Sherry Garland
Kirschblüten für Penny
Als Penny bei der Wahl zum CheerleaderTeam verliert, macht sie eine bittere Er...
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Sherry Garland
Kirschblüten für Penny
Als Penny bei der Wahl zum CheerleaderTeam verliert, macht sie eine bittere Erfahrung: Die angeblich so guten Freunde scharen sich um die Gewinner, und Penny bleibt allein. Doch dann trifft sie Fei Lieu. Fei ist Chinesin und macht Penny mit einer völlig fremden, aufregenden Welt bekannt. Penny lernt Meditation und KungFu, lauscht fasziniert dem weisen Großvater der Familie – und verliebt sich in Tommy…
© 1989 by Sherry Garland Unter dem Originaltitel: „Where The Cherry Trees Bloom“ Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES B.V. Amsterdam Übersetzung: Martje Belka © Deutsche Erstausgabe in der Reihe HAPPY DENISE Band 27 (2), 1991 by CORA VERLAG GmbH, Berlin
1. KAPITEL „Penny! Steh auf!“ Penny Graham setzte sich auf und strich sich das volle rotbraune Haar aus dem Gesicht. Die Hände in die Hüften gestützt, stand ihre Mutter in der Tür. „Steh auf“, wiederholte sie. „Ich kann nicht“, stöhnte Penny. Sie ließ sich auf das Kissen zurückfallen und drehte sich auf den Bauch. „Du mußt. Heute ist letzter Schultag.“ Pennys Mutter kam ins Zimmer, ihre hohen Absätze machten klickende Geräusche auf dem Holzfußboden. Sie schlug die Decke zurück und klopfte ihrer Tochter liebevoll auf den Rücken. „Na, komm, steh schon auf! Du hast in diesem Jahr noch nicht einmal gefehlt. Was ist mit den null Fehlstunden, die du erreichen wolltest?“ „Ist mir egal!“ grummelte Penny in ihr Kissen. „Nach dem, was gestern passiert ist, ist mir alles egal!“ Sie griff nach dem zweiten Kissen und begrub ihren Kopf darunter. Einen Moment lang stand Mrs. Graham unschlüssig im „Mädchenzimmer“, das Penny mit ihrer älteren Schwester Cindy teilte. Am anderen Ende des Flures war das „Jungenzimmer“ für die beiden jüngeren Brüder von Penny. Mrs. Graham setzte sich auf die Bettkante und hob vorsichtig das Kissen, unter dem rotbraunes Haar zum Vorschein kam. „Oh, Schatz, ich weiß, wie sehr du Cheerleader werden wolltest, so wie deine Schwester. Aber du bist erst fünfzehn. Du hast noch drei Schuljahre vor dir. Außerdem ist Cheerleader zu sein nicht unbedingt das Wichtigste auf der Welt.“ „Aber Mom, du warst Cheerleader, Tante Polly und meine Cousine Sue auch!“ „Ja, aber ich war nicht immer glücklich. Es gab Zeiten, da hätte ich für gute Freunde und bessere Zensuren alles aufgegeben.“ Pennys Blick fiel auf das Foto an der Wand, auf dem ihre Schwester an der Spitze einer Pyramide von Cheerleadern zu sehen war. Das Foto schien wie ein Symbol für Cindys Leben zu sein – immer an der Spitze. Penny seufzte und schaute zu ihrer Mutter. „Aber das ist es ja, Mom. Ich habe keine Freunde mehr! Nicht nach dem, was gestern passiert ist.“ „Unsinn. Du hast eine Menge Freunde. Mach dir mal klar, daß 99 Prozent aller Mädchen in Amerika es fertigbringen, ganz normal aufzuwachsen, ohne jemals Cheerleader gewesen zu sein! Du hast nur durch Cindy soviel davon mitbekommen.“ Sie lächelte und streichelte Pennys Hand. „Glaub mir, nächste Woche um diese Zeit hast du das alles längst vergessen.“ Mrs. Graham sah auf ihre Armbanduhr und stand auf. „Ich muß jetzt zur Arbeit. Beeil dich, sonst verpaßt du noch den Bus. Hey, freu dich doch, daß es dein letzter Schultag ist! Am Samstag fahren wir alle zusammen an den See und machen ein Picknick.“ Ihre Mutter legte die Arme um Penny. „Ich bin wirklich spät dran. Bis heute abend!“ Sie gab Penny einen flüchtigen Kuß auf die Wange und lief aus dem Zimmer. Über den Flur rief sie: „Bill, bitte sorge dafür, daß deine Schwester rechtzeitig in die Schule kommt!“ Ein dreizehnjähriger Junge mit strohblondem Haar steckte den Kopf zur Tür herein. Er trug eine Brille mit dicken Gläsern und eine Zahnklammer. „Ätsch bätsch, du hast verloren!“ sang er und streckte Penny die Zunge raus. „Oh, du…“ Penny sprang aus dem Bett und ergriff ein Kissen, um ihrem Bruder ein für allemal sein freches Grinsen aus dem sommersprossigen Gesicht zu treiben. Bill duckte sich, als es an ihm vorbeisauste, und rannte die Treppe
hinunter. Penny legte sich wieder hin. Sie starrte auf den sich träge bewegenden Ventilator an der Decke, der ihr einen leichten Wind zufächelte. Sie hörte, wie die Haustür ins Schloß fiel. Dann heulte der Motor des Chevrolets auf, und Reifen knirschten auf dem Kies der Einfahrt. Ihre Mutter hatte ja keine Ahnung, was gestern wirklich passiert war. Penny spürte die schmerzliche Demütigung, als sie versuchte, die schrecklichen Bilder aus ihren Gedanken zu verdrängen. Aber je stärker sie dagegen ankämpfte, desto deutlicher stand ihr die Szene vor Augen. Penny sah sich selbst in der Mitte der Sporthalle, vor den Rängen namenloser Gesichter und erwartungsvoller Augen, die auf sie gerichtet waren. Ihre Freunde und ihr „Manager“ Steve Galloway hatten darauf bestanden, daß sie eine Cheerfigur vortragen solle, die ihre Schwester entwickelt hatte und mit der sie viele Preise errungen hatte. Dazu gehörte ein schwieriger Sprung mit einer Drehung in der Luft. Obwohl Penny die Figur oft geübt hatte, fühlte sie sich noch nie so hundertprozentig sicher. Verglichen mit Cindy kam sie sich vor wie ein nasser Sack. Steve meinte, sie sähe genauso gut aus wie die anderen Mädchen in der Ausscheidung. Aber trotzdem. Als sie dastand, tief Luft holte und ihr Herz im Rhythmus der Baßtrommel schlagen spürte, hatte sie das Gefühl, daß all die Schüler in der Halle nur eine einzige Frage bewegte: Ist sie so gut wie ihre Schwester? Ihre beste Freundin Cheryl hatte es auf den Punkt gebracht: „Penny, du bist geschmeidig, sportlich und hübsch. Wir wissen, daß du es schaffst, weil es in deiner Familie liegt. Mit so einem Hintergrund mußt du einfach gewinnen.“ Penny hatte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Das war nicht nur einfaches Lampenfieber. Am liebsten wäre sie weggerannt und nie wiedergekommen. Irgendwohin, wo niemand ihren Nachnamen kannte. In ein fremdes Land, in dem die Schulen keine Footballteams hatten und keine Mädchen, die sie bei Wettkämpfen mit ballettartigen Tänzen anfeuerten! Aber es war zu spät. Es spielte keine Rolle, daß sie sich nicht freiwillig zu den CheerleaderAusscheidungen gemeldet hatte. Ihre Freunde und Verwandten erwarteten das einfach. Natürlich war es auch allen egal, daß sie jetzt viel lieber am Brazor River angeln würde, als in einem kurzen Röckchen auf einem Footballfeld zu stehen. Es war zu spät, denn ihr Sportlehrer hatte soeben den Anpfiff zu ihrer Vorführung gegeben. Penny strengte sich an, die störenden Gedanken beiseitezuschieben, aber ihr Kopf spielte einfach nicht mit. Sie meinte den Lehrer rufen zu hören: „Mach’s einfach wie deine Schwester“, und plötzlich machten sich ihre Knie selbständig. Beim Anlauf für einen Sprung mit Drehung verlor sie den Rhythmus und sprang mit dem falschen Fuß vom Boden ab. Statt eines graziösen Sprunges lieferte Penny einen satten Sturz auf Gesicht und Knie. Die Menge murmelte aufgeregt und verstummte, als der Trainer zu ihr herüberlief. Penny lag einen Moment still da, bevor sie sich aufrappelte und vom Spielfeld humpelte. Hinter sich hörte sie vereinzelt dünnen Applaus und fühlte die Augen der ganzen Welt auf ihrem Rücken. Hinterher im Flur sprach Cheryl sie an: „Penny, bist du krank? Was war los? Du hattest den Sieg doch schon in der Tasche!“ Steve fügte hinzu: „Mensch, nach all der Arbeit, die Cheryl und ich in dich investiert haben. Überall haben wir für dich Werbung gemacht und den Leuten erzählt, wie großartig du bist, genau wie deine Schwester Cindy.“ Penny atmete scharf ein. Also war sogar Steve auf der Seite der anderen. Sie
kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an, riß sich zusammen und stieß hervor: „Aber ich bin nicht Cindy!“ Dann ging sie. „Hey, Schwesterherz, steh lieber auf, in zehn Minuten kommt der Bus.“ Die schrille Stimme ihres zehnjährigen Bruders durchbrach Pennys Gedanken. Sie sprang aus dem Bett. Timothy hielt ihr einen Becher mit Orangensaft hin. Penny stürzte die kalte Flüssigkeit hinunter. „Na, Timothy, was hältst du davon, daß ich die Ausscheidung verloren habe?“ „Welche Ausscheidung? Für die Olympiade?“ „Nein, nein“, Penny lachte. „Für die Cheerleader.“ „Oh, macht nichts. Cheerleader sind doof“, meinte er und wackelte mit seinem kleinen Hintern, um im Spagat auf dem Boden zu landen. Penny lachte und umarmte ihn. „Danke, Kumpel!“ „Wofür?“ „Das erzähle ich dir später“, gab sie zurück und schob ihn aus der Tür, damit sie sich anziehen konnte. Zweifellos war dies der schlimmste Tag in Penny Grahams Leben. Ihre besten Freunde gingen ihr aus dem Weg, und wildfremde Leute sprachen sie auf ihre Niederlage an, zeigten Mitgefühl und gaben ihr lauter gute Ratschläge, wie man Lampenfieber vermeiden könne. Obwohl sie es gut meinten, hätte Penny am liebsten ein Loch gegraben und sich darin verkrochen. Als einige Schüler ihr mehr Glück fürs nächste Mal wünschten, war sie kurz davor loszuschreien: „Es wird kein nächstes Mal geben!“ Statt dessen nickte sie bloß und ging jedem aus dem Weg, indem sie sich an ihrem Schließfach zu schaffen machte oder sich zwischen den Stunden im Aufenthaltsraum verkroch. Sie fürchtete sich vor der Mittagspause, aber schließlich läutete die Schulglocke doch, mit kalter Gleichgültigkeit. Die Flure füllten sich im Nu mit einer lebenden Woge von laut durcheinander redenden Schülern, die sich in die Cafeteria drängelten. Penny fragte sich, ob Steve wohl da sein würde. Gestern abend hatte er sie nicht angerufen. Sie aßen immer zusammen, und Penny hoffte, daß es heute genauso sein würde. Jetzt brauchte sie dringend jemanden zum Reden. Sie setzte sich in eine leere Ecke und stocherte in ihrem Essen herum. Unruhig blickte sie immer wieder auf die Schlange von Schülern vor der Essensausgabe. Als Steve schließlich auftauchte, war seine Miene so finster wie eine Gewitterwolke. Penny traf es wie ein Stich, diesen Blick kannte sie nur zu gut. Immerhin waren sie Nachbarn und Freunde seit der ersten Klasse. Sie hatten zusammen Football und Baseball gespielt, waren Fahrrad gefahren und angeln gegangen und auf Bäume geklettert. Für alle anderen waren sie ein Paar, obwohl Steve sie nur zweimal geküßt hatte. Aber Penny hatte immer noch die Hoffnung, daß es mit ihnen ernster werden würde. Im Moment war er der einzige Junge auf der Welt, den sie wollte. In seiner lässigen Art stellte Steve sein Tablett neben Penny ab. Er war ein Junge, der mit jedem klarkam, den ganz reichen Kids bis hin zu den Typen, die sich in den Seitenstraßen rumdrückten. Steve war nicht der bestaussehendste Junge der Schule, aber er hatte Persönlichkeit, tolle Muskeln und ein phantastisches Lächeln. Er schwieg eine Weile und schaute sich um. Dann atmete er scharf ein und sah sie direkt an. „Du hättest es schaffen können.“ „Ich hab’s versucht.“ „Woran hat es dann gelegen?“ Seine Stimme wurde lauter, und er schaute sich schnell um, ob jemand etwas gehört hatte.
Penny war von seinem scharfen Ton völlig überrascht. „Wieso hast du nicht angerufen? Ich hätte ernsthaft verletzt sein können! Aber dir ist das so egal, daß du dich gestern abend nicht mal gemeldet hast.“ Steve rutschte ungemütlich auf seinem Stuhl hin und her. „Tut mir leid, ich wollte ja. Ich hatte schon den Hörer abgenommen, aber dann wußte ich nicht, was ich hätte sagen sollen.“ „Na gut.“ Penny zuckte die Schultern. „Es ist sowieso egal.“ „Was ist denn nun passiert?“ „Vielleicht habe ich einfach beschlossen, daß ich doch kein Cheerleader sein will.“ Steve schmiß die Gabel auf seinen Teller. „Und wir dachten alle, daß du Cheerleader werden willst, genau wie deine Schwester! Wir waren überzeugt davon, daß du so gut wie sie bist, wenn du dich nur angestrengt hättest!“ „Aber das ist es ja. Niemals hat mich jemand gefragt, ob ich überhaupt will.“ Penny versuchte Steves Hand zu berühren, aber er zog sie weg. „Hör mal, es geht hier nicht nur um dich. Deine Freunde haben auf dich gezählt, und ich auch. Sie wollten, daß du es schaffst. Ich wollte es auch, mehr als alles auf der Welt.“ Penny schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und fühlte, wie ihre Unterlippe zitterte. „Soll das heißen, daß ich Cheerleader sein muß, wenn ich deine Freundin sein will?“ Steve zuckte die Schultern. „Nun… nein… aber es wäre doch super gewesen. Du weißt schon, die Spiele, die Feiern, zusammen weggehen und so.“ „Das können wir alles immer noch machen“, erwiderte Penny, doch Steve redete weiter, als hätte er sie gar nicht gehört. „Weißt du, du hättest es geschafft, wenn du es nur richtig gemacht hättest.“ Er schlug auf den Tisch, um seine Worte zu unterstreichen. „Im Training hast du’s immer richtig gemacht. Deine eigene Schwester hat die Figur erfunden. Wow! Sie war absolut perfekt!“ Seine Augen leuchteten, als er sprach, dann starrte er ins Leere. Als er Penny wieder ansah, fuhr er fort: „Wieso hast du deine Chance nicht genutzt? Glaub mir, du hättest 90 Prozent der Punkte kriegen können. Sogar, wenn du nicht total perfekt gewesen wärst.“ „Es… es tut mir leid, Steve. Ich mußte daran denken, daß alle von mir erwarten, perfekt zu sein. Selbst wenn ich die Figur richtig gemacht hätte, wären sie später von mir enttäuscht gewesen. Ich bin nicht so gut wie meine Schwester. Sie war die beste von allen.“ „Aber du hast Talent. Du mußt nur mehr trainieren. Wenn wir den Sommer über hart arbeiten und vielleicht deine Schwester mit dir trainiert…“ „Nein, nein, nein!“ Penny schüttelte den Kopf. „Hast du mir nicht zugehört? Ich bin nicht zum Cheerleader geeignet!“ „Das begreife ich einfach nicht.“ Penny stand auf. „Wenn es dein einziges Ziel im Leben ist, mit einem Cheerleader zu gehen, Steve Galloway, dann solltest du dir lieber eine andere suchen. Wenn du mich nicht so nimmst, wie ich bin, dann… dann sollten wir besser Schluß machen.“ „Na gut, wenn du das so siehst… Ich hatte einige Angebote in letzter Zeit.“ Seine dunklen Augen wanderten zu dem Tisch, an dem die Cheerleader mit einigen aus der Clique zusammensaßen. Er nahm sein Tablett und ging entschlossen zu dem Tisch hinüber, an dem er lachend begrüßt wurde. Penny sah, wie ein großes blondes Mädchen ihm Platz machte. Als Steve etwas sagte, guckten sie alle zu Penny herüber. Einen Moment lang starrte sie zurück, dann nahm sie ihr Tablett und ging zum Mülleimer, um die Reste wegzuschmeißen. Nach ihrem Streit mit Steve schien sich der Nachmittag endlos hinzuziehen. Je
näher die letzte Stunde rückte, desto unruhiger wurde Penny. Spanisch I war der einzige Kurs, in dem Schüler aus der Neunten, Zehnten und Elften zusammen waren. Leider war es auch der einzige Kurs, in dem sie mit Steve und diesem blonden CheerleaderMädchen aus der Cafeteria, Cassandra Fairchild, zusammen war. Cassie, wie ihre Freunde sie nannten, war naturblond. Ihr war immer alles zugeflogen. Ihr Vater war Autohändler und besaß zwei Geschäfte. Er war einer der einflußreichsten Männer in der Kleinstadt Waterford. Cassie war immer nach der neusten Mode gekleidet, und ihre Frisur wechselte mit jedem Titelblatt vom ‚Mademoiselle’ Magazin. Penny hatte Cassie nie viel beachtet, doch heute fiel Penny zum erstenmal auf, wieviel Beachtung Steve der Blonden schenkte. Er flüsterte und lachte mit ihr, berührte ihre Hand und spielte mit ihren weichen, blonden Locken. Penny bekämpfte ihre Eifersucht und zwang sich, für den Rest der Stunde aus dem Fenster zu starren. Sobald es läutete, floh sie zu ihrem Schließfach und hielt sich dort auf, bis es Zeit für die letzte Stunde war, Sport. Die Sportlehrerin sagte, daß alle, die Lust hätten, Volleyball spielen könnten. Der Rest könne nach Hause gehen. Auf dem Weg zur Tür hielt Penny inne. Der Bus würde erst um halb vier kommen. Jetzt war es drei. Seufzend kletterte sie auf die Tribüne und setzte sich abseits von den anderen hin. Sie beobachtete die zurückgebliebenen Mädchen, die entweder Volleyball spielten oder wie sie auf den Bus warteten. Dabei fiel ihr ein asiatisch aussehendes Mädchen auf, das sie früher schon mal gesehen hatte. Das kleine graziöse Mädchen sammelte die Sporthandtücher ein und warf sie in eine Karre aus Sackleinen. Sie war auf eine exotische Art schön, mit makelloser glatter Haut und mandelförmigen dunklen Augen. Ihr sehr langes Haar war zu zwei Zöpfen geflochten, die auf ihrem Rücken lagen. Sie trug weite, bauschige schwarze Hosen und eine langärmelige Bluse, die bis zum Hals zugeknöpft war, obwohl es jetzt schon sehr heiß wurde. Penny wußte, daß die anderen Schüler sich über ihre Kleidung und Zöpfe lustig machten, aber sie schien so in ihre eigen Welt versunken zu sein, daß ihr die Bemerkungen gar nichts ausmachten. Penny vermutete, daß das Mädchen kein Englisch konnte. Sie hatte Mitleid mit ihr, weil sie immer allein war. Plötzlich hallte es von den Hallenwänden wider. Das Geräusch kam vom gegenüberliegenden Ende, und Penny erkannte das auffällige Lachen sofort – Cassie Fairchild. Penny stand auf und lief so leise wie möglich die Tribüne hinunter. Ein Zusammentreffen mit Cassie und den beiden frisch gekürten neuen Cheerleadern war das letzte, was sie gebrauchen konnte! Aber es war zu spät. „Hey! Graham!“ Cassies laute Stimme war in der ganzen Halle zu hören. „Ach, Cassie, laß sie in Ruhe“, sagte eines der Mädchen. „Siehst du nicht, daß sie down ist?“ „Ja, ich schätze, du hast recht“, erwiderte Cassie mit spitzer Zunge. „Wenn ich die Ausscheidungen und meinen Boy verloren hätte, wäre ich auch fertig.“ Cassie und ein paar andere kicherten. „Laß doch, Cassie“, meinte eines der Mädchen. „Wir wollen lieber die neue Figur üben.“ Als Penny hörte, daß die Stimmen sich entfernten, seufzte sie erleichtert auf. Schnell lief sie auf die Hallentür zu, bis eine neue Lachsalve sie innehalten ließ. Penny fuhr herum und sah, wie Cassie und ein paar andere Mädchen irgend etwas zu dem asiatischen Mädchen sagten. Anscheinend ging es um deren Zöpfe.
Penny ging näher herum, bis sie Cassies Worte verstehen konnte. Sie waren grausam und gefühllos. Mit klopfendem Herzen blieb sie ein paar Meter von der Gruppe entfernt stehen. Niemand hatte sie bemerkt. „Warum läßt du sie nicht einfach in Ruhe? Sie hat dir nichts getan“, rief Penny. Das Lachen verstummte, als Cassie und die Cheerleader sich umdrehten und sie anstarrten. Cassies grüne Augen verengten sich. „Na, das paßt ja. Eine Versagerin macht sich für die andere stark, was für eine Kombination.“ „Du bist die Versagerin, wenn du ein Mädchen wie sie aufziehen willst.“ Penny merkte, daß sie sich nur weiter in Schwierigkeiten brachte, aber sie konnte nicht aufhören. „Und wer soll mich davon abhalten, sie aufzuziehen? Du etwa?“ Cassie lachte laut. „Du bist doch nicht viel größer als sie. Deshalb hast du ja gestern auch den Sprung und die Drehung verpatzt. Kleine Leute sind Versager!“ „Das ist nicht wahr…“ Pennys Stimme wurde rauh. War es doch wahr? Lag es daran, daß sie nicht so groß war wie ihre Schwester und die Figuren deshalb nicht so gut tanzen konnte? Sie verdrängte den Gedanken und richtete sich auf. „Und ich sage dir, es ist wahr, du Flasche“, erwiderte Cassie und schubste Penny dabei so hart, daß sie einige Meter zurückstolperte. In diesem Moment brannte bei Penny eine Sicherung durch. Sie hatte die Nase voll von den Demütigungen. Und dabei ging es ihr nicht nur um sich selbst, sondern um alle Mädchen, die nicht so „perfekt“ waren wie Cassie. Um diejenigen, die nicht mit dem Aussehen eines Fotomodells geboren wurden, ohne seidene Locken, die zu kurz, zu dick oder zu häßlich waren, um „in“ zu sein. Mit geballten Fäusten ging Penny auf Cassie los. Erschrocken sprang Cassie zurück, doch dann faßte sie sich und stürzte sich wie eine Bestie auf Penny. Penny fiel zu Boden, Cassie war im Nu auf ihr. „Nein! Ihr dürft nicht kämpfen“, hörte Penny das chinesische Mädchen in fließendem Englisch sagen. Plötzlich verschwand Cassies Gewicht von Pennys Körper. „Was zum…“ fluchte Cassie, als sie wie magisch hochgezogen wurde. Schwer atmend und geschockt starrte Penny auf die Szene. Das asiatische Mädchen stand hinter Cassie. Ihre zierlichen braunen Finger umfaßten Cassies Handgelenk und bogen ihren Arm in einem unnatürlichen Winkel. Den Mädchen, die Cassie eben noch angefeuert hatten, blieb vor Erstaunen der Mund offen stehen. Sie verstummten, als sie Cassies schmerzverzerrte Miene sahen. Das Mädchen verstärkte den Druck, so daß Cassie sich nach vorne beugen mußte und wie ein Hund an der Leine wirkte. „Bitte, hört auf zu kämpfen“, sagte das Mädchen mit einer Spur fremdländischen Akzentes in der Stimme. „Hör auf! Du brichst mir den Arm!“ schrie Cassie, während sie sich mit dem freien Arm und ihren Beinen zu wehren versuchte. Das Mädchen verstärkte den Druck. „Kämpfen nützt dir nichts, halt still“, befahl sie. Als Cassie schließlich ruhig war, löste sie ihren Griff. Cassie richtete sich auf, trat zurück, rieb sich ihr Handgelenk und starrte auf das Mädchen, das sich neben Penny gestellt hatte. „Laß uns hier verschwinden“, flüsterte Penny atemlos. „Du verdammtes…“ Cassie stürzte sich auf das Mädchen und packte ihren Arm. „Wir werden ja sehen, wer hier wem den Arm bricht!“ „Ich wünsche nicht zu kämpfen. Ich möchte gehen“, erwiderte das Mädchen mit ruhiger Stimme. „Laß sie in Ruhe!“ schrie Penny, aber Cassie schubste sie mit ihrem freien Arm einfach beiseite.
Plötzlich duckte sich das asiatische Mädchen und sprang zur Seite, was Cassie völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Als sie zu Boden fiel, lockerte sie ihren Griff gerade lang genug, damit das dunkeläugige Mädchen sich befreien konnte. Schnell ergriff sie wieder Cassies Hand und drehte ihren Arm in eine knochenbrechende Position. Cassies schmerzverzerrtes Gesicht lief rot an, sie mußte auf die Knie. Mit der freien Hand schlug sie auf den Hallenboden. „Stop! Stop!“ „Versprichst du, uns in Ruhe zu lassen?“ fragte das Mädchen ruhig. Ihr Gesicht blieb weich und ausdruckslos, während sie Cassies Arm noch stärker bog. Ihr Griff war unnachgiebig. „Aua! Ja, ja, ich verspreche es!“ Tränen der Demütigung liefen über Cassies Wangen. „Bitte, brich mir nicht den Arm!“ „In Ordnung, du darfst gehen.“ Das Mädchen ließ los und trat zurück. „Es tut mir leid, daß ich mich herablassen mußte, Gewalt zu benutzen, aber du wolltest ja nicht hören.“ Cassies Arm fiel zu Boden. Mühsam rappelte sie sich auf. Sie rieb ihren schmerzenden Arm und heulte wie ein Baby. „Das wirst du noch bereuen! Das werdet ihr beide noch bereuen!“ Sie rannte aus der Halle. Aufgeregt tuschelnd, mit Blicken auf das asiatische Mädchen und Penny, folgten ihre Freundinnen ihr.
2. KAPITEL Schweigend und mit gesenktem Kopf stand das Mädchen da.
„Was ist los?“ fragte Penny.
„Ich hätte mich nicht in deinen Streit einmischen sollen.“ Langsam sog sie die
Luft ein.
„Nun, ich sehe das ganz anders. Wenn du mich fragst, hast du mir gerade das
Leben gerettet. Oder zumindest mein Gesicht, sonst hätte ich jetzt mindestens
eine aufgeplatzte Lippe. Vielen Dank! Übrigens, ich heiße Penny Graham.“
„Ja, ich weiß. Gestern habe ich dich bei der CheerleaderAusscheidung gesehen.“
Penny fühlte, wie sie rot wurde. Gab es denn niemanden auf der Welt, der nicht
von ihrem Lapsus gehört hatte? Sie brachte ein schwaches Lächeln zustande.
„Tja, da habe ich mich ganz schön blamiert, was?“
„Überhaupt nicht. Bis zu dem Sprung warst du sehr gut in Form. Doch dann hast
du einfach deinen Schwerpunkt zu weit nach vorne verlagert. Der Fehler wird oft
gemacht.“
„Du klingst, als hättest du sowas schon mal gemacht.“
„Nein, aber es hat viel Ähnlichkeit mit den Bewegungen beim Kung Fu.“
„Heißt das, du kannst Kung Fu?“ Penny riß die Augen auf. „Kung Fu! Wie Bruce
Lee und all die?“
„In die Richtung. Das Kung Fu, das ich meine, ist viel älter als Mr. Lees ältester
UrUrUrgroßvater. Kung Fu gab es schon lange, bevor Christopher Columbus
überhaupt die Segel gesetzt hat, um Amerika zu entdecken.“
„Kannst du es mir zeigen?“
„Ich bin nicht sicher, was mein Großvater dazu sagen würde. Aber da du ja
praktisch schon weißt, worum es geht…“
„Bitte!“ bat Penny.
„Na gut, okay.“
Schnell und leise nahm das Mädchen Anlauf. Ihre zierliche Figur schoß in die
Höhe, drehte sich wie ein Torpedo und landete dann wieder leichtfüßig auf dem
Boden.
„Wow! Und Cassie meint, kleine Leute könnten sowas nicht! Mensch, ich
wünschte, sie hätte das gesehen! Hey, ich weiß ja immer noch nicht, wie du
heißt.“
„Mein Name ist Fei Lieu.“ Es wurde Fay Lou ausgesprochen.
„Nun, Fei Lieu, dieser Griff, mit dem du Cassie in Schach gehalten hast, gehört
der auch zu deinem Kung Fu?“
„Natürlich. Das ist eine sehr alte Technik, die Chin Na genannt wird. Sie gehört
zu dem noch älteren Zweig des AdlerKungFu. Es gibt viele Wege, einen Feind
lahmzulegen. Aber in diesem Fall war eine einfach Gelenkdrohung am
angebrachtesten.“
„Zeigst du mir, wie du das gemacht hast?“ Penny streckte ihren Arm aus.
„Okay, aber sag sofort Bescheid, wenn es zu weh tut.“
„Fang an.“
Fei Lieu ergriff Pennys Hand, drehte das Handgelenk und drückte gleichzeitig auf
das Ellenbogengelenk. Jeden Schritt erklärte sie sorgfältig. Ein plötzlicher
Schmerz ließ Penny nach Luft schnappen und zwang sie auf die Knie.
„Das ist ja unglaublich“, rief sie aus und rieb sich den Arm, während sie wieder
aufstand. „Wie hast du das gemacht?“
„Das ist das Prinzip des Tsuch Guu, was soviel bedeutet, wie den Knochen aus
seiner gewohnten Lage in eine andere zu bringen. Man drückt einfach auf die
Gelenke, so.“ Sie zeigte Penny, wie sie den Arm greifen mußte. „Mit ein bißchen
Training kann das jeder machen. Kraft alleine ist nicht nötig. Sogar eine kleine Person wie ich kann damit in einem Gelenk große Schmerzen erzeugen.“ Nach ein paar Versuchen war Penny überrascht, daß sie Fei Lieu schon genauso auf die Knie zwingen konnte. „Kannst du mir davon nicht noch mehr beibringen?“ „Vielleicht später. Jetzt muß ich hier erst mal meine Arbeit beenden.“ Penny half ihr, und so sammelten sie gemeinsam die Handtücher ein. Penny erfuhr, daß Fei ein Jahr älter war als sie und nur eine Meile entfernt von ihrem Haus in der Mulberry Lane wohnte. Außerdem lernte Fei Lieu Kung Fu schon seit ihrer Kindheit. Unterrichtet wurde sie von ihrem Großvater, der in China Lehrer gewesen war. Ihr älterer Bruder Teh wurde in der Schule Tommy genannt und ging in die Zehnte. Ihre Eltern waren beide vor einigen Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen und so wuchsen sie bei ihrem Großvater und dessen Schwester auf. Penny hatte Mitleid. Ihr eigener Vater war gestorben, als sie neun Jahre alt gewesen war. Die Familie mußte sehr arm sein, wenn sie in der Mulberry Lane wohnte. Die Straße war kaum mehr als ein Sandweg, der in einer Sackgasse endete. Penny selbst war ein paarmal mit dem Fahrrad dort gewesen, um Maulbeeren zu pflücken. Daher wußte sie, daß die Häuser dort alt und heruntergekommen waren. Der Schulbus konnte den steilen und engen Weg nicht hinauffahren, so daß Schüler, die oben am Berg wohnten, immer einen langen Weg zum Bus hatten. Penny erinnerte sich, daß einige Leute dort Hühner hielten und eine Menge Hunde und Katzen herumliefen. Sie hatte die alte, geheimnisvolle Straße immer gemocht. Im Frühjahr waren die Wegränder mit wilden Blumen übersät, und viele der Gärten, die im Winter nur kahlen öden Boden zeigten, strahlten im Frühling in den schönsten Farben. „Und du läufst jeden Tag den ganzen Weg zu Fuß? Das sind doch mindestens vier Meilen!“ fragte Penny. „Oh, nein, nur drei. Zu dieser Jahreszeit ist das Wetter sehr schön, und außerdem baut es die Widerstandskräfte auf.“ „Hey, ich habe eine Idee. Warum nimmst du heute nicht mal den Bus? Ist doch sowieso letzter Schultag.“ „Oh, nein, das kann ich nicht tun.“ „Dann fahr einfach nur bis zu meiner Station mit, das ist ungefähr eine Meile von dir entfernt.“ Ungeduldig wartete Penny auf Feis Antwort, aber nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen war sie nicht einverstanden. „Es kommt nicht auf die Entfernung an. Ich habe keine Erlaubnis, den Bus zu nehmen. Großvater hat es verboten. Wenn ich früher da bin, wird er was merken. Oder mein Bruder könnte sehen, wie ich in den Bus steige. Außerdem habe ich versprochen, zu gehorchen. Es tut mir leid. Ich…“ Sie unterbrach sich und suchte nach Worten. „Sowas habe ich noch nicht gehört“, kicherte Penny. „Sind Eltern nicht nervig? Weißt du, meine Mutter ist genauso, wenn es um Motorradfahren geht. Sie wird schon verrückt, wenn ich nur eine angucke. Na ja…“ Penny nahm ihre Tasche von der Bank und hängte sie sich über die Schulter. „Dann gehe ich eben mit dir. Das heißt, falls es dir nichts ausmacht.“ Fei Lieu lächelte, und so machten sie sich auf ihren langen Marsch. Sie kamen durch die Stadtmitte von Waterford, überquerten den Rathausplatz und schlugen dann den Weg zum nördlichen Teil der Stadt ein. Nach eineinhalb Meilen war Penny schweißgebadet. Am Straßenrand entdeckte sie einen kleinen Eisstand und hielt an.
„Mir ist wahnsinnig heiß“, stöhnte sie und wischte sich die feuchten Haare aus
der Stirn. Dann suchte sie in ihrer Tasche nach Kleingeld. Ihr fiel auf, daß Fei
ruhig dastand und keine Anstalten machte, auf die Eisbude zuzugehen. Plötzlich
fielen Penny die heruntergekommenen Häuser in der Mulberry Lane ein.
„Ich lade dich zu einem Eis ein, schließlich hast du mir heute den Kopf aus der
Schlinge gerettet.“
„Nein, danke. Ich ziehe es vor, kein Eis zu essen.“
„Was? ich dachte, niemand könne bei einer solchen Hitze einem Eis widerstehen.
Bist du sicher?“
„Ganz sicher.“
Penny bestellte ein Kirscheis und sah, wie Fei sehnsüchtig darauf starrte, als es
der Mann in süßen Sirup tauchte. Penny leckte daran und rollte mit den Augen.
„Mm. Nirgends in der ganzen Stadt gibt es so leckeres Eis wie hier!“ Sie schleckte
noch mehr und bot dann Fei etwas an. „Willst du wirklich nicht?“
„Ich kann nicht.“
„Jetzt sag bloß nicht, daß dein Großvater dir verbietet, Eis zu essen?“ Sie sah Fei
an und wußte, daß sie recht hatte. „Das glaube ich nicht! Was, um alles in der
Welt, kann er gegen harmlose kleine Eiskugeln haben?“
„Er findet Süßigkeiten, überhaupt amerikanisches Essen, grundsätzlich nicht gut.
Er sagt, daß es ungesund ist.“
Penny hielt inne und sah Fei an. Sie war sehr dünn und wirkte fast zerbrechlich.
Fei schien Pennys Blick zu verstehen. „Ich schätze, es macht nicht viel Spaß, mit
mir befreundet zu sein. Ich weiß nicht sehr viel vom amerikanischen Leben,
obwohl ich schon viele Jahre hier bin.“
„Mensch, es ist doch nicht dein Fehler, daß dein Großvater ein
Gesundheitsfanatiker ist. Meine Tante Ellen ist auch so. Sie wäscht ihr Gesicht
mit Gurke und Zitrone. Igitt! Und wer sagt, daß du keine gute Freundin bist? Im
Dunkeln wäre ich lieber mit dir unterwegs als mit Miss Amerika!“
Fei lachte, und Penny stimmte mit ein. Bald waren sie in eine Unterhaltung über
die Schule und die Lehrer vertieft. Sie hatten viele Gemeinsamkeiten. Unter ihren
Zöpfen und der fremdländischen Kleidung war Fei ein Mädchen mit Vorlieben,
Ängsten und Eigenheiten wie jede andere Sechzehnjährige auch. Während sie
gingen und redeten, verging die Zeit wie im Flug. Im Nu waren sie auch schon an
der Brazor Street, wo Penny wohnte.
„Also, hier bin ich zu Hause, das Riesending da hinten ist es. Da, wo du den
Pinienbaum siehst.“ Penny zeigte auf das alte, zweistöckige viktorianische Haus.
Die Farbe blätterte von der Fassade, und die Gartentür hing lose in den Angeln.
Obwohl ein Teil des Hauses mit Brettern vernagelt war und nicht benutzt werden
konnte, hätte die Familie sich nicht im Traum davon getrennt. Pennys Vater hatte
es gekauft, und es war sein Traum gewesen, das Gebäude wieder herzurichten.
Nun war er nicht mehr da, und das Haus war wie ein Denkmal an ihn.
„Hast du Lust mit reinzukommen und dir die Unordnung anzusehen?“ bot Penny
an. Fei zögerte und warf einen Blick in Richtung Mulberry Lane. „Ich weiß, ich
weiß. Dein Großvater hat dir verboten, amerikanische Wohnungen zu betreten,
stimmt’s?“
Lächelnd nickte Fei. „Ich könnte verdorben werden, wenn ich einen Fernseher
sehen würde.“
„Du machst Witze. Hast du noch nie Fernsehen geguckt?“
„Nur in der Schule oder in Schaufenstern.“
„Na, also, falls dein Großvater einen plötzlichen Sinneswandel haben sollte,
kannst du jeder Zeit vorbeikommen. Es ist zwar nicht schön, aber es ist ein
Zuhause.“
Fei starrte auf das große Haus mit seinen komischen Stuckverzierungen und der abblätternden Farbe. „Es ist ein beeindruckendes Haus. Sehr schön.“ „Das hat mein Vater auch immer gesagt“, bemerkte Penny leise. Verglichen zu Feis kleinem Haus in der Mulberry Lane, mußte dieses fast wie eine Villa wirken. Normalerweise war es Penny immer ein bißchen peinlich, wenn Freunde zu Besuch kamen, weil das Haus so alt und verfallen aussah. Doch heute fühlte sie sich so gut wie schon lange nicht mehr. Sie konnte es kaum erwarten, noch mehr Chin Na und Kung Fu zu lernen, wie Fei es versprochen hatte. Dafür würde sie ihr das Fahrradfahren beibringen. Gott sei Dank hatte ihr Großvater ihr nicht verboten, Fahrrad zu fahren! Penny war so aufgeregt, daß sie unmöglich schon jetzt nach Hause gehen konnte. „Fei, hast du was dagegen, wenn ich noch mit zu dir komme?“ Fei zögerte. „Ich weiß nicht, was Großvater dazu sagen wird. Bis zur Haustür geht es bestimmt. Er glaubt daran, daß man Besucher respektvoll behandeln sollte, wir haben nur nie welche.“ Sie gingen zur Mulberry Lane und kletterten den von Maulbeerbäumen überschatteten Weg hinauf. Die Luft war klar und sauber. Es gab keine Autos in der Straße, denn der Weg verlief sich nur zu einem kleinen Trampelpfad. Penny sah die kleinen Häuser zu beiden Seiten des Weges. Die meisten waren heruntergekommen, und in den Gärten lagen Müll und rostige Autowracks. Hunde bellten, und Vorhänge wehten in den offenen Fenstern. Ein paar Häuser hatten sehr saubere Vorgärten, in denen Topfblumen und Rosen blühten. Alte Leute arbeiteten an den Beeten oder saßen in Schaukelstühlen auf der Veranda. In ihren Häusern war es sicher genauso hübsch und ordentlich wie in ihren Vorgärten. Vor dreißig Jahren war Mulberry Lane eine sehr gute Adresse gewesen, und diese alten Leute hatten hier ihr ganzes Leben lang gewohnt. Pennys Beine begannen zu schmerzen, und wieder fiel ihr auf, daß Fei nicht eine Schweißperle auf der Stirn stand und sie nicht einmal stärker atmete als bei einem normalen Gang. Als ein giftiger kleiner Terrier hinter ihnen herlief, rannten die beiden Mädchen kichernd weg. Doch als sie sich dem letzten Haus in der Straße näherten, wurde Fei sehr still. „Ich fürchte, weiter kannst du nicht kommen. Ich werde mit Großvater sprechen, damit ich dich ein anderes Mal einladen kann. Aber jetzt möchte ich ihn lieber nicht verärgern. Ich bin sowieso schon ein paar Minuten zu spät, bestimmt hat er dazu was zu sagen.“ „Weshalb zu spät? Heute ist doch letzter Schultag.“ „Ich muß jeden Tag meine Kung Fu, Chin Na, T’ai Chi Ch’uan und Meditationsübungen machen. Außerdem unterrichtet uns Tante Sung Hoa sehr ausführlich in chinesischer Geschichte.“ „Wie gut, daß du keinen Fernseher hast. Du hättest ja doch nie Zeit zu gucken. Na gut, bis später dann. Kannst du morgen zu mir kommen?“ „Wahrscheinlich nicht.“ „Soll ich dich besuchen?“ „Warte lieber, bis ich dich hole. Ich muß erst den richtigen Moment abwarten, damit ich mit Großvater sprechen kann.“ Penny lächelte. „Ich bin irrsinnig gespannt, diese Persönlichkeit kennenzulernen. Scheint ja ein ganz besonders netter Kerl zu sein.“ Fei Lieu erwiderte Pennys Lächeln nicht. Sie starrte auf die stuckverzierte Mauer, die das gesamte Haus umgab, „Penny, für seine Einstellung zu Amerika und zur modernen westlichen Welt hat Großvater ganz bestimmte Gründe. Die sind nicht
ganz unberechtigt.“ „Ach, ja? Was hat er dann zum Beispiel gegen Eis?“ „Das ist doch nur ein winziger Teil vom Ganzen. Ein Pinselstrich in dem großen Bild. In China hatte mein Großvater ein sehr schweres Leben. Als die Zeiten zu hart wurden, überredeten meine Eltern ihn und seine Schwester Sung Hoa, mit uns nach Amerika zu kommen. Von Anfang an war er gegen die westliche Zivilisation und hielt nicht viel von amerikanischer Kultur. Meine Eltern waren da ganz anders als er. Sie glaubten an den Fortschritt. Meine Mutter hat als erstes den Führerschein gemacht. Wir lebten in Kalifornien, als es passierte. Sie kam von der Straße ab und stürzte über eine Klippe. Mein Vater saß auch im Auto. Sie sind beide gestorben.“ „Das tut mir leid, Fei. Jetzt verstehe ich auch, warum er nicht will, daß du mit dem Bus fährst.“ „Da steckt mehr dahinter als nur die Sorge um unser körperliches Wohl. Es ist die Angst um unseren ‚unverdorbenen Geist’, wie er es nennt. Großvater hat Angst, daß wir diese Reinheit in der modernen Welt verlieren. Er ist ein wundervoller alter Mann. Ich liebe und respektiere ihn, aber trotzdem… manchmal wünschte ich…“ Fei unterbrach sich und legte den Kopf zur Seite, um zu horchen. Penny strengte ihre Ohren an, doch sie hörte nichts. „Ich muß jetzt gehen“, flüsterte Fei. Mit beiden Händen nahm sie Pennys Hand und schüttelte sie. „Vielen Dank für die Unterhaltung mit dir und dafür, daß du mich herbegleitet hast. Du bist eine richtige Freundin, Penny.“ Sie drehte sich um und ging leichtfüßig zu dem großen eisernen Gartentor. Mit lautem Knarren öffnete es sich. Fei ging hindurch und verschwand in den dunklen Schatten.
3. KAPITEL Nach spannenden Träumen, die in dem geheimnisvollen kleinen Haus in der Mulberry Lane spielten, wachte Penny am nächsten Morgen auf. Es war neun Uhr, und obwohl es ein Donnerstag war, fühlte Penny sich wie an einem Samstag. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und noch stundenlang weitergedöst, aber der laut aufgedrehte Fernseher ließ das nicht zu. Also stand sie auf und sah sich in ihrem unaufgeräumten Zimmer um. Wegen der Ordnung kam es zwischen ihr und ihrer Mutter immer wieder zu Krach. Bei Cindy war immer alles so sauber und aufgeräumt gewesen. Da hatte es nie offene Schubladen gegeben, die bis zum Überquellen mit nicht zusammenpassenden Socken vollgestopft waren. Natürlich hatte sie auch keine Spinnweben in den Ecken gehabt. Sogar nach Saltos und Sprüngen hatte ihr Haar immer perfekt gesessen, und eine Laufmasche in ihrer Strumpfhose wäre eine nationale Katastrophe gewesen. Nun ja, Penny hatte ja auch nie darauf bestanden, so durchorganisiert und ordentlich wie ihre Schwester zu sein. Trotzdem machte sie sich an die lästige Arbeit, ihr Zimmer aufzuräumen. Vielleicht würde ja Fei Lieu vorbeikommen. Als das Telefon klingelte, rannte Penny wie ein Blitz über den Flur. Sie hoffte, daß es Steve sei. Der Streit, den sie mit ihm in der Cafeteria gehabt hatte, tat ihr jetzt leid. Wahrscheinlich hatte er von ihrem Zusammenstoß mit Cassie schon gehört und wollte ihr gratulieren. Sie nahm den Hörer ab. „Oh, hi, Cheryl.“ Penny versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. „Was gibt’s?“ „Wir haben den ganzen Morgen gepackt, und jetzt bin ich total verschwitzt und ausgedörrt. Hast du Lust, zu „Mahon’s“ zu fahren und eine Cherry Coke zu trinken?“ „Klar! In ein paar Minuten bin ich bei dir.“ Es war jammerschade, daß Cheryl den ganzen Sommer in East Texas auf der Farm ihrer Großeltern verbringen würde. Aber Penny war schon daran gewöhnt, die Sommerferien ohne Cheryl durchzustehen – sie fuhr jedes Jahr weg. Penny zog ihre abgeschnittenen Jeans und ein TShirt an. Zusammen mit der Einkaufsliste und einem Schreiber stopfte sie alles Geld, das sie noch hatte, in ihre Taschen. Dann holte sie das Fahrrad aus der Garage. Fünf Minuten später war sie bei Cheryl. Um die Wette radelten beide Richtung Stadt. Wie in den meisten texanischen Kleinstädten war auch in Waterford das große Gerichtshaus der absolute Mittelpunkt. Auf dem Dach hatte es einen Turm mit einer Uhr, die immer 25 Minuten nach ging. Der Rasen rund um das Gericht war saftig grün. Um das Gelände lief eine Einbahnstraße, von der in jede Richtung Hauptverkehrsadern abgingen. Früher hatte es einmal zwei uralte Kinos gegeben, das Palace und das Plaza. Sie hatten große Balkone gehabt, und alle Schüler der Stadt hatten ihre Initialen entweder in den einen oder anderen geritzt. Seit es das neue Kino in dem einzigen Einkaufszentrum am Stadtrand gab, hatte das Plaza zugemacht. Penny und Cheryl gingen am liebsten zu „Mahon’s“, denn dort gab es immer noch die besten und billigsten Sprudelgetränke in der Stadt. Außerdem trafen sich hier einige der süßesten Jungs der Stadt. An Samstagen oder nach der Schule spielten sie hier an den Computern und am Flipper. Wenn man jemals an einen rankam und zu einer Cola eingeladen wurde, waren die kleinen ledernen Sitzecken auch viel gemütlicher als die kalte Plastikatmosphäre in dem modernen Einkaufszentrum. Als sie sich setzten, entdeckten Penny und Cheryl durchs Fenster ein paar
Mädchen aus der angesagtesten Schulclique, die dafür bekannt waren, immer die neueste Mode zu tragen. Sie standen vor einem Schaufenster und bewunderten die neuen Badeanzüge, „Ich wette, ich weiß, was die da tun“, meinte Cheryl und steckte den Strohhalm in ihre Schokoladensoda, um einen Schluck zu nehmen. „Sieht aus, als würden sie einkaufen.“ „Ja, aber siehst du, wie sie diese Badeanzüge anstarren? Ich verwette meinen letzten Dollar darauf, daß sie sich für Cassie Fairchilds Riesenfete einkleiden. Die soll ja den größten Swimmingpool in der ganzen Stadt haben. Mensch, ich würde zu gern mal das Haus von innen sehen. Du nicht?“ „Ich war mal kurz da“, erwiderte Penny, „als ich meiner Mutter geholfen habe, für den Wohltätigkeitsbasar zu sammeln. Von der Tür aus konnten wir die Diele und sowas wie ein Wohnzimmer sehen. Es hatte einen riesigen Kamin. Aber wir wurden nicht reingebeten.“ Sie dachte an das große Backsteinhaus, das auf einer Anhöhe nahe der Stadtmitte lag. Die meisten Häuser in Waterford waren aus Holz. Nur die reichen Leute hatten große Backsteinhäuser. Das Haus der Fairchilds war so ziemlich das teuerste, das es in der Stadt gab. Penny sah die drei Mädchen in den Laden gehen. Daß Cassie am Schuljahresende eine Party gab, war nichts Neues. Sie tat es jedes Jahr. Und nur einige Auserwählte waren eingeladen. Natürlich waren Penny und Cheryl nie dabeigewesen. Auch niemand von Pennys Freunden, nicht einmal Steve. Doch die Tatsache, daß Penny bis jetzt kein Wort von der Party gehört hatte, war ungewöhnlich. Immerhin war dies eine Kleinstadt, und solche Neuigkeiten verbreiteten sich schnell. „Wie lange weißt du schon von der Fete?“ fragte sie Cheryl. „Mm, ich würde sagen, ungefähr einen Tag lang. Gestern im Bus haben sie über nichts anderes geredet.“ Sie unterbrach sich und zeigte auf Penny. „Dabei fällt mir ein… warum bist du gestern nicht mitgefahren? Ich habe mir schon Sorgen gemacht, weil du auch den ganzen Tag so deprimiert warst.“ Penny seufzte. Sie hatte den gestrigen unangenehmen Tag schon fast vergessen. Es schien Ewigkeiten her zu sein. Einen Moment lang spielte sie mit dem Strohhalm in ihrer Cherry Coke herum. „Oh, das ist eine lange Geschichte. Ich hatte eine Auseinandersetzung mit Cassie in der Sporthalle, und hinterher bin ich mit Fei Lieu zu Fuß nach Hause gegangen.“ „Und davon hast du mir nichts erzählt? Was war los? Und wer ist diese Fei Lieu?“ „Das chinesische Mädchen, das der Sportlehrerin in der letzten Stunde hilft.“ „Ach ja. Die mit der seltsamen Kleidung und den merkwürdigen Zöpfen.“ Penny wurde rot. Sie wollte Cheryl sagen, wie dumm es war, jemanden nach dem Äußeren zu beurteilen. Aber hatte sie selbst nicht genauso gedacht, bevor sie Fei kennengelernt hatte? Penny erzählte Cheryl die ganze Geschichte. Der Streit, der Weg nach Hause, das geheimnisvolle Haus in der Mulberry Lane und der strenge Großvater. Cheryl schien nicht besonders interessiert zu sein. Schnell wechselte sie wieder das Thema zu Cassies Party. „Na, glaubst du, daß du dieses Jahr eingeladen wirst?“ „Nach dem Streit? Bist du verrückt? Cassie würde mich nicht mal einladen, um ihren Müll rauszutragen.“ Sie mußten beide lachen. „Ach, ich wünschte, ich wäre am Samstag hier. Dann würde ich rüberschleichen und einen Blick in den Garten werfen.“ „Samstag?“ hakte Penny ein. „Na, dann kann ich mit Sicherheit nicht hingehen. Du weißt doch, da hat Steve Geburtstag.“ „Stimmt ja, das hatte ich ganz vergessen. Wirst du ihm wie jedes Jahr einen Schokoladenkuchen backen und mit ihm picknicken gehen?“
„Natürlich. Das ist bei mir und Steve doch schon Tradition. Dieses Jahr ist es das vierte Mal hintereinander.“ „Hey, letztes Jahr war es doch riesig, nicht? Weißt du noch, wie du mit Steve in diesem kleinen Kanu rausgepaddelt bist und eine Windbö euch in den See befördert hat?“ Bei der Erinnerung schütteten sie sich beide aus vor Lachen. „Und dann diese beiden großen schwarzen Hunde, die die hartgekochten Eier und die Kekse aufgefressen haben, als wir angeln waren!“ erinnerte Penny Cheryl. Als sie daran dachten, wieviel Spaß sie bei dem letzten Geburtstagspicknick gehabt hatten, mußten die beiden Mädchen so sehr lachen, daß ihnen die Tränen in die Augen traten. Für Penny gab es noch einen ganz besonderen Grund, weshalb ihr das letzte Picknick so gut im Gedächtnis geblieben war. Davon hatte sie niemandem erzählt. Sie und Steve waren nicht nur wegen der Windbö gekentert. Er hatte sie zum ersten Mal geküßt, und dabei hatten sie die Balance verloren. Plötzlich fehlte Steve ihr sehr. Penny wünschte, sie hätte sich nie mit ihm gestritten. Sie hatte so viel für die CheerleaderAusscheidungen trainiert, daß sie mit Steve in den letzten beiden Wochen nicht mehr über das Picknick gesprochen hatte. Aber vergessen hatte er es ganz bestimmt nicht. Er brachte auch jedesmal sein Angelzeug mit und hatte genauso viel Spaß wie sie selbst. Pennys Mutter hatte auch schon versprochen, sie zum Possum Kingdom Lake zu fahren, der ungefähr sechzig Meilen entfernt lag. Penny griff in ihre Hosentasche und holte ein schmales Bündel mit Ein Dollarscheinen heraus. Das ganze Jahr über hatte sie etwas von ihrem Essensgeld gespart. Heute wollte sie ein Geschenk für Steve kaufen und alles, was sie für den Kuchen brauchte. Cheryl begleitete sie in den Supermarkt und half ihr, die Zutaten auszusuchen. Als sie wieder auf ihre Räder stiegen, hatte jedes Mädchen eine Einkaufstüte im Arm und Penny nur noch 73 Cents in der Tasche. Zwischen Umarmungen und dem Versprechen, sich ganz oft zu schreiben, verabschiedete Penny sich für den Sommer von Cheryl. Dann ging sie nach Hause und verstaute ihre Einkäufe. Nägel knabbernd saß Penny da und starrte auf das Telefon. Sie fragte sich, ob Steve wohl zu Hause war und was er sagen würde. War er immer noch wütend auf sie wegen der Szene in der Cafeteria? Hatte er von ihrer Auseinandersetzung mit Cassie gehört? Pennys kleine Brüder nervten sie so sehr, daß Penny das Telefon schließlich mit in die Küche nahm und die Tür hinter sich schloß. Während sie die Nummer von Steve wählte, begann ihr Herz zu rasen, und ihre Finger zitterten. Ihre Knie waren weich wie Pudding, als seine vertraute Stimme antwortete. „Hi, Steve. Wie geht’s?“ „Penny? Äh… Ich war…. ich habe gerade meine Sachen gewaschen.“ Penny kicherte. „Du? Gewaschen? Unglaublich! Bist du krank?“ „Naja, Mom arbeitet jeden Tag, und ich habe Samstag etwas Besonderes vor, da mußte ich es selbst tun.“ Also hatte er das Picknick doch nicht vergessen! Penny fiel ein Stein vom Herzen. „Echt rührend von dir. Ich werde mich auch in Schale schmeißen“, meinte sie lachend. Die lange Pause am anderen Ende der Leitung ließ ihr Lachen ersterben. „Steve? Bist du noch da?“ „Äh… ja. Du gehst also auch zu der Party?“ Seine Stimme klang seltsam. „Ja, natürlich gehe ich hin. Die Idee ist schließlich mal von mir gewesen. Hey, weißt du das nicht mehr? Was ist los mit dir? Es ist doch dein Geburtstag.“
„Moment mal. Dann war das also deine Idee, für mich eine Geburtstagsparty zu veranstalten?“ „Ja.“ „Puuh!“ schnaubte Steve. „Du gehst zu Cassies Party? Das ist ja irre!“ „Cassie!“ Penny mußte sich an die Wand lehnen. „Cassies Party?“ wiederholte sie ungläubig. „Was hat Cassie mit deinem Geburtstag zu tun?“ „Nun, die Geburtstagsparty findet doch bei Cassie statt. Sie hat mir gesagt, daß es ihre Idee war. Kein Ton davon, daß es deine Idee war, oder daß Cassie dich eingeladen hat. Sollte das vielleicht eine Überraschung sein?“ Penny fühlte, wie ihr Tränen in die Augen schossen und über die Wange liefen. „Sie hat mich nicht eingeladen, Steve. Ich dachte, daß die Party für die Cheerleader und die Clique ist, die sie jedes Jahr zu sich einlädt. Ich wußte nicht, daß du auch hingehst. Und daß es deine Geburtstagsfeier ist, wußte ich erst recht nicht.“ „Was hast du dann damit gemeint, daß das Ganze von Anfang an deine Idee gewesen sei?“ Steves Stimme hatte einen scharfen Unterton. „Ich habe von dem Geburtstagspicknick am Possum Kingdom Lake gesprochen. Da, wo wir jedes Jahr hinfahren.“ „O nein! Das habe ich völlig vergessen!“ „Du hast das Picknick vergessen? Das, was wir seit vier Jahren machen? Oh, Steve, wie konntest du nur!“ „Es tut mir leid…“ stotterte er. „Ich schätze, als Cassie mir gesagt hat, daß sie für mich eine Geburtstagsparty gibt, habe ich einfach nicht nachgedacht.“ „Ich habe mein ganzes Geld ausgegeben, um für dieses Picknick einzukaufen! Du hättest wenigstens anrufen und absagen können!“ „Hey, warte mal. Na gut, ich hab’s vielleicht vergessen. Aber so, wie du dich in der Cafeteria aufgeführt hast, dachte ich, daß mit uns Schluß ist. Oder hast du den kleinen Zwischenfall schon vergessen?“ „Nein. Ich habe nicht vergessen, wie du mich einfach hast stehen lassen und an Cassies Tisch spaziert bist, um mit ihr rumzuflirten!“ Die Tränen in ihrem Gesicht trockneten schnell, als die Wut in ihr aufstieg. Penny schniefte noch einmal und holte dann tief Luft. „Na gut, Steve. Wenn Cassies Geburtstagsparty dir mehr bedeutet als meine, dann hast du wohl recht. Es ist aus.“ Sie ließ ihm keine Zeit zu antworten und schmiß den Hörer auf die Gabel. Penny versuchte ihr Zimmer aufzuräumen, aber sie war nicht bei der Sache. Immer wieder stellte sie sich vor, wie Steve mit Cassie flirtete und mit ihr im Swimmingpool herumtobte. Bestimmt war Cassie jetzt gerade unterwegs, um sich einen neuen Bikini zu kaufen, extra für diesen Anlaß! Als Pennys Brüder auch noch in einen lauten Streit um das Fernsehprogramm ausbrachen, hielt sie es keine Minute länger dort aus. Sie schnautzte die Jungs an, lief aus der Tür und rannte die Straße hinunter. Zuerst kämpfte sie noch gegen die Tränen. Der erste Ferientag, und was für Aussichten? Sie wurde langsamer und hielt schließlich ganz an. Als sie hochsah, fand sie sich zu ihrer Überraschung in der Mulberry Lane wieder. Penny ging wieder schneller. Plötzlich wußte sie, was sie jetzt brauchte: eine starke Dosis Kung Fu. Damit würde sie ihre Gedanken von Steve und Cassie ablenken können. Penny bog gerade um eine Ecke, als sie mit einem Jungen zusammenstieß. Es war Tommy Lieu. Noch nie hatte sie ihn aus der Nähe gesehen. Er sah sehr gut aus. Er trug Turnschuhe, JoggingShorts und ein rotschwarzes TShirt. Seine mandelförmigen Augen blickten klar, und das Sonnenlicht tanzte auf seinen
schwarzen Haaren. Es war etwas länger, als es die Jungs in der konservativen
Kleinstadt trugen. Um seine Fuß und Handgelenke trug er Riemen, in die
Metallgewichte eingenäht waren.
„Hi, Tommy“, sagte Penny, als sie wieder zu Atem kam.
„Hallo“, antwortete er mit demselben unauffälligen Akzent wie seine Schwester.
Er sah überrascht aus.
„Du bist doch Feis Bruder, nicht?“
„Ja.“ Er schien sich zu entspannen. „Du mußt eine Freundin von meiner
Schwester sein.“
„Ich heiße Penny Graham.“ Sie streckte die Hand aus, die er mit festem Griff
seiner warmen Finger drückte.
„Ich weiß. Ich habe dich am Dienstag bei den CheerleaderAusscheidungen
gesehen.“ Obwohl er lächelte und mit freundlicher Stimme sprach, wurde Penny
rot. Jetzt geht das wieder los, dachte sie. Noch jemand, der mein Versagen
gesehen hat! „Ach, es geht doch nichts über Unbekanntheit.“
„Oh, ich wollte dich nicht beleidigen. Du hättest natürlich gewinnen müssen, weil
deine Figur die schwierigste war. Als ich um das Footballfeld gejoggt bin, habe
ich dich ein paarmal beim Training gesehen.“
„Naja, ich werde wohl niemals so gut wie meine Schwester sein.“
„Deine Schwester?“
Penny konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Soll das heißen, daß du noch nie
von meiner Schwester, Cindy Graham, gehört hast?“
Tommy schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, wir leben hier erst seit zwei Jahren.
Ich finde es bewundernswert, daß du die Figur versucht hast. Aber vielleicht ist
es auch gar nicht so schlimm, daß du nicht gewonnen hast. Du bist doch viel zu
gut, um dein Talent für sowas Plattes wie Cheerleading zu verschwenden.“
Penny wollte ihn gerade dankbar umarmen, doch da sah sie Steve Galloways
vertrauten alten VWKäfer um die Ecke biegen.
Sie sprach weiter und hoffte, daß der Wagen verschwinden würde, aber er kam
näher. Der VW wurde langsamer. Dann knirschten auch schon die Reifen auf dem
Kies, und die Bremsen quietschten.
„Hey, Penny! Soll ich dich mitnehmen?“ rief Steve und streckte den Kopf aus
dem Fenster.
„Nein danke.“
„Wo willst du hin?“ wollte Steve wissen, nachdem er Tommy eingehend
gemustert hatte.
„Nirgendwo. Ich unterhalte mich nur mit einem Freund. Kennst du Tommy Lieu?“
Tommy kam näher und streckte Steve die Hand hin, aber der erwiderte die Geste
nicht, sondern legte mit einem Ruck den Gang ein.
„Okay, wie du willst“, rief er, als der VW mit quietschenden Reifen davonbrauste.
Penny und Tommy sahen das Auto um die Kurve schleudern.
„Dein Freund scheint sich zu ärgern. Glaubst du, daß er sauer ist, weil du mit mir
redest?“ fragte Tommy.
„Mein Freund? Wie kommst du darauf, daß ich mit ihm gehe?“
„Weil ich euch jeden Tag in der Schule zusammen gesehen habe. Und auch sonst
überall in der Stadt.“
Penny wurde unruhig. Wieso war Tommy ihr nie aufgefallen? Er schien jedenfalls
alles über sie zu wissen.
„Also, ehrlich gesagt, sind Steve und ich bis gestern noch zusammen gewesen.
Wir haben gerade erst Schluß gemacht!“
„Warst du deshalb vorhin so durcheinander?“
Penny wurde rot. Wie genau er beobachtete! „Ja, ich schätze schon. Aber das ist
jetzt alles vorbei.“
„Er muß verrückt sein!“ meinte Tommy aufgebracht. „Ich meine, er…“ Er wußte
nicht weiter, und Penny mußte lachen.
„Ich weiß, was du meinst. Ich bin ganz deiner Meinung. Er muß verrückt sein,
daß er mit so einem phantastischen, tollen, aufregenden und…“
„Vergiß nicht talentiert!“
„Natürlich… und talentierten Mädchen wie mir Schluß macht. Was soll ich dazu
sagen?“
Sie mußten beide lachen. Plötzlich hatte Penny eine Idee. Wieso war ihr das nicht
früher eingefallen?
„Sag mal, Tommy, gestern habe ich deine Schwester gefragt, ob sie mich
besuchen kommt. Aber jetzt fällt mir gerade etwas viel Besseres ein. Habt ihr
nicht Lust, am Samstag mit an den See zu kommen? Ich werde einen Kuchen
backen und Brote machen. Jedes Jahr, wenn die Schule aus ist, fahre ich an den
See. Mom hat schon gesagt, daß sie mich hinbringt. Aber bis jetzt haben alle, die
ich gefragt habe, abgesagt. Wie wär’s? Könntet ihr kommen?“
„Tja, ich weiß nicht. Fei geht nicht sehr oft aus dem Haus. Unser Großvater paßt
auf seine einzige Enkeltochter höllisch auf, fürchte ich.“
„Oh, bitte!“ Penny legte ihre Hand auf seinen Arm. Seine festen Muskeln fühlten
sich phantastisch an. „Es ist völlig harmlos. Meine Mutter und meine beiden
kleinen Brüder werden auch da sein. Man kann dort Kanus mieten und auf dem
See paddeln gehen. Es macht riesigen Spaß!“
„Hm. Ich bin noch nie in einem Kanu gepaddelt.“
Bei dem Gedanken daran, hinter Tommy in einem Kanu zu sitzen und seine
Muskeln beim Paddeln zu beobachten, wurde Penny ganz aufgeregt.
„Oh, bitte! Es gibt auch große Wiesen dort, wo ihr beide mir noch mehr von
diesem Kung Fu zeigen könntest.“
„Du bist ja ganz schön hartnäckig. Und du hast meine weiche Stelle getroffen.
Ich liebe es, Leuten Kung Fu beizubringen. Na gut, ich werde meinen Großvater
fragen, ob wir mitdürfen. Aber wundere dich nicht, wenn er darauf besteht, dich
kennenzulernen und dir den dritten Grad zu verleihen.“
„Okay, das schaffe ich schon“, meinte Penny mit gar nicht so sicherer Stimme.
„Wann soll das Picknick anfangen?“
„Nun, wir werden so um neun Uhr am Sonnabend losfahren. Zu essen müßt ihr
nichts mitbringen. Hier.“ Sie angelte den Stift und die Einkaufsliste aus ihrer
Hosentasche. „Ruf mich an, wenn du weißt, ob ihr kommen dürft.“
„Okay. Ich melde mich. Und vielen Dank.“
Tommy drehte sich um und ging auf das kleine Haus in der Mulberry Lane zu.
Penny beobachtete seine kräftigen und doch geschmeidigen Bewegungen. Er
erinnerte sie an die Filme, in denen wilde Löwen in Zeitlupe durch die Steppe
liefen. Sie sah ihm so lange nach, bis er ihrem Blickfeld entschwand.
4. KAPITEL Auf dem Weg nach Hause träumte Penny vor sich hin. Sie bemerkte es kaum, daß sie in ihrem Garten stand, der mit leuchtend grünem Gras bedeckt war. Nur unter den Pinienbäumen gab es ein paar freie Stellen, wo einfach nichts wuchs. Penny sprang die fünf breiten Stufen hoch, die auf die hölzerne Veranda führten. Die Katze miaute eine Begrüßung, war jedoch zu faul, um aus dem Weg zu gehen. Im Haus streiteten sich, wie immer, lärmend die Jungs. Doch jetzt machte es ihr nichts aus. Sogar der Anblick von Steves jüngerem Bruder Randy deprimierte Penny nicht. Er konnte ein echter Satan sein und war Steve wie aus dem Gesicht geschnitten, aber heute konnte nichts ihre gute Laune zerstören. Penny ging die Treppe rauf und öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Dann erledigte sie die Arbeit, die sie vor ein paar Stunden begonnen hatte. Im Handumdrehen war das Zimmer sauber und ordentlich. Stolz betrachtete sie ihr Werk. „Du bist wohl verliebt!“ ertönte eine spöttische Stimme hinter ihr. „Ja, oder krank im Kopf“, fügte Randy hinzu. „Seid ruhig, ihr Idioten“, gab Penny zurück. Aber die beiden streckten ihr nur die Zunge raus und warfen mit einem Paar Socken nach ihr, das sie zu einem festen kleinen Ball zusammengerollt hatten. Sie hob ihn auf und ging auf den Flur, um ihn zurückzuwerfen. Darauf hatten die Jungs nur gelauert. Ein dichter Hagel von aufgerollten Socken ging auf Penny nieder. Nach zwanzig Minuten Gerenne und Gekreische schlossen sie endlich einen Waffenstillstand und entschieden, lieber eine Partie Risk zu spielen. Penny gewann und fühlte sich dabei so gut, daß sie sogar freiwillig das Spiel wieder wegräumte. Dabei hatte sie die ganze Zeit die Küchenuhr über dem Herd im Auge. Jedesmal, wenn das Telefon läutete, sprang sie auf in der Hoffnung, daß es Tommy oder Fei sei. Aber es war immer falscher Alarm. Es wurde immer später. Penny hatte für ihre Mutter schon das ganze Abendbrotgeschirr abgewaschen und abgetrocknet, als ihr plötzlich ein beunruhigender Gedanke kam. Vielleicht hatten die Lieus gar kein Telefon? Leider hatte sie ihrer Mutter versprochen, ihr die Coupons aus den Anzeigen in Zeitungen und Magazinen auszuschneiden. Penny hatte ihr sogar angeboten, sie nach Sparten zu ordnen. Ihre Mutter brachte einen Stapel Magazine herein und legte sie mit einer Schere auf den Küchentisch. „Das kann ja ewig dauern!“ stöhnte Penny. „Fand ich auch, und deshalb wirst du es ja machen und nicht ich.“ Ihre Mutter fuhr ihr lachend über das kurze Haar. „Viel Spaß. Und schmeiß nichts weg, bevor ich es gesehen habe.“ Penny stellte das Radio an und blätterte die Seiten durch. Nach zwei Stunden war ihr schon fast schlecht. Wenn sie noch ein einziges Sonderangebot sah, würde sie schreien! Sie sah auf die Uhr. Neun. Von dem Stapel hatte sie ungefähr drei Viertel abgetragen. Auf Zehenspitzen ging sie ins Wohnzimmer. Ihre Mutter saß vor dem Fernseher auf dem Sofa. Neben sich hatte sie den Häkelkorb stehen. Als Penny näher kam, sah sie, daß ihre Mutter die Augen geschlossen und den Kopf zur Seite gelegt hatte. Barfuß rannte Penny zur Hintertür. Sie hatte keine Zeit, um Schuhe anzuziehen. Wenn sie zu Fei Lieu wollte, zählte jetzt jede Minute. Zu den ZehnUhr Nachrichten wachte ihr Mutter gewöhnlich wieder auf, und bis dahin mußte sie zurück sein. Mit klopfendem Herzen rannte Penny den Weg entlang. Ab und zu mußte sie
gehen, um wieder zu Atem zu kommen. Bei jedem Auto, das vorbeifuhr, fing sie wieder an zu joggen. Wenn ihre Mutter herausbekam, daß sie um diese Zeit unterwegs war, würden ihr für den Rest des Sommers noch ganz andere Dinge blühen, als nur Coupons aus Zeitungen auszuschneiden. Bald kam die vertraute Allee mit den Maulbeerbäumen in Sicht. Penny rannte den Berg hinauf. Vor der hohen Stuckmauer hielt sie an, bis ihr Atem wieder normal ging. Vorsichtig ging sie auf das schwarze Eisentor zu. Sie drückte dagegen, aber es gab nicht nach. Da entdeckte sie durch die Stäbe ein Vorhängeschloß. „Verdammt!“ stieß sie hervor und starrte auf das Haus. Nur eines der Fenster, auf der rechten hinteren Seite, war schwach erleuchtet. Vermutlich war es ein Schlafzimmer. Penny dachte nach. Allzuviel Zeit hatte sie nicht mehr. Ein Blick nach oben bestätigte ihre Vermutung: Zu dem Haus liefen keine Telefonkabel. Plötzlich kam ihr eine Idee. Sie nahm all ihren Mut zusammen, holte tief Luft und ging zu der Mauer. Nach einer Weile fand sie einen Riß, der groß genug für ihren Fuß war. Sie ergriff einen der alten knorrigen Weinäste, die über die Mauer rankten. In weniger als fünf Sekunden hatte sie sich hochgehangelt. Für einen sportlichen Menschen war die Mauer gerade breit genug, um darauf balancieren zu können. Mit ausgebreiteten Armen lief Penny auf der Mauer entlang. Das jahrelange Bäumeklettern machte sich sehr nützlich bemerkbar. Das einzige Problem waren die dicken Äste der großen Eichen, die über die Mauer hingen und ihren Weg blockierten. Manchmal konnte man einfach drübersteigen, aber einige hingen so hoch, daß sie springen mußte. Das war gefährlich, doch Penny war entschlossen, sich von nichts aufhalten zu lassen, bis sie das kleine erleuchtete Fenster erreicht hatte und mit Fei sprechen konnte. Plötzlich schrie eine Eule auf und flog aus einer der Eichen auf. Penny verlor die Balance, fiel hin und konnte sich gerade noch an einen Ast klammern. Einen Moment lang hing sie in der Luft, dann ließ sie los. Mit einem weichen Plumps landete sie auf dem Boden. Es war nicht schlimmer gewesen, als bei einer Cheerfigur hinzufallen. Penny wischte die Erde von ihrem alten TShirt, das sie normalerweise nicht in der Öffentlichkeit trug. Auch ihre abgeschnittenen Jeans waren schon ziemlich abgewetzt. Sie wünschte, sie hätte sich besser angezogen, falls sie Tommy treffen würde. Der Gedanke an Tommy gab ihr den Mut, zu dem kleinen Fenster auf der rechten Hausseite zu schleichen. Über ihr schien der Vollmond von einem wolkenlosen Nachthimmel. Warum konnte es nicht eine dieser finsteren Nächte sein? Vorsichtig schaute Penny durch das offene Fenster. Der Geruch von Räucherstäbchen stieg ihr in die Nase. An den Wänden hingen Schriftrollen und etwas RotGoldenes in der Ecke. Sie sah wunderschöne blühende Bäumchen. Sie bestanden aus kleinen Seidenblumen, die auf abgestorbene Zweige gesteckt waren. Am liebsten hätte Penny ihren Kopf gehoben, um noch mehr zu sehen, aber sie traute sich nicht. Schnell sondierte sie den Raum auf der Suche nach einem Zeichen von Fei, aber da war nichts. Mit der Hand machte sie ein kratzendes Geräusch auf der Fensterbank. Einen Moment lang passierte überhaupt nichts. Doch dann erschien ein runzeliges Gesicht in der Öffnung. Penny duckte sich erschrocken, ihr Herz schlug wild. Eine grauhaarige Frau schaute aus dem Fenster und sah sich um. Instinktiv ahmte Penny das Geräusch einer Katze nach. Die alte Frau begann, auf Chinesisch zu schimpfen. Dann machte sie „seh!“ und klatschte in die Hände. Penny warf einen Stein in einen entfernten Busch und verhielt sich ruhig. Die alte Frau wartete eine Minute, dann lehnte sie das Fenster an.
Erleichtert atmete Penny auf. Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Sie schlich weiter um das Haus herum. Wenn dies das Zimmer der alten Frau war, waren Fei und Tommys Räume vielleicht auf der anderen Seite. Geduckt lief sie auf die linke Seite des Hauses, aber dort waren alle Fenster dunkel. „So ein Pech“, murmelte Penny enttäuscht. Sie stand auf und streckte sich. Die beiden schienen früh ins Bett zu gehen. Und warum auch nicht? Was konnte man ohne Fernseher, Radio oder Telefon schon anfangen? Wie langweilig mußte das Leben für die beiden sein! Penny wollte gerade wieder gehen, als sie etwas hörte, das wie Musik klang. Die Töne waren so hoch, daß sie nicht genau wußte, was es war. Es hätte auch ein Vogel sein können. Doch dann kam es wieder, und diesmal war es deutlich Gesang. Sie duckte sich wieder und schlich in die Richtung, aus der die Musik kam – aus dem hinteren Garten. An der Hausecke hielt sie an und versteckte sich hinter einem großen Busch. Vorsichtig bog sie einige Äste beiseite, um besser sehen zu können. „Wow!“ flüsterte sie erstaunt. Auf einmal war sie dankbar dafür, daß der Mond so hell schien. Was Penny sah, war wie eine Szene aus ShangriLa. Federhafte Mimosenbäume mit kleinen, zarten rosa Blüten verbreiteten einen exotischen Duft. Dazwischen mischte sich der Geruch von gelben Jasminbüschen, die sich im Abendwind wiegten. Der Garten war viel größer, als Penny ihn je hinter der hohen Mauer vermutet hätte. Ein kleiner Bach plätscherte über glänzende Steine. Sie waren so angeordnet, daß kleine Stromschnellen und Wasserfälle entstanden. Der Bach zog sich durch den ganzen Garten, und seine Quelle schien irgendwo in dem entfernteren Teil zu liegen, der in dunklen Schatten verborgen war. An einer Stelle ergoß sich das Wasser in einen kleinen Teich. Das Ufer war von Felsstücken umrahmt, zwischen denen sich exotische Pflanzen rankten. Unter den Seerosen konnte Penny etwas Rotes und Goldenes schwimmen sehen. An mehreren Bäumen hingen Bambuskäfige, in denen leuchtend bunte Vögel saßen. Andere Vögel flogen frei herum oder saßen auf den Ästen. Am anderen Ende des Teiches, wo der Bach seinen Weg forschte, überspannte eine schmale Holzbrücke das Wasser. Sie führte auf einen Pfad, der sich durch Beete mit orientalischen Gemüsearten zog. Auf der anderen Seite führte die Brücke zu einem freien Platz, auf dem große flache graue Steine zu einem perfekten Kreis gelegt waren. Eine graue steinerne Statue stand an einer Stelle des Kreises und niedrige Steinbänke an zwei anderen. Auf diesen Bänken saßen Fei, Tommy und die grauhaarige Frau. Die alte Frau spielte auf einem seltsam aussehenden Saiteninstrument, das die hohen Töne von sich gab. Tommy spielte eine Art Flöte. Sein Kopf bewegte sich im Rhythmus der Musik. Als er die Flöte absetzte, begann Fei das Lied zu singen, das Penny kurz zuvor schon gehört hatte. Fei sang so hoch und klar wie eine Nachtigall. Penny hatte keine Ahnung, was die Worte bedeuteten, aber sie klangen traurig. Sie starrte in den schwach erleuchteten Garten. Außer dem Mondlicht waren da noch kleine Laternen, die von den Ästen der Bäume hingen oder auf dem Boden in kleinen Vertiefungen standen. Auf dem steinernen Boden zwischen Tommy, Fei und der Frau stand ein Tablett mit einer Teekanne und Tassen darauf. Fei war mit einem hochgeschlossenen seidenen Kimono bekleidet, der ihr bis zu den Knien reichte. Das helle Rosa war
mit Goldstickereien verziert, die durch rote und blaue Fäden unterstrichen wurden. Unter dem langen Umhang trug sie weite Seidenhosen in dem gleichen Rosaton. An den Füßen hatte sie flache Brokatschuhe, die mit Goldfäden durchwirkt und mit Edelsteinen besetzt waren. Wie immer trug sie lange Zöpfe, aber diesmal hatte sie eine große weiße Blüte hineingesteckt. Die alte Frau war ganz ähnlich gekleidet. Nur hatte ihr Kimono eine dunklere Farbe und schien auch nicht aus Seide zu sein. In ihrem Haar steckte keine Blüte. Tommys Kimono war kürzer als Feis und leuchtend blau. Auf dem Rücken hatte er goldene gestickte Drachen. Seine weiten Seidenhosen waren schwarz. Statt der flachen Schuhe trug Tommy schwarze kniehohe Stiefel. Während Penny die alte Frau betrachtete, wie sie mit einem Ausdruck wehmütiger Erinnerung dort saß, konnte sie verstehen, warum der Großvater dieses Leben dem unruhigen und gehetzten der meisten Amerikaner vorzog. Penny hörte noch einen Moment lang zu, bis Fei, Tommy und die alte Frau ihr Lied beendet hatten. Mit ihren sanften Bewegungen goß Fei den Tee ein. Es würde unmöglich sein, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Außerdem wollte Penny die friedliche Szene nicht stören. Sie stand auf. Sie mußte bis morgen warten, um mit ihnen über das Picknick zu sprechen. Leise zog sie sich zurück, bis sie bestimmt außer Sichtweite war, dann drehte sie sich um. „Aah!“ Penny stieß einen kleinen Schrei aus, als sie mit einem kleinen grauhaarigen Mann zusammenstieß, der einen weißen Ziegenbart trug. Auf dem Kopf hatte er einen eckigen seidenen Hut. Schnell duckte sie sich und rannte auf die Mauer vor dem Haus zu. Ächzend sprang sie nach einem der Weinäste und zog sich an der Mauer hoch. Ihre bloßen Füße gruben sich in die weiße rauhe Oberfläche. Oben balancierte sie, so schnell sie konnte, sprang über die tiefhängenden Äste, während sie mit den ausgebreiteten Armen das Gleichgewicht hielt. Schließlich kam sie zur Straße. Mit einem weichen Sprung landete sie auf dem Boden. Ohne sich umzusehen, rannte sie den Hügel hinunter. Auf ihrer Flucht hörte sie das helle Lachen des alten Mannes von der Gartenmauer widerhallen.
5. KAPITEL Am nächsten Morgen backte Penny den Kuchen. Sie hatte beschlossen, das
Picknick auf jeden Fall zu machen, selbst wenn nur die Katze kommen würde. Die
Geschehnisse der letzten Nacht erschienen ihr wie ein Traum. Doch die
Schrammen an ihren Armen und Beinen und ihre schmerzenden Füße erinnerten
sie daran, daß es kein Traum gewesen war.
Sie nahm den Kuchen aus der Form und überzog ihn mit flüssiger Schokolade.
Timmy durfte den Löffel und die Schüssel ablecken.
„Willst du nichts draufschreiben?“ fragte er.
„Nein. Ich habe nichts zu sagen.“ Penny stellte den Kuchen an einen sicheren
Platz, wo er außer Reichweite von Billys gierigen Fingern war.
Als sie gerade die belegten Brote machte, knallte die Hintertür.
„Mm! Das riecht nach Schokoladenkuchen.“ Billy strahlte und betrat zusammen
mit Randy die Küche. Er suchte solange herum, bis er das Versteck gefunden
hatte.
„Hey! Bleib von dem Kuchen weg!“
„Warum? Ist was Besonderes los?“ wollte Randy wissen.
„Nur ein Picknick. Wie jedes Jahr. Weißt du nicht mehr, daß du letztes Jahr dabei
warst?“
„Ach, ja. Das Picknick zu Steves Geburtstag. Ich schätze, da brauchst du den
Kuchen jetzt wohl nicht mehr. Dieses Jahr feiert Steve bei Cassie.“
„Genau“, fügte Billy hinzu, „Randy und ich kommen gerade von dort.“
Penny fuhr herum und starrte die beiden an.
„Was soll das heißen?“
„Wir haben Steve und Cassie geholfen, die Sachen für die Fete ins Haus zu
bringen. Grillfleisch, Bohnen und Kartoffelsalat. Und Wassermelonen und
Eiskrem.“
„Fünf verschiedene Sorten“, erklärte Randy grinsend. „Und als Sandwiches haben
sie diese kleinen Happen, die es immer zu Weihnachten gibt.“
Penny wurde ärgerlich. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß Cassie Fairchild
Sandwiches macht.“
„Macht sie auch nicht“, erwiderte Randy. „Das macht alles die Küchenhilfe. Cassie
sagt ihr nur, was sie tun soll.“
„Typisch!“ knurrte Penny und scheuchte die Jungs aus der Küche. „Los, raus hier,
ich habe zu tun.“
„Zu deinem blöden Picknick geht doch sowieso niemand. Ich und Billy und Steve
gehen alle zu Cassies Party“, rief Randy, als sie ihn aus der Tür schob.
„Du solltest mal ihren Swimmingpool sehen“, meinte Billy, während er versuchte,
sich wieder in die Küche zu drängeln.
„Und ihren Kamin, der ist aus Marmor!“ rief Randy aus dem Garten.
„Mensch, haut ab!“ schrie Penny ihnen nach. Lachend rannten die Jungs zu dem
alten Pinienbaum. Penny warf die Tür zu. Seufzend ging sie zurück an den
Küchentisch und konnte nur mühsam ihre Tränen zurückhalten.
„Penny, kann ich mit zu deinem Picknick kommen?“ fragte Timmy und stibitzte
den Thunfisch von einem der Brote. Sie umarmte ihn. Warum sollte sie sich von
Cassies Party aus der Fassung bringen lassen? Sie stellte die Sandwiches in den
Kühlschrank. Das war eine Menge Essen, die sie da vorbereitet hatte. Was für
eine Verschwendung, falls niemand kam! Nur für sie und Timmy würde ihre
Mutter wohl kaum den ganzen Weg nach Possum Kingdom Lake fahren.
Um elf Uhr war die Küche wieder sauber. Bestimmt waren Fei und Tommy jetzt
schon aufgestanden. Es hätte Penny nicht überrascht, wenn die beiden
womöglich schon bei Tagesanbruch aufstehen und meditieren mußten. Sie zog die Tennisschuhe über ihre zerkratzten Füße und ging zur Vordertür. Als sie im Flur an dem Spiegel vorbeikam, blieb sie stehen. Ihre Shorts waren schmutzig, das große TShirt verknittert und ihre Haare unordentlich. Prüfend studierte sie ihr Spiegelbild. Dann drehte sie sich um und lief zurück in ihr Zimmer. Nach einigem Suchen fand sie die Bluse, die sie zur Hochzeit ihrer Schwester getragen hatte. Sie war hellrosa, weich wie Seide und hatte eine lange Reihe von Perlenknöpfen, bis hinauf zu dem hohen Kragen. Die Ärmelenden waren mit Spitze umnäht, die ihre Finger schmal und graziös aussehen ließen. Penny streifte die Bluse über. Immer noch in ihren schmutzigen Shorts, lief sie zum Schrank ihrer Mutter und wühlte in der Kiste mit Altkleidern. Ihre Finger ertasteten etwas Weiches, und sie zog es heraus. „Das ist es!“ rief Penny und zog eine schwarze seidene Pyjamahose heraus. Das Oberteil war kaputt, aber die Hose völlig in Ordnung. Sie probierte sie an. Der Stoff war zerknittert und um die Hüfte ein bißchen zu weit. Penny behob das Problem mit einem schwarzen Seidenschal, den sie sich um die Taille band. Mit offenem Mund starrte Timmy sie an, als sie durchs Wohnzimmer kam, aber er sagte kein Wort. Doch die beiden Jungs im Garten sprangen lachend und mit ausgestreckten Fingern um sie herum. Penny ignorierte sie und machte sich auf den Weg zu Feis Haus. Als sie am Fuße der Mulberry Lane um die Ecke bog, hielt sie an. Von einem der Rosenbüsche pflückte sie eine Blüte und steckte sie in ihr Haar, bevor sie den Hügel hinaufstieg. Bald erreichte Penny die große eiserne Gartenpforte. Diese alten Mauern bargen ein wunderschönes Geheimnis! Sie konnte es nicht erwarten, auch den Rest des Hauses zu sehen. Hoffentlich würde sie diesmal jemand hereinlassen. Das Tor war nicht verschlossen. Es stand sogar ein wenig offen, als würde man sie erwarten. Vorsichtig drückte sie dagegen. Es quietschte laut. Nachdem Penny zweimal geläutet hatte, klopfte sie an die hölzerne Tür. Sie wurde einen Spaltbreit geöffnet, und zwei riesige dunkle Augen starrten sie aus der Dunkelheit an. „Penny Graham?“ sagte Fei Lieu leise. „Du bist es?“ Penny lächelte. „Ja. Überfalle ich dich?“ Fei legte die Hand auf den Mund, um ein Kichern zu unterdrücken, aber ihre Augen verrieten sie. „Okay, okay. Ich sehe also nicht aus wie Madame Butterfly, aber ich habe es wenigstens versucht, oder?“ Penny hob die Arme und drehte sich herum, damit Fei ihre Kreation besser betrachten konnte. „Oh, ja, bitte entschuldige, ich wollte nicht unhöflich sein. Ich lache nicht über deinen Aufzug. Es ist nur…“ Fei wußte nicht weiter, und Penny hob die Hand. „Schon gut, ich weiß, daß es seltsam aussieht. Jedenfalls bin ich hier. Also, was hat er gesagt?“ Fei sah sie verwirrt an und öffnete die Tür einen Spalt mehr. „Wie bitte? Was hat wer gesagt?“ „Na, dein Großvater.“ Fei schien immer noch nicht zu verstehen, deshalb fuhr Penny fort: „Was hat dein Großvater dazu gesagt, daß ihr mit zum Picknick kommt?“ „Tut mir leid, ich verstehe immer noch nicht. Hast du bei unserem letzten Treffen was von einem Picknick gesagt? Das muß ich vergessen haben. Bitte entschuldige.“ „Du meinst, dieser Riesenhornochse hat dir nichts davon gesagt? Nach all dem,
was ich letzte Nacht auf mich genommen habe, wo ich beinahe gestorben bin und…“ Sie unterbrach sich. Fei mußte von ihrem nächtlichen Ausflug nicht unbedingt erfahren. Besonders nicht von dem Hausfriedensbruch und der Spionage. „Wen meinst du mit ,Riesenhornochse’?“ fragte Fei. „Deinen Bruder Tommy.“ Penny erzählte ihr die ganze Geschichte, von ihrem Zusammenstoß mit Tommy und der Einladung zum Picknick. „Weil sich bis jetzt niemand gemeldet hat, bin ich selbst hergekommen, um rauszufinden, was los ist. Das Picknick ist morgen, weißt du, und ich brauche eine Antwort.“ „Tommy hat mir nichts davon gesagt.“ „Vielleicht hat er nur vergessen zu fragen.“ „Das glaube ich nicht. Du weißt nicht, wie Großvater sein kann.“ „Vielleicht besser, als du denkst“, murmelte Penny leise, als ihr der alte Mann mit dem Ziegenbart und dem eckigen Seidenhut wieder einfiel. „Tut mir leid, dich zu enttäuschen, Penny Graham.“ „Macht nichts, es ist ja Tommys Schuld. Laß ihn uns einfach jetzt fragen.“ Unruhig schaute Fei sich um, bevor sie die Tür noch etwas weiter öffnete, um Penny hereinzulassen. Neugierig sah Penny sich um. Sie bewunderte die nachgemachten Bäume und die antiken Schriftrollen, die an den Flurwänden hingen. Mit ihren gelben, weißen und rosa Blüten sahen die Bäume so echt aus, daß Penny sie berühren mußte, um sicher zu sein, daß sie nur aus Seide waren. Fei führte sie durch den Flur, und dabei konnte Penny einen Blick in das Wohnzimmer werfen. Es war mit niedrigen Möbeln ausgestattet. Auf dem Tisch standen Figuren und Vasen. Ein langer Paravent unterteilte den Raum, der mit vielen Landschaftsszenen sorgfältig bemalt war. Penny hätte gerne mehr gesehen, aber Fei ging schnell auf die letzte Tür zu. Sie zog sie auf. Tommy riß vor Erstaunen die Augen auf, als er Penny sah. „Was tust du denn hier?“ fragte er und schaute schnell in den Garten. Er nahm ihren Arm und zog sie ins Zimmer. Fei kam hinterher. Tommy blickte noch einmal über den Flur und schloß die Tür. „Ich habe auf deine Antwort gewartet. Hast du deinen Großvater schon wegen des Picknicks gefragt?“ „Großvater?“ Er sah Fei an. Sie sah wieder wie ein verängstigtes Kaninchen aus. Dann sagte sie auf chinesisch etwas zu Tommy. Penny wußte, daß die beiden über sie redeten. Plötzlich lächelte Tommy. „Ah, ja, das Picknick. Ich habe auf den richtigen Moment gewartet, um Großvater zu fragen. Gestern abend war er… äh… zu beschäftigt, und heute hat er schon ganz früh mit der Meditation angefangen. Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit ihm zu reden.“ „Mit anderen Worten, du bist ein Feigling“, stellte Penny fest. „Vielleicht möchtest du Großvater lieber selbst fragen.“ Penny dachte an den kleinen Mann, mit dem sie letzte Nacht zusammengestoßen war. Irgend etwas in seinen Augen war ihr unheimlich. Vielleicht kam es daher, daß sie wußte, daß er sie mit einer winzigen Bewegung in Stücke brechen konnte, wenn er wollte. Vielleicht hatte sie auch Angst, weil er sie auf seinem Grundstück erwischt hatte. „Na?“ meinte Tommy herausfordernd und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wer ist hier der Feigling?“ Pennys Augen verdunkelten sich. „Okay! Komm, wir fragen ihn sofort!“ Sie stand nahe vor Tommy und sah ihm direkt in die Augen. Niemand nannte sie ungestraft einen Feigling! Außerdem war es dunkel gewesen, und womöglich sahen für den alten Mann alle Amerikaner gleich aus.
Tommy grinste sie an, und ihr Herz machte einen Sprung.
„Komm, wir gehen hin und fragen ihn“, wiederholte sie.
„Ich fürchte, das ist jetzt nicht möglich, Großvater meditiert immer noch“,
bemerkte Fei.
„Und wie lange kann das dauern?“
„Manchmal ein paar Stunden. Oder Tage“, erwiderte Tommy.
Penny stöhnte. „Na gut, ich sehe mir das mal an. Wenn er mich warten sieht,
kommt er vielleicht aus seiner Versenkung. Einfach dazusitzen, während dich
jemand anstarrt, wäre nicht sehr höflich.“
Fei und Tommy sahen sich an, sagten aber nichts. Fei führte Penny in den
Garten. Zuerst sah Penny den kleinen Mann überhaupt nicht, der mit einem
grauen Kimono bekleidet und mit überkreuzten Beinen in der Mitte des
Steinkreises saß. Unbeweglich saß er da und kehrte ihr den Rücken zu.
Fei brachte Penny zu den Steinbänken.
„Du kannst hier sitzen und auf ihn warten, aber bitte, sprich ihn nicht an oder
störe ihn sonstwie. Wenn er will, wird er dich zur Kenntnis nehmen. Aber du
darfst nicht so unhöflich sein, daß du nach einer Weile schon wieder gehst.
Geduld bewundert er sehr.“
„Na toll!“ flüsterte Penny. „Das ist so ziemlich meine schwerste Übung!“
„Vielleicht solltest du doch später wiederkommen…“
„Nein, nein. Ich laß mich nicht verjagen. Ich werde auf ihn warten, und wenn es
den ganzen Tag dauert. Ich könnte sogar selbst etwas meditieren.“
„Du bist hartnäckig. Die Eigenschaft bewundert er auch. Aber bitte, erwarte
nicht, daß er zu irgend etwas Ja sagt. Ich habe es dir ja schon erklärt, er lehnt
alles Amerikanische ab.“
„Woher soll er wissen, daß ich Amerikanerin bin, wenn ich nicht mal den Mund
aufmache?“
Fei lächelte. „Er ist weiser als die Berge. Wenn du überhaupt mit ihm reden
darfst, ist das schon ein Wunder.“ Fei drückte Pennys Hand und lief den Pfad
zurück.
Langsam ging Penny auf den alten Mann zu. Nachdem sie dort fünf Minuten
gestanden hatte, räusperte sie sich. Der Alte bewegte sich nicht.
Also setzte sie sich so leise sie konnte auf eine der steinernen Bänke und starrte
seinen Rücken an. Sein Haar war ziemlich lang und zu einem Pferdeschwanz
gebunden, der auf dem Kopf grau war, aber nach unten zu dunkler wurde. Den
eckigen Hut hatte er immer noch auf dem Kopf. Er saß still wie eine Statue, seine
schmale Figur in mehrere Lagen grauer Seide gehüllt.
Fast eine halbe Stunde lang saß Penny da. Sie zählte die Fruchtbäume, deren
Blüten schon lange heruntergefallen waren und durch kleine Pflaumen, Pfirsiche
oder Kirschen ersetzt worden waren. Dann lenkte sie ihre Aufmerksamkeit auf
die Brücke, die den Bach überspannte. Im Wasser konnte sie rot
goldgesprenkelte Fische erkennen.
Langsam atmete Penny ein und aus. Die Sonne stieg schnell, und kleine
Schweißtropfen liefen ihre Schläfen hinunter. Ihre Kehle war ausgetrocknet, und
sie wünschte, sie wäre zu einer kühleren Tageszeit gekommen. Ihr Rücken
begann zu jucken. Am liebsten hätte sie geschrien, um den alten Mann
aufzuwecken. Nach einer Weile legte die Sonne sich auch auf sein Gesicht.
Bestimmt würde er bald aufhören.
Penny hörte ein Geräusch und drehte sich um. Sie sah die Vögel, deren Käfige
von den Eichen hingen. Sie waren nicht so groß wie Papageien, aber größer als
Sittiche.
Sie wischte sich den Schweiß aus der Stirn und sah den alten Mann wieder an.
Der Alte saß noch genauso da wie vorher, doch jetzt hatte er sich zu ihr gedreht,
und seine Augen waren geöffnet!
Penny schluckte. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte, ihr klebte die Zunge am
Gaumen. Alles, was ihr einfiel, war eine kleine Verbeugung.
Das Gelächter, das ertönte, war das gleiche wie letzte Nacht.
Seine schmalen Augen musterten sie. Dann hob er die Hand und zeigte mit dem
Finger auf sie. Mit schwerem Akzent sagte er: „So, die Leopardin hat den Platz
gewechselt!“
6. KAPITEL Penny war wie erstarrt. Dann räusperte sie sich und strich mit nervösen Fingern
eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht.
„Heute kommst du auf andere Art zu mir als letzte Nacht.“ Durch seinen starken
Akzent war der alte Mann teilweise schwer zu verstehen.
„Letzte Nacht?“
„Hm! Streitest du ab, letzte Nacht auf die Mauer geklettert und drüberbalanciert
zu sein? Und als du gefallen bist, hast du dich da nicht an einem Ast festgehalten
und bist dann auf den Boden gesprungen?“
„Nun…“
„Dann hast du dich zu Sung Hoas Fenster geschlichen und hineingeschaut. Als sie
herausguckte, hast du das Geräusch einer Katze nachgeahmt. Und bist du
danach nicht auf die andere Seite geschlichen und hast meine Familie bei einer
höchst persönlichen Zeremonie beobachtet?“
„Aber, ich kann das erklären…“
„Und als du entdeckt wurdest, bist du wie ein verängstigter Hase geflohen!“
„Es ist nicht so, wie Sie denken, Sir.“
„Streitest du ab, Hausfriedensbruch begangen zu haben?“ Seine Stimme war
scharf und hoch. In der Hand hielt er einen kurzen Stock, der aus einem Ast
gemacht war und von vielen, jahrelangen Berührungen glänzend geworden war.
Der Mann unterstrich seine Worte, indem er mit dem Stock auf den Boden
schlug.
Penny zuckte zusammen und trat ein paar Schritte zurück.
„Äh, nein, ich streite es nicht ab, aber ich kann alles erklären.“ Sie erwartete
schon fast, einen Stockhieb abzubekommen, doch er stand nur schweigend da
und schaute sie an.
„Nun?“ meinte er schließlich. „Ich warte auf deine Erklärung.“
„Okay, das war so: Gestern Nachmittag habe ich Tommy und Fei zu einem
Picknick am Possum Kingdom Lake eingeladen – PKLake sagen wir hier.
Jedenfalls, Tommy sagte, daß er Sie erst um Erlaubnis fragen müßte. Also gab
ich ihm meine Nummer, damit er mich zurückruft, wenn er was weiß.“
„Eine dumme Idee. Wie du siehst, gibt es hier kein Telefon.“ Lautlos stand er auf,
seine dunklen Augen blitzten. Pennys unangenehme Lage schien ihn zu erheitern.
„Aber das wußte ich nicht! Ich habe gewartet und gewartet, und als Tommy sich
nicht meldete, bin ich selbst hergekommen, um zu fragen. Ich wollte nichts
stehlen oder spionieren, das schwöre ich!“
„Schwören ist nicht nötig. Aber ich fürchte, daß dein Abenteuer ganz umsonst
war, denn Teh hat mich nicht gefragt. Und das war eine sehr weise Entscheidung
von ihm. Damit hat er sich die Niederlage erspart, ein Nein zu hören und eine
Lektion über die Sinnlosigkeit der amerikanischen Freizeitgestaltung zu
bekommen.“
„Sinnlos? Ein Picknick? Was tun Tommy und Fei hier, wenn sie sich amüsieren
wollen?“
„Kung Fu natürlich. Kung Fu ist alles. Körperliche Fitness, geistige Wachheit und
innere Entspannung.“
„Aber ich dachte, daß Kung Fu nur eine Art Kampf ist oder Selbstverteidigung.“
„Eine typisch westliche Einstellung. Ihr seht eine Wassermelone von außen und
kommt zu dem Schluß, daß die Frucht durch und durch grün und hart sein muß.
Aber wenn du tiefer hineinschneidest, erlebst du eine Überraschung. Kung Fu ist
eine Lebensart. Der Kampf, wie du es nennst, ist nur ein winziger Teil dieses
Lebens.“
Penny rutschte unruhig hin und her und spielte mit der Blume in ihrem Haar, bis die Blütenblätter abfielen. Der alte Mann ließ sich über die Vorzüge des Kung Fu aus. Als er Luft holte, sprang Penny schnell dazwischen. „Heißt das nun, daß die beiden nicht mit dürfen, oder was?“ Einen Moment lang starrte der Alte sie an. „Ja. Sie können nicht kommen. Aber du, junge ungeduldige Amerikanerin, du kannst gehen.“ Er zeigte mit dem Stock in Richtung des Gartentores. Dann drehte er sich um und ging den Pfad entlang zum Teich. Der Stock tippte neben seinen Füßen auf den Boden. Seine weichen schwarzen Schuhe machten auf dem Steinpfad kein Geräusch. Sein Gang war so anmutig, daß er über den Boden zu schweben schien. Penny dachte darüber nach, was er gesagt hatte. Dann lief sie hinter ihm her. Sie sah, wie er sich vorbeugte und die Fische fütterte, die ihm aus der Hand fraßen. „Ich habe viel Zeit damit verbracht, einen Kuchen zu backen und belegte Brote zu machen“, sagte sie zu seinem Rücken. „Süßigkeiten sind schädliche Erfindungen des Westens und Gift für den menschlichen Körper“, erwiderte der Alte, ohne sich umzudrehen. „Sandwiches sind voller Chemie. Es ist für meine Enkelkinder besser, wenn sie kein unsauberes Essen zu sich nehmen.“ Penny wurde ärgerlich. „Und was essen Sie dann auf Ihren Picknicks?“ „Kalten Reis, der in flache Scheiben gepreßt ist. Und Fisch natürlich. Tintenfisch ist eine Köstlichkeit. Aus Seetang macht man eine Masse, die in Würfel geschnitten einen wunderbaren Nachtisch abgibt, falls man einen haben muß. Melone ist ein perfekter Abschluß für ein Essen. Und jetzt, junge Dame, geh bitte.“ Der alte Mann stand noch immer vornübergebeugt und sprach auf chinesisch mit den Fischen. Als er weiterging, schwammen sie mit offenen Mäulern neben ihm her. Penny drehte sich um und ging auf das Haus zu. Sie sah Fei und Tommy, deren Gesichter an die Fensterscheibe von Tommys Zimmer gedrückt waren. Tommy hatte sie feige genannt. Mit neuer Entschlossenheit spannte Penny ihre Schultern und holte tief Luft. Dann ging sie geradewegs zurück zu dem alten Mann. „Mr. Lieu?“ „Ja?“ Er blickte nicht auf. „Sind Sie niemals jung gewesen?“ „Doch.“ „Nun, als Sie fünfzehn waren und in China lebten, was haben Sie da in ihrer Freizeit getan? Sind Sie nie mit Freunden zum Picknick gegangen?“ Langsam drehte der Alte sich um. „Junge Dame, als ich fünfzehn war, war ich ein treuer Schüler des Kung Fu. Ich habe tagelang gefastet, um meinen Körper und Geist zu reinigen. Ich habe alles getan, was mein Meister mir auftrug. Mit unerträglich schweren Felsbrocken auf meinem nackten Rücken lief ich über gefährliche Kliffs und balancierte über angespitzte Bambusstangen. Das alles habe ich nur für meinen Sifu, meinen Meister getan. Wenn ich alles ohne blutende Hände und Schultern und ohne zerstochene Füße überstanden hatte, war ich glücklich. Das, junge Dame, habe ich zu meinem Vergnügen getan.“ „Haben Sie denn nie jemanden geliebt? Sind Sie nie heimlich zum alten Yangtze Fluß geschlichen, um sich mit ihr zu treffen?“ Der alte Mann richtete sich auf. Eine ganze Minute lang schien er sehr weit weg zu sein. Dann sah er sie an. Seine schwarzen Augen blickten hart wie Kristall. „Geh jetzt bitte. Dies ist deine dritte Warnung. Und solltest du vorhaben, Fei und
Teh ohne meine Erlaubnis mitzunehmen, werden sie dafür bitter bezahlen. Die
Strafe wird furchtbar sein.“
Penny dachte an die Felsbrocken, die der Alte „zum Vergnügen“ geschleppt
hatte. Was mochte für ihn wohl eine „furchtbare Strafe“ sein? Bei dem Gedanken
schauderte sie.
Als der alte Mann weiterging, bemerkte Penny, daß er seinen Stock im Gras
neben dem Teich hatte liegengelassen. Sie hob ihn auf und ging langsam hinter
ihm her. Vor lauter Anspannung begann sie, den Stock so in ihrer Hand
herumzuwirbeln, wie sie es bei den Cheerleaderübungen von ihrer Schwester
Cindy gelernt hatte. Der Stock war etwas länger, aber trotzdem hatte Penny
keine Probleme, ihn leicht um ihre gelenkigen und trainierten Finger zu drehen.
Während sie mit dem wirbelnden Stock weiterlief, hielt der alte Mann plötzlich
an. Er legte den Kopf zur Seite und fuhr lautlos herum.
„Stop! Was tust du da?“
Penny ließ den Stock fallen. Er knallte auf die Steine.
„N… nichts“, stammelte sie.
„Nein, bitte heb ihn wieder auf und mach weiter. Zeig mir, wie du das gemacht
hast.“
Penny fing wieder an, den Stock herumzuwirbeln. Leicht und schnell drehte sie
ihn um die Hüfte, unter ihrem Bein durch, über ihren Rücken und die Schultern,
und schließlich warf sie ihn hoch in die Luft und fing ihn, immer noch drehend,
wieder auf. Sie fiel auf ein Knie und verbeugte sich, wie ihre Schwester es so oft
getan hatte.
Ein überraschter Ausruf entfuhr dem Mann. Er kam näher, nahm ihr den Stock
aus der Hand und wirbelte ihn herum.
„Wo hast du den Short Bo gelernt?“
„Den was?“ Penny verstand nicht. Sie stand wieder auf und klopfte die Erde von
ihrer Hose.
„Den Short Bo. Du beherrschst ihn ausgezeichnet. Manche Schüler brauchen
Jahre, um solche Schnelligkeit und Eleganz zu erreichen. Wer ist dein Lehrer?“
„Äh, mein Lehrer ist eine ältere Verwandte.“ Penny traute sich nicht zu sagen,
daß die „ältere Verwandte“ ihre Schwester war.
Der Alte strich sich durch den Bart. Zum ersten Mal schien er wirklich beeindruckt
zu sein, und Penny nutzte die Gelegenheit.
„Wissen Sie, es ist wirklich zu schade, daß Fei, Tommy und ich uns nicht treffen
können. Wir wollten über Kung Fu sprechen und Ideen austauschen. Ich möchte
unbedingt mehr Chin Na lernen. Aber wenn wir uns nicht sehen dürfen, dann
muß ich wohl zu jemand anders gehen.“ Sie drehte sich um.
„Warte.“ Mit einem erleichterten Seufzer wandte sie sich wieder zu ihm.
„Möglicherweise kann das Picknick arrangiert werden.“
Penny ließ einen Freudenschrei los, aber der Alte winkte sie zur Ruhe.
„Es müßte nur hier im Garten sein und nicht an diesem See.“
„Oh…“
„Und hinterher werden wir sehen, was dein Meister dir noch beigebracht hat.“
„Gerne“, gab Penny mit einer Vorbeugung zurück. „Wenn es Ihnen recht ist,
werde ich morgen früh um zehn Uhr hier sein.“
„Wohin fahren wir, Mom?“
„Oh, ich muß noch einiges im Supermarkt besorgen. Könntest du Timmy im Auge
behalten und mir bei den Einkäufen helfen?“
Schnell stimmte Penny zu. Das war die Gelegenheit, ihrer Mutter zu sagen, daß
sie nicht zum Picknick an den See fahren würde. Früher oder später würde sie ihr
auch beibringen müssen, daß sie Kung Fu lernen wollte. Wie erwartet, zögerte
ihre Mutter. Doch schließlich willigte sie ein, daß Penny so lange Stunden nehmen dürfe, wie sie sich nicht verletzte. Außerdem war sie erleichtert, daß sie nun doch nicht den ganzen Weg zum PKLake fahren mußte. Das Picknick würden sie einfach an einem anderen Tag im Sommer machen. Als sie schließlich den Parkplatz vor dem Supermarkt verließen, lehnte Penny sich zurück. Sie war müde. Der Tag war lang und schwer gewesen, und sie konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen, ein Bad zu nehmen und im Bett zu verschwinden. Als sie die Water Street herunterfuhren, hörte Penny Musik. An den Echos und dem lauten Gelächter konnte man hören, daß es eine Live Band sein mußte. Sie setzte sich auf und guckte aus dem Fenster. Ihre Mutter war eine Abkürzung gefahren, die genau an Cassies Haus vorbeiführte. Das große Backsteingebäude auf dem Hügel war hell erleuchtet. Aus allen Richtungen erscholl Gelächter. Penny hörte Mädchen schreien und das Geräusch von aufspritzendem Wasser. Der Geruch von Feuer und Grillfleisch erfüllte die Luft. „Mm, das riecht gut. Was ist denn in dem FairchildHaus los?“ fragte ihre Mutter. „Da sind Billy und Randy hingegangen“, meinte Timmy schnell. „Es findet eine große Party für Steves Geburtstag statt.“ „Steve? Etwa dein Steve?“ Fragend wandte sie sich an Penny. Penny wurde rot. Zum Glück wurde es schon dunkel. „Oh, Mom, er ist nicht ,mein’ Steve! Wir haben doch schon vor Ewigkeiten Schluß gemacht.“ Sie seufzte laut. „Bist du deshalb heute nicht auf dieser Party?“ „Nein, Mom.“ „Sie ist gar nicht eingeladen worden!“ verkündete Timmy in der Absicht, seiner großen Schwester zu helfen. „Oh, Schatz, das tut mir so leid. Ich bin sicher, es wird dieses Jahr noch andere Partys geben.“ Penny blies sich die Haare aus der Stirn und ließ sich wieder zurückfallen. Doch als sich das Auto dem Haus näherte, hörte sie ein vertrautes Lachen. Sie sah gerade rechtzeitig hinaus, um Cassie und Steve zu entdecken, die Arm in Arm an der Hecke standen.
7. KAPITEL Am nächsten Morgen stand Penny früh auf. Sie packte die Brote in den
Picknickkorb und legte Chips, MixedPickles und verschiedene andere Sachen
dazu. Dann bedeckte sie den Korb mit einem rotweiß karierten Tischtuch.
Als sie mit ihrer Last den Hügel der Mulberry Lane hinaufgeklettert war und die
Sachen vor der Haustür abstellte, taten ihr die Arme weh. Sie klopfte an die Tür.
Sie wurde sofort geöffnet.
Fei hatte sich herausgeputzt, als ginge sie zu einer Hochzeit und nicht zu einem
Picknick. Ihre Hose und der Umhang waren aus glänzendem Stoff. Der Kimono
war mit feinen Stickereien verziert. Sogar ihre Schuhe waren aus einem weichen
Material, mit Brokatdrachen drauf.
Fei lächelte und nahm wortlos den Korb. Als sie durch den Flur gingen, konnte
Penny schwere süße Düfte aus der Küche riechen. Durch die offene Tür sah sie
die grauhaarige Frau, die mit einem langen Messer Gemüse kleinschnitt. Wortlos
sah sie Penny an und verbeugte sich leicht. Mit kleinen Schritten durchquerte sie
die Küche und nahm einen großen eisernen Wok vom Haken.
„Ist das deine Großmutter?“
„Oh, nein. Das ist die ältere Schwester meines Großvaters, Tante Sung Hoa.“
„Stimmt, hatte ich vergessen. Und wo ist dein Großonkel?“
„Ich habe keinen. Tante Sung Hoa hat nie geheiratet.“
„Im Ernst? Wieso nicht?“
„Das ist eine ziemlich traurige Geschichte. Ich erzähle sie dir später mal.“
Penny warf einen Blick zurück auf die alte Frau, die geschäftig durch die Küche
lief und etwas vorbereitete, das wie verschiedene Sorten Essen aussah. Sie
bewegte sich leicht und gerade, und ihre dunklen Augen blitzten vor Neugier.
Penny bemerkte ihr erstaunlich faltenloses Gesicht. Sie erwiderte die Verbeugung
und folgte Fei rasch in den Garten.
Dort blieb sie regungslos stehen, als sie Tommy entdeckte, wie er eine Reihe
schneller komplizierter Bewegungen ausführte. Er bewegte sich so graziös, daß
es Ballett hätte sein können. Doch sein Muskelspiel erinnerte Penny daran, daß
das, was er da übte, auch tödlich sein konnte.
„Hier lang, Penny.“
Sie riß sich von Tommys Anblick los und folgte Fei zu dem Kreis mit den
Steinbänken. Der Platz lag im Schatten eines riesigen Kirschbaumes.
„Tommy ist wirklich gut. Was ist das, was er da macht?“
„Man nennt es eine Sequenz oder einfach eine Form.“
„Sieht aus wie eine Art Tanz.“
„Weit gefehlt! Jede Bewegung ist eine Abwehr, ein Stoß oder ein Griff, den man
im Kampf verwendet. Man wiederholt die Folge immer und immer wieder, so daß
man sie in einer Kampfsituation so ganz instinktiv und ohne nachzudenken
anwenden kann.“
„Was meinst du damit?“
„Ich zeig’s dir. Zum Beispiel, wenn er so macht…“ Fei stand auf einem Bein. Mit
einer eleganten Bewegung legte sie den freien Fuß auf das Knie und behielt dabei
die ganze Zeit das Gleichgewicht, wie ein Flamingo. „...dann hat er gerade sein
Knie vor dem Schlag eines Angreifers geschützt.“
„Jetzt verstehe ich.“
„Wenn er so macht…“ Schnell verlagerte Fei ihr Gewicht vom vorderen auf das
hintere Bein. „…hat er einen Schlag auf sein Gesicht abgewehrt.“
Fei gab Penny noch ein paar Beispiele, während sie Tommy beobachteten. Als er
fertig war, winkte er Penny zu und kam herüber.
„Mm, das riecht aber gut. Was hast du in dem Korb?“ Er hob die Tischdecke hoch. „Sandwiches. Das ist toll! Ich bin noch nie bei einem Picknick gewesen. Wie fangen wir an?“ „Nun, zuerst muß man einen Platz suchen, an dem einen bestimmt sämtliche Ameisen aufspüren. Dann muß man den Himmel ganz genau beobachten, denn sowie man alles ausgebreitet hat, fängt es an zu regnen.“ Sie mußten alle lachen und packten dann den Korb aus. Tommy half Penny, das Tischtuch auf dem Boden auszubreiten. Auf die vier Ecken legten sie Steine, um es zu beschweren. „Oh, ich habe vergessen, etwas zu trinken mitzubringen!“ „Das macht nichts. Tante Sung Hoa bringt uns gleich Tee.“ Tommy und Fei deckten alles Essen auf, bis auf den Kuchen. Wahrscheinlich zögerten sie, weil der Großvater sie vom Fenster aus beobachtete. Obwohl sie den alten Mann nicht sehen konnte, wurde Penny das Gefühl nicht los, daß seine durchdringenden schwarzen Augen jede ihrer Bewegungen verfolgten. Tante Sung Hoa brachte eine dampfende Teekanne und kleine Schälchen heraus, und Penny trank zum erstenmal in ihrem Leben Jasmintee. „Möchten Sie ein Sandwich?“ fragte sie die alte Frau. Tante Sung Hoa schüttelte höflich und schweigend den Kopf. „Spricht sie kein Englisch?“ wollte Penny wissen, als die Frau mit kleinen Schritten auf das Haus zulief. Ihr langes graues Kleid berührte gerade eben den Boden. „Doch, sie hat es jahrelang gelernt, aber jetzt hat sie keine Gelegenheit mehr, mit Amerikanern zu sprechen. Als wir in Kalifornien lebten, hatte sie viele Freunde und ist oft in die Stadt gegangen. Sie hat sich nicht so zurückgezogen wie Großvater“, erklärte Tommy. „Sogar Großvater war früher anders, bis…“ Fei unterbrach sich und senkte den Kopf. „…bis zu dem Unfall.“ Penny verstand. Ihre eigene Familie lebte nach dem Tod ihres Vaters sehr zurückgezogen. Es hatte Jahre gedauert, bis das Leben für sie wieder normal geworden war. Schnell wechselte sie das Thema und erkundigte sich nach dem Bach, dem Fischteich, den exotischen Pflanzen und den Vögeln. Bald war die Unterhaltung wieder leicht und beschwingt. Nach einigen Minuten brachte Tante Sung Hoa einen fremd aussehenden geflochtenen Bambuskorb heraus. Er hatte große Ähnlichkeit mit einer Hutschachtel, doch als sie den Deckel hob, stieg eine wundervoll riechende Dampfwolke heraus. Obenauf lag eine Reihe weißlicher Kugeln. „Was ist das?“ „Dim Sum. Knödel“, erklärte Fei. „Sie sind gefüllt. Mal sehen, was hier drin ist. Mm… das sind Garnelen.“ Geschickt pickte Tommy sich mit zwei Stäbchen einen Knödel heraus und steckte ihn in den Mund. Dann nahm er sich einen anderen, der etwas dunkler aussah. „Ah, dieser ist mit… oh, meine Lieblingsfüllung… feng koa… Krabbenfleisch!“ Penny beneidete Tommy und Fei, die so leicht mit den dünnen langen Stäbchen umgehen konnten. Als Tommy ihre Unbeholfenheit bemerkte, lachte er und half ihren ungelenken Fingern, die Stäbchen richtig zu halten. Nach einigen Versuchen brachte Penny es fertig, ein kleines Stück Knödel in ihren Mund zu bekommen. „Auf diese Art kann man ja verhungern!“ meinte Penny und versuchte, einen weiteren Bissen zu erwischen. Fei und Tommy unterdrückten höflich ein Lachen, als Penny sich wieder und
wieder bemühte. Schließlich spießte sie den Knödel mit dem spitzen Ende des Stäbchens einfach auf. Nachdem die drei gegessen hatten, räumten sie die Reste weg und schüttelten das Tischtuch aus. Fei und Penny halfen Tante Sung Hoa, die Schüsseln und den Korb in die Küche zurückzutragen. Als sie wieder herauskamen, war Tommy schon in seiner Ecke und übte an einer langsamen KungFuSequenz. Die Mädchen setzten sich unter den Kirschbaum. Penny streckte sich in dem kühlen grünen Gras aus und lehnte sich an den Baumstamm. „Erzähl mir von deiner Tante. Sie kocht phantastisch. Sie ist sehr nett und sieht immer noch gut aus. Ich wette, sie hatte eine Menge Freunde, als sie jung war.“ Fei nickte. „Hatte sie auch. Einen Moment bitte, ich möchte dir was zeigen.“ Fei stand auf und lief auf leisen Sohlen ins Haus. Während Penny wartete, sah sie Tommy zu. Noch nie hatte sie etwas so Schönes und Kraftvolles gesehen, außer vielleicht Tänzer in Filmen. Aber sogar die waren nichts gegen die Kraft, mit der er hochsprang, sich drehte und mit Lichtgeschwindigkeit Tritte ausführte. Ihr Herz schlug schneller, als sie daran dachte, daß auch sie etwas von seinem Können lernen würde. Mit einer gerahmten Fotografie kehrte Fei zurück. „Guck mal. Das ist meine Tante im Alter von neunzehn Jahren.“ Penny betrachtete das alte Schwarzweißfoto, das an den Ecken schon ganz verblichen war. Die Frau auf dem Bild hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit Fei. Ihr Haar war auf die gleiche Art geflochten, und ihr Kleid war hochgeschlossen und mit Stickereien verziert. Sie hatte makellose Haut und dunkle, klare Augen. In ihrer Hand hielt sie einen offenen Fächer, der über und über mit sehr sorgfältig gemalten Blumen und Vögeln bedeckt war. „Wow! Sie war wunderschön! Jetzt verstehe ich erst recht nicht, warum sie nie geheiratet hat. Was ist passiert?“ „Sie wurde vor 75 Jahren geboren, in einem kleinen Dorf in der Nähe des Hwang… des YellowRiver. Ihre Familie war vermögend, und ihre Zukunft schien gesichert zu sein. Es gab einen Jungen in ihrem Alter, Jiang ShaoMing, den sie sehr liebte. Seine Eltern waren auch reich, und sie hofften beide, daß ihre Eltern sie verheiraten würden. Doch dann geschah das Unglück mit ihrem Cousin im Nachbardorf. Er war dreizehn und bekam Lepra. Und plötzlich war die Familie nicht mehr angesehen. Die Heirat zwischen ihr und Jiang ShaoMing wurde von seinen Eltern abgelehnt.“ „Aber warum? Hat Sung Hoa ihren Cousin denn oft besucht?“ „Nein, niemals. Aber damals hatten die Leute panische Angst vor Lepra. In den meisten Dörfern ist das heute noch so. Keine Familie wollte das Risiko eingehen, ihren Sohn mit einem Mädchen zu verheiraten, das von der Seuche gefährdet sein könnte.“ „Wie traurig. Und was ist dann passiert?“ „Sie lebten weiter dort. Jiang ShaoMing wurde mit einem Mädchen verheiratet, das längst nicht so schön war und von niederer Herkunft.“ „Was hat er denn dazu gesagt? Warum hat er nicht zu Sung Hoa gehalten und sie trotzdem geheiratet? Sie hätten fliehen können oder sowas.“ „Oh, nein, das war unmöglich. Damals heirateten die Kinder, wen ihre Eltern für sie aussuchten. Sung Hoa war noch sehr jung, erst siebzehn. Zwei Jahre später starb ihr Cousin, und ihre Eltern arrangierten eine andere Heirat für sie. Dann trat der Fluß über die Ufer und überschwemmte das Dorf. Die meisten Häuser wurden dabei zerstört und die Reichtümer weggeschwemmt. Großvaters und Sung Hoas Eltern kamen dabei ums Leben. Deshalb waren sie gezwungen, bei ärmeren Verwandten in einem weit entfernten Dorf zu leben, in dem niemand
von dem leprakranken Cousin gehört hatte.“
„Dann war Sung Hoa also frei und konnte heiraten?“
„Ja. Sie hatte viele Verehrer, aber sie wies alle ab. Sie liebte Jiang ShaoMing.
Als sie über zwanzig war, wurden die Verehrer weniger und waren auch nicht
mehr so attraktiv. Einige waren reich, und weil sie keine Eltern mehr hatte,
konnte sie heiraten, wen sie wollte, aber sie hat keinen genommen.“
„Was ist aus Jiang ShaoMing geworden?“
„Er bekam mehrere Kinder. Seine Familie hat bei der Überschwemmung auch
sehr viel Besitz verloren, und sie mußten schwere Zeiten durchmachen. Ich weiß,
daß er viele Jahre später nach Amerika gekommen ist. Nach San Franzisko. Ich
glaube, wenn wir länger in Kalifornien geblieben wären, hätte sie ihn schließlich
doch noch finden können.“
„Lebt er denn noch?“
„Ich weiß es nicht. Das werden wir wohl nie erfahren.“
„Ich habe eine Tante und einen Onkel, die in San Franzisko leben. Vielleicht
könnte ich meine Kusine Sue fragen…“
„Tu’s lieber nicht, Penny. Ich bin sicher, Großvater ist dagegen. Er hat sich all die
Jahre um Sung Hoa gekümmert und will sie beschützen.“
„Das glaube ich. Wo ist er jetzt eigentlich? Ich habe ihn den ganzen Tag nicht
gesehen.“
„Du kannst sicher sein, daß er uns beobachtet. Ich glaube, ich habe in meinem
ganzen Leben nicht einen unbeobachteten Schritt getan. Manchmal habe ich das
Gefühl, daß er Geister benutzt, um mich zu überwachen.“
Penny lachte, doch Fei blieb ernst.
„Manchmal fühle ich mich wie eine Gefangene. Ich traue mich nicht, irgend etwas
ohne seine Erlaubnis zu tun. Nicht mal die ganz normalen Dinge wie sich
schminken oder die Nägel lackieren darf ich. Ein amerikanisches Mädchen würde
über so etwas gar nicht nachdenken. Manchmal wünsche ich mir, ein Vogel zu
sein, dann könnte ich einfach wegfliegen.“
„Komm doch mal zu mir. Da kannst du dich so viel schminken, wie du willst.
Dann könntest du dir Shorts und TShirts anziehen und ein Doppelleben führen.“
Sie brachen in Gelächter aus. Fei stand auf.
„Danke. Es tut so gut zu wissen, daß jemand einen versteht. Ich kann es gar
nicht erwarten, Fahrradfahren zu lernen.“ Sie hatte sich nach vorn gebeugt und
die Worte geflüstert.
„Abgemacht. Und was ist mit dem Kung Fu und Chi Na, das du mir zeigen
wolltest?“
„Okay. Laß uns mit ein paar einfachen Haltungen wie Ma Bu anfangen.“
Fei zeigte Penny, wie sie stehen mußte. Sie spreizte die Beine und beugte sie
leicht, als säße sie auf einem Pferd. Die Füße waren nach innen gekehrt, und ihr
Gewicht verteilte sich gleichmäßig auf beide Beine. Dann zeigte sie ihr, wie sie
das Gewicht von vorne nach hinten und wieder zurück verlagern konnte. Penny
fuhr ein solcher Schmerz durch die Oberschenkel, daß sie aufstöhnte.
„Oh, je, morgen werde ich sicher Muskelkater haben. Aber zeig mir trotzdem
mehr.“
Bald hatte Fei alle Grundpositionen durch. Danach erklärte sie einige Abwehr,
Schlag und Trittechniken. Die Zeit verging wie im Flug, und bald wurden die
Nachmittagsschatten lang. Penny wischte sich den Schweiß vom Gesicht und ging
ins Haus, um sich etwas zu trinken zu holen. Als sie am Zimmer der alten Frau
vorbeikam, sah sie, wie Sung Hoa in einem dicken Kaufhauskatalog blätterte. Sie
trat näher.
„Was gucken Sie sich an?“
Die alte Frau zuckte erschrocken zusammen und klappte schnell den Katalog zu.
„Bitte… nichts verraten.“
„Keine Angst, das werde ich nicht. Was ist es denn? Darf ich mal sehen?“
Vorsichtig reichte die alte Frau ihr den Katalog. „Von Sears“, sagte sie stolz.
Der Katalog war schon so oft durchgeblättert worden, daß er voller Eselsohren
war. Penny schlug den am meisten abgenutzten Teil auf. Es war die Abteilung für
Damenunterwäsche, speziell Tangas.
„Hübsch“, meinte Penny. „Welchen mögen Sie am liebsten?“
„Hübsch“, wiederholte die alte Frau. Ihre langen, dünnen Finger zeigten auf einen
knallroten Tanga. „Der gefällt mir.“
„Ja, mir auch, den finde ich am schönsten“, stimmte Penny zu und gab den
Katalog zurück.
Als sie wieder nach draußen kam, übten Tommy und Fei gerade eine
Kampfsequenz. Jetzt konnte Penny leicht erkennen, wie die Blocks, Schläge und
Tritte praktisch angewendet wurden. Gefesselt sah sie den beiden zu. Tommy
forderte sie auf, mitzumachen, und zeigte ihr eine kurze Bewegungsfolge. Penny
machte alles, so gut sie konnte, nach. Zu ihrer Überraschung klatschte Tommy
anerkennend Beifall.
„Wunderschön. Das machst du sehr gut! Und du lernst sehr schnell.“
„Das kommt bestimmt von dem ganzen Cheerleading, das ich so lange trainiert
habe. Schon als ich ganz klein war, hat meine Schwester mir Sprünge, Rollen
und Saltos beigebracht.“
Fei zeigte Penny einige Drehungen und Tritte, von denen ihr ganz schwindelig
wurde. Sie schwankte und stolperte schließlich direkt in Tommys Arme. Seine
starken Arme hielten sie, als wäre sie leicht wie eine Feder. Es dauerte einen
Moment, bis sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, doch Tommy hielt sie
sicher, bis sie wieder auf den Beinen war.
„Puh! Das ist ja ganz schön schwer!“
„Für eine Anfängerin hast du es nicht schlecht gemacht, ich habe noch nie
jemanden so schnell lernen sehen“, meinte Fei.
„Ihr seid ja auch tolle Lehrer. Mit euch ist das Lernen ganz leicht.“
„Danke“, meinte Tommy. „Aber verglichen mit Großvater sind wir auch nur
Anfänger. Bei ihm sieht das alles so leicht wie Gehen aus.“
„Glaubst du, daß er mir vielleicht etwas beibringen würde?“
„Ich bezweifle das. Großvater ist sehr eigen. Er hat noch nie einen Nicht
Chinesen unterrichtet. Nicht mal in Kalifornien. Die Schüler, die er in China hatte,
waren die absolute Elite. Ich weiß, daß ihm das Unterrichten manchmal fehlt,
aber wenigstens hat er mich und Fei.“
Während Penny Fei und Tommy weiter zusah, fing sie an zu träumen. Was
könnte sie alles tun, wenn sie auch nur etwas von dem lernen würde, was die
beiden konnten! Die Erinnerung daran, wie Cassie Fairchild in der Sporthalle auf
sie losgegangen war, kehrte immer wieder. Mit dem richtigen Training würde ihr
Mangel an Größe keine Rolle mehr spielen! Wie wundervoll würde es sein, Cassie
das zu geben, was sie verdiente!
Als Penny hochsah, entdeckte sie den alten Mann. Er hatte die Hände auf den
Rücken gelegt und beobachtete sie. Sie hatte ihn nicht kommen gehört.
„Guten Tag“, begrüßte sie ihn und verbeugte sich.
Er nickte. Ihr Blick fiel auf den Stock in seiner Hand, ihr fiel plötzlich ein, daß sie
versprochen hatte, ihm mehr von dem zu zeigen, was sie konnte. Schweigend
reichte er ihr den Stock.
Zuerst drehte Penny ihn, so schnell sie konnte, zwischen ihren Fingern.
„Ich habe das gelernt… und das hier.“ Sie rollte den Stock um ihren Nacken
herum und fing ihn dann wieder auf. „Wie ich sehe, bist du damit sehr gut. Aber weißt du auch, wie das Gelernte angewendet wird? Bitte zeige mir eine Kampffolge, die den kurzen Bo beinhaltet.“ Penny warf Fei und Tommy einen hilfesuchenden Blick zu, doch die beiden blieben stumm. „Meine Lehrerin konnte kein Kung Fu, sie wußte nur, wie man den Stock herumwirbelt.“ „Das sehe ich. Tommy! Komm her!“ Der alte Mann sagte etwas auf chinesisch, und schon begann Tommy ihn anzugreifen. Sein Großvater hob den Stock und wehrte mit den gleichen schnellen Drehungen jeden Schlag ab. Dabei traf er Tommys Hals, Beine und Rücken. Dann drehte er ihm den Rücken zu und wehrte die Angriffe ab, indem er den Stock um seine Hüften kreisen ließ. Penny starrte mit offenem Mund. Sie hätte sich nie träumen lassen, daß so ein kurzer Stock sich in eine tödliche Waffe verwandeln konnte. Dann verbeugte Tommy sich. Der alte Mann wandte sich wieder zu ihr. „Nun zeige mir, was du heute gelernt hast.“ Penny sah zu Fei, die ihr ermutigend zuwinkte. Schnell führte Penny die Positionen und die Folge, die Tommy ihr gezeigt hatte, vor. Der Alte schwieg einen Moment, dann murmelte er: „Deine Größe und Körperform sind nicht ganz ideal für Kung Fu.“ „Meinen Sie, daß ich zu klein bin?“ „Natürlich nicht. Aber deine Beine sind länger. Dadurch liegt dein Schwerpunkt nicht so niedrig. Vielleicht…“ „Ich lerne sehr schnell. Kung Fu zu lernen, ist für mich das Wichtigste. Ich habe noch nie so etwas Schönes gesehen.“ „Und warum möchtest du das lernen, junge Dame?“ „Damit ich eine gute Kämpferin sein kann.“ Sie hörte, wie Tommy leise aufstöhnte und den Kopf schüttelte. „Was ich meine, ist, ich möchte lernen, mich zu verteidigen, damit ich zurückschlagen kann, wenn sie mich angreift!“ Tommy schüttelte wieder den Kopf und warf die Hände hoch. Diese Antwort war also auch nicht die richtige. „Kämpfen? Glaubst du, Kung Fu ist nur zum Kämpfen?“ „Ja… äh, ich meine, nein. Also, wofür ist es?“ „Kung Fu ist die Philosophie der Friedfertigkeit und, wenn nötig, der Selbstverteidigung.“ Als der alte Mann mit seiner Lektion fortfuhr, wurde Penny klar, daß sie nicht hätte fragen sollen. Zehn Minuten lang hörte sie nur zu, bis der Alte einmal Luft holte. „Okay, ich hatte unrecht. Aber das zeigt doch nur, daß ich einen guten Lehrer brauche! Bitte unterrichten Sie mich, ich möchte so viel lernen.“ „Vielleicht.“ „Bitte. Ich kann die Stunden auch bezahlen. Ich bekomme bald einen Job für die Ferien.“ „Bezahlen? Geld?“ Seine Stimme wurde schrill, während er mit dem Stock auf die Steine schlug. „Ich unterrichte nur die besten Schüler. Nur einen von tausend erwähle ich! Es ist eine lebenslange Verpflichtung. Wenn ich einmal jemanden als Schüler gewählt habe, ist es eine Selbstverständlichkeit, daß ich ihm alles über Kung Fu beibringe, nicht nur Teile davon. Ich kann genauso wenig Geld dafür nehmen, wie ein Priester das kann, um jemandes Seele zu retten. Bitte, erwähne Geld niemals wieder!“ Er winkte ihr, daß sie gehen könne, und drehte ihr dann den Rücken zu.
Penny war niedergeschlagen. Sie hatte es wieder vermasselt. Langsam ging sie
auf die Brücke zu.
„Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich könnte Ihnen doch im Garten
helfen oder mit den Fischen und Vögeln. Ich kann Ihnen auch Vogelfutter
mitbringen oder Würmer für die Fische. Geben Sie mir eine Chance. Ich kann
beweisen, wie ernst ich es mit dem Lernen meine. Ich werde auch immer
pünktlich sein.“
Seine alten Augen sahen sie lange an.
„Zeige mir, wie du dich gegen einen sehr alten und schwachen Mann verteidigen
würdest, der nichts als einen dünnen Spazierstock in der Hand hat.“
Er trat auf sie zu. Verzweifelt bemühte Penny sich, das anzuwenden, was Tommy
ihr gezeigt hatte, aber ihre Schläge prallten nur harmlos von seiner Brust ab.
Dann holte der alte Mann aus, holte tief Luft und gab ihr einen leichten Schubs.
Penny fiel zu Boden. Der Kampf hatte keine fünf Sekunden gedauert.
Stöhnend rappelte sie sich wieder auf und klopfte die Erde von ihrer Hose. Sie
schob das Haar aus ihrem Gesicht und verbeugte sich.
„Bitte unterrichten Sie mich. Und wenn ich auch nur einen Bruchteil von dem
lerne, was Sie können, werde ich glücklich sein.“
Der Alte drehte sich zu Fei und Tommy um und sagte etwas auf chinesisch. Dann
wandte er sich wieder zu ihr, sagte noch etwas auf chinesisch und ging weg.
Niedergeschlagen sah Penny ihm nach.
„Was hat er gesagt?“ fragte sie Tommy.
„Daß Demut der Grundstein für den Turm der Kraft ist. ,lhr Name wird Hsiao Bao
sein.’“
„Was bedeutet das?“
„Daß du es geschafft hast, Kumpel. Von jetzt an wirst du Kleiner Leopard
heißen!“
Kleiner Leopard! Pennys Lebensgeister erwachten wieder, wie die leichte Brise,
die die Mimosenblüten zu ihren Füßen wehte.
8. KAPITEL „Penny! Telefon!“ Billys Stimme riß Penny aus dem Schlaf. Sie warf einen Blick
zum Wecker auf ihrem Nachttisch. Zehn Uhr abends. Wer rief sie so spät noch
an?
„Hallo?“ sagte sie heiser.
„Penny? Habe ich dich endlich doch noch erwischt! Mensch, Mädchen, wo steckst
du denn?“
„Cheryl? Wieso bist du denn schon aus East Texas zurück?“
„Machst du Witze? Schon? Wir haben Ende August. Nächsten Dienstag fängt die
Schule wieder an!“
„Echt? Ich habe gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist.“
„Zig Mal habe ich versucht, dich anzurufen, aber du warst nie zu Hause. Was um
alles in der Welt hast du die ganze Zeit getrieben?“
„Ich habe Kung Fu gelernt. Und nachmittags mähe ich Rasen, um Geld zu
verdienen.“
„Als ich heute morgen um acht angerufen habe, warst du schon weg.“
„Stimmt. Ich stehe im Morgengrauen auf. Das ist die beste Zeit zum Meditieren
und für’s T’aiChiChuanTraining.“
„Meditieren? Was ist denn in dich gefahren?“
„Nein wirklich, es ist phantastisch. Sifu hat mir beigebracht, wie man richtig
atmet und sich entspannt. Man kann dabei wundervoll abschalten und sich eins
mit der Natur fühlen, anstatt immer nur als Ichbezogenes Wesen
herumzulaufen. Jeden Morgen gehe ich auf den Dachboden und setze mich vor
das kleine Fenster in Richtung Osten.“
„Wer ist Sifu? Das chinesische Mädchen?“
„Nein. Sifu ist Feis Großvater. Sifu nennen ihn seine Schüler. Es bedeutet Vater
und Lehrer, jemand, den man tief respektiert.“
„Okay, okay. Wenn du meinst… Wo wir gerade dabei sind – hast du schon alle
deine Schulsachen zusammen? Ich habe ja den ganzen Sommer über da draußen
in der Walachei gesessen und konnte mir nichts kaufen. Ich bin wirklich
aufgeschmissen.“
„Kleidung? Äh, nein. Ehrlich gesagt, habe ich die ganze Zeit keinen Gedanken
daran verschwendet.“
„Was? Und ich dachte, du hast längst alles beisammen. Na, gut. Dann könntest
du doch morgen mit uns zum Einkaufen fahren. Ich habe Mom rumgekriegt, daß
sie mit mir nach Fort Worth fährt. Wir wollen den ganzen Tag dortbleiben. Um
acht Uhr fahren wir los. Kannst du so früh fertig sein?“
„Tut mir leid, Cheryl, es geht nicht.“
„Warum nicht?“
„Habe ich dir doch gerade erzählt. Ich mache jeden Tag Kung Fu. Und am
Nachmittag mähe ich Rasen. Ich habe keine Zeit, einkaufen zu gehen.“
„Aber was willst du dann anziehen?“
„Kleidung ist nicht wichtig. Ich ziehe einfach das an, was ich im Schrank habe.“
„Hey, spricht da Penny Graham? Du konntest es immer am allerwenigsten
erwarten, neue Sachen für die Schule zu kaufen. Mensch, hast du dich verändert!
Na ja, tschüß dann. Vielleicht sehen wir uns ja am See.“
„Tschüß.“ Penny legte auf. Sie starrte aus dem Fenster auf die Wipfel der
Pinienbäume. Kaum zu glauben, daß der Sommer schon fast um war. Wo war die
Zeit geblieben? Morgen war Freitag. Dann kam das lange Wochenende, und
Dienstag würde der gewohnte Trott in der Schule wieder losgehen. Früher war
sie um diese Jahreszeit immer ganz aufgeregt und ungeduldig gewesen. Der Tag,
an dem alle Schüler der High School sich am Possum Kingdom See trafen, war eines ihrer Lieblingsereignisse gewesen. Da sah sie alle ihre Freunde wieder und tauschte die aufregendsten Neuigkeiten mit ihnen aus. Doch dieses Jahr hatte sie das völlig vergessen. Penny rollte sich auf die Seite und schlief wieder ein. Erfrischt und bereit für den langen Tag wachte Penny von selbst kurz vor Tagesanbruch auf. So, wie sie es die letzten drei Monate getan hatte. Nach ihrer Meditation auf dem Dachboden ging sie zu dem Haus in der Mulberry Lane. Sie begrüßte die anderen und machte mit ihnen die morgendlichen T’ai ChiChuanÜbungen. Die Bewegungen waren dem Kung Fu ähnlich, sie wurden nur langsamer ausgeführt. Es kam dabei auf die Atmung und die innere Kontrolle an. Ihre Atmung stieg und fiel im genauen Rhythmus mit den Schlägen, Stößen, Blöcken und Drehungen. Penny verstand immer noch nicht genau, was da eigentlich passierte, aber sie war bereit, alles auszuprobieren. Sifu hatte gesagt, daß sie zu jung und ungeduldig sei, um T’ai Chi Chuan zu lernen. Daß die Schüler oft erst in ihren Vierzigern damit anfingen. Bei dieser Kunst kam es vor allem auf Geduld und große innere Kraft an. Viel mehr als bei dem schnellen, kraftvollen Kung Fu. Penny mußte ihm zustimmen. Obwohl sie die morgendliche Entspannung genoß, wurde sie nach der ersten halben Stunde immer ganz unruhig und wollte mit den anderen Übungen anfangen. Doch bis dahin dauerte es leider immer noch eine ganze Stunde. Tommy schien genauso ungeduldig zu sein wie sie selbst. Nur Fei konnte stundenlang meditieren oder T’ai Chi betreiben, ohne sich zu langweilen. Sifu war genauso. Er meinte, daß Fei die begabteste Schülerin sei, die er je gehabt hatte, und daß es an ihrer geduldigen Natur läge. Als sie fertig waren, gingen Penny und Tommy in den Gemüsegarten und sahen nach, ob es etwas zu ernten gab. „Tommy“, flüsterte Penny mit einem Blick auf seinen Großvater, der Fei eine neue T’ai ChiBewegung zeigte, „hast du schon mal vom Badetag gehört?“ „Nein.“ „Glaubst du, dein Großvater würde erlauben, daß ihr beide morgen mit meiner Familie an den See fahrt?“ „Uh, schwere Frage. Wenn du irgendeine Amerikanerin wärst, würde ich sofort nein sagen. Aber er mag dich sehr und läßt bei dir Sachen durchgehen, die er Fei nie erlaubt.“ „Ha! Jedesmal, wenn ich den Mund aufmache, sitze ich in der Patsche. Ich muß immer die blödeste Arbeit machen.“ Sie beugte sich über eine exotische Pflanze und pflückte die grünlichen Melonen. Dann grub sie einen langen weißen Rettich aus, so, wie Sifu es ihr gezeigt hatte. Zusammen mit den Kräutern, die Tommy pflückte, legte sie alles in einen Korb. Penny konnte die Kräuter immer noch nicht unterscheiden, aber Tommy war darin sehr gut. Sifu hatte ihr oft gesagt, daß ein wirklicher Kung FuSchüler nicht nur kämpfen, sondern auch heilen können müsse. Der alte Mann hatte übelriechende Mixturen zusammengerührt aus etwas, das für Penny nach Unkraut und Wurzeln ausgesehen hatte. Aber es funktionierte. Ihre Verstauchungen, Prellungen und der Muskelkater wurden davon jedesmal besser. Und seine alten Hände konnten ihre Schmerzen besser wegmassieren als jede Salbe. Tommy und Penny kamen gerade zu dem Steinkreis zurück, als Tante Sung Hoa dampfende Schüsseln mit Suppe zum Frühstück herausbrachte. Heute gab es eine klare Suppe mit winzigen Nudeln, hauchdünn geschnittenem Schweinefleisch und Gurken.
Penny nahm die Stäbchen in die rechte und den kleinen, chinesischen Löffel in die linke Hand. Genüßlich aß sie. „Sollen wir ihn jetzt fragen?“ fragte sie Tommy. Der Alte hatte sich an seinen Lieblingsplatz auf eine der Steinbänke gesetzt. Dort konnte die Sonne ihn nicht blenden. Penny gab Sung Hoa ihre leere Schüssel. „Nein, noch nicht. Er wird uns gleich eine Geschichte aus seiner Jugend erzählen. Du weißt doch, wenn er Geschichten erzählt, darf man ihn nicht unterbrechen.“ Das stimmte. Der alte Mann verlangte völlige Stille, wenn er von China erzählte oder etwas vom Shaolin Tempel. Da er schon über siebzig war, erinnerte er sich noch an das China vor der Kulturrevolution und dem Kommunismus. Das war die Zeit, in der es noch eine Kaiserin gegeben hatte und den Shaolin Tempel, in dem die Schüler Kung Fu studierten. Seine Erzählungen waren immer so spannend, daß Penny von ganz allein ruhig war. Zuerst hatte sie geglaubt, daß er ihnen damit nur eine Freude machen wollte. Aber dann war ihr schnell klargeworden, daß jede Geschichte ihren Sinn hatte und es dabei immer etwas zu lernen gab. Penny hatte auch schnell begriffen, daß der alte Mann von ihr erwartete, die Moral zu erkennen und in ihrem täglichen Leben anzuwenden. „Hoffentlich stellt er uns heute nicht so viele Fragen dazu“, flüsterte Penny Fei zu. „Natürlich wird er, das weißt du doch, das tut er jedesmal“, erwiderte Fei. „Und auf deine Antworten sind wir immer besonders gespannt“, fügte Tommy lächelnd hinzu. Fei kicherte leise. „Ach, hört auf! Was kann ich dafür, daß ich nicht auf derselben Wellenlänge wie diese alten chinesischen Philosophen liege? Ich meine, woher sollte ich denn wissen, daß wir aus diesen Geschichten etwas lernen sollten? Ich dachte, er redet einfach gerne, so wie mein Großvater.“ „Na, zumindest werden deine Antworten intelligenter. Ich glaube, du siehst die Dinge langsam mit seinen Augen.“ „Das liegt an all dem Zeug, das ich über chinesische Geschichte lesen muß. Und an dem Buch von General SunTzu. Wann darf ich wohl endlich aufhören, ,Die Kunst des Krieges’ zu lesen?“ „Wie oft hast du es denn schon gelesen?“ fragte Fei. „Mindestens zehnmal! Man könnte denken, Sifu will einen General aus mir machen.“ Sie mußten alle lachen. „Also, gestern abend habe ich Großvater sagen hören, daß du wohl kein völlig hoffnungsloser Fall seist.“ „Was? Hoffnungsloser Fall? Ich fand es schon ziemlich gut, daß ich all die Namen von den Plätzen und Leuten und Waffen und Strategien behalten habe. Himmel!“ „Psst!“ machte Fei. „Großvater fängt gleich an.“ „Hoffentlich ist es wieder eine Geschichte von so einem kleinen kahlköpfigen Mönch“, flüsterte Penny noch, bevor der alte Mann begann. An diesem Morgen konnte Penny die Fragen gut beantworten. Sie wußte nicht, ob die Fragen leichter wurden oder sie klüger. Auf jeden Fall war Sifu mit ihr zufrieden, und das machte sie glücklich. Nach der Geschichte, die oft eine ganze Stunde dauerte, begannen sie mit ihren üblichen Aufwärmübungen vor dem KungFuTraining. „Nun, Kleiner Leopard, zeige mir, was du gestern gelernt hast“, sagte der Alte und tippte dabei mit dem Stock auf die Stelle am Boden, wo Penny sich hinstellen sollte. «. Sie machte alles vor, was sie gelernt hatte, und er korrigierte sie, bis sie am liebsten geschrien hätte. Während sie ihre Schritte übte, sah sie Tommy in einer
anderen Ecke trainieren. Natürlich waren ihre Übungen viel schwieriger und fortgeschrittener. Als der alte Mann zu Penny zurückkam, seufzte sie und sah auf Tommys schnelle, flüssige Bewegungen. „Wann bin ich endlich so weit wie er, Sifu? Ich bin schon drei Monate hier.“ Mit seinem schmalen harten Finger klopfte er ihr auf den Kopf. „Die wahre Kraft des Kung Fu kommt nicht aus deinen Muskeln, sondern aus dem Herzen und dem Kopf. Bevor du sprechen kannst, mußt du erst das Atmen lernen. Du mußt ein Fundament legen, damit du deinen Palast bauen kannst.“ Schon wieder eine Lektion. Sie hätte den Mund halten sollen. „In einem Sommer kannst du nicht das lernen, wofür Teh fünfzehn Jahre gebraucht hat. Du mußt ihn und Fei genau beobachten und wissen, daß du zur richtigen Zeit all das können wirst. Dafür mußt du genauso hart arbeiten wie die beiden. Doch das wahre Geheimnis von Kung Fu ist Geduld. Und Demut. Wenn du nicht demütig bist, wirst du nichts lernen und nicht wachsen. Ein voller Eimer kann keinen Tropfen mehr aufnehmen. Aber ein leerer Eimer kann bis an den Rand mit Wasser gefüllt werden. Zu mir mußt du mit einem leeren Eimer kommen, Kleiner Leopard.“ „Ja, Sifu“, erwiderte Penny. Sie wünschte, der alte Mann würde wie ein normaler Mensch reden. Immer sprach er von leeren Eimern, biegsamem Schilf und rollenden Steinen. Niemals sagte er etwas direkt, und manchmal mußte sie sogar tagelang nachdenken, bis sie rausbekommen hatte, was er meinte. Nach drei Stunden Training stand die Sonne so hoch, daß sie eine Mittagspause einlegten. Danach saßen sie im Gras unter einem großen Baum und hörten Tante Sung Hoa zu, die auf ihrer Flöte spielte. Es war das fremde Instrument, das Penny in der ersten Nacht gesehen hatte. Die alte Frau sang ihr neuestes Gedicht. Obwohl es auf chinesisch war, verstand Penny, daß es traurig war, denn alle ihre Gedichte handelten von der verlorenen Liebe. „Was singt sie eigentlich?“ fragte Penny Fei. „Tja, ich versuche, es zu übersetzen, aber auf Englisch reimt es sich natürlich nicht und verliert dadurch viel.“ „Das verstehe ich. Versuch’s trotzdem.“ „Na gut, es geht so: Damals, als die Kirschbäume am Yellow River blühten,
Saßen meine Freunde und ich unter ihren Zweigen
und sprachen über Dinge, von denen wir nichts wußten.
Damals, als der goldene Jasmin sich im Wind wiegte,
lachten wir und flüsterten von den Geheimnissen der Liebe.
Damals, als die zarten Blütenblätter wie Regen fielen
und unsere Gesichter berührten,
Sangen mein Freund und ich von der zukünftigen
Freude und schworen tausend Schwüre.
Bald werden die Kirschbäume am Yellow River wieder blühen
Aber ich werde allein am Fluß Spazierengehen
und von der Freude träumen, die niemals kam.“
„Ich kann es gar nicht glauben, daß sie ihn nach all der Zeit immer noch liebt.
Das ist jetzt schon über fünfzig Jahre her.“
„Ja, und er ist immer noch in ihrem Herzen.“
„Glaubst du, das sie ihn jemals finden wird?“
„Ich weiß es nicht. Mein Großvater hatte noch viele Jahre Kontakt zu Jiangs
Bruder, aber seit fünf Jahren haben wir von ihm auch nichts mehr gehört. Vielleicht lebt er nicht mehr.“ Nach dem Gedicht und einem kurzen Mittagsschlaf war es zu heiß, um noch weiter zu trainieren. Fei und Tommy lernten am Nachmittag weiter. Zuerst unterrichtete Sung Hoa sie sehr ausführlich in chinesischer Geschichte, und danach brachte der alte Mann ihnen alles über die militärische Geschichte und Strategien bei. Schließlich lernte Fei etwas über Sitten und das Kochen, während Tommy sich mit den Geheimnissen der Kräuter und der Akupunktur beschäftigte. Penny verabschiedete sich und ging nach Hause. Bei dieser Hitze war es schrecklich, Rasen zu mähen, aber sie brauchte das Geld. Der Großvater nahm zwar keines an, aber er freute sich immer sehr, wenn sie ihm etwas mitbrachte. Einmal war es ein Paar leuchtend grüner Sperlingspapageien mit pfirsichfarbehen Köpfen gewesen. Ein anderes Mal hatte sie ihm einen neuen Fisch für den Teich mitgebracht und dann wieder eine Seerose, die ihr Onkel in Houston besorgt hatte. Doch gewöhnlich brachte sie ihm nur Dünger für den Garten oder Saat mit. Penny schob den Rasenmäher vor sich her. Das Grundstück lag direkt neben dem Freibad. Als sie daran vorbeikam, hielt sie inne und guckte durch den Maschendrahtzaun. „Hey, Penny, komm doch rüber“, rief eine ihrer Freundinnen. „Ich kann nicht, ich arbeite heute. Vielleicht nachher.“ Beim Anblick der herumtobenden Kids seufzte sie. Schwimmen war schon immer eines ihrer Hobbies gewesen. Zum Glück durfte sie ab und zu bei Mrs. Avery schwimmen, einer ihrer Kundinnen, die einen Swimmingpool besaß. Sie wünschte, sie hätte Sifu gefragt, ob Fei und Tommy morgen mit an den See kommen dürften, aber der richtige Augenblick war einfach nicht gekommen. Nun blieb ihr nur noch der Abend, und das war ziemlich kurzfristig. Als Penny den letzten Sack mit abgemähtem Gras füllte, sah sie Cheryl und noch ein Mädchen auf ihren Rädern in die Stadt fahren. Wahrscheinlich wollten sie zu „Mahon’s“, eine Cherry Coke trinken gehen. Penny wäre gern mitgefahren. Ihr war heiß, und sie war kaputt. Doch dann bemerkte sie, wie schmutzig sie war. Gras klebte an ihrem verschwitzten Körper, und außerdem wollte sie den Großvater nicht damit verärgern, daß sie zu spät zum Abendtraining kam. Nachdem sie ein Bad genommen hatte, half sie ihrer Mutter beim Abwasch. Dann lief sie wieder zu dem Haus in der Mulberry Lane, zu ihrer letzten Stunde für diesen Tag. Dies war die beste Zeit des Tages. Die Luft war kühl, und der Garten roch nach feuchter Erde, weil der Großvater ihn gerade gesprengt hatte. Fei und Tommy, ganz benommen von den vielen Geschichtsstunden, freuten sich genauso aufs Training wie sie selbst. Heute würde sie endlich einen Zweikampf mit Tommy haben oder den Kampf mit Waffen üben. Wie immer nahm Fei ihr silbriges T’ai ChiSchwert und vollführte eine komplizierte Reihe eleganter Schläge, Sprünge, Stöße und Drehungen, und das mit unglaublicher Geschwindigkeit. Tommy trainierte mit einem langen hölzernen Stock. „Na, heute gar keine Cheeseburger?“ flüsterte er und kam dicht an Penny heran. Er lächelte und zwinkerte ihr zu. „Auf keinen Fall, ich habe meine Lektion gelernt. Ich werde Fei nie wieder irgend etwas hereinschmuggeln. Sifu hat am ganzen Körper Augen!“ „Wurde auch Zeit, daß du das kapierst“, meinte Tommy. Er lehnte den Stock an einen Baum und begann, Penny einige ChinNaGriffe zu zeigen, während der
Großvater Fei Anweisungen mit dem Schwert gab.
„Ist jetzt der richtige Augenblick?“ fragte Penny flüsternd, während sie Tommy
am Handgelenk packte und es so herumdrehte, daß er auf die Knie fiel.
„Wenn die Stunde vorbei ist. Viel Glück! Ich brenne darauf, einmal an den See zu
fahren. Seit wir aus Kalifornien weg sind, ist Großvater auch nicht mehr angeln
gewesen.“
Sie übten einen Zweikampf, bei dem Tommy Penny mit Leichtigkeit schlug.
Schließlich kam der Großvater zu ihnen herüber.
„Kleiner Leopard ist mit ihrem Herzen heute abend nicht hier. Würdest du deinen
Traum mit uns teilen, die wir noch hier auf der Erde sind?“
Penny wurde rot. „Ich… ich habe nur… äh… daran gedacht, daß am Dienstag die
Schule wieder anfängt. Dann wird alles ganz anders werden. Wir können erst
nach der Schule und nach den Hausaufgaben trainieren…“
„Möchtest du nicht mehr kommen?“
„Oh, nein! Das wollte ich damit nicht sagen! Ich wünschte nur… nun, daß wir so
eine Art Abschiedsfeier machen könnten. Oder noch besser, ein
Abschiedspicknick. Am letzten Wochenende der Ferien fährt Mom immer mit uns
an den Possum Kingdom Lake. Und ich dachte…“
Sie sah, wie Fei die Augen aufriß, aber nichts sagte, sondern ihren Großvater
beobachtete.
„Und was werdet ihr auf diesem Picknick tun?“
„Oh, vieles. Wir können ein Kanu mieten und auf dem See herumpaddeln. Oder
angeln. Hätten Sie nicht auch Lust dazu? Ich weiß, wie sehr Sie Fisch mögen.
Haben Sie schon mal frischgeangelten Wels gebraten oder gegrillt? Oder
Barsche?“ Seine Miene blieb ausdruckslos.
„Naja, natürlich schwimmen wir auch und spielen im Wasser herum oder klettern
auf die Felsen. Aber es ist nicht gefährlich. Meine Mom grillt gerne Huhn und
Rippchen. Sie nimmt auch immer einen Topf selbstgemachter Eiskrem mit. Und
kalte Wassermelone.“ Penny fiel ein, daß der Großvater nichts von Süßigkeiten
hielt.
„Es ist auch viel Platz da, um Kung Fu zu üben. Im Schatten unter den Bäumen.
Meine Mom und meine kleinen Brüder werden auch da sein.“
Sie hatte ihre Rede beendet. Der alte Mann sagte etwas zu Sung Hoa und dann
zu seinen Enkeln. Sie nickten alle und verbeugten sich. Ihre Gesichter zeigten
keine Regung. Dann zog der alte Mann sich ins Haus zurück.
„Naja… ich habe es wenigstens versucht“, meinte Penny seufzend, als die alte
Frau davontrippelte.
„Und du hast es geschafft!“ Tommy grinste. Fei umarmte Penny.
„Oh, das ist wundervoll! Ein Picknick, an einem richtigen See! Ich glaube es
nicht. Oh, Penny Graham, du hast meinen Großvater verändert. Früher wäre er
mit so etwas nie einverstanden gewesen.“
Mit einem Freudenschrei sprang Penny in die Luft.
„Was hat er denn eigentlich gesagt?“
„Er hat Sung Hoa gefragt, wo seine Angel ist. Dann hat er gesagt, daß sie
Pfannen und Ol mitnehmen soll, damit der Fisch gebraten werden kann.“
9. KAPITEL „Penny, so kann ich nicht losgehen!“
„Warum nicht? Du siehst toll aus. Der Badeanzug paßt dir wie angegossen. Eine
Menge Mädchen werden grüri vor Neid, wenn sie deine Figur sehen.“
Langsam drehte Fei sich herum. Ihre Augen starrten in den alten Spiegel, der in
dem großen Badehaus am See hing. Penny hatte den weißen Badeanzug in ihrer
Kommode entdeckt. Mit ihrem langen schwarzen Haar, das nun endlich doch
noch frei und offen fiel, sah Fei einfach bildschön aus.
„Du bist umwerfend, Mädchen! Hast du dein Schwert dabei?“
„Nein… warum?“
„Wenn die Jungs dich sehen, werden wir sie ganz schön in Schach halten
müssen.“
Fei wurde rot. „Mein Großvater wird es nicht erlauben. Ich habe meine Arme und
Beine noch nie so in der Öffentlichkeit entblößt. Das ist zuviel auf einmal. Er wird
mich bestrafen, und dann ist das ganze Picknick ruiniert.“
Fei wollte wieder zu den Umkleidekabinen.
„Nein, warte doch mal! Weißt du noch, wie er protestiert hat, als du zum ersten
Mal Jeans anhattest?“
„Ja.“
„Wir haben ihn davon überzeugt, daß es auf die Person ankommt und nicht auf
die Kleidung. Wenn er jemanden nach dem Äußeren beurteilt, hat er Vorurteile,
und das ist gegen die Prinzipien des Kung Fu. Stimmt’s?“
„Ja, das haben wir gesagt. Er hat ja schließlich auch nachgegeben. Aber Jeans
sind so normal! Dies hier… na ja… guck mal, ich bin ja fast nackt!“
„Ach, ja? Dann sieh dir das an!“ Penny ließ das Handtuch fallen, das sie um sich
gewickelt hatte, und enthüllte damit einen Bikini.
„Oh, verdammt!“ fluchte sie, als sie die deutliche Linie sah, die ihre gebräunten
Körperteile von den ungebräunten trennte.
„Sowas Blödes! Ich habe so viel Rasen gemäht, daß meine Arme und Beine ganz
dunkel sind und mein Bauch und Rücken total käsig. Ach was, es ist zu spät, sich
jetzt noch darüber Sorgen zu machen. Dann ziehe ich eben dieses olle einteilige
Ding an, das meine Mutter mir letztes Jahr gekauft hat. Das überdeckt alles.“ Sie
schlüpfte in den Badeanzug und sah mit Befriedigung, daß nun alle weißen
Stellen verschwunden waren. Der rosa Badeanzug, den sie letztes Jahr als zu
altmodisch abgetan hatte, kontrastierte nun reizvoll mit ihren kräftigen Muskeln
und der braunen Haut.
„Das ist hübsch, Penny. Ich wünschte, ich würde so gut aussehen.“
„Machst du Witze? Du siehst besser aus als ich. Guck dir nur dein langes
schwarzes Haar an. Die Jungs stehen auf sowas. Komm, laß uns gehen.“
„Aber Großvater?“
„Keine Sorge. Hier, wickel dich in dieses Badetuch, bis wir am Wasser sind. Wenn
du erst mal drin bist, wird es zu spät sein.“
Fei seufzte. „Ich weiß nicht.“
„Los, komm, Tommy wartet auf uns.“
Penny mußte Fei beinahe aus der Tür ziehen. Sie hielt Feis Hand und führte sie
zu dem Treffpunkt, den sie mit Tommy und ihren kleinen Brüdern abgemacht
hatte.
„Wow! Sieh dir das Haar an!“ rief Timmy und zeigte auf Fei. „Das ist das längste
Haar, das ich je gesehen habe.“
„Siehst du, was habe ich dir gesagt?“ flüsterte Penny, und Fei mußte kichern.
Eine Menge Augen beobachteten sie, und Penny fand das gut. Es war ein tolles
Gefühl, von den Jungs beachtet zu werden. Sie hoffte, Tommy würde sie mit demselben Interesse ansehen wie die anderen Jungs, doch als sie auf ihn zukam, sah er nur seine Schwester an. „Hm… nun…“ „Sag nichts, Tommy Lieu“, unterbrach Penny ihn. „Tu ich auch nicht. Sie sieht großartig aus. Aber ich frage mich, wie Großvater das wohl finden wird?“ „Oh, Penny! Genau das…“ besorgt zupfte Fei an ihrem Badetuch herum. „Keine Sorge, Tommy, ich habe schon einen Plan. Kommt, laßt uns jetzt das Kanu mieten, solange euer Großvater noch mit Angeln beschäftigt ist.“ Sie warfen einen Blick zu dem Picknicktisch, der unter einer großen Eiche im Schatten stand. Penny konnte das knallrote Hemd ihrer Mutter erkennen und den grauen Kimono, den Tante Sung Hoa trug. Dann entdeckte sie auch die vertraute Figur ihres Sifu. Diesmal hatte er seine weiten Hosen bis zu den Knien hochgerollt. Weiße Haut und sehnige Beine waren zu sehen, als er mit der Angel durch das Wasser watete. „Siehst du, Fei, sogar dein Großvater muß ab und zu Bein zeigen.“ Lachend gingen sie alle zu den Kanus. Nach endlosen Diskussionen sahen Pennys kleine Brüder endlich ein, daß fünf Leute für das kleine Kanu einfach zuviel waren. Tommy saß an einem Ende, Fei in der Mitte. Es gab nur zwei Paddel, und so konnte Fei sich entspannen und die Fahrt genießen. Sie paddelten an dem Picknickplatz vorbei und winkten. Sogar der Großvater winkte und lächelte und hielt ein Bündel glänzender Fische hoch. Da Fei saß, konnte er nicht sehen, daß sie einen Badeanzug trug. „Frischer Fisch zum Abendbrot“, rief er. Pennys Arme wurden allmählich müde, aber Tommys Kräfte ließen nicht nach. Er bemerkte es nicht einmal, daß Penny eine Pause einlegte, bis er das Gekicher hinter sich hörte und sich umdrehte. Da lag sie schon ausgestreckt in der Sonne. Als sie wieder am Ufer anlegten, nahm Tommy noch einmal Pennys kleine Brüder mit hinaus. Sie hatten Bambusangeln und eine Dose mit Würmern dabei. In ihre Strandtücher gewickelt, gingen Penny und Fei um die Biegung, bis sie außer Sichtweite des Picknickplatzes waren. Sie kletterten auf ein flaches Kliff. Unter ihnen breitete sich der blaue See aus, umgeben von zerklüfteten Felsen und dichtem Unterholz. In der Ferne brummten Motorboote, und Wasserskifahrer kräuselten die Wasseroberfläche, als sie mutig zwischen den hochaufragenden Felsen im See hindurchfuhren. Eine kühle Brise fuhr den Mädchen durch die Haare und tat in der großen Augusthitze gut. „Oh, nein, bitte nicht!“ rief Penny aus, als sie einen vertrauten roten Jeep mit heruntergelassenem Verdeck den steinigen Strand entlangfahren sah. „Was ist los?“ „Das ist Cassie Fairchild. Diesen Jeep würde ich überall wiedererkennen. Den hat sie letztes Jahr zu ihrem sechzehnten Geburtstag von ihrem Vater geschenkt bekommen.“ „Vielleicht ist sie ja schon weg, wenn wir wieder runtergehen.“ „Hoffentlich. Sie könnte uns das ganze Picknick verderben. Erst recht, wenn Steve bei ihr ist.“ Die Mädchen streckten sich auf den Handtüchern aus, rieben sich mit Sonnenöl ein und blieben liegen, bis es zu heiß wurde. Penny sah, daß Feis Haut rosa wurde, und schlug vor, in den Schatten zu gehen. Mit angezogenen Knien saßen sie da und beobachteten Tommy in dem Kanu, das wie ein Spielzeugboot aussah.
„Mensch, ich habe einen ganz schönen Durst. Wie ist es mit dir?“ fragte Penny.
„Ja, und Hunger habe ich auch. Wollen wir zurück zum Picknickplatz gehen?“
„Nein, noch nicht. Mom sagte, das Abendbrot würde so um sechs fertig sein.
Jetzt ist es erst vier, und ich bin am Verhungern. Wie wär’s mit einem Eis?“
„Oh, nein, nicht schon wieder! Weißt du nicht mehr, was letztes Mal passiert ist,
als du mir ein Eis zuschmuggeln wolltest und Großvater es bemerkt hat?“
„Okay. Dann ißt du eben nur ein paar Eiswürfel.“
Fei stimmte zu. Sie schüttelten ihre Handtücher aus und kletterten vom Kliff.
Penny erinnerte sich an einen Eisstand neben der Kanuvermietung. Vielleicht
waren Tommy und ihre Brüder schon zurück.
Außer Eis gab es an dem Stand auch noch frisches Popcorn, hot dogs,
Zuckerwatte und Pommes frites.
„Mm… Ich habe solchen Hunger, daß ich alles essen könnte, aber ich will mir
nicht den Appetit verderben. Also nehme ich nur eine Kugel Kirscheis.“
Als Penny das rote Eis mit süßem Kirschsirup entgegennahm, hörte sie jemanden
hinter sich.
„Hallo, lange nicht gesehen“, sagte eine vertraute Stimme.
Penny fuhr herum.
„Steve! Was tust du denn hier?“
„Wahrscheinlich dasselbe wie du. Das letzte Wochenende, bevor die Schule
wieder anfängt. Da muß man was unternehmen.“
„Du kommst jetzt wohl oft hierher?“
„Ja. Cassies Vater hat hier einen Badeplatz mit Strandkabine. Wir kommen öfter
her, als ich eigentlich Lust habe. Aber Cassie… na ja, was soll’s. Sag mal, du
siehst toll aus! Du hast noch nie so gut ausgesehen! Was hast du den ganzen
Sommer gemacht?“
„Ich habe die meiste Zeit bei Feis Großvater KungFu gelernt. Fei, das ist Steve
Galloway, ein alter Freund. Steve, das ist Fei Lieu.“
„Hi, Fei.“ Er zwinkerte ihr zu und lächelte, dann drehte er sich wieder zu Penny.
„Ja, das hat mir dein kleiner Bruder auch jedesmal gesagt, wenn ich angerufen
habe.“
„Du hast mich angerufen?“
„Oft sogar. Aber du warst nie da. Und sie sagten, daß du immer schon vor zehn
ins Bett gehst, deshalb habe ich nie spät angerufen.“
„Tut mir leid, Steve. Ich hatte einfach so viel zu tun. Ich habe auch gearbeitet.“
„Ich weiß, ich habe dich mal Mrs. Pharos Rasen mähen gesehen.“
„Warum hast du nicht hallo gesagt, oder noch besser, mir geholfen?“
„Na ja… ich war nicht allein.“
„Oh, verstehe. Macht auch nichts. Ich war zu beschäftigt, um irgend etwas zu
unternehmen. Weißt du, daß ich den ganzen Sommer nicht einmal im Kino war?“
„Du machst Witze! Aber jetzt, wo die Schule wieder anfängt, hast du bestimmt
wieder mehr Zeit.“
„Ich werde keinen Rasen mehr mähen. Aber ich werde weiter Kung Fu lernen.
Das gebe ich nie mehr auf.“ Sie warf Fei einen Blick zu, die schweigend daneben
stand.
„Du solltest wenigstens einmal ins Kino gehen, bevor die Schule losgeht.“
„Vielleicht. Ich glaube, das würde Fei gefallen. Oder?“
„Ich bin noch nie im Kino gewesen. Als ich jünger war, habe ich in Kalifornien ein
paar chinesische Kung FuFilme gesehen. Das war alles.“
Steve sah sie einen Moment lang ungläubig an. Dann fuhr er fort: „Klar. Wie
wär’s, wenn wir morgen abend hingehen? Montag können wir ja noch
ausschlafen.“ Ein Schauer durchfuhr Penny, als er ihren Arm berührte. „Und was
wird Cassie dazu sagen?“
„Ich sag dir, was Cassie sagen wird!“ Eine schrille Stimme durchschnitt plötzlich
die Luft.
„Cassie! Ich dachte, du seist mit Toby und Sam draußen im Kanu.“
„Ich habe es mir anders überlegt. Ich wollte lieber noch die Stabdrehungen
üben.“ Ihre grünen Augen durchbohrten Penny. Mit dem Stab klopfte sie in ihre
Hand. „Aha, ich brauche nur eine Minute wegzugucken, und schon versuchst du,
mir den Jungen auszuspannen.“
„Nein, du hast das falsch verstanden, Cassie. Ich wußte überhaupt nicht, daß
Steve hier ist. Ich wollte mir nur ein Eis holen.“
„Ha! Hat er dich deswegen gerade ins Kino eingeladen? Du hast doch den ganzen
Sommer nur daran gedacht, wie du ihn wiederhaben kannst, aber das
funktioniert nicht! Und jetzt hau ab, bevor ich dich windelweich schlage.“ Sie hob
den Stab, doch Penny wehrte jeden ihrer Angriffe ab.
„Cassie! Hör auf!“ rief Steve, doch nichts konnte sie in ihrer Wut bremsen.
Cassie griff wieder an, und dieses Mal konnte Penny kaum ausweichen. Das harte
Ende aus Gummi traf sie in die Rippen. Ein stechender Schmerz durchfuhr sie.
Plötzlich erinnerte sie sich an alle Hänseleien von Cassie und daran, wie sie am
letzten Schultag versucht hatte, sie und Fei fertigzumachen.
„Na gut, Cassie, jetzt wirst du bezahlen.“
Mit einem einfachen Schritt zur Seite brachte Penny das Mädchen aus dem
Gleichgewicht und packte sie am Handgelenk. Sie drehte es solange, bis Cassie
auf die Knie fiel. Dann bog sie ihr den Arm auf den Rücken und zog ihn hoch.
Gleichzeitig stemmte sie ihr Knie auf den Rücken der Angreiferin und wollte
gerade zum letzten Schlag ausholen, als sie eine Stimme hörte.
„Penny! Nein!“
Penny guckte hoch. Vor ihr stand Tommy. Er war außer Atem, weil er den ganzen
Weg von der Kanuvermietung gerannt war.
„Penny, denk daran, was Großvater über das Kämpfen gesagt hat.“
„Nein! Er mußte sich ja auch nie Cassie Fairchilds’Beleidigungen anhören!“
„Nein, Penny, du darfst nicht kämpfen. Niemals. Nur zur Selbstverteidigung im
äußersten Notfall.“ Er zeigte auf die hilflose Cassie, deren Gesicht in den Sand
gedrückt war.
„Tommy, bitte“, flehte Penny.
„Laß ihren Arm los“, befahl er nachdrücklich. Er legte seine eigenen starken
Finger über Pennys und zwang sie, loszulassen. Während er Penny hochzog,
rappelte Cassie sich wieder auf, fluchte wie wild und rannte zu ihrem Jeep.
„Es tut mir leid, Penny“, entschuldigte sich Steve, lief Cassie nach und sprang in
das Auto.
Penny schossen heiße Tränen in die Augen, als sie sich gegen Tommy wehrte.
„Wie konntest du nur? Ich dachte, du bist mein Freund! Warum hast du mich
aufgehalten? Jetzt wird sie noch ekliger als vorher sein! Ich werde ihr nie wieder
in der Schule begegnen können!“
Tommy versuchte, Pennys Arme festzuhalten, aber sie wich ihm aus. Er machte
nicht einmal Anstalten, ihre Schläge auf seine Brust abzuwehren. Schließlich
hörte sie auf, ihn zu schlagen. Schluchzend entwand sie sich seinem Griff und
rannte zu den Umkleidekabinen.
Fünf Minuten lang heulte sie und schnupfte sich die Nase in dem rauhen
Toilettenpapier aus. Als sie hochsah, stand Fei schweigend neben ihr.
„Ist es jetzt besser?“
„Ja, ja. Ein typischer Tag in meinem Leben. Ich bin nicht mal dazu gekommen,
mein Eis zu essen.“
„Ich weiß“, sagte Fei und hielt ihr ein Eis hin, das sie hinter ihrem Rücken versteckt gehalten hatte. „Hier, ich habe dir ein neues gekauft.“ Dankbar nahm Penny das Eis an. „Danke, Fei.“ Sie fühlte sich gleich besser. Ein paar Minuten später verließen die beiden Mädchen wieder das Badehaus. Man konnte Penny kaum ansehen, daß sie geweint hatte. Der Rest des Tages verlief ruhig. Penny aß gegrilltes Huhn und machte Tante Sung Hoa Komplimente zu dem gebratenen Fisch. Sie übte etwas T’ai Chi mit Fei und dem Großvater, aber Tommy ignorierte sie. Dann gingen sie alle schwimmen. Penny hatte den Großvater endlich davon überzeugt, daß Fei schwimmen lernen sollte und daß es unmöglich wäre, wenn sie vollständig angezogen ins Wasser ginge. Fei war überglücklich. Sie lachte und spielte mit Pennys kleinen Brüdern, die fanden, daß sie das hübscheste Mädchen auf der ganzen Welt sei. Das Picknick war für alle ein großer Erfolg. Nur in Penny stieg Trauer auf. Jedesmal, wenn sie Tommy ansah, wie sein schöner brauner Körper im Wasser glänzte und seine Muskeln spielten, gab es ihr einen Stich. Wenn sie nicht den Streit mit Cassie gehabt hätte, hätte sie jetzt in seinen Armen liegen können. Sie hatte sich solche Hoffnungen gemacht, Tommy an diesem Tag näherzukommen. Nun war er weiter weg als vorher. Auf dem Rückweg paßte Penny auf, daß sie nicht neben Tommy saß. Sie war schon früher in Verlegenheit gebracht worden, aber er hatte sie noch nie gedemütigt. Sie war im Recht gewesen, das war sicher. Cassie hatte sie angegriffen, und sie hatte sich nur verteidigt. Als sie aus dem Fenster in die Abenddämmerung schaute, beschloß sie, nie mehr zu den KungFuStunden zu gehen.
10. KAPITEL Am nächsten Morgen wachte Penny wie gewohnt zur gleichen Zeit auf. Sie stieg
auf den Dachboden, zündete die Kerzen an und setzte sich mit dem Gesicht zur
aufgehenden Sonne, doch ihr Kopf wurde einfach nicht leer. Immer wieder sah
sie die Szene am Strand und Tommys strafenden Blick vor sich. Als die Sonne
aufgegangen war, ging Penny zurück ins Bett und schlief wieder ein.
Um acht Uhr wachte sie wieder auf. Es war schon ziemlich warm. Sie begann,
ihre Schulsachen zu sortieren und bereitzulegen. Danach entschloß sie sich,
endlich den Garten in Ordnung zu bringen. Darum hatte ihre Mutter sie schon
seit Wochen gebeten.
Nachdem sie den Rasen gemäht hatte, ging sie zu dem kleinen Schuppen und
holte die Gartenwerkzeuge heraus. Sie streifte ein Paar Gummihandschuhe über
und machte sich daran, das Unkraut zwischen den Rosen zu jäten, die Erde
aufzulockern und tote Zweige abzuschneiden. Bald brannte die Sonne so heiß,
daß Penny sich den dummen Strohhut aufsetzen mußte, den ihre Mutter immer
trug.
Während sie das Unkraut herauszog und den trockenen Boden umgrub, hörte sie
hinter sich Schritte. Ein Schatten fiel auf sie. Schnell sah sie hoch.
„Tommy! Was tust du denn hier?“
„Komisch, dasselbe wollte ich dich gerade fragen.“ Er hockte sich neben sie.
„Tja, ich wollte endlich mal die Beete für Mom in Ordnung bringen.“
„Das sehe ich. Soll ich dir helfen?“
Penny sah in seine dunklen Augen. Er trug seine übliche Trainingskleidung: weite
schwarze Hosen und ein weißes TShirt, daß sich über seinen Muskeln spannte.
An den Füßen hatte er weiche schwarze KungFuSchuhe aus Stoff.
„Na gut, wenn du willst.“
Tommy begann, das Unkraut zu zupfen. Dann nahm er sich die Heckenschere
und schnitt ein paar tiefhängende Rosenzweige ab.
„Weißt du, wenn es nur drei Schüler in einer Klasse gibt, fällt es irgendwie auf,
wenn einer fehlt.“
„Ich war zu beschäftigt. Wenn ihr ein Telefon hättet, hätte ich angerufen und
abgesagt.“
„Natürlich. Das habe ich auch zu Großvater gesagt, als er heute morgen nach dir
gefragt hat. Er macht sich ziemliche Sorgen um dich.“
„Wirklich?“ Penny hatte leichte Gewissensbisse. „Sag ihm, daß es mir leid tut, ich
wollte ihn nicht beunruhigen.“
„Warum sagst du ihm das nicht selbst?“
„Ich kann nicht, Tommy. Mit Kung Fu bin ich fertig.“
„Was? Das ist doch nicht dein Ernst, oder?“
„Doch, ich fürchte ja. Nach dem, was gestern passiert ist, ist mir klar geworden,
daß ich niemals so demütig sein werde, wie ihr es erwartet. Es liegt mir nicht,
ruhig dazustehen und mir Beleidigungen von Leuten wie Cassie Fairchild
anzuhören. Ich werde böse und wütend und will zurückschlagen. Irgendwann
könnte ich jemanden ernsthaft verletzen. Es ist besser, wenn ich jetzt aufhöre,
bevor ich noch tödlicher werde.“
„Bist du sicher, daß du deshalb heute nicht gekommen bist?“
„Es ist dicht genug an der Wahrheit.“
Penny riß energisch an dem Unkraut, bis Tommy seine Hand auf ihre legte.
„Bitte, Penny, sag mir die Wahrheit. Ich möchte nicht, daß so etwas zwischen uns
steht. Ich gebe ja zu, es war falsch, dich vor deinen Freunden zu kritisieren. Aber
über etwas solltest du dir klar sein.“
„Alles, was mir klar ist, ist, daß ich recht hatte. Cassie hat auf mir rumgehackt und mich beleidigt, und sie hat als erste zugeschlagen. Ich habe mich nur verteidigt.“ „Bist du sicher? Wirklich sicher?“ Schweigend schaute Penny in sein braunes Gesicht. Die dunklen Augen hatten einen freundlichen und mitfühlenden Ausdruck, keinen spöttischen, wie sie gedacht hatte. „Na gut, Tommy. Ich war wütend auf sie, ich wollte mich rächen, und zwar dafür, wie sie mich am letzten Schultag behandelt hat. Ich wollte beweisen, daß ich stärker bin als sie und sie unterkriegen kann. Ich schätze, das war falsch.“ „Ich habe mich auch falsch verhalten. Ich hätte dich beiseite nehmen sollen und dir Großvaters Gründe dafür, nicht zu kämpfen, erklären sollen. Aber ich mußte dich stoppen, bevor alles außer Kontrolle geriet. Hätte ich es nicht getan, hättest du Cassie verletzen können, und alles wäre noch schlimmer geworden.“ „Aber die Rache hätte mir gutgetan!“ „Nein, wenn Großvater es herausgefunden hätte, wärst du bestraft worden und würdest dich noch schlechter fühlen als jetzt. Er hätte dich nicht weiter unterrichtet, sondern dir gesagt, daß du gehen sollst.“ „Was! Er hätte mich rausgeschmissen?“ Tommy nickte. „Ich habe gesehen, wie er Schüler noch viel schlimmer bestraft hat, für viel kleinere Vorfälle. Aus Rache zu kämpfen, vergibt er seinen Schülern nie.“ „Wenn das so ist, sollte ich dir danken. Aber was hat er heute morgen gesagt, als du es ihm erzählt hast?“ „Nun… ehrlich gesagt, ich habe mir etwas ausgedacht. Ich habe gesagt, daß du auf etwas Spitzes getreten bist und dir den Fuß verletzt hast. Er hat mich hergeschickt, um nach dir zu sehen.“ Penny warf die Arme um Tommys Hals. „Oh, danke, Tommy, du hast mir das Leben gerettet!“ Tommy erwiderte ihre Umarmung. In dem Moment sah Penny jemanden an der Hecke vorbeigehen. Sie erstarrte, als Steve um die Ecke kam. Schnell ließ sie Tommy los und stand auf. „Steve! Warte mal, es ist nicht das, was du denkst!“ „Nein. Ich bin sicher, daß es viel schlimmer ist!“ Steve blieb nicht einmal stehen. Penny starrte ihm nach, dann ging sie zurück zum Blumenbeet. „Das war’s dann wohl“, knurrte sie und riß ein Unkraut samt Wurzeln und allem heraus. „Penny, bist du immer noch in Steve verliebt?“ „Verliebt? So habe ich das nie gesehen. Weißt du, ich bin nicht sicher, was ich für ihn fühle.“ Tommy legte ihr die Hand auf die Schultern. „Das ist ein gutes Zeichen. Menschen, die sich ihrer Liebe sicher sind, werden auch am meisten verletzt. Wenn du dir nicht sicher bist, wirst du besser vorbereitet sein.“ Penny lachte. „Tommy Lieu, du klingst jeden Tag mehr wie dein Großvater. Als nächstes wirst du mir bestimmt eine Parabel über leere Eimer erzählen.“ Sie gab ihm einen freundschaftlichen Schubs. Er tat so, als wäre er getroffen, und schlug zurück, aber sie wehrte ihn ab. Eine Weile rauften sie sich so, bis Tommy eine Lücke in ihrer Abwehr nutzte und sie umwarf. Er hielt ihr seine Hand hin, um ihr aufzuhelfen, aber Penny wendete einen schnellen Fußhaken an, und schon fiel er neben sie ins Gras. Schwer atmend lagen sie nebeneinander im Gras. „Laß uns lieber gehen. Großvater will wissen, wie es dir geht.“ „Glaubst du, daß er böse ist?“
„Ich würde lieber nichts riskieren. Hast du einen Verband da?“
„Klar, komm mit rein.“
In der Hausapotheke fanden sie einen langen Verband und Gaze. Tommy
bandagierte ihren rechten Fuß und befahl ihr zu humpeln.
Als sie bei dem Haus in der Mulberry Lane ankamen, führte der Großvater Penny
sofort in das Zimmer, in dem er seine gräßlich riechenden Kräuter und
Medikamente aufbewahrte. Sein ganzes Leben lang hatte er chinesische
Kräutermedizin studiert und konnte fast jede Wunde heilen. Er nahm den
Verband ab und sah den heilen Fuß.
„Hm. Wie ich sehe, hat Kleiner Leopard ihre eigene Medizin benutzt, um sich zu
heilen.“
„Es tut mir leid, Sifu.“ Sie sah auf Tommy, der in der Tür stand.
Er sagte etwas auf chinesisch zu seinem Großvater. Sofort stand der Alte auf,
sprach sehr schnell und zeigte in den Garten. Tommy verbeugte sich und lief
nach draußen. Durch das Fenster konnte Penny sehen, daß er sich in der hinteren
Ecke in der MaBuPosition aufstellte. Seine Beine waren gespreizt, als säße er
auf einem Pferd. Wenn man länger so stand, tat es sehr weh.
„Wie lange wird er so stehen müssen?“ fragte sie.
„Bis er seine Lektion gelernt hat. Wenn man die Schwere seiner Lüge bedenkt,
wahrscheinlich zwei Stunden oder länger.“
„Warum bestrafen Sie Tommy? Ich bin doch diejenige, die heute nicht
gekommen ist. Ich habe so getan, als hätte ich mir den Fuß verletzt!“
„Aber er hat mich angelogen.“
„Er wollte mich doch nur schützen. Es war keine böse Lüge. Er hat es gut
gemeint, finden Sie nicht?“
„Es ist besser, die Wahrheit zu sagen, als ein nobler Lügner zu sein, Kleiner
Leopard. Geh jetzt nach draußen.“ Der alte Mann legte ihr seine schmalen harten
Finger auf die Schulter und drehte sie zur Tür. „Geh jetzt und stelle dich in der
MaBuPosition dreißig Minuten lang neben ihn.“
„Dreißig Minuten! Dann bestrafen Sie mich also doch für die Lüge!“
„Nein, Kleiner Leopard, du wirst bestraft, weil du heute zu spät zum Training
gekommen bist. Bitte verspäte dich nie wieder, oder du brauchst überhaupt nicht
mehr wiederzukommen.“
„Ja, Sifu. Aber dreißig Minuten! Das halte ich nie und nimmer durch.“
„Wenn du dreißig Minuten schaffst, darf Tommy mit dir aufhören.“
Penny verbeugte sich schnell und rannte zu Tommy. Außer, daß er die Zähne
zusammenbiß, war ihm nichts vom Schmerz anzumerken. Penny schluckte
schwer und stellte sich in die Position. Der Schmerz stieg ihr in die Oberschenkel.
Nach fünfundzwanzig Minuten begannen ihre Beine zu zittern. Sie bemerkte es
kaum, als Sung Hoa mit einem kühlen nassen Lappen herauskam. Sanft wischte
sie Tommys Stirn ab, dann Pennys. Penny wollte etwas sagen, aber wegen der
Schmerzen verkniff sie es sich, sonst hätte sie geschrien.
„Die dreißig Minuten sind um“, sagte der alte Mann leise.
Penny und Tommy fielen auf den Boden. Ihre Beine waren steif und taten weh.
Stöhnend rieb Penny sich die Schenkel und mußte lachen, als sie Tommys
schmerzverzerrte Miene sah.
„Ich schwöre, ich werde nie wieder etwas sagen. Wenn du das nächste Mal in der
Klemme steckst, kannst du sehen, wie du da wieder rauskommst“, meinte er
finster, doch seine Augen lachten dabei.
11. KAPITEL „Wie findet man in so einem überfüllten Bus bloß einen Sitzplatz, Penny?“ fragte
Fei Lieu. Ihre dunklen Augen blickten besorgt auf den alten gelben Schulbus, der
um die Kurve gerumpelt kam.
„Ganz leicht. Man schubst und drängelt, und der Beste gewinnt.“
Feis Augen wurden größer, je näher der Bus kam. „Vielleicht sollte ich doch lieber
zu Fuß zur Schule gehen.“
„Soll das ein Witz sein? Nachdem ich deinen Großvater so lange bearbeitet habe,
bis er erlaubt hat, daß du mit mir fahren darfst? Vergiß es, Mädchen!“
„Das war eine echte Leistung. Wie hast du das eigentlich geschafft?“
„Mir ist ein Zitat von General SunTzu eingefallen: ‚Kenne den Feind.’ Dein
Großvater ist doch ein sehr logischer Mann. Das ist auch gleichzeitig sein
schwacher Punkt. Wenn man es logisch beweisen kann, stimmt er fast allem zu.
Also habe ich ihm bewiesen, daß Gehen zwei Stunden dauert, die du viel besser
dazu nutzen könntest, Kung Fu zu trainieren.“
„Tommy meinte, es sei ein Wunder.“
„Genau, wo ist er eigentlich?“
„Er will jetzt jeden Tag zur Schule joggen, um seine Kondition zu verbessern.
Jedenfalls solange, wie das Wetter gut ist.“
„Dabei fällt mir etwas ein. Ich habe noch einen Plan auf Lager.“
„Was?“
„Wäre es nicht toll, wenn Tommy ein gebrauchtes Auto kaufen dürfte und uns zur
Schule fahren könnte? Dann könnte ich jeden Morgen eine halbe Stunde länger
schlafen, und wir müßten uns keine Sorgen um einen Sitzplatz im Bus machen.“
„Das wird Großvater niemals erlauben, Penny. Da bin ich ganz sicher.“
Penny starrte ins Leere, während der Bus mit quietschenden Bremsen anhielt.
Abwesend nahm sie ihre Bücher.
„Weißt du, ich bin sicher, daß es eine Möglichkeit gibt, ihn zu überzeugen. Ich
muß nur das Buch vom General noch mal lesen.“
„Ich glaube, wenn Großvater wüßte, daß du den guten General und seine
Prinzipien dazu benutzt, ihn auszutricksen, würde er das Buch verbrennen“,
meinte Fei und stieg in den Bus.
Leider hatten die drei Freunde keinen einzigen Kurs zusammen. Tommy war in
der Zwölften, Fei in der Elften, und Penny ging in die zehnte Klasse. Sie sahen
sich nur manchmal in den Pausen. Penny konnte es kaum erwarten, bis der
Unterricht aus war und sie ihre Freunde wiedersehen konnte.
Schließlich war Penny in der letzten Stunde, Sport. Ihre Lehrerin, Miss Palmer,
war neu an der Schule. Die meisten Mädchen stöhnten und beschwerten sich,
daß sie zu streng sei, aber Penny fielen die Aufgaben alle leicht. Nach der Stunde
ging sie mit Cheryl aus der Halle.
„Uh, sieh mal da“, flüsterte Cheryl.
Penny drehte sich um und sah Steve und ein paar andere Jungs. Als er sie
entdeckte, winkte er.
„Oh, ich glaube, ich gehe lieber. Wir sehen uns nachher im Bus.“ Cheryl winkte
dem näherkommenden Steve zu und machte sich aus dem Staub.
„Hi, Steve“, grüßte Penny und drückte ihre Bücher fester an sich. „Wie sind deine
neuen Kurse?“
„Schrecklich. Ich habe Mr. Spinks in Mathe. Wie steht’s bei dir?“
„Ganz gut. In Englisch habe ich Miss Harper, das wird eine echte Erholung sein.“
„Du siehst toll aus. Dieses Jahr bist du richtig braun geworden.“
„Danke. Das kommt vom vielen Rasenmähen.“
„Ich wünschte, ich hätte diesen Sommer auch gearbeitet. Ich brauche Geld. Aber alles, was ich getan habe, war am Swimmingpool herumzuliegen und an den See zu fahren.“ „Und darüber beschwerst du dich?“ „Nein, nicht über das Wasser oder die Sonne. Aber es gefällt mir nicht, daß Cassie mich sozusagen ausgehalten hat. Sie hat darauf bestanden, alles zu bezahlen. Geld bedeutet ihr nichts.“ „Du klingst nicht sehr glücklich.“ „Es war nicht so, wie ich gehofft hatte.“ „Wirklich? Ich dachte, du hättest alles, was du wolltest.“ „Das dachte ich auch. Aber als ich dich Samstag am See gesehen habe, ist mir klar geworden, daß alles ein großer Fehler war. Ich fand es toll, mit einem so bekannten Mädchen zu gehen. Ich wollte mich in ihrer Beliebtheit sonnen und dadurch auch beliebt sein. Mensch, war das ein Irrtum! Ich war nur ihre Marionette. Alle beachteten immer nur sie, ich war ein totales Nichts. Ich war ihr völlig egal. Sie wollte mich nur von dir loseisen, um damit vor den anderen Mädchen angeben zu können.“ „Tut mir leid, Steve. Ich dachte, du wärst glücklich.“ „Das muß dir nicht leid tun. Ich habe meine Lektion gelernt. Ich werde mit ihr Schluß machen. Gestern abend habe ich es schon versucht, aber sie war zu beschäftigt, um zu reden. Also werde ich es heute tun.“ „Na, dann viel Glück. Du wirst bestimmt das richtige Mädchen für dich finden.“ „Ich habe die Richtige schon gefunden. Oder besser gesagt, wiedergefunden.“ Er sah ihr direkt in die Augen. „Danke, Steve, aber ich möchte zur Zeit mit niemandem gehen. Ich werde mit der Schule und dem KungFuTraining genug zu tun haben.“ Nun war es raus! „Wie schade. Es tut mir wirklich leid, daß ich so viel Ärger verursacht habe. Kann ich dich mal anrufen?“ „Klar, jederzeit. Und viel Glück.“ Steve richtete sich auf und ging. Penny sah ihm nach. Es kam ihr merkwürdig vor, daß er ihr mal so wichtig gewesen war. Während Penny die Bücher in ihrem Arm zurechtrückte, fiel ihr Blick auf ein Plakat, das an der Eingangstür zur Sporthalle hing. Achtung! An alle Sportler! Wer will die Chance wahrnehmen und sich mit anderen sportlichen Talenten messen? Wer will diese Schule in einem landesweiten Wettbewerb vertreten? In welcher Disziplin bist du stark: Laufen, Weitsprung, Werfen oder Gymnastik? Alle Sportarten sind vertreten. Penny las weiter. Jede High School im Staat sollte einen Jungen und ein Mädchen
auswählen. Jeder, der die Zustimmung des Sportlehrers hatte, konnte
teilnehmen. Die Ausscheidung dafür würde nächste Woche stattfinden. Wer ins
Finale kam, würde schließlich vor der ganzen Schule antreten und von einer
Gruppe von Lehrern beurteilt werden.
Penny sah auf die Uhr. Der Bus würde erst in zehn Minuten kommen. Sie hatte
noch Zeit, sich von Miss Palmer ein Bewerbungsformular zu holen. Als sie gerade
die Hallentür aufstieß, durchschnitt eine schrille Stimme die Luft.
„Du weißt einfach nicht, wann man aufhören sollte, nicht, Graham?“
Penny fuhr herum und sah Cassie.
„Du denkst doch wohl nicht daran, dich an dem Wettbewerb zu beteiligen, oder?
Du weißt doch, daß du einfach nur hinfliegst, genau wie letztes Mal.“
Penny versuchte, Cassie zu ignorieren und ihr aus dem Weg zu gehen, doch sie
stand genau in der Tür.
„Hey! Ich rede mit dir! Du glaubst wohl, daß du was Besonderes bist, weil du
diese chinesische Freundin hast! Tja, sie ist jetzt nicht da, um dich zu
beschützen! Ich werde dir zeigen, was du davon hast, mir den Jungen
auszuspannen!“
Cassie machte einen Schritt nach vorne und holte aus. Penny duckte sich und
wich dem Schlag ganz leicht aus. Cassie griff wieder an, und Penny wich noch
mal aus. Jedesmal wenn Cassie angriff, entzog sich Penny einfach ihrer
Reichweite. Cassie wurde ganz wahnsinnig.
„Steh still, du Feigling! Bleib hier und kämpfe, du Schlange!“
„Ich werde nicht mit dir kämpfen.“
Cassie lief rot an. Sie schlug und trat, bis sie Penny in die Ecke gedrängt hatte.
„Jetzt habe ich dich! Du mußt kämpfen!“
Sie versuchte einen Boxhieb, aber Penny wehrte ihn ab. „Nein. Du kannst mich
nicht dazu bringen, mich mit dir zu schlagen.“
Während Penny sprach, öffnete sich die Hallentür, und Miss Palmer sah die
beiden an.
„Was ist hier los, Mädchen?“
„Nichts, Madam“, erwiderten die beiden.
„Dann geht jetzt raus und nach Hause. Und Cassie, ich möchte mit dir über
diesen Sportwettbewerb reden. Mir wurde gesagt, daß du hier die beste Athletin
bist, aber du hast noch gar keine Bewerbung ausgefüllt.“
„Tut mir leid, Miss Palmer, das habe ich vergessen.“ Das Mädchen warf Penny
einen Blick zu. „Ich glaube nicht, daß ich sehr viel Konkurrenz haben werde.“ Ihr
Mund verzog sich zu einem Grinsen. Dann lief sie Miss Palmer nach. Penny
starrte lange auf das Plakat, bis ihr Herzschlag sich wieder beruhigt hatte.
Vielleicht war es doch nicht so gut, an dem Wettbeweb teilzunehmen. Als sie sich
umdrehte, fuhr sie erschreckt zusammen.
„Tommy! Wie lange stehst du hier schon?“
„Lange genug.“
„Dann hast du gesehen…“
„Alles.“
„Was willst du hier?“
„Ein paar Jungs haben mir von dem Plakat erzählt. Und als ich herkam, habe ich
im Flur den Lärm und alles gehört. Und wen sehe ich da?“
Er lächelte und legte einen Arm um sie, um sie zu dem Plakat zurückzuziehen.
„Ich bin stolz auf dich, daß du nicht gekämpft hast. Großvater wird das auch
gerne hören.“
„Ja, kann schon sein, aber…“
„Was ist los?“
„Naja, jetzt hält Cassie mich für feige und wird mich das ganze Jahr nicht in Ruhe
lassen. Andererseits… wenn ich sie besiegt hätte, würde sie mich nur noch mehr
hassen. Egal was ich tue, es ist immer falsch.“
Tommy zeigte auf das Plakat. „Hier ist die Antwort auf dein Problem.“
„Der Wettbewerb? Ich habe auch schon daran gedacht, mitzumachen, aber
Cassie wird dabeisein. Es hat keinen Sinn, die Lage zu verschlimmern.“
„Nein, du solltest wirklich mitmachen.“
„Was soll das?“
„Denk an den Rat von General SunTzu. Erinnerst du dich an die Theorie von
dem unbenutzten Schwert? Der beste Weg, den Krieg zu gewinnen, ist, niemals
eine Schlacht zu schlagen. Komm mit rein und unterschreib Vielleicht können wir
zusammen eine Kampfszene zeigen.“
12. KAPITEL Am Tag der Endausscheidung für den Wettbewerb wachte Penny mit einem flauen Gefühl im Magen auf. Während sie auf den Bus wartete, versuchte sie, sich bei einer TaiChiÜbung mit Fei zu entspannen, doch sie konnte sich nicht konzentrieren. Schließlich gab sie es auf. „Oh, Fei, ich kann es immer noch nicht glauben, daß Tommy und ich ins Finale gekommen sind. Ich wünschte, du wärst auch dabei.“ „Nein, danke. Großvater denkt sowieso schon, daß ich zu weltlich werde, seit ich Jeans und sowas trage. Ich überlasse die Ehre des Sieges und Großvaters Mißbilligung gerne dir und Tommy.“ Mit eleganten Zeitlupenbewegungen ging sie durch eine Reihe Abwehr und Schlagtechniken. „Wahrscheinlich hast du recht. Außerdem, wenn du mit dabei wärst, hätte ich nicht die leiseste Chance.“ „Dein Sieg wird einen ganz schönen Wirbel verursachen. Ich habe von so vielen gehört, daß sie sicher sind, daß Cassie gewinnt. In den letzten zwei Wochen soll sie Tag und Nacht an ihrer Gymnastikvorführung gearbeitet haben. Mit ihr muß man rechnen, sie ist sehr gut.“ „Ja, das habe ich auch gehört. Aber Tommy und ich haben unser Kampfszene auch lange trainiert. Es war nicht einfach.“ „Entspanne dich einfach und vertraue deinem Instinkt. Wenn du weiter so nervös bist, fließt deine Energie aus dem Körper heraus.“ Sie beendete die letzte Figur, nahm dann ihre Bücher und sah auf die Uhr. „Gleich kommt der Bus. Vergiß nicht, Nervosität laugt dein Chi aus.“ Den ganzen Tag dachte Penny an Feis Worte und versuchte, sich nicht zu viele Sorgen zu machen. Aber wo sie auch hinkam, drehte sich die Unterhaltung nur um die Endausscheidung und die Frage, wer sie gewinnen würde. Es gab im Finale fünf männliche und fünf weibliche Sportler. Cassie war die haushohe weibliche Favoritin und ein großer schlanker Junge aus der Zwölften, Frank O’Brian, der männliche. Nur wenige Schüler wußten etwas von Tommy. Es war für ihn gar nicht so leicht gewesen, die Sportlehrerin überhaupt davon zu überzeugen, daß sie beide mitmachen konnten. Miss Palmer sah in Kung Fu eine reine Kampftechnik und hatte Angst, daß die Vorführung die Schüler zum Kämpfen verleiten würde. Tommy konnte sie nur mit einer spontanen Einlage davon überzeugen, daß Kung Fu verteidigend und nicht aggressiv war. Penny bemühte sich, ruhig zu bleiben. In den Stunden atmete sie so, wie sie es gelernt hatte, doch am Nachmittag, als alle Schüler in die Sporthalle gingen, um das lang erwartete Finale zu sehen, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Sie zupfte an ihrer weiten KungFuHose herum und steckte das Hemd zum zehnten Mal ordentlich in die Schärpe. Unruhig lief sie auf und ab, ging dann vor die Halle und trank noch einen Schluck Wasser aus dem Springbrunnen. Sie sah die Reihen von Schränken im Umkleideraum entlang. Cassie und die anderen machten ihre Aufwärmübungen. Cassie würde als vorletzte, Penny und Tommy würden als letzte dran sein. Wieder lief Penny hin und her und machte dann selbst ein paar Streckübungen. „Komm hierher, Kleiner Leopard“, sagte Tommy. Penny stand vor ihm. Mit gekreuzten Beinen saß er abseits von dem ganzen Rummel in einer Ecke. Er nahm ihre Hand und zog sie auf den Boden. „Jetzt atme so, wie Großvater es dir gezeigt hat. Lasse alle Gedanken aus deinem Kopf verschwinden.“ Penny schloß die Augen und begann, langsam und tief zu atmen. Sie fühlte seine warmen Hände, die ihre hielten. Da erklang durch die geschlossene Hallentür
Applaus. Penny riß die Augen auf. „Oh… da drinnen sitzen sie alle! Ich kann da nicht reingehen. Weißt du noch, wie ich letztes Mal hingefallen bin und sie alle über mich gelacht haben? Was ist, wenn ich es wieder vermassel? Erst die Cheerleaderausscheidungen und jetzt das hier… Ich werde mich nie wieder blicken lassen können. Ich werde mein Leben lang eine Versagerin sein!“ „Penny, du hast nicht zugehört. Atme tiefer und langsamer. Denk zurück, an einen weit entfernten Platz. Es ist ein wunderschöner Platz mit hohen Bergen, plätschernden Bächen und zartem Nebel. Siehst du’s?“ „Ja… Ich sehe den Yellow River… und ich sehe… deine Tante Sung Hoa und ihren Freund Jiang ShaoMing… Sie sind endlich zusammen.“ Plötzlich wurde das Publikum lauter als die Male zuvor. Penny öffnete die Augen und sah sich um. Cassie war weg! Tommy drückte sanft ihre Hand. „Gib einfach dein Bestes, und alles andere passiert von selbst.“ Die Hallentür öffnete sich, und Miss Palmer streckte den Kopf herein. „Hey, KungFuKids, ihr seid als nächstes dran.“ „Laß uns gehen, Kleiner Leopard“, sagte Tommy und stieß die Tür zur Halle auf. Einen Moment lang war Penny wie erstarrt, während sie die endlosen Reihen von Gesichtern sah und die Hitze der Scheinwerfer über sich spürte. Die Menge verstummte, als der Ansager erklärte, daß Tommy seine athletischen Fähigkeiten in der männlichen Kategorie zeigen würde und Penny gleichzeitig in der weiblichen. Sie würden eine Zweipersonenszene vorführen, aber getrennt bewertet werden. Penny hielt Tommys Hand und fühlte, wie seine Energie in ihren Körper strömte. Sogar ihre Atmung wurde jetzt kontrollierter, und ihr Herz schlug nicht mehr so stark. Sie verbeugten sich vor dem Publikum, vor der Jury und schließlich voreinander. Dann fingen sie an. Kurz vor dem Ende sprang Penny hoch in die Luft, drehte sich und landete weich auf den Füßen. Die Menge brach in begeisterten Applaus aus, sie riefen, pfiffen und klatschten. Penny traten Tränen in die Augen, als die Schüler sich sogar von ihren Bänken erhoben! Sie fand Tommys Hand. Wieder verbeugten sie sich und gingen dann zur Tür. „Puh! Das ist unglaublich!“ Nach Luft japsend, lehnte sie sich an die Umkleideschränke. „Ich fasse es einfach nicht!“ „Du warst großartig“, sagte Tommy. „Ich wußte, daß dein Instinkt die Führung übernehmen würde, sobald du deine Zweifel vergessen hattest.“ Stürmisch umarmte sie ihn, bis Miss Palmer hereinkam. „Herzlichen Glückwunsch, ihr zwei. Ihr habt beide gewonnen. Tommy ist der beste männliche Sportler, und Penny die beste weibliche Sportlerin. Ihr müßt eure Pokale in Empfang nehmen.“ Sowie Penny und Tommy wieder die Halle betraten, brach der Applaus erneut los und verstummte erst, als der Direktor das Mikrofon zur Hand nahm. Zuerst sagte er die zweiten Sieger an. Cassie war zweite bei den Frauen. Penny sah ihr enttäuschtes, tränenverschmiertes Gesicht. Frank O’Brian war zweiter bei den Männern geworden. „Tommy, komm herauf zu mir“, sagte der Direktor. Tommy stieg auf das Podium und nahm den kleinen goldenen Pokal in Empfang. „Herzlichen Glückwunsch. Sag doch ein paar Worte, Tommy.“ Tommy ging zum Mikrofon. „Ich danke der Jury für ihr Urteil und den Schülern für ihre Unterstützung. Ich weiß diese Ehre zu schätzen und werde diesen Tag nie vergessen. Trotzdem… Ich kann den Sieg nicht annehmen.“
Ein Murmeln ging durch das Publikum. Überrascht öffnete Penny den Mund. „Ich habe an diesem Wettbewerb nicht teilgenommen, um zu gewinnen, sondern um zu zeigen, was Kung Fu ist. Ich wollte die Leute auf die Schönheit und die Philosophie der NichtGewalt aufmerksam machen. Ich wollte euch zeigen, daß Kung Fu nicht dazu da ist, unsere Mitmenschen zusammenzuschlagen, sondern sich selbst verteidigen zu können und unter Kontrolle zu haben. Den Zweck habe ich heute erfüllt. Ich glaube, diese Schule wird im nächsten Monat besser durch jemanden vertreten sein, der wirklich für die Schule und die eigene Ehre gewinnen will. Dafür bin ich nicht der Richtige.“ Tommy hielt die Menge stumm, doch dann brach der Applaus los. Als Tommy an Penny vorbeikam, flüsterte er: „Folge einfach deinem Instinkt.“ Penny trat auf das Podium und nahm ihren Pokal entgegen. Sie sah auf das gespannte Publikum, dann zu Cassie. Ihre Augen waren immer noch rot und ihr Makeup zerlaufen. Penny stellte sich auf Zehenspitzen, um das Mikrofon zu erreichen. „Alles, was Tommy gesagt hat, gilt auch für mich. Ich glaube, daß Cassie Fairchild die beste Sportlerin ist, die die Waterford High School je gehabt hat. Ich weiß, daß sie ihr Bestes tun wird, um für uns zu gewinnen. Hier, Cassie.“ Penny legte den Pokal in Cassies Hände. Ungläubig starrte das Mädchen auf die Statue, dann auf Penny. „Danke“, sagte sie schließlich. „Das werde ich dir nie zurückgeben können.“ „Das hast du schon“, meinte Penny lächelnd und rannte hinter Tommy her, der schon draußen war. Nachdem der Direktor die Veranstaltung beendet hatte, strömten die Schüler von den Tribünen, um Cassie und Frank zu gratulieren. Draußen im Flur umringten sie Tommy und Penny. „Wo habt ihr das gelernt? Wer unterrichtet euch? Wo ist eure Schule? Wieviel kostet sie?“ Sie stellten immer wieder dieselben Fragen, bis Tommy schließlich die Hand hob und laut sagte: „Ich bin ich keiner Schule. Mein Großvater unterrichtet uns. Wenn ihr in eine Schule wollt, müßt ihr nach Fort Worth oder Dallas gehen. In Houston gibt es eine, die sehr gut ist, Yangs Shaolin Kung Fu.“ „Aber das ist alles viel zu weit weg. Warum machst du nicht deine eigene Schule auf, Tommy?“ schlug ein Junge vor, und alle anderen stimmten mit ein. Tommy versprach, ihnen Bescheid zu geben, falls er wirklich eine Schule aufmachen würde. Als sie gingen, entdeckte Penny Fei, die von den Schülern fast ganz verdeckt wurde. „Hi, Fei!“ Fei sprach auf chinesisch mit ihrem Bruder. Tommy nickte. „Natürlich nicht“, antwortete er. „Natürlich nicht was?“ fragte Penny. „Fei hat gerade gesagt, daß Großvater dagegen wäre, wenn ich eine Schule gründen würde. Er lehnt die amerikanische Art, mit Gewalt umzugehen, ab.“ „Aber ich sehe dir doch an, daß du gerne eine eigene Schule hättest, Tommy“, meinte Penny. „Naja… ich unterrichte wirklich gern. Das ist mir in diesem Sommer mit dir klargeworden. Und ich teile nicht Großvaters Meinung. Amerikaner können auch lernen. Sieh doch nur dich an. Aber im Moment gibt es sowieso keine Möglichkeit, wie ich eine Schule aufmachen könnte. Man braucht ziemlich viel Geld dafür. Ich muß erst eine Arbeit finden und dann das Geld sparen, um geeignete Räume mieten zu können. Falls ich mich überhaupt dazu entschließe.“ „Gut“, sagte Fei. „Wenn Großvater rausfindet, daß du heute an diesem Wettbewerb teilgenommen hast, wird es ganz schön ungemütlich werden.“
„Dann wird dieser Tag eben unser Geheimnis bleiben“, schlug Penny vor. „Wir
haben es für einen guten Zweck getan. Und schließlich haben wir ja auch unsere
Pokale zurückgegeben, nicht?“
„Ich fand aber, daß dir das gar nicht so leicht gefallen ist, Kleiner Leopard.“
„Weil ich irgendwie geschockt war, als du deinen Pokal Frank O’Brian gegeben
hast.“
„Nun, ich weiß, warum Tommy seinen abgegeben hat, Penny. Aber warum hast
du deinen Cassie gegeben?“ fragte Fei.
„Na ja, zuerst wollte ich es nicht tun. Aber als ich dann gesehen habe, wie traurig
sie ist, ist mir klargeworden, daß sie viel lieber als ich zu dem Finale der Schulen
will. Außerdem habe ich auch gar keine Zeit, zu den Schulausscheidungen zu
gehen. Also habe ich ihr die Ehre überlassen und meine trotzdem behalten.“
„Das heißt, du bist dem Rat von General SunTzu gefolgt“, meinte Tommy.
„Bin ich?“
„Klar. Er hat doch gesagt, wenn man sich selbst kennt und seinen Feind, gewinnt
man jede Schlacht!“
Penny begleitete Fei und Tommy bis zu ihrem Haus in der Mulberry Lane. Als sie
das eiserne Gartentor erreichten, sagte sie, daß sie mit Tante Sung Hoa allein
sprechen wollte.
Sie fand die alte Frau an ihrem üblichen Platz. Sie saß an ihrem Schreibtisch und
dichtete.
„Ja?“
„Dies ist für Sie. Es ist der Name und die Adresse von jemandem, den sie in
China kannten. Mein Cousin aus Kalifornien hat es mir geschickt.“
„Kalifornien?“ Tante Sung Hoa nahm das zerknitterte Papier und hielt es unter
die Lampe. Ihre alten Augen blickten träumerisch, als sie es langsam las. Sie las
es noch einmal, diesmal schneller.
„Danke, Penny. Ich bin sehr glücklich darüber.“ Ihr verrunzeltes Gesicht verzog
sich zu einem breiten Lächeln, das sie sofort viel jünger aussehen ließ.
Penny war so, als würde der Duft von Jasmin durch das offene Fenster wehen.
Vor ihrem geistigen Auge konnte sie deutlich zwei Menschen sehen, die Hand in
Hand am Yellow River spazierengingen. Dort, wo die Kirschbäume blühen.
ENDE