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Vom Earthdawn-Zyklus erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: 1. Chris Kubasik: Der magische Ring · 06/5117 2. Chris Kubasik: Die Stimme der Mutter · 06/5118 3. Chris Kubasik: Vergiftete Erinnerungen · 06/5119 4. Greg Gorden: Die Prophezeiung · 06/5120 5. Sam Lewis (Hrsg.): Der Talisman · 06/5274 6. Caroline Spector: Narben · 06/5317 7. Caroline Spector: Kleine Schätze · 06/5318 Weitere Bände in Vorbereitung
CAROLINE SPECTOR
KLEINE SCHÄTZE Siebter Roman des EARTHDAWN™-Zyklus Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/5318
Titel der Originalausgabe LITTLE TREASURES Übersetzung aus dem Amerikanischen von Christian Jentzsch
Redaktion: Mirjam Madlung Copyright © 1995 by FASA Corporation Copyright © 1995 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1995 Scan by Brrazo 11/2007 Umschlagbild: FASA Corporation Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schutz, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin ISBN 3-453-08542-6
Für die Mütter: Nancy Sterling Mary Kirchoff Sally Wallace Paula Wiesner und Eleanor Skelley
Sie brachten sie halb tot zu mir. Mit dem stumpfen Haar und der wächsernen Haut sah sie kaum noch lebendig aus und mit Sicherheit abstoßend. Und dann hatte sie noch diesen ungeheuer aufgeblähten Bauch. »Bei allen Passionen, was soll das?« fragte ich. »Ich gab euch den Auftrag, mir eine neue Sklavin für den theranischen Botschafter zu suchen, und statt dessen bringt ihr mir eine Kuh, die jeden Moment kalbt.« Ich wedelte mit einem parfümierten Taschentuch vor meinem Gesicht herum. »Welch ein Gestank.« Der angenehme Duft von Ambra stieg mir in die Nase und beruhigte meine strapazierten Nerven augenblicklich. Ich bin zwar Sklavenhändler, aber die Arbeit bereitet mir kein Vergnügen. Ja, gewiß, vielleicht hin und wieder ein klein wenig. Denn ist die Macht über Leben und Tod nicht erstrebenswert? Ich werde nie eine Passion sein und auch kein Anführer eines mächtigen Volkes, aber hier in Kratas, in diesen Räumen, bin ich ein Gott. Einer der Trolle zog der Kreatur den Kopf in den Nacken, so daß ihr Gesicht dem Licht ausgesetzt war. Und da erkannte ich sie. Es war Aina, die Vernarbte. Ihr Anblick erschreckte und verblüffte mich, so unerwartet war er. Wie kam es, daß sie plötzlich meiner Gnade und Barmherzigkeit ausgeliefert war? Und wie war es mei-
nen stupiden Lakaien gelungen, ihren tödlichen Fähigkeiten zu trotzen? Ich kam zu dem Schluß, soviel Glück nicht weiter in Frage zu stellen. Einstweilen war sie in meiner Gewalt – und noch dazu in einem so empfindlichen und verletzlichen Zustand. Mir schwirrte der Kopf angesichts der Möglichkeiten, die sich mir auftaten, und meine Gedanken überschlugen sich wie ängstliche Bittsteller. Wie sollte ich diesen Schatz nutzen? Mit wem zuerst Kontakt aufnehmen? Was war für mich am vorteilhaftesten? Ich fühlte mich geradezu beschwingt vor Freude. Wenn mir das Glück solch einen Schatz in die Hände spielt, hinterfrage ich gerne seine Absichten. In meinem Schreibtisch befand sich ein Satz Knochen. Später würde ich sie werfen und sehen, was sie mir zu sagen hatten. Aber einstweilen mußte ich meine Beute am Leben erhalten. Mich innerlich wappnend, trat ich neben sie. Sie öffnete die Augen. Sie glänzten fiebrig und glasig. Tiefe onyxfarbene Brunnen. Ich berührte ihre Stirn. Sie war heiß wie ein Ofen. Ich zog die Hand rasch zurück. Sie packte mein Handgelenk mit überraschend festem Griff. Sie zog mich zu sich herab und flüsterte mir ins Ohr. »Wer bist du?« fragte sie. »Ich bin Vistrosh«, sagte ich. »Die Geißel Kratas’ und des Südens.«
Ich verneigte mich leicht. Übermäßiger Stolz ist gewiß ein Zeichen von Dummheit, aber das hat mich noch nie davon abgehalten, ihn an den Tag zu legen. Sie ließ meinen Arm los, sank zurück und schloß die Augen. »Der Sklavenhändler«, sagte sie. »Was wirst du mit mir tun?« Ich betrachtete sie. Es gab eine ganze Reihe von Leuten, die gerne gewußt hätten, daß sie sich in meiner Gewalt befand. Aber aus irgendeinem Grund erweckte ihr Zustand eine ungewöhnliche Emotion in mir: Mitgefühl. Schließlich war sie in ihrem Zustand schrecklich verletzlich. Nein, beschloß ich. Ich würde sie bis nach ihrer Niederkunft behalten. Dann hatte ich zwei Sklaven anzubieten anstatt eines einzigen. Und wer wußte schon, was sie mir erzählen würde. Informationen waren mein Herzblut. Zu wissen, wer wann was wollte. Wer wem was angetan hatte. Klatsch, Geschichten, Gerüchte. Ich siebte alles, um eine Substanz zu schürfen, die kostbarer als Orichalkum war. Wissen war Macht. »Natürlich wirst du mein Gast sein«, sagte ich. »Ich könnte eine Elfe, eine Rassegenossin, in deinem Zustand niemals aus meiner Obhut entlassen.« »Welch ein Trost«, murmelte sie. Ich ignorierte ihre Bemerkung, eine Fähigkeit, die ich im Laufe der Jahre entwickelt habe. Es war besser, verletzende Bemerkungen zu ignorieren, als sie zur Kenntnis zu nehmen. Ich hatte schon vor langer
Zeit Frieden mit mir geschlossen, auch wenn andere das nicht getan hatten. Mit einigen geflüsterten Worten befahl ich meinen Dienern, ein Zimmer für sie vorzubereiten. Sie kehrten kurze Zeit später zurück, und obwohl ich es widerwärtig fand, hob ich sie auf und trug sie selbst in das Zimmer. Sie preßte die Lippen aufeinander, als meine Dornen ihre Haut durchbohrten. Aber sie schrie nicht auf. Mein Respekt für sie wuchs, denn es kam niemals vor, daß ich nicht selber gerne vor Schmerzen geweint hätte. Ich legte sie auf das Bett. Die Ledergurte, welche die dünne Matratze hielten, quietschten. Sie stieß ein leises Stöhnen aus. »Geht es dir gut?« fragte ich. »Nein«, sagte sie. »Aber andererseits wird nichts je wieder gut werden.« Darauf hatte ich keine Antwort, also ließ ich sie mit ihrem ungeborenen Kind und ihren Erinnerungen allein. Später würde ich mich fragen, ob ich sie nicht auf der Stelle hätte töten sollen, dann wäre alles ausgestanden gewesen. Aber im nachhinein ist man immer schlauer, nicht wahr?
Als ich in meinen Empfangsraum zurückkehrte, verschloß ich die Tür vor neugierigen Blicken. Gewiß, ich wußte, daß es meinen Dienern möglich war, mir nachzuspionieren, aber alle hatten die Konsequenzen mitbekommen, als ich einmal einen unerwünschten Spion entdeckt hatte. Ich kann mich noch erinnern, daß nach dem Vorfall alle mehrere Tage lang einen ungewöhnlich geringen Appetit hatten. Die Knochen waren in einer kleinen Lade verborgen, die in ein Tischbein eingearbeitet war. Das Möbel war für meinen Geschmack zu prunkvoll, aber es war nicht leicht, gutes Mobiliar für meine speziellen Bedürfnisse aufzutreiben. Es juckte mich in den Fingern, endlich die Knochen zu werfen. Es war ziemlich lange her, seit ich mich zuletzt mit ihnen beschäftigt hatte, und ihre Macht zerrte an mir. Hätte ich nicht mein gegenwärtiges Gewerbe betrieben, wäre ich, wie ich glaube, für die Genauigkeit meiner Würfe und Voraussagen berühmt geworden. Der Lederbeutel roch nach Sandelholz und Blitzen. Vor langer Zeit hatte ich die Knochen auf meine Struktur abgestimmt. Sie schienen mir geradezu in die Hände zu springen und sich bei meiner Berührung zu erwärmen. Ich genoß die klickenden Geräusche, als sie in meiner Hand leicht gegeneinander stießen. Viele hielten die Knochen für ein Spiel, das nur von be-
trunkenen Narren und leichtsinnigen Glücksspielern gespielt wurde. Aber ich wußte es besser. Jeder Satz Knochen war anders. Meinen hatte ich aus den Überresten eines Dämons geschnitzt, den ich getötet hatte, als ich noch im Blutwald lebte. Ich bin alt genug, um mich noch gut an die Plage erinnern zu können. Natürlich werden wir Elfen sehr alt, manche vielleicht sogar zu alt, das ist nicht ungewöhnlich. Lange habe ich gehaßt, was meinem Körper angetan wurde, um mich vor den Dämonen zu schützen. Aber an dem Tag, als ich den Dämon tötete, aus dem ich meine Knochen geschnitzt habe, genoß ich die Schmerzen. Manche halten mich wegen der schamlosen Weise, in der ich meine Verunstaltung zur Schau stelle, für pervers. Sie sagen, ich genösse das Unbehagen, das ich anderen bereite. Sie haben recht. Ich mag zwar die Bedingungen meiner Existenz verachten, aber ich verleugne sie nicht. Das zu tun, hieße, mich selbst zu verleugnen, und das ist in meinem Leben bereits zu oft geschehen. Ich warf die Knochen und ließ sie auf die Schreibtischplatte fallen. Sie rollten und klickten und lagen schließlich still, während mich ihre Oberseiten in dem matten Licht anfunkelten. Magie, die Königin, die Liebende. Ich warf noch einmal, bis ich das Bild vervollständigt hatte. Alles in allem war es ein schlechtes Omen, und als ich seine Warnungen herausarbeitete, spürte ich, wie mir kalt wurde.
Ich wußte nur wenig über Ainas Vergangenheit. Aithne Eichenwald hatte mir vor Jahren ein wenig darüber erzählt, als Alachia, unsere illustre Königin, ihn vom Blutwald ausgeschickt hatte, Aina zu finden und zurückzubringen. Ich wußte, daß es ihm gelungen war, sie zu überreden, mit ihm in den Wald zurückzukehren, kannte jedoch nicht den Ausgang des Zusammentreffens von Aina und Alachia. Irgend etwas Furchtbares war ihr in der Zwischenzeit zugestoßen. Soviel verrieten mir die Knochen, aber was, konnte ich nicht erkennen. Es war ungewöhnlich, daß sich mir solche Ereignisse nicht offenbarten, und das weckte in mir ein Gefühl des Unbehagens. Ich verstaute die Knochen wieder in ihrem Beutel und legte ihn in sein Versteck zurück. Ich öffnete die Tür und befahl meinem Diener, mir Essen und Unterhaltung zu bringen. Er brachte mir augenblicklich ein Tablett mit Obst und eine Schüssel dampfenden Reis, der mit zartem Fisch garniert war. Dem Diener folgte einer meiner beschränkten Trolle, der meine Unterhaltung für diese Nacht brachte. So viel üppiges junges Fleisch, und nur zu meinem Vergnügen. Vielleicht hältst du mich für grausam, und hätte ich noch ein Herz gehabt, um Liebe zu empfinden, hätte ich von diesen Dingen vielleicht Abstand genommen. Aber mein Herz war schon vor langer Zeit gebrochen, also tröstete ich mich, so gut ich konnte. Das Essen war ausgezeichnet, etwas, worauf ich bestand. Aber ich kann dir sagen, es ist kein leichtes
Unterfangen, in Kratas einen anständigen Koch zu finden und zu behalten. Diebe und Attentäter tanzen haufenweise nach meiner Pfeife, aber was würde ich für einen einzigen meiner Bediensteten aus meiner Zeit im Blutwald geben. Ach, der Blutwald. Wie ich ihn vermisse, selbst jetzt noch. Ich werde dir etwas sagen: Es gibt Zeiten, in denen ich ihn nach mir rufen höre. Sein Lied ist wie Wein, wie Feuer, wie die Hitze des Blickes eines Verliebten, die durch mein Blut rauscht. Ein Teil von mir genießt dieses Gefühl und ein anderer fürchtet sich davor. Ich habe gesehen, was die Sehnsucht nach dem Wald einem Elf antun kann. Er muß zurückkehren – koste es, was es wolle – und marschiert tagelang, wochenlang, sogar monatelang ununterbrochen, bis er völlig entkräftet ist. Manche sterben, bevor sie den Blutwald erreichen. Andere verenden im Schatten des riesigen Waldes, so nah, daß sie ihn fast berühren können. Ich erhob mich und ging zu einem der Sklaven, die man mir gebracht hatte, um ihm über das Haar zu streichen. Er war hellhäutig, wenngleich nicht so hellhäutig wie ich. Das sind nur sehr wenige. Selbst ich bin manchmal, wenn ich mein Spiegelbild sehe, verblüfft über das Schillern meiner Haut, den Schopf meiner reinweißen Haare und die rötliche Färbung meiner Augen. Ich gebe zu, daß ich manchmal über mein Aussehen ins Schwärmen gerate. Nur wenige haben solch einen Teint, und trotz der Dornen ist meine Haut glatt und ansonsten makellos. Ohne die
Dornen würde ich als sehr schön gelten, selbst bei den Theranern, deren Geschmack in solchen Dingen äußerst heikel ist. Ich legte beide Hände um das Kinn des Sklaven und zwang ihn, den Kopf zu heben, bis er mich ansehen mußte. Selbst da wandte er den Blick ab, als könne er es nicht ertragen, mich anzusehen. Ich schüttelte ihn, und er begegnete meinem Blick. Und da sah ich das Verlangen in seinen Augen. Wenn man so viele Jahre gelebt hat wie ich, bemerkt man solche Dinge. Ein Blick hier, eine Berührung da, eine gewisse Art und Weise zu reden. Nichts, was jenen, die nicht so sind wie ich, auffallen würde. Aber ich sah in seinen Augen, daß seine Bedürfnisse meinen entsprachen. Vielleicht haßte er sich dafür, daß er mich wollte, aber er konnte seine Natur genauso wenig kontrollieren wie ich meine. Vielleicht, dachte ich. Vielleicht wird er mich heilen. Vielleicht finde ich hier mehr als nur einen Moment des Trostes. Dann suchte mich das Gesicht aus meiner Vergangenheit wieder heim, und ich wußte, daß alle derartigen Überlegungen Wunschträume waren und bleiben würden. Ich gab den Trollen Befehl, alle Sklaven bis auf diesen einen wegzubringen, und ließ ihm die Ketten abnehmen, bevor sie gingen. Er stand da, rieb sich die Handgelenke und warf ängstliche und zugleich hoffnungsvolle Blicke in meine Richtung. Wie mich seine Verwirrung erregte. Ich ging um ihn herum, wobei ich ihn hin und wieder berührte. Er
zuckte zusammen, wenn sich meine Dornen in seine Haut bohrten. So zarte Qualen. Nach einiger Zeit begann er zu zittern, wenn ich ihn berührte, wenngleich es offensichtlich war, daß ihm die Dornen nicht gefielen. Aber es war Zeit genug, all das zu ändern. »Wie heißt du?« fragte ich ihn leise. »Orris«, erwiderte er. »Du bist ein Sklave, Orris«, sagte ich. »Aber du kannst dein Schicksal wenigstens zum Teil selbst bestimmen. Ich lasse dir die Wahl. Du kannst dir deinen neuen Herrn selbst aussuchen. Mich selbst oder einen anderen. Mir bedeutet es nichts, aber dir vielleicht schon.« Ich berührte ihn jetzt nicht mehr, sondern stand nur hinter ihm und wartete auf seine Entscheidung. Er blieb eine ganze Weile so stehen. Ich konnte seinen ungleichmäßigen Atem hören. Konnte das Verlangen beinahe spüren, das durch seine Adern kreiste. Dafür haßte ich ihn beinahe. Dafür, daß sein Verlangen meinem entsprach. Aber ein Teil von mir wollte, daß er mich wollte, und wie ich mich dafür selbst verachtete. Dann drehte er sich um, griff nach mir, versuchte mich dort zu berühren, wo keine Dornen waren. Und ich gestattete mir, zu denken aufzuhören. Und dann hörte ich auf, mir um irgend etwas Gedanken zu machen. Für eine Weile.
Ich erwachte bei Sonnenuntergang des nächsten Abends mit einem Gefühl des Friedens und Wohlbefindens. Aus meiner Hängematte konnte ich Orris im Bett schlafen sehen, das Gesicht tief in eines meiner weichen Federkissen vergraben. Für mich war es unmöglich, in einem Bett zu schlafen, weil die Dornen an Rücken und Rumpf zu dicht standen. Wie ich ihn um seinen friedlichen Schlaf beneidete. Den dicken Samtvorhang vor dem Fenster beiseite schiebend, sah ich hinaus in die einsetzende Dämmerung. Es war jene Zeit, in der die Sonne gerade untergegangen, es aber noch nicht dunkel ist. Dann werden keine Schatten geworfen, und eine Stille senkt sich herab, als warte die Welt darauf, daß etwas geschieht. Ich sah kaum noch das Tageslicht, da ich es vorzog, mein Gewerbe während seiner natürlichen Stunden auszuüben. Die Theraner finden das lästig, und ich bekenne, daß mir die Vorstellung gefällt, ihnen ein paar kleinere Unannehmlichkeiten zu bereiten. Sie haben keine Bedenken mehr, zu jeder Tagesund Nachtzeit das schockierendste Betragen an den Tag zu legen. Orris seufzte und drehte sich im Schlaf um. Die helle Haut, die mich in der Nacht zuvor noch so verzaubert hatte, war nicht mehr glatt und makellos. Ich fand das ziemlich abstoßend und machte im Geiste einen Vermerk, dafür zu sorgen, daß er entfernt wur-
de, bevor ich zurückkehrte. Vielleicht würde ich ihm wieder mit Wohlwollen begegnen, wenn seine Wunden verheilt waren, aber bis dahin war er vielleicht auch schon verkauft. Solcher Art waren meine vielen Ärgernisse. Nackt ging ich ins Bad. Das Wasser war perfekt temperiert, da die Bediensteten meine Vorlieben schon seit langer Zeit kannten. Anders als in Garlthik Einauges jämmerlicher Truppe gibt es in den Reihen der Horde keine falsche Kameraderie. Sie schwören mir Gefolgschaft und ich ihnen. Ich führe. Sie folgen. Ansonsten wären sie wie Wildhunde. Jetzt sind sie ein Rudel. Eine Horde. Handtücher wurden am Feuer gewärmt, und ich nahm eines, um mich abzutrocknen. Ich zuckte zusammen, als ich an einem meiner Dornen hängenblieb, aber daran ließ sich nichts ändern. Das war der Preis, den ich für ihren Schutz zahlte, den wir alle zahlten. Das Gesicht Alachias erhob sich plötzlich vor meinem geistigen Auge. Ihre bleiche Haut, die von rosenartigen Dornen durchstochen wurde, wodurch sie noch bezaubernder wirkte als zuvor. Wie so viele ihrer Untertanen haßte und liebte ich sie zugleich, und zwar mit einer schrecklichen Leidenschaft. Ein einziges freundliches Wort von ihr, und ich wäre zu ihr zurückgeeilt. Doch auf solch eine Wohltat zu hoffen, war vergeblich, und das wußte ich. Als ich schließlich meine Gewänder angelegt und mein Haar zu seidigem Glanz gebürstet hatte, verließ
ich meine Gemächer und ging zu den Empfangsräumen im Erdgeschoß. Heute würde ein Mittelsmann für einen wohlhabenden theranischen (als gäbe es auch andere) Kaufmann auf mich warten. Als ich die Treppe herunterkam, sah ich, daß er noch nicht eingetroffen war. Das störte mich ein wenig, da ich es immer genieße, Theraner warten zu lassen. Es ärgert sie. Am Herd stand Kai, der tödlichste meiner Assassinen. Er war sehr klein, mondgesichtig, segelohrig, kahlköpfig und blaßhäutig. Die meisten Leute unterschätzten ihn, aber ich wußte, wie bösartig er sein konnte. Er hatte die Fähigkeit kultiviert, die Arglosen anzulocken und sie dann anzugreifen. Normalerweise waren seine Opfer tot, bevor sie reagieren konnten. Und er liebte seine Arbeit über alles. »Was gibt es Neues?« fragte ich. »Bisher nichts«, erwiderte er. Seine Stimme war ausdruckslos und mit einem Näseln unterlegt, das mir Zahnschmerzen verursachte. Nach einem Gespräch mit ihm sehnte ich mich immer unsagbar nach den melodischen Stimmen der Blutelfen. »Ich erwarte mehr von dir«, sagte ich. »Alle haben ihre Schwächen. Sogar Garlthik Einauge.« Er zuckte die Achseln. »Er schützt sich gut. Er wechselt ständig den Aufenthaltsort und läßt niemanden zu nah an sich heran.« »Hast du irgendeine Ahnung, wo er sich gerade befindet?« »Nein, aber ich habe Leute darauf angesetzt. Wir
werden ihn finden. Und wenn wir ihn gefunden haben, mache ich Euch seinen Kopf zum Geschenk.« In seinen Augen war ein fanatisches Glitzern. Obwohl er kaltblütig und vollkommen herzlos war, schien er mir gegenüber eine unerschütterliche Ergebenheit an den Tag zu legen. Eine Tatsache, die ebensooft alarmierend wie gut war. Solch einen Mann zu kontrollieren war niemals einfach, aber wenn er einmal beschließt, einem sein Leben zu widmen, kann das trotz der damit verbundenen Risiken äußerst vorteilhaft sein. Ich lächelte ihn an, und er hielt meinem Blick einen Moment lang stand, bevor er wegsah. Welch eine Ergebenheit. Wahrscheinlich hatte ich sie gar nicht verdient. »Ich freue mich auf diesen Tag«, sagte ich. »Ich habe Zutrauen in deine Fähigkeiten.« Der Stolz ließ ihn erröten, zuerst am Hals und dann auch im Gesicht. Sehr zu meiner Erleichterung verließ er dann den Raum. Zufrieden nahm ich zur Kenntnis, daß Kerzen in den Leuchtern und Räucherwerk in der Duftpfanne entzündet worden waren. Ja, ja, ich weiß, daß es sehr leicht ist, Licht auf magische Weise zu erzeugen, aber ich ziehe Kerzen vor. Ihr Duft, der Schein, den sie erzeugen, die Schatten, die in ihrem Licht flackern. Vielleicht ist es schrullig von mir, aber Kerzen schaffen eine gewisse Atmosphäre. Ein Klopfen an der Tür kündete meinen Diener Fortunatus an, der Ormond Xanus hereinführte. Wie
die meisten Theraner bot Xanus einen langweiligen Anblick, so perfekt und symmetrisch wie er aussah. Warum sie dieses Aussehen als angenehm empfinden, verstehe ich nicht. Ich finde, sie sehen ziemlich merkwürdig aus, als seien beide Gesichtshälften in derselben Gußform entstanden. Er bewegte sich mit der für die Theraner üblichen Grazie. So geschmeidig und anmutig, daß man meinen konnte, er gleite über eine Eisfläche. Eine dicke emaillierte Kette hing um seinen Hals. Ich wußte, daß er wertvollere Stücke besaß. Er hatte das so oft erwähnt, daß ich bereits gähnen mußte, wenn ich nur daran dachte. Tatsächlich war es ein nettes Schmuckstück. Eines, daß ich mir sogar für mich gewünscht hätte, wäre die Tatsache nicht gewesen, daß es theranische Haut berührt hatte. »Seid gegrüßt, Vistrosh«, sagte er. »Wie freundlich von Euch, mich zu empfangen.« Er hielt mich überhaupt nicht für freundlich. Sein Tonfall ließ daran keinen Zweifel. Aber er brauchte mich und meine Dienste. Zu wissen, daß ihn das schmerzte, war eine große Freude. »Guten Abend, Ormond«, sagte ich. »Was kann ich Euch heute abend zeigen?« »Sklaven natürlich«, erwiderte er. »Warum sollte ich sonst kommen?« »In der Tat, warum«, erwiderte ich, meinen Ärger verbergend. Arroganz und schlechte Manieren. Was war es doch für eine Freude, sich mit Theranern abzugeben. »Welche Art von Sklaven schwebt Euch vor?«
»Ich suche eine ganz besondere Art.« »Bitte«, sagte ich. »Klärt mich auf.« Ormond grinste. »Eine Sklavin«, begann er. »Dunkel wie die Nacht, mit Haaren, die so weiß wie Eure sind. Eine Rassegenossin von Euch. Sie trägt den Namen Aina.« Woher weiß er von ihr? fragte ich mich. Nur selten drangen Informationen aus meiner Domäne nach draußen, ohne daß ich es wußte. Oder geplant hatte. »In der Tat, eine besondere Sklavin«, sagte ich. »Ich wollte, ich könnte Euch behilflich sein, aber ich weiß nichts von ihr.« »Ah, Ihr spielt den Bescheidenen«, sagte Ormond. »Sagt mir, stimmt es, daß sie am ganzen Körper mit den schrecklichsten Narben bedeckt ist?« Er schüttelte sich geziert, als fände er den Gedanken faszinierend und abstoßend zugleich. »Ich habe keine Ahnung«, sagte ich. Innerlich wurde ich immer wütender. Sie war meine Sklavin und ging nur mich etwas an. Ich mag es nicht, wenn ich gedrängt werde, und schon gar nicht von Theranern. »Es gibt Gerüchte, daß sie sehr mächtig sei und ein ungewöhnliches Verständnis von den Dämonen habe. Könnt Ihr Euch so eine Sklavin vorstellen? Sie wäre für ihren Besitzer ein außerordentlicher Aktivposten.« Ich runzelte die Stirn. »Ich bin sicher, das wäre sie, aber ich fürchte, ich kann Euch diesmal nicht helfen.«
Ormond musterte mich eindringlich. »Ich weiß aus sicherer Quelle, daß sie jetzt hier ist. Daß sie schwanger ist. Natürlich müßte die Schwangerschaft unterbrochen werden. Aber das Verfahren ist ja einfach genug.« Er winkte abfällig mit der Hand. Wut flammte in mir auf, explodierte förmlich in meinem Kopf. Weißglühend und blendend. Wie gleichgültig er darüber redete, ihr Kind umzubringen. Einen meiner Rassegenossen. Wie viele von ihnen hatten sie im Laufe des Krieges zwischen uns getötet? Wir hatten gesiegt, und dennoch kamen sie immer noch, um uns zu töten. Da lächelte ich. Ich lächle immer, wenn ich wütend bin. »Ich habe sie nicht«, sagte ich, indem ich zur Tür ging und sie öffnete. »Und da ich Euch nicht helfen kann, sollten wir unser Gespräch vielleicht für heute beenden.« Er wollte noch etwas sagen, das konnte man seiner Miene entnehmen. Aber dann sah er meine Augen und was sich hinter meinem Lächeln verbarg. Sein Lächeln flackerte und erlosch. »Denkt darüber nach«, sagte er. »Ihr wollt Euch doch keine mächtigen Feinde machen.« »Ebensowenig wie Ihr«, erwiderte ich, indem ich die Tür vor seiner Nase schloß.
Ein paar Augenblicke später erschien Fortunatus und sah mich erwartungsvoll an, da er meine Befehle erwartete. Ein wirklich guter Sklave ist so schwer zu finden. Ich wies ihn an, jeden, der etwas von mir wollte, bis zu meiner Rückkehr warten zu lassen. Ich verließ den Raum über meine private Treppe und ging in den obersten Stock meines Hauses, wo Aina untergebracht war. Als ich ihr Zimmer betrat, war es dunkel. Mit einer raschen Drehung meines Handgelenks vertrieb ich die Dunkelheit. Jetzt war nicht der geeignete Zeitpunkt, mit der Subtilität von Kerzen zu spielen. Das Zimmer sprang mich förmlich an. Die Fenster waren weit geöffnet, und sie stand mit dem Rücken zu mir vor ihnen. »Ist das nötig?« fragte sie. Sie drehte sich nicht zu mir um. »Was?« »Das Licht. So kann man mich von draußen sehr gut sehen.« »Dann zieh die Vorhänge vor.« Sie seufzte, dann raffte sie sie mit einer entschlossenen Bewegung zusammen. Sie drehte sich zu mir um, neigte den Kopf ein wenig und sah mich an. »So«, sagte sie schließlich. »Du bist also mein Retter. Eine ziemliche Ironie, findest du nicht?« »Warum?«
»Nun ja. Du. Ich. Wir sind ein unmögliches Paar. Ich würde fast sagen, daß uns eine der Passionen gerade in diesem Augenblick auslacht. Höchstwahrscheinlich Vestrial.« »Ich glaube nicht an die Passionen.« Sie lächelte. »Ich auch nicht.« Und da fiel es mir auf. Die Tatsache, daß sie aus eigener Kraft dastand, bedeutete, daß sie ihre körperliche wie geistige Gesundheit zumindest teilweise wiedererlangt hatte. »Es scheint dir viel besser zu gehen«, sagte ich. »Ja«, erwiderte sie. »Deine Heiler sind ziemlich tüchtig. Sie haben mich gegen meinen Willen einigermaßen wiederhergestellt. Hast du das veranlaßt?« Ich nickte. Sie wandte sich ab und setzte sich auf einen der großen hölzernen Armsessel, die vor dem Kamin standen. Ihr dicker Bauch erschwerte es ihr, sich auf den Sessel zu manövrieren, aber ich rührte keinen Finger, um ihr zu helfen. »Dann bist du es also, den ich hassen muß«, sagte sie. »Denn ich hatte nicht den Wunsch, gerettet zu werden.« Undankbares Geschöpf, dachte ich. Ich sollte Ormond zurückrufen und dich sofort an ihn verkaufen. Aber ich tat es nicht. »Merkwürdig, daß du es bedauerst, gerettet worden zu sein«, sagte ich. »Nach allem, was Aithne mir über dich erzählt hat…« »Erwähne seinen Namen nicht«, schnauzte sie. Sie starrte ins Feuer, und auf ihrem Gesicht lag ein oran-
gefarbener Schein. Da sah ich die Linien der Erschöpfung, die sich hineingegraben hatten. Trotz meiner Heiler war sie immer noch sehr schwach. »Ich dachte, du und Aithne…« »Es gibt keinen Aithne mehr für mich. Und auch keine Aina mehr für ihn. Es ist für uns beide so, als sei der andere nie geboren worden.« Ihre Stimme war tonlos, ohne jede Energie und Empfindung. Sie klang farblos und alt. Das war äußerst seltsam. Was war zwischen ihnen vorgefallen? Aithne hatte durchklingen lassen, daß sie einander einst geliebt hatten. Nach allem, was ich wußte, hatte er sie dazu überredet, in den Blutwald zurückzukehren und dort zu leben. Den Grund dafür hatte ich nie herausgefunden. Aber ich wußte von Aithne, daß sie niemals gerne dort geblieben wäre. Was hatte sie dazu bewegt zurückzukehren? Und warum hatte sie den Blutwald dann wieder verlassen? Hätte ich die Möglichkeit, wieder in den Blutwald zurückzukehren, würde ich es tun und ihn nie wieder verlassen. Doch eine dringlichere Frage lautete, wie ich sie behandeln, was ich mit ihr tun sollte. Ich sah ihr zu, wie sie ins Feuer starrte, während ich über diese Frage nachdachte. Sie war so, wie Aithne sie beschrieben hatte. Die feinen Gesichtszüge. Die hohen Wangenknochen, die für uns Elfen typisch sind. Die makellose Haut. Abgesehen davon, daß laut Aithne ihr ganzer Körper mit Ausnahme ihres Gesichts von Narben bedeckt
war. Vielleicht war also doch noch ein wenig Eitelkeit in ihr. Ich fand ihre Augen äußerst beunruhigend. Schwarz und bodenlos erweckten sie den Eindruck, als schaue man in eine Ewigkeit. Was für ein Paar wir abgeben würden. Die dramatische Erscheinung welch eine Ablenkung würde das sein. Da kam mir ein verzweifelter Gedanke. Vielleicht gab es eine Möglichkeit zurückzugewinnen, was ich verloren hatte. Vielleicht konnte ich sie auf andere als die für mein Geschäft übliche Weise gewinnbringend einsetzen. »Was kann zwischen euch vorgefallen sein, das Aithne aus deinem Herzen verbannen würde?« fragte ich schließlich. »Du stellst viele Fragen für einen Sklavenhändler«, sagte sie. »Hast du immer so ein Interesse an deinen Opfern? Oder soll ich glauben, daß du mich auserwählt hast, um mir eine Sonderbehandlung angedeihen zu lassen? Es kann nicht daran liegen, daß du in mich vernarrt bist. Ich hörte, du hättest andere Neigungen. Also, Vistrosh, Geißel von Kratas, was hast du vor?« Sie lehnte sich zurück, als habe ihr diese längere Rede alle Kraft geraubt. Wie soll ich sie behandeln? fragte ich mich. »Vielleicht will ich nur einer Elfe helfen, die ebenso wie ich aus dem Blutwald verbannt wurde«, sagte ich. Sie lachte. Es klang hohl.
»Erwartest du wirklich, daß ich das glaube? Oder willst du nur witzig sein?« »Du kränkst mich«, sagte ich, eine Hand auf mein Herz legend. »Also das ist schon besser. Der Anflug eines verbalen Gefechts. So ist es doch auch viel interessanter. Es gibt mehr als eine Methode, jemanden zu verführen. So ist es eine viel größere Herausforderung. Findest du nicht?« Ich zuckte die Achseln. Es hatte keinen Sinn, meine Karten zu früh aufzudecken. Ich ging davon aus, daß sie alles, was ihr in den Schoß fiel, sehr rasch langweilen würde. »Wann ist es soweit mit deinem Kind?« fragte ich. Sie sah mich mit leerem Blick an. »Kind?« fragte sie. »Ich habe keine Kinder.« »Nein«, sagte ich. »Ich meine das, was du in dir trägst.« »Ich trage kein Kind in mir«, erwiderte sie. Sie sah direkt zu mir auf, und ich konnte nicht die Spur einer Täuschung erkennen. Keinen Spott. Nur ernste Überzeugung. Und da wußte ich, daß das, was sie erlebt hatte, bevor sie von meinen Männern gefangengenommen wurde, sie zumindest teilweise in den Wahnsinn getrieben hatte.
»Nun, willst du noch irgend etwas sagen, oder wirst du mich nur anstarren?« fragte sie mich. Ich ging zu dem anderen Sessel und zog ihn neben den ihren. Meine Gedanken überschlugen sich, da ich zu erfassen versuchte, wie verrückt sie tatsächlich war. Vielleicht konnte ich einen Vorteil aus ihrem Wahnsinn ziehen, aber er brachte auch ein Element großer Unsicherheit ins Spiel. Ich wußte einfach nicht, wie sie handeln oder reagieren würde. Höchst ärgerlich. »Erinnerst du dich noch an eine Frau namens Sidra?« fragte ich. Vielleicht würde eine unerwartete Wendung etwas Interessantes zu Tage fördern. Sie lächelte dünn. »Ja«, sagte sie, als unterhalte sie sich mit einem ziemlich beschränkten Kind. »Du weißt, daß sie jetzt tot ist?« Ich nickte. Nach den Maßstäben unserer Rasse haben Menschen eine sehr kurze Lebensspanne. Vielleicht ist das der Grund dafür, warum sie so hektisch und ungeduldig sind. Sie wissen, daß sie nur für einen kurzen Augenblick hier sind. Das macht sie in vielerlei Hinsicht gierig. Sidra war immer wißbegierig gewesen. Ich erinnerte mich gern an sie. Nun, so fern, wie ich mich überhaupt an jemanden erinnere. »Sie hat mich einmal gerettet«, sagte Aina. »Na-
türlich mußte ich mich dafür revanchieren. Sie für ihre gute Tat bestrafen, nehme ich an.« »Ich wußte nicht, daß sie dich gerettet hat«, sagte ich. »Vielleicht hat sie es gar nicht so gesehen. Aber ich schon.« »Und du hast sie auch gerettet? Wovor?« »Himmelsspitze.« »Du warst in Himmelsspitze?« Das war eine überraschende Neuigkeit. »Ja. Sie war immer so neugierig. Das vermisse ich. Auch wenn man glaubte, es gäbe nichts Interessantes mehr an einem, konnte sie eine Frage stellen oder etwas sagen, so daß man sich danach in einem ganz neuen Licht betrachtete. Das war eine echte Gabe. Ich habe sie darum beneidet.« »Was ist passiert?« Aina sah mich mit ihren dunklen, rätselhaften Augen an. Welche Gedanken ihr in diesem Augenblick durch den Kopf gingen, konnte ich nicht einmal erahnen. Dann holte sie tief Luft und lehnte sich zurück. »Soll ich dir eine Geschichte erzählen?« fragte sie. Eine merkwürdige Richtung, die unser Gespräch jetzt nahm, aber wenn man es mit einer Verrückten zu tun hat, fährt man gut, wenn man ihr ihren Willen läßt. »Nur wenn du willst«, erwiderte ich. »Ah, wie rücksichtsvoll. Und höflich.« »Mir liegt nur an deinem Wohlbefinden«, sagte ich.
»Das glaube ich nicht. Aber es ist eine nützliche Erfindung. Ich soll meinen Häscher mit meinem Verstand unterhalten. Geschichten erzählen, um ihm die Zeit zu vertreiben, bis er meiner überdrüssig wird. Das ist immer das Problem, nicht wahr? Was soll man erzählen und was für sich behalten. Es gibt so viele Geheimnisse.« »Und wirst du mir deine Geheimnisse erzählen?« »Nein«, sagte sie. »Erst wenn du mir deine erzählst.« »Aber ich habe keine Geheimnisse.« Da lachte sie. Laut und schallend. »Ich schwärme für Lügner«, sagte sie. »Sie sind so amüsant.« »Warum sollte ich eine Sklavin belügen?« fragte ich. Sie zuckte die Achseln. »Das gehört nicht zur Sache. Also gut, eine Geschichte. Wovon soll ich dir erzählen?« »Erzähl mir von Sidra und den Theranern.« Sie wandte den Blick ab und sah ins Feuer. Lange Zeit bewegte sie sich nicht. Und dann, schließlich, begann sie…
Es war ein ungewöhnlich kalter Winter. Das weiß ich noch, weil ich die Kälte nicht mag. Ich konnte sie noch nie leiden. Ist es nicht eine Ironie, daß ich in den Norden zog, um dort zu leben? Die Lichter der Weinenden Zinne. Ein reizender Name, findest du nicht? Aber ein kalter Ort, wo sich die Sonne manchmal tagelang weigert, ihr Gesicht zu zeigen. Dorthin ging ich, nachdem ich Bergschattens Domäne verlassen hatte. Ich hatte lange Zeit in der Drachenhöhle verbracht. Die… Krankheit, die ich so viele Jahre lang mit mir herumgeschleppt hatte, hatte Spuren hinterlassen. Seltsam, man stellt sich Drachen eigentlich nicht als Geschöpfe vor, die jemanden gesundpflegen. Aber wann hätte ein Drache schon jemals etwas getan, das wir Namensgeber verstehen? Nein, ich sage dir nicht, wo er sich jetzt befindet. Was bringt dich auf den Gedanken, ein Drache würde mich über seinen Aufenthaltsort auf dem laufenden halten? Wo war ich? Ach ja. Natürlich konnte ich nicht im Blutwald leben, damals nicht. Alachia und ich hatten gerade erst über Mittelsmänner einen brüchigen Waffenstillstand geschlossen. Ich traute ihr damals nicht. Ich traue ihr auch jetzt nicht. Manche Dinge müssen wir wohl ein-
fach akzeptieren. Es gibt Leute, die eng mit dem eigenen Leben verknüpft sind und gegen die man nichts tun kann. Aber ich hatte unter den Leuten des Nordens eine einigermaßen freundliche Aufnahme gefunden. Und dieses Land ist auch schön. Mit grünen Farben, die wir uns hier nicht vorstellen können. Kräftige Töne, die mit Gelb- oder Blauschattierungen durchsetzt sind. Natürlich mißtrauten mir die Elfen dort. Ich war zwar nicht verderbt, aber ich war auch keine von ihnen. Ich war so etwas wie ein Zwischending. Aber über diese Dinge weißt du selbst sehr gut Bescheid, nicht wahr, Vistrosh? Ich baute mir dort ein Steinhaus auf einer Klippe über dem grauen Ozean. Es war ganz schlicht. Einfache graue Steinmauern. Ein Lehmboden. Eine Holztür. Drinnen hatte ich nur ein Bett und einen Tisch. Vielleicht bestrafte ich mich für all das Elend, was ich verursacht hatte. Vielleicht wollte ich meine Seele reinigen. Was es auch war, es kam mir gerade recht. Denn in der Zeit, die ich dort verbrachte, war ich von einem Gefühl des Friedens und der Hoffnung erfüllt. Eines Tages ging ich den Strand entlang, um Muscheln zu suchen. Eine einfache Tätigkeit, aber sie bereitete mir große Freude. Die Luft war frisch und sauber und roch salzig. Das Wasser hatte den Saum meines Gewandes durchtränkt, sie schleifte hinter mir her und hinterließ eine breite Spur im Sand. Dann hörte ich das Geräusch.
Es kam von ganz weit entfernt. Zuerst dachte ich, daß es das Weinen eines Kindes sei. Doch dann erklang es noch einmal, und zwar hoch oben am Himmel. Ich schaute nach oben, und in diesem Augenblick hatte die Sonne einen ihrer seltenen Auftritte, so daß ich blinzelte, um meine Augen vor dem grellen Schein zu schützen. Und dort vor der blaßgelben Sonne schwebte ein Vogel. Er flog nach unten. Als er kaum noch hundert Ellen entfernt war, erkannte ich ihn. Vor langer Zeit waren Aithne und ich übereingekommen, daß ich kommen würde, falls er mich je brauchte. Er würde einen Boten schicken. Einen Vogel, den ich als den seinen erkennen würde. Und dieser Vogel flog jetzt auf mich zu. Er war schwarz und rot gefiedert und hatte einen leuchtend gelben Schnabel. Ich hielt den Arm hoch, und er landete, indem sich seine Krallen um meinen Unterarm schlossen. Mein Gesicht verzog sich zu einer schmerzerfüllten Grimasse, als sich seine Krallen in meine Haut bohrten. Diese Wunden würden nicht rasch heilen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte ich keinen Gedanken an solche Verletzungen verschwendet. Um ein Bein war ein silbernes Bändchen mit Aithnes Siegel gewickelt. Ich fand die Botschaft, die in einem festgebundenen Röhrchen steckte. Alna, es ist zehn Jahre her, seit wir zuletzt miteinander geredet haben. Damals sagtest Du, ich brauchte Dir nur eine Nachricht zu schicken,
sollte ich Dich je brauchen. Ich bitte Dich, nicht mir zu helfen, sondern Sidra. Sie wird in Himmelsspitze festgehalten, und ich fürchte, daß ich sie nie wiedersehen werde. Die Nachrichten, die ich von dort bekommen habe, erfüllen mich mit großer Besorgnis. Bitte hilf mir. Aithne Eichenwald Ach, welch grausame Streiche uns das Schicksal spielt, findest du nicht auch? Daß mich meine größte Liebe, mein Jugendfreund, nicht für sich, sondern für seine größte Liebe um Hilfe bat. Und wie konnte ich etwas anderes tun als worum er mich bat? Sag mir, hast du jemanden, den du wirklich liebst? Du brauchst mir nicht zu antworten. Ich sehe dir an, daß das der Fall ist. Es gibt keine schlimmere Qual, nicht wahr? Also brachte ich den Vogel in mein kleines Steinhaus und fütterte ihn, bis er satt war und sich auf die Lehne meines einzigen Stuhls hockte, um zu schlafen. Am nächsten Morgen hinterließ ich auf dem Tisch eine Nachricht an jene, die sich wegen meiner Abwesenheit Gedanken machen würden. Der Vogel und ich machten uns auf den Weg zum Blutwald. Mit jedem Tag, der verstrich, ließ ich die kalten Winde des Nordens zurück. Die lauen südlichen Brisen, die mir den Duft und die Wärme Barsaives
brachten, begrüßten mich. Der Vogel flog mir immer voraus und kehrte dann zurück, wenn ich abends mein Lager aufschlug. Ich wanderte durch das felsige Gelände des Nordens. An den verdrehten Bäumen mit ihren knorrigen, arthritischen Ästen vorbei, die mich immer an die Hände alter Leute erinnerten. Bei meinem Aufbruch war Frühlingsanfang. Die Bäume waren noch schwarz und kahl. Der Boden graubraun. Ich wanderte zwei Wochen, bis ich die ersten Anzeichen dafür sah, daß ich mich meinem Ziel näherte. Ich will dich nicht mit Einzelheiten meiner Reise langweilen, sondern nur anmerken, daß sie lang war und mich einem Ort näher brachte, zu dem ich eigentlich gar nicht wollte. Wegen der Liebe, die ich für Aithne empfand, würde ich Alachias Domäne betreten. Er kannte die Gründe für unseren Zwist, und dennoch hatte er mich gerufen. Das konnte nur bedeuten, daß Sidras Lage in Himmelsspitze verzweifelt war. Ich hatte kaum Kontakt mit den Theranern gehabt und immer beabsichtigt, es auch dabei zu belassen. Mit ihrer seltsamen Einförmigkeit der Erscheinung und ihrer gleichgültigen Arroganz waren sie mir immer absonderlich erschienen. Aber ich wußte, wie leicht es für mich war, mich in Spekulationen zu verlieren, also versuchte ich mich abzulenken. Die zerklüfteten Felsen wichen langsam einer sanft gewellten Hügellandschaft. Mehr und mehr Dörfer tauchten am Wegesrand auf. Meine
Anwesenheit war längst nicht mehr so bemerkenswert, da diese Straßen von vielen Elfen bereist wurden. Aber nicht von verderbten Elfen. Ich wußte, daß sie hier nicht willkommen waren. Und dann erklomm ich eines Morgens einen Hügel und sah ihn vor mir. Den Blutwald. Deiner Miene kann ich entnehmen, daß er dich immer noch in seiner Gewalt hat. Ich habe ihn zwar am liebsten so in Erinnerung, wie er vor der Plage war, aber er hat sich so, wie er jetzt ist, doch in einer dunklen Ecke meines Herzens eingenistet. Was merkwürdig ist, denn wenn ich an den schrecklichen Preis denke, den wir für sein Überleben bezahlt haben, wird mir übel. Er war wunderschön. So üppig und grün. Die riesigen Bäume: Eichen, Ahörner, Eiben. Ein Windstoß trieb ihren Duft zu mir. Wie kann ich ihn beschreiben? Du erinnerst dich an ihn, nicht wahr? An den durchdringenden Geruch nach Saft und Erde. Und an den schwereren, stinkenderen Geruch darunter. Den Geruch des Blutes Tausender von Elfen, das ständig im Waldboden versickert. Ich ging darauf zu wie berauscht von seinem Anblick. Der Weg, der in die Dunkelheit des Blutwalds führte, wurde von zarten Farnkräutern gesäumt. Zwischen den Pflastersteinen wuchs üppiges Moos. Narzissen neigten ihre schweren Köpfe, als ich an ihnen vorbeiging, und ihr sattes Gelb unterstrich nur das kräftige Dunkelgrün des Waldes.
Die Bäume ragten immer höher vor mir auf, je näher ich kam. Ich hatte ihre Größe vergessen, während ich fort gewesen war. Ebenso wie ich vergaß, was echte Dunkelheit war, nachdem ich das Kaer verlassen hatte. Ich fühlte mich klein und bedeutungslos, als ich dastand und sie betrachtete. »Du bist gekommen«, sagte eine Stimme. Ich blieb stehen und sah mich um. Da war niemand. Dann sah ich etwas durch mein Gesichtsfeld fliegen. Einen Windling. Das letzte Lebewesen, das ich hier zu sehen erwartet hatte, da ich wußte, wie sehr die Windlinge die Blutelfen verachteten. Noch überraschender war die Tatsache, daß dieser Windling verderbt war. Die Windlinge die in den Lichtern der Weinenden Zinne lebten, waren unberührt. Sie waren so zart und schön, daß es kaum vorstellbar erschien, daß sie Schmerzen ertragen konnten. Dieser Windling hatte dünne irisierende Flügel und einen Schopf brauner Haare. Spitze kleine Dornen wuchsen wahllos aus seiner Haut. Um seinen Hals hing ein Amulett in der Gestalt eines Vogels. Er trug eine Tunika, die aus dem Fell eines kleinen Tieres gefertigt war. Die Pfoten waren nicht abgetrennt worden, sondern hingen wie Troddeln am Saum. Bevor ich etwas sagen konnte, war ich von einem Trupp Dornenmenschen umzingelt. Unnatürliche Kreaturen mit der Gestalt eines Namensgebers, doch ohne Seele, die sie erlösen könnte. In ihren käfigartigen Leibern ruhten verwesende Kadaver kleiner Tie-
re. Welch eine erbärmliche Tortur es war, diese magischen Wesen zu füttern. »Sie hat die Erlaubnis zu passieren«, sagte der Windling. Die Dornenmenschen schulterten ihre Speere, versperrten aber immer noch den Weg. »Tölpel«, sagte der Windling. Er flatterte wieder zu mir zurück. »Aithne hat mich geschickt, damit ich dich sicher durch den Wald geleite. Beachte sie einfach nicht, sie werden nicht versuchen, dich aufzuhalten.« »Wer bist du?« fragte ich. »Ich bin Emil«, sagte der Windling. Dann flog er auf und über die Köpfe der Dornenmenschen hinweg. Sie beobachteten mich mit ihren toten braunen Augen, als ich den Weg verließ und sie umging. Ich sah mich nicht um, als das Grün des Waldes das Licht verschluckte und mich mit seiner Dunkelheit umhüllte.
Ich badete wieder im smaragdgrünen Licht des Blutwalds. Erinnerungen kehrten zurück, die ich für immer verloren geglaubt hatte. Als ich noch ein Kind war, gab es keinen schöneren Ort in Barsaive und auch nicht im ganzen Theranischen Reich. Vielleicht bin ich voreingenommen, aber tief in meinem Herzen weiß ich, daß es stimmt. Damals war unser Volk so edel und stolz, daß meine Seele vor Trauer und Wut verzehrt wird, wenn ich daran denke, was aus einigen von uns geworden ist. Und ich gebe Alachia die Schuld. Es war ihr Wille, der zu dieser Verstümmelung, zu dieser Korruption und Perversion der Elfen geführt hat… Aber ich sollte mich entschuldigen, Vistrosh, denn du leidest mehr als ich. Und ich schweife ab. Die Bäume erhoben sich hoch in den Himmel, und ihr Blattwerk bildete ein Dach über uns. Ab und zu fiel ein Blatt herab und auf den blutdurchtränkten Waldboden, um dort zu verrotten. Ranken so dick wie ein Unterarm wickelten sich um die Baumstämme und verschwanden weiter oben im dichten Geäst. Moose und Flechten hingen grau und geisterhaft herunter. Obwohl ich sie nicht sehen konnte, spürte ich doch, daß es Wachen gab, die mich beobachteten. Einmal, vor langer Zeit, war es mir gelungen, Ala-
chias Patrouillen auszuweichen und einen Dieb hierher zu bringen, der in Alachias Palast eingedrungen war und ihr einen Talisman gestohlen hatte. Ich fragte mich, was wohl aus dem Dieb geworden war. Er war gefangengenommen worden, als wir zu fliehen versucht hatten. Ich nahm an, daß Alachia ihn schon vor langer Zeit zum Tode verurteilt hatte. Nein, das stimmt nicht ganz. Ich hatte ihn vergessen. Und dann richtete sich meine Aufmerksamkeit wieder auf Emil, und der Dieb geriet erneut in Vergessenheit. »Wo ist Aithne?« fragte ich. »Er erwartet dich am Palast.« »Weiß Alachia, daß er nach mir geschickt hat?« »Ja. Sie hat es selbst vorgeschlagen.« Die Vorstellung, daß es Alachias Idee war, mich zurückzuholen, ließ mich frösteln. Jetzt gab es für mich keinen Zweifel mehr, daß es sich bei dem, was mir bevorstand, um ein äußerst gefährliches und möglicherweise tödliches Unternehmen handelte. Alles war fast genauso, wie ich es von meinem letzten Besuch noch im Gedächtnis hatte. Der einzige Unterschied bestand darin, daß ich diesmal direkt in die Höhle des Löwen ging und nicht in den Büschen herumschlich. Alachias Palast war so atemberaubend wie eh und je. Würde jemals der Tag kommen, an dem er mich nicht in ehrfürchtiges Staunen versetzte? An dem mich seine Schönheit nicht umwarf? An dem mich die schiere Zurschaustellung magischer Macht nicht
beeindruckte? Wahrscheinlich würde er immer diese Macht über mich haben. Wie Alachia selbst. Unsere liebe Mutter. Wie viele von uns sahen sie immer noch in dieser Rolle? Nach all dieser Zeit denken wir von ihr wie Kinder. Keine Mutter ist je so grausam gewesen. Aber das weißt du so gut wie ich. Sag mir – wie bist du mit deiner Verbannung fertiggeworden? Hast du dich betäubt? Hast du die Erinnerungen verdrängt, bis sie wie ein Teppich waren, der zu lange der Sonne ausgesetzt und bis zur Unkenntlichkeit verblaßt und ausgebleicht war? Oder hast du dich düsterer Methoden bedient? Nein, antworte nicht. Ich will es gar nicht wissen. Ich will in dir nicht mehr sehen als den Sklavenhändler, der du bist. Aber der Palast. Ich habe als Kind zugesehen, wie sie ihn erschaffen hat. Sie hat die acht gewaltigen Bäume wachsen lassen, die ihn tragen. Hat sie nach ihren Vorstellungen gestaltet. Die Treppe aus den Knochen der Dämonen wurde später hinzugefügt, während der Plage. Zumindest hat Aithne mir das erzählt. Zwei Wachen standen zu beiden Seiten der Treppe, die zum Eingang führte. Auch auf jeder Stufe standen je zwei Wachen, eine links, eine rechts. Emil flog direkt hinauf, ohne die Wachen zu beachten. Ich blieb am Fuß der Treppe stehen. Das große Portal stand offen, aber ich konnte in der Dunkelheit dahinter nichts erkennen. Tief Luft holend, stellte ich
einen Fuß auf die unterste Stufe und machte mich dann an den Aufstieg. Nachdem ich die ersten Stufen erklommen hatte, bemerkte ich, daß sich hinter mir die Wachen formierten und mir in den Palast folgten. Mein Magen krampfte sich zusammen, und ich fragte mich, ob man mich hereingelegt hatte. War Aithnes Brief echt? Oder war ich in die Gewalt meines ärgsten Feindes gelockt worden? Zauber gingen mir durch den Kopf, und ich glitt mit den Fingerspitzen über die vernarbten Runen, die meine Unterarme bedeckten, um mich zu vergewissern, daß ich keinen Fehler machen würde. Wenn dies eine von Alachias Fallen war, würde sie feststellen, daß ich nicht so leicht umzubringen war wie meine Eltern. Es war kühl im Palast. Die Luft war vom Duft der Rosen erfüllt, die überall in und um den Palst herum wuchsen, die Mauern emporkletterten und sich um die Fenster rankten. Als sich meine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, fiel mir auf, daß die Teppiche an den Wänden aus Millionen von Blütenblättern geknüpft waren. Außer Rosen roch ich Flieder, Hyazinthen, Lilien, Veilchen und Geranien. Ich wunderte mich über die Magie, die angewandt worden war, um diese Wandteppiche zu schaffen. Denn keine Hand konnte sie geknüpft haben, bevor die Blüten verwelkt und abgestorben wären. Und die Arbeit in diesem makellosen Zustand zu erhalten, erforderte einen brillanten Zauber. Jeder Wandteppich stellte eine Szene aus der Zeit vor der Plage dar. Einer zeigte, wie Alachia das the-
ranische Angebot des Kaers ablehnte. Ein anderer, wie sie ihre Untertanen vor ihrer Verwandlung in Blutelfen in eine Schlacht gegen die Dämonen führte. Ein dritter zeigte ein schreckliches Gemetzel, nachdem die Dämonen die Abwehrvorrichtungen des Wyrmwaldes überwunden hatten. Auf einem weiteren war das Ritual der Dornen abgebildet. Zwei andere stellten den Sieg über die Dämonen und die Konstruktion der Palasltreppe aus ihren Knochen dar. Die letzte Szene zeigte Alachia, die vor dem Palast stand und von jubelnden Elfen umringt war. Ich fühlte mich elend. Doch dann öffneten sich die Türen zum großen Audienzzimmer. Ich spürte, wie mein Hals trocken wurde und sich meine Magenmuskeln zusammenkrampften. »Aina?« Es war Aithne. Da eilte ich vorwärts, was meine Bewacher überraschte. Sie grunzten und zogen ihre Waffen, zweifellos in der Überzeugung, ich wolle ihn angreifen. Und dann lagen wir einander in den Armen und hielten uns umschlungen. Ich spürte, wie er zitterte, und versuchte den Schmerz zu verdrängen, als sich seine Dornen in meine ungeschützte Haut bohrten. »Sidra«, hörte ich ihn sagen. Dann brach seine Stimme, und er erbebte. »Schsch«, machte ich, indem ich ihm auf den Rücken klopfte und ihn tröstete wie ein Kind. Ich hoffte, die Wachen hatten soviel Anstand und sahen
weg. Aithne ist stolz, und solch eine Zurschaustellung von Gefühlen hätte ihn unter normalen Umständen tief gedemütigt. Ich verspürte einen heftigen Drang, ihn zu beschützen. Einen Augenblick später schien er sich ein wenig an mir aufgerichtet zu haben, da er den Kopf von meiner Schulter hob. Ich betrachtete sein Gesicht, und es schmerzte mich, das Leid darin zu sehen. Leid, das nichts mit den Dornen zu tun hatte. Dieses Leid reichte ganz tief in ihn hinein an einen Ort, von dem ich nicht wußte, ob ich je zu ihm vorgedrungen war. »Bitte«, sagte er. »Komm herein.« Er nahm meinen Arm und führte mich in den Raum. Die Türen schlossen sich hinter uns. Ich stand vor Alachia. Ich wandte den Kopf, um festzustellen, ob ihre Wachen uns gefolgt waren, aber wir waren allein. Nur Aithne, Alachia und ich. »Aina«, sagte sie. »Willkommen im Blutwald.« Sie erhob sich weder von ihrem Thron, noch streckte sie die Hand aus, um mich zu begrüßen. Aber ich verbeugte mich auch nicht vor ihr. Aus dieser Nähe hatte ich sie seit fünfhundertundfünfundsiebzig Jahren nicht mehr gesehen. Abgesehen von den Dornen war sie noch genauso, wie ich sie in Erinnerung hatte. Die milchweiße Haut. Saphirblaue Augen. Ein Wasserfall dichter, feuerroter Haare. Die hohen Wangenknochen und die halbmondförmigen Augen, die uns Elfen gemeinsam sind.
Sogar ihr Gewand war ähnlich und bestand aus Tausenden von Rosenblättern, die mit Silberfäden so zart wie Spinnweben zusammengenäht waren. Es ließ ihre Arme und teilweise ihre Brüste frei. Ein riesiger Diamant hing an einer dünnen Kette um ihren Hals und baumelte zwischen diesen Brüsten, so daß der Blick des Betrachters dorthin gezogen wurde. Er bewegte sich auf hypnotische Weise, fing das Licht ein und ließ winzige Regenbogen auf ihrer Haut tanzen. Ich haßte sie. Ich liebte sie. Ich verachtete mich für beide Empfindungen. Dann räusperte sich Aithne, und mir fiel wieder ein, warum ich gekommen war. Alachia und ich hatten alle Zeit der Welt, aber für Sidra galt das nicht. Sie konnte erlöschen wie eine Kerzenflamme im Wind, wenn nichts unternommen wurde. »Ich bin gekommen, Aithne«, sagte ich. »Was ist mit Sidra?« »Sie ist in Himmelsspitze gefangengenommen worden«, sagte er. »Kannst du keinen Unterhändler schicken und ihre Freilassung bewirken?« »Nein«, erwiderte er. »Sie geben vor, sie nicht zu haben. Aber ich weiß, daß das nicht stimmt. Wir haben Spione.« »Können die ihr nicht helfen?« »Nicht, ohne sich zu verraten«, sagte Alachia. »Und das steht außer Frage, auch wenn sich Aithne noch so viel aus Sidra macht.«
»Aber was könnte ich unternehmen?« fragte ich. »Meine Agenten können sie nicht persönlich befreien«, sagte Alachia. »Aber sie könnten jemandem helfen, es zu tun.« Und da war mir alles klar. Wie sauber ich ihr in die Falle gegangen war. Ich verfluchte mich innerlich, weil ich eine dreimal verfluchte Närrin war. Aithnes Blick ruhte auf mir, und es gab keinen Ausweg aus dieser Zwickmühle, ohne Sidra zu opfern. »Und wie komme ich nah genug an sie heran?« fragte ich, obwohl ich mir die Antwort darauf schon denken konnte. »Du mußt dich gefangennehmen lassen«, sagte Alachia. Ihre Stimme troff vor falscher Besorgnis, aber ich wußte, was dahintersteckte, auch wenn Aithne ahnungslos war. »Das Theranische Reich ist groß«, stellte ich fest. »Wie könnte ich sicher sein, daß ich nach Himmelsspitze gebracht würde?« »Aithne kennt einen Sklavenhändler in Kratas«, sagte Alachia. »Er ist ein verbannter Blutelf und würde alles tun, um unser Wohlwollen zurückzugewinnen. In zehn Tagen schickt er einen Trupp Sklaven nach Himmelsspitze. Aithne hat bereits in die Wege geleitet, daß du dazugehören wirst.« »Und wie und wo treffe ich mich mit diesem Sklavenhändler?« fragte ich. »Gar nicht«, sagte Aithne. »Wir haben es so eingerichtet, daß du von seinen Sklavenjägern gefangengenommen wirst. Auf diese Weise verringert
sich die Wahrscheinlichkeit, daß jemand argwöhnisch wird.« »Eine aufwendige Planung«, sagte ich. »Warst du so sicher, daß ich kommen würde?« »Ich nicht«, sagte Aithne. »Aber Alachia hat mir versichert, du würdest kommen. Und daß es das Risiko wert sei.« Ich sah Alachia an. Ein dünnes Lächeln spielte auf ihren Lippen. »Ja«, sagte ich. »Sie würde das Risiko eingehen.« Und so mußte ich den Blutwald wieder verlassen.
Wenn ich Kratas noch rechtzeitig erreichen wollte, um mich der Sklavenkarawane nach Himmelsspitze anzuschließen, mußte ich mich sofort auf den Weg machen. Aithne würde mich ein Stück des Weges begleiten, aber wir kamen überein, daß es besser war, wenn ich allein war, während meine ›Gefangennahme‹ über die Bühne ging. Aithne war angespannt und verkniffen, als Alachia sich mit einem Kuß auf die Stirn von ihm verabschiedete. Doch ich sah ihre Augen über seiner Schulter und den Haß auf mich darin brennen. Es erschreckte mich, obwohl ich wußte, daß der Haß immer dagewesen war. Seltsam wie wir über das hinwegsahen, worüber wir nicht nachdenken wollen. Dann drangen Aithne und ich rasch zum Waldrand vor. Von dort aus marschierten wir zu der kleinen Handelsstation, die an diesem Abschnitt des Schlangenflusses die letzte Haltestelle war. Ein Flußboot der T’skrang erwartete uns und legte ab, kaum daß wir an Bord gegangen waren. Das Schiff würde uns zum Vorssee tief im Tal zwischen den Scolbergen und dem Tylongebirge bringen. Dort würde ich Aithne verlassen und auf dem an Kratas vorbeifließenden Fluß entlang nach Süden reisen. Es war ein Wettlauf mit der Zeit, denn die Reise würde unter den günstigsten Umständen noch mindestens acht Tage dauern.
An Bord des Schiffes sah ich den Matrosen der T’skrang dabei zu, wie sie ihren Pflichten nachgingen und dabei ihre akrobatischen Kunststücke mit einer Eleganz und Freude vorführten, die ich ebenso ergötzlich wie verblüffend fand. Nie hatte ich mich so sorglos gefühlt, wie es die T’skrang von Natur aus zu sein schienen. Aithne sagte nichts, sondern beobachtete die T’skrang mit versonnener Miene. Ich wußte, daß er und Sidra einige Zeit zusammen auf ihrem Schiff Weiße Königin verbracht hatten. Warum hatten sie sich getrennt? Als ich sie zuletzt gesehen hatte, war es offensichtlich gewesen, daß sie sehr viel füreinander empfanden und zusammen sein wollten. Was war geschehen? Ich brannte vor Ungeduld, es zu erfahren, aber ich war nicht so dumm, Aithne zu bedrängen. Er sah ohnehin bereits so aus, als seien seine Nerven zum Zerreißen gespannt. Die nächsten vier Tage vergingen wie im Flug. Aithne und ich waren nie allein, und infolgedessen hatten wir kaum Gelegenheit, uns zu unterhalten. Immer war ein Matrose der T’skrang in der Nähe. Der Himmel war bewölkt, aber seine graue Eintönigkeit wurde durch das lebhafte Scharlachrot, Gold und Orange in den Tuniken der T’skrang aufgelockert. Zwar genoß ich die Theatralik ihrer gespielten Schwertkämpfe und akrobatischen Kunststücke anfangs, aber nach einer Weile gingen mir ihre Possen auf die Nerven. Man kann eben nur ei-
ne gewisse Menge an Fröhlichkeit und Gelächter ertragen. Das Schiff legte an, als ich ernsthaft mit dem Gedanken spielte, ein Massaker unter den T’skrang anzurichten. Nein, nein, es wäre nicht allzu schlimm geworden, ich hätte mich mit der Entleibung der fröhlichsten unter ihnen begnügt. Ich hatte alles ganz genau geplant und war sogar ein wenig enttäuscht, als wir früher als erwartet anlegten. Aithne begleitete mich zu den Pferden, die bereits warteten. Wir redeten nicht. Ich hatte gehofft, daß er mir erzählen würde, was zwischen ihm und Sidra vorgefallen war. Das ist komisch, nicht wahr? Daß ich wissen wollte, was ihn und Sidra auseinandergebracht hatte, obwohl ich diese Tatsache doch eigentlich hätte feiern müssen. Aber ich wußte, daß sie ihm etwas gegeben hatte, das ich ihm nicht geben konnte. »Ich werde alles tun, um ihr zu helfen«, sagte ich. Es klang pathetisch. Ich gegen die Theraner. Wofür hielt ich mich? Er umarmte mich flüchtig. »Du bist meine einzige Hoffnung«, sagte er. »Rette sie. Rette mein Kind.« »Dein Kind?« Ich war völlig überrascht. Ich hatte keine Ahnung, daß sie ein Kind hatten. Warum hatte er es mir nicht erzählt? »Sie trägt mein Kind«, sagte er. »Deshalb hat sie mich auch verlassen. Sie entdeckte es, und wir stritten… Sie verließ mich… Dann hörte ich von ihrer Gefangennahme. Vielleicht hat man sie schon…«
Ich legte ihm die Hand auf den Mund, um den Wortschwall zu stoppen. Um zu verhindern, daß die Worte ausgesprochen wurden. Um zu verhindern, daß die Schreckensvorstellung Wirklichkeit wurde. Wie er sich nach einem Kind gesehnt hatte. So viele Jahre lang. »Sag nichts mehr«, sagte ich. »Ich bringe sie zurück.« Der Rest meiner Reise verlief ereignislos. Ich erreichte die Außenbezirke Kratas’ einen Tag früher als geplant und zwang mich, die Ruhe zu bewahren, während ich darauf wartete, daß mich die Sklavenjäger fanden. Sie schnitten mir mit einem Messer die Haare ab, dann schmierten sie mir Lehm auf den Kopf. Auch mein Gesicht und meine Hände wurden mit Lehm eingerieben. Dann war mein Gewand an der Reihe. Ich hatte damit gerechnet, gut behandelt zu werden, bis wir in Kratas ankamen, aber diese Leute fürchteten sich vor ihrem Herrn offenbar mehr als vor mir. Und sie wollten ganz eindeutig nicht, daß irgend jemand dachte, ich würde anders als die anderen Sklaven behandelt. Sie nahmen mir meinen Rucksack weg. Mein vernarbter Körper, von dem ich weiß, daß du ihn abstoßend findest, war alles, was mir blieb. Denn sie konnten mir die Runen nicht wegnehmen, ohne mir
das Fleisch von den Knochen zu schälen. Was der Lehm nicht verdeckte, verdeckte meine Robe. Meine Füße wurden in Ketten gelegt, so daß ich gehen, aber nicht laufen konnte. Sie führten mich in zügigem Marschtempo nach Kratas. Ich nahm den Abfall im Rinnstein und den Gestank von Müll, Tierkot und ungewaschenen Leibern kaum wahr. Das wenige, was ich von den Häusern sah, zeigte den Verfall von Jahren – nein, Jahrhunderten – der Vernachlässigung. Gelegentlich stolperte ich und fiel, aber sie blieben nicht stehen. Als wir schließlich den Ort erreichten, wo die Sklaven gehalten wurden, war ich so müde, daß es mir egal war. Meine Rippen waren mit blauen Flecken übersät. Sie hatten mich getreten, um mich wieder auf die Beine zu bringen. Meine Knie waren aufgeschrammt und wund. Ich sehnte mich so sehr nach einem Schluck Wasser, daß es schmerzte. Aber das interessierte meine Häscher nicht. Wir hatten verlangt, daß ich wie eine Sklavin behandelt wurde, also wurde ich so behandelt. Sie schoben mich in eines der verfallenen Häuser. Ich stolperte in einen großen Raum und blinzelte, um meine Augen an das Licht zu gewöhnen. Als erstes fiel mir der Geruch auf. Es roch nach Schweiß und Angst. Kupferig und heiß wie Blut. Tageslicht fiel schwach durch die verschmutzten Fenster. Der Raum war in Pferche unterteilt. In jedem gab es einen Eisenpfahl, an den die Sklaven gekettet waren. Sie schoben mich in einen Pferch und ketteten
mich an den Pfahl. Ich betrachtete die anderen Sklaven und versuchte sie einzuschätzen. Zwei Menschen, eine weitere Elfe, eine Zwergin. Alle vier waren Frauen. In einer Ecke des kleinen Pferchs stand ein Kübel mit Wasser, und ich ging zu ihm. Die anderen beobachteten mich, rührten sich aber nicht. Ich sah, daß sie ebenfalls verdreckt und ziemlich abgemagert waren. Ich nahm einen Schluck Wasser und verzog das Gesicht, als das brackige Wasser in meiner wunden Kehle brannte. Ich war zwar von den Sklavenjägern, die mich hergebracht hatten, schlecht behandelt worden, hatte aber längst nicht das erlitten, was diese Frauen durchgemacht hatten. Sie waren von einer Aura der Angst umgeben, wie ich sie bisher nur ein einziges Mal wahrgenommen hatte. Ich wischte mir mit dem Handrücken den Mund ab und setzte mich dann den anderen gegenüber. Eine Zeitlang herrschte Schweigen, da wir uns gegenseitig nur beobachteten. »Ich bin Aina«, sagte ich schließlich. »Ich wurde erst vor ein paar Tagen gefangengenommen. Wißt ihr, was sie mit uns vorhaben?« Eine der Menschenfrauen schüttelte den Kopf. Es war schwer zu sagen, wie sie aussah, weil eine Seite ihres Gesichts verschwollen und grün und blau verfärbt war. »Ich bin Narelle«, sagte sie. »Das sind Rose, Siobhan und Daveen.« Dabei zeigte sie nacheinander
auf die andere Menschenfrau, die Elfe und die Zwergin. »Wir wurden gefangengenommen, als sie eine Karawane überfielen, in der wir gearbeitet haben. Abgesehen von den wenigen, die sie hierher verschleppten, haben sie alle anderen ermordet.« »Wie lange seid ihr schon hier?« »Ich weiß nicht genau«, sagte Narelle. »Es gibt hier keine Möglichkeit festzustellen, wieviel Zeit vergeht. Vielleicht etwas weniger als einen Monat.« Einen Monat. In diesem stinkenden Loch ohne Licht und mit wenig Nahrung und fauligem Wasser. Wie hatten sie das nur ausgehalten? Ich selbst konnte jetzt schon kaum noch an etwas anderes denken als daran, mich zu befreien. Es wäre nicht schwierig gewesen. Sagte ich mir jedenfalls. Aber das wäre meinen Absichten zuwidergelaufen. Ich hoffte, daß Aithnes Information stimmte und wir am nächsten Tag nach Himmelsspitze geschickt würden. Nicht nur um Sidras sondern auch um meinetwillen. Die Stunden dehnten sich, bis es endlich Nacht wurde. Womit ich nicht gerechnet hatte, war die Langeweile. Wir hatten nichts, womit wir uns beschäftigen konnten. Nur uns selbst. Und sogar das verlor in der bedrückenden Atmosphäre des Sklavenpferchs schnell jeglichen Reiz. Kurz vor Morgengrauen fiel ich in einen leichten Schlummer. Ich träumte von Sidra. Sie trieb irgendwo außerhalb der Zeit. Ich wußte, wenn ich dorthin ging, konnte ich einen Zauber wirken, der sie befrei-
en würde. Aber dann schlich sich der Zerstörer in meinen Traum ein: Ysrthgrathe. Mein ganz persönlicher Dämon. Und obwohl ich ihr hätte helfen können, tat ich es nicht. Ich ließ zu, daß sie von mir wegtrieb. Ich hatte zuviel Angst, um ihr zu helfen. Weil ich wußte, was er mit mir tun würde, wenn ich ihr half. Ich erwachte, und die Sonne war aufgegangen, aber durch die schmierigen Fenster fiel kaum Licht. Die anderen Sklaven schliefen noch. Wenngleich nicht sehr gut, da sie beständig zuckten und stöhnten. Ich blickte mich in der Erwartung um, Ysrthgrathe zu sehen. Doch er war nicht da. Und zu meiner Überraschung vermißte ich ihn. Nicht so, wie man jemanden vermißt, an dem einem etwas liegt, sondern wie jemanden, an den man gewöhnt ist. Er war immer dagewesen, und zwar so lange, daß es mir sogar jetzt noch, nach über zehn Jahren, merkwürdig vorkam, ihn nicht um mich zu haben und mich nicht gegen ihn wehren zu müssen. Doch als ich mich umsah, war keine Spur von ihm zu sehen. Nur die Wachen waren da, die stupide und gelangweilt aussahen. Ich fuhr mit den Fingerspitzen über meine Narben. Sie zu berühren, vermittelte mir ein Gefühl der Sicherheit. Solange sie an meinem Körper blieben, hatte ich Macht. Ich konnte mich befreien, und ich konnte Sidra retten. Ich mußte nur Geduld haben.
Später am Morgen kamen die Wachen und gaben uns etwas zu essen. Es war dünner Haferschleim, mehr dazu geeignet, ein kränkliches Kind zu sättigen als Erwachsene. Sie dachten wohl an die Kosten, uns am Leben zu erhalten. Es ist teuer, Leute zu ernähren, die nichts leisten. Nach dem Essen wurden wir aneinander gekettet und nach draußen geführt. Ich konnte das Starren der Leute draußen spüren. Ihre Blicke fühlten sich wie Ameisen an, die über meine Haut krabbelten, und meine Wangen röteten sich. Aber ich ließ nicht den Kopf hängen wie die anderen Sklaven. Ich sah starr geradeaus, als existierten die Leute gar nicht, die uns angafften. Nach einigen Minuten wurde mir klar, daß mein Verhalten sehr dumm war. Ich mußte darauf achten, nicht aufzufallen, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, den Kopf zu senken. Es lag keine Spur von Winter in der Luft, nur die liebliche, warme Frühlingsbrise. Es war seltsam, die frische Luft zu riechen und zu spüren und doch nicht in der Lage zu sein, ihr nach Belieben zu folgen. Die Eisen um meine Hand- und Fußgelenke waren schwer. Sie brachten uns in ein Badehaus, wo uns die Kleidung abgenommen wurde und wir in eiskaltes Wasser getaucht wurden. Nach diesem kärglichen Bad gaben sie uns grobe schwarze Tuniken, die wir
anzogen. Meine ließ die Arme frei, reichte mir dafür aber bis fast zu den Fußknöcheln. Ich hoffte, daß niemand meinen Narben allzuviel Aufmerksamkeit widmen würde. Sie waren klein und gemustert, um ihren Zweck zu verbergen, aber jede aufmerksame Zauberkundige würde mühelos ihre wahre Bedeutung erkennen können. Dann wurden wir wieder auf die Straße geführt. Nach einem etwa einstündigen Fußmarsch kamen wir zu einem Luftschiffdock. Mehrere große Schiffe waren mit Ketten an große Anker gebunden, die im Boden steckten. Gelegentlich schaukelten sie im Wind wie der Ballon eines Kindes. Eine Strickleiter wurde von einem der Schiffe geworfen, und unsere Wachen trieben uns hinauf. Ich hatte genug Zeit auf Schiffen verbracht, so daß mir die Kletterpartie nichts ausmachte. Doch Rose und Narelle fingen auf halbem Weg an zu jammern. Ihre unkontrollierten Schluchzer ließen die Leiter erbeben. »Hört auf damit«, zischte ich. »Wollt ihr, daß sie euch herunterstoßen?« »Nei… nei… nein«, keuchte Narelle. »Dann hört mit dem Gejammer auf«, sagte ich. »Ich bin direkt hinter euch. Seht immer nur auf das Schiff. Und denkt nur daran, daß es immer näher kommt.« Ich redete mit Engelszungen auf sie ein, bis sie die Leiter erklommen hatten. Ich wußte nicht, warum ich es tat. Bald würden sie in der Gewalt der Theraner
sein, und was hatte ihnen das Leben dann noch zu bieten? Der Gedanke daran ließ mich mein Gesicht zu einer finsteren Grimasse zusammenpressen, was dem theranischen Sklavenhändler, an den wir gerade verkauft wurden, einen nicht sehr angenehmen ersten Eindruck von mir vermittelte. »Was ist das?« fragte er, als wir uns über die Reling zogen. »Das sind die Sklaven, die Ihr bestellt habt«, erscholl hinter mir die Antwort. Eine der Wachen war uns die Leiter hinauf gefolgt. »Das?« sagte der Sklavenhändler, indem er mit einer verächtlichen Geste auf uns deutete. »Dieser abgerissene Haufen? Man hat mir fünf prächtige junge Frauen im gebärfähigen Alter versprochen. Und du bringst mir diese… diese… Jammergestalten?« Ich betrachtete den theranischen Sklavenhändler genauer. Er war hellhäutig und hatte blondes Haar und blaßblaue Augen. Die Ebenmäßigkeit seiner Züge war bestürzend. In seinem Gesicht gab es keine einzige Unregelmäßigkeit, die es interessant gemacht hätte. Was blieb, war die nichtssagende Verbindlichkeit der Vollkommenheit, die alle Menschlichkeit und Schönheit auslöschte. Die Theraner hielten dieses Aussehen tatsächlich für anziehend. Die hohe, gewölbte Stirn, die scharf geschnittenen Wangenknochen, die dünne Nase, die schweren Augenlider. Durch seine endlose Wiederholung nahm dieses Aussehen den Charakter schrecklicher Einförmigkeit an.
»Lord Ignatius«, sagte der Wächter, »Vistrosh hat alle Anstrengungen unternommen, um dafür zu sorgen, daß diese Sklaven Euren Bedürfnissen entsprechen. Auch wenn sie im Augenblick ein wenig…. wie sagtet Ihr?… abgerissen aussehen. Er garantiert, daß sie alle Ansprüche erfüllen.« Ignatius schnaubte verächtlich. »Die Versicherung eines Diebes und Sklavenhändlers, der für eine Orichalkummünze seine Familie und sein ganzes Volk in die Sklaverei schicken würde, beruhigt mich natürlich ungemein.« Er gab dem Wächter einen Beutel. »Hier ist die Bezahlung. Ich komme zurück, sollten diese Sklaven keinen Anklang finden.« Der Wächter stopfte den Beutel in sein Hemd, um dann über die Reling zu steigen und die Strickleiter herabzuklettern. Unterwegs sang er ein schmutziges Lied über Theraner und ihre Mütter, das ich wiederholen würde, wenn ich mich noch an die zweite Strophe erinnern könnte. Wir kauerten uns zusammen und warteten ab, was als nächstes geschehen würde. Überall um uns herum waren Leute in schwarzen Tuniken und Gewändern an der Arbeit. Theraner, die in andersfarbige Kleidung gehüllt waren, erteilten ihnen Befehle. Ignatius trug eine hellblaue Tunika, die ich zunächst für modisch gehalten hatte, aber jetzt wurde mir klar, daß die unterschiedlichen Farben die theranischen Befehlshierarchien kennzeichneten. Sklaven trugen Schwarz, die Leute, die sie kontrollierten, trugen eine andere Farbe, und diejenigen, die wiederum diese
kontrollierten, noch eine andere. Wie leicht die Theraner zu durchschauen waren. Ich nahm an, daß die wichtigsten Leute Weiß trugen. Diese blinde Ergebenheit für das Buchstäbliche würde mir noch sehr nützlich sein. Nach einer Weile kam ein Theraner mit einer orangefarbenen Tunika zu uns und führte uns hinunter in den Laderaum. Wir wurden wieder angekettet und in Dunkelheit zurückgelassen. Irgendwann mußte ich eingeschlafen sein, da ich jäh hochschreckte, als sich das Schiff in Bewegung setzte. In die Wände des Laderaums, in dem wir uns befanden, waren kleine Bullaugen eingelassen. Es gelang mir, hochzuspringen und mich an der Kante des Bullauges festzuhalten, so daß ich nach draußen sehen konnte. Es gab nicht viel zu sehen, nur Kratas, das unter uns zurückblieb. Es war dunkel, und ich konnte nur die Lichter unter uns wahrnehmen, die wie Sterne aussahen. Als ich mich wieder auf den Boden fallen ließ, ertönte ein Geräusch aus dem Gang. Die anderen Frauen kauerten sich zusammen, dann rückten sie näher zu mir, als könne ich ihnen Schutz bieten. Ich wollte ihnen sagen, daß sie sich nicht an mich halten sollten. Daß ich nichts für sie tun konnte. Daß ich an diesem Ort ebenso hilflos war wie sie. Aber ich wußte, daß ich sie noch früh genug den Theranern überlassen würde. Also sagte ich nichts. Die Tür öffnete sich, und einer der orangegewan-
deten Wächter trat ein. Er hatte nichtssagende Züge und ein schlichtes Grinsen auf den Lippen. Das Tablett in seiner Hand war mit Brot und Obst beladen. Es hatte den Anschein, als sollten wir hier etwas besser behandelt werden als in Kratas. Du behandelst deine Sklaven ziemlich schlecht, Vistrosh. »Eßt«, sagte der Wächter in starkem throalischen Akzent. »Ah, und geistreich sind wir obendrein«, murmelte ich vor mich hin. Die anderen kicherten tatsächlich über diese Bemerkung, und Orangerobe warf mir einen finsteren Blick zu. Da wurde mir klar, wie abhängig ich vom guten Willen unserer Häscher war. Aithne mochte eine Menge Vertrauen in meine Fähigkeit haben, die Theraner frontal anzugreifen, aber ich wußte, daß mehr Glück und Schlauheit als Macht nötig waren, wenn ich überleben und Sidra retten wollte. Ich ließ den Kopf sinken, um es so aussehen zu lassen, als habe mir sein Blick Angst eingejagt. Es klappte, denn er sagte etwas auf theranisch, das ich nicht verstand. Dann überraschte er mich, indem er unsere Ketten aufschloß. Er machte eine weitere Bemerkung, dem Tonfall nach eine boshafte, und ließ uns dann allein. Wir fielen über das Essen her wie ausgehungerte Hunde. Höflichkeit und Manieren wurden gänzlich über Bord geworfen. Selbst mir lief der Saft über das Kinn, und Fruchtfleisch klebte an den Fingern. Ich schaute auf, und begriff, welchen Eindruck wir auf die Theraner machen mußten.
Außer mir waren alle schrecklich dünn. Auch nach unserem kühlen Bad sahen wir noch verdreckt aus. Unsere Roben waren schwarz und formlos und ließen uns noch erbärmlicher aussehen. Die Eisen um unsere Hand- und Fußgelenke hatten wunde Stellen hinterlassen. Daveen, die Zwergin, hatte einen Schneidezahn verloren, so daß ihr Lächeln schief wirkte. Keine von uns hatte eine Bürste oder einen Kamm, um sich die Haare zu entwirren, die schmutzig und verfilzt waren. Wie konnten sie uns da mit etwas anderem begegnen als Verachtung. Wir waren erschöpft, eingeschüchtert und hilflos. Zwar waren die Theraner bei ihrem Versuch besiegt worden, Barsaive unter ihre Herrschaft zu zwingen, aber dennoch waren Angehörige meines eigenen Volkes gewillt, uns wie Tiere an sie zu verkaufen. Du siehst aus, als fühltest du dich ein wenig unwohl, Vistrosh. Gut. Wo war ich? Ach ja. All das war mir durch den Kopf gegangen, als mir auffiel, daß die anderen mich anstarrten. Ich fragte mich, ob ich ihnen ebenso hilflos vorkam, wie umgekehrt. Doch dann betrachteten sie sich gegenseitig. Nun, da sie gesättigt und anscheinend in der Obhut eines besseren Herrn waren, konnten sie sich ansehen, was aus ihnen geworden war. Rose und Narelle brachen gleichzeitig in Tränen aus.
»Warum weint ihr?« fragte ich sie in scharfem Tonfall. »Sieh uns doch an«, schluchzten sie. »Was ist aus uns geworden?« »Ihr seht nicht schlimmer aus als wir anderen«, schnauzte Daveen. Das rief nur noch mehr Tränen hervor. »Haltet die Klappe«, sagte ich. »Ich bekomme Kopfschmerzen von eurem Gejammer.« Zu meiner Überraschung hörten sie tatsächlich auf zu schluchzen. Ich hatte mich gerade auf das kleine Lager gelegt, das ich mir mit Hilfe einer der groben Decken bereitet hatte, die in einer Ecke unserer Zelle gestapelt waren, als sich wiederum die Tür öffnete. Ich kannte diese Person nicht. Sie war in Silber gekleidet und trug ihre langen braunen Haare offen. Sie zeigte auf mich und sagte: »Du. Komm mit.« Damit drehte sie sich um und verließ die Zelle. Ich erhob mich und warf einen Blick auf meine Zellengenossinnen, die mich alle mit vor Angst geweiteten Augen anstarrten. Plötzlich überfiel mich die Furcht, die Theraner könnten bereits über mich Bescheid wissen. Aber ich durfte mir vor den anderen nichts anmerken lassen. Sie waren nicht so stark wie ich. Also bedachte ich sie mit einem dünnen Lächeln und ging hinaus.
Ich folgte der Theranerin durch den engen Gang. Das Rascheln ihrer Gewänder auf dem Holzboden klang wie das Zischen von Schlangen. Wir verließen den Laderaum und betraten eine andere Abteilung des Schiffs. Sie öffnete eine Tür und bedeutete mir hineinzugehen. Die Kabine war groß und hatte eine eingebaute Koje auf der einen und Regale auf der anderen Seite. Wände und Decke waren weiß und mit einem sich wiederholenden, roten Muster bemalt. Ein mit kunstvollen Schnitzereien verzierter Tisch für mindestens zehn Personen stand in der Mitte der Kabine. Auf dem Tisch lag ein dünnes Polster, das mit einem Laken bezogen war. Sie nahm ein paar Flaschen und Phiolen vom Regal und stellte sie auf ein Tablett. Ich stand wartend in der Tür und beobachtete sie. »Wie heißt du?« fragte sie. Ihre Stimme war honigsüß. »Aina«, erwiderte ich. Sie runzelte die Stirn. »Der Name gefällt mir nicht«, sagte sie. »Ich glaube, ich werde dich Oriana nennen. Ja, das gefällt mir viel besser.« »Mir nicht«, sagte ich. »Du hast in dieser Angelegenheit kein Mitspracherecht«, sagte sie gelassen. Und so stahlen sie mir meinen Namen.
»Leg dich hier auf diesen Tisch. Auf den Rücken«, sagte sie. »Und schließ die Tür hinter dir.« Ich tat wie mir geheißen, ging zum Tisch und legte mich darauf. Mein Körper war steif und angespannt, aber ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen. Sie nahm mein linkes Handgelenk und schlang einen Ledergurt darum, wobei sie meine eiserne Handfessel hochschob, so daß der Gurt halten würde. Mit dem anderen Handgelenk verfuhr sie ebenso, und mir wurde klar, daß ich festgeschnallt wurde. Ich hatte von der Folter gehört, welche die Theraner mit einer Grausamkeit ausübten, die wir in Barsaive nicht nachvollziehen konnten. Da wehrte ich mich. Meine Furcht war stärker als der Gedanke an die Mission, auf der ich mich befand. Die Frau stieß einen ungeduldigen Laut aus und sprach die Worte für einen Zauber, den ich nur allzugut kannte. Meine Muskeln erstarrten, und ich konnte mich nicht mehr bewegen. Da fiel mir wieder ein, wie ich Javan den Dieb einmal mit demselben Zauber belegt und ihn zurückgelassen hatte, so daß Alachias Wachen ihn finden mußten. Bei der Erinnerung daran wand ich mich innerlich. Ich war gelähmt und konnte nur ihre Bewegungen hören. Das machte alles nur noch schlimmer. Das Klirren von Metall auf Metall. Das Gefühl, wie sie meine Robe hochstreifte und meinen Leib entblößte. In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nie so hilflos gefühlt. Dann sprach sie Worte auf theranisch, die ich
nicht verstand. Ich spürte eine Hitze, die an meinen Füßen ihren Anfang nahm und sich dann langsam hocharbeitete. Dann war sie in mir. Sie fühlte sich wie eine Hand an, die meinen Schoß berührte, ihn manipulierte und untersuchte. Ich begriff nicht, was vorging. Bis ich das Leuchten sah, als es sich auf mein Gesicht legte. Es war ein Zauber, der ihr gestattete, in meinen Körper einzudringen. Und mit ihm nach Belieben zu verfahren, als sei ich ein Tier, das sie sezierte. Galle stieg mir in die Kehle. Tränen rannen mir aus den Augenwinkeln und meinen Hals herunter. Mein Körper juckte überall, und ich konnte nichts dagegen tun und nicht einmal zu weinen aufhören. So ging es endlos lange weiter. Jeder Fingerbreit meines Körpers wurde kühl sondiert und untersucht. Es tat weh, aber ich konnte nicht schreien. Nichts gehörte mehr mir. Es war alles nur noch bloßes Fleisch, das dieses theranische Miststück nach Belieben benutzen konnte. Dann verschwand das Licht, und ich konnte mich wieder bewegen. Sie band mich los und wandte sich dann ab, als ich meine Robe herunterzog, um mich zu bedecken. »Du bist sehr gesund«, sagte die Frau. »Ich sehe, daß dein Körper mit Runen bedeckt ist. Warst du früher einmal eine Art Zauberin?« »Ja«, sagte ich. Ich wischte mir nicht die Tränen vom Gesicht. Ich würde nicht mehr Aufmerksamkeit als nötig auf sie lenken.
»Soso«, sagte sie freundlich. »Du wirst feststellen, daß deine Kräfte keinem Vergleich mit unseren standhalten. Wir haben gewisse Möglichkeiten, Sklaven zu kontrollieren, die sich schlecht benehmen.« Ich dachte an das Gefühl des Zaubers in mir und schauderte. »Du weißt, es gibt einen leichteren Weg, Oriana«, sagte sie. »Arbeite mit uns zusammen, dann können wir sehr nett sein.« Ich senkte den Kopf, so daß sie den Haß in meinen Augen nicht sehen konnte. Nett? Sie hatten keinen Begriff von Nettigkeit. Für sie bedeutete ›nett‹ wahrscheinlich, daß sie einen nur einmal am Tag schlugen. Aber vielleicht konnte ich das zu meinem Vorteil nutzen. Und ein Teil von mir war nur zu bereit, ihnen zu sagen, was sie hören wollten. Es würde sie davon abhalten, diesen Zauber noch einmal gegen mich zu wirken. Doch wenn ich zu eifrig war, wurden sie vielleicht mißtrauisch. Also verhielt ich mich still und wartete ab, was sie als nächstes mit mir tun würde. Sie machte sich Notizen in einem ledergebundenen Buch, dann untersuchte sie etwas in den Phiolen. Während sie noch damit beschäftigt war, klopfte es an die Tür. »Herein«, sagte sie. »Lady Xanthe«, sagte der Wachmann, der daraufhin eintrat. »Lord Ingantius möchte wissen, ob Ihr mit den Gefangenen rechtzeitig fertig werdet, um mit ihm zu speisen.«
»Nein«, sagte sie. »Sag Ignatius, daß ich gerade erst mit der Untersuchung begonnen habe. Aber bevor du das tust, führe diese Sklavin in ihre Zelle zurück und bring mir eine andere.« Der Wachmann verzog das Gesicht, tat aber, wie ihm geheißen. Er nahm meinen Arm und führte mich in den Laderaum zurück. Eine nach der anderen wurden meine Zellengenossinen aus der Zelle geführt und von Lady Xanthe untersucht. Und mir wurde klar, daß ich jetzt keiner von ihnen mehr trauen konnte. Zweifellos hatte Xanthe ihnen allen dasselbe wie mir angeboten. Welche würde uns verraten? Welche hatte sich bereiterklärt, die anderen im Tausch gegen eine etwas bessere Behandlung auszuspionieren? Es konnte jede von uns sein oder auch keine. Und jetzt waren wir nicht mehr allein – die theranische Macht war immer gegenwärtig. Ich fragte mich, wie die anderen ihre Untersuchungen überstanden hatten. Keine von uns brachte das Thema je zur Sprache. Als wäre es ein Geheimnis, das zu furchteinfößend war, um es weiterzuerzählen. Keine von uns konnte den anderen danach noch in die Augen sehen. Unsere Blicke trafen sich und glitten sofort weiter. Vielleicht stellten sie dieselben Überlegungen an wie ich, aber es gab keine Möglichkeit, sich zu vergewissern. Wie geschickt Xanthe in uns die Saat des Mißtrauens ausgestreut hatte.
Aber das war nicht das Schlimmste an der Reise. Nein, was mich innerlich verzehrte, war die unbeschreibliche Monotonie. Mehrere Tage lang blieben wir in der Zelle eingesperrt. Unsere Mahlzeiten wurden uns gebracht und die Latrinenkübel wurden geleert, aber ansonsten ließ man uns allein. »Was haben sie deiner Meinung nach mit uns vor?« Das kam von Siobhan. Sie war eine Elfe wie ich, aber wir hatten wenig gemeinsam. Ihre Haut war hell und gelblich-rosa getönt. Glatte schwarze Haare hingen ihr bis auf den Rücken, die jetzt völlig verfilzt waren. Ihre Augen waren hellgrün, von der Farbe des Frühlingsgrases. Und sie war jung. Noch so jung. »Ich habe gehört, daß sie Frauen für schreckliche Dinge benutzen«, sagte Rose. Ich schnaubte verächtlich. »Es gibt massenhaft Frauen, die diese schrecklichen Dinge‹ ganz freiwillig tun«, sagte ich. »Warum sollten sie dafür Sklavinnen brauchen?« »Ich rede nicht von Beischlaf«, sagte Rose. Ihr scharfer Tonfall überraschte mich. Sie hatte in der Zeit, in der wir zusammen waren, noch nicht viel Rückgrat gezeigt. »Wovon dann?« fragte ich. »Von… Dingen eben«, sagte sie düster. »Ich würde mir viel eher über Dinge den Kopf zerbrechen, die wahrscheinlich passieren, als über solche, die nicht einmal ausgesprochen werden«, sagte ich.
»Die unaussprechlichen Dinge sind die schlimmsten«, sagte Narelle. Darauf hatte ich keine Antwort, obwohl ich überrascht war, daß sie soviel Verstand besaß, das zu sagen. Eines Morgens, etwa zwei Wochen nachdem man uns an Bord genommen hatte, erwachte ich und roch Regen. Ich ging zu einem der kleinen Bullaugen und zog mich hoch, um hinauszusehen. Durch den Regen war der Sims schlüpfrig, aber ich hielt mich fest. Die Luft strich kühl über meine Haut, und ich atmete ihren Geruch ein. Große graue Wolken versperrten mir die Sicht, so daß ich mich wieder auf den Boden fallen ließ. Die anderen schliefen noch. Ich nutzte den Augenblick, um ein wenig Magie zu probieren. Ich schloß die Augen und ließ mich in die Astralebene gleiten. Jeden Tag versuchte ich mir einen solchen Augenblick zu stehlen, um mich davon zu überzeugen, daß ich es noch konnte. Ich hatte gedacht, daß Lady Xanthe, nachdem sie meine Narben gesehen hatte, Maßnahmen ergreifen würde, um mich an der Ausübung von Magie zu hindern, aber bisher war ich bei meinen magischen Ausflügen noch nicht auf Widerstand gestoßen. Ich glitt durch die Schleier, die mich wie Seide umschmeichelten. Leuchtende Farben bahnten sich einen Weg durch mein Bewußtsein. Ich brauchte sie nur nach Belieben zu manipulieren. Und dann spürte
ich eine andere Präsenz: die düsteren, häßlichen Gedanken eines Dämons. Aber ich war gut genug gerüstet, um ihm zu begegnen. Er mußte irgend etwas gespürt haben, denn er ließ mich in Ruhe. Ich entspannte mich noch mehr und ließ mich im sanften Strom der Energien treiben. Es war ein wunderbares Gefühl, sich von dem theranischen Schiff zu lösen, auch wenn die Freiheit nur eine Illusion war. Ich wob ein paar Fäden zusammen und schuf ein wunderschönes Wesen. Ein Kind, das so aussah wie ich vor der Plage, bevor die Zeit mich zu dem gemacht hatte, was ich war. Es war nur ein Simulacrum, aber es tröstete mich. Mit einem Kuß auf die Lippen hauchte ich der Kleinen Leben ein, und als sie sprach, sprach sie mit meiner Stimme. »Mutter«, sagte sie. »Warum hast du mich erschaffen?« Da wurde mir klar, wie unverantwortlich und selbstsüchtig ich gehandelt hatte. Denn dies war kein echtes lebendes Wesen, sondern ein Zauber, der aus Träumen und Wünschen bestand. Ich fragte mich, wie ich ihn aufheben sollte. »Willst du das Leben vernichten, das du erschaffen hast?« Das war eine andere Stimme, die ich kannte. Eine, die ich so lange nicht mehr gehört hatte, daß ich vergessen hatte, wie sie klang. Beinahe. »Ysrthgrathe«, sagte ich.
»Ah, du erinnerst dich«, sagte er. »ich bin gerührt. Aber was tust du hier?« Ich konzentrierte mich darauf, mich von ihm zu entfernen. Denn hier war er mächtiger, als ich mir überhaupt vorstellen konnte. Wenn ich Glück hatte, kam ich mit ein paar Kratzern davon. Wahrscheinlicher war, daß er ein wenig mit mir spielen würde, bis er mich tötete. Aber seine Aufmerksamkeit galt in diesem Augenblick nicht mir, sondern dem Mädchen, das ich erschaffen hatte. »Ein reizendes Kind«, sagte er. »Deines? Aber natürlich. Ich kann die Ähnlichkeit erkennen. Jammerschade.« Und im gleichen Augenblick griff er nach dem Mädchen und riß es in Stücke. Ich hörte ein kurzes Kreischen, und dann verschwand es einfach. Schließlieh war es nicht wirklich. Aber dennoch tat es mir weh, das Kind sterben zu sehen. Ich hatte jedoch keine Zeit, zu bleiben und zu trauern. Mein einziger Gedanke war Flucht. Ich glitt rasch durch den schmalen Riß, den ich in der Astralebene geöffnet hatte. Als ich mich umschaute, sah ich, daß Ysrthgrathe sich nicht rührte. Er beobachtete meine Flucht mit einem Lächeln auf den Lippen. Und als er sah, daß ich mich zu ihm umdrehte, fing er an zu lachen. Die schrecklichen Laute seiner Häme verfolgten mich noch Wochen später in meinen Träumen.
Das Schiff wurde langsamer. Wieder ging ich zu dem kleinen Bullauge und zog mich hoch. Diesmal war die Wolkendecke dünner, und ich konnte mehr sehen. Durch dunstige Wolkenschleier sah ich die Türme und Zinnen einer großen Stadt, die schwerelos am Himmel zu schweben schien. Dann erkannte ich, daß sie von sechs gewaltigen, Hunderte von Ellen hohen Säulen getragen wurde. Mich fröstelte einen Augenblick lang, da ich wiederum mit der Macht der Theraner konfrontiert wurde. Das Schiff sank langsam und warf Anker neben einem der großen theranischen Kriegsschiffe. Meine Hände waren mittlerweile steif, so lange hielt ich mich bereits an dem schmalen Sims fest, also ließ ich mich wieder zu Boden fallen. Ich schüttelte meine Hände und spürte unzählige Nadelstiche, als das Blut wieder in meine Finger strömte. Meine Zellengenossinnen waren mittlerweile ebenfalls erwacht. »Was ist los?« fragte Siobhan, indem sie sich ihre langen schwarzen Haare aus dem Gesicht strich. »Wir legen in Himmelsspitze an.« »Was wird jetzt aus uns?« jammerte Rose. Ihre Stimme klang schrill und ängstlich. »Welch eine Frage! Soll sie die Zukunft vorhersagen?« schalt Daveen. Ach ja, Zwerge. Immer einfühlsam. Ich beachtete sie nicht und zog mich wieder am
Fenster hoch. Andere Sklaven wurden zur Schiffsreling geführt und sollten die Strickleiter herabklettern. Einer der Sklaven, ein Zwerg mit dichtem, lockigem Haar, glitt auf dem regennassen Deck aus. Ich schluckte, als die Wachen ihn mit ihren kurzen Keulen bearbeiteten. Der Zwerg rollte sich zusammen und versuchte den Schlägen auszuweichen, aber es nützte nichts. Am schlimmsten war die Reaktion der anderen Sklaven. Sie betrachteten das Schauspiel mit einer entsetzlichen Gleichgültigkeit. Einer oder zwei sahen sogar erleichtert aus. Und ich fragte mich, wie lange es dauern würde, bis ich genauso war. Es war später Vormittag, als die Wachen schließlich zu uns kamen und uns hinausführten. Wir waren zum erstenmal draußen, seit Lady Xanthia uns untersucht hatte. Der Regen hatte nachgelassen, aber es war immer noch ziemlich dunstig. Ich war froh, daß wir uns hier im Süden Barsaives befanden. Im Norden wären die Regentropfen wie Eisnadeln gewesen. Hier badeten sie uns in angenehme Wärme. Wie gut ich mich noch an dieses Gefühl erinnern kann. Später würde es kaum Gelegenheit zu ähnlich angenehmen Empfindungen geben. Xanthe erschien an Deck, gefolgt von Ignatius. Sie war wiederum in Silber gekleidet, in eine Tunika mit Hunderten winziger Falten, die in der Taille von einem breiten, mit Stickereien verzierten Gürtel zu-
sammengehalten wurde. Ihr Anblick führte mir noch einmal deutlich vor Augen, wie verdreckt und abgerissen ich war. Wir wurden zur Strickleiter geführt. Narelle kletterte über die Reling und machte sich an den Abstieg, doch Rose, die als nächste an der Reihe war, scheute davor zurück. »Ich kann nicht«, sagte sie mit schriller Stimme, indem sie von der Reling zurückwich. »Ich kann nicht. Es ist zu hoch.« Einer der Wachmänner hob seine Keule, um sie zu schlagen. »Halt!« Es war Xanthe. Ihr Befehl ließ den Wachmann auf der Stelle erstarren. Ein Ausdruck des Entsetzens breitete sich auf seinen mürrischen Zügen aus. Er ließ den Arm sinken und bedachte Rose mit einem boshaften Blick. »Diese Sklavinnen sind für Ellethryth bestimmt«, sagte sie. »Ihnen darf kein Schaden zugefügt werden.« »Und was schlagt Ihr vor, wie wir sie nach unten schaffen?« wollte Ignatius wissen. Xanthe breitete die Arme aus und intonierte einen Zauber, den ich nicht kannte. Ich hörte genau zu, bekam jedoch nicht alle Worte mit. Rose schrie auf, und ich sah, daß sie plötzlich von einer gelben Aura umgeben war. Dann erhob sie sich in die Luft und glitt über die Reling und nach unten. Ich trat zur Reling und sah Rose leicht wie eine Feder zur Stadt hinabschweben.
Ihre Schluchzer drangen an meine Ohren. Sie würde es bei den Theranern nicht lange aushalten, dessen war ich mir sicher. Sie hatten nichts für Angst übrig, es sei denn, sie lähmte den Widerstand. »ihr seid zwar nützlich«, sagte Xanthe zu uns anderen, »aber darauf würde ich mich nicht allzusehr verlassen.« Wir benutzten die Strickleiter. Als wir unten angekommen waren, wurden wir von den Schiffen weg und zu einer der großen Säulen geführt, wo sich die übrigen Sklaven versammelt hatten. Sie waren noch verdreckter, abgerissener und ausgemergelter als wir, und ich fragte mich, was ihnen auf der Reise hierher widerfahren war. Ich bemerkte eine Bewegung über mir. Ich schaute nach oben und sah einen Mann auf uns zu schweben. Er war in dasselbe Licht gehüllt, das Rose umgeben hatte, als Xanthe ihr die Strickleiter erspart hatte. Er wurde langsamer, als er uns erreichte. Bei der Landüng war nur ein Geräusch wie von leichtem Regen zu hören. »Sind das alle Sklaven?« fragte er. Der Wachmann nickte. »Ja, Lady Xanthe hat befohlen, diese Frauen zu Ellethryth zu bringen.« Er deutete auf uns. Rose fing wieder an zu weinen, und ich versetzte ihr einen Rippenstoß. Der Mann schwenkte die Arme und murmelte dazu Worte, die ineinander übergingen. Ich konzentrierte mich darauf, den Zauber mitzuhören, bekam ihn jedoch wieder nicht richtig mit. Dann wurden wir
alle in gelbes Licht getaucht, als uns der Zauber hochhob und aufwärts zur Himmelsspitze schweben ließ. Ich hatte immer angenommen, daß alles, was die Theraner berührten, irgend etwas Übles, Verderbtes an sich haben müsse. Aber als ich Himmelsspitze zum erstenmal sah, schnappte ich voller Erstaunen nach Luft. Wir alle taten das. Gewaltige Zinnen aus glänzendem weißen und schwarzen Marmor erhoben sich hoch in die Luft. Überall gab es unzählige Glasfenster. In der Mitte der Stadt war ein Garten. Grün wie Jade und wunderbar gepflegt. Durch Magie gebändigte Natur. Keine wilden Ranken, die sich an Baumstämmen emporwanden. Kein Unkraut. Kein Zeichen des Verfalls. Jede Blume war ein vollkommenes Exemplar ihrer Gattung. Ein Meer aus identischen rubinroten Tulpen bedeckte einen sanft abfallenden Hügel. Neben den Tulpen standen weiße Krokusse. Der schwere Duft von Flieder erfüllte die Luft. Und inmitten dieser Pracht spazierten die merkwürdigsten und bestür-zendsten Leute, die ich je gesehen hatte. Sie trugen leuchtende Farben, Scharlachrot, Azurblau, Sonnengelb, Silber, Gold und Grün und kamen mir anders als alle Namensgeber vor, die ich kannte, eher wie eine völlig andere Rasse. Hinter ihnen marschierten Sklaven mit Schirmen, um sie vor dem Regen zu schützen. Eine Sache, die mir besonders auf-
fiel, war die Zerbrechlichkeit ihrer äußeren Erscheinung. Mit ihren halbmondförmigen Augen und der blaßolivfarbenen Haut wirkten sie sehr zart. Fast geisterhaft. Wenngleich jeder anders aussah, war allen dieselbe beunruhigende Einförmigkeit zu eigen. Hier gab es keine Entstellungen, keine schiefen Zähne, keine Schönheitsfehler, keine schielenden Augen. Jede Nase paßte perfekt zu dem dazugehörigen Gesicht. Jeder Mund hatte die richtige Form. Jede Braue wies genau die richtige Rundung auf. Und allen war eine gewisse Wölbung der Stirn gemeinsam. Wachen erwarteten uns bereits, als wir auf einer der breiten weißen Straßen abgesetzt wurden. Alle anderen Sklaven wurden in den Süden der Stadt geführt. Rose, Narelle, Siobhan, Daveen und mich brachte man nach Westen. Hier starrte uns niemand an, als wir durch die Straßen marschierten. Es war, als hätten wir zu existieren aufgehört. Als seien wir Teil der Gebäude oder der Szenerie. Niemand schien etwas merkwürdig oder ungewöhnlich daran zu finden, daß Leute angekettet waren und wie Vieh durch die Straßen getrieben wurden. Die Wachen führten uns zum Stadtrand. Die Häuser standen hier weiter auseinander und waren von großen, urtümlichen Rasenflächen umgeben. Die Straßen waren breiter und wurden von Bäumen gesäumt. Wir bogen in eine sehr ruhige Straße ein. Ein einzelnes Haus stand an ihrem Ende. Vor dem Haus
spritzte ein wunderschöner Springbrunnen gewaltige Fontänen silbrigen Wassers in die Luft. Ein Sklave öffnete die mächtigen Vordertüren und entband die Wachen von ihren Pflichten. Der Sklave war sauber und gut genährt, ganz anders als viele andere, die wir seit unserer Ankunft hier gesehen hatten. »Folgt mir«, sagte er auf throalisch, mit starkem Akzent. Ich hoffte, daß mir mein Sprachtalent hier gute Dienste erweisen würde. Es würde mir unmöglich sein, Sidra oder auch nur mich selbst zu retten, wenn ich kein Theranisch sprach. Er führte uns durch einen langen Flur mit Türen auf beiden Seiten. Er öffnete eine und winkte uns hinein. Dann schloß er die Tür und ließ uns allein. »Was werden sie jetzt mit uns tun?« stöhnte Rose. Sie wrang den Saum ihres Gewandes aus und hinterließ eine kleine Pfütze auf dem Boden. Unsere Tuniken waren alle vom Regen durchtränkt. »Wahrscheinlich irgend etwas Furchtbares«, sagte Daveen, während sie zum nächsten Bett trat. Am Fußende der Betten lag jeweils ein gefaltenes Sklavengewand. Es waren richtige Betten. Keine Matten oder Schlimmeres auf dem Boden. Die Bettwäsche war sauber und frei von Ungeziefer. »Ich hätte nie diese Karawane begleiten dürfen«, sagte Rose. Ihr Gesicht war zu einer ernsten Grimasse verzogen. Offensichtlich beschäftigte sie sich mit dem gewichtigen Problem, wie es kam, daß sie jetzt hier war. Als ob das noch eine Rolle gespielt hätte.
»Warum hast du es so eilig herauszufinden, welches Schicksal dich erwartet?« fragte ich, als ich schließlich die Geduld mit ihr verlor. »Glaubst du, hier kann uns irgend etwas Gutes widerfahren? Du bist jetzt eine Sklavin. Verstehst du das nicht? Für die Theraner bist du nicht mehr als ein Stück Fleisch. Weniger als ein Tier. Sie können mit dir machen, was sie wollen, und du kannst nichts daran ändern.« Ich war bei meiner kleinen Ansprache immer näher getreten und stand jetzt kaum noch eine Handbreit von ihr entfernt. Ich sah, daß sie mit entsetzter Miene vor mir zurückwich und mußte schallend lachen. Sie sah aus, als hätte sie mehr Angst vor mir als vor den Theranern. Mein Gelächter ließ Rose aufkreischen und zu Narelle eilen, die ihr den Rücken tätschelte und mir über Roses Kopf hinweg einen wütenden Blick zuwarf. »Sie hat Angst«, sagte Siobhan. »Wir haben alle Angst. Laß deine Angst nicht an ihr aus.« Ich zuckte die Achseln. Sollten sie ruhig glauben, daß ich ebenfalls Angst hatte. Vielleicht rechtfertigte das meinen Ausbruch. Es wäre dumm gewesen, sie gegen mich aufzubringen, obwohl mir klar war, daß sie mir keine Hilfe sein würden. Der Raum war fensterlos, die Wände in einem hellblauen Farbton gehalten. Man fühlte sich beengt. Auf dem Schiff hatten wir zumindest ein Fenster gehabt, so klein es auch gewesen war. Wir hatten den Himmel sehen, den Wind auf unseren Gesichtern
spüren und die Luft riechen können. Aber Sklaven brauchten keine Fenster. Ich zog mein nasses Gewand aus und hängte es zum Trocknen über das Fußende des Bettes. Während ich ein trockenes Gewand anzog, überlegte ich, wie ich Sidra hier finden konnte. Sogar in Himmelsspitze würde es eine Gerüchteküche geben. Sklaven ähnelten in gewisser Weise Kindern – die Leute neigten dazu zu vergessen, daß sie hören und sehen und sich erinnern konnten… und reden. Nach einer Weile breitete sich ein ungemütliches Schweigen aus. Wir hatten seit dem Morgen nichts mehr gegessen, und ich hörte Daveens Magen knurren. Ich hatte mich gerade auf das Bett gelegt, um ein wenig zu schlafen, als sich die Tür öffnete. Auf der Schwelle stand die größte Frau, die mir je begegnet ist. Sie trug eine lange weiße Tunika und ein ärmelloses Übergewand. Ihre hellblonden Haare waren zu einer Krone geflochten, die ihrer ohnehin beeindruckenden Größe noch einige Fingerbreit hinzufügte. Ihre Haut war hell, wobei ihre Lippen und Wangen einen leicht aprikosenfarbenen Ton hatten. Ich blickte in die schönsten grünen Augen, die ich je gesehen hatte, und erkannte, daß sie uns nicht sah. Sie sah Dinge in uns – Gegenstände, die sie benutzen konnte. Das ließ mich frösteln. An diesem Ort würden wir einfach zu existieren aufhören. »Ich bin Ellethryth«, sagte sie. »Ihr könnt euch glücklich schätzen, daß ihr auserwählt worden seid, dem Theranischen Reich bei seinem Streben nach
Perfektion zu helfen. Daher werdet ihr nicht wie die anderen Sklaven schuften, sondern in diesem Haus wohnen und mir zur Verfügung stehen.« Sie entrollte ein Pergament in ihren Händen. »Wer von euch ist Oriana?« fragte sie. Einen Augenblick lang reagierte keine von uns, dann fiel mir wieder ein, daß das der Name war, den Xanthe mir gegeben hatte. Ich trat mit leicht geneigtem Kopf vor. »Ich bin… Oriana.« »Lady Xanthe sagt, du hättest magische Kenntnisse. Stimmt das?« Ich nickte. »Du wirst mir assistieren«, sagte sie. »Ruht euch heute aus. Morgen fangen wir an.« Dann drehte sie sich um und verließ den Raum. Als mein Blick auf die anderen fiel, sah ich, daß sie mich mit einer Mischung aus Furcht und Haß anstarrten. Wie immer es auch weiterging, hier hatte ich jedenfalls keine Verbündeten.
In dieser Nacht schlief ich nicht sonderlich gut. Die Furcht, die mich den größten Teil meines Lebens begleitet hatte, war zurückgekehrt. Sie war wie ein mächtiges Gewicht, und da ich es in den letzten zehn Jahren nicht mit mir herumgeschleppt hatte, kam es mir nun, da es zurück war, schwerer vor. Als ich erwachte, war ich so müde, als hätte ich nie geschlafen. Meine Augen brannten, und ich kam mir träge und begriffsstutzig vor. Die Tür zu unserem Zimmer war geöffnet, und ein Sklave brachte gerade ein Tablett mit Essen. Es gab Brot und Obst und sogar einen kleinen Laib Käse. Die Sonderbehandlung bereitete mir Kopfzerbrechen. Wir waren Sklaven. Warum sollten sie uns Betten und anständiges Essen zur Verfügung stellen? Dazu bestand keine Notwendigkeit. Wieder einmal wurden wir in dem Zimmer für lange Zeit allein gelassen. Der Sklave, der uns in das große Haus geführt hatte, öffnete die Zimmertür. Er zeigte auf mich und winkte. Ich folgte ihm hinaus, beinahe froh ob der Unterbrechung der Monotonie. Es hielt mich davon ab, mir die Schrecken auszumalen, die mir noch bevorstanden. Ich wurde durch die breiten Gänge des Hauses geführt. Der Boden war schwarzweiß gefliest. Die Wände waren mit Darstellungen von Kindern bemalt.
Manche rannten, manche spielten, manche lachten, manche sangen. So idyllisch, wie man sich Bilder in einem Heim nur wünschen konnte. Aber im Vorbeigehen fiel mir etwas an den Bildern auf. Die Kinder sahen alle gleich aus. Aber es war nicht nur die übliche theranische Einförmigkeit. Nein, es war mehr. Es war, als hätte der Künstler den Auftrag bekommen, ausschließlich das Gesicht dieses einen Kindes zu benutzen. War dieses Gesicht vollkommener als andere, die ich bisher gesehen hatte? Nein. Es war ein schönes Gesicht. Aber eines, dem es an Persönlichkeit fehlte. An Tiefenschärfe, wenn du so willst. Kraft und Schwäche fehlten gleichermaßen, so daß die Züge puppenartig waren. Sie erinnerten mich an die Statuen, die Pever Tollins gemeißelt hatte, als wir noch im Kaer lebten. Sein erster Versuch, mich darzustellen, war ganz ähnlich ausgefallen. Zu perfekt. Ohne Leben. Ich hatte nicht gewollt, daß man sich so an mich erinnern würde. Was würde das dem Betrachter über mich verraten? Nein, ich war selbstsüchtig. Ich wollte, daß Pever mich so darstellte, wie ich war. Das hatte er nicht geschafft – weil die Statue nicht meine wahre Häßlichkeit vermittelte. Den Teil meiner Seele, den zu verbergen ich mich so vergeblich bemühte. Der Sklave blieb vor einer Doppeltür stehen, die bis zur Decke reichte. Ein zögerndes Klopfen, dann ein leises Murmeln von drinnen. Er öffnete die Tür und bedeutete mir einzutreten.
Der Raum war nach allen Maßstäben gewaltig und konnte sich sogar mit Alachias Versammlungshalle messen. Schwere dunkelblaue Samtvorhänge hingen vor den Fenstern und hielten das Licht ab. Sie waren viel zu lang, und die Enden lagen zerknittert auf dem Boden, eine unglaubliche Verschwendung dieses teuren Stoffs. Der Boden war von reich gemusterten Läufern bedeckt. Es war Jahrhunderte her, daß ich zuletzt eine vergleichbare Kunstfertigkeit gesehen hatte. Das Gewebe fühlte sich seidig unter meinen nackten Füßen an. An den Wänden standen Holzvitrinen, die mit kunstvollen Schnitzereien verziert waren. Das Motiv des Kindergesichts wiederholte sich hier, eine Fortsetzung desselben Themas. Mehrere große Tische standen in dem Raum, aber nur an einem, der mit Papieren, Schriftrollen, Federn und geheimnisvoll aussehenden Glasflaschen überladen war, gab es Stühle. Die sehr schöne und sehr kalte Frau aus der vergangenen Nacht saß hinter diesem Tisch. »Komm her«, befahl sie, um dann etwas auf theranisch hinzuzufügen, das ich nicht verstand. Ich ging zu ihr und blieb vor dem Tisch stehen. In den seltsam geformten Flaschen befand sich eine stark riechende Flüssigkeit. Es war ein Geruch, den ich nicht einordnen konnte. »Welche Technik hast du angewandt?« fragte sie. »Welche Technik?« fragte ich. »Ja«, sagte sie ungeduldig. »Welche magische Technik?«
»Ich war eine Geisterbeschwörerin«, erwiderte ich. Sie beugte sich über den Tisch und packte mein Handgelenk. Dann schob sie den Ärmel hoch und zeigte auf mehrere der dort eingeritzten Zauber. »Welche Verwendung hattest du dann dafür?« Ich zuckte die Achseln, da ich nicht mehr preisgeben wollte, als ich mußte. Sie ließ mich los und wischte sich die Hand an ihrer Robe ab. Es war eine Geste, der sie sich sicher nicht bewußt war. Sich auf ihrem Stuhl zurücklehnend, betrachtete sie mich von oben bis unten mit ihren wunderschönen toten Augen. »Sei nicht dumm«, sagte sie schließlich. »Du bist jetzt eine Sklavin des Theranischen Reichs. Wenn wir wollen, können wir dir deine Geheimnisse entreißen. Du bist unser Eigentum, und wir können mit dir verfahren, wie es uns beliebt. Du kannst es dir so leicht oder so schwer machen, wie du willst, aber du wirst feststellen, daß wir schlechtes Benehmen unnachsichtig bestrafen. Ich kann aber auch eine freundliche Herrin sein. Hier hast du die Möglichkeit, deine Talente einzusetzen. Deinen Narben entnehme ich, daß du eine gute Ausbildung genossen hast. Es wäre eine Schande, wenn deine Talente vergeudet würden. Aber wenn du nicht vorbehaltlos mit mir zusammenarbeitest, finde ich andere Verwendungsmöglichkeiten für dich.« Dann wartete sie, einen Ausdruck von Gleichgültigkeit auf dem Gesicht. Mir wurde jetzt klar, daß ihr
tatsächlich völlig egal war, was mit mir geschah. Sie war nur an meinen Talenten interessiert, aber sie würde keine Bedenken haben, sie brachliegen zu lassen, wenn ich mich querstellte. »Ich kenne mich in allen Disziplinen aus. In manchen besser als in anderen«, sagte ich zu ihr. »Gut. Das vereinfacht die Dinge. Einstweilen wirst du mir assistieren und lernen, was ich wann brauche. Außerdem übersetze ich meine Bemerkungen von Zeit zu Zeit ins Theranische. Ich hoffe, du lernst Sprachen schnell, weil du mir keine große Hilfe sein wirst, wenn du nicht Theranisch sprechen kannst.« Sie erhob sich von ihrem Stuhl und ging zu den Wandschränken hinter ihr. Sie nahm einen Schlüssel, der an einer Kette um ihren Hals hing, und steckte ihn in ein fast unsichtbares Schloß. Die Schnitzereien waren so geschickt angelegt, daß ich selbst, nachdem ich wußte, wo sich das Schloß befand, manchmal noch Mühe hatte, es zu finden. Die Türen schwangen auf und zeigten ein tiefes Fach. Von innen wurde ein blauer Glanz ausgestrahlt, der Ellethryths Gesicht mit einem unirdischen Leuchten überzog. Sie zog an einem der zwei Böden, die das Fach teilten, und er glitt lautlos heraus. Es dauerte einen Augenblick, bis ich verstand, was sich dort auf dem Boden befand, denn so etwas hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Es war eine Frau oder vielmehr ein Teil von ihr. Das Leuchten kam aus ihr. Aus ihrem Körper, und zwar von ihrem Schoß. Ich erkannte, was dort lebte. Es
war schrecklich mißgestaltet und sah überhaupt nicht so aus, wie ein Säugling aussehen sollte. Seine Augen waren riesig und machten den größten Teil seines Kopfes aus. Die große vorgewölbte Stirn, die das Merkmal aller Theraner zu sein schien, war vorhanden. Er hatte nutzlose Arme und Beine und einen kurzen Schwanz, der am Steiß begann. Ich sah, wie das Blut durch die Adern der Frau floß. Ich sah, wie diese Kreatur das Blut mit ihr teilte und sich von ihrem Leben nährte. Und mit jedem Herzschlag verfiel die Frau ein wenig. Das Ding trat aus, und sie zuckte nicht einmal. »Dies ist eines meiner Experimente«, sagte Ellethryth mit einem Anflug von Stolz. »Aber ich habe diesen Zauber bereits verfeinert. Es ist viel zu verschwenderisch, bei jeder Geburt einen Körper zu verlieren, also versuche ich es mit einem neuen Verfahren.« Sie schob die Frau wieder in den Wandschrank zurück und verschloß ihn. Dann ging sie zu einer anderen Wand, öffnete eine weitere Tür und zog das Fach heraus. Ich spürte, wie ich langsam über den Teppich ging. Ich war mir des Gefühls des Gewebes unter meinen Fußsohlen bewußt, auch der Kälte der Marmorfliesen, wenn ich auf eine Lücke zwischen den Läufern trat. Ich fühlte mich in diesem Augenblick völlig leidenschaftslos, als habe mich eine seltsame Ruhe überkommen. Ich sah, daß sich in diesem Wandschrank unzählige Reihen großer Glaskrüge befanden. Sie waren zy-
lindrisch geformt und mit Glaspfropfen verschlossen. Manche waren leer, andere enthielten eine zähe Flüssigkeit, und in einigen sah ich Gegenstände, die ich jedoch nicht richtig erkennen konnte. Diese Krüge leuchteten in dem seltsamen blauen Licht, das auch die Frau in dem anderen Wandschrank umhüllt hatte. »Komm her«, sagte Ellethryth, dann wiederholte sie die Worte auf theranisch. Ich konzentrierte mich darauf, mir zu merken, was sie gesagt hatte, da ich wußte, daß meine einzige Hoffnung auf Rettung darin bestand, soviel wie möglich von ihr zu lernen. Außerdem wußte ich, daß meine Zeit knapp war. Als ich neben sie trat, sah ich, was die Glaskrüge enthielten. Embryos. Sie schwammen alle in ihren eigenen kleinen Fruchtblasen. Manche waren erst ein paar Wochen alt, andere schon einige Monate. Wie wurden sie am Leben erhalten? Ich mußte eine entsprechende Frage gestellt haben, denn Ellethryth sagte: »Durch einen Zauber. Einen Zauber, den ich selbst entwickelt habe. Ich kann jedes Kind aus seinem Mutterschoß entfernen und es hier am Leben erhalten, bis ich einen geeigneten Körper finde, der es austrägt. Dadurch werden dem Körper der Mutter die Unannehmlichkeiten der Schwangerschaft und der Geburt erspart. Wenn das Kind geboren ist, wird es zu seiner Mutter gebracht, die ausgeruht und gut vorbereitet ist, sich um das Kind zu kümmern.«
Das azurblaue Licht warf scharf umrissene Schatten auf ihr Gesicht. Die Augen lagen tief in den Höhlen, und die Knochen traten so deutlich hervor wie bei einem Skelett. Sie lächelte, und der Anblick war grauenhaft. »Ich habe diese Zauber noch nicht sehr oft gewirkt, aber was ich entdeckt habe, könnte Thera revolutionieren. Darin ruht mehr Macht, als sich sogar die Passionen vorzustellen vermögen. An solch erhabenen Schöpfungsakten, wie ich sie vollziehe, hat sich noch kein anderer Magier versucht. Perfektion bis ins winzigste Detail. Seit Jahrhunderten streben wir danach, und jetzt gebe ich sie meinem Volk.« Ihre Augen waren zum erstenmal lebendig. Sie streckte die Hand aus und streichelte die Krüge mit ihren langen zarten Fingern. »Natürlich bedürfen die Zauber noch der Verfeinerung, aber ich weiß, daß das Potential vorhanden ist. Deshalb habe ich auch diese hier. Sie trägt bereits Leben in sich.« Sie drehte sich um, ging zum nächsten Wandschrank und schloß ihn auf. Dieser Wandschrank glich dem ersten und hatte ebenfalls zwei Böden. Sie zog an dem obersten, bis es herauskam. Ich hing ein wenig zurück, da ich immer noch die Krüge und ihren obszönen Inhalt betrachtete. Weder tot noch lebendig. In einem Zwischenstadium. Ich fragte mich, ob sie Kräfte auf der Astralebene manipulierte. Wurden die Seelen dieser Wesen viel-
leicht gerade von den Dämonen gequält, die dort hausten? »…Ich habe schon viel zu viele theranische Kinder bei meiner Arbeit verloren«, sagte sie gerade. »Wenn das hier Erfolg hat, bekomme ich eine neue Sklavin. Wenn nicht, weiß ich, daß der Zauber nicht funktioniert. Es kommt nur selten vor, daß meine Arbeit keine negativen Begleiterscheinungen hat.« Ich warf einen Blick auf die Sklavin. Es war Sidra.
Ich hatte sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Aber ihr Gesicht war noch genauso, wie ich es in Erinnerung hatte. Das kurze dunkle Haar. Das rundliche Kinn. Der kleine Rosenknospenmund. Die Sommersprossen auf den Wangen, die jetzt deutlich hervortraten, denn ihre Haut war blaß und nicht mehr sonnengebräunt. Die Zeit war gut zu ihr gewesen. Als Mensch kam sie langsam in die mittleren Jahre, wenngleich man ihr das nicht ansah. Um die Augenwinkel waren vielleicht ein paar Falten hinzugekommen. Und die Lachfältchen um die Mundpartie waren ein wenig ausgeprägter. Aber in ihren braunen Haaren war keine graue Strähne zu erkennen. Und auch ihre Haut schien noch so zart wie eh und je zu sein. »Geh und hol mir die eckige Flasche vom Schreibtisch«, sagte Ellethryth. Sie wiederholte die Worte auf theranisch, und ich merkte sie mir wie befohlen. Sie wies mich an, einen der leeren Krüge aus dem Schrank mit den Embryos zu holen. Ich richtete den Blick zu Boden, da ich nicht ansehen wollte, was sich in den anderen Krügen befand. Der Anblick verursachte mir Übelkeit und weiche Knie. Nachdem sie Flasche und Krug zu ihrer Zufriedenheit angeordnet hatte, ging sie zu ihrem Schreibtisch und nahm sich dort ein Buch. Es war in etwas eingewickelt, das verdächtig nach T’skrang-Haut
aussah. Das Buch wurde von Silberklammern zusammengehalten, und die Seiten bestanden aus dickem Pergament. Sie legte das Buch vor sich und intonierte den Zauber. Ich mühte mich, einen Blick auf die Seite zu werfen, um die Runen zu sehen und sie mit den Lauten in Einklang zu bringen, die ich hörte. Es gelang mir nicht. Sidras Augen öffneten sich, aber die Pupillen waren verdreht, so daß nur das Weiße zu sehen war. Ellethryth legte beim Sprechen die Hände auf Sidras Bauch. Sidras Leib ruckte hoch. Ihr Rücken bog sich durch, als sie sich aufbäumte. Ellethryths Hände sanken in Sidras Leib. Mich schauderte, als ich daran dachte, was mir auf dem Sklavenschiff widerfahren war. Dann verschwanden ihre Hände, tauchten bis zu den Gelenken in Sidra ein. Ich schmeckte plötzlich Blut, und mir wurde klar, daß ich mir auf die Zunge gebissen hatte, um nicht aufzuschreien. »Ah, ich habe es«, sagte Ellethryth, während sie langsam die Hände zurückzog. Sie hielt eine kleine blutige Masse, die weder menschlich noch elfisch aussah. Sie ließ sie in die dickliche Flüssigkeit in dem Glaskrug gleiten und befahl mir, den Stöpsel aufzudrücken. Meine Hände zitterten, und ich schämte mich dafür, aber Ellethryth schien es nicht zu bemerken. Sie sprach ein paar Worte, und der Krug war plötzlich ebenfalls in das blaue Leuchten gehüllt.
»Stell diesen Krug in den Schrank zurück und bring den zweiten Krug in der obersten Reihe.« Ich tat, wie mir geheißen, wobei ich darum betete, zum erstenmal in meinem Leben, daß ich den Krug nicht fallenließ, bevor ich den Schrank erreichte. Als ich den anderen Krug aus dem Schrank nahm, sah ich auf. Einen Augenblick lang drückte sich das Gesicht des theranischen Embryos gegen das Glas, und seine leeren Augen starrten mich an. Der Mund, der wie ein Fischmaul aussah, stand offen, als wolle er etwas sagen. Meine Hände ruckten unfreiwillig, so daß die Flüssigkeit und mit ihr der Embryo in Bewegung gerieten. Die kleinen Hände hoben sich, als wollten sie mich beschwören. Ich wollte den Krug wieder abstellen, aber ich wußte ich hatte keine Wahl. Ich konzentrierte mich auf das glatte Gefühl des Glases, als ich den Krug zu Ellethryth brachte und ihn neben Sidra abstellte. »Öffne ihn«, sagte die Theranerin. Ich gehorchte. Ein Geruch entwich dem Krug: süßlich und faul. Der Geruch von etwas, das nicht in Ordnung war. Er rief Übelkeit in mir hervor. Ich würgte und schluckte und gab mir alle Mühe, mich auf das zu konzentrieren, was Ellethryth tat. Ich mußte es mir merken. Ich mußte es wissen. Ihre Hände glitten in die klebrige Flüssigkeit und holten den Embryo sanft heraus. Er war bleich und sauber. Kein Blut befleckte seine Haut. Die Blase, in der er schwamm, war durchsichtig und bebte wie Ge-
lee. Ellethryth gurrte sanft, als sie ihn hielt. Das war das einzige Mal, daß ich sie irgend jemandem gegenüber Zärtlichkeit an den Tag legen sah. Sie rezitierte langsam und stetig Sätze, die ähnlich, aber doch nicht ganz so wie der erste Zauber klangen. Ich bemerkte subtile Unterschiede, und außerdem hatte sie eine andere Seite des Buchs aufgeschlagen. Denk über den Zauber nach, ermahnte ich mich. Konzentrier dich auf den Vorgang. Solange ich nur an die Magie dachte, konnte ich es schaffen. Zwischen den Zaubern schien eine gewisse Ähnlichkeit zu bestehen. Ich beobachtete aufmerksam und sah die Struktur, die sie wob. Sie war komplex und subtil. So anspruchsvoll, daß mich trotz meines Entsetzens so etwas wie Ehrfurcht beschlich. Auf Ellethryths Gesicht zeichneten sich weder Ehrfurcht noch Staunen ab. Zuerst führte ich das auf ihre Konzentration zurück, doch dann wurde mir klar, daß ihre Miene lediglich Zufriedenheit widerspiegelte. Als handele es sich um einen x-beliebigen Zauber, den sie beiläufig anwandte. Der Embryo reagierte weder auf ihre sanften Worte noch auf die Berührung ihrer Hände. Er starrte blicklos nach oben. Seine Haut war fast transparent, und ich sah die Blutgefäße, die sich blau darunter abzeichneten. Als sie den Zauber wob, versanken ihre Hände wieder in Sidras Leib. Sie zögerte keinen Augenblick, es war offensichtlich, daß sie diese Handlung schon oft ausgeführt haben mußte.
Als sie die Hände wieder herauszog, sackte Sidra auf dem Tisch zusammen. Ihre Lippen waren fast weiß, und ich befürchtete, der Zauber könne sie umgebracht haben. Ellethryth berührte Sidras Brust und Gesicht und hinterließ schwache Blutspuren auf ihrer bleichen Haut. »Sie wird leben«, verkündete sie. Ich haßte sie. Ich wollte sie töten. Aber ich konnte nicht. Ich kannte den Zauber nicht, um rückgängig zu machen, was sie Sidra angetan hatte. Ich wußte nicht, wie ich mit ihr fliehen sollte. Lange war ich nicht so hilflos gewesen. Die Situation mit Ysrthgrathe war ganz anders gewesen. Und damals hatte ich große Macht besessen. Doch hier würde ich Zeit brauchen, um alles über diese Zauber herauszufinden. Würde es mir gelingen, sie zu meistern? »Schließ den Schrank«, sagte Ellethryth. Sie ging zu einem Waschbecken in einer Ecke des Raums und goß sich Wasser über die Hände, um das Blut abzuwaschen. Kaum hatte sie mir den Rücken zugedreht, als ich die Hand ausstreckte und Sidras Gesicht berührte. Es kribbelte leicht, als meine Hand durch das Feld glitt, das sie umgab. Als meine Fingerspitzen ihr Gesicht streichelten, konnte ich die Struktur erkennen, die um sie gewoben worden war. Doch dann war diese Empfindung plötzlich erloschen, und ich zog die Hand zurück, da ich nicht erwischt werden wollte.
Die Lade glitt geräuschlos in den Schrank, was mich an die überirdischen Grabmäler erinnerte, die in der Gegend der Nebelsümpfe verbreitet waren. Wie ich es haßte, Sidra wie eine Leiche einzusperren. Ellethryth machte sich ein paar Notizen in ihrem Buch und schloß es dann. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und musterte mich eingehend. Ich hasse es, wenn mich die Leute ansehen. Ich fühle mich ausgeliefert. Verwundbar. »Du warst sehr gefaßt«, sagte sie schließlich. »Alle anderen sind in Ohnmacht gefallen oder weggelaufen oder haben geschrien oder gejammert. Ich hasse Gejammer.« Ich schwieg, da ich nicht wußte, was ich darauf antworten sollte. Sollte ich auf die Bemerkung reagieren? Ich bezweifelte, daß die Theraner ihren Sklaven Komplimente machten, aber ich durchschaute sie noch nicht. »Und du bist nicht geschwätzig«, fuhr sie fort. »Das weiß ich ebenfalls zu schätzen. Du wirst mir weiterhin helfen…« In diesem Augenblick platzte der Sklave, der mich zu Ellethryth geführt hatte, in den Raum. »Ich bitte tausendmal um Vergebung«, sagte er, indem er vor ihr niederkniete und mit der Stirn den Boden berührte. »Aber eine der neuen Sklavinnen hat… hat…« »Komm schon, heraus damit«, schnauzte Ellethryth. »Sie hat sich erhängt.«
Eine Weile herrschte Schweigen. Ich beobachtete Ellethryth verstohlen, um ihre Reaktion darauf mitzubekommen. Ein Stirnrunzeln der Konzentration kräuselte ihre edel geschwungenen Brauen, aber es gab kein anderes Anzeichen für eine Gefühlsregung. »Bring die Leiche sofort zu mir«, sagte sie. Nachdem Olin den Raum verlassen hatte, widmete sie sich wieder ihrem Buch. Sie blätterte darin, bis sie den gesuchten Zauber gefunden zu haben schien. Beim Lesen des Textes folgte sie den Runen mit dem Finger. Augenblicke später wurde die Tür wieder geöffnet, als Olin und ein weiterer Sklave einen Frauenkörper hereintrugen. »Auf den Tisch mit ihr«, sagte Ellethryth. Olin versperrte mir die Sicht, doch als ich mich dem Tisch näherte, sah ich daß es Rose war. Ihr Gesicht war violett verfärbt, und die schwarz angelaufene Zunge hing ihr aus dem Mund. Um den Hals lag ein Seil. Ich fragte mich, woher sie es bekommen hatte, dann fielen mir die Betten ein, deren Böden aus verknoteten Seilen bestanden. Warum hatte sie keine der anderen daran gehindert? Hatte keine bemerkt, was sie tat? Ellethryth schob sich an mir vorbei und untersuchte die Leiche. Ihre Finger strichen leicht über die gefleckte Haut und öffneten die Augenlider, um die geplatzten Äderchen in den Augen zu betrachten. Sie nahm ein Messer und durchschnitt das Seil. Es floß kein Blut, als die Spitze die Haut am Hals ritzte. Dann wirkte sie einen ihrer Zauber. Während sich
ihr Sprechrhythmus immer mehr beschleunigte, drehte sie sich um, packte meinen Arm und zog ihn auf den Tisch. Mit einer raschen Bewegung schnitt sie in mein Fleisch. Ich schrie auf, weil ich nicht damit gerechnet hatte. Im nachhinein ist es nur allzu logisch, daß sich die Theraner niemals dazu herablassen würden, ihr eigenes Blut für die Magie zu benutzen. Wie oft hatte ich beinahe gleichgültig mein Blut auf diese Weise vergossen? Nein, nicht ganz so. Selbst ich war nie auf den Gedanken gekommen, Magie für diese Zwecke zu benutzen. Ellethryth ließ meinen Arm los, da sie keine Verwendung mehr für ihn hatte. Ich drückte ihn gegen meinen Körper, um die Blutung zu stoppen. Magische Fäden wirbelten durch die Luft wie bunte Bänder. Sie verwoben sich miteinander und nahmen die Gestalt eines Körpers an. Diese Masse schwebte über Roses Leiche, um dann langsam herabzusinken. Die beiden Gestalten verschmolzen miteinander, bis zwischen den beiden keine Trennung mehr zu erkennen war. Ellethryth wartete einen Augenblick, dann zog sie Roses Augenlider hoch. Das Weiße war immer noch blutunterlaufen, und auch die Pupillen waren noch geweitet und blicklos. Sie legte den Kopf auf Roses Brust, um nach einem Herzschlag zu lauschen. Doch Rose rührte sich nicht. Sie brauchte sich der theranischen Herrschaft nicht mehr zu beugen. Ellethryth versetzte Roses Körper einen Stoß. Er
schaukelte auf dem Tisch hin und her. Schweres, totes Fleisch. »Wir sind zu spät gekommen«, sagte sie. »Ich habe keine Verwendung mehr für sie. Schaff sie fort, Olin.« Sie drehte sich um und ging zu ihrem Arbeitstisch zurück, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich starrte Roses Leiche an. Ihre Augenlider waren diesmal offen geblieben, und ihr Blick war auf jene entfernte Zukunft gerichtet, die alle Namensgeber am Ende erwartet. Ich hatte sie zwar nicht gemocht, aber kein Lebewesen sollte das erleiden müssen, was Rose erlitten hatte. Ich wußte ganz genau, wozu einen Kummer und Verzweiflung treiben können. Ich spürte jemandes Blick auf mir ruhen und stellte fest, daß Olin mich ansah. Ich hatte ihm zuvor nicht viel Beachtung geschenkt. Er war für mich ebensosehr Teil der theranischen Sklaverei gewesen wie die Mauern, die mich einsperrten, oder die Wachen, die des Nachts die Gänge patrouillierten. Jetzt sah ich ihn zum erstenmal. Seine Haut hatte die Farbe frisch gebackenen Brotes, ein zarter Braunton. Er war langgliedrig wie ich und schlank. Die halbmondförmigen Augen, die hohen Wangenknochen, all das war so vertraut – er hätte ein Elf sein können, wären seine Ohren nicht gewesen. Als ich ihn ansah, griff er sich an den Kopf und strich sich sein glattes schwarzes Haar hinter die Ohren. Und da sah ich, was man ihm angetan hatte. Seine Ohren waren schrecklich verstümmelt. Sie wa-
ren genauso geformt wie meine. Doch wo meine in einer Spitze ausliefen, hatte man seine abgeschnitten. Mein Gesichtsausdruck mußte etwas von meinen Gefühlen verraten haben, denn er runzelte die Stirn und schüttelte unmerklich den Kopf. Dann bedeutete er dem anderen Sklaven, ihm dabei zu helfen, Roses Leiche wegzutragen. Für mich blieb nichts weiter zu tun, als abzuwarten und aufmerksam zuzusehen. Mein Arm schmerzte immer noch, wo Ellethryth ihn geschnitten hatte, aber die Blutung war schwächer. Nachdem Olin mit Roses Leiche verschwunden war, blieb ich dort stehen, wo ich gerade stand, bis ich nur noch das Kratzen von Ellethryths Feder auf dem Pergament hören konnte. Selbst jetzt kann ich es noch hören. Wie das leise Scharren von Vogelkrallen im Sand.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand, aber schließlich hörte Ellethryth auf zu schreiben. Ihr Stuhl knarrte, und ich wandte mich ihr mit nichtssagendem Gesichtsausdruck zu. Sie starrte in die Ferne, als grübele sie über eine wichtige Angelegenheit. Ich konnte nicht einmal vermuten, worüber sie nachdachte, und mittlerweile weiß ich, daß es Leute gibt, deren Gedankengänge mir immer ein Rätsel bleiben werden. Also wartete ich auf ihre Befehle. Es war noch zu früh, um Eigeninitiative zu zeigen. Ich fürchtete, ich könne aus Unwissenheit etwas Falsches tun. Es gab keine Möglichkeit für mich zu erfahren, was von mir erwartet wurde, eine Tatsache, die ich haßte. Schließlich schien sie sich an meine Anwesenheit zu erinnern. Als ihr kalter Blick auf mich fiel, verspürte ich plötzlich eine seltsame Schwere in meinem Körper. »Der Zauber hat gewirkt«, sagte sie. Ihr Tonfall war freundlich und auf Konversation eingestimmt. Ich fragte mich, wie ich reagieren sollte. Was sollte ich sagen? Sollte ich ihr zustimmen? Würde sie das für anmaßend halten? Wie ich diese Unschlüssigkeit haßte. Nicht zu wissen, was ich tun sollte. Ich war noch nie so hilflos gewesen. Nein, das stimmt nicht ganz. Aber ich hatte immer auf die eine
oder andere Art Macht gehabt. Hier hatte ich keine. Und die Gedankengänge jener, welche die Macht hatten, waren unverständlich. Also sagte ich nichts. Sie bedachte mich mit einem anzüglichen Blick, und mir wurde heiß vor Angst. Der Schweiß lief mir den Rücken herunter. Ich hatte bereits einen Fehler gemacht. Wie viele konnte ich mir leisten? »Du darfst ruhig antworten«, sagte sie. »Ich habe kein Interesse an einem stummen Helfer. Was hältst du von dem Zauber?« Ich schluckte. Mein Mund war so trocken wie die Wüste. »Er war äußerst beeindruckend«, brachte ich mühsam heraus. Sie lächelte. Also waren auch Theraner für Schmeicheleien empfänglich. Sogar dann, wenn eine wertlose Sklavin sie aussprach. »Ja«, erwiderte sie. »Er ist wunderbar, nicht wahr? Aber er befindet sich noch im Anfangsstadium. Wir arbeiten seit vielen Generationen daran, aber nichts war bisher so hoch entwickelt wie das, was du gesehen hast.« Sie beugte sich vor, als wolle sie mir ein Geheimnis verraten. Ihre Robe klaffte am Hals, und ich konnte den Ansatz ihrer hohen weißen Brüste sehen. »Ich kann nicht nur ein Kind einpflanzen und entfernen, sondern sie auch manipulieren, während sie sich in der Hibernation befinden. Ich kann sie verändern. Die Augen können jede beliebige Farbe an-
nehmen. Die Haut kann so hell werden wie meine und so dunkel wie deine. Die Kopfform, die Länge der Gliedmaßen, der Intellekt. Denk nur einmal an die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben.« Ihre Stimme klang jetzt sehr lebhaft. Sie tanzte förmlich, während Ellethryth fortfuhr, den theranischen Sinn für Perfektion zu beschreiben. »Aber es muß einige erfolglose Versuche gegeben haben«, sagte ich, als sie geendet hatte. Ich versuchte, meine Stimme weich und demütig klingen zu lassen. »Was ist aus diesen Kindern geworden?« »Ach«, sagte sie, indem sie verächtlich abwinkte, »ich benutze nur ganz selten theranische Kinder, wenn ich die Zauber perfektioniere. Aus diesem Grund habe ich auch den letzten Embryo genommen. Ich werde ihn benutzen, um einige der Zauber zu testen, die noch der Verfeinerung bedürfen. Bis dahin bin ich mit den Vorbereitungen für die Verpflanzung anderer Embryonen, die ich bereits habe, mehr als beschäftigt. Wie ich sehe, bewunderst du die Größe dieses Werks.« Ich hatte keine Ahnung, wie meine Miene ausgesehen haben mußte, damit sie diese Schlußfolgerung daraus hatte ziehen können. Aber ich sollte noch erfahren, daß Ellethryth grundsätzlich das sah, was sie sehen wollte. »Ich wünschte nur, ich könnte Euch eine größere Hilfe sein«, sagte ich. Sie neigte den Kopf ein wenig und musterte mich durchdringend. Also setzte ich meine aufrichtigste
Miene auf. Offensichtlich gelang es mir, weil sie sagte: »Ich habe dir bereits gesagt, daß du Theranisch lernen mußt.« »Ich bin ziemlich sprachbegabt«, sagte ich. »Eine Fähigkeit, die ich schon als Kind hatte. Wenn ich mit einer Sprache oft und lange genug in Berührung komme, meistere ich sie mühelos. Es geht schneller, wenn ich etwas Schriftliches in der Sprache oder irgendwelche Übersetzungen habe. Auch jemand, der beide Sprachen spricht, würde es mir erleichtern.« »Ich spreche deine Sprache ebensogut wie Theranisch, doch ich habe nicht die Zeit, dich zu unterrichten. Aber Olin spricht beide Sprachen. Du kannst beliebig viel Zeit mit ihm verbringen, wenn ich dich nicht brauche. Und du mußt alles tun, was er dir sagt. Das wird dir helfen, noch schneller zu lernen.« Die Logik hinter dieser letzten Aussage war mir nicht einsichtig, also konnte ich nur annehmen, daß ihre Gedankengänge verborgenen Pfaden folgen mußten. Zumindest hätte ich etwas zu tun, anstatt zu warten. Nachdem Ellethryth beschlossen hatte, daß ich ihr dienen sollte, wurde ich von Daveen, Narelle und Siobhan getrennt. Das paßte mir gut, denn da ich nun wußte, was mit ihnen geschehen würde, hätte ich es nicht ertragen, mit ihnen in einem Raum zu leben. Statt dessen würde ich mir einen Schlafsaal mit Ellethryths anderen Haussklaven teilen. Eines Tages ging ich zu Olins kleiner Zelle und
blieb vor dem Eingang stehen. Sie war nicht so kahl wie der Raum, in dem die weiblichen Sklaven lebten. Es gab ein Feldbett und einen großen, mit Papieren bedeckten Schreibtisch. Die Wand über dem Schreibtisch enthielt eine Reihe kleiner Kabuffe, die bis zum Überquellen mit Schriftrollen vollgestopft waren. Er hatte Laub an die Wand geklebt. In seinem Zimmer sah es aus, als sei Herbst, weil alles voller goldener, roter und brauner Blätter war. Olin saß mit dem Rücken zu mir an seinem Schreibtisch. Er hatte sich weit vorgebeugt, die Nase dicht über dem Pergament, auf dem er schrieb. Das Licht fing den Blauton seiner Haare ein, sie leuchteten wie Wasser in der Nacht. Es war lange her, daß mir zuletzt ein Mann aufgefallen war. Seitdem ich Aithne vor zehn Jahren Sidra überlassen hatte. Ich wollte nicht an dieses dichte, glatte Haar denken und auch nicht daran, wie es sich wohl unter meinen Händen anfühlen würde. Wie konnte ich an diesem schrecklichen Ort solche Vorstellungen haben? Ich räusperte mich, und er drehte sich um. Wieder sah ich seine verstümmelten Ohren. Ich wollte ihn fragen, was mit ihnen geschehen war, wußte aber nicht, wie. »Komm rein«, sagte er. Seine Stimme war wie Honig, süß und voll. Für meine Ohren haftete ihr eine samtige Geschmeidigkeit an. Als er in Ellethryths Arbeitszimmer gesprochen hatte, waren diese Eigenschaften von der allgemeinen Angst verschluckt worden. Jetzt wollte ich ihn ewig reden hören.
Ich betrat den Raum, seltsamerweise sehr nervös. Ich wußte nicht, warum ich so empfand. Es war, als hätten die letzten fünfhundertsechzig Jahre nie stattgefunden. Ich fühlte mich wieder wie ein junges Mädchen, nervös und unsicher. Hatten sie mich hier so rasch darauf reduziert? Oder hatte ich mich so lange auf meine Macht verlassen, daß mich die Unfähigkeit, sie einzusetzen, meiner Persönlichkeit beraubte? »Ich bin im Vergleich zu allem anderen, dem du hier begegnen kannst, ziemlich harmlos«, sagte er. Ah, diese Stimme. Ich spürte, wie mir plötzlich die Wangen brannten, und sah zu Boden. Wo blieb meine Haltung, meine innere Gelassenheit? »Ellethryth schickt mich«, sagte ich, zufrieden, daß meine Stimme kühl und gefaßt klang. »Du sollst mir Theranisch beibringen, und ich soll alle Aufträge erledigen, die du mir erteilst.« »So«, sagte er. »Du sollst also Ellethryths neuer Helfer sein.« Ich nickte und betrachtete ihn. Seine Augen waren dunkelgrau und wirkten gehetzt. Ich fragte mich, wie lange er schon hier war. Was er getan hatte, nicht nur, um zu überleben, sondern um als Sklave derartig viel Verantwortung zu tragen. »Komm, setz dich«, sagte er, indem er auf das Bett deutete. »Kennst du das theranische Alphabet?« Ich schüttelte den Kopf. Er zog sich ein Blatt Pergament heran und tauchte die Feder ins Tintenfaß. Mit elegantem Schwung
schrieb er das theranische und throalische Alphabet nieder und reichte mir dann das Blatt. Ich betrachtete seine Hände, als ich es nahm. Sie waren schmal mit langen dünnen Fingern. Tinte hatte Daumen und Zeigefinger befleckt. Die Venen traten auf der glatten Haut hervor. Mir wird jetzt klar, daß ich mich an die seltsamsten Dinge hängte, während ich in Ellethryths Haus war. Und Olins Hände sind bei mir geblieben. Ich kann sie sogar jetzt noch sehen, und ihre elegante Schönheit hat sich meinem Inneren unvergeßlich eingeprägt. Das theranische Alphabet bereitete mir keine Schwierigkeiten. Es unterschied sich nicht so sehr vom throalischen, was zweifellos auf die lange Besetzung Barsaives durch die Theraner zurückzuführen war. Wir kamen rasch zur Satzstruktur des Theranischen. Je länger der Unterricht dauerte, desto vertrauter gingen wir miteinander um. Das war ungewöhnlich für mich, weil ich mich in Gegenwart anderer Leute nur selten wohl fühlte. »Du lernst schnell«, sagte er schließlich, als wir aufhörten, um unsere Abendmahlzeit einzunehmen. »Sprichst du viele Sprachen?« »Ja«, erwiderte ich. »Ich hatte schon immer ein Talent für Sprachen. Es gibt nur wenige Dialekte, die ich nicht beherrsche. In dieser Beziehung habe ich Glück. Und du?« Er zuckte die Achseln. »Ich bin anpassungsfähig«, sagte er. »Andernfalls hätte ich hier nicht überleben können.«
»Was warst du vorher?« Ein trauriger Ausdruck huschte über seine Miene. Seine rechte Hand bewegte sich sanft, als zupfe sie Mandolinensaiten. »Ich war ein Troubadour«, sagte er. »Damals hieß ich noch Rhys. Ich lebte hoch oben im Norden und verließ meine Heimat, um Barsaive zu sehen.« »Sie haben dir einen anderen Namen gegeben?« »Ja«, sagte er verbittert. »Ich nehme an, es war wohl ganz gut so. Diejenigen, denen sie Namen geben, halten sie für wertvoll. Die anderen gelten als nicht der Mühe wert.« Plötzlich warf er mir einen besorgten Blick zu. »Haben sie deinen Namen auch geändert?« Ich nickte. »Ich heiße eigentlich Aina, aber sie nennen mich Oriana. Die anderen Frauen, die mit mir verkauft wurden, haben noch ihre ursprünglichen Namen.« »Was ihnen nichts nützen wird«, sagte er. »Hier, nimm das mit.« Er gab mir eine Schriftrolle. Ich zog sie auseinander und sah, daß einfache Sätze darauf geschrieben waren. Tatsächlich erkannte ich ein paar Wörter. »Sieh zu, was du damit anfangen kannst. Morgen machen wir weiter. Komm zu mir, wenn Ellethryth dich nicht mehr braucht.« »Hast du nichts für mich zu tun?« fragte ich. Ich hatte plötzlich Angst davor, mir selbst überlassen zu sein. Hier gab es für meinen Verstand zuviel Gelegenheit abzuirren. In Panik zu geraten.
Olin nahm meine Hände in seine. Sie waren warm, aber für einen Troubadour viel zu zart. Die Schwielen an seinen Fingern waren verschwunden. »Sie werden dich früh genug mit Arbeit überhäufen«, sagte er. »Ruh dich aus, solange du kannst.« »Aber…« »Ruh dich aus.« Dabei drückte er meine Hände. Ich spürte, wie sich etwas in mir löste und dann entfaltete. Wie ein wartender Drache. Ich unterdrückte die Regung, da sie mich nur vom Wesentlichen ablenken würde. Ich entzog ihm meine Hände und floh.
Meine Tage in Himmelsspitze folgten einem ganz bestimmten Schema. Die Vormittage verbrachte ich damit, Ellethryth bei ihren schrecklichen Experimenten zu helfen. Eine Woche verging, bevor sie den nächsten Embryo einpflanzte. Olin und ein anderer Sklave schleiften Daveen früh am Morgen in Ellethryths Arbeitszimmer. Sie wehrte sich, wobei sie ausgiebig auf throalisch fluchte. Als sie mich sah, stellte sie ihre Gegenwehr vorübergehend ein, während ihr Gesicht einen schockierten Ausdruck annahm. Sie spie vor mir auf den Boden. »Verräterin. Ich wußte sofort, daß du durch und durch verdorben bist«, sagte sie. »Von Anfang an hat etwas mit dir nicht gestimmt. Wie hast du die Dornen verborgen? Ich dachte immer, manche von euch Elfen seien nicht verderbt, aber offenbar habe ich mich geirrt.« Ich sah weg. Obwohl sie eine Zwergin war, schmerzten ihre Worte. Aber ich konnte nichts tun. Und Ellethryth ignorierte den Vorfall völlig. Sie gab Anweisungen, Daveen auf einen der Tische zu schnallen. Olins und meine Blicke trafen sich, als er und der andere Sklave gingen. Ich glaubte, daß er mich mitfühlend ansah, aber er war so schnell verschwunden, daß ich nicht sicher war. Ellethryth rief mich zu sich,
und wir begannen mit unserer widerwärtigen Tätigkeit. Zum Glück gab es Tage, an denen Ellethryth nicht ihre schrecklichen Zauber wirkte. An denen sie in anderen Angelegenheiten unterwegs war. An diesen Tagen kontrollierte ich den Zustand der Frauen, räumte das Arbeitszimmer auf und half Olin. Außerdem lernte ich, aber ich ließ mir nicht anmerken, wie schnell ich mir das Theranische aneignete. Ich verstand jetzt die Unterhaltungen, die in meiner Umgebung stattfanden. Gelegentlich sprach Ellethryth in meiner Gegenwart Theranisch, da ihr nicht klar war, daß ich verstand, was sie sagte. Und ich las ihr Grimoir. Die fundamentalen Zauber ging ich sehr rasch durch. Je komplexer die Zauber wurden, desto schwieriger waren sie zu entziffern, aber ich verstand sie alle. In kurzer Zeit würde ich in der Lage sein, den Zauber zu wirken, der Sidra ihr Kind zurückgeben würde. Aber ich hatte immer noch keine Möglichkeit entdeckt, aus Himmelsspitze zu fliehen. Eines Nachmittags, als Ellethryth wieder einmal in ihren geheimen Angelegenheiten unterwegs war, übten Olin und ich Theranisch. Er machte einen grauenhaften Witz, der auf einem Wortspiel beruhte, welches ich tatsächlich verstand. Während ich zuerst stöhnte und dann lachte, bedachte er mich mit einem sonderbaren Blick. Das Lachen blieb mir im Halse
stecken, und ich mich fragte, was dieser Blick wohl zu bedeuten hatte. »Warum siehst du mich so an?« fragte ich. Ich strich mir über den Kopf. Ich hatte zwar nicht mehr daran gedacht, seit ich nach Kratas gebracht worden war, aber plötzlich vermißte ich meine langen Haare. »Ich glaube, ich habe dich noch nie zuvor lachen sehen«, sagte er. »Du hast nicht einmal gelächelt.« »Es gab nicht viel, über das ich hätte lächeln können.« »Dein Lächeln ist wunderbar«, sagte er. Seine Stimme war dunkel wie die Nacht. Süß wie die Liebe. Wie er seine Zuhörer als Troubadour in seinen Bann gezogen haben mußte. Ihnen etwas gegeben, woran sie sich aufrichten konnten, wenn alles andere zum Verzweifeln war. »Wie kommt es, daß du hier so große Verantwortung trägst?« fragte ich. »Die Theraner scheinen ansonsten niemandem zu vertrauen.« »Ja, aber letzten Endes müssen sie es ja doch. Und sie haben etwas über mich herausgefunden, das eine Flucht meinerseits unwahrscheinlich macht.« »Und was?« »Ich war… bin… schrecklich eitel.« Ich betrachtete sein bezauberndes langes Haar, die grauen Augen und die glatte olivfarbene Haut und verstand seine Eitelkeit. »Du bist ein höchst erfreulicher Anblick«, sagte ich. Klang das so unbeholfen, wie es mir peinlich war, das zu sagen?
Er lachte, ein heiserer, abgehackter Laut. »Nicht in bezug auf mein Aussehen. Ich war eitel wegen meines Gesangs und meiner Rasse. Weißt du, als ich gefangen wurde, geschah das wegen meiner Fähigkeiten als Troubadour. Aber ich weigerte mich, die Loblieder auf Thera und auf den theranischen Oberherrn von Himmelsspitze zu singen. Nein, ich sang von der stolzen Elfenrasse und davon, wie sie den Theranern und den Dämonen widerstanden hatte. Aus meiner Sicht hatten diese beiden viel gemeinsam. Der Oberherr wollte mich töten, aber Ellethryth hielt ihn davon ab. Sie sagte, sie würde mich als Sklaven nehmen. Selbst da war ich noch hochmütig, aber Ellethryth nahm mich mit in ihr Zimmer und quälte mich so, daß ich sie anflehte, mich sterben zu lassen. Aber das ließ sie nicht zu. Am Ende hätte ich alles getan, um den Schmerzen ein Ende zu bereiten. Aber sie wollte, daß ich nie vergaß, wohin mich mein Stolz geführt hatte. Also ließ sie mir die Ohren abschneiden und eins der Trommelfelle so durchlöchern, daß ich fast taub bin. Danach hatte ich nicht mehr den Wunsch zu fliehen. Wohin sollte ich gehen? Was könnte ich tun?« Ich nahm seine Hände in meine und hielt sie. Wenngleich ich ihm helfen wollte, konnte ich ihm nicht vertrauen. Er würde mich eher verraten, als sich von Ellethryth weitere Grausamkeiten antun zu lassen. Ich wußte nur zu gut, wie die Theraner einem zusetzen und einen benutzen konnten, bis man alles tat, damit es nie wieder dazu kam.
Wenn Ellethryth nicht da war, überwachte ich den Verlauf von Sidras Schwangerschaft. Glücklicherweise war das theranische Kind, das ihr Ellethryth eingepflanzt hatte, jünger als Sidras eigenes Kind, und ihr Bauch war noch klein. Und bis jetzt hatte Ellethryth noch nicht mit dem Embryo experimentiert. Er befand sich in der Hibernation, ein ständiger stummer Tadel für meine Tatenlosigkeit. Aber ich hatte damit begonnen, mir die Runen von Ellethryths Zaubern in die Haut zu ritzen. Das bedeutete, ich mußte zuerst die Runen eines Zaubers herausschneiden, der sich bereits dort befand. Das war sehr schmerzhaft. Es ist merkwürdig, daß wir körperliche Schmerzen immer zu vergessen scheinen. Ich weiß, wie sehr ich sie hasse, aber es ist unmöglich, sie nachzuerleben. Die neuen Narben waren auf der dunklen Haut meines Bauches zartrosa, und ich wußte, daß ich darauf achten mußte, sie niemanden sehen zu lassen. Eine neue Gruppe von Sklavinnen traf ein, während Ellethryth wieder einmal unterwegs war, und sie quartierten sie in demselben Raum ein, den ich mit Rose und den anderen geteilt hatte. Ich fragte mich, wie viele Frauen schon vor uns dort untergebracht worden waren. Olin wies mich an, ihnen Essen zu bringen. Ich konnte die Angst in dem Raum riechen: heiß und stickig. Sie versuchten mir Fragen zu stellen, aber ich wandte mich ab. Es war schwer genug zu tun, was
ich ihnen würde antun müssen, ohne mich mit ihnen zu unterhalten. Als ich zu Olin zurückkehrte, betrachtete er mich eingehend. »Hast du mit ihnen geredet?« fragte er. Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte einen bitteren Geschmack im Mund – als hätte ich auf eine unreife Frucht gebissen. »So ist es leichter«, sagte er. »Manchmal sehe ich sie nicht einmal an.« Ich schloß die Augen und versuchte die Tränen zurückzudrängen. Die neuen Sklavinnen waren so verängstigt. So bedürftig. So allein. »Glaubst du, du kannst ihnen helfen?« fragte er. »Nein«, sagte ich. »Ich kann nicht einmal mir selbst helfen.« »Aber ich kann dir helfen.« Ich starrte ihn an. Er war sehr nah. Sein Atem war warm und roch nach Zimt. »Wie?« »Ich habe mein Volk noch nicht völlig vergessen«, sagte er. »Ich höre Gerüchte, ich rede mit Leuten, Leute reden mit mir. Manche haben über dich gesprochen.« Mir wurde eiskalt. War dies ein Loyalitätstest? Versuchten mich Alachias Agenten zu erreichen? Oder hatte sie mich tatsächlich auf Gedeih und Verderben den Theranern ausgeliefert? Falle oder nicht? Die Fragen schossen mir durch den Kopf. Ich war vor Angst wie gelähmt. Ich wußte nicht, welche Reaktion richtig war.
Olin mußte die Angst und Verwirrung in meinen Augen gesehen haben, denn er nahm meine Hand und führte sie an seine Lippen. »Ich würde dir niemals weh tun«, sagte er. »Ich weiß, du hast keinen Grund, mir zu trauen. Aber du mußt. Ich kann dir und deiner Freundin bei der Flucht helfen, aber du mußt warten, bis ich dir sage, daß der richtige Zeitpunkt gekommen ist.« Ich zitterte. War es seine Nähe oder meine Furcht? Ich wußte es nicht. Vielleicht spielte es auch keine Rolle. Ich entzog ihm meine Hände und floh aus dem Zimmer. Später verkroch ich mich unter mein dünnes Bettlaken, lauschte den Schlafgeräuschen der anderen Frauen und fragte mich, was ich tun sollte. Ellethryth war wieder zurück. Ich brauchte nur noch wenige Runen in meine Haut zu ritzen, würde aber warten müssen, bis sie wieder unterwegs war. Olin brachte eine der Sklavinnen, so daß Ellethryth sie untersuchen konnte. Ich sah ihn nicht an, weil ich Angst hatte, daß sie irgend etwas bemerken würde. Ich war nervös und ungeschickt und machte einen dummen Fehler. Ellethryth schlug mich und befahl mir zu gehen. Ich rannte mit zitternden Knien hinaus. Fehler. Ich konnte mir keine leisten. Und was war mit Olin? Schließlich fand ich mich vor seiner Tür wieder. Ich trat ein und schloß die Tür hinter mir, zum erstenmal allein in seiner Kammer. Ich ging zur Wand, wo er die Blätter angeklebt hatte. Sie waren rauh, als
ich mit den Fingern über sie strich. Dann setzte ich mich auf sein Bett, ohne zu wissen, worauf ich eigentlich wartete. In der Kammer hing ein schwacher Duft. Er war moschusartig und süßlich und erinnerte mich an Olin. Hätte ich ihn auch anziehend gefunden, wäre ich keine Gefangene gewesen? Manchmal reichte schon eine gewisse Nähe, um Dinge in Gang zu setzen. Das gemeinsame Schicksal der Sklaverei. Aber konnte ich ihm trauen? Ich hatte keine andere Wahl. Ich mußte eingedöst sein, denn Olin rüttelte mich wach. Ich stützte mich auf einen Ellbogen und starrte zu ihm auf. »Will sie mich umbringen?« fragte ich. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe ihr gesagt, du seist zu nützlich, um dich jetzt umzubringen, und sie kam zu dem Schluß, daß ich recht habe.« »Also schulde ich dir mein Leben.« »Vielleicht«, sagte er. »Hast du über das nachgedacht, was ich dir gesagt habe?« »Ja. Ich werde dir vertrauen. Ich habe keine andere Wahl.« »Nein«, sagte er. »Die hast du nicht.«
Nachdem ich Olin versichert hatte, ich würde ihm vertrauen, nahmen meine Angst und meine Besorgnis ungeahnte Ausmaße an. Ich schien meine Zeit nur noch mit der Überlegung zu verbringen, wann der Verrat kommen würde. Vielleicht war das unfair, aber die wenigen Gelegenheiten, bei denen ich tatsächlich Leuten vertraute, hatten ein schlechtes Ende genommen. Ich versuchte mein Abgelenktsein vor Ellethryth zu verbergen, aber es war offensichtlich, daß sie mir gegenüber völlig gleichgültig und ihr nur daran gelegen war, daß ich meine Pflichten erfüllte. Was mir mit einer schlafwandlerischen Sicherheit gelang, die sogar mich verblüffte. Es war wirklich ganz einfach, wenn man nicht mehr an die Frauen dachte. Sie waren bald nicht mehr als Tonklumpen unter unseren Händen, die geformt und mit denen nach Belieben verfahren werden konnte. Zwar wirkte ich die Zauber nicht persönlich, aber ich sorgte dafür, daß alles für Ellethryth vorbereitet war. Als ich nach und nach hinter die Geheimnisse ihrer Zauber kam und bemerkte, daß sie die Zauber oft abwandelte, fiel mir auch auf, daß sie dies nicht tat, weil die Zauber es erforderten, sondern weil sie einen Hang zum Dramatischen hatte. Eines Nachmittags, als ich wieder einmal zu Olin ging, warf er einen Blick rechts und links in den Flur,
bevor er die Tür hinter mir schloß. »Ich habe Neuigkeiten«, sagte er. »Deine Freunde arbeiten an deiner Befreiung.« »Und wie wollen sie mich befreien? Durch einen direkten Angriff auf Himmelsspitze? Oder vielleicht durch ein Angebot, mich von Ellethryth zurückzukaufen?« »Weder noch. Aber ich soll dir das hier geben. Und dir sagen, daß du dich zum Handeln bereithalten sollst, wenn die Zeit kommt.« Er gab mir eine lange schwarze Feder mit gelber Spitze. Sie stammte von einem von Alachias Vögeln. Oder vielleicht war es auch nur wieder ein Trick von ihr. Es gab einfach keine Möglichkeit, das zu herauszufinden. Und diese rätselhafte Botschaft: ›Warte und halte dich bereit. ‹ Wie lange? Bis Sidras Bauch so dick war, daß sie sich nicht mehr bewegen konnte? »Weißt du sonst noch irgend etwas?« fragte ich. Er schüttelte den Kopf, dann sagte er: »Ich habe das Gefühl, daß es bald so weit ist.« Ich sah enttäuscht weg. Seine vagen Gefühle und Annahmen waren keine Hilfe für mich. In der nächsten Woche unternahm Ellethryth wieder eine ihrer geheimnisvollen Reisen. Nur zwei der neuen Sklavinnen waren für ihre Zauber benutzt worden. Die Wandschränke waren jetzt voll. In der letzten Woche hatte Ellethryths Arbeit etwas Hektisches gehabt. Ich weiß noch, daß ihre Wangen leb-
haft gerötet waren, was ihr das Aussehen einer grell bemalten Puppe gab. Doch jetzt war sie nicht mehr da, und ich konnte endlich die letzten Zauber übertragen. Das Blut rann warm über meinen Bauch, als ich die letzten Runen in meine Haut ritzte. Als ich das Blut mit den Fingern wegwischte, fiel mir wieder auf, wie seltsam es war, daß meine Haut nicht mehr sofort zusammenwuchs. Viele Jahrhunderte lang hatte es nichts gegeben, das mir schaden konnte. Schwerter, Messer und alle körperlichen Wunden konnten mir nichts anhaben. Meine neue Verwundbarkeit gefiel mir ganz und gar nicht, und jetzt wurde mir auch klar, daß sie der Grund gewesen war, warum ich nach meiner Zeit bei Bergschatten nach Norden gegangen war. Ich hatte gehofft, mich mit meiner Schwäche abfinden zu können. Und da war noch die Sache mit der Blutmagie. So viele Jahre lang hatte ich Blut wie Wasser benutzt, achtlos und nach Lust und Laune. Nie hatte ich daran gedacht, daß ich eines Tages vielleicht würde vorsichtiger sein müssen. Jetzt hatte es den Anschein, als sei ich überängstlich geworden. Ich konnte das Blut nicht mehr so leichtfertig benutzen wie früher. Die möglichen Konsequenzen meiner Handlungen hielten mich davon ab, überhaupt zu handeln. So war es jedenfalls in den letzten zehn Jahren gewesen, bis Aithne seinen Boten gesandt und mich aus meinem Versteck aufgescheucht hatte.
Zum Henker mit ihm. Zum Henker mit ihm, weil er mich an diesen verderbten Ort geschickt hatte, wo das Leben nicht mehr wert war als die Launen einer unmenschlichen Kreatur. Zum Henker mit ihm, weil er Sidra so sehr liebte, daß er mich erforderlichenfalls opfern würde. Und zum Henker mit ihm, weil er mich mit ihrer Rettung betraut hatte, da er wußte, ich würde es aus Liebe zu ihm tun. Und zum Henker mit mir selbst, weil ich mich von dieser neuen Furcht beherrschen ließ. Ich hatte immer noch Macht – warum hatte ich solche Angst, sie zu benutzen? Einen Augenblick lang erwog ich, die Zauber einfach zu wirken und zu sehen, ob ich sie hinbekam. Aber ich zögerte, weil mich plötzlich die Vorstellung ängstigte, was es bedeutete, wenn ich es auf mich nahm, solch einen Zauber zu wirken. Dann lachte ich. Ich hatte in meinem Leben viel Schlimmeres getan. Hatte ich nicht Dämonen in einem schwarzen Regen aus dem Astralraum beschworen und sie auf eine Schlacht losgelassen wie eine rachsüchtige Passion? Und hatte ich nicht unzählige Feinde vom Leben zum Tod befördert? Was war mit dem schrecklichen Handel, den ich mit dem Dämon Ysrthgrathe geschlossen hatte? War das nicht Magie der übelsten Sorte? Ah, was für ein Gesichtsausdruck, Vistrosh! Ich hätte nicht gedacht, daß man dich noch so erschrec-
ken kann. Ja, ich habe Untaten begangen, die du dir nicht einmal vorstellen kannst. Und vielleicht erzähle ich dir eines Tages davon. Aber nicht jetzt… Ich zögerte, meine Macht einzusetzen. Aber warum? Diese Magie war nichts im Vergleich zu diesen Untaten. Trotzdem konnte ich mich nicht dazu überwinden, den Zauber zu wirken. Die Bänder der Wahrheit aus dem Astralraum zu ziehen und sie zu einem Teppich zusammenzuweben, der diesen Zauber ermöglichen würde. Aber ich war es leid, das langsame Tropfen meines Blutes aus den neuen Runen zu spüren. Mit ein paar leise gemurmelten Worten strich ich mir über den Bauch und heilte mich, wobei ich die Hitze und die Erleichterung spürte, die der Zauber brachte. Ich schloß Ellethryths Buch und ließ es dort, wo ich es gefunden hatte. Dann sah ich wieder einmal nach Sidra. Ihr Bauch war leicht gewölbt, und zwar früher, als ich erwartet hatte, bedachte man die Größe des theranischen Kindes. Doch das spielte keine Rolle. Bevor wir gingen, würde ich die Embryos austauschen und dieses ungewöhnliche Kind der Obhut seiner gleichermaßen ungewöhnlichen Schöpferin überlassen. Als ich Sidras bleiche Wange berührte, rann mir eine Träne über die Wange, die ich unwirsch wegwischte, da ich mit solchen Gefühlen nichts anfangen konnte. Obwohl ich jetzt, wo ich dir davon erzähle,
nicht sicher bin, welche Gefühle mich bewegten. Ich weiß nur noch, daß ich mich hilflos und hoffnungslos fühlte. Es kam mir so vor, als sei ich dazu verurteilt, alle Leute, die ich liebte, im Stich zu lassen. »Heute nacht«, sagte Olin. Ich sah von meinem kleinen Buch mit theranischen Gedichten auf. Ellethryth war von ihrer Reise zurückgekehrt und hatte mich den ganzen Morgen mit trivialen Aufgaben auf Trab gehalten. »Was?« Ich hielt einen Finger auf die Seite, um sie nicht zu verschlagen. »Heute nacht«, wiederholte er. »Ich komme dich holen.« Nein, dachte ich. Es ist noch zu früh. Ich bin noch nicht bereit. Aber so durfte ich nicht denken. Ich mußte bereit sein. Ich hatte keine andere Wahl. Ich nickte, da ich meiner Stimme nicht traute. Aber ich warf noch einen verstohlenen Blick auf Olin, da ich mich später so lange wie möglich an ihn erinnern wollte. Ich wünschte, ich hätte seine langen schwarzen Haare berührt oder seine Hände gestreichelt. Das ist das Bedauern im Alter, Vistrosh. Es gibt so viele Dinge, von denen wir uns wünschen, daß wir sie getan hätten. Nachdem wir unsere Lektion beendet hatten, ging ich zu den anderen Sklavinnen und aß mit ihnen zu Abend. Alles war normal. Ereignislos. Wir arbeiteten, wir aßen, wir schliefen. Ich lag unter meinem dünnen Laken und lauschte dem leisen Schnarchen
der anderen Frauen. Bald war sonst nichts mehr zu hören. Gelegentlich schrie jemand in einem Alptraum auf. Aber das war nicht ungewöhnlich. Wir schreckten oft mit einem Schrei auf den Lippen aus dem Schlaf auf. Wir hatten gelernt, es zu ignorieren. Als ich schon dachte, Olin würde nicht mehr kommen, sah ich seine dunkle Gestalt durch den Raum gleiten. Ich setzte mich auf und griff nach ihm. Er nahm meine Hand und zog mich hoch. Lautlos huschten wir auf den Flur. »Ich muß Sidra holen«, flüsterte ich ihm ins Ohr. »Wir haben sehr wenig Zeit«, flüsterte er zurück. Sein Atem war heiß und kitzelte mein Ohr, erregend und ablenkend. Wir gingen rasch durch die verlassenen Flure. Der Mond schien hell durch die Fenster und warf sonderbare Schatten und ein fahlblaues Leuchten auf die Marmorfliesen. Nur allzu rasch standen wir vor der Tür zu Ellethryths Arbeitszimmer. Ich öffnete sie langsam. Drinnen war es stockdunkel, da die Vorhänge zugezogen waren. Olin schloß die Tür hinter uns, während ich einen Lichtzauber wirkte. Die Zimmerwände sprangen mich förmlich an, und ich blinzelte angesichts der jähen Helligkeit. Einen Augenblick später hatte ich die Tür zu Sidras Wandschrank und den Wandschrank mit den Embryos geöffnet. Ich hatte gerade den Glaskrug mit Sidras Baby geöffnet, als die Zimmertür aufflog. Es war Ellethryth. »Was macht ihr hier?« herrschte sie uns an. Sie
klang verärgert und auch ein wenig überrascht. Der Krug in meiner Hand war plötzlich sehr glatt und drohte, mir aus der Hand zu rutschen. Ich hielt ihn ganz fest. Ich mußte sie aufhalten, bevor sie einen Aufruhr verursachte, der das ganze Haus wecken würde. Ich drückte Olin den Krug in die Hand, dann strich ich über meinen rechten Arm. Der Zauber war da, und er sprang in mein Bewußtsein, wartete nur darauf, gewirkt zu werden. Bevor sie reagieren konnte, hatte ich die Worte bereits ausgesprochen. Sie versuchte ihn abzuwehren, aber ich war zu schnell für sie. Schließlich hatte ich ein paar Jahrhunderte mehr Erfahrung in diesen Dingen als sie. Die Starre erfaßte ihren Körper, und sie konnte sich nicht mehr bewegen. Ich erinnerte mich noch sehr genau daran, wie eben dieser Zauber gegen mich angewandt worden war. Ich bedauerte nur, daß ich nicht in der Lage war, ihr zumindest etwas von der Behandlung angedeihen zu lassen, die anderen Feinden von mir widerfahren war. Aber dazu war jetzt keine Zeit mehr. Wir mußten uns beeilen. Ich konnte die Embryos nicht hier austauschen, und den Krug wollte ich nicht mitnehmen. Zu gefährlich. Was, wenn ich rennen mußte oder stolperte und fiel? Also tat ich das einzige, was mir einfiel: Ich verpflanzte das Kind in meinen Bauch. Olin starrte mich voller Entsetzen an, als ich das tat. Ich hatte ihn nicht gewarnt. Hätte ich innegehalten, um nachzudenken, hätte ich nicht den Mut aufgebracht, um damit fortzufahren. Die Schmerzen wa-
ren schrecklich, da mein Körper in Sekundenschnelle versuchte, sich an einen Vorgang anzupassen, der normalerweise ein paar Monate gedauert hätte. Olin ergriff meinen Arm, bevor ich zu Boden stürzen konnte. Ich ließ mich ein paar Augenblicke von ihm stützen, dann schob ich den Schmerz beiseite. »Sidra«, sagte ich. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis ich sie von dem blauen Leuchten befreit hatte, das sie so viele Wochen lang in einen traumähnlichen Zustand versetzt hatte. »Aina?« Sie blinzelte verwirrt. »Was machst du hier?« Ihre Stimme klang rauh, da sie sie lange nicht mehr benutzt hatte. Und sie war ja nackt. So konnten wir sie nicht mitnehmen. Ich zog mir meine Robe über den Kopf und gab sie ihr. »Hier«, sagte ich. »Zieh das an.« Sie betrachtete sie stumpfsinnig, dann streifte sie sie sich mit unbeholfenen Bewegungen über. »Hilf mir«, bat ich Olin, als ich zu Ellethryth ging. Ich würde ihre Gewänder anziehen, aber ich hielt es für einen netten Zug von mir, ihr ihre dünne Unterwäsche zu lassen, anstatt sie nackt auf dem kalten Marmorboden liegen zu lassen. Der Saum schleppte ein wenig, aber ich glaubte nicht, daß es jemand bemerken würde. Sidra war vom Tisch aufgestanden, doch ihre Beine gaben unter ihr nach. »Ich weiß nicht, ob ich gehen kann, Aina«, sagte sie mit einer Spur von Furcht in der Stimme. Aber
daran wollte ich jetzt noch nicht denken. Ich rannte zu Ellethryths Tisch und öffnete ihr Grimoir. Es dauerte nur einen Augenblick, bis ich die Seiten gefunden hatte, die ich suchte, und ich riß sie heraus. Aber das reichte nicht, erkannte ich. Ich nahm das Buch, warf es auf den Boden und wirkte einen Zauber. Das Buch fing noch im Fallen Feuer, so daß die Funken flogen. »Was tust du?« zischte Olin. Er stand neben Sidra und stützte sie. »Ich sorge dafür, daß sie sich eine Weile nicht mehr amüsieren kann«, sagte ich. Dann wurde mir klar, daß Olin jetzt in größerer Gefahr schwebte als je zuvor. Ellethryth würde wissen, daß er uns bei der Flucht geholfen hatte. Und sie würde ihn umbringen. Ich mußte sie töten. Sie war durch meinen Zauber gelähmt. Es wäre ganz einfach, sich ihrer zu entledigen. Ich dachte an verschiedene Möglichkeiten, sie zu töten, die alle sehr schmerzhaft waren. Dann hörte ich Olin und Sidra aufkeuchen. Ich fuhr herum. Und dort im flackernden Schein des brennenden Grimoirs stand Ysrthgrathe. Er sah genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte, die lange braune Samtrobe, die wogende Masse, die sich dahinter verbarg, der mumifizierte Kopf. Ich wußte, daß die anderen ihn vielleicht anders sahen, da er mir in einer Vielzahl verschiedener Gestalten erschienen war. »Gierig, gierig, Aina«, sagte er. »Früher hast du immer etwas für mich übrig gelassen.«
Würde je der Tag kommen, an dem er mir keine Angst mehr einjagen konnte? An dem ich keine heilige Scheu vor seiner Macht haben würde? An dem ein Teil von mir sich ihm nicht wieder unterwerfen wollte? Er ging auf mich zu. Trat auf das brennende Buch und löschte die Flammen aus. Ich wich einen Schritt zurück und stolperte über Ellethryths Körper. »Ist das diejenige, die dich gepeinigt hat?« fragte er. »Ach herrje, das fällt in meine Zuständigkeit. Ich hasse es so, wenn sich andere in meine Domänen einmischen. Vielleicht sollte ich ihr zeigen, was mit jemandem geschieht, der mein Vergnügen mit seinem verwechselt. Was hältst du davon, Aina? Überläßt du sie mir?« Er sah mich an, seine schwarzen Augen bodenlos, ein Lächeln auf den dünnen Lippen. Ich wußte ganz genau, zu welch gräßlichen Taten er fähig war. Und als ich an mich und Sidra und all die anderen Sklavinnen dachte, nahm ich Sidras anderen Arm und half Olin dabei, sie zur Tür führen. »Ich betrachte das als Zustimmung«, sagte Ysrthgrathe. »Du kannst dich später bei mir bedanken.« Ich sah mich nicht um, als wir den Raum verließen und in die Nacht flohen.
Aina lehnte sich mit einem zufriedenen Grinsen zurück. Sie hatte mich schockiert, und das wußte sie. Ich fragte mich, ob ihre Geschichte stimmte. Ich wußte, daß Aithne vor Jahren jemanden über meinen Sklavenhandel nach Himmelsspitze geschickt hatte. War es möglich, daß es sich dabei um Aina gehandelt hatte? Hätte er es riskiert, sie um eines Menschen willen zu verlieren? Das ärgerte mich – er hatte mich benutzt, um diese Menschenfrau zu retten. Aithne war ein undankbarer Schuft. Was ich ihm alles gegeben hätte, hätte er nur darum gebeten. Und dann ihre Enthüllungen über den Dämon. Offenbar handelte es sich um eine Art Pakt. Wie hatte sie das überlebt? Was war sie für ein Wesen, daß sie sich so beiläufig über Dämonen äußern konnte? Ich erhob mich von meinem Sessel und ging zum Fenster, wo ich den schweren Vorhang zurückzog und die leeren Straßen betrachtete. Bald würde der Morgen grauen. Selbst die Mitglieder meiner Horde würden mittlerweile zu Hause sein und sich von ihren nächtlichen Aktivitäten ausruhen. »Wie bist du aus Himmelsspitze entkommen?« fragte ich. Die Geschichte mit dem Dämon konnte warten – einstweilen. »Wir wurden wie Fracht in Kisten verpackt«, sagte sie. »Und am nächsten Tag von Himmelsspitze nach Vivane geschickt. Von dort aus zogen wir nach Nor-
den in Richtung Blutwald. Die ersten zwei Wochen waren gefährlich, aber je weiter wir uns von Himmelsspitze entfernten, desto leichter wurde es. Es ist lustig, wirklich. Bis sich die Theraner schließlich zusammengereimt hatten, was geschehen war, waren wir längst weg. Und unsere Flucht gelang hauptsächlich wegen der Zuverlässigkeit der theranischen Händler. Sie sind so stolz darauf, daß sie ihre Waren immer pünktlich liefern.« »Was ist mit Olin geschehen?« fragte ich. Ein Ausdruck der Trauer huschte über Ainas Gesicht. »Ich wollte, daß er mitkommt, aber er weigerte sich. Er sagte, Barsaive reize ihn nicht mehr. Ich konnte nicht glauben, daß er lieber als Sklave bei den Theranern bleiben, als, wenn auch verstümmelt, unter seinesgleichen leben wollte. Vielleicht ist er zu lange von ihnen getrennt gewesen.« Am Horizont war jetzt ein Lichtstreifen zu sehen. Der Himmel hatte eine bläßlich blaugraue Farbe angenommen, und für eine kleine Weile leuchteten die Sterne heller. Ich hörte, wie sich Aina auf ihrem Sessel bewegte. In ihrem Zustand mußte sie müde sein, nachdem sie so lange gesessen hatte. Aber ich fragte sie nicht danach. Mein Verstand versuchte immer noch zu begreifen, was sie mir erzählt hatte. Die schrecklichen theranischen Zauber, die zu wirken sie gelernt hatte. Hatte sie wirklich die Macht, Kinder aus dem Mutterschoß zu entfernen und am Leben zu erhalten? In den falschen Händen war diese Macht eine Katastro-
phe. Und sie war wahnsinnig. Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Vielleicht war auch ihre Geschichte über den Dämon nur Einbildung. Ich dachte an die ruhige, fast emotionslose Art, wie sie ihre Geschichte erzählt hatte. Dadurch wurden die Ereignisse noch bedrückender. Sie hatte sie ohne Theatralik geschildert. Ohne Tränen. Nur die kühle, gelassene Darstellung der Fakten. Plötzlich wurde mir klar, daß sie die Macht hatte, mir Angst einzujagen. Diese zerbrechliche Frau mit ihrem ruinierten Körper und ihrem Wahnsinn. Aber ich habe nicht so lange überlebt, weil ich meine Schwächen enthülle. Und jetzt kannte ich auch ein paar von ihren. Sie streute Enthüllungen über sich selbst in ihre Geschichte ein wie ein Koch Gewürze in einen Eintopf. Was mich am stärksten beunruhigte, war ihr Konflikt mit Alachia. Ich hatte gehofft, Aina zu benutzen, um in den Blutwald zurückkehren zu können. Als eine Art Widerhaken, wenn du so willst, für das, was ich war. Gemeinsam würden wir eine derart beeindruckende Erscheinung sein, daß es niemandem einfallen würde, unter die Oberfläche zu schauen und nachzusehen, was sich dort wirklich befand. Aina würde so dankbar für ihre Rettung und für die Tatsache sein, daß sie nicht in die Sklaverei verkauft worden war, daß sie bereitwillig kooperieren würde. Jedenfalls hatte ich mir das so vorgestellt. Jetzt mußte ich feststellen, daß sie sich von Alachia und wahrscheinlich auch von Aithne entfremdet
hatte. Einen Moment lang spürte ich Zorn in mir aufsteigen, aber ich schluckte ihn herunter. Es gab noch zu viele unbeantwortete Fragen. Ich dachte an ihre Geschichte, und eine kalte Wut packte mich. Ich handelte schon so lange mit den Theranern, daß es längst nichts Ungewöhnliches mehr für mich war. Es war mein Gewerbe, meine Lebensweise. Und dieses ärgerliche Mitgefühl beunruhigte mich. Diese Empörung. In welchen anderen Perversitäten mochten sie sich noch ergehen? Was für ein übles, häßliches Geschäft. »Habe ich deine Neugier schon befriedigt?« fragte sie. Ihre Stimme klang jetzt belustigt, und die Eintönigkeit, die sie während des Vortrags gekennzeichnet hatte, war verschwunden. »Nein«, erwiderte ich. »Was ist mit Sidra und dem Kind geschehen? Ich glaube, ich hätte mittlerweile von einem Kind halb Mensch und halb verderbter Elf gehört. So etwas ist kein alltägliches Ereignis.« »Ah, dir liegt sehr viel an deinen Informationen. Nicht wahr, Vistrosh?« Sie lächelte dünn und neigte den Kopf ein wenig, als sei ich der Sklave und sie diejenige, die einen Kauf erwog. »Wie beängstigend es sein muß zu wissen, daß es Ereignisse gibt, die die Welt ohne dein Wissen gestaltet haben. Insbesondere jene, die den Blutwald betreffen. Sehnst auch du dich wie alle anderen nach Alachia? – Nein, ich glaube nicht«, lachte sie. »Tatsächlich glaube ich, daß du sie in einem viel unverfälschteren, reineren Sinn liebst. Welch eine Ironie. Findest du nicht auch?«
Ich ballte die Hände zu Fäusten, wobei ich spürte, wie sich die Dornen in mein Fleisch bohrten. Dieses Luder. Solche Sticheleien kannte ich noch allzu gut aus der Zeit, als ich noch im Blutwald gelebt hatte. Aber seitdem hatte es niemand mehr gewagt, so mit mir zu reden. »Und was ist mit dir?« fragte ich. »Welche Taten hast du begangen, daß du Aithne und den Blutwald verlassen hast und mir als tobende Wahnsinnige in die Hände gefallen bist?« Sie erhob sich unbeholfen aus ihrem Sessel, ging zur Tür und öffnete sie. »Das«, sagte sie, »ist eine andere Geschichte.« Am nächsten Abend wurde ich unerwartet geweckt. Es dämmerte gerade und war also früher, als ich normalerweise aufstand. Einer meiner Diener rüttelte mich wach. Etwas mußte ihn entsetzt haben, denn er ignorierte die Dornen, die sich dort, wo er mich berührte, in seine Hände bohrten. Blutstropfen fielen auf meine schneeweiße Tunika und befleckten sie. Ich packte die Hand des Dieners und sah mit geringem Vergnügen, wie er zusammenzuckte. »Warum weckst du mich?« fragte ich leise. »K-k-k-kommt, Herr«, stammelte er. Ich versuchte den Grund für seine Angst herauszufinden, doch ohne Erfolg. Schließlich ließ ich ihn los und erhob mich aus meiner Hängematte. Ich warf mir eine dicke schwarze Samtrobe über die Schultern und folgte ihm nach unten.
An diesem Abend herrschte eine ungewöhnliche Stille in meinem Haushalt. Normalerweise konnte ich immer die Geräusche der Sklaven unten oder das Geschrei und die Streitereien der Horde hören. Ich betrat mein Empfangszimmer. Vor meinem Schreibtisch standen zwei meiner Trolle. Ihre Namen vergaß ich immer, weil für mich ein Troll wie der andere aussah. »Warum bin ich geweckt worden?« fragte ich, wieder mit leiser Stimme. Die Trolle erschraken, dann drehten sie sich zu mir um. Zu meiner Überraschung lagen Angst und Verwirrung auf ihren Gesichtern. Doch es war keine Angst vor mir, registrierte ich und war plötzlich hellwach. »Das ist für Euch abgegeben worden«, sagte einer von ihnen schließlich. Er trat zur Seite, so daß ich sehen konnte, was darauf lag. Es war der Kopf von Kai, meinem besten und bevorzugten Attentäter. Seine Augen waren weit offen und blicklos, und sein Gesicht war zu einer Maske des Entsetzens erstarrt. Der Kopf war ihm von den Schultern gerissen worden, so daß gezackte Ränder und heraushängende Sehnen und Adern zu sehen waren. Glücklicherweise war nur wenig Blut auf dem Schreibtisch. Offenbar hatte man ihn eine Weile bluten lassen, bevor man ihn mir geschickt hatte. Dann sah ich das Stück Papier zwischen seinen Lippen. Ich griff zu und zog es heraus. Vistrosh, wenn Du das nächste Mal einen Atten-
täter schickst, solltest Du einen fähigeren auswählen. Dieser war allzuleicht zu durchschauen. Sogar meine Trolle wußten, daß er sie zu manipulieren versuchte. Wenngleich ich zugeben muß, daß er am Ende noch ganz lustig war. Welch faszinierende Pläne Du für mein kleines Reich hast. Ein Jammer, daß Du sie jetzt aufgeben mußt. Garlthik Einauge Ich zerknüllte das Blatt und fluchte. Die monatelange Arbeit. Die genaue Planung. Alles durch einen idiotischen Attentäter, der nicht wußte, wann er sterben mußte, zunichte gemacht. Dummkopf. Ich war ein Dummkopf, weil ich diesem vermaledeiten Stümper Einzelheiten des Planes anvertraut hatte. Mein Nacken war steif, und ich spürte, wie sich ein Anflug von Nervosität in meinem Magen breitmachte. Plötzlich fielen die Dinge auseinander. Mein Plan, Garlthik loszuwerden, vereitelt – für wer weiß wie lange aufgeschoben. Vielleicht sogar endgültig. Jetzt mußte ich möglicherweise warten, bis er eines natürlichen Todes starb. Und oben hatte ich eine Sklavin, die verrückt, schwanger und offenbar zu gefährlich war, als daß ich sie behalten oder verkaufen konnte. Welch ein Aufruhr in meiner ansonsten so ruhigen und wohlgeordneten Welt. »Räumt hier auf«, sagte ich schließlich. »Heute nacht empfange ich niemanden. Wenn ihr mich braucht, bin ich oben.«
Ich verließ das Empfangszimmer und erklomm die Treppe zu Ainas Gemach. Ich mußte wissen, wieviel Schaden sie angerichtet hatte, bevor ich entscheiden konnte, was mit ihr geschehen sollte. Sie saß vor dem Feuer und trug ihr Haar offen. In ihrer Miene war keine Überraschung zu erkennen, als ich die Tür aufstieß. »Ah, ich dachte mir schon, daß du kommen würdest«, sagte sie. »Aber du hast dich ja nicht einmal angekleidet. Das sieht dir gar nicht ähnlich. Oder vielleicht hast du ja… äh… nächtliche Aktivitäten unterbrochen, um mich zu besuchen. Ich bin geschmeichelt.« Ich schloß die Tür, dann ging ich zum Sessel und setzte mich ihr gegenüber. Sie sah mich an, und einen Moment lang, glaubte ich, sie sei tatsächlich froh, mich zu sehen. Ihre langen Finger waren verschränkt. Wieder war ich überrascht, wie zerbrechlich sie aussah. Ich hatte sie so viel größer in Erinnerung. Ein Streich, den mir die Einbildung spielte. Solche Vorstellungen sind für mich ganz normal. Ich ordne den Dingen gerne mehr Bedeutung zu, als ihnen in Wirklichkeit zukommt. »Wie konnte ich widerstehen?« fragte ich. »Ich muß doch hinter deine Geheimnisse kommen.« »Ah«, sagte sie leise. »Aber dann würdest du meiner überdrüssig.« »Wirst du mir den Rest der Geschichte erzählen? Wie ist es dir und Sidra ergangen?« Sie sah weg und starrte ins Feuer. Verschiedene
Regungen huschten über ihr Gesicht, das im Kaminfeuer zu flackern schien. Dann gelang es ihr, sich zu fassen und sich hinter dieser äußerlichen Gelassenheit zu verstecken, die sie immer an den Tag legte. Sie holte tief Luft und nahm den Faden ihrer Geschichte wieder auf…
In den ersten zwei Wochen nach unserer Flucht aus Himmelsspitze hatten wir wenig Zeit für Gespräche. Wir versuchten unsere Kräfte und Energien für die lange Reise zum Blutwald zu sparen. Aithnes Agenten gingen bei ihren Versuchen, die Theraner von uns abzulenken, recht gründlich vor, und lockten sie von uns weg. Während die Theraner die ganze Zeit über dachten, wir flüchteten nach Osten in Richtung Travar, waren wir tatsächlich in Vivane und warteten darauf, daß sie sich an die Verfolgung machten, bevor wir aus der Stadt flohen. Als der richtige Zeitpunkt gekommen war, wandten wir uns nach Norden, durch die Zwielichtgipfel und dann am Ostrand des LiajDschungels entlang. Ich drängte zur Eile, da ich nicht wußte, wie lange es dauern würde, bis die Theraner entdeckten, was tatsächlich geschehen war. Nach der zweiten Woche entspannte ich mich jedoch. Erst da bemerkte ich, wie schlecht es Sidra gingihre Haut hatte noch nicht wieder ihren normalen Farbton angenommen. Sie war immer noch bleich, und auf ihren Wangen zeigte sich kein Hauch von Frische. Ihre Augen waren genauso matt und leblos, und das ängstigte mich. Die Neugier, die zu ihrer Persönlichkeit gehört hatte, schien ihr völlig abhanden gekommen zu sein. Und ihr fehlte die Lebendigkeit.
Aber ich wollte nicht über Sidra nachdenken. Ich wollte Himmelsspitze und meine Erlebnisse dort so schnell wie möglich hinter mir lassen. So tun, als hätte das alles nie stattgefunden. Es war jetzt nur noch eine Erinnerung – und hatte keine Macht mehr über mich. Ich wollte nicht in den Dschungel. Wir hielten uns am Rand, wobei wir manchmal durch dichte Ansammlungen von Bäumen mit schlangengleichen Ranken und exotischem Blattwerk und dann wieder durch hohe Farnkräuter und gelegentliche Orchideenansammlungen marschierten. Der Dschungel war ganz anders als der Blutwald, doch auf seine Weise ebenso geheimnisvoll und gefährlich. Nachts ruhten wir uns aus, wobei wir meistens aus Gründen der Sicherheit auf ein Feuer verzichteten. Trotz der Entfernung, die wir zwischen uns und Himmelsspitze gelegt hatten, war ich noch nervös. Meistens kümmerte ich mich um unsere Mahlzeiten, während Sidra nur schweigend dasaß und in ihre eigenen düsteren Gedanken vertieft war. Ich glaubte langsam, daß wir den Schlangenfluß erreichen würden, ohne auf die Geschehnisse in Himmelsspitze zu sprechen zu kommen. »Ich habe solche Träume«, sagte Sidra. Ich sah von dem Hasen auf, dem ich gerade das Fell abzog. Es war das erstemal, daß sie ein Gespräch anfing, seitdem wir Himmelsspitze verlassen hatten.
»Was für Träume?« fragte ich. Ich sah sie nicht direkt an, sondern beobachtete sie aus dem Augenwinkel. »Furchtbare Träume«, sagte sie. »Ich kann mich in ihnen nicht bewegen.« »Das ist ganz normal«, sagte ich. »Viele Leute träumen, daß sie sich nicht bewegen können.« »Aber es ist mehr als das. Eine Frau ist dort in diesem Raum, wo ich mich befinde und mich nicht bewegen kann. Sie ist schön, aber nur an der Oberfläche. Darunter ist sie so öde und leer wie Brachland. Keine Gefühle. Nur gedankenloser Stolz und Ehrgeiz.« Ich zog dem Hasen das Fell ab, das ich von innen nach außen stülpte, so daß ich es später mit dem Messer abschaben konnte. »Das wird die Frau gewesen sein, der wir gehört haben – Ellethryth«, sagte ich. »Sie war so.« »Nicht gehört – ich habe ihr nie gehört«, sagte Sidra. »Sie hat uns festgehalten. Uns gefangengehalten. Aber man kann Leute nicht besitzen.« »Versuch das mal den Theranern zu sagen.« Mit gleichmäßigen Bewegungen schnitzte ich einen Stock aus grünem Holz zu einem Bratspieß zu und spießte den Hasen darauf auf. »Also habe ich diesen Teil nicht geträumt. Er war wirklich«, sagte sie. »Ja, das war er. Sie hat einen Zauber gewirkt, der dich bewegungsunfähig machte.« Ich sagte nichts mehr, in der Hoffnung, sie würde
das Thema fallenlassen. Aber ich konnte erkennen, daß sie weiterreden würde, und in meinem Bauch breitete sich ein Gefühl der Angst aus, von dem mir übel wurde. »Was war sonst noch wirklich?« fragte sie. Ich spürte ihren Blick auf mir ruhen. Forschend. Flehend. Früher hätte mich ein solches Ansinnen kalt gelassen, aber jetzt bewegte es mich. Konnte ich ihr sagen, was man mit ihr gemacht hatte? Konnte ich darlegen, wobei ich den Theranern geholfen hatte? Meine Zweifel und Fragen irrten im Kreis herum. Also beschritt ich den Weg des Feiglings. »Woran erinnerst du dich?« stellte ich die Gegenfrage. »Es kommt mir nicht wie eine Erinnerung vor«, erwiderte sie. »Es ist wie ein langer Alptraum, aus dem ich nie erwacht bin. Es kommt mir so vor, als wäre ich selbst jetzt noch nicht erwacht.« »Dann frage ich anders, was ist in deinem Traum passiert?« Diesmal sah sie weg. Ich drängte sie nicht. Wie sehr ich da hoffte, daß sie das Thema nicht weiter verfolgen würde. Lange Zeit war nichts weiter zu hören als die leisen Dschungelgeräusche. Ich drehte langsam den Hasen, damit er nicht verbrannte. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Es gab immer verbrannte und noch rohe Stellen. Ich hoffte nur, daß er nicht zu zäh war und nicht zu sehr nach Wild schmeckte. »Ich glaube, sie haben mir mein Kind wegge-
nommen«, sagte sie schließlich. Ihre Hände lagen auf ihrem leicht vorgewölbten Bauch. »Sie haben… etwas anderes… in mich hineingesteckt.« Ihre Stimme brach, und ich wußte auch ohne hinzusehen, daß sie weinte. »Haben sie das getan?« wollte sie wissen. »Haben sie mir mein Kind weggenommen und es durch etwas anderes ersetzt?« Ich antwortete nicht, sondern schloß die Augen und wandte mich ab. Doch sie gab keine Ruhe. Sie packte meinen Arm und riß mich herum. Es überraschte mich, wie stark sie war. »Du weißt es!« sagte sie, wobei sie mich heftig schüttelte. »Warum antwortest du mir nicht? Habe ich kein Recht, es zu erfahren?« »Doch«, sagte ich schließlich. »Ja, sie haben dir dein ungeborenes Kind weggenommen und es durch etwas anderes ersetzt. Durch ein theranisches Kind. Aus diesem Grund wollte Ellethryth dich unbedingt haben. Damit sie dir ein theranisches Kind einpflanzen konnte.« »Nimm es heraus«, verlangte sie. »Was?« »Nimm es heraus.« »Wie kommst du darauf, daß ich das könnte?« fragte ich. Sie lachte. Schrill und außer sich. »Du bist die mächtigste Zauberin, die ich je erlebt habe. Du mußt irgendeinen Zauber kennen. Irgendein Mittel, um es loszuwerden. Irgendwas. Was, ist mir
ganz gleichgültig. Vielleicht ein Giftzauber. Wenn ihm stark zugesetzt wird, kommt es vielleicht zu einer Fehlgeburt. Mir ist ganz egal, was du tust, nur tu etwas.« »Aber…« »Sie haben mein Kind getötet, jetzt werde ich dafür ihres töten«, sagte sie. Ihr Gesicht war grimmig und angespannt. Und genau in diesem Augenblick spürte ich etwas in mir. Es war Aithnes Kind, und es bewegte sich in mir. Eine egoistische Gier stieg in mir auf, und plötzlich wollte ich etwas haben, von dem ich wußte, daß ich es nicht bekommen konnte. Doch Sidra hatte mir einen Weg aufgezeigt. Eine Unterlassung. Ein Akt von solcher Grausamkeit und Bösartigkeit, daß sich die Passionen gegen mich erheben und mich auf der Stelle dafür bestrafen würden. Doch sie taten es nicht. »Ich kenne den Zauber«, sagte ich schließlich. »Dann tu es.« »Bist du sicher…« »Bitte«, sagte sie. »Du bist meine Freundin. Hilf mir.« Ich schloß die Augen, holte tief Luft und begann.
Ich öffnete mein Gewand und strich mit der Hand über die neuen Narben auf meinem Bauch. Sidra beobachtete mich mit fieberhaft glänzenden Augen. »Mußt du mich in Schlaf versetzen?« fragte sie. »Nein«, sagte ich. »Aber du wirst nicht so starke Schmerzen haben, wenn ich es tue.« Sie stieß ein sarkastisches, schrilles Gelächter aus. »Schmerzen? Schmerzen sind nichts«, sagte sie, sich vorbeugend. »In mir ist eine Leere, die vielleicht nie wieder gefüllt wird. Sie haben mir mein Kind weggenommen. Kannst du das verstehen? Ich weiß, daß du keine Kinder hast – aber du bist eine Frau. Du mußt es verstehen. Und Aithne… wie kann ich es ihm sagen? Wir haben uns gestritten… ich bin weggelaufen wie ein dummes Kind… Nichts von alledem wäre passiert, wenn ich nicht so dumm gewesen wäre.« Ich hörte ihre Trauer und sah ihren Kummer und sagte es ihr immer noch nicht. Ich sagte ihr nicht, daß ihr Kind lebte und sich in mir bewegte. Haßte ich sie? Ich weiß, daß du dich das fragst, Vistrosh. Wie konnte ich so grausam sein? Aber, weißt du, sie hatte Aithne – sie würde andere Kinder von ihm bekommen. Und ich hatte nichts. Mein mir selbst auferlegtes Exil war lediglich eine Fortsetzung meines Alleinseins. Und ich war des Alleinseins müde.
»Es wird weh tun«, sagte ich. »Soll es.« Ich wies sie an, sich hinzulegen, für den Fall, daß sie ohnmächtig würde. Ich konnte nicht gleichzeitig den Zauber wirken und sie auffangen, wenn sie fiel. Dort lag sie und sah zu mir auf, als sei ich ihr persönlicher Retter. Wäre Ysrthgrathe hier gewesen, hätte er das alles ungeheuer genossen. Dann sammelte ich die Fäden für den Zauber. Es war anders als in Himmelsspitze, als ich den Zauber in Ellethryths Arbeitsraum gewirkt hatte. Die Worte gingen mir ganz leicht über die Lippen – zu leicht. Es war, als hätte ich mein Leben lang darauf gewartet, sie auszusprechen. Die Macht berauschte und ängstigte mich. So mußte sich Ellethryth gefühlt haben, wenn sie gewirkt hatte. Als sei die Welt gar nichts. Das Universum ein Spielzeug zu ihrer Unterhaltung. Ich versuchte Sidras schmerzerfülltes Keuchen zu überhören, als meine Hände in ihren Körper einsanken. Aber ich sah sie jetzt ohnehin nicht mehr. Alles bestand nur noch aus Fäden und Weben und der strahlenden Struktur des Zaubers. Die Magie sang in meinem Blut, summte in meinen Ohren, erfüllte mich mit einem heiligen Feuer. Ich kannte das. Das war es, was ich kontrollieren konnte. Hier lag meine wahre Macht. Und dann war es vorbei. Sidra lag still und mit bleichem Gesicht da. Silbrige Tränen liefen ihre Wangen herunter. Ich wäre zu ihr gegangen und hätte
sie getröstet, aber ich hielt immer noch das theranische Kind in den Händen. Was sollte ich mit ihm tun? Es starb. Das spürte ich so sicher, wie ich meinen eigenen Herzschlag spürte. In wenigen Augenblicken würde es tot sein. Es bebte in meinen Händen, wie ein kleines Tier zittert, wenn man es fängt. Aber ich konnte mich immer noch nicht entscheiden, was ich tun sollte. »Töte es«, verlangte Sidra. Ich schaute auf, und sie fixierte mich mit brennenden Augen. »Es ist ohnehin schon so gut wie tot«, erwiderte ich. Das Blut auf seiner Haut kühlte sich ab und wurde dick und klebrig an meinen Händen. »Ich habe gesehen, wozu du fähig bist«, sagte sie. »Erinnerst du dich noch an die Dämonen, die du getötet hast? Ich schon. Dies hier wäre gar nichts für dich. Ein Augenblinzeln. Ein Fingerschnippen. Tu es. Töte es.« Haß und Abscheu verzerrten ihr Gesicht, das bestimmt noch nie so ausgesehen hatte. Aber ich wußte nicht, wie. Ich konnte etwas bekämpfen, aber hier fand keine Schlacht statt. Es gab keinen Feind. Aber ich konnte auch nicht mehr für dieses Ding in meinen Händen empfinden für einen Dämon. »Töte es«, zischte Sidra. Ich schloß die Augen und versuchte einen angemessenen Zauber heraufzubeschwören. Während ich darüber nachdachte, setzte Sidra ihr beschwörendes
Gemurmel fort: Töte es, töte es, töte es. Immer wieder. Dann wurde mir die Entscheidung abgenommen. Das theranische Kind hörte auf, sich zu bewegen. Ich konnte keinen Herzschlag mehr unter meinen Fingern spüren, kein Leben mehr. Übrig waren nur noch Blut, Gewebe und zarte Knochen. Mir wurde kalt, und plötzlich wollte ich es wegschleudern. Mich schauderte bei der bloßen Berührung. »Es ist tot«, sagte ich. »Gut«, erwiderte sie, dann schloß sie die Augen. Ich sah, wie ihr noch mehr Tränen über die Wangen liefen, aber ich mußte mich noch des theranischen Kindes entledigen. Ich entfernte mich von dem Feuer und ging in das Dunkel des Dschungels. Mit der Stiefelspitze scharrte ich in der lockeren Erde, bis ich ein flaches Grab ausgehoben hatte. Ich legte den Embryo hinein und bedeckte ihn rasch mit Erde und Blättern. Meine tastenden Finger fanden ein paar kleine weiße Steine, die ich zu einem Haufen aufschichtete. Ich wollte nicht, daß der Embryo in der Nacht von Tieren ausgegraben wurde. Ich wischte mir die Hände an meiner Robe ab, wobei ich nicht daran dachte, daß ich sie dadurch schmutzig machte. Ich wollte nur das Blut von meinen Händen waschen. Als ich wieder am Feuer anlangte, setzte sich Sidra auf. Ein wenig Farbe war zurückgekehrt, aber sie war immer noch blaß.
»Also ist es vollbracht«, sagte sie. »Ja«, erwiderte ich. »Ich habe es im Dschungel begraben.« »Gut. Ich will nichts mehr davon wissen.« Sie legte sich auf den Rücken und bedeckte ihre Augen mit dem Arm. »Du warst sehr gut zu mir. Früher habe ich immer einen Groll gegen dich gehegt, das weißt du. Weil du Aithne von früher kanntest. Aus einer Zeit, als er noch nicht verderbt war. Ich dachte immer, du nähmst einen Platz in seinem Herzen ein, den ich nie würde erreichen können. Aber dann bist du gegangen, und er ist zu mir zurückgekommen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Nicht wirklich. Und es war ein so großes Geschenk, als er dann zurückkam, daß ich nicht genau hinsah. Die Gefahr nicht sah, die darin lag. Ich dachte, die Liebe sei genug. Aber wir waren nie richtig zusammen. Ich segelte, und er lebte im Blutwald. Er wollte, daß ich dort mit ihm lebte, aber ich weigerte mich. Ich wollte neue Dinge sehen. Sie kennenlernen. Sie entdecken. Aithne und ich haben um das Kind gekämpft, das die Theraner getötet haben. Er wollte, daß wir es im Blutwald aufziehen. Aber das konnte ich nicht, also habe ich ihn verlassen. Und dann nahmen mich die Theraner gefangen. Du mußt wissen, daß ich nicht nur unsere Liebe zerstört, sondern auch unser Kind getötet habe.« »Hör auf«, sagte ich in scharfem Tonfall. »Ich bin gekommen, um dich zu holen, weil Aithne mich dazu
aufgefordert hat. Er hat mich geschickt. Er liebt dich immer noch.« Sie schüttelte den Kopf. »Er wollte nur das Kind.« »Sei nicht albern«, sagte ich. »Ihr werdet andere Kinder haben. Für Aithne ist nur wichtig, daß du in Sicherheit bist.« Aber meine Worte trösteten sie nicht. Und so verbrachten wir den Rest der Nacht schweigend und wach, jede von ihren eigenen Reuegefühlen zerfressen. Und trotzdem sagte ich es ihr nicht.
In den nächsten zwei Wochen trieb ich uns unbarmherzig zur Eile an, um möglichst schnell den Blutwald zu erreichen. Mein Schuldgefühl darüber, was ich Sidra angetan hatte, fraß an mir, bis ich es kaum noch ertragen konnte, sie anzusehen. Was alles nur noch schlimmer machte, war ihre Überzeugung, ich hätte sie gerettet und ihr totes Kind gerächt. Wenn sie mich ansah, lag nichts als Wärme in ihrem Blick hätte ich mir eine schlimmere Bestrafung ausdenken können? Ich wußte, ich würde eine Möglichkeit finden müssen, sie zu verlassen, bevor wir den Blutwald tatsächlich erreichten. Nicht nur wegen meines Schuldgefühls, sondern auch weil ich fürchtete, jede weitere Verzögerung könne meinen Zustand offensichtlich werden lassen. Und ihn zu erklären, würde viel zu heikel werden. Schlimmer noch, ich befürchtete, daß möglicherweise die Wahrheit ans Licht kam, wenn ich blieb. Ich nahm die Hügel, die wir überquerten, kaum zur Kenntnis. Die Bäche, die wir durchwateten. Die Tiere, die wir töteten, um uns etwas zu essen zu machen. Alles verschwamm zu einem einzigen sehnsüchtigen Wunsch: nach Hause. Waren tatsächlich erst dreieinhalb Monate vergangen, seit ich meine graue Steinhütte auf Airlines Wunsch hin verlassen hatte? Es kam mir viel länger
vor – als hätte ich die ganze Zeit darauf gewartet, daß eine Saat aufgeht. Unendlich in die Länge gezogen. Ab und zu bemerkte ich, daß Sidra sich über den Bauch strich, als fühle sie nach dem Kind, das dort wachsen sollte. Dann huschte ein trauriger Ausdruck über ihr Gesicht, den sie vor mir zu verbergen suchte. Und ich mußte mich davon abhalten, ständig meinen immer noch flachen Bauch zu betasten. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich spürte, wie das Kind sich in mir regte. Es war wirklich nur ein Zucken. Aber zum erstenmal seit wer weiß wie vielen Jahren fühlte ich mich wieder lebendig. Ich hatte etwas eigenes. Um das ich mich kümmern konnte. Das ich beschützen konnte. Und lieben. Und jetzt gab es niemanden mehr, mit dem ich es teilen mußte. Aber ich nehme an, du weißt, wie das ist, Vistrosh. Mit wem teilst du deine Triumphe? Mit deinen Sklaven? Oder den Dieben und Mördern deiner Horde? Nein, ich glaube nicht… Wo war ich?… Ach ja… Ich beschloß, daß ich Sidra verlassen würde, wenn wir den Südrand des Blutwalds erreichten. Ich würde den Wald auf meinem Weg nach Norden umgehen. Und es Aithne und Sidra überlassen, einander zu trösten, wie sie mochten. »Was meinst du damit: Du verläßt mich?« Das war Sidra. Ich hatte ihr schließlich von meinen Plänen erzählt, und jetzt war sie wütend. Wir machten gerade eine Pause. Ohne Mittel, waren wir
gezwungen gewesen, für unsere Passage auf dem Flußboot den Schlangenfluß hinauf unsere Arbeitskraft zu verdingen. Selbstverständlich wußte der Kapitän Sidras Erfahrung zu schätzen, und dementsprechend wurden wir recht gut behandelt. »Ich muß wieder mein eigenes Leben führen«, sagte ich. »Was ist das für ein Leben?« fragte sie. »Ich habe dich nie jemanden erwähnen hören. Du redest über nichts und niemanden. Komm und leb mit mir und Aithne im Blutwald.« »Und warum sollte ich mir das antun? Und warum solltest du dir das antun?« Sidra zuckte die Achseln und fuhr fort, Knoten in ein Stück Schnur zu knüpfen. Ihre Finger tanzten über die komplizierten Muster, die sie so verinnerlicht hatte, daß sie die Arbeit im Schlaf ausführen konnte. »Ohne einen einzigen Freund will ich dort nicht leben«, sagte sie schließlich. »Ich wäre für dich eher ein Klotz am Bein als eine Hilfe«, sagte ich. »Du weißt, wie Alachia und ich zueinander stehen.« »Ja, aber sie wird nichts gegen dich unternehmen, solange Aithne da ist. Sie schätzt ihn und seine Meinung viel zu hoch. Du weißt nicht, wie es ist, dort zu leben und ein Mensch zu sein. Niemand sagt es einem ins Gesicht, aber immer und überall spürt man die Blicke auf sich ruhen, die einen abschätzig betrachten. Ich weiß, daß sie sich alle fragen, warum
Aithne mit mir zusammen ist.« Der Knoten, den sie knüpfte, löste sich, und sie verfluchte ihn. »Ich kann nicht mitkommen«, sagte ich. »Ich will nach Hause.« »Bleib bei mir, bis wir bei Aithne sind.« Ihr flehender Tonfall bewegte mich. Ach, welche Qualen wir uns selbst bereiten. »Ich kann nicht«, wiederholte ich. »Ich habe Angst, allein zu gehen«, sagte sie. Sidra, die immer mutig und neugierig gewesen war, bat mich um einen Gefallen und enthüllte als letztes Mittel ihre Ängste, um mich zu überreden. »Es würde alles nur noch schwerer für dich machen«, sagte ich. »Wenn ich da wäre, würdest du seine Gefühle für dich in Frage stellen. Der Zweifel würde ständig an dir nagen und jede Möglichkeit zum Glücklichsein zunichte machen. Nein, es ist besser, wenn ich nicht mitkomme.« Sie betrachtete ihren Knoten, dann zog sie an der Schnur und löste ihn völlig. »Du hast recht«, sagte sie mit nicht zu überhörender Trauer. »Es war unfair von mir, überhaupt darum zu bitten. Ich weiß, wieviel dir an Aithne liegt. Es war egoistisch von mir zu erwarten, daß du bleibst und meine Hand hältst.« Ein Messer in meiner Brust hätte weniger geschmerzt. Was war ich doch für ein Ungeheuer.
Ein paar Tage später erreichte das Boot die kleine Handelsstation, die der letzte Halt an dem Ausläufer des Schlangenflusses war, der direkt zum Rand des Blutwalds führte. Sidra versuchte ihre Tränen zu verbergen, während ich die wenigen Habseligkeiten zusammenpackte, die ich mir in den letzten paar Wochen angeeignet hatte. Sehr zu meiner Überraschung besaß ich noch die Seiten aus Ellethryths Grimoir. Obwohl ich mir die Runen in die Haut geritzt hatte, konnte ich mich nicht dazu durchringen, sie zu vernichten. Sidra zog mich an sich und umarmte mich. Ihr Körper fühlte sich dünn und schmächtig an, zerbrechlich, obwohl ihre Arme kräftiger waren als erwartet. »Danke«, sagte sie. »Danke für alles. Nicht nur für die Rettung… auch für das andere. Ich glaube nicht, daß ich damit hätte leben können, dieses Kind auszutragen.« »Du brauchst mir nicht zu danken«, sagte ich. »Das sieht dir ähnlich. Nie glaubst du, daß etwas, das du tust, wichtig ist.« Ich spürte, wie mir die Tränen kamen, und ich wußte, daß ich mich schleunigst von ihr trennen mußte. »Grüß Aithne von mir«, sagte ich. »Und sag ihm, wenn er mich je brauchen sollte… nun, er weiß, was er dann zu tun hat.« Sie ließ mich los, umklammerte jedoch meine Hände.
»Ich richte es aus. Paß auf dich auf.« Ich entzog ihr meine Hände und floh. Ich sah sie nie wieder.
Ich brauchte weitere zwei Wochen bis nach Hause. Ich beeilte mich jetzt nicht mehr so, da die Anstrengungen der letzten Monate schließlich ihren Tribut forderten und ich mich am Rande der Erschöpfung bewegte. Und ich begann unter den Unannehmlichkeiten meines Zustands zu leiden. Ich, die ich in Jahrhunderten nicht einmal unter einer Erkältung oder Magenschmerzen gelitten hatte, wurde jetzt von gewöhnlichen Unpäßlichkeiten befallen. Es war eine demütigende Erfahrung. Doch obwohl ich sie verfluchte, wußte ich sie auch als greifbaren Beweis für das Kind in mir zu schätzen. Andererseits reichten die schwachen Bewegungen, die ich in mir spürte, nicht aus, um meine Furcht zu beschwichtigen, das Kind könne in mir sterben. Als Strafe für meine Perfidie. Und schließlich erreichte ich meine Steinhütte am Meer. Sehr zu meiner Überraschung kam sie mir trotz ihrer kargen Schlichtheit wie ein Palast vor. Denn hier war ich sicher. Ich war allein. Und ich war frei. Ich weiß, du würdest jetzt gern hören, daß ich in den darauffolgenden Monaten litt und dem Kind irgend etwas Schreckliches zustieß, aber ich muß dich enttäuschen. Nach einem Monat ging es mir ausgezeichnet -ich sei von einem inneren Strahlen erfüllt,
wurde mir von meinen seltenen Besuchern erklärt. Natürlich erkundigte sich niemand nach dem Vater. Ich nehme an, meine Art ermutigt die Leute nicht gerade zu dieser Art Neugier. Alles nahm einen normalen Verlauf, und ich gebar ein gesundes Kind. Es war ein Junge. Ich nannte ihn Hebhel. Und wir lebten glücklich zusammen. In meinem ganzen Leben hatte ich nie solche Freude erfahren. Es war, als sei die Welt neu geschaffen worden. Ich sah alles mit seinen Augen. Sie waren dunkel wie Aithnes und voller Neugier, die er von Sidra geerbt hatte. Hatte ich je zuvor Farben gesehen? Nein. Hatte ich je Süßes, Bitteres oder Salziges geschmeckt? Nie. Wenn er weinte, weinte ich mit. Wenn ihn das Knacken des Holzes im Feuer überraschte, erschreckte es mich geradezu. Wenn er stürzte und sich weh tat, litt ich Schmerzen. Und wenn er lachte, füllte sich das Universum mit Licht. In seine Augen zu sehen und dort mein Spiegelbild zu erblicken, war eine Offenbarung. Ich war nicht Aina, die über und über vernarbt und wieder zusammengeflickt war. Ich war Mutter. Er fürchtete sich nicht vor mir, noch wollte er mich benutzen oder begehrte er meine Macht. Er wußte nichts von alledem und fand mich trotzdem wunderbar. Wie hätte ich dieses Gefühl nicht erwidern können?
Und mein kleines Haus am Meer war nicht mehr grau, sondern in leuchtenden Farben gestrichen und mit Blumen gefüllt, und ich baute sogar ein Zimmer für ihn an. Mein wunderbares Kind, das meinem Leben einen Sinn gab und all meinen Kummer auslöschte. Welch eine Bürde für so ein winziges Geschöpf.
»Mama, Mama, Mama«, rief Hebhel, »Mama. Komm sofort her!« Was für eine gebieterische Stimme für so ein kleines Kind. Natürlich kam ich. Er war mein König, und ich war seine ergebene Dienerin, die nur ein Wort von ihm zu hören brauchte und gehorchte. Er stand am Rand der Klippe und zeigte auf den Strand darunter. Ich kam langsamer, als ihm lieb war. Das ließ mir die Zeit, meinen Sohn zu bewundern. Ich fand ihn ein wenig klein für sein Alter. Schließlich war er bereits vier und reichte mir kaum bis zum Knie. Wir sahen nur selten andere Leute, so daß ich ihn mit niemandem vergleichen konnte. Aber er war aktiv und intelligent, wild und entschlossen. Seine Größe würde in seinem Leben gewiß keine Rolle spielen. Ich versuchte nicht daran zu denken, daß er mich eines Tages verlassen und sein eigenes Leben führen würde. Er war noch ein Baby. Nein, kein Baby mehr. Er hatte sich in einen kleinen Jungen verwandelt, als ich gerade nicht hingesehen hatte. »Mama. Nun komm schon!« Er streckte das Kinn vor und hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Ich kannte diese Pose, sie war eine von meinen. Ich erreichte die Klippe und sah in die Richtung, in die er zeigte. Dort am Strand lag ei-
ne Gestalt. Aus der Ferne konnte ich nicht erkennen, ob Mann oder Frau. Wie auch immer, jedenfalls lag die Gestalt still und rührte sich nicht. Irgend etwas an ihr kam mir vertraut vor, aber ich wußte nicht, was. In meinem Hinterkopf läuteten Alarmglocken, aber ich achtete nicht darauf. Wer dort unten auch im Sand lag, hatte keine Macht über mich. Ich war stark genug, um mit allem fertigzuwerden. »Wer ist das?« fragte Hebhel. »Warum ist er da? Kennst du ihn?« Fragen waren mittlerweile an der Tagesordnung. Es schien, daß sein Wissensdurst grenzenlos war. Warum ist der Himmel blau? Was macht das Feuer heiß? Warum essen wir mit einem Löffel, wenn es doch auch mit den Fingern geht? Warum? Warum? Warum? »Ich weiß es nicht, Hebhel«, sagte ich. »Ich hole jetzt meinen Wasserbeutel, und dann gehen wir nach unten und sehen nach, ob wir helfen können. Dann bekommst du vielleicht Antworten auf deine Fragen.« Nachdem ich aus der Hütte zurückkam, nahm er meine Hand und zog mich zum Pfad, der zum Strand hinunterführte. Ich ging absichtlich langsam, um ihn glauben zu machen, daß er mich tatsächlich zog. Es war ein Spiel, das wir spielten: Hebhel der Tapfere, Aina die Sanftmütige. Als wir den Strand erreichten, versuchte sich Hebhel von mir loszureißen und vorauszulaufen, aber ich hielt ihn fest.
»Mama, laß mich los«, sagte er. »Nein«, erwiderte ich. Er zog und zerrte, um zu erreichen, daß ich losließ. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck der Konzentration an. Aithne hatte diesen Ausdruck oft als Kind aufgesetzt. So wild und entschlossen. Als er sah, daß ich nicht nachgab, änderte er seine Taktik. »Bitte«, sagte er. Seine Unterlippe schob sich vor, und ich wußte, daß sich ein ausgewachsener Schmollmund vorbereitete. »Kein Schmollen, sonst gehst du sofort wieder nach oben«, sagte ich. Daraufhin hielt er inne, und so gingen wir gemeinsam langsam und vorsichtig auf die reglose Gestalt zu. »Hallo!« rief ich, als wir in Rufweite waren. Als keine Antwort kam, ging ich vorsichtig ein Stück näher. »Hörst du mich?« Hebhel versuchte sich wieder loszureißen. Er schien vor Aufregung beinahe zu platzen. Sie strahlte fast in Wellen von ihm aus. War ich je so jung gewesen? So eifrig und am Leben interessiert? Aber ich stellte fest, daß mich seine Aufregung ansteckte. Es war Monate her, seit wir zuletzt Besuch bekommen hatten. »Hebhel«, sagte ich, indem ich vor ihm in die Hocke ging. »Ich will, daß du hier bleibst, während ich nachsehe, wer es ist.« »Ich will aber mitkommen«, sagte er. »Ich weiß«, erwiderte ich. »Aber wir wissen nicht, wer es ist, und vielleicht ist er nicht nett.«
Ein Ausdruck der Besorgnis huschte über seine Miene. Er war nur selten mit etwas konfrontiert worden, das nicht nett war. Es überraschte und verwirrte ihn immer. Vielleicht hatte ich ihn zu gut behütet. »Und wenn er nicht nett zu dir ist?« fragte er leise. Ich lächelte und sah ihm in die Augen. »Ich kann gut auf mich aufpassen, Hebhel. Darum bin ich ja auch so groß. Damit ich auf mich und auch auf dich aufpassen kann.« Ich stupste ihm mit dem Finger in den Bauch, und er kicherte. »Bleib hier«, sagte ich. Ich ging auf die Gestalt zu. Als ich näher kam, sah ich, daß sie sehr dünn war. Fast ausgemergelt. Und der Geruch, der von ihr ausging, erinnerte an fauliges Wasser. Ich war jetzt ganz nah, vielleicht eine Armeslänge entfernt. Ich hörte ein leises Stöhnen und wich verunsichert ein wenig zurück. Ein weiteres Stöhnen, und die Gestalt wälzte sich herum. Ich sah, daß es ein Mann war. Sein Gesicht war dünn. So dünn, daß die Augen eingesunken waren und kleinen schwarzen Kreisen ähnelten. Ein struppiger weißer Bart bedeckte, aber verbarg nicht die Hagerkeit seiner Wangen und seines Kinns. Blasse Haut hatte sich über seine groben Züge gestrafft. Es war ein, selbst aus Menschensicht, alter Mann. Wieder überkam mich das Gefühl, ihn zu kennen. Es kitzelte mein Unterbewußtsein und wollte nicht weichen. Aber ich kannte niemanden, der so aussah. So blaß und abgezehrt. »Kannst du mich hören?« fragte ich.
Der Mann öffnete die Augen. Sie waren blutunterlaufen und fiebrig. Langsam wanderte sein Blick von meinen Füßen zu meinem Gesicht. Als er mich sah, glaubte ich so etwas wie ein Flackern des Erkennens zu sehen, aber es verschwand so rasch, daß ich sicher war, es mir nur eingebildet zu haben. Er öffnete den Mund, aber der einzige Laut, der ihm entwich, war ein rauhes Keuchen. Ich kam wieder näher, denn es war völlig klar, daß er nicht in der Verfassung war, irgend etwas zu tun. »Laß mich dir helfen«, sagte ich, während ich mich neben ihn kniete und ihn sanft auf den Rücken wälzte. Der Gestank war überwältigend, aber ich versuchte ihn zu ignorieren. Ich hob seinen Kopf an und hielt ihm den Wasserbeutel an den Mund. Er sog gierig daran, und ich mußte ihn bremsen, damit ihm nicht übel wurde. Er bestand aus Haut und Knochen und war leicht wie eine Feder. Nach einer Weile schloß er die Augen, als habe ihn die Anstrengung des Trinkens erschöpft. Ich legte ihn wieder in den Sand und kehrte zu Hebhel zurück. »Was ist es, Mama?« fragte er. »Ein Mann«, erwiderte ich. »Und er ist sehr krank. Ich werde ihn in unser Haus tragen. Du mußt uns folgen und darfst nicht trödeln. Schaffst du das?« Er nickte mit vor Aufregung geweiteten Augen. Es hatte in seinem Leben bisher nur ganz wenige Männer gesehen. Auch ein alter, kranker und halb toter Mann war daher noch faszinierend für ihn. Ich kehrte zu dem Mann zurück und hob ihn auf.
Obwohl er zu einem Skelett abgemagert war, fiel es mir nicht leicht. Unbeholfen trug ich ihn den Strand hinauf. Meine Füße sanken tief im nassen Sand ein, da die Flut kam. Der Weg zu unserer Hütte war steil, und ich geriet rasch außer Atem. Meine Muskeln brannten, und der Gestank des Mannes ließ mich würgen, aber ich konnte nicht stehen bleiben. Ich mußte ihn weitertragen. Schließlich erreichten wir die Tür zu meinem Haus. Sie war jetzt rot angestrichen. Ein leuchtender Kontrast zu den grauen Steinen der Mauern. Unten an der Tür war ein Handabdruck, wo Hebhel sie angefaßt hatte, bevor die Farbe getrocknet war. Ich hatte die Stelle nie ausgebessert, und als ich sie jetzt sah, empfand ich Stolz. Ich stieß die Tür mit dem Fuß auf und ging hinein. Der Tag war sonnig, und ich blinzelte in der plötzlichen Düsternis der Hütte. Kein wärmendes Feuer brannte, denn es war Sommer. Ich legte den Mann auf mein Bett. Hebhel lief mir gegen die Beine. »Was machst du?« fragte ich. »Ich will ihn sehen«, sagte er. »Oh… Er stinkt.« »Ja, aber das können wir wahrscheinlich ändern«, sagte ich. »Er wird erst einmal nicht sprechen können. Es geht ihm nicht gut. Warum gehst du nicht in dein Zimmer und spielst dort eine Weile?« Hebhel warf noch einen letzten sehnsüchtigen Blick auf den Mann, dann tat er, was ich gesagt hatte. Er war ein guter Junge, mein Sohn.
Unser seltsamer Besucher tat in den nächsten Tagen wenig mehr als zu essen und zu schlafen. Ich badete ihn, während er schlief. Er war so dünn, wie ein Mensch nur nach einer langen Zeit des Hungerns sein kann. Ein Bein war verdreht und nach innen gebeugt. Ich wußte nicht, ob es eine natürliche Mißbildung oder das Ergebnis eines Unfalls war. Wenn es von einem Unfall stammte, warum war er dann nicht geheilt worden? Der dazu erforderliche Zauber war jedenfalls sehr einfach. Eines Nachts, mehrere Tage, nachdem wir ihn gefunden hatten, wachte unser Besucher auf. Ich saß am Feuer, so ähnlich wie jetzt. Die Nächte wurden jetzt kühler, da sich der Sommer dem Ende neigte und der Herbst vor der Tür stand. Ich hörte ein Geräusch und drehte mich zu ihm um. Seine Augen waren dunkel und glänzten wie die eines Vogels. »Du bist wach«, sagte ich. »Wie fühlst du dich?« »Schlecht«, sagte er heiser. »Wo bin ich?« »Im Norden. Nahe den Lichtern der Weinenden Zinne. Du hast eine Zeitlang geschlafen. Wie hat es dich hierher an meinen Strand verschlagen?« Er schloß die Augen und ließ den Kopf wieder auf das Kissen sinken. »Ich kann mich nicht erinnern.« »Wie heißt du?« »Ich kann mich nicht erinnern«, sagte er. »Ich kann mich an nichts mehr erinnern.«
Seine Stimme klang tonlos und wie ausgewaschen. Ich sagte nichts mehr, da ich hoffte, er werde von selbst reden, wenn er dazu bereit war. Doch nach einer Weile wurde mir klar, daß er nichts sagen würde. Er war wieder eingeschlafen. Es dauerte über einen Monat, bis er sich einigermaßen erholt hatte. Hebhel wurde von Tag zu Tag neugieriger, und es juckte ihn gewaltig, mit dem Fremden zu reden. Er wollte sogar im gleichen Raum mit ihm sein, doch das verbot ich, weil ich nicht wollte, daß er die Ruhe des Fremden störte. Schließlich war der Mann in der Lage, sich im Bett aufzurichten. Dann in der kleinen Hütte umherzugehen. Schließlich sich nach draußen in die kühle Herbstluft zu wagen. Er hinkte stark beim Gehen, wirkte aber dennoch anmutig. Und er konnte sich immer noch nicht daran erinnern, wer er war. Eines Morgens sah ich Hebhel und den Mann auf der Klippe über dem Strand sitzen. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt, und es war klar, daß sie sich angeregt über irgend etwas unterhielten. Ich verspürte einen Stich der Eifersucht – schließlich hatte Hebhel sein Leben lang niemanden außer mir gebraucht. »Hallo«, sagte ich, als ich hinter den beiden auftauchte. »Mama«, sagte Hebhel. »Sieh mal, was er mir gemacht hat.« Er öffnete seine winzige Hand und
zeigte mir, was er dort hatte. Es war eine Kette aus einer Lederschnur und einer Seemuschel. Kein so großartiges Geschenk, wie ich sie zu meiner Zeit bekommen hatte, aber für Hebhel war es ein Schatz. »Was sagt man, wenn man von jemandem etwas bekommt?« fragte ich. Hebhel sah verwirrt aus, und dann fiel mir wieder ein, daß er bis jetzt nur von mir Geschenke bekommen hatte. »Sag ›danke‹.« »Danke«, sagte er gehorsam. Der Fremde nickte Hebhel nachdenklich zu. Hebhel rannte zum Haus. »Es war sehr nett von dir, ihm etwas zu schenken«, sagte ich. »Wir sehen hier nicht oft Leute.« »Lebst du hier allein mit dem Jungen?« »Ja.« »Wird das nicht sehr einsam?« »Nein«, sagte ich und zuckte die Achseln. »Wir sind daran gewöhnt. Ab und zu bekommen wir Besuch. Aber Hebhel hat seit langer Zeit keinen Mann mehr gesehen. Er ist wohl in dem Alter, wo er einfach neugierig auf sie sein muß. Ich nehme an, ich muß mir ernsthaft überlegen umzuziehen, jetzt, wo er älter wird. Er braucht andere Kinder zum Spielen. Andere Erwachsene. Ich glaube, ich wollte ihn so lange wie möglich ganz für mich.« Ich war überrascht, daß ich all das einem Fremden erzählte. Andererseits gab es kaum Leute, die keine Fremden für mich waren. Selbst ich brauchte dann
und wann jemanden, mit dem ich reden konnte. »Er ist ein netter Junge«, sagte der Mann zögernd, als sei er das Reden nicht gewöhnt. »Wo ist sein Vater?« Ich schaute auf das blaugraue Meer. Es hatte dieselbe Farbe wie Sidras Augen. »Er ist tot«, sagte ich. »Er starb vor Hebhels Geburt.« »Das muß schrecklich für dich gewesen sein«, sagte er. Doch in seiner Stimme lag kein Mitgefühl. Ich drehte mich überrascht zu ihm um, aber sein Gesicht war verschlossen und unergründlich. »Ist dir dein Name wieder eingefallen?« fragte ich. »Nein«, antwortete er kopfschüttelnd. »Nun, in der Zwischenzeit müssen wir dich irgendwie nennen. Fällt dir ein Name ein?« Er wandte sich ab, um das Meer zu betrachten. »Caen.« »Bedeutet dir dieser Name etwas?« fragte ich. »Nein. Er ist mir nur so durch den Kopf gegangen.« Ich seufzte. »Nun gut. Dann heißt du jetzt Caen.« Das Thema von Caens Aufbruch kam nicht zur Sprache. Obwohl ich mir langsam wünschte, er würde nun, da er geheilt war, weiterziehen. Aber ich hatte den Verdacht, daß meine Gefühle mehr mit Hebhels plötzlicher Zuneigung für ihn zu tun hatten, als ich zuzugeben bereit war. Ich war eifersüchtig und hatte Angst davor, meinen Sohn zu verlieren. Und doch
brachte ich es nicht übers Herz, ihm diesen neuen Freund zu versagen. Und so dauerte Caens Aufenthalt bei uns noch einen weiteren Monat. Hebhel und Caen machten lange Spaziergänge am Strand und brachten Seemuscheln zurück, die bald jede freie Fläche im Haus bedeckten. Als uns der Platz ausging, hingen wir sie mit Fäden an die Decke. Sie klickten leise gegeneinander, wenn wir daran vorbeigingen. Hebhel teilte sich sein kleines Zimmer mit mir, während Caen in meinem Bett schlief. Als er wieder gesund war, legte Caen auch wieder an Gewicht zu. Er war nicht mehr der ausgemergelte Mann, den ich gerettet hatte, und wiederum beschlich mich das unbestimmte Gefühl, daß ich ihn kannte. Aber ich lachte über meine Vorstellungen. Die meisten Leute, die ich gekannt hatte, waren tot. Dann eines Tages, als ich von meinem Nachmittagsspaziergang am Strand zurückkehrte, kam Hebhel aus dem Haus und zu mir gerannt. »Mama«, rief er atemlos und aufgeregt. »Komm und sieh dir das an. Caen macht sich den Bart weg.« Ich zögerte einen Augenblick – das schien mir eine ziemlich intime Handlung zu sein. Ich wollte ihm nicht beim Rasieren zusehen. Doch Hebhel war bereits ins Haus zurückgerannt und rief Caen zu, er solle herauskommen. Ich wartete dort im seltsam matten Licht der Dämmerung. Mein Sohn kam zuerst heraus. Er hielt
Caen bei der Hand. »Sieh doch, Mama. Sieh nur, wie anders er jetzt aussieht.« Ich starrte Caen an, und böse Vorahnungen und das Gefühl, ihn tatsächlich zu kennen, überfluteten mich in Wellen. Ich kannte ihn und auch wieder nicht. Das Gesicht war nicht ganz richtig – zu schmal, zu weiß und alt. Das Hinken war auch falsch. Die Person, der er ähnelte, war tot. Oder jedenfalls hatte ich das gedacht. Niemand konnte den Zorn Alachias überlebt haben. Aber als sich unsere Blicke trafen, wußte ich Bescheid. Es war der Dieb. Von den Toten auferstanden.
»Also erinnerst du dich doch noch an mich«, sagte Javan. Ich starrte ihn an. Es war vierzehn Jahre her, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte. Javan, den ich im Blutwald auf der Flucht vor Alachias Wachen zurückgelassen hatte. Das war so lange her. Wie hatte er überlebt? »Bin ich nicht der Mann aus deiner Erinnerung?« fragte er. Seine Stimme klang gemein und verbittert. Nun, da der weiße Bart verschwunden war, sah ich das eingefallene, hohle Gesicht des Mannes, den ich gekannt hatte. Wie hatte ich ihn nicht erkennen können? Manchmal vergesse ich, daß Menschen so rasch altern. Und all die Jahre hatte er in der Grube im Blutwald vergeudet. Das hätte jeden verändert. »Nein«, sagte ich. »Du bist nicht so, wie ich dich in Erinnerung habe.« »Nein. Wie sollte ich auch?« Seine Augen blickten irr, und sein Gesicht war zu einer häßlichen Grimasse verzerrt. »Du hast mich zurückgelassen. Mich im Blutwald zum Sterben zurückgelassen. Weißt du, was Alachia Leuten antut, die sie nicht mag? Weißt du das?« Ich nickte. »Darauf würde ich wetten«, sagte er. »Wahrscheinlich hast du mich deshalb zurückgelassen. Um mich loszuwerden.«
Es schien nicht angeraten zu sein, ihn daran zu erinnern, daß er mir die Kehle aufgeschlitzt hatte, und wäre ich nicht gewesen, was ich damals noch war, wäre ich daran gestorben. »Alachia hat mich geschlagen und dann in die Grube werfen lassen«, sagte er. Sein Gesicht war jetzt gerötet, die Adern traten wie Stricke aus seiner Haut vor. »Und dann hat sie mich vergessen. Sie hat mich zum Sterben dort gelassen. Aber ich bin nicht gestorben. Nein. Es gab gerade genug Essen und Wasser, um einen in den Wahnsinn zu treiben, aber nicht so wenig, daß man verhungerte.« Ich sah zu Hebhel, um festzustellen, wie er auf all das reagierte. Er sah perplex aus, als könne er nicht begreifen, warum Caen so mit seiner Mutter redete. Aber er hatte keine Angst, mein tapferer Sohn. »Aber das war nicht das Schlimmste daran. Nein, als sie mich in die Grube warfen, brach ich mir das Bein. Natürlich war niemand da, der es heilen konnte. Siehst du, wie ich hinke?« Er klopfte sich auf sein Bein. »Wie könnte ich damit wieder ein Dieb sein? Die Dunkelheit hat mich verlassen, und ich kann mich nicht mehr in ihr verstecken. Du hast mir alles genommen.« »Wie bist du aus der Grube entkommen?« fragte ich. Ich sah jetzt, daß er Hebhel mit einer Hand festhielt, während die andere das Rasiermesser umklammerte. Zauber gingen mir durch den Kopf, aber keiner, den ich schnell genug wirken konnte, um Hebhel zu beschützen. Mein Magen krampfte sich
zusammen, und in meinen Oberschenkeln breitete sich ein seltsames Gefühl der Schwäche aus. »Tja«, sagte er. »Das ist ein Geheimnis. Weißt du noch, wie sehr du Geheimnisse liebtest, Aina? Ich schon. Zum Beispiel, als ich dir die Kehle aufgeschlitzt habe. Du hättest sterben sollen, aber du starbst nicht. Wenn ich es noch einmal versuchte, würdest du diesmal sterben? Es hat Zeiten gegeben, seit ich hier bin, wo ich in der Tür eures Zimmers gestanden und dich und den Jungen im Schlaf beobachtet habe. Und wo ich mich fragte, wie es wohl wäre, dich noch einmal zu töten. Aber dann dachte ich darüber nach und kam zu dem Schluß, daß das zu einfach gewesen wäre. Zu gut für dich. Also habe ich mich für etwas anderes entschieden.« Die Hand mit dem Rasiermesser schoß vor. So schnell, daß man es mit bloßem Auge nicht verfolgen konnte, zog er Hebhel die Klinge über den Hals, durchschnitt sie mit einem glatten, brutalen Streich. Einen Augenblick lang geschah gar nichts, und ich dachte, ›Meine Güte, es ist nur ein Trick‹, aber dann erschien das Blut wie ein furchtbares rotes Lächeln auf der rosigen Haut. »Hebhel!« kreischte ich. Zumindest glaube ich, daß ich es tat, aber die Welt war zu einem Wirrwarr der Empfindungen verschwommen. Zu viele für mich, um sie noch zu trennen. Javan zerrte Hebhel ins Haus und schlug die Tür zu. Ich rannte los, doch meine Bewegungen kamen mir so langsam vor wie in jenen Träumen, in denen man nicht von der Stelle kommt.
Javan hatte den dicken Riegel vorgelegt, aber ich wußte, daß ich ihn leicht überwinden konnte. Ich strich mit der Hand über meine Narben, suchte nach dem richtigen Zauber. Dann war ich im Haus. Die Blutspur führte direkt in Hebhels Zimmer. Ich konnte Hebhel nicht weinen hören, und das ängstigte mich mehr als alles andere. Er hätte weinen müssen, weil man ihm weh getan hatte. Er würde seine Mama wollen, aber ich war nicht für ihn da. Durch die Tür in Hebhels Zimmer. Und dort saß Javan mit Hebhel auf dem Schoß. Das Blut floß jetzt tiefrot. Hebhel war schlaff wie eine Strohpuppe. »Hebhel!« rief ich. Mir fielen die Worte für einen Zauber ein, der schwarze Teppich senkte sich über meinen Verstand, und ich hätte ihn beinahe fliegen lassen, aber ich befürchtete, Hebhel damit nur noch mehr zu schaden. »Laß ihn los«, sagte ich. Tränen liefen mir über die Wangen. »Laß mich ihm helfen.« Javan lächelte. »Wie du mir geholfen hast?« »Das hast du dir selbst zuzuschreiben«, schrie ich. »Du warst wahnsinnig und rücksichtslos. Du hast versucht, mich umzubringen. Hätte ich mich dafür bedanken sollen?« »Du verstehst es einfach nicht«, sagte er traurig. »Ich wußte, du würdest es nicht verstehen. Darum mußte ich ihn töten. Damit du verstehst.« Hebhel, dachte ich. Ich muß ihn retten. In jeder Sekunde, die ich mit Javan stritt, verlor Hebhel mehr Blut.
»Du hast recht«, sagte ich rasch. »Ich verstehe. Was ich dir angetan habe, war falsch. Furchtbar falsch.« Javan schüttelte den Kopf. »Nein, das sagst du nur, damit ich ihn loslasse. Ich wußte, du würdest es nicht verstehen. Aber jetzt wirst du es.« Und dann stach er meinem Kind das Rasiermesser in die Brust, und ich wußte, daß Hebhel tot war. Und in meinem Verstand war ein Rauschen wie von tausend Stürmen über den Brachen, und ich wußte nichts mehr.
Es war still in dem Raum, abgesehen von dem gelegentlichen Knacken der Holzscheite im Kamin. Ich war sprachlos. Aina starrte ins Feuer, in die Vergangenheit vertieft, als spiele sich vor ihren Augen alles noch einmal ab. Aber ihr Gesicht war seltsamerweise bar jeder Gefühlsregung. Und in diesem Augenblick überkam mich ein sonderbares Gefühl: Ich wollte sie trösten. Ich, Vistrosh, Geißel von Kratas und verschiedenen Gegenden südlich davon. Sohn des Blutwalds im Exil und einst Ratgeber Alachias. Anführer der bösartigsten und gemeinsten Truppe von Dieben und Attentätern, die Barsaive je heimgesucht hatten. Ich wollte eine Sklavin trösten. Das reichte, daß einem schlecht wurde. Und das Schlimmste daran war, daß ich sie nicht wissen lassen konnte, daß mich ihre Geschichte bewegt hatte. Denn ich wußte, was diese Information anrichten würde. Andererseits wußte ich jetzt Dinge über sie, die mir Macht über sie verleihen würden. »Was ist aus dem Dieb geworden?« fragte ich, obwohl ich es mir denken konnte. Immer noch ins Feuer starrend, sagte sie: »Natürlich habe ich ihn getötet. Er hatte meinen Sohn ermordet. Jede Mutter hätte so gehandelt. Die Wände von Hebhels Zimmer waren blutverschmiert. Eingeweide und Knochen lagen herum wie achtlos weg-
geworfenes Spielzeug. Ich muß einen Dämon gerufen haben, um Javan zu töten, obwohl ich mich nicht daran erinnern kann. Ich erinnere mich nur noch, wie ich Hebhel in meinen Armen wiegte. Ich brachte ihn zum Rand der Klippe über dem Meer, einem seiner Lieblingsplätze. Hier hatten wir immer gesessen, und ich hatte ihm Geschichten erzählt, während er die Flut beobachtete. Und so saß ich mit meinem toten Sohn in den Armen da und wiegte ihn hin und her, bis die Sonne unterging und es kalt wurde. Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß. Als ich mich schließlich bewegen wollte, waren meine Arme abgestorben, und meine Beine konnten mich kaum tragen. Hebhel war kalt. Ich versuchte ihn ganz eng an mich zu drücken, aber das nützte auch nichts. Schließlich wurde mir klar, daß ich ihn begraben mußte. Der Boden war hart und steinig, aber ich grub trotzdem hinter dem Haus ein Grab für ihn. Ich wollte ihn ganz nah bei mir haben. Ich bediente mich dabei keiner Magie. Dies war eine Arbeit, die ich für mich zu erledigen hatte. Mit meinen eigenen Händen. Ich wickelte die Leiche in mein Bettlaken. Es war mit Schiffen und Vögeln bestickt. Ich erinnerte mich noch, wie Hebhel immer darum gebettelt hatte, daß ich ihm Geschichten über die Bilder auf dem Laken erzählte. Ich legte meinen Sohn in die kalte unversöhnliche Erde. Er war so klein. Und was es noch schlimmer
machte, war das Wissen, daß er nicht mehr da war. Längst nicht mehr da. Der Körper war nur noch eine leere Hülle. Als ich schließlich den letzten Stein auf das Grab legte, war mein Gesicht aufgesprungen und windgepeitscht. Salz juckte, wo Tränen auf meinen Wangen getrocknet waren, aber ich ignorierte es. Ich wollte nichts mehr empfinden, aber diese Wohltat wurde mir nicht gewährt. Die Schmerzen und die Leere waren nur der Anfang.« Aina schloß die Augen. Die Luft im Zimmer kam mir plötzlich abgestanden und stickig vor. Ich hatte ein Gefühl, als bekäme ich kaum noch Luft. Ich stand auf, ging rasch zum Fenster, schlug die schweren Vorhänge zurück und riß die Flügel auf. Kühle Nachtluft wehte herein. Der süße Duft nach Jasmin und Geißblatt stieg mir in die Nase, und ich atmete tief ein. Falls ich gehofft hatte, das würde meinen Kopf klären, wurde ich enttäuscht. Konnte sie einen Zauber gegen mich gewirkt haben? Einen, der in meine Gedanken und Gefühle eindrang? Das war lächerlich, und ich wußte es, aber ich wollte, daß diese Empfindungen für sie und ihr totes Kind aufhörten. Sie gefielen mir nicht. »Viele Frauen verlieren Kinder«, sagte ich. Ich schaute weiterhin aus dem Fenster, wobei ich versuchte, ihr Gesicht aus meinen Gedanken zu verdrängen. »Und glaubst du, das macht es leichter?« fragte sie. »Wird man mit dem Tod besser fertig, weil er allgegenwärtig ist? Es ist mir egal, ob ich sterbe.
Aber Hebhel und noch jemanden sterben zu sehen. Ach, das war nicht zu ertragen.« »Noch jemanden?« Ich wandte den Kopf, um ihr Gesicht zu sehen. »Es hat dir etwas ausgemacht, daß Javan starb?« »Nein«, sagte sie. »Natürlich nicht.« »Von wem redest du dann?« Diesmal sah sie weg. Ah, ein weiteres Stück des Puzzles. Ich fiel darüber her wie ein Vielfraß über den Mittagstisch. »Du sagtest, du hättest noch jemand anderen sterben sehen. Wer war es, wenn nicht Javan?« Ihre schwarzen Augen bohrten sich in meine. Und da wurde mir nicht ohne Erschrecken bewußt, daß sie keine Angst vor mir hatte. Obwohl ich mit ihr verfahren konnte, wie es mir beliebte, fürchtete sie sich nicht. Das war meinen Erfahrungen nach beispiellos. Selbst der mutigste Krieger fürchtete, seiner Waffen beraubt zu werden. Aber da saß sie, kalt und gelassen, als sei sie keine Gefangene, sondern ein Gast. Das ärgerte mich. »Ich bin jetzt müde, Vistrosh«, sagte sie. »Ich würde mich gerne ausruhen.« »Und wenn ich nicht will, daß du dich ausruhst?« sagte ich. Sogar in meinen Ohren klang meine Stimme gereizt. »Wirklich«, sagte sie. »Das kannst du besser. Hat dich dein Witz plötzlich verlassen. Deine Schlagfertigkeit hat mir so viel Spaß gemacht.«
Ich zuckte die Achseln. Es war offenbar besser, einstweilen nachzugeben. »Vielleicht bin ich müde. Ich werde dich jetzt allein lassen, aber das eine sage ich dir: Morgen wirst du mir von jener anderen Person erzählen.« »Wirklich, Vistrosh«, sagte sie. »Man könnte meinen, du hättest keine Troubadoure, die dir Lügen auftischen. Mußt du dir unbedingt meine anhören?« »Ja«, erwiderte ich. »Das muß ich.« Ainas Worte beunruhigten mich, denn ich wußte, daß ein Körnchen Wahrheit daran war. Warum hatte mich ihre Geschichte so bewegt? Sie war nicht mehr als ein Werkzeug für mich. Zugegeben, sie war eine Angehörige meiner Rasse, aber wann hatte mich das je zuvor irritiert? Und jetzt vernachlässigte ich meine Pflichten. Jetzt, wo Kai tot war, mußte ich meine Pläne ändern. Wie konnte ich sie benutzen, um mir zu helfen? Und dann fiel mir die Antwort ein. Sie war so simpel, daß ich mich schalt, nicht eher darauf gekommen zu sein. In jener Nacht schlief ich tief, und meine Träume waren so ruhig und harmlos wie die eines Babys. Am nächsten Abend war es nicht nötig, die Tür zu ihrem Zimmer zu öffnen. Sie war angelehnt, und der goldene Schein des Kaminfeuers fiel über die Schwelle. Aina saß wieder vor dem Feuer. Sie sah auf, als ich eintrat. »Guten Abend, Vistrosh«, sagte sie. »Ich hoffe, du
bist heute abend besser gelaunt.« Ich deutete eine Verbeugung an. »Ich stehe dir zu Diensten«, sagte ich. »Nein«, sagte sie. »Du glaubst, ich stünde dir zu Diensten.« »Nein, eigentlich nicht«, sagte ich in verletztem Tonfall. »Aber ich glaube, daß du dir wünschen wirst, mir zu Diensten zu stehen, wenn ich dir deine Situation erklärt habe.« »Aha«, sagte sie. »Und was verstehe ich nicht an meiner Situation? Daß ich deine Gefangene bin? Das verstehe ich nur allzu gut. Daß du von deinen Dienern, Sklaven und sogar den Mitgliedern deiner Horde gefürchtet wirst? Das ist ebenfalls offensichtlich. Was könntest du mir wohl sagen, das daran irgend etwas ändern würde?« »Aber deine Situation scheint dich völlig kalt zu lassen«, sagte ich. »Das ist höchst sonderbar. Doch mir ist klar geworden, warum.« Jetzt sah sie interessiert aus. Das erstemal, daß dieser ganz bestimmte Ausdruck über ihr Gesicht huschte. Mich überlief ein Schauer der Erregung. »Du fürchtest dich nicht davor, weil du deine Gefangenschaft stillschweigend duldest. Ich könnte dich nicht halten, wenn du wirklich fliehen wolltest, oder?« Sie antwortete nicht. »Ich nehme an, daß es nur wenige Orte und Leute gibt, die dich halten könnten, wenn du gehen wolltest. Weißt du, ich habe schließlich verstanden, daß
die Geschichten, die ich gehört habe, tatsächlich stimmen. Ich habe sie immer für übertrieben gehalten. Nach Art der Troubadoure, die ihre Geschichten interessanter machen. Zum Beispiel: ›Der Große Bullock erschlug siebenhundert Dämonen in der letzten Schlacht des Kaer der Unruhigen Träume. Als alles vorbei war, erkannte er, daß einer der Dämonen von ihm Besitz ergriffen hatte, also nahm er sich das Leben, um seine Kameraden zu beschützen. Eine edle und heroische Tat. Der Schatz, der zurückblieb, war so groß, daß man die Straße von Parlainth nach Travar mit Gold hätte pflastern können. Bis zum heutigen Tag hat niemand weder den fabelhaften Schatz noch das vergessene Kaer gefundene. In Wirklichkeit hat es sich wohl eher so zugetragen, daß Bullock sich in die Hose gemacht hat, als er die Dämonen sah, was sie dazu veranlaßte, sich dumm und dämlich zu lachen. Das ermöglichte seinem Begleiter, einem Dieb, sich unbemerkt hinter sie zu schleichen und sie zu erstechen. Als dieser dann begriff, daß er die wenigen Goldstücke, die er gefunden hatte, auch noch mit Bullock würde teilen müssen, verpaßte ihm der Dieb ebenfalls einen Messerstich in die Rippen. Und es ist allemal besser, die Geschichte eines toten Helden als die eines schändlichen Diebes zu erzählen, oder?« Aina lachte und klatschte in die Hände. »Bravo«, sagte sie. »Ich bewundere alle Zyniker. Aber was hat dich bei dieser Einstellung zu dem
Schluß gebracht, daß die Geschichten über mich wahr sind?« »Weil du keine Angst kennst. Und ich glaube zwar, daß du ein wenig verrückt bist, aber das halte ich für eine vorübergehende Heimsuchung. Jedenfalls bist du sehr vernünftig, wenn du willst. Du redest so beiläufig davon, Dämonen aus dem Himmel zu holen, die tun, was du verlangst, wie ich davon rede, meine Sklaven an den höchsten Bieter zu verkaufen.« »Das ist ein wenig schmeichelhafter Vergleich.« »Aber er drückt genau aus, was ich meine«, sagte ich. »Dennoch gibt es etwas, von dem ich glaube, daß du dich davor fürchtest.« Aina beugte sich vor und lächelte mich an. Ihre Zähne waren sehr weiß vor dem Hintergrund ihrer schwarzen Haut. Welch ein Spaß das werden würde. »Und was, bitte, soll das sein?« fragte sie. »Aithne«, sagte ich. »Aithne?« Sie sah verwirrt aus. »Ich bin nichts für ihn, und er ist nichts für mich.« »Aber«, sagte ich, »er bedeutet dir noch etwas. Das sehe ich dir an, wenn du von ihm sprichst. Sag, was würde er tun, wenn er die Wahrheit über sein und Sidras Kind erführe? Dann würde er dich hassen, oder nicht? Und das willst du nicht. Aber ich weiß es jetzt. Und für mich wäre es nicht schwierig, es ihm zu erzählen.« Ihre Augen verengten sich, und das Lächeln er-
losch. »Wie rücksichtslos du bist«, sagte sie leise. »Warum solltest du so etwas tun wollen?« »Ich tue es nicht, es sei denn, du zwingst mich dazu. Ich brauche deine Hilfe.« »Meine Hilfe? Wobei könnte ich dir helfen?« »Ich will in den Blutwald zurückkehren. Wenn ich mit dir als meiner Gemahlin zurückkehrte, würde das die Dinge… vereinfachen.« Aina lehnte sich zurück und sah mich an, als unterziehe sie mich einer Prüfung. »Ich will sehen, ob ich dich richtig verstanden habe. Ich soll mit dir als deine Gemahlin in den Blutwald gehen, sonst erzählst du Aithne die Geschichte von seinem und Sidras Kind.« »So ist es.« »Aber du willst mich doch gar nicht als Gemahlin. Ich dachte, deine Geschmäcker lägen anderswo.« »Das zeigt nur, wie gut wir zueinander passen würden«, sagte ich. »Du verstehst mich genau. Und vielleicht könntest du mich nach ein paar Jahren verlassen. Dann würde ich dich nicht mehr brauchen.« »Aber ich will nicht wieder im Blutwald leben«, sagte sie. »Wieder?« »Ach, habe ich das nicht erwähnt?« fragte sie zuckersüß. »Wie dumm von mir. Ja, ich habe ein paar Jahre dort gelebt.« »Aber wann? Warum? Und wie?« Welch ärgerliche Komplikationen. »Aha, wir sind also wieder bei meiner Geschichte.
Du solltest sie wirklich ganz hören, bevor du Drohungen gegen die Erzählerin ausstößt. Andernfalls hörst du das Ende vielleicht nicht.« »Das spielt keine Rolle. Ich werde es Aithne trotzdem erzählen, wenn du nicht tust, was ich will.« »Soll ich dir den Rest der Geschichte erzählen oder nicht?« »Es würde nichts ändern.« »Was kann es dann schaden?« »Also gut«, sagte ich. »Erzähl.«
Nach Hebhels Tod verlor ich jedes Zeitgefühl. Das war mir ziemlich gleichgültig, denn mein Leben kam mir so öde und leer wie die Brachen vor. Habe ich gegessen? Ich kann mich nicht erinnern. Geschlafen? Vielleicht. Ich weiß noch, daß es Träume gab. Weißt du, Vistrosh, während ich schlief, besuchte mich Ysrthgrathe. Oder jedenfalls dachte ich das anfangs. Ich war überrascht, daß er nicht zu mir kam, nachdem Hebhel gestorben war. Soviel Kummer und Leid wäre ein Festmahl für ihn gewesen. Aber er kam nicht, und statt dessen beschwor ich meine Erinnerung an ihn. Nachdem ich so viele Jahre mit dem Versuch verbracht hatte, ihn aus meinem Leben zu verbannen, lag nicht wenig Ironie darin, daß ich ihn jetzt in meiner tiefsten Verzweiflung beschwor und er mich in meinen Träumen heimsuchte. Aber ich konnte mich nie an den Inhalt dieser Träume erinnern. Nur daran, daß er da war. Und wartete. Und beobachtete. Aus dem Herbst wurde Winter. Dann aus dem Winter Frühling. Es war ein klarer blauer Frühlingsmorgen. Die Luft war frisch und rein, und die Sonne hing tief am Horizont. Eine Brise streichelte mich, aber ich spürte sie kaum. Ich haßte die Schönheit des Tages, weil Heb-
hel sie nicht sehen konnte. Für ihn gab es keine Frühlingsmorgen mehr. Keine Sommer, in denen er durch das flache Ebbwasser watete. Keine Blätter, denen er nachjagen konnte, wenn sie im Herbst golden, rot und braun von den Bäumen fielen. Keinen Schnee mehr, über den er sich freuen konnte. Mehr aus Gewohnheit denn Neugier ging ich zum Strand. Als ich so weit gegangen war, wie ich wollte, machte ich kehrt und sah die lange Linie meiner Fußabdrücke im Sand. Eine Woge der Einsamkeit überschwemmte mich. Sollte mein Leben etwa so aussehen? Und da sah ich ihn. Einen schwarzen Vogel vor der kanariengelben Sonne. Einen Augenblick glaubte ich, in der Zeit zurückgereist zu sein. In eine Zeit vor Hebhel. Vor Himmelsspitze. Er stürzte auf mich herab wie vor fünf Jahren. Ich hob den Arm. Seine Krallen bohrten sich in meine Haut, als er landete. Es war Aithnes Bote. Das silberne Röhrchen mit seinem Siegel war an einem Bein festgebunden. Ich nahm die Botschaft nicht heraus, weil ich sie nicht lesen wollte. Nicht jetzt. Vielleicht niemals. Der Vogel schlug mit den Flügeln, während er sich an meinem Arm festklammerte. Ich versuchte ihn nicht zu beachten. Als könnte ich ihn und die Botschaft dadurch verscheuchen. Aber er klammerte sich fest wie eine ständige Erinnerung an die schreckliche Untat, die ich begangen hatte. Er klam-
merte sich fest, während ich zur Klippe zurückkehrte. Ich öffnete meine Haustür. Zum erstenmal seit Hebhels Tod fiel mir auf, wie schal es darin roch. Ich wußte nicht mehr, wann ich zuletzt die Fenster geöffnet hatte. Der Vogel hüpfte von meinem Arm auf die Lehne eines Stuhls. Nachdem ich ihn mit ein paar Samenkörnern gefüttert hatte, stieß ich die Fenster auf. Die kühle Frühlingsbrise wehte durch das Haus und brachte Erinnerungen an Hebhel mit. Während ich am Fenster stand, sah ich ihn fast vor mir, wie er draußen im Gras seine ersten Schritte tat. Oder Schmetterlinge über die Wiese jagte. Jahrhundertelang hatte mich Ysrthgrathe heimgesucht. Doch jetzt war mein Sohn der einzige Geist in meinem Leben. Und ich war nicht sicher, was schmerzhafter war. Der Vogel zwitscherte, und ich drehte mich um. Er betrachtete mich mit seinen Knopfaugen, den Kopf ein wenig geneigt. Ich trat zu ihm und zog das Pergament aus der Röhre an seinem Bein. Meine Hände zitterten, als ich es entrollte. Liebste Aina, es ist jetzt über fünf Jahre her, seit ich Dich nach Himmelsspitze schickte, um Sidra zu retten. Du hast sie mir zurückgebracht, und dafür bin ich Dir auf ewig dankbar. Aber jetzt möchte ich Dich um einen weiteren Gefallen bitten. Eine furchtbare Tragödie hat sich ereignet, und ich habe das Gefühl, als seist Du die einzige Person, die meine Verzweiflung verstehen kann.
Sidra ist tot. Ich glaube, daß sie letzten Endes das Leben hier im Blutwald nicht ausgehalten hat. Nach ihrer Rückkehr aus Himmelsspitze ist sie nie wieder die alte Sidra geworden. Sie hat mir nie erzählt, was ihr widerfahren ist. Ich weiß nur, daß sie unser Kind in dieser Zeit verloren hat. Aber Du warst bei ihr. Du kanntest sie von früher. Und Du kennst mich. Mein Kummer ist wie eine Wunde, die nicht heilen will. Hier gibt es niemanden, der meine Gefühle für Sidra verstehen würde. Aber bei Dir war das immer anders. Bitte, teure Freundin, komm zu mir. Ich brauche Dich. Dein Aithne Ach, dieser Schuft. Nahmen die Gefälligkeiten, die ich ihm erweisen sollte, niemals ein Ende? Anscheinend nicht. Doch noch während ich seinen Brief las, wußte ich schon, daß ich wieder in den Blutwald und zu den Intrigen von Alachias Hof zurückkehren würde. All das, um ihn zu trösten. Was war ich doch für eine Närrin. Aber das Schuldgefühl darüber, was ich ihm und Sidra angetan hatte, nagte an mir, wenn ich nicht von meinem Kummer über Hebhels Tod verzehrt wurde. Hätte ich Hebhel nicht behalten, wäre er jetzt vermutlich bei Aithne im Blutwald in Sicherheit gewe-
sen, anstatt tot und verfault seit einem Jahr unter der Erde zu liegen. Ich warf das Pergament in das kleine Feuer, das im Kamin brannte. Einen Augenblick später war es schon schwarze Asche, die durch den Kamin geweht wurde. Dann ging ich in Hebhels Zimmer. Das Blut hatte ich schon vor langer Zeit weggewischt. Die grausigen Überreste von Javan verbrannt und dann ins Meer geworfen. Das Zimmer war im wesentlichen noch genauso wie zu Hebhels Lebzeiten. In den ersten Monaten nach seinem Tod hatte ich oft hier gesessen. Manchmal war ich auf seinem Bett eingeschlafen, und wenn ich dann aufwachte, glaubte ich immer, seine Stimme zu hören. Mama, Mama, Mama. Aber sein Geruch war längst aus dem Zimmer verschwunden. Babys duften wie frische Kekse. Und in diesem Zimmer roch es so schal und muffig wie im übrigen Haus. Ich öffnete die Fenster. Von einem konnte ich sein winziges Grab sehen. Die Blumen und Muscheln, die ich gestern auf das Grab gelegt hatte, sahen noch frisch aus. Was glaubst du, warum ich solche Dinge auf sein Grab legte? Damals dachte ich wohl, er würde es mögen. Als schlafe er nur dort unter den weißen Steinen und der graubraunen Erde. Nach ein paar Minuten schloß ich die Fenster wieder. Wenn ich zum Blutwald wollte, mußte ich einige Vorbereitungen treffen.
Und wieder verließ ich mein kleines Haus am Meer. Ich hatte das unwirkliche Gefühl, daß die letzten fünf Jahre nie stattgefunden hatten. Der Vogel folgte mir wie zuvor. Die Farben waren auch genauso wie damals. Ein Teil von mir versuchte so zu tun, als sei alles wie früher. Seltsam, nicht wahr? Wie wir uns selbst etwas vormachen. Diesmal brauchte ich länger, um den Blutwald zu erreichen. Das hing mit meinem Widerstreben zusammen, aber auch damit, daß ich zum erstenmal seit einem Jahr wieder etwas empfand. Mein Kummer war immer noch eine Wunde, aber keine so offene mehr. Ich haßte die Vorstellung, den überwältigenden Schmerz von Hebhels Verlust einzubüßen. Es kam mir beinahe wie ein Verrat an ihm vor. Wieder erreichte ich den Hügel, von dessen Kuppe man einen ungehinderten Ausblick auf den Blutwald hatte. Die kalte Hand der Furcht preßte mein Herz zusammen. Doch ich versuchte sie zu verdrängen. Ich würde nicht lange bleiben. Nur so lange, bis Aithne seinen Kummer überwunden hatte. Dann würde ich weiterziehen. Als ich mich dem Waldrand näherte, hörte ich eine Stimme. »Du bist zurückgekommen«, sagte sie. Ich schaute mich um, dann sah ich den Windung neben mir schweben. Es war Emil, derselbe, der mich beim letztenmal hier begrüßt hatte. Sein Haar
war jetzt mit grauen Strähnen durchzogen. Ansonsten war er genauso, wie ich ihn in Erinnerung hatte. »Ja«, erwiderte ich, »ich bin zurückgekehrt. Hat Aithne dich geschickt?« Er nickte. »Achte auf die Dornenmenschen. Sie sind so beschränkt wie eh und je.« Ich sah auf. Eine dichte Reihe von Dornenmenschen war auf der zum Wald führenden Straße aufgetaucht. Sie sahen bedrohlich aus, aber ich wußte, daß sie mir nichts tun würden, solange Emil bei mir war. »Wie geht es Aithne?« fragte ich. Normalerweise hätte ich ihn das gar nicht gefragt, aber ich war nervös. Beim letztenmal hatte ich gewußt, wie lange ich im Blutwald bleiben würde. Diesmal war ich nicht sicher. Ich fürchtete mich vor jedem Aufenthalt in Alachias Machtbereich, wie lange er auch dauerte. Im Blutwald war ich viel zu verwundbar. »Nicht gut«, sagte Emil. »Seit dem Tod dieser Menschenfrau ist er nur noch traurig. Er lacht nicht über meine Witze. Er ißt kaum etwas. Wir haben alles mögliche versucht, aber nichts scheint zu wirken. Sogar Alachia hat es versucht, aber auch das hat nichts genützt.« Ich konnte mir vorstellen, wie Alachia Aithne zu helfen versucht hatte, aber der Gedanke daran war so unerfreulich und abstoßend, daß ich ihn rasch verdrängte. Im Wald raschelte das Laub in unserer Nähe. Ich fragte mich, welche Augen uns beobachteten und wem sie berichten würden.
Schließlich erreichten wir den Palast. Ich haßte die Vorstellung, daß ich hineingehen und Alachia begrüßen mußte, aber es ließ sich nicht umgehen. Wieder erklomm ich die Knochentreppe und betrat den Palast durch die Rosentüren. Die Wachen folgten mir auch diesmal. Ich ignorierte sie wie zuvor. Die wunderbaren Blumenwandteppiche hingen immer noch an den Wänden. Veilchen-, Rosen-, Hyazinthen- und Nelkendüfte vermischten sich und parfümierter die Luft und ließen mich niesen. Ich ging zu Alachias Thronraum. Niemand versuchte mich aufzuhalten. Als ich die Türen aufstieß, versuchte ich nicht daran zu denken, was dahinter auf mich wartete. Alachia saß auf ihrem Thron und sah so weiß wie Marmor und mindestens doppelt so kalt aus. Ich verneigte mich nicht. »Wie ich sehe, bist du zurückgekehrt«, sagte sie. »Aithne hat es vorausgesagt.« »Er hatte recht«, erwiderte ich. »Ich bin hier, um Euch meinen Respekt zu erweisen. Wie es Tradition ist.« »Ja. Es ist Tradition«, sagte sie. »Aber auf mich machst du keinen besonders respektvollen Eindruck.« Ich zuckte die Achseln. »Respekt muß man sich verdienen.« Sie runzelte die Stirn. »Du warst schon immer eine ziemliche Plage. Ich weiß noch, daß du als Kind immer im Palast herumgeschlichen bist wie ein Dieb.
Zuerst hat es mich belustigt, aber schließlich war es nur noch langweilig. Ich frage mich, ob es Aithne auch so ergehen wird, wenn du erst eine Weile mit ihm zusammen bist. Glaubst du, er wird sich ebenfalls langweilen?« »Das steht wohl kaum zur Debatte«, sagte ich. »Ich bin nur gekommen, um ihn zu trösten. Weil er mich darum gebeten hat. Ich werde nicht lange bleiben.« Sie lächelte, und dabei überlief es mich kalt. »Ich habe Dinge über dich gehört, Aina. Dinge über deine Macht. Aber merk dir eines: Ich bin älter als du. Und was ich erlebt und getan habe, übersteigt dein Vorstellungsvermögen. Wenn du mich ärgerst, werde ich dich dafür büßen lassen, und zwar mit dem, was dir das Liebste ist.« Ich starrte in ihre vollkommenen saphirblauen Augen. »Das habt Ihr schon einmal getan«, sagte ich. »Glaubt Ihr wirklich, ich würde das noch einmal zulassen?« »Glaubst du, du könntest mich daran hindern?« Ich gab keine Antwort. »Geh jetzt«, sagte sie. »Geh zu Aithne und halt ihm die Hand.« Sie schnippte mit den Fingern, und ein junger Mann tauchte neben ihr auf. Aber es war kein Blutelf. Ich nahm an, daß es ein Besucher des Hofes war. Er war mittelgroß, und das braune Haar, das ihm auf die Schultern fiel, war mit blonden Strähnen durchsetzt. Er hatte kluge, scharf geschnittene Züge wie
ein Frettchen und lebhafte, intelligente braune Augen. Zweifellos Alachias Spielzeug. Und ihr Spion. »Das ist Aina«, sagte sie zu ihm. »Bring sie zu Aithne. Sorg dafür, daß sie während ihres Aufenthalts hier gut behandelt wird.« Er trat vor und machte eine kleine Verbeugung. Ich sah, daß Alachia daraufhin die Stirn runzelte, und fragte mich, ob das echt oder nur Theater war. Es hatte bereits begonnen. Das Mißtrauen und die Hofintrigen. Ich hoffte inständig, daß Aithne seinen Kummer rasch überwand. »Ich bin Caimbeul har lea Quinn«, sagte er. »Wenn Ihr gestattet…« Ich folgte ihm aus dem Thronraum. Auf dem ganzen Weg zur Tür konnte ich spüren, wie Alachia mich beobachtete.
»Aithne wohnt nicht weit von hier«, sagte Caimbeul. »Er hat sich ziemlich zurückgezogen, obwohl ich gehört habe, daß er früher einmal Alachias Günstling war.« »Davon weiß ich nichts«, sagte ich. »Es ist viele Jahre her, seit ich zuletzt mit dem Hof zu tun hatte.« »Und trotzdem scheint Ihr Euch sehr gut zurechtzufinden.« Ich runzelte die Stirn. »Was wollt Ihr damit sagen?« Er warf mir einen flüchtigen Blick zu. »Ihr dürft mich nicht ernstnehmen. Ich bin nur ein Dummkopf. Ein hübscher Narr, der unsere Königin amüsiert.« Bunte Bälle tauchten in seinen Händen auf. Beim Gehen jonglierte er damit. »Wann ist Sidra gestorben?« fragte ich schließlich. »Vor ungefähr sechs Monaten. Ich war der Ansicht, daß sie und Aithne gut zusammenpaßten, obwohl sie ein Mensch war. Aber Menschen leben nicht lange. Aithne hätte es besser wissen müssen.« »Nicht alle beherrschen ihre Gefühle«, sagte ich. »Vielleicht konnte er nicht anders.« »Nein«, sagte er. »Es gibt immer eine Wahl.« Er bog vom Hauptweg auf einen kleinen Pfad ab, der in den dichten Wald führte. Einer der Bälle, mit denen er jonglierte, fiel zu Boden und rollte mir vor die Füße. Ich bückte mich und hob ihn auf. Er
kam wieder zu mir zurück und streckte die Hand aus. Als sich unsere Finger berührten, durchzuckte es mich, als hätte ich einen Schlag erhalten. Es war etwas Vertrautes und zugleich Beunruhigendes, das ich im Augenblick nicht unterbringen konnte. Ich sah ihn an. Er schien es ebenfalls gespürt zu haben. Wir wichen voreinander zurück, wachsam wie Katzen. »Es ist nicht mehr weit zu Aithne«, sagte er. Er drehte sich um, steckte die Bälle in seine Tasche und ging voran. Mit dem Jonglieren war es einstweilen vorbei. Caimbeul verließ den Pfad und ging auf eine riesige Eiche zu. Obwohl sie die meisten Bäume außerhalb des Blutwalds winzig hätte erscheinen lassen, war sie im Vergleich zu den Bäumen, die Alachias Palast stützten, klein. Er umrundete den Stamm und verschwand dahinter, und ich folgte ihm. In die rauhe Rinde waren Vertiefungen für Füße und Hände geschnitzt. Jahre der Benutzung hatten sie geglättet. Caimbeul kletterte bereits hinauf. Er bedeutete mir, ihm zu folgen. Als wir die tieferhängenden Äste erreichten, sah ich, daß eine Behausung geschaffen worden war, indem man die Zweige miteinander verwoben hatte. Zweifellos Aithnes Werk. Im Laufe der Jahrhunderte hatten seine Fähigkeiten zugenommen. Oder vielleicht hatte Alachia es ihm auch gezeigt. »Aithne«, sagte Caimbeul. »Laß mich ein. Ich habe dir etwas mitgebracht.«
Es gab keine Antwort, dann öffnete sich langsam die Tür. Ein Vogel flog heraus. Schwarz mit gelben Flügelspitzen. Er verschwand im dichten Blattwerk. »Komm herein«, erscholl die unverwechselbare Stimme Aithnes, und ich spürte, wie sich mein Magen vor Aufregung verkrampfte. Seine Stimme klang so alt und müde. Blaß und farblos. Caimbeul duckte sich durch die Tür, und ich folgte ihm. Drinnen war es dunkel, und die Luft war schwer und schal. Einen Augenblick lang vermeinte ich Sidras Duft zu riechen, aber ich wußte, daß dies reine Einbildung war. »Was willst du?« »Ich habe etwas für dich«, sagte Caimbeul. »Mach Licht, dann wirst du schon sehen.« »Ich mag das Licht nicht«, erwiderte Aithne. Ich öffnete die Hand, und eine kleine Lichtkugel flammte darin auf. Das Zimmer erhellte sich schlagartig, und ich blinzelte in der plötzlichen Lichtflut. Es war ein wunderbarer Raum, doch schrecklich vernachlässigt. Staub lag auf den Tischen und dem Fußboden. Kleidungsstücke waren achtlos über Stuhllehnen geworfen und stapelten sich in den Ecken. Die Tische standen voll von schmutzigem Geschirr. Und dann sah ich auch Aithne. Er saß auf einem riesigen hölzernen Sessel, der ihn klein aussehen ließ. Sein Aussehen entsetzte mich und ließ mich unwillkürlich aufkeuchen. Sein schlanker Körper war zu einer Hagerkeit abgemagert, die ich erschreckend
fand. Seine bleiche Gesichtshaut spannte sich über den Schädelknochen. Die Dornen warfen dünne Schatten auf seine Haut. Sein dichtes schwarzes Haar war ungewaschen, verfilzt und fettig. »Aina«, sagte er. Er streckte die Hand aus, ließ sie dann aber wieder sinken, als habe ihn diese Handlung aller Kräfte beraubt. »Aithne«, antwortete ich und ging zu ihm. Als ich seine Hand nahm und sie drückte, stachen die spitzen Dornen auf seinem Handrücken in meinen Daumen. Seine Handfläche lag glatt und kalt in meiner. Aithne schloß die Augen und fing an zu weinen, und ich drehte mich zu Caimbeul um. Er beobachtete uns mit einer Mischung aus Abscheu, Faszination und einer weiteren Empfindung, die ich nicht ganz deuten konnte. Was dachte er? Was ging hinter jenen seltsamen Augen vor? Für einen Augenblick schien es so, als sei er jemand anders, doch dann hatte er wieder die ausdruckslose Maske des Narren aufgesetzt. Ich ruckte mit dem Kopf in Richtung Tür. Mit einer raschen Verbeugung wandte er sich ab und ging hinaus. Dann zog ich Aithne ganz nah an mich und legte seinen Kopf an meine Brust, wie ich es so oft mit Hebhel getan hatte, wenn er von Alpträumen geplagt wurde. Die Dornen stachen mich durch meine Robe. Einen Moment lang fragte ich mich, wie Sidra das ertragen hatte, aber als mich meine Gefühle für Aithne überwältigten, verstand ich es. So blieben wir lange Zeit. Aithnes stummes Wei-
nen war kaum zu ertragen. Sein Körper wurde von Krämpfen geschüttelt. Ich machte mir Sorgen, daß er davon krank werden könnte, ließ ihn aber weiterschluchzen, da ich hoffte, der Ausbruch würde eine reinigende, erleichternde Wirkung haben. Schließlich beruhigte er sich ein wenig. Sein Körper zitterte in meinen Armen, und dann löste er sich langsam von mir und ließ sich in seinen Sessel zurückfallen. »Du bist gekommen«, sagte er. Seine Augen waren immer noch geschlossen, die Wangen fleckig von Tränen. »Ich danke dir.« Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich neben ihn. Meine Beine schmerzten vom langen Knien neben ihm. In meiner Handfläche war ein wenig Blut verschmiert. »Ich hätte nicht anders handeln können«, sagte ich. »Du bist mein Freund. Die letzte Verbindung zu meiner Vergangenheit.« »Da ist auch noch Alachia«, sagte er. »Ja, aber sie ist kaum eine Erinnerung wert«, erwiderte ich. »Du siehst aus, als hättest du seit Monaten nicht mehr gegessen.« »Das Essen schmeckt mir nicht mehr richtig. Alles ist so lecker wie Sägemehl.« »Und wie ich sehe, hast du auch das Baden aufgegeben.« Er errötete, was mir ein wenig Hoffnung gab. Aithne war früher immer sehr auf Reinlichkeit bedacht gewesen.
»Vielleicht würdest du gerne ein Bad nehmen, während ich uns etwas zu essen mache«, sagte ich. Er nickte, begegnete jedoch nicht meinem Blick. Und da ärgerte ich mich über Sidra. Weil sie ihn so allein gelassen hatte. Mit seinem Kummer. Er war genauso hilflos wie Hebhel. »Na los«, sagte ich. Er erhob sich und schlurfte in den hinteren Teil des Hauses. Es brach mir das Herz, ihn so zu sehen. Wäre ich nicht gekommen, hätte er sich möglicherweise zu Tode getrauert. Ich öffnete die Fensterläden. Grünliches Licht fiel in das Zimmer. Dann hob ich alle Kleidungsstücke auf und warf sie in einen großen Korb, den ich unter dem Tisch fand. Ich benutzte eines seiner Hemden, um die Möbel abzustauben. Plötzlich ging mir durch den Kopf, daß Aithne Bedienstete haben mußte, aber es sah so aus, als sei keiner von ihnen da, und zwar schon seit langem nicht mehr. Ich stapelte das schmutzige Geschirr und stellte es auf einen Stuhl. Dann machte ich mich auf die Suche nach der Speisekammer. Ich fand sie, als ich eine Leiter hinaufkletterte, die zu einer Falltür in der Decke führte. Die Speisekammer war kaum in besserem Zustand als der Wohnraum. Aber es gab einen Laib nicht zu alten Brotes und ein paar Früchte in einer Schale auf dem Tisch. Die meisten Weinflaschen waren leer. Offenbar hatte Aithne mehr getrunken als gegessen. Neben der Falltür stand ein Korb mit einem daran
befestigten Seil. Ich legte Brot, Früchte und einen kleinen Krug mit Wein hinein und ließ ihn herab. Dann folgte ich dem Korb. »Aithne«, sagte ich. Ich bekam keine Antwort. Ich fand ihn schlafend in der Badewanne. Sein Kopf war auf den Rand gesunken, und er sah seltsam verletzlich aus. »Aithne«, sagte ich. »Wach auf.« Ich berührte ihn an der Schulter, und er schreckte auf. »Sidra?« sagte er. »Nein. Ich bin es, Aina.« »Natürlich. Ich dachte nur gerade…« »Du hast geschlafen. Komm, ich wasche dir die Haare.« Ich glaubte, er würde protestieren, aber er schloß die Augen und lehnte sich zurück. Hebhel war immer ein kleiner Teufel gewesen, wenn ich ihn baden wollte, aber auf die sonderbare Art, wie Kinder eben einen bestimmten Teil eines Vorgangs lieben und einen anderen nicht, hatte er sich die Haare sehr gerne waschen lassen. Ich hatte sie immer zu einem Horn geformt und ihm das Ergebnis dann in meinem kleinen Spiegel gezeigt. Darüber hatte er immer lachen müssen. Als ich Aithnes Haare ausspülte, fiel mir auf, wie dick und seidig sie sich an meine Finger schmiegten. Wie lange war es her, seit ich einen Mann so berührt hatte? Fast zwanzig Jahre. Olin war der letzte Mann, den ich auch nur ansatzweise anziehend gefunden
hatte, aber wir waren uns niemals nähergekommen. Eine Woge der Einsamkeit überschwemmte mich wie eine körperliche Kraft. Ich hatte mich schon so an meine Isolation gewöhnt, daß ich vergessen hatte, wie sich eine Berührung anfühlte. Doch das war Aithne. Und er gehörte zu Sidra. Aber früher hatte er zu mir gehört. Es entsetzte mich, daß ich solche Gedanken hatte. Hatte ich diesem Mann und seiner Frau nicht das Kostbarste überhaupt geraubt? Und jetzt, wo er allen Trost brauchte, den ich aufbringen konnte, überlegte ich mir, wie es wohl war, seine Haut zu berühren. Seine Lippen zu küssen. Ihn zu streicheln, bis wir vor Verlangen halb wahnsinnig waren. Bis wir alles und jeden außer uns vergaßen. »Sidra hat das auch immer gemacht«, sagte er. »Sie hat mir immer die Haare gewaschen.« Ich schloß die Augen, da plötzlich Tränen in ihnen brannten. War meine Dummheit grenzenlos? »Ich habe etwas zu essen in deiner Speisekammer gefunden«, sagte ich. »Es sieht so aus, als hättest du mehr Zeit mit Trinken als mit Essen verbracht.« Er zuckte die Achseln. »Ist das nicht völlig egal?« Ich knuffte seine Schulter. »Mir ist es nicht egal«, sagte ich. Ich wurde langsam ein wenig wütend auf ihn. Nein, ich war wütend auf mich. Hätte er auch gehungert und zuviel getrunken, wenn ich gestorben wäre? Diese Eitelkeit. Diese Eigensucht. Ich fuhr herum und verließ das Zimmer. Es war zuviel für mich. Die Einsamkeit. Das Verlangen. Das Schuldgefühl. Die Traurigkeit.
Als Aithne schließlich wieder ins Wohnzimmer kam, schnitt ich gerade das Brot in Scheiben und legte sie auf ein paar saubere Servietten, die ich gefunden hatte. Er war in eine schwere Seidenrobe gehüllt, die ihm zweifellos besser gepaßt hatte, bevor er so mager geworden war. Unsere Mahlzeit verlief schweigend, da jeder von uns seinen Gedanken nachhing. Aithnes waren zweifellos mit Sidra beschäftigt. Meine drehten sich um die Launen der Zeit und des Schicksals. Als wir fertig waren, stand Aithne auf und ging um den Tisch herum zu mir. Er nahm meine Hände in seine und hauchte einen Kuß auf die Fingerspitzen. »Vielen Dank«, sagte er leise. »Ich verdiene deine Freundlichkeit nicht.« Ich entriß ihm meine Hände, da die bloße Berührung seiner Lippen reichte, um mein Blut in Wallung zu bringen. »Hör auf damit«, schnauzte ich. »Mach nicht soviel Aufhebens deswegen. Jeder andere hätte dasselbe getan.« »Nein«, sagte er, wobei er mich ernst ansah. »Das stimmt nicht, und das weißt du auch.« Einen Moment lang glaubte ich, er würde meine Wange berühren, doch er wandte sich ab. »Ich zeige dir, wo du schlafen kannst«, sagte er. Ich erhob mich und folgte ihm, wobei ich mich verzweifelt darum bemühte, mich nicht albernen Wunschträumen hinzugeben.
Aithne führte mich nach oben in einen mittelgroßen Raum. Das Haus schien unendlich viele Ebenen mit einem oder höchstens zwei Zimmern zu haben. Wie der Rest des Hauses war auch dieses Zimmer verwahrlost. Das schlimmste war der Staub, aber dem ließ sich problemlos abhelfen. »Wir sehen uns morgen«, sagte er. »Schlaf gut«, sagte ich. Er bedachte mich mit einem traurigen Lächeln, bei dem sich mein Herz zusammenkrampfte. Ich wartete an der Tür, während er die Treppe hinunterging. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie er sich die Robe auszog und sich nackt auf das zerwühlte Bett legte. Die grausamen Dornen, die seine Haut durchbohrten, und das stete Tropfen des Blutes. Wie mochte es wohl sein, jede kleine Wunde zu küssen, bis die Schmerzen von etwas anderem verdrängt wurden? Doch solche Gedanken führten zu nichts und waren darüber hinaus selbstzerstörerisch. Hatte ich nicht schon genug Kummer? Da sah ich Hebhels Gesicht vor mir wie einen Rauchschleier am Himmel. Einen Moment lang waren seine Züge verschwommen. Als verlöre ich ihn noch einmal, nur diesmal in meinem Gedächtnis. Ich schüttelte den Staub aus dem Bettzeug und öffnete das Fenster, um die Abendluft hereinzulassen. Der Wald glühte im Schein winziger Licht-
punkte. Ich sah ihnen lange Zeit zu, bevor ich müde genug war, um schlafen zu gehen. Mitten in der Nacht erwachte ich. Einen Augenblick lang wußte ich nicht mehr, wo ich war. Verwirrt und benommen schüttelte ich den Kopf, um ihn zu klären. Ich streckte die Hand aus und ließ ein Licht erscheinen. Ich hörte ein Keuchen aus einer Ecke des Zimmers und sprang auf, um mich zu verteidigen. »Aina«, sagte Aithne. »Ich bin’s.« »Verdammt noch mal, Aithne. Ich hätte dich beinahe umgebracht.« Ich war wütend und verlegen. Er hatte mich überrascht. Hatte ich im Schlaf auf das Kissen gesabbert? War mein Gesicht zerknautscht? Alberne Eitelkeiten eben. »Was tust du hier oben?« fragte ich. »Du solltest schlafen.« »Ich kann nicht schlafen«, erwiderte er. »Seit Sidras Tod schlafe ich nicht mehr sehr gut.« »Wie wäre es mit einem Schlaftrunk?« fragte ich. »Ich könnte dir einen machen.« »Nein. Ich will keinen. Sie betäuben Gefühle. Und davon habe ich ohnehin nicht mehr viele.« »Ist es das, was dir Sorgen bereitet?« fragte ich. »Ich weiß von keinem anderen Blutelf, dem jemand anderer so viel bedeutete wie Sidra dir.« Er senkte den Kopf und sah zu Boden. »Was ist?« fragte ich. »Das ist es ja«, sagte er. »Ich empfinde nicht, was ich empfinden sollte. Ich weiß, daß ich leide und
traurig bin. Aber es ist alles wie betäubt und eingesperrt -als sei das alles einem anderen zugestoßen. Und das nagt an mir. Wenn ich sie stärker geliebt hätte, wäre sie nicht gestorben. Und jetzt kann ich nicht einmal richtig um sie trauern.« »Deinem Aussehen nach zu urteilen«, sagte ich, »trauerst du ganz hervorragend. Sidra hätte bestimmt nicht gewollt, daß du verhungerst.« »Aber das gehört mit zum Problem«, sagte er. »Was Sidra betrifft, weiß ich nichts mit Sicherheit, weil sie tot ist und nichts mehr sagen kann. Wie kann ich sieher sein, daß sie aus eigenem Antrieb bei mir geblieben ist? Du weißt ebensogut wie ich, welche Wirkung Blutelfen auf Menschen ausüben können.« »Wirklich, Aithne«, sagte ich. »Sidra ist aus eigenem Willen zu dir gekommen. Keiner kann die Gefühle anderer kontrollieren. So sind Gefühle nun mal. Du hast sie nicht gezwungen, dich zu lieben. Genauso wenig wie sie dich gezwungen hat, sie zu lieben. Was ihr beide daraus gemacht habt, ist eine ganz andere Sache. Und das, mein Freund, wolltet ihr beide.« »Ich vermisse sie«, sagte er leise. »Ich vermisse es, ihren Atem neben mir zu hören. Ich vermisse es, sie vor dem Einschlafen in den Armen zu halten. Ich vermisse sie morgens neben mir, wenn ich aufwache.« »Würde es helfen, wenn ich heute nacht bei dir schliefe?« fragte ich. »Ich kann Sidra nicht ersetzen, aber vielleicht hilft es dir beim Einschlafen.«
»Das würdest du tun?« fragte er. Ach, wie wenig er doch wußte, was ich alles für ihn tun würde. »Komm«, sagte ich. Wir legten uns auf das kleine Bett, und ich hielt ihn, bis er einschlief. Die Dornen bemerkte ich kaum. Rasch fanden wir in einen Alltag. Bisher hatte mir an Häuslichem nie viel gelegen. Erst in den letzten fünfzehn Jahren hatte ich meine Wanderschaft aufgegeben. Seitdem ich Ysrthgrathe aus meinem Leben verjagt hatte. Tagsüber bemutterte ich Aithne, indem ich dafür sorgte, daß er aß und ihn bei Laune hielt, so daß er nicht trank. Nachts umarmte ich ihn, bis er eingeschlafen war, und lauschte dann den Alpträumen, die er immer noch hatte. Mit jedem Tag wurde er kräftiger. Das machte mich traurig, weil ich wußte, daß die Zeit kam, da ich ihn verlassen mußte. Bald würde ich es ihm sagen. Eines Abends, etwa einen Monat nach meiner Ankunft, hatte ich gerade gebadet. Meine Haare waren naß und fielen mir in langen Locken auf den Rücken. Ich hatte Aithnes Robe umgelegt, da ich nicht wieder meine schmutzige Kleidung anziehen wollte. Wir begegneten uns im Flur vor dem Bad. »Stiehlst du dich wieder in meinen Sachen fort?« fragte er scherzhaft.
»Ja«, lachte ich, indem ich den Saum der Robe hob wie bei einem Rock. »Das ist der letzte Schrei. Männerroben zu tragen, die zu lang sind. Ich hörte, Alachia hat damit angefangen.« Er streckte die Hand aus und glättete den Kragen. Seine Finger berührten meinen Hals und verweilten dort. Ich schluckte, mein Mund wurde plötzlich trocken. Es war sehr eng in dem schmalen Flur. Wir waren höchstens zwei Handbreit auseinander. Sein Duft stieg mir in die Nase: Sandelholz und Regen. Er ließ mich schwindeln. Ich wollte, daß er mich berührte. Seine Finger glitten an meinem Hals entlang, dann strichen sie über mein Kinn. Ich senkte den Kopf und küßte seine Finger. Dann nahm ich einen in den Mund und sog daran. Sanft. Er seufzte. Ich ließ die Kleider fallen, die ich in der Hand hielt. Er entzog mir den Finger und ersetzte ihn durch seine Lippen. Ich hatte ihn seit unserer Kindheit nicht mehr geküßt – zum letztenmal vor über fünfhundert Jahren. Es brachte mein Blut genauso in Wallung wie damals. Es war neu. Erregend. Eine Offenbarung. Er zog mich näher, aber nicht so nah, daß sich unsere Körper berührt hätten. Dann öffneten seine Hände die Robe und strichen über meinen Körper. Ich wollte mich vor ihm verstecken, da ich sicher war, meine Narben würden ihn abstoßen. Doch als ich die Robe wieder um mich schließen wollte, hielt er meine Hände fest. Bald erforschten mich seine Hände und Lippen, und ich vergaß meine Narben und meinen Kummer
wegen Hebhel und mein Schuldgefühl und gab mich meinen Empfindungen hin. Und als wir uns vereinigten, keuchte ich und flüsterte seinen Namen, und ich hörte ihn sagen, »Sidra«. Wir redeten nicht über das, was zwischen uns vorging. Tagsüber machten wir so weiter wie bisher, aber nachts hielt ich ihn nicht mehr, bis er schlief, sondern wir liebten uns. Allmählich wurde mir klar, was für einen Fehler wir begingen. Die Liebe, die ich für ihn empfand, war ein Überbleibsel aus der Kindheit – die Phantasievorstellung von einem absoluten Glücksgefühl. Nun, da sie der harschen Realität ausgesetzt war und mit einer Toten wetteiferte, wurde sie in ein anderes Verhältnis zurechtgerückt. Ich liebte ihn noch, doch diese Liebe wurde durch die Erkenntnis getrübt, daß wir nicht zueinander paßten. Unser beiderseitiger Kummer und die Einsamkeit waren schuld daran, daß wir uns aneinander geklammert hatten. Doch ich konnte nicht aufhören. Es war mir gleichgültig. Es reichte mir, die wenige Freude zu nehmen, die ich bekommen konnte. So verarmt war ich mittlerweile seelisch und körperlich. Und ich glaube, wir hätten so weitermachen können, bis wir beide darüber hinweg gewesen wären. Doch es kam etwas dazwischen: Ich entdeckte, daß ich ein Kind bekam.
Ach, Vistrosh, wenn du jetzt dein Gesicht sehen könntest. Überrascht? Siehst du, man sollte sich Geschichten immer zu Ende anhören. Wo war ich? Ach ja, ich würde also ein Kind bekommen. Aithnes Kind. Das Schicksal ist schon launisch, nicht wahr? Daß ich dieses Geschenk bekommen sollte. Diesen Schatz. Nach all den Untaten, die ich auf mich geladen hatte. Es reichte, um mich an der Existenz der Passionen zweifeln zu lassen. Denn sie mußten doch sehen, was für eine entsetzliche Ungerechtigkeit das war. Nun, wo ich hatte, was ich immer wollte, erkannte ich, daß es überhaupt nicht richtig war. Und wenn ich es Aithne sagte, bestand die Möglichkeit, daß das Kind und ich im Blutwald festsitzen würden. Aber ich hatte ihm bereits genug Schaden zugefügt. Ich schuldete ihm jetzt die Wahrheit. »Aithne«, sagte ich. Wir lagen zusammen in meinem Zimmer. Dort verbrachten wir mittlerweile unsere Abende. Seit ich hier war, hatte ich nur sein und Sidras Zimmer zu sehen bekommen. »Ja«, sagte er. Er küßte meinen Nacken, während seine Hände über meinen Bauch strichen. Die Dornen stachen, und plötzlich ärgerte mich das. »Hör auf«, sagte ich, indem ich ihn wegschob.
»Ich muß dir etwas sagen.« Mit einem Seufzer der Enttäuschung wälzte er sich auf den Rücken. Ich hätte ihn am liebsten geohrfeigt. »Du sollst wissen, daß ich nichts von dir erwarte«, sagte ich. Er betrachtete mich mit einem Ausdruck völliger Verblüffung. »Aber, nun, weißt du… Was ich meine, ist… Ich… das heißt… ach, verdammt, ich bekomme ein Kind.« Er sagte gar nichts. Ich hielt meinen Körper starr und gab mir alle Mühe, nicht mit seinem in Berührung zu kommen. Und die ganze Zeit starb ich innerlich ein wenig, während ich darauf wartete, daß er etwas sagte. Irgend etwas. Glaubte er, daß ich ihn einzufangen versuchte? Wollte er das Kind für sich? Mußte ich für mich tun, was ich für Sidra getan hatte? Konnte ich das überhaupt? Nein, plötzlich wußte ich, daß ich es nicht konnte, nicht mit Aithnes Kind. Nicht nach Hebhel. »Ich hätte nie damit gerechnet«, sagte er schließlich. »Ich auch nicht«, sagte ich. »Ich habe immer so aufgepaßt.« »Was soll ich tun?« fragte er. Du sollst reagieren, dachte ich. Ich will wissen, ob es dir etwas bedeutet. Ob dir die Vorstellung verhaßt ist. Ob du mich haßt, weil ich dich in diese Situation gebracht habe. Dann wurde ich wütend. Schließlich war ich nicht allein für die Situation verantwortlich. »Ich verlange nicht von dir, daß du mein Mann wirst«, sagte ich. »Ich will nur wissen, ob ich hier
bleiben soll und du am Leben des Kindes teilhaben willst.« »Nun, ich glaube, mir sollte doch mehr zustehen, als nur am Leben des Kindes teilzuhaben. Was ist, wenn ich euch beide will?« Vielleicht lachten mich die Passionen in diesem Augenblick gerade aus. Der Wunsch träum, der mich den größten Teil meines Lebens begleitet hatte, wurde endlich wahr. Und ich erkannte, daß ich gar keinen Wert mehr darauf legte. Dann sah ich ihn an. Seine Miene war grimmig und entschlossen. Und mir wurde klar, daß er dasselbe empfand. Eigentlich wollte er weder mich noch das Kind. Wir lagen da und schwiegen lange Zeit. Draußen wurde es allmählich hell, und das grünlich-gelbe Licht, das so typisch für den Blutwald war, sickerte langsam in das Zimmer. Und ein neuer Tag war angebrochen. Den Rest des Tages gingen wir uns aus dem Weg. Die Spannung zwischen uns war greifbar und krampfte meinen Magen zusammen, wenn ich daran dachte. Früh am Abend ging Aithne aus. Ich wußte nicht, wann ich ihn zurückerwarten sollte, und so beschäftigte ich mich mit Belanglosigkeiten, während ich gleichzeitig versuchte, nicht über die Situation nachzudenken. Es gelang nicht. Ich grübelte so lange, bis ich das Gefühl hatte, nur noch aus Gedanken und Besorgnissen zu bestehen. Als ich es nicht mehr ertragen konnte, ging ich nach draußen und lief ein wenig herum.
Ich war zwar schon seit über drei Monaten im Blutwald, aber Aithne und ich hatten uns nur selten weit von diesem Haus entfernt. Auf meinem Spaziergang bemerkte ich, daß man mir mit einiger Neugier begegnete. Man war zu höflich, um mich anzustarren, aber hier und da registrierte ich doch verstohlene Blicke. Hatte die ganze Zeit die Gerüchteküche gebrodelt, während wir sorglos miteinander herumgeturtelt hatten? Zweifellos. Ich beachtete mich nicht und schritt zügig aus. Es fühlte sich gut an, draußen und in Bewegung zu sein. Ich war so lange mit Aithne und seiner Traurigkeit eingesperrt gewesen, daß ich fast vergessen hatte, wie frische Luft schmeckt. Die Sonne ging unter, und die Dämmerung war schon vorbei, bevor ich mich entschloß, wieder zu Aithnes Haus zurückzukehren. Mittlerweile war es Nacht. Die winzigen Lichter, die ich in meiner ersten Nacht hier gesehen hatte, wurden angezündet. Ich sah Windlinge von Baum zu Baum fliegen, die sich darum kümmerten. In Aithnes Haus brannte Licht, als ich zurückkehrte. Besser, ihm jetzt gegenüberzutreten, als es auf die lange Bank zu schieben, dachte ich. Ich öffnete die Tür. Aithne saß neben dem Herd, doch was mich überraschte, war sein Gast – Alachia. »Wo bist du gewesen?« fragte er. »Spazieren«, sagte ich. Ich warf einen Blick auf Alachia, die mich mit solchem Haß ansah, daß ich fast einen Schritt zurückgewichen wäre.
»Ich habe Alachia von… gewissen Dingen erzählt«, sagte er. Das mußte er wohl, dachte ich. Aber es machte mich trotzdem wütend. Sie hätte es noch früh genug erfahren. Was gingen sie unsere Entscheidungen an? »Warum ist sie hier?« fragte ich. »Weil dies auch mich betrifft«, sagte sie. »Aithne weiß, wann man seinen Respekt erweisen muß, auch wenn du das nicht weißt.« Ich ignorierte sie. »Hast du eine Entscheidung getroffen?« fragte ich. »Ja«, sagte er. »Ich will, daß ihr beide, du und das Kind, bei mir bleibt.« »Und wenn ich das nicht will?« »Es wäre für dich und das Kind das beste.« »Woher willst du wissen, was das Beste für mich ist?« Ich wußte, ich war schwierig, aber Alachias Anwesenheit brachte mich auf. »Hier ist es sicherer. Ich kann dich beschützen«, sagte Aithne. Ich zeigte auf Alachia. »Kannst du mich auch vor ihr beschützen?« »Du weißt, daß ich nichts gegen dich unternehmen kann«, sagte Alachia mit zuckersüßer Stimme. »Nein, aber Ihr habt mit Sicherheit etwas in Gang gesetzt, das nicht sehr gesund für mich war.« »Bist du nicht ein wenig zu mißtrauisch?« Ich wandte mich von ihr ab. »Aithne«, sagte ich. »Siehst du denn nicht, wie es
sich entwickeln würde? Vielleicht wäre es das Beste, wenn ich ginge.« »So einfach ist das nicht«, sagte er. »Es geht nicht nur um dich und mich. Es geht darum, was wir sind.« »Und was sind wir?« »Unsterblich.« »Was hat das damit zu tun?« »Alachia sagt, daß Unsterbliche nur ganz selten ein Kind miteinander zeugen.« »Und?« »Es läßt sich nicht vorhersagen, wie das Kind sein wird«, warf Alachia ein. »Es könnte besondere Fähigkeiten haben. Es könnte normal sein. Man weiß es nicht. Hier bei uns wäre es sicherer.« »Ich könnte das Kind immer mit nach Norden nehmen und dort mit ihm leben. Es gibt noch andere Elfen auf der Welt.« »Was ist mit den Dämonen?« fragte Aithne. »Hast du den Dämon vergessen, der dich mit seinem Mal gekennzeichnet hat? Er würde es nicht wagen, hierher zu kommen, aber außerhalb des Blutwalds – ihr wäret viel zu verwundbar, du und das Kind.« »Ich bin selbst nicht ganz machtlos«, sagte ich schnippisch. »Ich habe ihn einmal besiegt und kann es wieder.« »Kinder können so schnell sterben«, sagte Alachia. Ich spürte, wie alles Blut aus meinem Gesicht wich, und war dankbar, daß meine Haut von Natur aus dunkel war. Hatte sie irgendwie von Hebhel er-
fahren? Eine eisige Faust schloß sich um mein Herz. Ich zwang mich, in ihre Augen zu sehen, um festzustellen, was hinter ihrer Bemerkung steckte, doch zu meiner Erleichterung sah sie nur Aithne an, um sich dessen Reaktion nicht entgehen zu lassen. Ihre Bemerkung hatte ihn offenbar getroffen. Und ich konnte sie nicht entkräften. Und da wußte ich, daß sie mich so lange bearbeiten würden, bis ich mich bereit erklärte, im Blutwald zu bleiben. Rasch fand ich heraus, daß ich im Blutwald keine echten Verbündeten hatte. Alachia spielte die verschiedenen Seiten gegeneinander aus, indem sie sich aller erlaubten und unerlaubten Tricks und Kunstgriffe bediente. Im Laufe meiner Schwangerschaft nahm Aithne immer mehr an den Hofangelegenheiten teil. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, daß ich dankbar dafür war – die Spannung zwischen uns wuchs von Tag zu Tag. Nach allem, was wir zusammen erlebt hatten, lief es auf Folgendes hinaus: Er war ein Blutelf und ich nicht. Ich konnte seinen Stolz auf die Entstellung und die Schmerzen nicht begreifen. Das alles kam mir schrecklich öde vor. Irgend etwas war hohl an der Schönheit der Blutelfen. In allem, was sie anfaßten oder taten, war ein Mangel. Eine Leere. Doch inmitten dieses Tumults gab es einen Lichtblick. Ich gewann einen Freund. Sieh mich doch nicht so an, Vistrosh. Es ist mög-
lich, weißt du? Nicht jeder hat soviel Angst vor mir wie du. Natürlich bist du ihm im Verlauf dieser Geschichte bereits begegnet. Ja, genau, ich meine den jungen Besucher im Blutwald, der für mich am Tag meiner Ankunft Bälle jongliert hatte: Caimbeul. Vielleicht hing es damit zusammen, daß wir die einzigen nicht verderbten Elfen im Umfeld des Hofes waren. Oder vielleicht hatten wir auch nur dieselben Aussichten. Manchmal ist es ziemlich schleierhaft, was einem an jemandem gefällt. Und ich hatte den Verdacht, daß Caimbeul niemandes Narr war. Am allerwenigsten Alachias. Und das an sich war schon ansprechend genug. Und so wurden wir Freunde, Caimbeul und ich, und das sollte neue Probleme aufwerfen. Wie das immer so ist. Und jetzt bin ich müde, Vistrosh. Ich erzähle meine Geschichte morgen weiter.
Ich ließ Aina in dem Glauben, daß sie die Bedingungen ihrer Gefangenschaft diktierte. Was für eine erbärmliche Kreatur sie war. Und so unverschämt. Glaubte sie wirklich, daß ich mich vor ihr fürchtete? Ich, Vistrosh, die Geißel Kratas’, sollte mich vor einer Sklavin fürchten? Auch wenn sie mächtig und heimtückisch war. Trotzdem war ich tief beleidigt, daß sie so wenig von mir hielt. Ich verließ sie und kehrte in mein Zimmer zurück. Der Gedanke daran, mir einen Sklaven zu meinem Vergnügen kommen zu lassen, blieb an diesem Abend aus irgendeinem Grunde ziemlich blaß. Ich sah nur meinen geliebten Aithne, wie er zwischen zwei solchen Frauen gefangen war. Alachia, diesem Miststück von einer Königin, und Aina der Geisterbeschwörerin. Welch furchtbare Wahl. Andererseits war dies eine Suppe, die er sich selbst eingebrockt hatte. Nicht, daß es ihm an anderen Angeboten gefehlt hätte. Meinem eigenen eingeschlossen. Trotzdem dachte ich über die Geschichte nach. Ein Kind von Aithne. Würde es ihm ähnlich sehen? Seines Vaters Anmut und Haltung haben? Und plötzlich war ich eifersüchtig. Ein Kind war etwas, das ich vielleicht wollte, aber weder anbieten noch für mich selbst haben konnte. Und das machte mich wütend. Warum eigentlich nicht? War ich so schändlich, daß ich auf diese Weise bestraft werden sollte? Nämlich
keinen Erben zu hinterlassen? Ich fühlte mich betrogen und betrübt. Denn ich hatte mich schon vor langer Zeit damit abgefunden, mich nicht nach Dingen zu sehnen, die außerhalb meiner Reichweite lagen. Und dann ihr Gefasel von Unsterblichkeit – zu phantastisch, um es sich auch nur vorzustellen. Doch ein Teil von mir glaubte es. Es erklärte so vieles. Alachias Wissen, Ainas und Aithnes stetig wachsende Macht. Wieder etwas, um das ich betrogen wurde. Ich haßte diese Gefühle. Und Aina rührte all das wieder auf. Ich lag in meiner Hängematte und fragte mich, wie die Geschichte wohl enden würde. Mir war klar, daß ich sie töten und die Sache damit ein für allemal erledigen wollte, aber meine Neugier behielt die Oberhand. Ja, ja, die Bürde der Macht. Schließlich fielen mir die Augen zu, und ich konnte endlich schlafen. Aber meine Träume waren mit finsteren Bildern und dunklen Vorzeichen überladen. Am nächsten Abend kehrte ich zu ihr zurück. Wieder war die Tür nur angelehnt, und sie erwartete mich am Feuer. Doch heute wirkte sie abgespannter als zuvor, als quäle sie ein stilles Leid. »Geht es dir heute nicht so gut?« fragte ich. Sie sah mich mit ihren bodenlosen Augen an. Ich fragte mich, was Aithne an ihr anziehend gefunden haben konnte, und verspürte wieder einen Stich der Eifersucht.
»Es geht mir gut genug«, sagte sie. »Aber ich glaube kaum, daß das deine Hauptsorge ist. Oder?« »Nein«, gab ich zu. Ihre Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln, und in diesem Augenblick konnte ich ihre Anziehungskraft beinahe sehen. Beinahe. »Dann will ich dich nicht warten lassen«, sagte sie.
Wo war ich? Ach ja… ich versuchte mich aus der Hofpolitik herauszuhalten. Anders als Hebhel war das kommende Kind eine echte Last. Mir war oft übel, und mein ständig zunehmender Körperumfang war mehr als nur lästig. Glücklicherweise hatte ich Caimbeul, der mich bei Laune hielt. Er erzählte mir Hofklatsch, den ich interessant fand, obwohl ich das niemals zugegeben hätte. Schon als Kind hatten mir Spiele gefallen, die politisches Taktieren beinhalteten. Ich zog es vor, zu warten und zu beobachten. Alachia verhielt sich in gewisser Weise albern. Sie kannte mich nicht gut genug, um zu verstehen, daß ich kein Interesse an ihren Machenschaften hatte und auch nie haben würde. Alle ihre Bemühungen in bezug auf mich waren Zeitverschwendung, aber das hätte ich ihr niemals gesagt. Sollte sie ruhig glauben, ich sei von Nutzen oder eine Bedrohung. Das war jedenfalls besser, als wenn sie wußte, daß ich überhaupt kein Interesse an all dem hatte. Das wäre mir nicht gut bekommen. Natürlich war Aithne mitten im dicksten Getümmel. Ich glaube, er versuchte sich vor Alachia reinzuwaschen. Schließlich waren seine Sünden schlimmer als meine. Meine Anwesenheit war für Alachia ein Schlag ins Gesicht. Sidra und ich hatten seinen Wert am Hof besonders fallen lassen. Und jetzt muß-
te er auch noch an ein Kind denken. Seine Zukunft sichern. Also hörte ich mir Caimbeuls Klatsch und Aithnes gestelztere Geschichten an und blieb für mich. Ich kam mir vor wie eine Zuchtstute. Es erinnerte mich allzu sehr an meine Zeit in Himmelsspitze. Schließlich war es so weit. Das Kind war ungeduldig und wollte mich zu früh verlassen. Eines Nachmittags, als Aithne Alachia besuchte, setzten die Wehen ein. Ich weiß noch, daß es ein heißer Tag war. Wir hatten Hochsommer, und selbst im Blutwald unter dem dichten Dach aus Blättern und Ranken war es unangenehm schwül. Zuerst glaubte ich, die Phantomschmerzen zu haben, die manche Frauen erleiden. Hebhel war schnell und unter starken, aber erträglichen Schmerzen gekommen. Dieses Kind hatte andere Pläne. Zuerst war es nur ein tiefsitzender Schmerz im Rücken. Allmählich verlagerte sich der Schmerz in meinen Unterleib und wurde durchdringend und stetig. Ich glaubte, das Kind würde schnell kommen wie Hebhel, aber statt dessen wurden die Schmerzen immer schlimmer. Kurz darauf war ich in Schweiß gebadet und keuchte bei jeder neuen Wehe. Ich nehme an, es hört sich seltsam an, aber ich wollte Aithne nicht rufen. Ich hatte mich in die lächerliche Vorstellung verrannt, daß ich ihn nicht stören dürfe, während er bei Alachia war. Daß es zuviel
Aufmerksamkeit auf mich ziehen würde, wo er doch gerade wieder ihre Gunst gewann. Ich wußte, wie wichtig das für ihn war, also blieb ich im Haus und traf meine Vorbereitungen. Und ich wußte noch etwas anderes: Wenn es zu unangenehm wurde, konnte ich immer noch den theranischen Zauber anwenden, den ich in Himmelsspitze gelernt hatte. Andererseits verabscheute ich schon den bloßen Gedanken daran. Tief in mir wußte ich, daß die Anwendung solcher Zauber gefährlich war. Daß es mir zu leicht fallen mochte, sie anzuwenden. Ich fürchtete mich davor, was dann aus mir werden würde. Also ging ich langsam durch die Zimmer auf meiner Ebene des Hauses. Hin und wieder lehnte ich mich gegen eine Wand, wenn eine Schmerzwelle über mich hereinbrach. Das Kind hatte sich gesenkt und fühlte sich groß und schwer an. Mein Rücken schmerzte unerträglich. Ich widerstand dem Drang zu pressen, da ich wußte, daß alles nur noch schlimmer würde, wenn ich so früh damit begann. Aber es schien weder besser noch schlechter zu werden. Da waren nur die endlosen Wehen. Ich wurde immer gereizter und schließlich wütend und fing an, leise vor mich hin zu fluchen. Ich verfluchte Aithne, weil er mich in diese Lage gebracht hatte. Ich verfluchte mich selbst wegen meiner Dummheit. Ich verfluchte Sidra, weil sie gestorben war und damit alles erst ausgelöst hatte. Und ich verfluchte Alachia, weil sie es verdient hatte.
Schließlich konnte ich die Schmerzen nicht mehr ertragen, und plötzlich überfiel mich eine neue Furcht. Vielleicht hingen die Probleme mit der Verderbtheit zusammen. Ich wußte, daß Kinder von verderbten Elfen ihre Dornen erst nach der Geburt entwickelten. Aber dieses Kind war anders. Vielleicht hatte es die Dornen bereits. Da begann ich zu zittern, und die Angst war wie ein Dämon, von dem ich besessen war. Ich sank zu Boden, und dort blieb ich keuchend und stöhnend liegen. Etwas später fand mich Caimbeul. Ich hörte seine Stimme unten im Erdgeschoß. »Hier bin ich«, wollte ich sagen, brachte jedoch nur ein heiseres Stöhnen heraus. »Aina?« rief er. »Ich bin hier oben«, gelang es mir schließlich zu krächzen. »Was machst du…« Er erschien in der Tür und stieß einen Ausruf der Bestürzung aus, als er mich sah. Er hob mich auf und trug mich zum Bett. »Du bist eine Närrin«, sagte er. »Wo ist Aithne? Warum bist du ganz allein?« »Ich wollte ihn nicht rufen«, sagte ich. »Er ist bei Alachia.« »Ich habe dich für alles mögliche gehalten, Aina. Aber nie für eine Närrin, niemals. Bis heute. Was hat das damit zu tun?« »Du kennst die Situation.« Er verschwand für einen Augenblick und kehrte mit einem Tuch und einer Schüssel Wasser zurück.
Dann wusch er mir Gesicht und Arme. Es fühlte sich wunderbar kalt an. Der erste Augenblick der Erleichterung seit mehreren Stunden. Ich war schrecklich durstig, und er brachte mir Wasser. »Was wolltest du tun? Das Kind ganz alleine bekommen?« Ich sah weg. »Tatsächlich! Bei allen Passionen, ich sollte dich hier allein lassen, das würde dir recht geschehen.« Mir kamen die Tränen, und ich schluckte krampfhaft, um sie zu unterdrücken. »Weine nicht«, sagte er. »Ich lasse dich schon nicht allein.« »Ich weine nicht«, sagte ich – oder wollte ich sagen, bevor die nächste Wehe kam. Dann folgte Wehe auf Wehe, immer schneller. Mein Rücken fühlte sich an, als sei er in einen Schraubstock gespannt. Es gab nur noch mich und die Schmerzen und Caimbeuls leise, ermutigende Stimme. Ich weiß, daß ich seine Hände so fest umklammerte, daß die Spuren der Quetschungen noch lange danach zu sehen waren. Und schließlich gebar ich das Baby. Die Erschöpfung überwältigte mich, und kurz bevor ich in die willkommene Dunkelheit glitt, hörte ich Caimbeul sagen: »Es ist ein Mädchen.« Einige Zeit später öffnete ich die Augen. Draußen war es dunkel und wesentlich kühler. Eine wunderbare Brise streichelte mich und weckte mich vollends. Das Baby, dachte ich, Wo ist mein Baby? Ich richtete mich auf, schlug das Laken zurück
und stellte die Füße auf den Boden. Ich versuchte aufzustehen, aber ich war zu schwach, und meine Beine zitterten so stark, daß ich mich wieder setzen mußte. Da kamen mir die Tränen. Zu was war ich gut, wenn ich nicht einmal mehr aus eigener Kraft stehen konnte? »Was soll denn das?« Ich sah auf. Caimbeul stand in der Tür. In den Armen hielt er ein kleines Bündel. Mein Baby. Ich öffnete die Arme, und er brachte es zu mir und legte es sanft ab. Ich zog das Tuch zurück, um das Gesicht zu betrachten. Es war wunderschön. Obwohl seine Züge von der schweren Geburt ein wenig zerknautscht waren. Für mich war es wunderschön. Die Haut war bernsteinfarben, und als es die Augen öffnete und mich ansah, stellte ich fest, daß sie dieselbe Farbe hatten wie meine. Der Kopf war mit feinem, dunklem Flaum bedeckt. Ich streichelte ihn und wunderte mich über seine seidige Weichheit. »Sie ist wunderschön«, sagte ich. Caimbeul sah in ihr Gesicht. »Das stimmt wohl«, sagte er. »Aber du bist voreingenommen. Schließlich ist sie deine Tochter.« Meine Tochter. Wie gut sich das anhörte. Ihre Haut war glatt und nicht von Dornen entstellt. Meine Sorgen waren unbegründet gewesen. »Weiß Aithne es schon?« fragte ich. »Nein. Ich wollte warten, bis du wach bist und auf sie aufpassen kannst.«
Ich legte sie mir in die Armbeuge und nahm seine Hand. »Du hast mich gerettet«, sagte ich. »Vielen Dank.« Er errötete. »Du hättest es auch ohne Hilfe geschafft. Ich habe nur getan, was ein anderer in derselben Situation auch getan hätte.« »Aber es war kein anderer da«, sagte ich. »Weißt du schon, welchen Namen du ihr geben willst?« »Noch nicht. Aithne und ich haben noch nicht darüber geredet. In letzter Zeit haben wir über kaum etwas geredet.« Caimbeul erwiderte nichts auf diese Bemerkung. Und so schwiegen wir beide und sahen dem Baby dabei zu, wie es schlief. Aithne kehrte in den frühen Morgenstunden zurück. Caimbeul war längst gegangen, nachdem er versprochen hatte, am nächsten Tag wiederzukommen. Ich nickte mehrmals ein, um immer wieder beim leisesten Geräusch des Babys aufzuwachen. Als ich ihn die Treppe heraufkommen hörte, rief ich ihn leise. »Was ist denn, Aina?« sagte er gereizt. »Ich bin müde.« Er betrat mein Zimmer. Das Baby lag in meinen Armen. »Ich dachte, du willst vielleicht deine Tochter sehen«, sagte ich. Welch ein Schock. Was hatte er denn gedacht? Daß ich vielleicht niemals niederkam? Daß dieser
Tag nie kam? »Warum hast du mich nicht benachrichtigen lassen?« fragte er. Er hatte das Zimmer immer noch nicht betreten. »Ich wollte dich nicht stören. Ich wußte, daß du bei Alachia bist. Bisher ist alles bestens für dich gelaufen. Ich dachte, das würde sich vielleicht nicht allzugut auswirken.« »Sie weiß, was los ist.« »Es ist eine Sache, etwas zu wissen, und eine andere, mit der Nase darauf gestoßen zu werden. Außerdem glaubte ich, allein damit fertigzuwerden.« »Wie ich sehe, ist dir das auch gelungen«, sagte er. Ich meinte, einen Anflug von Bitterkeit aus seinem Tonfall herauszuhören, war jedoch nicht sicher. Er war mittlerweile ziemlich bewandert in der Kunst, seine Gefühle zu verbergen. »Nun, ich hatte Hilfe«, sagte ich. »Caimbeul ist vorbeigekommen und hat mich gefunden. Und das war auch gut so.« Darauf erwiderte Aithne nichts. »Du solltest sie dir ansehen«, sagte ich. »Warum kommst du nicht herein? Wir werden dich schon nicht beißen.« Er zögerte, dann trat er über die Schwelle. Ich hielt sie ihm hin, und zögernd, wie im Traum, nahm er sie mir ab. Ich beobachtete sein Gesicht, als er sie zum erstenmal betrachtete. Ich hatte niemanden gehabt, mit dem ich Hebhel hatte teilen können. Meine Freude an ihm war eine einsame Angelegenheit gewesen.
Aber hier konnte ich teilen. Und Aithnes Gesicht war das reine Glück, als er sie ansah. »Sie sieht aus wie du«, sagte er. »Sei nicht albern«, erwiderte ich. »Sie sieht aus wie du.« »Nein«, sagte er. »Die Augen. Sie sind genau wie deine.« »Aber sie hat dein Kinn.« Wir lächelten einander an. »Wie sollen wir sie nennen?« fragte er. »Ich hätte einen Vorschlag, aber wenn er dir nicht gefällt, können wir sie auch anders nennen.« »Heraus damit.« »Lily«, sagte ich. »Lily.« Dann wiederholte er den Namen, als teste er dessen Gefühl im Mund. »Lily. Ja, ich glaube, das paßt zu ihr. Lily Eichenwald.« Dann trat er neben das Bett und hielt sie mir hin. Ich nahm sie ihm aus den Armen und drückte sie an mich. »Lily«, flüsterte ich ihr ins Ohr.
Nach Lilys Geburt besserte sich das Verhältnis zwischen Aithne und mir. Wir teilten zwar nicht mehr das Bett miteinander, aber unser Kind schweißte uns zusammen. In regelmäßigen Abständen bot ich ihm an, sein Haus zu verlassen und woanders im Blutwald zu wohnen, aber er wollte nichts davon hören. Die ersten drei oder vier Monate nach Lilys Geburt waren eine überraschend ruhige Zeit. Sie war ein stilles Kind, das selten schrie und wenig Umstände machte. Was mir Sorgen bereitete. Aber wenn sie dann doch einmal schrie, bereitete mir das auch Sorgen. Ich konnte mich nicht erinnern, wegen Hebhel auch so nervös gewesen zu sein. Vielleicht lag das daran, daß er ein Junge war. Oder vielleicht war ich damals auch zu unwissend gewesen, um mir Sorgen zu machen. Kinder waren selten im Blutwald, und so waren alle ganz versessen auf Lily. Oft kamen Besucher vorbei, nicht um mich oder Aithne zu sehen, sondern um Lily anzufassen und gelegentlich sogar zu halten. Ich achtete sehr genau darauf, wem ich gestattete, sie zu halten. Die Dornen entsetzten mich. Ich rechnete immer damit, daß jemand sie aus Achtlosigkeit stach. Was mich am meisten überraschte, war Aithnes Reaktion auf Lily. Wie ablehnend und unwillig er zuvor auch gewesen war, nachdem er sie zum erstenmal gehalten hatte, lag er ihr zu Füßen. Manch-
mal beobachtete er sie, wenn sie schlief, und dann nahm seine Miene einen ernsten, melancholischen Ausdruck an. Bei diesen Gelegenheiten rührte sich mein Gewissen besonders heftig. Ich trauerte um Hebhel und um die Liebe, die Aithne ihm entgegengebracht hätte. In meinem Egoismus hatte ich meinem Kind seinen Vater und meinem Freund sein Kind genommen. Ich hoffte, daß Lily auf eine bescheidene Weise dazu beitrug, diese Schuld auszugleichen. Ich schwor mir, daß ich sie, komme, was da wolle, beschützen würde. Vor meiner Vergangenheit. Vor meinen Fehlern. Als Lily vier Monate alt war, hatten sich noch immer keine Dornen bei ihr ausgebildet. Wenngleich ich es Aithne gegenüber nicht erwähnte, war ich dankbar dafür. Ich wußte, daß Kinder die Dornen manchmal nicht überlebten. Und ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, daß sie ihre Haut verunstalteten. Die Vorstellung, daß das Leuchten ihrer Augen durch die Schmerzen getrübt wurde, durch das ununterbrochene Leiden, das sie ihr Leben lang begleiten würde. Es machte mich stolz, daß irgend etwas in mir stärker war als die Verderbtheit. Lily wurde sechs Monate alt, und ihre Haut war immer noch glatt wie Seide. Eines Morgens sah ich Aithne, der sich über Lilys Krippe gebeugt hatte und ein finsteres Gesicht schnitt.
»Sieh sie nicht so an«, sagte ich. »Du wirst sie noch zu Tode ängstigen.« Ich versetzte ihm einen spielerischen Rippenstoß, aber er reagierte nicht. Derartige Hänseleien waren uns in letzter Zeit zur zweiten Natur geworden. Als er nicht darauf reagierte, war ich augenblicklich beunruhigt. »Was ist los?« fragte ich. »Sie hat keine Dornen«, sagte er. »Und ich kann keine Anzeichen dafür erkennen, daß sie je welche haben wird.« Ich griff in die Krippe und zog die Decke ordentlich unter Lilys Kinn. »Natürlich hat sie keine Dornen«, sagte ich. »Sie ist auch mein Kind. Und das ist gut so. Weil sie sonst ebenso ständig unter Schmerzen leiden würde wie du.« »Es gibt einen Grund, warum wir sind, wie wir sind«, erwiderte er. »Ich weiß«, sagte ich. »Aber das war während der Plage. Und die Plage ist vorbei. Man braucht jetzt nicht mehr… man braucht das Ritual der Dornen nicht mehr.« »Es gibt immer noch Dämonen«, sagte er. Ich runzelte die Stirn. Ein unangenehmes Gefühl beschlich mich und breitete sich in meinem Magen aus. »Das stimmt«, sagte ich. »Aber sie sind nicht mehr so mächtig wie zuvor. Und es gibt andere Möglichkeiten, mit ihnen fertigzuwerden.«
»Zum Beispiel die, wie du mit deinem fertiggeworden bist?« Hätte er mich geschlagen, er hätte mich nicht schlimmer verletzen können. Einen Augenblick war ich sprachlos, und als ich schließlich antwortete, klang meine Stimme wie die eines anderen. Wie die von jemandem, der kälter und härter als ich war. »Du bist grausam, Aithne. Das ist unfair.« Ich versuchte meiner Stimme einen steten, ausdruckslosen Klang zu verleihen, doch sie zitterte. »Das ist lange her. Ich war noch sehr jung. Warum hältst du mir das jetzt vor?« Ich wandte mich ab und bemühte mich, meine Gefühle zu beherrschen. Wie gut wir einander kannten. Wie leicht es war, einander ins Mark zu treffen. Ich drehte mich wieder zu ihm um. »Und überhaupt«, sagte ich, »darum geht es gar nicht.« »Ich denke schon. Dieser Dämon hat dich mit seinem Mal gekennzeichnet. Er kann jederzeit zu dir kommen. Und das bedeutet, daß Lily nicht sicher ist.« »Ich würde nie zulassen, daß er Lily etwas tut«, sagte ich rauh. Das Blut hämmerte in meinen Schläfen, da die Vorstellung, Ysrthgrathe könne ihr etwas antun, zu schmerzlich war. Lily schniefte ein wenig, und ich streichelte sie, um sie zu trösten. Sie glitt wieder in ihre Baby träume. »Wir sollten nicht gerade hier darüber reden«, sagte ich. »Wir stören das Baby.«
Aithne packte meinen Arm und zerrte mich aus dem Zimmer. Er führte mich die Treppe herunter ins Wohnzimmer. Als wir dort angelangt waren, riß ich mich von ihm los. »Tu das nie wieder, Aithne«, sagte ich. »Nach Himmelsspitze lasse ich nicht mehr zu, daß mich jemand ohne meine Erlaubnis anfaßt. Hast du verstanden?« Er runzelte die Stirn, und ich sah, wie er die Fäuste ballte. »Glaub nicht, daß ich das noch einmal dulde«, sagte ich. »Lily oder nicht. Du wirst mir Respekt entgegenbringen. Ich bin kein Tier, das man nach Belieben hierhin und dorthin zerren kann.« »Ich will Lily dem Ritual unterziehen«, sagte er. Das Thema, das wir bisher gemieden hatten, lag plötzlich offen auf dem Tisch. Mir war übel. Ein Teil von mir hatte die ganze Zeit gewußt, daß es dazu kommen würde, aber wider besseres Wissen hatte ich das Gegenteil gehofft. Hatte gehofft, daß er das Thema nicht suchen würde. »Warum?« fragte ich, obwohl ich den Grund kannte. »Um sie zu beschützen«, sagte er. »Um sie vor den Dämonen zu beschützen. Um sie vor deiner Vergangenheit zu beschützen, die ihr schaden könnte. Ereignisse, die sie benutzen würden, um an dich heranzukommen.« »Das ist unfair.« »Tatsächlich? Ich glaube nicht. Willst du sie nicht beschützen?«
»Natürlich will ich das. Genau darum will ich ja nicht, daß sie dem Ritual unterzogen wird. Kinder sterben während des Rituals. Du weißt das ebensogut wie ich. Und selbst wenn sie nicht sterben, sind sie verändert. Sie empfinden anders. Manchmal empfinden sie überhaupt nichts mehr. Willst du ihr das antun? Willst du ihr all das stehlen? Freude? Liebe?« »Wir können lieben.« »Ach ja? Hast du das Sidra erzählt?« fragte ich. Auch das war grausam und unfair, aber es war mir gleichgültig. Wie konnte er nur daran denken, Lily dem Ritual zu unterziehen? Hatte er denn nicht das geringste Mitleid mit ihr? Dann wurde mir klar, daß er keines hatte. Nicht, daß er sie nicht geliebt hätte. Ich wußte, daß er das tat. Aber ich hatte vergessen, daß die Verderbtheit die Gefühle und Empfindungen der Elfen des Blutwalds verstümmelt hatte. Und weil es Aithne gelungen war, sich einige seiner edleren Gefühle zu bewahren, war ich fälschlicherweise davon ausgegangen, daß er sie so erlebte wie unverderbte Leute. Ich hatte es vergessen. Aber ich würde es nie wieder vergessen. »Sidra hat damit nichts zu tun«, sagte er steif. Er war getroffen – aber daran wollte ich keinen Gedanken verschwenden. Besser, ihn so zu sehen wie alle anderen verderbten Elfen. »Nicht?« fragte ich. »Du hast sie verloren, und jetzt hast du Angst, Lily auch noch zu verlieren. Aber die Gefahr ist größer, wenn du sie dem Ritual unterziehst. Du hast mir selbst erzählt, was beim er-
sten Ritual mit deiner Frau und deinem Kind passiert ist. Willst du, daß Lily dasselbe Schicksal erleidet?« Alles Blut wich aus seinem Gesicht. Er stand da und starrte mich an, als hätte er mich noch nie zuvor gesehen. Vielleicht sah er mich wirklich zum ersten Mal. »Bei allen Passionen, wer ist jetzt grausam?« sagte er. Seine Stimme zitterte und klang erstickt. »Wie erträgst du nur das Leben mit dir?« »Aber das muß ich ja gar nicht, Aithne«, sagte ich mit zuckersüßer Stimme. »Du tust es.« Er wollte sich an mir vorbeidrängen, doch als er mein Gesicht sah, machte er einen Bogen um mich. Als die Tür zuschlug hörte ich, wie Lily zu weinen begann. Ich ging nach oben, um sie zu trösten. Ich wußte, er würde jemanden schicken, um mit mir zu reden. Womit ich nicht gerechnet hatte, war, daß er so dumm sein würde, Alachia zu schicken. Sie rauschte ins Haus, Caimbeul in ihrem Schlepptau. Er blinzelte mir zu, eine Geste, die ich nicht erwiderte. »Hat Euch Aithne geschickt?« fragte ich. Es hatte keinen Sinn, das Unvermeidliche aufzuschieben. »Nicht direkt«, sagte sie. »Er hat mir von seinen Sorgen erzählt.« Sie kam näher. Lily ruhte in meinen Armen. Ich drückte sie näher an mich. Bei dem bloßen Gedanken daran, daß Alachia auch nur in Lilys Nähe war, sträubten sich mir die Haare.
»Ich bin gerührt«, sagte ich. »Aber er muß doch wissen, daß Ihr die letzte Person seid, die mich zu irgend etwas überreden könnte.« »Wir haben unsere Meinungsverschiedenheiten«, sagte sie. »Das ist nur normal.« »Meinungsverschiedenheiten«, lachte ich rauh. »Ihr habt meine Eltern umgebracht. Die Großeltern dieses Kindes. Sie kaltblütig vor allen Elfen des Wyrmwalds ermordet. Und das nur, um Eurer Eitelkeit zu schmeicheln. Wart Ihr Euch Eurer Macht so unsicher? Vergeßt nicht, es waren nicht nur meine Eltern. Ihr habt auch andere Familien und deren Kinder umgebracht. In meinen Träumen kann ich immer noch ihre Schreie hören. Wie das Geräusch splitternden Glases. Und wofür das alles, Alachia? Was habt Ihr dadurch gewonnen außer einem leeren Thron und der seelischen Verarmung Eures Volkes? Ihr habt ihm jahrhundertelang das wirkliche Leben vorenthalten. Und nur die Passionen wissen, wann es enden wird. Hat Euch dieses Elend Freude bereitet?« Ich keuchte, und Lily weinte, als ich meine kleine Ansprache beendet hatte. Ein Teil von mir war entsetzt über das, was ich gerade gesagt hatte. Alachia konnte zwar nicht direkt gegen mich vorgehen, aber möglicherweise hatte ich sie jetzt dazu provoziert, endgültige Maßnahmen zu ergreifen. Sie war außerordentlich eitel und stolz. »Sehr beeindruckend«, sagte Caimbeul. Wir drehten uns beide zu ihm um. In meiner Wut hatte ich
seine Anwesenheit völlig vergessen. »Sagt, bietet Ihr Euren Besuchern immer solch eine Unterhaltung?« Alachia funkelte mich an, dann wandte sie sich ihm zu, die Freundlichkeit in Person. »Aina ist erschöpft und überreizt«, sagte sie. »Eine weit verbreitete Erscheinung bei jungen Müttern. Sie machen sich zu große Sorgen um ihr Kind. Wie unbegründet und dumm ihre Befürchtungen auch sein mögen.« »Vielleicht würdet Ihr mir gestatten, mit ihr zu reden«, sagte er. »Ich bin bekannt für meinen beruhigenden Einfluß.« Alachia antwortete darauf mit einem gezierten Achselzucken. Ich streichelte Lily und flüsterte ihr Koseworte zu, bis sie sich beruhigte. Was ich wirklich wollte, war, Alachia jedes einzelne ihrer kupferroten Haare an der Wurzel auszureißen. Langsam. Strähne für Strähne. Mit rotglühenden Zangen. Ja, das wäre nett gewesen. Caimbeul kam näher heran und steckte einen seiner langen schlanken Finger unter Lilys Decke. Lily umklammerte und drückte ihn. »Sie hat einen ziemlich festen Griff«, sagte er. Geschickter kleiner Teufel. Er wußte, wie man einer Mutter schmeichelte. Ich mußte aufpassen, oder er würde mir sonst etwas einreden. »Ja«, sagte ich. »Sie hat die Kraft ihres Vaters. Und den Schutz ihrer Mutter.« Da sah er mich an, und ich bemerkte eine Ernst-
haftigkeit an ihm, wie ich ihr bisher nur selten begegnet war. »Eine schwierige Entscheidung, die Ihr zu treffen habt«, sagte er. Seine Stimme war ausdruckslos, doch in seiner Miene spiegelte sich etwas. »Ihr und das Kind lebt beide im Blutwald. Hier zu bleiben, heißt, die Verderbtheit hinzunehmen. Das ist die Wahl, die Ihr getroffen habt.« »Aber sie könnte sterben«, sagte ich wie zu einem Vierjährigen. Hebhel hatte solche einfachen Sätze mühelos verstanden. Warum nicht auch diese Erwachsenen? »Ich weiß«, sagte er. Und wieder sah ich, daß er sehr ernst war. Er kannte die Gefahren, das konnte ich seinem Blick entnehmen. Vielleicht riet er mir nicht zu bleiben, sondern zu gehen. »Es ist zu gefährlich«, sagte ich. Er antwortete nicht, sondern entzog Lily seinen Finger und strich ihr sanft über die Wange. »Sie hat so eine wunderbare Haut«, sagte er. »Ein reizendes Kind.« Ich beobachtete ihn aufmerksam und hoffte nur, daß ich seine Botschaft richtig verstand. »Ich glaube nicht, daß Ihr sie beeindruckt habt, mein lieber Caimbeul«, sagte Alachia. »Eure schönen Worte haben auf mich viel mehr Wirkung als auf Aina. Sie ist solche Nettigkeiten nicht gewöhnt. Paß auf Lily auf, Aina. Schließlich gehört sie zu meinen Untertanen.« Und damit rauschte sie aus dem Zimmer. Caim-
beul folgte ihr, sah sich jedoch noch einmal um und warf mir einen langen Blick zu. In dieser Situation gab es keinen freundlichen Abschied, nur sein stummes Verständnis. Konnte ich ihm vertrauen? Ich wußte es nicht, aber ich wußte, daß mir vielleicht keine andere Wahl blieb, als es herauszufinden. Ich würde den Blutwald wieder verlassen müssen. Nur hatte ich diesmal viel mehr zu verlieren. Diesmal hatte ich Lily.
Wieder einmal waren Aithne und ich uneins. Wir stritten fast jeden Abend über das Ritual. Häßliche, verbitterte Auseinandersetzungen, die unsere Gefühle erschütterten und uns geistig erschöpften. Er verbrachte immer mehr Zeit mit Alachia, und meine Befürchtungen und mein Mißtrauen nahmen fast greifbare Formen an. Was, wenn sie planten, mir Lily wegzunehmen? Was, wenn sie sie dem Ritual der Dornen trotz meiner Einwände unterzogen? Was, wenn Lily daran starb? Was, wenn Alachia Aithnes Gedanken vergiftete? Hörte er sich ihre Lügen an? All das nagte an mir, bis ich glaubte, überall von Feinden umgeben zu sein. Sogar Caimbeul besuchte mich nicht mehr so regelmäßig. Zwar achtete er peinlich genau darauf, sich nicht mit einer der Seiten zu verbünden, aber auch er wußte, wann ein Gewitter im Anzug war. Und es gab kein gefährlicheres Gewitter im Blutwald als die Feindschaft Alachias und Aithnes. Und da wußte ich, was ich zu tun hatte. Die Entscheidung brach mir das Herz. Ich hatte Aithne schon soviel angetan. Aber was er meinem Kind antun wollte, erfüllte mich mit Entsetzen. Ich hatte das sichere Gefühl, daß Lily das Ritual nicht überleben würde. Und ich wußte eines: Ich konnte es
nicht ertragen, noch ein Kind sterben zu sehen. Ich hatte einen Teil von mir in jenem kleinen Grab in der Nähe der Lichter der Weinenden Zinne zurückgelassen, und das würde ich nicht noch einmal tun. Ich will dir eines sagen, Vistrosh: Es gibt keine leidvollere Erfahrung als die, dein Kind sterben zu sehen. Es ist unnatürlich. Eine Verletzung der Ordnung des Universums. Keine Mutter und kein Vater rechnet damit, so etwas je zu erleben. Nicht einmal ein unnatürliches Wesen wie ich. Also schmiedete ich Pläne und wartete und beobachtete. Bald würde der richtige Zeitpunkt gekommen sein. Ich mußte mich bereithalten. Am Ende war es Caimbeul, der mir half. Obwohl ich bis zum heutigen Tag nicht weiß, ob seine Hilfe Zufall oder Absicht war. Bei einem seiner seltener werdenden Besuche erzählte er mir von Alachias Plänen hinsichtlich des Rituals der Dornen. Die Geschichten, die sich um das Ritual ranken, sind sogar im Blutwald sehr vielfältig, aber darüber weißt du mehr als ich. Der Eindruck, den ich gewann, war der, daß Aithne und Alachia ein ganz besonderes Ritual für Lily planten. Aithne drängte auf die Durchführung. Er wollte nicht bis zur üblichen Zeit warten. In einer Woche war Vollmond, und dann wollten sie ihren üblen Plan ausführen. Ich verfluchte Aithne, weil er sich von Alachia hatte einwickeln lassen. Und ich verfluchte mich selbst, weil ich geblieben
war, als ich hätte gehen sollen: vor Lilys Geburt. Bevor ich diese furchtbare Wahl treffen mußte. Wie erwartet kam Aithne spät nach Hause. Zweifellos hatten er und Alachia sich mit der Vernichtung meines Kindes beschäftigt. Wir stritten nicht in dieser Nacht. Wahrscheinlich hoffte er dadurch meine Ängste zu zerstreuen. Wie wenig er mich selbst nach all den Jahren kannte. Ich wartete, bis er schlief, dann begann ich mit meinen Vorbereitungen. Ich würde handeln, sobald er das Haus am nächsten Tag verlassen hatte. Ich lag die ganze Nacht wach, da mich meine Nerven nicht einschlafen ließen. Würden sie mich von jemandem beobachten lassen? Nein, das war unwahrscheinlich. Ich hatte Aithne keinen Anlaß gegeben, eine Flucht zu argwöhnen. Doch Alachia war vielleicht mißtrauisch. Andererseits neigte sie wegen ihrer Eitelkeit dazu, andere zu unterschätzen. Schließlich fiel das blasse graugrüne Licht des Morgens durch mein Fenster. Meine Augen fühlten sich klebrig und trocken an, und ich hatte einen sandigen Geschmack im Mund. Ich ging ins Bad und wusch mir Gesicht und Hände. Im Spiegel sah ich kurz mein Gesicht. Trotz meiner Befürchtungen, trotz der schlaflosen Nacht, trotz meines Elends war mir keine Veränderung anzusehen. Die kalten schwarzen Augen. Die onyxfarbene Haut. Das weiße Haar, das vor langer Zeit so schwarz wie alles andere an mir gewesen war. Ich weiß noch, wann es weiß wurde, an jenem verhäng-
nisvollen Tag, als ich meinen Handel mit dem Dämon Ysrthgrathe abschloß. Ja, Vistrosh, es stimmt. Früher war ich genauso verderbt wie die Elfen des Blutwalds. Vielleicht noch verderbter, weil ich meine Wahl nur für mich selbst traf. Ich brauchte Jahrhunderte, um rückgängig zu machen, was ich in einem Augenblick der Schwäche angerichtet hatte. Aber es ist nicht so leicht, einen Dämon loszuwerden, obwohl es mir schließlich gelang. Jedenfalls im großen und ganzen. Aber keine Sorge, Vistrosh. Er hat einen sehr wählerischen Geschmack. Außerdem bist du verderbt, so daß er mit dir nichts anfangen kann. Aber wo war ich? Ach ja. Aithne und Alachia wollten mir meine Tochter stehlen und sie dem Ritual der Dornen unterziehen. Ich wartete, bis Aithne gegangen war, bevor ich Lily in ihre Decke wickelte und mich mit ihr auf unseren üblichen Morgenspaziergang begab. Niemand würde es merkwürdig finden, wenn wir ein wenig weiter als gewöhnlich gingen. Es hatte eine Zeit gegeben, kurz nachdem ich in den Blutwald zurückgekehrt war, als ich das pulsierende Leben des Waldes angenehm und anziehend gefunden hatte. Doch dieses Gefühl war längst verblaßt, da ich das Leiden gesehen hatte, das dieses Leben erst ermöglichte. Wie konnte ich mich an der üppigen Fülle der Natur um mich herum erfreuen, wenn jeder Atemzug mit dem kupferigen Geruch von Blut durchsetzt war? Auf dem Boden hinterließ ich
blutige Fußabdrücke. Vielleicht hätte ich die Ironie würdigen sollen – denn ich hatte genug Blut in meinem Kielwasser zurückgelassen. Es war ein kühler Morgen. Ich wickelte mich in eine dicke Robe. Darunter verbarg ich die wenigen Vorräte, die ich mitnahm. Es war nicht meine Absicht, die Heimreise länger dauern zu lassen, als unbedingt nötig. Absichtlich beschritt ich einen der weniger bewanderten Wege. Ich wich tiefhängenden Zweigen und Ranken aus und hielt mich an die abgelegeneren Pfade. Alles, was ich brauchte, waren ein paar Augenblicke Abgeschiedenheit. Ich blieb stehen und sah mich um. Alles war normal. Die üblichen Waldgeräusche. In der Ferne konnte ich leise die Rufe verschiedener Elfen hören, die ihren täglichen Beschäftigungen nachgingen. Ich verließ den Pfad und legte Lily auf den Boden, um eine Schlinge für sie anzufertigen, die ich mir um den Hals legte. Dann legte ich sie hinein und vergewisserte mich, daß sie gut festgebunden war. Mit meinem Messer schnitt ich mir in den Unterarm. Das Blut quoll hellrot heraus. Einen Moment lang wurde mir schwindlig, aber ich kämpfte dagegen an. Der Blutwald versuchte sich diese Macht – die Macht meines Blutes – mit allen Mitteln einzuverleiben. Ich warf die Arme in die Luft und sprach die Worte für einen Zauber, den ich selten benutzte. Der Wind frischte auf und ließ meinen Umhang flattern. Lily stieß einen gurgelnden Schrei aus – ob vor Auf-
regung oder Angst wußte ich nicht. Und dann erhoben wir uns gemeinsam in die Luft. Ich sah nach oben und lenkte uns zwischen den dicken Ästen hindurch, die den Blick auf den Himmel versperrten. Höher und immer höher stiegen wir auf. Blätter peitschten mein Gesicht, und der Geruch von zerquetschten Blüten stieg mir in die Nase. Bis wir schließlich das Blätterdach durchstießen und in den strahlenden Morgen eintauchten. Meine Augen tränten und brannten wegen des Lichts. Seit einem Jahr hatte ich nur durch Bäume gedämpftes Tageslicht zu sehen bekommen. Es war heiß und brannte auf meinen Wangen, obwohl ich wußte, daß die Sonnenstrahlen in dieser Jahreszeit die geringste Kraft besaßen. Ich drehte mich, bis sich die Sonne rechts von mir befand, und flog direkt nach Norden. Zu den Lichtern der Weinenden Zinne. Nach Hause. Ich trieb mich unnachgiebig vorwärts, wobei ich jeden magischen Trick einsetzte, der mir zur Verfügung stand. Blut. Fäden. Wenn es nötig gewesen wäre, hätte ich einen Dämon aus der Astralebene beschworen, um uns zu tragen. Ich muß Lily in dieser Zeit vernachlässigt haben, denn ich kann mich nicht daran erinnern, daß sie geweint hat. Keine ängstlichen Schreie. Lange Zeit redete ich mir ein, daß sie meine Absichten verstand und wußte, daß ich alle Kraft und Konzentration
brauchte, um uns voranzubringen. Aber ich glaube, in Wirklichkeit habe ich mich nur vor allem außer der Dringlichkeit meines Fluges verschlossen. Unter uns erstreckte sich der Blutwald wie ein grünes Meer. Eichen, Ulmen, Ahörner und Eiben standen so dicht nebeneinander, daß sie sich kaum unterscheiden ließen. Wir flogen darüber hinweg, während der Wind in unseren Ohren pfiff. Ich mied offenes Gelände, insbesondere den Fluß, der mitten durch das Herz des Waldes floß. Stundenlang flog ich, wobei ich an die Grenzen meiner Kräfte ging. Ich rastete nicht, um mich auszuruhen oder zu essen, auch nicht, um Lily zu füttern oder ihre Windeln zu wechseln. Ich hatte nur noch den Drang wegzukommen. Und als ich schließlich den Rand des Blutwalds erreichte, rastete ich immer noch nicht. Mehrere Meilen jenseits des Blutwalds brachte ich uns wieder auf die Erde zurück. Lily weinte und griff nach meiner Brust. Ich fütterte sie. Sie war noch nicht entwöhnt und immer noch völlig abhängig von mir. Ich fragte mich, wie sie wohl sein würde, wenn sie in Hebhels Alter kam. Würde sie dieselbe Aufregung angesichts der Welt empfinden, die auf sie einstürmte? Würde sie Reis mögen, aber Erbsen hassen? Würde sie endlose Fragen stellen, bis ich glaubte, verrückt zu werden? Würde sie mir verzeihen, daß ich sie ihres Vaters beraubt hatte? Aber darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken.
Für Reue und Selbstvorwürfe war später noch genug Zeit. Schließlich hatten wir jetzt alle Zeit der Welt. I ch flog nach Norden, wobei ich nur selten ein paar Stunden rastete, um wieder zu Kräften zu kommen. Finstere Vorstellungen von Aithnes und Alachias Zorn gingen mir durch den Kopf, aber ich verdrängte sie. Ich hatte die Überraschung und einen kleinen zeitlichen Vorsprung auf meiner Seite. Außerdem wußte ich, daß sich Alachias Macht nur bis zum Rand des Blutwalds erstreckte. Wenn Aithne mich aus dem Norden zurückholen wollte, mußte er es alleine versuchen. Und ich wußte, daß ich mit Aithne fertigwerden konnte. Nach sechs Tagen kamen wir zu Hause an. Nie war ich so froh gewesen, meine graue Steinhütte zu sehen. Die Tür, die Hebhel und ich einst rot angestrichen hatten, war zu einem ausgewaschenen Rosa verblaßt. Am Meer war es zu dieser Jahreszeit kalt und trostlos, aber das war mir egal. Für mich zählte nur, daß ich zu Hause war. In Sicherheit. Es war seltsam, wieder auf der Erde zu sein. Nachdem ich so lange geflogen war, hatte ich Schwierigkeiten mit meinem Gleichgewichtssinn. Als hätte ich viel Zeit auf einem Schiff verbracht. Ich legte Lily in mein Bett und zündete ein Feuer im Kamin an, nachdem ich mich davon überzeugt hatte, daß der Schornstein noch frei war und sich nicht irgendwelche Vögel dort ein Nest gebaut hatten. Schnell wurde der Raum warm und gemütlich. Eine Welle der Erleichterung überkam mich, und
ich konnte Lily und mich gerade noch in eine Decke hüllen, bevor ich in einen tiefen Schlaf fiel. Ich weiß nicht, wie viele Stunden vergangen waren, als ich wieder aufwachte. Lily gurrte vor sich hin und zog an meinen Haaren. Ich mußte niesen, was mich daran erinnerte, wie lange es her war, seitdem in diesem Haus geputzt und Staub gewischt worden war. Ich fütterte Lily, dann wechselte ich ihre Windeln und ließ sie auf dem Bett liegen, wobei ich die Kissen neben das Bett legte, falls sie herunterfiel. Ich brauchte nur ein paar Augenblicke, um mich davon zu überzeugen, daß ich kaum noch Vorräte besaß. Aber ich konnte das Haus säubern, und so machte ich mich an die Arbeit. Wenn ich uns hier eingerichtet hatte, war immer noch genug Zeit, uns zu holen, was wir brauchten. Ich hatte noch etwas von der Nahrung, die ich aus dem Blutwald mitgenommen hatte. Einstweilen reichte das. Ich wischte und putzte, und Lily nieste von dem vielen Staub, der aufgewirbelt wurde. Mich wieder in meinen eigenen vier Wänden zu befinden, vermittelte mir ein unbeschreibliches Gefühl des Friedens. Ich war noch nicht zu Hebhels Grab gegangen, obwohl der Gedanke daran in meinem Hinterkopf schwebte wie ein Geist. In gewisser Weise hatte ich das Gefühl, Hebhel verraten zu haben, indem ich Lily herbrachte. Er war immer der einzige in meinem Leben gewesen, und jetzt würde er mich teilen müssen. Doch sein Bild
stand mir nicht mehr so deutlich vor Augen, war mit der Zeit verblaßt. Seine Züge entglitten mir allmählich, bis nur noch Eindrücke blieben. Die Farbe seiner Augen. Sein Lieblingslied. Das Spielzeug, mit dem er gerne schlief. Als ich mir schließlich eine einfache Mahlzeit zubereitete, war das Haus beinahe in Ordnung. Einige Dinge waren baufällig geworden, aber da ich mehr als eineinhalb Jahre fort gewesen war, war das kaum verwunderlich. Trotz der Kälte machte ich einen Spaziergang mit Lily. Danach jätete ich das Unkraut auf Hebhels Grab und legte ein paar Steine darauf, die ich auf unserem Spaziergang am Strand gefunden hatte. Ich bedauerte sehr, daß nicht Frühling war und ich daher nicht auch noch Blumen für das Grab hatte. Ich verriegelte die Tür und wirkte Schutzvorrichtungen gegen jede Art des Eindringens. Dann drückte ich Lily an mich, wickelte uns beide in Decken, die jetzt nach Wind und Meer rochen, und ging schlafen.
Ich wußte, daß ich nicht viel Zeit im Haus verschwenden durfte. Ich zweifelte nicht daran, daß Aithne kommen würde, um sich Lily zu holen. Aber ich konnte mich einfach nicht dazu überwinden, schon wieder aufzubrechen. Bis zu meiner Rückkehr war mir nicht klar gewesen, wie sehr ich mein Heim vermißt hatte. Ich erlebte dort ein Gefühl der Sicherheit, wie ich es nur an ganz wenigen anderen Orten in meinem Leben kennengelernt hatte. Empfindet jeder so bezüglich seines Heims? Was ist mit dir, Vistrosh? Fühlst du dich hier in diesem Haus sicher? Deiner Miene kann ich entnehmen, daß es so ist. Etwas anderes würde dir auch nie in den Sinn kommen, oder? Manchmal glaube ich, wir bilden uns dieses Gefühl ein, weil es einfach unerträglich wäre, immer mit einem Gefühl der Gefahr zu leben. Und mit Lily kam es mir auch so richtig vor, noch ein wenig länger zu bleiben. Der Bruder, den sie nie kennenlernen würde, war hier begraben. Sie hatte noch nie das Meer gesehen, geschweige denn einen freien Himmel. Hier waren wir sicher vor den Auseinandersetzungen der Politik. Es gab keine Alachia mit ihrer ständigen Ränkeschmiederei. Auch keinen Aithne mit seinen Schuldgefühlen und Gewissensbissen. Und auch keinen Caimbeul, dessen Pläne und Motive völlig im Dunkeln lagen.
Aber fürs erste würde ich mir eine Atempause gönnen. Ein Teil von mir fürchtete sich davor zu den Lichtern der Weinenden Zinne zu gehen. Zwar waren meine Beziehungen zu den Elfen dort einigermaßen freundschaftlich, aber ich war dennoch eine Außenseiterin. Ich machte mir Sorgen, daß Lily dort wie eine Ausgestoßene leben würde. Daß sie uns mit Mißtrauen begegneten. Nach meiner Verbannung aus dem Wyrmwald hatte ich das selbst oft genug erlebt. Ich wickelte Lily in eine dicke Decke und nahm sie mit nach draußen. Wir wanderten zum Klippenrand und betrachteten das blaugraue Meer. Der Wind blies kühl und so stark, daß meine Kleidung eng an den Beinen anlag. Ich beschloß, nicht zum Strand zu gehen. Auf dem Rückweg zum Haus machten wir vor Hebhels Grab Halt. Es sah verloren aus. So klein und unbedeutend. Tränen ließen mich blinzeln, und ich redete mir ein, es sei nur der Wind. Lily zappelte in meinen Armen und gab süße Babylaute von sich. Sie sah zu mir auf. Mich überkam ein heftiger Drang, sie unter allen Umständen zu beschützen. Ich drückte sie an mich, und sie stieß einen überraschten Laut aus. Plötzlich kam es mir kälter vor, als ich zuerst angenommen hatte. Lily an mich drückend, eilte ich ins Haus. Drinnen war es warm, fast heiß, und bei dem plötzlichen Temperaturwechsel glaubte ich, mein Umhang würde mich ersticken. Ich warf ihn beiseite und wickelte Lily aus ihrer Decke, die ich auf den
Boden legte, um dann Lily darauf abzusetzen. Der letzte Reis kochte auf dem Feuer. Wenn er aufgebraucht war, würden wir aufbrechen müssen. Dann spielte ich mit Lily und versuchte nicht an den bevorstehenden Aufbruch zu denken. Ihre Beine waren immer noch dick und rundlich. Ich nahm ihre Füße in die Hände und bewegte sie vor und zurück, so daß sie kreisende Bewegungen mit den Beinen beschrieb. Das machte ihr Spaß. Sie kicherte und gurrte und trat nach mir. Dann packte sie meine langen Haare und zog daran. Es tat weh, machte mir aber nichts aus. Ein lauter Donnerschlag erschreckte uns beide. Ein Ausdruck der Überraschung huschte über ihr Gesicht, und sie fing an zu weinen. Ich nahm sie auf den Arm und tröstete sie, bis sie sich beruhigt hatte. In der Luft lag eine unnatürliche Stille. Meine Ohren begannen zu schmerzen. Und dann kam der Regen. Es war das schlimmste Gewitter meines ganzen Lebens. Die Regentropfen waren so dick wie Glasscherben. Ich wagte nicht, die Tür zu öffnen und einen Blick nach draußen zu werfen. Der Regen trommelte auf das Dach, daß ich fürchtete, es würde nicht standhalten. Und es hörte nicht auf zu regnen. Zwei Tage später regnete es immer noch. Jetzt konnte ich nicht aufbrechen, nicht mit Lily. Ich konnte nichts anderes tun, als zu warten – und mir Sorgen zu machen. Mit jedem Tag, der verstrich, kam Aithne näher.
Ich hoffte, das Gewitter würde ihn ebenso aufhalten, wie es uns an diesen Ort fesselte. Der Reis ging zur Neige, und es gab nichts anderes zu essen. Bald würden wir in das Gewitter hinaus müssen. Ich versuchte mit allen mir bekannten Zaubern, das Gewitter unter Kontrolle zu bekommen oder zumindest in eine andere Richtung abzulenken, aber keiner wirkte. Entweder war ich nicht stark genug oder derjenige – oder dasjenige –, welcher das Gewitter steuerte, war mächtiger als ich. Die Stunden dehnten sich, und das Warten war eine Qual. Schließlich klang es so, als flaue das Gewitter ab. Als ich aus dem Fenster von Hebhels Zimmer schaute, sah ich, daß es zwar immer noch regnete, aber nicht mehr wie in den vergangenen Tagen wie aus Kübeln schüttete. Der Himmel hatte sich ebenfalls aufgehellt. Die schwarzen Gewitterwolken zogen fort und wichen einem matten Stahlgrau. Hinter mir hörte ich, wie die Haustür aufflog. Ich wirbelte herum, nur auf Lilys Sicherheit bedacht. Ich mußte zu ihr. »Aina!« Es war Aithne. Ich rannte in das andere Zimmer und hob Lily von der Decke auf, bevor sie handeln konnte. Sie fing an zu weinen. »Hinaus mit dir«, sagte ich, während ich sie gleichzeitig zu trösten versuchte. Sein Haar war an seinen Schädel geklatscht, und von seiner Kleidung tropfte in dünnen Rinnsalen das
Wasser auf den Boden. Ich funkelte ihn an, haßte seinen Anblick zum erstenmal in meinem Leben. »Ich bin gekommen, um mein Kind zu holen«, sagte er. »Gib sie mir.« Ich lachte. »Ich soll sie dir geben? Damit du sie so entstellen kannst, wie du entstellt worden bist? Nein, ich glaube nicht. Hast du wirklich geglaubt, ich würde dir gestatten, ihre Sicherheit zu gefährden? Hast du geglaubt, ich würde zulassen, daß sie in etwas wie Alachia verwandelt wird? Willst du, daß sie stirbt?« Er trat näher. Ich wich zurück. »Komm nicht näher, Aithne«, sagte ich. »Ich will dir nichts antun.« »Würdest du dem Vater deines Kindes etwas antun?« »Wenn du Lily verletzen willst, ja. Ich würde alles tun, um sie zu beschützen.« »So beschützt du sie aber nicht«, sagte er. »Es gibt nur eine Möglichkeit, um ihre Sicherheit zu gewährleisten.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, du irrst dich. Die Verderbtheit ist nicht die einzige Möglichkeit.« »Aber die beste«, sagte er. Eine Windböe peitschte durch das Zimmer und brachte eine Regengischt mit sich. Aithne drehte sich um und schloß die Tür. Als er sich wieder zu mir umwandte, weiteten sich seine Augen, und er keuchte auf. Ich sah über die Schulter. Im gleichen Augenblick traf mich etwas im Gesicht. In meinem Kopf explodierte der Schmerz. Als ich fiel, verdrehte ich meinen
Körper, so daß ich nicht auf Lily landen würde. Doch sie wurde mir entrissen. Ich versuchte sie festzuhalten, doch dann überkam mich die Schwärze. Wie dumm von dir, dachte ich. Aithne hat dich überlistet. Ich konnte nicht länger als ein paar Augenblicke bewußtlos gewesen sein. Als ich erwachte, sah ich das Dach meines Hauses. Was tat ich auf dem Boden? Dann überfiel mich der Schmerz, und ich erinnerte mich. Was ich zuerst bemerkte, war die Tatsache, daß mein Sehvermögen beeinträchtigt war. Auf dem linken Auge konnte ich nichts mehr sehen. Ich berührte mein Gesicht unter dem Auge. Es war geschwollen und klebrig. Als ich die Hand wieder herunternahm, war sie blutverschmiert. Ich hörte Lily weinen und zwang mich in eine sitzende Stellung. Warum sind sie noch da? fragte ich mich. Ich drehte mich in die Richtung, aus der das Weinen kam, und sah etwas, bei dem mir das Blut in den Adern gefror. Ysrthgrathe stand mit Lily in den Armen vor dem Kamin. Ich mußte den Kopf drehen, um Aithne zu sehen. Er stand immer noch an der Tür. Der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ mich augenblicklich bereuen, daß ich den Blutwald je verlassen hatte. So voller Furcht und Schmerz, voller Liebe und Sorge. Was hatte ich getan?
»Wie ich sehe, hast du beschlossen, dich uns anzuschließen«, sagte Ysrthgrathe. Aithne sah mich an. Tränen stiegen in mir auf, aber ich wollte sie nicht fließen lassen. Das würde dem Dämon zuviel von dem geben, was er wollte. Einen Augenblick lang glaubte ich, einen Anflug von Mitgefühl in Aithnes Augen zu sehen, doch dann war es verschwunden. »Was für ein reizendes Familienporträt«, sagte der Dämon. Ich erhob mich und wandte mich ihm zu. Der Raum drehte sich um mich, und ich mußte mich vorbeugen, um nicht sofort wieder zu stürzen. »Kein Grund, dich vor mir zu verneigen, meine Liebe«, sagte Ysrthgrathe. »Tu mit mir, was du willst«, sagte Aithne. »Aber laß das Kind und Aina in Ruhe.« »Wie rührend«, sagte Ysrthgrathe. »Sag, Aina, glaubst du, er würde auch so reagieren, wenn er wüßte… nun, wenn er gewisse Dinge wüßte?« Ich hatte ein Gefühl in der Magengegend, als würde ich sehr rasch und sehr tief fallen. Der Raum schien vor mir zurückzuweichen. Keine noch so große Menge Wasser konnte die Trockenheit in meinem Mund vertreiben. Es war ein Alptraum, aus dem ich niemals erwachen würde. Er hielt mein Kind und meine Zukunft als Geisel in seinen Armen. Aber zuerst würde er meine Vergangenheit zerstören.
»Du siehst ein wenig mitgenommen aus, Aina«, sagte Ysrthgrathe. »Willst du dich nicht lieber setzen?« »Nein«, sagte ich. Es war kaum mehr als ein heiseres Krächzen. Aber ich wußte, daß ihn jede Zurschaustellung von Furcht nur ermutigen würde. Ich verdrängte meine Angst. Es war keine Zeit, sich mit ihr zu befassen. Wichtig war jetzt nur noch, Lily zu retten. Koste es, was es wolle. Ich wußte, was Ysrthgrathe wollte: mich. Ich mußte herausfinden, wie ich ihn dazu bringen konnte, Lily freizulassen und statt dessen mich zu nehmen. Aber ich durfte nicht zu plump vorgehen. Das würde nicht reichen. »Laß das Kind und Aina in Ruhe«, sagte Aithne noch einmal. Ich wollte, daß er schwieg und mich nachdenken ließ. Er gab Ysrthgrathe nur genau das, was dieser wollte. »Du solltest deinem Gemahl wirklich erklären, wie es sich verhält, Aina«, sagte Ysrthgrathe. »Er ist nicht mein Gemahl«, sagte ich. »Sei nicht so bescheiden, meine Liebe«, erwiderte er. »Wie hättest du sonst das hier bekommen können?« Er schüttelte Lily in seinen Armen. Ich wollte ihn anspringen, beherrschte mich jedoch. Mühsam. Dann kitzelte er sie mit seinen langen dünnen Fingern unter dem Kinn. »Ach ja, das ist ja dein kleines Geheimnis, nicht
wahr?« Er schüttelte Lily noch einmal. Sie kreischte laut auf, und ich wollte nichts anderes, als ihm alle Gliedmaßen einzeln ausreißen. »Hör auf damit«, sagte ich. »Du machst ihr angst.« Ysrthgrathe lächelte. Es war schrecklich anzusehen. »Ja«, sagte er. »Das ist ja auch der Sinn der Sache.« »Du Feigling«, sagte Aithne. »Sie ist doch nur ein Baby. Warum nimmst du nicht mich?« »Und diese Bemerkung soll etwas bewirken?« fragte Ysrthgrathe. »An das Gute in mir appellieren? Oder vielleicht Schuldgefühle in mir wecken? Gewissensbisse? Oder soll mich die Beleidigung derart in Wut versetzen, daß ich das Kind wegwerfe und mich auf dich stürze? Also wirklich, ich hätte mehr erwartet. Auf der anderen Seite bist du auch nicht das Hauptpublikum, für das diese Vorstellung gedacht ist. Obwohl ich gestehen muß, daß du eine entscheidende Rolle spielen wirst. Tatsächlich ist die Hauptfigur in unserem kleinen Drama gerade dabei, Pläne zu schmieden. Sie sucht verzweifelt nach einer Möglichkeit, wie sie das alles zu ihrem Vorteil ausnutzen kann. Nicht wahr, Aina?« Noch nie hatte ich mich so ohnmächtig gefühlt. Doch, es hatte eine andere Gelegenheit gegeben. Und das hier kam ihr allzu nah. Ich würde ihn vernichten, wenn ich eine Möglichkeit dazu bekam. »Wie ruhig du bist, meine Liebe«, sagte
Ysrthgrathe. »Willst du nicht um das Leben deines Kindes flehen? Meine Güte, für das andere hast du das doch auch getan. Wie war noch gleich sein Name?… Ach ja, Hebhel.« »Hör auf damit«, sagte ich. »Womit? Willst du mir vorschreiben, was ich tun soll?« »Nein«, sagte ich leise. »Können wir dann endlich zum Geschäft kommen?« fragte er. Ich schloß die Augen. Der Schmerz jener langen und finsteren Jahrhunderte flutete zurück. Konnte ich mich noch einmal auf so einen Handel einlassen? Dann hörte ich Lilys Weinen, und ich kannte die Antwort. »Wie lautet der Handel?« fragte ich. »Er ist sehr einfach. Du erzählst Aithne von Hebhel, dann gebe ich dir dein Kind zurück.« »Warum erzählst du es ihm nicht selbst?« fragte ich. »Oh, weil er mir nicht glauben würde. Schließlich bin ich ein Dämon. Aber bei dir bleibt ihm nichts anderes übrig, als es zu glauben. Stell dir nur die Wirkung vor, wenn er es aus deinem eigenen Munde hört.« Ich spürte eine Nässe auf meinen Wangen, und mein linkes Auge brannte, als werde es verbrüht. Aber es gab keine andere Möglichkeit. Ich konnte nichts gegen ihn unternehmen, solange er Lily hatte. »Also gut«, sagte ich. »Ich bin einverstanden.«
»Und laß keine Einzelheit aus«, sagte er. »Denn wenn ich glaube, daß du etwas übergehst, ist der Handel ungültig.« Ich nickte, dann wandte ich mich an Aithne. Er war blaß. Blaß wie das Mondlicht, blaß wie Milch. Eine Ruhe war über ihn gekommen, und er wirkte mehr wie ein Wesen aus Stein denn aus Fleisch und Blut. Und ich erzählte ihm alles. Über Sidra. Über Ellethryth. Über die Theraner und ihre Zauber. Über unsere Flucht aus Himmelsspitze und wie sie uns gelang. Über das theranische Kind, von dem ich Sidra befreit hatte. Und über seines und Sidras Kind, das ich für mich behalten hatte. Und schließlich alles über Javan und wie er Hebhel ermordet hatte. Als ich fertig war, glaubte ich, ob des Kummers und des Leids von alledem sterben zu müssen. Aithne war immer noch wie erstarrt. Schließlich gelang es mir, ihn anzusehen, und der Ausdruck auf seinem Gesicht wird mich für den Rest meines Lebens verfolgen. Es war, als sehe er etwas Schlimmeres als einen Dämon. Und vielleicht bin ich das auch. »Sehr nett gemacht«, sagte Ysrthgrathe. »Aber es gibt da noch einen Teil der Geschichte, den du ausgelassen hast.« Ich wirbelte zu ihm herum. »Ich habe nichts ausgelassen«, schrie ich. »Gar nichts. Ich habe ihm alles erzählt.«
»Aber diesen Teil kennst du gar nicht«, sagte er selbstgefällig. »Weil du nicht weißt, daß ich es war, der Javan freigelassen und hierher zu dir geführt hat. Das war meine ganz persönliche Rache. Weißt du, ich wollte meinen Anteil an den Vorgängen nicht zu früh enthüllen. Dann wärst du zu sehr auf der Hut gewesen. Das war ein ziemliches Opfer für mich. An diesen schrecklichen Ort zu gehen und mich mit dieser leeren Hülle zu befassen, aus der ich schon vor langer Zeit alles Interessante herausgeholt hatte. Hast du wirklich geglaubt, du hättest ihn getötet, Aina? Du warst damals vor Kummer völlig außer dir und hast nur die Leiche deines Kindes in den Armen gehalten und geweint. Obwohl ich dein Leid nur indirekt verursacht hatte, konnte ich ihm doch einiges Vergnügen abgewinnen. Und den Dieb zu töten, war natürlich auch ein Leckerbissen. Er hatte so lange auf mich gewartet. Er glaubte sogar, ich würde ihn zu dem machen, was ich bin. Stell dir seinen Schmerz und sein Entsetzen vor, als er meine wahren Absichten erkannte. Weißt du noch, was ich zu dir sagte, als du mich fortgeschickt hast? Als du mein Geschenk abgelehnt hast?« Ich konnte nichts antworten. »Antworte mir!« »Ja«, sagte ich. »Ich weiß es noch.« »Dann sag es mir.« »Du sagtest: ›Du schätzt die Liebe so hoch ein. Ich werde dir zeigen, welches Leid deine Liebe verursachen kann.‹«
»Und habe ich das nicht getan?« fragte er. »Hast du nicht gelitten?« »Ja«, sagte ich. »Gut. Aber du hast nicht so gelitten wie ich. Wie lange war ich deines Leids und deines Kummers beraubt. Hast du auch nur die geringste Ahnung, wie sehr ich dich wollte? Wie ich mich zu warten gezwungen habe, obwohl ich dich so sehr wollte? Wie konntest du mir das antun? Wie konntest du mein Geschenk ablehnen?« Ich zitterte, weil ich nicht wußte, was ich sagen sollte. Es mußte eine Antwort geben. Aber mir fiel keine ein. »Bitte«, sagte ich schließlich. Die Tränen ließen meine Stimme brüchig klingen. »Das Kind. Gib Aithne das Kind, und ich tue, was du willst. Alles. Ich nehme dein Geschenk. Jedes Geschenk. Ich tue alles. Aber gib Aithne das Kind.« Ich fiel vor ihm auf die Knie. »Ich flehe dich an. Bitte.« »Du hast sehr große Angst, nicht wahr?« fragte er. Ich nickte. »Du würdest wirklich alles tun, um sie zu retten, nicht wahr? Jammerschade. Nach allem, was du getan hast, um sie zu schützen.« Er öffnete den Mund und bleckte seine langen gelblich-braunen Zähne. »Nein!« kreischte ich. »Du sagtest, du würdest sie verschonen!« »Ich habe gelogen«, sagte er.
Dann hob er Lily hoch und zerbiß ihr den Hals. Sie stieß einen leisen Schrei aus und war still. Seine Lippen troffen vom Blut, das ihm das Kinn und an den Händen herunterlief. Da wirkte ich einen Zauber, den ich schon früher gegen Dämonen eingesetzt hatte. Er umstrickte ihn in seiner blutfarbenen Robe, aber Ysrthgrathe war zu stark für mich. Er schüttelte den Zauber ab wie ein Hund Wasser. Aithne versuchte es ebenfalls, doch seine Bemühungen waren gleichermaßen erfolglos. Ysrthgrathe schleuderte Lilys leblosen Körper von sich. »Hier ist ein kleines Präsent für dich, meine Liebe«, sagte er. »Ich würde den anderen töten, aber es wird dir viel mehr Kummer bereiten, wenn er am Leben bleibt.« Und damit verschwand er.
Im Zimmer war es still geworden. Ich hörte jemanden weinen. War es Aithne? War ich es? Ich wußte es nicht. Lily lag auf dem Boden. Ich wollte zu ihr gehen. Um nachzusehen, ob ich ihr helfen konnte. Als ich nach ihr griff, packte Aithne mich von hinten und schleuderte mich quer durch den Raum. Mein Kopf schlug gegen die Wand. Ich stieß mir die verwundete Seite, und die Schmerzen erblühten in meinem Kopf wie hellrote Rosen. »Faß sie nicht an«, knurrte er. »Du hast kein Recht, je wieder ein lebendes Wesen anzufassen.« Tränen liefen mir die Wangen herunter. Ich sagte nichts, weil ich wußte, daß er recht hatte. Es war meine Schuld, daß Lily tot war. Ich hatte Hebhel umgebracht. Ich war eine unnatürliche Kreatur, die ihre Kinder nicht beschützen konnte. Sie hatten für meine Fehler gebüßt. »Wo ist das andere Kind?« Ich sah auf. Aithne stand über mich gebeugt, Lily auf dem Arm. Die Schwellung an meinem Auge und die Tränen ließen meine Sicht verschwimmen. »Ich will mein anderes Kind«, sagte er. »Das du Sidra und mir gestohlen hast.« »Er ist tot«, sagte ich. »Hebhel ist seit fast drei Jahren tot.« »Ich will ihn trotzdem haben.« Ich erhob mich mühsam. Der Raum drehte sich
um mich, und ich mußte mich an der Wand abstützen. »Nein«, sagte ich. »Du hast ihn gestohlen. Gib ihn mir zurück«, schrie er. »Ich bin seine Mutter«, sagte ich, und die Tränen ließen meine Stimme belegt und verschwommen klingen. »Er hat nicht einmal von dir gewußt, geschweige denn dich gekannt. Glaubst du, ich ließe ihn mir jetzt von dir wegnehmen? Du kannst ihn nicht haben.« »Wo ist er? Was hast du mit ihm gemacht?« »Ich habe ihn begraben«, sagte ich. »Ich pflege sein Grab und kümmere mich darum. Du kannst ihn nicht haben.« »Bei allen Passionen, ich werde ihn bekommen.« »Nein, das wirst du nicht. Weil du mich umbringen mußt, wenn du seine Leiche bekommen willst. Und obwohl ich weiß, wie gern du das tätest, kannst du es nicht. Es gibt Regeln, Aithne. Du kennst sie ebensogut wie ich. Und soviel weiß ich über dich, Aithne: Du wirst sie nicht brechen.« Sein Gesicht war so voller Zorn, daß ich einen Moment lang glaubte, er würde mich umbringen und die Konsequenzen auf sich nehmen. Doch er tat es nicht. »Ich hasse dich«, sagte er. Seine Stimme war leise und völlig emotionslos. Sie hörte sich schrecklich an. »Ich werde dich hassen, bis alle Zeit endet und der Tod aus seinem Meer entlassen wird. Bis es kein Le-
ben mehr für uns beide gibt. Und danach – werde ich dich immer noch hassen.« Jedes Wort war wie ein Stein auf einem Grabmal. Endgültig und wie der Tod. »Zweifellos«, sagte ich. Meine Stimme zitterte jetzt, und ich hatte sie nicht mehr unter Kontrolle. »Aber du wirst mir Hebhel trotzdem nicht wegnehmen.« Er zog Lily näher an sich. »Dieses Kind ist nicht mehr deines«, sagte er. »Ich konnte sie nicht vor dir schützen, als sie noch lebte, aber wenigstens im Tod wird sie vor dir sicher sein. Du wirst niemals ihr Grab besuchen. Im Blutwald wird es keine Aufnahme mehr für dich geben. Für mich existierst du nicht mehr.« Ich konnte ihm nicht verübeln, was er mir sagte, denn ich wußte, daß ich nur bekam, was ich verdiente. Wie gern ich ihren winzigen Körper noch einmal in meinen Armen spüren wollte. Ihren weichen Kopf in meiner Hand halten und ihre seidige Haut berühren und ihren Babyduft riechen wollte. Aber ich konnte nicht. Aithne würde es nicht zulassen, und es geschah mir recht. Er wandte sich ab und ging nach draußen, ohne sich die Mühe zu machen, die Tür hinter sich zu schließen. Ich folgte ihm, um sicherzugehen, daß er nicht versuchte, Hebhel zu stehlen. Draußen war es vollständig dunkel, da die Gewitterwolken den Mond und die Sterne verdeckten. Das einzige Licht war das, was aus meiner offenen Haus-
tür fiel. Aithne ging weg und in die schwarze Nacht, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzuschauen.
Ich hielt die ganze Nacht lang an Hebhels Grab Wache, falls Aithne zurückkam. Aber er kam nicht. Nach mehreren Stunden ging die Sonne auf. Es war ein lächerlich schöner Sonnenaufgang. Wie kommt es nur, daß das Wetter niemals mitspielt, wenn die größten Tragödien stattfinden? Die Sonne hätte sich schämen müssen, in dieser Situation ihr Gesicht zu zeigen. Doch da war sie, strahlend und golden wie eine theranische Münze. Den Rest des Tages blieb ich am Grab und wachte und wartete. Doch da war nichts außer mir, dem endlosen Meer und dem taubenblauen Himmel. Dann gab es wieder Momente, wo ich hätte schwören können, daß ich Hebhels Stimme hörte. ›Mama‹, sagte er. ›Es ist alles gut. Lily ist hier bei mir. Wir sind so glücklich, Mama. Wir wünschten, du könntest bei uns sein. Wir könnten zusammen spielen. Du, Lily und ich.‹ Seine Worte hallten durch meinen Verstand, bis ich nichts anderes mehr hörte. Das Rauschen der Wellen wurde zu einem Flüstern. Die schrillen Schreie der Möwen verstummten. Es kam mir vor, als sei die ganze Welt ein paar Ellen vor mir zurückgewichen. Ich war merkwürdig losgelöst. Weit weg. Betäubt. Wäre es nicht ganz leicht, zu meinen Kindern zu gehen? Jetzt konnte mich nichts mehr abhalten. Kei-
ne magischen Mittel, kein Handel mit einem Dämon. Der Gedanke blieb haften. Finster und häßlich. Aber er war schon immer dagewesen. Und hatte gelauert. Auf den richtigen Moment gewartet. Es bedurfte keines Dämons, der mir solche Gedanken einflüsterte. Die Qualen der Einsamkeit. Sie plagte mich wie ein verfaulter Zahn, bis ich wußte, ich würde nicht mehr essen noch schlafen noch an etwas anderes denken können. Wie ich mir wünschte, daß alles zu Ende sei. Aber ich konnte es nicht. Ich war zu feige. Ich glaube, da wollte ich weinen. Aber meine Tränen waren längst versiegt. Ich stieß ein Heulen der Wut und des Schmerzes aus, aber es half nicht. Nichts half. Mir war kalt. So kalt. Nachdem ich die Nacht und den größten Teil des nächsten Tages an Hebhels Grab gesessen hatte, hätte mich das eigentlich nicht überraschen dürfen. Ich fragte mich, was ich tun sollte. Wohin sollte ich gehen? Was sollte ich mit meinem Leben anfangen? Ich hatte alles verloren, was mir etwas bedeutete. Meine Kinder, meine Freunde. Jetzt hatte ich nichts mehr. Und da kam er zurück. Nein, nicht Aithne. Ysrthgrathe. Er tauchte in der Dämmerung auf. Die Sonne war gerade untergegangen, und kein Lüftchen rührte sich. In diesem seltsamen Zwielicht glaubte ich einen Moment lang, daß ich ihn mir nur einbildete.
»Dein Kummer ist höchst erfreulich«, sagte er. Ich schloß die Augen. Es war zu anstrengend, mich jetzt mit ihm zu befassen. Ich konnte es nicht. »Warum machst du nicht endlich ein Ende und tötest mich«, sagte ich. »Ich glaube fast, ich würde es begrüßen.« »Soviel Kummer, und alles umsonst«, sagte er. »Welch eine Verschwendung. Deine ganze Liebe, und wofür das alles? Siehst du, was Liebe bewirkt? Sie beraubt dich und läßt nichts zurück. Ich wäre da viel freundlicher. Warum nimmst du kein Geschenk von mir an? Überleg doch nur, was ich dir geben könnte.« Und ich überlegte es mir. Ich hatte nichts. Keine Familie, keine Kinder, keine Freunde. Doch er konnte mir Macht geben. Das war alles, was noch übrig war. Es war so verlockend. Ich brauchte nur ja zu sagen. »Nein«, hörte ich mich zu meiner großen Verblüffung selbst sagen. Hatte ich sein Angebot nicht annehmen wollen? Es hatte den Anschein, als würde ich mich selbst nicht mehr kennen. War das der Wahnsinn? »Warum lehnst du ab, was du eigentlich willst?« fragte er. Es knisterte, als er auf mich zukam. »Mach ein Ende und töte mich einfach.« »Dich töten? Warum sollte ich dich töten? Ich dachte, du würdest das verstehen. Du bist etwas Besonderes. Ich bin gekommen, um mich an deinem
Kummer zu weiden, und kein anderer könnte dich ersetzen. Ich habe es mit anderen versucht, aber es ist nicht dasselbe. Komm zu mir, Aina. Sieh, was ich dir geben kann.« Seine Hände griffen nach mir. Die langen Spinnenfinger mit ihren rasiermesserscharfen Nägeln. Wie oft hatte er sie in mein Fleisch gebohrt, das immer wieder verheilt war? Wie viele Jahre hatte ich ihn in dieser verhaßten Symbiose mit dem Leid in meine Gedanken gelassen? War ich wirklich bereit, das noch einmal zu ertragen? Ich kroch weg von ihm, da sich meine Beine weigerten, mich zu tragen. »Nein«, sagte ich. »Ich will nichts von dir. Was du dir jetzt nimmst, mußt du dir gegen meinen Willen stehlen.« Er hob mich auf und schüttelte mich, als wöge ich nicht mehr als eine Strohpuppe. Mein Kopf wurde hin und her geschleudert. Schwarze Punkte erschienen vor meinem gesunden Auge. Mein verletztes Auge pochte und brannte. »Gib mir, was ich will«, verlangte er. »Das hier reicht nicht. Dieses primitive Leiden. Der körperliche Schmerz. Willst du mich dazu verdammen?« Er zog mich an sich und wickelte seine langen Finger um meinen Hals. Mein Puls schlug unregelmäßig unter seiner Berührung. Das Blut rauschte in meinen Ohren. Plötzlich wurde mir klar, daß ich Angst vor dem Sterben hatte. Ich trat um mich, erreichte aber nur, daß sich meine Beine in seiner
Samtrobe verfingen. »Glaubst du, ich sei fertig mit dir?« fragte er. »Das ist erst der Anfang. Durch die Jahrhunderte werde ich dich verfolgen. Dich heimsuchen. Nie wirst du Glück kennenlernen, wenn ich es nicht gestatte. Und auch dann nur so lange, bis ich es dir wieder nehme. Glaub nicht, daß ich dich je freigebe.« Er ließ mich los, und ich fiel zu Boden. Ich hustete und schnappte nach Luft, während die schwarzen Punkte wie Windlinge vor mir tanzten. Mir kam der Gedanke, mich gegen ihn zu wehren. Ohne weiter darüber nachzudenken, drehte ich mich um und wirkte. Der Zauber löste sich von meinen Fingern wie Wasserfäden. Die Fäden wirbelten umeinander, bis sie sich vereinigten und eine Decke aus blauem Feuer bildeten, die ihn einhüllte. Ein Aufschrei entrang sich ihm. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn je zuvor vor Schmerzen schreien gehört zu haben. Es war ein wunderbarer Laut. Plötzlich lag ein Gestank nach verbrannten Haaren in der Luft, bei dem mir die Augen tränten. Ich kratzte mir den Arm auf, bis Blut herausquoll. Nicht viel, aber es mußte reichen. Worte murmelnd, zog ich das Blut aus meinem Arm und verdrehte es, bis es ein Seil bildete. In fierberhafter Eile grub ich meine Nägel noch einmal in den Arm. Doch etwas traf mich von hinten, und der Zauber entglitt mir. Ich erlebte einen Augenblick der Schwerelosigkeit, und dann schlug ich hart auf den Boden. »Hast du geglaubt, deine lächerliche Magie könnte
mich aufhalten?« fragte er. Ich sah über die Schulter. Seine Robe war versengt und geschwärzt. Eine Hälfte seines Gesichts war weggefressen, und nur noch der silberweiße Knochen war übrig. Die Erregung des Sieges durchfuhr mich. Er war verwundbar. Und wenn er verwundbar war, konnte er auch getötet werden. »Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen«, sagte er. In seinen Händen blitzte etwas auf, und dann wurde die Welt schwarz.
»Was geschah danach?« fragte ich. Aina sah mich nicht an, sondern starrte weiter ins Feuer. »Nichts«, sagte sie. »Einige Zeit später erwachte ich. Mein Kopf schmerzte furchtbar, und mir war sehr kalt. Ich schleppte mich ins Haus und versorgte meine Wunden. Ich blieb lange Zeit dort. Dann nahm ich mein zielloses Umherwandern wieder auf.« Ich glaubte ihr nicht. So leicht wird man einen Dämon nicht los. Jedenfalls keinen, der so mächtig und entschlossen ist wie Ysrthgrathe. Ich hatte während der Plage und auch danach selbst den einen oder anderen Dämon getötet. Wenngleich ich zugeben muß, daß ich einen Anflug von Furcht ob der Aussicht verspürte, diesem Dämon gegenübertreten zu müssen, ließ ich mich nicht von der Angst beherrschen. Schließlich haben die Dornen auch ihren Nutzen. Ein Ausdruck krampfhafter Schmerzen huschte über ihr Gesicht. Ihre Hände sanken auf ihren Bauch, und sie stieß einen leisen Schrei aus. Ich sah die Angst in ihren Augen, als sie mich ansah. Sie wuchtete sich aus ihrem Sessel hoch. Dann sah ich, daß ihre Robe naß war. Das Kind war unterwegs. Ich ging auf sie zu, aber sie wich vor mir zurück. »Komm nicht näher«, sagte sie. Ihre Augen waren vor Furcht geweitet.
Ich blieb stehen und hob die Hände, um sie zu beschwichtigen. »Ich will dir doch nur helfen«, sagte ich. »Das Kind kommt jeden Augenblick.« »Es gibt kein Kind«, zischte sie. »Es kann keines geben.« »Warum nicht?« »Weil…« Sie zuckte wieder zusammen. Ich kannte mich in diesen Dingen nicht aus, aber ich spürte, daß etwas mit dem Fortgang, den diese Sache nahm, nicht stimmte. »Dann laß dich wenigstens von einem meiner Heiler untersuchen.« »Warum? Es ist alles in Ordnung. Wenn es Schwierigkeiten gibt, werde ich schon damit fertig.« »Das kannst du nicht«, sagte sich. »Soviel ist offensichtlich. Laß mich dir helfen.« Schweißperlen erschienen auf ihrer Stirn und Oberlippe. Sie biß die Zähne zusammen, als eine neue Schmerzwelle sie überfiel. Es sah aus, als könne sie zusammenbrechen. Da sprang ich ungeachtet ihrer Drohungen vor. Als ihre Beine nachgaben, fing ich sie auf und trug sie. Sie wog so wenig, daß es mich überraschte. Ich rief nach meinen Bediensteten und trug sie dann nach unten in meine eigenen Gemächer. Die Heiler kamen, und ich überließ sie ihrer Obhut. Es gab ein paar Dinge, denen selbst ich mich nicht stellen konnte.
Ihre Schreie erfüllten das Haus. Hallten durch die Flure und öffentlich zugänglichen Räumlichkeiten. Selbst die härtesten meiner Attentäter blieben davon nicht unbeeindruckt. Ich sah die Unruhe in ihren Augen und an ihrer Körperhaltung. Ich dachte daran, wie sehr sie ihre anderen Kinder geliebt hatte, die ihr solche Qualen bereitet hatten. Doch aus ihrer Geschichte ging eindeutig hervor, daß die Schmerzen unwichtig waren. Nur das Glück zählte, das sie ihr bereitet hatten. Warum verleugnete sie aber dann dieses Kind? Aus Furcht, daß dieses sterben konnte wie die anderen? Daß Ysrthgrathe zurückkommen und erneut seine schreckliche Rache nehmen würde? Wie konnte sie das nur ertragen? Und sehr zu meiner Überraschung stellte ich fest, daß ich mir Sorgen um sie machte. Welch eine Ironie, nicht wahr? Daß sich ausgerechnet das Wesen, welches Aithne solches Leid zugefügt hatte, einen Platz in meinem Herzen erobert hatte. Ja, ich habe ein Herz, obwohl dir manche das Gegenteil erzählen würden. Ich marschierte auf und ab wie ein werdender Vater. Als sei es mein Kind. Wie seltsam, daß es mir nicht egal war, was mit dieser Sklavin geschah. Mit diesem Fleisch, mit dem ich nach Belieben verfahren konnte. Vielleicht würde ich das Kind nehmen, bis ich seiner müde war. Ich dachte nicht darüber nach, was ich anschließend mit Aina tun sollte. Irgend etwas würde mir schon einfallen. So war es immer.
Den Rest der Nacht und den ganzen nächsten Tag lag sie in den Wehen. Ich fragte mich allmählich, wie sie das aushielt. Aber ich wußte, wie stark sie war. Dann herrschte plötzlich für längere Zeit Stille. Das beunruhigte mich. Ich rannte die Treppe zu meinen Gemächern hinauf. Die Türen waren geschlossen. Ich stand draußen und wartete darauf, etwas zu hören, irgend etwas. Es war totenstill. Dann erscholl ein durchdringender Schrei. Ich riß die Türen auf und platzte in den Raum. Das nackte Chaos regierte. Die Heiler hockten wie Aaskäfer um das Bett. Die Fäden magischer Energie zogen sich durch die Luft und beschrieben geheimnisvolle Strukturen. Irgendwann war Blut gespritzt und hatte rostfarbene Flecke an der Wand hinterlassen. Im matten Zwielicht der Dämmerung wirkte die Szene unwirklich und alptraumhaft. Aina stieß einen weiteren entsetzlichen Schrei aus. Ich hörte, wie die Heiler ihr etwas zumurmelten, aber sie schüttelte immer nur den Kopf und sagte: »Nein. Nein. Kein Kind… Bitte nicht.« Es war schrecklich mitanzuhören. Obwohl ich sie wirklich nicht mochte, rührte ihr Flehen sogar mich. »Helft ihr«, sagte ich. »Oder ich sorge dafür, daß ihr alle selbst Heiler braucht.« Einer der Heiler drehte sich mit zorniger Miene zu mir um. Das überraschte mich, da es nur wenige gab, die nicht vor mir kuschten. »Wir helfen ihr ja«, flüsterte er grimmig. »Aber
irgend etwas stimmt nicht mit diesem Kind.« »Was meinst du damit?« »Es scheint nicht herauskommen zu wollen. Ich weiß nicht, wie wir ihr helfen sollen. Wir konnten bisher nur den Blutverlust ausgleichen, und selbst das nur mit Mühe.« »Es gibt eine Möglichkeit«, sagte ich. »Sie kennt einen Zauber, der das Kind aus ihrem Bauch entfernt, ohne daß ihr dabei Schaden zugefügt wird.« »Warum hat sie uns dann nichts davon gesagt?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil sie nicht glaubt, daß sie ein Kind bekommt.« Er nickte. »Ich habe schon andere Frauen mit ähnlichen Wahnvorstellungen gesehen. Wenn wir sie dazu bringen könnten, es zuzugeben…« Da trat ich neben Aina. Ihre Haut hatte einen grauen Farbton angenommen. Gesicht und Hals waren von einem öligen Film bedeckt. Durch die ständigen Schmerzen waren ihre Augen matt und glanzlos. Ich nahm eine ihrer Hände und war alarmiert, wie kalt sie sich anfühlte. »Aina«, sagte ich. »Aina, sieh mich an.« Ich legte all meine Willenskraft in diesen Befehl. Langsam richtete sie den Blick auf mich. Welches Entsetzen darin lag, aber auch noch etwas anderes. Wissen. Ich sah, daß sie Bescheid wußte. Daß sie ein Kind gebar. Daß sie sich der Wahrheit nicht länger verschließen konnte. »Aina«, sagte ich, indem ich ihre Hand drückte. »Hör mir zu. Der Zauber. Du mußt den theranischen
Zauber gegen dich selbst wirken. Andernfalls wirst du sterben.« »Das… wäre… das beste«, sagte sie. »Nein«, erwiderte ich. »Sterben ist nie das beste. Denk an das Kind.« »Das tue ich ja«, sagte sie. »Du hast ja keine Ahnung. Er wird kommen.« »Soll er«, sagte ich. »Ich werde das Kind beschützen.« Sie lächelte. Trotz ihrer Schmerzen war es ein sanftes Lächeln. »Du weißt nicht, was du sagst.« »Doch, sogar ganz genau. Soll der Dämon kommen. Er wird nichts mit mir anfangen können. Das hast du selbst gesagt. Willst du ihn gewinnen lassen? Das Kind. Du mußt das Kind retten.« Ihr Blick war ebenso unergründlich wie der endlose Nachthimmel. »Also gut«, sagte sie, während sich ihr Gesicht zu einer Grimasse verzog, als eine weitere Wehe kam. »Aber vergiß nicht, du hast es so gewollt.« Dann setzten die leisen Worte des Zaubers ein und ergossen sich in einem hypnotischen Singsang von ihren Lippen. Sie teilte ihr Gewand, so daß noch mehr von ihrem angeschwollenen Bauch enthüllt wurde. Ich sah gebannt zu, wie ihre Hände in ihren Bauch einsanken und das Kind sanft herausholten. Die Schmerzen müssen entsetzlich gewesen sein, aber sie ertrug sie stoisch. Das Kind war in eine blutige Blase gehüllt, die in ihren Händen bebte. Einer der Heuer nahm ihr das Kind ab, während die ande-
ren mit dem Weben mächtiger Heilzauber begannen. Aina sank ohne einen Laut auf das Bett zurück. Ich hielt sie für tot, weil sie plötzlich so still und reglos war. »Ist sie… tot?« Der Heiler schüttelte den Kopf. »Nein, nur erschöpft…« Und da hörte ich den Schrei. Ich fuhr herum, da ich mit einem Angriff rechnete, aber ich sah nur die Heilerin, die das Kind an sich genommen hatte, von dem Tisch zurückweichen, auf den sie es gelegt hatte. Immer wieder schrie sie, bis ich zu ihr trat und ihr eine heftige Ohrfeige versetzte. »Was ist los mit dir?« fragte ich. »Es ist doch nur ein Kind.« Sie starrte mich mit verblüfftem Entsetzen an. Dann rannte sie aus dem Zimmer. Ich hörte sie im Flur würgen. Ich ging zu dem Tisch, auf dem das Kind lag, und warf einen Blick darauf. Wie kann ich beschreiben, was ich dort sah? Vielleicht gibt es Dinge, für die Worte völlig unzureichend sind. Was sollte ich mit diesem monströsen Ungeheuer anfangen?
Ich dachte daran, es zu ersticken. Sicher war das das beste für alle Beteiligten. Wie konnte ich dieses… Ding irgend jemandem zeigen? Und erst recht der Frau, die es geboren hatte? Und das war noch meine geringste Sorge. Die Diebe und Attentäter meiner Horde konnten durch so etwas leicht verunsichert werden. Durch ein böses Omen wären sie alle viel schwerer zu kontrollieren. So etwas wie das Wesen vor mir hatte ich noch nie gesehen – jedenfalls nicht bei einem Namensgeber. Die Haut war fast durchsichtig, so daß das blaue Netz der Adern darunter zu sehen war. Der Rumpf war dick und wurmartig und hatte weder Arme noch Beine. Darauf saß ein mächtiger Kopf. Ich sah die Adern bei jedem Herzschlag pulsieren, und ich wollte nichts anderes, als es erwürgen, so groß war mein Ekel. Niemand konnte mir einen Vorwurf machen, wenn er die Leiche sah. Dessen war ich mir sicher. Und wer würde es überhaupt wagen, mir hier einen Vorwurf zu machen? Ich streckte die Hände aus, die bei dem Gedanken daran zitterten, die widerliche Haut zu berühren. Meine Finger schlossen sich um den dünnen Hals. Gerade in dem Augenblick, als ich zudrücken wollte, öffneten sich seine Augen. Ach, seine Augen.
Sie waren dunkelblau. Von der Farbe des Himmels bei Dämmerung. Und sie verrieten Intelligenz. Kein Neugeborenes hatte die Welt je mit solch einem Ausdruck begrüßt. Ich ertrank förmlich in diesen Augen. Schwamm in ihnen in die Ewigkeit. Und ein Frieden überkam mich, wie ich ihn in meinem ganzen Leben noch nie zuvor empfunden hatte. Die durch die Dornen hervorgerufenen Schmerzen ließen nach, bis sie nicht mehr waren als ein paar unwichtige Nadelstiche. Und die Freude. Ich glaube nicht, daß ich bis zu jenem Augenblick überhaupt je Freude empfunden habe. Gewiß, ich dachte, ich hätte. Aber die schönsten Augenblicke meines Lebens reichten bei weitem nicht an diese Empfindung heran. Meine Hände lösten sich von seinem Hals. Ich konnte diesem Wesen nicht mehr Schaden zufügen als mir selbst. Sein Mund öffnete sich, und ich rechnete damit, daß es zu weinen anfinge. Statt dessen stieß es Laute von solch kristallener Schönheit aus, daß mir die Tränen kamen. Ich, der ich seit über zweihundert Jahren ein Blutelf war, weinte. Es war äußerst peinlich. Und dann überkam mich der überwältigende Drang, es zu halten. Dieses widerwärtige Wesen mit seiner abscheulichen Haut und seinem Wurmkörper. Als ich die Hände ausstreckte, sah ich die Dornen daran und erkannte, daß sie es verletzen würden. Ohne darüber nachzudenken, zog ich meine weiche Tu-
nika aus, wobei ich die Schmerzen ignorierte, als sie an den Dornen zerrte. Ich wickelte das Kind in den weichen Stoff ein und nahm es auf den Arm. Vom Kopf abgesehen, war es winzig. Nicht länger als mein Unterarm und nicht schwerer als eine kleine Katze. Während ich es hielt, roch ich seinen Duft. Süß und beschwingend wie Frühlingsblumen. Oder vielleicht erinnerte er mich auch an heiße Sommernächte. Nein, an Herbstblätter. Solche Erinnerungen weckte der Duft in mir und ließ meine Sinne vor Entzücken aufjubeln. Das heftige Verlangen, das Kind zu beschützen, durchzuckte mich. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich so empfunden. Ich sah über die Schulter. Aina war noch bewußtlos, doch ihre Hautfarbe war wieder normal. Die Heiler bemühten sich um sie, und ihre Hände beschrieben Muster in der Luft. Es würde noch Stunden dauern, bis sie in der Lage war, das Kind zu sehen. Jemand mußte sich darum kümmern. Offensichtlich konnte ich niemandem außer mir trauen. Verstohlen schlich ich mich aus dem Zimmer und in Ainas Gemach. Das Feuer im Kamin war fast heruntergebrannt, ließ sich jedoch mühelos wieder entfachen. Das Kind mit einem Arm haltend, legte ich Holzscheite auf die Kohlen. Sie waren trocken und fingen rasch Feuer. Dann ließ ich mich auf dem Sessel nieder, auf dem Aina gesessen hatte, während sie mir ihre Geschichte erzählt hatte. Ich wußte, daß ich irgendeine Nahrung für das Kind finden mußte, aber bis jetzt schien es
noch keine zu brauchen. Es tat nichts anderes, als mich mit seinen wunderbaren Augen zu betrachten, während ich seinen Duft in mich einsog. Ich sang ihm leise etwas vor, ein Schlaflied, an das ich mich noch aus meiner Kindheit erinnerte. Ein Lied, das mir meine Mutter immer vorgesungen hatte. Langsam fielen ihm die Augen zu. Als ich wußte, daß es schlief, brachte ich es zum Bett und legte es darauf. Dann blieb ich bei ihm, bis die Sonne aufging und es wieder erwachte.
Den ganzen Morgen wartete ich auf die Nachricht, daß Aina wach war und nach dem Kind fragte. Doch sie kam nicht. Langsam wurde mir klar, daß sie nicht darum bitten würde, es zu sehen. Und ich wurde wütend. Wie konnte sie dieses Kind verleugnen? Vorgeben, daß es nicht existierte. Ich wickelte das Kind in eine Decke und brachte es nach unten. In den Fluren war es seltsam ruhig, auch für diese Tageszeit. Die Stille weckte in mir das Gefühl, daß etwas nicht in Ordnung war. Ich öffnete die Tür zu meinem Gemach. Aina lag auf dem Rücken und starrte mit leerem Blick an die Decke. Sie gab durch nichts zu erkennen, daß sie mich eintreten gehört hatte. Als ich näher kam, stieß das Baby leise wimmernde Laute aus, die mein Bedürfnis, es zu beschützen, noch steigerten. Schließlich stand ich neben dem Bett. Aina richtete den Blick auf mich, doch sie sagte kein Wort. »Ich habe dir dein Kind gebracht«, sagte ich. »Ich dachte, du sähst es gern.« »Nein«, sagte sie. »Ich will es nicht sehen.« »Was soll das heißen, du willst es nicht sehen?« fragte ich. »Du bist seine Mutter.« »Ich habe es geboren, mehr nicht«, sagte sie. Ah, wie sie mich in Wut brachte. Hätte ich das
Kind nicht in den Armen gehalten, hätte ich meine Wut an Ort und Stelle an ihr ausgelassen. Aber ich konnte es nicht. Das Baby stieß immer noch wimmernde Laute aus. Das muß sie doch hören, dachte ich. Sie muß einfach reagieren. Aber sie schaute nur wieder zur Decke. Nicht einmal fiel ihr Blick auf das Kind in meinen Armen. Ich ließ sie ins Leere starren und ging. Meine Pläne hatten sich alle zerschlagen. All meine ausgeklügelten Vorhaben waren gescheitert. Aber das war mir egal. In meinen Armen hielt ich dieses groteske Kind, und doch war ich von einem Gefühl des Friedens erfüllt. Als ich auf meinem Weg die Treppe herunter an einem Fenster vorbeikam, sah ich den strahlend blauen Himmel und den wunderbaren Morgen. Ich öffnete es und atmete die frische Luft ein. So stand ich lange Zeit da und ließ uns vom Schein der Sonne streicheln.
Ich rief nach meinen Dienern, als ich meine Empfangsgemächer betrat. Mehrere Minuten verstrichen, und niemand erschien. Zuerst war ich verwirrt. Dann wurde ich wütend. Ich würde keine Respektlosigkeiten dulden. Und nicht zu kommen, wenn ich rief, war die gröbste Respektlosigkeit überhaupt. Ich machte mir über meine sonderbaren Gefühle für diese abstoßende Kreatur Gedanken. Wie konnte sie bewirken, daß mir soviel daran lag? Ich hatte nie auch nur den Ansatz eines Drangs verspürt, meine Sklaven zu beschützen. Warum sollte es bei diesem Wesen anders sein? Ich versuchte gegen die stärker werdenden Gefühle anzukämpfen, aber ich konnte nicht. Und nach einer Weile stellte ich die Versuche ein. Das Kind schlief. Mir ging auf, daß ich einen Namen für… es brauchte. Das war ein weiteres Problem. Es schien geschlechtslos zu sein. Also mußte ein passender Name gewählt werden. Einer, der weder männlich noch weiblich war. Einer, der das Wesen dieses Kindes vermittelte. Ich wußte, daß die Namensgebung wichtig, die Macht der Namen unermeßlich war. Der Gedanke daran, den richtigen Namen zu finden, lenkte mich von meiner Wut ab, doch nur für einen Augenblick. Ich konnte über diesen Affront
nicht einfach so hinwegsehen. Welches Beispiel würde ich dem Kind damit geben? Während ich noch meine Strafmaßnahmen plante, schlich sich einer der Heiler herein. Es war die Frau, die schreiend weggerannt war, als sie das Kind gesehen hatte. Mein Mißvergnügen wuchs. »Was willst du?« schnauzte ich sie an. Sie sah aus, als würde sie jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. »Ich… wir… ich…« »Heraus damit.« »Ich… ich bin von Euren D… D… Dienern geschickt worden, um Euch zu s… sagen, daß sie sich vor diesem Kind fürchten«, stotterte sie. »Es ist ein böses Omen. Ein Überbleibsel aus der Zeit der Plage.« Ich wollte ihr den Kopf von ihrem dürren Hals reißen. Aber ich beherrschte mich. »Das ist lächerlich«, sagte ich. »Es ist ein Kind. Ein Säugling. Nichts anderes.« Ein sturer Ausdruck legte sich über ihr Gesicht. »Aber ich habe es gesehen«, sagte sie. »Es ist… nicht richtig. Es ist ein Ungeheuer.« Ich zählte im stillen bis zehn, wobei ich versuchte, mir meinen Ärger nicht anmerken zu lassen. Ich würde Leute brauchen, die Erfahrung mit Kindern hatten, auch wenn sie so dumm wie diese Frau waren. »Komm her und sieh selbst«, sagte ich. Ich kam
überhaupt nicht auf die Idee, daß jemand das Baby angsteinflößend finden könnte. Sie wich zurück. »Nein«, sagte sie. »Ich will es nicht noch einmal sehen.« Da riß mir die Geduld. Ich packte ihren Arm und zerrte sie zu mir. Meine Dornen bohrten sich in ihre Haut, was sie zusammenzucken ließ, aber mir war das gleichgültig. Ich ließ nicht zu, daß solche Narren wie sie Lügen über mein Kind verbreiteten. »Schau«, sagte ich, während ich ihr das Kind hinhielt. »Sieh es dir an.« Sie kniff die Augen zu wie ein Kind, wenn es Angst hat. Ich ließ ihren Arm los und umklammerte ihren Nacken. Vor Überraschung öffneten sich ihre Augen. Und sie sah das Kind. Zuerst huschte ein Ausdruck des Entsetzens über ihr Gesicht. Dann stieß der Säugling einen leisen Schrei aus und sah sie an. Und da sah ich, was dieses Kind bewirken konnte. Alle Furcht und Besorgnis in dem Gesicht der Heilerin wichen einem Ausdruck der Verzückung. Sie griff nach dem Kind, aber ich ließ es nicht los. »Bitte«, sagte sie. »Laßt es mich halten.« Ich ließ ihren Hals los und trat zurück. Ich wollte nicht, daß jemand anders das Kind berührte. Ich traute niemandem, nur mir selbst. »Geh und sag den anderen, daß es keinen Grund zur Furcht gibt. Sag ihnen, was du gesehen hast«, sagte ich. »Und sag ihnen auch, daß ich jedem mit
äußerster Strenge begegnen werde, der meinen Befehlen nicht gehorcht.« Sie nickte und wandte sich ab. Doch während sie zur Tür ging, bemerkte, daß sie sich immer wieder umdrehte, um noch einen letzten Blick auf das Kind zu werfen. Im Laufe des Morgens kamen die meisten meiner Diener zu mir, um mit mir zu reden. Oder jedenfalls dachte ich das zuerst. Als die Parade von Leuten in meinen Gemächern kein Ende nahm, wurde mir klar, daß sie kamen, um das Kind zu sehen. Viele reagierten zuerst so wie die Heilerin – mit Furcht und Abscheu. Doch wenn sie den Duft des Kindes wahrnahmen, seine Stimme hörten oder seine Augen sahen, waren sie wie verwandelt. Ein Teil von mir wunderte sich über diesen jähen Sinneswandel. Wunderte sich wiederum über meine eigenen Empfindungen. Aber ich brauchte nur in die Augen des Kindes zu sehen, und alle meine Zweifel waren wie weggeblasen. Und ich wunderte mich über Ainas Gleichgültigkeit ihrem Kind gegenüber. Sie hatte immer noch nicht danach verlangt, es zu sehen. Einer der Heiler erwähnte mit nicht geringer Verärgerung, daß sie immer noch dalag und die Decke anstarrte. Wie war es möglich, daß dieses Kind sie so kalt ließ? Und wieder meldete sich der kleine Zweifel in meinem Hinterkopf. Was war mit diesem Kind, daß es einerseits so abstoßend und andererseits so bezau-
bernd war? Wie war das möglich? Die Frage beschäftigte mich hartnäckig und erfüllte mich mit einer vagen Furcht. Ich versuchte meine Besorgnis zu verdrängen. Aber schließlich konnte es mich nicht einmal mehr beruhigen, wenn ich das Kind hielt. Ich wußte, daß ich Aina gegenübertreten mußte. Ich wußte, daß ich herausfinden mußte, was sie verheimlichte.
Ich stand in der Tür und beobachtete sie einen Augenblick, bevor ich eintrat. Es kam mir so vor, als hätte sie sich seit meinem letzten Besuch nicht bewegt. Sie war so still und reglos wie ein Bildnis. Das Kind wimmerte in meinen Armen. Jedesmal, wenn wir in Ainas Nähe kamen, stieß es diese jämmerlichen Laute aus. Das Herz ging mir dabei auf. Und die Wut stieg in mir hoch. Ich liebte es, doch in meiner Nähe gab es nie solche Laute von sich. Nein, diese Laute waren nur für sie bestimmt. Und das auch nur, weil sie seine Mutter war. Sie hatte es nicht verdient. Ich hatte es vor allem Übel bewahrt. Ich hatte dafür gesorgt, daß sich jemand darum kümmerte. Ich wachte in der Nacht, während Aina nicht einmal den Kopf wandte, um es anzusehen, wenn wir den Raum betraten. Es stieß wieder einen dieser wimmernden Laute aus. Und meine Wut verrauchte. Es war mir egal, daß es zu ihr wollte. Ich wollte nur, daß es glücklich war. Und wenn es zu Aina wollte, dann, bei allen Passionen, würde es auch zu Aina kommen. Ich ging zum Bett. Ihre Augen waren offen, aber sie sah mich nicht an. Ich war es leid. »Ich will alles über dieses Kind wissen«, sagte ich. Ihre Augen schlossen sich, dann öffneten sie sich langsam wieder. »Ich habe dir nichts zu sagen«, sagte sie. Ihre
Stimme war matt und leblos. »Lügnerin.« »Wenn du es sagst.« »Hör mit diesen Spielchen auf«, sagte ich. »Es ist zu wichtig. Ich muß alles über die Entstehung dieses Kindes wissen. Warum es ist, was es ist.« »Ich kann dir nichts darüber erzählen«, sagte sie. Ich wollte sie töten, aber das hätte mich auch nicht weitergebracht. Vielleicht würde ich es noch tun hinterher. »Das Kind hat… Macht«, sagte ich. »Wenn du es doch nur einmal ansehen würdest. Oder halten.« »Nein!« Endlich eine Reaktion. »Wovor hast du Angst?« fragte ich. »Es ist nur ein Kind. Es kann dir nichts tun.« Sie wälzte sich auf die Seite, so daß sie uns den Rücken zudrehte. »Geh weg«, sagte sie. Ich hielt ihr das Kind hin. Sie stöhnte schwach und preßte das Gesicht gegen die Matratze. »Was ist los, Aina? Fürchtest du dich?« Über die Schulter warf sie mir einen Blick zu, aus dem der nackte Haß sprach. »Ja«, sagte sie. »Und wenn du nur ein wenig Verstand hättest, würdest du dich auch fürchten.« »Aber ich fürchte mich nicht.« Sie zuckte die Achseln und sah wieder weg. Meine Geduld war beinahe erschöpft. Ich hielt das Kind mit einem Arm und packte Ainas Schulter. Mit
einem entschlossenen Ruck drehte ich sie auf den Rücken. Sie funkelte mich an, aber das war mir egal. Ich wollte nur wissen, was es mit diesem Kind auf sich hatte. Ich setzte mich auf die Bettkante und nahm ihr Kinn in meine freie Hand. Die Dornen stachen sie, doch sie zuckte kaum. »Sieh es dir an«, sagte ich. »Nein.« Ich schüttelte sie aus Leibeskräften. Aber sie sah weiterhin nur mich an. »Du mußt mir alles über dieses Kind erzählen«, sagte ich. »Wie könnte ich es sonst beschützen?« »Ich kann nicht«, sagte sie nach einer langen Pause. Und ich sah die Tränen in ihren Augen. »Ich habe solche Angst.« »Wovor?« »Ich habe dir nicht alles erzählt…« »Dann erzähl es mir jetzt.« Das tat sie.
Nachdem Ysrthgrathe verschwunden war, ging ich in mein Haus zurück, um meine Wunden zu pflegen. Aber ich verließ es nicht. Ich blieb dort in meinem winzigen Heim, und meine Welt verengte sich immer mehr, bis es nur noch mich und die Pflege von Hebhels Grab gab. Ich bemerkte nicht den Jahreszeitenwechsel. Ich kümmerte mich nicht um die wenigen Besucher, die ich hatte, bis mir auffiel, daß niemand mehr kam. Aber auch damit fand ich mich schnell ab. Die Einsamkeit hätte ein Trost sein sollen, aber in Gedanken ging ich das Geschehene immer wieder durch. Alle Fehler, die ich begangen hatte, und ihre furchtbaren Konsequenzen. Ich wollte nur eines, und zwar die Vergangenheit ungeschehen machen. Dann, eines Tages, als ich am Strand spazierenging, hatte ich einen Besucher. Ich sah ihn auf der Klippe stehen. Aus der Ferne konnte ich nicht erkennen, wer es war, aber er hatte etwas Vertrautes an sich, obwohl ich nicht sagen konnte, was. Ich erklomm den Pfad, der vom Strand zur Klippe empor führte. So leicht waren meine Schritte schon lange nicht mehr gewesen. Was war der Grund für diese plötzliche Aufregung? Auf halbem Weg angelangt, ging ich nicht mehr, sondern rannte. Der Fremde stand immer noch auf der Klippe und sah in eine andere Richtung. Als ich
näher kam, drehte er sich um. Es war Olin. Der Olin aus Himmelsspitze, der geschworen hatte, die Stadt nie zu verlassen. Und jetzt stand er da und wartete auf mich am Rande jener Klippe. Sein Anblick raubte mir den Atem. Er war so, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Anmutig und wunderschön mit seinen dichten, langen, glatten schwarzen Haaren. Die grauen Augen. Die glatte olivfarbene Haut. Ich fühlte mich lebendig, als ich ihn ansah. Er war die einzig gute Erinnerung der letzten Jahre, die ich hatte. Ich hatte sie wie einen Schatz behütet und nur an ihn gedacht, wenn mein Kummer zu groß geworden war. »Aina«, sagte er. Diese Stimme. Wie Honig, golden, süß und voll. Ich wollte den Mund kosten, der so einen Laut hervorbrachte. »Olin«, sagte ich. Dann stand ich da und sog seinen Anblick in mich auf, unfähig, mehr zu sagen. Er breitete die Arme aus, und ich begab mich willig in seine Umarmung. Es war der erste Kontakt, den ich seit langer Zeit mit einem anderen Lebewesen hatte. Diese einfache Freundlichkeit durchbrach einen Damm in mir. Ich fing an zu weinen und konnte nicht mehr aufhören. Meine Traurigkeit ergoß sich aus mir wie ein reißender Strom. Schmerzschwall auf Schmerzschwall wusch über Olin hinweg, und er stand einfach nur da und ließ alles über sich ergehen. Tröstete mich. Hielt mich, bis meine Tränen versieg-
ten und ich vor Erschöpfung keuchte. Ich wollte mich von ihm lösen, doch er ließ mich nicht los. »Nicht«, sagte er. »Ich will mich um dich kümmern. Ich habe so lange gebraucht, um dich zu finden.« Mein Kopf ruhte an seiner Brust, und als er sprach, konnte ich das tiefe Grollen seiner Stimme in ihr spüren. Es tröstete mich. Wie leicht es war, ihn für mich stark sein zu lassen. Ich war es so leid, allein zu sein. Mir war nicht einmal klar gewesen, wie leid ich es war, bis er auftauchte. »Ich bin froh, daß du da bist«, sagte ich. »Aber wie bist du aus Himmelsspitze geflohen?« »Das ist eine Geschichte für später. Zuerst mußt du mir erzählen, was dir zugestoßen ist. Du bist so traurig. Ich will dir helfen.« Und er führte mich in mein kleines Haus. Er kümmerte sich um heißes Wasser und die Zubereitung des Tees, während ich nur dasaß. Als er mir die Tasse gab, beugte er sich vor und gab mir einen sanften Kuß. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Es war so lange her. Eine so einfache Handlung hatte so große Wirkung. Als er mich ansah, geschah das mit soviel Liebe und Mitgefühl, daß es mir den Atem raubte. Und dann erzählte ich ihm alles. Ich ließ nichts aus, schilderte alle meine egoistischen, zerstörerischen Taten, ohne mit der Wimper zu zucken. Ein Teil von mir hoffte, daß ihn das vertreiben würde.
Während ein anderer Teil in mir betete, daß er es über sich bringen würde zu bleiben. Der Tee war lange kalt geworden, als ich schließlich fertig war. Ich wartete darauf, daß er etwas sagte. Während sich die Minuten dehnten, gelangte ich mehr und mehr zu der Überzeugung, daß er von meinem Tun abgestoßen war. Daß er mich so ansehen würde, wie Aithne es getan hatte, und mich dann ebenfalls verließ. Dann nahm er meine Hand und küßte sie sanft. »Das ist alles nicht mehr wichtig«, sagte er. »Was geschehen ist, ist Vergangenheit. Belaß es dabei. Wir sind jetzt in der Gegenwart. Du mußt aufhören, dich selbst zu bestrafen. Laß mich dir dabei helfen.« Zuerst konnte ich nicht glauben, was er sagte. Mit so einem Geschenk hatte ich nicht gerechnet. Verzeihung und das Angebot eines Neuanfangs überstieg meine kühnsten Träume. Von meinen Gefühlen überwältigt, fing ich an zu weinen. Olin beugte sich vor und küßte die Tränen fort. Dann glitten seine Lippen über meine. Sein Atem war süß und schmeckte, wie ich es mir vorgestellt hatte. Nach Honig und nach warmem Fleisch und nasser Zunge. Es war so lange her, seit ich berührt worden war. Meine Haut verzehrte sich vor Sehnsucht. Es kam mir so vor, als könne ich ihm nicht nah genug sein. Unsere Kleider fielen zu Boden, als wir übereinander herfielen. Es war der blanke Wahnsinn. Eine unstillbare Gier
einander zu verzehren. Zu berühren, zu schmecken und zu spüren. Ich zitterte vor Erregung. Ich spürte, wie ich mich ihm öffnete, ihn aufforderte, bei mir zu sein, sich mit mir zu vereinigen. Seine Lippen lagen auf meinen, und wir waren eins. Meine Hände strichen durch sein Haar. Es war wie schwere Seide unter meinen Fingern. Freudentränen liefen mir über die Wangen. Ich streichelte seinen Nacken und berührte seine Ohren mit ihren zarten Spitzen. Und trotz meiner Leidenschaft, wußte ich Bescheid. Ich wußte, daß es nicht richtig war. Ich packte sein Nackenhaar und riß seinen Kopf zurück. Es war nicht Olin. Ich schrie, als das Gesicht aus meinen furchtbarsten Alpträumen vor mir Gestalt annahm. Wie kann ich sagen, was mein Verstand zu glauben sich weigerte? Was ich mir nicht vorstellen konnte aus Angst, den Verstand zu verlieren? Es war Ysrthgrathe. Der Dämon hatte mich überlistet. Hatte mich glauben gemacht, daß ich Olin berührte. Und in meiner Einsamkeit und Verzweiflung hatte ich es glauben wollen. Und das, Vistrosh, ist das Geheimnis des Kindes. Sein Vater ist ein Dämon. Ein Wesen von so großer Bösartigkeit, daß ich es töten würde, wenn ich die Kraft dazu hätte. Und was wirst du jetzt mit dem Kind tun? Willst du, daß ich es an meine Brust lege und säuge? Oder wirst du tun, was jedes vernünftige Wesen tun würde? Es umbringen und die Welt davon befreien?
Aber das ist nicht einmal das Schlimmste daran. Das Schlimmste von allem ist, daß dieses Kind dieselbe Wirkung auf mich hat wie auf dich. Seitdem ich es aus meinem Bauch geholt und berührt habe, liebe ich es. Es bedurfte all meiner Willenskraft, es nicht an mich zu drücken und keiner anderen Person zu erlauben, es zu berühren. Wie ich die Tatsache hasse, daß du es hältst und nicht ich. Das geht über alles hinaus, was ich je für Hebhel und Lily empfunden habe. Und was für ein Verrat dieses Gefühl ist. Das Kind eines Ungeheuers mehr zu lieben als meine eigenen Kinder.
Entsetzt betrachtete ich das Kind in meinen Armen. Es war die Frucht einer unnatürlichen Verbindung zwischen einem Namensgeber und einem Dämon. Solch eine Monstrosität durfte nicht weiterleben. Aber wie konnte ich es töten? Ich ließ Aina los und erhob mich. Das Kind wimmerte noch einmal. Und ich sah zum erstenmal, daß Aina darauf reagierte. Wie sie das Wimmern quälen mußte. Ihr Blick wich keinen Augenblick von dem Bündel in meinem Arm. »Laß es mich sehen«, sagte sie. »Nein«, erwiderte ich. »Du weißt nicht…« »Es spielt keine Rolle«, sagte sie. »Ich bin immer noch seine Mutter. Ich habe die letzten Tage krampfhaft versucht, nicht daran zu denken. Es nicht zu wollen. Es nicht zu trösten, wenn ich sein Weinen hörte. Ich sehne mich danach, es zu berühren. Bitte, laß es mich sehen.« »Aber wir müssen tun, was richtig ist.« Eine Träne lief ihr über die Wange. »Ich weiß«, sagte sie. »Aber laß es mich halten, nur einmal.« Widerwillig hielt ich ihr das Kind hin. Sie nahm es mir ab und auf den Arm. Dann zog sie den Stoff zurück, um sein Gesicht zu entblößen. Ich dachte, sie würde vor Furcht aufkeuchen oder vor seiner Häßlichkeit zurückschrecken, aber die Ge-
schichten, daß alle Babys für ihre Mütter hübsch waren, schienen zu stimmen. Denn der einzige Ausdruck auf ihrem Gesicht war der des Glücks. Das Kind wimmerte wieder ein wenig und stieß dann ein entzücktes Gurren aus. Aina sah ihm tief in die Augen. Zweifellos war sie von dem Kind ebenso verzaubert wie ich. Wahrscheinlich sogar noch mehr. Nein, das konnte nicht sein. »Ich sollte ihm einen Namen geben. Jedes Kind sollte einen Namen haben«, sagte sie, während sie sanft die Decke aufschlug, um zu sehen, was sich darunter befand. Als sie seinen Körper sah, fing sie an zu weinen. Aber lautlos. Die Tränen liefen ihr nur so über das Gesicht, als wollten sie niemals enden. »Ich dachte, Thais wäre ganz angemessen«, sagte ich. »Thais«, sagte sie. »Freudenspender. Ja, das klingt gut. Es spendet tatsächlich Freude. Empfindest du auch so, wenn du es hältst?« »Ja«, sagte ich leise. »Wie ich es noch nie erlebt habe.« Während sie Thais wieder in die Decke einwickelte, sah Aina mich an. In ihrem Gesicht stand nackte Verzweiflung. »Du weißt, was wir tun müssen?« fragte sie. Ich hatte noch nie so starke Gemütsregungen auf ihrer Miene gesehen. Schmerz, Verzweiflung, Furcht, Trauer. Ich nickte. »Ich wüßte nicht, wie wir es beschützen sollten.
Nicht nur vor Ysrthgrathe, sondern auch vor den Leuten. Heutzutage ist alles Unnormale… Du weißt, was passieren kann.« Sie erhob sich vom Bett, das Kind immer noch auf dem Arm. »Laß es uns schnell erledigen«, sagte sie. »Denn je länger ich es halte, desto schwieriger wird unser Vorhaben.« Sie hielt mir das Kind hin, während ich meinen Dolch aus der Scheide zog. Ich sah, daß sie zitterte. Ich hob den Dolch und sagte mir, daß es schnell getan sein würde. Es war nur ein rascher Stoß. Aber ich konnte es nicht. Ich konnte meinen Arm ebensowenig herabsausen lassen und dieses Kind töten, wie ich meine Natur ändern konnte. Aina sah mich an, während die Tränen auf ihren Wangen trockneten. Sie zog Thais ganz nah an sich. Dann streckte sie die Hand aus, und ich gab ihr den Dolch. Sie stand da, das Kind in der einen und den Dolch in der anderen Hand. Ich wandte mich ab, da ich es nicht ertragen konnte mitanzusehen, wie sie es tötete. Ich hörte sie stöhnen und glaubte ein Geräusch zu hören, als werde Fleisch zerfetzt. Tränen schossen mir in die Augen und brannten auf meinen Wangen. Ich hatte ein Gefühl, als müsse mir das Herz brechen. »Es tut mir leid«, sagte sie schließlich. »Wie konnte ich von dir verlangen, etwas zu tun, das ich selbst nicht vollbringen kann?« Ich sank gegen die Wand, da mich das Gefühl
überwältigte, meine Beine seien plötzlich zu schwach, um mich zu tragen. »Was soll ich nur tun?« fragte sie heiser. »Wie soll ich es beschützen?« »Wir beschützen es zusammen«, sagte ich. »Warum solltest du das tun?« fragte sie. Die Schwäche war aus meinen Beinen gewichen, und es gelang mir, mich von der Wand abzustoßen. Ich strich meine Kleidung glatt. Schließlich bin ich sehr anspruchsvoll. »Sieh in seine Augen«, sagte ich. »Ich bin nicht dagegen gefeit. Ich habe auch Gefühle.« »Wie rührend.« Die Stimme kam aus einer Ecke des Raumes. Wir drehten uns zu ihr um. Aina stieß ein leises Keuchen aus, und Thais fing an zu weinen. Dort in der Ecke stand ein Wesen. Ein Dämon. Er war in ein schweres Samtgewand gehüllt, das den größten Teil seines Körpers bedeckte. Muskelbepackte Arme griffen nach uns. Sein Kopf war der Kopf des Todes. »Ich bin gekommen, Aina«, sagte er. »Ich bin gekommen, um mein Kind zu holen.«
»Nein!« schrie Aina. »Nein!« Ich packte ihre Schultern, weil ich glaubte, sie könne tatsächlich versuchen, den Dämon mit Thais auf dem Arm anzugreifen. »Du willst es nicht«, sagte der Dämon. »Du wolltest es sogar töten. Gib es mir.« »Damit du es vernichten kannst, wie du alles andere vernichtest?« fragte sie. Er legte eine Hand auf seine Brust. »Ich bin tief getroffen«, sagte er. »Wie kannst du so etwas sagen? Ich bin der Vater dieses Kindes. Welcher Vater würde sein Kind nicht gerne nach seinem Ebenbild formen?« Aina stieß ein schreckliches, kehliges Stöhnen aus. Ich zog sie näher an mich und schloß sie und das Kind in die Arme. »Das ist ein ziemlich trautes Bild«, sagte er. »Aber ist es nicht auch ein wenig seltsam? Schließlich hat er in dieser Hinsicht kein Interesse an dir, meine Liebe. Er wird deine Wonnen nie kennenlernen. Aber ich kenne sie. Und jetzt existiert auch noch ein Kind zwischen uns. Ein Symbol unserer gegenseitigen ewigen Hingabe. Ich will dafür sorgen, daß mein Kind in Sicherheit ist. Du weißt, daß dort draußen alle möglichen Gefahren auf die Schutzlosen lauern.« Aina kehrte dem Dämon den Rücken und drückte mir Thais in die Arme.
»Nimm Thais und lauf«, flüsterte sie. »Bring ihn in Sicherheit.« Sie fuhr herum und wirkte irgendeinen Zauber gegen den Dämon, der durch den Raum und das Fenster gewirbelt wurde. Glassplitter flogen durch die Luft. Ich fuhr herum und duckte mich, um Thais vor den Scherben zu schützen. »Lauf«, sagte sie grimmig, während sie zu dem Loch rannte, wo sich gerade noch das Fenster befunden hatte. Mit einem kurzen Blick zurück auf Thais und mich sprang sie. Ich lief zu der Öffnung. Aina und der Dämon schwebten einander gegenüber. Beide murmelten Zauber. Ich sah, wie ein dickes Seil aus der Hand des Dämons schoß und sich um Ainas Taille wickelte. Er zog sie auf sich zu. Sie wehrte sich nicht dagegen, sondern murmelte weiter. Es war eine seltsame Sprache, die ich noch nie zuvor gehört hatte. In dem Augenblick, als er sie berühren wollte, lösten sich dicke Fäden von ihren Fingerspitzen und woben sich um den Dämon. Hüllten ihn von Kopf bis Fuß ein. Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann fing er an zu schreien, als sich die Fäden zusammenzogen. Das Seil um Ainas Hüfte wurde schlaff, und sie fiel zu Boden. Ich glaubte, sie würde sich verletzen, aber im letzten Augenblick verlangsamte sich ihr Sturz, und sie landete weich. Sie schaute nach oben und sah mich am Fenster stehen.
»Geh!« rief sie, ungeduldig winkend. »Laß mich helfen«, sagte ich. »Es muß eine Möglichkeit geben.« »Rette Thais.« Dann gab es ein Geräusch, als berste Metall. Ich schaute auf und sah, daß der Dämon den Zauber abgeschüttelt hatte. Seine Robe war angesengt. Dünne Rauchfahnen erhoben sich von den Stellen, an denen er gebrannt hatte. Brandblasen bedeckten seine Arme und sein Gesicht, und an einigen Stellen war das nackte Muskelgewebe entblößt. »Aina, wie dumm von dir«, sagte er. »Weißt du denn nicht, daß ich deine Angst rieche? Sie riecht wie Wein. Blumig und voller Versprechungen. Aber das werde ich dir nicht ungestraft durchgehen lassen.« Ein Blitz überbrückte die Entfernung zwischen ihnen. Er traf Aina in die Brust und schleuderte sie zu Boden. Ich konnte ihr Haar riechen, als es Feuer fing. Es brannte hellblau, und sie schrie, als das Feuer sie einhüllte. Wieder und wieder schrie sie, während der Dämon langsam zur Erde schwebte und dabei seinen Körper streichelte, da er ihren Qualen lauschte. Ich wollte etwas tun, irgend etwas, um ihr zu helfen. Aber ich durfte Thais nicht in Gefahr bringen. Dann sah ich, wie das blaue Feuer schrumpfte. Es ballte sich zu einer Kugel zusammen, die sich immer schneller drehte, bis es eine wirbelnde Masse war. Blätter und Erdbrocken wurden von ihr aufgesogen. Ich spürte, wie der Wind auffrischte.
Das Feuer schoß über den Hof und hätte den Dämon mitten in die Brust getroffen, aber er hob die Hände, und der Flammenstrom teilte sich und flog harmlos an ihm vorbei. »Mehr hast du nicht aufzubieten, Aina?« sagte er. »Wirklich, du enttäuschst mich.« Ich wußte, ich hätte weglaufen sollen. Thais nehmen und fliehen sollen, aber ich war wie gelähmt. Meine Beine wollten den Befehlen meines Verstandes nicht gehorchen. Dann hörte ich Aina wieder sprechen. Aber diesmal bewirkten die Worte, daß mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. Etwas in mir rebellierte gegen die Worte, die ich hörte. Ich konnte die einzelnen Worte zwar nicht verstehen, aber die Bedeutung war mir klar. »Nein«, sagte der Dämon. Seine Stimme zitterte. »Das wagst du nicht.« Sein Gewand flatterte, als er zu Aina rannte. Doch sie sprach immer weiter, und eine Windböe hielt ihn auf. Ich sah wie betäubt zu, als die Runen auf ihrem Körper zu bluten anfingen. Das Blut tropfte nicht zu Boden, sondern ballte sich zu einer Masse zusammen. Und da sah ich, was mit ihr geschah. Ihre Narben löschten sich aus. Alle magischen Runen, die Macht, die auf ihren Körper geschrieben war, lösten sich in Blut auf. Blut für einen Zauber, den sie wob. Die Haut, die darunter zum Vorschein kam, war so glatt wie die eines Babys. »Du kannst nicht ungeschehen machen, was zwi-
schen uns ist«, schrie der Dämon. »Ich lasse es nicht zu.« Aina antwortete ihm nicht. Sie war jetzt auf die Knie gesunken, da Wind und Blut sich zu einer wirbelnden Säule formierten. Ich hörte ein schrilles Summen, und in meinen Ohren knackte es. Der Blutwind wirbelte auf den Dämon zu und saugte ihn auf. Er erhob sich in den Himmel, und als ich seinem Aufstieg folgte, sah ich, daß sich ein Riß im Himmelsgewölbe geöffnet hatte. Es gab einen Augenblick, in dem ich dachte, der Dämon könne sich befreien. Kopf und Schultern tauchten aus der wirbelnden Masse auf, und ich sah, daß die Haut von Fleisch und Knochen gerissen worden war. Das rötlich-blaue Muskelgewebe war zu sehen. Es sah naß aus. Ein Ausdruck der Überraschung huschte über sein Gesicht, als er wieder in den Strudel gesogen wurde. Der wirbelnde Blutwind schoß durch den Riß, der sich hinter ihm schloß. Thais fing an zu weinen. Ich versuchte es zu trösten, doch ohne Erfolg. Aina lag reglos auf dem Boden. Ich nahm an, daß sie tot war. Niemand konnte solch einen Akt der Magie und des Willens überlebt haben. Thais’ Weinen wurde immer lauter und verzweifelter. Ich war kurz davor, verrückt zu werden, weil nichts, was ich tat, half. Ungefähr zur gleichen Zeit kamen die Bediensteten angelaufen. Zweifellos hatten sie sich unter ihren Betten versteckt, bis die Gefahr vorbei war.
Und Thais weinte immer noch. Das Geräusch tat mir jetzt körperlich weh. Ich hätte alles getan, um seiner Traurigkeit ein Ende zu bereiten. Meine Diener, sogar die Attentäter fingen ebenfalls an zu weinen. Ich kam zu dem Schluß, daß wir alle verrückt geworden waren. Dann hörte Thais plötzlich auf zu weinen. Das erschrak mich so sehr, daß ich ebenfalls aufhörte. Dasselbe galt für meine Diener. Wir hörten einen schwachen Laut, eine Art Wimmern. Ich ging zu der Öffnung, wo sich das Fenster befunden hatte. Und dort, vor dem Loch, stand ein wunderschöner Mann. Sein Gesicht hatte die Größe der Zimmerwand. Er beugte sich ein wenig vor, um durch die Öffnung zu schauen. Sein Körper und seine Haltung waren von einer Vollkommenheit, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. Dies war eine Gestalt aus meinen geheimsten Phantasien. Ein unglaublich prachtvolles Wesen. Eine Passion. Astendar. Ich habe keine Ahnung, woher ich das wußte, aber es stand mir plötzlich mit absoluter Gewißheit vor Augen. »Wer hat mich gerufen?« fragte er. Ich wich von dem Loch in der Wand zurück, entsetzt darüber, die Aufmerksamkeit einer Passion erregt zu haben. Der riesige Kopf senkte sich noch ein wenig und lugte ins Zimmer. »Ah«, sagte er. »Das Kind.«
Dann nickte er, als ergebe all das einen Sinn für ihn. Ich drückte Thais fester an mich. Es zappelte und wehrte sich. »Vistrosh, warum hat mich dieses Kind gerufen?« fragte die Passion. »Seine Mutter…«, stotterte ich. »Sie hat sich für das Kind geopfert. Der Vater ist… war…« »Ja«, sagte Astendar. »Ich weiß. Aber es ist noch nicht alles verloren.« Er griff nach unten, und einen Augenblick später kam die Hand durch das Fenster. Und auf der Handfläche lag Aina. Ihre Haut war glatt und glühte in einem überirdischen Licht. Die Robe, die sie getragen hatte, hing in Fetzen an ihr. Ihre Narben waren tatsächlich alle verschwunden. Sie öffnete die Augen. Dann hob sie den Kopf und sah sich mit einer Miene um, als könne sie nicht glauben, was sie sah. Sie war benommen. »Ist das wieder ein Trick?« »Nein, Aina«, sagte Astendar. Aina wälzte sich von der Hand der Passion, die sich daraufhin wieder zurückzog. Die Passion war jetzt etwas kleiner, obwohl sich ihr Kopf immer noch in Höhe des zweiten Stocks befand, in dem wir uns aufhielten. »Warum?« fragte sie. »Warum nicht?« sagte Astendar. Dann verschwand er.
Ich sah zu, wie Aina Thais auf dem Arm hielt. Wie ich sie um ihre innige Verbindung beneidete. Um das Glück, das beide ausstrahlten. Ich würde niemals solche Freude kennen. Das machte mich traurig und zugleich wütend. »Vistrosh«, sagte Aina. »Ich muß gehen.« Ich nickte, da ich meiner Stimme nicht traute. »Du mußt Thais behalten.« »Was?« Ich war schockiert. Sie hatte offenbar immer die Macht, mich zu schockieren. Ich wollte Thais behalten, aber wie konnte ich das? Was für ein Vater würde ich sein? Mit meinen Dornen und seltsamen Vorlieben und Angewohnheiten. War es nicht grausam, jemandem wie mir ein Kind anzuvertrauen? Aina kam zu mir und sah mir in die Augen. »Du bist stark und brutal, Vistrosh«, sagte sie. »Thais braucht das, wenn er überleben soll. Und du kannst nicht anders, du mußt Thais einfach lieben. Das ist seine Gabe. Die Leute in deiner Umgebung sind auch rücksichtslos, aber sie werden Thais ebenfalls lieben. Beschütze Thais für mich. Bei dir ist er sicher. Ich muß weit weg, wo ich nie wieder etwas über mein Kind erfahre. Sollte der Tag kommen, an dem sich Ysrthgrathe von dem Zauber befreit, will ich, daß er keine Möglichkeit hat, Thais gegen mich zu benutzen. Verstecke ihn und behüte ihn. Tu, was du tun mußt, um das zu gewährleisten.«
Aina hielt Thais lange Zeit. Sie streichelte sanft seine durchsichtige Haut und zeichnete mit den Fingern die Muster nach, die seine Adern beschrieben. Sie murmelte dem Kind seltsame sinnlose Worte ins Ohr. Als sie mir Thais schließlich übergab, liefen ihr die Tränen über das Gesicht. »Ich war so lange innerlich wie tot«, sagte sie. »Und jetzt kann ich gar nicht mehr aufhören zu weinen.« Ich wußte einfach nicht, was ich darauf sagen sollte. Meine Schlagfertigkeit schien mich verlassen zu haben. »Kümmere dich um Thais«, sagte Aina. »Es werden viele Jahre vergehen, bis ich in der Lage bin, dir zu helfen. Mein Grimoir ist zerstört worden, und ich habe keine Ahnung, wann ich wieder so stark sein werde, wie ich einmal war.« »Was wirst du tun, wenn der Dämon zurückkommt?« fragte ich. Sie zuckte die Achseln. »Ich bin nicht sicher«, sagte sie. »Kämpfen. Sterben. Gewinnen. Verlieren. Ich weiß es nicht. Aber ich fühle mich sonderbar frei.« Sie streckte die Arme aus und betrachtete sie. »Es ist merkwürdig, aber meine Arme kommen mir fremd vor. Als gehörten sie jemand anders. Achte gut auf Thais. Und wenn die Zeit reif ist, erzähl
ihm alles. Erzähl ihm, was passiert ist. Von seinen Eltern. Und belüg ihn nicht, um ihn zu schonen. Das ist das Schlimmste, was man einem Kind antun kann. Selbst die furchtbarste Wahrheit ist besser als die süßeste Lüge. Nun, genug davon. Leb wohl, Vistrosh. Es wird Zeit für mich zu gehen.« Und damit verschwand Aina für immer aus meinem Leben.
Und das, Thais, ist die Geschichte deiner Eltern. So kommt es, daß du bei mir und der Horde in Kratas lebst. Jetzt weißt du, warum du deine Gabe besitzt. Und warum dich die Passion Astendar besucht. Aber eines sollst du wissen: Nichts von dem, was in der Geschichte geschehen ist, ändert etwas an meinen Gefühlen. Es ist mir egal, wer dich geboren hat. Oder wer dein Vater war. Du bist du. Du bist mein Kind. Und ich liebe dich.