aus sterben auf dieser Welt. Lobo hatte sich nie ganz damit abfin den können, aber er nahm es hin. Was machte es dem Mond aus, wenn die Köter ihn ankläfften? Kläffen, dachte Lobo, sie kläffen. In der Masse fühlen sie sich stark gegen einen einzelnen. „Aufhängen..." „Verdammte Rothaut..." „Marshal, schieß doch ..." „Ich wähl dich auch wieder, Sid ..." So und ähnlich schrie es aus der Menge der Schaulustigen. Und Lobo fühlte sich sehr einsam. Bitterkeit war in ihm. Er hatte ge glaubt, im Laufe der Zeit ein dickes Fell in dieser Hinsicht bekommen zu haben. Es war wohl nicht dick genug. Er hatte versucht, sich damit abzufinden, daß nicht alles gut war auf dieser Welt, daß es wie Tag und Nacht, Sonne und Regen auch Schönes und Häßliches gab. Er hatte nicht nur schlechte Erfahrun gen machen müssen - er hatte auch viel Gutes erlebt. Freundschaft und Liebe waren ihm zuteil geworden, Vertrauen und Güte anderer hatte er kennenge lernt, und das hatte ihn gestärkt, ihn zu versichtlich bleiben lassen. Das Gute war da, man mußte es nur se hen. Ein Mann in der Menge fiel ihm auf. Es
war ein fast kahlköpfiger kleiner Mann mit einem gutmütigen Gesicht und rosi ger Haut - ein Vollmondgesicht, dachte Lobo. „Ihr seid ja alle plemplem!" rief er durch das Stimmengewirr. „Noch ist der Mann nicht verurteilt, und solange nicht bewiesen ist..." Der Rest ging im Geschrei der anderen unter. „Archie, du Hammel." Lobos Lippen zeigten die Andeutung eines Lächelns. Der Mond hatte zurückgebellt! Und jetzt wurde dieser Mann verspot tet und womöglich sogar angefeindet. Weil er eine andere Meinung hatte und es auch noch wagte, sie zu vertreten. Lobos Blick glitt zu der Fassade des Lo kals, vor dem der kleine Mann mit dem Mondgesicht stand und heftig diskutier te. ARCHIES BAR - verkündeten abge blätterte Lettern, weiß auf dunklem Grund. Bevor ich diese miese Stadt verlasse, dachte Lobo, nehme ich noch einen Drink bei Archie. Sie waren beim Marshal's Office ange langt. Marshal Ferguson dirigierte Lobo in sein Büro und von dort in eine der Zel len. Dann machte er den Gefangenen auf seine Rechte aufmerksam. „Reichlich spät", sagte Lobo spöttisch. Zu seiner Überraschung nickte der Marshail „Sie haben völlig recht, Mann. Betrachten Sie sich nur als vorläufig festgenommen." Er lehnte sich an das Gitter, wie halt suchend, und wischte sich über die Stirn. Lobo hockte sich auf die Pritsche und schaute Sid Ferguson schweigend an. Er wartete auf eine Erklärung. Der Marshal wirkte müde und irgend wie resigniert. Lobo schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Ferguson war mittelgroß, etwas korpu lent, hatte schütteres blondes Haar und einen rötlichen, dünnen Oberlippenbart. Seine grünen Augen funkelten im Schein der Lampe auf dem Gang. „Erzählen Sie noch einmal Ihre Story",
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forderte er Lobo auf. Lobo wiederholte, was er schon im Stall gesagt hatte. Die Miene des Marshals wurde immer nachdenklicher. Als Lobo geendet hatte, hieb der Mar shal mit der Faust gegen die Gitterstäbe. „Ich hab geahnt, daß es ein Fehler war. Ich hab es gleich geahnt. Aber Sie müssen verstehen, Mister - wie heißen Sie eigent lich?" Lobo nannte seinen Namen. Und dann holte er einige Schriftstücke hervor, aus denen hervorging, daß er erfolgreich für das Gesetz gearbeitet hatte. Lobo machte sich nicht viel aus solchen Belobigungs und Empfehlungsschreiben, aber sie hat ten ihm schon einmal geholfen. Jetzt sah es fast so aus, als brauchte nicht er, sondern der Marshal von Tula rosa Hilfe. Sid Fergusons Miene verriet ein schlechtes Gewissen. Und seine Worte kamen einem Eingeständnis gleich. Er versuchte sich zu rechtfertigen und um Verständnis zu buhlen. Lobo fühlte sich an einen Doc erinnert, der einem schwerkranken Patienten sein Leid klagt. Es war beinahe amüsant, aber Lobo konnte nicht darüber lächeln. Marshal Sid Ferguson, das wurde im mer deutlicher, war mit den Nerven am Ende. In vier Wochen war die neue Wahl, und seine Aussichten, noch eine Amtszeit Marshal von Tularosa zu bleiben, waren gleich Null. Er hatte keinerlei Erfolge vorzuweisen, und in den letzten Monaten war zuviel Schlimmes in Tularosa ge schehen. Menschen waren aus der Stadt verschwunden und nicht wieder aufge taucht, es hatte Überfälle gegeben, sogar einen Mord. Nichts von alledem hatte der Marshal aufklären können. Kein Wunder, daß man ihn für unfähig hielt und nach ei nem besseren Mann rief. Sid Ferguson wünschte sich nichts sehnlicher als einen Erfolg. Den großen Erfolg, der seine Gegner verstummen ließ. Als er vorhin seinen Gefangenen ab führte, hatte er sich in einem vermeintli
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chen Erfolg gesonnt. Jetzt war er ernüch tert. Ihm war klargeworden, daß er einen Fehler begangen hatte. Welche Beweise konnte er dem Richter präsentieren? Keine. Er suchte jetzt vergeblich nach ei ner Rechtfertigung für sein unkorrektes Verhalten. Hinzu kam, daß er persönlich zu emo tionell in dieser Sache - wie er es nannte engagiert war. Der Besitzer des Pferdes, Frederick Pall, war sein bester Freund. Seit Tagen wartete er sorgenvoll auf dessen Rück kehr. Als man ihm vorhin berichtet hatte, daß ein Fremder mit Palls Pferd in der Stadt aufgetaucht sei, war er sofort vor eingenommen gewesen. Dann, im Stall, hatte er gesehen, wie Miller von dem Fremden angegriffen wurde. Für ihn war der Fall klargewesen. Erst durch die Rufe des Mobs auf der Straße war ihm gedämmert, daß er im Grunde haltlose Beschuldigungen gegen Lobo erhoben hatte. „Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung", sagte Lobo, nachdem der Marshal ihm sein Herz ausgeschüttet hatte. Sid Ferguson zog eine beleidigte Miene. „Werden Sie nicht frech", sagte er. „Es bleibt trotzdem Widerstand gegen das Gesetz..." „Sie haben mich hinterrücks angegrif fen - ohne sich vorzustellen", stellte Lobo richtig. „Ich mußte mich in Notwehr ver teidigen. Okay, Sie wähnten Miller in Ge fahr und handelten deshalb so über stürzt, aber das konnte ich nicht wissen. Sie hätten genausogut ein Bandit sein können." „Und Beleidigung ..." „Wollen wir nicht darüber streiten, wer wen mehr beleidigt hat", sagte Lobo und erhob sich. Er schritt zur Zellentür. „Okay, ich werde mich bemühen, nicht nachtragend zu sein. Vergessen wir das Spielchen. Schließen Sie auf." Sid Ferguson trat einen Schritt von den Gitterstäben zurück. „Nein, das geht noch nicht. Ich muß erst mit dem Richter sprechen. Wenn ich Sie
einfach jetzt freilasse, zerreißen mich die Bürger in Stücke. Sie wollen endlich Er folge. Die halten jeden Fremden schon für verdächtig. Sie haben doch gehört, welche Stimmung in der Stadt herrscht, nach allem, was in der letzten Zeit pas siert ist." Er schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Sie bleiben vorerst im Käfig. Ich re de mit dem Richter, und wenn der keinen Grund sieht, Sie hier festzuhalten, bin ich gedeckt. Dann kann mir niemand einen Vorwurf machen." „Ihre Methoden sind das letzte", sagte Lobo. Und dann sagte er dem Marshal unverblümt, was er von ihm hielt, wovon feige noch das Harmloseste war. Sid Ferguson schluckte. Er öffnete den Mund zu einer Erwide rung, doch als er Lobo nur lächeln sah, sagte er nichts und ging davon. Und er wirkte noch müder und resi gnierter. Lobo streckte sich auf der Pritsche aus und hing seinen Gedanken nach. Eine seltsame Sache, in die er durch Zu fall hineingeraten war. Ein seltsamer Marshal, eine seltsame Stadt. Einen Augenblick lang überlegte er, was aus dem Besitzer des Pferdes, Frede rick Pall, geworden sein mochte. Sid Fer guson hatte erwähnt, daß Pall auf der Suche nach seiner verschollenen Tochter gewesen sei. Vielleicht war er verun glückt, vielleicht war er an die Banditen geraten, von denen Ferguson gesprochen hatte. Was geht das alles mich an? dachte Lo bo. Keine zehn Pferde halten mich auch nur eine Minute länger als nötig in dieser ungastlichen Stadt auf. Etwas essen und trinken, und dann nichts wie weg aus Tu larosa!
Lobos Aufenthalt im Gefängnis von Tularosa währte eine knappe Stunde. Dann entließ ihn der Marshal. Sid Ferguson war ziemlich mürrisch, denn er hatte vom Richter einen Tadel hinnehmen müssen.
Als er Lobo im Office seine Waffen zu rückgegeben hatte, sagte er klagend: „Was werden jetzt die Leute sagen? Jetzt bin ich mal wieder der Dumme. Wie soll ich dem Volk klarmachen ..." „Das ist Ihr Problem", unterbrach ihn Lobo und verließ grußlos das Büro. Auch Lobo war nicht gerade in guter Stimmung. Er hatte Hunger und Durst, und der unfreundliche Empfang in Tula rosa war noch nicht vergessen. Lobo ging in Archies Bar. Es hielten sich nur zwei Gäste in dem kleinen Lokal auf. Archie stand hinter der viereckigen Theke und polierte mit Hingabe Gläser. Sein Vollmondgesicht verzog sich zu ei nem breiten Grinsen, als er Lobo sah. Die beiden Gäste starrten Lobo zuerst erstaunt, dann feindselig an. Einen von ihnen erkannte Lobo wieder. Es war ei ner der Kopf ab-Schreier. „Es hat sich schon herumgesprochen, daß Sie ein freier Mann sind, Mister", sagte Archie, und Lobo sah, daß dem Mann zwei Schneidezähne fehlten. „Na, ich hab mir das gleich gedacht. Ferguson ist eine Pfeife. Der ist imstande, jeden festzunehmen, der als Fremder in die Stadt kommt. Verdammte Hysterie in Tularosa. Was darf's denn sein?" Er blickte Lobo fragend an. Lobo bestellte Bier und fragte, ob es auch etwas zu essen gebe. Archie zapfte sogleich ein Bier. „Mit Essen kann ich leider nicht dienen", sagte er entschuldigend. „Eine Zeitlang hab ich's mal mit der Küche versucht, aber es hat wahrscheinlich niemandem ge schmeckt außer mir. Da hab ich auf die Küche verzichtet. Wissen Sie, ich bin Junggeselle. Wenn ich mal 'ne tüchtige Köchin fände..." Er zuckte mit den Schultern und ließ den Rest unausge sprochen. Schwungvoll stellte er das Glas vor Lo bo ab. Lobo trank. Das Bier schmeckte ihm. „... trotzdem ...", hörte er einen der Männer am Tisch sagen, „... bei 'ner hal
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ben Rothaut weiß man nie. Ich sage dir ..." Er senkte die Stimme, als Lobo sich langsam umwandte und ihm einen Blick zuwarf. „Zahlen, Archie!" rief der andere Mann. Archie kam hinter der Theke hervor und ging an den Tisch. Lobo sah, daß der Wirt kleine Beine hatte, Stummelbeine. Er schien fast nur aus Oberkörper zu be stehen. Mit kurzen, schnellen Schritten ging er an den Tisch. „Du hattest doch noch einen bestellt, Harry", sagte er. „Soll ich dafür gleich mitkassieren?" „Bei dir bestell ich gar nichts mehr", er klärte Harry und schielte an Archies Schulter vorbei zu Lobo. „Solange du sol che Leute wie den da nicht aus deinem Laden wirfst, kannst du mich als Kunden vergessen." Wie er „solche Leute" aussprach, klang es beleidigend. Doch Lobo entschied, das zu überhören. Er wandte sich ab und trank sein Bier aus. Dann holte er sein Rauchzeug hervor und drehte sich eine Zigarette. Die beiden Bürger verließen das Lokal. An der Tür murmelte noch einer von ih nen etwas wie: „... verpestete Luft kann man nicht mehr hingehen..." Dann pendelte die Schwingtür hinter ihnen aus. Archie kehrte hinter seine Theke zu rück und warf das Geld, das er kassiert hatte, auf einen Teller. Seine Miene wirk te beinahe angewidert. Wortlos nahm er zwei Gläser aus dem Regal und schenkte aus einer Flasche Whisky ein. „Der geht auf mich, Mister", sagte er und schob Lobo das Glas hin. Dann pro stete er Lobo zu und grinste wieder. „Auf die netten Menschen von Tularo sa", sagte Archie in spöttischem Tonfall. Lobo lächelte. Archie gefiel ihm. Sie tranken. „Ich komme mir schon fast geschäfts schädigend vor", sagte Lobo und stellte das leere Glas ab. Archie wischte sich über den Mund. „Auf solche Gäste kann ich verzichten",
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murmelte er. „Wahrscheinlich gebe ich den Laden bald sowieso auf. Gefällt mir hier nicht. Fünf Monate Tolarosa reichen mir. Widerliches Volk. Ich hätte besser bei meinem Job bleiben sollen." Lobo fragte sich, welchen Job dieser Archie wohl gehabt haben mochte, aber er verzichtete auf eine diesbezügliche Frage, denn er merkte dem Mann an, daß er zum Plaudern aufgelegt war. Lobo rauchte schweigend. „Ich bin nämlich gar kein richtiger Wirt", fuhr Archie fort. „War Vormann auf der Amboß-Ranch. Aber dann ver kaufte der Boß und ging nach San Fran cisco. Und der neue Boß war nicht der Richtige für mich. Ziemlich arroganter Pinsel. Unsere Abneigung war gegensei tig. Da bin ich gegangen und dachte, ver such dich mal als Wirt." Er zwinkerte Lobo zu und schenkte sich noch einen Whisky ein. „Ich hatte auch ein bißchen die Nase voll von dem dauernden Umgang mit Rindviechern. Dachte mir, daß mit 'ner Kneipe 'ne Menge Moos zu machen ist. Das war allerdings ein Irrtum. Und von den zweibeinigen Rindviechern hab ich noch mehr die Nase voll. So kommt man vom Regen in die Traufe. Naja, so ist das nun mal im Leben, Mister ..." „Sie dürfen Lobo zu mir sagen." Archie nickte und polierte weiter Glä ser. „Sie bleiben doch bestimmt nicht län ger hier?" sagte er nach einer Weile. „Bestimmt nicht", erwiderte Lobo. „Ich will nur noch etwas essen, dann reite ich weiter." „Kann ich verstehen", meinte Archie. „Tularosa ist..." Er blickte an Lobo vorbei und ver stummte. Drei Männer betraten das Lokal. Lobo bemerkte an Archies Miene, daß er sich über die neuen Gäste nicht gerade freute. Lobo warf einen Blick über die Schul ter. Zwei der Männer waren wie Weiderei ter gekleidet. Sie blieben zwei Schritte
links und rechts hinter dem dritten Mann zurück. Der Mann in der Mitte war groß und breitschultrig. Er trug einen Prince-Al bert-Rock, eine graue Reithose und Stie fel mit Sporen. Er blieb breitbeinig vor Lobo stehen, musterte ihn von oben bis unten und sagte mit dröhnender Stimme: „Du bist also das Halbblut." Lobo wandte sich ab und ignorierte den Mann. Wer immer das sein mochte, er war ge nau der Typ, den Lobo nicht leiden moch te. „Eh, du!" rief einer der Begleiter. „Der Boß spricht mit dir. Also mach die Zähne auseinander, oder ..." Lobo wandte sich jetzt ganz um und lehnte sich mit dem Rücken an die Theke. Er wirkte entspannt, fast gelangweilt, doch der Anblick trog. Lobo richtete sich auf Verdruß ein. „Oder?" fragte er sanft. „Oder wir helfen nach", sagte der Mann links vom Boß. Lobo lächelte. „Und wie?" fragte er ru hig. „So", erwiderte der Mann, und seine Rechte klatschte auf den Kolben seines Colts. Er zog glatt und schnell, doch er überschätzte ganz offensichtlich seine Möglichkeiten. Bevor er die Waffe ganz aus der Halfter hatte, blickte er schon in die Mündung von Lobos Army Colt. Er verharrte verblüfft. Der Mann in dem Prince-Albert-Rock hob gebieterisch die Rechte. „Fred, laß den Unsinn." Dann blickte er aus grauen, schmalen Augen Lobo an. „Und du eben falls. Steck das Eisen weg! Ich will mit dir reden." Lobo lächelte. „Aber ich nicht mit dir." Er sah, daß Fred wie ein gescholtener Junge wirkte und sofort seine Waffe halfterte. Lobo war überzeugt davon, daß keine Gefahr mehr drohte. Auch nicht von dem anderen und dem Boß. Sie woll ten etwas von ihm, also war nicht mehr mit einem Angriff zu rechnen. So schob Lobo den Army Colt ins Leder zurück
und zeigte ihnen den Rücken. „Wer ist denn der Knabe?" sagte er im Plauderton zu Archie. Archies Miene zeigte grimmige Zufrie denheit. „Der Knabe ist Lionel Wester. Mein letzter Boß." „Da kann ich verstehen, daß Sie aus Verzweiflung 'ne Kneipe eröffnet haben", sagte Lobo grinsend. Lionel Westers Sporen klingelten. Er trat neben Lobo an die Theke und schob sich den Hut aus der Stirn. Eine blonde Haarsträhne wurde sichtbar. „Du hast dich nicht verändert", sagte er zu Archie. „Doch", erwiderte Archie. „Seit ich nicht mehr auf der Ranch bin, fühle ich mich wieder als Mensch. Willst du was trinken oder nur große Sprüche klopfen, großer Boß und Herdenmeister?" „Whisky für alle", sagte Lional Wester herablassend. Archie nahm die Flasche aus dem Re gal, warf sie hoch und fing sie geschickt wieder auf. „Da hast du dir aber einen ru higen Tag ausgesucht", sagte er spöttisch. ,,'ne billige Lokalrunde." Lobo sah mit einem Seitenblick, daß sich das sonst verschlossen und finster wirkende Gesicht des Ranchers zu einem Grinsen verzog. „Ja, ich hab extra gewar tet, bis du nur einen Gast in deinem mie sen Laden hast." Er musterte Archie. „Was ist, willst du nicht diese Bude ver gessen und wieder zurückkommen? Ich könnte noch einen Mann gebrauchen." „Das Angebot überrascht mich", sagte Archie. „Soll das ein Witz sein?" „Im Ernst", erklärte der Rancher. „Wir können unseren kleinen Streit vergessen, ich lege noch ein paar Dollars drauf, und du reitest wieder für mich." „Nicht für Geld und gute Worte", sagte Archie entschieden. „Alles nur eine Frage des Geldes", sagte Lionel Wester, und seine Worte klangen wieder herablassend wie zuvor. „Na, du kannst es dir ja noch überlegen. Du könntest wieder als Vormann einsteigen. Es ist nicht leicht heutzutage, geeignete Mitarbeiter zu finden."
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Archie lachte. „Die meisten laufen dir weg, wenn sie dich kennengelernt haben. Manchmal gleich im halben Dutzend ..." Lionel Westers Miene verhärtete sich. Er wollte etwas auf Archies Bemerkung erwidern, doch dann verzichtete er dar auf und rief über die Schulter: „Fred, Will, bedient euch!" Die beiden Cowboys gesellten sich zu ihrem Boß an die Theke und nahmen ihre Gläser. Der Rancher blickte Lobo auffor dernd an. Lobo rührte sein Glas nicht an. Er trank nicht mit jedem. Lionel Westers graue Augen verrieten Unmut, doch dann zuckte er nur mit den Schultern und trank. Archie trank ebenfalls, und es schien ihm besonders gut zu schmecken. Dann sagte er zu Lobo: „Sie können ohne Ge wissensbisse trinken, Mister. Lionel We ster spart die Runde wieder beim Lohn seiner Cowboys ein." Der Mann namens Fred lachte, doch er verstummte sofort, als sein Boß ihm ei nen Blick zuwarf. Der Rancher wandte sich wieder an Archie. „Wie ich schon sagte - du hast dich nicht verändert. Du bist immer noch so unverschämt." Dann heftete er seinen Blick auf Lobo. „Nun zu dir. Ich hörte vom Marshal, daß du angeblich ein Pferd gefunden hast. Das Pferd eines Mannes, der auf der Su che nach seiner verschollenen Tochter war. Nehmen wir mal an, deine Behaup tung stimmt. Wo hast du das Pferd ge funden?" Die Frage klang barsch. Nein, das war nicht der Ton, der Lobo gefiel. Und auch das Verhalten der bei den Cowboys war alles andere als sym pathisch. Sie traten einen Schritt von der Theke fort, und ihre Hände lagen auf den Kolben ihrer Colts. „Soll ich nachhelfen ...?" fragte Fred, obwohl er doch vorhin seine Lektion ge lernt haben müßte. Er neigte offenbar zur Selbstüberschätzung. Lobo ignorierte den Rancher, der sich wohl für den Nabel der Welt hielt, und
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seine beiden Cowboys. Er legte einen Dollar auf die Theke und sagte. „Ich möchte zahlen." Archie nahm den Dollar und zählte das Wechselgeld ab. Lobo steckte es ein und wandte sich zum Gehen. Aus den Augenwinkeln sah er Lionel Westers Bewegung. Der Rancher packte Lobo hart an der Schulter und riß ihn herum. „Du ver dammter Tramp wirst mir sofort..." Weiter kam er nicht. Denn Lobo schlug mit der geballten Rechten zu. Seine Aktion war zu schnell und über raschend für den Rancher. Mit einem Aufschrei taumelte er zurück. Er prallte gegen Fred, der gerade seinen Revolver ziehen wollte, und behinderte ihn. Er ver deckte auch für seinen zweiten Mann die Sicht auf Lobo. Lobo zog den Army Colt. Er richtete ihn auf den Rancher und sagte: „Verschwinde, du großkotziger Strolch." „Aber erst zahlst du noch die Zeche", warf Archie ein. Seine Stimme verriet Genugtuung. Lionel Wester starrte auf den Colt in Lobos Hand, dann in Lobos Augen. Die Blicke der Männer schienen sich förmlich ineinander zu verkrallen. Die Augen des Ranchers verrieten zwar Zorn, doch er hatte sich erstaunlich in der Gewalt. Mit ruhiger, aber etwas gepreßter Stimme sagte er: „Noch nie mand hat mich ungestraft geschlagen und mit einer Waffe bedroht." „Mich auch nicht", erwiderte Lobo. „Sag deinen Jungs, daß sie die Eisen weg stecken und verduften sollen." „Okay. Tut, was er sagt." „Aber ...", begehrte Fred auf. „Hast du nicht gehört!" schrie Wester jähzornig. Er brauchte ein Ventil für die angestaute Wut. Die beiden Cowboys gehorchten. Lionel Wester legte Geld auf die Theke. Dann starrte er Lobo noch einmal an und verließ wortlos das Lokal,
Die Cowboys folgten seinem Beispiel. Auch sie bedachten Lobo noch mit wü tenden Blicken, bevor sie gingen. „Mann o Mann", sagte Archie. „Darauf muß ich glatt einen schlucken." Er schenkte sich Whisky ein. „Sie machen sich aber schnell Feinde. Das wird der große Lionel Wester nicht auf sich beru hen lassen. Ich wette, der schickt Ihnen seine gesamte Mannschaft auf den Hals." Lobo zuckte mit den Schultern und trank das Glas leer, das Wester ihm spen diert hatte. „Schmeckt gut", sagte er. Dann grinste er Archie an. „Können Sie mir sagen, was dieser Wester eigentlich wirklich woll te?" „Sie haben's doch gehört. Er wollte wis sen, wo Sie das Pferd gefunden haben." „Wenn er anständig gefragt hätte, hätte ich's ihm gesagt. Aber ich frage mich, warum er sich überhaupt dafür interes siert." „Hat Sie der Marshal nicht auch danach gefragt?" wollte Archie verwundert wis sen. Lobo schüttelte den Kopf. „Ferguson ist wirklich die größte Pfeife aller Pfeifen", stellte Archie fest. „Die Frage hätte doch jeder vernünftige Mensch gestellt. Man stelle sich vor: Sie finden das Pferd eines Mannes, der auf der Suche nach seiner verschollenen Tochter war. Keine Spur von dem Mann, nur das Pferd. Vielleicht hat der Mann etwas entdeckt und wurde getötet. Viel leicht ist er sogar auf des Rätsels Lösung gekommen, warum in den letzten Mona ten Leute spurlos aus Tularosa und Um gebung verschwinden und wo die Frachtwagen und die Herde geblieben sind." „Herde?" fragte Lobo. „Ja. Ein Teil von Westers Herde. Acht zig Longhorns und sechs Cowboys sind vor vier Wochen spurlos verschwunden." „Das ist doch wohl ein Märchen", sagte Lobo. Archie schüttelte den Kopf. „Ich weiß, es klingt irre. Aber es ist eine Tatsache. Natürlich können achtzig Longhorns und
sechs Reiter sich nicht einfach in Luft auflösen. Es gab auch Spuren. Etwa fünf zehn Meilen weit konnten sie von der Ranch aus verfolgt werden. Doch dann war Sense. In den Sacramento Mountains war die Fährte wie ausgelöscht. Ich weiß es von Donovan. Das ist ein hervorragen der Scout. War mit bei dem Suchtrupp. Er sagte..." Ein neuer Gast betrat das Lokal. Ein kleiner, grauhaariger Mann in ei nem etwas zu weiten grauen Anzug. Der Mann steuerte zielstrebig auf Lobo zu, verneigte sich kurz und sagte zaghaft: „Ich habe eine Idee, Mister." „Das freut mich für Sie", sagte Lobo. Der Mickrige überhörte anscheinend den Spott. „Eigentlich hat mich Barbara, ich meine Mrs. Goldsmith, darauf ge bracht", fuhr er fort. „Na, prächtig", sagte Lobo und warf ei nen Blick zu Archie. „Wer ist diese La dy?" „Die Puffmutter von Tularosa", erklär te Archie und zeigte grinsend seine Zahn lücken. „Aber ich bitte Sie", sagte der Mickrige entrüstet. „Mrs. Goldsmith ist eine mei ner besten Kundinnen ..." „Fragt sich, wer bei wem mehr ver kehrt", konterte Archie. Das blasse Gesicht des Mickrigen be kam Farbe. Er hob die Stimme. „Ich ver bitte mir, zu unterstellen, daß ich ..." „Keiner hat behauptet, daß Sie gerade bei ihr waren", sagte Archie gelassen. „Und wenn schon, dann ist das Ihr Bier. Und da wir gerade von Bier sprechen: Dies hier ist kein Plauderstübchen, son dern eine Gaststätte, in der man etwas zu trinken bestellen kann. Was darf's sein, Mr. Harwood?" „Sie wissen doch, daß ich keinen Alko hol trinke. Der Doc s a g t . . . " Lobo hatte keine Lust, sich auch noch die Krankengeschichte des Mannes anzu hören. Allmählich fühlte er sich in Tula rosa wie in einem Tollhaus. Er verspürte wieder den Hunger, den er für einen Au genblick mit den Getränken besänftigt hatte.
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Er wandte sich zum Gehen. Harwood griff nicht wie Wester nach Lobos Schulter. „Bitte, Mister, bleiben Sie doch auf ein Wort", sagte er fast flehend. „Auf eines", sagte Lobo, obwohl er wußte, daß dieser Harwood sein Ver sprechen nicht halten würde. Harwood holte ein weißes Seidentuch aus seiner Hosentasche und tupfte sich damit die Stirn ab. Dann setzte er sich auf einen Stuhl an einen der Tische und wies einladend auf den anderen freien Stuhl. Lobo tat ihm den Gefallen und setzte sich. „Schießen Sie los, Mr. Harwood", sagte Lobo, „und fassen Sie sich kurz. Ich will zum Essen gehen." Harwood verschränkte die knochigen Hände und begann: „Nun, das ist nämlich so..." „Sie wollten sich kurz fassen", mahnte Lobo. „Ja, aber ..." „Noch kürzer", sagte Lobo. Der mickrige Mr. Harwood straffte sich. „Ich bin Nathan Harwood. Bankbe sitzer. Kunden sind verschollen. Kredit kunden. Zahle zehn Prozent für Wieder beschaffung." Das Ganze stieß er hastig, fast atemlos hervor. Lobo lächelte. Der Bankier begann ihm sympathisch zu werden. „Das haben Sie fein aufgesagt." „Interesse?" setzte Harwood nach. „Vielleicht", erwiderte Lobo. „Sie dür fen etwas geschwätziger werden." Harwood lächelte und musterte Lobo aus braunen Augen, die einen schelmen haften Ausdruck hatten. „Auch Barbara, ich meine Mrs. Gold smith, hat mich gebeten, mit Ihnen zu sprechen. Sie hat - äh - Personal für ihr Etablissement aus Roswell engagiert. Vier Damen. Alle vier sind spurlos ver schwunden. Mitsamt der Kutsche und dem Kutscher. Mrs. Goldsmith ist bereit, vierhundert Dollar Belohnung zu zahlen, wenn die Vermißten gefunden werden hundert für jede Dame." „Das ist doch schon mal etwas", sagte Lobo. „He, Archie, geben Sie mir noch ein
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Bier?" Lobo holte wieder seinen Tabaksbeutel hervor, drehte sich eine Zigarette und rauchte. Archie brachte das Bier, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich mit an den Tisch. Dann erzählte der Bankier. Einer seiner Kunden, ein alteingesesse ner Bürger von Tularosa, der ein Ge schäft eröffnen wollte, war über Nacht aus Tularosa verschwunden. Am Tag zu vor hatte er zweitausend Dollar Kredit bei Harwood aufgenommen. Ähnlich war es bei zwei anderen Bürgern gewesen. Insgesamt trauerte der Bankier einem Betrag von siebentausendfünfhundert Dollar nach. „Ich zahle zehn Prozent", versicherte er noch einmal. „Für die Wiederbeschaffung der Kun den oder des Geldes?" fragte Lobo mit leichtem Spott. „Für beides", antwortete der Bankier. „Hardins Frachtwagenhof hat bereits seit einem halben Jahr tausend Dollar Belohnung für die Wiederbeschaffung der verschwundenen Wagen ausgesetzt, aber noch niemand hat sie sich verdient. Es wird Zeit, daß etwas geschieht. Barba ra, ich meine Mrs. Goldsmith, hat einen riesigen Verlust. Wir sind alle verzwei felt ..." „Ja", warf Archie grinsend ein, „es fehlt wirklich an Abwechslung in Barbaras Etablissement." Dann wurde er ernst. „Aber davon abgesehen -es muß tatsäch lich etwas geschehen. Es gibt in dieser Stadt Menschen, die um ihre Angehöri gen weinen, nicht nur um Geschäftsein bußen." Lobo nickte. Er zog Bilanz. Die Sache interessierte ihn. Er hatte schon vieles er lebt, aber so etwas noch nicht. Achtzig Longhorns, Frachtwagen, eine Postkutsche und viele Menschen sollten spurlos verschwunden sein? Niemand fand eine Fährte, niemand war Zeuge eines Überfalls oder einer Entführung geworden? Lobo stellte einige Fragen und erfuhr weitere Einzelheiten.
Die einzelnen Beispiele, so unterschied lich sie auch waren, paßten wie Mosaik steinchen zu einem Gesamtbild. Es mußte eine straff organisierte Ban de am Werk sein. Lobo hielt es für ausgeschlossen, daß die Verschollenen in Wirklichkeit ein fach getürmt waren, Harwoods Kunden mit den Krediten, Westers Cowboys mit der Herde, der Kutscher mit seinen weib lichen Passagieren und die Frachtwa genfahrer mit den Wagen und der La dung. Was war mit den Menschen geschehen? In den meisten Fällen waren sie im Zu sammenhang mit Beute verschwunden, mit Geld oder Frachtgut. Aber es gab auch andere Beispiele: die Tochter des Marshals und ihre Begleiter. Bei denen war außer ein paar Dollars, den Pferden und Waffen nichts zu holen gewesen. Und eine Entführung schied wohl aus, denn es gab keine Lösegeldforderungen. Warum waren sie verschwunden? Ebenso Barbara Goldsmith's „Mitarbei terinnen". Möglich, daß sie irgendwo in den Bergen gefangengehalten wurden, in einem verborgenen Banditencamp. Aber es waren weit mehr Männer verschwun den ... Noch ein Gedanke beschäftigte Lobo. Das Verschwinden der Leute aus der Stadt ließ nur einen Schluß zu: Die Bande mußte zumindest einen Kontaktmann in der Stadt haben. Eine Person, die sich in Tularosa auskannte, die von den Kredi ten wußte, von den Transporten, und die ihre Kumpane mit den nötigen Tips ver sorgte. „Und was hat der Marshal bisher un ternommen?" fragte Lobo. „Ferguson?" sagte Harwood und verzog das Gesicht. „Das ist eine Niete. Der mimt so ein bißchen, reitet hin und her und zieht ein sorgenvolles Gesicht. Der weiß gar nicht, was er unternehmen soll." „Er hat Mister Lobo nicht mal gefragt, wo er das Pferd gefunden hat", warf Ar chie ein. „Da haben wir's", sagte Harwood grim mig. „Der Mann ist völlig unfähig. Wird
Zeit, daß er abgewählt wird. Ich hab so gar den Verdacht, daß Ferguson sich ab sichtlich querlegt, weil er nur ein Mar shalgehalt von der Stadt bekommt. Er würde lieber als Sheriff bezahlt. Erst neulich sagte er: Als Marshal bin ich ei gentlich nur für die Stadt zuständig." „Womit er nicht mal unrecht hat", sagte Lobo. Der Bankier hob die schmächtigen Schultern. „Ich habe mich auch dafür eingesetzt, daß von der Stadtkasse ein richtiger Sheriff bezahlt wird. Aber auf der Bürgerversammlung überwogen die Knauserer. Diese Dummköpfe. Sie sag ten, was geht es uns an, wenn die Ge schäftsleute Schaden haben? Sollen die doch einen Sheriff bezahlen. Und außer dem konnten sie sich auch nicht auf einen Kandidaten einigen ..." Harwood erei ferte sich weiter über die Zustände in Tu larosa. Lobo hörte nur mit halbem Ohr hin. Er ließ sich alles, was er erfahren hatte, noch einmal durch den Kopf gehen. Eine rätselhafte Sache, die ihn immer mehr interessierte. Besonders wegen der ausgesetzten Prämien. Es ging Lobo nicht immer ums Geld. Er hätte nur einen der Verschollenen per sönlich kennen oder von einem Freund um Hilfe gebeten werden müssen, um sich kostenlos und engagiert für eine Aufklärung des geheimnisvollen Falles einzusetzen. Aber er kannte keinen der Vermißten und hatte keine Freunde in Tularosa. Er war entschlossen gewesen, diese un gastliche Stadt mit ihren unfreundlichen Leuten so schnell wie möglich zu verlas sen und zu vergessen. Jetzt lockte die Aussicht auf ein paar ansehnliche Belohnungen. Aber wie sollte er dem Geheimnis auf die Spur kommen? Archie sprach aus, was Lobo gerade in Gedanken beschäftigte. Er blickte Lobo an und sagte: „Wenn Sie nichts Wichtiges vorhaben, würde ich an Ihrer Stelle an die Belohnungen denken. Da kommt ein
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nettes Sümmchen zusammen. Sie finden doch sicher die Stelle wieder, an der Sie das Pferd entdeckt haben." Lobo nickte. „Und wenn Sie dann weitersuchen und Glück haben ..." „Wenn Sie wenigstens eine Leiche fin den würden", sagte der Bankier dumpf. „Dann hörte diese schreckliche Unge wißheit auf, das Hoffen der Angehöri gen ..." Archie sagte: „Ich hab Sie in Aktion ge sehen, Mister Lobo. Und ich traue mir ei nige Menschenkenntnis zu. Wenn einer eine Chance hat, der Bande auf die Spur zu kommen, dann Sie." „Warum hat der Marshal keine Unter stützung angefordert?" fragte Lobo in Gedanken. „Er selbst ist sicher überfor dert, aber er hätte doch längst etwas un ternehmen müssen." „Er ist ein Tränentier", sagte Archie. „Eine Pfeife und ein Tränentier. Aller dings hat es auch lange gedauert, bis uns allen klar wurde, daß die einzelnen Fälle miteinander zusammenhängen müssen. Es geschah in zeitlichen Abständen, mal hier, mal irgendwo zwischen Roswell und Tularosa. Lange wußte niemand etwas Genaues. Um ehrlich zu sein, Genaues wissen wir auch jetzt noch nicht. Wenn es doch nur einen Anhaltspunkt gäbe, eine Spur..." Er blickte Lobo nachdenklich an. „Sagen Sie mal, haben Sie einen Schuß Sioux-, Apachen- oder Coman chenblut in den Adern? Nicht, daß das für mich einen Unterschied bedeutete - Men schenblut ist Menschenblut." „Das gefällt mir bei Ihnen, Archie", sagte Lobo. Archies Vollmondgesicht zeigte ein breites Grinsen. „Ich frage nur, weil man doch sagt, daß die Apachen die besten Fährtenleser sind ..." „Die Comanchen!" behauptete der Ban kier. „Ich weiß es genau." „Außer Geldzählen wissen Sie gar nichts", entgegnete Archie. „Ich sage Ih nen, daß die Apachen ..." Damit die Diskussion nicht ausuferte, sagte Lobo: „Einigen wir uns darauf, daß
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es bei fast allen Indianerstämmen Mei ster im Spurenlesen gibt. Übrigens sind manche Weiße darin auch nicht schlecht." „Sie sind ein toleranter Mann", sagte der Bankier. „Das gefällt mir." Die brau nen Augen blickten Lobo freundlich an. „Aber es interessiert mich doch - was Sie nun sind. War ihr Vater ...?" „Meine Mutter", korrigierte Lobo. „Sie war eine..." Die beiden sollten noch nicht erfahren, daß Lobos Mutter die Pima-Squaw Ta voneh gewesen war. Denn Männer stürmten in das Lokal. Fünf Männer. An der Spitze Fred. Und alle hielten ihre Revolver im An schlag.
Archie und der Bankier blickten den fünf Männern erschrocken entgegen. Der Bankier glaubte wohl an einen Überfall, denn er hob sofort die Hände. Lobo blieb ruhig. Gegen fünf bewaffnete Gegner hatte er keine Chance. Fred baute sich zwei Schritte vor Lobo auf, die anderen bildeten einen Halb kreis. Rauh aussehende Burschen, aber wohl keine Männer, die zu einem Mord fähig waren. Cowboys wie Fred. Fred grinste. Schadenfroh und trium phierend. „Konntest du nicht noch ein paar Freunde mehr mitbringen?" fragte Lobo spöttisch. Freds Grinsen erstarb. „Schnall den Gurt ab!" sagte er hart. „Verschwindet aus meinem Lokal!" rief Archie zornig. „Du hältst den Mund, Schnapspan scher", sagte Fred. „Wir gehen schon. Ob der Bastard hier Prügel bekommt oder draußen - was macht das schon für einen Unterschied. Niemand wird ihm helfen, seine Zähne einzusammeln. Also los ...", er ruckte mit dem Revolver und starrte Lobo in die Augen, „ ... schnall ab und
komm mit raus!" „Fünf gegen einen!" rief der Bankier entrüstet. Fred grinste ihn an. „Keine Sorge, Mi ster Sparschwein. Wir sind nicht so unfair. Ich allein werde den Typ zusammen schlagen. Meine Freunde sind nur mitge kommen, damit er nicht davonlaufen kann." Er starrte wieder Lobo an. „Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du 'ne Zeit lang nicht mehr laufen können." Lobo schnallte den Gurt ab. Fred war ein großer, muskulöser Mann, der sich geschmeidig bewegte. Gewiß war er im Faustkampf stärker als bei ei nem Revolverduell. Aber Lobo verstand ebenfalls, mit den Fäusten zu kämpfen. Er traute sich zu, mit Fred fertig werden zu können. Wenn es tatsächlich ein fairer Kampf werden sollte . . . Alle fünf Männer steckten sofort ihre Waffen weg, als Lobo den Gurt abge schnallt und auf den Tisch vor Archie hingelegt hatte. Fred legte seinen Gurt ebenfalls ab und reichte ihn einem seiner Freunde. Es war Fred anzusehen, daß er dem Kampf förmlich entgegenfieberte. Er wirkte sie gessicher. Lobo hatte ihm vor den Augen seines Bosses und zwei anderen Leuten eine Lektion erteilt. Das fraß an seinem Stolz. Dafür wollte er sich revanchieren . . . „Paß gut auf den Colt auf, Archie", sag te Lobo. „Und zapf schon mal ein neues Bier. Ich bin gleich wieder zurück." Er wollte Fred ein bißchen provozieren. Ein wütender Gegner war leichter zu be siegen als ein kalter und besonnener. Fred lachte. „Den Colt kannst du ihm zum Doc schicken, Archie. Und das Bier wirst du selber trinken müssen ..." Der Bankier rang die Hände. Fast fle hend blickte er Fred an. „Ich bitte Sie, verzichten Sie doch auf den Kampf. Nur Narren prügeln sich ..." „He, werd nicht frech, Mann", sagte ei ner der Cowboys. „Der Kerl hat unseren Boß bedroht und geschlagen. Dafür nimmt Fred ihn jetzt auseinander."
„Aber ich bitte Sie!" rief der Bankier. „Mister Lobo ist bereit, mir - ach was sage ich - der ganzen Stadt zu helfen, und Sie..." „Interessiert mich nicht", unterbrach ihn Fred grob. Erstmal bekommt er, was ihm zusteht." Er blickte wieder Lobo an. „Los, raus auf die Straße!" Dann wandte er sich an seine Freunde. „Paßt auf, daß er nicht wegläuft." Lobo lächelte. Er schritt inmitten der fünf Männer aus Archies Bar. Archie und Harwood folgten der Grup pe mit gemischten Gefühlen auf den Gehsteig hinaus. Draußen wartete bereits ein vielköpfi ges Publikum. Stimmengewirr brandete auf, als Lobo
auf die Straße hinaustrat. Fred hatte den Kampf wohl vorher an gekündigt. Zum zweiten Mal an diesem Tag hofften die Schaulustigen, auf ihre Kosten zu kommen. Als Lobo und Fred sich mitten auf der Main Street gegenüberstanden, wurden lautstark Wetten abgeschlossen. Nur wenige setzten auf Lobo. Zum Beispiel Archie, der gleich mit fünf Dollars einstieg, und der Bankier, der sich einen Dollar abrang. Die Sympathie der Mehrheit war auf Freds Seite. Das war aus den Zurufen herauszuhören. Lobo war das egal. Er dachte nur: Wann, zum Teufel, werde ich in dieser
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miesen Stadt endlich zum Essen kom men? Der Kampf verlief anders, als sich das alle gedacht hatten - einschließlich Lobo und Fred. Und für die meisten der Zuschauer ging alles zu schnell, so daß sie sehr ent täuscht waren. Es fing mit Marshal Fergusons Auftritt an. Ja, es war wie ein Auftritt. Lobo und Fred hoben gerade die Fäuste und wollten zur Sache kommen, als die Stimme des Marshals über die Main Street hallte: „Stoß! Ich verbiete diesen Kampf!" Dann trat der Marshal vom Gehsteig auf die Straße, und im Schein der Lampe an dem Stützpfosten konnten alle sehen, daß Ferguson eine Schrotflinte im An schlag hielt. Lobo und Fred verharrten. Einen Augenblick lang herrschte Stille, die nur durch das Husten eines Schaulu stigen durchbrochen wurde. Dann setzte ein Spektakel ein. Alle schrien durchein ander. „Übergeschnappt..." „... soll lieber Banditen jagen!" „... kann er gar nicht verbieten..." So und ähnlich tönte es aus der Menge, die sich auf den Gehsteigen eingefunden hatte. Es folgten Flüche und wenig Schmeichelhaftes für den Marshal. Die Wetter bildeten einen Sprechchor, wünschten Ferguson zum Teufel und for derten: „Wir wollen den Kampf!" . Und irgendeiner aus der Menge schrie: „Ich will Blut sehen!" Einige lachten, doch Lobo fand das gar nicht lustig. Marshal Ferguson wechselte die Schrotflinte in die Linke, zog mit der Rechten den Colt und feuerte in den Him mel, um sich Gehör zu verschaffen. Schließlich legte sich der Tumult et was. „Bürger von Tularosa!" rief der Mar shal im Tonfall eines Wahlredners. „Ihr
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wißt, daß ich nichts gegen einen fairen Faustkampf habe, aber in diesem Fall muß ich ihn leider verbieten." Buhrufe und Pfiffe wurden laut. „Es liegt in unser aller Interesse", fuhr der Marshal beschwörend fort. „Mister Lobo hat, wie ihr wißt, das Pferd von meinem Freund Marshal Pall gefun den ..." „Oder geklaut!" rief Fred und blickte sich beifallheischend um. Viele der Zu schauer lachten hämisch. Lobo spürte, daß die Feindseligkeit der Bürger von Tularosa gegen ihn wieder aufflackerte. Aber er empfand diesmal keine Bitterkeit darüber, denn er hatte ja inzwischen feststellen können, daß längst nicht alle gegen ihn eingenommen waren. Archie, der Bankier und auch der Mar shal waren auf seiner Seite. „Ich und der Richter", fuhr der Marshal mit lauter Stimme fort, „haben keinerlei Zweifel an Mister Lobos Aussage. Ich ha be mir noch einmal alles genau überlegt und bin zu dem Schluß gekommen, daß Mister Lobo uns helfen könnte. Wenn er uns zu dem Platz führt, an dem er das Pferd gefunden hat, könnten wir viel leicht eine Spur zu der Bande oder ihrem Versteck finden. Denn der Besitzer des Pferdes war auf der Suche nach den Ban diten. Es ist möglich, daß er ihnen in die Hände fiel. Aber wir dürfen nichts un versucht lassen. Vielleicht haben wir diesmal Glück. Ich denke, Mister Lobo wird so freundlich sein, uns den Gefallen zu tun und gleich nach Sonnenaufgang mit mir und einer Posse losreiten. Ich denke..." „Spät denkt er - doch er denkt!" rief Ar chie laut dazwischen, und er hatte die La cher auf seiner Seite. „Ein Wunder!" brüllte einer aus der Menge. „Unser Marshal kann plötzlich denken!" „Das denkt er doch nur!" brüllte ein an derer durch das Gelächter. Marshal Sid Ferguson ertrug den Spott mit einer Gelassenheit, die Lobo bewun dernswert fand. „Jawohl", rief der Marshal zurück.
„Und wenn ihr eure Spatzenhirne be müht, werdet ihr einsehen, daß ein Kampf nichts bringt - überhaupt nichts. Mister Lobo könnte verletzt werden, und dann verlieren wir wertvolle Zeit." „Ach, Quatsch!" rief Fred und hob wie der die Fäuste. „Dann schlage ich ihn eben nur so blau, daß er bis morgen früh wieder wach ist und sich noch auf einem Pferd halten kann." „Du erinnerst mich immer mehr an ei nen Frosch", sagte Lobo. „Frosch?" wiederholte Fred verblüfft. Er hatte wohl mit einem anderen Tierna men gerechnet. „Ja", erwiderte Lobo. „An einen Breit maulfrosch. Die bestehen auch fast nur aus einem großen..." „Stop!" brüllte der Marshal. Doch Fred war nicht mehr aufzuhalten. Wütend griff er Lobo an. Zu wütend. Lobo wich im letzten Moment der vor schnellenden Faust aus. Freds Rechte zischte ins Leere. Und der Mann bot für einen Augenblick Lobo sein ungeschütztes Kinn dar. Lobo nutzte die Chance. Seine Rechte traf Fred an der Kinnspit ze. Es war ein Volltreffer. Fred fiel hintenüber und blieb liegen. Lobo rieb sich über die schmerzenden Knöchel. Sekundenlang herrschte Stille. Alle starrten staunend, ja verblüfft auf Fred, der sich nicht rührte. Manche Zu schauer hatten gar nicht richtig mitbe kommen, was geschehen war. Einen so kurzen Faustkampf hatte es in Tularosa noch nie gegeben. Der Marshal sagte aufatmend in die Stille: „Damit ist das Problem gelöst. Schlagen Sie immer so präzise, Mister Lobo?" Dann tastete er zur Beule an sei nem Kopf, und sein Grinsen wurde säu erlich. Lobo schwieg bescheiden. Warum sollte er allen auf die Nase binden, daß es wirk lich nur ein Glückstreffer gewesen war?
Inzwischen war auch dem letzten klar geworden, daß der Kampf, den der Mar shal hatte verhindern wollen, doch statt gefunden hatte. Geschrei setzte ein. Alles brüllte durcheinander. Einige Wetter machten lautstark ihrer Enttäuschung Luft. Andere jubelten. Am lautesten Ar chie, der am meisten auf Lobo gesetzt hatte und dementsprechend kassieren konnte. Freds Freunde verhielten sich neutral. Fred hatte ganz offensichtlich wirklich einen fairen Kampf gewollt. Sein Pech, daß er nicht so ausgegangen war, wie er sich das vorgestellt hatte. „Reiten Sie morgen früh mit und zeigen uns die Stelle?" schrie Marshal Ferguson gegen den Lärm an. „Ich bitte Sie im Na men aller..." „In Ordnung", sagte Lobo. Und leiser fügte er hinzu: „Aber jetzt will ich end lich etwas essen."
Knapp zwanzig Meilen entfernt schob sich Jack Kingman ein Stück saftiges Steak in den Mund, kaute genußvoll und nahm dann einen Schluck aus der Whis kyflasche. Das Steak stammte von einem Rind aus Lionel Westers Herde. Der Whisky - vorzüglicher Bourbon aus Kentucky - stammte aus einem Frachtwagen, den Kingmans Banditen auf dem Weg von Roswell nach Tularosa „gekapert" hatten. Kingman ließ es sich schmecken. Der Schein des Lagerfeuers zuckte über sein Gesicht. Es war ein piratenhaf tes Gesicht mit einer kühn vorspringen den Nase und einem markanten Kinn. Die schwarzen Augen funkelten, als er über das Feuer hinweg das Mädchen an blickte. „Was ist, Baby, schmeckt es dir nicht?" fragte er. „Gefällt es dir nicht, allein mit mir zu speisen? Möchtest du lieber für meine Männer tanzen wie Nelly?" Sein Blick glitt durch das Camp zu den anderen Feuern, an denen Männer hock
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ten und gebannt die Frau anstarrten, die zum Klang einer verstimmten Gitarre tanzte. Die Frau war nackt. Das Mädchen, das abseits von den an deren mit Kingman allein am Feuer saß, folgte Kingmans Blick und schluckte. „Nein - es schmeckt mir gut", sagte das Mädchen hastig. „Ich möchte nicht tan zen ..." Jack Kingman lachte. Es war ein freudloses, gezwungenes Lachen. „Du hast vergessen, zu sagen, daß es dir bei mir gefällt", sagte er in spöttischem Ton fall. „Es gefällt mir bei dir", sagte das Mäd chen leise. Das Mädchen hieß Mary-Ann und war die Tochter des US-Marshals, der von Kingmans Banditen getötet worden war. Sie wußte nicht, daß ihr Vater tot war. Sie hoffte immer noch, daß er sie finden und aus der Gewalt der Verbrecher be freien würde. Jack Kingman nahm einen Schluck Whisky und rülpste. „Klar gefällt es dir. Allen gefällt es in Kingmans Town." Seine schwarzen Augen bekamen einen seltsamen Ausdruck, als er Mary-Ann anblickte, eine Mischung aus Lauern und Gier. Er schob sich wieder ein Stück Steak in den Mund, das er mit der Messerspitze aufgespießt hatte, und fragte kauend: „Wieviel Tage noch?" „Ich - ich hab nicht genau nachgezählt", log Mary-Ann. In Wirklichkeit zählte sie schon mit bangem Herzen die Stunden, die ihr noch blieben, bis die Frist abge laufen war, bis der Verbrecherboß über sie herfallen würde. Wenn nicht bis dahin ein Wunder ge schah. Drei Wochen hatte er ihr höhnisch zu gebilligt. Drei Wochen, in denen sie sich entscheiden sollte, ob sie ihm gehören wollte - freiwillig. Sie wußte, daß ihr keine andere Wahl blieb. Er hatte ihr gesagt, was passieren wür de, wenn sie sich gegen ihn entschied.
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Entweder würde er sie dann mit Gewalt nehmen oder seinen Männern überlassen - wie er es genannt hatte. Nach einer Woche hatte er ihr die glei che Frage gestellt wie jetzt - wieviel Tage noch? Und als sie ihm die richtige Ant wort gegeben hatte, hatte er sie jähzornig geschlagen. Beim nächstenmal hatte sie sich nicht getraut, die Wahrheit zu sagen. Sie hatte ihm an den Augen abgelesen, daß er sie durchschaute, aber er hatte sie wenigstens in Ruhe gelassen. Auch jetzt durchschaute er sie. Das spürte sie. „Ich wette, du weißt genau, wie viele Tage es noch sind", sagte er da auch schon. „Weil du es nämlich kaum erwar ten kannst." Er lachte selbstgefällig. „Du kannst es kaum erwarten, die Königin zu werden. Meine Königin. Die Herrin von Kingmans Town." Seine Stimme bekam einen fanatischen Klang. Mary-Ann war sich längst darüber klargeworden, daß dieser Verbrecher krankhaft eitel war. Sie überlegte, ob er von ihr eine Antwort erwartete. Nur, wenn sie ihm zum Mund redete, konnte sie einigermaßen sicher sein, daß er sein Versprechen hielt. „Es sind noch sechs Tage", fuhr der Banditenboß fort. „Schöne Zahl, nicht wahr?" Sie spürte seinen Blick auf ihrem Kör per und fröstelte, obwohl es mild war und das Feuer wärmte. Zaghaft nickte sie. Kingman schob einen Ast ins Feuer. Funken stoben in den Himmel. Der Banditenboß trank noch einen Schluck aus der Whiskyflasche. Eine Weile schwieg er und starrte ins Feuer. Dann hob er eine Hand und schnickte mit den Fingern. Sofort sprang einer der Männer an den anderen Feuern auf. „Ja, Boß?" fragte er unterwürfig. „Schick mal Nelly her!" rief Kingman. Der Bandit sagte etwas zu der Frau. Die Gitarrenmusik endete mit einem fal schen Ton. Nelly hörte mit ihrem Tanz auf.
Sie blickte zu dem Feuer, an dem Jack Kingman mit Mary-Ann saß und setzte sich zögernd in Bewegung. Sie blieb am Rande des Lichtkreises vom Feuer stehen. „Näher", sagte Kingman. Nelly gehorchte. Der rötliche Feuer schein tanzte über ihre Haut. Die Frau stand stolz aufgerichtet da und ließ Kingmans Blicke über sich erge hen. Sie schaute dabei Mary-Ann an, und das Mädchen hatte das Gefühl, daß die Frau sie beneidete, weil sie - Mary-Ann für alle im Camp tabu war und nicht nackt vor den Banditen tanzen mußte. Mary-Ann verspürte tiefes Mitleid mit der Frau und ihren drei Kolleginnen. Es waren leichte Mädchen, wie sie bei oberen Eintreffen in der Schlucht erfahren hat te. Aber das war kein Grund, sie gefan genzuhalten und zu demütigen. „Was willst du hier?" fragte Kingman in herablassendem Tonfall. „Ich? Man hat mir gesagt..." „Hau ab, du aufdringliche Nutte!" schrie Kingman. „Du siehst doch, daß ich in Gesellschaft einer Lady bin!" Nellys Miene war wie eine Maske. Nur ihre Augen verrieten ihre Gefühle: Haß und Verachtung. Wortlos wandte sie sich um. Ihr rotes Haar leuchtete im Feuerschein. Langsam und stolz schritt sie davon. Kingman nahm einen kleinen halb an gebrannten Ast aus dem Feuer und warf ihn ihr nach. Nelly machte einen erschrockenen Satz und begann zu laufen. Jack Kingman lachte. Seine Banditen brachen ebenfalls in Gelächter aus. Wieder ertönte Gitarren klang, und Nelly mußte weitertanzen. Auch in Mary-Ann tobte Haß auf den Verbrecherboß, dem es Spaß bereitete, Menschen mit Taten und Worten zu quälen. „Siehst du, jetzt tanzt sie gleich feuri ger", sagte Kingman spöttisch. Er blickte Mary-Ann an. „Du willst wirklich nicht auch tanzen?" „Nein, ich möchte wirklich nicht tan
zen." „Du willst Königin werden?" „Ich will Königin werden." Sie wieder holte seine Worte, weil sie wußte, daß er Wert darauf legte. „Die Herrin meiner Stadt." „Die Herrin deiner Stadt." „In sechs Tagen", sagte er. Ihre Stimme zitterte leicht, als sie wie derholte: „In sechs Tagen." Und sie betete stumm: Lieber Gott, laß es nicht gesche hen. Mary-Ann kämpfte gegen die Tränen an, die ihren Blick trübten, und gegen die Hoffnungslosigkeit, gegen die sie in der ganzen Zeit ihrer Gefangenschaft ver zweifelt angekämpft hatte. Der kleine Hund rettete Lobo wahr scheinlich das Leben. Lobo hatte sich von Archie seinen Re volvergurt mit dem Army Colt wiederge ben lassen, sein Bier getrunken und noch ein paar Worte mit Archie und dem Ban kier gewechselt. Dann hatte er sich auf den Weg zum Ci ty-Restaurant gemacht, das ihm von Ar chie empfohlen worden war. Als er auf die Main Street hinausgetre ten war, hatte sich die Menge bereits ver laufen. Nur wenige Passanten waren noch zu sehen. Lobo schritt über den Gehsteig. Als er eine Seitengasse erreichte, hörte er das Knurren eines Hundes. Es war ein wütendes Knurren, als hätte der Hund jemanden angesprungen. Lobo warf einen Blick in die Seitengas se und sah die Silhouette eines Mannes nur undeutlich. Deutlich sah er dann das Blitzen des Mündungsfeuers. Und er reagierte instinktiv. Er ließ sich fallen. Das Blei zischte über ihn hinweg. Auf der anderen Straßenseite zerklirrte eine Scheibe. Das Krachen des Schusses war noch nicht verhallt, als Lobo bereits seinen Ar
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my Colt gezogen und sich über den Boden gerollt hatte. Keine Sekunde zu früh, denn wieder blitzte es in der Gasse auf, und das Ge schoß fetzte Dreck aus dem Boden dicht neben Lobos Stiefeln. Wäre er liegenge blieben, hätte ihn der heimtückische Schütze getroffen. Alles spielte sich innerhalb von Sekun den ab. Als zum zweiten Mal das Mün dungsfeuer blitzte, hatte Lobo seinen Ar my Colt schußbereit. Und er schoß nur ei nen Sekundenbruchteil später als derje nige, der ihn sicher getötet hätte, wenn das Knurren des Hundes nicht Lobos Aufmerksamkeit erregt hätte. Lobo zielte auf das Mündungsfeuer. Und er traf. Er sah den Schatten schwanken und fallen. Ein Revolver polterte zu Boden. Lobo war bereits aufgesprungen und hinter der Hausecke in Deckung gegan gen. Er spähte um die Ecke in die dunkle Gasse, den Army Colt schußbereit. Der Schatten rührte sich nicht. Der Hund kläffte. Lobo hörte jetzt aufgeregte Rufe auf der Main Street. Er wollte kein Risiko eingehen. Der an dere konnte verletzt oder tot sein. Er konnte aber auch bluffen und darauf warten, daß Lobo näher kam. Wer immer auf ihn geschossen hatte, Lobo hoffte, ihm noch ein paar Fragen stellen zu können. Es lag auf der Hand, daß der Mordanschlag nur einen Zweck gehabt hatte: zu verhindern, daß er am nächsten Morgen die Posse zu der Stelle führte, an der er das Pferd entdeckt hatte. Lobo fand seine Vermutung bestätigt. Die Bande hatte einen oder mehrere Kontaktpersonen in der Stadt. Lobos Gedanken jagten sich. Er mußte zu dem Mann in der Gasse hin. Wenn er verletzt war, konnte er ver bluten. Und dann konnte er nicht mehr aussagen. Lobo hoffte, daß er ihn nicht tödlich getroffen hatte. Lobo hörte Schritte auf dem Gehsteig. Jemand rannte über die Main Street. Ei ne schrille Frauenstimme rief nach dem
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Marshal. Lobo sprang entschlossen in die Gasse hinein. Der Schatten bewegte sich nicht. Lobo schritt mit dem Finger am Abzug auf ihn zu. Angespannt, wachsam. Dann sah er, daß dem heimtückischen Schützen der Revolver entfallen war. Die Waffe lag dicht neben der Rechten des Mannes im Staub. Lobo war noch etwa zehn Schritte ent fernt, als er die Bewegung des Schattens sah. Die Hand zuckte zu dem Revolver, der Kopf des Mannes ruckte hoch. „Stop!" schrie Lobo, doch er wußte, daß der andere nicht auf die Warnung hören würde. Deshalb schoß er. Er zielte auf den rechten Arm des Man nes, dem Knall folgte ein gellender Auf schrei, dann ein zweiter Schuß. Lobo sah es am Ende der Gasse aufblit zen, und wieder reagierte er instinktiv, warf sich hin, und die Hand mit dem Colt ruckte zu dem zweiten Gegner herum. Es war kein Gegner. Das erkannte Lobo schlagartig, als der erste Mann vornübersank und starr lie genblieb. Der Schuß hatte nicht ihm, sondern dem anderen gegolten. „Ich hab ihn erwischt!" rief eine rauhe Männerstimme. „Ich hab den Kerl er wischt!" Es klang sehr zufrieden, beinahe freudig. Lobo preßte die Lippen aufeinander. Er war alles andere als zufrieden. Er sah jetzt im Dunkel am Ende der Gasse eine Bewegung. Der Hund begann wieder zu knurren wie vorhin, wütend, angriffslustig. „Hau ab, du Köter!" sagte die rauhe Stimme. Das Knurren des Hundes ging in ein Winseln über, als der Mann nach dem Tier trat, wie Lobo im Dunkel mehr erah nen als erkennen konnte. „He, Mister!" rief die Stimme aus dem Dunkel. „Stecken Sie Ihr Eisen weg. Sie wollen doch nicht auf Ihren Lebensretter schießen!" Ein Lachen folgte. Als ob der Mann über einen Witz lachte. Lobo fand das alles gar nicht witzig.
Er hatte die Situation im Griff gehabt. Er war überzeugt davon, daß er den Colt arm des Mannes getroffen hatte, daß von dem Gegner keine Gefahr mehr gedroht hatte. Jetzt war er wahrscheinlich tot. Lobo behielt den Army Colt gespannt im Anschlag. Der andere kam schlurfend näher. Er beugte sich über die reglose Gestalt und sagte zufrieden: „Er ist tot." Hinter Lobo tauchte jetzt der Marshal auf. „Alles in Ordnung!" rief der Mann aus der Gasse. „Ich hab ihn erwischt!" Der Marshal und zwei weitere Männer liefen zu der Leiche. Lobo entspannte den Colt und schob ihn in die Halfter. Ein Zündholz flammte auf. Jemand hielt es über den Toten. „Das ist ja Jeff Cellar!" rief Ferguson überrascht. Inzwischen war der Mann, der Jeff Cel lar erschossen hatte, bei Lobo angelangt. Von der Main Street her liefen weitere Leute in die Gasse. Einer hielt eine Later ne. In ihrem Schein konnte Lobo seinen „Lebensretter" besser erkennen. Es war ein hagerer Mann in einem schwarzen Anzug. Selbst sein Hemd war schwarz. Schwarz waren auch die Augen und die buschigen Augenbrauen in dem scharfkantigen Gesicht, das etwas Dä monisches hatte. „Wer ist Jeff Cellar?" fragte Lobo. „Einer von Hardins Frachtwagenge sellschaft", antwortete der Schwarzge kleidete. „Arbeitet, glaube ich, als Clerk und Lagerarbeiter für Hardin." Ein hoh les Lachen. „Arbeitete." „Und wer sind Sie?" fragte Lobo. „Ich bin Holloway." Wieder das hohle Lachen des Schwarzgekleideten. „Man nennt mich auch Leichen-Holloway. Ich bin der Totengräber der Stadt." „Da hast du mal wieder Arbeit, Hollo way", sagte der Marshal. Während zwei Männer den Toten forttrugen, war Fer guson zu Lobo und dem Totengräber ge
treten. Der Marshal blickte Lobo an und sagte: „Drei Treffer, zwei relativ harmlo se, ein tödlicher. Was war los?" Lobo berichtete. Holloway ergänzte. „Ich sah, daß Mi ster Lobo in Gefahr war, und da hab ich eingegriffen, Marshal. Ich konnte doch nicht zulassen, daß der Kerl Mister Lobo erschießt." Er grinste Lobo an. „Zumal ich hörte, daß er noch gebraucht wird. Ich hab natürlich nur auf Jeffs Schulter ge zielt." Er zuckte mit den schmalen Schul tern. „Pech, daß ich ihn in den Kopf ge troffen habe." Dazu lachte er. Der Mann war Lobo nicht nur unsym pathisch, er widerte Lobo an. Lobo war versucht, klarzustellen, daß er gar nicht in Gefahr gewesen war, aber eine innere Stimme hielt ihn davon ab. Er wunderte sich über seine Worte: „Ich danke Ihnen, Holloway. Wenn Sie nicht aufgetaucht wären ..." Es war ihm einfach über die Lippen gekommen. Und er setzte in Gedanken fort: „... dann hätte uns dieser Jeff Cellar vielleicht erzählt, wer ihm den Mord auftrag gegeben hat." „Ah, nicht der Rede wert", sagte Hollo way und rieb sich über das Kinn. Dann wandte er sich an den Marshal, der ge dankenversunken dastand. „Wer zahlt für den Sarg und das Begräbnis?" „Was fragst du mich?" sagte Ferguson unwirsch. „Wende dich an Hardin. Sieh zu, wie du an dein Geld kommst. Ich hab andere Sorgen." „Zum Beispiel?" fragte Holloway, und es klang beinahe belustigt. „Zum Beispiel frage ich mich, warum man Mister Lobo erschießen wollte." Holloway lachte. Lobo hatte nichts gegen Totengräber, auch nichts gegen Totengräber, die in ih rer Freizeit lustig waren, aber dieser Hol loway lachte ihm ein bißchen zu oft und im falschen Augenblick. Er hatte gelacht, nachdem er einen Menschen getötet hatte - egal, ob dieser Mensch nun ein guter oder ein böser ge wesen war. Irgend etwas an der Art des Mannes
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stieß Lobo ab, warnte ihn sogar. Unsinn, sagte er sich, du kannst ihn nur nicht leiden, weil er nach dem Hund ge treten h a t . . . Weil er nach dem Hund getreten hat! Dieser Gedanke alarmierte Lobo. Er glaubte wieder das Knurren des Tie res zu hören, das seine Aufmerksamkeit geweckt hatte. Er blickte sich um und entdeckte den Hund, der schwanzwe delnd um einen der Männer herumstrich, die sich an der Einmündung zur Main Street versammelt hatten und über das Geschehen diskutierten. Es war ein kleiner, schwarzweiß ge fleckter Bastardhund. Lobo erinnerte sich an das zweite Knurren des Hundes, das Holloway ge golten hatte. Es hatte fast gleich wütend geklungen. Wir können diesen Totengräber beide wohl nicht leiden, dachte Lobo. Holloway sagte gerade zu Ferguson: „Vorhin hast du noch behauptet, du könntest denken. Ist doch klar, daß Jeff den Mann abknallen Wollte, damit er dich nicht zu der Stelle führt, an der er den Gaul gefunden hat." Lobo verspürte Unbehagen bei diesen Worten des Totengräbers, aber er konnte keinen triftigen Grund dafür angeben. „Das ist mir klar, Holloway", antwor tete der Marshal gelassen. „Ich überlege nur, daß Jeff Cellar ein Komplize der Bande gewesen sein muß. Vielleicht gibt es noch mehr Bandenmitglieder in der Stadt. Dann wäre Mister Lobo immer noch in Gefahr. Man müßte mit Hardin sprechen, für den Cellar ja gearbeitet hat, nach Cellars Freunden fragen ..." „Der hatte keine", sagte Holloway be stimmt. Der Marshal blickte nachdenklich. „Hast du Cellar gekannt, Holloway, ich meine näher gekannt? Vielleicht kannst du..." „Nein, leider nicht", sagte Holloway. „Ich konnte den Kerl noch nie leiden." „Na, dann will ich mal mit Hardin sprechen. Vielleicht kann der mir weiter helfen."
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Irgend etwas an Holloways Worten hatte Lobo stutzen lassen. Holloway bestritt, diesen Jeff Cellar näher gekannt zu haben. Aber er hatte ihn, wenn Lobo sich rich tig erinnerte, zweimal nur mit Vornamen genannt: „ ... ich hab natürlich nur auf Jeffs Schulter gezielt..." - „... ist doch klar, daß Jeff den Mann abknallen woll te ..." Und plötzlich war Lobo davon über zeugt, daß Holloway ihm nicht zufällig „zu Hilfe" gekommen war. Sein anfängliches Mißtrauen war zu ei nem handfesten Verdacht herangewach sen. „Na, dann will ich mal an die Arbeit ge hen", erklärte Holloway und lachte wie der einmal zum unpassenden Zeitpunkt. Er warf Lobo einen Blick zu und sagte: „Passen Sie gut auf sich auf. Immer kann ich nicht in der Nähe sein." Dann schlurfte er davon. Er ging zur Main Street und bog um die Ecke. „Wo liegt eigentlich der Stiefelhügel?" fragte Lobo aus seinen Gedanken heraus. „Am anderen Ende der Stadt", sagte der Marshal und wies mit dem Daumen in die Richtung. „Warum fragen Sie?" „Nur so", antwortete Lobo auswei chend. Er hatte nicht nur so gefragt. Er suchte eine Erklärung dafür, weshalb Holloway in der Gasse gewesen war. „Euer Totengräber ist wirklich ein gu ter Schütze", sagte Lobo. „Ah, ich glaube, ich hab ganz vergessen, mich für seine Hilfe zu bedanken. Aber das kann ich ja nachholen. Wo wohnt er denn?" „Direkt neben dem Friedhof in dem Blockhaus", lautete Marshal Fergusons Antwort. So etwas Ähnliches hatte Lobo erwar tet. Er war jetzt davon überzeugt, daß Hol loway nicht zufällig in der Gasse gewe sen war und nicht zufällig Jeff Cellar er schossen hatte. Lobo überlegte, ob er dem Marshal von seinem Verdacht erzählen sollte, ent
schied sich aber dann dagegen. „Und was machen Sie jetzt?" fragte Ferguson. „Ich meine, Sie sollten wirklich vorsichtig sein ..." „Jetzt gehe ich endlich essen", sagte Lo bo. Und dann, fügte er in Gedanken hinzu, werde ich mich mal ein bißchen mit Hol loway beschäftigen . . .
Jack Kingman deckte seine Karten auf und sagte: „Schon wieder gewonnen, Darling. Du lernst es wohl nie." Es klang sehr zufrieden. Sie spielten Poker wie an fast jedem Abend. Mary-Ann ließ ihn gewinnen. Sie wuß te, daß er es nicht ertragen konnte zu verlieren. Dann wurde er jähzornig, zer riß die Karten, warf die Whiskyflasche gegen die Wand oder ließ seine Wut an den Gefangenen aus. Mary-Ann hatte ihn einmal in diesem Zustand erlebt, und sie fürchtete sich vor seiner Raserei. Deshalb gab sie sich Mühe, nicht zu ge winnen. „Heute macht es mal wieder besonde ren Spaß", sagte Kingman, mischte die Karten und teilte aus. Mary-Ann schluckte, als sie vier Asse und einen König aufnahm. „Es macht dir doch Spaß, Darling?" sagte Kingman, und seine schwarzen Au gen blickten Mary-Ann prüfend an. „Ja, es macht mir Spaß", log Mary-Ann und legte drei Asse weg, um sie gegen hoffentlich schlechtere Karten einzutau schen. Jack Kingman grinste geschmeichelt. „Mit dir spiele ich am liebsten", erklärte er. „Meine Männer haben keine Ahnung vom Pokern. Da verliere ich immer gleich die Lust. Du gibst dir wenigstens Mühe." Er legte seine Hand auf Mary-Anns Rechte und drückte sie. „Bald spielen wir nicht nur Karten, Darling." Seine Augen glitzerten. Seine Berührung und seine Worte trie
ben Mary-Ann einen Schauer über den Rücken. Zugleich erschrak sie, denn sie hatte anstatt der Asse drei Könige be kommen. „Schon wieder ein unschlagbares Blatt", sagte Kingman zufrieden und schob ein Geldbündel in die Mitte des Ti sches. „Ich hab heute aber auch Pech", sagte Mary-Ann und warf in gespieltem Zorn ihre Karten hin. Sie hoffte, daß Kingman sie sich nicht ansah, wie er es schon einmal getan hatte, als sie ein gutes Blatt gehabt hatte und dennoch ausgestiegen war. Er hatte sie wütend als feige und dumm bezeichnet und sich erst wieder beruhigt, als sie ihn als hervorragenden Bluffer bezeichnet hatte, bei dem man fast das Selbstvertrauen verlieren konnte. Die Situation war grotesk. Sie spielte mit einem Verbrecher Po ker. Immer um das gleiche Geld. Es war Blutgeld, bei Raubüberfällen erbeutet. Kingman gab ihr vor jeder Par tie tausend Dollar, wofür sie sich unter würfig bedanken mußte. Die Partie war beendet, wenn sie ihr „Geschenk" ver spielt hatte. Ging es zu schnell, gab King man ihr einen Vorschuß auf den näch sten Tag oder schenkte ihr eine weitere Summe, die er dann wieder zurückge wann. Er gewann immer. Erst dann war er zufrieden. Meistens war er dann auch betrunken. Dann kam der kritische Moment. Er for derte von ihr einen Gutenachtkuß und erinnerte sie daran, daß sie bald seine Frau, die Herrin von Kingmans Town, sein werde. Manches Mal war er nahe dar an gewesen, schon vor Ablauf der Frist zudringlich zu werden, doch es war ihr immer wieder gelungen, ihn sich mit ei ner geschickten Bemerkung vom Leib zu halten. Heute hatte er bereits über siebenhun dert Dollar von seinem Geld zurückge wonnen. „Du hast heute Pech", sagte er und
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W i e d e r einmal ist es an der Zeit, einem RONCO-Roman mit runder Nummer einige einleitende Worte voranzustellen. Sieben Jahre ist es her, seit wir mit der RONCO-Reihe begonnen haben. Es hat eine sehr, sehr lange Z e i t gebraucht, um eine W e stern-Serie in Deutschland wieder einmal auf 350 veröffentlichte Romane zu bringen, eine Western-Reihe zu gestalten, der eine so lange Lebensdauer vergönnt war. Es wäre müßig, vieles zu wiederholen, was wir bereits anläßlich der Nr. 100, der Nr. 150, der Nr. 200, der Nr. 250 und der Nr. 300 an dieser Stelle gesagt haben. Vieles w ü r d e sich zur Wiederholung anbieten — denn an unse rer Einstellung Ihnen gegenüber, unseren Le sern, hat sich nach wie vor nichts geändert. A b e r nach nunmehr 350 RONCO-Romanen und knapp 7 Jahren gemeinsamen Weges können wir sagen, daß wir uns kennen. Das macht viele W o r t e überflüssig. Wir, Redaktion und Leser, sind uns nicht mehr fremd, und wir stehen uns nicht fern. W i r sind zu einer Ein heit zusammengewachsen, und das ist wahr scheinlich eines der Erfolgsgeheimnisse von RONCO. W i r haben uns immer wieder bemüht, die Anonymität zu durchbrechen, die normaler weise die Arbeit an einer Western-Heftserie umgibt, und mit Ihnen, unseren Lesern, Kon takt aufzunehmen. W i r wollten w i s s e n , wer Sie sind, denn nur den, den man kennt, kann man verstehen. Und wir wollten ja Ihnen mit unserer Arbeit entgegenkommen! W i r wollten ja wissen, was wir tun konnten, um noch mehr in Ihrem Interesse arbeiten zu können! Gleichzeitig wollten wir Ihnen die Chance bieten, uns kennenzulernen, Ihnen zu zeigen, daß hinter den wöchentlich erscheinenden Ro manen Menschen stehen und keine Maschi nen. Menschen, die auch Fehler machen, die aber bemüht sind, auf Sie, die Leser, einzu gehen. Sie haben diese Chance erkannt, und Sie ha ben die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit uns genutzt, w e n n wir die letzten sieben Jahre zurückblicken. W i r wollen nicht alles noch einmal aufzählen, was in dieser Zeit allein aufgrund ihrer Initiativen, Ihrer Anre gungen und Wünsche geschaffen w o r d e n ist.
Das alles ist beispiellos. Das hat es bei kei ner Westernserie bisher gegeben. Wir sind sicher, daß ohne unsere Zusammen arbeit, das Zusammenwirken von Ihnen, den Lesern, und uns, der Redaktion, die R O N C O Serie nicht so aussehen w ü r d e , wie sie heute ist, wie sie sich in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Ja, wir sind fast sicher, daß es ohne unser Zusammenwirken R O N C O gar nicht mehr geben würde. Gerade jetzt brauchen w i r Sie wieder. Gerade jetzt, im laufenden Jahrgang, ist eine entschei dende Veränderung in der Gestaltung der RONCO-Romane eingetreten. Nicht zuletzt auch wieder aufgrund von Anregungen v o n Ihnen. Die neue Entwicklung ist noch zu j u n g , um sie richtig bewerten zu können. Der Schritt, den wir damit getan haben, war ris kant, aber wir haben uns auf Sie verlassen, und wir sind bisher nicht enttäuscht w o r d e n . Die Diskussion über die Veränderungen ist noch nicht abgeschlossen. W i r führen sie w e i ter. Bitte beteiligen Sie sich daran. R O N C O ist die einzige Serie, in der Sie die Chance haben, wirklich mitzureden. Das haben wir im mer w i e d e r bewiesen. Das wollen w i r auch weiter so halten. Was uns besonders freut, ist, daß nicht nur zwischen uns und Ihnen ein festes Band ge knüpft w o r d e n ist, sondern daß es über das R O N C O - und LOBO-Forum auch unter Ihnen, den Lesern, viele Kontakte gegeben hat, so daß w i r das Gefühl haben, daß in den Jahren eine echte RONCO-Familie entstanden ist. Wir möchten diese Freundschaft festigen. Ja, w i r glauben, daß w i r Freunde geworden s i n d ! 350 RONCO-Romane sind für uns ein A n sporn, weiter unser Bestes zu geben und w e i ter zu arbeiten, um unsere Freundschaft mit Ihnen zu erhalten und fortzusetzen. W i r sind dazu bereit. Beschreiten w i r also gemeinsam weiter R O N C O S neuen W e g , und bleiben w i r das, was wir in 7 Jahren R O N C O geworden sind: Freunde. Auf ein weiteres Jahr guter Freundschaft! Ihre R O N C O - / L O B O - R e d a k t i o n P.S.: A u f vielfachen Wunsch heute w i e d e r eine Ausgabe des „ W e s t e r n - K u r i e r " . V i e l Freude damit!
Text/Fotos: DIETMAR KÜGLER
Sheriff
schoß schneller
Arizona, 4. September 1887. — Sheriff Commodo re Perry Owens, der erst vor kurzem gewählte neue Polizeichef des Apache County, ist ein bemerkens werter Erfolg vergönnt ge wesen. In Holbrook, in sei nem Amtsbezirk, gelang es ihm, den seit langem ge suchten gefährlichen Pfer dedieb Andy Blevans zu stellen. Blevans wird in an deren U.S. Staaten außer dem als Mörder gesucht. Andy Blevans hatte sich im Haus seiner Stiefmutter verschanzt, die in Holbrook ansässig ist. Unterstützt wurde er von seinen Brü dern Sam und John sowie von seinem Schwager Mo ses Roberts. Augenzeugen schildern die Auseinandersetzung als äußerst dramatisch und das Vorgehen von Sheriff Owens geradezu als hel denhaft. Er forderte Andy Blevans auf, das Haus zu verlassen, und eröffnete den Kampf, als ersichtlich wurde, daß die ruchlosen Halunken bereit waren, den Sheriff zu ermorden. Sheriff Owens legte ein be eindruckendes Zeugnis seiner Leistungsfähigkeit ab. Er tötete Andy Blevans mit dem ersten Schuß, tö tete Sam Blevans mit dem zweiten Schuß, verwunde
te John Blevans mit dem dritten Schuß an der Schulter und tötete Moses Roberts. Das alles geschah binnen einer Minute. She riff Owens blieb völlig un verletzt. Wir erinnern daran, daß große Zweifel an den Fä higkeiten von Sheriff Owens geäußert wurden, als er sich zur Wahl für sein Amt stellte. Er hat alle Zweifler glänzend wider legt. An Mut und Ent schlossenheit wird nie mand ihn übertreffen. Er hat sich allein vier hartge sottenen, skrupellosen De sperados gestellt und ge gen sie gesiegt. Er hat da mit für das Gesetz in unse-
Sheriff Owens
rem unruhigen Land einen großen Erfolg erstritten. Wir Bürger schulden She riff Owens Dank. Für so manchen Strauchdieb wird dieses Beispiel eine War nung sein, sich aus dem Amtsberejch von Sheriff Owens fernzuhalten. Wir können wieder ruhiger schlafen.
Insektenplage Pueblo, 6. Juni 1885. — Wie aus Colorado gemel det wird, werden sich die dortigen Farmer auf einen harten Sommer einstellen müssen. Millionen von jun gen Heuschrecken sind von den stürmischen Win den der letzten Wochen nach Colorado getrieben worden und bedecken wei te Teile des Farmlandes. Über Pueblo verdunkelt ei ne Heuschreckenwolke den Himmel. Menschen flüchten aus der Stadt. Ganze Landstriche sind bereits kahlgefressen, in weiten Teilen des Staates sind die Ernten total ver nichtet. Hunderte von Far mern sind bereits ruiniert, und die Heuschreckenpla ge hält an. Kenner der Si tuation sagen voraus, daß die diesjährige Insekten plage schlimmere Ausma ße hat als die große Heu schreckenpest im Jahre 1872.
Indianerunruhen Phoenix, 13. Juni 1885. — Aus Arizona werden in letz ter Zeit wieder vermehrt Apachenüberfälle gemel det. Kleine Gruppen von marodierenden Kriegern haben Armeepatrouillen, Siedlern und Cowboys Scharmützel geliefert. Die Unruhen erstrecken sich auch über die Grenze nach Mexiko. Die mexikanische Regierung hat Truppen in die Sierra Madre ge schickt, die als Versteck für die versprengten Apa chenhorden gelten. Auch der Gouverneur von Arizo na hat zu größerer Wach samkeit aufgerufen. Ar meepatrouillen sind ver stärkt worden, und an der Grenze halten sich Farmer bereit, um notfalls unter einander Hilfe zu leisten und binnen kurzer Zeit ei ne schlagkräftige Miliz zu bilden, die sich weiteren Apachenüberfällen wirk sam entgegenstellen kann.
Frauenverein gegründet Abilene, 1868. — In der Stadt Abilene, Kansas, die erst im vorigen Jahr als er ster zentraler Rindermarkt unseres Landes gegründet worden ist und in der Zwi schenzeit einen unglaubli chen wirtschaftlichen Auf schwung genommen hat — wir berichteten in unserer letzten Ausgabe darüber —, hat sich jetzt ein Frauen verein konstituiert. Dem Verein gehören alle ehrba ren Ladies der Stadt an, die Ehefrauen der Honora tioren und Geschäftsleute, die maßgeblich zur Grün dung von Abilene beigetra gen haben. Unser Korre
spondent in Abilene be richtete, der Grund für die sen Zusammenschluß sei das Ausufern des Vergnü gungsgewerbes in der Stadt und die Überhand nahme von zwielichtigen Personen, vor allem die ra sant anwachsende Zahl von Prostituierten. Wie ein zelne Mitglieder des neuen Vereins erklärten, würden sie es nicht länger hinneh men, daß leichte Mädchen die ehrbaren Ehefrauen und Mütter aus dem ge sellschaftlichen Leben ver drängten. Außerdem gelte es, dem schamlosen Trei ben des Bordellgewerbes Einhalt zu gebieten. Zum Schutz von Ehe und Fami lie und zum Schutz der un mündigen, unschuldigen Kinder, die tagtäglich auf ihrem Schulweg mit flanie renden Dirnen und entwür digenden Plakaten an den Hauswänden der Bordelle konfrontiert werden. Ziel des Frauenvereins ist es, die Prostituierten, das Glücksspiel und den Alko holausschank völlig aus Abilene zu verdrängen. Vorhaltungen, daß solche Maßnahmen den geschäft lichen Aufstieg der Stadt behindern könnten, weil die texanischen Cowboys Vergnügungen dieser Art suchten, wurden von Ver treterinnen des Vereins verworfen. Sie vertraten die Ansicht, anständige Männer seien auf derartige lasterhafte Vergnügungen nicht angewiesen. Wer an derer Ansicht sei, habe in Abilene nichts zu suchen. Abilene müsse eine an ständige Stadt bleiben. Moral, Anstand und Sitte seien nicht Gegenstand ge schäftlicher Überlegungen. Als Beispiel für den un
glaublichen Verfall der Mo ral übergab der Frauertver ein unserer Redaktion die Abbildung einer jener
Abilene-Tänzerin schamlosen Frauen, die sich Abend für Abend in den Kneipen von Abilene öffentlich zur Schau stel len. Nur mit großen Beden ken haben wir uns für den Abdruck dieses Bildes ent schieden, das beweist, wie weit der Verfall aller An standsregeln in Abilene be reits gediehen ist. Dem la sterhaften Treiben muß schleunigst Einhalt gebo ten werden.
Gefängnisrevolte Yuma, Oktober 1887. — Wie soeben gemeldet wird, hat es im Staatsgefängnis
von Arizona, dem für einen besonders harten Strafvoll zug bekannten Yuma-Pri son, einen Häftlingsauf stand gegeben. Unter Füh rung des mexikanischen Sträflings Librado Puebla rebellierten 8 Gefangene und versuchten, einen Massenausbruch zu insze nieren. Es handelte sich bei den Rebellen durch weg um zu langjährigen Strafen verurteilte Schwer verbrecher. Es gelang den Sträflingen, sich des Direk tors von Yuma, des ehren werten Thomas Gates, zu bemächtigen. Sie konnten sich in den Besitz von Waf fen bringen und das Feuer auf das Wachpersonal eröffnen. Nach einer hefti gen Schießerei konnte der Aufstand niedergeschlagen werden. Fünf Gefangene wurden erschossen, drei ergaben sich schließlich den Wachtposten. Mehrere Wärter wurden verletzt und getötet. Besonders tra gisch ist die Lage des Di rektors von Yuma. Mister Gates hatte sich standhaft geweigert, sich von den Verbrechern erpressen zu lassen. Dafür war er kalt blütig niedergeschossen worden. Inzwischen steht fest, daß er zwar überle ben, aber für immer ver krüppelt bleiben wird. Mi ster Gates hat noch auf dem Krankenbett seinen Rücktritt als Direktor von Yuma erklärt, weil nur ein völlig gesunder Mann die schweren Aufgaben dieses Amtes ausfüllen könne. Wie zu hören war, ist sein bisheriger Stellvertreter, Mister Johnny Behan, als Nachfolger vorgesehen. Mister Behan ist unseren Lesern als Deputy Sheriff von Tombstone bekannt.
Gefängnisdirektor J. Behan
Gefängnis eingeweiht Larned, Sommer 1865. — Gestern ist in Larned, Kan sas, das örtliche Gefängnis eingeweiht worden. Bis lang hatte es in der noch jungen, aber aufstrebenden Gemeinde keine Unterbrin gungsmöglichkeit für Straftäter gegeben. Uner
Larned-City-Gefängnis
freuliche Vorfälle in den letzten Wochen aber, die den Frieden und die Ord nung in Larned empfind lich gestört haben, haben die Stadtversammlung da zu veranlaßt, zur Tat zu schreiten und die Mittel für einen Gefängnisbau zu ge nehmigen. Wie zu erfahren war, wurden die Arbeiten von notorischen Landstrei chern und Faulpelzen, die seit langem in der Stadt herumlungerten, ausge führt. Der Town Marshal und seine Gehilfen trieben dieses Gesindel zusammen und rüsteten sie mit Werk zeug aus, sie beaufsichtig ten auch die Arbeit. Gar mancher Tramp wird sich dabei gewiß dazu ent schlossen haben, sein Lotterleben aufzugeben, um nicht eines Tages selbst in das neue Gefäng nis ziehen zu müssen. Es handelt sich um ein klei nes, aber durchweg soli des Bauwerk aus starken Holzbohlen mit einer Zelle ohne Fenster. Es gibt nur zwei Lichtschlitze. In der Zelle sind 4 Pritschen un tergebracht sowie ein Ka nonenofen. Die Tür ist aus besonders verstärkten Bal ken gefertigt und mit schmiedeeisernen Riegeln verschlossen. Der Bürger
meister von Larned versi cherte uns, das Bauwerk sei absolut ausbruchssi cher. — Wie zu hören war, wurde der Bau auch des halb erforderlich, weil der Town Marshal sich gewei gert hatte, weiterhin gefaß te Straftäter in seinem Schlafzimmer unterzubrin gen, wo er gezwungen war, sie mit Ketten an sein Bett zu fesseln.
Erdbeben in
San Francisco
San Francisco, 14. April 1880. — Gerade wird ge meldet, daß San Francisco in Kalifornien von einem Erdbeben erschüttert wur de. Nicht zum erstenmal in der Geschichte der Stadt. Das Beben zog sich mei lenweit an der Pacific-Kü ste hin. Da seit einigen Jahren der Boden unter San Francisco zur Ruhe gekommen zu sein schien, war der erneute Erdstoß ein großer Schock für die Bewohner, die panikartig ihre Häuser verließen. Das Beben war kurz, aber so stark, daß zahlreiche große Gebäude beschädigt und in Einsturzgefahr gebracht wurden.
Tödliches Duell San Antonio, 11. März 1884. — Kurz vor Redak tionsschluß erreicht uns die Nachricht von einer furchtbaren Schießerei im Vaudeville Theater von San Antonio, Texas, an der einige unrühmlich bekann te Männer beteiligt waren. Nach den letzten Berichten betraten am Abend die als Revolvermänner bekann ten Ben Thompson und
King Fisher, beide waren sowohl als Vertreter des Gesetzes als auch als ge suchte Kriminelle schon tä tig, das Theater und wur den von einem Ordner an gegriffen. Es kam zu einem Handgemenge und sodann zu der besagten Schieße rei. Ben Thompson, früher City Marshal von Austin, ein unbeherrschter, jähzor niger und trinkfreudiger Mann, wurde zuerst getö tet. Wie wir hörten, soll er von 9 Kugeln getroffen worden sein. King Fisher wurde als zweiter getötet. Er erschoß zuvor den Bar keeper Joe Foster. Fisher war zur Zeit Deputy Sheriff des Uvalde County. Er hin terläßt Frau und Kinder. Gerüchte besagen, daß beide Männer, die als un übertroffen schnell mit dem Revolver bezeichnet wurden, in eine Falle ge lockt worden sein sollen. Hintergrund soll ein seit langem schwelender Streit zwischen Ben Thompson und dem Besitzer des Vau deville Theater, William Simms, einem durchaus zwielichtigen Mann, sein. Die kommenden gerichtli-
Auszeichnung
Dodge City, 6. Mai 1884. —
City Marshal Tilghman er
hielt am Freitagabend von
seinen zahlreichen Freun
den in Dodge City ein
prachtvolles Abzeichen
überreicht. Es ist schildför mig und aus purem Gold, geschmackvoll und zierlich gestaltet, und stellt ein wertvolles und kostbares Geschenk dar. Die Vorder seite des Abzeichens ist mit der Gravierung ,,Wm. Tilghman, City Marshal" versehen. Auf der Rücksei te kann man lesen: „Über reicht von seinen vielen Freunden, 2. Mai 1884."
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Letzte Meldung Washington / New York, Winter 1885. — In diesen Tagen sind die Memoiren unseres verehrten General U. S. Grant erschienen. Die beiden gut ausgestatteten Bände möchten wir unse ren geschätzten Lesern dringend empfehlen. Mi ster Grant war Sieger des unseligen Bürgerkrieges und acht Jahre Präsident dieses Landes. Er ist am 23. Juli dieses Jahres ver Ben Thompson storben. Der General hat chen Untersuchungen wer beide Bände dem amerika den die Wahrheit hoffent nischen Soldaten und See lich ans Licht bringen. mann gewidmet.
strich zufrieden den Pott ein. „Na, man kann nicht immer Glück haben." Er trank einen Schluck aus der Whiskyfla sche. „Wenn du mich freundlich bittest, gebe ich dir vielleicht nachher Kredit. Du weißt, ich bin ein großzügiger Mensch." Ein Satan, dachte Mary-Ann. Krank, verkommen, böse. Doch sie zwang sich zu einem Lächeln. Kingman schraubte den Docht der Lampe höher. Sie saßen in einer Blockhütte, die den hochtrabenden Namen Kingman's Hotel trug. Es war nur ein einziger Raum. Das einzige Gebäude im Camp, das Kingman und seine Banditen selbst er richtet hatten. Die anderen sechs Gebäu de waren von den Gefangenen errichtet worden. Und die meisten trugen auf großen Schildern Kingmans Namen. Kingman's General Store. Dort wurde das geraubte Gut gelagert. Kingman's Paradise Saloon. Dort mußten Nelly und ihre Kollegin nen den Banditen zur Verfügung stehen. Kingman's Restaurant. Es gab sogar ein Marshal's Office - ein makabrer Scherz von Kingman. Mary-Ann dachte an die anderen Ge fangenen. Mit ihr waren es fünfund zwanzig Personen, die sich in der Ge walt von sechzehn Verbrechern befan den, zwanzig Männer und fünf Frauen. Die gefangenen Männer mußten wie Sklaven arbeiten. Zuerst hatten sie Holz gefällt und die „Stadt" erbaut, wie King man die paar Hütten nannte. Dann war das Gold gefunden worden. Seither trieben sie Stollen in die Fels wand am Nordende des Camps, spreng ten und bohrten, von brutalen Aufsehern mit der Peitsche angetrieben. Auch Mary-Anns Freunde, die sie nach Tularosa begleitet hatten, wurden zu die ser Arbeit gezwungen. Noch hatten sie kein Gold gefunden, abgesehen von dem kleinen ersten Fund, der das Fieber ausgelöst hatte. Und sie hofften, nie welches zu finden, denn Kingman hatte ihnen klargemacht, daß er sie nur so lange am Leben lassen wür
de, bis sie das Gold aus dem Berg geholt hätten. Mit jedem Tag, an dem die Suche erfolg los war, wuchs Kingmans Ungeduld und die Tortur für die Gefangenen. Mary-Ann hatte mit ansehen müssen, wie einer der Gefangenen vor Schwäche umgefallen und von den Wächtern miß handelt worden war. Wieder einmal wurde Mary-Ann bei diesen Gedanken von einer Woge aus Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung erfaßt. Vater, flehte eine Stimme in ihr, komm doch und hole mich und die anderen hier raus! Warum kommst du nicht? Ihr Vater mußte doch längst nach ihr gesucht haben. Er hätte doch ihr Tuch finden und den Spuren der Entführer fol gen müssen... Und wenn jemand anders das Tuch ge funden und einfach mitgenommen hatte, bevor es ihrem Vater einen Hinweis ge ben konnte? Mary-Ann versuchte verzweifelt, den Gedanken daran zu verdrängen. Pa mußte das Tuch gefunden haben! redete sie sich immer wieder ein. Es war ihre einzige Hoffnung. Sicher, ein paar Meilen vor dem Camp hatten ihre Entführer die Spuren ver wischt, und der Zugang zu dem verborge nen Camp war nicht leicht zu finden. Aber ihr Vater war ein erfahrener Geset zesmann. Er mußte das Camp finden. Und dann? Wie sie ihren Vater kannte, würde der nichts Unbesonnenes tun. Sicher würde er Verstärkung holen, ei ne Posse oder gar die Armee. Aber warum geschah nichts? „Du scheinst nicht so recht bei der Sa che zu sein", sagte Kingman und riß sie aus ihren quälenden Gedanken. „Es macht dir doch wirklich Spaß?" „Es macht mir wirklich Spaß", wieder holte Mary-Ann und konzentrierte sich auf ihre Karten. Diesmal setzte sie mit, obwohl sie nur
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drei Neunen hatte. Sie verzichtete be wußt darauf, sich neue Karten zu kaufen. Kingman freute sich wie ein Kind, daß er mit drei Zehnen gewann. „Du wolltest mich wohl bluffen?" sagte er grinsend und drohte ihr scherzhaft mit dem Finger. Mary-Ann wurde einer Antwort ent hoben, denn es klopfte. Kingman hob den Kopf. „Ja?" rief er mürrisch. Die Tür wurde geöffnet, und Sam trat ein. Sam war so etwas wie Kingmans rechte Hand. Ein finsterer Mann mit einem schwarzen Bart und tiefliegenden, unstet blickenden Augen. Er war der einzige der Banditen, der Kingman mit dem Vorna men anreden durfte. Doch auch er gab sich im Umgang mit dem Boß stets unter würfig. Er nahm den Hut ab, verneigte sich wie ein Diener und sagte: „Jack, entschuldige bitte die Störung, aber es wird dich inter essieren, daß es einen kleinen Zwischen fall gegeben hat." Er kicherte seltsam schrill. „Zwischenfall?" sagte Kingman. „Ja, Jack. Einer wollte aus dem Camp verduften. Schlug Brady nieder und schlich sich bis zu den Wachen. Natürlich haben sie ihn geschnappt." „Na und?" fuhr Kingman auf, „Weshalb behelligst du mich mit solchen Kleinig keiten? Du siehst doch, daß ich beschäf tigt bin. Ich gewinne gerade." Sam erlaubte sich ein Kichern. „Ich will dich auch nicht aus deiner Glückssträhne reißen, Jack. Ich habe schon das Übliche veranlaßt. Ich wollte nur noch dein Okay. Es dreht sich nämlich um unseren Gold jungen." Mary-Ann wußte, wer mit Goldjunge gemeint war. Rod Perkins, der Gefange ne, der das erste und bisher einzige Gold entdeckt und beim Boß abgeliefert hatte. „Perkins?" wiederholte Kingman. Sei ne Miene verhärtete sich. „Gerade dem hätte ich mehr Verstand zugetraut." Er warf seine Karten auf den Tisch. „Gut, Sam, in diesem Fall hattest du recht, mich
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zu stören. Ich werde das selbst regeln. Er nahm einen Schluck aus der Whiskfla sche und warf Mary-Ann einen Blick zu. Es wurde ihr kalt unter dem Ausdruck seiner Augen. In den schwarzen Augen schien ein gel ber Funke zu irrlichtern. Kingman erhob sich. Mit harter Stimme sagte er: „Von unse rem Goldjungen hätte ich so etwas nicht erwartet. Das enttäuscht mich besonders. Dafür bekommt er einen besonderen Prozeß. Sag dem Marshal und dem Rich ter Bescheid und trommele die Geschwo renen zusammen. Die Jury tagt in zehn Minuten. Die Digger dürfen zuschauen." Er warf wieder einen Blick zu MaryAnn und grinste. „Auch du darfst dabei sein. Eine kleine Abwechslung wird dir sicher gefallen. Freust du dich schon? Du freust dich doch?" „Ja, ich freue mich", wiederholte Ma ry-Ann, und sie hatte Mühe, das Zittern ihrer Stimme zu unterdrücken. „Aber du freust dich noch mehr auf das Pokern mit mir?" sagte Kingman. Es klang nicht wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung. Mary-Ann nickte. „Sag mir, daß du dich darauf freust", verlangte Kingman, und sein Tonfall verriet Ungeduld. „Ja, ich freue mich darauf." „Es macht dir doch nichts aus, daß ich gewinne?" Kingmans schwarze Augen blickten sie durchdringend an. „Nein, es macht mir wirklich nichts aus, daß du gewinnst", beteuerte Mary-Ann und kämpfte gegen das Gefühl der Schwäche an, das sie überfallen hatte. Und leiser fügte sie hinzu: „Du bist eben der beste Spieler." Sie hatte genau das Richtige gesagt. Kingman nickte geschmeichelt. „Das bin ich. Der Beste. Aber du gibst dir Mühe, Darling, das muß ich dir lassen. Wir spielen nach dem Prozeß weiter. Ha, Dar ling, das wird eine lange Nacht. Vielleicht laß ich mir noch etwas Besonderes ein fallen." Sein Blick ruhte wohlgefällig auf ihr. „Aber erst die Arbeit, dann das Ver
gnügen. Sam, was stehst du noch hier her um? Los, los, ich kann es kaum erwar ten, die Verteidigung für den Angeklag ten zu übernehmen." Sam kicherte. Und Mary-Ann lief ein Schauer des Entsetzes über den Körper.
Das Essen schmeckte Lobo wie lange nicht mehr. Er verzehrte eine doppelte Portion Steak Tularosa - saftiges Rin dersteak mit Rühreiern, Bohnen, Brat kartoffeln und einer pikanten Pfeffer sauce. Nach dem Essen ging er zu Archie und stellte ihm ein paar Fragen über den To tengräber Holloway. Von Archie erfuhr er, daß Holloway mehrfach mit Jeff Cellar zusammen ge sehen worden war. Gegenüber dem Mar shal hatte Holloway gesagt: „Ich konnte
den Kerl noch nie leiden." Und er hatte geleugnet, Cellar näher zu kennen. Das konnte ein Zufall sein, aber es nährte Lobos Verdacht. Es waren zu viele Zufälle auf einmal. Je mehr Lobo sich al les durch den Kopf gehen ließ, desto stär ker, wurde Lobos Verdacht. Lobo suchte den Marshal auf und stell te ihm ebenfalls einige Fragen. Er ver mied es aber noch, den Marshal in seine Gedanken und Vermutungen einzuwei hen. Er bezweifelte nicht, daß Sid Fergu son, ein zwar glück- und erfolgloser Mann, bemüht war, sein Bestes zu tun. Aber Lobo wollte verhindern, daß Fergu son vielleicht aus Übereifer einen Fehler beging und Holloway gewarnt wurde. Der Marshal bat Lobo, kein Risiko ein zugehen und die Nacht in der sicheren Zelle zu schlafen, doch Lobo sagte ihm, daß er schon auf sich aufpassen würde. Lobo wollte nicht nur auf sich, sondern vor allem auf den Totengräber aufpas
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sen. Er beobachtete die Hütte des Mannes. Sie lag am Südende der Stadt, etwas ab seits von den letzten Häusern neben dem kleinen Boothill. Schwacher Lichtschein aus dem Fen ster verriet Lobo, daß Holloway sich wahrscheinlich in der Blockhütte auf hielt. An dem Haltebalken vor der Hütte stand ein Pferd. Gesattelt. Lobo wartete geduldig. Er lehnte vielleicht eine halbe Stunde im tiefen Schatten an einer Hauswand, als das Licht in der Hütte erlosch. Knarrend schwang die Tür auf. Ein Mann trat aus der Hütte. Holloway. Er schaute sich ein paarmal sichernd um, dann band er die Zügel des Pferdes los, saß auf und ritt im Schritt davon. Die Dunkelheit verschluckte den Reiter jenseits der Baumgruppe am Stiefelhü gel. Lobo beeilte sich, zum Mietstall zu kommen. Kurz darauf verließ er im Sattel des Morgan-Hengstes ebenfalls die Stadt. Er nahm Holloways Fährte hinter dem kleinen Friedhof auf. Sie führte zuerst nach Süden, dann bog sie nach Osten ab. Warum ritt Holloway spät am Abend ins Niemandsland? Nach ein paar Meilen verlor Lobo die Fährte. Er spielte schon enttäuscht mit dem Gedanken, die Suche aufzugeben, als er den Reiter auf einem Bergrücken in der Ferne entdeckte. Für einen Moment hob sich die Silhou ette des Mannes vom Himmel ab, dann verschwand sie wieder. Der Reiter mußte es eilig haben. Sein Vorsprung betrug mindestens zwei Meilen. Lobo prägte sich die Stelle ein, an der Holloway verschwunden war und trieb den Morgan-Hengst zum Galopp. Später fand er wieder Spuren, die tiefer in die Sacramento Mountains führten. Eine Zeitlang folgte Holloway einem sandigen Trail, auf dem die Hufeindrük ke gut sichtbar waren. Lobos Spannung wuchs.
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Er wußte, daß es riskant war, Holloway zu folgen. Wenn der Totengräber bemerkte, daß jemand auf seiner Fährte ritt, konnte er ihn geradewegs in die Hölle führen. Oder in einem Hinterhalt lauern. Lobo war nach seiner Schätzung etwa fünfzehn Meilen von Tularosa entfernt, als er von neuem die Fährte verlor. Es war ein glücklicher Umstand, daß er nach einer halben Stunde Suche auf Wa genspuren stieß. Sie führten nach Nor den, währendHolloway bisher nachOsten geritten war. Lobo dachte an die verschwundenen Frachtwagen und sagte sich: Ein Reiter braucht sich nicht an einen Trail zu hal ten, der breit genug ist, um die Wagen aufzunehmen. Holloway hat wahr scheinlich eine Abkürzung genommen. Lobo war überzeugt davon, daß die Wagenspuren ihn genauso zu dem Ver steck der Bande führen würden wie Hol loways Fährte. Mitternacht war längst vorbei, als die Wagenspuren plötzlich wie abgeschnit ten endeten. Lobo ritt noch ein Stück weiter. Nichts. Es ging ihm wie allen, die bisher erfolg los die Spuren verfolgt und an ihrem Ende vor einem Rätsel gestanden hatten. Die Wagen konnten doch nicht einfach davongeflogen sein! Lobo zügelte den Hengst, blickte sich wachsam um und überlegte. Im näheren Umkreis gab es wohl kaum eine Möglichkeit, die Wagen zu verstecken. Wo, zum Teufel, waren sie geblieben? Er saß ab und untersuchte den Boden. Wenn jemand die Spuren verwischt hat te, dann meisterhaft. Schließlich fand Lobo ein paar hundert Yards nördlich einen Fetzen halbver brannten Papiers. Verbrannt? Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Er ließ den Morgan-Hengst in Deckung einiger Felsen zurück und suchte weiter. Etwa fünfhundert Yards weiter nord
östlich fand er Asche, von Sand fast be deckt. Wenn er nicht bewußt nach so et was gesucht hätte, weil ihn das winzige angebrannte Papierstückchen darauf ge bracht hatte, wäre ihm die Asche wohl kaum aufgefallen. Vielleicht hatte sie auch niemand bei Tageslicht gesehen, weil sie vom Sand be deckt gewesen war, und erst im Laufe der Zeit der Sand vom Wind verweht worden war. Lobo legte die Winchester ab und grub mit den Händen an der Stelle, an der er die Asche entdeckt hatte. Bald gab es keinen Zweifel mehr. Eine tiefe Grube war randvoll mit Asche ge füllt. War das die Erklärung für das spurlose Verschwinden der Wagen? Waren sie verbrannt worden? Lobo ertastete zwischen der Asche et was Metallisches, dann ein verkohltes Holzstück. Die Wagen waren verbrannt worden. Und alles nicht Brennbare wie Eisen beschläge war ebenso eingegraben wor den wie die Asche oder ruhte irgendwo in einer Felsspalte, mit Steinen verdeckt. Und die Menschen? Es war, als gleite eine eisige Knochen hand über Lobos Wirbelsäule. Er blickte sich sichernd um und zog sei nen Colt. Das Versteck der Bande mußte irgend wo in der Nähe sein. Sie hatten die Wagen verbrannt, die Asche vergraben und alle Spuren ver wischt. Daß die Wagen beseitigt worden waren, ließ nur einen Schluß zu: Der Zu gang zum Versteck der Banditen war zu schmal, für die Wagen unpassierbar. Die Ladung hatten sie mit Sicherheit nicht verbrannt, sondern in ihr Camp ge schafft. Also mußte es in der Nähe sein, denn allzu weit hatten sie die Beute wohl nicht geschleppt. Lobo blickte angespannt in die Runde. Felsen, ein dichtes Gestrüpp etwa fünf hundert Yards östlich. Lobo konnte nicht ahnen, daß US-Mar
shal Frederick Pall in diesem Gestrüpp den Tod gefunden hatte. Er dachte in diesem Augenblick daran, daß er das Pferd Palls an einer völlig an deren Stelle entdeckt hatte. Es mußte weit gelaufen sein. Lobo überlegte, ob er weitersuchen sollte. Schließlich entschied er sich dage gen. Es war zu riskant. Er versprach sich mehr davon, abzu warten, bis Holloway irgendwann wieder auftauchte. Er hoffte, zumindest den Huf schlag zu hören und auf die Richtung schließen zu können, aus der Holloway kam. Und wenn das Camp so nahe war, daß die Banditen ihn gehört hatten? Lobo konnte nur hoffen, daß er den Morgan-Hengst früh genug zurückgelas sen hatte.
Der „Prozeß" gegen Rod Perkins, des sen Fluchtversuch aus dem Banditen camp gescheitert war, wurde zu einer grausamen Farce. Der Marshal, der den Ankläger spielte, war ebenso ein Verbrecher wie die Mit glieder der „Jury" und der Richter, der schließlich das Todesurteil verkündete. Zuvor machte sich Jack Kingman ein satanisches Vergnügen daraus, den „An geklagten" zu verteidigen. Er erntete Gelächter seiner Banditen. Mary-Ann und die anderen Gefange nen mußten diesem verbrecherischen Schauspiel, das die Banditen wie einen Bühnenauftritt genossen, zusehen. Sie mußte auch zuschauen, wie Rod Perkins aufgehängt wurde. Jack Kingman befahl es ihr. Dann sagte er spöttisch lachend: „Scha de, daß da nichts zu machen war. Kein Verteidiger verliert gern einen Prozeß. Aber das Gesetz in Kingmans Town konnte wohl nicht anders entscheiden. Hat es dir gefallen, Darling?" Sie konnte die Tränen nicht zurückhal ten.
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„Ich habe dich gefragt, ob es dir gefal len hat!" Sie nickte. „Es hat mir gefallen", sagte sie tonlos, und sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. „Na also", sagte Kingman selbstzufrie den. Er hob die Stimme: „Ich denke, es hat euch allen gefallen." Er blickte zu den Gefangenen, die schweigend und vor Entsetzen wie erstarrt vor dem langge streckten Bau standen, in dem sie ihre Schlafstellen hatten. Die Männer wurden von mehreren Banditen bewacht. Kingmans Blick wanderte zu Nelly und den anderen Mädchen, die vor Kingmans Saloon standen und ebenfalls die Szene hatten mit ansehen müssen. „Ihr seht alle, daß es sich nicht lohnt, gegen das Gesetz von Kingmans Town zu verstoßen. Ich wünsche euch eine ange nehme Nachtruhe und viel Erfolg bei der Arbeit morgen." Er gestikulierte mit der Hand, als woll te er die Gefangenen in ihr Quartier scheuchen. Dafür sorgten die Wächter. „Du veranlaßt alles Weitere", sagte Kingman zu Sam und wies auf Rod Per kins Leiche. „Jawohl, Boß", sagte Sam. Kingman blickte Mary-Ann an. Sie war blaß und zitterte. „Ich glaube, so ganz hat es dir doch nicht gefallen, Darling. Nun, das kann ich verstehen. Poker mit mir ist dir bestimmt lieber." Diesmal wartete er nicht auf eine Antwort, son dern fuhr gleich fort: „Also, spielen wir weiter. Worauf warten wir noch?" Er wandte sich ab, um zurück ins „Ho tel" zu gehen. Als der Vogelschrei ertönte, verharrte er und blickte zum Zugang des Camps. „Nanu, Besuch?" murmelte er. Ein weiterer entfernterer Vogelschrei war zu hören. Schließlich näherte sich Huf schlag. Holloway, der Totengräber von Tula rosa, ritt in das Camp. In dieser Nacht blieb Mary-Ann eine Fortsetzung der Pokerpartie erspart. Kingman unterhielt sich etwa zwanzig
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Minuten mit Holloway, und nachdem er ihn wieder fortgeschickt hatte, hielt Kingman mit seiner rechten Hand Sam im Saloon Kriegsrat, wie er es nannte. Er hatte Mary-Ann erklärt, sie könne schlafen gehen. Mary-Ann spürte, daß etwas gesche hen sein mußte. Aber was? Kingman hatte sie so sonderbar ange starrt. Und er war irgendwie anders zu ihr gewesen als sonst, nicht so herrisch, beinahe freundlich und höflich. Sie konnte sich die Wandlung nicht er klären. Was war passiert?" Sie lag noch lange grübelnd wach, und als sie einschlief, verfolgte sie der An blick des toten Rod Perkins im Traum. Jack Kingman hockte derweil mit Sam allein im Saloon. „Sie darf es nicht erfahren", sagte der Verbrecherboß dumpf. „Verdammt, sie darf es nicht erfahren." „Woher soll sie denn erfahren, daß es ihr Vater war, den wir umgelegt haben?" sagte Sam. „Außer uns beiden weiß es doch nur Holloway. Und der wird sich hüten, ihr das auf die Nase zu binden. Das hast du ihm ja deutlich genug gesagt." „Ja", sagte Kingman, und seine Stimme klang etwas zuversichtlicher. Er starrte ins Leere und murmelte wie im Selbstge spräch: „Sie soll meine Königin werden. Nach und nach wird sie schon ihre Ge fühle für mich entdecken. Damit wäre es vorbei, wenn sie vom Tod ihres Vaters er führe." Er blickte Sam an. „Ich habe mich bis jetzt nur zurückgehalten, weil ich da von überzeugt bin, daß sie sich nach Ab lauf der Frist für mich entscheiden wird. Ich könnte sie natürlich zwingen, aber ich will das Gefühl haben, daß sie sich freiwillig für mich entscheidet. Verstehst du das?" Sam verstand das nicht, aber er nickte. Er kannte die Eitelkeit seines Bosses. Kingman bildete sich tatsächlich ein, die ses Mädchen würde sich freiwillig für ihn entscheiden. Nein, Mary-Ann war kein Mädchen
wie Nelly und ihre Kolleginnen. So abge brüht Sam auch war - dafür besaß er ein Gespür. Kingman übersah in seinem Größen wahn die Realitäten. Diese Mary-Ann gab sich zwar Mühe, doch sie konnte nur unzulänglich verber gen, daß sie Kingman gegenüber nichts anderes empfand als Furcht, Haß und Verachtung. Das bemerkte Sam an ihren Blicken, ihrer Haltung, ja selbst an ihren unter würfigen Worten. Aber Sam hütete sich, den Boß darauf aufmerksam zu machen. Aus zwei Gründen: Der Boß würde vor Zorn rasen, und das konnte auch auf ihn, Sam, zu rückfallen. In seinem Jähzorn war King man unberechenbar. Und zweitens impo nierte ihm Mary-Ann. Er hatte noch nie eine Frau gekannt, die sich so tapfer und beherrscht mit ihrem Schicksal abfand. Selbst, wenn sie Kingman zum Munde re dete, weil er sie dazu zwang, verlor sie für Sam nichts von ihrem Stolz. Warum sollte er Kingman die Augen öffnen? Warum sollte er einem Blinden sagen, daß er auf dem falschen Weg war, wenn dieser Blinde fähig war, ihn zum Dank mit seinem Blindenstock zu er schlagen? Der Gedanke amüsierte Sam. „Was grinst du so blöde?" fragte King man. „Panne auf Panne passiert, und du grinst. Ich finde es nicht lustig, daß unse re Wachen versagt haben. Dafür bist du zuständig. Verdammt, muß ich mich denn um alles selber kümmern?" Sam setzte eine schuldbewußte Miene auf. „Ich habe die Jungs schon zusam mengestaucht", sagte er. „Sie hätten in tensiver nach dem Gaul suchen müssen. Aber wer konnte schon ahnen, was sich daraus entwickeln würde? Wenn Jeff nicht versagt hätte, wäre das Halbblut längst in der Hölle. Ich frage mich, war um Holloway..." „Du hast gehört, daß er keine Chance mehr hatte. Er konnte gerade noch Jeff töten, damit er nicht plaudert. Nein, auf Holloway brauchst du nicht die Schuld zu
schieben. Der hat seine Sache gut ge macht. Die Stadt war schon alarmiert. Er hatte keine Möglichkeit mehr, auf Lobo zu schießen." Kingman trank Whisky aus der Fla sche. Er sprach schon mit etwas schwerer Zunge. Sam wußte, daß der Boß bald sein tägliches Quantum getrunken hatte, und er bemühte sich, nur ja kein falsches Wort zu sagen. Denn betrunken war Kingman noch
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unberechenbarer als sonst. „Ich denke, wir brauchen uns um die sen Lobo keine Sorgen mehr zu machen", sagte Sam. „Unsere Spuren sind tadellos verwischt. Niemand kommt in das Camp rein. Ich habe die Wachen bereits verdop pelt. Wer weiß, wo er das Pferd des Stern trägers gefunden hat. Laß' ihn und die Posse doch suchen. Wenn Holloway es schafft, rechtzeitig zurück in der Stadt zu sein, reitet er mit der Posse. Dann hat er alles im Griff. Sollte dieser Lobo uns bei der Suche zu nahekommen, stirbt er an einem bedauerlichen Unfall. Sollte die Suche negativ ausgehen, stirbt er in der Stadt." „Glaubst du, daß Lefty mit ihm fertig wird? Das Halbblut soll verdammt schnell mit dem Eisen sein ..." Sam kicherte. „Und wenn er zaubern könnte, Lefty hat noch jeden geschafft. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer." „Okay", sagte Kingman. „Warten wir also ab. Ein paar Tage müssen wir uns zurückhalten. Obwohl ich ja gerne mal wieder Kapital angeschafft hätte. Aber die kleinen Coups bringen nicht viel. Ar beitskräfte haben wir genug, und mit Proviant sind wir für lange Zeit einge deckt. Ich hoffe nur, daß bald das Gold gefunden wird ..." Sam spürte wieder einmal die Unge duld Kingmans, und er sagte: „Es kann nicht mehr lange dauern. Da bin ich ganz zuversichtlich. Wenn wir noch einmal sprengen..." „Haben wir noch Dynamit?" „Genug, um den ganzen Berg in die Luft zu jagen", übertrieb Sam. Kingman grinste. „Dazu gebe ich nie meine Zustimmung. Einen besseren Schutzwall um meine Stadt kann ich mir nicht wünschen." „War nur ein Spaß", versicherte Sam hastig. Kingman blickte ihn nachdenklich an. „Schade, daß du nicht so gut Poker spie len kannst, Sam. Jetzt hätte ich wieder Lust auf eine Partie. Aber mit Mary-Ann könnte ich jetzt nicht spielen. Tut mir richtig leid, daß wir ihren Vater erschos
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sen haben. Zur Hölle, warum mußte der Kerl auch hier herumschnüffeln? Sie darf es nicht erfahren. Sie würde mich hassen..." Das tut sie auch so, dachte Sam, aber er sagte: „Sie wird es nie erfahren, Jack." „Sie wird meine Königin. Die Herrin von Kingmans Town." „Ja, sie wird deine Königin."
Lobo hörte den Hufschlag. Seine Hal tung spannte sich. Ein Reiter näherte sich von Süden. Holloway? Lobo lauschte mit angehaltenem Atem. Er ging mit der Winchester im Anschlag in Deckung und wartete. Es war nicht Holloway, sondern Mar shal Ferguson. Keine zwanzig Yards von Lobo ent fernt zügelte er sein Pferd und unter suchte den Boden nach Spuren. Lobo wollte verhindern, daß Ferguson geradewegs den Banditen in die Arme ritt. Deshalb erhob er sich und warnte den Marshal mit einem leisen Ruf. Sid Ferguson zuckte zusammen, zu To de erschrocken. Dann erkannte er Lobo und atmete auf. „Ich dachte schon, jetzt wäre alles zu spät. Mann, haben Sie mich erschreckt. Was machen Sie eigentlich hier?" „Das wollte ich gerade Sie fragen", er widerte Lobo. Der Marshal schob sich den Hut in den Nacken. „Ich hörte, daß Sie die Stadt ver lassen hatten. Da bin ich hinter Ihnen her." Seine Stimme nahm einen vor wurfsvollen Klang an. „Sie wissen doch, daß ich ohne Sie aufgeschmissen bin. Dachte schon, Sie hätten Ihr Versprechen vergessen." Lobo berichtete dem Marshal von sei ner Entdeckung. Sid Ferguson glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. „Das ist ein Ding", murmelte er ein paarmal. „Wir suchen und suchen, und da kommt ein Fremder und löst das Rätsel. Vielleicht haben die Leute recht. Viel
leicht tauge ich wirklich nicht für das Amt des Marshals." „Es war ein glücklicher Zufall", tröstete Lobo den resignierten Mann. „Im Grunde hat mich Holloway darauf gebracht." Der Marshal saß ab und führte das Pferd in Deckung. Dann berieten die beiden Män ner. Sid Ferguson überlegte, ob er Holloway festnehmen sollte, sobald der Mann in der Stadt auftauchen würde. Lobo war dagegen. Er hatte sich bereits einen Plan zurechtgelegt, für dessen Ge lingen er Holloway brauchte. Er erzählte dem Marshal davon. „Irgendwann muß Holloway wieder auftauchen. Dann wissen wir, wo wir nach dem verborgenen Camp zu suchen haben. Die Banditen erfahren von Hollo way natürlich, was in der Stadt gesche hen ist, daß sich eine Posse auf die Suche macht. Sie sind gewarnt. Wir werden un verrichteter Dinge von der Suche zu rückkehren. Dann fühlen sich die Bandi ten sicher..." „... und wir brauchen nur noch zuzu schlagen", sagte Sid Ferguson eifrig. Lobo lächelte. „Und wie?" „Irgendwie muß es uns gelingen, das Camp zu stürmen." „Das wird kaum möglich sein", sagte Lobo. „Ich wette, es gibt nur einen schma len Zugang zu einer Schlucht oder einem Tal, sonst hätten sie die Wagen nicht ver brannt. Sie werden dort Wachen postiert haben und jeden Fremden mit einem Bleihagel empfangen. Nein, wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen, wenn wir uns nicht blutige Köpfe holen wollen. Außerdem haben sie wahrscheinlich Geiseln." „Sie meinen, die Verschollenen leben?" fragte der Marshal überrascht. Lobo nickte. „Es ist möglich, daß sie ge fangengehalten werden." Zumindest die Frauen, fügte er in Gedanken hinzu. Er blickte den Marshal an. „Warum haben Sie eigentlich bisher darauf verzichtet, Unterstützung anzufordern?" Der Marshal rieb sich über das Kinn. „Sie haben recht", sagte er. „Ich hätte eher
eine Verbindung zwischen den einzelnen Fällen erkennen müssen. Aber versetzen Sie sich doch mal in meine Lage. Da wird mal ein Überfall gemeldet. Irgendwann geht ein Transport auf dem Weg zwi schen Roswell und Tularosa verloren. Dann werden Rinder gestohlen. Men schen verschwinden. Ich sah einfach kei nen Zusammenhang, glaubte, es mit mehreren Einzelfällen zu tun zu haben. Ich war sogar überzeugt davon, daß ver schiedene Banden am Werk sind. Ver dammt, war ich ein Hammel." „Wir begehen alle mal Fehler", sagte Lobo. „Jetzt ist es an der Zeit, sie auszu bügeln. Sie müssen Unterstützung anfor dern. In aller Stille." „Ja, damit Holloway nichts davon mit kriegt. Vielleicht hat er sogar noch Kom plizen in der Stadt..." „Auch damit müssen wir rechnen. Wir lassen Holloway erst mal in Ruhe und be obachten ihn unauffällig." „Und wenn er gar nicht mehr in die Stadt zurückreitet?" überlegte der Mar shal. „Das wird er tun", sagte Lobo. „Er wird seine Rolle in Tularosa weiterspielen. Die Bande braucht einen Kontaktmann, ei nen Informanten. Er hätte auf mich schießen können, anstatt Jeff Cellar zu töten. Aber er wollte offenbar weiter den Wolf im Schafspelz spielen. Wenn er noch Komplizen in Tularosa hat, dann führt er uns an sie heran. Und dann sorgen wir dafür..." Er brach ab, denn er hatte eine Bewe gung im Gestrüpp zwischen den Felsen bemerkt. Er legte warnend einen Finger an die Lippen und wies den Marshal dar auf hin. Dann tauchte ein Reiter auf. Ein zwei ter folgte ihm. Bevor sie hinter einem Felsen verschwanden, erkannte Lobo in dem ersten Reiter noch Holloway, den Totengräber von Tularosa, der mit den Banditen unter einer Decke steckte. Der Huf schlag verlor sich im Süden. „Ersatz für Jeff Cellar", murmelte Lo bo, und er wußte, daß er mit einem neuen Anschlag aus dem Hinterhalt rechnen
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mußte. „Wo haben Sie eigentlich Ihr Pferd?" fragte der Marshal besorgt. „Wenn sie das finden..." „Sie haben es doch auch nicht gefun den", beruhigte ihn Lobo, der zufrieden registriert hatte, daß die beiden Banditen eine andere Richtung eingeschlagen hat ten. Wahrscheinlich ritt Holloway wieder die Abkürzung und fand Lobos Fährte nicht, denn Lobo war ja eine Zeitlang dem Wagentrail gefolgt. Lobo fragte den Marshal, welchen Weg er genommen hatte. Sid Ferguson war Lobos Fährte gefolgt. Wenn Holloway und sein Kumpan auf merksam waren, konnten sie vor der Stadt bemerken, daß ihnen jemand ge folgt war, denn Lobo und der Marshal hatten ihre Spuren nicht verwischt. „Wir werden in der Stadt verkünden, daß heute nacht mehrere Scouts unter wegs waren, aber alle erfolglos zurück gekehrt seien", sagte Lobo. Und auf dem Rückritt nach Tularosa entwickelte er dem Marshal seinen Plan...
Am Abend des nächsten Tages kehrte die Posse nach Tularosa zurück. Müde und in gedrückter Stimmung. Lobo hatte Marshal Ferguson und den Freiwilligen des Suchtrupps die Stelle gezeigt, an der er das Pferd entdeckt hat te. Ein Platz, der weit genug von dem Versteck der Banditen entfernt war. Natürlich hatte die Suche nichts erge ben. Holloway war mitgeritten. Er hatte sich als „guter Bürger" dazu verpflichtet gefühlt, wie er dem Marshal erklärt hatte. Er spielte den Enttäuschten, als die Männer die Suche aufgaben, und Lobo und der Marshal - die einzigen, die bis jetzt Holloways Doppelrolle kannten ließen ihn in dem Glauben, daß auch sie enttäuscht waren. Dabei waren sie sehr zufrieden.
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Die Vorbereitungen für den Plan konn ten beginnen. Archie, der Bankier und der Rancher Lionel Wester wurden eingeweiht. Sie sollten alle eine Rolle in dem riskanten Spiel haben. Archie brachte Gerüchte unters Volk. Der Bankier stellte Geld zur Verfü gung. Lionel Wester hielt seine Mannschaft in Bereitschaft. Bald wußte es die ganze Stadt: Ein ge heimer Transport sollte auf den Weg nach Roswell geschickt werden. Einer von Hardins Frachtwagen sollte angeb lich nur Holz transportieren. Keine loh nende Beute für Banditen. Die konnten ja nicht ahnen, daß der Fahrer dreißigtau send Dollar in Bargeld mitführte, oder? Der Fahrer sollte Lobo sein. Er hatte schon lange kein Holz mehr gefahren und war bereit, für fünfzig Dol lar sein Leben aufs Spiel zu setzen. „Wer überfällt denn einen Holztransport?" Und er blickte grinsend in die Runde. Einer der Gäste in Archies Bar war Holloway. Der Bandit gab sich Mühe, ei ne unbeteiligte gelangweilte Miene auf zusetzen, aber Lobo wußte, daß der Mann von Anfang an die Ohren gespitzt hatte. „Naja", sagte Archie. „Die Kerle könn ten dich vom Bock schießen und erst hin terher feststellen, daß sie das Holz nicht gebrauchen können ..." „Das glaube ich nicht", sagte Lobo. „Warum sollten sie gleich schießen? Sie werden die Ladung durchsuchen und mich dann ziehen lassen ..." „Und wenn sie dahinterkommen, daß du nicht nur Holz ..." Archie hatte mit gesenkter Stimme gesprochen, gerade laut genug, daß Holloway ihn noch hören mußte. Jetzt brach er erschrocken ab, als hätte er bereits zuviel gesagt. Lobo warf ihm einen mahnenden Blick zu und schaute sich dann mit gespieltem Unbehagen um. Dann nannte er Archie einen Schwätzer und Pessimisten, gab aber vor, doch von einem unbehaglichen Gefühl befallen worden zu sein. „Ich werde mit dem Bankier sprechen.
Vielleicht finden wir noch einen Beifah rer ..." Er spekulierte darauf, daß Holloway seinen Komplizen informieren würde. Es hielten sich vier fremde Männer in der Stadt auf. Lobo war überzeugt davon, daß einer davon der Bandit sein mußte, der mit Holloway das Versteck der Bande verlas sen hatte. Aber wer? Holloway hatte mit keinem von ihnen bisher Kontakt aufgenommen. Lobo wollte den Mann kennenlernen. Ein un bekannter Gegner ist immer gefährlicher als ein bekannter. Er hoffte, daß Hollo way den Köder schlucken würde, daß sich sein Komplize als Beifahrer anbieten würde. Doch das war nicht der Fall. Er lernte den Mann auf ganz andere Weise kennen. Holloway hatte Archies Bar gerade verlassen, als ein neuer Gast auftauchte. Es war ein etwa dreißigjähriger Mann, der, abgesehen von den beiden tiefge schnallten Colthalftern, recht durch schnittlich wirkte. Er war mittelgroß, schlank aber muskulös und hatte ein nichtssagendes Dutzendgesicht, schwar ze Haare und graue Augen. Er setzte sich an einen der Tische und bestellte ein Glas Bier bei Archie, der sich gerade an der Theke mit Lobo unterhielt. Archie zapfte das Bier und brachte es dem Gast an den Tisch. Lobo registrierte aus den Augenwin keln, daß der Mann das Glas mit der Lin ken nahm und hastig trank. Dann kam Archie zurück, polierte hin ter der Theke wieder Gläser und plau derte mit Lobo. Der neue Gast war für einen Augen blick vergessen. Doch er rief sich auf recht seltsame Art wieder in Erinnerung. Er stand auf, schritt zur Theke und knallte das noch dreiviertel volle Bier glas darauf, so daß etwas Bier heraus schwappte. Dann packte er den verdutzten Archie
an der Hemdbrust, zog ihn dicht an sich heran und sagte: „Das Bier ist sauer, mein Freund! Gib mir ein neues!" Bevor Archie Gelegenheit hatte, etwas zu sagen, gab ihm der Gast einen Stoß, daß er gegen das Flaschenregal prallte. Eine Flasche fiel herab und zerklirrte. Archie fluchte. „Mister, mein Bier..." „Ein neues, hab ich gesagt", zischte der Gast. Lobo warf dem Mann einen Blick zu, und er spürte, daß es Verdruß geben würde. Der Mann legte es darauf an. Archie schien das noch nicht zu durch schauen. Er warf Lobo einen fast hilfesu chenden Blick zu und sagte: „Ich kann mir das nicht erklären. Hat es dir etwa auch nicht geschmeckt?" Lobo nahm einen Schluck Bier und warf Archie einen mahnenden Blick zu.
Archie ging nicht darauf ein. „Ich hab noch nie saures Bier verkauft. Dir schmeckt es doch, Lobo ...?" „Du hältst dich da raus", sagte der Gast und schaute Lobo an, als nähme er ihn erst jetzt wahr. Dann stieß er einen Pfiff aus. „Eh, das ist ja 'ne Rothaut! He, sag nur, daß du anderes Bier bekommst als ich!" Lobo sagte nichts. Er kannte das Spielchen. Der andere ergriff mit der Linken Lo bos Bierglas, trank und spuckte einen Strahl Bier mit angewiderter Miene aus. Auf Lobos Hemdsärmel. „Pah, auch sauer. Na, was hab ich ge sagt." Es war eine plumpe Provokation, und schlagartig erkannte Lobo, daß es dem Mann nicht darum ging, mit Archie Krach anzufangen.
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Er hatte es auf Lobo abgesehen. Holloways Partner? Er blickte den Mann an und sagte ru hig: „Ich gebe dir einen guten Rat..." „Du mir?" „Ich dir." Der Mann drehte sich etwas, und Lobo sah, daß sich seine Haltung spannte. Lobo sprach ruhig weiter: „Du bezahlst und trollst dich." Zwei andere Gäste verließen fluchtar tig Archies Bar. Auch sie hatten sie Situation richtig ge deutet. Die grauen Augen des Mannes vereng ten sich. „Ich denke nicht daran, für saures Bier zu bezahlen", sagte er. „Und wann ich ge he, bestimme ich, Mister Rothaut. Hau ab, oder..." „Oder?" fragte Lobo sanft. „Oder ich werfe dich achtkantig raus!" Seine Linke schnellte vor, packte Lobo an der Schulter, wollte ihn herumreißen. Doch Lobo reagierte anders, als der Mann wohl erwartet hatte. Und vor allem schneller. Seine Linke schlug die Hand des Man nes zur Seite und mit der Rechten gab er ihm eine Ohrfeige. „Er hat mich geschlagen!" sagte der Mann, und es klang fast triumphierend. Er wich ein paar Schritte zurück und suchte festen Stand. Seine Rechte spreiz te er vom Körper ab, während er die Lin ke in die Hüfte stemmte. „Noch niemand hat mich ungestraft ge schlagen. Okay, du bist auf Krawall aus. Kannst du haben. Wahrscheinlich bist du ein Schläger, der harmlose Leute an greift. Diesmal hast du aber Pech gehabt, daß du an den falschen Mann geraten bist. Ich bin das schnellste Eisen von El Paso. Aber ich will dir eine Chance geben. Zieh!" Das war es also. Er wollte einen Revolverkampf. Von Anfang an war er darauf aus gewesen. Ein Zufall? Ein Schießer, der mal wieder beweisen wollte, daß er unschlagbar war?
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Lobo bezweifelte das. Es war Holloways Kumpan. Er wollte Jeff Cellar rächen. Er schoß nicht aus dem Hinterhalt, wie Cellar das getan hat te. Vielleicht hielt er sich wirklich für un schlagbar . . . Die Linke. Er ist Linkshänder, durchfuhr es Lobo. Mit der Rechten will er nur ablenken. Lobo war bereit. „Zieh!" wiederholte der andere, und seine Rechte stieß zum Coltkolben hinab, als wollte er selbst ziehen. Er rührte den rechten Colt nicht an. Das war nur ein Ablenkungsmanöver. Er zog mit links. Später würde er behauptet haben, Lobo hätte als erster zum Colt ge griffen. Doch es gab kein Später mehr für ihn. Er war höllisch schnell. Er drückte als erster ab. Beide Schüsse krachten so schnell hintereinander, daß sie fast wie einer klangen. Blei schrammte über die Theke dicht neben Lobo. Er hatte sich noch im Ab drücken zur Seite geschnellt. Seine Kugel traf tödlich. Der Mann, der sich als schnellstes Eisen von El Paso bezeichnet hatte, stürzte hin tenüber und blieb steif liegen. Pulverrauch zerfaserte. Einen Augenblick lang herrschte Stille. Die Stille des Todes. Dann rief Archie, der sich geistesge genwärtig hinter die Theke geworfen hatte: „Lobo!" „Warum schreist du so?" sagte Lobo, und seine Stimme hatte einen fremden Klang. „Gott sei Dank", stieß Archie hervor. „Ich dachte schon ..." Er ließ den Rest unausgesprochen, aber Lobo hörte am Klang der Stimme, daß Archie Angst um ihn gehabt hatte. Das Vollmondgesicht tauchte über der Theke auf. Blaß, erschrocken. Archie blickte wie Lobo zu dem Toten. „Wer war das ...?" „Keine Ahnung", sagte Lobo, denn in diesem Moment stürmte der Marshal in das Lokal, gefolgt von niemand anderem
als Holloway. Holloway hatte Mühe, sein Erschrek ken darüber zu verbergen, daß der fal sche Mann am Boden lag. Lobo entspannte den Army Colt und stieß ihn ins Leder zurück. „Was war los?" fragte Marshal Fergu son atemlos. „Wer ist das?" Er blickte auf den Toten. Holloway lachte wieder einmal zu ei nem unpassenden Zeitpunkt. Er faßte sich erstaunlich schnell. „Wer war das, sollte man korrekter fragen", sagte er. Der Marshal ahnte wohl Zusammen hänge, ließ sich aber nichts anmerken. Barsch fuhr er Lobo an: „Ich will eine Er klärung. Das ist schon der zweite Tote, seit Sie in der Stadt sind. Ich kann nicht sagen, daß mir das gefällt, Mister Lobo." „Ich auch nicht", antwortete Lobo. Dann berichtete er sachlich. „Vermutlich war es einer dieser Typen, die immer wieder ein Opfer suchen, um sich und der Welt beweisen zu können, daß sie die Größten sind." „Ja, solche Typen werden alle nicht alt", sagte Holloway. „Na, dann will ich mich mal an die Arbeit machen. Hoffentlich hat er genug Geld für 'ne Beerdigung bei sich." „Und für seine Zeche", sagte Archie. „Die letzte seines Lebens." Er warf Lobo einen Blick zu. „Noch ein Bier?" „Auf meine Rechnung", sagte Holloway und lachte. „Seit Sie in der Stadt sind, Mister Lobo, kann ich über's Geschäft nicht klagen." Archie schenkte ein. Dann prostete Holloway Lobo zu. Scheinheilig lächelnd sagte der Toten gräber: „Ich hoffe nur, daß Sie nicht eines Tages auch noch zu meinen Kunden zäh len. Sie machen sich ja schnell Feinde in Tularosa." Lobo lächelte den Totengräber an, und nichts verriet seine wahren Gedanken. „Wenn ich nicht noch einen Job angebo ten bekommen hätte, würde ich längst aus dieser häßlichen Stadt verschwun den sein. Na ja, morgen abend geht's los.
Dann bin ich erst mal für einige Zeit un terwegs - Holz einfahren." Und mit ge spielt sorgenvoller Miene murmelte er: „Hoffentlich geht alles glatt." „Das hoffen wir alle", sagte Holloway zweideutig. Als es dunkel war, verließ Holloway wieder einmal die Stadt. Lobo beobachtete ihn. Er war überzeugt davon, daß Holloway seinen Boß informieren wollte. Lobo ging zum Marshal, um noch ein mal den Plan mit ihm durchzusprechen.
Es war wieder ein heißer Tag gewesen. Und es sollte für Lobo noch eine heiße Nacht werden.
Ebenso für die anderen Männer auf dem Wagen. Einer hockte neben Lobo auf dem Bock des Planwagens, fünf weitere kauerten auf der Ladefläche und warteten auf ih ren Einsatz. Es waren Männer der Posse. Bürger von Tularosa. Gute Schützen, die sich für die riskante Fahrt freiwillig zur Verfü gung gestellt hatten. Es konnte eine Fahrt in die Hölle wer den, das wußten sie. Aber sie waren ent schlossen, dem Gesetz zu helfen. Sie alle hatten sich mehrmals an der Suche nach den vermißten Menschen und Wagen be
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teiligt, und sie brannten darauf, endlich dem Spuk ein Ende zu bereiten. Der Mann neben Lobo hieß Wes Fair child und war der Bruder des Mannes, der aus Tularosa verschwunden war, nachdem er bei dem Bankier Harwood einen Kredit aufgenommen hatte. Lobo lenkte den Conestoga-Wagen über den staubigen Trail. Der Mond war aufgegangen, und Ster ne blinkten am Himmel. Irgendwann unterwegs sagte Fairchild mit rauher Stimme: „Ich hab ein höllisch ungutes Gefühl." „Ich auch", sagte Lobo trocken. „Der Plan ist Wahnsinn", fuhr Fair child fort. „Ich bedaure fast, daß ich mich auf so etwas eingelassen habe. Wenn es nicht um meinen verschwundenen Bru der ginge..." Er warf Lobo einen Seiten blick zu. „Sagen Sie mal, warum tun Sie das eigentlich? Ich meine, Sie haben doch gar kein persönliches Interesse an der Sache, oder?" Lobo grinste. „Vielleicht geht es mir nur ums Geld." „Ach was", widersprach Fairchild. ,,Da für würde doch kein vernünftiger Mensch sein Leben aufs Spiel setzen." „Vielleicht will ich wissen, wer zweimal den Auftrag gegeben hat, mich ins Jen seits zu befördern." Fairchild nickte. „Das kann ich schon eher verstehen. Der bullig wirkende Mann rieb sich über seinen grauen Bart. Eine Weile waren nur der Hufschlag und das Rumpeln des Wagens zu hören. Schließlich sagte Fairchild: „Ein mieses Gefühl, als Zielscheibe durch die Gegend zu fahren. Wann müssen wir mit dem Überfall rechnen?" „Ich denke, in zwei, drei Meilen ist es soweit. Sie werden uns in der Nähe ihres Verstecks auflauern. Warum sollen sie unnötig weit reiten? Ich hab mich umge sehen. Der Wagentrail führt 'ne knappe Meile südwestlich an der Stelle vorbei, an der der Zugang zu ihrem Camp sein muß." „Und wenn gar nichts passiert?" „Dann haben wir Pech gehabt", ant
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wortete Lobo. „Aber wenn..." „Mein lieber Freund", unterbrach ihn Lobo. „Die vielen Wenn und Aber gehen mir auf die Nerven." „Mir auch", bekannte Fairchild grim mig. „Es gibt nämlich bei dieser Sache zu viele davon." „Stimmt", nickte Lobo. Und dann zählte er einige Möglichkei ten auf. „Wenn sie gleich aus dem Hinter halt schießen, können wir wohl alle an deren Probleme vergessen. Aber ich be zweifle, daß sie sofort losballern. Sie wol len wissen, wo die dreißigtausend sind, die wir angeblich an Bord haben, und sie werden keine Lust haben, im Dunkeln den ganzen Wagen danach durchsuchen zu müssen. Deshalb werden sie uns stop pen und verlangen, daß wir das Geld rausrücken. Wir stellen uns erst ein biß chen dumm und geben ihnen dann die Kassette. Während die Kerle abgelenkt sind, greifen unsere Freunde ein." Er wies mit dem Daumen über die Schulter. „Und wenn die Banditen mit großem Aufgebot antanzen? Wenn es zu viele sind?" „Auch darüber haben wir doch lange und ausführlich gesprochen", sagte Lobo. „Dann warnen wir die anderen, und sie bleiben im Wagen und unternehmen nichts. Wir bluffen die Burschen, so daß ihnen gar nichts anderes übrigbleibt, als uns mit in ihr Camp zu nehmen, um den Boß entscheiden zu lassen, was zu ge schehen hat. Sie nehmen uns mit, und un sere Freunde können aus dem Wagen klettern..." „Sofern die Banditen nicht auf die Idee kommen, den Wagen sofort zu durchsu chen oder gleich in Brand zu stecken." Lobo ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. „Auch dann haben wir eine Chance. Außerdem warten Marshal Fer guson und die anderen in der Nähe des Verstecks. Ich bin sicher, daß man uns in das Camp schleppt. Dann müssen wir um Zeit pokern, damit die Wachtposten überwältigt werden können." „Das ist einfacher gesagt als getan",
meinte Fairchild. Lobo fuhr optimistisch fort: „Während wir die Aufmerksamkeit auf uns lenken, schleichen sich unsere Freunde in das Camp und überraschen die Banditen." „Klingt ja wie ein Kinderspiel", sagte Fairchild und lachte grimmig. In diesem Augenblick peitschte der Schuß.
Lobo zügelte das Gespann. Als der Wagen stand, hob Lobo ebenso wie Fairchild die Hände. Das Mündungsfeuer war etwa fünfzig Yards rechts vom Trail zwischen den Felsen aufgeblitzt. Fairchild begann, laut zu fluchen und zu jammern. „Prächtig", raunte Lobo ihm zu. „Sie haben früher angegriffen als erwartet. Die Schüsse sind in ihrem Camp nicht zu hören." Ein seltsam schrilles Lachen ertönte aus dem Dunkel links des Trails. Dann rief jemand: „Werft hübsch brav eure Ei sen weg, oder ihr fangt Blei!" Lobo und Fairchild gehorchten. Gewehre und Revolver polterten zu Boden. Doch beide Männer waren jetzt nicht waffenlos. Sie hatten nur ihre Ersatz waffen weggeworfen. Wieder war das schrille Lachen zu hö ren. „Ich wußte, daß ihr liebe Jungs seid." „He", rief Lobo laut. „Wenn das ein Überfall sein soll, dann müssen wir euch enttäuschen. Wir fahren nur Holz ..." „Wissen wir", antwortete die Stimme aus dem Dunkel. „Wir wissen alles. Run ter vom Bock mit euch. Stellt euch rechts neben dem Wagen auf. Und laßt die Hän de oben!" Fairchild kletterte nach rechts vom Wagen. Lobo folgte ihm. Beide Männer hielten die Hände hoch erhoben. Lobo sah jetzt die Schatten von Män nern. Drei tauchten rechts zwischen den Felsen auf. Sie hielten Gewehre im An schlag.
Der vierte näherte sich von links. Es waren also vier Banditen. Günstig. Lobo fluchte. Viermal, damit die Män ner auf dem Wagen informiert waren. Die Banditen fühlten sich anscheinend sehr sicher. Einer sammelte die Waffen ein. Zwei hielten ihre Gewehre auf Lobo und Fairchild gerichtet. Der Anführer der vier hatte keine Waf fe in der Hand. Er blieb ein paar Schritte seitlich von Lobo stehen, musterte Fair child kurz und starrte dann Lobo an. Er stand breitbeinig da und hakte die Daumen hinter den Patronengurt. „Du bist also das Stinktier, das Jeff und Lefty umgelegt hat. Na, darüber reden wir noch. Erst mal die Arbeit, dann das Ver gnügen, wie der Boß immer sagt." Er lachte. „Wo ist das Geld?" Lobo dachte: Bis jetzt läuft alles besser, als wir erwarten konnten. „Welches Geld?" fragte er. „Sam, soll ich ihm eine verpassen?" rief einer der Banditen, die sich am Rande des Trails postiert hatten. Gut sichtbar für die Männer im Wagen. Lobo wußte, daß sie jetzt durch die Lö cher der Plane spähten, daß ihre Waffen schußbereit waren. Sam, der Wortführer des Quartetts, sagte: „Ja, Manny, wenn er nicht bei drei die Mäuse rausrückt, darfst du ihm eine verpassen. Aber erschieß ihn nicht gleich. Du weißt, was der Boß gesagt hat..." „Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben", jammerte Fairchild. „Wer will das schon", sagte Lobo und zuckte scheinbar resigniert mit den Schultern. „Okay, wir sind also verraten worden. Jetzt geht mir ein Licht auf. He, ich weiß, wer euer Komplize in der Stadt ist..." Das sagte er bewußt, um das Interesse der Banditen zu wecken. Damit konnte er später Zeit gewinnen. Sie würden erfah ren wollen, was er wußte. „Darüber reden wir noch", sagte Sam auch prompt. „Aber eins nach dem ande ren. Ich zähle, Manny. Eins - zwei..." „Das Geld ist hinten im Wagen", sagte
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Lobo hastig. Sam nickte zufrieden, blickte kurz zu seinen Kumpanen und sagte: „Manny, sieh mal nach." Manny setzte sich in Bewegung. „Dann wollen wir mal das Holz kassieren", er klärte er grinsend. Er verschwand hinter dem Wagen und öffnete die Ladeklappe. Dann verging ihm das Grinsen. Eine Gewehrmündung bohrte sich in seine Magengrube. Der Schreck war so jäh, daß er nur erschrocken nach Luft schnappen konnte. Jemand riß ihm das Gewehr aus den Händen. Dann legte sich eine schwielige Hand auf seinen Mund. „Kein falsches Wort!" wisperte eine Stim me dicht neben ihm. Manny war vor Schreck wie gelähmt. Aus weit aufgerissenen Augen, in denen sich der Schock spiegelte, starrte er auf die Schatten, die nur undeutlich im Dun kel des Wagens auszumachen waren. Etwas schabte über die Ladefläche. „Was ist, Manny?" rief Sam, und seine Stimme verriet leichte Ungeduld. „Hast du das Holz?" „Sag, du kannst es nicht finden!" wis perte es in Mannys Ohr. Zugleich verstärkte sich der Druck der Gewehrmündung. „Ich - ich kann es nicht finden", stam melte der Bandit, als sich die Hand von seinem Mund löste. „Ruhiger", wisperte die Stimme an sei nem Ohr. „Frag, wo du suchen sollst." Manny zögerte. Doch dann wurde ihm klar, daß ihm seine Kumpane nicht hel fen konnten, selbst wenn er sie warnte. „Wo - soll ich denn suchen?" Es klang verzweifelt. Lobo wußte, was hinten beim Wagen los war. Bis jetzt lief wirklich alles wie erhofft. Marshal Ferguson hatte eiskalte Männer ausgesucht. Und sie behielten die Nerven. Sie hätten schon auf die Bandi ten schießen können. Aber sie wähnten wohl Lobo und Fairchild noch in Gefahr. Sam stemmte die Hände in die Hüften. Mit drohender Stimme sagte er: „Wir ha ben keine Lust, hier unsere Zeit zu ver
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trödeln. Du sagst jetzt sofort, wo das Geld ist, oder es wird dir leid tun." „Mein Geld ist es nicht", sagte Lobo scheinbar resigniert. „Okay, Wes, hol es ihnen." Wes Fairchild ging geschickt auf das Spiel ein. „Ich tue alles!" rief er voller Angst. „Nicht schießen. Ich habe Frau und Kinder ...". Eilig lief er am Wagen entlang und verschwand hinter dem Heck. Keiner der Banditen kam auf die Idee, ihn aufzuhalten. Sie schöpften keinen Verdacht. Bisher hatten alle Informationen ge stimmt, die Holloway ihnen bei den ande ren Überfällen gegeben hatte. Alles hatte wie am Schnürchen geklappt. Sie fühlten sich zu sicher. „So", sagte Fairchild, und das war das Stichwort für Lobo und die Männer im Wagen. Plötzlich blitzte und krachte es aus dem Wagen. Die Banditen erlitten den Schreck ihres Lebens. Bevor sie überhaupt wußten, wie ihnen geschah, war schon alles vorüber. Zwei Banditen taumelten getroffen zu Boden und verloren ihre Waffen. Und Sam, der mit Verzögerung zum Golt griff, schrie auf, als sich Lobos Mes ser in seine Schußhand bohrte. Lobo hatte es blitzschnell aus der Le derscheide gezogen und geworfen. Im nächsten Augenblick tauchten auch schon Männer auf und richteten ihre Waffen auf die völlig überrumpelten Banditen. Drei waren leicht verletzt, und allen vier steckte der Schock in den Kno chen. „Gut gemacht, Jungs", sagte Lobo aner kennend und atmete auf. „Sammelt ihre Waffen ein und verpackt die Kerle. Und dann wollen wir uns mal ein bißchen mit ihnen unterhalten. Mit jedem einzeln. Ich wette, daß sie uns allerlei Interessantes zu erzählen haben ..."
Es war kurz vor Mitternacht, als Lobo in die Höhle des Löwen ritt. Er wußte, daß es keine Möglichkeit gab, unbemerkt in das Camp der Verbrecher zu gelangen. Die Felsen ringsum waren zu hoch und glatt, und von oben war nicht das ganze Camp zu überblicken. Und der Zugang wurde bewacht. Manny hatte geplaudert, nachdem Lo bo ihn mit einem Bluff hereingelegt hat te. Er hatte behauptet, die anderen hätten gesungen, um ihren Kopf zu retten. Da war auch Manny, ein recht einfältiger Bursche, gesprächig geworden, denn er erhoffte sich als Kronzeuge Straffreiheit, obwohl Lobo ihm keinerlei Versprechen gegeben hatte. Lobo wußte, was er wissen mußte. Er wußte von den Gefangenen, kannte die Anzahl der Banditen und hatte sich die Örtlichkeiten beschreiben lassen. Das Camp lag in einem großen Talkes sel an der östlichen Felswand. Der einzige wunde Punkt zu dem so sicheren Ver steck war der Zugang zu diesem Talkes sel, der rund um die Uhr bewacht wurde. Lobos Plan sah vor, die Wachtposten von dort wegzulocken. Er hatte Glück, daß ihn die Wachtpo sten am Zugang zum Camp nicht er schossen. Sie zögerten, weil er sich mit dem Vo gelschrei gemeldet hatte und weil er im Sattel eines Pferdes saß, das sie kannten Sams Pferd, ein Pinto-Hengst. Dann gab sich Lobo zu erkennen. Er wußte, daß sein Name im Banditencamp bekannt war. Die vier Banditen unter Führung von Sam hatten den Befehl ge habt, ihn gefangenzunehmen und zu ih rem Boß zu bringen. Genau das taten jetzt die beiden ande ren. Er mußte absitzen und wurde entwaff net. Zuerst wollte ihn nur einer der Wacht posten zum Boß bringen. Lobo riskierte einen Angriff, denn er war überzeugt davon, daß sie ihn nicht töten würden. Er sprang den Banditen an, der ihm am
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nächsten stand und versuchte, ihm das Gewehr abzunehmen. Doch es war ihm von Anfang an klargewesen, daß die Ak tion zum Scheitern verurteilt war. Der andere schlug ihn nieder. Lobo stieß einen Schrei aus, als er zu Boden ging, und hoffte, daß der Marshal und seine Männer ihn hörten. Dann stellte Lobo sich bewußtlos. Sie warfen ihn quer über das Pferd. „Hoffentlich hast du ihm nicht die Rübe eingeschlagen", hörte Lobo einen der Banditen sagen. „Dann wird der Boß schön sauer sein. Du weißt, daß er sich den Kerl persönlich vornehmen will." Der andere gab eine mürrische Ant wort, der zu entnehmen war, daß der Boß ihm manchmal auf die Nerven ging. Einer der Banditen führte das Pferd am Zügel, der andere hielt Lobo fest, da mit er nicht fiel. Lobo war zufrieden. Er hatte Marshal Ferguson und den Männern der Posse die Gelegenheit ver schafft, die Abwesenheit der beiden Po sten zu nutzen und ins Camp zu schlei chen. Die beiden Wächter warfen ihn im wahrsten Sinne des Wortes dem Boß vor die Füße. Lobo spielte weiter den Ohnmächtigen, bis sie einen Eimer Wasser über ihm aus kippten und ihn mit Fußtritten traktier ten. Er schlug die Augen auf und blickte in Jack Kingmans grinsendes Gesicht. „Hallo, du Bastard", sagte der Verbre cherboß. „Hallo, du Drecksack", erwiderte Lobo. Kingmans Grinsen erstarb. Eine herrische Geste, und Lobo wurde von zwei Banditen hochgezerrt. Sie hielten ihn in eisernem Griff. Kingman schlug Lobo links und rechts ins Gesicht. „Dir werde ich zeigen, wie man mit dem Herrscher von Kingmans Town zu reden hat", sagte er dabei, und Lobo erkannte sofort, daß der Mann zu Jähzorn neigte und eitel war. Er hatte Kingmans Town ausgesprochen, als handele es sich um die
Hauptstadt der Welt. Er blickte von Lobo zu den beiden Ban diten, die ihn abgeliefert hatten. „In Ord nung, Männer, ihr habt mir wirklich eine Freude bereitet. Geht jetzt wieder auf Posten." Die beiden Banditen gingen davon. „Wie kommst du an Sams Pferd?" sagte Kingman und starrte Lobo an. „Es ist mir zugeflogen", erwiderte Lobo. Wieder schlug der Verbrecherboß zu. Diesmal mit der Faust. Lobo blieb für ei nen Moment die Luft weg. „Ich warte auf eine Antwort", herrschte Kingman ihn an. Die beiden Banditen, die Lobo festge halten hatten, stießen ihn jetzt zu Boden. „Rede, wenn dich der Boß was fragt", sagte einer von ihnen. Lobo hatte sich bereits eine Story zu rechtgelegt, mit der er den Banditenboß hinhalten wollte. „Ich, das heißt mein Beifahrer Fair child und ich, sind überfallen worden", begann er langsam. Kingman wippte auf den Stiefelspit zen. „Das weiß ich", sagte er. „Weiter." „Mein Beifahrer wurde erschossen. Ich hatte Glück und konnte abhauen. Deine Leute schossen hinter mir her, doch in der Dunkelheit erwischte mich keiner. Sie suchten nach mir. Ich fand zufällig ihre Pferde, die sie zwischen den Felsen zu rückgelassen hatten." „Unbewacht?" sagte Kingman. „Unbewacht. Ich nahm mir das erstbe ste und konnte türmen. Die suchen mich bestimmt immer noch. Teufel, warum mußte ich ausgerechnet hier landen? Ich hätte den Gaul nicht einfach laufenlas sen sollen..." Kingmans Miene verriet, daß er ihm die Story glaubte. Lobo setzte nach. „Dreißigtausend Dol lar Beute. Ich würde mich nicht wundern, wenn deine Leute damit auf Nimmerwie dersehen verschwinden." „Auf meine Leute ist Verlaß", erklärte Kingman. „Sie leben hier wie die Made im Speck und sind mir treu ergeben." Lobo sah aus den Augenwinkeln, daß
die beiden anderen Banditen ihre Revol ver gezogen hatten und auf ihn gerichtet hielten. Sie warteten offensichtlich auf einen Befehl vom Boß. Kingman sagte: „Du bist dir ja sicher im klaren darüber, daß du nicht mehr le bend aus meiner Stadt herauskommst." Ich bin schon froh, daß ich lebend hin eingekommen bin, dachte Lobo. „Was hast du davon, wenn du mich umbringen läßt?" fragte er, um weitere Zeit zu ge winnen. Kingman grinste. Es war ein kaltes, bö ses Grinsen. „Du hast zwei meiner Leute auf dem Gewissen. Nicht, daß dies so tra gisch wäre. Leute sind jederzeit zu erset zen. Aber ich kann es nun mal nicht lei den, wenn mir jemand in die Quere kommt. Du bist mir in die Quere gekom men. Deshalb wirst du sterben. Ich warte nur noch, bis Sam und die anderen zu rück sind, dann beginnt die Party." Er gab den beiden Banditen einen Wink. „Schafft ihn ins Jail. Dort kann er auf seinen Prozeß warten. Diesmal wird es ein sehr kurzer." Er lachte höhnisch. In diesem Augenblick ertönte der ent fernte Vogelschrei. „Ah, das werden sie sein", sagte King man. „Um so besser. Dann können wir gleich beginnen." Der Vogelschrei wurde beantwortet. Von wem? fragte sich Lobo besorgt. Der Marshal und seine Männer mußten doch längst die Posten ausgeschaltet ha ben. Aber sie konnten noch nicht im Camp verteilt sein. Huf schlag erklang. Ein einzelner Reiter tauchte schließlich aus der Felsspalte auf. Und Lobo wurde es heiß. Der Reiter war Holloway, der Toten gräber von Tularosa.
Holloway mußte hart geritten sein. Das Fell seines Pferdes dampfte. Das Tier war ziemlich erschöpft. Holloway schwang sich aus dem Sattel.
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Er starrte Lobo an, schob seinen Hut in den Nacken und sagte: „Gott sei Dank habt ihr den Kerl erwischt. Ich dachte schon, ich käme zu spät." Und Lobo wußte, daß etwas schiefge gangen sein mußte. Kingman fragte mit angespannter Stimme: „Was ist los?" „Ne ganze Menge, Boß. Ich hörte mich in der Stadt ein bißchen um und bekam mit, daß der Holztransport nur ein Trick sein sollte, um uns eine Falle zu stellen. Sie hatten gar kein Geld dabei, wie vor her gemunkelt wurde. Der Marshal ist mit 'ner Posse unterwegs. Ich nehme an, er ist hinter unseren Jungs her. Wie kommt der hierher?" Er wies mit dem Daumen auf Lobo. Kingman fluchte unbeherrscht. „Er kam auf Sams Pferd." In seinen schwar zen Augen tanzten gelbe Funken, als er Lobo anschrie: „Ich hätte mir denken können, daß du mir ein Märchen erzählt hast! Du wirst uns jetzt sagen, was wirk lich los war!" Lobo sagte nichts. Jack Kingman gab den beiden Bandi ten einen Wink. „Hängt ihn an den Baum und macht ein Feuer. Damit der Kerl nicht friert und anständig singt." Holloway lachte. Wieder einmal zu einem unpassenden Zeitpunkt, wie Lobo fand. Immerhin war wieder Zeit gewonnen. Wertvolle Zeit für den Marshal und seine Männer. Und für Lobo. Sie fesselten ihn und schleiften ihn zum Galgenbaum. Schließlich hing er mit den Stiefelspit zen einen halben Yard über dem Boden, und unter ihm flackerte ein Feuer. Noch war es klein, und die Hitze drang noch nicht durch das Leder seiner Stiefel. Aber Holloway legte Holz nach. „Ich hätte dich schon längst zur Hölle schicken sollen", sagte er, und der Feuer schein geisterte über sein dämonisch grinsendes Gesicht. „Du hattest nur Glück, daß der Boß dagegen entschied und andere beauftragte, damit kein Ver
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dacht auf mich fällt." Funken stoben auf. Holz knackte. Es begann nach angesengtem Leder zu stinken. Kingman baute sich breitbeinig vor Lobo auf. „Rede!" „Was willst du hören?" fragte Lobo. „Alles." „Es war einmal ein größenwahnsinni ger Verbrecher namens Kingman ...", begann Lobo. Kingmans Gesicht verzerrte sich. „Mehr Feuer!" schrie er Holloway an. Holloway legte trockene Äste nach. Es wurde immer kritischer für Lobo. Er drehte den Kopf und sah ein Mäd chen, das aus einer der Hütten getreten war. Das Mädchen lief wie von Furien ge hetzt auf den Galgenbaum zu. „Was willst du, Mary-Ann?" fuhr King man sie an. Mary-Ann blieb keuchend stehen. „Das - kannst du nicht tun!" rief sie. Ihr Ge sicht verriet ihr Entsetzen. Kingman lachte spöttisch. „Du weißt gar nicht, was ich alles kann. Wenn du nicht zuschauen willst, geh wieder schla fen. Ich dachte, du wärst müde nach un serer Pokerpartie?" Mary-Ann blickte Lobo aus großen Augen an und schluckte. Ihre Lippen beb ten. „Das — ist unmenschlich", stieß sie hervor. „Bitte, Jack, laß es nicht zu. Was hat der Mann denn getan?" „Genug, um ihn zu rösten", sagte Hollo way mit einem teuflischen Grinsen und stocherte in der Glut. Mary-Ann warf sich schluchzend an Kingmans Brust. „Ich bitte dich", rief sie flehend. „Laß es nicht zu! Du bist der Kö nig der Stadt. Du hast die Macht, es zu verbieten." Das waren genau die Worte, die King man gefielen. Lobo bewunderte Mary-Ann. Nicht nur, weil sie ihm helfen wollte, sondern auch, weil sie dabei psychologisches Ge schick bewies. „Ja, ich bin der König der Stadt", sagte Kingman selbstgefällig, und seine Hand
glitt über Mary-Anns Rücken. „Und du bist meine Königin." „Ich bin deine Königin", wiederholte Mary-Ann unterwürfig. „Wieviel Tage noch?" fragte Kingman. Lobo sah, wie Mary-Ann sich straffte, Luft holte, den Kopf zurückwarf und Kingman in die Augen blickte. Dann sagte sie mit fester Stimme: „Wenn du ihn freiläßt - ab jetzt." Kingmans Miene zeigte Verblüffung. „Du hast dich entschieden? Vor Ablauf der Frist?" Lobo verstand nicht, worum es ging, aber er spürte, daß Mary-Ann alles auf eine Karte setzte. „Ja, ich habe mich entschieden", wie derholte sie. „Und als Königin von King mans Town verbiete ich, daß dieser Mann gequält wird." Holloway stocherte wieder in der Glut. Flammen zuckten an Lobos Stiefeln hoch. Leder qualmte. Kingman blickte einen Augenblick lang schweigend das Mädchen an. Weite re Banditen hatten sich eingefunden. Al ler Augen waren auf Kingman und Ma ry-Ann gerichtet. Jetzt muß etwas geschehen! dachte Lo bo verzweifelt. Wo bleiben Ferguson und die anderen? Die Hitze wurde unerträglich. Kingman blickte über den Kopf des Mädchens hinweg zu Lobo. „Du hast Mitleid mit ihm?" Sie nickte. „Weil er dir gefällt?'' „Er gefällt mir kein bißchen. Er sieht furchtbar aus." Sie blickte Lobo tatsächlich mit ange widerter Miene an. „Er ist ein dreckiges Halbblut", sagte Kingman. „Ja, er ist ein dreckiges Halbblut", wie derholte Mary-Ann. „Aber du hast bisher jedem einen fairen Prozeß erlaubt." Wie sie das sagte, klang es fast glaub würdig. „Boß, ich denke ...", sagte Holloway. „Halt den Mund!" fuhr ihn Kingman an. „Du hast überhaupt nichts zu denken.
Der einzige, der in dieser Stadt denkt, bin ich!" Die letzten Worte schrie er fast. Mary-Ann schmiegte sich an ihn. Sie spürte wohl mit fraulichem Instinkt, daß sie so gut wie gewonnen hatte. Kingman warf Lobo noch einen finste ren Blick zu und sagte zu Mary-Ann: „Ich glaube, du willst mich nur testen, wie weit du bei mir gehen kannst. Okay, du sollst deinen Willen haben. Ich bin ein großzügiger Mann. Du wirst deine Ent scheidung nicht bereuen." Er gab Holloway einen herrischen Wink. „Feuer aus!" Holloway trat die brennenden Äste zur Seite. Seine Miene verriet Enttäuschung. „Und wie erfahren wir jetzt, was wir wissen wollen?" maulte er. Kingman warf ihm einen wütenden Blick zu. Auch ihm gefiel die Situation nicht, aber Mary-Anns Angebot war zu verlockend. „So eilig ist es nicht", sagte er in über zeugtem Tonfall. „Meine Jungs werden die Posse schon narren. Und selbst wenn sie hier auftauchen sollte, ein Mann allein kann unser Stadttor verteidigen. Und wir haben zwei auf Wache. Hier kommt keine Maus unbemerkt rein. Wir erfahren schon, was wir wissen wollen. Wir lassen ihn da hängen, bis er uns anfleht, auspak ken zu dürfen." Er legte besitzergreifend einen Arm um Mary-Anns Schultern und zog sie mit sich. „Wir beide feiern inzwischen." Mary-Ann setzte zu einer Erwiderung an, doch dann schwieg sie. Sie war klug genug, einzusehen, daß es keinen Sinn hatte, weitere Forderungen zu stellen. Sie würde den Banditenboß nur verärgern. Der Blick, den sie Lobo im Weggehen noch zuwarf, rührte Lobo zutiefst. Er glaubte in ihren Augen Verzweiflung und grenzenlose Trauer zu erkennen. Aber irgend etwas signalisierte ihm auch, daß er die Hoffnung noch nicht aufgeben sollte. Ahnte sie, daß bald Hilfe kommen mußte? Oder hatte sie vor, Kingman auf irgend
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eine andere Art umzustimmen? Jack Kingman verschwand mit ihr im „Kingman's Hotel". Diesmal werden sie nicht nur Poker spielen", sagte einer der Banditen grin send. Und Lobo ahnte die Zusammenhänge. Holloway starrte ihn finster an. „Du wirst schon weich werden, das verspre che ich dir." Dann schlenderte er davon. Die anderen Banditen folgten ihm in den Saloon. Kurz darauf war Frauenla chen zu hören. Lobo blickte sich um. Der Galgenbaum stand auf freier Fläche abseits der letzten Hütte. Lobos Blick glitt zu dem Gebäude, in dem die Gefangenen waren, wie er von Manny erfahren hatte. Der Wächter, der vorhin dort vor der Tür gehockt hatte, war verschwunden! Statt dessen tauchte jetzt ein Schatten auf dem Dach des Ge bäudes auf. Dann ertönte der Vogelschrei. Es war soweit. Der Vogelschrei war noch nicht ganz verklungen, als Schüsse am Zugang zu dem versteckten Camp peitschten. Eine gellende Stimme rief: „Alarm!" Die Banditen stürmten aus dem Saloon. Aufgeregte Stimmen riefen durcheinan der. In der Tür des „Hotels" tauchte King man auf. Er trug nur Hosen und einen Stiefel. Keine Waffen! registrierte Lobo. Kingman warf einen kurzen Blick zu Lobo, dann gab er seinen Banditen Be fehle. Sie hetzten davon, um ihren Kumpanen zu Hilfe zu eilen, die allem Anschein nach von außen angegriffen wurden. Doch es waren nicht die Wachtposten, die schos sen und Alarm gegeben hatten, sondern die Männer der Posse. Die Banditen wurden von einem Blei hagel empfangen. Und dann geschah vieles gleichzeitig. Auf den Dächern des Saloons und Hotels tauchten Männer auf. Mündungsfeuer blitzten durch die Nacht. Geschosse fetz ten neben Kingman in den Boden.
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Der Verbrecherboß schrie auf und sprang erschrocken zur Seite. Dann wur de er stocksteif, denn er wäre fast durch seinen Sprung getroffen worden - das Geschoß bohrte sich dicht neben ihm in den Boden. „Keine Bewegung!" rief der Mann vom Dach. Er zielte mit dem Gewehr auf den waffenlosen Banditenboß. Kingmans Blick irrte in die Höhe, dann schaute er sich gehetzt um, doch nur sein Kopf bewegte sich. Immer noch peitschten Schüsse, und das Echo hallte von den Felswänden wi der. Die Banditen, die erkannt hatten, daß sie in der Falle waren, rannten in Panik zurück, wollten zu den Gebäuden. Doch von dort blitzte es jetzt ebenfalls auf. Von den Dächern, aus den Fenstern ... Einige der Banditen sahen ein, daß sie keine Chance mehr hatten. Sie warfen ih re Waffen weg und hoben die Hände. Andere schossen blindlings um sich. Holloway zum Beispiel. Der Totengräber von Tularosa feuerte zu den Mündungs blitzen hin, im Laufen, hastig und unge zielt. „Stop!" ertönte eine rauhe Stimme. Etwa zwanzig Schritte von dem Gal genbaum entfernt, verharrte Holloway plötzlich. Aber nicht, weil ihn die Stimme aus dem Dunkel gewarnt hatte. Er wollte Lobo erschießen. Lobo sah Holloways haßverzerrtes Ge sicht, sah die Hand mit dem Colt, die der Verbrecher zu ihm herumschwenkte, und alles in ihm verkrampfte sich. Alle Schüsse im Camp schienen zu ei nem einzigen zu verschmelzen. Aus! schrie eine Stimme in Lobo. Unbewußt schloß er die Augen. Die Kugel blieb aus. Als Lobo die Augen wieder aufriß, sah er Holloway zusammenbrechen. Der Totengräber von Tularosa blieb starr liegen. Den Colt hielt er immer noch in der vorgestreckten Hand. Plötzlich verstummten die Schüsse. Männer stürmten in das Camp und hiel ten ihre Gewehre auf die Banditen ge
richtet. „Das Spiel ist aus!" rief eine harte Stim me. Es war Marshal Fergusons Stimme, und sie klang triumphierend. Der Erfolg, von dem er geträumt hat, dachte Lobo. Der ganz große Erfolg für Marshal Sid Ferguson. Immer noch stand Jack Kingman wie versteinert. Ein Mann rannte zu Lobo und band ihn los. Seine Handgelenke schmerzten, aber mehr noch die Füße. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. „Alles klar", sagte der Mann beruhi gend und stützte ihn. Es war Wes Fair child. Aber es war noch nicht alles klar. Kingman versuchte, in die Hütte zu ge langen. Vielleicht wollte er sich nur in Deckung bringen, an seine Waffen her ankommen und einen aussichtslosen Kampf führen. Vielleicht wollte er auch Mary-Ann als Geisel nehmen. Er schaffte es nicht. Drei Schüsse krachten fast gleichzeitig. Jack Kingman schrie gellend und stürzte dann. Der Mann sprang vom Dach der fla chen Blockhütte hinab, landete ein paar Yards neben dem Verbrecherboß, rollte sich mit fast akrobatischem Geschick ab und hielt einen Revolver im Anschlag, als er auf die Knie kam. „Nicht schießen!" schrie Kingman. „Ich bin verletzt!" Es klang sehr weinerlich. Andere Männer liefen zu ihm, richteten ihre Gewehre auf ihn. Und der Mann, der vom Dach heruntergesprungen war, be gann schallend zu lachen. „Er ist verletzt. Der wahnsinnige König von diesem Rattenloch ist verletzt. Er blutet!" Ein Lachanfall schüttelte den Mann. Prustend rief er dann. „Jungs, holt schnell einen Doc. Sonst stirbt uns der Kerl unter den Händen!" Marshal Ferguson lief zu dem am Bo den liegenden Verbrecherboß, dessen Schrei mehr auf Wut als auf Schmerzen schließen ließ. „Verdammt, ich habe an geordnet ..." Dann lachte auch Marshal
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Ferguson. Und Lobo erfuhr den Grund für die all gemeine Heiterkeit, die er zunächst für so unangebracht gehalten hatte wie bisher das Lachen des Totengräbers von Tula rosa. Jack Kingman war am großen Zeh ver letzt. Die Schüsse hatten ihn nur stoppen sol len, wie die Warnschüsse, die den anderen Banditen den Schneid abgekauft hatten. Doch eines der Geschosse hatte ihn an der Fußspitze erwischt - ausgerechnet an der, die nicht durch den Stiefel geschützt war. Es fehlte nicht viel von dem Zeh. „Du hättest den Stiefel anbehalten sol len", sagte Marshal Ferguson trocken. „Aber mach dir nichts daraus. Bis zu dei nem Prozeß ist das Kratzerchen wieder verheilt." „Am Galgen tut dir kein Zeh mehr weh", sagte einer von Fergusons Män nern und nahm damit das Urteil der Jury vorweg.
Bald war alles geklärt. Fast alles. Einige der ehemaligen Gefangenen be wachten den gefesselten Verbrecherboß und seine Banditen. Es waren mit großer Wahrscheinlichkeit mehrere steckbrief lich gesuchte darunter, so daß mit weite ren Prämien gerechnet werden konnte. Die anderen vier Gefangenen waren gefesselt in dem Planwagen zurückgelas sen worden. Sie wurden von zwei Män nern bewacht und brauchten nur noch abgeholt zu werden. Die Beute der Bande wurde sicherge stellt. Lobo und der Marshal zogen Bilanz. Sie saßen im Saloon und ließen sich von Nelly und ihren Kolleginnen einschen ken. Auch Mary-Ann war dabei, ihre Freunde, die sie nach Tularosa begleitet hatten und die ebenso den Banditen in die Hände gefallen waren. Auch Sam Shoe maker, der Kutscher, der mit seinen vier „leichten" Passagieren entführt worden
war, hielt sich im Saloon auf, der gut mit erbeuteten Flaschen bestückt war. Es hatte einige Tote gegeben. Wes Fairchilds Bruder war bei einem Fluchtversuch von den Banditen er schossen worden. Rod Perkins war tot, der „Goldjunge", der in einem makabren „Prozeß" von den Banditen zum Tode verurteilt worden war. Jack Kingmans Banditen Jeff Cellar und der Schießer Lefty waren tot. Und Holloway, der Totengräber von Tularosa, der die Bande mit Informationen ver sorgt hatte. Der Mann, der Holloway erschossen hatte, glaubte, Lobo das Leben gerettet zu haben. Lobo ließ ihn in dem Glauben. Lobo hatte Holloways Revolver an sich genommen und festgestellt, daß er leer war. Holloway hätte ihn gar nicht er schießen können. Marshal Ferguson war überglücklich und erklärte, er werde noch einmal für das Amt des Marshals kandidieren. Nie mand bezweifelte, daß seine Chancen ra pide gestiegen waren. Der Marshal hatte bewiesen, daß er fä higer war, als man ihm das in Tularosa zugetraut hätte. Der Einsatz war glän zend organisiert gewesen. Ferguson hatte Umsicht und Organisationstalent bewie sen. Schon mit der Zusammenstellung der Posse hatte er eine glückliche Hand gehabt, und er hatte die richtigen Männer zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt. Na türlich hatten ihm und den anderen auch das Glück zur Seite gestanden. Lobo trank einen Schluck Whisky. Er lächelte Mary-Ann an. Ein tapferes Mädchen. Ihre Augen waren gerötet vom Weinen. Sie hatte vom Tod ihres Vaters erfahren. Aber sie behielt sich erstaunlich unter Kontrolle. „Sie haben sich bewundernswert ver halten", sagte er. Ihre bleichen Wangen bekamen etwas Farbe. „Es war schrecklich", sagte sie. „Als ich
Sie sah und hörte, daß die Verbrecher so aufgeregt waren, ahnte ich, daß Sie nicht allein gekommen waren. Aber ich konnte nicht mehr tun..." „Es ist sehr viel", sagte Lobo. „Kingman ließ sich nicht mehr länger hinhalten", fuhr Mary-Ann fort. „Er wollte ..." Sie senkte den Blick und ver stummte. Ihre Schultern zuckten in laut losem Weinen. Lobo wußte, was Kingman gewollt hat te. „Dieser Wahnsinnige!" rief Sam Shoe maker und schenkte sich von neuem Whisky ein. „Dieser irre Verbrecher! Glaubte, Herr über Leben und Tod zu sein. Wie Sklaven hat er uns gehalten. Wir mußten schuften - und wozu?" „Das hat uns das Leben gerettet", sagte Simon Bradford, der mit seinem Frachtwagen nie in Tularosa eingetroffen war. „Rod Perkins hat uns das Leben gerettet. Mit seiner Idee." „Mit welcher Idee?" fragte Shoemaker verwundert. Simon Bradford blickte grinsend in die Runde. „Ach, das wißt ihr ja noch nicht." Er sog an seiner Zigarre und sagte in die gespannte Stille: „Es gibt gar kein Gold." „Klar, wir hatten noch keinen Erfolg", sagte Sam Shoemaker, „aber viel leicht ..." „Wir hätten niemals etwas gefunden", sagte Bradford. „Das Gold war eine Er findung von Rod Perkins. Mir hat er es erzählt. Ich sollte die Wächter ablenken, damit er das erste Gold ,finden' konnte. Er hatte einen kleinen Beutel mit Gold staub am Körper verstecken und hierher mitnehmen können. Und nachdem wir das Camp aufgebaut hatten, wären wir arbeitslos gewesen. Kingman hätte uns ermorden lassen, wie er ja zynisch ange kündigt hatte. Da kam Rod auf die Idee, das Goldfieber zu entfachen, indem er seinen Goldstaub opferte." „Das ist ein Ding!" rief Sam Shoema ker. „Und wir alle haben uns schon vor dem Tag gefürchtet, an dem wir das Gold finden..." Bradford nickte. „Dann wären wir wie
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Sam Shoemaker warf einen Blick in Nellys Ausschnitt, und seine Miene hellte sich wieder auf. „Ich freue mich schon auf Tularosa", erklärte er und zwinkerte Nelly zu. „Du denkst doch an dein Ver sprechen?" „Ja", sagte Nelly. „Versprochen ist ver sprochen. Aber wie kannst du jetzt an so was denken - nach allem, was passiert ist..." Sam Shoemaker nahm einen kräftigen Schluck. „Das Leben geht weiter", meinte er mit einem Schulterzucken. Ja, dachte Lobo, das Leben geht weiter. ENDE
der überflüssig geworden. Rod Perkins hat mich beschworen, keinem etwas zu erzählen, damit sich niemand verraten kann. Er war ein prächtiger Mann. Und diese Hundesöhne haben ihn aufge hängt ..." Eine Weile herrschte betroffenes Schweigen. Alle dachten an das schreck liche Geschehen zurück. Schließlich sagte Sam Shoemaker: „Nelly, bring bitte noch eine Flasche von dem Bourbon." Nelly brachte die Flasche und schenkte ein. Sie lächelte dabei zaghaft Lobo an.
„Holon!" brüllte Lobo aus Leibeskräften zwischen markerschütternden Schreien, die unter den Indianerpferden heillose Unordnung und Verwirrung stifteten. Gleichzeitig riß er mit der Rechten seine Waffe aus dem Holster und trat dem Pferd die Fersen in die Weichen. Das Tier galoppierte los, genau auf Tall Bull zu, der gerade sein Gewehr hochgebracht hatte. Donnernd löste sich der Schuß und fuhr an Lobos Schulter vorbei. Da war das Halbblut auch schon neben dem Häuptling und schlug mit dem Lasso zu. Der Anführer wurde rückwärts vom Pferd geschleudert und überschlug sich am Boden. Lobo holte das letzte aus seinem Pferd und sah, daß Holon ihm folgte, tief über sein Tier gebeugt. Die ersten Schüsse krachten, als die beiden Männer schon hundert Yards entfernt waren und auf die Ranch zuritten. Die Cheyennes verfolgten sie nicht. Lobo sah, daß die Krieger gerade ihrem Häuptling auf die Beine halfen. Tall Bull schüttelte die Faust hinter ihnen her. Wenig später erreichten sie die Ranch. Lobo, der Einzelgänger, muß sich sein Recht zu leben gegen eine unerbitt liche Umwelt immer wieder erkämpfen. Lesen Sie nächste Woche Band 114 dieser großartigen Western-Serie:
Brennendes Land von Steve McMillan
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