Michael Gregorio
Königsberger Dämonen
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Der Winter 1804 ist bitterkalt, doch nicht Fr...
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Michael Gregorio
Königsberger Dämonen
scanned 01/2009 corrected 02/2009
Der Winter 1804 ist bitterkalt, doch nicht Frost und Schnee lassen die Königsberger erschaudern. In ihrer Stadt treibt ein kaltblütiger Serienmörder sein Unwesen, wenn nicht gar der Teufel selbst! Diesem dunklen Rätsel soll der Prokurator Hanno Stiffeniis auf den Grund gehen, der eigens aus der ostpreußischen Provinz in die Hauptstadt beordert wird, um den diabolischen Verbrecher zu stellen. Zwischen den düsteren Stadtmauern Königsbergs nimmt Stiffeniis die Fährte auf, die ihn in eine Welt verbotener Gedanken und gefährlicher Experimente führt, in die Welt des großen Philosophen Immanuel Kant … ISBN: 978-3-492-05010-4 Original: Critique of Criminal Reason Aus dem Englischen von Sonja Hauser Verlag: Piper Erscheinungsjahr: 2007 Umschlaggestaltung: creativ connect/Karin Huber, München
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Buch Wir schreiben den Winter 1804, den kältesten seit Menschengedenken, als Hanno Stiffeniis in Königsberg eintrifft. Kein Geringerer als König Friedrich Wilhelm III. hat den Juristen in die ostpreußische Hauptstadt beordert, wo er vier mysteriöse Todesfälle aufklären soll. Aber obwohl er jeden Winkel innerhalb der düsteren Stadtmauern beleuchtet und sogar in die Königsberger Unterwelt hinabsteigt, kann er weder Täter noch Motiv ausmachen. Immer mehr Menschen fallen dem unheimlichen Unbekannten zum Opfer, und es wird gemunkelt, der Teufel selbst habe seine Hand im Spiel. Fast schon ist auch Stiffeniis geneigt, dieser Theorie zu glauben – bis er eine ungewöhnliche Spur entdeckt, die ihn in die obskure Welt des großen Aufklärers Immanuel Kant führt … Immanuel Kants Königsberg, die stolze, altehrwürdige Universitätsstadt, bevölkert von Engelmacherinnen, Prostituierten und napoleonischen Spionen, ist der Schauplatz dieses historischen Kriminalromans, in dem der preußische Prokurator Hanno Stiffeniis einem unheimlichen Serienmörder das Handwerk legen soll.
Autor Michael Gregorio ist das Pseudonym eines SchriftstellerEhepaars: des Engländers Michael G. Jacob und der Italienerin Daniela De Gregorio. Die beiden leben im umbrischen Spoleto und haben über ihr gemeinsames Interesse an der Philosophie ihre Faszination für Immanuel Kant und das alte Königsberg entdeckt. »Königsberger Dämonen«, ihr erster Roman, ist in zwölf Ländern erschienen und gelangte in Italien unter die Top Ten der Bestsellerliste.
MICHAEL GREGORIO
Königsberger Dämonen Kriminalroman Aus dem Englischen von Sonja Hauser
Piper München Zürich
Alle Personen, Orte und Ereignisse (mit Ausnahme dokumentarischer Fakten, die in Verbindung stehen mit erwähnten historischen, religiösen, gesellschaftlichen und philosophischen Gegebenheiten der Epoche) entspringen der Phantasie von Michael Gregorio.
ISBN: 978-3-492-05010-4 © Michael Gregorio, 2006 Titel der englischen Originalausgabe: »Critique of Criminal Reason« Faber and Faber, London 2006 © 2007, Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: creativ connect/Karin Huber, München Umschlagabbildungen: Bettmann/Corbis (Adler); Kaiser-Wilhelm-Platz und Schloßturm Königsberg: Sammlung Heinz Csaller, »Historische Ansichten von Ostpreußen« Initialen: Alphabet »The Netherlands«/The Pepin Press, Amsterdam Satz: psb, Berlin Druck und Bindung: Pustet, Regensburg Printed in Germany www.piper.de
Erster Versuch
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ehen Sie, Stiffeniis? Es ist eingedrungen wie ein heißes Messer in Schmalz.« Wie die Logik den Nebel der Unwissenheit durchdringt, dachte ich. Trotz meiner illustren Gesellschaft wurde mir bei dem Anblick übel und ich musste mich zum Hinsehen zwingen. Wenn ich nicht von meinem Pflichtgefühl angetrieben worden wäre, hätte ich mich vermutlich abgewandt. »Aber es war kein Messer …« In dem großen, mit trüber Alkohollösung gefüllten Glasgefäß schwebte ein abgetrennter Kopf. Ein Gewirr aus grau-rötlichen Sehnen und Blutpfropfen bewegte sich sanft in der strohgelben Flüssigkeit wie die Tentakel einer Qualle. Die grauen Augen waren nach oben verdreht, der Mund hatte sich eher zu einem Ausdruck der Überraschung als des Schmerzes verzogen. Ich konnte nicht umhin, mich zu fragen, ob das plötzliche Eintreten des Todes das Fließen des Gedankenstroms genauso unvermittelt unterbrochen hatte wie die körperlichen Reaktionen. Gern hätte ich gewusst, was die letzten Eindrücke des Opfers gewesen waren, doch leider stand keine Methode zur Verfügung, die möglicherweise noch in dem Gehirn schlummernden Gedanken herauszufiltern
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und zur Feststellung der Todesursache zu nutzen. Ich hatte De viribus electricitatis in motu musculari gelesen, aber diese Untersuchung überstieg alles, womit der große Galvani sich je beschäftigt hatte. Träge drehte sich der Kopf in der Flüssigkeit wie eine große Muschel im Meer. Mein Mentor deutete mit einem hageren Finger darauf. »Hier an der Schädelbasis. Sehen Sie?« »Was hat die Wunde verursacht?«, fragte ich. »Der Teufel. Seine Klauen sind spitz«, antwortete er mit bemerkenswerter Ruhe. Er wirkte, als würde er ein elementares Prinzip der materiellen Deduktion vor einer Gruppe von Studenten demonstrieren, von denen ich selbst noch vor sieben Jahren einer gewesen war … Fast drei Jahre waren seit jenem Gespräch vergangen, als ich meine Gedanken zu Papier brachte. Ich hoffte, damit Magistraten eine Methode zur Auflösung von Mordfällen an die Hand zu geben, durch eine Abhandlung, deren vorläufiger Titel ironisch auf den größten Sohn Ostpreußens verwies. Doch dieses Vorhaben musste ich bereits nach den ersten Zeilen aufgeben, und zwar nicht nur aufgrund dramatischer äußerer Ereignisse. Vielmehr wurden mein Geist und meine Seele durch das, was ich im Lauf meiner Ermittlungen entdeckte, in die tiefste Verwirrung gestürzt, aus der ich fast keinen Weg mehr heraus gefunden hätte. Der Einfaltspinsel, der damals jene Zeilen schrieb, und der Mann, der nun den vorliegenden Text verfasst, unterscheiden sich so sehr, dass ich mich fragen
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muss, ob es sich überhaupt um ein und dieselbe Person handelt. Was ich in Königsberg erlebte, wird mich den Rest meiner Erdentage verfolgen …
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alfänger, die im Sommer 1803 aus der Arktis zurückkehrten, berichteten von einer Aurora borealis bisher nie dagewesenen Ausmaßes. Professor Wollaston hatte das Phänomen der Polarlichtbrechung einige Jahre zuvor wissenschaftlich erklärt, aber das minderte das Staunen der Menschen an der Ostseeküste nicht. Alle Bewohner des keine acht Meilen vom Meer entfernten Lotingen, ich eingeschlossen, starrten hinauf zum Nachthimmel. Die dichten Wolken waren tiefrot wie frisches Blut, und das Nordlicht erstrahlte wie ein Perlmuttfächer in der Mittagssonne. Lotte Havaars, das Kindermädchen, das seit der Geburt des kleinen Immanuel bei uns war, erzählte uns, die Nachbarn in ihrem Dorf hätten beobachtet, dass sich die Tiere unnatürlich verhielten, und in den Herbstmonaten seien monströse Pflanzen gewachsen und hätten Neugeborene das Licht der Welt erblickt, die allen Gesetzen der Natur zu widersprechen schienen. Zweiköpfige Ferkel, sechsbeinige Kälber, eine Rübe, so groß wie ein Schubkarren. Der kommende Winter, murmelte Lotte düster, würde alle bisherigen in den Schatten stellen. Die dunklen Augen meiner Frau funkelten spöttisch. Helena sah mich an, um festzustellen, ob ich ihre Belus-
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tigung teilte, und ich erwiderte ihr Lächeln, obwohl ich eine plötzliche Enge im Brustraum spürte, fast so etwas wie Atemnot – ein Gefühl, wie es heraufziehende Gewitterwolken an einem heißen Sommertag hervorrufen. Der Winter wurde tatsächlich schrecklich; Lottes Ahnung bewahrheitete sich. Am Tag regnete es ohne Unterlass, in der Nacht gab es klirrenden Frost und schließlich Schnee, mehr Schnee, als ich jemals gesehen hatte. Der erste Februar 1804 erwies sich als der kälteste Tag seit Menschengedenken. An jenem Morgen war ich im Gerichtsgebäude von Lotingen beschäftigt, wo ich ein Urteil formulierte, das mich fast eine Woche Zeit gekostet hatte. Herman Bertholt hatte es sich in den Kopf gesetzt, die Landschaft zu verschönern, und zu diesem Zweck zwei Äste eines wertvollen Apfelbaums abgehackt, der seinem Nachbarn, dem Bauern Dürchtner, gehörte. Der Baum habe ihm die Aussicht aus dem Küchenfenster beschnitten, argumentierte Bertholt. Die Diskussion über diese Angelegenheit von höchster Bedeutung hatte den Ort gespalten. Wenn ich derartiges Handeln durchgehen ließ, war mit einer Flut von Nachahmern zu rechnen. Ich wollte gerade meinen Beschluss zu Papier bringen – Hiermit verurteile ich Herman Bertholt zur Zahlung von dreizehn Talern und sechs Stunden am Dorfpranger –, als es an der Tür klopfte und mein Sekretär eintrat. »Draußen wartet ein Mann«, informierte Knutzen mich nuschelnd. Mein alter Sekretär trug ein speckiges Hemd mit verschmutztem Kragen und dreckige Stiefel. Offenbar hatte er in seinem Entenhof gearbeitet. Ich beklagte mich
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schon lange nicht mehr. Gudjon Knutzen gehörte immerhin zu den wenigen Männern im Ort, die ihren Namen schreiben konnten. Aufgrund dieser Fähigkeit war er dem Schicksal seines Vaters und all seiner männlichen Vorfahren entgangen. Aber die Kassen waren leer. Der König von Preußen hatte sich für bewaffnete Neutralität entschieden, während sich die anderen großen Staaten in Europa gegen Frankreich stellten. Folglich wurde zugunsten des Militärs in der Verwaltung gespart. Denn Soldaten mussten neu ausgerüstet, Generäle besser bezahlt, Pferde aufgefüttert werden für einen Krieg, der mit Sicherheit kommen würde. Nicht zuletzt der Erwerb schweren Geschützes in Bessarabien bescherte Preußen harte Zeiten, ja sogar Elend. Besonders die unteren Ränge der Judikative, zu denen auch ich gehörte, wurden durch die jüngsten Einsparungsmaßnahmen besonders hart getroffen. Knutzen hatte die Halbierung seines Gehalts ins dunkelste Mittelalter zurückgeworfen. Deshalb arbeitete er nun so wenig wie möglich bei mir und verbrachte Stunde um Stunde bei seinen Enten. Er war wieder zu einem Bauern geworden. Wie jeder andere in Europa hatte er die Konsequenzen der Französischen Revolution zu tragen und die Folgen des Schreckens, den Napoleon überall verbreitete. Helena hatte ihm versprochen, ihm eines meiner abgelegten Hemden zu überlassen, sobald der Hausierer wieder in den Ort käme. Ein Blick aus dem Fenster sagte mir, dass das so bald nicht der Fall sein würde. Es schneite, Flocken, so groß wie Lorbeerblätter. Was, fragte ich mich, trieb einen Mann an einem solchen Tag vor die Tür?
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»Bringen Sie ihn herein«, wies ich Knutzen an, der sich mit dem Ärmel die Nase abwischte. Jedes Mal, wenn er seine einzige Jacke auszog, was selten passierte, glaubte ich, sie würde aufrecht stehen bleiben. »Jawohl«, erwiderte er und verschwand. Da er die Tür sperrangelweit offen ließ, konnte ich ihn draußen im Flur murmeln hören. Wenig später stapfte ein kräftig gebauter Mann in dunkler Reisekleidung und hohen Reitstiefeln in den Raum und hinterließ eine schmutzige Lache aus schmelzendem Schnee auf dem Boden. Die unheimliche Blässe seines Gesichts sowie das ungesunde Zittern, das seinen Körper erfasste, als er vor mir stand, veranlassten mich zu der Vermutung, dass er sich in der Adresse geirrt hatte. Er schien eher die Dienste eines Arztes zu benötigen als die eines Magistraten. »Was kann ich für Sie tun, mein Herr?«, fragte ich, deutete auf den Besucherstuhl und setzte mich selbst wieder hinter meinen Schreibtisch. Der Fremde zog den weiten schwarzen Umhang enger um seinen zitternden Leib, bevor er sich laut räusperte. »Sie sind Magistrat Stiffeniis, nicht wahr?«, wollte er wissen. »Ja, das stimmt«, antwortete ich. »Aber woher kommen Sie, mein Herr? Nicht aus Lotingen, so viel steht fest.« »Erwarten Sie mich denn nicht?«, fragte er überrascht. Ich schüttelte den Kopf. »Angesichts des Wetters«, erwiderte ich mit einem Blick aus dem Fenster, »erwarte ich heute Vormittag eigentlich niemanden. Was kann ich also für Sie tun, mein Herr?«
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Er schwieg einen Augenblick. »Ist die Kutsche aus Königsberg noch nicht da?«, fragte er daraufhin unvermittelt. »Davon weiß ich nichts«, antwortete ich, inzwischen neugierig, worauf das alles hinauslaufen würde. »Sie haben also keine Nachricht von Prokurator Rhunken erhalten?« »Es ist den ganzen Morgen keine Post gekommen«, entgegnete ich. »Und Prokurator Rhunken kenne ich auch nur vom Hörensagen.« »Keine Post?«, murmelte der Fremde und schlug sich mit der Handfläche aufs Knie. »O je, das macht die Sache schwieriger.« »Ach?«, fragte ich verwirrt. Ohne etwas zu erwidern, öffnete er seine lederne Schultertasche. Die Hoffnung, dass er daraus etwas hervorholen könnte, was seine Anwesenheit in meiner Amtsstube erklären würde, wurde zunichte, als er ein großes weißes Leinentaschentuch herauszog und sich geräuschvoll die Nase putzte. »Sind am Ende Sie selbst Prokurator Rhunken?«, fragte ich. »Nein, nein, mein Herr!«, drang es undeutlich hinter dem Taschentuch hervor. »Bei allem Respekt: Im Augenblick wäre er der letzte Mensch, der ich sein möchte. Mein Name ist Amadeus Koch. Sergeant der Königsberger Polizei. Ich arbeite für Prokurator Rhunken.« Er presste das Taschentuch auf den Mund, um ein Husten zu unterdrücken. »Da offenbar noch keine Post eingetroffen ist, muss ich Ihnen den Grund meines Kommens wohl erläutern.«
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»Ich bitte darum, Sergeant«, ermutigte ich ihn. Ein mattes Lächeln trat auf das fahle Gesicht des Mannes. »Ich verspreche Ihnen, keine Zeit mehr zu vergeuden. Zu meiner Verteidigung muss ich allerdings sagen, dass die Reise von Königsberg hierher mich in meinem gegenwärtigen Gesundheitszustand sehr erschöpft hat. Langer Rede kurzer Sinn: Ich habe den Auftrag, Sie zu holen.« Ich sah ihn erstaunt an. »Nach Königsberg?« »Ich hoffe nur, dass der Schnee uns nicht hindert …« »Erklären Sie mir doch bitte, wie dieser Auftrag genau aussieht.« Wieder begann Sergeant Koch, in seiner Tasche zu kramen. Erst nach einer ganzen Weile zog er einen großen weißen Umschlag heraus. »Das offizielle Ernennungskommuniqué wurde gestern mit der Post verschickt, doch aus unbekannten Gründen ist es nicht eingetroffen. Mit Ihrer Beauftragung wurde ich betraut. Das ist für Sie, mein Herr.« Ich nahm den Umschlag entgegen, las meinen Namen darauf, drehte ihn um. Das große rote Siegel der Hohenzollern verschloss ihn, und ich zögerte einen Moment, es zu erbrechen. Höchst ehrenwerter Prokurator Stiffeniis, Ihre Fähigkeiten sind Uns von einem Herrn von Rang zu Gehör gebracht worden, der glaubt, dass Sie allein in der Lage sind, eine Situation zu klären, die Unser geliebtes Königsberg in Angst und Schrecken versetzt. Besagte Person, die Sie empfohlen hat, genießt Unser uneinge-
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schränktes Vertrauen, ebenso wie Sie. Da wir keinen Grund zu der Annahme haben, dass Sie dieser Königlichen Anweisung nicht nachkommen, handeln wir mit der gebotenen Eile. Das Schicksal der Stadt liegt in Ihrer Hand. Der Brief war von König Friedrich Wilhelm III. unterzeichnet. »In Königsberg geht ein Mörder um, Prokurator Stiffeniis«, informierte mich Sergeant Koch mit gesenkter Stimme, als hätte er Angst, belauscht zu werden. »Man hat mir heute Morgen aufgetragen, Sie darüber in Kenntnis zu setzen.« »Ich verstehe nicht ganz, Herr Koch«, murmelte ich, den Blick auf den Brief gerichtet. Welche »Fähigkeiten« meinte der König wohl? Und welcher »Herr von Rang« hatte Seine Majestät darüber informiert? »Sind Sie sicher, dass es sich nicht um einen Irrtum handelt?« »Ja«, antwortete der Sergeant und deutete lächelnd auf das Kuvert. »Das ist Preußen. Und auf dem Umschlag steht Ihr Name.« »Aber leitet denn nicht Prokurator Rhunken die Ermittlungen?«, fragte ich. »Er ist doch der oberste Magistrat im Königsberger Raum.« »Herr Rhunken leidet unter Schlagfluss«, erklärte Sergeant Koch, »und kann die unteren Gliedmaßen nicht mehr bewegen. Offenbar sind Sie auserwählt, seine Arbeit fortzusetzen.« »Aber warum, Sergeant Koch? Prokurator Rhunken kennt mich nicht persönlich. Wieso also empfiehlt er mich dem König mit so glühenden Worten?«
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»Dazu kann ich Ihnen auch nichts sagen«, meinte er. »Aber das wird sich zweifelsohne alles in Königsberg klären.« Es blieb mir keine andere Wahl, als das zu glauben. »Es war von Mord die Rede, Sergeant. Um wie viele Fälle geht es?« »Um vier.« Ich hielt den Atem an. Bis dahin hatte ich es als Magistrat niemals mit einem ernsthaften Verbrechen zu tun gehabt und das als Segen erachtet. Das kaum zehn Minuten zuvor schriftlich fixierte Urteil war die wichtigste Entscheidung in meiner dreijährigen Laufbahn in Lotingen. »Das erste Opfer wurde vor einem Jahr entdeckt«, erklärte Koch. »Der Polizei gelang es nicht, den Fall zu klären, und so geriet er irgendwann in Vergessenheit. Aber vor drei Monaten fand man eine weitere Leiche und vergangenen Monat noch eine. Erst gestern ist wieder eine aufgetaucht. Alles scheint darauf hinzudeuten, dass die Opfer samt und sonders auf die gleiche …« Da klopfte es an der Tür, und Koch verstummte. Knutzen kam hereingeschlurft, um mir einen Brief auf den Schreibtisch zu legen. »Der ist gerade gekommen. Die Postkutsche hat kurz vor Rykiel ein Rad verloren und ist deshalb vier Stunden zu spät dran.« »Gott sei Dank habe ich die Küstenstraße genommen«, murmelte Koch, als Knutzen wieder draußen war, und deutete auf den Brief in meiner Hand. »In dem Schreiben steht das, was ich Ihnen gerade gesagt habe.« Als ich den Umschlag öffnete, fand ich darin eine Anweisung Prokurator Rhunkens in wackeliger Schrift,
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die das, was Sergeant Koch mir soeben über dessen Schlagfluss erzählt hatte, zu belegen schien. Er informierte mich offiziell darüber, dass die Aufklärung der Mordfälle mir übertragen worden sei, jedoch ohne genauere Erläuterung. Ich legte das Schreiben mit gemischten Gefühlen zur Seite. Natürlich schmeichelte es mir, dass Prokurator Rhunken, der sich aufgrund seiner Strenge und Entschlossenheit einen Namen gemacht hatte, meine Fähigkeiten schätzte. Doch woher wusste er überhaupt von mir? Und wieso hatte er dem König von mir erzählt? Warum setzten so mächtige Leute Vertrauen in mich? Ich war nicht so verblendet zu glauben, dass sich in Preußen kein Geeigneterer finden ließe. Auch die abschließenden Worte Rhunkens beseitigten meine Zweifel nicht: … bestimmte Aspekte dieses Falls dürfen nicht dokumentiert werden. Sie erfahren zu gegebenem Zeitpunkt mehr. »Sind Sie bereit?«, fragte Sergeant Koch, schlang die Tasche über die Schulter und erhob sich. »Ich stehe Ihnen bei der Vorbereitung der Abreise voll und ganz zur Verfügung.« Ich blieb sitzen, weil ich mich nicht drängen lassen wollte. Ein anderer Brief, den ich sieben Jahre zuvor aus Königsberg erhalten hatte, fiel mir ein. Damals hatte ich ein Versprechen gegeben, das ich durch die Reise mit Sergeant Koch würde brechen müssen. »Wie lange werden meine Dienste in Königsberg benötigt?«, fragte ich.
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»Bis der Fall gelöst ist, Herr Stiffeniis«, antwortete Koch. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück, um nachzudenken. Wenn es lediglich darum ging, ein paar Tage in der Stadt zu verbringen, um einen Fall abzuschließen, den Prokurator Rhunken aufgrund seiner Krankheit nicht weiterbearbeiten konnte, müsste ich mir keine Sorgen machen. Falls ich mich als unfähig erwies, würde man mich einfach wieder in mein Provinznest zurückversetzen. Doch bei erfolgreicher Erledigung, dachte ich mit plötzlich aufkeimendem Ehrgeiz, wären meiner künftigen Karriere keine Grenzen gesetzt. »Ich muss meiner Frau Bescheid geben«, erklärte ich und sprang auf. Sergeant Koch schlang den Umhang enger um seinen Körper. »Uns bleibt nicht viel Zeit, wenn wir Königsberg vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wollen.« »Ich brauche nur ein paar Minuten, um mich von meiner Frau zu verabschieden und meinen Kindern einen Kuss zu geben«, erwiderte ich. »Weder Prokurator Rhunken noch der König werden mir dies verwehren wollen!« Draußen im Schnee wartete eine große Kutsche mit dem königlichen Wappen. Als ich sie bestieg, machte ich mir die absurde Situation bewusst. Ich befand mich in einem königlichen Gefährt, einen Brief des Herrschers in der Hand, in dem er mich anflehte, einen Fall zu lösen, der alle großen Magistrate in seinen Diensten überforderte. Eigentlich hätte ich das als die Krönung meiner kurzen Karriere erachten sollen, doch mir kamen die Worte jenes Briefes von vor sieben Jahren wieder in den Sinn:
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Kehren Sie nie mehr hierher zurück. Sie haben genug Schaden angerichtet. Lassen Sie sich ihm zuliebe nicht mehr in der Prinzessinstraße blicken! Der Kutscher knallte mit der Peitsche, die Pferde zogen an, und das Gefährt machte einen Satz vorwärts. Ich betrachtete den Brief als Wink des Schicksals. Es war das Beste, die Vergangenheit ruhen zu lassen und sich auf eine erfreulichere Zukunft zu konzentrieren. Was konnte ich mir Schöneres wünschen als diese Möglichkeit, mich beruflich auszuzeichnen? Offenbar hatte Helena am Fenster unseres kleinen, zugigen Hauses am Ortsrand gesessen, denn als ich aus der prächtigen Kutsche kletterte, kam sie mir trotz des beißenden Nordwinds und des dichten Schneefalls ohne Haube oder Mantel entgegengelaufen und begrüßte mich mit einem fragenden Blick. »Was ist, Hanno?«, erkundigte sie sich schwer atmend, während sie sich bei mir unterhakte. Nachdem sie mich angehört hatte, wich sie einen Schritt zurück und hielt schützend die Hände vor die Brust, eine Geste der Verärgerung, die ich nur zu gut kannte. »Hattest du Lotingen nicht gewählt, um genau solchen Dingen aus dem Weg zu gehen, Hanno?«, murmelte sie. »Ich dachte wirklich, hier hättest du gefunden, was du suchst.« »Das stimmt, meine Liebe«, pflichtete ich ihr bei. »Dann verstehe ich dich nicht«, sagte sie und fuhr nach kurzem Zögern fort: »Falls du das für deinen Vater tust – die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, Hanno, genauso wenig wie er.«
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»Ich dachte, du würdest stolz auf mich sein, wenn ich versuche weiterzukommen«, sagte ich, ein wenig unwirscher als beabsichtigt. »Warum machst du es so schwer, Frau? Ich habe keine Wahl, ich muss gehen, wenn der König es befiehlt.« Sie senkte den Blick. »Aber Mord, Hanno?«, fragte sie und sah mich an. »Mit einem so abscheulichen Verbrechen hattest du noch nie zu tun.« So verstört hatte ich sie noch nie erlebt. Um ihre Tränen zu verbergen, drückte sie sich gegen meine Brust. Ich schaute hastig zu Sergeant Koch hinüber, der mit ausdruckslosem Gesicht neben der Kutschentür wartete, als hätte er nichts von dem gehört, was meine Frau soeben gesagt hatte. Ein wenig war ich ihr böse wegen der peinlichen Situation, in die sie mich brachte. »Noch einen Augenblick, Sergeant«, rief ich ihm zu. »Es dauert nicht mehr lange.« Koch nickte kurz, und ein schmallippiges Lächeln huschte über sein Gesicht. Ich dirigierte Helena, die mich argwöhnisch musterte, in den Flur. Welche Reaktion hatte ich von ihr erwartet? Stolz vielleicht oder Freude über meine unvermutete Beförderung? »Der König ruft mich«, erklärte ich. »Ein einflussreicher Beamter in Königsberg hat mich Seiner Majestät empfohlen. Was soll ich deiner Ansicht nach tun?« Helena sah mich verständnislos an. »Ich … ich weiß es nicht. Wie lange wirst du weg sein?«, fragte sie schließlich.
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»Das kann ich noch nicht abschätzen. Nicht allzu lange, hoffe ich.« »Lauf nach oben, Lotte, und hol die Sachen deines Herrn«, wies Helena plötzlich das Mädchen an. »Seine Kutsche wartet vor der Tür. Beeil dich! Er wird ein paar Tage wegbleiben.« Nun wusste ich nicht mehr, was ich sagen sollte. Helena und ich waren seit vier Jahren verheiratet und hatten in dieser Zeit noch keine einzige Nacht getrennt verbracht. »Ich habe ja nicht vor, gegen die Franzosen zu kämpfen!«, scherzte ich mit einem nervösen Lachen und zog sie näher an mich, um sie sanft auf Stirn, Wange und Lippen zu küssen, bevor Lotte zurückkehrte. »Ich werde jeden Tag schreiben und dir von meinen Erlebnissen berichten. Sobald ich ankomme, verfasse ich den ersten Brief«, versprach ich mit aller Fröhlichkeit, die ich trotz des Abschiedsschmerzes aufbringen konnte. »Gib Manni und Susi einen Kuss von mir.« Als ich Lotte die Reisetasche aus der Hand nahm, warf sich Helena noch einmal an meine Brust und ließ ihren Gefühlen mit einer mir bis dato unbekannten Macht freien Lauf. Vermutlich hatte das mit den Kindern zu tun: Immanuel war noch nicht einmal ein Jahr alt, Susanne knapp zwei. »Vergib mir, Hanno, ich mache mir Sorgen«, murmelte sie in meinen Wollumhang hinein. »Was wollen sie nur von dir?« Darauf wusste ich auch keine Antwort. Ich entwand mich ihrer Umarmung, ordnete meine Kleidung, schlang die Tasche über die Schulter und schritt hastig mit ge-
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senktem Kopf durch den Schneesturm, zur Kutsche und zu Sergeant Koch. Leichten Fußes und schweren Herzens stieg ich ein. Als das Gefährt mit knirschenden Rädern anfuhr, blickte ich zurück auf die allmählich in der Ferne verschwindende schlanke Gestalt meiner geliebten Helena. Wie zuvor sie quälte nun mich die eine Frage: Warum hatte der König gerade mich gewählt?
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ie Kutsche rumpelte mehr als eine Stunde lang vor sich hin, und in dieser Zeit wechselten Sergeant Koch und ich kaum ein Wort. Koch saß in seiner Ecke, ich in der meinen, düstere Schatten wie die Welt, durch die wir fuhren. Wir kamen an grauen Dörfern und Gehöften vorbei, und auf den Feldern mühten sich Bauern, bis zu den Knien im Schnee, ihre feststeckenden Kühe und Schafe zu retten. Alles verschmolz zu einer einzigen trüben Fläche, so dass man nicht mehr sagen konnte, wo die Erde endete und der Himmel begann. Wir hatten gerade einen kleinen Ort namens Endernffords passiert, als unsere Kutsche an der Rampe zu einer Schwingbrücke über einen schmalen Fluss halten musste. Schmerzensschreie gellten durch die Luft. Ich sprang auf, schob das Fenster herunter und beugte mich hinaus, um zu sehen, was los war. »Ein Bauernkarren ist auf dem Eis umgestürzt«, teilte ich Koch über die Schulter gewandt mit. Das Pferd war ausgeglitten und lag jetzt mitten auf der Straße, ein gebrochener Vorderlauf baumelte in der Luft. Ein Betrunkener schlug, wüste Flüche ausstoßend, auf das bedauernswerte Tier ein. Mein erster Impuls war auszusteigen, um dem Pferd zu helfen oder den Mann wegen seiner
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Grausamkeit zu schelten. Doch dann hielt mich das Eingreifen einiger Männer zurück, das so schnell und geordnet vonstatten ging, dass ich daraus schlussfolgerte, Derartiges ereigne sich hier regelmäßig. Alle Anwesenden – vier Männer, die auf einem Holzbalken der Brücke saßen – schienen genau zu wissen, was zu tun war. Drei von ihnen sprangen herunter, zwei mit Äxten, einer mit einem langen, gebogenen Messer in der Hand. Die Klinge blitzte kurz auf, bevor sie den Hals des Pferdes durchschnitt, dessen Schmerzensschreie mit dem Hervordringen eines Schwalles schäumenden Blutes verstummten, das den Schnee rot färbte. Der Lenker des Karrens ließ wortlos die Peitsche fallen und flüchtete rutschend über die Brücke. Daraufhin machten sich die Männer mit den Äxten über den Kadaver her. Dampf stieg auf, während sie das Tier in Windeseile in Stücke hackten, die sie auf ihren Karren luden. Kurz darauf signalisierte der Vierte uns, dass der Weg frei sei. Mit weichen Knien schloss ich das Fenster, doch im Innern der Kutsche hatte sich bereits ein süßlicher Geruch nach Fleisch, Blut und Innereien ausgebreitet. »Harte Zeiten machen die Menschen hart«, erklärte Sergeant Koch. »Was soll man tun.« Ich lehnte mich mit geschlossenen Augen in die Lederpolster zurück. »Wahrscheinlich sind sie kurz vor dem Verhungern«, murmelte ich. »Das treibt Menschen zu solchen Taten.« »Wollen wir hoffen, dass sie irgendwann bereit sind, die Franzosen mit der gleichen Begeisterung abzuschlachten«, meinte Koch trocken. »Wenn Bonaparte in Preußen einmarschiert, wird es hier nichts mehr zu essen
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geben, nicht einmal Pferde. Dann wird sich erweisen, wer ein Mann ist.« »Gebe Gott, dass es nie so weit kommt!« Wieder verging eine Stunde, in der wir kaum ein Wort wechselten. »Gütiger Gott, was für ein Himmel!«, riss Koch mich schließlich unvermittelt aus meinen Gedanken. »Es sieht aus, als würde er gleich auf uns herabstürzen. Schlechtes Wetter ist die Strafe für unsere Sünden, heißt es.« Die Ernsthaftigkeit des Mannes hatte etwas fast schon Komisches. Durch das Rumpeln der Kutsche war sein Dreispitz verrutscht, so dass Strähnen seines schwarzen Haares unter den starren weißen Locken seiner Perücke hervorlugten. Ich nickte lächelnd, entschlossen, den Rest der Fahrt in geselligerer Stimmung zu verbringen, auch wenn ich nicht so recht wusste, wie mir das gelingen sollte, denn letztlich handelte es sich bei Koch um meinen Untergebenen. »Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, einen Blick auf diese Dokumente zu werfen, Herr Stiffeniis«, meinte Koch und griff nach seiner Tasche, bevor ich Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern. Mein guter Wille verflüchtigte sich sofort wieder. »Heißt das, dass Sie mir etwas vorenthalten haben, Herr Koch?« »Ich tue, was man mir aufträgt«, erwiderte er, als er einen Stapel Papier aus seiner Ledertasche zog. »Man hat mir gesagt, ich solle Ihnen diese Dokumente aushändigen, sobald wir die Straße nach Königsberg erreicht hätten.« Aha, dachte ich, so also liegen die Dinge. Da überre-
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det man mich, einen Auftrag anzunehmen, und jetzt, wo es zu spät ist für einen Rückzieher, erfahre ich die unangenehmen Einzelheiten. »Die Behörden sind zur Friedenssicherung verpflichtet«, fuhr Koch fort. »Alle, die an den Ermittlungen mitwirken, haben Stillschweigen geschworen.« »Sie auch?«, fragte ich ungehalten. »Sie müssen Ihrer Frau doch einen Grund für Ihren frühen Aufbruch genannt haben.« Meine Verärgerung wuchs. »Sie halten Fakten zurück, Koch, und enthüllen sie mir erst, wenn Sie nicht mehr anders können oder Ihnen gerade der Sinn danach steht.« Mir drängte sich der Verdacht auf, dass Sergeant Koch mich nicht nur begleitete, sondern auch beobachtete und beurteilte und Informationen für seine Vorgesetzten sammelte. Das war das normale Vorgehen im preußischen Staatsdienst. Andere auszuspionieren verhalf einem am sichersten auf die nächste Stufe der wackeligen bürokratischen Leiter. »Ich habe nichts zu verbergen«, wehrte sich Sergeant Koch, erneut das Taschentuch in der Hand. »Ich bin ein einfacher Beamter und spiele keine aktive Rolle in den Ermittlungen. Heute Morgen um halb sechs habe ich wie alle anderen den Dienst angetreten und wurde angewiesen, das zu tun, was ich soeben erledige. Es bestand keine Notwendigkeit, meine Frau oder irgend jemanden sonst zu informieren, weil ich allein lebe.« Wieder hatte ich Koch auf dem falschen Fuß erwischt. »Sie behaupten, so gut wie nichts über die Sache zu wissen, Herr Koch. Finden Sie es dann aber nicht auch merkwürdig, dass ausgerechnet Sie ausgewählt wurden,
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jemanden, der genauso wenig Ahnung hat, zu instruieren? Führt da nicht der Blinde den Blinden?« »Diese Dokumente dürften Ihre Fragen beantworten. Man hat mich angewiesen, sie Ihnen erst zu zeigen, wenn Sie den Auftrag angenommen hätten.« »Heißt das, ich hätte ablehnen können?«, fragte ich und riss ihm die Papiere aus der Hand. Koch sah stumm zum Fenster hinaus. Mürrisch wandte ich mich den Dokumenten zu. Der erste Mord hatte sich mehr als ein Jahr zuvor ereignet. Jan Konnen, ein Hufschmied mittleren Alters, war am Morgen des 3. Januar 1803 tot in der Merrestraße aufgefunden worden. Nachforschungen ergaben, dass er den vorangegangenen Abend in einer Hafenkneipe unweit der Stelle, an der seine Leiche entdeckt wurde, verbracht hatte. Der Wirt erinnerte sich nicht, Herrn Konnen vor diesem Abend jemals, weder allein noch am Spieltisch mit ausländischen Seeleuten, gesehen zu haben. Seiner Ansicht nach war der Mann ein Fremder. Ein litauisches Segelschiff habe an jenem Tag angelegt, und das Gasthaus sei bis in die frühen Morgenstunden sehr voll gewesen. Konnen habe es kurz nach zehn Uhr abends verlassen. Draußen war er niemandem aufgefallen, weil sich aufgrund der klirrenden Kälte nicht viele Leute auf der Straße aufgehalten hatten. Seine Leiche wurde im Morgengrauen von einer Hebamme auf dem Weg zur Arbeit gefunden. In dem dichten Nebel wäre sie fast über Konnen gestolpert, der kniend an einer Mauer lehnte. Die Hebamme hielt ihn für krank, erkannte aber bei näherem Hinsehen, dass er tot war. Der Bericht wurde von Anton Lublinsky und Rudolph Kopka, Offi-
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zieren der königlichen Nachtwache, unterzeichnet. Unter dem in passablem Deutsch formulierten Bericht war das Abfassungsdatum »sechs Monate nach dem Mord« angegeben. Mittlerweile prasselte heftiger Schneeregen gegen die Kutsche. Gern hätte ich Koch um eine Erklärung gebeten, denn er war im Staatsdienst und stammte aus Königsberg. Bestimmt kannte er das übliche Prozedere in solchen Fällen. Aber Koch, dem der Kopf auf die Brust gesunken war, schnarchte rasselnd vor sich hin. Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, ihn zu wecken, doch dann konzentrierte ich mich wieder auf die Papiere. Mein Blick fiel auf das Datum am unteren Ende der vierten Seite. Auch dieser Bericht war erst vor Kurzem verfasst worden, genauer gesagt am 23. Januar 1804, also eine gute Woche zuvor und fast vier Monate nach dem Mord, was nicht gerade für die Effizienz der örtlichen Behörden sprach. Hatte der zweite Mord sie zu einer genaueren Beschäftigung mit dem ersten veranlasst? Höchst merkwürdig! Der Name des zweiten Opfers lautete Paula-Anne Brunner. Und damit war die offensichtlichste Hypothese dahin! Ich hatte vermutet, dass die Angelegenheit mit gewalttätigen Auseinandersetzungen bei Würfelspiel und Alkohol zu tun habe. Aber preußische Frauen trinken im Allgemeinen nicht in der Öffentlichkeit und geben sich auch nicht dem Spiel hin. Am allerwenigsten im für seine Moral und seinen Pietismus bekannten Königsberg. Am 22. September 1803, las ich, wurde die Leiche von Paula-Anne Brunner (geborene Schobart) im Park an der
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Neumannstraße gefunden. Ein österreichischer Kavallerieoffizier, Oberst Rodiansky, derzeit in Diensten der preußischen Armee, wartete auf eine Dame, deren Namen er sich zu nennen weigert. Er traf um vier Uhr im Park ein, zu einer Zeit, als ein großer Teil der Bevölkerung den Beisetzungsfeierlichkeiten für den kurz zuvor verstorbenen beliebten Superintendenten Brunswig in der Kathedrale beiwohnte. Oberst Rodiansky sagt aus, an besagtem Abend sei es weder besonders kalt noch besonders nass gewesen, Meeresdunst habe jedoch die Sicht auf sechs bis sieben Meter begrenzt. Während er gewartet und geraucht habe, sei sein Blick auf eine neben einer Holzbank kniende Frau gefallen. In dem Augenblick sei jedoch die Dame eingetroffen, mit der er verabredet war, und habe ihn von der Knienden abgelenkt. Ihre Haltung sei ihm nicht merkwürdig vorgekommen, weil er glaubte, sie bete, ähnlich wie viele andere Frauen in der Stadt, für die Seele von Superintendent Brunswig, und habe nur keine Gelegenheit gehabt, sich in die Kirche zu begeben. Oberst Rodianskys Freundin brachte die Anwesenheit einer dritten Person bei ihrem Rendezvous offenbar stärker aus der Fassung als diesen. Sie blickte immer wieder zu der Knienden hinüber, in der Hoffnung, dass diese ihr Gebet bald beenden und den Park verlassen würde. Erst nach geraumer Zeit näherten sich die beiden der Frau, um nachzusehen, ob sie krank sei oder Hilfe benötige. Nun merkten sie, dass es sich um eine Leiche handelte, und Oberst Rodiansky rief die Polizei, nachdem er seine Begleiterin nach Hause geschickt hatte, um ihren guten Ruf zu schützen.
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Auch dieser Bericht war von Lublinsky und Kopka unterzeichnet, jenen beiden Beamten, die schon den ersten Mord dokumentiert hatten. Ich lehnte mich zurück in die Lederpolster. Trotz seiner Detailfülle fehlte es dem zweiten Bericht an wesentlichen Informationen, zum Beispiel, wie das Opfer umgebracht beziehungsweise welche Waffe verwendet worden war. Koch schlief immer noch. Sein Kopf wippte im Takt der Schlaglöcher auf und ab, der Hut war ihm auf die Knie gefallen, und die Perücke hing an seinem rechten Ohr. Auch ich schloss die Augen und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Wie waren diese Menschen gestorben? Und warum? Wieso hatten zwei Beamte mit Ermittlungserfahrung – Lublinsky und Kopka waren bei beiden Fällen herangezogen worden – sich nicht mit diesen wichtigen Fragen auseinandergesetzt? Ein ohrenbetäubender Donnerschlag und ein unmittelbar folgender greller Blitz rissen mich aus meinen Überlegungen und Koch aus dem Schlaf. Er schoss hoch wie von der Tarantel gestochen, die eine Hand nach der Perücke ausstreckend, mit der anderen sich bekreuzigend. »Du lieber Himmel!«, brummelte er. »Die Natur straft den Menschen.« »Es ist nur Wasserdampf, Sergeant«, beruhigte ich ihn. »Elektrische Entladungen am Himmel. Ein bedeutender Mitbürger von Ihnen hat einmal ein Pamphlet zu diesem Thema verfasst. Er sagt, es gebe nichts, was sich nicht durch die Wissenschaft erklären ließe.« Koch sah mich mit nachsichtigem Blick an. »Glauben Sie das, Herr Stiffeniis?« »Ja.«
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»Ich beneide Sie um Ihre Gewissheit«, murmelte er, bevor er sich nach seinem Hut bückte, der mittlerweile auf den Boden der Kutsche gefallen war. Dann klopfte er ihn ab und setzte ihn auf. »Das heißt, für Sie gibt es keine Geheimnisse?« »Ich habe immer versucht, rationalen Argumenten bis zu ihrem logischen Schluss zu folgen, Herr Koch«, antwortete ich. »Dann gestehen Sie also dem Unbekannten und Undenkbaren keine Existenzberechtigung zu? Darf ich fragen, was Sie tun, wenn Sie sich mit dem Unerklärlichen konfrontiert sehen?« »Ich möchte nicht behaupten, dass die Vernunft jedes menschliche Handeln erklären und rechtfertigen kann«, sagte ich mit kaum verhohlener Verärgerung. »Unserem Begreifen sind Grenzen gesetzt. Das Unbekannte, wie Sie es nennen, ist deshalb unbekannt, weil noch niemand sich die Mühe gemacht hat, es zu erklären. Ich würde das als bedingtes Unwissen bezeichnen, nicht als Argument gegen die Wissenschaft.« Ein Blitz ließ Kochs Gesicht silberblau erstrahlen. »Ich hoffe, ich werde die Ehre haben, Sie wieder nach Hause zu begleiten, wenn die Angelegenheit erfolgreich abgeschlossen ist«, sagte er und beugte sich zu mir herüber. »Und ich bete zu Gott, dass ich mich täusche und Sie recht haben, Herr Stiffeniis. Wenn nicht, möge der Himmel uns beistehen.« »Sie scheinen an meinen Fähigkeiten zu zweifeln.« »Das würde ich nie wagen, Herr Prokurator. Im Gegenteil: Ich meine zu begreifen, warum man so große Hoffnungen in Sie setzt«, sagte er und wandte den Blick ab.
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»Mir geht es um praktische Dinge, Herr Koch. In diesen Berichten wird die Todesursache nicht erwähnt. Was soll ich machen? Die Waffe erraten, mit der die Opfer umgebracht wurden? Beim Übergang vom Leben zum Tode geht es nicht nur um religiöse Fragen, sondern auch um Fakten, und in diesen Dokumenten kann ich nur sehr wenige davon finden. Ich weiß ja nicht, wie Sie es in Königsberg damit halten, aber wir in Lotingen glauben, dass ein Ei gestohlen wurde, wenn es verschwindet.« »Ich habe keine Ahnung, was in den Berichten steht«, erwiderte Koch, ohne auf meinen Sarkasmus zu reagieren. »Haben Sie die Leichen gesehen, Koch? Wissen Sie, unter welchen Umständen diese Menschen starben?« »Nein.« »Dann ahnen nicht einmal Sie, ein vertrauenswürdiger Beamter des Staates, wie sie umgebracht wurden? Gibt es denn keine Mutmaßungen? Wurden die Opfer erstochen, erwürgt oder erschlagen?« »Ist denn in den Berichten keine Rede von der Mordwaffe?« Koch wirkte aufrichtig überrascht. »Ich begreife ja, dass in so einem Fall Diskretion vonnöten ist, aber dass nicht einmal Sie in das Geheimnis eingeweiht werden, mag ich kaum glauben. In der Stadt gibt es natürlich mehr als genug Gerüchte, wie Sie sich vorstellen können.« »Was für Gerüchte, Koch?« »Einem rationalen Denker wie Ihnen gegenüber wage ich fast nicht, davon zu erzählen«, antwortete Koch ein wenig spöttisch.
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»Machen Sie sich nicht über mich lustig!« »Das war nicht meine Absicht.« Der Sergeant nahm mit schuldbewusstem Gesicht den Hut ab. »Die Leute in Königsberg sagen, der Teufel sei’s gewesen. Es heißt, der Tod sei schnell und gewaltsam eingetreten.« »Was noch?« »Das ist nur Gerede«, sagte Koch, plötzlich ernst. »Was nützen Ihnen Gerüchte?« »Überlassen Sie das mir, Sergeant Koch.« Dieser lehnte sich in seinen Sitz zurück und zögerte kurz, bevor er fortfuhr. »Angeblich hat die Frau, die die Leiche von Jan Konnen fand, die Waffe gesehen.« »Ach.« »Heißt es zumindest«, meinte Koch. »Und was hat sie angeblich gesehen? Welche Waffe hat der Teufel benutzt?« Sergeant Koch sah mich mit einem verlegenen Lächeln an. »Seine Klauen.« »Klauen? Was soll das bedeuten?« Wieder zögerte er. »Vielleicht sollten Sie das Prokurator Rhunken fragen. Ich fühle mich nicht befähigt, Ihnen zu antworten.« »Ich möchte wissen, was Sie denken, Herr Koch. Prokurator Rhunken frage ich nach seiner Meinung, sobald sich die Gelegenheit dazu ergibt.« »Ich kann Ihnen nur sagen, was ich gehört habe, Herr Stiffeniis.« Koch rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her und setzte den Hut wieder auf. »Die Morde wurden auf merkwürdige Weise begangen. Alle Fakten weisen darauf hin …« »Was für Fakten, Koch?«, fiel ich ihm ins Wort. »In
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allem, was ich bisher gelesen habe, bin ich auf kein einziges Faktum gestoßen.« Er musterte mich einen Moment kühl. »Das ist es doch gerade, Herr Stiffeniis. Rätsel öffnen der Spekulation Tür und Tor. Die Leute munkeln nicht, dass Konnen erstochen, erwürgt oder erschlagen wurde, sondern vom Teufel ermordet. Und dass der seine Klauen benutzte.« »Klauen! Was für unsinniger Aberglaube!« »Aber wenn die Verantwortlichen nicht einmal Ihnen die Todesursache verraten«, erwiderte er und deutete auf die Dokumente in meiner Hand, »dann kann man daraus eigentlich nur zwei Schlüsse ziehen: Entweder sie kennen sie nicht, oder sie wollen nicht, dass wir sie erfahren! In beiden Fällen ist viel Raum für unsinnigen Aberglauben, wie Sie es nennen.« Damit sank Koch zurück ins Polster und schloss, offensichtlich erschöpft von seiner Rede, die Augen. Ich wandte mich wieder der Lektüre der Unterlagen zu, ohne wirklich voranzukommen. Denn die Andeutung des Sergeanten, die Verantwortlichen seien möglicherweise nicht willens, ihr Wissen an mich, den für die Ermittlungen zuständigen Magistraten, weiterzugeben, hatte mich etwas aus der Fassung gebracht. Ich tappte fast genauso sehr im Dunkeln wie tags zuvor, als ich noch überhaupt nichts von dem Fall geahnt hatte. In den Papieren hieß es weiter: Am 31. Januar im Jahr Unseres Herrn 1804 wurde die Leiche des Notars Jeronimus Tifferch vor Tagesanbruch von Hilde Gnute, der Frau des Bauern Abel Gnute, ge-
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funden. Die Zeugin sagt aus, es sei ein kalter Tag gewesen, in der Nacht habe es fast durchgehend geschneit. Da ihre Augen von der Kälte tränten, habe sie nicht sehr gut sehen können. Als sie die Jungmannenstraße in Richtung des Kramerladens von Herrn Bendt Frodke entlangging, dem sie Eier verkaufen wollte, stieß sie auf die Leiche des Herrn Tifferch, die an eine Mauer gelehnt kniete. Der Mann war von einem oder mehreren Unbekannten ermordet worden. Der Bericht, diesmal von Anton Lublinsky allein unterschrieben, war lächerlich kurz. Hatte der Beamte denn nicht mehr darüber zu sagen, wie und warum der Mann umgebracht worden war? Ich drückte die Stirn gegen das kalte Fenster und schloss die Augen, die vom Lesen im schlechten Licht schmerzten. Als ich sie wieder aufschlug, kamen wir gerade in einen Wald. Im Vorbeifahren bespritzte unsere Kutsche eine Gruppe von Bauern mit Schlamm, die unter den Bäumen Schutz vor dem Sturm gesucht hatte. Stumm bat ich Gott, sowohl diese armen Leute als auch mich zu schützen. Mit einem Mal wurde mir klar, dass ich von meinem hohen Ross herunter und den Königsbergern mit offenem Ohr lauschen müsste. Ich würde versuchen zu verstehen, was sie wirklich dachten, egal, wie weit hergeholt und abergläubisch mir ihre Ideen erschienen. Im letzten verbleibenden Licht bemühte ich mich, eine dem Bericht angeheftete Notiz zu entziffern: »Befragt, ob sie in der Nähe des Tatorts irgendwen gesehen habe, antwortete Hilde Gnute, nur der Teufel könne ein solches Verbrechen begehen,« Da stand es schwarz auf weiß: Als mutmaßlicher
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Mörder galt der Satan selbst. Das sollte mein Ausgangspunkt sein. Wohin würden meine Gedanken mich von dort aus führen? Handelte es sich um eine Glaubensfrage, und ich musste nur meine Zweifel über Bord werfen? Ich kann nicht sagen, wie lange ich in die Düsternis hinausstarrte. Inzwischen hatte es zu regnen aufgehört, und vom Himmel fielen dicke Schneeflocken. Ganz allmählich wechselte die Farbe der Felder vor meinen Augen von trübem Grau zu grellem Weiß. Am schwarzen Himmel hing die fahle Sichel des Mondes, und im Wald begannen die Wölfe zu heulen. Ich weiß nicht mehr, welche Gedanken mir durch den Kopf gingen; irgendwann schlief ich wohl ein. Plötzlich spürte ich, wie mir jemand auf die Schulter tippte. »Wir sind am Ziel«, verkündete Sergeant Koch. »In Königsberg.«
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III
D
er Himmel sah aus wie ein gewaltiges dunkles Laken, aufgeworfen und gekräuselt vom Wind. Nordlichtschlieren schimmerten am silbergesäumten Horizont, der eigentlich die Ostsee war. Mittlerweile hatte es aufgehört zu schneien, und über der ganzen Stadt lag ein weiß glitzernder Teppich. »Das Wetter scheint sich zu beruhigen«, sagte ich, als die Kutsche vor einem großen gotischen Bogen zu stehen kam, der den westlichen Eingang von Königsberg markierte. Sergeant Koch erwiderte nichts, weil eine Truppe schwer bewaffneter Soldaten auf unser Gefährt zugerannt kam. Er öffnete das Fenster und beugte sich zu ihnen hinaus. »Ich bin ein Bediensteter des Hofs, und dieser Herr hier ist der neue Prokurator von Königsberg«, informierte er die Wachen, während er mir signalisierte, dass ich mein Gesicht zeigen solle. Die Soldaten sahen zuerst uns, dann einander an, die Musketen im Anschlag. Schließlich rannte einer von ihnen durch das Tor zurück in die Stadt. Wenig später kehrte er in Begleitung eines Offiziers wieder. »Welcher von Ihnen ist der Magistrat?«, erkundigte sich der Offizier in scharfem Tonfall.
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Seinem dunkelblauen Umhang, dem ledernen Barett, der langen purpurfarbenen Feder daran und der eindrucksvollen Sammlung silberner Auszeichnungen an der Uniformjacke gelang es nicht, dem Gesicht des Mannes Würde zu verleihen. Unter zwei Kuhaugen befanden sich dicke Säcke, ein gewachster Schnurrbart hing traurig herunter, die Miene des Mannes wirkte gleichermaßen spöttisch-ungläubig und angespanntwachsam. Seine feiste rechte Hand, die die Natur eigentlich dazu geschaffen hatte, schwere Schollen in der gottvergessenen Provinz von Bory Tucholskie zu brechen, fuchtelte mit einer Pistole vor meiner Nase herum. »Ich bin Prokurator Hanno Stiffeniis«, stellte ich mich vor und hielt meine Tasche hoch, damit er sie sehen konnte. »Hier drin ist ein Brief des Königs …« »Sie hindern den Prokurator an der Ausübung seiner Pflichten«, erklärte Koch plötzlich mit unerwartetem Selbstbewusstsein. »Tut mir leid, aber ich muss Ihren Passierschein sehen«, beharrte der Offizier. »Das ist Vorschrift. Niemand darf Königsberg ohne Erlaubnis betreten. Haben Sie denn nicht gehört? Hier sind Morde geschehen …« »Deswegen bin ich ja hier!«, herrschte ich ihn an und reichte ihm den schriftlichen Auftrag, den Koch mir am Morgen überbracht hatte. Der Offizier las das Dokument, musterte mich und gab mir das Papier zurück. »Verstauen Sie das Dokument gut«, riet er mir, bevor er die Wachen anwies zurückzutreten. Dann salutierte er und rief dem Kutscher zu, er könne weiterfahren. »Was sollte denn das, Sergeant?«, fragte ich, während
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die Kutsche über das Kopfsteinpflaster in Richtung Stadtmitte rumpelte. Obwohl noch nicht vier Uhr, hatten alle Geschäfte bereits geschlossen, und die Straßen waren bis auf die Soldaten leer, die mit aufgepflanztem Bajonett an fast jeder Ecke Wache standen. »Ist das Kriegsrecht ausgerufen?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Koch und schwieg dann, bis die Kutsche an einem von Bäumen gesäumten Platz vor einem grünen, scheunenähnlichen Gebäude zu stehen kam. »Ostmarktplatz«, verkündete er, sprang erstaunlich behende aus dem Gefährt und klappte die Aussteigstufen für mich heraus. »Herr Rhunken erwartet Sie.« Warum hatte Sergeant Koch mir nicht schon vorher gesagt, dass Prokurator Rhunken mich sofort sehen wollte? Ich holte tief Luft und ordnete meine Kleider. Nun, bald würde sich alles klären. Rhunken war schließlich derjenige, der mir am meisten über den Auftrag verraten konnte. Von ihm hoffte ich die wesentlichen Fakten zu erhalten, über die sich die mir vorliegenden Dokumente ausschwiegen. »Sagten Sie nicht, er sei nicht in der Verfassung zu reden, Koch?« Ohne zu reagieren, gab Koch dem Kutscher Anweisungen, auf dessen Stulpenhandschuhen aus Ölhaut und Leder der Raureif glitzerte. Ich musste die Frage zweimal wiederholen, bevor Koch sich mir zuwandte. »Prokurator Rhunken hat doch einen Schlaganfall erlitten, nicht wahr?« »Ja«, antwortete Koch. »Herr Rhunken war ein ausgezeichneter Vorgesetzter.«
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»Ist er schon lange krank?« »Bis gestern erfreute er sich bester Gesundheit. Doch dann brach er in seinem Büro zusammen, und der Arzt diagnostizierte Schlagfluss.« Koch deutete auf eine hübsche rosa Villa mit einem winzigen, schneebedeckten Garten hinter dem hässlichen grünen Gebäude. »Das ist sein Haus. Wie Sie sehen, befindet es sich gegenüber des Schlosses, in unmittelbarer Nähe des Gerichts. Die Arbeit war sein ganzes Leben.« Meine Augen wanderten hinüber zum Schloss, einem gewaltigen Bauwerk aus grauem Stein mit Zinnen, Burgfried und Wachtürmen. Das massive Haupttor mit seinem Stahlfallgitter erinnerte mich an in Preußen gebräuchliche Rattenfallen. Soldaten mit grauen Winterumhängen und schwarzen Pelzmützen schoben Wache zu beiden Seiten des Tores. Ihr Blick war starr geradeaus gerichtet, und an ihren breiten Schultern lehnten lange Musketen. »Dort werde ich wohl zukünftig einen Großteil meiner Zeit verbringen.« Ich empfand das Gebäude als architektonische Schandtat, obwohl es für die fast grenzenlose Macht stand, die ich in meiner neuen Position innehaben würde. »Ich werde Sie zur vereinbarten Stunde hinüber bringen«, erklärte Koch, bevor er hastig in den Weg zu der Villa einbog und fast auf dem rutschigen Boden ausglitt. Als wir die Tür erreichten, betätigte der Sergeant dreimal kurz den Messingklopfer. Im Haus rührte sich nichts; Koch musste noch einmal klopfen. »Herr Stiffeniis«, teilte Koch dem blassen Dienstmädchen mit, das schließlich die Tür öffnete.
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Die junge Frau sah mich kurz mit ihren wässrig blauen Augen an und senkte dann sofort wieder den Blick. »Doktor Plucker ist gerade bei meinem Herrn.« »Wie geht es Prokurator Rhunken heute?«, erkundigte sich Sergeant Koch voller Sorge. Das Mädchen schüttelte, den Tränen nahe, den Kopf. »Schlecht, Herr Koch. Er war immer ein so stolzer, aufrechter Mann …« »Führen Sie Herrn Stiffeniis hinein. Ich warte draußen beim Kutscher«, sagte Koch. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, betrachtete die junge Frau mich unsicher, als wüsste sie nicht so recht, was sie mit mir anfangen sollte. »Herr Rhunken erwartet mich«, half ich ihr auf die Sprünge. »Hier lang, mein Herr«, murmelte sie schüchtern in ihr Taschentuch, bevor sie mich durch eine Reihe kleiner, miteinander verbundener Räume führte, in denen alle Wände mit Bücherregalen voller Lederbände bedeckt waren. Auch auf Tischen und Sitzgelegenheiten befanden sich hohe Bücherstapel. Prokurator Rhunken schien sein Haus in eine Privatbibliothek verwandelt zu haben. Abgesehen von dem Dienstmädchen gab es hier offenbar keine Frau. Das Mädchen blieb vor einer angelehnten Tür stehen, durch die ein Murmeln und dann ein langgezogenes Wimmern drangen. Ich legte die Hand auf den Arm der jungen Frau. »Kann der Prokurator sprechen?«, erkundigte ich mich. »Der Arzt hat heute Morgen zweimal einen Aderlass
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vorgenommen und plant noch einen weiteren …« Sie wischte sich Nase und Augen ab. »Ich musste am Hafen diese … Biester holen.« Ihre Schultern begannen zu beben, ob vor Angst, Ekel oder Kälte, konnte ich nicht beurteilen. »Die Seeleute haben mich ausgelacht und gesagt, ich soll den Eimer vorsichtig tragen, damit sie nicht rausspringen und mir das Leben aussaugen.« Sie sah mich voller Furcht an. »Ich kannte solche Tiere vorher gar nicht«, flüsterte sie und schniefte wieder in ihr Taschentuch. Was redete sie da? Seeleute? Tiere? »Wenn er wirklich den Teufel gesehen hat«, fügte sie hinzu, »kann ihm kein Arzt der Welt helfen.« Da ging die Tür ganz auf, und ein groß gewachsener, hagerer Mann trat heraus auf den düsteren Flur. Er trug keine Perücke auf dem erst vor Kurzem geschorenen Kopf. Ein enger, dunkler Anzug ließ ihn noch größer und schlanker erscheinen. Als er das Dienstmädchen sah, leuchteten seine Augen auf. Dann fiel sein Blick auf mich, und seine Miene verdüsterte sich. »Wer sind Sie?«, herrschte er mich an. Ohne auf meine Antwort zu warten, zischte er dem Mädchen zu: »Der Prokurator ist nicht in der Verfassung, Besucher zu empfangen, das habe ich Ihnen doch gesagt.« »Ich bin der neue Prokurator«, stellte ich mich vor, »und muss mit Ihrem Patienten sprechen. Es ist dringend.« Der Arzt richtete sich auf wie eine Schlange vor dem Biss. Seine Augen funkelten in dem trüben Licht. »Dann sind Sie also verantwortlich!«, fauchte er.
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»Herr Rhunken befindet sich Ihretwegen schon den ganzen Tag in einem Zustand der Nervosität. Allerdings überraschen Sie mich«, fügte er mit einem unverhohlenen Blick hinzu. »Ich hatte Sie mir anders vorgestellt. Älter, erfahrener.« »Ich werde seine Zeit nicht lange in Anspruch nehmen«, sagte ich. »Das möchte ich auch hoffen!« Ich schrieb die Unhöflichkeit des Arztes seiner Überlastung zu. Und auch ich konnte meine Anspannung kaum verbergen, als ich ihm ins Krankenzimmer folgte. Prokurator Rhunken war nicht ans Bett gefesselt, wie ich erwartet hatte, sondern ruhte mit Blick zum Fenster auf einer lederbezogenen Chaiselongue an der hinteren Wand, die Beine nackt und erhöht auf Kissen gelagert. In diesem eiskalten Raum herrschte noch mehr Unordnung als im übrigen Haus. Drei dünne, in einem Halter steckende Kerzen erhellten hohe Stapel Bücher und Papiere, die zu beiden Seiten eines Himmelbetts in der dunkelsten Ecke des Zimmers wie betrunken an den Wänden lehnten. Doktor Plucker hatte einen älteren Mann erwartet, und mir ging es mit Prokurator Wolfgang Rhunken ebenso. Er konnte kaum älter als fünfundvierzig Jahre sein. Die Worte der Dienstmagd, er sei ein aufrechter Mann gewesen, kamen mir in den Sinn, doch was sie damit meinte, begriff ich nicht. Er saß mit mehreren Kissen im Rücken da, hatte ein dunkles Wolltuch um die Schultern geschlungen und betrachtete mich. Sein Gesicht war ausgezehrt vor Schmerz. Beim Näherkommen bemerkte ich seine Blässe, die zusammengepressten Lip-
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pen und die halb geschlossenen Augen. Große Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, und die Haare klebten ihm trotz der Eiseskälte feucht am Kopf. Ich sah den Arzt unsicher an. »Gehen Sie näher heran und sagen Sie, was Sie zu sagen haben.« Dann rief er dem Dienstmädchen auf dem Flur zu: »Holen Sie einen Hocker für den neuen Prokurator! Und den Eimer!« Rhunkens fiebrige Augen öffneten sich ein wenig, sobald er den ironischen Tonfall des Arztes vernahm. Er schaute mich an, ohne etwas zu sagen. Schon bald brachte das Mädchen den Hocker und stellte ihn neben das Sofa. Ich zögerte einen Augenblick, als der Kranke zitternd die Rechte hob und schwer auf den Hocker fallen ließ. Nachdem ich tief Luft geholt hatte, setzte ich mich. Nun stellte die Dienstmagd einen großen, mit einem Leinentuch bedeckten Eichenholzeimer neben ihren kranken Herrn auf den Boden. Was ich bis dahin für den muffigen Geruch eines selten genutzten Raums gehalten hatte, verstärkte sich, und ich erkannte, dass es sich um eine Mischung aus Schweiß, Kot und Urin, versetzt mit Kampfer und anderen Arzneien, handelte, die vom körperlichen Verfall des Prokurators kündeten. »Ich hoffe auf Ihre baldige Genesung«, begann ich mit leiser Stimme, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. Prokurator Rhunkens Mund klappte mit bebender Unterlippe auf, und die linke Seite seines Gesichts begann heftig zu zucken. Gegen die unwillkürlichen Spasmen ankämpfend, packte er meinen Arm und zog mich
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näher zu sich und dem bestialischen Gestank heran. Dann sank er, nach Luft schnappend, in die Kissen zurück, ohne ein Wort gesagt zu haben. Einen Moment glaubte ich, er würde vor meinen Augen sterben. Ein starkes Zittern erfasste seinen Körper, als er noch einmal versuchte, den Kopf zu heben. »Sie dürfen sich nicht so anstrengen«, ermahnte ihn Doktor Plucker. »Der junge Mann hat gute Ohren und Geduld. Würden Sie jetzt bitte stillhalten? Gestern hat ein Schiff von Rio de la Plata hier angelegt. Um die hier musste ich mit Doktor Franzich vom Schlosshospital streiten. Ihnen würde übel werden, wenn Sie wüssten, wie viel sie gekostet haben, Herr Rhunken. Haementeria ghilianii«, erklärte er, während er das Tuch von dem Eimer zog und es an die Nase hob. »Hmmm! Der Urweltgeruch des Amazonas! Fast kann man sich die dunklen, schwülen Sümpfe vorstellen, in denen sie leben. Sie werden Ihnen gut tun. Sie sind tausendmal besser als die Hirudo-Würmer, die Monsieur Broussais aus Ägypten mitgebracht hat. Überall in Europa legt das Militär einen Vorrat davon für den Krieg an.« Ich beobachtete beeindruckt, wie der Arzt mit einer Zange einen schwarzen sich windenden Wurm aus dem Eimer holte. Als das Tier mit der nackten Haut des Patienten in Berührung kam, wurde es ganz ruhig. Doktor Plucker streckte den riesigen Blutegel auf Herrn Rhunkens Unterschenkel aus, wo er sofort zu saugen begann. »Wenn ich irgendwie helfen kann«, bot ich zögernd an, fasziniert vom Anblick dieses Amazonasungeheuers, das mindestens dreißig Zentimeter maß und bereits vom Blut des Patienten zu schwellen begann. »Ich bin …«
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Eine gelbhäutige Hand schoss unter Prokurator Rhunkens Tuch hervor und mit einer solchen Geschwindigkeit auf mein Gesicht zu, dass es mir die Sprache verschlug. »Sie sind gekommen«, krächzte Rhunken. »Aus Berlin, nehme ich an?« »Aus Berlin?«, wiederholte ich unsicher. Auch ein Blick auf den Arzt half mir nicht weiter, denn der war damit beschäftigt, einen zweiten riesigen Blutegel auf dem anderen Bein des Kranken anzulegen. »Ich bin heute aus Lotingen eingetroffen.« Herr Rhunken runzelte die Stirn. »Woher?« »Aus Lotingen. Im westlichen Gerichtsbezirk«, antwortete ich. »Ich bin der dortige Magistrat.« »Lotingen?«, rief Rhunken entsetzt aus. »Was wollen Sie dann hier?« Dass mich der Mann, der mich empfohlen hatte, über meine Person befragen würde, kam unerwartet. »Ich habe den königlichen Auftrag, Ihren Fall zu übernehmen. Ihr Empfehlungsschreiben befindet sich in meiner Tasche.« Rhunken schüttelte ungläubig den Kopf. »Sie haben mich doch vorgeschlagen.« Prokurator Rhunken wandte das Gesicht zur Wand, als Doktor Plucker zwei weitere Blutegel an seinen nackten Schenkeln anlegte. »Ich habe niemanden vorgeschlagen«, murmelte der Patient verärgert. »Das ist sein Werk! Dieser hinterlistige Kerl will mich quälen.« »Ich habe einen Emissär aus Berlin erwartet«, fuhr er fort. »Von der Geheimpolizei. Nicht Sie …«
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»Er hat noch nie von Ihnen gehört«, zischelte mir Doktor Plucker ins Ohr, während er seinem Patienten einen kleineren schwarzen Egel an der schweißnassen Stirn anlegte und noch einen an der rechten Schläfe. »Das sieht doch jeder. Sie wühlen ihn auf. Zu viel Aufregung schadet ihm. Ihm wurde der Fall entzogen, damit sich ein Fachmann damit befasst. Haben Sie denn kein Mitleid?« Plötzlich schnappte Rhunken nach Luft, begann zu röcheln und heftig zu husten, bevor er in den Napf spuckte, den der Arzt ihm hinhielt. »Nur keine Anstrengung«, ermahnte dieser ihn und warf über die Schulter einen Blick in meine Richtung. »Haben Sie Erbarmen!« »Ich kann nichts dafür, dass er krank ist«, erwiderte ich. »Der König hat mich beauftragt, hierherzukommen. Herr Rhunken weiß mehr über die Morde als jeder sonst. Ich brauche seine Hilfe.« Doktor Plucker wandte sich mir mit wütender Miene zu. »Herr Rhunken braucht Ruhe. Und um die, finde ich, haben Sie ihn nun lange genug gebracht. Lassen Sie ihn in Frieden!« Während der Arzt darauf erpicht erschien, das Gespräch zu beenden, wollte der Patient es offenbar fortsetzen. Seine Hand krampfte sich um meinen Ärmel, um mich mit verblüffender Kraft in die Knie zu ziehen. Der Blutegel an seiner Stirn rutschte gesättigt auf die Wange des Prokurators, von der der Arzt ihn hastig entfernte. »Gehen Sie zum Gerichtsgebäude«, sagte Rhunken mit schwacher Stimme. »Und versuchen Sie, das zu tun … was mir nicht gelungen ist.«
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Dann sank er, die Augen geschlossen und um Luft ringend, in die Kissen zurück. »Das wird noch sein Ende sein«, fauchte Doktor Plucker, schob mich weg und ergriff das Handgelenk seines Patienten, um seinen Puls zu fühlen. »Aber Sie müssen doch wissen, mit was für einer Waffe sie umgebracht wurden!«, rief ich, als Prokurator Rhunken, die Egel an seinem Gesicht in wildem Aufruhr wie bei einem Bildnis der Medusa, das ich einst in der römischen Villa Borghese gesehen hatte, in eine Ohnmacht zu fallen schien. »Ist Ihnen denn nicht klar, in was für einem Zustand er sich befindet?«, keifte Doktor Plucker, packte mich am Arm und zerrte mich zur Tür. »Ich muss Sie bitten, diesen Raum zu verlassen!«, herrschte er mich an, bevor er mich mit erstaunlicher Kraft hinaus in den Flur beförderte, wo die Dienstmagd stand. »Führen Sie Herrn Stiffeniis hinaus!«, wies er sie mit lauter Stimme an. »Kommen Sie, mein Herr«, sagte sie sanft und dirigierte mich durch die düsteren Korridore und Räume voller Bücher zum Ausgang. Als die Tür sich hinter mir geschlossen hatte, stand ich einen Moment lang stocksteif im kalten Licht des Mondes. Jenseits des Zauns wartete Sergeant Koch auf mich, der nun, das Gesicht geädert wie Kirchenmarmor, auf mich zukam. Während meines Aufenthalts in dem Haus war die Temperatur weiter gesunken, und frisch gefallener Schnee bedeckte seinen Hut. »Alles in Ordnung, Herr Stiffeniis?«, erkundigte er sich. »Wer hat Ihnen befohlen, heute nach Lotingen zu kommen, Sergeant Koch?«, fragte ich unwirsch.
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»Prokurator Rhunken«, antwortete er, ohne zu zögern. »Der kennt mich aber nicht«, erwiderte ich mit einer Kälte, die mich selbst überraschte. Koch öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder. Erst nach einer ganzen Weile meinte er: »Ich glaubte, es sei Herr Rhunken gewesen. Ein Bote hat mir das Schreiben überbracht.« »Von wem war es unterzeichnet?« »Es trug keine Unterschrift. Ich bin ein Untergebener des Prokurators. Der Bote sagte, das Dokument komme von oben. Herr Rhunken braucht seine Anweisungen an mich nicht zu unterzeichnen«, erklärte er. »In dem Schreiben stand, was ich zu tun und wohin ich zu fahren hätte. Derselbe Bote überreichte mir den Umschlag mit dem königlichen Siegel und die Papiere, die ich Ihnen auf dem Weg nach Königsberg geben sollte. Wenn ich irgendetwas falsch gemacht habe, tut mir das herzlich leid.« »Das heißt, Sie haben überhaupt nicht persönlich mit Herrn Rhunken gesprochen?« Koch schüttelte den Kopf. »Ich muss sofort zum Gerichtsgebäude«, sagte ich und wandte mich in Richtung der Schlossanlage auf der anderen Seite des Platzes. Ich war schon einige Schritte’ gegangen, als ich merkte, dass Koch sich nicht von der Stelle bewegt hatte. »Zum Gerichtsgebäude?«, rief er mir nach. »Wollen Sie denn nicht zuerst Ihre Unterkunft sehen?« »Glauben Sie, ich bin zum Vergnügen in Königsberg? Nein, ich muss Morde aufklären, Sergeant!«
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Koch machte einen Schritt und nahm seinen Hut ab. »Der Mond steht noch nicht hoch genug«, sagte er. Einen Augenblick meinte ich, ihn falsch verstanden zu haben, doch dann fuhr er fort: »Wir haben genug Zeit …« »Hat die Kälte Ihr Gehirn eingefroren, Koch?«, fiel ich ihm ins Wort. »Was in Gottes Namen hat der Mond damit zu tun?« »Ich soll Sie zum Schloss bringen, sobald der Mond seinen Zenith erreicht hat, keine Minute früher.« Langsam marschierte ich über den knirschenden Schnee zu ihm zurück und konnte nur mit Mühe den Impuls unterdrücken, ihn am Kragen zu packen. »Misst man in Königsberg die Zeit auf diese Weise, Koch? Mit Hilfe der Mondphasen? Oder ist das nur wieder unsinniger Aberglaube?« »Dort drüben ist eine Zusammenkunft anberaumt, und zwar, wenn der Mond im Zenith steht. Mehr weiß ich auch nicht«, meinte Koch. »Davon haben Sie bisher nichts erwähnt, Sergeant«, erwiderte ich. »Es ist nicht das erste Mal, dass Sie mich im Dunkeln tappen lassen.« Koch betrachtete mich kühl. »Es steht mir nicht zu, Fragen zu stellen. Man hat mir lediglich mitgeteilt, dass Sie einen Assistenten erhalten werden.« »Menschen haben für gewöhnlich Namen, Sergeant«, sagte ich. Koch hob den Blick zum Himmel, bevor er antwortete: »Der Mann heißt Doktor Vigilantius.« Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch es kam nichts heraus. Schneeflocken landeten auf meinen kalten Lippen und schmolzen auf meiner Zunge.
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»Ein Nekromant?«, presste ich schließlich hervor. »Was macht der denn hier?« »Soweit ich weiß«, meinte Koch zögernd, »will der Doktor Experimente wissenschaftlicher Natur durchführen.« »Und von welcher Art Wissenschaft sprechen Sie, Koch?« Ihm schien mein Sarkasmus zu entgehen. »Offenbar ist er in puncto Gehirnströmen Experte«, antwortete er. »Stimmt genau, Koch. Aber was macht Vigilantius hier?« »Wie gesagt: Er will Experimente durchführen.« »Lassen Sie es mich anders ausdrücken, Koch. Wer hat Augustus Vigilantius hierher nach Königsberg gerufen?« »Es tut mir leid, Herr Prokurator Stiffeniis«, entschuldigte er sich. »Diese Frage kann ich nicht beantworten.« »Konnen oder wollen Sie nicht? Das scheint sich wie ein roter Faden durch unsere Gespräche zu ziehen«, brummte ich verärgert, doch Koch machte keinerlei Anstalten, eine weitere Erklärung abzugeben. »Sie haben noch Zeit vor dem Treffen«, wiederholte er schließlich. »Ich soll Sie zuerst zu Ihrer Unterkunft bringen. Die Kutsche wartet.« Ich deutete zum Schloss hinüber. »Bin ich denn nicht dort untergebracht?« »Nein, nein«, antwortete er hastig. »Ich soll Sie an einen anderen Ort bringen.« Plötzlich hatte ich das Gefühl, keinen Funken Energie mehr zu besitzen, als hätte man mir die Blutegel angelegt. Was nutzte es, sich weiter mit diesem Mann auseinanderzusetzen? Ich folgte ihm artig zur Kutsche wie ein Lamm, das zur Schlachtbank trottet.
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ie Kutsche fuhr holpernd an. Der frische Schnee auf dem Kopfsteinpflaster machte die Pferde nervös und den Kutscher zögerlich. Während das Rattern der Räder von den hohen dunklen Steinmauern beiderseits der Straße widerhallte, waren meine Gedanken bei Prokurator Rhunken. Er hatte mich nicht erwartet und wusste weder, wer ich war, noch warum ich ihn aufsuchte. Warum hatte man mich zu ihm geschickt? Und wenn die Empfehlung nicht von ihm stammte, von wem dann? Rhunken hatte auf einen Beamten von der Berliner Geheimpolizei gehofft, einen Fachmann für politische Fragen und Morde. Raue Möwenschreie rissen mich aus meinen Überlegungen. Plötzlich stieg mir der Gestank von Fisch und Seetang in die Nase. Ich sah hinaus. Jenseits einer Sandbank erstreckte sich das graue Meer nordwärts in die Unendlichkeit. Es herrschte Ebbe, und eine kleine Flotte Fischerboote ruhte auf dem Trockenen, die Masten wie ein Wald aus Eiszapfen. Der Strand war bis auf eine Rinne voll schnell strömendem Wasser mit einer Eisschicht bedeckt. Ein schwarzer Steinpier ragte armgleich ins Wasser hinaus. Große Dreimaster warteten vertäut wie tote Wale darauf, ans Ufer gezogen zu werden. Seeleute mit Säcken
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und Ballen rannten die Planken hinauf und herunter, während uralte Kräne unter dem Gewicht ihrer Ladung ächzten. Abgesehen von den Soldaten in den Straßen war dies die erste größere Menschenansammlung, die ich seit meiner Ankunft in Königsberg zu Gesicht bekam, einer für den Fleiß ihrer Bewohner und die Geschäftstüchtigkeit ihrer Händler bekannten Stadt. Sie nannte den größten Hafen der Ostsee ihr eigen; seine Kapazität übertraf selbst die Häfen von Hamburg und Danzig. An einem durchschnittlichen Tag, erklärte mir Koch, legte hier ein Dutzend Schiffe aus den entlegensten Winkeln der Erde an, und die gleiche Anzahl machte sich wieder auf den Weg hinaus in die Welt. Zwischen Schiffen und Lagerhäusern liefen Hafenarbeiter hin und her wie Ameisen. Einer der Frachter, dachte ich, hatte bestimmt die Blutegel für die Armee aus Südamerika mitgebracht. »Wohin führen Sie mich, Herr Koch?«, fragte ich. »Zu Ihrer Unterkunft, ins Gasthaus. Es befindet sich direkt am Kai, ein bisschen abgelegen, zugegeben, aber die Kutsche wird immer …« »Ein Gasthaus?«, wiederholte ich ungläubig. »Wie ein fahrender Händler, in Gesellschaft von Schmugglern und Piraten? Ich bin nicht zum Vergnügen in Königsberg, Sergeant«, erinnerte ich ihn noch einmal. »Ich habe Anweisung, Sie hierherzubringen«, erwiderte Koch ungerührt. Allmählich bekam ich das Gefühl, dass meine Einführung in Königsberg nach einem Plan ablief, wie ein höfischer Tanz, und mein schweigsamer Tanzlehrer Koch mich Schritt für Schritt dabei anleitete. Aber wer gab den Takt an? Und zu welchem Zweck?
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»Ich hoffe nur, dass die Unterkunft bequem ist«, murmelte ich, als die Kutsche vor einem alten Ziegelhaus mit schiefem Dach anhielt, auf dem sich eine Wetterfahne in Form eines Schiffs mit geblähten Segeln im Wind drehte. In der Düsternis schimmerte das matte Glas des Erkerfensters bernsteinfarben, was darauf hindeutete, dass drinnen ein Kaminfeuer brannte – der erste tröstende Ausblick, der sich mir an jenem Tag bot. Das Holzschild über der Tür war so voller Schnee, dass ich den Namen des Gasthauses nicht entziffern konnte. »Es heißt ›Zum baltischen Walfänger‹, Herr Prokurator«, verriet Koch mir. »Soweit ich weiß, ist das Essen hier ausgezeichnet, viel besser als im Schloss.« Ich schenkte seinem Versuch, meine Laune zu heben, keine Beachtung. Mit eisigen Gliedern traten wir durch die Tür. Drinnen empfing mich ein Schwall drückender Hitze. Während Sergeant Koch sich einem Mann zuwandte, der das Feuer in dem Kamin schürte, welcher fast die gesamte gegenüberliegende Wand einnahm, sah ich mich in dem Raum um. Die Tische waren mit weißem Leinen und glänzendem Silber gedeckt. Alles wirkte sauber und einladend. Nach einer Weile gesellte sich Koch mit dem groß gewachsenen, kräftigen Mann zu mir, dem dichte graue Locken in die Stirn fielen und der in jedem Ohr einen Messingring trug. Er begrüßte mich mit einem Nicken, bevor er sich hinter die Theke duckte. Sein gewachster Pferdeschwanz mit dem leuchtend roten Band ließ mich vermuten, dass es sich um einen ehemaligen Walfänger handelte. Kurz darauf tauchte er mit einem großen
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Schlüsselring wieder auf und bedachte mich mit einem respektvollen, aber nicht unterwürfigen Lächeln. »Ich bin Ulrich Totz, der Wirt. Wir haben Sie schon erwartet«, sagte er mit tiefer, wohltönender Stimme. »Ich habe jemanden nach oben geschickt, um in Ihrem Zimmer einzuheizen. Lassen Sie mich Ihr Gepäck aus der Kutsche holen.« Ich bedankte mich und sah mich noch einmal in dem Raum um, während Koch sich die Hände am Feuer wärmte. Zu dieser frühen Stunde waren noch nicht viele Gäste da. Von einer hohen Wandbank beim Kamin aus betrachteten einige Männer Koch und mich mit unverhohlener Neugierde. Nachdem sie offenbar zu dem Schluss gekommen waren, dass wir hier nur Schutz vor dem Schneesturm suchten, wandten sie sich wieder ihrem Bier, ihrer Pfeife und ihrer Unterhaltung zu. Drei von ihnen trugen die Uniform der preußischen Marine, ein anderer die eines russischen Husaren mit kurzem grünem Umhang und Goldtressen über der Brust. Der Mann direkt am Kamin hatte dunkle Haut und einen schräg auf dem kleinen Kopf sitzenden leuchtend roten Fes und kraulte seinen riesigen Schnauzbart. Vermutlich handelte es sich um einen Marokkaner oder Türken, höchstwahrscheinlich um einen Handelsschiffsoffizier. Gesichter aus dem Mittelmeerraum waren in Preußen wie in vielen anderen Teilen Europas seit einigen Jahren kein ungewohnter Anblick mehr. Gemeinhin hieß es, wenn die Ägypter schlau genug gewesen wären, ihre Geheimnisse für sich zu behalten, hätte Bonaparte sie in Ruhe gelassen. Doch der Kaiser liebte die Früchte der exotischen Dattelpalme über alles, und so …
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Bevor ich mich weiteren Überlegungen hingeben konnte, kehrte der Wirt mit meinem Gepäck zurück. »Sie haben das zweite Zimmer links im ersten Stock. Es ist gerichtet; Sie können hinaufgehen, wann immer Sie wollen.« Ich stellte mich neben Koch ans Feuer, um mir die Hände zu wärmen. »Ein erfreulicher Anblick«, musste ich gestehen. Koch pflichtete mir mit einem Murmeln bei, ohne den Blick von den knisternden Scheiten zu heben. Wir standen eine ganze Weile schweigend nebeneinander, fasziniert von den tanzenden Flammen. »Bis zu Ihrer Verabredung mit Doktor Vigilantius ist noch etwa eine Stunde Zeit, Herr Prokurator«, erinnerte er mich. »Ja, richtig, der Mond!«, scherzte ich. »Sie werden mir hoffentlich Gesellschaft leisten?« Koch wandte sich mir verblüfft zu. »Wie bitte?« »Haben Sie denn heute Nacht etwas anderes vor?« »Nein, nein, Herr Prokurator«, antwortete er freudig überrascht. »Ich habe den Auftrag, Ihren Anweisungen zu folgen. Aber ich war mir nicht sicher, ob …« »Gut, dann wäre das also abgemacht«, sagte ich, weil ich bei dem Gedanken, das düstere Schloss am Ostmarktplatz allein betreten zu müssen, ein flaues Gefühl im Magen bekam. Sergeant Koch war der Einzige in der Stadt, den ich um Hilfe bitten konnte. »Sie haben heute Ihre Effizienz und Diskretion bewiesen, Koch«, sagte ich und schwieg dann einen Moment. »Ich frage mich … ich meine, ich wäre dankbar, wenn Sie Ihr Wissen über die Stadt mit mir teilen würden.
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Wollen Sie mir während meines Aufenthalts in Königsberg zur Seite stehen?« »Prokurator Rhunken benötigt mich im Augenblick nicht«, erklärte Koch, ohne von den Flammen aufzublicken. »Wenn Sie glauben, dass ich Ihnen behilflich sein kann …« »Ich bin Prokurator Rhunkens Nachfolger«, sagte ich, einen kleinen Scherz wagend, »also erbe ich Sie wohl. Aber wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden: Ich muss einen Brief schreiben. Kann er noch heute Abend zugestellt werden?« »Ich überbringe ihn persönlich«, antwortete Koch sofort. »Danke, Sergeant. Bitte bestellen Sie uns doch zwei Gläser heißen Grog. Ich brauche nicht lange.« Oben hatte ich keine Mühe, mein Zimmer zu finden, dessen Tür angelehnt war. Der Wirt stand neben einem Jungen, der kniend mit einem Blasebalg das Feuer anfachte. Da sie mir beide den Rücken zuwandten, bemerkten sie mich nicht. Als ich meinen Hut aufs Bett legte, fielen mir die angenehme Wärme und Sauberkeit des Raums, die dunklen Eichenbalken an der niedrigen Decke, die weiß verputzten Wände sowie der lediglich in der Mitte ein wenig abgetretene Teppich auf. Am Fenster befand sich ein kleiner Schreibtisch mit einer Öllampe darauf, während an der gegenüberliegenden Wand ein großer Schrank und ein dazu passender Frisiertisch aus Walnussholz ein Himmelbett mit sauberen Vorhängen flankierten. Ein großer blauer Krug aus Dresdner Porzellan und eine Waschschüssel vervollständigten die Einrichtung.
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Zufrieden wanderte mein Blick wieder zurück zu dem Wirt und dem Jungen, der noch immer mit rotem Gesicht vor dem Kamin kauerte. Herr Totz hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Obwohl ich sein Gesicht nur im Profil sehen konnte, war sein drohender Ausdruck unverkennbar. Des knisternden Feuers und des Blasebalggeräuschs wegen verstand ich nur wenig von dem, was die beiden miteinander sprachen. »Wer mit dem Feuer spielt, verbrennt sich die Finger, Morik!«, spottete Herr Totz gerade. »Nun, wie man ein Feuer entfacht, scheint er wirklich zu wissen, Herr Totz«, sagte ich laut, während ich mich umdrehte, meinen Umhang abstreifte und aufs Bett fallen ließ. Als ich mich wieder dem Kamin zuwandte, war ich verblüfft über den plötzlichen Wandel der Szene. Das Gesicht des Jungen war vor Angst verzerrt wie das eines in die Enge getriebenen Fuchses. Und Ulrich Totz, noch kurz zuvor deutlich wütend, begrüßte mich mit freundlicher Miene. Seine Linke ruhte schwer auf der knochigen Schulter seines Anbefohlenen. Ein wenig erinnerte er mich an einen Dorfwachmann, der gerade einen Jungen beim Stehlen erwischt hat. »Bitte sehr, Ihr Zimmer«, sagte der Wirt mit einem Zwinkern in meine Richtung. »Wenn Sie irgendetwas brauchen sollten – meine Frau kommt noch heute Abend von ihrer Schwester zurück, und ich bin sowieso fast immer unten im Gastraum. Das ist Morik, mein Neffe.« Seine Hand krallte sich fester um die Schulter des Jungen, der vor Schmerz zusammenzuckte. »Da hast du aber ein schönes Feuerchen gemacht, Morik«, lobte ich den Neffen.
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Wieder bedachte der Wirt mich mit einem breiten Lächeln. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass es ihn große Mühe kostete, diese Freundlichkeit beizubehalten, als ich ihn entließ, den Jungen aber bat, bei mir zu bleiben und meine Sachen auszupacken. Dass Totz sich nicht mehr im Raum befand, schien Morik bedeutend ruhiger werden zu lassen. Er war ein aufgeweckter Junge mit wachen Augen und rundem, rotbäckigem Gesicht, höchstens zwölf Jahre alt, und stürzte sich auf meine Tasche wie ein kleiner Affe. Hemden, Strümpfe und Unterwäsche breitete er auf dem Bett aus, Kamm und Bürste legte er neben die Waschschüssel, alles andere verstaute er in Schubladen. Er schien die Berührung so schöner Dinge zu genießen und ließ sich Zeit. »Jetzt ist es gut, Morik!«, sagte ich schließlich. »Gieß mir nur noch ein bisschen warmes Wasser in die Schüssel, ja? Bevor ich das Haus verlasse, möchte ich mich frisch machen. Ich werde unten erwartet.« »Von dem Schutzmann?«, fragte Morik aufgeregt. »Wird das Gasthaus überwacht?« »Ganz Königsberg wird überwacht«, antwortete ich, amüsiert über seine kindliche Neugierde. Dann setzte ich mich an den Tisch am Fenster, arrangierte mein Schreibzeug und formulierte einen Brief, von dem ich nicht gedacht hätte, ihn je verfassen zu müssen. Herr Jachmann, Umstände, die sich meiner Kontrolle entziehen, führen mich wieder nach Königsberg. Ich folge einem königlichen Auftrag größter Wichtigkeit, den ich Ihnen gern so bald wie möglich erläutern würde. Zu diesem Zweck
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werde ich morgen um zwölf Uhr mittags bei Ihnen erscheinen. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, vor dem Gespräch mit Ihnen jeden Kontakt mit der Prinzessinstraße zu meiden. Mit der Bitte um Antwort. Untertänigst, Hanno Stiffeniis, Magistrat »Soll ich den Brief für Sie zur Post bringen, mein Herr?« Ich wandte mich erstaunt um. Der Junge hatte mir über die Schulter geschaut. Ich war so vertieft gewesen, dass ich seine Anwesenheit völlig vergessen hatte. »Zur Post? Um diese Zeit? Hast du denn nach Einbruch der Dunkelheit keine Angst auf der Straße?«, fragte ich. »Aber nein, mein Herr!«, antwortete der Junge sofort. »Ich tue alles, was Sie von mir verlangen.« »Mutig, mutig«, erwiderte ich und holte eine Münze aus der Westentasche, »aber auch leichtsinnig. Auf den nächtlichen Straßen von Königsberg geht ein Mörder um. Du bist sicherer im Haus.« Nach einem raschen Blick zur Tür nahm er mir die Münze aus der Hand. »Da wäre ich mir nicht so sicher, mein Herr«, flüsterte er. »Hier in diesem Gasthaus ist es gefährlicher als auf der Straße. Das Wasser wäre bereit.« Ich tat die Worte des Jungen als kindisches Geschwätz ab. Mit einem Lächeln schlüpfte ich aus Jacke und Weste und rollte die Hemdsärmel hoch. »Glauben Sie mir denn nicht, mein Herr?«, fragte Morik und trat einen Schritt näher. »Warum sollte ich dir nicht glauben, Morik?«, ant-
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wortete ich, in Gedanken bereits bei dem Gespräch, das mir an jenem Abend noch bevorstand. »In diesem Haus gehen seltsame Dinge vor sich, mein Herr«, flüsterte er mir noch leiser als zuvor zu. »Deswegen sind Sie doch hier, oder nicht?« »Natürlich«, scherzte ich und spritzte mir warmes Wasser ins Gesicht. »Was für Dinge meinst du genau?« »Einer der Ermordeten hat seine letzte Nacht hier verbracht. Jan Konnen …« Da klopfte es laut an der Tür. Ohne auf ein »Herein« zu warten, trat Herr Totz ein. Ich trocknete mir gerade das Gesicht ab. »Wenn Sie den Jungen nicht mehr benötigen«, erklärte der Wirt verärgert, »würde ich ihn jetzt gern mitnehmen. Ich brauche ihn in der Küche, und zwar sofort!« Bevor ich etwas entgegnen konnte, hatte Morik bereits, einen weiten Bogen um seinen Herrn machend, das Zimmer verlassen. »Dieser Junge!«, rief Totz, verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. »Er lügt wie gedruckt. Und arbeitsscheu ist er obendrein. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich ihn Ihnen entführe, oder?« »Er sagt, dass Jan Konnen den Abend vor seinem Tod in Ihrem Gasthaus verbracht hat. Stimmt das?« Erst nach einer ganzen Weile trat ein gequältes Lächeln auf die Lippen von Ulrich Totz, und er bestätigte zuckersüß: »Ja, das stimmt. Ich habe der Polizei bereits alles gesagt. Unter Eid. Plötzlich war Konnen verschwunden. Mehr weiß ich auch nicht. Würden Sie mich jetzt bitte entschuldigen? Wir haben im Moment ziemlich viel zu tun.«
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Ich entließ ihn mit einem Nicken. War ich in ein bizarres Labyrinth gelockt worden oder nächtigte ich aus reinem Zufall in genau jenem Gasthaus, in dem das erste Mordopfer seine letzten Stunden verbracht hatte? Ich beschloss, mir die Aussage von Ulrich Totz schnellstmöglich vorzunehmen. Offenbar gab es im Zusammenhang mit den Morden doch mehr Informationen, als ich von Koch erhalten hatte. Unten wartete der Sergeant mit zwei hohen Gläsern heißem Grog auf einem Tischchen am Feuer. Inzwischen waren mehr Gäste eingetroffen – zwei Frauen in weiten, roten Röcken und tief ausgeschnittenen Blusen standen im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Der russische Offizier mit der auffälligen Uniform schlief inzwischen an seinem Tisch, den Kopf an die Wand gestützt. Aus dem umgestürzten Glas neben ihm tropfte der Grog auf den Boden. »Koch«, sagte ich und tippte dem Sergeant auf die Schulter. Er sprang auf und setzte sich sofort den Hut auf den Kopf, als hätte ich ihn halbnackt ertappt. »Die Kutsche ist …« »Jan Konnen wurde hier ermordet«, fiel ich ihm ins Wort. »Wussten Sie das?« Koch schwieg eine ganze Weile. »Nein, davon hatte ich keine Ahnung.« »Tatsächlich?«, fragte ich. »Wie merkwürdig. Offenbar weiß die ganze Stadt darüber Bescheid.« Koch holte tief Luft, bevor er erklärte: »Wie gesagt, über die Einzelheiten ist mir nichts bekannt. Natürlich wusste ich, dass der Mann irgendwo am Hafen umge-
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bracht wurde, aber nicht, dass es in diesem Gasthaus war.« »Vor dem Gasthaus«, berichtigte ich ihn. »Wer auch immer mich hier einquartiert hat: Er jedenfalls weiß Bescheid.« Einen Moment standen wir uns schweigend gegenüber, wieder einmal in gegenseitigem Unverständnis, dann streckte ich ihm meinen Brief hin. »Das ist das Schreiben, das ich vorhin erwähnt habe«, sagte ich. »Für einen Herrn namens Reinhold Jachmann hier in der Stadt.« Falls Koch den Namen kannte, ließ er es sich nicht anmerken. »Ich bringe es zu ihm, sobald wir im Schloss gewesen sind«, sagte er mit einem pflichtschuldigen Nicken. »Auf dem Nachhauseweg.« »Es reicht, wenn Sie das gleich morgen Früh erledigen, Koch«, erwiderte ich, ein wenig versöhnlicher gestimmt. »Das Haus von Herrn Jachmann befindet sich in der Klopstraße.« »Brauchen Sie sonst noch etwas?«, erkundigte er sich. »Die Kutsche. Der Mond dürfte allmählich seinen Zenith erreicht haben, wenn ich nicht irre?«, versuchte ich es in lockererem Tonfall. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln huschte über Kochs Gesicht, während wir uns auf die Tür zubewegten. »Ja, da haben Sie recht.« Draußen hatten sich hohe Schneeverwehungen auf dem groben Kopfsteinpflaster angehäuft, und der Wind blies heftig vom Meer herein, so dass wir sofort mit den Zähnen zu klappern begannen.
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»Gott helfe uns!«, murmelte Koch und folgte mir in die Kutsche. Erst jetzt fielen mir die beiden Gläser Grog ein, die wir unberührt auf dem Tischchen im Gasthaus zurückgelassen hatten. Dieses Versäumnis sollten wir in jener Nacht noch bereuen.
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unkelheit hatte sich über den menschenleeren Ostmarktplatz gesenkt. Sogar die Wachhäuschen vor dem Schloss und dem Gerichtsgebäude waren leer, nachdem man die Gendarmen zur Nacht hereingerufen hatte. Zu beiden Seiten des Haupteingangs warfen flackernde Fackeln ihren Schein auf die düstere Steinfassade. Sergeant Koch betätigte den großen Eisenringklopfer an der riesigen Holztür. Kurz darauf wurde ein schwerer Riegel zurückgezogen und eine Luke geöffnet. Aus dem Innern starrten uns Knopfaugen an. »Prokurator Stiffeniis für Doktor Vigilantius«, verkündete Koch. Die Luke schloss sich mit metallenem Klang. Dann wurde die Tür geöffnet, und wir traten in einen kleinen Innenhof. »Warten Sie hier«, befahl der Wachmann und Heß uns einige Minuten in der Kälte stehen. In der Mitte des Hofs schufteten zwei groß gewachsene Soldaten in Hemdsärmeln mit Spaten in der Hand neben einer Holzkiste. Wieso schaufelten sie Schnee hinein? »General Katowice!«, zischte Koch plötzlich, als eine Gruppe blau gewandeter Offiziere auf uns zu marschiert
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kam. »Der Kommandant der Garnison«, fügte er mit gesenkter Stimme hinzu. Kurz darauf sah ich mich einem rotwangigen Mann von weniger als durchschnittlicher Größe und mehr als durchschnittlicher Breite gegenüber, der scheußlich schwarze Zähne sowie einen riesigen weißen Schnurrbart hatte. Seine kurzen Arme waren über der breiten Brust verschränkt, und er runzelte die Stirn. Unvermittelt wandte er den Kopf nach links, so dass eine lange weiße Haarsträhne durch die Luft flog und auf seinem Arm landete wie eine Schlange auf einem Ast. Hochrangige Offiziere orientierten sich in puncto Haartracht noch immer an Friedrich dem Großen. »Stiffeniis?«, bellte der General und streckte mir seine feiste Hand entgegen. Ich lächelte erleichtert. Hier wurde ich offenbar erwartet. »Gut, dass Sie hier sind«, begann er, während seine Hand den Griff seines Schwerts umstrich. »Wie Sie wissen, befindet die Stadt sich der Morde wegen in Aufruhr. Der König möchte die Sache so schnell wie möglich aufgeklärt sehen. Mir allerdings ist klar, was da vor sich geht.« Er trat einen Schritt näher an mich heran, so dass ich sehr deutlich die Ausdünstungen von Knoblauch und allerlei anderen halb verdauten Speiseresten aus seinem Mund roch. »Jakobiner!«, sagte er. »Das ist die Antwort.« »Spione?«, fragte ich. General Katowice legte mir die Hand auf den Arm. »Genau! Ich will herausfinden, wo sie sich verstecken!«, rief er reichlich erregt. Dabei baumelte eine seiner wei-
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ßen Tressen wild vor seiner Brust. Er war einem Barbarenhäuptling ähnlicher als einem preußischen General. »Vertraue keinem Franzmann! Das sind alles listige Teufel im Dienste des Satans! Napoleon würde seinen linken Arm und ein Bein geben, um die Königsberger Festung einzunehmen. Ich habe meine Leute inner- und außerhalb der Stadt postiert. Auf ein Wort von Ihnen oder mir werden sie ohne Erbarmen zuschlagen.« Er legte mir die rechte Hand auf die linke Schulter und sah mir tief in die Augen. »Wenn Sie irgendetwas entdecken, das nach Franzosen aussieht oder riecht, informieren Sie mich. Rhunken vermutete eine ausländische Verschwörung gegen Preußen, hatte aber keine Beweise. Was mir leider die Hände band. Falls es Ihnen gelingen sollte, solidere Argumente für seine Theorie zu finden, überrede ich den König, die Initiative zu ergreifen. Dann kommen wir ihnen zuvor. Alles könnte von Ihnen abhängen. Noch Fragen?« Am meisten hätte mich natürlich interessiert, warum man mich gerufen hatte, aber das fragte ich nicht. »Keine? Wunderbar! Tja, soweit ich weiß, werden Sie erwartet.« Der General und seine Begleiter entfernten sich nach links, während ein Corporal von rechts zu uns trat und salutierte. »Folgen Sie mir, meine Herren«, sagte er, drehte sich auf dem Absatz um und marschierte davon. Sollte tatsächlich ein Komplott der Jakobiner zur Unterminierung des Friedens in Königsberg und Preußen das Motiv für die Morde sein?, fragte ich mich, während ich ihm folgte. Wir stapften einen dunklen Korridor entlang, durchquerten einen großen leeren Raum, in dem
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unsere Schritte widerhallten, gingen unter einem niedrigen Bogen hindurch, hinter dem sich ein Labyrinth aus düsteren Fluren befand, und landeten schließlich vor einer schmalen Tür, die in eine feuchte graue Wand gemauert war. »Hier lang«, sagte der Corporal, während er eine Fackel aus der Halterung an der Wand nahm und über eine Wendeltreppe in die Eingeweide der Erde hinabstieg. Der Schimmelgeruch wurde unerträglich. Das Licht der Fackel focht einen zischenden Kampf gegen die undurchdringliche Schwärze. »Befinden Sich die Amtsräume denn nicht oben?«, fragte ich Koch. »Doch«, antwortete dieser. »Warum gehen wir dann nach unten?« »Ich weiß es nicht.« »Was für ein seltsamer Ort für ein Treffen«, sagte ich und wurde immer unruhiger. »Wo bringen Sie uns hin, Corporal?« Der Corporal blieb stehen und sah zuerst Koch, dann mich an. Auf seinem Kopf saß ein abgewetzter Dreispitz, darunter eine zerzauste Perücke, die gewiss einen Monat nicht mehr gepudert worden war. »Zum Doktor, mein Herr«, antwortete er. Da hörten wir auf dem Treppenabsatz über uns das Stampfen schwerer Stiefel mit Stahlspitzen. Der Corporal hob die Fackel, deren Licht nun auf jene beiden Soldaten fiel, die ich zuvor im Hof gesehen hatte. Sie schleppten eine große Kiste die Treppe herunter, so eilig, dass wir uns gegen die Wand drücken mussten, um nicht von ihnen überrannt zu werden.
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»Ist er schon da?«, rief der Corporal ihnen nach. Erst jetzt sah ich, wie groß sie waren. Friedrich der Große hatte diese Tradition begonnen, indem er die entlegensten Winkel seines Reichs bereiste, um die Sammlung seiner riesigen Soldaten zu erweitern. »Keine Ahnung«, rief der Vordere über die Schulter zurück. »Weiter, Walter!« »Ist das Teil einer Strafe?«, fragte ich den Corporal, nachdem die beiden in der Dunkelheit verschwunden waren. »Sie führen einen Befehl aus«, antwortete er und ging weiter die Treppe hinunter. Am Ende des Schachts bemerkte ich ein viereckiges Oberlicht über unseren Köpfen. Der Corporal hob den Blick. Draußen zeichnete sich hoch über uns der Vollmond ab. »Der Teufel soll mich holen!«, fluchte er. »Auf die Minute pünktlich.« »Wie bitte?«, fragte ich. »Dem Doktor sind Kleinigkeiten sehr wichtig«, murmelte er. »Er hat gesagt, dass der Mond hinter den Wolken hervortreten würde, und da ist er!« Ich empfand die Angst, die ihm ins Gesicht geschrieben stand, als komisch. »Wir sollten ihn nicht warten lassen«, meinte er, bevor er hastig zu einer Tür am anderen Ende des Flurs schritt, die in einen großen, leeren und sehr kalten Lagerraum führte. Dort waren die beiden Soldaten, die vor Kurzem an uns vorbeigehetzt waren, soeben dabei, Schnee aus der Kiste auf eine schwarze Plane zu schaufeln.
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»Nun, Koch …«, begann ich, und Atemwolken bildeten sich vor meinem Mund. »Sie kommen gerade rechtzeitig«, hörte ich da eine Stimme hinter mir. Als ich mich umdrehte, verschlug es mir die Sprache. Der Mann schien einem Porträt aus der Ahnengalerie im Landhaus meines Vaters entstiegen. Graue Locken umrahmten ein langes, hageres Gesicht, und große, schneeweiße Hände pressten einen imposanten, schwarzen, samten schimmernden Umhang gegen seinen Körper. »Mein Name ist Vigilantius«, stellte er sich vor. »Doktor Vigilantius.« Er reichte mir weder die Hand, noch gab er mir irgendwie sonst das Gefühl, willkommen zu sein, als er sich mit wehenden Schößen den Soldaten näherte. Der Größenunterschied zwischen ihm und dem Kleineren der beiden Riesen betrug lediglich eine Handbreit. »Ich hoffe, Sie haben sich genau an meine Anweisungen gehalten.« Einer der Männer trat vor, wischte sich die Stirn mit dem Ärmel ab und sagte: »Natürlich, ganz genau, mein Herr.« »Nun, dann sollten wir beginnen«, meinte Vigilantius, den Blick auf die Soldaten gerichtet, die trotz der Kälte schwitzten. »Womit?«, fragte ich laut, um meine Autorität unter Beweis zu stellen. Vigilantius hob seine buschigen Augenbrauen und musterte mich eingehend, gab aber keine Antwort. »Was machen wir hier unten?«, beharrte ich. »Ich bin hier, um in die Welt der Geister einzutreten«,
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entgegnete er, als existierte diese tatsächlich und ließe sich mit Scharfblick auf der Weltkarte finden. Bevor ich etwas erwidern konnte, herrschte er Koch an: »Und wer sind Sie?« »Sergeant Koch ist mein Assistent«, fauchte ich. Der Doktor verzog das Gesicht, brachte aber keine Einwände vor. »Gut, dann kann er bleiben. Diese beiden Männer sind für den ersten Teil der Operation nötig. Corporal«, sagte er und ließ seinen Zeigefinger vorschnellen, »gehen Sie!« Der Corporal eilte aus dem Raum, ohne sich noch einmal umzublicken. Mittlerweile hatten die Riesen begonnen, die schneebedeckte Plane zu uns herüberzuzerren. Ärger stieg in mir auf. Wollte der Mann mich zum Narren halten? Bedeutete meine Autorität ihm nichts? Der König höchstpersönlich hatte mir diesen Fall übertragen. Hier besaß ich die Entscheidungsgewalt. »Bleiben Sie, wo Sie sind!«, rief ich aus und machte einen Schritt auf die Soldaten zu. »Sind Sie denn nicht neugierig, was sich unter dieser Plane verbirgt, Herr Prokurator?«, fragte Vigilantius mit einem spöttischen Lächeln. »Mehr Hilfe werden Sie in Königsberg nicht finden, das kann ich Ihnen versichern.« »Was verstecken Sie da?«, fragte ich. »Nehmt den Schnee weg«, wies er die Soldaten an, ohne auf mich zu achten. Während die Männer den Schnee mit bloßen Händen wegschaufelten, stieg unbändige Wut in mir hoch. Warum wurde ich in dieser Angelegenheit immer wieder übergangen? Hatte ich überhaupt etwas zu sagen?
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»Schiebt ihn hier herüber«, befahl Vigilantius den Soldaten, die taten, wie ihnen geheißen. »Und jetzt verschwindet!« Ich trat näher an die Plane heran, um das, was sich darauf befand, genauer zu betrachten. »Wer war das?«, fragte ich. »War?«, wiederholte Vigilantius mit rauer Stimme. »Das ist Jeronimus Tifferch, viertes Opfer des Mörders, der Königsberg in Atem hält.« In Frankreich hatte ich Leichen genug gesehen, und ich wusste, was die Klinge der frisch geölten Guillotine anrichten konnte. Aber trotz dieses Wissens war ich nicht auf den Anblick von Anwalt Tifferch vorbereitet. Er lag auf dem Rücken, in gänzlich unnatürlicher Haltung: den Torso nach oben gerichtet, die Knie gebeugt und die Arme ausgestreckt nach unten zeigend. Das Leben schien ihm aus dem Leib gerissen worden zu sein. Seine Haut war glasig und elfenbeinfarben wie die mumifizierter italienischer Heiliger, der Mund stand weit offen. Sein Gesichtsausdruck wirkte unschuldig verwirrt. Die Haare waren steif gefroren und so weiß, dass ich sie auf den ersten Blick für Eis hielt. Eine lange, gerade Nase wies auf einen schmalen schwarzen Schnurrbart, den Tifferch offenbar mit Hingabe gepflegt hatte. Sein gut geschnittener Anzug war olivgrün und entlang Kragen, Säumen und Knopflöchern mit einer dünnen Goldpaspelierung versehen. Cremefarbene Strümpfe schlackerten um dünne, von der Kälte zusammengezogene Waden. An beiden Knien klebte verkrusteter Schlamm. Ich konnte nicht erkennen, wie Anwalt Tifferch zu Tode gekommen war.
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»Wie ist er gestorben?«, fragte ich. »Das werden wir bald feststellen«, antwortete Vigilantius geheimnisvoll, während er sich ans Werk machte. Sein Vorgehen erinnerte mich an katholische Riten. Ich hatte einige Jahre zuvor in Rom eine Messe besucht und war fasziniert gewesen von den kultischen Handlungen der Priester. Vigilantius umschloss das Gesicht des Mannes mit beiden Händen, machte die Augen zu und berührte die Stirn der Leiche wie ein Geistlicher Brot und Wein beim Offertorium. In dieser Stellung verharrte er eine ganze Weile reglos. Plötzlich begann er an Nase und Mund des Toten zu schnüffeln. Schweiß rann ihm dabei in Strömen von der Stirn, und er fing heftig zu zittern an, wie von einer unkontrollierbaren Energie erfasst. »Jeronimus Tifferch«, sprach er mit lauter Stimme. »Jeronimus Tifferch. Kehre aus dem Reich der Schatten zurück, das befehle ich, Augustus Vigilantius, dir …« So etwas wie ein Knurren erklang, das von den Wänden widerhallte und in einem langen Schmerzensgeheul endete. »Hier verbirgt sich noch jemand«, sagte ich leise zu Koch. Koch sah mich mit zusammengepressten Lippen an. Seine Augen funkelten im Licht der Fackel. »Hier ist niemand«, erwiderte er, »außer ihm, uns und der Leiche.« Vigilantius begann heftig zu wanken. »Lass mich. Lass mich in der Dunkelheit ruhen«, zischte er. Sein Mund war riesig und verzerrt, die merkwürdige, körperlose Stimme, in der eine unendliche Traurigkeit mitschwang, derer ich Vigilantius nicht für
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fähig gehalten hätte, klar und deutlich zu verstehen. Sein Atem wurde unregelmäßig, und – wie gern würde ich es leugnen! – sein weiter Umhang erhob sich von selbst wie eine schwarze Wolke, die ihn zu verschlingen drohte. Ich kam mir vor wie in einer starken Strömung oder einem wilden Sturm. »Hol dir die Energie von mir!«, kreischte Vigilantius, als risse ihm eine unsichtbare Hand das Herz aus dem Leib. »Wer bist du?« »Ich bin nicht länger ich«, antwortete die Stimme ihrerseits kreischend, und Koch packte mich erschreckt am Arm. Eine Weile herrschte Ruhe, dann begann der Wind wieder zu heulen. »Ich bin … ich … nicht länger … nicht länger …« »Wer hat dich in die Dunkelheit befördert?«, fragte Vigilantius ganz ruhig. »Mord … Mord … Mord …« Der Wind blies so heftig gegen das Gemäuer, dass er sich anhörte wie Hammerschläge, die in meinem Gehirn nachhallten. In dem flackernden Licht meinte ich zu sehen, wie der steif gefrorene Mund der Leiche sich zum Sprechen öffnete und schloss. Vigilantius bebte am ganzen Körper. Wort- und Satzfetzen entrangen sich seiner Kehle. Dann ein hoher Schmerzensschrei. »Wer hat es getan, Geist?«, fragte Vigilantius. »Wer hat dich ermordet?« Ich hörte den Schrei einer Eule, das Gurren von Tauben, das Kreischen einer Katze, ein Art Lied ohne Melodie und schließlich wieder dieses sturmähnliche Geräusch. »Eine Flammenzunge. Ein Feuer an meinem Hinter-
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kopf …« Die Worte wurden kurz undeutlich, dann wieder klarer, allerdings näselnd. War das die echte Stimme von Anwalt Tifferch? »Dunkel … dunkel … eine Stimme …« »Was für eine Stimme?«, brüllte Vigilantius gegen ein dissonantes Geräusch an, das klang, als würde die Kurbel eines Leierkastens in die falsche Richtung gedreht. »Wer hat mit dir geredet? Beschreibe ihn, ich befehle es dir!« Ich sah, oder glaubte zumindest zu sehen, wie sich die Lippen des Toten bewegten. »Das Gesicht ist … des Teufels … nicht mehr«, antwortete die Leiche, dann senkte sich Stille herab. Was hatte ich da gerade erlebt? Kalter Schweiß rann mir den Rücken hinunter. Die Vorstellung war zweifelsohne beeindruckend gewesen. Mein Herz hämmerte noch immer wie wild in meiner Brust, und ich schnappte nach Luft. Da merkte ich, dass Doktor Vigilantius mich beobachtete. Der echte Vigilantius, falls es an diesem düsteren Ort überhaupt etwas Echtes gab. Plötzlich verzog er die Oberlippe, seine schwarzen Augen funkelten, und er grinste diabolisch von einem Ohr zum anderen. »Haben Sie es gehört?«, fragte er. »Die menschliche Leiche dient als Behältnis vitaler Empfindungen. Mein Magister Emanuel Swedenborg hat mir vor langer Zeit beigebracht, wie man an sie herankommt. Nehmen Sie die Scheuklappen ab, Herr Prokurator, öffnen Sie sich geheimen Welten. Illustrere Männer als Sie haben ohne Augen zu sehen gelernt.« Er trat einen Schritt auf mich zu und versperrte mir so den Blick auf die Leiche. Seine Selbstsicherheit und
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sein Machtbewusstsein waren absurd. »Machen Sie das Beste aus dem, was Sie gerade beobachten durften«, sagte er. »Beeindruckend, in der Tat«, pflichtete ich ihm mit immer noch rasendem Puls bei. »Sie haben Ihre Berufung verfehlt. Sie hätten Schauspieler werden sollen. Aber was bleibt, wenn der Vorhang fällt?« Ich wartete vergebens auf eine Antwort. »Sie haben mir nichts Nützliches mitgeteilt«, fuhr ich mit wachsender Verärgerung fort. »Wie ist dieser Mann gestorben? Mit welcher Waffe wurde er ermordet? Und warum konnte er das Gesicht seines Mörders nicht beschreiben? Sie sind ein Bauchredner, ein Taschenspieler. Ich habe kein einziges wahres Wort gehört, weder aus dem Mund des Toten noch aus dem Ihren. Sie stehlen mir die Zeit, behindern meine Ermittlungen. Der König wird einen Bericht über das erhalten, was sich hier abspielt.« Der Nekromant starrte mich trotzig an, und wieder verzogen sich seine schmalen Lippen zu einem selbstgefälligen Grinsen. »Was hat der König damit zu tun, Herr Stiffeniis?« »Kennen Sie ihn nicht?«, antwortete ich sarkastisch. »Unseren Monarchen, König Friedrich Wilhelm III.? Der mir diesen Fall anvertraut hat? Ich habe sein Schreiben hier …« »Sie täuschen sich«, fiel Vigilantius mir ins Wort und fuchtelte dabei mit der Hand in der Luft herum, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen. »König Friedrich Wilhelm weiß nichts über Sie und mich. Eine bedeutende Persönlichkeit, der Seine Majestät vertraut, hat
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versprochen, diese Mysterien für ihn zu klären, mit Ihrer und meiner Hilfe. Das Schreiben ist das Papier nicht wert, auf dem es verfasst wurde. Irgendein Sekretär in Berlin hat es unterzeichnet und mit dem königlichen Siegel versehen, nehme ich an. Ein Vorwand, um Sie hierher zu locken.« Vor Wut begannen meine Hände zu zittern, und ich vergrub sie tief in den Taschen meines Umhangs. »Eine bedeutende Persönlichkeit?«, fragte ich, um Ruhe bemüht. »Der der König vertraut? Und dieser eminente Mann soll dem König versprochen haben, die Morde mit Taschenspielertricks aufzuklären? Bemerkenswert! Stellen Sie ihn mir doch bitte so schnell wie möglich vor. Die Stadt Königsberg könnte sich nicht in besseren Händen befinden.« Vigilantius’ spöttisches Lächeln wich einem Ausdruck der Nachdenklichkeit. »Sie beleidigen einen wahrhaft großen Mann, Herr Prokurator. Ich hoffe, zugegen zu sein, wenn Sie ihn treffen.« »In dieser Welt oder der nächsten?«, murmelte ich mit einem Blick auf die Leiche, bevor ich mich Koch zuwandte. »Assistieren Sie mir. Ich würde gern die leere Hülle dieses Mannes untersuchen, jetzt, wo sein Geist daraus geflohen ist.« Wir beugten uns über Jeronimus Tifferch. An seinen Kleidern befand sich kein einziger Tropfen Blut, und auf seiner Haut konnte ich keinerlei Würgemale oder blaue Flecken entdecken, die auf Schläge hingewiesen hätten. Die zwischen seinen gelben Zähnen hervorlugende Zungenspitze war rosafarben, weder schwarz noch geschwollen. Ich legte beide Hände auf seinen Brustkorb
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und drückte dagegen. Auch dort schien alles in Ordnung zu sein. Als ich sein Hemd öffnete, fand ich keine Wunden. Was für ein seltsamer Mord war das? »Helfen Sie mir, ihn umzudrehen, Koch.« Ich zwang mich, die Hände erneut auf den steifen, kalten Leichnam zu legen, und gemeinsam gelang es uns, ihn auf die linke Seite zu drehen. Dabei knisterte seine Kleidung, und die Haut fühlte sich hart an wie feuchter Stein. Ich kam mir vor wie früher jene Ärzte, die die verbotene Kunst der anatomischen Sektion praktiziert hatten. Der Ort eignete sich dafür hervorragend: ein geheimer Raum in den stinkenden Eingeweiden der Erde. Draußen war es Nacht, genau wie hier drinnen, mit dem einzigen Unterschied, dass sie mir in dem Gewölbe noch schwärzer erschien. Hätten wir das, was wir taten, auch im hellen Licht der Sonne tun können? Ich hätte es als schändlich empfunden. »Haben Sie ein Messer, Herr Koch?« »Was wollen Sie damit?«, fragte Vigilantius. Schweigend nahm ich Kochs Taschenmesser entgegen und schnitt die Jacke des Toten vom Kragen bis zum unteren Saum auf. Nachdem ich den steifen Stoff weggerissen hatte, wiederholte ich das Ganze bei seinem Leinenhemd. Verblüfft betrachteten wir, was sich darunter verbarg. »Gütiger Himmel!«, flüsterte Koch. Der obere Rückenbereich des Mannes war voll alter Narben und neuer Schnitte. Vorsichtig entfernte ich mit den Fingerspitzen die Blutkrusten, um einen Blick auf das gefrorene Fleisch darunter werfen zu können. »Von einer Peitsche«, murmelte Koch. »Daran besteht kaum ein Zweifel«, pflichtete ich ihm
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bei, während ich die Haut betrachtete, die sich mir wie eine geheimnisvolle alte Schriftrolle präsentierte. »Könnte das die Todesursache gewesen sein?«, fragte Koch. »Sie haben doch gehört, was er gesagt hat«, meldete sich Vigilantius zu Wort. »Es war die Rede von Flammen, von einem Feuer in seinem Gehirn. Dort müssen Sie ansetzen!« »Das entscheide ich ganz allein!«, herrschte ich ihn an. »Diese Wunden sind nicht die Todesursache, Herr Stiffeniis«, beharrte der Nekromant. »Ihr unerschütterlicher Unglaube ist die vergiftete Frucht des Dogmatismus. Die Logik ist nur eines von vielen Systemen der Erkenntnis. Begreifen Sie denn nicht? Es gibt zahllose Wege zur Wahrheit.« »Dieser Mann ist ausgepeitscht worden«, erwiderte ich. »Ich weiß, dass ihn das nicht umgebracht hat, aber es könnte erklären, warum er ermordet wurde. Das ist der Ausgangspunkt meiner Ermittlungen.« Augustus Vigilantius bedachte mich mit einem breiten Grinsen. Durch Fakten ließ er sich offenbar nicht aus der Ruhe bringen. »Tifferch selbst hat uns soeben eine andere Geschichte erzählt. Es wäre unklug, seinen Worten keine Beachtung zu schenken.« »Falls es seine Worte waren«, entgegnete ich. »Meine Informationen entstammen nicht der Untersuchung seines Körpers«, erklärte er steif. »Mir geht es um die in der zerbrechlichen menschlichen Hülle gefangenen vitalen Energien. Ich bin lediglich ihr Sprachrohr.«
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»Hokuspokus!«, höhnte ich. »Es wundert mich, dass Sie kein Kaninchen aus dem Hut des Toten gezaubert haben!« »Wenn der Mond im Zenith steht«, fauchte der Nekromant, »erlangt der Strom des menschlichen Geistes seine höchste Intensität. Zu diesem Zeitpunkt kann ein in die Kunst der Divination Eingeweihter ihn erreichen. Aus diesem Grund wurde der Körper von Tifferch konserviert. Aber der entscheidende Augenblick ist nun vorüber, er wird nie wiederkehren. Sie berauschen sich am äußeren Schein, Herr Stiffeniis.« »Helfen Sie mir, ihn zurückzudrehen, Sergeant Koch«, wies ich meinen Assistenten an, ohne weiter auf Vigilantius zu achten. »Sie sollten mir dankbar sein, Herr Prokurator«, sagte Vigilantius. »Verachten Sie die Hilfe nicht, die ich Ihnen bieten kann.« In der darauf folgenden Stille hörte ich wieder dieses abscheuliche Geräusch, das mir schon zuvor eine Gänsehaut beschert hatte. Als ich mich umwandte, begegnete ich dem spöttischen Blick des Nekromanten. Seine Nasenflügel blähten sich, gierig sog er die Luft ein. Sein Kopf näherte sich dem meinen, um an mir zu schnüffeln. »Sind Sie ein Hund?«, fragte ich, einen Schritt zurücktretend. »Dieser Trick mag bei den Toten funktionieren, ich aber lebe.« Er entfernte sich ein wenig von mir, ohne dass das spöttische Grinsen aus seinem Gesicht wich. »Nur an der Oberfläche, Herr Stiffeniis. Darunter rieche ich den Tod, den Sie überall mit sich herumtragen.« Er tippte gegen seine Nase. »Er stinkt. Es gibt da einen
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dunklen Ort, an dem eine Leiche verrottet, Ihren Geist und Ihr Leben vergiftet. Oder täusche ich mich, Herr Prokurator? Wie sehen Ihre Albträume aus? Welche Geheimnisse bergen diese trüben Gewässer? Sie haben Angst vor dem, was jeden Moment hochgespült werden könnte.« Seine Worte hallten unheimlich von den Wänden des Gewölbes wider. »Danke für Ihre unschätzbare Meinung«, murmelte ich. »Hier gibt es nichts mehr für uns zu tun, Koch.« Vigilantius hob erstaunt die Augenbrauen. »Ich möchte Ihnen noch etwas zeigen. Mit Hilfe dieser Leiche lassen sich weitere interessante Schlüsse ziehen.« »Ich habe genug von Leichen und ihren Hütern«, fauchte ich. »Aber«, hob er an, diesmal mit zuckersüßer Stimme. »Es gäbe da noch einen anderen Aspekt meiner Kunst, den Sie sich nutzbar machen könnten.« »Ihre Kunst interessiert mich nicht«, erwiderte ich. »Wie Sie meinen, Herr Prokurator«, sagte er mit einer übertrieben höflichen Verbeugung. »Ich kann Sie nicht gegen Ihren Willen zum Bleiben zwingen.« Ich verließ den Raum, Sergeant Koch im Schlepptau, und stieg die Treppe hinauf, ohne ein Wort mit diesem zu wechseln. Nur der Klang unserer Schritte schallte in den schmalen Fluren und im Hof. »Was für eine Unverschämtheit, so mit Ihnen zu reden!«, ereiferte sich Koch, als wir den Hof betraten. »Was, glauben Sie, hat er vor?« »Das weiß der Himmel allein«, antwortete ich. Eine steife Brise hatte die Wolken weggetrieben, und ich hob
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den Blick zu den Sternen, die am dunklen Himmel funkelten wie Zuckerbrösel auf einem Tisch. Nachdem ich tief durchgeatmet hatte, fragte ich: »War Ihnen klar, dass noch jemand anderer als Prokurator Rhunken mit diesen Ermittlungen zu tun hat, Koch?« Der Sergeant antwortete nicht sofort. »Nein«, sagte er schließlich. »Aber wundert es Sie, dass sich die Stadtväter an jeden wenden, der ihnen ihrer Meinung nach in dieser schwierigen Lage helfen kann?« Eines musste man Koch lassen: Er besaß gesunden Menschenverstand. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Die Kutsche wartet«, erinnerte er mich. »Lassen Sie sie warten«, erwiderte ich. »Bringen Sie mich zum Büro von Herrn Rhunken. Wir haben heute schon genug Zeit vergeudet. Jetzt müssen wir ernsthaft mit den Ermittlungen beginnen. An den Knochen von Toten herumzuschnüffeln, bringt uns nicht weiter.«
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VI
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atten mich die Kellergewölbe des Schlosses zu Königsberg unangenehm an die Niederungen des Hades erinnert, so erschienen mir die oberen Stockwerke so verwirrend wie das Labyrinth des Minotaurus. Zahllose düstere, einander ähnelnde Flure gingen links und rechts vom Hauptkorridor ab. »Das Gebäude wurde im zwölften Jahrhundert von den Teutonen als Stützpunkt zur Eroberung Preußens von den Heiden errichtet«, erklärte Sergeant Koch mit spürbarem Stolz, während wir die verschlungenen Gänge entlangmarschierten. »Es ist uneinnehmbar. Nicht einmal Bonaparte höchstpersönlich könnte es stürmen.« »Wie viele Männer sind in der Garnison stationiert?«, erkundigte ich mich. »Im Normalfall dreitausend«, antwortete Koch. Von ihnen begegneten wir in jener Nacht keinem Einzigen. »Und wo stecken sie alle?« »General Katowice hat sie zu Manöverübungen hinausbeordert.« Nun waren wir gezwungen, einen Holzsteg über einem Eisengitter zu überschreiten. Raue Stimmen fluchten unter uns, als wir die Behelfsbrücke betraten, während andere um Essen und Wasser bettelten. Schweißund
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Atemdämpfe stiegen von unten auf wie Dünste aus einem Kessel. Es erinnerte mich an einen Sumpf oder an Dantes grausige Schilderung der Hölle. Hatte der italienische Dichter zur Inspiration das Gefängnis seiner Heimatstadt Florenz besucht?, fragte ich mich. »Was ist denn dort unten los, Sergeant?« »Die Gefangenen warten auf ihre Deportation«, informierte mich Koch. Da übertönte eine schöne Frauenstimme mit einem Klagelied den Lärm, und Koch verharrte einen Augenblick, um zu lauschen. Ich kannte die Ballade gut, weil mein Großvater sie oft gesungen hatte. Er habe sie im Siebenjährigen Krieg gelernt, hatte er mir erzählt, und sie war das einzige Lied, das ich jemals aus seinem Munde hörte. In der Stimme der Frau schwang etwas Sehnsuchtsvolles mit, was der Geschichte des Soldaten, von dem die Ballade handelte, eine neue, tragische Dimension verlieh: Der Schnee wird mich atzen, der Schnee wird meinen Durst stillen, der Schnee wird meine Knochen wärmen, wenn ich tot bin. »Mezzosopran«, sagte Koch mit einem Lächeln und einem Kopfschütteln. Kurz darauf erklommen wir eine Wendeltreppe ins obere Geschoss und hielten vor einer schweren Holztür, die sich in keiner Weise von den anderen unterschied, an denen wir bereits vorbeigekommen waren. »Da wären wir«, erklärte Koch. »Das ist Herrn Rhunkens Amtsstube.« Ich war verblüfft. An der Tür befand sich kein Namensschild, kein Hinweis auf Prokurator Rhunkens Position, nichts, was verraten hätte, dass sich dahinter der
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Mann verbarg, dem der Friede und die Sicherheit dieser Stadt anvertraut waren. »So nahe an dem Elend da unten?« »Prokurator Rhunken war verantwortlich für Sektion D. Wenn Sie lieber ein anderes Zimmer möchten …« »Aber nein«, sagte ich sofort. »Wenn dieser Raum gut genug für ihn war, werde ich das Beste daraus machen.« »Man hält die Schwerverbrecher, die nach Sibirien geschickt werden, in diesen Käfigen gefangen. Herr Rhunken war mit der Transportliste beschäftigt. Es gibt noch einige freie Plätze auf dem Schiff. Sobald das Eis zu schmelzen beginnt …« In den vergangen drei, vier Jahren war heftig über diese Deportationen diskutiert worden. König Friedrich Wilhelm III. hatte beschlossen, die Nation ein für alle Mal von unverbesserlichen Schwerverbrechern zu befreien, indem er sie in eine ferne Strafkolonie verbannte. Wenn sie es wagten zurückzukehren, erwartete sie in der Heimat der Tod. Die Anfragen Seiner Majestät bei mehreren Ländern mit unbevölkerten Territorien einschließlich der Vereinigten Staaten und Großbritannien waren abschlägig beschieden worden, doch am Ende hatte der russische Zar sich bereit erklärt, die Kriminellen gegen einen erklecklichen Betrag bei sich aufzunehmen. Diese Entscheidung des Königs war, gerade bei liberalen Geistern, noch immer umstritten. Straftäter hatten weder in Preußen noch irgendwo sonst mit Sympathie zu rechnen, aber der Vorschlag, sie in die russische Sklaverei zu verkaufen, war in aufgeklärten Kreisen auf deutlichen Widerstand gestoßen. In Europa kursierte der Ausdruck
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»Edler Wilder«, und die Franzosen sowie zuvor schon die Amerikaner hatten die Gleichheit sämtlicher Menschen ausgerufen. Trotzdem war das Abkommen am 28. Februar 1801 unterzeichnet worden, und man hatte die Gefängnisdirektoren im ganzen Land angewiesen, die schlimmsten und unverbesserlichsten Verbrecher für die Verbannung auszusuchen. »Herr Rhunken hat diesen Raum selbst gewählt«, erklärte Koch. »Hier führte er auch die Verhöre durch. Die Schreie von unten verfehlten ihre Wirkung auf die Befragten nicht.« »Das kann ich mir gut vorstellen«, sagte ich und bekam unwillkürlich eine Gänsehaut. »Herr Prokurator Rhunken genoss aufgrund seines strikten Vorgehens großes Ansehen«, meinte Koch, holte einen riesigen Schlüssel aus seiner Tasche und schloss die Tür auf. Dann trat er einen Schritt beiseite, um mich einzulassen. Im Innern der Stube wartete ich mit wachsender Ungeduld, während er mit Hilfe eines feuchten Feuersteins versuchte, eine Flamme für eine Kerze zu schlagen. Der Raum besaß eine hohe Decke und schmutzige, graue Wände, die einen neuen Anstrich nötig gehabt hätten. In einer Ecke stand ein großer kalter Eisenofen voller Rostflecken. Schmale Fensterschlitze ließen den Blick frei auf die Gitter im unteren Stockwerk. An den Wänden hingen vier Lampen, die Koch alle anzündete. Doch auch ein Dutzend mehr hätte nicht gereicht, um die Amtsstube wirklich zu erhellen. »Hier gibt es noch zwei kleinere Nebenzimmer, eines davon nutzte der Prokurator als Archiv. In dem anderen
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befindet sich eine Pritsche, auf der Herr Rhunken sich manchmal eine Rast gönnte, wenn er gezwungen war, bis in die Nacht zu arbeiten.« Eigentlich, das wurde mir jetzt klar, hätte ich mich hier einquartieren sollen, nicht in einem behaglichen Gasthaus wie dem »Walfänger«. In dem abweisenden Festungsschloss von Königsberg wäre meine neue Macht als Leiter der Ermittlungen für alle sichtbar gewesen. Ich setzte mich an einen schweren, mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Schreibtisch, der mitten im Zimmer stand. Dieses Möbelstück zeugte von Einfluss und Ansehen. Zur Erfrischung in Stunden harter Arbeit standen eine Weinkaraffe und ein Trinkbecher aus geschliffenem Glas bereit. Doch die Karaffe war leer, der Stöpsel voller Staub, und eine tote Spinne lag unter dem umgedrehten Glas. »Bitte zeigen Sie mir die Akten und Berichte von Prokurator Rhunken über die Morde, Koch. Sie müssten sich hier irgendwo befinden. Die Unterlagen, die Sie mir in der Kutsche gegeben haben, sind unvollständig. Ulrich Totz hat ausgesagt, er sei kurz nach dem Mord an Jan Konnen von Prokurator Rhunken höchstpersönlich vernommen worden. Ich würde gern die Aufzeichnung des Gesprächs lesen.« Koch sah mich unsicher an. »Ich habe keine Ahnung, wo diese Dokumente aufbewahrt werden. Die Papiere, die der Prokurator mir gegeben hat, befinden sich verschlossen in meinem Schreibtisch; der Rest lagert wohl im Archiv. Aber Herr Rhunken würde mit Sicherheit niemandem gestatten, es zu betreten.« »Meine Erlaubnis haben Sie, Sergeant.«
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Ich erhob mich, ging ans Fenster und kehrte Koch den Rücken zu, um jeden Einwand im Keim zu ersticken. Nachdem ich mit dem Ärmel den Staub von der Fensterscheibe gewischt hatte, blickte ich hinunter zu dem Eisengitter und den dahinter weggesperrten Elenden. In der hintersten Ecke hockte ein Wachmann, der erste überhaupt, den ich zu Gesicht bekam. Seine weiße Hose hing ihm um die Knöchel, und er erleichterte sich. Meine behagliche warme Amtsstube in Lotingen kam mir in den Sinn und der kleine Park mit den hübschen Blumenbeeten und gepflegten Rasenflächen, in den die Mütter und Kindermädchen des Ortes ihre Schutzbefohlenen im Frühling und Sommer zum Spielen brachten. Der Soldat, der mittlerweile sein Geschäft verrichtet hatte, zog die Hose hoch und scharrte seine Hinterlassenschaft ordentlich mit der Stiefelspitze zu, bevor er sich davonmachte. Angewidert wandte ich mich um und ging im Zimmer auf und ab, bis Sergeant Koch wenige Minuten später zurückkehrte. »Die habe ich gefunden«, berichtete er, auf ein schmales Päckchen Papiere in seiner Hand deutend. »Sie lagen auf einem Regal.« »Ist das alles?«, fragte ich ungläubig. Koch nickte. »Allerdings wäre hier noch ein Brief, den Sie sich ansehen sollten, Herr Stiffeniis.« »Ein Brief? Von wem?« »Er ist an Prokurator Rhunken adressiert«, antwortete Koch, während er die Akten auf den Tisch legte. »Ich habe ihn natürlich nicht geöffnet.« Ich setzte mich, um mich den Papieren zu widmen.
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Obwohl mir nicht viel vorlag, empfand ich ein tiefes Gefühl der Befriedigung. Endlich, dachte ich, sitze ich auf Herrn Rhunkens Stuhl, und seine Berichte sind in meiner Hand. Sein Assistent ist nun der meine. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in der Stadt fühlte ich mich entspannt und begann die Macht meiner neuen Position zu genießen. Mir wurde klar, dass ich für das Leben der Königsberger verantwortlich war. Ihr Wohl und Wehe lag in meinen und General Katowices Händen. Und in denen von Napoleon Bonaparte und seiner Armee, sollte es ihm einfallen, in Preußen einzumarschieren. Bei dem ersten Dokument handelte es sich um eine lange Liste mit den Namen Verurteilter, die in die fernen Gebiete Sibiriens und der Mandschurei deportiert werden sollten. Sergeant Koch räusperte sich geräuschvoll. »Mir ist aufgefallen«, sagte er, »dass dieser Brief aus Berlin kommt.« Als ich das Schreiben in die Hand nahm, fiel mein Blick auf das Hohenzollern-Siegel, das mein ruhiges Leben schon einmal durcheinandergebracht hatte. Angesichts der dem Lande durch den Emporkömmling Bonaparte und eine französische Invasion drohenden Gefahr dürfen die Morde in Königsberg nicht länger ungestraft bleiben. Zur Aufklärung ist Uns eine höchst qualifizierte Person mit ganz besonderen Fähigkeiten empfohlen worden. Ihre Aufgabe wird es sein, die von Ihnen begonnenen Ermittlungen mit der gebotenen Eile zum Abschluss zu bringen. Aus diesem Grund weisen Wir Sie an, alle relevanten Dokumente dem Magistraten
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zu überlassen, auf dem Unsere Hoffnungen nun ruhen, und sich unverzüglich wieder Ihren eigentlichen Aufgaben zu widmen. Das Dokument war von König Friedrich Wilhelm III. unterzeichnet, und zwar mit einer deutlich anderen Schrift als der Brief, den ich erhalten hatte. Hatte Doktor Vigilantius also recht damit, dass es sich bei meiner Beorderung nach Königsberg um eine Fälschung handelte? Dieser Brief hier war drei Tage zuvor aus der Hauptstadt abgeschickt worden, was bedeutete, dass Rhunken ihn vor zwei Tagen erhalten hatte, kurz bevor ihn der Schlagfluss – offenbar eine Reaktion auf diese Mitteilung – ereilte. Ich dachte an den armen Mann, der mich nur wenige Stunden zuvor empfangen hatte. Wie negativ dieser Brief seine Meinung von mir beeinflusst haben musste! Jetzt machte ich mir keine Illusionen mehr über seine Einstellung mir gegenüber. Der Beamte, der ihn ablösen sollte, war nicht nur jung, sondern auch gänzlich unerfahren. Und er kam aus Lotingen, einem winzigen Dorf im westlichen Gerichtsbezirk. Rhunken hatte einen ernst zu nehmenden Rivalen erwartet, einen älteren Kollegen, einen Angehörigen der Geheimpolizei, einen mit allen Wassern gewaschenen Ermittler aus Berlin. Und dann war ich gekommen! »Die Zeugenaussagen müssten sich hier befinden«, riss Koch mich aus meinen Gedanken. Beim Durchblättern der Papiere stieß ich schon bald auf die Aussage, die der Wirt des »Walfängers« bei der
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Polizei gemacht hatte. Sie war kurz und brachte keine neuen Erkenntnisse. Jan Konnen, so erklärte Ulrich Totz, habe an jenem Abend in seinem Lokal getrunken, allerdings nicht übermäßig, und sich in Gesellschaft ausländischer Seeleute befunden, die möglicherweise um Geld Karten gespielt hätten – in diesem Punkt wollte Totz sich nicht festlegen. Offenbar hatte er schon einmal seine Ausschanklizenz in Gefahr gebracht, weil es im »Walfänger« zu einer Messerstecherei zwischen Spielern gekommen war, bei der ein Beteiligter zwei Finger verloren hatte. Ich übersprang die nächsten Absätze und las weiter: Herr Totz erklärte, dass er nicht sofort eine Verbindung zwischen dem Mann, den er an jenem Abend in seinem Lokal gesehen hatte, und der Leiche, die am folgenden Morgen am Hafen gefunden wurde, herstellen konnte. Bei der ersten polizeilichen Vernehmung bestritt er, das Opfer zu kennen. Kein Wort von den merkwürdigen Vorgängen im »Walfänger«, von denen der vorwitzige, in dem Bericht nicht auftauchende Morik mir erzählt hatte, obwohl er damit riskierte, sich Prügel von seinem Herrn einzuhandeln. War er am Tag der Befragung nicht zugegen gewesen? Oder hatte Totz ihn an einer Aussage gehindert? Warum sonst hätte sich Morik nicht an Prokurator Rhunken wenden sollen, als dieser den Wirt und seine Frau vernahm? Die Frau … Drei Zeilen am Ende des Berichts bestätigten, dass
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Frau Totz Jan Konnen Bier und heiße Würste serviert hatte. Sie sagte aus, den Mann, der an jenem Abend keinen starken Eindruck bei ihr hinterließ, niemals zuvor gesehen zu haben. Ihrer Schätzung nach habe er das Gasthaus gegen zehn verlassen, obwohl sie das nicht beschwören könne. Ein weiteres Blatt Papier enthielt eine Beschreibung des ersten Opfers. Sie war so kurz, dass sie ohne Weiteres auf einem Grabstein Platz gefunden hätte. Jan Konnen, Hufschmied, einundfünfzig Jahre alt, hatte allein gelebt, von Verwandten war nichts bekannt. Der schweigsame Konnen hatte sogar seinen unmittelbaren Nachbarn Rätsel aufgegeben. Eingehende Ermittlungen über sein Privatleben hatten nichts Ungewöhnliches zutage gefördert. Konnen hatte weder Schulden noch Freunde gehabt, nicht in Gesellschaft von Frauen zweifelhaften Rufs verkehrt und keiner politischen Faktion angehört. Er hatte sich nie etwas zuschulden kommen lassen oder mit anderen gestritten. Allem Anschein nach handelte es sich um einen Mann, der niemandem etwas zuleide getan hatte, nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Und diesen Fehler hatte er mit dem Leben bezahlt. Ganz am Ende entdeckte ich einen Vermerk Rhunkens: »Nachforschungen darüber, ob das Opfer politische Kontakte ins Ausland gehabt haben könnte, ergaben nichts.« Beim Anblick der letzten Worte von Prokurator Rhunken verschlug es mir den Atem: »Opfer – Kategorie C – Protokoll 2779 – Juni 1800, I.M.O., Berlin.« Wie jeder junge Beamte, der im ersten Jahr des neuen Jahrhunderts seine berufliche Laufbahn begonnen hatte,
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kurz nach der Revolution in Frankreich und dem Aufstieg Napoleons, hatte ich dieses Protokoll gelesen. Es warnte vor der Infiltrierung durch Agenten und Revolutionäre, deren Ziel es war, die Stabilität der Nation zu erschüttern und republikanische Tendenzen ins Land zu schleusen. Rhunken hatte offensichtlich einen Verdacht in dieser Richtung gehabt und Konnen als mögliche Gefahr eingestuft. In der Hoffnung, mehr über diesen Verdacht zu erfahren, blätterte ich um, doch auf der nächsten Seite ging es bereits um Paula-Anne Brunner, das zweite Mordopfer. Ihr Mann hatte ausgesagt, sein »armes Weib« habe am Tag ihres Todes mehr oder minder das Gleiche getan wie immer, nämlich die Hühner gefüttert, die Eier eingesammelt und sie den Nachbarn und den Läden im Ort verkauft. »Das einzig Ungewöhnliche«, klagte der Mann, »war, dass sie umgebracht wurde!« Frau Brunner, eine gesellige, für ihre Aufrichtigkeit, Moral und guten Werke bekannte Frau, hatte zweimal täglich, sonntags dreimal, Pietistenversammlungen besucht und keine Feinde gehabt. Soweit bekannt, lag sie mit niemandem im Streit. Weil Rhunken offenbar den Gatten des Verbrechens verdächtigt hatte, hielt man diesen zwei Tage lang gefangen und unterzog ihn »strengen Befragungen«. Mit anderen Worten: Man prügelte ihn, bis er um Gnade winselte, und ließ ihn, als er auch dann noch nichts Verfängliches von sich gab, frei. Wie zudem mehrere andere Bauern aussagten, hatte Brunner zur Mordzeit mit zwei Helfern auf dem Feld gearbeitet; an diesem Alibi war nicht zu rütteln. Wieder befand sich am Ende des Berichts eine kurze Zusammenfassung von
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Rhunkens Schlussfolgerungen: »Keine Kontakte zu politischen Gruppierungen oder Radikalen festgestellt. Prot. 2779?« Offenbar stöhnte ich auf, denn Koch fragte besorgt: »Alles in Ordnung, Herr Stiffeniis?« »Hat Prokurator Rhunken je mit einem Magistraten zusammengearbeitet? Ich meine, könnte jemand anders ihm geholfen haben, Beweise zu sammeln oder Zeugenaussagen aufzunehmen?« »Nein, unmöglich«, antwortete Koch. »Der Herr Prokurator hat immer allein gearbeitet, da bin ich sicher. Er vertraute niemandem.« Ich wandte mich dem nächsten Blatt zu, dem Bericht über den dritten Mord. Als ich den Namen des Opfers las, zuckte ich unwillkürlich zusammen. Johann Gottfried Haase? Wie ich mich ob meiner Nachlässigkeit verfluchte! Während meiner Fahrt nach Königsberg hatte ich mich nicht mit dem Bericht über das wichtigste Mordopfer beschäftigt. Johann Gottfried Haase war ein international bekannter Autor und Gelehrter, der als Professor für Orientalistik und Theologie an der Universität von Königsberg mit seiner Behauptung, der Garten Eden sei alles andere als Fiktion, für eine Sensation gesorgt hatte. Adam und Eva seien tatsächlich von der Schlange in Versuchung geführt worden, und zwar mehr oder minder an eben der Stelle, an der wir uns nun befanden, nämlich in Königsberg. Wer hatte es wohl gewagt, einen so eminenten Mann umzubringen? Als ich die Seite auf der Suche nach weiteren Einzelheiten überflog, musste ich laut auflachen. Sergeant Koch musterte mich besorgt.
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»Wie dumm von mir!«, rief ich aus. »Wie bitte?« Das Mordopfer hieß in der Tat Johann Gottfried Haase, aber es handelte sich nicht um die Person, die ich kannte. Der Johann Gottfried Haase, um den es hier ging, war ein mittelloser Schwachsinniger gewesen, der auf den Straßen der Stadt um Brotkrumen und Geld bettelte und den alle Königsberger vom Sehen kannten. Prokurator Rhunken hatte vermerkt, dass hinsichtlich seiner Geburt keine schriftlichen Aufzeichnungen existierten. Niemand konnte sagen, ob er je die Schule besucht, im Armen- oder Waisenhaus oder im Gefängnis gewesen war, obwohl die Polizei in dieser Hinsicht Nachforschungen angestellt hatte. Herr Haase war, mit anderen Worten, ein absoluter Niemand gewesen. »NICHT OFFEN POLITISCH«, hatte Rhunken notiert. Warum, fragte ich mich, brachte man einen so armen Tropf um? Ein bekannter Orientalist und Theologe hätte bestimmt Feinde gehabt, aber ein mittelloser Bettler? Wieder stand die Protokollnummer »2779« am Ende der Seite. Wie war Prokurator Rhunken wohl auf die Idee gekommen, die Morde als politisch motiviert einzustufen? Als einzige Gemeinsamkeit konnte ich nur das vollkommene politische Desinteresse der Opfer feststellen. Hatte er dieses als Tarnung verstanden? Seiner Ansicht nach war Konnen möglicherweise ein Geheimagent gewesen. Glaubte er das auch von den anderen? Und wenn ja, für welche Nation spionierten sie seiner Meinung nach? Verwirrt wandte ich mich der nächsten Seite zu. Dort fand sich die Aussage der Hebamme, die die
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Leiche von Jan Konnen entdeckt hatte. In allen von mir bis dahin gelesenen Unterlagen war nur ihr Beruf erwähnt, niemals ihr Name, was ich ausgesprochen seltsam fand. Und wieder: kein Name. Am frühen Morgen, so die geheimnisvolle Hebamme, habe sie auf dem Weg zur Frau eines Fischers einen Mann entdeckt, der an einer Mauer zusammengesunken zu sein schien. Dieser Bericht enthielt eine einzige Information, die ich noch nicht kannte: »Ich wusste sofort, dass das das Werk des Teufels war«, erklärte sie, »denn er hatte seine Klauen gebraucht.« Ich hielt inne. Sergeant Koch hatte die gleiche Formulierung benutzt, als er mir das erste Mal von den Morden erzählte. Was aber meinte diese abergläubische Frau damit, die den Toten mit eigenen Augen gesehen hatte? Warum wählte sie jene Worte? In Königsberg schienen die Leute sehr schnell auf den Teufel zu verfallen; ich hatte bereits mehrere von ihm sprechen hören: Koch, das Dienstmädchen von Herrn Rhunken, Doktor Vigilantius, die Soldaten in der Festung. Spiegelte dies das Sektierertum, für das die Stadt in ganz Preußen bekannt war? Die Pietisten besaßen großen Einfluss in Königsberg; an der Universität wimmelte es nur so von Mitgliedern der Sekte. Ihre Auslegung der Bibel ließ sie glauben, dass die Erlösung nur durch einen persönlichen Kampf mit dem Teufel und seinen Versuchungen erfolgen könne. Dafür hatten sie sich sogar eine Bezeichnung ausgedacht: »Bußkampf«. Ihn müsse jeder wahre Gläubige bestehen, wenn er sich Hoffnungen aufs Himmelreich mache. Ich las kopfschüttelnd weiter. Lublinsky und Kopka, die beiden Beamten, die die Aussage der Hebamme un-
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terzeichnet und wiederum den Bericht verfasst hatten, waren offenbar nicht darauf erpicht gewesen, ihren Namen zu erfahren. Doch auch meinen Vorgänger Prokurator Rhunken schien dieses Detail nicht interessiert zu haben … »Ihr Herr hat nicht viele Notizen gemacht, Koch«, sagte ich, als ich das Blatt Papier weglegte. »Das ist wahr. Er hatte immer alles im Kopf.« Ohne etwas zu erwidern, wandte ich mich wieder den Unterlagen zu, unter denen ich einen kurzen Vermerk zum letzten Mordopfer, dem Notar Jeronimus Tifferch, entdeckte, dessen Leib ich keine Stunde zuvor in den Kellergewölben untersucht hatte. Die Dokumentation seines Falles unterschied sich deutlich von denen der anderen. Hinsichtlich seiner Person konnte ich keinerlei Informationen finden. Keiner war befragt worden, auch die Leiche hatte man nicht eingehend in Augenschein genommen. Soweit ich das beurteilen konnte, war nicht einmal ein Arzt gerufen worden, um formell den Tod festzustellen. Folglich gab es auch keine Sterbeurkunde mit einer offiziellen Todesursache. Ähnlich wie in den Aufzeichnungen, die ich bereits kannte, wurde nicht erwähnt, um welche Mordwaffe es sich gehandelt haben könnte, und auch nicht, wie die Wunde beschaffen gewesen war. Das übliche Prozedere schien im Fall Tifferch einfach ignoriert worden zu sein. Da klopfte es, und ich hörte Koch an der Tür mit jemandem flüstern. Außerdem fehlte mir nach wie vor eine wesentliche Information: der Name der »eminenten Persönlichkeit«, die Vigilantius und mich eingeschaltet hatte. In Rhun-
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kens Notizen konnte ich keinen Hinweis darauf finden. War ihm nicht klar gewesen, dass da jemand seine eigenen Ermittlungen anstellte? »Herr Stiffeniis?«, riss Koch mich aus meinen Gedanken. Als ich den Blick hob, sah ich ihn stocksteif vor meinem Schreibtisch stehen, sein Taschentuch vor den Mund gepresst, die Augen rot und geschwollen. »Was ist, Koch?« »Herr Prokurator Rhunken … Ein Wachmann hat gerade die schlechte Nachricht überbracht. Mein Herr ist gestorben.« Ich habe selten so aufrichtige Trauer gesehen. Verlegen senkte ich den Blick. »Wann findet die Beisetzung statt?«, fragte ich. »Er ist bereits bestattet worden.« Koch wischte sich die Tränen aus den Augen. »Vor einer Stunde.« »Aber das ist unmöglich!«, rief ich. »Herr Rhunken war ein bedeutender Mann. Die Bewohner der Stadt werden ihm die letzte Ehre erweisen wollen …« »Es war sein Wunsch, dass niemand zu seiner Beerdigung kommt.« Ein unbehagliches Gefühl beschlich mich. Noch eine halbe Stunde zuvor hatte ich so etwas wie Stolz darüber empfunden, am Schreibtisch von Herrn Rhunken zu sitzen, seinen Assistenten in Habtachtstellung vor mir, sein Archiv zu meiner Verfügung, und nun war er plötzlich tot. Aus irgendeinem Grund glaubte ich, schuld daran zu sein.
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VII
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s war nach zehn, als Sergeant Koch mich an jenem Abend beim »Walfänger« ablieferte, wo reges Treiben herrschte. Ich setzte mich an einen Tisch in der hintersten Ecke, am weitesten vom Kamin entfernt, um einen kurzen Brief an meine Frau zu verfassen, bevor ich mir etwas zu essen bestellte. Doch es fiel mir schwer, etwas zu Papier zu bringen. Was sollte ich Helena von den Vorgängen in Königsberg erzählen? Konnte ich überhaupt etwas Beruhigendes berichten? Zögernd nahm ich die Feder in die Hand, tauchte sie ins Tintenfass und schrieb: Glaube mir, meine Liebe, wenn ich Dir sage, dass ich nicht hier bin, um die Zuneigung meines Vaters wiederzugewinnen. Was geschehen ist, wird er nie vergessen, egal, was ich unternehme. Ich habe zu lange mit dieser Last gelebt und Dich gezwungen, mit mir das Lotinger Exil zu ertragen. Es wird Zeit, eine Grundlage für ein besseres Leben zu schaffen – für uns selbst und für unsere Kinder. Lotingen ist ein sicherer Hafen für uns gewesen, doch nun hat sich der Sturm verzogen. Ich habe keine Lust, mich weiter zu verbergen. Diese Ermittlungen öffnen mir Türen …
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Wie sollte ich fortfahren? Ich wollte meiner Frau nicht von den Schwierigkeiten und Schrecken berichten, denen ich begegnet war. Wie sollte sie mir auch helfen? Ich tauchte den Entenkiel noch einmal ins Tintenfass und versuchte, mich auf Erfreulicheres zu konzentrieren. Herr Koch und ich sind heute Nachmittag sicher in Königsberg angekommen. Ich schreibe Dir aus meiner Unterkunft in der Nähe des Hafens. Hier weht eine steife Brise, das kann ich Dir sagen! Aber mein Zimmer ist warm, sauber und gemütlich. Fast erscheint es mir wie ein zweites Zuhause … In diesem Moment riss mich eine Frauenstimme aus meinen Gedanken. Eine Mittvierzigerin mit Mondgesicht und großen grünen Augen stand, ein leeres Tablett in der Hand, vor mir. »Ich bin Gerta Totz, mein Herr«, erklärte sie mir mit einem verschlagenen Lächeln, »die Frau des Wirts. Soll ich Ihnen das Abendessen servieren? Wonach steht Ihnen der Sinn?« »Mir ist alles recht«, antwortete ich und faltete rasch den Brief an meine Frau. Seit meiner Ankunft in Königsberg sechs Stunden zuvor hatte ich nichts gegessen, und die Düfte, die den Gastraum durchzogen, ließen mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. »Gut, dann bringe ich Ihnen das Beste, was wir haben«, meinte sie und entfernte sich in Richtung Küche. Ich hatte gerade den Brief wieder entfaltet und zückte, in Gedanken versunken, erneut die Feder, als ein Schatten auf das Blatt Papier fiel. Erstaunt über die Schnellig-
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keit von Frau Totz, die ich mit dem Essen nahen wähnte, hob ich den Blick. Doch vor mir stand Morik, die Hände hinter dem Rücken wie ein Soldat, der seinem Offizier Meldung erstattet. »Was kann ich für dich tun?«, fragte ich. »Die Männer am Nachbartisch«, zischelte der Junge, bevor er sich mit großen Augen zu mir herunterbeugte. »Sie treffen sich mitten in der Nacht im Keller, mein Herr. Tun Sie so, als würden Sie etwas bestellen, sonst werden sie auf uns aufmerksam.« Ich versuchte, an ihm vorbeizuschauen, doch Morik verstellte mir den Blick. »Moment mal, mein Junge«, begann ich in strengem Tonfall. »Bitte, mein Herr!«, flehte er mich an. »Bestellen Sie mit lauter Stimme, sonst bekomme ich Schwierigkeiten.« Ich lehnte mich verwirrt zurück. Dann sagte ich ziemlich laut, so dass alle Anwesenden es hören konnten: »Bring mir eine frische Feder, Junge, und zwar schnell! Die Spitze von der hier ist stumpf; mit ihr kann ich den Brief nicht zu Ende schreiben.« »Sofort«, rief Morik und verschwand. Nun sah ich mir die drei Männer am Nachbartisch genauer an, die an langen, irdenen Pfeifen pafften und Ale aus Krügen tranken. In diesem Moment kam die Wirtin aus der Küche zu meinem Tisch getrippelt. »Ist alles in Ordnung, Herr Stiffeniis?«, erkundigte sie sich mit einem Lächeln. »Hat unser Morik Sie gestört?« »Ich brauche eine neue Feder. Der Junge bringt mir eine.« »Ach, hätten Sie das doch mir gesagt, mein Herr«,
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meinte sie und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. »Er kann wirklich lästig sein, der Junge! Nichts macht er richtig. Bitte melden Sie sich, wenn er wieder irgendeinen Unsinn ausheckt.« »Aber sicher«, antwortete ich. »Gut, dann gehe ich jetzt zurück in die Küche«, verkündete Frau Totz und nickte stumm den Männern am Nachbartisch zu. Ich schob den Brief zur Seite und konzentrierte mich, durch das Verhalten der Wirtin noch aufmerksamer geworden, ganz auf die drei Fremden. Konnte es sein, dass Morik die Wahrheit sagte? Die drei hatten etwas Gesetztes und Bedächtiges an sich, das sie von den anderen Gästen unterschied. Sie scherzten und lachten nicht, statt dessen unterhielten sie sich übertrieben gedämpft. Einem plötzlichen Impuls folgend, erhob ich mich und ging zum Kamin, als wollte ich mir die Hände wärmen. Als ich am Nachbartisch vorbeikam, schnappte ich einen französischen Satz auf. Hatte die Tatsache, dass diese Männer in der Sprache von Napoleon Bonaparte redeten, Moriks Phantasie beflügelt? »Ihre Schreibfedern, mein Herr!«, rief Morik da von meinem Tisch herüber und hielt die Kiele hoch, so dass alle im Raum sie sehen konnten. Ich kehrte an meinen Platz zurück. »Ich hoffe, ich habe sie zu Ihrer Zufriedenheit gespitzt, mein Herr«, sagte Morik laut und fügte flüsternd hinzu: »Diese Männer sind Franzosen und seit drei Tagen hier.« »Und?«, fragte ich leise, nahm eine der Federn in die Hand und prüfte ihre Spitze auf dem Papier.
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Wieder hob Morik die Stimme. »Und hier wäre ein scharfes Messer zum Nachspitzen.« Er machte auch dann keine Anstalten, meinen Tisch zu verlassen, als die Wirtin mit vier Krügen schäumendem Bier für eine Gruppe fröhlicher Fischer am anderen Ende des Raums vorbeiging. Sobald sie sich entfernt hatte, flüsterte er: »Halten Sie sie auf, bevor sie wieder zuschlagen!« Ich musterte den Jungen verwundert, der sich, ein starres Lächeln auf den Lippen, besorgt umsah. Es war deutlich zu erkennen, dass er Angst hatte. »Wen soll ich aufhalten?«, fragte ich. »Diese Franzosen! Vorletzte Nacht wurde ein Mann ermordet. Sie sind schon einmal hier gewesen, sie werden wieder morden.« »Aber wieso sollten sie jemanden umbringen wollen?«, erkundigte ich mich, die Kielspitze ein zweites Mal prüfend. »Darf ich, mein Herr?«, fragte Morik laut, nahm mir die Feder und ein Blatt Papier aus der Hand und schrieb mit zitternden Fingern etwas auf. »Napoleon will in Preußen einmarschieren«, las ich da. Bevor ich etwas sagen konnte, nahm er das Blatt Papier, zerknüllte es, ging zum Kamin und warf es ins Feuer. Er kehrte nicht mehr an meinen Tisch zurück. Nun erschien die Wirtin wieder, Morik hatte sie anscheinend kommen sehen. »Ihr Essen, mein Herr«, sagte sie und stellte mir einen großen, vollen Teller hin. »Ich hoffe, Sie mussten nicht zu lange warten.« Mit scharfem Blick beobachtete sie Morik, der sich
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vom Kamin weg bewegte und durch eine Tür in der Küche verschwand. »Hat Morik alles recht gemacht?«, erkundigte sie sich. »Er scheint sehr entgegenkommend zu sein.« »Um neue Gäste bemüht er sich immer besonders«, erklärte sie. »Aber er ist einfach zu neugierig. Eines Tages wird er meine arme Schwester noch ins Grab bringen. Er ist alles, was sie hat. Die Arbeit hier im Gasthaus und der Kontakt mit den Seeleuten haben ihm Flausen in den Kopf gesetzt. Er sollte sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Guten Appetit, mein Herr.« War das tatsächlich die Erklärung für das merkwürdige Verhalten des Jungen? Oder gründete es sich vielmehr wirklich auf die Tatsache, dass der erste Ermordete die letzte Nacht seines Lebens im »Walfänger« verbracht hatte? Dann kam mir ein anderer Gedanke: Warum logierte ich in dem Gasthaus? Ahnte die geheimnisvolle Person, die mich nach Königsberg hatte rufen lassen, dass dort Ungesetzliches vor sich ging? Und was sollte ich dagegen unternehmen? Ich beschloss zwei Dinge: Erstens würde ich mich unter vier Augen mit Morik unterhalten. Zweitens wollte ich mit Totz ausführlicher über seine Aussage bei Prokurator Rhunken reden. Doch als Allererstes würde ich meinen leeren Magen füllen. Ich nahm das Besteck in die Hand, um mich über die sämige Gemüsesuppe, das gegrillte Huhn und die winzigen Rüben herzumachen, die während des Winters unter Eis gelagert werden. Danach gönnte ich mir einen Schluck von dem köstlichen Weißwein.
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Während des Essens ließ ich die drei Männer am Nachbartisch nicht aus den Augen. Einer von ihnen interessierte mich besonders, weil er größer, älter und kräftiger war als seine Begleiter. Außerdem schien er aufmerksam auf das zu achten, was in dem Gasthaus vor sich ging. Immer wieder senkte er den Kopf, um den anderen etwas zuzuflüstern. Französische Spione, die ein Komplott gegen Preußen schmiedeten und Unschuldige auf den Straßen ermordeten? Es bedurfte schon sehr viel Phantasie, um Moriks Behauptungen zu glauben. Welchen militärischen Zweck sollte man mit einer solcher Strategie verfolgen? Die Opfer waren Männer und Frauen ohne große Bedeutung für den Staat. Ihr Tod beeinflusste die Stadt und ihre Verteidigung nur insofern, als er zu allgemeiner Panik führte. Aber half eine solche Panik in Königsberg Bonaparte bei einer Invasion Preußens? Zu spät merkte ich, dass die drei zu mir herüberblickten. Plötzlich erhob sich ihr Wortführer und trat an meinen Tisch. »Guten Abend, mein Herr«, begrüßte er mich mit einer höflichen Verbeugung. »Mein Name ist Guntar Stoltzen. Ich hoffe, ich störe Sie nicht?« »Aber nein. Ich bin gerade mit dem Essen fertig, Herr Stoltzen«, erwiderte ich, lehnte mich in meinem Stuhl zurück und blickte ihn offen an. »Was kann ich für Sie tun?« »Meine Freunde und ich sind Juweliere«, begann er mit einem Nicken in Richtung seiner Begleiter. »Der Laufbursche hat uns erzählt, dass in der Stadt mehrere Morde passiert sind und Sie diese aufklären sollen.«
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Morik hatte also auch sie beschwatzt. »Verzeihen Sie«, fuhr er fort, »ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass die Belange anderer mich mehr interessieren als meine eigenen, doch wir machen uns Sorgen um unsere Sicherheit. Wir haben noch einen weiten Weg nach Tallinn vor uns und … nun, Sie verstehen vermutlich. Beraubt zu werden wäre schlimm genug, aber umgebracht …« Ich nahm einen Schluck Wein, um meine Gedanken zu sammeln. Offenbar liebte es der gute Morik, anderen Menschen einen Schrecken einzujagen. Er hatte diese arglosen Reisenden in Sorge gestürzt und meinen Verdacht geweckt. Frau Totz’ Einschätzung seines Wesen stimmte wohl. »Sie kommen aus Frankreich, habe ich recht?«, fragte ich. »Aus Deutschland, nur meine Begleiter sind Franzosen. Wir haben Ostpreußen schon oft bereist, und nie ist uns etwas Unangenehmes widerfahren. Aber diese Neuigkeiten beunruhigen uns. Falls die Morde von Räubern begangen wurden, schweben wir in Gefahr, nicht wahr?« »Woher wissen Sie denn, dass es sich um Räuber handelt?«, fragte ich, in der Erwartung dass nun wieder Moriks Name fallen würde. »Wer sonst würde Unschuldige ermorden?« »Ein Mörder ist immer auf Gewinn aus, wollen Sie das sagen?« Herr Stoltzen nickte lächelnd. »Wären Sie beruhigter, wenn Sie glauben könnten, dass die Morde aus politischen Gründen verübt wurden?«
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»Aus politischen Gründen?« Er runzelte überrascht die Stirn. »Ist das denn so?« Ich schüttelte den Kopf. »Sie haben sich eine Meinung gebildet, ich biete Ihnen eine Alternative.« »Ein politisches Komplott?«, überlegte er laut. »Aber zu welchem Zweck?« Ich steckte achselzuckend ein Stück Brot in den Mund und kaute es genüsslich, bevor ich antwortete: »Gehen wir einmal davon aus, dass jemand aus Gründen, die wir noch nicht kennen, Angst und Schrecken in Königsberg verbreiten möchte. Dazu wären doch augenscheinlich willkürliche Morde bestens geeignet, oder etwa nicht?« »Wenn Ihre Ermittlungen in diese Richtung zielen, wünsche ich Ihnen alles erdenklich Gute und belästige Sie nicht länger«, sagte er freundlich, als wollte er zu seinem Tisch zurückkehren. »Ein politisches Komplott bereitet Ihnen also kein Kopfzerbrechen?«, fragte ich schnell, nicht willens, das Gespräch schon zu beenden. Er musterte mich eingehend. »Doch, natürlich, aber dann könnten Händler wie ich und meine Freunde weiterhin unbehelligt ihren Geschäften nachgehen. Was den Handel anbelangt, ist eine Regierung so wie die andere.« »Es freut mich, Sie beruhigt zu haben«, sagte ich mit einem Lächeln. Herr Stoltzen neigte das Haupt und erwiderte mein Lächeln. »Meine Freunde und ich werden auf Sie anstoßen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen?« Dann schlug er leicht die Hacken zusammen und kehrte zu seinen Begleitern zurück, um sich leise mit ih-
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nen zu beraten. Kurz darauf erhoben sie ihre Krüge und prosteten mir freundlich zu. Ich erwiderte ihren Gruß. Gerade habe ich den ersten Verdächtigen befragt, sagte ich mir im Stillen. Nachdem ich mein Glas geleert und mich mit einem Nicken von den drei Männern am Nachbartisch verabschiedet hatte, erhob ich mich und ging hinauf in mein Zimmer. Für die Nacht waren Scheite nachgelegt worden, und ein Krug mit Wasser stand zum Wärmen vor dem Kamin. Trotz bleierner Müdigkeit setzte ich mich an den Schreibtisch, um den Brief an meine Frau fertigzustellen. Beim nochmaligen Lesen des Geschriebenen fällt mir auf, dass ich bisher nichts über die Ermittlungen berichtet habe. Vielleicht gibt es eine Spur, und ich muss nicht mehr lange hier in Königsberg bleiben. Mit dieser guten Nachricht und lieben Grüßen verabschiede ich mich von Dir, meiner lieben Frau. Dann fügte ich noch ein paar zärtliche Worte an die Kinder hinzu, versiegelte den Umschlag und legte ihn beiseite. Ich ließ die Kerze auf dem Tisch am Fenster stehen, schlüpfte in mein Nachtgewand und warf einen Blick durch die Scheibe, um festzustellen, ob es noch immer schneite. Der Himmel war voller Wolken und der Mond kaum zu sehen. Als ich mich gerade abwenden und zu Bett gehen wollte, nahm ich eine Bewegung hinter einem Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes wahr. Eine dunkle Gestalt stand im Profil zu mir,
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eine Hand um eine Kerze gewölbt. In dem flackernden Licht wirkte das Gesicht grotesk – die Augen zwei schwarze, klaffende Löcher, Stirn und Nase durch die Schatten monströs verzerrt. Als die Person den Kerzenhalter abstellte, erkannte ich sie: Morik. Was trieb der Junge da? Er hob den Blick und winkte, offenbar, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Mir fielen die drei Händler ein. Wagte er es, sie auszuspionieren? Dieser Laufbursche war wirklich ein Quälgeist. Ich nahm mir vor, ihn am nächsten Morgen zu rügen. Früher oder später würde der Junge in ernsthafte Schwierigkeiten geraten, wenn er so weiter machte. Ich zog die Vorhänge zu, entschlossen, mich nicht von Morik und seinen Spielchen beeindrucken zu lassen. Es war ein langer, harter Tag gewesen, und ich fühlte mich hundemüde. Nachdem ich Gesicht und Hände gewaschen hatte, legte ich mich ins Bett. Die frische, nach Seife duftende Bettwäsche erzeugte ein wohliges Gefühl in mir. Schon bald, das wusste ich, würde ich tief und fest schlafen. Doch da zuckte ich plötzlich zusammen. Hatte ich das geträumt, oder war hinter Morik tatsächlich ein Schatten gewesen, den mein Bewusstsein erst jetzt registrierte? Mit einem Ruck setzte ich mich auf, sprang aus dem Bett und hastete hinüber zum Fenster, um über den Hof zu spähen. Auf der anderen Seite war alles dunkel. Keine Kerze. Kein Morik. Keine Spur von einem Mann oder einem Geist.
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ls die erste Ahnung des Morgengrauens den Baldachin meines Himmelbettes liebkoste, war ich schon seit einer Stunde hellwach, denn ein alt bekannter Albtraum, der nicht ganz so schlimm wie sonst ausfiel, hatte mich aus dem Schlaf schrecken lassen: Diesmal hatte der Stein seinen Schädel nicht gespalten, sein starrer Blick war weniger vorwurfsvoll als früher und das Gras nicht blutrot. Zum ersten Mal in den sieben Jahren, die dieser Traum mich nun schon plagte, war ich nicht vor Schreck erstarrt gewesen; ich hatte mich bewegt, versucht, ihn zu erreichen. Diesmal konnte man mir nicht den Vorwurf der Untätigkeit machen. Ich hatte das Fläschchen aus der Tasche genommen, das Glas lag kalt in meiner Hand, der Inhalt schimmerte im Licht der Sonne wie geschmolzenes Bernstein … Ich schob die Erinnerung beiseite und sprang zitternd aus dem Bett. Sogleich schürte ich die Glut im Kamin mit Holzspänen, die Morik am Vorabend bereitgelegt hatte. Als die erste Flamme knisternd hochzüngelte, schwang ich den Kupferkessel über das Feuer. Darin war das Wasser, das ich vor dem Schlafengehen zum Waschen benutzt hatte. Dann schaute ich durchs Fenster hinauf zu einem perlgrauen Himmel. In der Nacht hatte
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es erneut geschneit, aber ich konnte keine bedrohlichen Wolken entdecken. Ein klirrend kalter Tag würde es werden, dachte ich mit Blick auf die langen Eiszapfen an der Regenrinne oben am Dach. Das Fenster auf der anderen Seite des Hofes, hinter dem ich Morik am Vorabend gesehen hatte, war dunkel. Was hatte der Junge dort drüben gemacht? War das Ganze am Ende eine Ausgeburt meiner Phantasie gewesen? Die Bettdecke um die Schultern, setzte ich mich an den Schreibtisch, um eine Liste all der Dinge zu erstellen, die ich an jenem Tag erledigen musste. Ganz oben stand der Name des Anwalts Tifferch, der drei Tage zuvor gestorben war. Heute würde meine Arbeit an dem Fall ernsthaft beginnen. Ich hatte genug Zeit mit dem Nekromanten Vigilantius vergeudet. In diesem Moment hörte ich jemanden auf dem Flur. Morik, dachte ich, erhob mich, marschierte schnellen Schrittes zur Tür und öffnete sie mit einem Ruck, um den kleinen Lauscher auf frischer Tat zu ertappen. Vor mir kniete Frau Totz, den Kopf auf Höhe des Schlüssellochs. Einen Schrei ausstoßend, fiel sie rückwärts auf ihr ausladendes Hinterteil, rappelte sich aber gleich wieder auf, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen, und fixierte mich mit dem verschlagenen Blick, den ich schon kannte. »Guten Morgen, Herr Prokurator«, säuselte sie. »Ich hoffe, ich störe nicht. Mir war, als hätte ich einen Lichtstreifen unter Ihrer Tür gesehen, und ich wusste nicht, ob ich es wagen dürfte zu klopfen. Was hätten Sie gern zum Frühstück?« »Ich habe Ihnen gestern Abend schon gesagt, was ich
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möchte, Frau Totz«, antwortete ich ziemlich unfreundlich. »Brot, Honig, heißen Tee.« »Wir haben frischen Käse und ausgezeichneten Schinken in der Vorratskammer«, meinte sie mit zuckersüßer Stimme. »Möchten Sie davon probieren …?« »Ein andermal«, fiel ich ihr ins Wort. Die Frau des Wirts hatte mir nachspioniert, Morik den anderen Gästen, wieder jemand anders Morik. War das eine Art Volksvergnügen hier im Gasthaus? »Ihre Sorge um mein Wohl rührt mich, Frau Totz. Aber würden Sie mir jetzt bitte Morik heraufschicken?« Auf ihrem Kopf saß eine etwas zu kleine Leinenhaube, unter der störrische rotbraune Locken hervorlugten. Nun rutschte die Haube nach rechts, und ihr verschlagenes Grinsen verflüchtigte sich. »Morik?«, murmelte sie. »Den Jungen habe ich heute noch nicht zu Gesicht bekommen. Ich dachte, er sei hier, um Sie zu wecken, mein Herr.« »Morik, hier? Sein Schlafzimmer befindet sich doch auf der anderen Seite des Hofes, oder etwa nicht?« Sie runzelte die Stirn. »Nein, mein Herr. Morik schläft unten in der Küche, hinter dem Ofen.« Sie seufzte. »Ich sehe lieber nach, was los ist. Wenn Sie erlauben …« »Wessen Zimmer ist das dann da drüben auf der anderen Seite des Hofes?« »Das da?«, fragte sie verwirrt mit einem Blick nach drüben. »Das steht seit der Abreise der beiden Geschäftsleute aus Hannover letzten Donnerstag frei.« »Aber ich habe gestern Abend jemanden dort gesehen. Ich hätte schwören mögen, dass es Morik war.«
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»Da müssen Sie sich getäuscht haben, mein Herr«, erwiderte sie hastig, wieder ihr hinterlistiges Lächeln auf den Lippen. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden. Ich werde unten in der Küche gebraucht.« »Schicken Sie mir doch Morik mit dem Frühstück, sobald Sie ihn gefunden haben, Frau Totz.« »Wie Sie wünschen, Herr Stiffeniis«, antwortete sie mit trotzig verzogenen Lippen. Ich kehrte an den Schreibtisch zurück, um meine Liste zu ergänzen, und wusch und rasierte mich dann sorgfältig, bevor ich in ein sauberes Leinenhemd und meinen besten braunen Anzug schlüpfte. Aus dem Reisekoffer holte ich meine Perücke, die Lotte trotz meines überstürzten Aufbruchs nicht vergessen hatte einzupacken. Ich trug sie nicht besonders gern, weil ich darunter immer schwitzte und meine Kopfhaut juckte, aber hier trat ich nicht als Privatperson auf: Die Königsberger erwarteten ein gewisses Erscheinungsbild von dem Mann, dem die Rettung der Stadt anvertraut war. Und die silbernen Locken, so hoffte ich, würden mir Autorität verleihen. Da klopfte es an der Tür, und herein kam Frau Totz mit dem Frühstückstablett in der Hand. »Ich kann ihn nirgends finden, mein Herr«, erklärte sie, ohne auch nur den Versuch einer freundlichen Miene. Ihr Blick huschte im Zimmer umher, als vermutete sie den Jungen irgendwo hier. »Glauben Sie, er versteckt sich unter meinem Bett?«, fragte ich. »Aber nein, mein Herr. Was für ein Gedanke! Er sollte schon längst unten in der Küche helfen«, murmelte sie.
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»Wahrscheinlich erledigt er gerade einen Botengang«, entgegnete ich, um das Thema zu beenden. »Könnte ich jetzt bitte mein Frühstück haben?« »Aber natürlich! Verzeihen Sie meine Unaufmerksamkeit, mein Herr!«, rief sie errötend aus. Als ich ihr das Tablett abnahm, sah ich die winzigen Schweißtropfen auf ihrer Stirn. »Wovor haben Sie Angst, Frau Totz?«, fragte ich. »Nun, mein Herr, Angst ist nicht das richtige Wort«, stotterte sie. »Morik, dieser Hitzkopf, kommt auf die seltsamsten Ideen.« »Was für Ideen, Frau Totz?« »Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Er denkt sich Dinge aus.« Sie betrachtete ihre fleischigen Hände, die sich unwillkürlich zu bewegen schienen. »Der Junge hat nur Unsinn im Kopf«, fuhr sie fort. »Seit Ihrer Ankunft, meint mein Ulrich, verhält mein Neffe sich noch merkwürdiger. Er wollte unbedingt wissen, wer Sie sind und warum Sie sich hier einquartiert haben. Morik glaubt, dass Sie das Gasthaus observieren; sonst wären Sie bestimmt in der Stadt abgestiegen.« Sie sah sich noch einmal nervös in dem Raum um, bevor sie sich wieder mir zuwandte. Offenbar hatte meine Anwesenheit nicht nur Moriks Neugierde geweckt. »Kein Grund zur Sorge, Frau Totz«, versuchte ich, sie zu beruhigen. »Hier ist es viel gemütlicher als im Schloss. Aber wenn Sie erlauben, würde ich jetzt gern frühstücken, solange der Tee noch warm ist.« »Entschuldigen Sie!«, rief sie erneut. »Ich stehle Ihnen die Zeit! Falls Sie etwas brauchen, klingeln Sie doch einfach. Und die Sache mit Morik wird sich klären. Da ha-
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ben Sie sicherlich recht, mein Herr, er taucht schon wieder auf.« Sie verabschiedete sich mit einer Verbeugung von mir, als wäre ich der König höchstpersönlich. Zehn Minuten später, nachdem ich gefrühstückt und meine Toilette beendet hatte, ging ich hinunter, wo Sergeant Koch mich bereits am Kamin erwartete. »Guten Morgen, Koch«, begrüßte ich ihn voller Tatendrang. »Schön, Sie zu sehen.« Koch erwiderte meinen Gruß mit einem Nicken. »Haben Sie gut geschlafen? Den Brief an Herrn Jachmann habe ich vor einer halben Stunde überbracht«, teilte er mir mit. »Hat er Ihnen eine schriftliche Antwort mitgegeben?« »Nein.« Das überraschte mich. »Und eine mündliche?« »Nichts. Ein Bediensteter hat das Schreiben entgegengenommen und die Tür sofort wieder geschlossen.« »Natürlich, ich … Danke, Sergeant.« Während ich ins Feuer starrte, dachte ich über das Schweigen Jachmanns nach. Ich hatte ihm meine Absicht kundgetan, um zwölf Uhr mittags bei ihm zu erscheinen. Signalisierte sein Verhalten Zustimmung? »Die Kutsche wartet«, informierte mich Koch. »Wollen Sie zum Schloss?« »Ist die Kliesterstraße weit von hier?«, erkundigte ich mich. Koch bedachte mich mit einem neugierigen Blick. »Vielleicht eine Meile, nicht mehr. Sie liegt im Geschäftsviertel der Stadt.« »Heute ist das Wetter besser als gestern, nicht wahr?«
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»Immerhin schneit es nicht, falls Sie das meinen.« »Lassen Sie uns zu Fuß gehen, Koch. Ein kleiner Spaziergang tut uns beiden gut, und so lerne ich die Stadt ein bisschen kennen.« Frau Totz starrte uns von der Küchentür aus nach. »Morik taucht sicher bald wieder auf«, rief ich ihr zu. Ein starres Lächeln spielte um ihre Lippen, das mich an eine etruskische Statue erinnerte. »Bestimmt, Herr Stiffeniis«, pflichtete sie mir nickend bei. Einen Moment lang glaubte ich, sie würde gleich weinen, doch dann wandte sie sich mit einem Achselzucken ab und verschwand in der Küche. Draußen kehrten wir dem vereisten Hafen den Rücken zu und schritten schweigend hügelan die Königstraße hinauf. Die Geschäfte öffneten gerade, obwohl außer uns und einem Jungen mit Schläfenlocken und weißer Kipa noch niemand unterwegs war. Er kniete, einen Eimer neben sich und einen Lappen in der Hand, vor einer Mauer, um eine Kritzelei zu entfernen: einen Davidsstern und den Satz »Es ist die Schuld der Söhne Israels!« Ich wandte den Blick ab. Was, fragte ich mich, würde passieren, wenn ein paar bigotte Hitzköpfe solche Sprüche ernst nahmen, wie drei Jahre zuvor in Bremen? Dort waren siebenundzwanzig Juden zu Tode gekommen und Tausende vertrieben worden. »Seit dem ersten Mord«, begann Koch mir zu erklären, »werden immer wieder Drohungen gegen die Juden laut. Man wirft ihnen offen vor, Unseren Erlöser umgebracht zu haben. Wenn ein Kirchgänger umkäme, könnte das ein Blutbad zur Folge haben …«
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Wir näherten uns einem Geschäft, vor dem hässliche, offensichtlich bereits getragene Kleidungsstücke aus steifem Segeltuch mit Meerwasserflecken hingen. Kochs Jacke war aus schwerem grauem Tuch und praktisch neu, während sich mein eigener schwarzer Mantel aus englischer Wolle – von Helena anlässlich einer Weihnachtseinladung bei Baron Stiwalski genäht, dessen Anwesen sich kaum eine Meile von Lotingen entfernt befand – vielleicht nicht ganz für diese Jahreszeit eignete, aber aus qualitativ hochwertigem Material bestand. Der Ladeninhaber eilte herbei, verneigte sich vor uns und bat uns einzutreten und die wasserdichten Jacken anzuprobieren, die »auch die schwersten Stürme abhalten« würden, wie er stolz verkündete. Sein Eifer ließ darauf schließen, dass wir die ersten Kunden waren, die er seit Langem zu Gesicht bekam. Ich winkte mit einem Lächeln ab. »Für Sie zum halben Preis, meine Herren!«, rief er uns nach. »Die Geschäfte scheinen nicht besonders gut zu gehen«, sagte ich zu Sergeant Koch. »Ja, das ist in der Tat ein Problem, nicht nur hier, sondern fast in der ganzen Stadt«, antwortete er. »Die Läden öffnen früh am Morgen und schließen praktisch alle um drei Uhr nachmittags. Nach Einbruch der Dunkelheit verlässt niemand mehr das Haus. Auf dem Gemüsemarkt bei der Kirche herrscht mittags reges Treiben, ähnlich wie am Fischmarkt in der Sturtenstraße, aber längst nicht so rege wie früher. Schauen Sie!«, rief Koch und deutete nach vorn, als wir in die breite, mit Kopfstein gepflasterte Baltenstraße einbogen.
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Etwa fünfzig Meter vor uns gingen zwei Herren, und auf der anderen Straßenseite kehrte eine Magd mit Leinenhaube und rot-weiß gestreifter Schürze den Schnee von den Stufen eines eleganten Stadthauses. Ein ähnlich gekleidetes Dienstmädchen hastete, einen mit einem Tuch bedeckten Korb am Arm, ein Stück weiter in einen Hauseingang und knallte die Tür hinter sich zu. Ansonsten war alles menschenleer. Keine Pferde, Karren oder Kutschen störten die Ruhe. »Was ist?«, fragte ich. »Die Baltenstraße war früher die belebteste Straße von Königsberg«, klärte Koch mich auf. »Noch vor einem Jahr konnte man hier keinen Schritt tun, ohne mit jemandem zusammenzustoßen.« »Und wo stecken die Leute jetzt?« »Sie verbarrikadieren sich in ihren Häusern«, antwortete Koch. »Bis der Mörder gefasst ist.« »Tja«, seufzte ich. Dass ich dafür verantwortlich sein würde, das Alltagsleben in Königsberg wiederherzustellen, hatte ich nicht geahnt. »Was gibt es sonst Neues, Koch?« »Sämtliche Männer unter fünfunddreißig mit militärischer Erfahrung sind von General Katowice zum Dienst an der Waffe einberufen worden«, antwortete Koch. »Auch aus diesem Grund ist die Stadt so leer. Der General will alle bekannten Agitatoren, hier lebenden Ausländer und alle anderen Fremden im Auge behalten.« »Gibt es eine Liste mit Namen, Koch?« »Vermutlich.« »Könnten Sie mir eine Abschrift besorgen?« »Ich werde es versuchen. Die Gasthäuser lassen sich
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ziemlich leicht überprüfen« – Koch kam ob des Tempos, das ich vorgab, ins Keuchen und stieß beim Sprechen kleine Atemwolken aus – »aber im Hafengebiet sieht es anders aus. Dort kommen und gehen die Leute. Im ›Walfänger‹ hat man Sie lediglich deshalb gebeten, sich ins Gästebuch einzutragen, weil Ihr Name bereits bekannt war.« »Ich möchte wissen, wer in den vergangenen beiden Wochen in der Stadt Station gemacht hat, Sergeant«, sagte ich. »Der ›Walfänger‹ ist ein guter Ausgangspunkt für die Suche nach dem Mörder. Dort haben sich zwei Franzosen und ein Deutscher einquartiert, offenbar Händler. Über sie würde ich gern mehr erfahren.« »Soll ich sie vernehmen lassen?« »Um Himmels willen, nein!«, rief ich. »Ich teile General Katowices Angst vor dem Mob. Wir müssen verdeckt ans Werk gehen. Falls diese Verbrechen tatsächlich politisch motiviert sind, sollten wir den oder die Schuldigen in Sicherheit wiegen. Aber sobald wir jemanden vernehmen, weiß die ganze Stadt Bescheid. Mir wäre es lieber, wenn Sie sich unter vier Augen mit den Wirten der Gasthäuser unterhalten. Versuchen Sie herauszufinden, ob sie irgendetwas Verdächtiges oder Ungewöhnliches wahrgenommen haben. Der Polizei ist ein solches Vorgehen doch nicht fremd, oder irre ich?« »Sie wollen also in die politische Richtung ermitteln, Herr Stiffeniis? Schon der Gedanke an eine französische Invasion lässt hier alle erzittern. Falls Sie so etwas für möglich halten, sollte umgehend General Katowice informiert werden. Und der König …« Ich blieb stehen. »Was sollen wir ihnen denn sagen,
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Koch? Wir wissen doch nichts. Bonaparte hält sich bedeckt. Natürlich könnte es sein, dass Saboteure daran arbeiten, die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen und die Macht der Regierung zu schwächen, aber eine solche Hypothese bedarf des Beweises. Außerdem gäbe es auch noch andere Alternativen.« Koch schnäuzte sich. »Darf ich fragen, welche?« Tja, welche? »Nun, Sergeant«, begann ich und setzte mich wieder in Bewegung, »eine haben Sie selbst gestern in der Kutsche erwähnt.« »Ach ja?« »Die mit dem Teufel.« »Sie haben mich doch ausgelacht«, erwiderte Koch, unsicher, ob ich mich über ihn lustig machte. »Ich kann es mir nicht leisten, irgendwelche Möglichkeiten auszuschließen, Koch«, erklärte ich. »Egal, wie abwegig sie mir selbst auch erscheinen mögen.« Eine Weile gingen wir schweigend weiter. »Das ist die Kliesterstraße«, sagte Koch schließlich. »Welche Nummer suchen wir?« Wortlos schritt ich die dunkle, schmale, mit unregelmäßigem Kopfstein gepflasterte Gasse entlang. Rechts und links von dem stinkenden Abwassergraben in der Mitte des Pflasters befanden sich Häuser unterschiedlicher Größe und Form, manche mit ausgeblichenen Holzund Flechtwerkfassaden, andere aus altem, verwittertem Sandstein. Die oberen Stockwerke der einander gegenüberliegenden Gebäude, die sich fast über die Gasse hinweg berührten, versperrten den Blick auf den grauen Himmel. Bleiglasfenster, die an gestapelte Weinflaschen erinnerten, erschwerten neugierigen Passanten den Blick
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in die Erdgeschosszimmer. Insgesamt wirkte alles, als hätte es ein wenig Schlagseite, als könnte ein heftiger Windstoß die Häuser zum Einsturz bringen. »Prokurator Rhunken konnte seine Arbeit nicht zu Ende führen, Sergeant«, erklärte ich. »Nun wollen wir sehen, was der Mann, den wir gestern in Gegenwart von Doktor Vigilantius untersucht haben, hinterlassen hat, und ob es uns bei der Suche nach dem Mörder hilft.« Neben der Tür befand sich ein Bronzeschild mit der Aufschrift: JERONIMUS TIFFERCH, NOTAR.
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IX
E
ine kleinwüchsige Frau in einem schlichten schwarzen Kleid und mit schwarzem Spitzenkopftuch öffnete die Tür. »Geschlossen«, verkündete sie mit hoher, singender Stimme. »Herr Tifferch ist nicht mehr.« »Frau Tifferch?«, fragte ich und schob den Fuß in die Tür, die fast schon geschlossen war. Die Frau riss sie wieder auf, wobei ihr Tuch verrutschte. »Ach, Sie wollen meine Herrin sehen? Ihr kondolieren?« Als sie das Tuch zurückschob, kamen ein ausgeprägtes Hugenottenkinn sowie zwei gelbe Hasenzähne in der Mitte ihres schrumpeligen Zahnfleisches zum Vorschein. »Dies ist kein Höflichkeitsbesuch«, klärte ich sie auf. »Ich bin Hanno Stiffeniis, der ermittelnde Magistrat, und würde mich gern mit Ihrer Herrin über ihren verstorbenen Gatten unterhalten.« »Na, dann viel Glück!«, kicherte die Frau. Dass ihr Herr ermordet und ihre Herrin zur Witwe gemacht worden war, schien sie nicht zu bekümmern. Ihr Verhalten wirkte angesichts der Umstände alles andere als pietätvoll. »Warum wollen Sie sie sehen?«, fragte sie.
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»Ich muss Herrn Tifferchs Sachen durchsehen«, antwortete ich. »Meinetwegen«, gab sie mit einem Achselzucken zurück. »Worauf warten Sie noch?« »Ich möchte zuerst Ihre Herrin um Erlaubnis bitten.« Die Dienstmagd trat einen Schritt beiseite, winkte uns herein und deutete mit dem Kopf auf eine verschlossene Tür. »Die Dame ist da drinnen – in ihrer ganzen Pracht. Fragen Sie sie, was Sie wollen.« Die Dame? Gehörte Frau Tifferch dem Junkertum an? Der Name, den sie durch die Heirat mit dem Notar erworben hatte, deutete nicht darauf hin. Bevor ich die Magd fragen konnte, hatte diese bereits die Haustür zugeknallt und war mit klappernden Schritten den Flur nach links verschwunden. »Solches Personal würde ich nicht einstellen«, murmelte ich eingedenk der kuschenden Bediensteten meines Vaters und unserer eigenen treuen Lotte, als ich leise an die Tür zum Wohnzimmer klopfte. »Gehen Sie ruhig rein!«, kreischte die Magd vom anderen Ende des Korridors. »Die reagiert nicht, da können Sie den ganzen Tag warten.« Koch öffnete die Tür, und ich folgte ihm in den düsteren Raum, der eher an eine Leichenhalle als an eine Wohnstube erinnerte. Breite schwarze Schleifen schmückten die Leuchter mit flackernden Kerzen. Schwarze Tücher verhüllten sämtliche Möbelstücke und sogar die Bilder an den Wänden bis auf eine fast einen Meter hohe Christusfigur aus Gips auf einem Tisch in der hintersten Ecke, der als eine Art Schrein fungierte. Rote Votivlampen brannten neben den nackten Füßen
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Jesu mit den Wundmalen, und in seiner höchst unziemlich entblößten Brust umzüngelten blutrot und golden schimmernde Flammen das Herz. Sergeant Koch und ich wechselten einen Blick. Hier befanden wir uns auf römisch-katholischem Hoheitsgebiet. Mitten im Zimmer saß eine Frau auf einem Stuhl mit hoher Lehne. Sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz gewandet, allerdings anders als die Magd in altmodischer, edler Kleidung aus geripptem Barchent mit Rüschen. Eine üppige Gagatkette bedeckte ihre Brust, und dazu passende Armbänder schmückten ihre Handgelenke. Der Tod schien eine wichtige Rolle im Leben dieser Frau zu spielen. »Frau Tifferch?«, sagte ich, während ich auf sie zuging. »Darf ich Ihnen mein tief empfundenes Beileid über Ihren Verlust aussprechen?« Die Frau sah mich an, oder vielmehr hob sie den Kopf, als sie meine Stimme hörte. Doch sie blieb stumm. »Ihr Mann, Frau Tifferch …«, fuhr ich fort, in der Hoffnung eine Antwort zu erhalten, aber vergebens. Sie rührte sich nicht, schien nicht einmal zu atmen. »Ich leite die Ermittlungen in seinem Fall«, erklärte ich, »und möchte Ihnen ein paar Fragen über Ihren Mann stellen. Mich interessiert alles, was ihn zur Zeit seines Todes beschäftigte. Offenbar war er nachts unterwegs …« Als die Frau eine Hand ausstreckte, um nach einem schwarzen Taschentuch auf dem Tischchen neben sich zu greifen und sich damit schniefend die Tränen aus dem Gesicht zu wischen, begannen ihre Armbänder zu klimpern. »Frau Tifferch?«, fragte ich noch einmal.
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Schweigen. »Frau Tifferch?«, wiederholte ich. Koch durchquerte den Raum auf Zehenspitzen und stellte sich hinter den Stuhl der Frau. Ein wenig nach vorn gebeugt, flüsterte er ihr ins Ohr: »Frau Tifferch?« Dann richtete er sich wieder auf, tippte mit dem Zeigefinger zweimal gegen seine Schläfe und schüttelte den Kopf. »Holen Sie die Magd«, wies ich ihn an und wartete schweigend, bis diese wenig später mit klappernden Holzschuhen vor Koch das Zimmer betrat. »Was wollen Sie?«, murmelte sie. Ihre Laune hatte sich in den vergangenen Minuten nicht gebessert. »Fühlt Ihre Herrin sich nicht wohl?«, fragte ich. »So könnte man es auch nennen«, antwortete sie. »Sie ist nicht ganz richtig im Kopf, würde ich eher sagen. Frau Tifferch lebt in ihrer eigenen Welt. Sie spricht kein Wort.« »Was ist los mit ihr?« Sie zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Ich bin nur die Dienstmagd. Ist wohl vor vier oder fünf Jahren passiert. Damals hab ich noch nicht hier gearbeitet. Die Nachbarn erzählen, dass es wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam. Vorher war sie ganz normal.« Kopfschüttelnd deutete sie auf die Hausherrin. »Muss jedenfalls was Schreckliches gewesen sein.« Ich runzelte die Stirn. »Was meinen Sie damit?« Wieder zuckte sie mit den Achseln. »In einen solchen Zustand verfällt man nicht ohne Grund, finden Sie nicht?« Mich überkam die Erinnerung an meine eigene Mut-
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ter, die ich nun anstelle der verschleierten Witwe auf dem Stuhl sitzen sah und fragen hörte: »Wie konntest du das tun, Hanno?« Das war der letzte zusammenhängende Satz, den sie gesprochen hatte, bevor ein Krampf ihren Körper erfasste und sie leblos zu Boden sinken ließ. Ihr Schweigen dauerte mehrere Tage. Die Ärzte, die man rief, konnten ihr nicht helfen. Irgendwann kam dann der Pastor zur letzten Ölung. Und während der ganzen Zeit sagte mein Vater kein Wort zu mir. Aber in seinen Augen las ich die Frage meiner Mutter: »Wie konntest du das tun, Hanno? Warum?« Ich schloss die Augen, um die schmerzliche Erinnerung abzuschütteln. Als ich sie wieder öffnete, fiel mein Blick auf das Hugenottenkinn der Dienstmagd. »Wie heißen Sie?«, fragte ich. »Agneta Süsterich.« »Und wie lange arbeiten Sie schon hier, Agneta?« »Zu lange.« Servilität schien der alten Frau völlig fremd zu sein. Man konnte sie mit Fug und Recht als unhöflich bezeichnen. Hatte Notar Tifferch sie nie zurechtgewiesen? »Könnten Sie bitte etwas genauer sein?«, beharrte ich. »Zwei Jahre«, antwortete sie. »Und verflucht sei der Tag, an dem ich hierherkam! Sobald das durchgestanden ist, verschwinde ich. Das hätte ich schon längst machen sollen …« »Hat Ihre Herrin sonst noch irgendjemanden? Kinder zum Beispiel?«, fragte ich. »Niemanden«, entgegnete sie. »Keine Verwandten. Solange ich hier arbeite, habe ich zumindest keinen zu
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Gesicht bekommen. Niemanden …« Sie schwieg kurz, als erwartete sie, dass ich den Satz für sie zu Ende führte. »Niemanden außer …?« »Pfaffen!«, fauchte sie. »Katholische Priester! Blasphemisches Gesindel! Und jetzt schnüffelt auch noch die Polizei hier rum …« »Sie hängen diesem Glauben also nicht an?« Die Augen der Magd verengten sich, als hätte ich sie des widerwärtigsten Verbrechens unter der Sonne bezichtigt. »Ich bin Pietistin!«, verkündete sie stolz. »In Königsberg sind alle Pietisten. Ich besuche jeden Abend die Bibelstunde, um die verpestete Katholikenluft, die ich in diesem Haus atmen muss, loszuwerden. Damit habe ich nie hinterm Berg gehalten. Herr Tifferch, habe ich gesagt, ich gehe zur Bibelstunde. Aber jetzt gibt es niemanden mehr, der sich um die Frau kümmert. Was soll ich bloß machen?« »Haben Sie die Kerzen angezündet?«, fiel ich ihr ins Wort. »Das musste ich wohl oder übel«, murmelte die Alte. »Sonst gibt sie doch keine Ruhe. Sie liebt Kerzen, wie alle Katholiken. Heidnischer Aberglaube, wenn Sie mich fragen!« »Welche Aufgaben haben Sie?«, erkundigte ich mich. »Ich mach alles.« Sie zählte die Punkte an ihren Fingern ab. »Ich wasch sie, zieh sie an, kämm sie, fütter sie. Und ich hab sie in die schwarzen Sachen gesteckt für den Fall, dass einer von den Blutsaugern hier auftaucht. Aber zum Glück hat sich bis jetzt keiner blicken lassen.« »Ihr Herr wurde vor drei Tagen ermordet«, wandte ich mich wieder dem eigentlichen Thema zu. »Spät am
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Abend. Hat er Ihnen gesagt, wo er hinwollte, als er das Haus verließ?« Die Frau reckte grinsend das ohnehin schon prominente Kinn vor. »Mein Herr redete nicht viel. Ich wusste nie, was in seinem Kopf vorging.« »Er hat seine Notargeschäfte hier getätigt«, sagte ich. »Welche Mandanten kamen am Tag seines Todes?« »Keine Ahnung. Die Tür stand immer offen, von sieben bis fünf, montags bis samstags. Da kamen allerlei Leute.« Ich versuchte es mit einer anderen Strategie. »Gab es irgendwelche Auseinandersetzungen?« »Mein Platz ist in der Küche«, antwortete sie. »Da ist es warm.« »Wissen Sie, ob Ihr Herr Feinde hatte?«, fragte ich. Agneta Süsterich überlegte eine Weile, bevor sie spöttisch erwiderte: »Nur die Herrin. Die bekam jedes Mal einen Schreikrampf, wenn sie ihn sah. Ist das Antwort genug?« Natürlich nicht, hätte ich am liebsten gesagt, denn wer auch immer Tifferch die Wunden zugefügt hatte, seine Frau war es bestimmt nicht gewesen. »Ist am Tag seines Todes irgendetwas Ungewöhnliches passiert?«, wollte ich wissen. Agneta Süsterich seufzte entnervt. »Er hat vormittags gearbeitet wie immer. Dann hat er mit seiner Frau zu Mittag gegessen wie immer. Anschließend saß er bis fünf in seinem Büro. Wie üblich bin ich ins Grüsterstraßehaus …« »Was ist das?« »Der Versammlungsort der Pietisten. Ich hab den
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beiden ein kaltes Abendessen hergerichtet, wie immer. Um halb acht war ich wieder da, um die Herrin ins Bett zu bringen, wie immer. Ihn hab ich überhaupt nicht zu Gesicht bekommen, aber das war nichts Neues. Er ging jeden Abend aus …« »Und wo wollte er hin?«, fiel ich ihr ins Wort. Die Frau verzog angewidert das Gesicht. »Das kann ich nur raten«, sagte sie. »Hab ihn mehr als einmal morgens die Stiege hochkriechen sehen, weil er kaum noch auf seinen zwei Beinen stehen konnte. Katholiken lieben die Sünde. Die Pfaffen erlassen sie ihnen ja gleich wieder für einen Taler oder zwei.« »Haben Sie ihn nachts normalerweise nach Hause kommen hören?«, erkundigte ich mich. »Ich bete, und dann geh ich ins Bett. Es hat keinen Zweck zu warten, bis der Teufel heimkommt. Und in jener Nacht kam er ja überhaupt nicht nach Hause, nicht wahr? Die Nachtwache hat uns vor dem ersten Hahnenschrei geweckt.« »Und wo ist sein Arbeitsraum?« »Vom Flur gehen vier Türen ab«, sagte die Frau. »Eine zu meinem Zimmer, eine zu ihrem und eine zu seinem. Und durch die vierte gelangt man nach oben zu den Schlafräumen.« »Führen Sie mich ins Arbeitszimmer Ihres Herrn«, wies ich sie an. Ich wandte mich kurz der Witwe zu, die genauso reglos war wie die Gipsfigur in der Ecke. Während unseres gesamten Aufenthalts in dem Raum hatte sie kaum ein Lebenszeichen von sich gegeben, und sie tat auch keinen Mucks, als wir gingen.
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Agneta Süsterich deutete auf eine verschlossene Tür auf der anderen Seite des Korridors. »Dort hat er gearbeitet«, sagte sie. »Die Tür ist verschlossen.« »Haben Sie den Schlüssel?« »Den hatte der Herr.« »Aber Sie mussten das Zimmer doch sicher für ihn sauber machen, oder etwa nicht?« »Das hat er selber besorgt. Da durften nur Mandanten hinein. Nun zieren Sie sich nicht: Gehen Sie rein«, meinte sie. »Sie sind doch von der Polizei!« Koch holte ein Klappmesser aus der Tasche. »Soll ich mein Glück versuchen?«, fragte er. Als ich nickte, kniete er nieder und schob die Klinge in das alte Schloss. Die Magd beobachtete ihn verächtlich, als wäre er ein Dieb. Wenig später schwang die Tür mit einem Knacken auf. »Wirklich gut gemacht, Koch!«, lobte ich meinen Assistenten. »Hoffentlich kriegt er sie auch wieder zu«, murmelte die Alte, als könnte Herr Tifferch zurückkehren und sie ob des ruinierten Schlosses rügen. Der Raum, der sich hinter der Tür verbarg, war größer als das Wohnzimmer, und in seiner Mitte befand sich ein Schreibtisch mit zwei Stühlen. Der Notar hatte ohne Assistent gearbeitet. Hinter den Glastüren der Bücherregale lagerten alphabetisch geordnete Schriftrollen, mit Bändern unterschiedlicher Farben verschnürt. »Ich muss die Herrin umkleiden«, verkündete die Magd von der Tür aus, den Blick ins Zimmer gerichtet wie in ein verbotenes Land. Dann verschwand sie ohne
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ein weiteres Wort. Kurz darauf hörten wir sie im Wohnzimmer brüllen und ihre Herrin kreischen. Das Gekeife brach erst nach einer ganzen Weile ab. »Ein besonders ruhiges Leben führte Herr Tifferch offenbar nicht«, bemerkte Koch. »Zünden Sie ein paar Kerzen an, Koch«, sagte ich. »Ich hoffe, hier mehr über ihn herauszufinden.« Die nächsten beiden Stunden brachten wir damit zu, die vergilbten, staubigen Dokumente durchzusehen, von denen manche dreißig Jahre alt waren: Ehe- und Kaufverträge, Verkaufsbestätigungen, Testamente. Die Unterlagen zu dem letzten von Tifferch bearbeiteten Fall lagen ordentlich auf dem Schreibtisch ausgebreitet. Arnolph von Rooysters, ein wohlhabender Bürger der Stadt, hatte sein gesamtes bewegliches Vermögen seinem Diener Ludwig Frontissen hinterlassen, wogegen die Angehörigen Einspruch einlegten. Allerdings besaß Tifferch ein beglaubigtes handschriftliches Testament des Toten, das die Sache zugunsten des Dieners regelte. Ich ging an Tifferchs Schreibtisch die Papiere durch, während Koch am anderen Ende des Raumes die Schriftrollen sichtete. »Herr Stiffeniis«, meldete er sich zu Wort, »dieser Schrank hier ist verschlossen.« Ich warf ihm einen großen Schlüsselbund zu, den ich in einer der Schreibtischschubladen gefunden hatte. »Versuchen Sie’s damit.« Daraufhin hörte ich, wie Koch einen Schlüssel nach dem anderen ins Schloss steckte, während ich mich weiter über den Streit zwischen den von Rooysters und dem Diener informierte. Offenbar hatten sich die Angehöri-
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gen an einen Minister in Berlin gewandt, der sich seinerseits mit Tifferch in Verbindung setzte, um herauszufinden, wie der Fall lag. Tifferch erklärte, das Gesetz sei eindeutig aufseiten des Bediensteten. Minister Aschenbrenner, ein entfernter Verwandter der von Rooysters, pflichtete Tifferch bei, schlug aber einen Kompromiss vor, um die Auseinandersetzung zu beenden. Daraufhin bot Tifferch den Angehörigen die Hälfte des Erbes an, eine Regelung, gegen die der Diener offenbar nichts einzuwenden hatte. Die Daten auf einigen der Dokumente reichten mehrere Jahre zurück. Erst vor Kurzem hatte Tifferch die Angelegenheit zur Zufriedenheit aller zum Abschluss gebracht. Hier befand sich keinerlei Hinweis auf ein mögliches Mordmotiv. »Es hat keinen Zweck«, riss mich Kochs Stimme aus meinen Gedanken. »Von den Schlüsseln passt keiner.« »Tja, dann«, meinte ich, »sollten Sie erneut den Rat der Magd befolgen.« »Ich verstehe nicht.« »Brechen Sie das Schloss auf, Sergeant. Wenn er den Schlüssel versteckt hat, befinden sich in dem Schrank bestimmt Geld und Wertsachen.« Mit einem Nicken machte Koch sich ans Werk. Wenige Minuten später stieß er ein zufriedenes Grunzen aus. Dann folgte Stille. »Und, Koch?«, fragte ich ungeduldig und hob den Blick von dem Dokument, das ich gerade las. »Was haben Sie gefunden?« »Sehen Sie sich das lieber selbst an«, erwiderte er. Ich klopfte kurz den Staub von meinen Händen, bevor ich zu ihm ging. Koch hatte eine Kerze auf einen der
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Stühle gestellt, um besser in den dunklen, tiefen Schrank sehen zu können. Auf dem obersten Brett stand die Porzellanbüste eines grinsenden Napoleon Bonaparte. Als ich sie in die Hand nahm, hätte ich sie vor Schreck fast fallen gelassen, denn der Druck meines Daumens aktivierte eine Feder, die den Hut des Kaisers nach hinten klappen und zwei Teufelshörner aus seinem Kopf schnellen ließ. »Was für ein bemerkenswertes Spielzeug!«, rief ich lachend. »Und was hätten wir sonst noch in dem Schrank?« Auf dem Brett darunter befand sich ein Stapel mit geschmacklosen, zotigen Pamphleten und Flugblättern, die Koch und ich mit wachsendem Interesse begutachteten. Sie unterstellten Bonaparte eine sexuelle Vorliebe für die Tierwelt. Offenbar bevorzugte er Esel, doch eine Karikatur zeigte ihn auch in inniger Vereinigung mit einer Elefantendame. Koch bemerkte, dass die satirischen Kommentare unter den Zeichnungen in Deutsch verfasst und die Obszönitäten offenbar mit einer altmodischen Handpresse aus Holz gedruckt waren. »Wo er die wohl herhatte?«, überlegte ich laut. »Meinen Sie, er könnte einer politischen Gruppierung angehört haben, Herr Stiffeniis?«, fragte Koch. »Ich habe eher den Eindruck, dass es sich hier um eine skurrile Tauschbücherei handelt. Herrn Tifferchs Leben scheint hinter den Kulissen doch nicht ganz uninteressant gewesen zu sein.« Waren diese zotigen Pamphlete die Ursache für seine häuslichen Probleme?, überlegte ich. Hatte seine Frau sie zufällig entdeckt? Die Erkenntnis, dass der augenschein-
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lich achtbare Ehemann in Wahrheit politisch radikal und sexuell pervers war, konnte eine strenggläubige Frau durchaus in eine Salzsäule verwandeln. Wieder musste ich an meine Mutter denken. Mir brach der Schweiß aus, und ich bekam einen Hustenanfall. »Es ist staubig hier drin, nicht wahr?«, meinte Koch besorgt. »Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?« »Nicht nötig«, antwortete ich, denn Kochs Worte hatten das Bild von meiner Mutter schon vertrieben. »Müssen wir alle Pamphlete durchgehen, Herr Prokurator?«, erkundigte sich Koch. Sein Widerwille war deutlich zu spüren. »Ich fürchte ja«, gab ich zurück. »Wir können es uns nicht leisten, irgendetwas ununtersucht zu lassen.« »Verstehe«, meinte Koch und machte sich sofort an die Arbeit, um sie so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Bei der Begutachtung der Flugblätter stießen wir auf ziemlich eindeutige frankophobe Pseudonyme: Cul de Monsieur, Seigneur Duc de Porc, Milord Mont du Merde und so weiter. Langsam arbeiteten wir uns durch den Inhalt des Schranks. Im nächsten Fach befand sich ein großes braunes Samtkästchen mit Schloss. Nachdem Koch noch einmal erfolglos alle Schlüssel von dem Bund durchprobiert hatte, öffnete er es auf meine Anweisung hin mit der bewährten Methode. Unser Blick fiel auf ein Tableau aus Wachs und Holz: Bonaparte und Josephine Beauharnais. Sie saß mit seltsam entrücktem Gesichtsausdruck auf einem Stuhl, er stand vor ihr. Wenn man einen kleinen Hebel am Fuß der Figur betätigte,
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rutschte Napoleons Hose herunter, und sein Glied erhob sich, einem dritten Bein gleich, steil in die Luft, direkt vor den Mund der Dame. Ein anderer Hebel brachte die Kaiserin dazu, es mit den Lippen zu bearbeiten. »Ein ziemlich ungewöhnlicher Sinn für Humor«, murmelte Koch errötend. Konnte Herr Tifferch von Sympathisanten Napoleons in Königsberg ermordet worden sein? Vor Frau und Magd hielt ein Mann solche Spielzeuge natürlich geheim, aber seinen Freunden würde er sie wohl zeigen. Und in gefährlichen Zeiten wurden aus Freunden leicht Feinde. Seit der Revolution in Frankreich waren nicht mehr unbedingt alle Preußen patriotisch. »Wie stark sind die Sympathien für Frankreich in der Stadt, Sergeant?«, erkundigte ich mich. Koch kratzte sich am Kinn, bevor er antwortete. »Preußen ist durch die politischen Ereignisse der vergangenen Monate isoliert. Wir haben nur wenige Verbündete, was Napoleon freut, weil es einen Angriff leichter macht. Es gibt tatsächlich Sympathisanten in Königsberg, wie überall in Europa …« Er sah mich an. »Aber glauben Sie wirklich, dass ein Fanatiker Herrn Tifferch der zotigen Bonaparte-Darstellungen wegen ermordet hat? Was ist mit den Narben an seinem Körper? Wie passen die ins Bild?« »Ich weiß es nicht«, seufzte ich. »Ich sehe keine Verbindung. Rhunkens Bericht erwähnt nichts von Peitschenspuren an den anderen Leichen, aber offenbar hält er die Morde alle für politisch motiviert. Und das hier«, dabei deutete ich auf die Sammlung in dem Schrank, »scheint ihm recht zu geben.«
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In dem Augenblick traf ein Sonnenstrahl auf ein Bündel purpurfarbener Seide ganz hinten im untersten Fach. Ich holte es heraus und entrollte es vorsichtig auf dem Schreibtisch des Notars. Koch und ich betrachteten den Inhalt mit offenem Mund. »Das könnte Tifferchs Zustand an jenem Morgen erklären«, sagte ich. »So etwas habe ich noch nie gesehen«, meinte Koch leise. Ich nahm den dunklen Lederstab in die Hand und schwang ihn, so dass die drei geknoteten Schwänze daran durch die Luft sausten. »Immerhin wissen wir jetzt, woher die Verletzungen an Tifferchs Körper stammen. Alte Narben, neue Wunden …« Koch hatte Mühe, seine Stimme wiederzufinden. »Glauben Sie, er hat sich selbst damit Verletzungen zugefügt?« »Daran besteht kaum ein Zweifel«, antwortete ich. »Ob als Strafe für seine Sünden oder zur sexuellen Erregung, wage ich allerdings nicht zu beurteilen. Vielleicht ja für beides.« »Dass es so etwas in Königsberg gibt!«, rief Koch aus. Sein schockierter Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass er soeben mit einer für ihn völlig fremden Welt konfrontiert worden war. »In Frankreich ja, aber hier in Preußen?« »Legen Sie alles dorthin zurück, wo Sie es gefunden haben«, wies ich ihn an. Mit spitzen Fingern verstaute er die Sachen wieder im Schrank und schloss ziemlich unsanft die Tür. Als wir uns verabschiedeten, stellte Agneta Süsterich
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gerade das Essen für ihre Herrin auf den Tisch. Frau Tifferch saß auf einem Holzstuhl. Sie hatte den Schleier abgelegt und ein weißes Leinentuch über ihr Kleid gebreitet. Ihr rundes Gesicht war weiß aufgedunsen und ausdruckslos, die wässrig blauen Augen starrten gierig auf die Schale vor ihr. »Hoffentlich haben Sie gefunden, was nötig ist, um den Mörder von Herrn Tifferch zu fassen«, sagte die Alte. »Sie kennen den Weg raus. Das Essen ist das Einzige, wofür sie sich noch interessiert. Da mag sie nicht warten.« Draußen auf der Straße überkam mich ein Gefühl der Niedergeschlagenheit. Was für ein Leben würde Frau Tifferch nun führen – eine hilflose Frau in Gesellschaft einer verbitterten Magd in einem leeren Haus? Und wie würde sich fortan das Dasein von Agneta Süsterich gestalten, einer Pietistin, die gezwungen war, in einem verhassten katholischen Schrein zu dienen? Früher oder später würde sie sicher die Geheimnisse Tifferchs entdecken. Würde sie dann weniger gut für ihre Herrin sorgen und Ressentiments gegen ihren verstorbenen Herrn entwickeln? Würde sie Frau Tifferch überhaupt weiter pflegen? Wenn nicht sie, wer dann? Der Mörder von Jeronimus Tifferch hatte großes Leid über dieses Haus gebracht. Wie sah es wohl bei den Familien von Jan Konnen, Paula-Anne Brunner und Johann Gottfried Haase aus? »Herr Stiffeniis?«, riss Koch mich aus meinen Gedanken. »Welche Schlüsse ziehen Sie aus unseren Entdeckungen?« »Wir haben eine Peitsche in einem Schrank gefun-
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den«, antwortete ich. »Aber wir wissen immer noch nicht, warum und wie Herr Tifferch starb. Und es ist uns auch nicht gelungen, eine Verbindung zwischen seinem und den anderen Fällen herzustellen. Wie sollte ich da zu irgendwelchen Schlüssen gelangt sein?« Ich verfiel in resigniertes Schweigen, als wir von der Straße auf einen kleinen, schneebedeckten Platz mit ein paar kahlen Bäumen in der Mitte traten. »Halten Sie einen Krieg mit Frankreich für unausweichlich?«, wollte Koch plötzlich wissen. »Ich hoffe, es kommt nicht dazu«, antwortete ich. »Aber viel können wir nicht dagegen tun. Russland lauert auf der einen, Frankreich auf der anderen Seite. Und immerzu geht es um diesen Bonaparte, wer für und wer gegen ihn ist, und ob König Friedrich Wilhelm von Preußen sich heraushalten kann oder ob die Franzosen ihn unbehelligt lassen werden. In einem solchen aufgeheizten Klima bringen die Morde nur weitere Unruhe.« General Katowice hatte angedeutet, dass ein Kriegseintritt des Landes möglicherweise vom Ausgang meiner Ermittlungen abhing. Bei dem Gedanken wurde mir flau im Magen. Nervös holte ich meine Taschenuhr hervor und warf einen Blick darauf. Es war fast zehn vor zwölf. »Ist die Klopstraße weit von hier entfernt?«, erkundigte ich mich. Jachmann legte Wert auf Pünktlichkeit, ähnlich wie sein ältester und engster Freund. »Sie ist gleich auf der anderen Seite des Platzes.« »Wunderbar!«, rief ich aus. Und bevor Koch etwas erwidern konnte, überquerte ich den verschneiten Platz.
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as Haus in der Klopstraße hob sich von seinen Nachbarn ab wie ein fauler Zahn von gesunden. Die ehemals grüne Farbe blätterte nun grau ab, und abgestorbener Efeu krallte sich, einer knochigen Hand gleich, die dem Gebäude die Luft abdrücken wollte, an der Mauer fest. Ein rostiger Balkon entlang des ersten Stockwerks sah aus, als würde er den nächsten Wintersturm nicht überdauern. Kaputte, halb geschlossene Fensterläden hingen traurig in den Angeln. Herrn Reinhold Jachmanns gute Tage schienen der Vergangenheit anzugehören. »Soll ich Sie begleiten?«, fragte Koch. »Nein, Sergeant«, sagte ich rasch. Bei dem bevorstehenden Gespräch wollte ich keine Zeugen. »Gehen Sie zum Gerichtsgebäude und kümmern Sie sich um die Liste mit den sich in der Stadt aufhaltenden Ausländern, über die wir vorhin gesprochen haben. Schicken Sie die Gendarmen los, um sie zusammenzustellen.« Koch verbeugte sich steif. Täuschte ich mich, oder huschte ein Ausdruck der Enttäuschung über sein Gesicht? Ich sah ihm nach, wie er über den frisch gefallenen Schnee weg eilte, dann wandte ich mich dem Haus zu. Das schmiedeeiserne Tor quietschte laut in den verroste-
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ten Angeln und gab ein langgezogenes Ächzen von sich, als ich es aufdrückte. Abgesehen von den Fußspuren, die Koch hinterlassen hatte, als er am Morgen den Brief überbrachte, war der Schnee vor dem Haus unberührt. Ich betätigte den Eisenklopfer, dessen Klang durch die eisige Luft hallte, als befänden sich Haus und Garten in einem Vakuum. Eine einsame Amsel flatterte aufgeregt zwitschernd davon. Ansonsten herrschte undurchdringliche Stille. Die Büsche unter der dichten Schneedecke hätten gut und gerne vergessene Grabsteine auf einem verlassenen Friedhof sein können. Ich sah mich gerade im Garten um, als sich die Tür hinter mir öffnete. »Sie sind also tatsächlich gekommen, Stiffeniis.« Ich erkannte die tiefe, sonore Stimme von Reinhold Jachmann, nicht aber den Mann, als ich mich umwandte. Auch über ihn war ein kalter Wintersturm hinweggefegt. Sein schütteres Haar schimmerte weiß wie gebleichtes Leinen, und seine Brauen lagen, breiten Schneeverwerfungen gleich, über pechschwarzen Augen, mit denen er mich eindringlich musterte. Sein Ernst beunruhigte mich, denn von unserem ersten und einzigen Treffen sieben Jahre zuvor hatte ich ihn als freundlichen, herzlichen Mann in Erinnerung. Einen Moment glaubte ich gar, er würde mich nicht ins Haus lassen. Wir starrten einander eine ganze Weile schweigend an. »Hier lang«, sagte er schließlich und ging mir durch den Flur voraus in ein karg möbliertes Wohnzimmer im Erdgeschoss, wo er auf eine Sitzgelegenheit neben dem Kamin deutete. Ein einziges Holzscheit glomm darin kraftlos vor sich hin. Während ich mich setzte, trat Jachmann ans Fenster, um auf den Garten hinauszublicken.
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»Was führt Sie hierher?«, fragte er, ohne sich umzudrehen. »Eine höchst dringliche Angelegenheit, Herr Jachmann«, antwortete ich. »Ein Auftrag des Königs.« »Das haben Sie in Ihrem Schreiben erwähnt«, sagte er. »Worum geht es?« »Man hat mich mit den Ermittlungen in den Königsberger Mordfällen betraut.« Als er sich mit einem Ruck umdrehte und mich ansah, war wieder etwas von seiner früheren Energie zu spüren. »Sie, Stiffeniis?« Er wirkte verblüfft. »Ich dachte, dafür sei Prokurator Rhunken verantwortlich.« »Der ist gestorben, Herr Jachmann.« Er schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich habe weder etwas von seinem Ableben noch von einem Begräbnis gehört.« »Es ist erst gestern Abend passiert«, erklärte ich. »Herr Rhunken wurde sofort beigesetzt. Es gab gemäß seinem letzten Willen kein offizielles Begräbnis.« »Du gütiger Himmel! Was ist nur aus Königsberg geworden?«, flüsterte er und sah wieder zum Fenster hinaus. »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen nicht hierher zurückkommen«, brummte er über die Schulter, das Gesicht blass vor Wut, als hätte ich die katastrophalen Zustände aus Lotingen mitgebracht. Dann folgte wieder Schweigen. »Dass man mir die Ermittlungen übertragen hat, kam auch für mich überraschend«, sagte ich nach einer Weile. »Ich hatte ein ungutes Gefühl bei der Annahme des Auftrags, weil …« »Waren Sie schon bei ihm?«, fiel Jachmann mir ins Wort, den Blick immer noch auf den Garten gerichtet.
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»Nein«, antwortete ich. »Das würde ich ohne vorherige Beratung mit Ihnen nie wagen.« Nach kurzem Zögern fügte ich hinzu: »Ihr Brief hat mich sehr erschreckt, Herr Jachmann. Ich wollte mein Wort nicht brechen. Sein Seelenfrieden liegt mir genauso am Herzen wie Ihnen. Ich habe Ihre Warnung nicht vergessen.« Endlich wandte er sich mir zu. »Aber jetzt wollen Sie ihn besuchen, nicht wahr?«, fragte er mit zornig erhobener Stimme. Unruhig rutschte ich auf meinem Sitz hin und her. »Nicht wenn es sich vermeiden lässt«, sagte ich. »Allerdings könnte es durchaus sein, dass wir uns zufällig begegnen. Ich dachte, ich warne Sie lieber, Herr Jachmann. Deshalb bin ich hier.« Wieder schwieg ich einen Moment. »Wie geht es ihm?«, erkundigte ich mich dann. »Den Umständen entsprechend«, antwortete Jachmann unfreundlich. »Sein Diener erstattet mir wöchentlich Bericht.« »Sein Diener?«, fragte ich erstaunt. »Ja, sein Diener«, bestätigte er. »Aber Sie sind sein engster Freund, Herr Jachmann …« »Ich war sein engster Freund«, fiel er mir ins Wort. »Und ich bin immer noch sein Verwalter, habe ihn aber schon seit mindestens zwölf Monaten nicht mehr gesehen. Er lebt sehr zurückgezogen. Alle wesentlichen Informationen überbringt sein Diener.« »Wie kann das sein?« Er winkte ab. »Es gab keinen Streit, falls Sie das meinen. Der Professor hat einfach nur keine Zeit für Freunde. Seine Tür bleibt allen verschlossen. Sein Diener sagt
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Besuchern, er sei beschäftigt und wolle nicht gestört werden. Er schöpft seine Kraft wie eh und je aus der Arbeit.« Nachdem Jachmann eine Weile im Zimmer auf- und abgegangen war, blieb er neben mir stehen und beugte sich zu mir herunter. Dabei gruben sich die Falten noch tiefer in sein ausgezehrtes Gesicht. »Wie kann jemand nur auf die Idee kommen, diese Ermittlungen ausgerechnet Ihnen zu übertragen, Stiffeniis?« »Ich weiß es nicht, Herr Jachmann.« »Eigentlich hatte ich eine verärgerte Antwort auf meinen rüden Brief erwartet«, sagte er unvermittelt. »Mir war klar, dass Sie nach Königsberg kommen würden, falls ich Sie nicht daran hinderte. Hätten Sie mir geschrieben, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern oder zumindest eine Erklärung geben, wäre ich kein bisschen überrascht gewesen. Als Sie mir jedoch mitteilten, Sie würden meinen Wünschen Folge leisten, war ich höchst erstaunt, fast schon beunruhigt.« »Nun, Ihre Meinung ist mir wichtig«, sagte ich, doch er hörte mir nicht zu. »Sie wussten, warum ich Sie nicht Wiedersehen wollte«, fuhr er fort und fügte nach einem tiefen Seufzer hinzu: »So oft habe ich mich gefragt, was damals zwischen Ihnen beiden vorgefallen ist.« Ich rief mir jenen Tag sieben Jahre zuvor ins Gedächtnis, als ich die Ehre gehabt hatte, unter vier Augen mit dem berühmtesten Bürger Königsbergs zu sprechen, mit Jachmanns Freund und Universitätskollegen, mit Immanuel Kant, Professor der Philosophie.
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»Sie haben mich eindringlich gebeten, mit Rücksicht auf Professor Kant einen weiten Bogen um die Stadt zu machen«, sagte ich mit leiser Stimme. »Ich hatte keine Ahnung, warum, aber auch keinen Grund, an Ihrer Integrität zu zweifeln. Sie sind sein engster Vertrauter und wissen um seine Bedürfnisse …« »Und Sie schaden ihm!«, rief er. »Genau das ist der Punkt. Warum sonst sollte ich Ihnen verbieten, Professor Kant zu treffen?« »Das ist ungerecht«, widersprach ich, doch Jachmann redete einfach weiter. »Jedes Mal, wenn Ihr Name fiel, legte er ein merkwürdiges Verhalten an den Tag«, fuhr er fort. »Er wurde ganz aufgeregt, was völlig untypisch ist für ihn. Es begann an dem Tag, an dem er Sie zum Essen einlud – ein an und für sich schon singuläres Ereignis.« »Warum?«, fragte ich. »Er hatte niemals zuvor einen Fremden zu sich nach Hause eingeladen.« Herr Jachmann musterte mich fragend. »Irgendetwas an Ihnen interessiert ihn.« »Aber Sie wissen doch, warum er mich einlud«, erwiderte ich. »Ich war gerade von Paris zurückgekehrt, und Professor Kant wollte etwas über die Ereignisse dort erfahren.« Herr Jachmann nickte grimmig. »Ich erinnere mich an Ihre Schilderung jenes Tages, an dem die Jakobiner ihren Anführer exekutierten …« Ich schloss die Augen, um die Bilder zu verdrängen, die plötzlich vor mir aufstiegen. Würden sie mich denn nie loslassen? Der Anblick menschlichen Blutes. Der Gestank.
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»… Paris, zweiter Januar siebzehnhundertdreiundneunzig«, sagte Jachmann. Unwillkürlich musste ich an die damalige Szene denken: Die Erregtheit der Massen, der Verurteilte, der in schmutzigen Lumpen, aber hoch erhobenen Hauptes zur Guillotine schritt. Die geölte blaue Klinge, die im Licht des frühen Morgens schimmerte. Der metallische Klang, als sie herniedersauste. Und dann das Blut, das aus dem durchtrennten Nacken schoss wie eine Fontäne aus einem der königlichen Brunnen in Versailles. Die Tropfen, die wie Regen auf mein Gesicht, meine Nase, meinen Mund fielen … »An dem Tag haben sie den König hingerichtet.« Den König? Einen Menschen, vor meinen Augen. Ein Hebeldruck hatte einen Schatten auf meine Seele geworfen, und ein verborgener Teil meines Wesens war inmitten des wütenden Mobs aufgegangen und hatte Besitz von mir ergriffen. »Kant hatte auch mit anderen gesprochen, die in Frankreich gewesen waren«, fuhr Jachmann fort, »aber deren Schilderungen hatten ihn nicht erschüttert. Sie hingegen, Herr Stiffeniis, trugen an jenem Tag etwas Böses ins Haus. Was auch immer zwischen Ihnen beiden vorgefallen sein mag: Es hat ihn verändert.« Er starrte mich durchdringend an. »Alles begann mit der Diskussion über die Wirkung elektrischer Ströme auf das menschliche Verhalten.« »Nicht ich brachte dieses Thema auf«, versuchte ich, mich zu verteidigen. »Sondern Sie.« »Aber Sie lenkten das Gespräch in eine gefährliche Richtung, Stiffeniis. Mir gefror damals das Blut in den Adern.«
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Er wandte sich dem Feuer im Kamin zu. »Wie oft habe ich jene Unterhaltung bedauert! Kant beschäftigte sich gerade mit der Wirkung der Elektrizität auf das Nervensystem; seinerzeit interessierte ihn kaum etwas anderes. In der Nacht zuvor hatte es einen heftigen Sturm gegeben.« Das hatte ich nicht vergessen. »Draußen in Ihrem Garten«, murmelte ich, »hielt sich ein Fremder auf, der ungeachtet des Gewitters wie in Trance zum Himmel hinaufstarrte. Sie fragten Kant, ob die elektrischen Entladungen eine Erklärung für sein seltsames Verhalten bieten könnten.« »Und er antwortete, es sei nicht die elektrische Entladung, sondern die ungezügelte Energie der Natur, die den Mann anziehe«, sagte Jachmann. »Die zerstörerische Kraft der Elemente habe ihn in ihren Bann geschlagen. Kant bezog sich auf das incantamento horribilis. Der Mensch, erklärte er, lasse sich auf fatale Weise von der Erhabenheit des Schreckens faszinieren.« Jachmann sank in einen Sessel und stützte die Stirn in die Hand. »Ich war schockiert, traute meinen Ohren nicht. Immanuel Kant, der Vater der Rationalität, pries die Macht des Unbekannten, die dunkle Seite der menschlichen Seele?« »Ich erinnere mich. Und Sie erklärten, diese Macht gehöre Gott allein. Der Mensch sei an moralische Regeln gebunden, die er nie in Frage stellen dürfe …« »Dann meldeten Sie sich zu Wort«, fuhr Jachmann fort, meinem Blick ausweichend, »und plötzlich erschien der freundliche junge Student, der sich unsere Achtung
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durch sein gutes Benehmen und seine vernünftige Argumentation erworben hatte, in völlig neuem Licht.« »Ich sagte nur …« Er brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Ihre Worte haben sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt: ›Es gibt eine menschliche Erfahrung, die vergleichbar ist mit der ungezügelten Kraft der Natur‹, führten Sie aus. ›Kaltblütiger Mord, Mord ohne Motiv.‹« Jachmann musterte mich vorwurfsvoll. »Als der Professor das Gespräch in andere Bahnen lenkte, war ich froh. Aber der Geist, den Sie an jenem Tag heraufbeschworen, gab keine Ruhe mehr. Kant bestand darauf, im dichten Nebel mit Ihnen allein einen Spaziergang um das Schloss zu machen, nachdem er den ganzen Winter abgesehen von seinen Besuchen in der Universität keinen Fuß vor die Tür gesetzt hatte.« »Sie wollen wissen, ob wir weiter über das Thema gesprochen haben, nicht wahr?« »Nicht im Geringsten, Stiffeniis«, erwiderte er. »Lassen Sie sich lieber erzählen, was hinterher passierte: Ich wartete im Haus auf Kant. Lange bevor ich ihn durch den Nebel kommen sah, hörte ich seine Schritte. Ihr Klang bewies, dass etwas nicht in Ordnung war, denn Kant rannte. Er rannte! Ich hastete ihm entgegen, und sein Gesichtsausdruck erschreckte mich. Seine Augen funkelten vor Erregung. Ich fragte ihn, ob er Fieber habe. Doch er meinte, er müsse etwas erledigen, was keinen Aufschub dulde. Mit anderen Worten: Er schickte mich weg! Und am nächsten Tag teilte er mir mit, dass er mit der Abfassung einer neuen philosophischen Abhandlung begonnen habe.«
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Ich runzelte die Stirn. »Von einem neuen Buch ist mir nichts bekannt.« Jachmann schüttelte den Kopf. »Es wurde nie veröffentlicht, deshalb haben Sie nichts davon gehört. Niemand hat je eine Zeile daraus gelesen. Ich neige sogar zu der Annahme, dass das Werk überhaupt nicht existiert. Zu jener Zeit litt er unter starker nervlicher Anspannung, weil ein paar jüngere Philosophen ihn bezichtigten, die tieferen Regungen der Seele außer Acht zu lassen. Emotionen, behaupteten sie, seien mächtiger als Logik, und Kants Ansehen nahm durch diese verbitterte Debatte Schaden. In den letzten Jahren seiner Tätigkeit als Professor waren seine Vorlesungen leer.« »Das habe ich gehört«, entgegnete ich. »Es war sehr traurig. Er geriet praktisch in Vergessenheit, wurde für ›altmodisch‹ befunden, wie man wohl heutzutage sagt. Am Ende bezeichnete einer seiner früheren Schützlinge, ein aufgeweckter junger Mann namens Fichte – von ihm haben Sie sicher gehört – Kant als ›Philosophen des spirituellen Müßiggangs‹, in einem Buch, das sich überall in Europa sehr gut verkaufte.« »Das war bestimmt demütigend für ihn.« »Sie erinnern sich sicher an Kants sprichwörtliche Pünktlichkeit. Nun, die jüngeren Studenten machten sich darüber lustig. Einer nach dem anderen kam mit einer Uhr in der Hand in seine Vorlesungen und fragte: ›Zu spät? Ich? Ihre Uhr muss stehen geblieben sein.‹ Das trieb Kant fast zum Wahnsinn und schließlich in den vorzeitigen Ruhestand.« »Das kann ich mir vorstellen.«
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»Tja«, meinte Jachmann, »aber am meisten aus der Fassung war Martin Lampe.« »Sein Diener?«, fragte ich überrascht. »Ich musste ihn entlassen, nach dreißig Jahren treuen Dienstes! Geistige Disziplin mag interessante Gedanken hervorbringen, aber sie führt keinen Haushalt. Kant bereitet ja schon das Anziehen seiner Socken Probleme! Lampe kümmerte sich um ihn, während er seine Bücher schrieb.« »Warum haben Sie ihn dann weggeschickt?« »Zu Kants eigenem Besten, Stiffeniis!« Erneut musterte Jachmann mich eingehend. »Ich konnte Lampe nicht mehr vertrauen, genauer gesagt: Er machte mir Angst.« »Angst? Wieso das?« »Merkwürdige Ideen hatten sich in Lampes Hirn geschlichen«, antwortete Jachmann. »Er führte sich auf, als wäre er Kant. Einmal erklärte er mir sogar, ohne ihn gäbe es überhaupt keine Kantsche Philosophie! Das neue Buch, an dem der Professor arbeite, stamme eigentlich von ihm. Als die Studenten den Vorlesungen fernblieben, reagierte Lampe viel heftiger als Kant und brüllte, dieser solle der Welt zeigen, wozu er in der Lage sei.« »Da war es wohl tatsächlich das Beste, ihn zu entlassen«, sagte ich. »Aber wer kümmert sich jetzt um den Professor?« Jachmann räusperte sich geräuschvoll. »Ein junger Mann namens Johannes Odum führt den Haushalt. Er scheint sich recht gut zu schlagen.« Nach kurzem Schweigen fragte Jachmann unvermittelt: »Warum um Gottes willen haben Sie Juristerei studiert?« Ich ließ mir Zeit mit der Antwort. »An jenem Tag in
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Königsberg riet Professor Kant mir höchstpersönlich dazu.« »Ach?« Jachmann runzelte verwirrt die Stirn. »Angesichts dessen, was Sie damals von sich gaben, muss ich mich fragen, ob dieser Rat vernünftig war!« »Er gab ihn mir während des Spaziergangs um das Schloss«, sagte ich. Jachmann schüttelte traurig den Kopf. »Dieser Spaziergang! Alles scheint damit seinen Anfang genommen zu haben …« Da klopfte es an der Tür, und ein Bediensteter in schlichtem braunem Gewand streckte den Kopf herein. »Der Mann ist wieder hier«, verkündete er. »Er möchte mit Prokurator Stiffeniis sprechen, sagt er.« Draußen im Flur wartete Koch mit aschfahlem Gesicht. »Tut mir leid, dass ich störe, aber es geht nicht anders.« »Was ist los?« »Der Junge im Gasthaus.« »Morik? Was ist mit ihm?« »Man hat ihn gefunden.« »Das freut mich, Sergeant, aber warum ist das so dringend?« »Tut mir leid«, wiederholte Koch. »Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Der Junge ist tot.«
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lötzlich ertönten wütende Rufe. »Der König! Wo ist der König?« »Niemanden scheint’s zu kümmern, dass Napoleon uns abschlachten wird!« »Nieder mit dem König! Aufs Schafott mit ihm! Vive la Révolution!« Als unsere Kutsche auf die lange Holzbrücke über den Pregel rumpelte, stob eine wütende Menge brüllender Männer und kreischender Frauen auseinander, die sich an den Schauplatz des Verbrechens heranzudrängen versuchten. In dem Durcheinander war es unmöglich auszumachen, wer die aufrührerischen Parolen rief. Ich kam mir in der Kutsche vor wie auf einem Boot, das in einer sehr engen Fahrrinne zwischen zwei Riffs hindurchsteuert. »Sie geben den Behörden die Schuld«, meinte ich, nachdem es uns endlich gelungen war, den Mob hinter uns zu lassen. »Die Ängste werden mit jeder neuen Leiche schlimmer«, bestätigte Koch. »Es ist genau so, wie General Katowice befürchtet: Gerüchte, geheime Versammlungen, innerer Aufruhr.« »Das Ziel ist allgemeine Verunsicherung«, pflichtete ich ihm bei. Plötzlich war ich mir der enormen Bürde
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sehr bewusst, die mir da auferlegt worden war. »Aber was wollten Sie mir gerade erzählen, als wir unterbrochen wurden?« »Von dem Aalfischer, der die Leiche beim Aufstellen der Reusen entdeckt hat. Er wurde zum Gerichtsgebäude gebracht, wo ich ihn befragte, aber nicht viel Neues erfuhr. Wenn Sie ihn selbst vernehmen wollen – ich habe seinen Namen und seine Adresse notiert …« »Mit dem beschäftige ich mich später, Koch. Wie weit ist der ›Walfänger‹ von hier entfernt?« »Eine halbe Meile.« Ich musste an das denken, was mir Morik am Abend zuvor gesagt und an das, was ich später von meinem Fenster aus gesehen hatte. Welche Beweise brauchte ich noch dafür, dass der Junge und die anderen von Saboteuren ermordet worden waren? »Hat man den Wirt und seine Frau in Gewahrsam genommen?« »Ja.« »Nach der Begutachtung der Leiche«, sagte ich, »vernehmen wir die beiden. Dann habe ich vielleicht mehr in der Hand, was ich General Katowice berichten kann.« Auf der anderen Seite des Flusses blieben wir vor einer steilen, glitschigen Steintreppe stehen. Wir stiegen hinab und erreichten das schlammige Ufer, wo uns scharfer Salzgeruch in die Nase stieg. Es herrschte Ebbe, und die dunklen Gewächse waren von der Kraft des zurückströmenden Wassers niedergedrückt worden. Wir hasteten bis zu der Stelle, an der eine Gruppe bewaffneter Soldaten stand. »Ich bin der neue Prokurator. Sorgen Sie dafür, dass
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niemand sonst hierherkommt«, wies ich die Männer scharf an. Jenseits des Flusses schien sich mittlerweile die halbe Stadt versammelt zu haben. Angewidert wandte ich mich von der sensationsgierigen Menge ab. Mein Blick fiel auf eine im Schlamm kniende Gestalt, die, über Moriks Leiche gebeugt, wie ein wildes Tier daran herumschnüffelte. Doktor Vigilantius. »Mein Gott!«, rief ich aus. Vigilantius ließ sich nicht stören. »Das ist unglaublich! Wer hat ihn hierher gerufen?« »Ich, Stiffeniis«, hörte ich jemanden hinter mir sagen. Ich erkannte die Stimme sofort und drehte mich um. Auf Immanuel Kants Kopf saß ein Dreispitz, der sein Gesicht fast völlig verbarg. Er trug keine Perücke. Ein feines Netz silbrig grauer Haare lag über seiner linken Schulter. Eingehüllt in einen glänzenden braunen Umhang aus wasserdichtem Material, klammerte er sich an den Arm eines groß gewachsenen jungen Mannes, der gut und gerne sein Sohn hätte sein können. Kants Anwesenheit verschlug mir die Sprache. Natürlich hatte ich damit gerechnet, dass es früher oder später zu einer Begegnung kommen würde, aber nicht an diesem trüben Ort. Wer hatte ihn über den Fund von Moriks Leiche in Kenntnis gesetzt? Und wusste er von Jachmann, dass ich mich in der Stadt aufhielt? »Mein lieber Hanno, wie schön Sie zu sehen«, begrüßte er mich. Nur mit Mühe widerstand ich dem Impuls, seine Hand an meine Lippen zu drücken. »Sie hätte ich hier nicht erwartet, Herr Professor«, sagte ich, meine Verwirrung und Verlegenheit kaschierend.
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»Das dachte ich mir schon«, erwiderte er mit einem freundlichen Lächeln. »Sie haben Doktor Vigilantius bereits gestern Abend kennengelernt, nicht wahr?« Ohne auf eine Antwort von mir zu warten, trat er, sich weiter auf den Arm des Dieners stützend, ein paar Schritte auf die Leiche zu. »Soweit ich sehen kann, ist seine Untersuchung noch nicht abgeschlossen.« Vigilantius, der nach wie vor neben dem toten Jungen kniete, grunzte wie ein Schwein am Trog, hob kurz den Kopf, um Kant mit einem Nicken zu begrüßen, und wandte sich dann wieder Morik zu. Mich ekelte sein Verhalten an, aber Professor Kant schien sich nicht im Mindesten daran zu stören. »Ich hoffe, der Doktor wird etwas Nützliches herausfinden«, sagte er leise. »Sie fragen sich sicher, was er da treibt, habe ich recht?« »Er ist Anhänger Swedenborgs«, antwortete ich so ruhig wie möglich, »und behauptet, mit den Toten sprechen zu können. Sie selbst haben seinen Lehrmeister als Betrüger und Scharlatan bezeichnet.« »Ach, das!«, winkte Kant lachend ab. »Träume eines Geistersehers ist das einzige meiner Werke, für das ich mich je entschuldigen musste. Missbilligen Sie es, dass ich mich bei meinem Versuch, den Mörder aufzuspüren, an Swedenborgs geistigen Erben gewandt habe?« »Bei Ihrem Versuch? In der Tat, ich bin verwirrt«, gestand ich. »Hat seine Demonstration gestern Abend Sie denn nicht beeindruckt?«, fragte er mit einem listigen Lächeln. Was sollte ich darauf sagen? »Sie meinen die Séance?« Kant runzelte die Stirn. »Séance?«
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»Wie soll ich es sonst nennen, wenn jemand eine Leiche befragt und ihm diese augenscheinlich antwortet? Am Ende wusste ich nicht mehr als das, was ich mit eigenen Augen gesehen hatte.« »So, so. Sie haben also die Geduld verloren und sind nicht bis zum Ende geblieben. Das hätte ich mir denken können«, murmelte Kant. »Vigilantius hier zu sehen überrascht Sie, nicht aber, als Prokurator Rhunkens Nachfolger vorgeschlagen worden zu sein, nicht wahr?« »Offenbar habe ich diese Ehre Ihnen zu verdanken, Professor«, antwortete ich, ein wenig gekränkt über seine unverhohlene Ironie. »Dieser Todesfall ist eigentümlich, Professor«, meldete sich Vigilantius zu Wort, der noch immer über Moriks Leiche kauerte. »Hier war ein anderer Mörder am Werk.« »Ein anderer Mörder?«, wiederholte ich mit Blick auf Kant. »Was redet er da?« Ohne auf meine Bemerkung einzugehen, sagte Kant zu Vigilantius: »Erläutern Sie das näher.« Der Doktor bedachte mich mit einem triumphierenden Grinsen, bevor er antwortete. »Diese Leiche weist nicht die gleichen Merkmale auf wie ihre Vorgänger, Herr Professor. Ihr Geruch ist völlig anders, und die Energie, mit der die Seele den Körper verließ, ebenso. Die anderen Mordopfer waren ahnungslos, wogegen dieser Junge wusste, was ihm bevorstand. Und er hatte schreckliche Angst.« Kant wirkte nachdenklich. »Verstehe«, sagte er schließlich. »Verrät die Leiche Ihnen noch etwas anderes?«
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Ich war sprachlos. Wie konnte er so voller Achtung mit einem bekannten Nekromanten reden? Immerhin hatte Kant Regeln des ethischen Verhaltens und der rationalen Analyse zur Erkenntniserlangung formuliert. »Professor Kant!«, platzte es aus mir heraus. »Was die Leiche von Herrn Tifferch verriet, lag auf der Hand: Sein Rücken war übersät mit alten und neuen Wunden …« »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass er an jenen Wunden nicht gestorben ist«, meinte Vigilantius verächtlich. »Den Beweis hätten Sie gestern Abend gesehen, wenn Sie so höflich gewesen wären, ein wenig länger zu bleiben.« »Nun, Herr Prokurator, wie erklären Sie sich diese Wunden?«, fragte Kant daraufhin mich. »Ich weiß, dass sie nicht die Todesursache waren«, murmelte ich. »Er hat sie sich selbst zugefügt.« »Sich selbst zugefügt?«, fiel Kant mir ins Wort. »Was soll das heißen?« »Ich habe heute Morgen sein Haus durchsucht und dort Hinweise auf die Ursache dieser Wunden entdeckt …« Ich schwieg verlegen. »Und?«, hakte er nach. »In einem von Tifferchs Schränken befand sich sorgfältig versteckt eine Peitsche«, antwortete ich. »Sein Privatleben scheint ziemlich exzentrisch gewesen zu sein.« »Wie interessant!«, rief Kant aus. »Hinter der freundlichen Maske fast aller Menschen verbirgt sich eine hässliche Fratze. Halten Sie das für das Mordmotiv?« »Nein. Es lässt sich ein Bezug zu den anderen Morden herstellen.« Ich holte tief Luft. »Ich habe napoleonfeindliche Erotika in einem Schrank gefunden. Vielleicht
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wurde er von Anhängern Bonapartes ermordet. Das scheint auch Prokurator Rhunken gemutmaßt zu haben. Ich habe seine Aufzeichnungen gelesen …« »Aber wie ist Tifferch gestorben?«, erkundigte sich Kant. »Das würde uns alle interessieren, Stiffeniis.« »Nun, das weiß ich noch nicht«, musste ich zugeben. »Möglicherweise …« Doch Kant hörte mir nicht mehr zu. »Befindet sich am Körper des Jungen irgendeine Spur der Klaue?«, fragte er Vigilantius. Ich war verblüfft. Professor Kant verwendete den Ausdruck der Frau, die die Leiche von Jan Konnen entdeckt hatte. Die Klaue des Teufels. »Nein, keine«, antwortete Vigilantius ernst. »Was reden Sie da?«, rief ich, frustriert über ihren vertrauten Umgang miteinander. Hatte sich Jachmann zurecht besorgt über Kants Geisteszustand geäußert? »Keine Spur wovon?« »Das zeige ich Ihnen später«, erklärte Kant. »Egal, ob übernatürliche Kräfte im Spiel sind oder nicht: Morde bereiten Behörden Probleme. Kommen Sie, Stiffeniis, sehen wir uns die Leiche genauer an.« Er legte seine schmale Hand auf meinen Unterarm und zog mich einen Schritt auf Morik zu. Vigilantius schwang seinen Umhang und trat ab wie ein schlechter Schauspieler. Als ich den Blick auf den Jungen senkte, hatte ich plötzlich ein ganz anderes Bild vor Augen: Blut und Knochen, entsetzt aufgerissene Augen. Nur mit Mühe gelang es mir, die fürchterliche Erinnerung beiseitezuschieben. »Ja, das ist Morik«, murmelte ich.
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Die linke Seite seines Kopfes war eingedrückt wie eine Eierschale, und an Haaren, Schläfe, Stirn und Wangen klebten Hirn- und Blutspritzer. Kant schien meine Gedanken zu lesen. »Bringt der Anblick Sie aus der Fassung?«, fragte er mich besorgt. »Vermutlich. Ihr Bruder hatte ähnliche Schädelverletzungen, nehme ich an.« Ich schluckte. »Bei ihm befanden sie sich auf der rechten Seite«, presste ich hervor. »Mussten Sie damals die Leiche identifizieren?«, erkundigte sich Kant. »Soweit ich weiß, gab es keine polizeilichen Ermittlungen.« »Das stimmt.« »Lassen Sie uns weitermachen«, sagte Kant nach kurzem Schweigen. »Es … Das war ein ziemlich heftiger Schlag«, bemerkte ich, mich mit aller Kraft auf die Leiche Moriks konzentrierend. »Der Tod muss sofort eingetreten sein.« »Und der Junge sah ihn kommen«, fügte Kant hinzu. »Ich wette, seine Hände sind zu Fäusten geballt. Würden Sie seine Kleider beiseiteschieben?« Bevor ich mich bücken konnte, war Koch bereits niedergekniet und hatte die Ärmel des Jungen hochgezogen. Kants Mutmaßung erwies sich als richtig. »Sergeant Koch ist mein Assistent«, erklärte ich hastig. »Früher hat er für Prokurator Rhunken gearbeitet.« »Seinen Namen kenne ich«, sagte Kant mit einem neugierigen Blick auf Koch. »Schauen Sie sich den Gesichtsausdruck des Jungen an, Stiffeniis«, forderte er mich daraufhin auf.
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Ich starrte Moriks Kopf an, ohne irgendeinen klaren Gedanken fassen zu können. »Sehen Sie denn nicht?«, herrschte Vigilantius mich an. »Bei diesem Fall ist alles anders.« »Beachten Sie die Haltung der Beine«, fuhr Professor Kant fort, ohne Vigilantius oder mir weiter Beachtung zu schenken. »Die anderen knieten, als sie ermordet wurden, auch Tifferch, dessen Leiche Sie gestern Abend sahen. Vergleichen Sie. Ich hatte die Soldaten angewiesen, den Toten mit Schnee zu kühlen, damit Sie und der Doktor ihn einer genaueren Untersuchung unterziehen konnten.« Hier also war die Antwort auf die Frage, mit der ich Koch immer wieder gequält hatte: Hinter all dem steckte Professor Kant. Er hatte jede meiner Handlungen seit meiner Ankunft in Königsberg mitverfolgt, mich zu Prokurator Rhunken geschickt, der mich nicht erwartete, dann in das Horrorkabinett von Doktor Vigilantius und schließlich dafür gesorgt, dass ich im »Walfänger« unterkam. Immanuel Kant wusste mehr über diese Morde als jeder andere in Königsberg. »Schauen wir, ob Vigilantius recht hat«, sagte er. »Drehen Sie den Jungen doch bitte auf den Bauch, Koch.« Koch rollte Morik vorsichtig mit dem Gesicht in den Schlamm. Haar und Nacken des Jungen waren blutverkrustet. »Bringen Sie Wasser, Sergeant«, bat Kant meinen Assistenten, und Koch hastete hinüber zur Brücke, um von einem der Soldaten eine metallene Feldflasche zu holen. »Gießen Sie es ihm über den Kopf«, befahl ihm Kant,
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sobald er wieder zurück war. »Schieben Sie seine Haare zurück und entfernen Sie den Schmutz.« Ein Stück weiße Haut kam zum Vorschein, das Kant einer eingehenden Untersuchung unterzog. »Hier im Nacken ist keine Wunde«, sagte er nach einer Weile. »Die Kopfverletzung wurde dem Jungen mit einem Hammer oder einem anderen schweren Gegenstand beigebracht. Eigentlich müsste auf dem Boden überall Blut sein, aber ich sehe keines.« »Vielleicht hat die Kälte die Blutung schnell gestillt«, mutmaßte ich. »Das erklärt nicht das völlige Fehlen einer Blutspur«, erwiderte Kant. »Was schließen Sie daraus, Herr Professor?«, fragte ich. »Dass er nicht hier ermordet wurde, und auch nicht von der Person, die wir bisher gesucht haben. Es liegt auf der Hand: Der Junge wurde aus einem anderen Grund umgebracht.« Ich war verwirrt, denn Kant hatte denselben Schluss gezogen wie Vigilantius. »Aber es kann keine zwei Mörder in Königsberg geben!«, widersprach ich. »Morik wurde im Gasthaus ermordet, und man hat die Leiche hierher gebracht, um mich in die Irre zu führen. Ich bin ziemlich sicher, dass er etwas über die anderen Morde wusste, weil ich mich erst gestern Abend mit ihm unterhalten habe.« Kants Augen funkelten. »Sie haben mit ihm gesprochen? So schnell konnten Sie sein Vertrauen gewinnen? Respekt! Es war also goldrichtig, Sie zu wählen und im ›Walfänger‹ einzuquartieren.«
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Einen Moment lang meinte ich, er spotte, doch dann merkte ich, dass er tatsächlich beeindruckt war. »Dieses Gasthaus ist ein konspirativer Treffpunkt für Saboteure«, erklärte ich. »Aber das wissen Sie vermutlich, nicht wahr?« Kant bedachte mich mit einem verschmitzten Lächeln. »Offenbar stiftet Ihre Anwesenheit Unruhe.« Die Ereignisse des vergangenen Abends fielen mir ein: Herrn Totz’ Verärgerung, das verdächtige Verhalten seiner Frau, die Furcht des Jungen vor den beiden. Ich erzählte Kant, was ich von Morik über die Fremden im Gasthaus erfahren und was ich von meinem Fenster aus beobachtet hatte. »Es ist genau, wie Prokurator Rhunken meint«, schloss ich. »Hier sind ausländische Agitatoren am Werk. Denn was für ein besseres Motiv könnte es für diese Morde geben?« »Da wüsste ich mindestens hundert«, antwortete Kant, ohne lange zu überlegen. »Eines drängt sich mir ganz besonders auf«, fügte er mit einem versonnenen Blick auf die dunklen Fluten des Pregel hinzu. »Und welches wäre das?«, fragte ich. »Das erhabene Vergnügen am Mord, Stiffeniis«, erklärte er mit einem Leuchten in den Augen. Hatte ich richtig gehört? »Ist das Ihr Ernst?«, rief Sergeant Koch aus. »Entschuldigen Sie, Herr Stiffeniis«, wandte er sich sogleich mir zu, »ich wollte mich nicht einmischen.« »Ihre Offenheit gefällt mir, Herr Koch«, meinte Kant. »Fahren Sie fort. Sagen Sie, was Sie zu sagen haben.« »Könnte ein normaler Mensch aus einem solchen
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Grund morden?«, fragte Koch, offenbar nicht im Geringsten beeindruckt vom Ruhm Kants. »Zum Vergnügen?« Kant musterte ihn interessiert. »Sind Sie je im Krieg gewesen, Sergeant?« Koch schüttelte den Kopf. »Aber Sie haben doch sicher Freunde oder Bekannte beim Militär?« »Ja, schon …« Kant hob die Hand. »Lassen Sie mich ausreden, Koch. Wenn Sie sagen, einen Feind im Kampf zu töten sei die Pflicht eines Soldaten, stimme ich Ihnen zu, obwohl man auch dort durchaus Ambiguitäten entdecken könnte. Ich kenne kaum Soldaten, die sich ihrer mörderischen Fähigkeiten schämen oder die Gräueltaten verschweigen, die sie im Namen der Pflichterfüllung begangen haben. Übrigens nicht nur auf dem Schlachtfeld. Die Offiziere unserer Armee pflegen auch die hohe Kunst des Duells.« Er deutete mit dem Kopf auf die Leiche. »Ein Mann, der solche mörderischen Fähigkeiten besitzt, könnte durchaus Vergnügen bei ihrer Ausübung empfinden.« »Ein Soldat? Ist das Ihre Theorie?« Kant wandte sich mir zu, ohne auf Kochs Bemerkung einzugehen. »Stellen Sie sich das Gefühl der Macht über Leben und Tod vor, Stiffeniis! Er wählt sich sein Opfer, den Zeitpunkt und den Ort der Exekution. Das ist gottgleiche Macht. Schauen Sie dort hinüber«, fügte er, auf die andere Seite des Flusses deutend, hinzu, wo sich noch immer die Massen drängten. »Rufen Sie sich den in der Stadt herrschenden Schrecken in Erinnerung. Wer
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der Mörder auch immer sein mag – ihm ist es gelungen, Königsberg ins Chaos zu stürzen. Er beherrscht uns alle.« »Macht?«, mischte sich Koch stirnrunzelnd ein. Dieser Gedanke schien ihn gehörig zu erschüttern. »Eine Macht, die keine menschlichen Grenzen anerkennt, Sergeant Koch. Die Macht einer Gottheit, vielleicht auch eines Dämons.« Ein kalter Wind fegte über die Fluten des Pregel. Als Doktor Vigilantius die Stimme erhob, klang sie laut wie das Zerbersten eines kalbenden Eisbergs im Frühjahr. »Professor Kant«, sagte er. »Ich muss gehen; andere dringende Geschäfte harren meiner. Sie wissen, wie Sie mich erreichen können, wenn Sie mich noch einmal brauchen sollten.« »Ihre Hilfe in diesem Fall war von unschätzbarem Wert«, lobte ihn Kant, als hätte er es mit David Hume oder René Descartes höchstpersönlich zu tun. »Stiffeniis wird Ihre Erkenntnisse zu nutzen wissen.« Mit einem letzten verächtlichen Blick in meine Richtung wandte sich Augustus Vigilantius, jener hell leuchtende Stern am Swedenborgischen Firmament, von uns ab und verschwand. Ich sollte ihn in Königsberg nicht mehr zu Gesicht bekommen. In Hartmanns Zeitung las ich später, wie die dringenden Geschäfte aussahen, von denen er gesprochen hatte: Es handelte sich um ein Zwiegespräch mit einem angeblich von der Seele seines früheren Besitzers besessenen Ziegenbock. Kant bedachte mich mit einem freundlichen Lächeln. »Ich hoffe, wir werden seine Dienste nicht mehr in Anspruch nehmen müssen«, sagte er. »Aber nun zu Ihrer
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Verschwörungstheorie, Stiffeniis. Sie sollten Belege dafür beibringen.« »Ich dachte, Sie teilen meine Meinung nicht, Herr Professor!«, rief ich erstaunt. »Es ist immerhin Ihre Theorie, Stiffeniis«, entgegnete er. »Sie müssen sie überprüfen, das fordert die moderne wissenschaftliche Methodologie. Vernehmen Sie die Leute aus dem Gasthaus. Und wenn Sie fertig sind, möchte ich Ihnen etwas zeigen.« »Entschuldigen Sie, Herr Stiffeniis«, mischte sich Koch ein. »Was ist mit dem Fischer, der die Leiche gefunden hat? Mit dem sollten Sie auch reden.« »Stehlen Sie dem Prokurator nicht die Zeit! Der arme Fischersmann weiß bestimmt nichts«, herrschte Kant ihn an. »Ich hole Sie um vier Uhr ab«, sagte er dann zu mir und wandte sich zum Gehen. Nach ein paar Schritten drehte er sich jedoch mit einem listigen Lächeln noch einmal um. »Wollen Sie denn nicht mehr über die Klaue des Teufels erfahren, Stiffeniis?«, fragte er. Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er davon. »Wie Sie meinen, Herr Professor«, murmelte ich und sah ihm nach, wie er die Stufen zur Straße hinaufstieg. Dann gab ich den Soldaten Anweisung, die Leiche Moriks zuzudecken. Als sie das Gesicht des Jungen mit einem Tuch verhüllten, fielen mir die kriecherische Freundlichkeit von Frau Totz und ihre angebliche Besorgnis um ihren Neffen ein. Nackte Wut packte mich. »Zum Schloss, Koch«, sagte ich barsch. »Zeit, ein paar Leute zum Sprechen zu bringen.«
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XII
I
ch habe Ihre Sachen vom Gasthaus hierher bringen lassen«, informierte mich Koch. »Mehr war in der kurzen Zeit nicht möglich.« Die winzige Kammer im ersten Stock des Schlosses bot gerade genug Platz für eine schmale Pritsche und einen Holzstuhl, auf dem nun meine Reisetasche ruhte. Ein gesprungener Porzellannachttopf verbreitete beißenden Uringestank. Durch das Fenster hoch oben in der Wand drang so gut wie kein Licht herein, und es war eisig kalt. Niemand hatte sich die Mühe gemacht einzuheizen. Die Schreie und Klagen der Gefangenen im unteren Stockwerk klangen zum Glück nur gedämpft herauf, aber es hätte mich nicht überrascht, wenn ein Gefängniswärter vorbeigekommen wäre und uns eingeschlossen hätte. »Es wird schon gehen«, sagte ich überzeugter, als ich eigentlich war. Ich hatte mich häuslich in Prokurator Rhunkens Zimmer eingerichtet, in dem er übernachtete, wenn ihn die Arbeit nicht nach Hause ließ. »Hier hätte ich mich von Anfang an einquartieren sollen«, erklärte ich mit einem Blick auf die grauen Wände. »Nun, immerhin haben Sie im ›Walfänger‹ einige sehr wichtige Dinge herausgefunden, Herr Prokurator«, erinnerte mich Koch.
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»Tja, vielleicht haben Sie recht. Wir sollten dafür dankbar sein.« »Professor Kant …«, fuhr Koch fort, während er an seinem Hemdkragen nestelte, als wäre ihm warm. »Was ist mit ihm?«, fragte ich. »Es hat mich erstaunt, ihn heute Morgen unten am Fluss zu sehen. Sein … morbides Interesse an den Morden erscheint mir merkwürdig. Ihnen nicht auch?« »Er mag sich nicht mit dem Chaos abfinden, das solche Verbrechen mit sich bringen. Er hat Angst um Königsberg und würde für die Stadt, die er liebt, ziemlich viele Unannehmlichkeiten auf sich nehmen.« »Aber Ihre Verschwörungstheorie scheint ihn nicht zu überzeugen«, meinte Koch. »Professor Kant ist weder Magistrat noch Polizist«, erklärte ich, »sondern der prominenteste Vertreter des Rationalismus in Preußen und wünscht sich eine Hypothese, die sich mit hieb- und stichfesten Beweisen untermauern lässt. Bei unserem geplanten Treffen heute Nachmittag möchte ich ihm diese präsentieren.« »Nun, wenn das so ist«, erwiderte Koch, nicht gerade überzeugt. »Was noch?« Koch legte die Hand auf seine Brust, als wollte er sich im Voraus für das entschuldigen, was er sagen würde. »Ihr Bruder«, meinte er. »Herr Kant hat ihn heute Morgen im Zusammenhang mit dem Jungen erwähnt. Wurde Ihr Bruder ermordet, Herr Prokurator?« Ich blickte weg und begann in meiner Tasche zu kramen. »Nein«, fauchte ich schließlich. »Es war ein Unfall, Sergeant, ein sehr unglücklicher Unfall.«
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Erst nach einer ganzen Weile sah ich wieder auf. Koch starrte mich verwirrt an. »Wo sind die Eheleute Totz?«, fragte ich. »Wachtmeister Stadtschen wartet nur auf Ihre Anweisung, die beiden nach oben zu bringen, Herr Prokurator«, antwortete Koch und zupfte seine Jacke zurecht. »Bitten Sie ihn zuerst allein herein.« Da klopfte es an der Tür, und der Wachtmeister, ein riesiger Mann mit aufgedunsenem, rotem Gesicht trat ein, als hätte er unser Gespräch belauscht. Er steckte in einer makellosen dunkelblauen Uniform mit weißen Streifen an Ärmeln und Hosensäumen und hatte einen Stapel Papiere in der Hand. »Die Liste mit den Ausländern, Herr Prokurator«, verkündete er mit einer Verbeugung und reichte mir ein Blatt Papier. Ich überflog die Namen darauf. »Siebenundzwanzig Personen? In ganz Königsberg?« »Es kommen nicht mehr allzu viele Fremde hierher«, antwortete der Wachtmeister. »Natürlich legen Schiffe im Hafen an, aber sie verlassen ihn meist noch am selben Tag wieder, oder die Mannschaft schläft an Bord. Besucher machen einen weiten Bogen um die Stadt. Kein Mensch möchte ermordet werden.« »Ist irgendeine der Personen auf der Liste polizeilich bekannt?« »Nein, das habe ich überprüft.« Mein Blick fiel auf die Namen der drei Schmuckhändler, mit denen ich abends zuvor im »Walfänger« gesprochen hatte. »Sie haben das Gasthaus durchsucht?« »Ja«, antwortete der Wachtmeister und legte den Sta-
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pel Papiere auf meinen Schreibtisch. »Die haben wir dort gefunden.« »Wo?« »In einem geheimen Raum, Herr Prokurator, hinter einer Tür, die wir im Boden einer Kammer im Obergeschoss entdeckt haben. Es handelt sich um Dokumente und Pläne.« »Pläne?« »Von Königsberg und anderen Orten. Dazu Pamphlete in französischer Sprache. Der Name Bonaparte taucht immer wieder auf.« »Haben Sie irgendwelche Waffen entdeckt?« »Nein, Herr Prokurator«, sagte Stadtschen grinsend, »abgesehen von einer Pistole im Schlafzimmer von Totz. Sie ist so rostig wie ein alter Anker und würde beim Abfeuern vermutlich explodieren.« »Wie viele Personen haben Sie festgenommen?« »Nur den Wirt und seine Frau. Die Händler, für die Sie sich laut Aussage von Sergeant Koch interessieren, haben die Stadt heute am frühen Morgen verlassen, vermutlich auf dem Seeweg. Die Gendarmen versuchen herauszufinden, wohin sie unterwegs sind.« »Haben Totz und seine Frau bei der Verhaftung irgendetwas geäußert?« »Darauf konnte ich nicht achten, weil ich Wichtigeres zu tun hatte.« »Und was?« »Nun, Herr Prokurator …« Stadtschen wischte sich mit der Hand über den Mund. »Meine Leute stehen durch die Morde unter starkem Druck, und ich habe Mühe, sie unter Kontrolle zu halten. Ich möchte nicht,
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dass sie Selbstjustiz üben, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Sehr gut«, sagte ich. »Tja, dann fangen wir mal an.« »General Katowice will, dass wir als Erstes die Gefangenen der Sektion D von den anderen trennen.« »Der Sektion D?«, fragte ich nach. »Ja, diejenigen, die deportiert werden sollen. Der General möchte sie nach Pillau verlegen, damit man sie im Bedarfsfall sofort einschiffen kann. Falls wir es tatsächlich mit einer französischen Verschwörung zu tun haben, wird das Gefängnis bald voll mit politischen Agitatoren sein, und die Königsberger Festung könnte sich in das preußische Gegenstück der Bastille verwandeln, meint der General. Gestern wurden bereits sechzig zu Deportierende aus dem Swinemünder Gefängnis an Bord der Zar Peter gebracht. Prokurator Rhunken hatte eine Liste erstellt«, Stadtschen holte tief Luft und senkte verlegen den Blick, »aber keine Zeit mehr gefunden, sie zu unterzeichnen und sein Siegel darunterzusetzen.« Er reichte mir ein Blatt schweres Pergamentpapier. Ich erkannte den Königlichen Erlass, auf den sich das Dokument bezog, denn ein paar Monate zuvor hatte ich in meiner Amtsstube in Lotingen selbst eine Abschrift davon erhalten. In Preußen herrschte Furcht vor einer jakobinischen Revolution; alle Gefängnisdirektoren waren angewiesen, eine Liste mit Namen von Männern zu erstellen, die »eine Bedrohung für die Allgemeinheit darstellen, sich Reformierungsversuchen widersetzen oder Fluchtpläne hegen«. »Prokurator Rhunken hat sechs Gefangene für die Deportation ausgewählt und General Katowice zwei
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weitere Namen auf die Liste gesetzt. Er bittet Sie, den Vorgang abzuschließen.« Ich warf einen Blick auf die Namen: Geden Wrajewsky, 30, Deserteur Matthias Ludwigssen, 46, Münzfälscher Jakob Stegelmann, 31, stadtbekannter Störenfried, 53, Verurteilungen wegen Trunkenheit und Ruhestörung Helmut Schuppe, 38, … »Du gütiger Himmel!«, rief ich aus, als ich las, was man ihm zur Last legte. »Die sibirischen Wölfe müssen sich vor ihm vorsehen.« »In der Tat, Herr Prokurator«, pflichtete Stadtschen mir grimmig lächelnd bei. »Das sind üble Gesellen.« Andreas Conrad Segendorf, Mörder und Entführer Franz Hubtissner, 43, Viehdieb Anton Lieberkowsy, 31, tötete seinen Bruder mit einer Axt … Mein Herz begann wie wild zu pochen. Wie viele Jahre harter Arbeit, körperlicher Züchtigung und schneidender Winde wären nötig, um einen solchen Kain zu strafen? »Wenn Sie Totz ebenfalls auf die Liste setzen wollen, Herr Prokurator«, sagte Stadtschen, »lasse ich ihn sofort in Sektion D bringen.« Ich tauchte die Feder ins Tintenfass und zog eine Linie unter die bisher dort aufgeführten Namen. Darunter setzte ich meine Unterschrift. Wie viele Lebensjahre, fragte ich mich, schenkte ich wohl dem Mörder Ulrich
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Totz durch meine Entscheidung? Zu Zwangsarbeit in Russland Verdammte überstanden normalerweise nicht länger als zwei, höchstens drei Monate. »Ich möchte meine Ermittlungen erst abschließen, bevor ich entscheide, was mit ihnen geschieht. Hervorragende Arbeit, Stadtschen«, lobte ich ihn und gab ihm das Dokument zurück. Er errötete vor Stolz. Sicher dachte er daran, dass ihm, wenn er sich meiner Gunst versicherte, vielleicht eine Beförderung winkte. »Bringen Sie bitte zuerst Gerta Totz herein.« Wenige Minuten später wurde die Gefangene hereingeführt. »Treten Sie näher, Frau Totz«, begrüßte ich sie, ohne den Blick von den Papieren auf dem Schreibtisch zu heben. »Beginnen wir mit …« Als ich sie schließlich ansah, verschlug es mir die Sprache. Ihr Gesicht war grün und blau geschwollen und ihre Unterlippe aufgeplatzt und blutig. Trotzdem gelang ihr immer noch das schiefe Grinsen, das ich schon kannte. »Herr Prokurator?«, sagte sie und verschränkte die Hände vor dem Bauch, als wartete sie auf eine Bestellung. »Setzen Sie sich«, forderte ich sie auf und vermied es, ihr in die Augen zu schauen. Daraufhin drückte Stadtschen sie mit solcher Kraft auf den Stuhl, dass dieser ächzte. Doch als ich den Wachtmeister rügen wollte, sah ich Moriks eingeschlagenen Schädel vor mir. »Nun, Gerta Totz, was haben Sie zu sagen?« »Herr Stiffeniis«, murmelte sie, die Tränen nur mit
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Mühe zurückhaltend, »sie haben das Gasthaus geschlossen. Wo wollen Sie jetzt unterkommen?« »Das dürfte im Augenblick die geringste Ihrer Sorgen sein«, antwortete ich. »Sie haben mir heute Morgen gesagt, dass Sie nach Morik suchen wollten. Wussten Sie da bereits, dass er tot war?« »Ach, Herr Stiffeniis! Was sagen Sie denn da? Ich war außer mir vor Sorge um diesen Quälgeist. Ich dachte, er belästigt Sie …« »Warum hätte er das tun sollen?«, erkundigte ich mich. »Er wusste, dass Sie Magistrat sind. Er …« »Wurde er deshalb ermordet?« »Was für ein Gedanke, Herr Prokurator!«, murmelte sie. »War meine Sorge etwa nicht berechtigt?« »Morik merkte, was in Ihrem Gasthaus vor sich ging«, fuhr ich fort. »Er wusste, dass die Königsberger Morde von Ihnen, Ihrem Mann und Leuten, die im Gasthaus verkehrten, geplant und ausgeführt worden waren.« »Hat Morik das behauptet?«, fragte sie, während sie die Hände wie zum Gebet faltete und sich trotz des Versuchs von Wachtmeister Stadtschen, sie zurückzuhalten, über den Schreibtisch zu mir vorbeugte. Dabei tropfte Blut von ihrer Unterlippe auf meine Dokumente. »Das hat mein Ulrich schon vermutet, als er Morik bei Ihnen am Tisch herumlungern sah. Ich habe den Jungen gewarnt und Sie auch.« Ich machte mir nicht die Mühe, etwas zu erwidern. »Morik hatte eine lebhafte Phantasie«, erklärte sie. »Er war eine Gefahr für die Allgemeinheit. Wer konnte
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bei ihm schon beurteilen, wo die Wahrheit begann und die Lügen aufhörten? Als mein Mann über Ihren Besuch informiert wurde, rief er sofort: ›Wir müssen den Jungen wegschicken, Gerta.‹ Ulrich hatte Angst vor dem, was passieren würde, wenn Morik vom Zweck Ihres Aufenthalts erfuhr, aber einen anderen Burschen konnten wir uns nicht leisten.« »Der ›Walfänger‹ ist ein bekannter Treffpunkt für Verschwörer«, sagte ich. »Gestern Abend waren drei zum Essen dort, zwei Franzosen und ein Deutscher. Sie behaupteten, Schmuckhändler zu sein. Was können Sie mir über die Männer verraten?« »Nun, sie waren nicht das erste Mal in unserem Gasthaus. Es sind aufrichtige, fleißige Herren, die ihre Rechnung immer sofort begleichen.« »Jakobiner«, schrie ich. »Französische Spione.« Die Frau zuckte ob der Heftigkeit meiner Reaktion zusammen. »Ich schwöre Ihnen, das sind ehrenwerte Männer, Herr Prokurator!« »Sie und Ihr Mann sind mit ihnen im Bunde, Frau Totz«, widersprach ich. »Aus diesem Grund wurde Morik ermordet.« »Das stimmt nicht, Herr Prokurator«, jammerte sie. »Mein Ulrich war froh über die Geschehnisse in Frankreich, das gebe ich gerne zu. Wer war das nicht? Die Franzosen haben eine Revolution gegen ihren König angezettelt, einen schrecklichen Mann, einen Herrscher ohne gerechte Gesetze und ohne Liebe für sein Volk, ganz anders als unser eigener König Friedrich. So schlimm sind die französischen Ideen letztlich gar nicht: Freiheit, Gleichheit, Brü…«
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»Es geht hier nicht um Ideen«, fiel ich ihr ins Wort, »sondern um eine Verschwörung gegen den Staat, Frau Totz.« »Eine Verschwörung?« Sie rang die Hände und schüttelte den Kopf. »Hat Morik Ihnen das erzählt?« »Ich habe den Jungen hinter dem Fenster eines Zimmers auf der anderen Seite des Hofes gesehen. Sie meinten daraufhin, das könne nicht sein, aber just in dem Raum fanden die Gendarmen belastendes Material.« »Das ist ein Lagerraum, Herr Prokurator!«, rief sie aus. »Ich wollte nur nicht, dass Sie sich zu viele Gedanken über die Flausen des Jungen machen.« »Morik ist tot!«, erklärte ich. »Ermordet eben dieser Flausen wegen.« »Wir nutzen den Raum als Rumpelkammer«, stöhnte sie verzweifelt. »Ich, mein Mann, Morik, ja, auch Morik. Die Kammer ist vollgestopft mit kaputten Möbeln, dem Sommerbettzeug für die Gäste und Sachen, die die Leute bei uns vergessen. Wir werfen nie etwas weg. Es könnte ja noch einmal irgendjemand danach fragen. Was auch immer man dort gefunden hat – wenn es nicht zur Ausstattung des Gasthauses gehört, ist es nicht von uns, das schwöre ich.« »Stadtschen, wo genau hat man das subversive Material entdeckt?« »In einer Kiste, gut versteckt unter einem Stapel Laken, Herr Prokurator«, antwortete der Wachtmeister. »Diese Papiere gehören uns nicht, Herr Prokurator«, wiederholte Gerta Totz. »Und Morik habe ich nur bei uns aufgenommen, um meiner Schwester einen Gefallen zu tun. Er war nicht ganz richtig im Kopf. Wahrschein-
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lich dachte er tatsächlich, der Mörder verberge sich in unserem Haus. Aber das glauben Sie doch nicht, oder? Nicht Sie, Herr Stiffeniis? Ulrich und ich haben uns wie alle andern auch schon monatelang kaum mehr auf die Straße getraut. Es sind schwere Zeiten, die Geschäfte gehen schlecht. Seit die Leiche draußen auf dem Kai gefunden wurde, haben wir Mühe, uns über Wasser zu halten.« »Schluss mit den Lügen«, sagte ich kühl. »Wollen Sie mich foltern lassen, Herr Prokurator?« Ich zuckte zusammen. Hatte sie meine Gedanken erraten? Obwohl offiziell von König Friedrich Wilhelm III. verboten, wurde die Folter Gefangener noch immer praktiziert. Erst kürzlich war ein Aufsatz des prominenten preußischen Juristen Karl Heinz Starbeinzig erschienen, in dem dieser die formelle Wiedereinführung der Folter forderte, und bei Hof hatte man den Gedanken positiv aufgenommen. »Folter ist billig und zeigt schnelle Wirkung«, lautete seine Argumentation. »Sie repräsentiert die beiden Grundprinzipien des modernen Staates: Wirtschaftlichkeit und Effizienz.« Zur Erlangung genauerer Informationen darüber, wie und warum Morik ermordet worden war, konnte sich die Folter als durchaus nützliches Instrument erweisen. Frau Totz stieß ein ängstliches Wimmern aus. »Es steht in Ihrer Macht, Ulrich und mich hinrichten zu lassen, Herr Prokurator, aber das, was hier in Königsberg geschieht, findet damit kein Ende.« »Das wird sich erweisen. Haben Sie Ihrer Aussage noch etwas hinzuzufügen?«
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Sie fing laut zu schluchzen an. Mit einem Nicken signalisierte ich Stadtschen, dass er sie hinausbringen solle. Doch als er versuchte, die Frau am Arm zu packen, beugte sie sich noch einmal unvermittelt über meinen Schreibtisch, und wieder tropfte Blut von ihrer Unterlippe auf meine Dokumente. Trotzig lächelnd fragte sie: »Warum sind Sie in unser Gasthaus gekommen? Was wollten Sie von uns?« Ich wich zurück. »Jemand hat Sie geschickt.« Stadtschen zog sie weg. »Ja, jemand, dem das Wohl der Stadt am Herzen liegt«, gab ich zurück. »Jemand, der uns Böses will«, kreischte sie, sich am Tisch festklammernd. »Der Teufel hat Sie geschickt, der Teufel!« »Sie könnten nicht falscher liegen.« »Sie haben Morik umgebracht!«, zischte sie mir entgegen, und dabei regnete es Blutstropfen auf meine Hände und die Manschetten meines Leinenhemdes. »Sie und wer auch immer Sie zu uns ins Gasthaus geschickt hat!« »Stadtschen, bringen Sie sie hinaus!«, schrie ich, doch Frau Totz ließ den Tisch nicht los. »Ich wusste gleich, dass Sie uns nichts Gutes bringen. Sie haben Morik diese Flausen in den Kopf gesetzt und ihm seine merkwürdigen Geschichten geglaubt. In unserem Gasthaus gab es keine Geheimnisse. Aber plötzlich tauchten Sie auf, und Morik musste sterben. Sie haben ihn umgebracht, Herr Stiffeniis. Und jetzt wollen Sie uns die Schuld in die Schuhe schieben …«
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In diesem Moment überraschte ich mich selbst: Unvermittelt schoss meine geballte Faust nach vorn und landete mitten im Gesicht der Frau. Blut begann aus ihrer Nase zu fließen, und sie sank mit einem Schmerzenssschrei zu Boden. »Bringen Sie sie runter«, befahl ich dem Wachtmeister. Koch und Stadtschen musterten mich schweigend. »Stadtschen, bringen Sie sie in die Zelle«, wiederholte ich. Der Wachtmeister blinzelte kurz, bevor er einen Schritt vortrat und die Frau vom Boden hochzog. Als er sie zur Tür dirigierte, verpasste er ihr einen Schlag gegen den Hinterkopf. »Sie sollten dich aufknüpfen, du schamlose Dirne!«, rief er. »Da unten wird man dir ein Willkommen bereiten, das du so schnell nicht vergisst!« Ich holte tief Luft, bevor ich mit einem Lappen das Blut von meinen Händen, meinem Hemd und den Dokumenten wischte. »Die Gefängniswärter werden sie nicht schonen«, meinte Koch mit gesenkter Stimme. »Sagen Sie Stadtschen, er soll ihren Mann hochbringen«, wies ich Koch ungerührt an.
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XIII
W
enig später betrat Wachtmeister Stadtschen mit Ulrich Totz den Raum. Der Wirt schien nicht ganz so unsanft behandelt worden zu sein wie seine Frau, denn er hatte lediglich einen großen blauen Fleck auf der Stirn. »Setzen Sie sich, Totz«, forderte ich ihn mit einer Handbewegung in Richtung Stuhl auf. »Ich stehe lieber«, erwiderte er. Stadtschen stieß ihn in den Rücken. »Tun Sie, was man Ihnen sagt!« Um Totz’ Lippen spielte ein süffisantes Grinsen. »Amüsiert Sie etwas, Herr Totz?«, fragte ich. »Mit Verlaub, Herr Stiffeniis«, antwortete er, »in der Zelle stinkt es, und es wimmelt von Ratten. Ich habe Ihnen unter meinem Dach einen angenehmeren Empfang bereitet.« »Im Vergleich zum anonymen Grab eines Mörders ist die Zelle der schiere Luxus«, erklärte ich. »Gut, Herr Prokurator«, entgegnete er mit einem Achselzucken, »kommen wir also gleich zur Sache. Ich gestehe alles: Ich habe Morik mit diesen Händen umgebracht.« Er streckte mir seine kräftigen fleischigen Pranken
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hin, und mein Herz setzte vor Aufregung einen Schlag aus. »Erläutern Sie mir das näher, Totz.« Ich war bemüht, ruhig zu bleiben. Er nickte und begann zu beschreiben, was sich am Abend zuvor im »Walfänger« zugetragen hatte. Ich notierte die Hauptpunkte. »Das, was anno neunundachtzig passiert ist, macht mich froh«, erklärte er stolz. »Der König und die Adligen machen sich einen schönen Lenz, und wir müssen den ganzen Tag schuften wie die Gäule. Ja, ich bin Jakobiner, ich verehre Monsieur Robespierre. Religion ist mir einerlei. Die Pfaffen sind Blutsauger. Die gehören einen Kopf kürzer. Nicht nur in Frankreich, auch hier in Preußen. Verdammte Pietisten! Wartet, bis Napoleon hier das Sagen hat! Der wird’s euch zeigen! Ich wusste, dass die Polizei mein Gasthaus im Auge hatte, aber nachweisen konnte mir keiner was, bis Sie kamen.« Mit dem Ärmel wischte sich Totz den Geifer vom Mund. »Als Sie auftauchten, war mir klar, was es geschlagen hat. Und dann musste noch Morik seine Nase in Angelegenheiten stecken, die ihn nichts angingen. Gestern Abend hab ich ihn beim Spionieren erwischt. Er hätte Ihnen sicher bald alles erzählt …« »Haben Sie ihn deshalb umgebracht?« Totz bedachte mich mit einem hasserfüllten Blick. »Revolutionen fordern Opfer! Fast könnte man sagen, Sie haben ihn umgebracht, Herr Prokurator. Wenn Sie nicht hier aufgetaucht wären, hätte niemand in Königsberg Morik zugehört.« »Wo wurde er getötet?«
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Ulrich Totz stieß einen langen, müden Seufzer aus. »Warum machen Sie sich die Mühe zu fragen?«, erkundigte er sich. »Gerta sagt, Sie hätten ihn nachts von Ihrem Fenster aus gesehen. Mich etwa nicht? Ich hab ihn beim Rumlungern vor der Abstellkammer erwischt und die Treppe runtergestossen.« Dann war das also Herr Totz gewesen hinter dem Fenster. Eigentlich hätte sein Geständnis meine Zweifel zerstreuen sollen, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass er mir genau das erzählte, was ich hören wollte. »Die Treppe hinunter? Nicht mehr?« »Als ich ihn beim Spionieren erwischt habe, wusste ich genau, dass er zu Ihnen gehen würde. Ich konnte gar nicht anders, als ihn umbringen.« »Schildern Sie mir die Vorgänge doch genauer, Totz«, fiel ich ihm ins Wort. »Sie haben den Jungen also gepackt und die Treppe hinuntergestoßen?« »Wie Sie die Kerze ausgeblasen und den Vorhang zugezogen haben, musste ich handeln. Nachdem ich ihn die Treppe runtergestoßen hatte, bin ich ihm nach und hab ihm einen Schlag versetzt.« »Womit?« »Mit dem ersten, was mir in die Finger kam.« »Womit?«, wiederholte ich. »Mit einem Hammer, den wir zum Öffnen der Fässer benutzen«, antwortete er, ohne zu zögern. »War nicht schwer. Der Junge hatte schreckliche Angst. Aber das wussten Sie ja schon, oder nicht? Er hatte Ihnen doch selber gesagt, dass er bedroht wurde.« »Es ist nicht an Ihnen, mir Fragen zu stellen, Totz«, wies ich ihn zurecht.
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»Schön, was möchten Sie wissen, Herr Prokurator?«, erkundigte er sich mit einem verschlagenen Blick. »Warum Sie den Jungen in Ihrem eigenen Haus ermordet haben. Warum versuchten Sie nicht, ihn aus dem Gasthaus hinauszulocken?« Totz zuckte mit den Achseln. »Er wäre nie mitgekommen. Außerdem hätten Sie bald etwas gemerkt. Was blieb mir also anderes übrig? Ich musste ihn zum Schweigen bringen. Und zwar schnell.« »Sie hätten ihn aus Königsberg wegschicken können, zurück zu seiner Mutter.« »Dann wären Sie doch noch argwöhnischer geworden! Nein, da war es schon besser, es aussehen zu lassen, als hätte der Mörder von Königsberg wieder zugeschlagen.« »Und Ihre Frau hat Ihnen geholfen?« »Gerta hat nichts damit zu tun«, antwortete er hastig. »Die würde keiner Fliege was zuleide tun.« »Sie haben ihn also allein umgebracht? Ohne fremde Hilfe?« »Genau. Ein ordentlicher Schlag, und der Junge war hinüber. Eine ziemlich blutige Angelegenheit.« »Verzeihung, Herr Prokurator«, meldete sich Wachtmeister Stadtschen zu Wort, »ich kann bestätigen, dass jemand versucht hat, das Blut zu beseitigen, das überall klebte.« Ich wandte mich Totz zu. »Warum haben Sie die Leiche zum Fluss gebracht?« Wieder bedachte mich Ulrich Totz mit diesem seltsamen Lächeln. »Ich wollte, dass er wie die anderen draußen gefun-
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den wird, aber diesmal nicht vor meiner eigenen Tür. Die Sache mit Konnen hat nur Schwierigkeiten gebracht. Wir haben viele Gäste verloren. Durch die Gassen ist es vom Gasthaus nicht weit bis zum Fluss.« »Und wie haben Sie den Jungen transportiert, Totz?« »In einem Sack, auf meinem alten Packpferd. Morik wog ja nichts. Die blutigen Lumpen hab ich in den Pregel geworfen. Zehn, fünfzehn Minuten, länger hat’s nicht gedauert. Auf dem Heimweg sind wir niemandem begegnet …« »Wirf«, hakte ich sofort nach. »Sie und wer, Totz? Ihre Frau? Einer der Gäste?« »Ich und das Packpferd. Geben Sie sich keine Mühe, Herr Prokurator. Gerta ahnt nichts.« »Aber Sie weiß, dass Sie Morik umgebracht haben, nicht wahr?« »Nein. Sie wird mir das nie verzeihen. Morik war der einzige Sohn ihrer Schwester. Sie hat sich verpflichtet gefühlt, dem Jungen zu helfen.« »Und wer hat Ihnen geholfen, Totz? Ich kann kaum glauben, dass ein Mann allein …« »Herr Prokurator, das habe ich Ihnen doch schon gesagt«, erwiderte er. »Ich war allein. Niemand hat mir geholfen.« »Und was ist mit den Ausländern, die gestern Abend im ›Walfänger‹ waren?« Er zuckte mit den Achseln. »Die Franzosen? Zahlende Gäste, nicht mehr und nicht weniger.« »Das kaufe ich Ihnen nicht ab«, sagte ich. Er betrachtete mich einen Moment kühl, bevor sich ein hässliches Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete.
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»Glauben Sie, was Sie wollen, Herr Prokurator. Aus mir bekommen Sie nichts mehr heraus.« »Das werden wir sehen«, erwiderte ich. »Es gibt Mittel und Wege, einen Verstockten zum Reden zu bringen.« »Folter, Herr Prokurator? Bereitet Ihnen das Vergnügen? Vergessen Sie Ihre Drohungen«, meinte er mit hasserfülltem Blick. »Ich bin so gut wie tot. Glauben Sie, Sie können mir mit Folter Angst einjagen? Es macht mir nichts aus, für meine Überzeugungen zu sterben.« »Die Mordopfer waren unbescholtene Menschen, Totz«, zischte ich. »Diese Taten sind nichts, worauf man stolz sein könnte. Meinen Sie wirklich, dass die Morde Aufruhr erzeugen werden?« »Sie dienen einem Zweck!« »Einem Zweck?« »Der Revolution, Herr Prokurator.« »Wie haben Sie Ihre Opfer gewählt, Totz?« »Nach Gelegenheit und Zeit«, murmelte er erst nach einer ganzen Weile. »Ich habe darauf geachtet, dass niemand in der Nähe war. Wie ich Konnen an jenem Abend im Gasthaus sah, kam mir die Idee …« »Es steckte also kein politisches Motiv dahinter?« Totz richtete sich schweigend ein wenig auf, den Mund zu einem schmallippigen Lächeln verzogen. »Sie kannten Herrn Tifferch doch, oder nicht? Er war Notar und Napoleon-Hasser …« »Alle Preußen hassen Napoleon!«, rief Totz aus. »Wenn’s danach ginge, könnte ich sie samt und sonders umbringen. Aber der Notar war ein Parasit, spielte den
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Junkern in die Hände, kaufte und verkaufte für sie und sorgte dafür, dass ihre Pächter im Gefängnis landeten, wenn sie kein Geld mehr für die Miete hatten. Dem und seinesgleichen zahl ich’s gerne heim!« »Das werden Sie nicht mehr können, wenn Sie am Galgen baumeln«, erwiderte ich kühl. In meinem Bericht notierte ich als mutmaßliches Motiv für den Mord an Tifferch dessen franzosenfeindliche Einstellung. Plötzlich schien alles klar auf der Hand zu liegen – bis auf ein Detail. »Hatten Sie denn nicht Angst, erkannt zu werden?« Die Anspannung wich aus Totz’ Gesicht. »Man kennt mich, das macht die Sache leichter. Ein Wirt kann auf die Leute zugehen, ein bisschen mit ihnen plaudern, abwarten, bis kein Dritter mehr zugegen ist, und dann zuschlagen. Keiner hat etwas geahnt.« »Aha«, sagte ich. »Schildern Sie mir doch bitte jetzt die Mordwaffe.« »Von der hab ich Ihnen doch schon erzählt«, erwiderte er. »Sie behaupten, Sie hätten Morik mit einem Hammer erschlagen. Aber wie sind Sie bei den anderen vorgegangen?« Ulrich Totz rieb sich die Handknöchel und bedachte mich mit einem argwöhnischen Blick. »Ich hab genommen, was mir in die Finger kam«, erklärte er schließlich. »Den Hammer, einen Stein …« »Wie haben Sie zum Beispiel Herrn Tifferch umgebracht? An seiner Leiche konnten keine Verletzungen festgestellt werden. Welche Waffe haben Sie bei ihm verwendet?«
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Zum ersten Mal schwieg Totz. »Was ist mit dieser Klaue des Teufels, von der die ganze Stadt redet?«, hakte ich nach. Ulrich Totz sah erst mich, dann Koch und schließlich wieder mich an. »Ich verstehe, Herr Prokurator«, sagte er daraufhin mit verschlagener Miene. »Wenn Sie mir alles entlocken, was ich weiß, können Sie endlich Ihre Siebensachen packen und heimfahren. Da warten doch eine Frau und ein paar Blagen auf Sie, oder? Ich hab Ihnen mehr als genug verraten. Den Rest müssen Sie schon selber rausfinden.« Er beugte sich vor, um den Unterarm auf dem Schreibtisch abzustützen. Ich winkte ab, als Wachtmeister Stadtschen und Sergeant Koch drohend einen Schritt auf ihn zu machten. »Nun, Totz?« »Herr Prokurator«, antwortete er erst nach einer ganzen Weile, »Sie können mich foltern, wenn Sie wollen, aber mehr kriegen Sie nicht aus mir raus. Und meine Frau wird Ihnen unter Folter sicher alles bestätigen, was Sie ihr in den Mund legen, auch wenn sie nichts weiß. Aber dann hat die Sache wenigstens ein Ende.« »Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, Totz«, erwiderte ich. »Bei unserer nächsten Unterredung werden Sie mir alles über die Pamphlete und die ausländischen Spione verraten, das verspreche ich Ihnen.« »Tun Sie, was Sie wollen, Herr Prokurator«, murmelte der Wirt. »Das ist Ihre Aufgabe. Die meine ist es, Widerstand zu leisten.« »Wir werden bald wissen, wer von uns beiden seine Sache besser macht«, sagte ich und zog meine Uhr aus
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der Tasche. Es war fast vier, Zeit für meine Verabredung mit Professor Kant. »Bringen Sie ihn weg, Stadtschen.« Nachdem der Wachtmeister Totz hinausgeführt hatte, wirkte der Raum plötzlich leer. Ulrich Totz hatte ihn mit seinem Zorn und seinem unverhohlenen Hass ausgefüllt. Koch schien auf eine Äußerung von mir zu warten. Ich erhob mich und ging zum Fenster. Draußen brach bereits die Dämmerung herein. Ich hatte einen trockenen Mund, und mir war ein wenig schwindelig. Ulrich Totz hatte den Mord an Morik gestanden, was meine Hypothese einer politischen Verschwörung zum Zweck der allgemeinen Verunsicherung bestätigte. Endlich hatte der Mörder einen Namen. Ich hätte stolz auf mich sein können, aber aus irgendeinem Grund war ich nicht zufrieden. Ging das nicht alles zu leicht? Zu dieser Auflösung des Falles wäre ein Magistrat vom Format eines Prokurator Rhunken doch mit Sicherheit schon Monate zuvor gelangt. »Darf ich einen Vorschlag machen, Herr Prokurator?«, fragte Koch. »Ich denke, eine öffentliche Auspeitschung vor dem Schloss könnte nicht schaden. Wenn Sie wollen, hole ich die Erlaubnis dafür von General Katowice ein. Prokurator Rhunken war ein eifriger Verfechter dieser Form der Züchtigung. Vor zwei Jahren ließ er einen Mörder trotz der bereits verhängten Todesstrafe auspeitschen. Der Fall hat bleibenden Eindruck bei der Bevölkerung hinterlassen.« »Die Zeiten haben sich geändert, Koch«, erwiderte ich. »König Friedrich Wilhelm ist ein aufgeklärter Monarch. Seiner Ansicht nach weckt Gewalt das Mitleid der
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Zuschauer und widerspricht dem eigentlichen Zweck der Bestrafung. Falls Totz und seine Frau tatsächlich mit den Jakobinern sympathisieren, könnte eine öffentliche Auspeitschung ihre Gesinnungsgenossen in Harnisch bringen. Am Ende ersticken wir das Feuer nicht, sondern schüren es noch. Ich möchte zuerst meine Ermittlungen weiterführen.« Ich ordnete die Papiere und steckte sie in meine Tasche. »Jedenfalls haben wir jetzt eine Verabredung«, sagte ich schließlich. »Professor Kant und die mysteriöse Klaue des Teufels warten auf uns.« »Ist das überhaupt noch nötig, Herr Prokurator?«, fragte Koch. »Ich meine, Sie scheinen doch auf dem besten Weg zu einer Lösung des Falles zu sein.« Vermutlich hatte er recht, und ich hätte die Vernehmung der Eheleute Totz fortsetzen sollen. Schmiede das Eisen, solange es heiß ist, sagt man schließlich. Aber Professor Kant würde mir nie verzeihen, dass ich einen Termin mit ihm nicht einhielt. »Da der Fall so klar auf der Hand liegt«, erwiderte ich fröhlich, »können wir es uns leisten, dem alten Mann eine Stunde unserer Zeit zu schenken.« Auf dem Weg hinaus legte ich mir in Gedanken die Worte für meinen Brief an Helena zurecht. Sie würde sich über meinen Erfolg und mein baldiges Nachhausekommen freuen. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich allerdings noch nicht, dass ich am Ende des Tages mit zitternden Fingern zur Feder greifen würde.
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or dem Schloss wartete eine elegante schwarze Kutsche auf mich. Ich musste lächeln, denn im Innern warf Professor Kant, dessen Pünktlichkeit sprichwörtlich war, gerade einen Blick auf seine Taschenuhr. Als ich die Hand hob, um gegen das Fenster zu klopfen, spürte ich, wie mich jemand am Ellbogen berührte. Eine Stimme fragte leise: »Könnte ich mit Ihnen sprechen, mein Herr?« Der Diener, in dessen Begleitung sich Kant am Fluss befunden hatte, lugte um das hintere Ende der Kutsche herum. Sein Gesicht, das am Morgen noch völlig ausdruckslos gewesen war, wirkte jetzt angespannt. »Sie sind Johannes Odum, nicht wahr?« Mit einem Blick gab er mir zu verstehen, dass ich mich zu ihm hinter die Kutsche gesellen solle. »Ihrem Herrn wird es nicht recht sein, wenn ich zu spät komme«, warnte ich ihn. »Es dauert nicht lange«, beharrte der Bedienstete. »Die Ereignisse der letzten Zeit haben an den Kräften meines Herrn gezehrt, und das heute Morgen unten am Fluss täte keinem gut, am allerwenigsten aber jemandem seines Alters und seines labilen Nervenkostüms.«
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»Professor Kant mag zerbrechlich wirken«, flüsterte ich zurück, »aber meines Wissens ist er ziemlich zäh.« »Er arbeitet Tag und Nacht an den Ermittlungen zu den Mordfällen«, erwiderte der Diener. »Manchmal sogar die Nacht hindurch …« »Die Nacht hindurch?«, wiederholte ich. »Was tut er denn?« »Schreiben, soweit ich weiß.« Ich musste sogleich an den Aufsatz denken, von dem Herr Jachmann mir erzählt hatte. »Wissen Sie, was er schreibt?« Johannes Odum zuckte mit seinen breiten Schultern. »Er ist in Gefahr«, sagte er dann. »In echter Gefahr. Man hat ihn in Ihrer Gesellschaft unten am Fluss gesehen, und jetzt werden Sie in seiner Kutsche fahren. Bevor wir das Haus heute Morgen verließen, habe ich etwas entdeckt, das Sie sehen sollten …« »Johannes!«, hörten wir da laut und vernehmlich die Stimme von Immanuel Kant. »Wo steckt Prokurator Stiffeniis?« Ich gab dem Diener zu verstehen, dass er um die Kutsche herumlaufen solle, während ich nach vorn trat und Kants Aufmerksamkeit auf mich zog. »Hier bin ich, Professor«, rief ich aufgeräumt. »Ich hatte einige Papiere vergessen und musste noch einmal zurück, um sie zu holen. Haben Sie etwas dagegen, wenn Sergeant Koch uns begleitet?« Ich gab Koch ein Zeichen vorzutreten. »Nein, nein«, antwortete Kant voller Ungeduld. »Machen Sie schnell. Wir haben einen weiten Weg vor uns, und es ist bitterkalt.«
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»Wollen Sie nach Sibirien, Herr Professor?«, scherzte ich, auf das Deportiertenschiff in Pillau anspielend, über das sämtliche preußische Zeitungen berichtet hatten. »Nicht ganz so weit«, erklärte er mit einem Lächeln, »aber an unserem Ziel ist es genauso kalt.« Ich lachte, weil ich beste Laune hatte: Der Fall war, abgesehen vom bürokratischen Teil, abgeschlossen. Selbst wenn Ulrich Totz dem Henker entginge, würde er in die eisigen Kälten Sibiriens verschifft. Ich hatte keine Ahnung, wohin Professor Kant Koch und mich bringen wollte, aber letztlich war es egal, weil es nichts mehr mit dem Ausgang der Ermittlungen zu tun haben würde. Als sich die Kutsche rumpelnd in Bewegung setzte, erwartete ich, von ihm zu meinen Fortschritten am Nachmittag befragt zu werden. Doch er machte keine Anstalten. Interessierte ihn denn das Ergebnis meiner Vernehmung von Ulrich und Gerta Totz nicht? »Sind Sie mit Ihrer neuen Unterkunft zufrieden?«, erkundigte er sich statt dessen. »Mit dem ›Walfänger‹ lässt sie sich nicht vergleichen, nicht wahr? Frau Totz ist stadtbekannt für ihren Schweinebraten.« Machte er sich lustig über mich? »Nun, in dem Gasthaus war es tatsächlich ziemlich gemütlich«, gab ich nach kurzem Zögern zu. »Wusste ich es doch, dass Sie sich dort wohl fühlen würden«, sagte Kant freundlich. »Das Schloss von Königsberg dagegen ist ganz anders.« War es das, was Jachmann in den Wahnsinn getrieben hatte: Kants Konzentration auf Nebensächlichkeiten? »Was für ein deprimierendes Gebäude«, meinte er.
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»Bei seinem Anblick habe ich schon als Kind stets eine Gänsehaut bekommen. Mutter und ich mussten jeden Morgen auf unserem Weg zur Versammlungsstätte der Pietisten daran vorbei. Aber diese Angst, sagte sie, sei nichts im Vergleich zu der, die ich eines Tages empfinden würde, wenn ich Unserem Herrn und Schöpfer vor die Augen träte!« Kant sah gedankenverloren zum Fenster hinaus. »Glauben Sie, Sie werden heute Nacht schlafen können, Stiffeniis? Es heißt, das Schloss werde heimgesucht von den Geistern derer, die die teutonischen Ritter einst in den Kerkern verschmachten ließen.« Was sollte ich darauf antworten? Koch und ich wechselten einen Blick, aber keiner von uns wagte, etwas zu sagen. Die Kutsche überquerte ratternd eine uralte Holzbrücke, unter der Nebelfetzen über dem dunklen Wasser hingen. Nur der Burgfried des Schlosses auf dem Hügel war in der hereinbrechenden Dämmerung zu sehen. Die Zinnen lugten über eine dichte Wand aus tief hängenden Wolken hinweg. »Wir sind fast da!«, rief Kant, als die Kutsche scharf nach rechts bog und eine weitere Brücke überquerte. »Haben Sie die Brücken gezählt?«, fragte er. »Die Brücken, Professor?« Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach. »Von der Problematik haben Sie doch sicher schon gehört? Vor seinem Tod stellte der große Mathematiker Leonhard Euler die Frage, ob es eine Route durch Königsberg gebe, die über alle neun Pregel-Brücken führe, ohne dass man irgendeine davon mehr als einmal befahren müsse. Versuchen Sie es einmal, während Sie hier
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sind. Kurz nachdem ich meine Stelle an der Universität angetreten hatte, gewann ich eine Wette mit einem Kollegen, der ein enger Freund des Mathematikers gewesen war. Er verriet mir, dass Euler selbst die Antwort nicht kannte! Nun, ich habe zwei Lösungen …« Da legte er mir unvermittelt die Hand auf den Arm und fragte: »Was können Sie mir über die Eheleute Totz sagen?« Zuerst wusste ich nicht so recht, was ich antworten sollte. Dass der Fall abgeschlossen sei, die Schuldigen in ihren Zellen schmorten, auf ihr Urteil warteten? Dass die Klaue des Teufels, als was auch immer sie sich entpuppen mochte, keine Rolle mehr spielte? »Ulrich Totz hat gestanden, Professor, und zwar ziemlich rasch«, sagte ich. Meinen Stolz über die schnelle Aufklärung des Falles zügelnd, erläuterte ich Kant die Fakten. »Der Sache liegt ein politisches Komplott zugrunde. Sabotage zum Zwecke der …« Er sah mich fragend an. »Zu welchem Zwecke? Haben die Schuldigen Ihnen ihr Ziel offenbart?« »Nun, nicht expressis verbis, Professor«, musste ich zugeben. »Ulrich Totz scheint zu glauben, dass die Angst, die diese Morde hervorrufen, das Vertrauen des Volkes in den Herrscher schwächen und eine Art Revolution in Gang setzen wird. Ich vermute, dass er sich Opfer gesucht hat, die ihrer Abneigung gegen die Franzosen wegen bekannt waren.« Professor Kant lehnte sich strahlend auf seinem Sitz zurück. »Wie schlau von ihm! Und die Mordwaffe im Fall Morik hat er wohl auch beschrieben, nicht wahr?« Unruhig rutschte ich auf dem Ledersitz hin und her. »Ein Hammer, Professor.«
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Meine Antwort schien Kant zu amüsieren. »Ein großer oder ein kleiner Hammer, Stiffeniis?« »So eingehend konnte ich ihn noch nicht vernehmen«, stotterte ich. »Totz hat allerdings gestanden, die anderen Opfer mit unterschiedlichen Waffen ermordet zu haben.« »Nicht immer mit derselben?« Kant runzelte die Stirn. »Nein, er verwendete das, was ihm gerade in die Finger kam. Aber natürlich werde ich nachbohren, bis ich mehr über die Mordwaffen weiß.« »Ja, Details sind sehr, sehr wichtig«, sagte Kant. »Der König wird erfahren wollen, wie groß die Macht seiner Feinde ist.« Wollte Kant mich verspotten? Ich kam mir vor wie ein Student, dem der Professor gerade einen Aufsatz zurückgegeben hat mit der Bemerkung, seine Arbeit sei gut, könne aber noch besser sein. Plötzlich lachte Kant laut auf. Dieser sprunghafte Humor war mir neu und verunsicherte mich. Kochs Miene nach zu urteilen konnte auch er nicht allzu viel damit anfangen. »Es freut mich, dass Sie den Pfad zur Wahrheit gefunden haben«, sagte Kant schließlich. »Haben Sie Ulrich Totz zufällig nach der Klaue des Teufels gefragt, von der die Leute reden?« »Der Herr Prokurator kann die Ermittlungen nicht innerhalb eines einzigen Tages abschließen, Herr Professor«, wandte Koch ein. Seine Hochachtung vor meiner Autorität stand seiner Loyalität gegenüber Prokurator Rhunken in nichts nach. Die preußische Bürokratie war berühmt für den unbedingten Gehorsam ihrer Amtsmänner.
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»Was diese Klaue des Teufels auch immer sein mag«, fuhr Koch fort, »und was auch immer die Leute darüber reden mögen, Professor Kant – sie spielt in diesem Fall keine Rolle mehr. Prokurator Stiffeniis hat die Verschwörung aufgedeckt.« »Mein lieber Sergeant Koch«, erwiderte Kant gelassen, »ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse. Meiner Erfahrung nach liegt mehr Wahrheit in der Stimme des Volkes als irgendwo sonst.« »Ulrich Totz hat den Mord an dem Jungen zugegeben«, beharrte Koch. »Und die anderen Morde auch. Herr Stiffeniis hat den Schuldigen dingfest gemacht, Professor.« Zu meiner Überraschung reagierte Kant nicht verärgert auf Kochs Äußerung, sondern nickte nachdenklich. »Ich kann Ihre Vorbehalte verstehen, Herr Koch«, sprach er. »Trotzdem möchte ich Sie beide um Geduld bitten. Was Sie bald sehen werden, sind die Früchte der originellsten Nachforschungen, die ich in meinem Leben je angestellt habe.« Mein Herz begann schneller zu schlagen. Würde Immanuel Kant mir das zeigen, was er vor seinen engsten Freunden verborgen hielt? »Es handelt sich sicher um ein Meisterwerk, Professor«, sagte ich. »Jedes Buch aus Ihrer Feder …« »Buch?«, fragte er erstaunt. »Die Welt wartet schon zu lange auf ein neues Werk von Ihnen, Professor«, antwortete ich. Kant zögerte. »Ein Buch … Ein Buch! Nun, warum nicht?«, rief er plötzlich begeistert und stützte das Kinn auf die geballte Faust. »Und wie soll ich es nennen?
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Nun, unter den gegebenen Umständen würde sich der Titel Eine Kritik der kriminellen Vernunft anbieten, meinen Sie nicht auch?« »Das würde ich gern lesen«, gab ich zurück. Kant verzog den Mund zu einem Lächeln, bei dem die wenigen, gelben Zähne zum Vorschein kamen, die ihm noch geblieben waren. Kein angenehmer Anblick, muss ich gestehen. »Sie haben sich häuslich in Rhunkens Zimmer eingerichtet, nicht wahr? Haben Sie seine Berichte über die Mordfälle gelesen?« »Ja, gestern«, antwortete ich. »Sie sind ausgesprochen aufschlussreich. Seine Theorie scheint durch Ulrich Totz’ Geständnis bestätigt zu werden …« »Ein politisches Komplott? Das also vermuten Sie hinter den Morden?« Kant winkte ab. »Da ist Vigilantius der Wahrheit bedeutend näher gekommen!«, stieß er mit an Zorn grenzender Heftigkeit hervor. »Leider haben Sie gestern Abend die Geduld mit ihm verloren. Sie hätten bis zum Ende bleiben sollen. Herr Rhunken ist ein Magistrat der alten Schule, ein Sammler von Informationen, nicht mehr. Er hofft, den Leuten die Wahrheit zu entlocken, indem er ihnen Angst macht, und manchmal gelingt es ihm auch, aber nicht in diesem Fall. Seine Phantasie kann der des Mörders nicht das Wasser reichen. Vigilantius hat einiges entdeckt, doch Sie wollten sich ja nicht auf ihn einlassen.« Ich sah Koch an, der meinen Blick mit angespannter Miene erwiderte. Ganz offensichtlich kostete es ihn große Mühe, den Mann, dem er so lange treu gedient hatte, nicht zu verteidigen.
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»Nun?«, fragte Kant. »Warum sind Sie nicht geblieben?« »Weil ich den Auftritt von Vigilantius als Farce empfand, Professor«, antwortete ich unsicher. »Auch in Farcen steckt manchmal ein Körnchen Wahrheit«, erwiderte er. »Ich dachte mir schon, dass Sie nicht mit Vigilantius zurechtkommen würden, hoffte aber, Sie könnten etwas Nützliches von ihm erfahren. Rhunkens Berichte habe ich Ihnen aus dem gleichen Grund geschickt.« »Wie bitte?« Ich begriff den Zusammenhang nicht. Wo war die Verbindung zwischen Vigilantius und den Polizeiberichten, die ich während meiner Fahrt nach Königsberg gelesen hatte? Kant beugte sich zu mir herüber. »Ich wusste, dass ich mich auf Ihr Pflichtgefühl würde verlassen können. Wer wagt schon, einen Auftrag des Königs abzulehnen? Am allerwenigsten ein Magistrat, der beschlossen hat, sich in einem winzigen Dorf nahe der polnischen Grenze zu verstecken. Wie heißt es doch gleich? Lotingen?« Einen Moment lang fürchtete ich, dass er mich fragen würde, warum ich seit unserem ersten Treffen sieben Jahre zuvor nie nach Königsberg zurückgekehrt war und warum ich mir nicht die Mühe gemacht hatte, ihm zu schreiben. Dass er möglicherweise über Jachmanns Einmischung Bescheid wusste, versetzte mich in Panik. Was sollte ich ihm dann entgegnen? Verzweifelt suchte ich nach Entschuldigungen. Aber er fragte nicht, weil ihn andere Dinge beschäftigten. »Ich wollte Ihnen mit den Berichten Lust auf die obskurere Seite des menschlichen Handelns machen,
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Stiffeniis«, fuhr er fort. »Und ich hoffte, dass Sie fasziniert wären von diesen eigentümlichen Morden. Bei unserem ersten Treffen zeigten Sie sich doch sehr interessiert an … wie soll ich es ausdrücken? … mysteriösen Dingen, nicht wahr?« Kant lehnte sich in seinen Sitz zurück. »Ich dachte, das, worüber die Berichte sich ausschweigen, würde Ihre Neugierde wecken.« Er begann, die Punkte an den Fingern abzuzählen: »Warum findet sich darin keine Erklärung dafür, wie die Leute ums Leben gekommen waren? Warum wurde die Mordwaffe nicht erwähnt? Warum stand in den Berichten keinerlei Hypothese über ein gemeinsames Motiv für alle Fälle? Diebstahl oder Leidenschaft spielte ja offensichtlich keine Rolle, und auf den ersten Blick existiert auch keine Verbindung zwischen den Opfern. Ihnen musste einfach auffallen, wie merkwürdig die Vorgänge in Königsberg sind. Nicht einmal ein Magistrat von Herrn Rhunkens Kaliber konnte das Rätsel lösen. Nicht, dass ich Rhunkens Leistungen schmälern möchte – nein, nein. Er handelte im Rahmen seiner Fähigkeiten, aber ihm mangelte es nun einmal an Phantasie. In dieser Hinsicht war er dem Mörder deutlich unterlegen. Manchmal sind solche Magistraten sehr nützlich, doch in diesem Fall …« Er sah mich fragend an. »Wenn Sie begreifen wollen, was hier vor sich geht, mein junger Freund, müssen Sie lernen, Ihrer Vorstellungskraft Flügel zu verleihen und allem Beachtung zu schenken, selbst den obskursten und mysteriösesten Hinweisen. Sollten Sie fortfahren, in altbekannter Manier nach Gründen, Erklärungen und Beweisen zu suchen, kommen Sie der Wahrheit genauso wenig auf die Spur wie Ihr Vorgänger.«
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Offenbar hatte ich ihn enttäuscht, doch wieso, war mir nicht klar. Plötzlich sah er mich kurz von der Seite an und wandte sich daraufhin einem völlig anderen Thema zu. »Wie geht es übrigens Ihrem Vater?«, erkundigte er sich. Zum Glück war es dunkel in der Kutsche, denn ich spürte, wie ich erblasste. Bereits zum zweiten Mal sprach er mich auf die Tragödie an. Warum? Und wieso interessierte er sich so gar nicht für meine neue Familie, meine Frau und meine Kinder? Schließlich hatte ich meinen einzigen Sohn nach ihm benannt. Es war, als existierte dieses neue Leben für ihn überhaupt nicht. Statt dessen bezog er sich ständig auf mein altes Dasein, mein altes Ich und den Hanno Stiffeniis, zu dessen Exorzismus er selbst sieben Jahre zuvor beigetragen hatte. »Soweit ich weiß, geht es ihm inzwischen ein wenig besser«, antwortete ich, doch Kant schien mir nicht zuzuhören. Die Kutsche drosselte ihr Tempo. »Gott sei Dank!«, rief Kant. »Wir sind da! Lassen Sie uns keine Zeit verlieren.« Johannes Odum klappte die Stufen herunter und half seinem Herrn aus der Kutsche. Erst als ich einen Blick auf das düstere Schloss erhaschte, wusste ich, wo wir waren. Wir schienen es entlang der Schutzwälle umrundet und uns ihm von der anderen Seite genähert zu haben. Nun standen wir neben einer armseligen Hütte an einer Straße, die durch das Fallgatter des Tores führte. Vielleicht war die baufällige Behausung ein paar Jahrhunderte zuvor als Zollposten genutzt worden. Was hatte Professor Kant wohl veranlasst, einen solch gottver-
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lassenen Ort für die Arbeit an seinem neuen Werk zu wählen? Auf ein eifriges Nicken seines Herrn hin holte Johannes Odum einen großen Schlüssel aus der Tasche und öffnete mit Mühe die alte, wurmstichige Tür. »Warten Sie hier«, wies Kant seinen Diener an. »Stiffeniis, wenn Sie mir Ihren Arm reichen würden? Und Sergeant Koch: Könnten Sie hineingehen und die Lampe gleich neben der Tür anzünden?« Koch betrat die Hütte, machte Licht und hielt die Lampe hoch über den Kopf. »Berühren Sie nichts«, sagte Kant. Offensichtlich befanden wir uns in einem Lagerraum, an dessen einer Seite sich aufgeplatzte Waffenkisten stapelten. Von der Decke hingen schimmernde Spinnennetze, und über allem lag eine dicke Staubschicht. In einer Falle klemmte eine Ratte mit gebrochenem Genick, der die Artgenossen das Fleisch von den Knochen genagt hatten. »Gehen Sie voraus, Koch«, bat Kant meinen Assistenten. »Wir folgen Ihnen.« Er deutete auf ein schmales Gewölbe, dessen früher einmal weiße Wände nun fleckig von Schimmel und Rauch waren, bevor er meinen Arm losließ und energisch Sergeant Koch folgte. Ich musste schneller gehen, um mit ihm Schritt zu halten. Es war gar nicht so leicht, dieses tunnelartige Gewölbe zu passieren. Die niedrige Decke berührte Kants Dreispitz, Koch und ich mussten uns bücken. Beißender Fäulnisgeruch stieg mir in die Nase. Es hätte mich nicht im Mindesten überrascht, Faust und Mephistopheles aus einer dunklen Ecke hervorspringen zu sehen.
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Als wir einen großen Raum am Ende des Korridors erreichten und Koch die Lampe hoch hielt, fiel mein Blick auf bauchige Destillierapparate und Glasbehälter in Regalen sowie auf mehrere ordentlich gestapelte Kisten auf einer Werkbank. »Spüren Sie die Kälte?«, fragte Kant mit glänzenden Augen. »Sibirien ist näher, als Sie denken!« Dann wies er Koch an, die Lampen an den Wänden zu entzünden. Sobald es heller wurde, begannen die Gegenstände in dem Raum deutlichere Konturen anzunehmen. Kant wandte sich der am weitesten entfernten Wand zu. »Nun, Stiffeniis, lassen Sie mich Ihnen jene vorstellen, die gezwungen sind, in der Dämmerwelt ihr Dasein zu fristen.« Aus der dunkelsten Ecke des Raumes starrten uns im flackernden Licht der Lampen vier wässrige Augenpaare an.
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önnen Sie sich denken, wem die gehören, Stiffeniis?« Immanuel Kants von der Kälte raue Stimme hatte etwas Schrilles, Triumphierendes, das mir den Atem nahm. Fasziniert starrte ich die großen Glasbehälter im Regal an, in denen vier menschliche Köpfe in einer fahlen, strohfarbenen Flüssigkeit schwammen. »Treten Sie näher«, sagte Kant und ergriff meinen Arm. »Darf ich Ihnen Jan Konnen, Paula-Anne Brunner, Johann Gottfried Haase und noch jemanden vorstellen, den Sie von gestern Abend kennen? Würden Sie den ersten Behälter bitte hier auf den Tisch stellen, Sergeant Koch?« Koch gehorchte wortlos und mit entsetztem Gesichtsausdruck. Ich war unfähig, einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen, während ich den grausigen Inhalt des Glasbehälters betrachtete, den Koch vor uns abstellte. Kant verfolgte das Treiben mit interessiertem Gesichtsausdruck. »Bringen Sie eine zweite Lampe, Koch. Ja, genau, so ist’s gut. Stellen Sie sie dorthin. Sagen Sie, Stiffeniis, was sehen Sie in dem Gefäß?«
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Das Licht der Lampen zu beiden Seiten des Glases ließ die Gesichtszüge des Toten klar hervortreten. »Das ist … ein Kopf, Herr Professor.« Ich schluckte. »Er gehörte Jan Konnen, dem ersten Mordopfer. Beschreiben Sie mir jetzt bitte genau, was Sie sehen. Nur zu, Stiffeniis!«, ermutigte er mich. »Einen Kopf?« »Einen menschlichen Kopf«, fügte ich hinzu, »der einem Mann um die vierzig gehörte. Trotz der Verzerrung durch das Glas wirken die Züge ebenmäßig, und …« Ich schwieg, weil ich nicht so recht wusste, was Kant von mir hören wollte. »Beschreiben Sie, was Sie sehen«, drängte er mich. »Mehr verlange ich nicht. Beginnen Sie mit dem oberen Teil des Kopfes und arbeiten Sie sich nach unten vor.« Ich versuchte das unangenehme Gefühl der Unzulänglichkeit abzuschütteln, das von mir Besitz ergriffen hatte. »In seinen am Oberkopf schütterem Haar, das er an den Schläfen lang trug, befinden sich graue Strähnen.« »Das Haar bedeckt die Ohren«, fügte Kant hinzu. »Ja, und die Stirn …« Wieder zögerte ich. Was in Gottes Namen sollte ich nur sagen? »Nicht aufhören! Machen Sie weiter«, hakte Kant nach. »Die Stirn ist breit und glatt.« »Und diese steile vertikale Falte zwischen den Augenbrauen? War die schon zu Lebzeiten des Mannes da oder tauchte sie erst im Moment seines Todes auf?« Ich trat einen Schritt näher, um das Gesicht genauer zu betrachten. »Das kann ich nicht beurteilen, Professor«, murmelte ich.
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»Dann greifen Sie auf Ihre Intuition zurück!« »Seine Miene drückt Verwirrung aus«, bemerkte ich mit einem Blick auf die gerunzelte Stirn des Mannes. »Würden Sie nicht erwarten, dass ein solches Stirnrunzeln nach dem Ableben verschwindet?« »Nun, es ist immer noch da«, sagte ich schließlich. »Dies war sein letzter Gesichtsausdruck, eingefroren im Augenblick des Todes. Dabei handelt es sich um ein wohlbekanntes Phänomen. Soldaten begegnen ihm oft auf dem Schlachtfeld«, erklärte Kant. »Und was haben Sie zu den Augen zu sagen?« Ich betrachtete die starren Augen in dem Glasgefäß. Wenn der Mensch eine Seele besitzt, heißt es, ist ihr Licht in ihnen zu sehen. Jan Konnens Kopf verunsicherte mich, weil ich das Gefühl hatte, dass er unsere Blicke erwiderte. »Die Augen des Mordopfers sind nach oben verdreht«, presste ich hervor. »Haben Sie dafür eine Erklärung?« »Zu dieser Frage existiert keine Literatur, Professor«, antwortete ich unsicher. »Natürlich gibt es Aufsätze zur Anatomie, aber nicht für Fälle wie diesen, für Mord.« »Sehr gut, Stiffeniis. Begreifen Sie nun, wie heikel das Terrain ist, auf dem wir uns bewegen? Wir haben keinerlei Autorität, die uns den Weg weisen könnte, sondern müssen unseren eigenen Sinnen und unserer eigenen Beobachtungsgabe vertrauen und logische Schlüsse ziehen. Ein anderes Vorgehen ist nicht möglich.« »Erfolgte der Schlag möglicherweise von oben?«, mutmaßte ich. »Und er hob den Blick, als er ihn erahnte?«
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Kant brummte zustimmend. »Kam der Schlag von oben oder von hinten? Das können wir im Augenblick nicht beurteilen, also halten wir uns damit nicht auf. Sehen Sie sich jetzt die Nase an, Stiffeniis. Was verrät sie Ihnen?« Doch er ließ mir keine Zeit zu antworten. »Sie ist lang, dünn und gänzlich unauffällig? Gut, wenden wir uns dem Mund zu. Wie würden Sie den beschreiben?« »Er steht offen«, sagte ich. »Weit offen?« »Nicht ganz.« »Würden Sie vermuten, dass er einen Schrei ausstieß, als er starb?« »Einen Schrei, Herr Professor?«, wiederholte ich mit einem flauen Gefühl im Magen, als ich das Funkeln in Kants Augen sah. »Ein offener Mund deutet doch darauf hin, dass er im Moment seines Todes schrie, oder nicht?« Ich zwang mich, das Gesicht des Mannes genauer zu betrachten. »Nein, Professor, nicht unbedingt. Ich würde sogar eher sagen, dass er nicht schrie.« »Was tat er dann? Was für ein Geräusch drang wohl aus seiner Kehle?« »Ein überraschtes Keuchen? Ein Seufzen?« »Würden Sie sagen, dass etwas Dramatisches, Gewalttätiges diesen Gesichtsausdruck bedingte?«, fragte Kant. »Nein, Professor.« »Ich bin ganz Ihrer Meinung. Wenden wir uns nun der Todesursache zu, Stiffeniis. Haben Sie irgendwelche Vermutungen?«
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»In dem Gesicht kann ich keine schwerwiegende Verletzung entdecken«, sagte ich unsicher. »Hat man am restlichen Körper eindeutige Spuren gefunden?« »Der Körper interessiert uns nicht. Der Kopf allein versucht, uns seine Geschichte zu erzählen. Würden Sie den Glasbehälter bitte umdrehen, Sergeant?« Das Licht der Lampen warf einen ungesund gelblichen Schimmer auf den in dem flockigen Formaldehyd rollenden Kopf. »Schauen Sie genau hin, Stiffeniis. Hier, an der Schädelbasis. Die Mordwaffe drang ein wie ein heißes Messer in Schmalz. Aber es handelte sich nicht um ein Messer …« So hatte ich die ursprüngliche Version dieses Berichts begonnen, um das Genie Immanuel Kants zu feiern und meine eigene unwesentliche Rolle bei der Aufklärung der Mordfälle zu schildern, die Königsberg in Angst und Schrecken versetzten. Doch in Wahrheit markierten jene Worte meinen ersten Schritt auf dem Pfad der Verderbnis. »Sehen Sie?«, fragte Kant und beugte sich weiter hinunter. »Hier erfolgte der tödliche Streich. Der Tod kam schnell und unerwartet. Es handelte sich nicht um einen schweren Hieb, denn es gibt keine deutlich sichtbaren Verletzungen. Etwas Spitzes, Scharfes trat an dieser Stelle in Konnens Nacken ein; er war tot, bevor seine Knie den Boden berührten. Diese winzige Wunde ist der einzige Hinweis auf den Angriff.« Kant schwieg eine Weile, als wollte er dadurch die Bedeutung des soeben Gesagten betonen. »Wenn ich Sie richtig verstehe, befand sich unter den Waffen, die Ulrich Totz behauptet, benutzt zu haben, keine, die eine solche Wunde verursachen würde.« Er
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sah mich mit funkelnden Augen an, und mir wurde schwindelig, als hätte ich gerade selbst einen Schlag gegen den Kopf erhalten. »Koch, bringen Sie mir ein weiteres Glasgefäß. Egal, welches.« Professor Kants Stimme bebte vor Erregung, während er eine Lampe in die Hand nahm und sie vor das Gefäß hielt, das Koch auf den Tisch stellte. »Hier sehen Sie die gleiche Wunde.« Er klopfte mit dem Finger gegen das Glas. »Begreifen Sie jetzt?« Man hatte den Schädel von Paula-Anne Brunner so rasiert, dass ihr langes rotes Haar nur noch vom Oberkopf und von den Seiten herabhing, was anrührend verletzlich wirkte. »In Tifferchs Nacken befindet sich ein identisches Mal«, sagte Kant und fügte mit einem Seufzen hinzu: »Wenn Sie gestern Abend länger bei Vigilantius geblieben wären, hätten Sie sofort gewusst, dass Morik nicht von der Person umgebracht wurde, die wir suchen. Totz ist nicht unser Mörder.« »Dies ist das Werk von Vigilantius?«, fragte ich erstaunt. Trotz des trüben Lichts glaubte ich, einen Ausdruck der Befriedigung über Kants Gesicht huschen zu sehen. »Der Doktor gehört zur crème de la crème europäischer Anatomen!«, erklärte er voller Stolz, als hätte er selbst die Leichen seziert. Dass Kant Vigilantius so überschwänglich lobte, stimmte mich wütend. »Das beweist doch nur, dass er ein Scharlatan ist, Herr Professor! Er hätte den Geist des Toten nicht fragen müssen, wie er ermordet wurde, wenn er die Antwort bereits kannte!«
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Kant legte mir beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Seien Sie nicht ungerecht, Stiffeniis. Der Doktor hatte die Sektion noch nicht durchgeführt, als er in seiner exaltierten und gewöhnungsbedürftigen Art verkündete, dass die Todesursache an der Schädelbasis des Mordopfers zu suchen sei. Sie erfolgte später.« »Professor Kant …«, begann ich. »Wie haben Sie das erraten, Herr Professor?« Kochs Frage überraschte uns beide. »Verzeihung, Professor Kant«, sagte der Sergeant verlegen, »ich wollte Sie nicht unterbrechen, aber ich muss gestehen, dass ich verwirrt bin. Wie haben Sie die Bedeutung des Mordes an Jan Konnen so schnell erkannt? Damals konnte keiner ahnen, dass ähnliche Morde folgen würden.« Kant schloss die Augen halb, ein zufriedenes Lächeln trat auf sein Gesicht. »Seit vielen Jahren sammle ich Informationen über Todesfälle in Königsberg, Sergeant«, antwortete er. »Ungefähr vor einem Jahr erhielt ich meinen wöchentlichen Bericht von der örtlichen Polizei, in dem etwas von einer Leiche stand, bei der keine Todesursache festgestellt werden konnte. Nun, das war höchst ungewöhnlich. Der untersuchende Arzt hatte die winzige Wunde im Nacken von Jan Konnen übersehen und notiert: Todesursache – unbekannt. Wie sollte ich einen solchen Fall in meine Statistik einordnen? War der Mann eines natürlichen Todes gestorben oder ermordet worden? Ich erbat die Leiche für die Universität, und einem glücklichen Zufall war es zu verdanken, dass Doktor Vigilantius just in jener Woche im Collegium Albertinum Vorlesungen hielt. Ich wusste, dass er ein
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erfahrener Anatom ist, und machte mir seine Kenntnisse auf zweifache Weise zunutze: Erstens war ich neugierig, wie ein Anhänger Swedenborgs mit den Geistern der Toten kommuniziert. Zweitens wollte ich den Beweis, den Sie gerade gesehen haben, bewahren. Als sich einige Monate später ein ähnlicher Mord ereignete, erkannte ich die Verbindung und rief Doktor Vigilantius, damit er erneut eine Sektion vornehme.« »Wusste Prokurator Rhunken von diesem Gewölbe, Professor?«, erkundigte sich Koch. Kant winkte verärgert ab. »Rhunken war nicht bereit, den Nutzen der hier versammelten Beweise anzuerkennen. Er tat meine Erkenntnisse als das Gebrabbel eines alten Narren ab! Mit der polizeilich üblichen Vorgehensweise hätte er den Mörder nie gefasst, der allmählich Geschmack an seinem Tun fand. Die Angst der Stadtbevölkerung wuchs, der König sah sich einer möglichen französischen Invasion ausgesetzt, und Rhunken wollte den Fall so schnell wie möglich abschließen. Ich war es, der Seiner Majestät vor ein paar Wochen vorschlug, den Prokurator abzulösen, denn hier waren spezielle Fähigkeiten vonnöten. Fähigkeiten, wie Augustus Vigilantius sie besitzt …« »Und ich«, fügte ich hinzu. Kant legte mir freundlich die Hand auf den Arm. »Jetzt sehen Sie, warum ich Sie holen ließ, Hanno«, sagte er. »Nur jemand, der schon einmal im Reich der Schatten gewesen ist, begreift, was hier in Königsberg geschieht. Wie Sie wissen, reichen die dunkelsten Beweggründe des menschlichen Herzens weit über Vernunft und Logik hinaus.«
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Ich erstarrte. Diesen Satz hatte ich seinerzeit bei unserer ersten Begegnung selbst ausgesprochen. »Deshalb habe ich Sie im ›Walfänger‹ einquartieren lassen«, erklärte Kant mit einem verschmitzten Lächeln. »Dieser Ort erschien mir als geeigneter Ausgangspunkt für die Ermittlungen, denn dort hatte sich der erste Mord ereignet, und es gab Gerüchte, dass der Wirt mit Bonaparte sympathisiere. Aber leider schöpfte Totz durch seinen Laufburschen Morik Verdacht. Das hatte ich nicht vorhersehen können«, fügte er nachdenklich hinzu. »Nun, Totz brachte den Jungen um, und zwar laut eigener Aussage mit einem Hammer. Dadurch hat er sich selbst von der Liste unserer Verdächtigen gestrichen. Ich hoffe, das ist Ihnen jetzt klar.« »Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt, Professor? Wieso ließen Sie mich im Namen der Logik weiter im Dunkeln tappen?« Ich hatte mich so leicht davon überzeugen lassen, dass die Morde politisch motiviert waren, oder besser gesagt: Ich hatte es mir selbst eingeredet. Alles schien zu passen – die Erotika in Herrn Tifferchs Schrank, Moriks Andeutungen, das, was ich im Gasthaus hörte und sah, Ulrich Totz’ Geständnis, das verschlagene Gesicht seiner Frau. Ich hatte mir die Fakten so zurechtgebogen, dass sie meine Theorie bestätigten. Und mich dadurch in den Augen dessen, der so viel Vertrauen in meine Fähigkeiten setzte, zum Narren gemacht. »Sie meinten, eindeutige Beweise zu haben«, fuhr Kant fort. »Für etwas anderes interessierten Sie sich nicht. Rufen Sie sich ins Gedächtnis, was ich Ihnen gesagt habe, Hanno: Mit Ihren Ermittlungen müssen Sie
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das Wie der Dinge rekonstruieren. Das Warum werden sie Ihnen nicht verraten. Das Motiv liegt weiter im Verborgenen. Logik und Rationalität beherrschen das menschliche Herz nicht, auch wenn sie möglicherweise seine Leidenschaften erklären.« Er holte ein Dokument aus einer Mappe und legte es auf den Tisch. »Sehen Sie sich das an«, sagte er. Koch und ich beugten uns im flackernden Lampenschein darüber. Auf dem Blatt befand sich eine einfache Zeichnung von einer knienden Gestalt, die an einer Wand lehnte. Die Szene wirkte, als wäre ein Kind zufällig Zeuge des Schreckens geworden und hätte in aller Unschuld versucht, das Geschehene auf Papier zu bannen. »Was ist das, Professor?«, fragte Koch unsicher. »Rhunken schickte zwei Gendarmen zum Schauplatz des ersten Mordes, während ich die Ermittlungen auf meine Weise anging, worüber ich den König in Kenntnis gesetzt hatte. Ich instruierte diese beiden Gendarmen, eine Zeichnung des Tatortes zu fertigen. Genauso hielt ich es bei den folgenden Morden. Die anderen Zeichnungen befinden sich in den Mappen dort drüben, wenn Sie sie sehen wollen«, sagte Kant. »Darauf ist die genaue Haltung dargestellt, in der die Leichen gefunden wurden.« »Sie haben Soldaten angewiesen, die Toten zu zeichnen, Professor?« Kant lachte auf. »Eine ungewöhnliche Methode, nicht wahr? Einer der Soldaten erwies sich als recht begabt. Sobald eine Leiche entdeckt wurde, bat ich Lublinsky, die Szene zu skizzieren. Natürlich wurde er für seine Bemühungen eigens entlohnt.«
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»Für einen Soldaten ein attraktives Arrangement«, bemerkte Koch. »Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen, Professor Kant?«, erkundigte er sich mit einem unsicheren Blick durch den Raum. »Diese ganzen …«, murmelte er nervös, »Körper ohne Köpfe! Das ist … eine Monstrosität, Professor. Was haben Sie damit vor?« Kant wandte sich lächelnd mir zu. »Die Toten sprechen tatsächlich zu uns, Hanno. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin kein Anhänger der Swedenborgianischen Lehre. In diesem Raum geht es im Moment um die Untersuchung eines Ermordeten. Durch die Analyse der physischen Beweise und der Umstände können wir zu vernünftigen Schlüssen darüber gelangen, wo und wann der Mord verübt wurde. Das wiederum hilft uns zu begreifen, wie das Verbrechen geschah und welche Waffe verwendet wurde. Und wenn wir uns am Ende nicht von unserer Intuition haben täuschen lassen, finden wir vielleicht sogar noch den Übeltäter. Morik wurde von Totz umgebracht, von niemandem sonst. Aber der tote Körper dieses Mannes hier kann uns eine Menge über seinen Mörder verraten.« »Sie wollen die Gegebenheiten am Tatort rekonstruieren, habe ich recht?«, fragte Koch, bevor ich etwas sagen konnte. »Genau das ist meine Absicht, Sergeant. Sie haben ja den Nutzen dieser ›Monstrosität‹, wie Sie sie nennen, gesehen. Ohne die Glasbehälter und ihren Inhalt wäre Prokurator Stiffeniis fröhlich weiter in die falsche Richtung marschiert und hätte Ulrich Totz einiger Verbrechen beschuldigt, die er nicht verübt hat. Jetzt kann er seinen Irrtum korrigieren«, erläuterte Kant mit zufriede-
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ner Miene. »Ich nenne diesen Ort mein Labor«, fuhr er fort. »Obwohl ich noch keinen befriedigenden Namen für die Wissenschaft gefunden habe, mit der ich mich hier beschäftige. Das verfügbare Material wird jemandem nützen, der mit investigativen Methoden vertraut ist. Wenn es Herrn Stiffeniis gelingt herauszufinden, wie diese Verbrechen begangen wurden, erkennt er vielleicht den Modus operandi des Mörders und kann ihn festnehmen. Eines allerdings steht bereits heute fest: Er wird wieder zuschlagen!« »Totz hatte keine Ahnung, wie diese Menschen zu Tode gekommen sind«, musste ich zugeben. »Warum log er mich dann an?« »Morik wurde aus pragmatischen Gründen umgebracht, Stiffeniis. Zumindest in dieser Hinsicht sagt Totz die Wahrheit. Er dachte, seine Verschwörung laufe Gefahr, aufgedeckt zu werden, und ermordete die einzige Person, die über die Vorgänge Bescheid wusste und der er misstraute.« »Aber wieso hat er auch noch die anderen Morde gestanden?« Kant zuckte mit den Achseln. »Würden Sie gern als skrupelloser Mörder eines wehrlosen Kindes dastehen? Möglicherweise versucht Ulrich Totz lediglich, sich als Revolutionär zu präsentieren, sozusagen als gnadenloser örtlicher Robespierre. Sie werden ihm die Wahrheit wohl mit Gewalt entlocken müssen.« »Das werde ich!«, rief ich voller Zorn aus. Kant legte mir beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Ich möchte Ihnen noch etwas zeigen, den eigentlichen Grund für die Einladung. Es wundert mich, dass
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Sie sich noch nicht danach erkundigt haben.« Wie ein Magier, der ein Kaninchen aus dem Hut zaubert, drapierte er ein gefaltetes graues Tuch auf dem Tisch. »Die Klaue des Teufels! Die Vorstellung davon verbreitet mehr Schrecken in Königsberg, als der Gegenstand selbst es jemals könnte. Schlagen Sie das Tuch zurück, Stiffeniis!« Ich zögerte. »Sie beißt nicht«, lachte Kant heiser. Meine Finger ertasteten einen winzigen Gegenstand unter dem dünnen Tuch, der so gut wie nichts wog. Als ich den Stoff zurückschlug, fiel mein Blick auf eine spitze, kaum zwei Zentimeter lange Nadel aus Knochen oder Elfenbein. »Was ist das?«, flüsterte Koch. Kant schüttelte den Kopf, bevor er etwas sagte. »Ein Teil der Mordwaffe, vermutlich die Spitze. Sie war mit Sicherheit länger, als sie zum Einsatz kam. Vigilantius fand dieses Fragment in Jan Konnens Nacken. Wir können davon ausgehen, dass es abbrach, als der Mörder versuchte, die Waffe herauszuziehen.« »In dem Bericht steht, dass die Frau, die die Leiche fand, von der Klaue des Teufels sprach«, sagte ich. »Aber dieses winzige Ding kann sie nicht entdeckt haben. Bedeutet das, dass sie die ganze Mordwaffe im Nacken des Ermordeten gesehen hat?« »Nun, das müsste man nachprüfen«, meinte Kant mit einem Nicken. »Ich möchte mit der Zeugin sprechen. Lublinskys Bericht bleibt in dieser Hinsicht vage.« »Vielleicht weiß Lublinsky, wo sie steckt«, sagte
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Koch, nahm die winzige Spitze vom Tisch und betrachtete sie interessiert wie ein Botaniker eine ihm unbekannte exotische Frucht. »Für so etwas lässt sich leicht ein Ersatz beschaffen, wenn es abbricht.« »Und man kann es gut vor dem Opfer verstecken«, fügte Kant hinzu. »Kein vernünftiger Mensch stellt sich direkt neben den Schlachter, wenn der das Beil schwingt.« Er wandte sich mir mit einem belustigten Blitzen in den Augen zu. »Wissen Sie nun, wie Sie fortzufahren haben, Hanno?« Ich sah die Glasbehälter, die Mappen mit den Unterlagen und die gestapelten Kisten an. »Alles hier ist noch neu für mich, Professor«, sagte ich erregt. »Aber ich werde das Material nach bestem Wissen und Gewissen nutzen.« Ein wenig hörte sich das an wie ein Schwur. »Ich gebe Ihnen den Schlüssel«, erklärte Kant wohlwollend. »Die Köpfe sind hier, die Kleider, die die Opfer zum Zeitpunkt des Mordes trugen, in den Kisten dort. Auf jeder steht der Name des Betreffenden, und die Zeichnungen von den Leichen befinden sich in den Mappen. Ich denke, Sie haben alles, was Sie brauchen. Die Beweise stehen Ihnen zur Verfügung. Nutzen Sie sie klug.« Kant schien in sich zusammenzusacken, als er mir den Schlüssel in die Hand drückte. Seine Kraft hatte sich erschöpft. »Bringen Sie Professor Kant mit der Kutsche nach Hause, Koch«, sagte ich. »Ich gehe zu Fuß zum Haupttor, um mich mit Lublinsky zu unterhalten.« »Nein, Prokurator!«, rief Koch. »Begleiten Sie den Professor nach Hause, und ich kehre zu Fuß zum Schloss
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zurück. Sie verlaufen sich nur, während ich weiß, wo Lublinsky zu finden ist.« »Der Weg könnte gefährlich sein«, erwiderte ich, erstaunt über Kochs Nervosität. »Ich passe schon auf«, sagte der Sergeant mit einem hastigen Blick in Kants Richtung. Nun begriff ich, was ihn bewegte: Er hatte keine Angst vor der Dunkelheit, dem Nebel oder dem unbekannten Mörder, sondern vor dem Professor. »Na schön«, meinte ich. »Suchen Sie Lublinsky auf und befragen Sie ihn zu der Frau. Ich sehe Sie dann im Schloss.« Draußen war es mittlerweile dunkel und der Nebel so dicht, dass man kaum noch die Hand vor Augen sah. Johannes Odum sprang herbei, um die Tür der Kutsche zu öffnen, während ich Professor Kant beim Einsteigen half. »Fahren Sie mit zum Haus des Professors, Herr Prokurator?«, erkundigte sich Johannes Odum. Plötzlich fiel mir ein, dass der Diener mir dort noch etwas zeigen wollte. »Natürlich«, antwortete ich. »Seien Sie vorsichtig, Sergeant«, warnte ich Koch, nachdem ich ebenfalls in die Kutsche gestiegen war und Koch die Tür geschlossen hatte. »Gehen Sie kein Risiko ein.« Die Kutsche setzte sich gemächlich in Bewegung. Der Professor und ich sprachen kein Wort. »Leisten Sie mir auf ein Gläschen Bischoffs Fruchtlikör Gesellschaft? Es war ein langer Tag, und wir könnten beide eine Stärkung vertragen«, sagte Kant nach einer Weile.
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»Mit Vergnügen, Herr Professor.« Wenig später begann er leise zu schnarchen, und sein Kopf sank auf die Lehne zurück. Ich dachte über den Brief nach, den ich Helena über den erfolgreichen Abschluss meiner Ermittlungen hatte schreiben wollen. Professor Kant war es zu verdanken, dass mein Aufenthalt in Königsberg noch nicht so bald zu Ende wäre.
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ant schlief den Rest des Weges. Die Kraft, die er den ganzen Tag über ausgestrahlt hatte, war mit einem Schlag verflogen. Ich hingegen fühlte mich kein bisschen müde. Durch eine Art Osmose schien die Energie meines Mentors auf mich übergegangen zu sein. Am Morgen hatte ich am Ufer des Pregel die Leiche eines Jungen mit eingeschlagenem Kopf gesehen; ich kam gerade aus einem düsteren, albtraumhaften Horrorkabinett; auf den dunklen Straßen von Königsberg trieb ein skrupelloser Mörder sein Unwesen – aber mein Herz sang. Ich fühlte mich, als wäre ich soeben von einem erfrischenden Spaziergang zurückgekehrt. Hatten die Glasbehälter in Kants Labor mich angewidert? Nein, ganz im Gegenteil. Ich hielt den Schlüssel zu dem Labor fest in meiner vor Erregung zitternden Hand. Die Köpfe der Mordopfer waren bemerkenswert, aber noch bemerkenswerter fand ich die Tatsache, dass Kant seine Sammlung mir anvertraut hatte. Prokurator Rhunken hatte nichts von diesem geheimen Ort geahnt, und sein treuer Diener Koch war schockiert, ich jedoch jubilierte. Jetzt wusste ich, warum Kant mir den Vorzug vor allen anderen Magistraten gegeben hatte. Vielleicht waren sie erfahrener im Hinblick auf herkömmliche Ermitt-
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lungsmethoden, aber Kant glaubte, dass ich allein in der Lage sein würde, den Nutzen seiner Sammlung und ihre makabre »Schönheit« zu würdigen – ein besseres Wort kam mir nicht in den Sinn. Sieben Jahre zuvor hatte Kant mir geraten, Magistrat zu werden, und nun bot er mir die Gelegenheit, der ich durch meinen Rückzug nach Lotingen bewusst aus dem Weg gegangen war. Er gab mir das Material an die Hand, mit dessen Hilfe ich mich als einer aus der neuen Magistratenzunft hervortun und revolutionäre Methoden im Kampf gegen das Verbrechen erproben konnte, welches möglicherweise den Frieden einer ganzen Nation gefährdete. Kant hatte Vigilantius hinzugezogen, um seine anatomischen wie auch obskureren Kenntnisse zu nutzen. Existierte irgendwo ein Magistrat, der so etwas gewagt hätte? Deshalb hatte er gewollt, dass ich dem Nekromanten am Abend zuvor bei der Arbeit zusah. Plötzlich erschienen mir dessen Fähigkeiten in einem völlig neuen Licht. Vielleicht war Kant ja tatsächlich dabei, auf die dunklen Ufer des Styx zuzudriften, aber er hatte weder seinen Scharfblick noch seine Gabe der logischen Argumentation verloren. Er brachte mir bei, das zu tun, wozu er selbst körperlich nicht mehr in der Lage war, und machte mich mit einer völlig neuen Art der Wahrnehmung und Vorgehensweise bekannt. Bei Ermittlungen ging es eben nicht nur einfach darum, Hinweise zu sammeln und störrischen Zeugen die Wahrheit zu entlocken, wie Rhunken gemeint und auch ich bis vor Kurzem noch geglaubt hatte. Kant hatte mich darauf vorbereitet, mein Wissen zum Nutzen der Menschheit einzusetzen und Beweise nicht
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aufgrund ihrer augenscheinlichen Perversität oder »Monstrosität«, wie Koch es nannte, zu verwerfen. Noch am Vorabend war ich Rhunkens Ansicht gewesen, doch jetzt erkannte ich, was ich tun musste. Sobald der Fall gelöst und der Mörder hinter Schloss und Riegel wäre, würde ich einen Aufsatz zum Lob des unvergleichlichen Genies von Immanuel Kant verfassen, der sich auf diesem Gebiet weiter vorgewagt hatte als irgendjemand bisher. Ich betrachtete den Professor, der neben mir schlief, voller Zuneigung. Ihm verdankte ich alles. Er hätte gut und gerne mein Vater sein können. Letztlich, das wurde mir klar, verdankte ich ihm bedeutend mehr als meinem Vater. Plötzlich kam die Kutsche zum Stehen. Kant wachte nicht auf. In dem dichten Nebel draußen vor dem Fenster tauchte das Gesicht von Johannes Odum auf, der mir signalisierte auszusteigen. Ich öffnete die Tür der Kutsche so leise wie möglich. »Wir können nicht weiter, Herr Stiffeniis«, verkündete der Diener mit einem Blick auf den Bach neben uns. »Ich habe Angst, die Kutsche bei dem Nebel in den Graben zu lenken.« »Ich führe das Pferd«, schlug ich vor. »Nehmen Sie eine der Lampen, Herr Prokurator. Und seien Sie vorsichtig«, riet er mir. Ich machte ein paar energische Schritte, war jedoch schon bald gezwungen, aufgrund von Schnee und Nebel langsamer zu gehen. Das Pferd scheute vor Angst. Erst nach einer Weile gelang es Johannes, die Zügel kürzer zu fassen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis Professor Kants Haus aus dem Dunst auftauchte.
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Dort angelangt, hob der Diener Kant aus der Kutsche wie ein schlafendes Kind, während ich mit der Lampe in der Hand die Tür öffnete. Vom Flur aus beobachtete ich, wie Johannes seinen Herrn scheinbar mühelos hinauf in sein Schlafgemach trug. Schon ein paar Minuten später kehrte er zurück. »Er ist todmüde. Wie schön, dass endlich Ruhe einkehrt!«, seufzte Johannes, als er den Fuß der Treppe erreichte. »Aber wenn Sie mir jetzt folgen würden, Herr Prokurator, dann könnte ich Ihnen zeigen, was ich heute Morgen entdeckt habe.« Er nahm mir die Lampe ab, öffnete die Haustür und führte mich draußen zum hinteren Teil des Hauses, wo sich der von hohen Bäumen gesäumte Kräutergarten befand. Diesen zu durchqueren war nicht einfach, weil sich der Schnee zu kniehohen Verwehungen aufgetürmt hatte. »Das hier ist Professor Kants Arbeitszimmer«, erklärte Johannes, nachdem er vor einem dunklen Fenster stehen geblieben war und die Lampe ein wenig gesenkt hatte. »Sehen Sie, Herr Prokurator – das hat mir heute Morgen einen Schrecken eingejagt.« Ich betrachtete den Schnee, der im Licht der Lampe funkelte wie Diamanten. Dunkle Fußspuren führten vom Fenster zu einem Tor am anderen Ende des Gartens. Warum, fragte ich mich, konnte so etwas Johannes derart erschrecken? »Das wollten Sie mir zeigen?« »Ja. Nach unserer Rückkehr vom Fluss heute Morgen habe ich die Vorhänge im Arbeitszimmer geöffnet, und da waren sie.«
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»Könnten Sie mir das genauer erklären, Johannes?« »Hier draußen ist seit dem Sommer niemand gewesen.« Ich spürte, wie sich meine Gesichtsmuskulatur verkrampfte. »Sind Sie sicher? Ein Nachbar vielleicht oder ein Bettler oder ein Händler?« Johannes schüttelte den Kopf. »Es gibt nur eine Möglichkeit, Herr Prokurator«, sagte er ernst. »Jemand hat ihm nachspioniert oder versucht, ins Haus einzudringen.« Trotz des dicken Wollmantels, den Lotte für mich eingepackt hatte, begann ich zu zittern. »Oder noch schlimmer, Johannes.« Ich versuchte, gefasst zu bleiben. »Noch schlimmer?« »Der Mörder könnte ihm hierher gefolgt sein.« »Du gütiger Himmel!«, rief Johannes aus. »Ich habe Professor Kant geraten, sich nicht so intensiv mit den Morden zu befassen. Sich dort unten am Fluss blicken zu lassen war gefährlich. Sie sollten …« Ich brachte ihn mit einer Handbewegung zum Verstummen. »Wir werden ihn schützen«, bemühte ich mich, ihn zu beruhigen. »Sorgen Sie dafür, dass die Türen und Fenster stets verschlossen sind, Johannes. Ich gebe den Gendarmen Anweisung, das Haus zu bewachen und die Straße zu observieren.« Was würde Kant wohl in so einem Fall tun? Die Antwort lag auf der Hand. »Aber zuerst müssen wir noch etwas anderes erledigen«, sagte ich in entschlossenem Tonfall. »Das würde der Herr Professor auch so machen. Halten Sie die Lampe bitte etwas höher, Johannes.«
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»Sie wollen doch hoffentlich nicht Professor Kant herausholen?«, rief Johannes voller Angst. »Ach was«, antwortete ich. »Ich habe nicht vor, ihn zu stören. Vielmehr möchte ich die analytische Methode anwenden, die mir der Professor gerade in seinem Labor gezeigt hat.« »Wie bitte?«, fragte der Diener verwirrt. »Wir müssen ein vollständig erhaltenes Muster finden.« Ich sah mich um. »Ein Muster wovon?« »Von einem Fußabdruck, Johannes. Halten Sie die Lampe bitte dicht über den Boden.« Die Oberfläche des Schnees war durch den Wind brüchig wie Glas geschliffen. Als ich mich hinabbeugte, sah ich, dass jemand versucht hatte, die Spuren durch einen schleppenden Gang zu verwischen. »Folgen Sie den Abdrücken durch den Garten«, wies ich Johannes an. Widerstrebend hob der Diener die Lampe und ging mir voran. »Treten Sie nicht in die Spuren«, sagte ich. »Die Sachlage ist schon verwirrend genug.« Auf dem Weg zum Tor fanden wir keinen einzigen unverwischten Fußabdruck, und draußen auf der Straße vermischten sich die Spuren mit denen der Passanten. »Es hat keinen Sinn, Herr Prokurator«, meinte Johannes nervös. Ich dirigierte ihn zurück in den Garten und zum Fenster, um noch einmal den Bereich direkt davor in Augenschein zu nehmen, und ging dann zu den drei Steinstufen, die zur hinteren Tür des Hauses hinaufführten.
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»Er war hier, sehen Sie? Und hier …« Da stieß ich einen Freudenschrei aus. Auf der obersten Stufe entdeckte ich einen vollständigen Fußabdruck. »Er hat versucht, durch diese Tür hineinzukommen.« Ich begann in meiner Tasche nach einem Stück Papier zu suchen. »Glauben Sie, er hat es geschafft, Herr Prokurator?«, fragte Johannes ängstlich. Ich begutachtete die dunkle Kiefernholztür sowie das große Schlüsselloch. Alles war intakt. »Ich kann keinen Hinweis darauf entdecken, dass sich jemand daran zu schaffen gemacht hat. Die Tür scheint von innen verschlossen zu sein«, fügte ich hinzu, nachdem ich die Klinke heruntergedrückt hatte. »Das habe ich selbst besorgt, Herr Prokurator.« »Offenbar hat er von seinem Vorhaben abgelassen«, schloss ich. Doch was würde passieren, wenn er das nächste Mal erfolgreicher wäre? »Kommen Sie, Johannes, wir müssen feststellen, ob es sich bei diesem Abdruck um den des Mörders handelt.« »Aber wie, Herr Prokurator?«, fragte er verständnislos. »Indem ich diesen Fußabdruck mit denen vergleiche, die an den Tatorten genommen wurden«, antwortete ich, merkte aber, dass der Diener nicht viel vom neuen Ermittlungsjargon des Immanuel Kant verstand. »So würde Ihr Herr auch vorgehen«, erklärte ich. Mittlerweile hatte ich in meiner Tasche ein Blatt Papier gefunden, jedoch keinen Bleistift. »Womit soll ich nur zeichnen?«, fragte ich. »Zeichnen, Herr Prokurator?«
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»Die Abdrücke. Ich möchte sie kopieren. Gibt es im Haus einen Bleistift?« »Ja, im Zimmer meines Herrn. Aber ich möchte ihn nicht wecken.« Johannes sah sich im Garten um. »Augenblick«, sagte er und brach einen Zweig von einem kahlen Rosmarinbusch neben der Küchentür. Dann öffnete er die Lampe, hielt den Zweig eine Weile in die Flamme, löschte ihn im Schnee und reichte ihn mir. »Holzkohle, natürlich!«, rief ich und legte das Blatt Papier neben dem Abdruck auf den Schnee, um die Größe abzumessen, dann nahm ich es auf mein Knie, um die Form zu umreißen. Die Sohle des linken Schuhs hatte ein auffälliges Kreuzmuster, das sich leicht mit den Zeichnungen der anderen Spuren vergleichen ließe. Sobald ich fertig war, machte ich mich daran, einen Plan des Gartens zu skizzieren und darin die Gehrichtungen des Eindringlings zu markieren. »Haben Sie gestern Nacht irgendetwas Ungewöhnliches gehört?«, fragte ich Johannes schließlich. »Nein, Herr Prokurator … nein«, antwortete er, meinem Blick ausweichend. Hatte er jemanden ins Haus gelassen, dessen Anwesenheit seinem Herrn nicht recht gewesen wäre? Aber hätte er mir dann die Fußabdrücke gezeigt? »Wirklich nicht, Johannes?«, hakte ich nach. Oder hatte Johannes, der um die dreißig sein mochte, eine junge Frau empfangen und wand sich nun deshalb so? »Halten Sie die Lampe ein wenig höher«, wies ich ihn an, um sein Gesicht besser mustern zu können. »Egal, was Sie mir sagen: Ich verrate Ihrem Herrn nichts. Ha-
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ben Sie jemanden eingeladen, ohne Professor Kant um Erlaubnis zu bitten?« »Nein, nein, Herr Prokurator!«, kam die Antwort sogleich. »Solche Freiheiten würde ich mir nie herausnehmen.« Johannes schien den Tränen nahe. Ich wartete schweigend, nach Art eines guten Magistrats. »Nun, Herr Prokurator«, sagte er schließlich. »Ich muss tatsächlich ein Geständnis machen. Das bedeutet zwar, dass ich jemandes Vertrauen missbrauche, aber … das lässt sich nicht vermeiden.« Er stellte die Lampe auf dem Boden ab, rieb sich die Hände, ballte sie über seinen Taschen und sah mir mit unglücklicher Miene in die Augen. »Möglicherweise schwebt Professor Kant in ernster Gefahr«, erinnerte ich ihn. »Ich hatte Angst, jemandem davon zu erzählen, Herr Prokurator. Besonders Herrn Jachmann. Ich dachte, ich verliere die Stelle, wenn ich es ihm sage. Herr Jachmann hat mir aufgetragen, Professor Kant niemals allein zu lassen.« »Richtig«, lobte ich. »Und ich habe mich an diese Anweisung gehalten. Bis auf …« »Bis auf?« »Bis auf ein Mal, auf Professor Kants ausdrücklichen Wunsch.« »Was meinen Sie damit?« »Er hat mich gestern Abend gebeten, ihn eine Stunde lang allein zu lassen, und mir erlaubt, meine Frau zu besuchen. Man könnte sagen, dass er … darauf bestand.«
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»Warum sollte er Sie mitten in der Nacht wegschicken?«, fragte ich erstaunt. »Er arbeitet an seinem Buch, Herr Prokurator, und wollte nicht gestört werden. Ich habe versucht zu widersprechen, aber er meinte, ich solle die Gelegenheit nutzen. Offen gestanden: Es war nicht das erste Mal.« »Wann zuletzt?« »Nun, gestern Nacht.« »Davor!«, fragte ich ungeduldig. »Vielleicht vor einer Woche oder zehn Tagen, Herr Prokurator. Im vergangenen Monat hat er mir fünf oder sechs Mal frei gegeben.« Was für ein Risiko Professor Kant eingegangen war! Ich stellte mir vor, wie der Mörder ihn beobachtet hatte wie eine Spinne die Fliege in ihrem Netz. »Wie konnten Sie den alten Mann nachts allein im Haus lassen?«, herrschte ich Johannes an. Der Diener brach in Tränen aus. »Was sollte ich denn machen, Herr Prokurator?«, jammerte er und wischte sich die Augen mit dem Ärmel ab. »Der Professor war so nett zu mir. Es wäre undankbar gewesen, ihm den Wunsch abzuschlagen. Und außerdem muss ich zugeben, dass ich meine Frau und meine Kinder vermisse.« »Sie hätten Herrn Jachmann in Kenntnis setzen sollen«, sagte ich. »Das wäre Ihre Pflicht gewesen. Er regelt Herrn Kants Angelegenheiten.« »Das weiß ich, Herr Prokurator. Aber Herr Jachmann kommt nicht mehr hierher.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Professor Kant ist mein Herr. Ihm muss
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ich gehorchen.« Dann senkte er den Kopf und schluchzte wie ein Kind. »Sie wissen, was sich in Königsberg abspielt.« Ich legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Ein Mörder treibt sein Unwesen in der Stadt. Das dürfen Sie nicht vergessen.« Johannes biss sich auf die Lippe. »Ich schwöre, dass ich ihn nie wieder allein lassen werde, Herr Prokurator!« »In ebendiesem Moment ist er doch auch allein, oder irre ich?«, fragte ich. »Gehen Sie hinein, Johannes, ich komme hier schon zurecht. Sobald ich im Schloss bin, schicke ich ein paar Soldaten her.« Er setzte sich in Bewegung. »Sie verraten Herrn Jachmann doch nichts, oder?«, bettelte er, während er sich noch einmal umwandte. »Ich erwarte von Ihnen, dass Sie mich umgehend benachrichtigen, falls sich eine gefährliche Situation ergibt«, erwiderte ich. »Zögern Sie nicht, die Soldaten zu rufen!« Kurz nachdem er im Haus verschwunden war, erhob auch ich mich und machte mich mit einem unguten Gefühl auf den Weg zurück zum Schloss. Herr und Diener hielten sich allein im Haus auf, und in der Stadt war ein Mörder unterwegs, der es möglicherweise auf Professor Kant abgesehen hatte. Die Soldaten mussten so schnell wie möglich hier Posten beziehen. Wieder einmal spürte ich die schwere Last der Verantwortung auf meinen Schultern. Diesmal ging es jedoch nicht um das Wohl Preußens, sondern um das der Person, die ich, abgesehen von meiner Frau und meinen Kindern, am meisten schätzte.
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Ich verließ die Prinzessinstraße und bog in eine dunkle Gasse, die in Richtung Stadtmitte und Schloss führte. Da wurde mir bewusst, dass derjenige, der versucht hatte, ins Allerheiligste von Immanuel Kants Behausung einzudringen, den gleichen Weg gewählt haben musste wie ich jetzt. Vielleicht verbarg er sich hinter den Bäumen. Nervös um mich blickend, beschleunigte ich meine Schritte. Vor meinen Augen stieg das Bild eines großen Glasbehälters auf, darin mein Kopf und davor Doktor Vigilantius, der gleichgültig mit seinen Instrumenten hantierte, an denen noch mein Blut klebte. Mehr als einmal rutschte ich auf dem glatten Untergrund aus, aber ich gönnte mir – mit wild klopfendem Herzen – erst dann eine Atempause, als ich im Nebel die flackernden Lichter des Schlosses auf der anderen Seite des Ostmarktplatzes auftauchen sah. Da nahm ich plötzlich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Neben dem Haupttor harrte ein Mann in der klirrenden Kälte aus. Sobald er mich entdeckt hatte, begann er, ungeachtet des rutschigen Kopfsteinpflasters, in meine Richtung zu laufen. Mich ergriff ein Gefühl der Hilflosigkeit. Ich kam mir vor wie eine Holzpuppe mit einem menschlichen Gehirn, und soeben zog eine mir unbekannte und mir übelwollende Hand mit einem heftigen Ruck an den Marionettenfäden.
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XVII
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ergeant Koch kam schlitternd vor mir zum Stehen. Sein Gesicht war fahl, und aus seinem Mund drangen weiße Wolken, als er versuchte, Atem zu schöpfen. »Was ist los?«, schrie ich fast. Meine Nerven lagen blank ob der mysteriösen Spuren in Kants Garten und der greifbaren Angst, die zusammen mit der Dunkelheit Einzug in die Stadt hielt. »Es ist etwas Schreckliches passiert, Herr Prokurator.« »Was?«, rief ich und packte Koch am Jackenkragen. Er zog meine Hände mit einer Kraft weg, die ich nicht erwartet hätte. »Wir konnten sie nicht retten«, sagte er. »Wen?« »Totz und seine Frau. Vor einer halben Stunde. Sie haben sich umgebracht.« »Ich hatte doch Anweisung gegeben, Sie in getrennte Zellen zu bringen«, presste ich hervor. Koch dirigierte mich zum Tor. »Genau das ist geschehen. Stadtschen hat mir versichert, dass Ihre Anweisungen buchstabengetreu befolgt wurden. Als man Totz hinunterführte, kam er an der Zelle seiner Frau vorbei. Offenbar tauschten die beiden ein Signal aus.« Koch hämmerte gegen das Tor, und es schwang auf.
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Wir betraten den von Fackeln erhellten Innenhof. »Ich habe die Wachleute instruiert, die Leichen heraufzubringen, bevor die anderen Gefangenen etwas merken«, erklärte Koch. »Dort unten haben sie sechs Sinne; sie wittern den Tod wie hungrige Wölfe. Wir müssen um jeden Preis einen Aufruhr verhindern, sonst greift General Katowice ein und knüpft sie alle auf. Zum Glück ist das Schiff, das sie nach Sibirien bringen soll, bereits unterwegs und trifft, wenn uns das Wetter keinen Streich spielt, morgen ein. Stadtschen organisiert gerade den Transport der Gefangenen aus Sektion D zum Hafen von Pillau, wo sie die Nacht verbringen werden. Das ist sicherer, als sie hier in den Zellen zu behalten.« Ich nickte stumm. »Wir hatten Glück im Unglück«, fuhr Koch fort. »Ulrich Totz war allein in einer Zelle, Gerta Totz in Gesellschaft zweier Frauen, die schliefen, als sie sich umbrachte. Ein Wachmann fand Totz und sah sofort nach dessen Frau …« Plötzlich schweifte sein Blick nach hinten. »Da kommen sie.« Einige Soldaten trugen zwei schwer beladene, mit grauen Tüchern bedeckte Bahren quer über den Hof. »Sie werden gleich am Morgen begraben«, sagte Koch. Das merkwürdige Grinsen von Gerta Totz fiel mir wieder ein. Ob es wohl im Augenblick des Todes auf ihrem Antlitz eingefroren war? Mit schnellen Schritten durchmaß ich den Hof. »Abstellen!«, befahl ich den Soldaten. »Und ziehen Sie die Decken herunter.« Die Gewalteinwirkung war den Leichen deutlich an-
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zusehen. Das geschwollene Gesicht von Gerta Totz glänzte schwärzlich, und ihre Augen quollen hervor. Der Stofffetzen, mit dem sie sich erhängt hatte, schnitt noch immer in ihren Hals, und an ihrer Nase klebte weiterhin das Blut, das nach meinem Faustschlag hervorgeströmt war. Doch ihr verächtliches Grinsen war für immer ausgelöscht. Ulrich Totz’ Gesicht dagegen wirkte wie eine blutige Maske. »Er hat den Kopf mit voller Wucht gegen die Zellenwand geschlagen«, erklärte Koch. »Mehr als einmal, wie mir scheint«, ergänzte ich mit einem flauen Gefühl im Magen. Eine Spur getrockneten Blutes führte von seiner kaputten Nase zu seiner weißen Hemdbrust. Offenbar war es ihm gelungen, sich den Schädel oder das Genick zu brechen. Nach einem letzten Blick auf die Leichen wandte ich mich ab. Wie sollte ich sie kategorisieren? Als fünftes und sechstes Opfer des Ungeheuers von Königsberg oder – wie Morik – als das meiner eigenen Unzulänglichkeit? »Bringen Sie sie weg«, murmelte ich niedergeschlagen. »Und Koch, schicken Sie umgehend eine Patrouille in die Prinzessinstraße. Jemand ist in Professor Kants Garten herumgeschlichen, vielleicht der Mörder.« Koch runzelte die Stirn. »Kant ist doch hoffentlich nichts passiert?« »Ihm geht es gut, aber ich fürchte um seine Sicherheit. Ich werde erst wieder ruhig schlafen können, wenn der Mörder gefasst ist«, presste ich hervor. »Er scheint immer dreister zu werden.« »Glauben Sie wirklich, er könnte versuchen, den Pro-
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fessor zu ermorden, Herr Prokurator? Seine Opfer sind ihm bisher immer zufällig begegnet. Genau das ist ja seine Stärke: seine Unberechenbarkeit. Warum sollte er sich plötzlich gezielt jemanden aussuchen?« »Vielleicht hat er seine Strategie geändert«, antwortete ich. »Der Mörder ist anonym und gesichtslos, während wir ihm bekannt sind. Ganz offensichtlich weiß er um die Rolle Kants bei den Ermittlungen und auch um dessen vornehmlichen Aufenthaltsort. Kant verlässt das Haus nur selten.« »Ich gebe dem wachhabenden Offizier Order, Herr Prokurator«, sagte Koch und durchquerte den Hof im Laufschritt. Wenige Minuten später marschierte eine bewaffnete Patrouille hinaus. Mit geschlossenen Augen versuchte ich, meine Schuldgefühle zu verdrängen. »Sie sehen blass aus, Herr Prokurator«, bemerkte Koch besorgt, als er zurückkehrte. »Es war ein langer Tag, Sie brauchen eine Stärkung. Sie haben seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.« »Danke, Koch«, antwortete ich mit einem gequälten Lächeln. »Sie sind besser als ein Kindermädchen.« Seine Miene entspannte sich ein wenig. »Folgen Sie mir, Herr Prokurator.« Koch führte mich in einen großen, von einem riesigen Keramikofen erhitzten Raum mit Deckengewölbe. »Die Garnisonskantine«, erklärte er. Ein Gestank nach menschlichem Schweiß und Hammelbraten hing in der Luft, doch das störte mich nicht. Nach dem beißenden Geruch nach Formaldehyd und menschlicher Verwesung in Kants Labor mutete er mich geradezu gesund an, denn er stammte von lebendigen
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Wesen, die arbeiteten, aßen, tranken, die Stadt und ihre Bewohner beschützten. Koch suchte mir einen Platz und entfernte sich, um kurz darauf in Begleitung eines jungen Soldaten mit weißer Schürze zurückzukehren, der ein Tablett mit fetter Hammelbrühe, Schwarzbrot und Rotwein vor mir auf den Tisch stellte – eine Soldatenmahlzeit. Hungrig machte ich mich darüber her, während Koch mich wie ein stolzer Gastwirt beobachtete. »Nichts für einen schwachen Magen, Koch«, sagte ich mit vollem Mund, »aber das Belebendste, was ich je zu mir genommen habe. Nun jedoch zurück zur Arbeit: Was können Sie mir über die Frau berichten, die die erste Leiche entdeckt hat, und über den Gendarm, der sie befragte? Wie heißt er noch gleich?« »Lublinsky, Herr Prokurator.« »Haben Sie mit ihm geredet?« Koch nickte. »Ein eigentümlicher Mensch«, antwortete er. »Wie meinen Sie das?« »Sehen Sie ihn sich lieber selbst an.« Koch lächelte verlegen. »Ich halte es für falsch, solch delikate Angelegenheiten rohen Soldaten zu überlassen. Im Kampf wissen sie genau, was zu tun ist. Aber im Gespräch mit einer Frau …« »Ist er hier stationiert?«, erkundigte ich mich, nachdem ich einen Schluck Wein genommen hatte. »Er befindet sich im Krankenrevier, Herr Prokurator.« »Er ist krank?« »Nun …« Koch zeigte mit dem Finger auf seine Wan-
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ge. »Er wurde hier verwundet. Sieht aus wie eine Stichverletzung.« »Beim Duell?« »Das würde Lublinksy vermutlich abstreiten. Soldaten leugnen grundsätzlich alles.« »Ich möchte mit ihm sprechen.« Koch deutete auf das Tablett. »Wollen Sie nicht zuerst fertig essen, Herr Prokurator?« »Je rascher ich mit ihm rede, desto besser.« »Ich hole ihn aus dem Krankenrevier, Herr Prokurator.« Während Koch sich auf den Weg machte, aß ich meinen Teller leer. Und als mein Assistent in Gesellschaft von Lublinsky zurückkehrte, fühlte ich mich wie neu geboren. »Bleiben Sie hier stehen«, hörte ich Koch zu dem Soldaten sagen, bevor er zu mir an den Tisch trat. Lublinsky schlug die Hacken zusammen. Als ich den Blick hob, wäre mir fast übel geworden. Es gelang mir gerade noch, einen Entsetzensschrei zu unterdrücken. Nie zuvor hatte ich einen so hässlichen Mann gesehen. Jeder Quadratzentimeter seiner groben, roten Haut war mit narbigen Gewächsen bedeckt; er hatte kaum noch Ähnlichkeit mit einem menschlichen Wesen. Eigentlich wusste ich von den Bauern, die das Land meines Vaters bestellten, was die Pocken in einem Gesicht anrichten können, doch das hier überstieg meine Vorstellungskraft. Seine Uniform hatte einen hohen Kragen, der die Pockennarben und eitrigen Geschwüre an Hals und Nacken halbwegs verdeckte, aber an seiner linken Wange prangte eine blutunterlaufene Wunde.
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»Nehmen Sie die Mütze in Gegenwart des Herrn Prokurator ab«, fuhr Koch ihn barsch an. Der Mann befolgte den Befehl, und ein kahler, ebenfalls mit Narben und Furunkeln übersäter Schädel kam zum Vorschein. Wäre er nicht groß und kräftig gebaut und mit soldatischen Fähigkeiten gesegnet gewesen, hätte er sein Dasein vermutlich in einer Monstrositätenschau fristen müssen. »Soll ich Ihren Teller entfernen, Herr Prokurator?«, fragte Koch. »Lassen Sie ihn da«, antwortete ich. Dann wandte ich mich Lublinsky zu. »Sie wirken unter der direkten Leitung von Professor Kant an der Aufklärung der Mordfälle mit, nicht wahr?« Lublinsky sah mich an, dann Koch und daraufhin wieder mich, bevor er schließlich zu sprechen begann. Seine Stimme erschreckte mich. In dem Mann schien ein kreischender Pavian zu hausen, eine Bestie, die er nur mit Mühe unter Kontrolle hielt. Offenbar bemerkte Lublinsky meine Probleme, ihn zu verstehen, denn plötzlich formte er seine Worte weniger hastig, um die lästigen Nebengeräusche zu vermeiden, die er sonst beim Sprechen von sich gab. »Professor wer?«, zischelte er. »Ich mach, was man mir sagt. Sie wollten Berichte, und die haben sie gekriegt.« »Aber sie bekamen auch Geld für die Zeichnungen, die Sie für Professor Kant fertigten.« »Ach, der!«, rief er aus. »Ist der Professor?« »Was dachten Sie?«, fragte ich. Lublinsky zuckte mit den Achseln. »Ich krieg kein Geld fürs Denken. Er hat bekommen, was er wollte. Die
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Welt ist voller alter Männer mit merkwürdigem Geschmack.« »Erzählen Sie mir von sich«, forderte ich ihn auf, bereute das aber schon bald, denn es bedurfte größter Konzentration und Geduld, seinen Ausführungen Sinn abzugewinnen. Sein Name war Anton Theodor Lublinsky, und er stammte aus Danzig. Zehn Jahre zuvor hatte er sich zur leichten Infanterie gemeldet und später in Polen gekämpft. Seit drei Jahren war er in Königsberg stationiert, wo er, wie er sich ausdrückte, bis vor Kurzem recht glücklich gewesen sei. »Und jetzt nicht mehr?«, fragte ich. »Warum?« »Ich würde lieber in den Kampf ziehen, Herr Prokurator. Auf dem Schlachtfeld sieht man seinen Gegner«, antwortete er. »Ich habe Ihre Berichte gelesen, Lublinsky«, sagte ich. »Sie sind alles andere als vollständig. Schildern Sie mir bitte genau, was Sie an dem Tatort in der Nähe des ›Walfängers‹ sahen. Sie waren doch als Erster dort, nicht wahr?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, mit einem Gendarmen. Und dann war da noch diese Frau …« »Es ist ein Jahr her, dass man Sie dorthin schickte. Sie unterhielten sich mit der Frau, die die Leiche gefunden hatte. Worüber?« An jenem Morgen, berichtete Lublinsky zischelnd, habe ein kalter Wind von der See geweht, und er sei um vier Uhr aufgestanden, um die Nachtwache abzulösen. Auf dem Posten habe man ihn über einen Leichenfund in der Nähe des Hafens informiert, worauf er und sein Stellvertreter Kopka sich, froh über die Abwechslung,
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auf den Weg gemacht hätten, um die Angelegenheit zu überprüfen. Am Tatort seien die Leiche und eine Frau gewesen, niemand sonst. In den dunklen Straßen habe sich keiner aufgehalten. »Was sahen Sie dort, Lublinsky?« »Ich hab dem Tod schon tausend Mal ins Auge geblickt, Herr Prokurator«, sagte er. »Blut und Kartätschenverletzungen kenne ich. So was hab ich da in der Merrestraße nicht gesehen, aber schön war’s trotzdem nicht.« Er und Kopka hätten keine Anzeichen von Gewalteinwirkung gefunden, keinerlei Hinweis auf die Todesursache. Trotzdem sei es offensichtlich gewesen, dass das Opfer keines natürlichen Todes gestorben war. »Offensichtlich, Lublinsky?« Der tote Jan Konnen habe kniend vorwärts geneigt mit dem Kopf gegen den nackten Stein geruht. Seine Haltung sei jener ähnlich gewesen, in der Moslems zu ihrem Gott beteten. Da die Leiche ihre Geheimnisse nicht preisgab, hätten sie ihre Aufmerksamkeit der vor Angst zitternden Frau zugewandt, einer Hebamme auf dem Weg zu einer Geburt, ihr aber nichts entlockt, obwohl Kopka einen Krug Gin aus dem nahe gelegenen Gasthaus geholt habe. Lublinsky schwieg nachdenklich, bevor er fortfuhr. »Sie hatte den Mann nicht umgebracht, Herr Prokurator, das war klar.« »Klar? Wieso?« Er schnappte nach Luft, als drohte er zu ersticken. »Weil sie solche Angst hatte.« »Wie hieß die Frau?« Wieder zögerte er.
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»Der Name der Hebamme«, wiederholte ich. »Sie haben ihn in Ihrem Bericht nicht erwähnt.« In Lublinsky schienen gegensätzliche Gefühle miteinander zu ringen. »Das Zurückhalten von Informationen ist strafbar«, warnte ich ihn. »Anna, Herr Prokurator«, sagte er schließlich. »Anna Rostova.« »Hat sie Ihnen den Namen in Kopkas Abwesenheit verraten?«, fragte ich. Lublinsky begann an seiner Uniform zu nesteln, an den Knöpfen zu zupfen, den Kragen zurechtzurücken, die Mütze zusammenzurollen. Erst nach einer Weile nickte er. »Und wieso tat sie das? Wie haben Sie ihr Vertrauen gewonnen?« Er wurde tiefrot. »Keine Ahnung, Herr Prokurator. Ich … ich dachte, vielleicht gefalle ich ihr.« Ein so hässlicher Mann?, wunderte ich mich. »Ist das der einzige Grund?« Ein gequälter Ausdruck huschte über Lublinskys Gesicht, sein Blick fing an zu flackern, und sein Mund öffnete und schloss sich wie der eines Karpfens an der Angel. »Mitleid, Herr Prokurator. Ihr einziges Kind hatte auch die Pocken. Sie wusste, wie ich litt.« »Was genau hat die Frau nun gesagt?«, fragte ich. Lublinsky kratzte an seiner Wangenwunde herum, bis Blut floss, dann brach es aus ihm heraus: »Sie hat gesagt, der Teufel hätte ihn umgebracht.« »Der Teufel«, wiederholte ich.
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»Sie hatte seine Klauen gesehen, Herr Prokurator.« »Sie auch?«, erkundigte ich mich. »Nein. Da gab’s nichts zu sehen. Ich hab mir die Leiche angeschaut. Da war nichts, keine Wunde, keine Waffe. Bloß der Satan kann so was, hat sie behauptet.« »Und das glaubten Sie ihr? Warum haben Sie in Ihrem Bericht nichts davon erwähnt?« »Sie sagte, sie würde … mir helfen, Herr Prokurator«, stieß er zitternd hervor. »Eine Hebamme, Lublinsky? Wie könnte eine Hebamme Ihnen helfen?« Er hob eine Hand an sein vernarbtes Gesicht. »Sie hat mir versprochen, mich zu heilen. Ich hab mir die Pocken in Polen geholt, hätte dran sterben können, ist aber leider nicht passiert. Damals war ich mit einem Mädchen aus Chelmno verlobt, die hat mir den Laufpass gegeben, wie sie mein Gesicht sah. Und meine Kameraden im Regiment sind mir aus dem Weg gegangen, haben mich den Sohn Satans genannt, jawoll! Seit fünf Jahren geht das jetzt so. Und da sagt Anna, meine Haut kann wieder wie die eines Neugeborenen aussehen, und ich glaub’s ihr. Sie war die erste Frau …«, er schnappte nach Luft, »… die mich in all den Jahren überhaupt nur angeschaut hat. Ich hab sie weggeschickt, bevor Kopka zurückkam. Ihre Adresse hatte ich ja …« »Zwei Dinge sind mir allerdings noch unklar«, fiel ich ihm ungeduldig ins Wort. »Was hatte Anna Rostova gesehen, das Ihnen entging? Und wie wollte sie Sie heilen? Vergessen Sie nicht, dass Sie eine Gefängnisstrafe wegen Vernachlässigung Ihrer Pflichten riskieren.«
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»Nach einem Jahr sehe ich immer noch nicht besser aus als damals«, sagte er voller Zorn und hielt den Kopf ins Licht. »Anna hat gesagt, der Teufel würde meinem Leiden ein Ende bereiten, deshalb hätte er seine Klaue zurückgelassen.« Ich versuchte, ruhig zu bleiben. »Dann haben Sie sie also gesehen?« Lublinsky blieb stumm. »Machen Sie die Sache nicht noch schlimmer«, warnte ich ihn. »Beschreiben Sie die … Klaue.« »Ein langes Ding, wie ein spitzer Knochen«, erklärte Lublinsky schließlich. »Die Klaue Luzifers. Sie besitzt große Macht. Deswegen hat sie sie aus der Leiche gezogen.« »Macht, Lublinsky? Was meinen Sie damit?« »Die Macht zu heilen und zu töten, Herr Prokurator. Anna sagt, sie kann mit diesem Teufelsding mein Gesicht wiederherstellen, weil darin die Lebenskraft des Toten steckt. Er ist das Opfer für meine Heilung.« Ich wich zurück, als Lublinsky sich mit wütender Miene über den Tisch zu mir beugte. »Sehen Sie mich an, Herr Prokurator. Sehen Sie dieses verdammte Gesicht an!«, rief er. »Hätten Sie nicht genauso gehandelt wie ich?« »Nun, Ihr Gesicht ist in der Tat grässlich entstellt«, antwortete ich kühl. »Soll ich daraus schließen, dass Sie die Frau niemals wieder trafen?« Lublinsky senkte den Blick. »Sie kennen die Antwort, Herr Prokurator.« »Und was tat sie, um Ihnen zu helfen?« »Das, Herr Prokurator.« Dabei berührte er das deut-
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lich sichtbare Loch in seiner linken Wange. »Sie hat meine Backe mit der Teufelsklaue durchstochen.« »Sie wurden also nicht in einem Duell verwundet?«, fragte ich mit einem raschen Blick zu Koch hinüber. »Eine Klinge könnte keine solche Wunde verursachen, nur eine Hexe«, flüsterte Lublinsky. »Und wie lange geht das schon?« »Seit dem ersten Mord, Herr Prokurator.« »Das heißt, die Frau hat die Klaue noch immer?« »Ja.« »Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?« Lublinsky wandte den Blick ab, bevor er leise antwortete: »Gestern.« Mir war sofort klar, was das bedeutete. »Vorgestern hat sich erneut ein Mord ereignet. Sie trafen sich demnach immer dann mit ihr, wenn wieder jemand getötet worden war, habe ich recht?« Lublinsky ballte die Fäuste. »Jeder Mord verleiht diesem Ding mehr Macht, und ich komme der Heilung einen Schritt näher, sagt sie.« »Warum erzählen Sie mir das erst jetzt?«, fragte ich. Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Wie meinen Sie das, Herr Prokurator?« »Das wissen Sie genau. Von alledem steht in Ihrem Bericht kein Wort, und Sie haben weder Prokurator Rhunken noch den Professor darüber informiert. Inzwischen ist Ihnen jedoch klar, dass die Frau lügt! Sie kann Ihnen nicht helfen, egal, wie viele Menschen noch sterben werden. Deshalb liefern Sie sie mir nun aus. Weil Sie sich an ihr rächen wollen. Anna Rostova soll dafür be-
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straft werden, dass sie Sie zum Narren gehalten hat, nicht wahr?« Er gab mir keine Antwort. »Was war mit Kopka?«, bohrte ich nach. »Wo steckte er, als die anderen Leichen gefunden wurden?« Lublinsky wischte sich die Nase mit dem Ärmel ab. »Er ist desertiert, Herr Prokurator.« »Wieso das?«, fragte ich überrascht. »Keine Ahnung, Herr Prokurator. Er ist weggelaufen, mehr weiß ich auch nicht.« »Na schön«, sagte ich und sprang auf. »Führen Sie uns zu dieser Frau. Kommen Sie, Koch.«
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XVIII
K
önigsberg … Zum ersten Mal hörte ich den Namen dieser Stadt mit kaum sieben Jahren, als uns General von Plutschow, der älteste Kamerad meines Vaters von der Militärakademie und ein Nationalheld, auf dem Weg zu seinem Landsitz eines Tages in Ruisling besuchte. Tags zuvor war er Ehrengast bei einer Königsberger Feier zum zwanzigsten Jahrestag der glorreichen Schlacht von Rossbach 1757 gewesen, wo er mit der Siebten Kavallerieeinheit den Sieg gesichert hatte. Mit offenen Mündern lauschten mein jüngerer Bruder Stefan und ich im Salon der lebendigen Schilderung, die der Gast von der großartigen Gala gab, bei der der König höchstpersönlich zugegen gewesen war. Während der General sprach, betrachtete ich gebannt seine rechte Seite, an der ein leerer Ärmel mit einer Auszeichnung aus Gold an der Silberepaulette festgesteckt war. »Königsberg verkörpert das Ehrenwerte und Edle unserer großen Nation«, begeisterte sich mein Vater, als der General geendet hatte, und meine Mutter tupfte sich Tränen der Rührung von den Wangen. Von da an waren Königsberg und der fehlende Arm von General von Plutschow in meinem Kopf unauflöslich miteinander ver-
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bunden, lange, bevor ich die Stadt mit eigenen Augen sah. Ich stellte mir Königsberg als einen Ort vor, an dem nur Großartiges geschehen konnte und an dem nur lautere Menschen lebten. Und so hielt ich trotz der Morde, die mich hierher geführt hatten, trotz des Todes von Morik und des Selbstmordes der Eheleute Totz Königsberg noch immer für eine gesegnete Stadt und glaubte, dass mit Immanuel Kants Hilfe wieder Ruhe einkehren würde. Doch an jenem Abend, als wir mit der Kutsche den Stadtkern hinter uns ließen, lernte ich die andere Seite Königsbergs kennen – eine Welt des Elends und der Armut, die ich nur schwer in Verbindung bringen konnte mit dem Ort, an dem General von Plutschow ausgezeichnet und Immanuel Kant geboren worden war und den dieser als Paradies auf Erden pries. Wir bewegten uns auf Pillau zu, eine Art Hafen, wie Koch erklärte, mit einem flachen Strand, wo die Walfänger ihre Beute an Land brachten, zerkleinerten und im Wind trocknen ließen. Trotz der geschlossenen Fenster drang ein unerträglicher Gestank nach Walfett und Eingeweiden in die Kutsche, als wir an der Pregelmündung entlang in Richtung Ostsee fuhren, vorbei an wenigen, recht heruntergekommenen Behausungen. Jede Furche und jedes Schlagloch des Schlammweges, über den wir holperten, bot große Gefahr. Außerdem hatte sich durch das Aufeinandertreffen von kaltem Meer- und wärmerem Flusswasser dichter Nebel gebildet, der mit jeder Drehung der Kutschenräder undurchdringlicher wurde. »Fahren wir richtig, Sergeant?«, fragte ich. »Hier draußen bin ich selbst nur ein paar Mal gewe-
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sen, Herr Prokurator«, antwortete Koch mit einem Blick aus dem Fenster. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Lublinsky uns in die Irre führen will.« Lublinsky saß, in seinen dunklen Armeemantel gehüllt, die Mütze tief in die Stirn gezogen, schweigsam neben uns. Er hatte den Blick starr nach draußen gerichtet, wo in der Ferne traurig ein Nebelhorn tönte. »Da ist es«, sagte er unvermittelt und drückte die Nase gegen das Fenster. Das Licht der schaukelnden Kutschenlampe erhellte seine entstellten Züge. In mir stiegen widersprüchliche Gefühle auf. Einerseits fühlte ich Verachtung, weil er die Frau nicht gehindert hatte, die Mordwaffe an sich zu nehmen, andererseits aber auch Mitleid ob der Demütigung, die ihn erwartete. Koch klopfte gegen das Dach der Kutsche. Wir hielten an und sprangen hinaus. Der Nebel war wie ein nasser Schwamm, und bereits nach wenigen Sekunden fühlte sich mein Gesicht feucht an. Lublinsky schritt auf eine Hütte zu, in deren Fenster ein matter Lichtschein zu sehen war. Vor dem Eingang drehte er sich kurz um, schaute mich an und begann dann, mit der Faust gegen die Tür zu hämmern. Sofort tauchte die Silhouette einer Frau auf. »Du, Lublinsky?«, schnurrte sie mit kehliger Stimme. Doch als ich hinter dem Soldaten hervortrat, begann ihr Blick vor Angst zu flackern. »Wer ist das?«, zischte sie. Nun stellte sich Koch neben Lublinsky, und die Frau stieß einen erstickten Schrei aus. »Was wollen Sie?«, knurrte sie. »Ich habe heute Abend frei.«
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Ich schob Lublinsky in die Hütte. Die Frau wich nach hinten zurück, wo sie gegen ein niedriges Tischchen stieß. Sie griff nach einer Kerze und fuchtelte damit vor unseren Gesichtern herum wie ein Schäfer, der mit einer Fackel ein Rudel Wölfe vertreiben will. Sie mochte um die dreißig sein, war groß gewachsen und wohlgeformt und trug ein ausgeblichenes rotes Kleid mit tiefem Ausschnitt. Im Licht der Kerze wirkten ihre Haut und ihre Augen fahl, fast transparent. Silberweißes Haar ergoss sich in dichten Locken über ihre Schultern. Wäre ich ihr nachts auf der Straße begegnet, hätte ich geglaubt, sie sei aus Eis gehauen. Ich hatte noch nie zuvor einen Albino gesehen. Ihr Gesicht war von faszinierender, puppenhafter Schönheit; die weißen Lippen hatte sie misstrauisch verzogen, und ihre weit auseinander liegenden, kühlen Augen über den deutlich hervor tretenden Wangenknochen musterten mich eindringlich wie die einer Katze. »Ich gönne mir heute einen freien Abend«, erklärte sie noch einmal mit einem koketten Lächeln. »Es sei denn natürlich, die Herren machen mir ein verlockendes Angebot.« »Wir sind keine Kunden«, entgegnete ich. »Ich leite die Ermittlungen in den Königsberger Mordfällen.« Das Lächeln verschwand von ihren Lippen. »Und was wollen Sie von mir?« »Bringen Sie einen Stuhl. Ich glaube, Sie haben uns einiges zu erzählen.« Ihre weißen Wimpern flatterten verärgert, als sie einen wackeligen Hocker mit ausgefranster Flechtsitzfläche aus einer dunklen, staubigen Ecke holte. Ich sah mich im Licht der Kerze um. Wir hätten uns gut und
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gerne in einem heidnischen Tempel oder im Zelt von einem jener Medizinmänner befinden können, über die Amerikareisende berichteten. Überall hingen Tierschädel, Walfischknochen, Treibgut und andere merkwürdige Dinge, deren Zweck ich nicht erraten konnte. Eine rauchgeschwärzte Wand war mit eingeritzten Abbildungen von Paaren geschmückt, die in unterschiedlichen Stellungen kopulierten und sich lustvoll aneinanderzudrücken schienen, sobald ich die Kerze bewegte. Verlegen wandte ich den Blick ab. Die Frau deutete auf den Hocker. »Der ist für Sie«, sagte ich. »Setzen Sie sich, Anna Rostova. So heißen Sie doch, habe ich recht?« Sie nahm Platz, ohne meine Frage zu beantworten. »Vor einem Jahr entdeckten Sie eine Leiche«, fuhr ich fort. »Der Schmied Jan Konnen war das erste von vier Opfern eines bis jetzt nicht gefassten Mörders. Lublinsky behauptet, Sie hätten etwas Wichtiges am Tatort gefunden und mitgenommen. Soweit ich weiß, hat er den Gegenstand seitdem mehr als einmal bei Ihnen gesehen.« »Dir ist hoffentlich klar, was das bedeutet?«, zischte sie wie eine Schlange zu Lublinsky hinüber. »Sie reden mit mir«, herrschte ich sie an, »mit niemandem sonst!« »Kein Mädel wird dich mehr eines Blickes würdigen, Soldat«, fuhr sie, ungeachtet meiner Ermahnung, fort. »In dein hässliches Gesicht werden dir die Frauen kotzen.« »Was haben Sie bei Jan Konnen gefunden?« »Mütter werden ihren Kindern mit dir Angst einjagen«, erklärte sie, die glänzenden, fast durchscheinenden
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Augen fest auf Lublinsky gerichtet. »Das Ungeheuer mit der Fratze kommt dich besuchen, wenn du nicht sofort schläfst, werden sie sagen …« Ich gab ihr eine schallende Ohrfeige. »Halten Sie den Mund!«, schrie ich sie an. Da sah sie mir tief in die Augen und strich verzückt über ihre Wange. »Mmm, das war schön«, gurrte sie lächelnd. »Na, Ihnen gefällt’s wohl, Mädchen wehzutun, nicht wahr?« Ihre feuchte rosa Zunge huschte über ihre weißen Lippen. »Wollen Sie sich das Vergnügen gönnen, mich auspeitschen zu lassen?«, fragte sie mit einem anzüglichen Grinsen. »Letztes Mal waren’s dreißig Hiebe. Hat die Herren mächtig erregt, als meine weiße Haut zu bluten anfing. Wollen Sie das auch sehen, mein Herr?« Sie lachte laut auf. »Preußen, Heimat von Peitsche und Stock.« Ich wandte mich ab. Mein Blick streifte Koch, der verwirrt wirkte. Lublinsky hatte sich in die hinterste Ecke zurückgezogen, wo er heftig zitternd mit gesenktem Kopf kauerte. »Was haben Sie von der Leiche entfernt?«, wiederholte ich, meine Wut unterdrückend. Die Frau musterte mich herausfordernd. Ihre geweiteten hellgrauen Pupillen glänzten, als belustigte die Situation sie. »Der Trottel hat’s Ihnen doch schon erzählt, oder?« »Ich kann Sie zum Sprechen bringen, Anna Rostova.« Sie kicherte. »Sie sind mir ein rechter Grobian. Mag Ihre Frau das?« Ihr Gesichtsausdruck hatte etwas Lüsternes, Verschlagenes. »Wollen Sie Ihren Johannes mit der Klaue des Teufels liebkosen? Würde Ihnen das gefal-
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len? Sie hat den Mann am Hafen und die anderen umgebracht, aber es gibt bedeutend angenehmere Arten zu sterben …« Ihre Katzenaugen leuchteten hell. Ich hatte noch nie mit einer solchen Frau zu tun gehabt. »Sie haben nichts zu befürchten, wenn Sie die Wahrheit sagen«, log ich, meine Verwirrung nur mühsam im Zaum haltend. Sie lachte schrill. »Die Wahrheit, mein Herr? Nun … In der Nacht hab ich in Löbenicht geschlafen.« »Wo?« »Eine üble Gegend in der Nähe vom Hafen, nicht weit vom ›Walfänger‹«, klärte Koch mich auf. »Bei einer Frau in der Wassermannstraße hatten die Wehen eingesetzt, aber weil’s noch nicht so weit war, hab ich eine Freundin in der Nähe besucht, bin ein paar Stunden bei ihr geblieben und dann wieder zu der Schwangeren zurück, um ihr bei der Geburt zu helfen.« »Wann sind Sie von Ihrer Freundin weggegangen?« »Nach drei. Zur Stärkung hatte ich was getrunken, denn es war kalt in dieser Nacht. Ein guter Tropfen hin und wieder ist nicht zu verachten. Außerdem wusste ich ja, was mir bevorstand: Ein kreischendes Weib, ein besoffener Mann und ein brüllendes blutiges Balg. Unterwegs hab ich leise vor mich hingebetet, dass nichts schief geht.« »Gebetet?« Aus ihrem Munde klang das Wort fast schon obszön. »Ja, ich bete zu Gott«, sagte sie lächelnd. »Und zum Teufel. Die streiten sich nämlich um die Neugeborenen. Manchmal gewinnt der eine, manchmal der andere.
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Aber als Erstes bete ich zu Gott. Für mich ist es nicht gut, wenn er verliert. Stirbt ein Kind, bleiben die Kunden weg. In diesem Gewerbe ist der Ruf alles.« »Und was sahen Sie, als Sie durch die Straßen gingen?«, fiel ich ihr ins Wort. »Keine Menschenseele, nicht mal ’nen Betrunkenen, und auch keine Gendarmen weit und breit. Niemanden, bis ich am Hafen war. Die Lichter am Kai hatte fast alle der Wind ausgeblasen. Als ich den knienden Mann entdeckte, dachte ich, der betet wie ich. Aber es war ein seltsamer Ort zum Beten. Außerdem brach gerade die Morgendämmerung herein, das ist die kälteste Zeit in der Nacht. Ich ging ein Stück auf ihn zu und da hab ich gemerkt, dass was nicht stimmt. Und ich hab das Böse gerochen.« Sie rümpfte die Nase und entblößte ihre ebenmäßigen perlweißen Zähne. »Könnten Sie das genauer erklären?« »Schwefel, Feuer, der Gestank des Teufels …« »Stehlen Sie mir nicht die Zeit«, warnte ich sie. »Erzählen Sie, was Sie sahen.« »Der Mann war tot.« »Sie haben ›das Böse‹ gerochen, zudem war der Mann tot, und trotzdem sind Sie auf die Leiche zugegangen. Warum haben Sie nicht zuerst Hilfe geholt?« Sie starrte mich eine Weile unverwandt an. »Die Toten sind etwas ganz Besonderes«, murmelte sie schließlich voller Ehrfurcht. »Aber Sie wissen das ja, nicht wahr? Sie haben viele Leichen gesehen. Der Körper der Toten befindet sich noch in dieser Welt, während ihre Seele bereits an einem anderen Ort wandelt. Sie wissen Bescheid, das spüre ich …«
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»Nun entpuppen Sie sich auch noch als Poetin«, unterbrach ich sie und fügte barsch hinzu: »Sagen Sie mir, was Sie von der Leiche entfernten.« Sie wandte sich zu Lublinsky um und verfluchte ihn. Ich packte sie an den Haaren und drehte sie wieder zu mir herum. »Ich kann Sie auch in eine Zelle sperren!«, schrie ich. »Das machen Sie doch sowieso!«, kreischte sie. »Aber dieses Schwein da drüben wird in der Hölle schmoren. Ich werde mit dem Teufel sprechen …« »Vergessen Sie den Teufel!«, brüllte ich und zerrte noch kräftiger an ihren Haaren, bis sie aufjaulte. »Was haben Sie von der Leiche entfernt?« »Das Ding ragte aus seinem Nacken raus«, zischte sie. »Zuerst dachte ich, es ist ein Dolch, aber dann hab ich gesehen, was es war.« »Weiter!«, drängte ich sie. »Lassen Sie mich los!«, kreischte sie und versuchte, meine Hände aus ihren Haaren zu lösen. »Ich erzähle Ihnen alles! Wirklich …« Ich ließ los, und sie sah mir in die Augen. Ihr Zorn auf Lublinsky war erloschen; sie schien in sich zusammenzusinken. »Ein mächtiger Talisman«, flüsterte sie. »Der Mann war tot, kalt, die Waffe steckte noch in seinem Nacken, aber nirgends sah ich einen Tropfen Blut. Wer außer dem Teufel wäre dazu in der Lage? Ich hatte zu Gott gebetet, aber der Satan antwortete. Das war ein Zeichen. Der Teufel wollte, dass ich die Leiche finde, er wollte mir seine Macht über Leben und Tod demonstrieren. Wenn ein Kind geboren wird, muss ein anderer Mensch die Erde verlassen. Das Ding war ein
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Geschenk des Satans, und ich hab es an mich genommen.« »Sie haben die Polizei nicht benachrichtigt?«, fragte ich. Die Frau zuckte mit den Achseln, warf ihre Silberlocken zurück und funkelte mich an. »Die Klaue des Teufels war für mich bestimmt. Andere finden, was ihnen zugedacht ist.« »Aber die Morde gingen weiter«, erwiderte ich. »Sie wussten doch, dass die Polizei nach der Waffe sucht.« Sie sah hinüber zu Lublinsky. »Ich hatte Besseres zu tun.« »Sie haben ihn informiert«, sagte ich. »Und ihn mit der Macht, die die Klaue des Teufels Ihnen Ihrer Ansicht nach verlieh, an der Ausübung seiner Pflicht gehindert. Sie versprachen ihm, sein Gesicht wieder ansehnlich zu machen, habe ich recht?« Anna Rostova antwortete mit einem verächtlichen Lachen. »Sein Aussehen war ihm wichtiger als das Gesetz. Ich hab ihm von meinem Fund erzählt, und er hat beschlossen, nichts zu melden. Das muss er mit seinem eigenen Gewissen abmachen …« »Zeigen Sie mir die Klaue des Teufels, Anna Rostova.« Sie sah mich unsicher an. »Glauben Sie mir …« »Bringen Sie sie her«, herrschte ich sie an. Als ich mich drohend über sie beugte, vollzog sie einen merkwürdigen Wandel: Plötzlich wurde sie zur willfährigen Verführerin. Mit den Fingern strich sie sich über die nackte weiße Haut über ihren Brüsten, und ein verschlagenes Lächeln trat auf ihre Lippen, während sie
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sich erhob. »Sie erlauben«, flüsterte sie mir ins Ohr, und dabei berührte ihr Haar meine Wange. Nach einem tiefen Blick in meine Augen zog sie sich in den dunkelsten Winkel des Raumes hinter einen dünnen Vorhang zurück, wo sie fluchend herumzusuchen begann. Koch und ich sahen einander an. Wenig später trat sie hinter dem Vorhang hervor und überreichte mir mit einer ehrfurchtsvollen Verneigung ein Bündel verblichenen, mit Schimmelflecken übersäten Stoffs. Ich schlüpfte aus den Handschuhen, um die Bänder besser lösen zu können. Während ich den Stoff auseinanderschlug, begann meine linke Wange heftig zu zucken. Und dann plötzlich sah ich das Ding: zwanzig Zentimeter lang, beinfarben, schmal und gerade, anders als jedes mir bekannte Mordinstrument. Ich reichte es Koch, der es ins Licht hielt und wie ein exotisches Artefakt betrachtete. »Eine Nadel, Herr Prokurator«, sagte er. »Ohne Öhr, und die Spitze ist auch nicht mehr dran.« Ich drehte das Ding zwischen meinen Fingern. Hier also war die Waffe, die die Stadt in Angst und Schrecken versetzte. Bei dem Fragment von Professor Kant handelte es sich um die Spitze des Objekts, daran bestand kein Zweifel. In einem Nähkästchen wäre es nicht aufgefallen, aber im Nacken eines Toten besaß es mysteriöse Macht. »In jener Nacht brachte die schwangere Frau einen hübschen kleinen Jungen zur Welt«, murmelte Anna Rostova zufrieden. »Während der Wehen habe ich sie mit der Klaue gestochen, dreimal ins Gesicht, dreimal in den Bauch, und das Kind hat überlebt, obwohl es mit
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der Nabelschnur um den Hals zur Welt kam. Satan hat es gerettet. Mit der Macht der Klaue habe ich alle möglichen Krankheiten kuriert, an die die Ärzte sich nicht herantrauen. Und die Schwangeren strömten in Scharen zu mir …« Ein Stöhnen entrang sich Lublinskys Kehle. »Du hast gewusst, dass sie mir nicht helfen würde«, rief er noch, dicht an die Wand gedrängt wie ein in die Enge getriebenes Tier, bevor er versuchte, sich auf Anna Rostova zu stürzen. »Sehen Sie sich vor, Lublinsky! Sie sind ein Offizier Seiner Majestät!«, ermahnte ich ihn, trat ihm in den Weg und schob ihn beiseite. »Sie wollte mir nur helfen, wenn ich den Mund halte«, wimmerte er wie ein waidwundes Tier. »Sie saugt sie aus. Schwangere, alte Männer, die keinen mehr hochkriegen, verkrüppelte Kinder. Die Weiße Hexe nennen sie sie. Schauen Sie mal ins Hinterzimmer, Herr Prokurator. Da wird Ihnen übel. Sehen Sie sich an, womit Anna Rostova sich ihr Geld verdient!« Ich legte die Nadel auf den Tisch, griff nach der Kerze, durchquerte den Raum und zog den Vorhang zurück. Staub wirbelte auf, und grässlicher Gestank schlug mir entgegen. Ich hielt mir den Mantel vor die Nase und beleuchtete mit der Kerze einen schmutzverkrusteten, mit rostroten Flecken übersäten Tisch an der Wand, auf dem unterschiedlich lange, blutverschmierte Messer der Größe nach geordnet wie für ein chirurgisches Experiment bereitlagen. Auf einem schmalen Fach darüber standen schmuddelige Messingtöpfe und -pfannen, die matt im Lichtschein schimmerten.
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Ich nahm einen der Töpfe in die Hand und warf einen Blick hinein. Darin befand sich etwas, das süßlich nach Fäulnis stank und aussah wie ein seltsam zugerichteter Rettich, vielleicht auch wie eine fette Made in einer Gelatinehülle, ein weißer Wurm mit allerlei Beulen und Auswüchsen. Als ich jedoch die Kerze näher hielt, hätte ich fast den Topf fallen gelassen. Denn es handelte sich weder um einen Rettich noch um einen Wurm, sondern um einen Fötus mit winzigen ausgestreckten Armen und einem riesigen, auf die Brust gesenkten Kopf. Ich musste nicht in die anderen Gefäße schauen, um zu wissen, was sich in diesem Haus abspielte. Mit geschlossenen Augen wich ich zurück. »Eine Engelmacherin ist sie, Herr Prokurator!«, rief hinter mir Lublinsky. Die eine Hälfte seines entstellten Gesichts lag im Licht, die andere im Schatten. »Du hast ’nen Balg im Bauch und willst ihn nicht? Da hilft die Klaue des Teufels, sagt sie. Fragen Sie die Nutten draußen am Haff. Die kommen immer her, wenn ihnen die Natur einen Streich spielt …« »Verdammter Lügner!«, kreischte Anna Rostova und stürzte sich mit geballten Fäusten auf ihn. »Deine hässliche Fratze wirst du auch in der Hölle nicht los!« Lublinsky schrie auf wie ein Schwein beim Schlachter, bevor er zu Boden fiel, die Hände gegen das Gesicht gepresst. Zwischen seinen Fingern ragte die Klaue des Teufels heraus, Blut floss über seine Wangen und seinen Hals. Koch kniete neben Lublinsky nieder, der flach auf dem Rücken lag und vor Schmerz mit den Füßen auf den Boden trampelte. Entschlossen beugte sich mein Assis-
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tent über ihn und zog die Nadel heraus. Eine Blutfontäne ergoss sich über sein Gesicht und seine Hände. Lublinsky zuckte kurz, bevor sein Körper erschlaffte. Koch rief nach dem Kutscher, und zu zweit trugen sie den verletzten Soldaten im Laufschritt hinaus. Ich verfolgte das Geschehen in einem Zustand der Erstarrung. Als ich aus meiner Trance erwachte, war Anna Rostova verschwunden. Koch rief, ich solle zu ihm herauskommen und die Tür der Kutsche öffnen. »Wir brauchen einen Arzt, Herr Prokurator!«, drängte er. »Ohne Hilfe verblutet er.« Hastig kletterten wir in die Kutsche und holperten über die dunkle Straße voller Schlaglöcher zurück. Erst nach einer ganzen Weile kamen die Lichter der Stadt in Sicht. »Ist er noch am Leben?«, fragte ich voller Verzweiflung, als mein Blick auf den schlaffen Körper Lublinskys neben mir fiel. Koch antwortete erst, nachdem wir das Schlosstor passiert hatten. »Wir bringen ihn ins Krankenrevier. Laufen Sie unterdessen hinüber zum Wachhäuschen, Herr Prokurator, und beordern Sie die Soldaten zu der Hexe. Wir müssen sie verhaften«, sagte Koch, ganz Herr der Lage. Dann wandte er sich von mir ab und dem Kutscher zu. »Helfen Sie mir!«, herrschte er ihn an. Ich tat, wie mir geheißen, und rannte fast blind durch den Nebel, betend, dass ich in die richtige Richtung lief. Dabei hielt ich die Hand fest um die von Lublinskys Blut feuchte Nadel geballt, die ich die ganze Fahrt über in der Faust gehabt hatte, ohne es zu merken.
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XIX
I
m Zimmer der Wachen nippte ich an einem Glas heißen Weins, während ich auf Wachtmeister Stadtschen wartete. Sobald dieser hereinstürzte, berichtete ich ihm, was geschehen war, und wies ihn an, eine bewaffnete Patrouille auszuschicken. »Wie sieht die Frau aus, Herr Prokurator?« »Sie ist groß gewachsen, um die dreißig, und sie trägt … ein rotes Kleid«, antwortete ich. Warum begann ich mit solchen Nebensächlichkeiten und beschrieb nicht das, was sie von allen anderen abhob? »Sie … heißt Rostova«, fügte ich hinzu. »Und sie ist ein Albino.« »Ein was, Herr Prokurator?« »Sie ist weiß, am ganzen Körper«, erklärte ich zögernd. »Weiße Haut, weiße Lippen, weiße Haare. Weiß wie Mehl.« »Ach, die kenne ich«, meinte Stadtschen mit einem anzüglichen Grinsen. »Sie nennt sich Anna.« »Ihre Männer dürfen ihr kein Haar krümmen«, sagte ich mit strengem Gesicht. »Dafür bürgen Sie mir persönlich. Gerta Totz hat sich gestern nach der rauen Behandlung, die Sie und Ihre Leute ihr angedeihen ließen, umgebracht. Holen Sie Anna Rostova gesund und unversehrt hierher, verstanden?«
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Stadtschen straffte die Schultern. »So etwas passiert, Herr Prokurator. Meine Leute bereiten allen Neuankömmlingen einen denkwürdigen Empfang, um sie gesprächiger zu machen. Damit hat es schon seine Ordnung. Und egal, ob die Gefangenen schuldig sind oder nicht: Vor ihrer Entlassung kriegen sie alle noch eine Abreibung.« Bei dem Gedanken, dass Anna Rostova den Soldaten in die Hände fallen könnte, zuckte ich zusammen. »Preußen, Heimat von Peitsche und Stock«, hatte sie keine zwei Stunden zuvor gespottet. Wie würden die Soldaten auf ihre exotische Schönheit, ihre spitze Zunge und die Tatsache reagieren, dass sie eine stadtbekannte Nutte war? – »… das letzte Mal waren’s dreißig Hiebe. Hat die Herren mächtig erregt, als meine weiße Haut zu bluten anfing.« Mit Glacéhandschuhen würden sie sie nicht anfassen, da war ich mir sicher. »Ich weiß, wie barbarisch es in preußischen Gefängnissen zugeht«, sagte ich. »In diesem Fall darf so etwas nicht passieren.« Ein Lächeln spielte um Stadtschens Lippen. »Sie sind auch nicht gerade sanft mit dieser Gerta Totz umgesprungen, Herr Prokurator. War ein ordentlicher Fausthieb, den sie ihr da verpasst haben, würde ich sagen.« »Den bereue ich bereits«, erwiderte ich. »Wenn sie gestorben ist«, entgegnete Stadtschen mit gesenktem Blick, »dann deswegen, weil Sie uns keine genauen Anweisungen gegeben haben.« »Aber jetzt bekommen Sie sie!«, betonte ich. »Anna Rostova darf kein Haar gekrümmt werden.« Stadtschen schlug verwirrt die Hacken zusammen. In
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seinen Augen war Anna Rostova eine gemeine Verbrecherin, und darüber, wie man mit Leuten ihres Kalibers verfuhr, hatte er genaue Vorstellungen. Fast beneidete ich ihn um seine klare Weltsicht. »Eins noch, bevor Sie sich auf den Weg machen«, sagte ich. »Vor ein paar Monaten ist ein gewisser Kopka desertiert. Ich will seine Akten einsehen.« Stadtschen runzelte die Stirn und räusperte sich. Auf sein Gesicht trat ein kummervoller Ausdruck. Er antwortete nur zögernd: »Nun, das könnte schwierig werden, Herr Prokurator. Sie wissen ja, wie Deserteure sind. Sie bemühen sich, keine Spuren zu hinterlassen. Was genau wollen Sie über diesen Kopka wissen?« »Ich möchte mehr über seine Person erfahren und warum er desertiert ist. Und vergessen Sie eins nicht, Stadtschen: Jede Kooperationsverweigerung hier in Königsberg muss ich den Behörden in Berlin melden. Schicken Sie jetzt Ihre Männer auf die Suche nach dieser Frau und besorgen Sie mir alle Informationen über Kopka, die Sie haben. Sie finden mich in meinem Zimmer. Sagen Sie Koch, dass er zu mir heraufkommen soll, sobald er wieder da ist. Wenn Sie Anna Rostova aufgespürt haben, möchte ich umgehend informiert werden. Verstanden?« »Ja, Herr Prokurator«, bellte Stadtschen, drehte sich um und marschierte zur Tür. »Und zwar schnell!«, rief ich ihm nach. Ich hörte, wie er draußen auf dem Flur in Trab verfiel. Nachdem ich das Glas mit dem süßen, inzwischen lauwarmen Wein geleert hatte, zog ich mich mit einer Öllampe in meine Räumlichkeiten zurück. Noch während ich die Tür öffnete, fiel mein Blick auf einen ordent-
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lich gefalteten, versiegelten Brief, der an einem Kerzenhalter auf dem Tisch lehnte. Die Schrift darauf erkannte ich sofort. Unter anderen Umständen hätte ich das Siegel voller Freude erbrochen, doch nun zögerte ich und blinzelte wie ein Genesender, der zum ersten Mal nach Wochen auf dem Krankenlager die Sonne auf dem Gesicht spürt. Ich setzte mich, um den Umschlag zu öffnen. Helena hatte beschlossen, Ruisling zu besuchen, die Kinder in Lottes Obhut gelassen und war am Morgen allein in der Kutsche aufgebrochen. Ruisling lag etwa fünfzehn Meilen von Lotingen entfernt, eine Fahrt, die wenig mehr als eine Stunde in Anspruch nahm. Zweck dieses Ausflugs, schrieb sie, sei es gewesen, »die Geister der Vergangenheit zu bannen«. Helena war unverbesserlich sentimental und aufrichtig, sie hatte ein offenes Wesen und ein zartes Gemüt. Meiner Ansicht nach zeichneten sie besonders ihre Feinfühligkeit gegenüber den Bedürfnissen anderer sowie ihre leidenschaftliche Besorgnis um alle Kreaturen aus. Sie ließ sich nur von ihrem Herzen leiten. Doch die Vorstellung, dass meine Frau vor dem Grab meines Bruders stand, jener dunklen Grube, in der meine eigene Seele verscharrt lag, empfand ich fast als unerträglich. »Ich wollte ein Gebet am Grab von Stefan sprechen«, schrieb sie, »und ihn bitten, während Deines Aufenthalts in Königsberg über Dich zu wachen. Was gibt es für eine bessere Möglichkeit, mit der Vergangenheit Frieden zu schließen, als einen schwesterlichen Kuss an seiner letzten Ruhestätte zu hinterlassen.« Noch bevor ich die folgenden Worte las, wusste ich,
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was geschehen war: Schwarz gekleidet, den Hut in der Hand, hatte mein Vater vor dem weinenden Engel gestanden, der das Familiengrab zierte. Jeden Morgen verbrachte er dort die Stunde zwischen elf und zwölf. Ich wusste gleich, dass er es war, ging zu ihm, stellte mich vor und erklärte ihm den Grund meines Besuches. Dann erzählte ich ihm, wo Du bist und dass Seine Majestät Dich abberufen hat. ›Sie können stolz sein auf Hanno‹, sagte ich. ›Ihr Sohn hat einen sehr wichtigen Auftrag erhalten.‹ Ich konnte mir die Szene gut vorstellen: Auf der einen Seite Helenas Lebhaftigkeit und Freundlichkeit, auf der anderen die versteinerte Miene des Mannes, dessen Lenden ich entsprungen war, des Mannes, der mir die Schuld gab für den Tod seiner geliebten Frau und seines Lieblingssohnes und der mich verstoßen hatte. Mein Vater hatte sich Helenas Bitte um Versöhnung schweigend angehört und dann, bevor er sich zum Gehen wandte, gesagt: »Verlassen Sie Hanno, solange es möglich ist.« Während ich die Worte auf dem Papier anstarrte, klang die Stimme meines Vaters hart und unversöhnlich in meinen Ohren. »Wie kann ein Vater nur so hassen?«, schrieb Helena. »Wofür gibt er dir die Schuld, Hanno?« Ich knüllte den Brief zusammen und ließ ihn auf den Tisch fallen. Das Verhalten meines Vaters, der frühe Tod meines Bruders, das Ableben meiner Mutter, Helena, unsere Kinder – das alles schien plötzlich einer anderen Welt anzugehören. Ich wusste, dass auch ich Teil davon
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war, aber meine Erinnerung daran verblasste rasch. Königsberg präsentierte sich mir wie ein wirbelndes Kaleidoskop, dessen Bilder sich ständig veränderten und nicht festhalten ließen. Ich brauchte Ruhe und Schlaf, doch der dunkle Raum, in dem ich mich befand, bot keinen Trost. Die nackten Steinwände waren kalt wie Eis, der Ofen in der Ecke nicht angezündet. Wie sehr mir der gemütliche Kamin im ›Walfänger‹, das heiße Wasser, das Morik mir zum Waschen gebracht hatte, die köstlichen Mahlzeiten von Gerta Totz und der Weinkeller von Ulrich Totz nun fehlten! Ich öffnete meine Pantalons und nutzte das Einzige, was mir hier zur Verfügung stand, den Nachttopf, der unter der Pritsche hervorlugte. Nachdem ich mich erleichtert hatte, nahm ich das schmutzige Tuch mit der Klaue des Teufels aus der Tasche, schlug es auseinander und legte es neben die Lampe auf den Tisch. Während ich die Klaue anstarrte, gingen mir allerlei Fragen durch den Kopf: Woher stammte sie? Warum hatte der Mörder eine so ungewöhnliche Waffe gewählt? In meinem Kopf hörte ich die Stimme Sergeant Kochs: »Sie haben den Mörder gefunden, Herr Prokurator.« Hatte Anna Rostova die Morde begangen? Wenn ja, wären meine eigenen Probleme und die von Königsberg bald gelöst. Natürlich sehnte ich mich danach, den Schuldigen aufzuspüren, aber eigentlich wollte ich Anna Rostova gar nicht zu fassen bekommen. Dass Totz und seine Frau das Zeitliche gesegnet hatten, war meine Schuld gewesen. Stadtschen hatte seine Männer in Schutz genommen, wie jeder Offizier es tun würde. Dennoch stimmte es, dass ich die Gefangenen nicht vor
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Schaden bewahrt und Kochs Warnungen missachtet hatte. Und nun hetzte ich die Bluthunde auf Anna Rostova. Egal, wohin ich blickte – ich dachte an Morik, an Lublinsky, meinen Vater, meine Mutter und meinen Bruder: Ich brachte Unglück über die Menschen. Genau wie der Mörder, den ich fangen wollte … Ich musste an die Albino-Frau denken, an ihre wilde Silbermähne, ihre frostweiße Haut, das Funkeln ihrer Augen, ihre sinnlichen Lippen. Daran, wie ihre Finger über ihren üppigen Busen geglitten waren. Mit denselben Fingern hatte sie die Klaue des Teufels in Lublinskys Gesicht gerammt. Ich hatte sie geschlagen, ihre Haut berührt. Wie spielerisch sie mit meiner Wut umgegangen war! Sie besaß eine gefährliche Schönheit. Anna Rostova … sogar ihr Name hatte einen magischen Klang. Das musste die Faszination des Bösen sein. Ich sank auf die Pritsche. Erregende Bilder von ihr zogen vor meinem geistigen Auge auf, und ich versuchte, das Gesicht von Helena heraufzubeschwören, das ich streichelte. Sie erwiderte meine Liebkosungen – mein Leben, meine Frau … Doch dort drüben auf dem Tisch lag die Klaue des Teufels, und die Phantasien, die sie weckte, waren viel stärker und vergifteten meine Seele. Mit einem Ruck setzte ich mich auf und presste die Knöchel meiner Hände gegen die Augen. Lublinsky hatte Anna Rostova als Hexe bezeichnet. Hatte er recht? Hatte sie mich verhext? Warum sonst wollte ich sie unbedingt schützen? »Beweise«, sagte ich mehrmals laut. Ich brauchte Beweise für ihre Schuld. Und solange ich die nicht hatte, würde ihr kein Haar gekrümmt.
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Ich erhob mich, ging zum Tisch, setzte mich und begann einen Brief an Helena zu formulieren. Ich weiß nicht mehr genau, was ich mit zitternder Hand schrieb, nur noch, dass sich meine Gedanken sehr rasch aufs Papier ergossen, als wollte ich mich von meiner inneren Unruhe befreien. Schließlich unterzeichnete ich den Brief, versiegelte ihn, öffnete die Tür und rief den Wachmann vom anderen Ende des Korridors herbei. Seine Finger waren blau gefroren, und seine grünen Augen tränten von dem Wind, der durch den Eingang pfiff. »Ja, Herr Prokurator?« Ich streckte ihm den Brief entgegen. »Der muss nach Lotingen. Umgehend.« Warum die Eile?, fragte ich mich. Nun, ich wollte Helena mitteilen, dass ich vorankäme mit meinen Ermittlungen, dass ich bald zu Hause wäre, dass in Kürze alles wieder seinen normalen Gang gehen werde, dass es keine Morde mehr gäbe, Königsberg nur noch eine vage Erinnerung wäre, genau wie Vigilantius und die Glasbehälter mit den Köpfen, wie Lublinsky … sie alle ein Traum aus der Vergangenheit. Und was war mit Anna Rostova? Falls sie sich tatsächlich als die Mörderin entpuppte, würde ich ihr Todesurteil mit Freuden unterzeichnen. Falls, falls, falls … »Herr Prokurator?« Der Soldat starrte mich an. Wie lange hatte ich wohl so dagestanden, den Brief in der Hand? »Er ist sehr dringend«, erklärte ich noch einmal und überließ ihm das Schreiben. Nachdem ich ihm mit den Augen bis zum Ende des Korridors gefolgt war, schloss ich die Tür und legte mich wieder auf die Pritsche. Aber der Schlaf wollte sich nicht
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einstellen, weil mir zahllose Gedanken durch den Kopf gingen. Trotz allem, was Lublinsky mir gestanden hatte, trotz Anna Rostovas Angriff gegen ihn, trotz der Waffe, die sie versteckt hatte – wie konnte ich sicher sein, dass sie die Mörderin war? Vielleicht glaubte Lublinsky ja tatsächlich, dass ihn die Klaue des Teufels von seiner Entstellung befreien würde, aber tat Anna Rostova es? Als Engelmacherin, Hure und Geschöpf der Unterwelt lebte sie davon, den Leuten etwas vorzugaukeln. Wieso sollte sie eine Gans schlachten, die goldene Eier legt? Was nutzte es ihr, wenn die Bewohner von Königsberg vor Angst zitterten? Koch hatte etwas von einem Bund mit dem Teufel als möglichem Motiv gemurmelt. Aber Anna Rostova arbeitete mit Aberglauben und Magie, sie waren der Eckpfeiler ihres Einkommens. Vom Tod eines Menschen profitierte sie nicht. Falls es ihr nicht ums Gold ging, schloss ich, blieb nur noch ihr schlechter Charakter als Erklärung, und dann würde ich sie öffentlich des Verkehrs mit dem Satan beschuldigen müssen, wie ein Magistrat des Mittelalters. Meine Zunftgenossen hatten den Anweisungen aus dem »Hexenhammer« des Dominikaners Institoris folgend zahllose Frauen zur Folter durch den Tauchstuhl verurteilt und sie im geheiligten Namen der Religion auf öffentlichen Plätzen verbrennen lassen. Ich wäre verpflichtet, im Namen Preußens das Gleiche zu tun. Wollte ich in die Geschichte eingehen als »Stiffeniis, der Hexenjäger der Aufklärung«? Da klopfte es an der Tür, und ich richtete mich auf, erleichtert darüber, von meinen quälenden Gedanken abgelenkt zu werden.
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XX
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achtmeister Stadtschen trat mit undurchdringlicher Miene ein. »Haben sie sie gefunden?«, erkundigte ich mich. Er schüttelte den Kopf, holte eine braune Aktenmappe aus Pappe hinter seinem Rücken hervor und streckte sie mir entgegen. »Die Unterlagen über Kopka, Herr Prokurator.« »Dann hatten Sie also keine Probleme, die Informationen zu beschaffen?« Er wandte den Blick ab. »Lange musste ich nicht suchen.« »Umso besser.« Mit gesenktem Kopf fügte er hinzu: »Ich kannte Rudolph Kopka, und ich wusste genau, wo ich die Unterlagen finden würde, als Sie sagten, er sei desertiert.« Seine Anspannung war nun deutlich sichtbar. »Und wo, Stadtschen?« »In der Akte mit den Einträgen zu den toten Soldaten, Herr Prokurator.« »Wieso denn das? Ich dachte, Kopka sei desertiert?« »Ja, Herr Prokurator …« »Es kam zu einer Gerichtsverhandlung?« Er schüttelte den Kopf und lächelte müde. »Das würde ich nicht sagen, Herr Prokurator.«
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Ich nahm ihm die Mappe aus der Hand und setzte mich aufs Bett, um die drei Seiten, die sich darin befanden, zu überfliegen. BERICHT Am Morgen des 26. d. M. wurde Rudolph Aleph Kopka, der sich unerlaubt von der Dritten Gendarmerie entfernt hatte, von einer Suchmannschaft im Wald südwestlich von Königsberg aufgegriffen. Zu diesem Zeitpunkt war er seit vier Tagen abgängig. Bisher ist keinerlei Motiv für seine Abwesenheit bekannt. Bei der Befragung durch Leutnant T. Stauffeln konnte Subalternoffizier Kopka keine Gründe für sein Handeln angeben. Der Gefängnisarzt Colonel Franzich stellt in seinem Bericht fest, dass der Kehlkopf des Gefangenen durch einen heftigen Schlag gegen den Hals eingedrückt wurde. Der Leiter der Suchmannschaft sagt aus, der Gefangene sei während der Verfolgungsjagd durch einen tief hängenden Ast vom Pferd gerissen worden. Kopka verbleibt im Lazarett des Festungsschlosses, bis eine Aussage möglich ist, dann findet eine militärgerichtliche Verhandlung statt. Hauptmann Ertensmeyer, Kompaniekommandant Das zweite Blatt bestätigte die medizinische Diagnose: »Eingedrückter Kehlkopf aufgrund eines heftigen Schlages gegen den Hals.« Unterzeichnet vom Regimentsarzt. Bei dem dritten Dokument handelte es sich um die Sterbeurkunde, unterzeichnet vom selben Arzt und bezeugt
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wiederum von Hauptmann Ertensmeyer: »Der Gefangene erlag seinen Verletzungen.« Erneut verblüffte mich die Unvollständigkeit der Dokumente. Sie ergaben für mich nicht mehr als ein lückenhaftes Mosaik. Wer zum Beispiel war der mysteriöse Leiter der Suchmannschaft? Warum wurde sein Name nicht genannt? »Wer hat die Suchmannschaft angeführt, Stadtschen?« »Ich weiß es nicht, Herr Prokurator.« »Ist Kopka im Gefängnis gestorben?«, fragte ich, die Papiere beiseitelegend. »So kann man es ausdrücken, Herr Prokurator«, antwortete Stadtschen. »Was soll das heißen?«, herrschte ich ihn an. »Ja, Herr Prokurator.« »An der Kehlkopfverletzung?«, fragte ich. »Oder war da noch etwas anderes?« Stadtschens Blick wanderte zur Wand und dann die Decke hinauf. »Ja, Herr Prokurator«, sagte er mit ausdrucksloser Miene. Ich begann im Raum auf- und abzumarschieren. »Was genau sind die Folgen, wenn ein Soldat desertiert, Stadtschen? Vorhin sagten Sie, die Einberufung eines Militärgerichts sei nicht sehr wahrscheinlich. Also, was geschieht?« Stadtschen sah weiter zur Decke hinauf. »Heraus mit der Sprache«, knurrte ich. »Hier geht es nicht um militärisches Prozedere. Mich interessieren nur die Morde an unbescholtenen Zivilisten. Was passiert mit einem Deserteur, der gefangen wird?«
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Stadtschen hüstelte. »Er wird nicht vor ein Militärgericht gestellt, Herr Prokurator. Da er seinem Regiment Schande gemacht hat, wird er von den Angehörigen dieses Regiments bestraft, die stolz sind, ihre Uniform zu tragen.« »Und wie?« Stadtschen stieß einen lauten Seufzer aus. »Die Soldaten stellen sich in zwei gegenüberstehenden Reihen auf. Der Verräter wird gezwungen, dazwischen hindurchzugehen.« »Klingt nicht allzu schlimm«, sagte ich, nachdem er verstummt war. »Jeder Soldat hat einen Knüppel in der Hand«, fügte Stadtschen widerwillig hinzu. »Und er zögert nicht, ihn zu gebrauchen.« »Mit anderen Worten: Kopka wurde zu Tode geprügelt?« Stadtschen starrte schweigend geradeaus. Erst nach einer ganzen Weile begann er kaum merklich zu nicken. »Und der Leiter der Suchmannschaft beaufsichtigt diese Strafaktion?« Nun kam die Antwort rasch. »Höchstwahrscheinlich, Herr Prokurator. In Fällen wie diesem werden kaum jemals Namen erwähnt.« »Die Behörden haben Kenntnis von dieser Praxis, nehme ich an?« Noch einmal nahm ich die Papiere zur Hand, um einen genaueren Blick darauf zu werfen. Stadtschen verzog den Mund zu einem Lächeln. »Offiziell nicht, Herr Prokurator. Und was in der Armee keinen offiziellen Charakter hat, existiert nicht.« Ich schloss die Augen. Die Liste der Toten schien kein
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Ende zu nehmen. Vier Menschen waren ohne ersichtliches Motiv auf den Königsberger Straßen umgebracht worden. Morik folgte als fünfter, die Totzens waren Nummer sechs und sieben, Rhunken der achte. Nun konnte ich auch noch Rudolph Aleph Kopka hinzufügen. »Verschwinden Sie, Stadtschen«, sagte ich. Sobald der Wachtmeister draußen war, warf ich mich aufgewühlt aufs Bett. Dieser heftige innere Aufruhr ist das Einzige, woran ich mich im Nachhinein erinnere, denn offenbar schlief ich ziemlich bald ein. Als ich aufwachte, erhellte das Licht der Morgendämmerung die schmalen Fensterschlitze, und mein erster Blick fiel auf das lange, blasse Gesicht von Sergeant Koch, der auf einem Stuhl neben meiner Pritsche saß. »Es freut mich, dass Sie doch noch zu ein paar Stunden Schlaf gekommen sind, Herr Prokurator«, begrüßte er mich. Inzwischen war es nicht mehr ganz so kalt in dem Raum. »Haben Sie den Ofen angemacht, Koch?«, fragte ich. »Ich habe Sie nicht gehört.« »Ich bin schon eine ganze Weile hier, Herr Prokurator, aber ich wollte Sie nicht wecken.« Ich richtete mich hastig auf. »Ist Lublinsky tot?« Koch schüttelte den Kopf. »Es könnte sein, dass er das Augenlicht verliert, sagt der Arzt. Die Wunde ist tief, und möglicherweise entzündet sie sich. Aber er wird überleben.« »Wo steckt er jetzt?« »Es gibt eine Quarantänestation im Lazarett.« »Und Anna Rostova?« Koch schüttelte den Kopf.
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Ich lehnte mich erleichtert in die Kissen zurück. »Sie halten sie für die Mörderin, nicht wahr?« Der Sergeant betrachtete seine Hände. »Vieles deutet darauf hin, meinen Sie nicht auch, Herr Prokurator?«, fragte er. »Wir wissen, dass sie nicht nur Lublinsky mit dieser verdammten Teufelsklaue Schaden zugefügt hat. Und Sie haben ihr Hinterzimmer gesehen. Das reicht für eine ziemlich lange Gefängnisstrafe.« »Aber hat sie diese Morde begangen, Koch?« Er schwieg. »Kopka ist tot«, sagte ich, als ich mich an die neueste Schreckensmeldung erinnerte. »Sie haben ihn zum Spießrutenlaufen gezwungen.« Fragend runzelte Koch die Stirn. »Wer ist Kopka, Herr Prokurator?« »Er und Lublinsky wurden zur Leiche von Jan Konnen geschickt. Sie verfassten die Berichte und fertigten die Zeichnungen beim zweiten Mord. Kurze Zeit später desertierte Kopka. Was könnte ihn dazu veranlasst haben, Koch? Er wusste doch, was ihm blühte, wenn sie ihn erwischten. Alle Soldaten wissen das, auch Lublinsky. Deshalb hat er wahrscheinlich nie versucht wegzulaufen …« »Du gütiger Himmel!«, murmelte Koch. »Glauben Sie, Lublinsky hat ihn verraten?« Ich zuckte mit den Achseln. »Falls Anna Rostova unsere Mörderin und Lublinsky ihr Komplize ist, ergibt dies Sinn. Vielleicht hatte Kopka entdeckt, was vor sich ging, und floh aus Angst vor Lublinsky und Anna Rostova? Wenn wir sie nicht fassen …« »Ich glaube nicht, dass wir irgendein rationales Motiv
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für diese Morde finden werden, Herr Stiffeniis«, sagte Koch nach einer Weile. Aufmerksam musterte ich sein Gesicht mit den tiefen Stirnfalten, in dem sich meine eigene Verwirrung und Frustration spiegelten. »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Koch.« »Allmählich schließe ich mich Professor Kants Ansicht an, Herr Prokurator«, erklärte er mit einem gequälten Lächeln. »Erinnern Sie sich noch, was er über die Freude am Töten gesagt hat? Seiner Meinung nach existiert das Böse ohne Grund, man kann es nicht analysieren. Natürlich würde ein simples Motiv alles einfacher machen, und wir würden uns besser fühlen, aber was ist, wenn es keines gibt? Anna Rostova hat einen schlechten Charakter, daran besteht kein Zweifel. Zu ihrer Verurteilung sind keine Beweise nötig. Napoleons Truppen stehen vor der Tür, und Minister von Arnim möchte das Kriegsrecht durchsetzen.« »Aber wie würde die Anklage lauten, Sergeant? Hexerei?«, fiel ich ihm ins Wort. »Weil die Frau behauptet, im Bund mit dem Teufel zu stehen? Vor noch nicht allzu langer Zeit hätte eine Anschuldigung wie die Ihre gereicht, um sie auf den Scheiterhaufen zu bringen. Ich will Beweise für eine Anklage.« »Professor Kant würde das Fehlen eines Mordmotivs nicht so sehr stören wie Sie, Herr Prokurator«, erwiderte Koch. »Wie bitte?«, rief ich schockiert aus. »Verzeihung, Herr Prokurator«, entgegnete Koch kopfschüttelnd. »Aber es scheint wirklich keinerlei rationales Motiv für die Vorgänge in Königsberg zu geben.
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Und Professor Kants plötzliches Interesse an den Morden – finden Sie das rational?« »Kants Interesse an den Morden, wie Sie es nennen, Koch, könnte gut und gerne einen Krieg verhindern. Sie haben doch nicht etwa unsere Unterhaltung mit General Katowice vergessen? Er würde lieber heute als morgen zuschlagen, und fast hätte ich ihm den Grund dafür geliefert: die ausländische Verschwörung. Nur durch Kants Hilfe und den Besuch in seinem Labor ist mein Blick klarer geworden.« »Trotzdem, Herr Prokurator«, meinte Koch, »gibt es hier in der Stadt Leute, die eine bessere Qualifikation für die Beschäftigung mit diesen Fällen besitzen als Professor Kant. Oder vielleicht sollte ich eher sagen: es gab …« »Meinen Sie Prokurator Rhunken?« »Ja«, antwortete er. »Professor Kant ließ ihn durch Sie ablösen. Bei allem Respekt: Das war höchst ungewöhnlich. Sie hatten keinerlei Erfahrung in solchen Fällen vorzuweisen, das haben Sie mir selbst gestanden, als ich zu Ihnen nach Lotingen kam.« Nur jemand, der schon einmal im Reich der Schatten gewesen ist … Wie sollte ich Koch die Gründe darlegen, derentwegen ich Magistrat geworden war? Oder die Rolle, die Kant bei dieser Entscheidung gespielt hatte? »Zuerst dachte ich, die Philosophie ist der Grund«, überlegte Koch laut. »Sie interessieren sich wie er für die rationale Methode der Analyse. Aber bringt die Philosophie jemanden dazu, Körperteile in Glasbehältern zu konservieren? Was für eine Philosophie verlangt von einem einfachen Soldaten, einen Bleistift in die Hand zu
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nehmen und Tote zu zeichnen? Oder schneebedeckte Leichen in einem stinkenden Keller aufzubewahren, bis der Mond aufgeht? Und dann das ganze Gerede vom Teufel! Ich kann weder ein klares Motiv noch eine logische Erklärung für all das entdecken.« Ich unterbrach ihn. »Ihnen mag das alles merkwürdig erscheinen, Koch, aber das, was Professor Kant in seinem Labor geschaffen hat, ist eine neue Methode, eine neue Wissenschaft, und wird unser Denken revolutionieren. Neue Ideen überraschen anfangs immer. Er handelt im Namen der Aufklärung und der Wahrheit.« Koch, dessen Stirn von tiefen Falten durchfurcht war, hob den Finger wie in der Schule. »Darf ich zu Ende reden, Herr Prokurator?« »Aber sicher«, antwortete ich. »Im Morgengrauen ist mir noch ein anderer Gedanke gekommen, der mir keine Ruhe lässt. Professor Kant interessiert sich auf ungesunde Weise für das Böse und kümmert sich nicht im Mindesten um das Prozedere der Polizei. Der Aalfischer unten am Pregel heute Morgen zum Beispiel – man hätte ihn befragen müssen, aber wir haben ihn weggeschickt. Professor Kant versucht, in die Haut des Mörders zu schlüpfen, in das Böse einzudringen, seine Geheimnisse zu erforschen. Das Labor ist der teuflischste Ort, den ich je gesehen habe.« Das Reich der Schatten … »Ich fand es widerlich«, fuhr Koch fort, »während Sie beide offenbar in Ihrem Element waren. Sie und Professor Kant teilen ein Wissen, das mein Verständnis weit übersteigt, Herr Prokurator. Falls das Philosophie ist, möchte ich nichts damit zu tun haben.«
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Ich war entsetzt über Kochs Einschätzung unseres Tuns. »Meinen Sie wirklich, dass Professor Kant an die Macht der rationalen Analyse glaubt, Herr Prokurator?«, fragte Koch. »Nach allem, was wir in dem Raum gesehen haben?« »Sie meinen dies offenbar nicht, Koch«, sagte ich mit bitterer Stimme. »Ich war entsetzt, das gebe ich ehrlich zu«, sprach er weiter. »Am Flussufer hat er sich über die Leiche des armen Jungen hergemacht wie ein Geier. Es sah aus, als würde er Energie aus ihr ziehen. Jeder anständige Mensch würde bei einem solchen Anblick zurückweichen, doch er tat genau das Gegenteil. Und im Labor hatte ich den gleichen Eindruck. Haben Sie das Funkeln in seinen Augen gesehen, Herr Prokurator? Seine Stimme wurde kräftiger, sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Er ist achtzig …« Koch rieb sich die Hände, als wollte er sie waschen. »Sein Verhalten schockiert mich, Herr Prokurator. Er scheint Freude zu haben am Tod, er ist fasziniert davon.« Er schwieg eine Weile, bevor er hinzufügte: »Vergeuden Sie nicht Ihre Zeit mit dem Versuch, Anna Rostovas Motiv zu klären, Herr Prokurator. Überlassen Sie das Professor Kant. Ihm wird schon eine Antwort einfallen.« Wie sollte ich den Philosophen gegen eine derartige Fehlinterpretation seines Ansinnens verteidigen? Immanuel Kant hatte die Beweise in seinem Labor im Namen der Wissenschaft und Erkenntnis gesammelt. Und aus demselben Grund war er, ungeachtet seiner Gebrechlichkeit, zum Pregel hinuntergefahren, um nach der
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Wahrheit zu suchen. Ich begriff als Einziger seine Herangehensweise so weit, dass ich ihm zur Hand gehen konnte. Verstand Koch das denn nicht? Auf der Suche nach überzeugenden Argumenten fiel mein Blick auf ein Blatt Papier auf dem Boden, das mir aus der Tasche gerutscht sein musste: die Zeichnung, die ich am Abend zuvor von dem Fußabdruck vor Professor Kants Fenster gemacht hatte. Plötzlich erfüllte mich tiefe Ruhe. »Ich werde Ihnen beweisen, dass Professor Kant nicht vom Bösen fasziniert ist, Koch!«, rief ich aus. »Rufen Sie die Kutsche. Unsere Augen werden uns sagen, ob Anna Rostova die Mörderin ist oder nicht. Und das haben wir Professor Kant zu verdanken, sollte ich vielleicht noch hinzufügen.«
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ufgeregt drehte ich den Schlüssel im Schloss und öffnete die schwere Tür zu Kants Labor, während Sergeant Koch vollkommen ruhig wirkte, wie des Professors treuester Anhänger. Fast war es, als hätten wir die Rollen getauscht. Mein Blick wanderte hektisch umher, zu der Sanduhr in ihrem Holzrahmen, den verschlossenen Tiegeln und den irdenen Retorten, die Kant für seine wissenschaftlichen Experimente verwendete. Ich hatte guten Grund, nervös zu sein, denn ich wusste nicht, ob ich finden würde, wonach ich suchte. Würde ich tatsächlich in der Lage sein, Kochs Zweifel – und auch meine – zu zerstreuen? Keiner von uns richtete die Lampe auf die Regale an den Wänden. In dieser Hinsicht schien unausgesprochene Einigkeit zwischen uns zu herrschen: Für uns existierten die Glasbehälter nicht, obwohl wir aus den Augenwinkeln ihre schimmernde Oberfläche wahrnahmen. Ich wurde die Angst nicht los, dass sich etwas Unheilvolles aus den Schatten lösen und auf uns zutreten könnte. Hatte sich Professor Kant wirklich allein in diesen Räumen aufgehalten? Oder zusammen mit Doktor Vigilantius, der die Leichen sezierte? »Wir müssen Lublinskys Zeichnungen finden«, sagte
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ich, schob einen Destillierapparat beiseite und holte meine Skizze aus der Tasche, um sie auf die Arbeitsfläche zu legen. »Falls neben den Leichen irgendwelche Fußabdrücke entdeckt wurden, möchte ich sie mit dem Abdruck aus Kants Garten vergleichen.« »Glauben Sie, er stammt von dem Mörder, Herr Prokurator?«, erkundigte sich Koch. »Das wollen wir hier feststellen. Wenn ja, können wir ihn mit den Abdrücken von Anna Rostovas Schuhen vergleichen.« »Dazu müssen die Gendarmen sie erst einmal erwischen«, entgegnete Koch. »Ich möchte jedenfalls vorbereitet sein«, sagte ich. »Bevor ich irgendetwas anderes unternehme, muss ich wissen, ob sie schuldig ist oder nicht.« Ich griff nach einem Aktenberg, den Kant im Regal zurückgelassen hatte, und legte ihn auf dem Tisch ab, während Koch die Lampe für mich hielt. »Unsere Arbeit beginnt in diesem Raum.« Ich teilte die Papiere in zwei ungefähr gleich große Stapel. »Die sind für Sie«, erklärte ich und schob den ersten Koch hin. »Und die für mich.« Während ich mich mit den Unterlagen beschäftigte, bewunderte ich wieder einmal Immanuel Kants Akribie und Methodik, aber leider konnte ich in der ersten Akte nichts Neues finden. Die zweite hatte Kant mit »Doktor Vigilantius« überschrieben. Schon nach der Lektüre der ersten Zeilen war ich hellwach. Es handelte sich um das Originaltranskript des Gesprächs zwischen dem Nekromanten und der aus dem Körper entwichenen Seele Jan Konnens:
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Ich bin seit zwei Tagen tot. Das, was ich gesehen habe, verschwimmt. Schnell, denn ich gehöre nicht mehr dem Licht an. Die Dunkelheit frisst mich auf; mein sterblicher Geist entflieht … Offenbar hatte Professor Kant, genau wie ich kurz nach meiner Ankunft in Königsberg, einer Séance beigewohnt. Was hatte der Philosoph wohl gedacht, als er Doktor Vigilantius bei der Arbeit beobachtete? Ich konnte keinerlei Hinweis auf seine Gefühle finden. Ich wandte mich einem dickeren Stapel zu, der mit »Örtliche Charakteristika der Königsberger Morde« überschrieben war. Beim Lesen krampfte sich mein Herz zusammen. Wer außer Immanuel Kant hätte eine systematische Untersuchung der Morde so durchführen können, dass sie sich las wie ein Kapitel seiner Kritik der reinen Vernunft? Wer außer Kant konnte angesichts solcher Gräuel einen ruhigen Kopf bewahren? Als mein Blick auf Zeichnungen fiel, auf denen die Position sämtlicher Mordopfer abgebildet war, stieß ich einen befriedigten Seufzer aus und rief Koch herbei. »Sehen Sie sich die an.« Meine Stimme hallte. »Was ist das, Herr Prokurator?« »Das sind die genauen Positionen der Mordopfer.« Die Bleistiftstriche waren fein und unsicher, weil der Zeichnende sie immer wieder korrigiert hatte, um der grässlichen Wahrheit, die sich seinen Augen darbot, näher zu kommen. »Das ist Lublinskys Werk. Überprüfen wir, ob die Fußabdrücke aus Kants Garten mit irgendeinem Detail hier übereinstimmen.« Wir machten uns gemeinsam ans Werk und vergli-
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chen konzentriert jede einzelne Linie, bis uns die Augen wehtaten, konnten aber keine Ähnlichkeiten feststellen. »Was ist mit diesen Verwischungen, Herr Prokurator?« Koch deutete auf einige merkwürdig schraffierte Flächen neben der Leiche von Jan Konnen. Auch wenn die Abdrücke tatsächlich kreuzförmig wie die vor Kants Fenster waren, stimmte der Maßstab nicht. Ich hatte den Schuh in Originalgröße gezeichnet, während Lublinsky versuchte, den gesamten Tatort zu dokumentieren. »Ich weiß nicht so recht, Koch. Der Abdruck könnte kreuzförmig sein oder auch nicht.« Ich nahm ein anderes Blatt Papier in die Hand. »Wir müssen berücksichtigen, dass der Zeichner nicht ausgebildet war. Um nur ja nichts zu vergessen, hat er vielleicht zu viel in sein Bild aufgenommen.« »Erst wenn wir Anna Rostova aufgespürt haben und den Abdruck ihrer Schuhe mit Ihrer Zeichnung vergleichen können«, meinte Koch, »werden wir mit Sicherheit wissen, ob sie es war, die in Professor Kants Garten eingedrungen ist.« »Aber immerhin«, murmelte ich, den Blick auf die Papiere geheftet, »ist auf Lublinskys Zeichnungen klar zu sehen, dass sie alle knieten. Die Opfer sanken in mehr oder minder der gleichen Haltung zu Boden.« »Genau wie Tifferch, Herr Prokurator. Er …« »Herr Tifferch lag auf dem Seziertisch«, fiel ich Koch ins Wort. »Ein isoliertes Objekt ohne Kontext. Konzentrieren Sie sich auf die Zeichnungen, Koch. Hier, sehen Sie: Die Opfer sind Teil der realen Welt des Mörders. Ich habe bisher nicht die richtige Schlussfolgerung gezogen
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und geglaubt, es sei Zufall, dass sie alle knieten …« Ich verfiel in nachdenkliches Schweigen. »Aber vielleicht ist es tatsächlich nur Zufall, Herr Prokurator? Die Wucht des Angriffs könnte sie in die Knie gezwungen haben.« »Nein, nein, Koch«, sagte ich, hastig zwischen den Zeichnungen hin- und herblätternd. »Ein Mann, der einen Schlag von hinten erhält, fällt aufs Gesicht, wenn der Tod sofort eintritt. Aber das war hier nicht der Fall. Diese Leute knien alle. Wir haben die gesamte Sequenz der Morde, da Lublinsky einen nach dem anderen dokumentierte. Jedes Opfer sank nach vorn, und die Stirn landete stets an einer Wand oder einer Bank wie im Fall von Frau Brunner. Warum fielen sie nicht flach hin, Koch?« »Sie scheinen zu glauben, dass eine bestimmte Absicht dahintersteckt.« »Allerdings. Sie knieten bereits, als der Angriff erfolgte. Was bedeutet, dass sie selbst vor dem Mörder niederknieten.« Koch sah mich mit großen Augen an. »Aber das ist unmöglich, Herr Prokurator! Würde ein vernünftiger Mensch so etwas tun? Das käme doch einer Exekution gleich.« »Genau, Koch, eine Exekution. Aber wie brachte er sie zum Niederknien?« Koch ließ den Blick über die Zeichnungen wandern. »Warum hat Professor Kant Sie nicht auf dieses Detail hingewiesen, Herr Prokurator?«, fragte er. »Es ist ihm doch bestimmt nicht entgangen.« »Er hat viel mehr getan«, erwiderte ich. »Kant hat
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dafür gesorgt, dass Tifferchs Leiche unter Eis und Schnee konserviert wurde, so dass ich sie mit eigenen Augen studieren konnte. Und er hat mich darauf hingewiesen, dass Moriks Leiche nicht kniend aufgefunden wurde. Kant stößt einen nicht mit der Nase auf Dinge, Koch. Er legt die verfügbaren Fakten dar und bringt einen dazu, eigene Schlüsse zu ziehen. Das hätte ich schon viel eher begreifen sollen.« »Alles recht und schön, Herr Prokurator«, entgegnete Koch, »aber Professor Kant besaß keinerlei Möglichkeit zu überprüfen, ob das, was Lublinsky gezeichnet hatte, der Wahrheit entsprach.« Kochs Einwand gab mir zu denken, doch dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: »Tifferchs Hose!« »Wie bitte?« »Sie ist der Beweis, Koch. Die Knie seiner Hose waren schmutzig, erinnern Sie sich denn nicht mehr? Wenn meine Theorie stimmt, müssten die Knie sämtlicher Opfer schmutzig gewesen sein.« Ich sah mich in dem Raum um. »Da drüben, Koch!« Ich deutete auf das oberste Regalfach an der hintersten Wand. »Schieben Sie die Vakuumpumpe beiseite und holen Sie irgendeine Kiste herunter. Um Lublinskys Zeichnungen zu verifizieren, müssen wir nur einen Blick auf die Kleidung der Opfer werfen.« Koch brachte mir eine lange, flache Pappschachtel, wie sie Schneider zur Auslieferung von Anzügen und Kleidern benutzen. Wir öffneten sie voller Spannung. »Paula-Anne Brunner«, hustete Koch ob der Staubwolke, die sich von der Schachtel erhob. Der Name der Frau stand auf einem gelben Zettel, auf dem in Kants
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gestochener Handschrift alle Kleidungsstücke vermerkt waren. »Ein dünner grüner Baumwollmantel«, begann Koch vorzulesen. »Eine langärmelige weiße Bluse, ein graues Kleid aus dünnem, nicht näher bezeichnetem Stoff. Ein Paar schwere graue Wollstrümpfe. Ein Paar Holzpantoffel mit abgetretenen Absätzen …« »Das Kleid, Koch«, fiel ich ihm ins Wort, »sehen wir uns das Kleid an.« Koch breitete es auf dem Tisch aus und trat beiseite. Ich beugte mich darüber und drehte es mehrmals um. »Kein einziger Fleck«, sagte ich enttäuscht, »kein bisschen Schmutz an den Knien.« »Was bedeutet das, Herr Stiffeniis?«, flüsterte Koch. »Ich weiß es nicht«, musste ich zugeben. »Moment, Herr Prokurator«, meinte Koch da plötzlich. Ohne ein weiteres Wort der Erklärung nahm er die Liste in die Hand, überflog sie noch einmal und begann dann die einzelnen Kleidungsstücke durchzugehen. »Tja«, sagte er schließlich und zog ein Paar wollener Strümpfe heraus, »vermutlich besaß Frau Brunner nur dieses eine Kleid, da der Stoff eigentlich zu dünn für die Jahreszeit ist. Wenn sie niederknien musste, tat sie bestimmt das, was jede andere Frau an ihrer Stelle getan hätte: Sie raffte die Röcke, um sich nur die Strümpfe schmutzig zu machen. Sehen Sie, Herr Prokurator?« Ich streckte die Hand aus, um das grobe graue Material zu berühren, in dem sich an Zehen und Fersen Löcher befanden. Die Strümpfe waren mehr als einmal geflickt und gestopft, und an den Knien sah ich tatsächlich zwei große dunkle Flecken.
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»Diese dicken Strümpfe haben sie besser gegen die winterliche Kälte geschützt als das dünne Kleid«, sagte Koch. »Das klingt einleuchtend«, murmelte ich. »Wir können also davon ausgehen, dass alle Opfer freiwillig vor ihrem Mörder niederknieten. Offenbar halfen sie ihm.« Das makabre Gespräch zwischen Doktor Vigilantius und Jan Konnen fiel mir ein, und ich fragte mich, ob es nicht vielleicht doch mehr auf sich hatte mit seiner »Kunst«. »Ich würde sagen, es handelte sich um ein Ritual. Möglicherweise wurden die Opfer einer heidnischen Gottheit dargebracht. Das würde jedenfalls den Verdacht gegen Anna Rostova stärken«, fügte Koch aufgeregt hinzu. »Legen Sie alles zurück in die Mappen und stellen Sie die Schachtel wieder ins Regal. Wir wissen immer noch nicht, ob Anna Rostova die Mörderin ist, aber es freut mich zu hören, dass Sie den Wert dessen, was sich in diesem Raum befindet, zu schätzen gelernt haben.« »Was jetzt, Herr Prokurator?«, fragte Koch, nachdem er die Sachen aufgeräumt hatte. »Jetzt genießen wir den Anblick der Sterne!«, antwortete ich. »Den Anblick der Sterne, Herr Stiffeniis?« Koch sah mich ungläubig an. »Es ist noch nicht einmal Mittag!« »Keine Sorge, ich habe nicht den Verstand verloren«, erklärte ich lächelnd. »Ein italienischer Dichter hat mit ähnlichen Worten sein Entkommen aus der Hölle und seine sichere Rückkehr in die reale Welt beschrieben. Sie und ich sind durch diese Ermittlungen gezwungen worden, in die Unterwelt hinabzusteigen, Koch. Zuerst in
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die des Schlosses und dann hier in dieses Labor. Es wird Zeit, ins Licht zurückzutreten.« Draußen drangen die Strahlen der Sonne schwach durch die lockeren Wolken. Vereinzelte Schneeflocken wirbelten in der Luft wie Herbstlaub. Vor uns ausgebreitet lagen die feucht schimmernden Dächer und die hohen Kirchtürme von Königsberg. Dahinter erstreckte sich grau die See. Ich füllte meine Lungen mit der frischen Morgenluft. »Ich möchte noch einmal mit Lublinsky reden«, sagte ich, als wir in die Kutsche stiegen und uns in Richtung Stadtmitte auf den Weg machten. »Aber zuerst muss ich etwas anderes erledigen.« »Was, Herr Prokurator?« »Ich will Professor Kant besuchen und ihm meine Bewunderung aussprechen. Er soll wissen, dass sein Vertrauen in mich gerechtfertigt ist, auch wenn ich leider nicht der allerhellste Schüler bin.«
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ass uns sehen, wer Erster wird. Älter bedeutet nicht unbedingt klüger, vergiss das nicht, Hanno! Sieh zu, dass dein Bruder nicht wieder gewinnt. Er ist ein schlaues Kerlchen … Die Bilder meiner Kindheit, die sich am deutlichsten in mein Gedächtnis eingegraben haben, stehen alle in Zusammenhang mit meinem Vater Wilhelm Ignatius Stiffeniis, dem strengen Zuchtmeister und tief Gläubigen, der kein Verständnis für Trägheit oder Zornesausbrüche hatte. Oft jedoch amüsierte er sich mit einem selbst ausgedachten Rätsel auf Kosten von uns beiden Jungen. Wie alles Tun meines Vaters dienten sie einem ernsten Zweck: Er wollte Stefan und mir etwas beibringen, das uns als Erwachsenen nutzen würde. Das Anwesen der Familie Stiffeniis liegt seit jeher in der tristen Hügellandschaft außerhalb von Ruisling. Mein Vater versteckte gern hin und wieder etwas von dem Nippes aus dem weitläufigen Haus, rief uns herein und fragte uns, ob wir wüssten, was verschwunden sei. Es schulte unser Gedächtnis, indem wir uns all den Krimskrams einprägen mussten. Nun, was meinst du? Ein Briefbeschwerer aus französischem Glas? Bravo, mein Junge!
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Der Sieger bekam immer eine Scheibe Schwarzbrot mit einer dicken Schicht dunklem Honig aus den Bienenstöcken der Familie Stiffeniis, die dieser Ruhm und Reichtum beschert hatten. Für Stefan und mich symbolisierten sie die Ideale meines Vaters: Strenge, harte Arbeit und Großzügigkeit. Seinen Honig kosten zu dürfen bedeutete, in seine Welt aufgenommen zu werden. Und der strenge Blick für den Verlierer war Strafe genug. Obwohl zwei Jahre jünger, war Stefan bedeutend ehrgeiziger und gewann dank seiner schnellen Auffassungsgabe und guten Konzentrationsfähigkeit weit häufiger als ich. Wenn unser Vater zu beschäftigt war, um sich um uns zu kümmern, dachte Stefan sich selbst Aufgaben aus, die mit den Jahren immer anspruchsvoller wurden. Wieder verlor meist ich. Stefan war groß und kräftig und wie geschaffen für eine Militärlaufbahn. Doch diese sollte keine sechs Monate dauern. Vater nahm mich beiseite, als sein Lieblingssohn in einer Kutsche nach Hause gebracht wurde, und erläuterte mir, was die ärztliche Diagnose für Stefan bedeutete: »Keine Spiele mehr«, warnte er mich. »Keinerlei körperliche Anstrengung, Hanno. Du bist mir verantwortlich für das Leben deines Bruders.« Mit anderen Worten: Er wies mich an, Stefan wie einen Invaliden zu behandeln. Und das tat ich auch, bis dieser mich zu einem Wettkampf herausforderte, vor dem ich mich nicht drücken konnte. Während die Kutsche gemächlich auf Professor Kants Haus zuholperte, begann ich mich zu fragen, ob mein Mentor eine Variante jenes Spiels mit mir spielte, das ich
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von meinem Vater kannte. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Kant meine Fähigkeiten prüfen wollte, denn mehr als einmal hatte er mich auf etwas hingewiesen, das mir entgangen war. Aber warum? War er enttäuscht gewesen über meine mangelnde Aufmerksamkeit? Oder hatte ihn eher die Oberflächlichkeit gestört, mit der ich die vorliegenden Beweise analysierte? Da bog die Kutsche in die Prinzessinstraße ein, und das Kopfsteinpflaster wich einem Kiesbelag, auf dem das Pferd ein wenig schneller zu traben begann. Als ich aus dem Fenster sah, bemerkte ich etwas Ungewöhnliches am Haus des Professors: Aus dem höchsten Kamin stieg schwarzer Rauch. Nach dem, was ich in einer biographischen Skizze in einer der populäreren Literaturzeitschriften gelesen hatte, duldete Kant weder im Winter noch im Sommer ein vormittägliches Entzünden des Kamins. Und die Vorhänge im oberen Stockwerk waren geschlossen! Soweit ich aus dem Artikel wusste, bestand Immanuel Kant darauf, dass sie beim ersten Morgenlicht geöffnet wurden. »Die geringste Veränderung im Tagesablauf des Philosophen«, hatte der Verfasser geschrieben, »bedeutet, dass etwas Wesentliches passiert ist …« Ich sprang aus der Kutsche und rannte den Gartenpfad hinauf, Sergeant Koch im Schlepptau. Bevor ich den Klopfer betätigen konnte, öffnete bereits Johannes die Tür. Sein Gesichtsausdruck schien meine schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. »Was ist los, Johannes?« »Sie sind sehr früh dran, Herr Stiffeniis«, sagte er mit einem übertriebenen Kopfschütteln, einen Finger an die Lippen gelegt. Mit einem Nicken über die Schulter er-
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klärte er daraufhin lauter als nötig: »Professor Kant hat seine Perücke noch nicht aufgesetzt.« Konnte dergleichen den Diener so aus der Fassung bringen? »Mein Herr ist noch nicht bereit für Besucher«, erklärte Johannes mit einem Blick zum Arbeitszimmer, während er mir Hut und Handschuhe abnahm. »Aber der Kamin brennt. Ich habe den Rauch gesehen …« Die Tür zum Arbeitszimmer stand ein Stück offen. Durch den Spalt erspähte ich einen Schreibtisch, darauf einen Ellbogen und darunter einen mit einem Pantoffel bekleideten Fuß. Hastig überquerte Johannes den Flur und schloss leise die Tür. »Was ist los?«, flüsterte ich. Wieder warf der Diener einen nervösen Blick über die Schulter. »Gott sei Dank ist alles in Ordnung! Er hatte heute Nacht Besuch.« »Erklären Sie das genauer«, wies ich ihn an. »Ich habe hier geschlafen, Herr Prokurator«, begann er. »Professor Kant sagte, er habe noch zu arbeiten, ob ich mir den Abend frei nehmen wolle, um meine Frau zu besuchen. Ich schlug sein Angebot aus und antwortete, es sei noch viel im Haushalt zu tun.« »Gott sei Dank!« »Ich habe meine Lektion gelernt, Herr Prokurator. Falls er mich brauche, sagte ich, könne er mich im Frühstücksraum finden. Er zog sich ins Arbeitszimmer zurück, während ich mich auf einen Stuhl nebenan setzte. Ich wollte die ganze Nacht Wache halten, aber …« Er
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seufzte. »Irgendwann muss ich eingeschlafen sein. Jedenfalls weckte mich plötzlich etwas, vermutlich ein Geräusch an der Verandatür zum Garten.« »Am hinteren Ende des Hauses?« Er nickte. »Sie quietscht ziemlich laut.« »Wann war das?« »Kurz nach Mitternacht, glaube ich.« »Weiter«, drängte ich. »Nun, zuerst dachte ich, es sei Professor Kant. Er öffnet manchmal das Fenster zum Lüften. Aber dann hörte ich etwas anderes.« »Nun lassen Sie sich nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!« »Ein Murmeln, Herr Prokurator. Stimmen. Ich sprang auf, und dabei scharrte mein Stuhl laut über die Fliesen. Falls es ein Einbrecher wäre, wollte ich ihn wissen lassen, dass Professor Kant nicht ohne Schutz ist.« »Hatte sich jemand gewaltsam Zutritt verschafft?« »Ich rannte sofort ins Arbeitszimmer, aber Professor Kant war allein. Dann hörte ich ein Geräusch aus der Küche und wollte hinüberlaufen, aber …« »Aber was, Johannes?« »Nun, Professor Kant hat mich daran gehindert, Herr Prokurator«, antwortete er. »Wie bitte?« »Er war leichenblass und presste die Hand aufs Herz. Ich konnte ihn doch nicht allein lassen, oder? Nicht einmal, um einen Einbrecher zu vertreiben. Professor Kant schnappte nach Luft, als wäre er kurz vor dem Ersticken.« »Dann hatte er den Eindringling also gesehen?«
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Johannes schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, Herr Prokurator. Zur Beruhigung habe ich ihm einen Schluck Brandy gegeben, und als Erstes bedankte er sich bei mir dafür, dass ich ihn aufgeweckt hatte.« Ich sah Johannes stirnrunzelnd an. »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.« »Ein Albtraum, Herr Prokurator. Er sagte, vermutlich habe er im Schlaf aufgeschrien. Nun, ich wollte ihn nicht weiter erschrecken. Falls irgendeine Gefahr bestanden hatte, war sie ohnehin vorüber.« »Aber Sie hatten ein Geräusch gehört, nicht wahr?«, insistierte ich. »Die Küchentür stand offen«, erwiderte er unsicher. »Ich könnte schwören, dass ich sie von innen verschlossen hatte.« »Bestimmt«, beruhigte ich ihn. »Haben Sie die Soldaten gerufen?« »Zuerst habe ich Professor Kant geholfen, sich ins Bett zu legen, dann bin ich zu den Soldaten hinausgegangen, aber die hatten nichts bemerkt. Bei dem Nebel gestern Nacht konnte man kaum die Hand vor Augen sehen.« »Und wie ging es Ihrem Herrn heute Morgen?« »Offenbar ganz gut«, murmelte Johannes mit gesenktem Blick. »Ich brachte ihm Tee ans Bett, und er rauchte wie immer seine Pfeife, aber dann schlief er wieder ein. Ich traute mich nicht, die Vorhänge zu öffnen, Herr Prokurator. Er ist heute Morgen nicht er selbst. Er wollte, dass ich den Kamin in seinem Zimmer anzünde, weil ihm kalt sei. Und seine Gedärme …« »Sagen Sie ihm, dass ich hier bin«, wies ich Johannes an.
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Der Diener verbeugte sich und wandte sich zum Gehen, doch ich legte ihm die Hand auf den Arm, um ihn zurückzuhalten. Plötzlich war mir die Bedeutung dessen klar geworden, was er mir am Anfang unseres Gesprächs mitgeteilt hatte. »Augenblick noch! Sie sagten, er habe bis spät in die Nacht gearbeitet?« »Ja, Herr Prokurator, das behauptet er zumindest.« »Und was genau tat er?« »Er schrieb.« »Was schrieb er?« »Ich weiß es nicht.« Die Augen des Dieners verengten sich. »Als ich heute Morgen seine Sachen wegräumte, konnte ich das Papier, das ich ihm gestern Abend hingelegt hatte, nirgends entdecken. Keine einzige Seite! Seine Federn waren stumpf, das Tintenfass war leer, aber von dem, was er geschrieben hatte, keine Spur …« Da öffnete sich knarrend die Tür des Arbeitszimmers, und heraus trat Professor Kant. »Eine höchst befriedigende Entleerung, Stiffeniis!«, verkündete er mit einem strahlenden Lächeln. »Schön geformter Stuhl, dicht und mit minimalem Flüssigkeitsanteil. Ich hoffe, Sie hatten heute Morgen schon ein ähnlich angenehmes Erlebnis.« »Ja, danke der Nachfrage, Herr Professor«, antwortete ich. Bei unserem allerersten Treffen hatte er sich mit seinem Freund Reinhold Jachmann während des Mittagessens eine gute halbe Stunde lang über seine Verdauung unterhalten. Offenbar wurde er dieses Themas niemals müde. »Haben Sie gut geschlafen?« »Bestens, bestens«, gab er zurück. Und er wirkte in der Tat ausgeschlafen – bis auf seine
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schief sitzende Perücke, die er wohl selbst aufgesetzt hatte, als er mich im Flur hörte, und unter der seine dünnen Haare hervorlugten. Abgesehen davon war er jedoch wie immer makellos gekleidet mit einer wattierten, dreiviertellangen Hausjacke aus burgunderrotem Satin, einer knielangen Leinenhose und rosafarbenen Seidenstrümpfen. Dazu trug er allerdings seine Pantoffeln. Normalerweise pflegte Kant Gäste so zu empfangen, als würde er mit ihnen das Haus verlassen. Mit einem verlegenen Blick auf seine Pantoffeln sagte er: »Ich bin heute Morgen spät aufgestanden.« »Ich wollte nicht stören«, entschuldigte ich mich. »Das tun Sie auch nicht. Sie haben mir sicher viel zu erzählen«, fuhr er fort und ging Koch und mir voran ins Arbeitszimmer, wo er auf einem Holzstuhl Platz nahm und den Kopf in die offene Hand stützte. Es stank ein wenig nach menschlichen Exkrementen, was Kant mit einem leichten Zucken der Nase und einem Lächeln kommentierte. Nichts deutete auf die nächtlichen Ereignisse hin, die Johannes Odum mir geschildert hatte. »Nun?«, sagte Kant. »Ich habe die Mordwaffe gefunden, Herr Professor«, begann ich. Kant straffte die Schultern. »Tatsächlich?«, fragte er. Ich holte die Klaue des Teufels aus der Tasche und schlug das schmutzige Tuch auseinander, in das Anna Rostova sie gewickelt hatte. »Du gütiger Himmel!«, rief Kant aus. Ich hatte gehofft, ihn zu beeindrucken, und wurde nicht enttäuscht. Als er die Hand ausstreckte, um die Klaue zu berühren,
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begannen seine Finger zu zittern. »Was ist das, Stiffeniis?« »Sergeant Koch meint, es könnte sich um eine Nadel handeln. Offenbar ist sie aus Walfischbein.« »Müsste sie dann nicht ein Öhr haben?«, fragte Kant, nahm die Nadel in die Hand und beugte sich darüber, um sie genauer zu betrachten. »Sie ist abgesägt, Herr Professor«, meldete sich Koch zu Wort, der die ganze Zeit schweigend hinter mir gestanden hatte. »Natürlich.« Kant nickte. »Der Mörder hat die Waffe seinen Bedürfnissen angepasst.« »Diese Nadel stammt von der Leiche Jan Konnens«, fuhr Koch fort. »Das Stück, das Sie bereits haben, Herr Professor, ist die Spitze davon. Sie muss abgebrochen sein, als der Mörder versuchte, die Nadel aus der Leiche zu ziehen. Daraus können wir schließen, dass er einen ganzen Vorrat davon besitzt.« »Und, Koch«, erwiderte Kant, »daraus können wir außerdem schließen, dass er diesen Gegenstand aus einem bestimmten Grund wählte. Woher haben Sie das Ding, Stiffeniis?« »Von einer Person, die ich vernommen habe«, antwortete ich ausweichend. »Eine Person, die mit den Morden zu tun hat?« Ich nickte. »Ich glaube schon, Herr Professor, obwohl ich ganz sicher sein möchte, bevor ich wieder jemanden verhafte. Sie …« »Sie?« Er sah mich erstaunt an. »Eine Frau?« »Ja, Herr Professor.« »Meinen Sie, die Nadel gehört einer Frau, weil es sich
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um weibliches Handwerkszeug handelt?«, fragte er mit einem Blick auf die Klaue des Teufels, die er in der Hand hielt wie einen seltenen Schmetterling. »Nun, darüber wollte ich mit Ihnen sprechen.« Kant sah mich verärgert an. »Sie sind also weiterhin der Ansicht, dass sich die Vorgänge in Königsberg mit Hilfe der Logik erklären lassen?«, herrschte er mich an. Ich schluckte. Professor Kant hatte sein ganzes Leben damit zugebracht, die physische und moralische Welt des Menschen allein über die Logik zu definieren. Sagte er sich nun von diesem Prinzip los? »Ich sehe schon, dass ich Sie verunsichere«, meinte er mit einem versöhnlichen Lächeln. »Nun gut, fassen wir also unsere Erkenntnisse zusammen und versuchen wir festzustellen, wo Ihre Logik uns hinführt. Der Mörder – eine Frau, wenn Ihre Mutmaßungen stimmen – hat eine höchst ungewöhnliche Waffe gewählt, keine Pistole, kein Schwert, kein Messer, sondern ein banales Haushaltsgerät, und damit die Stadt Königsberg in die Knie gezwungen, richtig?« Er schwieg eine Weile. »Meine erste Frage, Stiffeniis, lautet: Wie sieht ihr Motiv aus?« »Es gibt Grund zu der Annahme, dass es sich um Hexerei handelt, Herr Professor.« »Hexerei?« Kant sprach das Wort aus, als wäre es eine gegen ihn persönlich gerichtete Beleidigung. Dann schüttelte er den Kopf. »Haben Sie nicht gerade gesagt, Sie seien hierhergekommen, um sich von der Vernunft leiten zu lassen?«, fragte er spöttisch. Ich rang um eine Antwort. »Die Frau gibt den Umgang mit dem Teufel selbst zu, Herr Professor«, sagte ich. »Hexerei könnte daher gut und gerne das Motiv
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sein, allerdings habe ich keine eindeutigen Beweise, dass sie die Mörderin ist.« »Sie gehen also immer noch davon aus, dass dieser Fall von rationalen Motiven beherrscht wird«, stellte Kant fest. »Nun meine zweite Frage: Glauben Sie, die Hexerei liefert Ihnen solche rationalen Motive? Vor noch nicht allzu langer Zeit meinten Sie, der Angelegenheit liege eine ausländische Verschwörung zugrunde.« »Ein Fehler«, gab ich zu. »Das streite ich nicht ab. Und deshalb möchte ich mir ihrer Schuld auch sicher sein, bevor ich sie festnehme. Wir müssen Licht ins Dunkel bringen …« »Sie kennen den Aufruhr, der in der menschlichen Seele herrscht, und wissen, dass er eine stärkere Antriebskraft ist als alles andere. Vielleicht sollten Sie ihn in diesem Fall ins Kalkül ziehen.« Als er sich zu mir herüberbeugte, drang sein muffiger Atem mir säuerlich in Nase und Lunge. »Soweit ich mich erinnere, haben Sie sich schon einmal auf unerforschtes Gebiet begeben, und das, was Sie dort sahen, erschreckte Sie. Sie sagten mir selbst, Sie hätten nichts von solchen Leidenschaften geahnt. Nun, es gibt sie. Sie kennen den Weg durch das Labyrinth. Deshalb habe ich Sie geholt, damit Sie Ihre eigenen Erfahrungen nutzen.« Unwillkürlich verkrampfte sich mein Körper. »Ich habe die Beweise in meinem Labor für einen Mann zusammengetragen, der offen ist, für einen, der die Fähigkeit besitzt, sie zu nutzen und mit ihrer Hilfe zu Schlüssen zu gelangen, die gar nicht so undenkbar sind, wie sie erscheinen. Aber sagen Sie mir doch, warum Sie meinen, eine Frau könnte die Morde begangen haben.«
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Ich beschrieb ihm Anna Rostova und die Schritte, die mich zu ihr geführt hatten. Allerdings erwähnte ich nichts von den Fußabdrücken vor seinem Fenster. Und ich erzählte ihm auch nicht, dass ich, obwohl ich die Soldaten losgeschickt hatte, hoffte, Anna Rostova niemals wiederzusehen. »Dann verrichtete dieses Ding also tatsächlich das Werk des Teufels«, sagte Kant ernst, als ich geendet hatte. »Vielleicht beging die Frau die Morde mit der Nadel, vielleicht auch nicht. Ganz sicher stach sie damit Lublinsky das Auge aus. Es tut mir leid, dass er durch mich in den Fall verwickelt wurde.« Kant schüttelte den Kopf. »Lublinsky diente mir treu, das dachte ich zumindest. Doch das Geld, das ich ihm gab, war ihm weniger wichtig als sein Aussehen. Und jetzt ist er noch hässlicher als zuvor! Mein Gott!« »Ich bin wegen der Zeichnungen da, die die kniende Position der Mordopfer zeigen«, sagte ich nach kurzem Schweigen. »Sie haben mich darauf hingewiesen, als wir Moriks Leiche untersuchten. Ich muss mich für meine Blindheit entschuldigen. Natürlich hatte ich Tifferchs seltsame Haltung bemerkt, aber ihre Bedeutung wurde mir erst durch die Zeichnungen in Ihrem Labor klar. Vermutlich brachte der Mörder seine Opfer dazu, vor ihm niederzuknien, bevor er zuschlug. Warum, weiß ich nicht. Wie, glauben Sie, hat er das geschafft?« »Ich hatte gehofft, dass Sie eine Erklärung dafür finden würden«, antwortete Kant achselzuckend. »Mir ist es auch ein Rätsel. Und Doktor Vigilantius konnte ebenfalls keinen Hinweis liefern – weder einen anatomischen noch einen paranormalen«, fügte er nachdenklich hinzu,
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bevor er einige Sekunden verstummte. Dann breitete sich plötzlich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Wissen Sie noch, was ich als Erstes über die Waffe sagte, als wir die Glasbehälter in meinem Labor betrachteten?« Wie sollte ich jene Worte vergessen haben, die ich an den Beginn dieses Berichts gestellt habe? »›Es ist eingedrungen wie ein heißes Messer in Schmalz‹«, zitierte ich. »Genau«, bestätigte Kant und hielt die Klaue des Teufels näher an sein rechtes Auge, das der graue Star noch nicht so stark getrübt hatte wie das linke. »Der Mord er hat diese Nadel gewählt, weil sie sich leicht handhaben lässt. Ihr Einsatz erfordert kaum Körperkraft, nur anatomische Kenntnisse. Trotzdem ist es nicht einfach, sie effektiv zu gebrauchen.« »Was wollen Sie damit sagen, Herr Professor?« »Dass das Opfer normalerweise nicht unbedingt kooperieren will«, antwortete Kant. »Die Opfer haben sich ihrem Mörder dargeboten?«, fragte ich. »Meinen Sie das, Herr Professor?« Kant schwieg. »Klingt ganz schön teuflisch«, murmelte Koch. »Es geschah alles sehr schnell«, überlegte Kant mit leiser Stimme. »Das Opfer durfte nichts von den Absichten des Täters bemerken und es musste auf irgendeine Weise dazu gebracht werden mitzumachen. Aber wie? Wenn die Nadel nur ein bisschen zu weit links oder rechts eindrang, ging die Sache schief. Der Mörder wusste das. Er – vielleicht auch sie – hat mit Sicherheit lange über die Lösung dieses Problems nachgedacht.« »Wie also brachte er die Opfer dazu, stillzuhalten?«, dachte ich laut nach. »Paula-Anne Brunner raffte ihre
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Röcke und kniete mit den Strümpfen im Schlamm nieder.« Erregung ergriff mich. »Warum tat sie das? Weil sie den Mörder kannte und sich nicht bedroht fühlte. Das Gesicht des Teufels sei auch nur ein Gesicht, nicht mehr, ließ Tifferch durch Vigilantius verkünden.« »Ein Gesicht wie jedes andere«, pflichtete Kant mir bei. »Man könnte sie mit einer Pistole zum Niederknien gezwungen haben«, meinte Koch. »Warum erschoss er sie dann nicht?« Kant tat Kochs Theorie mit einer Handbewegung ab. »Nein, nein, Sergeant. Eine Waffe, um das Opfer zu etwas zu zwingen, und eine weitere für den Todesstoß – das ergibt keinen Sinn. Wir konnten keine Hinweise auf einen Kampf entdecken, und offenbar hat auch niemand etwas gehört. Alles geschah schnell, und das Opfer wirkte mit.« »Eine Waffe, bei deren Einsatz keine Körperkraft nötig ist, eine Strategie zur Ablenkung des Opfers, ein Alltagsgesicht«, zählte ich unsere Erkenntnisse auf. »All das deutet darauf hin, dass der innere Drang des Täters zu morden stärker ist als seine physische Fähigkeit dazu. Der Mangel an Kraft wird durch Schläue ausgeglichen. Konnen wir daraus schließen, dass der Mörder nicht in der Lage ist, anders vorzugehen?« Kant musterte mich einen Moment lang, bevor sich seine schmalen Lippen zu einem Lächeln verzogen. »Eine körperlich schwache Person? Ist das Ihre Theorie, Stiffeniis?« Ich nickte. »Auf wen passt eine solche Beschreibung? Auf jemanden mit angeborener Schwäche, auf einen Kranken,
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auf eine Frau, auf einen alten Mann … Glauben Sie das, Stiffeniis?« Versuchte er, mich in Richtung Anna Rostova zu lenken? »Vieles deutet auf diese Frau hin«, sagte ich. »Sie haben etwas von Hexerei erwähnt«, erinnerte Kant mich. »Das müsste ich erst verifizieren, Herr Professor.« »Es ist ein Ausgangspunkt, Stiffeniis. Zumindest wissen wir jetzt, dass die Verschwörungstheorie eine falsche Spur war.« Da betrat Johannes das Zimmer. »Herr Stiffeniis, draußen ist ein Mann, der mit Ihnen sprechen möchte«, verkündete er. Im Flur stand ein junger Gendarm, der seine blau gefrorenen Hände rieb und sie mit seinem Atem zu erwärmen versuchte. Ich wusste, was er mir sagen würde, bevor er den Mund aufmachte. »Anna Rostova?«, fragte ich, als er einen Schritt vortrat. »Ja, Herr Prokurator. Man hat sie gefunden.«
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ndlich gute Nachrichten, Stiffeniis! Sie haben sie also gefunden. Nun bietet sich Ihnen eine zweite Chance, die Frau zu befragen und zu den nötigen Beweisen zu gelangen.« »Ja, Professor«, pflichtete ich ihm bei, obwohl mir Kant ein wenig zu enthusiastisch erschien und ich Ironie hinter seinen Worten vermutete. Da wandte er sich unvermittelt einem anderen Thema zu: »Es muss bitterkalt sein da draußen«, sagte er mit einem Blick aus dem Fenster. »Bringen Sie mir meinen wasserdichten Umhang, Johannes.« Der Diener sah mich besorgt an, bevor er den Raum verließ. »Sie wollen doch nicht hinausgehen, oder?«, erkundigte ich mich. Aber Kant betrachtete weiter schweigend die dunklen Wolken am Himmel, während ich allmählich nervös wurde, weil noch so viel zu tun war. Wenig später kehrte Johannes mit dem weiten bienenwachsimprägnierten Umhang zurück, den Kant tags zuvor am Pregel getragen hatte. »Der ist für Sie, Stiffeniis«, verkündete Kant. »Ich habe ihn eigens anfertigen lassen. Ihr Mantel taugt vielleicht für Lotingen, aber nicht für das Wetter in Königsberg.«
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Ich ließ mir von Johannes in den Umhang helfen, bedankte mich bei Professor Kant und hastete, meinen eigenen Mantel unter den Arm geklemmt, mit Koch hinaus. »Heute ist er höchst merkwürdig gelaunt«, murmelte ich. »Das ist das Alter, Herr Prokurator«, meinte der Sergeant. »Es kann einem die seltsamsten Streiche spielen, und es macht auch vor Genies nicht Halt.« Ich wandte mich dem Diener zu. »Lassen Sie ihn nicht aus den Augen, Johannes«, sagte ich. »Rufen Sie die Soldaten, wenn Ihnen etwas Verdächtiges auffällt.« »Ja, das werde ich tun«, antwortete Johannes und legte seine Hand aufs Herz. Kurz darauf trat ich mit Koch hinaus in den eisigen Wind, und wir eilten den Gartenpfad hinunter zur Kutsche, wo der wartende Gendarm seine ganze Kraft benötigte, um die Tür für uns aufzuhalten. Gerade als ich einsteigen wollte, kam eine winzige alte Frau aus dem Nachbarhaus. Sie hatte ein schwarzes Wolltuch umgelegt, das zu locker gebunden war, um Schutz gegen die Kälte zu bieten. »Sind Sie ein Freund von Professor Kant?«, fragte sie neugierig. »Ja, ich habe die Ehre, mich als solcher bezeichnen zu dürfen«, antwortete ich. »Geht es ihm gut?«, erkundigte sie sich. »Für sein Alter bemerkenswert gut«, gab ich zurück. »Darf ich nach dem Grund Ihres Interesses fragen, Frau …?« »Mendelssohn. Ich bin die Nachbarin und unterhalte
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mich immer kurz mit Professor Kant, wenn er im Frühjahr und Herbst seine Spaziergänge macht. Er nimmt auch gern einen Zweig frischen Rosmarin aus meinem Kräutergarten. In letzter Zeit habe ich ihn allerdings kaum noch gesehen. Und seit nun Herr Lampe, die Gendarmen und Leute wie Sie zu allen Tages- und Nachtzeiten hier auftauchten, bin ich in Sorge, dass ihm etwas passiert ist.« »Herr Lampe?« »Sein Diener«, erklärte sie. »Der Mann, der sich um ihn kümmert.« Sie verwechselt den neuen mit dem alten Diener, dachte ich, ohne sie zu korrigieren. »Professor Kant leidet unter einer leichten Erkältung«, sagte ich. »Und das Wetter hindert ihn daran hinauszugehen.« Die Frau nickte. »Deswegen schaut er wahrscheinlich so häufig hier vorbei. Er hatte immer ein gutes Verhältnis zu seinem Herrn.« »Frau Mendelssohn, ich danke Ihnen im Namen von Professor Kant für Ihre Anteilnahme und wünsche Ihnen einen guten Tag«, beendete ich das Gespräch, weil der Wind zu stark war, um den Plausch fortzusetzen. Dann stieg ich in die Kutsche, wo meine Gedanken sich schon bald um Anna Rostova zu drehen begannen. »Hat man die Gefangene ins Schloss gebracht?«, fragte ich den jungen Gendarmen, der mir stocksteif in der Kutsche gegenübersaß und in dessen zotteligem Schnurrbart noch Eierreste vom Frühstück hingen. »Nein, Herr Prokurator. Sie ist draußen am Haff, wo man sie gefunden hat.« »Niemand hat ihr etwas zuleide getan?«
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»Nein, Herr Prokurator«, antwortete der Soldat. »Ihre Befehle sind genauestens befolgt worden. Wachtmeister Stadtschen hat strikte Anweisung gegeben, sie nicht anzurühren.« »Sehr gut«, sagte ich erleichtert. Ein Blick auf ihre Schuhsohlen würde genügen, um ihre Schuld oder Unschuld festzustellen. Wir brauchten fast dreißig Minuten zu dem sandigen Haff nicht weit von Anna Rostovas Wohnung entfernt. Nachdem wir uns über den windverwehten Strand zu den mit hochgeschlagenem Kragen wartenden Soldaten vorgearbeitet hatten, wurde mir klar, dass es keine zweite Vernehmung der verführerischen Anna geben würde. Es sei denn, ich wollte die Dienste von Doktor Vigilantius in Anspruch nehmen. Anna Rostova trieb mit dem Gesicht nach unten im kalten, grauen Wasser der PregelMündung. Das rote Kleid hatte sich über ihren weißen Beinen gebauscht, ihre Füße steckten in einem Gewirr aus Seetang, und lange Strähnen ihres weißen Haares schwammen ausgebreitet um ihren Kopf wie helle Lichtstrahlen. Fünf Soldaten stritten sich Pfeife rauchend darüber, wer die Leiche aus dem Wasser fischen sollte. Als Sergeant Koch mit scharfer Stimme eine Anweisung bellte, wateten zwei der Männer widerwillig in die eisigen Fluten und begannen, den Körper ans Ufer zu ziehen. Anna Rostova sah aus wie eines jener mystischen Geschöpfe – halb Mensch, halb Fisch –, die Ostseefischer der Legende nach gelegentlich in ihren Netzen fangen. Wie sollte ich nun ohne die Aussage der Albino-Frau beweisen, dass sie die Morde begangen hatte? Und was, wenn sie unschuldig war? Dann lief der Mörder noch
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immer frei herum. In beiden Fällen stand ich wieder am Anfang meiner Ermittlungen. Hinter mir brüllte Koch den Gendarm an, der uns in der Kutsche zum Haff begleitet hatte. »Warum hat niemand dem Herrn Prokurator gesagt, dass die Frau tot ist?«, polterte er. »Sie wissen, dass auf solche Nachlässigkeiten Degradierung steht.« Ich drehte mich um und legte beschwichtigend meine Hand auf seinen Arm. »Das macht nichts, Koch. Sorgen Sie bloß dafür, dass ihre Schuhe nicht verloren gehen.« Koch gab die Anweisung an die Soldaten weiter. »Glauben Sie, sie ist dem Mörder zum Opfer gefallen, Herr Prokurator?«, fragte er, nachdem er sich wieder zu mir gesellt hatte. Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß wirklich nicht, was ich denken soll«, erwiderte ich. »Könnte es Selbstmord gewesen sein?« »Alles ist möglich«, antwortete ich. »Obwohl ich das nicht für naheliegend halte.« Während die Soldaten die Leiche an Land zogen, schloss ich kurz die Augen, um mich innerlich auf die körperliche Untersuchung vorzubereiten, die ich gleich an ihr vornehmen musste. »Verzeihung, Herr Prokurator«, hörte ich da die Stimme eines schlanken jungen Soldaten mit grobknochigem Gesicht. Seine Augen tränten vom Wind, und seine rote Nase lief. »Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Glinka.« »Was gibt’s?«, herrschte ich ihn an. »Ich habe die Leiche der Frau entdeckt, als wir den Strand abgingen, Herr Prokurator«, sagte er. »Sie trieb
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im flachen Wasser, und zuerst dachte ich, es handle sich um eine tote Robbe.« »War sonst jemand hier?« »Im Winter, Herr Prokurator? Die Walfänger nutzen diesen Abschnitt im Sommer und Herbst. Vielleicht landen in der Nacht Schmuggler, aber ansonsten …« Er sah schweigend übers Wasser hinüber zu einem einzelnen Gebäude auf der anderen Seite des Ufers. »Ja?«, hakte ich ungeduldig nach. Glinka nahm die Mütze ab, um über sein strähniges Haar zu streichen. »Da drüben ist … eine Spelunke, wo Landstreicher und ähnliches Gesindel während der Nacht Unterschlupf finden. Dort werden auch Schwerverbrecher zur Deportation an Bord gebracht.« »Deportation?«, wiederholte ich. »Ja, nach Sibirien, Herr Prokurator. Vielleicht hat sie gestern Abend dort drüben ihre Runde gemacht. Die Flut könnte die Leiche dann hier angeschwemmt haben. Bei dem Wind wäre das gut vorstellbar.« »Danke, Glinka«, sagte ich und entließ ihn. Ich ging zum Wasser hinunter, um zu dem Haus auf der anderen Seite der Pregel-Mündung hinüberzuschauen. Viel war aus dieser Entfernung nicht zu sehen, nur ein Wellenbrecher, eine Mole und ein oder zwei Gebäude. Der graue Himmel schien auf dem Ganzen zu lasten wie ein schweres Bleigewicht. »Herr Prokurator!«, rief Koch, der neben der Leiche stand. Man hatte den Seetang von Anna Rostovas feingliedrigen, marmorweißen Füßen entfernt. Zwei Gendarmen waren damit beschäftigt, in Wasser und Tang nach den Schuhen der Frau zu suchen.
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»Lassen Sie die Leiche zu der Hütte dort drüben bringen, Koch«, wies ich meinen Assistenten an und deutete auf einen etwa hundert Meter entfernten Verschlag. »Sie scheint nicht bewohnt zu sein. Wollen wir hoffen, dass heute niemand auf die Idee kommt zu fischen.« »Mit Sicherheit nicht, Herr Prokurator«, entgegnete Koch. »Es sind zu viele Soldaten am Strand, und das Wetter ist auch nicht gerade einladend.« »Umso besser«, brummte ich, während Koch meine Order weitergab, woraufhin sich die Soldaten mit der tropfenden Leiche widerwillig den steilen, unter ihren Füßen nachgebenden Kiesstrand hinaufmühten. Dort legten sie sie erst einmal ab, bevor sie die Tür des Schuppens aufbrachen und sie hineinbrachten. Im Innern war es dunkel und stickig; in der Luft hing der Gestank von verrottetem Fisch. Die Männer entfernten sich mit gerümpfter Nase. »Holen Sie eine Lampe«, rief ich ihnen nach. Sergeant Koch trat aus dem Schuppen hinaus, um meinen Befehl zu wiederholen. Natürlich hatte keiner von ihnen eine Lampe dabei oder wusste, wo sich eine finden ließe. »Laufen Sie zur Kutsche«, sagte Koch, »und bitten Sie den Kutscher um eine seiner Lampen.« Ich gesellte mich zu ihm. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Herr Prokurator, warte ich hier draußen. Eine Leiche gestern Abend, eine heute Morgen, das reicht. Ich sorge dafür, dass Sie nicht gestört werden«, fügte er hinzu. »Außerdem habe ich das Gefühl, dass ich auf die Soldaten achten sollte. Am Strand gibt es noch Etliches zu tun, und …«
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»Gut, Sergeant«, fiel ich ihm ins Wort. »Ein solcher Anblick ist für keinen schön, da stimme ich Ihnen zu.« Glinka kehrte im Trab mit der Lampe des Kutschers zurück. Ich nahm sie entgegen, bedankte mich und betrat erneut die Hütte, wo ich sie auf den Boden stellte und neben der Leiche niederkniete. Zum ersten Mal war ich mit Anna Rostova allein. Als mein Blick auf ihren Körper fiel, wurde ich von Mitleid und Traurigkeit ergriffen. Wäre da nicht ihr silberweißes Haar gewesen, hätte ich sie vermutlich nicht wiedererkannt. Ihr vor Kurzem noch so hübsches Gesicht war aufgeschwemmt und mit zahllosen Kratzern und Schnitten übersät. Der Kies hatte die Haut von Kinn, Nase und Stirn abgeschürft. Darunter schimmerte weiß der Schädelknochen. Die Krebse im Pregel hatten innerhalb weniger Stunden ganze Arbeit geleistet. Anna Rostovas Augen waren verschwunden, an ihrer Stelle sah ich nur noch zwei schwarze Löcher. Seetang hatte sich um ihren Hals, ihre Brüste, ihre Beine und nackten Füße geschlungen. Vorsichtig entfernte ich ihn von ihrem Hals, an dem ich mattbraune Flecken entdeckte. Ich untersuchte diese Male gründlich, bevor ich mich ihren Brüsten und Beinen und schließlich den eingerissenen Nägeln zuwandte. Jetzt, da sie sich nicht mehr wehren konnte, hielt ich ihre kalten Hände länger in den meinen, als mir ziemlich erschien … »Sie ist erwürgt worden«, hörte ich da Kochs Stimme neben mir, dessen Eintreten ich weder bemerkt noch erwartet hatte. »Sieht ganz so aus«, pflichtete ich ihm bei, ließ vorsichtig Anna Rostovas Hand los und erhob mich. Wäh-
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rend ich die Beine streckte, bat ich Koch, die Leiche umzudrehen, damit ich die Rückseite des Schädels untersuchen konnte. Als ich ihr schweres nasses Haar von ihrem alabasterfarbenen Nacken wegschob, spürte ich die klamme Kälte ihrer Haut. Ich ließ die Finger darüber gleiten. Keine Spur von der Klaue des Teufels. »Wer sie auch immer umgebracht hat«, stellte ich fest, »ist nicht unser Mörder. Wir werden nie erfahren, ob sie in Professor Kants Garten war, wenn wir nicht ihre Schuhe …« »Herr Prokurator«, hörte ich da eine Stimme von der Tür. Glinka trat ein, in der ausgestreckten Hand einen Schuh. »Wir haben ihn ein Stück weiter unten am Strand gefunden. Der andere muss irgendwo in der Nähe sein.« »Der eine reicht, danke«, erwiderte ich und nahm ihn entgegen. Die Sohle war so glatt und abgeschliffen wie die Kiesel am Ufer. »Sie war es also nicht«, sagte ich enttäuscht, aber auch ein wenig verwirrt. »Könnte es sein, dass sie noch ein zweites Paar besaß?«, meinte Koch. »Das bezweifle ich, Sergeant.« »Tja, was nun, Herr Prokurator?«, fragte Koch leise. Er wusste, dass ich mit meinen Ermittlungen wieder am Anfang stand. Ich dachte eine Weile nach, bevor ich antwortete. »Ich würde gern zu dem kleinen Hafen auf der anderen Seite hinüber«, sagte ich schließlich. »Vielleicht hat jemand sie gestern Abend dort gesehen.« »Aber Herr Prokurator!«, rief Koch. »Der Tod der
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Frau ist nicht relevant für den Fall. Dafür ist die Stadtpolizei zuständig …« »Könnten Sie ein Ruderboot für die Überfahrt organisieren?«, fragte ich. Koch sah mich mit großen Augen an. »Ein Stückchen weiter unten befindet sich eine Fußgängerbrücke. Wenn wir sie benutzen, sind wir in weniger als einer halben Stunde auf der anderen Seite und wieder zurück.« Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Plötzlich wurde mir klar, wie sehr ich Kochs Bodenständigkeit und seinen gesunden Menschenverstand nötig hatte. Er fragte nie, warum, sondern immer nur, wie. »Decken Sie die Leiche zu«, wies ich einen der Gendarmen an, obwohl sich in der Hütte nur ein paar schmutzige, stinkende Säcke und ein aufgerolltes Netz voller Löcher befanden. Ich wandte den Blick ab, als die Soldaten Anna Rostova hinaustrugen, zog meine Hand jedoch nicht zurück, als ihre feuchten Locken meine Finger berührten. Koch und ich folgten den Männern nach draußen und sahen zu, wie sie die Leiche auf einen wackeligen Karren hievten, den sie hinter der Hütte gefunden hatten. »Bereit, Koch?«, fragte ich schließlich. Wortlos zog der Sergeant den Hut zum Schutz gegen den Wind tiefer in die Stirn und setzte sich in Bewegung. Er gab den Weg vor zu besagter Brücke, die über die Pregel-Mündung führte. Ich hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten.
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ollen Sie wirklich da hineingehen, Herr Prokurator?« Kochs Hand ruhte auf der Klinke einer groben schwarzen Holztür, die mit Salzflecken übersät war. »Soll ich nicht lieber Verstärkung holen?« »Nicht nötig«, entgegnete ich mutig. Ich begriff, was er gemeint hatte, sobald wir eintraten. Einen Moment musste ich auf der Schwelle innehalten, um mich an die rauchgeschwängerte Luft, den Gestank ungewaschener Menschen und die Dunkelheit zu gewöhnen. Koch hatte mit seiner Bezeichnung »Spelunke« noch untertrieben. Wir befanden uns in einem ehemaligen Lagerhaus, in dem nun ein findiger Geschäftsmann verlorenen Seelen Bier und Hochprozentiges verkaufte. Ein süßlicher Geruch nach Malz zeugte noch immer davon, dass das Gebäude einmal als Kornlager genutzt worden war. Die Steinmauern erhoben sich direkt auf dem Kai auf einem unregelmäßigen Schlamm- und Mulchboden. Ein offenes Feuer in der Mitte des Raumes, dessen Rauch durch ein gezacktes Loch in der Balkendecke erfolglos hinauszudringen versuchte, schützte vor der bitteren Kälte draußen. Trotzdem waren alle Wände feucht. Eine einzelne Lampe erhellte den Eingang. Etwa vierzig Männer lagen, ihre Getränke in der
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Hand, auf dem Boden ausgestreckt oder kauerten in Gruppen an den Wänden. Ein paar hatten sich um die lodernden Flammen geschart. Es herrschte erdrückende Stille. »Dort drüben, Herr Prokurator«, murmelte Koch und deutete mit dem Kopf auf die linke Wand, wo acht Männer Schulter an Schulter auf einer Bank saßen wie Spatzen auf einem Gartenzaun. Anfangs bemerkte ich die Kette nicht, die ihre Knöchel miteinander verband, doch dann hörte ich das Rasseln des Eisens. Um die Schultern der kahl geschorenen Gefangenen lagen graue Decken. Ein Mann hatte einen bandagierten Armstumpf; seine rechte Hand war ihm vermutlich wegen wiederholten Diebstahls amputiert worden. Ein anderer trug einen seltsamen Mantel aus vielen kleinen Fellen und eine Mütze aus dem gleichen Material, beides offenbar selbst gefertigt. An beiden Enden der Bank wachten Soldaten in schmutzig weißer Uniform und Mütze mit rot-blauer Kokarde, die Muskete zwischen die Knie geklemmt. Einem von ihnen war der Kopf auf die Brust gesunken. Er schien zu schlafen. »Sie warten seit gestern hier, Herr Prokurator«, informierte Koch mich. »Das Schiff nach Narva ist noch nicht da. Man weiß nichts über seinen Verbleib.« Am Abend zuvor hatte ich in Rhunkens Zimmer die Anweisung zur Verschiffung der Schwerverbrecher unterzeichnet. Die gefährlichsten Männer Preußens wurden in Narva am finnischen Meerbusen gesammelt. Beim ersten Tauwetter würde ihr Marsch bis zur mongolischmandschurischen Grenze in fast sechstausend Meilen Entfernung beginnen. Alexander Romanow hatte den
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Preis für das Getreide, das er nach Preußen exportierte, im Austausch für diese Männer gesenkt. »In die Sklaverei verkauft«, hatte eine Berliner Zeitung getitelt und im folgenden Artikel ausgeführt, der russische Eigentümer der Gefangenen würde schon dafür sorgen, dass sie ihm den größtmöglichen Profit brachten. »In den Silberminen von Nerchinsk gibt es immer Arbeit«, hatte der neue Zar angeblich mit einem Lächeln gesagt. »Als Erstes müssen wir den Wirt finden«, erklärte ich. »Ich bezweifle, dass es einen solchen gibt«, erwiderte Koch. »Hier wird Schmuggelware verkauft. Schnaps ist das einzige Mittel gegen die Kälte in Pillau. Gott allein weiß, was diese Teufel in Sibirien anfangen werden!« Als ich einen Schritt auf die Bank zu trat, sprang der Soldat am hinteren Ende auf und richtete seine Muskete auf mich. Der zweite tat es ihm gleich. »Halt!«, rief er mit zuckendem Augenlid. »Einen Schritt weiter, und Sie sind ein toter Mann!« Ich hob die Hände. »Ich bin Magistrat der Krone«, erklärte ich, trotz meiner lächerlichen Haltung um Würde bemüht. »Im Fluss hat man eine Tote gefunden. Ich würde gern wissen, ob Sie oder Ihre Gefangenen sie gestern Abend gesehen haben.« Der Soldat mit dem zuckenden Augenlid senkte die Muskete ein wenig. Er war abgrundtief hässlich und hatte einen riesigen Mund, wie ich ihn von den Bauern um Magdeburg kannte, wo die Heirat von Cousins und Cousinen erlaubt war. Währenddessen legte der andere, ein groß gewachsener, schlanker Kerl mit Korporalsabzeichen an der Uniform, seine Muskete an der Schulter an und zielte damit auf Kochs Gesicht.
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»Und Sie?«, knurrte er. »Ich bin der Assistent des Herrn Prokurator«, antwortete der Sergeant. »Sie behindern Herrn Stiffeniis in der Ausübung seiner Pflicht!« Widerwillig senkten die beiden ihre Musketen. »Haben Sie hier gestern Abend irgendwelche Frauen gesehen?«, fragte Koch. »Es waren jede Menge Leute hier«, begann der Soldat mit dem riesigen Mund. »Bei der Hundskälte …« »Auch Frauen?«, bohrte ich nach. »Das hier ist keine Kirche, Herr Prokurator«, antwortete der Mann, stützte den Schaft seiner Muskete auf dem Boden ab und strich sich nachdenklich übers Kinn. »Wir tun, was wir können, um die Gefangenen ruhig zu halten, aber die Nacht ist lang. Je schneller sie auf den Weg kommen, desto besser. Es gibt mit Sicherheit Probleme, wenn wir noch länger bleiben müssen …« »Es geht um eine Albino-Frau«, sagte ich. »Weiße Haut, weißes Haar, sehr helle Augen …« Die beiden Soldaten sahen einander erschrocken an. »War die Frau allein?«, erkundigte ich mich. »Nun, sie kam ein paar Stunden nach unserer Ankunft hier rein und ging zum Feuer. Zitterte wie Espenlaub. Hatte keinen Mantel an, nur ein Kleid …« Wieder wechselten die Wachen einen Blick, offenbar unsicher, wie viel sie verraten durften. »Es interessiert mich nicht, wie geflissentlich Sie Ihren Pflichten nachkommen«, sagte ich. »Ich möchte lediglich wissen, in wessen Begleitung die Frau sich befand.« »In einer Stunde weiß General Katowice eure Namen!«, drohte Koch. »Also heraus mit der Sprache!«
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»Geschieht euch recht«, knurrte einer der Gefangenen. »Nun?«, fragte ich den Korporal. »Sie war allein, Herr Prokurator«, antwortete er. »Hat sofort für Aufruhr gesorgt. Sie sah so exotisch aus.« »Kannten die sie?«, erkundigte ich mich. Der Soldat schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. Aber das rote Kleid hat sie heiß gemacht. Die haben doch schon seit Monaten keine Frau mehr gesehen. Und so abgeneigt war sie nicht, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Haben Sie mit ihr gesprochen?« Beide Männer schüttelten heftig den Kopf. »Und die Gefangenen?« Erneut warfen sie einander einen verstohlenen Blick zu. »Wenn Sie so weitermachen, liegen auch Sie bald in Ketten«, drohte ich. »Sie wollte mit aufs Schiff«, murmelte der Soldat mit dem riesigen Mund. »Als blinder Passagier.« Dann blickte er zu Boden. »Hat sie Geld dafür geboten?«, fragte ich. »Ich hab Ihnen doch schon gesagt, dass es kein Schiff gab. Wir hatten keine Ahnung, wie lange wir noch warten müssten. Ich konnte ihr nichts versprechen.« »Aber Sie nahmen das, was sie zu bieten hatte, nicht wahr?«, sagte ich wütend. »Niemand hat sie gezwungen«, erwiderte der Soldat. »War ihre eigene Entscheidung. Sie hat gesagt, sie wär schon mal auf ’nem Schiff gewesen, hätte sich die Passage erarbeitet – was sie damit meinte, war klar.«
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Plötzliche laute Schreie und ein schrilles Kreischen ließen uns zusammenzucken. Sofort hoben die Soldaten die Musketen und richteten sie auf eine Gruppe von Leuten, die im Kreis zusammenkauerten. In ihrer Mitte hockten zwei katzengroße hellgraue Ratten mit riesigen Schneidezähnen, die von ihnen angefeuert wurden. Der Kampf dauerte nicht lange. Ein Mann hob den Verlierer am Schwanz hoch, um ihn den Zuschauern zu zeigen, und begann dann, ihn über dem Kopf herumzuwirbeln, so dass Blut in alle Richtungen spritzte. Mit einem Mal ließ er die Ratte los, die daraufhin quer durch den Raum segelte und mit einem hässlichen Geräusch gegen die Wand klatschte, wo sie einen roten Fleck hinterließ. Der Lärm schwoll an, und vereinzelt erklangen Freudenschreie, als einige Münzen den Besitzer wechselten. Nach einem kurzen Handgemenge hastete ein Mann zu dem Gefangenen mit dem seltsamen Fellumhang, der mir bereits zuvor aufgefallen war. »Wer ist das?«, erkundigte ich mich. »Er heißt Helmut Schuppe«, antwortete der Soldat. »Und wartet auf seine Deportation nach Sibirien. Hat die halbe Nacht gewettet und gewonnen und sich mit ihr unterhalten … obwohl das sicher nicht ganz die richtige Formulierung ist …« »Was hat er verbrochen?«, fragte ich und beobachtete, wie der Gefangene einen Fellbeutel unter seinem Hemd hervorholte und seinen Wettgewinn darin verstaute. Helmut Schuppe war nicht sonderlich groß, dafür aber kräftig wie ein Bär, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich jemand freiwillig mit ihm anlegen würde.
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Der Soldat zog ein schmutziges Blatt Papier aus seiner Tasche. »Hier steht, dass er seinen Bruder umgebracht hat. Kaltblütig. Und hinterher hat er seine Leber verspeist«, fasste er zusammen, nachdem er das Dokument mit Mühe gelesen hatte. Das also war das Monster, dessen Namen ich schon von der Liste kannte. »Nehmen Sie ihm die Ketten ab«, befahl ich dem Soldaten, während es um uns herum wieder laut wurde. Offenbar hatte man weitere Ratten aufgespürt und wettete nun auf deren kämpferisches Geschick. »Ich soll ihm die Ketten abnehmen, Herr Prokurator?«, wiederholte der Soldat verwundert. »Sie haben richtig gehört.« Er kniete vor der Bank nieder, holte einen Schlüssel aus seiner Tasche und steckte ihn in das Schloss des Fußeisens. Dann zog er Helmut Schuppe hoch, stieß ihm die Muskete in die Rippen und dirigierte ihn in meine Richtung. Aus der Nähe betrachtet wirkte Schuppe noch kräftiger, und der Pelzumhang tat ein Übriges, um diesen Eindruck zu unterstreichen. Trotz seines Namens hielt ich ihn für einen Lappländer, weil er hohe Wangenknochen, schmale Augen, eine große Nase und einen sinnlichen Mund hatte. Der Feuerschein aus dem Kamin erhellte das Brandmal auf seiner Wange, ein leuchtend rotes »M«. »Sie haben ordentlich Geld gewonnen mit den Ratten«, begann ich in freundlichem Tonfall. Koch stand neben, die Soldaten mit ihren Musketen hinter mir. »Soll ich Ihnen ’nen Tipp geben, oder was wollen Sie?«, fragte der Mann mit einem nasalen Zischeln in
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akzentfreiem Deutsch. »Ich kenn die Biester«, erklärte er kehlig lachend. »Den Eindruck habe ich auch«, pflichtete ich ihm bei. »Aber erzählen Sie mir lieber etwas über die Frau.« Schuppe sah mich mit schmalen Augen an. »Was für eine Frau?« »Anna Rostova«, antwortete ich. »Ach, die«, meinte er, und wieder drang dieses tiefe Lachen aus seiner Kehle. »Ein Gefangener holt sich sein Vergnügen, wo’s geht, weil er außer Geld sowieso nichts mitnehmen kann. Für Geld kriegt man ’ne warme Decke und was zu essen und Frauen … Letzte Nacht war’s besonders gut angelegt: Grog, ’ne Wette und ein warmer Körper neben dem meinen.« »Berichten Sie mir mehr über den warmen Körper«, sagte ich, um Beherrschung ringend. Die Vorstellung, dass Anna Rostova es in der dunkelsten Ecke dieser Spelunke mit einem Brudermörder und Kannibalen getrieben hatte, raubte mir den Atem. »Worüber haben Sie mit ihr geredet?«, fragte ich. Sein lautes Lachen zog die Blicke der anderen Anwesenden auf uns. »Die hübschen warmen Lippen zwischen ihren Beinen sind nicht besonders gesprächig.« »Es könnte sein, dass ich Sie vor Ihrer Verschiffung gen Norden ordentlich auspeitschen lasse, Helmut Schuppe«, sagte ich kühl. »Oder mir noch etwas Schlimmeres ausdenke, falls ich herausfinde, dass Sie irgendetwas mit ihrem Tod zu tun hatten.« Die Drohung zeitigte keinerlei Wirkung – anders als die Nachricht, dass Anna Rostova nicht mehr unter den Lebenden weilte.
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»Tot?«, flüsterte er bestürzt. »Erwürgt«, antwortete ich. »Ich hab ihren Mörder gesehen«, sagte er mit leiser Stimme. Ich hielt den Atem an. »Konnen Sie ihn beschreiben?« Schuppe wandte kopfschüttelnd den Blick ab. »Ein Schatten hat sie fortgetragen. Ich erkenne das Böse. Die Ratten sind ganz leise geworden, als er hier reinkam.« »Drücken Sie sich gefälligst klarer aus, Mann!«, herrschte ich ihn an. Nun sah er mich unverwandt an. »Der Mann war hinter ihr her wie ein hungriger Wolf. Deswegen wollte sie auch an Bord und hat sich an die beiden rangemacht.« Er nickte zu den Soldaten hinüber. »Da drüben«, sagte er daraufhin und deutete in die dunkelste Ecke. Dann spuckte er aus. »Ich würd sonst was dafür geben, wenn ich die Zähne in die Leber dieser Ungeheuer schlagen könnte! Aber sie haben Waffen, und ich will überleben. Ich überstehe Russland, ihr werdet schon sehen! Und dann komme ich zurück und zahle es euch heim.« Sechstausend Meilen zu Fuß durch unwirtliches Gelände. Die Gefangenen würden von Glück sagen können, wenn sie überhaupt in Russland ankamen. »Und schließlich hat sie sich den Gefangenen zugewandt?«, fragte ich mit rauer Stimme. »Ein oder zwei Mann wollten sie, aber ich hatte das Geld«, erklärte er stolz. »Das hab ich ihr gegeben, damit sie an meiner Seite bleibt. Und den andern hab ich versprochen, dass ich ihnen auch solche Umhänge näh, bevor wir nach Narva kommen. Da waren sie zufrieden.
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Auf Schiffen gibt’s immer Ratten. Ihr Fell wärmt in der Kälte besser als die Erinnerung an eine Nutte.« »Sie sagen, sie hatte Angst. Vor was oder wem?« Schuppe schüttelte den Kopf. »In Königsberg sterben die Leute, hat sie erzählt. Was heißt das? Wütet die Pest in der Stadt?« »Was ist zwischen Ihnen abgelaufen?«, sagte ich, ohne auf seine Frage einzugehen. Schuppe blähte die Backen und kratzte sich an der Nase. »Sibirien, hab ich ihr gesagt, vergiss es, da überlebt keine Frau.« Da hatte er recht. Das Deportationsabkommen war 1801 mit Zar Paul Romanow geschlossen worden, und in der ersten Gefangenengruppe hatten sich auch zwei Frauen befunden, eine Prostituierte und eine Gatten- und Kindsmörderin. Ich erinnerte mich gut an die Zeitungsberichte. Die Frauen waren wiederholt von den anderen Gefangenen vergewaltigt worden, und die Kälte hatte sie noch vor der Ankunft an ihrem Bestimmungsort dahingerafft. Daraufhin verbot Minister von Arnim in einem Rundschreiben die Deportation von Frauen und verfügte, dass nur starke, gesunde Männer nach Russland verbracht werden dürften, weil der Zar keine Schwächlinge in seinen Kolonien dulde. Ironie des Schicksals: Die Unnachgiebigkeit der Romanows wirkte sich weit positiver auf das preußische Strafrecht aus als alle Diskussionen der Aufklärung über das Wesen von Verbrechen und angemessener Sühne. »Sie war schon mal da«, sagte der Mann. »In Sibirien, und sie ist wieder zurückgekommen!« »Deportiert?«, fragte ich erstaunt.
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Schuppe nickte. »›Schau dir meine Haare und meine Haut an‹, hat sie gesagt. ›Was meinst du, wo die zu Eis geworden sind?‹« Er schwieg einen Augenblick. »Ich verdien mir mein Geld mit der Jagd, verkauf Felle und ess das Fleisch. Maulwürfe im Sommer, Ratten im Winter. Gott allein weiß, wie viele preußische Städte ich von dem Ungeziefer befreit hab! Ich näh mir warme Socken gegen die Kälte und den Schnee. Ich komm zurück!«, rief er, an die Soldaten gewandt. »Vielleicht genauso weiß wie sie, aber ich schaff’s, und dann rechne ich mit euch Schweinen ab!« Aus Nerchinsk heimkehren? Von dort kamen nur Geister zurück. Oder Vögel, die einfach über den Schnee, die Wölfe der Tundra, die hungrigen Polarbären und die vereiste Steppe hinwegflogen. Wer nach Nerchinsk deportiert werden sollte, war tot, bevor er Preußen verließ. Wieder musste ich an die Zeitungsberichte denken: … Temperaturen von minus fünfundfünfzig Grad, 5250 Meilen von St. Petersburg entfernt, 480 Meilen nördlich der Chinesischen Mauer, 100 Meilen westlich des Pazifischen Ozeans, weit weg nicht nur von Westeuropa, sondern auch von den Handelsstraßen Russlands und Chinas. Trostlose Steppen und kahle Berge, so weit das Auge reicht, ein Gebiet, das nur von nomadischen Tartaren bevölkert wird. Anna Rostova hatte Helmut Schuppe mit ihrer Lüge Hoffnung gemacht. Ich betete für ihre Seele, die offenbar
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doch nicht ganz so schwarz gewesen war, wie ich gedacht hatte. »Sie hat Sie verlassen, Schuppe«, sagte ich. »Warum?« »Nach den Rattenkämpfen bin ich eingeschlafen, weil ich ’ne ganze Menge getrunken hatte. Irgendwann bin ich hochgeschreckt und hab sie an der Tür gesehen. Festgekettet, wie ich war, konnte ich ihr nicht helfen. Sie hat mir noch einen Blick zugeworfen, bevor er sie an den Haaren rauszog …« »Ein Mann, sagen Sie?« »Mit einem großen schwarzen Mantel, den Hut tief in die Stirn gezogen.« »Danke, Schuppe«, sagte ich und signalisierte dem Soldaten, dass er ihn zu der Bank zurückbringen und wieder festketten solle. »Sie wissen, was ich getan habe?«, flüsterte Schuppe mir da ins Ohr. Ich nickte wortlos und wich einen Schritt zurück. »Ich hab meinen Bruder umgebracht«, sagte er und sah mir tief in die Augen. »Warum?« Er zuckte mit den Achseln. »Ich wollte bei ihm unterkriechen; die Soldaten waren hinter mir her. Er hat mich rausgeschmissen und mich mit der Axt bedroht. Ich hab sie ihm abgenommen und in den Schädel gerammt.« Hätte ich das, was zwischen meinem Bruder und mir vorgefallen war, genauso schnörkellos erzählen können wie dieser Mann? Schuppe war dazu verdammt, in Sibirien zu sterben, während ich in Gesellschaft von Immanuel Kant einen Mörder jagte …
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»Ich hab Menschenfleisch gegessen«, riss Schuppe mich aus meinen Gedanken. »Und ich werd’s wieder tun, wenn die Umstände es erfordern.« »Die Umstände?«, fragte ich. »Krieg, Hungersnot, ein langer Marsch. Wenn Bonaparte erst hier ist, landen ’ne ganze Menge Leute im Kochtopf.« Ich erinnerte mich an den Zwischenfall während der Fahrt nach Königsberg, als Räuber an einer Brücke ein Pferd geschlachtet hatten. »Ich fress mich durch die arktische Ödnis, wenn Sie mir nicht helfen …« »Ihnen helfen, Schuppe? Wie um Himmels willen könnte ich das?« Er trat so nahe an mich heran, dass einer der Soldaten ihm die Muskete in den Rücken stieß. »Auch ein Mann im Fellmantel kann verhungern«, zischte er und begann mit dem Kiefer zu mahlen. »Retten Sie diese armen Geschöpfe vor meinen scharfen Beißern.« Dann hielt er mir plötzlich einen Bleistiftstummel hin. »Extrarationen«, forderte er mit einem entwaffnenden Grinsen. »Legen Sie den Gefangenen in Eisen«, befahl ich dem Soldaten, nahm den Bleistift in die Hand und drehte mich in den Schein des Kaminfeuers. »Und zeigen Sie mir Ihre Liste.« Hinter mir hörte ich das Rasseln der Ketten, als Schuppe die Fußfesseln angelegt wurden. Ich machte eine Notiz neben dem Namen des Mannes, der Anna Rostova ein letztes Mal Zärtlichkeit geschenkt, seinen
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Bruder umgebracht und dessen Leber gegessen hatte und der mit dem »M« für »Mörder« gebrandmarkt war: »Extraessensrationen«. Dann wandte ich mich Koch zu. »Nehmen Sie die Namen der Wachsoldaten auf, Koch. Ich lasse sie bestrafen, weil sie ihre Pflicht vernachlässigt und eine Frau unter dem Vorwand ausgenutzt haben, ihr eine Passage nach Sibirien zu verschaffen.« »Vielleicht werden sie dann selbst in Ketten gelegt, Herr Prokurator«, gab Koch zu bedenken. »Und dann steht ihnen womöglich ein langer, kalter Marsch bevor.« Wortlos bewegte ich mich zum Ausgang. An der Tür empfing mich der faulige Geruch von Schlamm und Schlick bei Ebbe. »Was jetzt, Herr Prokurator?«, fragte Koch nach einer Weile. »Haben Sie ihre Namen notiert?«, erkundigte ich mich. »Ja.« »Gut. Dann fahren wir jetzt in die Stadt zurück. Zum Lazarett«, fügte ich hinzu. »Lublinsky hatte ein Motiv, sie umzubringen, aber hatte er auch die Gelegenheit?« »Wenn Sie erlauben, Herr Prokurator«, erwiderte Koch, »werde ich Sie nicht begleiten.« »Warum nicht? Was haben Sie vor, Koch?«, fragte ich. »Ich musste gerade an meine Frau denken, Herr Stiffeniis«, antwortete er traurig. »An Ihre Frau?«, wiederholte ich verblüfft. »Sie haben mir doch erzählt, dass Sie allein leben.« »Die letzte Typhusepidemie hat Merete hinwegge-
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rafft«, sagte er leise. »Sie war Stickerin, Herr Prokurator. Mir sind die Nadeln eingefallen, die sie benutzte. Ich wusste immer, was ich ihr zum Namenstag oder zum Fest des Heiligen Nikolaus kaufen sollte. Gestern Abend dann, beim Anblick der Mordwaffe, musste ich an Merete denken. Wenn ich den Händler finden könnte, der diese Nadeln verkauft, wäre vielleicht herauszubekommen, wer sie erwirbt. Das würde uns doch weiterhelfen, nicht wahr?« »Wenn solche Nadeln so beliebt bei den Hausfrauen sind, gibt es vermutlich viele Käufer in Königsberg«, erwiderte ich, doch Sergeant Koch ließ sich nicht beirren. »Merete hat mir einmal von einem Händler erzählt«, fuhr er fort. »Von einem Mann, der alles besorgt. Wenn es mir gelänge, ihn ausfindig zu machen, könnte er uns etwas über die Machart der Nadel verraten und über die Kunden, die sie erwerben. Die unsere ist anders als die Sorte, die meine Frau immer verwendete. Im Lazarett brauchen Sie mich nicht, Herr Prokurator. Möglicherweise schaffe ich es in der Zwischenzeit, den Mann aufzuspüren. In Königsberg gibt es nicht viele Kurzwarengeschäfte.« »Gute Idee«, sagte ich, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass er Erfolg haben würde. Während wir uns unterhielten, wurde der salzwassergeschwängerte Wind stärker, und Rinnsale bildeten sich auf dem feuchtigkeitsabweisenden Umhang von Professor Kant. Ich wischte sie weg, bevor wir in die Kutsche stiegen. Dabei fiel mein Blick auf Sergeant Kochs völlig durchnässte Jacke.
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»Sie sehen aus wie eine ersäufte Ratte«, sagte ich. »Nehmen Sie meinen Umhang. Sie werden zu Fuß unterwegs sein, während ich die Kutsche habe.« »Nicht nötig«, widersprach Koch. Trotzdem streifte ich den Umhang ab und reichte ihn ihm. »Aber ich habe ihn noch weniger nötig als Sie«, sagte ich und schlüpfte wieder in meinen eigenen Mantel. Nachdem wir mehrere Holzbrücken überquert hatten, hielt die Kutsche, und Sergeant Koch kletterte hinaus. Mit dem schimmernden Umhang sah er fast aus wie ich. Unwillkürlich musste ich lächeln. Doch schon bald sollte mir der Frohsinn vergehen.
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XXV
A
nton Theodor Lublinsky.« Gefängnisarzt Franzich nickte. »Er hat das linke Auge verloren, daran ließ sich nichts ändern. Es bestand Gefahr, dass sich das andere auch noch infiziert. Nehmen Sie doch Platz.« Ich setzte mich und ließ den Blick schweifen. Anders als in den anderen Räumen im Schloss waren die Wände hier aus Glas. »So kann ich die Gefangenen besser im Auge behalten«, erklärte Franzich. »Ich brauche mich nur zu erheben, wie ein Kapitän auf der Kommandobrücke.« »Äußerst genial«, bemerkte ich anerkennend. »Die Gefangenen hingegen liegen im Bett, von wo aus sie uns nicht sehen. In ihrem Blickfeld befindet sich lediglich die Wand hinter mir.« ’ »Aha.« »Ich nenne sie die Klagemauer«, sagte er mit einem müden Lächeln. Ob die dort arrangierten Objekte bei den Kranken Vertrauen in Franzich erzeugten? »Sind die aus Wachs?«, erkundigte ich mich. »Ja«, antwortete er. »Die meisten Patienten, von deren Verletzungen die Abdrücke genommen wurden, sind am Leben und erfreuen sich, wie ich hoffe, bester Ge-
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sundheit. Die Kunst der Chirurgie hat sich im letzten Jahrzehnt deutlich weiterentwickelt.« Sein Lächeln sollte wohl beruhigend wirken, aber mich erinnerte es an das von Gerta Totz. Die Exponate an der Wand waren in höchstem Maße makaber: Wachs-abdrücke von Händen, Armen und Beinen, die Kartätschen, Bajonette und Säbel abgetrennt oder zerrissen hatten. Am schlimmsten fand ich die geisterhaften Masken von Gesichtern, die Kanonenkugeln oder anderem schwerem Kriegsgerät zum Opfer gefallen waren. Franzich saß vor diesen Monstrositäten wie der stolze Inhaber eines Wachsfigurenkabinetts. Das flackernde Licht der Öllampe erinnerte mich an einen Sommerabend, den ich mehr als ein Jahrzehnt zuvor mit meinem Vater und seinem älteren Bruder Edgard Stiffeniis in einer komfortablen Jagdhütte in den Hügeln bei Spandau verbracht hatte. Während sich Motten und andere Insekten todesmutig in die Kerzenflamme stürzten und ihr Leben mit einem Knistern und einem kurzen Aufleuchten aushauchten, erzählte Onkel Edgard mit Blick auf die Sammlung ausgestopfter Bären- und Eberköpfe an den Wänden von seinen Jagdabenteuern. Doch das hier war viel schlimmer, denn diese an Franzichs Klagemauer zur Unsterblichkeit verdammten Gesichter schienen zu leben und zu atmen. Besonders eines davon zog meine Aufmerksamkeit auf sich, weil ihm der Unterkiefer fehlte. Die oberen Zähne hingen abgebrochen über einem schwarzen Loch, und die Zunge ragte schlaff über das hinaus, was früher einmal die Lippen gewesen waren. Im flackernden Licht der Kerzen
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schienen sich die lebensecht in Indigo, Rot und Gelb bemalten Sehnen, Muskeln und Membranen vor Schmerz zu bewegen. »Sie haben das Todesurteil von Rudolph Aleph Kopka unterzeichnet?«, fragte ich. »Kopka?«, wiederholte Franzich argwöhnisch. »Ein Deserteur. Er starb vor sechs Monaten an einem eingedrückten Kehlkopf.« Franzich trommelte mit den Fingern auf die Kante des Tischs. »Das kann ich ohne einen Blick in die Akten nicht sagen.« »Dort werden Sie nicht viel finden«, erwiderte ich. »Ich habe schon nachgesehen.« »Tja, dann …« Er zuckte mit den Achseln. »Reden wir über Lublinsky«, wechselte ich das Thema. »Was für ein Gesicht!«, rief Franzich begeistert aus. »Sobald die Augenhöhle ausgetrocknet ist, lasse ich einen Abdruck machen. Die Pocken, die Lippe und jetzt noch das Auge … Meine Studenten an der Universität …« »Schwebt er in Lebensgefahr?«, fragte ich. »Aber nein«, antwortete er sofort. »Der Mann ist stark wie ein Bär. Wollte sich bei der Entfernung des Auges nicht festschnallen lassen, können Sie sich das vorstellen? ›Nun machen Sie endlich‹, hat er gesagt. Fast hätte man meinen könnten, dass er etwas Wichtigeres vorhatte. Ist das zu fassen?« »Kann ich ihn sehen?«, erkundigte ich mich. »Natürlich, Herr Prokurator. Aber seien Sie gewarnt: Sein eigentliches Problem liegt hier oben«, erklärte er
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und tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Stirn. »Es könnte sein, dass er Sie angreift. Kommen Sie mit.« Franzich ging mir voran zum Krankenlager. »Da ist er.« Er deutete auf das andere Ende des Flurs. In dem Raum standen fünfzig bis sechzig Betten, doch abgesehen von Lublinsky befand sich nur ein einziger weiterer Patient dort. Er lag in der Nähe der Tür, Lublinsky ganz am anderen Ende, als hätte Franzich die beiden bewusst getrennt. »Ist es für einen Kranken möglich, diesen Raum zu verlassen?«, fragte ich. Franzich sah mich erstaunt an. »Nur, wenn man vollständig wiederhergestellt und diensttauglich ist.« »Das meine ich nicht«, erwiderte ich. »Ist während der Behandlung ein freies Kommen und Gehen erlaubt?« »Das hier ist kein Gefängnis, Herr Prokurator. Aber schauen Sie sich die beiden doch an! Glauben Sie, die könnten sich ohne fremde Hilfe von hier entfernen? Diesem Mann ist das Bein unterhalb des Knies amputiert worden, und Lublinsky hat seit gestern Abend weder gegessen noch sich von der Stelle bewegt.« Ich nickte, alles andere als überzeugt. »Passen Sie auf, was Sie zu ihm sagen«, warnte mich Franzich. »Ich habe selten einen so niedergeschlagenen Menschen erlebt.« »Nur ein paar Worte, nicht mehr«, murmelte ich, bevor ich zu Lublinskys Krankenbett ging. »So sehen wir uns wieder, Lublinsky«, begrüßte ich ihn. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns noch einmal begegnen würden«, murmelte er nach einer Weile mit flacher, ausdrucksloser Stimme.
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Ich setzte mich auf sein Bett. Seine linke Gesichtshälfte zierte ein Verband. Er drehte sich ein wenig, so dass er mich mit seinem gesunden Auge sehen konnte. Unter dem Gazeverband wirkten seine Züge längst nicht mehr so bedrohlich. »Es freut mich, dass es Ihnen besser geht, Lublinsky.« »Besser als das letzte Mal, meinen Sie?« Er versuchte zu lächeln. »Ja, Sie haben recht. Hier fühle ich mich zu Hause. Im Lazarett ist ein Anblick wie der meine nichts Ungewöhnliches. Hier wendet man sich nicht von mir ab.« »Wir müssen uns unterhalten, Lublinsky.« »Ich habe Ihnen alles erzählt«, erklärte er. »Nein, Lublinsky«, erwiderte ich. »Nicht alles. Anna Rostova ist tot, aber das wissen Sie ja bereits.« Er straffte die Schultern. »Glauben Sie etwa, dass der Verlust des Augenlichts mir die Fähigkeit zur Hellseherei verliehen hat?«, fragte er verbittert. »Sie haben mir nur die halbe Wahrheit gesagt«, erklärte ich. »Jetzt würde ich gern den Rest erfahren. Wie ist es Ihnen gestern Abend gelungen, sich zu der Spelunke abzusetzen?« »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, erwiderte er mit jenem nasalen Zischeln, das ich bereits kannte. Er hob die Hand, um sich den Speichel von den Lippen zu wischen. »Sie wissen also nichts über den Mord an Anna Rostova?« »Muss ich eine solche Frage beantworten?« »Ich denke schon, Lublinsky.« »Nun, dann kennen Sie die Antwort.«
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»Gestern Abend haben Sie geschworen, sie umzubringen«, erinnerte ich ihn. Lublinsky wandte mir sein Gesicht ganz zu. Diese Bewegung hatte etwas Majestätisches, das mir klar machte, dass eine Veränderung in seinem Leben eingetreten war – hier sah ich die Würde des Bösen, Luzifer nach der Verbannung aus der Heerschar der Engel. In seiner Gegenwart ergriff mich ein Gefühl der Ohnmacht. »Sie haben sie ermordet«, sagte ich leise. »Was verlieren Sie schon, wenn Sie es zugeben?« »Ich war hier im Lazarett, Herr Prokurator«, erklärte er mit einem bittersüßen Lächeln. »Dafür hat Anna gesorgt.« »Sie wurde gestern Abend in einer Spelunke draußen in Pillau in Gesellschaft eines Mannes gesehen«, fuhr ich fort. »Beim Kopulieren, wilden Tieren gleich. War es das, was Sie im Grunde von ihr wollten?« »Ich, Herr Prokurator? Eher Sie, würde ich sagen«, zischelte er. »Wie Sie sie angestarrt haben!« Ich schluckte. »Unterstellen Sie mir nichts. Ich bin glücklich verheiratet!« »Das sagen sie alle«, erwiderte er kopfschüttelnd. »Und dann zahlen sie und lassen die Hosen runter. Eine Ehefrau ist und bleibt eine Ehefrau. Anna war etwas Besonderes.« »Trotzdem haben Sie sie gestern Abend ermordet.« »Gehen wir einmal davon aus, dass Sie tatsächlich recht haben, Herr Prokurator«, sagte er. »Was macht das für einen Unterschied? Wer auch immer sie umgebracht hat: Gott wird ihm vergeben, denn er hat der Welt einen Gefallen getan.«
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»Ihre Sicht der höheren Gerechtigkeit interessiert mich nicht«, herrschte ich ihn an. »Ich möchte von Ihnen lediglich die Wahrheit erfahren.« Die Pupille seines gesunden Auges weitete sich. »Die Wahrheit worüber?« »Ich will wissen, was Sie wirklich sahen und taten, als Sie mit Kopka zu den Ermordeten geschickt wurden.« Lublinsky drehte sich zum Fenster, um sein Gesicht darin zu betrachten. Draußen war inzwischen dichter Nebel vom Meer her aufgezogen; Wind und Schneeregen hatten sich gelegt und die Welt in ein stilles, milchiges Vakuum verwandelt. »Das habe ich Ihnen doch schon geschildert«, knurrte er. »Ich hab das gesehen, was auf den Zeichnungen dargestellt ist.« »Ihre Zeichnungen kenne ich, Lublinsky«, entgegnete ich. »Sie sind unvollständig.« »Ich bin kein Künstler, das habe ich dem Professor auch erklärt, aber ihm schien das nichts auszumachen. Offenbar hat er genug Geld, um es zum Fenster rauszuwerfen.« »Sie haben die Fußabdrücke des Mörders neben den Leichen nicht gezeichnet«, rügte ich ihn. »Was für Fußabdrücke?« »Beim ersten Mord haben Sie alles dokumentiert, was Sie bei der Leiche sahen, auch Fußabdrücke mit einem kreuzförmigen Muster. Aber in den anderen Fällen fehlen sie.« »Satan hinterlässt keine Spuren«, erklärte Lublinsky mit einem bitteren Lachen. »Machen Sie sich nicht über mich lustig!«, brüllte ich.
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»Sie hielten Anna Rostova für die Mörderin. Ihrer Ansicht nach war sie eine Hexe, die ihren Dämonen Menschenopfer darbrachte. Sie pflegten Umgang mit ihr, damit Ihr Gesicht wiederhergestellt würde, und mussten dafür ihre Spuren verschwinden lassen. Deshalb zeichneten Sie die Fußabdrücke nur einmal – weil Sie glaubten, sie könnten zu ihr führen.« Lublinsky lachte kehlig. »Die Nadel muss mir ins Gehirn gedrungen sein«, sagte er. »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Herr Prokurator. Wie soll ich das alles getan haben? Kopka war doch die ganze Zeit bei mir.« »Kopka ist tot, und die Toten können nicht sprechen. Sie haben ihn umgebracht, habe ich recht? Er muss geahnt haben, dass Sie die Spuren einer Verbrecherin verwischten. Aber er wollte Sie nicht denunzieren und desertierte lieber. Doch Sie machten Jagd auf ihn und brachten ihn zurück. Sie waren der Leiter der Suchmannschaft, nicht wahr? Kopka wurde zum Spießrutenlaufen gezwungen.« »Deserteure wissen, was ihnen blüht«, knurrte Lublinsky. »Es ist nun mal nicht leicht, die preußische Armee zu verlassen. Das Schwein hat seinen verdienten Lohn bekommen.« »Wie günstig für Sie, Lublinsky.« »Sie können mir keine Angst einjagen, Herr Prokurator«, erwiderte er mit fester Stimme. »Ich habe nichts mehr zu verlieren. Wenn Sie unbedingt glauben wollen, dass Anna Rostova die Mörderin war und ich ihr Komplize, steht Ihnen das frei. Und wenn Sie meinen, ich hätte für Kopkas Tod gesorgt, kann ich auch nichts dagegen tun. Aber ein Geständnis bekommen Sie nicht von mir …«
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»Sie sind doch stolz darauf, Soldat zu sein, oder?« »Das ist mein Leben«, bestätigte er. »Aber jetzt werde ich wahrscheinlich aus der Armee entlassen.« »Unehrenhaft«, fügte ich hinzu. »Mit Peitschenhieben. Und einer Gerichtsverhandlung dazu. Mitwirkung bei Morden, Behinderung von Ermittlungen, Leichenschändung. Sie zahlen nicht nur für Ihre eigenen, sondern auch für die Verbrechen von Anna Rostova. Im Gefängnis wird man nicht zimperlich mit Ihnen umspringen. Ein Offizier, der das Vertrauen missbraucht hat? Abschaum. Die Strafe? Lebenslang, mit Zwangsarbeit, bei reduzierter Ration. Mit ein bisschen Glück überleben Sie ein oder zwei Jahre. Ich werde dafür sorgen, dass Sie leiden, Lublinsky. Und um das sicherzustellen, werde ich Sie dazu verurteilen, die Strafe in einem Militärgefängnis abzusitzen.« »Das können Sie nicht!«, rief er aus. »Meinen Sie, Lublinsky? Sie kennen doch das Gesetz. Nach Artikel 137 des Strafgesetzbuches kann ich jeden zu der Strafe verurteilen, die ich für angemessen halte.« Einen solchen Artikel gibt es nicht, aber das wusste Lublinsky mit Sicherheit nicht. »Damals an dem ersten Morgen bei der Leiche, die sie gefunden hatte …«, begann Lublinsky stockend. »Sie verbarg etwas, ein Geheimnis …« Seine Stimme wurde so leise, dass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Dann wollte Kopka den Gin für Anna holen. Und während er weg war, hat sie mich in ihren Bann geschlagen. ›Ich sorge dafür, dass dein Gesicht wieder ansehnlich wird‹, hat sie gesagt.« »Das ist mir alles bekannt, Lublinsky«, fiel ich ihm ins Wort. »Erzählen Sie mir von den Fußabdrücken.«
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»Kopka hatte sie gesehen …« »Und Sie vermuteten, dass sie von der Frau stammten?« Lublinsky schüttelte den Kopf. »Beim ersten Mal noch nicht.« »Deswegen haben Sie die Fußspuren damals auch noch gezeichnet, nicht wahr?« »Ich habe gezeichnet, woran ich mich erinnern konnte. Monate später erst. Zwar konnte ich nicht besonders gut malen, aber Professor Kant war zufrieden mit meinen Skizzen. Um die Leiche herum habe ich überall Fußabdrücke gesehen, auf dem Boden, im Schnee. Mit einem kreuzförmigen Muster. Anna meinte, das sei das Zeichen des Teufels, der sich über die Kreuzigung lustig macht, ein Sakrileg. Beim zweiten Mal habe ich das Kreuz nicht mehr gezeichnet. Und auch nicht alles gemeldet, was ich am Tatort fand …« »Was fanden Sie?«, hakte ich nach. »Eine Kette«, antwortete er. »In der Hand von Jan Konnen. Eine Uhrenkette mit einem schadhaften Glied.« »Was haben Sie damit gemacht?« »Als Kopka mit etwas anderem beschäftigt war, hab ich sie in die Tasche gesteckt. Sie war aus Silber.« »Das ist Diebstahl«, sagte ich. »Ich hab sie Anna gegeben«, erwiderte er. »Ein Geschenk des Satans, hat sie gesagt. Ich würde belohnt werden. Vor unserem Eintreffen hatte sie bereits die Klaue des Teufels aus dem Nacken des Mannes gezogen, erzählte sie mir. Von da an musste ich ihr alles bringen, was ich am Tatort entdeckte, weil die Sachen ihrer Ansicht nach mit der Macht über Leben und Tod erfüllt waren …«
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»Und warum hat sie sie nicht gleich selbst an sich genommen, wenn sie doch angeblich alle Morde beging?«, fragte ich. »Sie wollte mich an sich binden«, murmelte Lublinsky. »Mich zu ihrem Komplizen machen, mich mit der Klaue des Teufels heilen. Ich musste einen Eid schwören. Wenn du irgendjemandem etwas von unserem Geheimnis verrätst, hat sie gesagt, wirkt der Zauber nicht mehr.« »Neben der zweiten Leiche waren die gleichen Fußabdrücke wie neben der ersten?« Lublinsky nickte. »Wieder dieses kreuzförmige Muster. Es war von ihr, das könnte ich schwören, obwohl ich sie dieses Mal nicht am Tatort gesehen habe. Ihre Macht wachse mit jedem Mord, hat sie behauptet. Ich glaubte, sie hätte Professor Kant ebenfalls verhext, weil er mich immer wieder zum Zeichnen zu den Tatorten schickte. Und dort nahm ich dann die Geschenke des Satans für Anna an mich.« Ich runzelte die Stirn. »Erläutern Sie das näher.« »Die Opfer hielten alle etwas in der Hand, und ich hab’s Anna gebracht wie ein folgsames Hündchen.« Mein Herz begann schneller zu schlagen. »Was waren das für Dinge?« »Ein Schlüssel in der Hand der toten Frau …« Was Lublinsky daraufhin aufzählte, war ziemlich unspektakulär: die Kette in Konnens Hand, der Schlüssel in der von Frau Brunner, ein Messingknopf mit Ankerprägung in der des dritten Opfers und eine Münze in der von Anwalt Tifferch. »Haben Sie ihr auch die Mordwaffe gebracht?«
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»Nein, Herr Prokurator. Die hat sie jedes Mal verschwinden lassen.« Er sah mich mit großen Augen an, als erwachte er soeben aus einem bösen Traum. »Sie hat sie alle umgebracht, und mir war es egal. Wenn der Tod dieser Leute ein Wachsen ihrer Macht bedeutete, sollte es mir recht sein. Am Ende wollte ich sogar, dass sie wieder zuschlägt.« Er stieß so etwas wie einen erstickten Schrei aus. Ich brauchte eine ganze Weile, bis ich begriff, dass er lachte. »Ich hab immer einen Spiegel mit mir rumgetragen«, sagte er, »damit ich überprüfen konnte, ob sich mein Gesicht nach den Morden verändert. Sie hat mir viel versprochen, aber nichts gehalten. Ich bin noch immer so hässlich wie zuvor … Komisch, nicht?«, fügte er plötzlich hinzu. »Die Frau hat die ganze Stadt in Atem gehalten und den König obendrein. Niemand hätte sie eines zweiten Blickes gewürdigt, wenn sie nicht so anders gewesen wäre. Wir waren uns ähnlich, ich mit meinem Pockengesicht und sie mit ihrer Silbermähne und ihren funkelnden Augen. Ja, ich begehrte sie. Sogar noch, als sie mir die Nadel ins Auge stieß …« Er sah mich an. »Glauben Sie wirklich, dass Sie Ihr Mysterium mit der Hilfe zweier solcher Ungeheuer lösen können, Herr Stiffeniis?« »Sie haben Anna Rostova gestern Abend umgebracht, weil Sie sie für die Mörderin hielten. Aber Sie täuschen sich, Lublinsky. Wie ist es Ihnen gelungen, sich aus dem Lazarett zu stehlen?« Wortlos wandte er sich dem Fenster zu, um wie Narziss sein Spiegelbild zu betrachten. »Durch dieses Fenster? Natürlich, Sie sind hier ja fast
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allein«, sagte ich mit einem Blick auf den einzigen anderen Genesenden im Krankensaal. »Der Mann da drüben bekommt vermutlich seit der Amputation starke Schmerzmittel, damit er schlafen kann.« »Sie ist sicher glücklich beim Teufel«, sagte Lublinsky bitter. »Anna Rostova hat die Leute nicht umgebracht«, erklärte ich. »Das weiß ich jetzt auch«, knurrte er. Ich schüttelte den Kopf. »Die Fußabdrücke neben den Leichen stammten nicht von ihr. Sie hat mit Ihnen gespielt, Ihnen einen Bären aufgebunden …« »Lassen Sie mich aufhängen, Herr Prokurator«, stöhnte er mit einem Mal. »Bevor die schwarzen Wölfe in meiner Seele zu heulen begannen, war ich ein guter Soldat.« Ich erhob mich mit einem verächtlichen Blick, griff nach meinem Hut und verließ den Raum, ohne mich noch einmal umzudrehen. Anton Lublinsky sah ich nie wieder. In dem Bericht, den ich noch am selben Abend verfasste, verschleierte ich, da ich keine eindeutigen Beweise gegen ihn hatte, seine Rolle im Fall Anna Rostova und schrieb, die Frau sei von Unbekannten umgebracht worden. Erst sehr viel später hörte ich wieder etwas über Lublinsky: Nach dem Verlust seines Augenlichts hatte man ihn in die Regimentsküche abkommandiert, wo er einen Kollegen erschlug, der ihn zu dreist gehänselt hatte. So landete er am Ende im Militärgefängnis. Dortselbst schluckte er Glasscherben und verblutete elendiglich. Draußen begann mich wieder einmal ein Gefühl der
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Unzulänglichkeit zu quälen. Was sollte ich jetzt tun? Wo sollte ich mich hinwenden? Wenn ich doch nur den Mut gehabt hätte, mich von dem unangenehmen Auftrag des Königs zu befreien und zu meinem ereignislosen Leben in Lotingen zurückzukehren! Doch dann wanderten meine Gedanken wie immer, wenn mich Zweifel überfielen, zu Immanuel Kant. Wie sollte ich eine solche Flucht vor ihm rechtfertigen? »Herr Stiffeniis?«, riss mich da eine Stimme aus meinen Überlegungen. »Ich habe überall nach Ihnen gesucht«, fügte der Gendarm hinzu, der neben mich getreten war. »Hier ist eine Nachricht von Sergeant Koch. Und …« »Von Koch?« Ich riss ihm den Brief aus der Hand und öffnete ihn. Herr Stiffeniis, ich habe den Mann gefunden! Sein Name ist Arnold Lutbatz; er versorgt Königsberger Geschäfte mit Wolle, Baumwolle und Strickutensilien. Herr Lutbatz erkannte die Nadel aufgrund meiner Beschreibung sofort. Die Klaue des Teufels wird zum Auffädeln von Wolle für Wandteppiche verwendet! Er führt eine Liste der Personen, die hier in der Stadt solche Nadeln benutzen; Lutbatz beliefert sowohl Privatleute als auch Läden. Ich habe ihn gebeten, in Ihrem Namen Einblick in diese Liste nehmen zu dürfen. Im Moment bin ich unterwegs zu seinem Haus. Ich informiere Sie umgehend, sobald ich mehr weiß. Untergebenst, Amadeus Koch
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Mich durchströmte ein Gefühl der Freude wie beim Öffnen eines Fensters nach einem langen, harten Winter, wenn man den ersten Schmetterling entdeckt. Noch ein paar Sekunden zuvor war ich ohne Hoffnung gewesen; jetzt spürte ich, wie meine Entschlossenheit wiederkehrte. »Herr Prokurator?« Den Soldaten hatte ich völlig vergessen. »Unten wartet ein alter Herr auf Sie. Er sagt, er sei Professor Immanuel Kant.«
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enn Immanuel Kant in dem dichten Nebel den Weg zum Schloss auf sich genommen hatte, war mit Sicherheit etwas Schlimmes geschehen. Also rannte ich die Treppe hinunter und weiter in den Hof, wo mich eine einsame Gestalt erwartete. »Es tut mir leid, Herr Prokurator!«, begrüßte Johannes Odum mich. »Aber ich musste ihn herbringen. Er ließ mir keine andere Wahl.« »Ist alles in Ordnung?«, erkundigte ich mich besorgt. »Seit Sie ihn verlassen haben, wirkt er äußerst nervös«, antwortete der Diener. »Er sagt, er möchte mit Ihnen sprechen, und zwar sofort, weil er den Umhang braucht, den er Ihnen gegeben hat.« »Wozu denn das?«, fragte ich verwundert. »Das ist mir auch ein Rätsel, Herr Prokurator. Ich glaube, er weiß selbst nicht so genau, was er will. Sie haben ihn ja erlebt heute Morgen. Zuerst war er ganz wild darauf, Ihnen den Umhang zu geben, und jetzt möchte er ihn zurück.« »Wo ist er?«, unterbrach ich ihn. »Im Raum der Wachen. Aber lassen Sie sich noch kurz erzählen, was heute Morgen geschah, nachdem Sie das Haus mit Sergeant Koch verlassen hatten: Er setzte
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sich in den Salon und starrte fast eine ganze Stunde lang unruhig zum Fenster hinaus.« »Erwartete er denn Besuch?« »Nein, Herr Prokurator«, antwortete Johannes sofort. »Ich habe Ihnen ja schon erzählt, dass niemand mehr zu uns kommt. Sie waren der erste Gast seit mehr als einem Monat. Ich habe ihm wie immer um elf seinen Vormittagskaffee gebracht, aber er wollte ihn nicht. Irgendwann sprang er dann auf und sagte, er brauche unbedingt ein Buch von Herrn Flaccovius aus der Stadt, für seine Abhandlung. Sonst könne er nicht weiterarbeiten.« »Wieder diese mysteriöse Abhandlung«, murmelte ich. »Professor Kant bestand darauf, dass ich sofort zu Herrn Flaccovius ging. Er gab keine Ruhe, bis ich mich auf den Weg gemacht hatte.« »Sie haben ihn allein gelassen?«, herrschte ich ihn an. »Was sollte ich denn tun, Herr Prokurator?«, jammerte Johannes. »Es war helllichter Tag, und vor dem Haus standen ja die Soldaten. Ich konnte keine Gefahr erkennen. Und mit welcher Begründung hätte ich mich seinen Anweisungen widersetzen sollen?« »Der Nebel ist so dicht, dass die Gendarmen die Hand nicht vor Augen sehen«, sagte ich. »Ich traf Vorkehrungen zum Schutz von Professor Kant, Herr Prokurator«, versuchte Johannes, mich zu beruhigen. »Nachdem ich das Haus verlassen hatte, ging ich zu Frau Mendelssohn und bat sie, ihm in meiner Abwesenheit Gesellschaft zu leisten. Frau Mendelssohn wohnt …« »Ich kenne die Frau«, unterbrach ich ihn. »Das ist die Nachbarin.«
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»Sie bewundert Professor Kant sehr«, fuhr Johannes fort. »Ich habe ihr gesagt, dass ich etwas für ihn erledigen muss und sie ihn nicht aus den Augen lassen soll, weil er sich nicht wohl fühlt. Dann bin ich zu Herrn Flaccovius geeilt, der jedoch nicht verstand, was ich von ihm wollte. Ein Blick in sein Auftragsbuch zeigte, dass der Professor das Werk tatsächlich bestellt hatte, es aber bereits vier Monate zuvor an ihn geliefert worden war. Ich lief voller Angst vor einer Rüge meines Herrn sofort wieder nach Hause, weil ich dachte, ich hätte mir den Titel falsch gemerkt, doch das Missverständnis schien ihn kein bisschen aufzuregen.« »In letzter Zeit haben wir viele unerwartete Stimmungsumschwünge bei ihm erlebt. Die Ermittlungen scheinen ihn gedanklich sehr zu beschäftigen«, sagte ich. »Aber es kam noch seltsamer«, fuhr Johannes fort. »Als ich Frau Mendelssohn zur Türe brachte, erzählte sie mir, mein Herr sei allerbester Laune gewesen, er habe überhaupt nicht krank gewirkt. Er hatte ihr einen Vortrag über die Ursachen ihrer Migräne gehalten, die er dem zu starken Magnetismus der feuchten Luft in Königsberg zuschreibt, und ein paar anatomische Drucke aus seinem Arbeitszimmer geholt, um ihr Abbildungen von den Nerven zu zeigen, die auf Feuchtigkeit reagieren.« »Das heißt, dass er doch eine gewisse Zeit allein war«, stellte ich verärgert fest. »Wie hätte sie ihn denn daran hindern sollen, in sein Arbeitszimmer zu gehen?«, fragte Johannes. »Aber dann …« »Was?«, hakte ich nach.
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Der Diener strich sich mit der Hand über die gerunzelte Stirn. »Sie sagt, sie hätte Stimmen gehört.« »Hat er vielleicht beim Durchsehen der Drucke vor sich hin gemurmelt? Alte Menschen reden oft mit sich selbst, ohne es zu merken«, wandte ich ein. »Das war es nicht, Herr Prokurator«, meinte Johannes seufzend. »Sie hat mit eigenen Augen gesehen, wie jemand das Haus über den Gartenpfad verließ, dort, wo Sie und ich die Fußspuren fanden.« Ich spürte, wie kalter Schweiß auf meine Stirn trat. »War Ihr Herr aufgeregt, als Sie zurückkehrten?« »Überhaupt nicht, Herr Prokurator«, antwortete Johannes sofort. »Und Frau Mendelssohn hat ja schließlich auch ganz richtig bemerkt, dass von Martin Lampe kaum etwas zu befürchten sei.« »Martin Lampe?«, wiederholte ich und erinnerte mich an mein Gespräch mit Frau Mendelssohn vom Morgen. »Was um Himmels willen wollte der denn im Haus?« »Ich weiß es nicht. Und den Professor konnte ich ja wohl kaum fragen.« »Kennen Sie Martin Lampe?«, erkundigte ich mich. »Nein, Herr Prokurator. Ich bin ihm nie begegnet. Herr Jachmann hat ihm verboten, das Haus jemals wieder zu betreten.« »Wo wohnt er, Johannes?« Johannes zuckte mit den Achseln. »Vielleicht weiß das ja Herr Jachmann, aber mir wäre es lieber, wenn Sie ihn nicht fragten. Und natürlich kennt Professor Kant seine Adresse.« »Bringen Sie mich zu Ihrem Herrn«, wies ich Johannes an. »Ich muss ihm im Hinblick auf den Umhang, den
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er so dringend zu benötigen scheint, ein Geständnis machen.« Professor Kant wartete, einen braunen Filzhut auf den Knien, vor einem riesigen, schwarzen, schmiedeeisernen Ofen im Raum der Wachen. In einer Ecke saßen Soldaten, die gerade keinen Dienst hatten, schmauchten Tonpfeife und spielten Binokel. »Prokurator Stiffeniis ist da, Herr Professor«, kündigte Johannes mich an. Professor Kant sprang auf, und dabei fiel sein Hut zu Boden. Er wirkte überrascht, mich zu sehen. »Ihnen geht es also gut?«, fragte er, als wäre ich gerade von einer langen, gefährlichen Reise zurückgekehrt. »Aber wo ist mein Umhang?« »Den habe ich Sergeant Koch geliehen«, sagte ich. »Der arme Mann war bis auf die Haut durchnässt.« Kant sah mich schweigend an. Die Information schien ihn aus der Fassung zu bringen. »Ist es nicht merkwürdig, Stiffeniis?«, fragte er. »Was?« »Wie gewisse Umstände alles verändern können. Wenn man das Chaos in die Welt entlässt, verselbstständigt es sich.« »Ich verstehe nicht ganz«, murmelte ich. »Je weiter ich mich auf dieses Experiment einlasse, desto besser begreife ich, dass die Vernunft nur an der Oberfläche wirkt. Was darunter liegt, hat jedoch viel größeren Einfluss auf die Ereignisse. Das Unberechenbare ist stärker als wir alle. Zum ersten Mal im Leben spüre ich die Macht des Schicksals. Sie nicht auch, Hanno?«, sprach er mit fahlem Gesicht.
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»Fahren Sie nach Hause, Professor Kant«, drängte ich ihn. »Den Umhang bekommen Sie zurück, sobald Koch wieder da ist …« »Den benötige ich nicht mehr«, erwiderte er und fügte an seinen Diener gewandt hinzu: »Lassen Sie uns allein, Johannes.« Johannes warf mir einen besorgten Blick zu. »Warten Sie nebenan«, sagte Kant mit einem Nicken. »Ich rufe Sie, wenn ich Sie brauche.« Sobald sich die Tür hinter Johannes Odum geschlossen hatte, legte Kant mir die Hand auf den Arm und sah mir in die Augen. »Die Frau ist unschuldig, Stiffeniis«, flüsterte er. »Wie sind Sie denn zu diesem Schluss gelangt, Herr Professor?«, fragte ich erstaunt. »Täusche ich mich etwa?« »Nein. Aber wie haben Sie es herausgefunden?« »Das tut nichts zur Sache. Mich würde viel mehr interessieren, was Sie veranlasst hat, Ihre Meinung über die Frau zu revidieren. Heute Morgen schienen Sie doch noch an Hexerei zu glauben und von ihrer Schuld überzeugt zu sein.« »Sie ist tot«, entgegnete ich. »Ermordet, bevor ich Gelegenheit hatte, sie noch einmal zu befragen.« Kant beugte sich ein wenig vor. »Die Klaue des Teufels?« »Nein, sie wurde erwürgt.« »Fahren Sie fort«, sagte er. »Die Zeichnungen, die Sie von Lublinsky fertigen ließen, sind von unschätzbarem Wert, Herr Professor«, begann ich. »Am ersten Tatort fanden sich Fußspuren,
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aber sie stammten nicht von Anna Rostova. Ich habe mir ihre Schuhe angesehen – ihre Sohlen passen nicht zu den Abdrücken. Ihre Ermittlungsmethoden sollten einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt werden«, bemerkte ich voller Begeisterung. »Sobald dieser Fall abgeschlossen ist, möchte ich eine Abhandlung darüber verfassen …« »Das freut mich«, fiel Kant mir spöttisch ins Wort. »Vielleicht finde ich dann neue Bewunderer, denn die alten haben sich von mir abgewandt.« »Ohne Ihre bahnbrechende Arbeit auf dem Gebiet der metaphysischen Spekulation«, erwiderte ich, »gäbe es keine neue Generation von Philosophen, Herr Professor.« »Man behauptet, ich hätte den Geist und die Seele in einer Welt aus strikten Regeln und Gesetzen eingekerkert. Meine letzten Tage an der Universität waren unerträglich und demütigend. Was für Narren!«, rief er mit einem heiseren Lachen aus. »Romantische Träumer … ihnen fehlt die Phantasie für meine Ideen. Sie werden niemals etwas über die Schönheit von …« Er führte den Satz nicht zu Ende, sondern begann, die Wand anzustarren. Erst nach einer ganzen Weile legte er mir die Hand auf den Arm und fuhr fort: »Wissen Sie denn die Antwort nicht, Hanno? Ich hatte geglaubt, Sie würden ins Herz des Geheimnisses vordringen. Sie sind der Einzige, den ich noch habe. Ohne Sie kann ich mein Werk nicht zu Ende führen …« »Wie sind Sie zu dem Schluss gelangt, dass Anna Rostova nicht unsere Mörderin ist?«, versuchte ich, ihn von seinen morbiden Gedanken abzulenken. »Intuition«, antwortete er leise. »Hätte ein weiblicher Mörder eine so eindeutig weibliche Waffe gewählt? Ein
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wichtiges Detail ist Ihnen entgangen.« Er führte seinen Zeigefinger an den Nacken. »Der Punkt an der Schädelbasis muss exakt getroffen werden. Dies kann nur ein Soldat. Meines Wissens kommt eine solche Technik nur in zwei Fällen zum Einsatz: entweder um einen Feind, der Alarm schlagen könnte, von hinten außer Gefecht zu setzen oder um einen schwer verletzten Kameraden auf dem Schlachtfeld von seinen Qualen zu erlösen.« »Ein Soldat, Herr Professor?« Kant verunsicherte mich. »Vielleicht bin ich tatsächlich nicht der Richtige für diesen Fall. Ich scheine von einer Sackgasse in die nächste zu stolpern. Offen gestanden spiele ich mit dem Gedanken, mich geschlagen zu geben und nach Lotingen zurückzukehren.« Er starrte mich an. »Sie möchten den Fall abgeben?« »Ich bin ihm nicht gewachsen, Herr Professor«, sagte ich mit belegter Stimme. »Meine Fehler haben zu neuen Morden geführt. Ich …« Kant drückte meinen Arm. »Sie fragen sich, welches wesentliche Detail Ihnen entgangen ist.« »Ja, Herr Professor. Sie haben mir alle Hilfsmittel zum Verständnis der Vorgänge in Königsberg an die Hand gegeben, und trotzdem habe ich versagt. Glauben Sie immer noch, dass ich in der Lage bin, diese Fälle zu lösen?« »Als Sie heute Morgen mit der Mordwaffe und einer neuen Theorie über Hexerei zu mir kamen«, flüsterte er, »zweifelte ich in der Tat einen Augenblick lang, ob es richtig war, Sie mit den Ermittlungen zu betrauen, und ich überlegte kurz, ob es nicht besser sei, Sie von dieser lästigen Bürde zu befreien.«
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»Tatsächlich, Herr Professor?«, fragte ich, in meinem Stolz gekränkt. Kant seufzte laut. »Doch inzwischen habe ich es mir anders überlegt. Deswegen bin ich hier. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit hier auf Erden. Trotz Ihrer Fehler müssen Sie das fortführen, was wir begonnen haben.« »Aber ich habe Sie enttäuscht, Herr Professor! Von Anfang an …« »Sie haben etwas erlebt, das sich Magistrate wie Rhunken nicht einmal vorstellen können«, erklärte er. »Ich habe die Beweise in meinem Labor für einen rationalen, mit der Logik von Ursache und Wirkung vertrauten Mann arrangiert. A führt zu B, B zu C, nicht mehr und nicht weniger. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. In unseren Mordfällen gilt es noch einen weiteren wichtigen Aspekt zu berücksichtigen. Den allerwichtigsten.« »Und der wäre, Herr Professor?«, erkundigte ich mich, hilflos die Hände ringend. »Worauf haben Sie mich noch nicht aufmerksam gemacht?« »Auf die Verkrüppelungen der menschlichen Seele, Hanno. Die Logik spielt nicht bei allem eine Rolle. Haben Sie vergessen, was Sie mir bei unserem ersten Treffen verrieten? Ich kann mich noch an jedes Ihrer Worte erinnern. Am Pregel, neben der Leiche des jungen Morik, habe ich darauf verwiesen, was Ihren Sergeant Koch sehr zu überraschen schien. Vermutlich hält er mich seitdem für ein Ungeheuer. Sie kennen die Antwort bereits länger, als Sie zugeben wollen. ›Es gibt eine menschliche Erfahrung, die vergleichbar ist mit der ungezügelten Kraft der Natur. Kaltblütiger Mord, Mord ohne Mo-
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tiv‹, haben Sie gesagt. Daran erinnern Sie sich doch noch?« Er tätschelte meinen Arm. »Diese Erkenntnis sollten Sie in Ihre Überlegungen miteinbeziehen, egal, wie schrecklich sie klingt. Sie sind der Wahrheit näher, als Sie denken«, fügte er hinzu. »Heute Morgen haben Sie mich über die Schmutzflecken an der Kleidung der Opfer informiert. Der Mörder bringt sie offenbar dazu niederzuknien, bevor er zusticht. Darüber sind wir uns doch einig, nicht wahr?« »Und ich habe Ihnen von meiner Vermutung erzählt, dass der Mörder eine Frau sein könnte.« »Aber er ist keine Frau«, erklärte er bestimmt. »Sein Vorgehen verrät uns eine ganze Menge über seine Persönlichkeit.« »Sie haben also eine Theorie, Herr Professor?«, fragte ich, doch Kant hob abwehrend die Hand. »Der Wunsch jener Person, einen Mord zu begehen, ist stärker als ihre Fähigkeit dazu. Der Täter hat diese spezielle Waffe gewählt, weil sie minimalen Kraftaufwand erfordert und präzise ist. Erinnern Sie sich, was ich Ihnen sagte, als ich Ihnen die abgetrennten Köpfe und die Verletzung im Nacken der Opfer zeigte?« »Es ist eingedrungen wie ein heißes Messer in Schmalz«, zitierte ich. »Genau! Aber wie brachte der Mörder die Opfer dazu, lange genug stillzuhalten?« »Lublinsky«, murmelte ich. Kant starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Was ist mit ihm?« »Ich war vor einer Stunde bei ihm, und das Gespräch mit ihm bestätigt Ihre Argumentation: Er sagt, jedes der
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Opfer habe im Moment des Todes ein Objekt umklammert gehalten. In seinen Berichten hat er das nicht erwähnt. Und Ihnen gegenüber vermutlich auch nicht.« »Sehen Sie?«, rief Kant mit leuchtenden Augen. »Lublinskys Verschlagenheit ist das beste Beispiel für die Verkrüppelung der menschlichen Seele. Aber lassen Sie uns die Teile des Mosaiks zusammensetzen. Erstens: Die Opfer weichen nicht vor der Person zurück, die sich ihnen nähert. Zweitens: Sie knien freiwillig vor ihr nieder. Drittens: Im Augenblick des Todes halten sie etwas in der Hand. Sie lieben doch die Logik, Hanno«, sagte er mit einem spöttischen Lächeln. »Was schließen Sie also aus diesen Fakten?« Doch bevor ich antworten konnte, fuhr er in belehrendem Tonfall fort: »Der Mörder bat die Opfer, etwas aufzuheben, das ihm angeblich heruntergefallen war. Natürlich weigerte sich keiner. Das wäre unhöflich. Und als sie niederknieten, entblößten alle ihren Nacken der tödlichen Nadel. Nun überlasse ich Sie wieder Ihren eigenen Gedanken«, schloss er hierauf und machte Anstalten, sich zu erheben. Ich half ihm hoch. »Eines müssen Sie mir versprechen, Professor«, bat ich ihn. »Ich verspreche nie etwas«, antwortete er grinsend, »bevor ich nicht weiß, was.« »Nun gut«, sagte ich und lachte. »Wenn Sie mir in Zukunft etwas mitteilen wollen, sollten Sie einen Boten schicken, dann komme ich zu Ihnen.« In diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen, und ein Soldat stürzte herein. Johannes folgte ihm mit besorgter Miene auf dem Fuße.
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Der Soldat nahm die Mütze vom Kopf. »Neuigkeiten, Herr Prokurator«, sagte er nach einem kurzen militärischen Gruß. »Vor fünfzehn Minuten wurde in der Sturtenstraße eine Leiche gefunden. Ich habe Anweisung von Wachtmeister Stadtschen, Sie sofort zu informieren.« »Waren Sie dort auf Patrouille?« »Ja, vom Marktplatz zum Rathaus und zurück, alle dreißig Minuten. Die Kirchturmuhr schlug drei. Es dämmerte schon …« Da fiel Immanuel Kant ihm ins Wort. »Denn siehe, Finsternis bedeckt die Erde!«, deklamierte er mit ernster Stimme. Als ich ihn fragend ansah, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Jesaja 60, Vers 2.«
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XXVII
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ch glaubte nicht, dass der Mörder, nach dem ich suchte, wieder zugeschlagen hatte. Denn abgesehen vom Fall Paula-Anne Brunner, bei der die Todesstunde nicht genau festgestellt werden konnte, waren alle Opfer in der Nacht umgebracht worden. Diese Leiche jedoch hatte man um drei Uhr nachmittags entdeckt, was darauf hinwies, dass der Mord am helllichten Tag erfolgt war. Dazu kam der Fundort. Selbst mir, der Königsberg kaum kannte, war klar, dass die zum Fischmarkt führende Sturtenstraße in einem ausgesprochen belebten Viertel lag. Die anderen Morde hingegen waren – wieder mit Ausnahme von dem an Paula-Anne Brunner – in abgeschiedenen Gebieten verübt worden. Würde mein Mörder riskieren, in der Sturtenstraße gesehen und erkannt zu werden? »Kennen Sie den Namen des Opfers?«, fragte ich den Soldaten. »Oder die Todesursache?« Er schüttelte den Kopf. »Es handelt sich um einen Mann, Herr Prokurator. Aber wir haben die Leiche nicht angerührt.« »Sie kommen doch auf dem Heimweg an der Sturtenstraße vorbei, Johannes?«, fragte ich Kants Diener. »Ja, Herr Prokurator«, antwortete er.
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»Wenn Sie erlauben«, sagte ich zu Kant, »begleite ich Sie in der Kutsche. Johannes kann mich in der Nähe des Tatortes absetzen.« Beim Weg hinaus ließ Kant sich von mir stützen. Als ich ihm in die Kutsche half, packte er meinen Ärmel und zog mich so heftig zu sich heran, dass sein Hut gegen meine Stirn stieß. »Begreifen Sie denn nicht?«, fragte er. »Ich bin dabei … die Kontrolle zu verlieren.« »Die Kontrolle, Herr Professor?«, wiederholte ich. »Was meinen Sie damit?« Kant schwieg. Johannes sprang in die Kutsche, um die Knie seines Herrn mit einem schweren wollenen Reiseplaid zu bedecken, während dieser mich gedankenverloren ansah. »Irgendetwas hat ihn erschreckt, Herr Prokurator«, flüsterte Johannes. »Bringen wir ihn auf schnellstem Weg nach Hause, Johannes«, sagte ich, als der Diener wieder aus der Kutsche kletterte. »Ich gehe dann von dort aus zu Fuß in die Sturtenstraße.« Die ganze Fahrt über saß Kant mir stumm wie eine Mumie gegenüber. Als wir das Haus erreichten, sprang Johannes vom Kutschbock und band das Pferd fest. Gemeinsam halfen wir Kant heraus und gingen mit ihm den Gartenpfad entlang bis zur Eingangstür. »Er hat Fieber«, flüsterte Johannes mir über den gesenkten Kopf seines Herrn hinweg zu. Plötzlich knickte der Professor ein, und wir mussten ihn die letzten paar Meter fast schleifen. »Bringen wir ihn ins Bett«, sagte ich. Wir halfen ihm ins Haus und trugen ihn hinauf ins
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Schlafzimmer. Den Löwenanteil der Arbeit verrichtete Johannes, obwohl er auch noch die Lampe hielt. Unter anderen Umständen hätte es mich gefreut, das Allerheiligste von Professor Kant betreten zu dürfen, wo noch keiner seiner Freunde oder Biographen gewesen war. Ich sah mich um. Das Zimmer war bedeutend kleiner, als ich es mir vorgestellt hatte, und spartanisch eingerichtet, fast wie eine Mönchszelle. An einer Wand stand eine schmale Pritsche, an der nächsten eine kleine Kommode, an der dritten ein winziger Schreibtisch mit Stuhl. In der vierten Wand befand sich ein Fenster, das auf den hinteren Garten ging. Alles wirkte nüchtern und funktional. Es berührte mich zutiefst, an dem Ort zu sein, an dem Kant viele seiner richtungweisenden Werke verfasst hatte. Allerdings fiel mir ein merkwürdiger Geruch auf. Offenbar wurde das Fenster dieses Raumes nie geöffnet, und so war die Luft stickig und abgestanden, als wären die Wände von Schimmel befallen. Es roch nach Alter und muffigem Bettzeug. Als das Licht der Lampe auf Kants Kopfkissen fiel, sah ich eine graue Wolke darüber. »Was ist denn das?«, keuchte ich, noch ganz außer Atem, nachdem wir Kant die Treppe heraufgebracht hatten. »Flöhe, Herr Prokurator«, antwortete Johannes. »Dann muss die Matratze ausgeräuchert werden!«, rief ich entsetzt. »Nein, das würde er nicht zulassen, Herr Prokurator«, erwiderte der Diener. »Professor Kant hat seine
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eigene Methode, sich die Biester vom Leib zu halten. Sie funktioniert zwar nicht, aber er lässt sich nicht davon abbringen.« Im vorletzten Sommer hatten wir in Lotingen ein ähnliches Problem gehabt, als uns die Flöhe in allen Schlafzimmern das Leben zur Hölle machten. Doch Lotte fand eine Lösung, indem sie ein Schaffell auf den Treppenabsatz legte, es nach zwei Tagen und Nächten zusammenrollte und es im hintersten Winkel des Gartens verbrannte, wo sie und die Kinder voller Freude beobachteten, wie die armen Flöhe ohne Fluchtmöglichkeit in den Flammen auf- und abhüpften. »Das ist das Einzige, worüber wir uns nicht einigen können«, fuhr Johannes fort. »Er behauptet, sie sterben, wenn man ihnen Luft und Licht nimmt. Daher hat er mich angewiesen, das Fenster stets geschlossen zu halten und sämtliche Ritzen abzudichten. Diese Theorie hat er von Martin Lampe. Manchmal denke ich, Lampe hat das Haus nie verlassen. Professor Kant ruft mich immer wieder bei seinem Namen.« Unvermittelt wandte er sich seinem Herrn zu und machte ihn mit einer Mischung aus Strenge und gutem Zureden fürs Bett fertig. »Kommen Sie, Herr Professor!«, sagte er. Wie er so unbeteiligt auf der Bettkante darauf wartete, dass Johannes ihn entkleidete und ihm das Nachtgewand anzog, wirkte Professor Kant wie ein hilfloses Kleinkind. Aber anders als alle Kinder, die ich kannte, blieb er stumm, während Johannes die Decke zurückschlug und die Kissen aufschüttelte. Auch noch nachdem er sich hingelegt und Johannes das Daunenbett über ihn gebreitet hatte, schien Kant in einer Art Trance zu ver-
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harren. Seine Abwesenheit war mir unheimlich. Johannes schien es ähnlich zu gehen. »Mein Werk … Es muss zu Ende gebracht werden …«, hörten wir ihn da plötzlich murmeln. »Herr Professor?«, fragte Johannes besorgt. »Professor Kant«, fiel ich ein und trat näher ans Bett heran. »Ist alles in Ordnung?« Kant öffnete kurz das linke Auge, um mich anzusehen. »Kaltblütiger Mord«, murmelte er. »Er lässt sich von niemandem reinreden …« »Was sagt er da?«, flüsterte Johannes. Ich schüttelte stumm den Kopf. Plötzlich stieß Kant ein schrilles Wimmern aus. »Mein Gott!«, rief Johannes. »Er braucht Hilfe, Herr Prokurator. Holen Sie einen Arzt!« »Wer ist für seine medizinische Versorgung zuständig?«, erkundigte ich mich. »Normalerweise behandelt er sich selbst, weil seine medizinischen Kenntnisse besser sind als die der meisten Ärzte in Königsberg …« »In diesem Zustand kann er sich nicht selbst helfen. Man muss ihn zur Ader lassen und ihm Wickel machen. Wir brauchen professionellen Beistand.« »Gleich in der Nähe gibt es einen Arzt. Er trinkt manchmal Tee mit meinem Herrn. Vielleicht würde er …« Johannes zögerte. »Aber …« Kant hatte die Augen geschlossen, sein Gesicht war fahl und ausdruckslos, seine Atmung flach. Ich durfte keine Zeit verlieren. »Wo wohnt dieser Arzt?«, fragte ich.
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»Am Ende der Straße, Herr Prokurator. Das erste Haus auf der linken Seite.« Ich rannte sofort los. »Aber er ist Italiener, Herr Prokurator, und sehr jung!«, rief Johannes mir nach. Fünf Minuten später langte ich völlig außer Atem an der Tür von »Dott. Danilo Gioacchini, MedicoChirurgo« an, wie auf der Messingplakette zu lesen war. Dahinter hörte ich gedämpftes Weinen. Das Haus bestand aus verwitterten, früher wohl einmal blau gestrichenen Schindeln, die jetzt zu einem traurigen Grau verblichen waren, und stand eingeklemmt zwischen deutlich massiveren Ziegelgebäuden. Ich fragte mich, ob der Zustand des Hauses die Situation der Menschen darin widerspiegelte. War Armut der Grund für die Tränen? In Königsberg fiel es einem Italiener mit Sicherheit nicht leicht, seinen Weg zu machen, auch wenn er sich als Freund von Immanuel Kant bezeichnen konnte. Ausländer wurden nicht sonderlich geschätzt, Papisten noch weniger, nicht nur von Menschen wie Agneta Süsterich oder Johannes Odum, sondern von allen gläubigen Pietisten. Ich hob den wie eine Faust geformten Klopfer und ließ ihn heruntersausen. Wenig später öffnete sich die Tür einen Spalt breit, und mein Blick fiel auf das Gesicht einer hübschen dunkelhaarigen Frau. An ihren Beinen klammerte sich ein kleines Mädchen von vielleicht zwei oder drei Jahren fest, das mich ernst betrachtete. »Ich suche den Doktor«, sagte ich, deutlich artikulierend für den Fall, dass die Frau Schwierigkeiten mit dem Deutschen hatte. »Es geht um Professor Kant …«
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Der Name zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen. »Danilo!«, rief sie nach hinten, während sie die Tür ganz öffnete und mir bedeutete einzutreten. Wenig später erschien der Arzt selbst im Flur. Er war in der Tat jung, bestenfalls fünfunddreißig, obwohl sein langes blondes Haar bereits schütter zu werden begann. Der groß gewachsene, schlanke Doktor, der eine modische schwarze Samtjacke mit hohem Kragen trug, begrüßte mich mit einem freundlichen Lächeln und funkelnden braunen Augen. Auf jedem Arm hielt er ein Kind, Zwillinge, die vermutlich noch keine Woche alt waren. Beide brüllten, so laut es ihre winzigen Lungen vermochten. »Tut mir leid, wenn ich störe«, entschuldigte ich mich. »Aber Professor Kant benötigt Hilfe.« »Ich hole nur meine Tasche«, erklärte er daraufhin in fließendem Deutsch und sagte dann in schnellem Italienisch etwas zu seiner Frau, die ihm sofort die Zwillinge abnahm. Wenig später verließen wir gemeinsam das Haus. Unterwegs erzählte ich ihm, was geschehen war. Vor Kants Tür angekommen, fragte ich ihn, ob ich mit hineingehen solle. »Nicht nötig«, antwortete er. »Sein Diener ist doch bei ihm, nicht wahr?« »Ja, Johannes erwartet Sie. Ich dagegen muss in die Sturtenstraße«, fügte ich hinzu. »Aber ich komme zurück, sobald ich kann.« Ich hörte noch, wie sich Kants Haustür öffnete und wieder schloss, als ich durch die dunkle, menschenleere Straße davonging. Zehn Minuten später erreichte ich den Fischmarkt. In der Nähe von Hafen und Pregel-
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Mündung wurde der Nebel dichter. Ein einsamer Soldat mit einem Lederbarett und einem schwarzen, wasserdichten Umhang, der in dem orangefarbenen Licht seiner Fackel glänzte, stand wie aus Eis gehauen an einer Straßenecke Wache. Er trat mit der Muskete in der Armbeuge einen Schritt vor, um mich am Weitergehen zu hindern. »Ich bin Hanno Stiffeniis«, erklärte ich. »Der ermittelnde Magistrat. Wo ist die Leiche?« »Dort drüben, Herr Prokurator«, antwortete der Mann mit einem Blick über die Schulter. »Ein Soldat bewacht sie.« »Ich hoffe, Sie haben alles so gelassen, wie Sie es vorfanden?« »Ja, Herr Prokurator. Man hat uns gesagt, wir sollen auf Sie warten.« »Lassen Sie niemanden durch«, wies ich ihn an. »Bis auf meinen Assistenten Sergeant Koch.« Mein Herz setzte einen Schlag aus, sobald mein Blick auf die Leiche fiel, neben der sich der Abdruck einer kreuzförmigen Sohle befand … Als ich näher trat, salutierte der neben dem Toten wachende Soldat. »Herr Prokurator? Gut, dass Sie da sind«, begrüßte er mich mit deutlich spürbarer Erleichterung. Das Licht der Laterne, die er in seiner Linken hielt, warf tanzende Schatten auf das blaue Eis des Bürgersteigs. »Halten Sie die Lampe näher an die Leiche«, sagte ich. »Ich möchte sie genauer ansehen.« Der Tote kniete auf dem Boden. Sein Kopf war auf die Brust gesunken, die rechte Schulter an die hohe Ziegelmauer gestützt.
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»Noch näher!«, wies ich den Soldaten an. Der junge Mann klapperte vor Angst mit den Zähnen. Wie lange wartete er wohl schon hier in der Dunkelheit auf mich, ohne einen Blick auf die Leiche zu wagen? Ich kniete nieder – und sah in das leblose Gesicht von Amadeus Koch. Sein Mund stand offen, als hätte er versucht, um Hilfe zu rufen, und auch seine Augen waren weit aufgerissen. Ich wusste, dass ich eine winzige Wunde in seinem Nacken finden würde. Schuldgefühle überkamen mich. Kants Umhang. Mein Umhang. Der Umhang, den ich Koch geliehen hatte … Wen hatte der Mörder treffen wollen? Immanuel Kant? Mich? Oder war er zufällig auf Koch gestoßen? Einer Ohnmacht nahe, lehnte ich mich mit dem Oberkörper an die Mauer. Eine ganze Weile kniete ich reglos neben der Leiche meines Assistenten. Seine Augen, über denen sich eine dünne Eisschicht gebildet hatte, waren nach oben und links verdreht, als hätte er sein Schicksal vorausgesehen. »Alles in Ordnung, Herr Prokurator?«, hörte ich da eine Stimme hinter mir fragen. Der junge Soldat beugte sich mit seiner Lampe zu mir herunter, so dass unruhige Schatten über Kochs Gesicht huschten und es zu neuem Leben zu erwecken schienen. »Herr Prokurator, der Mann hält etwas in der Hand.« So sanft wie möglich öffnete ich Sergeant Kochs geschlossene Faust. Ein Bronzering löste sich daraus und landete scheppernd auf dem Boden. Auch Koch hatte dem Mörder seinen Nacken freiwillig dargeboten. Ein
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Gebet murmelnd, ging ich Kochs Taschen durch und holte alles heraus, was sich darin befand: ein feines Leinentaschentuch, ein Hausschlüssel, einige Geldscheine und ein Stück Papier, das auf die Größe einer Schnupftabakdose gefaltet war. Ich entfaltete es und hielt es in das Licht der Lampe. Während ich las, was auf dem Zettel stand, erstarb etwas in mir. Endlos lange, wie mir schien, hielt ich den Atem an, und mein Herz begann, wie wild zu pochen. Es handelte sich um eine vollständige Liste der Geschäfte und Privatpersonen, die Stoffe und Nadeln zum Stricken und Sticken erworben hatten. Vermutlich stammte sie von dem Mann, bei dem Kochs verstorbene Frau einst ihre Ausstattung zu kaufen pflegte. 6 Rollen Seide, ocker – Frau Jagger 10 Stränge ungefärbte Wolle – dito 6 Paar Stricknadeln – Emporium Reutlingen 10 Knäuel Wolle, hellblau – dito 15 Knäuel Wolle, weiß – dito 4 Meter Buranospitze – Fräulein Eggars So ging es Zeile um Zeile weiter, bis mein Blick auf einem Sternchen etwa in der Mitte der Seite haften blieb: »6 Walfischbeinnadeln, Größe 8, zum Auffädeln von geölter Gobelinwolle«. Daneben stand der Name des Käufers, der einzig männliche auf der Liste – KANT.
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XXVIII
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in schneidender Ostwind, der vom nahe gelegenen Hafen und vom Fischmarkt heraufwehte, blies den Nebel in Schwaden davon. Hoch über mir begannen Fensterläden zu klappern, und irgendwo quietschte ein schweres Metalltor in den Angeln, schlug krachend zu und öffnete sich mit jedem weiteren Windstoß von der Ostsee aufs Neue. Bei jedem Geräusch, das die Stille durchbrach, zuckte ich nervös zusammen. Raureif knisterte in meinem Haar, und mein Körper schien sich in Eis verwandelt zu haben. Aber ich hatte nur einen einzigen Gedanken: Ich würde Amadeus Koch nicht noch einmal im Stich lassen. »Herr Stiffeniis?« Ich drehte mich um. Durch das Heulen des Windes hatte ich niemanden herankommen hören. Ein Mann in Uniform stellte sich neben mich, ein anderer, größerer Soldat, der ein dunkles Tuch um sein Gesicht gehüllt hatte, schleifte eine lange Holzkiste den Hügel herauf. Ich erkannte die beiden sofort: Es waren die zwei Riesen, die Doktor Vigilantius assistiert hatten, Korporal Mullen und sein magyarischer Kamerad Walter. »Was wollen Sie?«, fragte ich.
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»Die Leiche soll in den Keller, sagt Doktor Vigilantius …« »Diese hier bekommt er nicht!«, rief ich vor Aufregung zitternd so laut aus, dass meine Stimme von den Mauern widerhallte. »Keine Sektionen mehr. Vigilantius hat Königsberg verlassen und kommt nicht zurück. Koch muss unversehrt begraben werden, nach christlichem Ritus. Ich möchte, dass er in eine Kirche gebracht wird.« Die beiden wechselten einen Blick. »Im Schloss gibt es eine Kapelle, Herr Prokurator«, informierte mich Korporal Mullen. »Da es sich jedoch um den einzigen trockenen Raum dort handelt, wird er genutzt für …« »Egal«, fiel ich ihm ins Wort. »Wichtig ist nur, dass es sich um einen geweihten Raum handelt. Ich gebe Ihnen Geld dafür, dass Sie Kochs Leiche dorthin schaffen.« Mullens dunkle Augen begannen zu leuchten, während sein Kamerad etwas grunzte. »Wir tun unser Bestes«, versprach der Korporal, bevor er an seinen Kameraden gewandt hinzufügte: »Tja, dann befördern wir den armen Herrn mal in die Kiste, Walter.« Der eiskalte Wind hatte Kochs Körper in der knienden Haltung erstarren lassen. Und weil sich auf dem wasserabweisenden Umhang eine Eisschicht befand, mühten sich die Soldaten erfolglos ab, einen Zipfel des rutschigen Materials zu fassen zu bekommen. »Ziehen Sie ihm den Umhang aus«, wies ich sie an. »Ihn ausziehen?«, rief Mullen entgeistert. »Warum das denn, Herr Prokurator? Er ist steif wie ein Brett. So leicht wird das nicht.«
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»Koch soll nicht in diesem Kleidungsstück beigesetzt werden«, beharrte ich. »Ziehen Sie es ihm aus.« Mullen sah mich einen Augenblick verständnislos an. »Gib mir mal ein Messer, Walter«, sagte er zu seinem Kameraden. »Wir müssen ihn auf die Seite legen, Herr Prokurator, sonst geht das nicht.« »Dann tun Sie das!«, herrschte ich ihn an. Mit dem kurzen scharfen Messer schnitt Mullen den Umhang vom Kragen bis zum unteren Saum auf. Dann drehten die beiden die Leiche auf die Seite und begannen die Arme des Sergeanten aus dem Kleidungsstück zu befreien. Am Ende gelang es ihnen, den schweren Körper trotz der steifen, gebeugten Gliedmaßen hochzuhieven. »Vorsicht«, ermahnte ich sie, während sie ihn auf den Rücken in die Kiste legten. »Wir müssen seine Arme und Beine strecken«, erklärte Mullen, »sonst geht der Deckel nicht zu.« »Nun, worauf warten Sie?« Mit aller Kraft drückten sie zuerst das linke, dann das rechte Knie herunter, die Gelenke gaben mit einem lauten Knacken nach. »Kann ich den Deckel zumachen, Herr Prokurator?«, wollte Mullen schließlich wissen. Nach einem langen letzten Blick nickte ich. Walter schloss die Kiste, und Mullen schlug ein halbes Dutzend Nägel ins Holz, bevor wir uns auf den Weg durch die dunklen, leeren Straßen machten. Die Nachricht von dem neuerlichen Mord würde die Bürger von Königsberg stärker als jede Ausgangssperre davon abhalten, ihre Häuser zu verlassen. Mullen und Walter zerrten die schwere Kiste durch Matsch und Eis. Ich folgte ih-
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nen, und die Gendarmen, die die Leiche gefunden hatten, bildeten die Nachhut. Unterwegs kamen wir an der Gasse vorbei, die zur Rückseite von Kants Haus führte. Mattes Licht schimmerte durch die Vorhänge seines Zimmers im ersten Stock. »Schneller, Mullen«, trieb ich den Soldaten an, während ich wieder Kants Namen auf Kochs Liste vor mir sah. Als wir das Schloss erreichten, trat ich vor und wies die Soldaten an, das Tor zu öffnen. »Leiche für Prokurator Stiffeniis«, knurrte Mullen den Wachmann an. Er und Walter gingen in den Hof voran. Die Anwesenden bekreuzigten sich und wandten den Blick ab. Einer von ihnen drehte sich halb zur Seite und griff sich in den Schritt, wie es Soldaten zu tun pflegen, wenn sie einen Sarg sehen. »War er verheiratet, Herr Prokurator?«, erkundigte sich Mullen, nachdem er und Walter mit der Kiste vor einem niedrigen Gebäude auf der anderen Seite des Hofes stehen geblieben waren. »Wenn ja, möchte sicher seine Frau heute Nacht die Totenwache halten.« »Das übernehme ich«, entgegnete ich. »Er hat sonst niemanden.« Mullen nickte und drückte die Tür zur Kapelle auf. Dann zogen die beiden den Sarg hinein; ich folgte ihnen. Drinnen entzündeten sie mehrere Lampen. Mein Blick fiel auf mannshohe Pyramiden aus großen, silbrigen Kanonenkugeln, die im Mittelgang errichtet waren. Entlang einer Wand waren Schusswaffen gestapelt, und am hinteren Ende des Raumes standen Lafetten. Es stank nach
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Ratten, Rattengift und verrottendem Ungeziefer. Große Segeltuchkarten bedeckten die hinteren Wände. Von der Decke hing an einer langen Kette ein schlichtes Holzkreuz. Andere religiöse Symbole konnte ich nicht entdecken. »Die Regimentskapelle«, informierte Mullen mich mit leiser Stimme. »Das wollte ich Ihnen eigentlich schon vorhin sagen. Hier werden Waffen und Sprengstoff gelagert, weil es im übrigen Schloss zu feucht ist. Wir können den Sarg dort drüben abstellen. Der Altar wurde entfernt, um Platz zu schaffen, aber die Stelle, an der er sich befand, ist geweiht. Ist das recht, Herr Prokurator?« Ich reichte ihm einen Geldschein. »Gönnen Sie sich zum Gedenken an den Mann, der hier liegt, etwas Starkes und kommen Sie bei Morgengrauen mit einem Geistlichen wieder, damit wir ihn beisetzen können. Und schicken Sie mir Stadtschen.« Korporal Mullen salutierte, und Walter schlug die Hacken zusammen, bevor sie den Raum verließen und sich lachend und scherzend entfernten. Sobald ich allein war, kniete ich neben dem Sarg nieder, legte die Hand auf das kühle Holz, schloss die Augen und betete zu Gott um gnädige Aufnahme von Amadeus Kochs Seele. Gleichzeitig bat ich meinen Assistenten um Vergebung dafür, dass ich ihn unnötig in Gefahr gebracht hatte. Da hörte ich, wie sich hinter mir die Tür öffnete und deutliche Schritte über den Steinfußboden näher kamen. Ich erhob mich, um Wachtmeister Stadtschen zu begrüßen. Er sah zuerst den Sarg, dann mich fragend an. »Herr Prokurator?« »Es ist Koch«, sagte ich.
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Stadtschen nahm die Mütze ab und verneigte sich. »Ich möchte, dass Sie einen gewissen Roland Lutbatz für mich ausfindig machen«, wies ich ihn an. »Seine Aussage könnte wesentlich sein für meine Ermittlungen.« »Wie soll ich vorgehen, Herr Prokurator?« »Da er nicht aus der Stadt stammt, muss er sich irgendwo eine Unterkunft gesucht haben, in einer billigen Pension oder einem Gasthaus vielleicht.« »Ich sende ein paar Männer aus«, versprach er. »Ja, so schnell wie möglich«, gab ich zurück, »denn er könnte die Stadt jederzeit verlassen. Herr Lutbatz ist Kurzwarenhändler und beliefert Geschäfte in Königsberg.« »Ich habe eine Idee, wo ich anfange«, erklärte Stadtschen. »Bei Ihrer Frau?«, fragte ich. Stadtschens Augen blitzten belustigt. »Aber nein, Herr Prokurator! Hier im Schloss lebt eine alte Frau, die den Soldaten … die unterschiedlichsten Dienste anbietet.« »Dienste?«, wiederholte ich spöttisch. »Nicht, was Sie denken, Herr Prokurator«, erwiderte Stadtschen. »Über dieses Alter ist sie längst hinaus. Nein, sie wäscht und flickt für die Junggesellen im Regiment. Es könnte gut sein, dass sie den Mann kennt, nach dem Sie suchen.« »Sie lebt im Schloss, sagen Sie? Allzu viele Frauen dürfte es in diesen Mauern nicht geben.« »Nein, nur sie«, bestätigte Stadtschen. Ich warf einen Blick auf den Sarg. Eigentlich hatte ich
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nicht vorgehabt, Koch so schnell allein zu lassen, aber die Pflicht rief. Das würde mein Assistent sicher verstehen. Fünf Minuten später marschierten Stadtschen und ich durch ein Labyrinth aus hohen Steinmauern und kopfsteingepflasterten Höfen, die alle nach dem rochen, womit hier tagsüber Handel getrieben wurde: nach Pferden und Kühen, nach Leder, Backwaren und Kanonenkugeln. Das hier war ein Mikrokosmos innerhalb unserer großen, weiten Welt, und er wurde dunkler und geruchsintensiver, je tiefer wir in ihn eindrangen. Am Ende stieg uns der Gestank von offenen Latrinen und Exkrementen in die Nase, und aus den Schatten flohen quiekend graue Ratten. »Gute Arbeit, Stadtschen«, lobte ich den Wachtmeister, als wir vor einer seit Ewigkeiten nicht mehr gestrichenen Tür stehen blieben. Er klopfte laut dagegen. Sogleich öffnete eine verhutzelte alte Frau, die vorsichtig herauslugte und argwöhnisch die Rangabzeichen an Stadtschens Uniform beäugte. Sie mochte um die neunzig Jahre auf dem Buckel haben, vielleicht auch ein ganzes Stück mehr, das konnte ich bei dem schlechten Licht nicht beurteilen. Außerdem hatten sich in ihr schmutzig schwarzes Gesicht tiefe Runzeln eingegraben, die mich an die Fratze eines Wasserspeiers erinnerten. Ihren Körper umhüllte ein zerlumptes braunes Kleid; auf ihrem Kopf saß eine Haube aus demselben groben Stoff. Sie stank zum Himmel, und aus ihrer Wohnung drangen noch üblere Dünste. »Eigentlich hatte ich Seine Exzellenz erwartet«, begrüßte sie Stadtschen. »Es geht um etwas anderes, Mütterchen«, antwortete er für einen Soldaten erstaunlich sanft.
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»Dreimal hab ich’s gemacht. Dreimal! Und immer wieder ist das Gleiche rausgekommen«, murmelte sie. »Er schlägt nicht wieder in Königsberg zu, Soldat, da könnt ihr sicher sein!« Ich sah zuerst die alte Frau, dann Stadtschen an. Beide blieben still. »Was redet sie da, Stadtschen?«, fragte ich schließlich. Da drang plötzlich ein Höllenlärm aus der Behausung: hektisches Flügelschlagen und Gekreische, als würden sich drinnen unzählige Vögel zum Flug in den Süden sammeln. Die Frau drohte Stadtschen mit ihrem knorrigen Zeigefinger. »Sag dem Kerl, er soll meine Kleinen nicht erschrecken!«, fauchte sie. »Das mag Seine Exzellenz nicht!« Dann wandte sie sich unvermittelt um, und die Tür schwang weiter auf. »Kommt rein«, forderte sie uns auf. »Sieh selbst, Soldat. Dann kannst du dem General Bericht erstatten.« »Was geht hier vor?«, fragte ich Stadtschen verwirrt und hielt ihn am Ärmel zurück. »Ich möchte keine Zeit vergeuden. Wie Sie wissen, muss ich Roland Lutbatz noch heute Nacht finden.« Stadtschen schlug die Hacken zusammen, als wäre er aus einer Trance erwacht. »Sie heißt Margreta Lungrenek, Herr Prokurator«, informierte er mich. »Und sie kennt den Mann, hinter dem Sie her sind, da bin ich mir ganz sicher …« »Erklär ihm, was ich mache!«, rief die Frau aus den dunklen Tiefen des Raumes. »Ein zweites Mal bitte ich euch nicht rein.« »Fünf Minuten, nicht länger«, sagte ich und trat ein.
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»Wenn mir Lutbatz durch die Lappen geht, sind Sie mir dafür verantwortlich, Stadtschen.« In der Düsternis erkannte ich nur mit Mühe die Umrisse der übereinander gestapelten Korbkäfige, die sich in der hintersten Ecke des Raumes befanden und in denen Vögel aller Arten und Farben herumflatterten: Sperlinge, Blaumeisen, Tauben, Raben, Stare, Amseln sowie eine Eule. »Der Herr General liebt sie«, gackerte die alte Frau. »Ihr ging es ziemlich schlecht, Herr Prokurator«, flüsterte Stadtschen. »Sie sieht kaum noch etwas und kann keine Nadel mehr halten. Da hörte der General von ihrer besonderen Gabe und holte sie ins Schloss …« »General Katowice?«, fragte ich erstaunt. Was hatte er mit dieser alten Frau und ihren Vögeln zu tun? »Sie kann in die Zukunft schauen«, erklärte Stadtschen. »Seine Exzellenz unternimmt nichts mehr, ohne sie konsultiert zu haben. Er ist besessen von dem Gedanken, dass Napoleons Truppen in die Stadt einmarschieren könnten, und überzeugt davon, dass die Morde das Werk französischer Saboteure sind. Der General bewundert Julius Cäsar. Offenbar zogen die Römer nie in den Krieg, ohne eine Art Priester befragt zu haben.« »Den nannte man Haruspex«, murmelte ich. Stadtschen sah mich mit großen Augen an. »Dann ist es also wahr?« Dass General Katowice, Schlosskommandant, verantwortlich für die Sicherheit der Stadt Königsberg, sein Vertrauen abergläubisch in die Eingeweideschau setzte, beruhigte mich nicht gerade. »Schaut!«, rief die alte Frau nun, über einen kleinen
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runden Tisch gebeugt, auf dem eine tote Krähe lag. Der gebogene Schnabel hing schlaff herunter, das Gefieder schimmerte rot von Blut, und auf dem Tisch verteilt waren ihre Eingeweide. Der Kadaver ruhte wie gekreuzigt in einem Kreis aus offenbar willkürlich mit Kreide auf das Holz gemalten Buchstaben. »Seht euch den Schnabel an!«, flüsterte die alte Frau, stützte die Hände auf den Tisch und beugte sich noch tiefer, um den Gestank einzusaugen. »Er deutet auf diesen Buchstaben hier, und die Flügel zeigen auf zwei Vokale. Das Ganze ergibt ›Jena‹, und das ist weit weg von Königsberg. Dort sollte General Katowice für Ordnung sorgen, nicht hier!« Sie bedachte Stadtschen mit einem schmallippigen Grinsen. »Ich werde es ihm sagen, Mütterchen«, versprach Stadtschen ihr. »Aber zuerst möchte Prokurator Stiffeniis noch etwas von dir wissen.« »Kennen Sie einen Mann namens Roland Lutbatz?«, fragte ich. »Aber sicher«, erklärte sie. »Ohne ihn wär ich verloren. Ich kenn ihn so gut wie meine Vögelchen. Erst gestern hab ich ihn gesehen.« »Und wo?« »Im Blauen Einhorn. Dort quartiert er sich immer ein, wenn er in Königsberg ist.« »Das Gasthaus befindet sich in der Nähe der FerkelBrücke«, klärte Stadtschen mich auf. »Zu Fuß ist das fünf Minuten von hier, Herr Prokurator.« Sogleich wandte ich mich zum Gehen und drückte der Alten noch eine Münze in die Hand. Doch sie verfluchte mich und schleuderte die Münze zu Boden, als hätte sie
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sich daran die Finger verbrannt. »Das Böse begleitet dich!«, rief sie aus. »Mütterchen«, warnte Stadtschen sie, »pass auf, was du sagst.« »Der Teufel kennt die Seinen«, zischte sie und ballte die Fäuste vor der Brust, als wollte sie das Böse abwehren. »Eine gequälte Seele«, fügte sie hinzu. »Eine gequälte Seele?«, wiederholte ich verblüfft. »Dein Vater ist tot«, sagte sie. »Und begraben, aber er findet keine Ruhe. Beim Licht des Mondes erhebt er sich aus seiner Gruft, doch bald wird er erlöst sein.« Ich drehte mich hastig zu Stadtschen. »Gehen wir.« Die kalte, feuchte Luft draußen belebte mich nach dem erstickenden Gestank in der düsteren Behausung ungemein. Wir machten uns durch das Schlosslabyrinth auf den Weg zum Haupttor. »Darf ich Sie etwas fragen, Herr Prokurator?«, wollte Stadtschen nach einer Weile wissen. »General Katowice vertraut dieser alten Frau. Und einmal habe auch ich sie gebeten, für mich in die Zukunft zu sehen. Daraufhin hat sie mir allerlei Dinge prophezeit, die ich lieber nicht glauben möchte.« »Zum Beispiel?«, erkundigte ich mich. »Sie hat die Eingeweide auf dem Tisch ausgebreitet, wie gerade eben …« Er blieb unvermittelt stehen. »Was sah sie darin?«, fragte ich. »Sie hat gerade Ihren Vater erwähnt, Herr Prokurator. Stimmt das, was sie sagt?« »Was wollten Sie von ihr wissen, Stadtschen?« »Nun«, antwortete er verlegen lächelnd, »die Dinge, die alle Soldaten erfahren möchten. Ich habe sie gefragt,
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wie mein Schicksal aussehen würde, wenn Napoleon je nach Preußen käme …« »Mein Vater ist nicht tot«, sagte ich. »Und in absehbarer Zeit wird er auch hoffentlich nicht sterben. In dieser Hinsicht täuscht sich Margreta Lungrenek. Sie weiß nicht, wovon sie spricht. Ich muss mich wundern, dass General Katowice diesen Aberglauben ernst nimmt.« Stadtschens Miene hellte sich auf, als wäre die Sonne hinter einer dunklen Wolke hervorgetreten. Kurz darauf verließen wir das Schloss und gingen weiter nach links. Stadtschens Schätzung erwies sich als richtig: Nach etwa fünf Minuten kamen wir an einer alten Steinbrücke heraus, die über den Pregel führte. An einem Kai blieben wir neben großen Frachtkähnen und Pfeife schmauchenden Seeleuten stehen und wandten uns einem Gasthaus zu, auf dessen Schild ein blaues, über silberne Wolken galoppierendes Einhorn zu sehen war.
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XXIX
A
ls Wachtmeister Stadtschen den Klingelzug betätigte, schienen alle Glocken Königsbergs gleichzeitig zu erschallen. Kurz darauf öffnete sich über dem Einhorn-Schild ein knarrendes Fenster, aus dem ein blasses, rundes Gesicht lugte. »Wissen Sie, wie spät es ist?« »Polizei«, rief Stadtschen hinauf. »Aufmachen, und zwar ein bisschen plötzlich!« Wenig später erschien ein dicker Mann in der Tür, der sich offenbar genierte, dass wir ihn im Nachtgewand antrafen, und winkte uns herein. Abgesehen vom matten Schein der letzten Kaminglut war es völlig dunkel. »Ich hab geschlafen«, jammerte der Wirt mit schuldbewusster Miene. »Zeigen Sie Herrn Prokurator Stiffeniis das Gästebuch«, herrschte Stadtschen ihn an. Hastig legte der Wirt eine große, in Leder gebundene Kladde vor mir auf den Tisch. Ich setzte mich und begann darin zu blättern, fand aber nichts. »Soll das ein Scherz sein?«, fragte ich. »Übernachtet denn hier nie jemand?« Drohend beugte sich Stadtschen über den Mann.
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»Halten Sie etwa wichtige Informationen zurück?«, zischte er dem Wirt ins Ohr. »Das würde ich nie wagen!«, rief dieser verängstigt aus. »Darf ich?«, fügte er demütig mit einem Blick auf das Buch hinzu. Er feuchtete einen Finger an und ging die Seiten durch. »Wir haben in letzter Zeit nur wenige Gäste gehabt, besonders im letzten Monat. Wer kommt schon in eine Stadt, in der sich ein Mörder herumtreibt? Da ist es ja«, sagte er schließlich und zeigte mit dem Finger auf einen Namen und ein Datum. »Herr Lutbatz, Herr Prokurator. Ein Händler«, murmelte er. »Außer ihm übernachtet heute niemand hier. Soweit ich weiß, ist er sehr angesehen. Vielleicht ein bisschen exzentrisch, besonders in puncto Kleidung, aber das stört mich nicht.« »Hat er irgendwelche Besucher empfangen?«, erkundigte ich mich. »Nun, Herr Prokurator«, begann der Wirt nervös, »Sie wissen ja, wie das ist. Wenn ein Mann allein reist … Manchmal hat er tatsächlich Gesellschaft. Seine Gäste kommen und gehen. Aber heute Nacht ist er allein, das weiß ich bestimmt. Beim Abendessen hat er gesagt, dass er sich nicht wohl fühlt …« »Kommen auch Kunden hierher?« »Diesmal nicht, Herr Prokurator. Wir alle erleben schwere Zeiten in Königsberg.« »Ich möchte mit dem Mann sprechen«, sagte ich. »Soll er zu Ihnen herunterkommen, Herr Prokurator?« »Nein«, antwortete ich. »Ich unterhalte mich lieber in seinem Zimmer mit ihm. Würden Sie bitte zu ihm hinaufgehen und mich ankündigen?«
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Der Wirt strich sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn und stieß einen Seufzer der Erleichterung darüber aus, dass er selbst nicht weiter gebraucht wurde, bevor er die Treppe hinauftrippelte. Wenig später kehrte er zurück, um mir zu sagen, dass Herr Lutbatz mich erwarte. »Soll ich Sie begleiten, Herr Prokurator?«, fragte Stadtschen. »Ich brauche kein Kindermädchen«, gab ich zurück, doch eigentlich ging es mir eher darum, dass er nichts von Kants Namen auf der Liste erfuhr. »Gehen Sie zum Schloss zurück, Stadtschen, und erinnern Sie Mullen daran, dass er einen Geistlichen für die Beisetzung auftreibt.« Er salutierte und verschwand. Ich stieg die Treppe in den zweiten Stock hinauf, wo mich Roland Lutbatz bereits an der Tür erwartete. Sobald ich ihn sah, wusste ich, was der Wirt mit dem Ausdruck »exzentrisch« gemeint hatte. Damen in einem Freudenhaus waren nicht halb so extravagant gekleidet wie Herr Lutbatz, der mich mit einem eifrigen Lächeln begrüßte. Schon sehr bald wurde mir klar, dass der zitronengelbe Turban und das smaragdgrüne Nachtgewand aus schimmerndem Damast nicht dazu dienen sollten, Frauen anzulocken. »Herr Prokurator?«, empfing er mich und trat beiseite, um mich in sein parfümiertes Boudoir einzulassen. »Mein Gott, bin ich erschrocken, als der Wirt klopfte!«, rief er aus, während er mir einen Stuhl an den Kamin rückte. Dann legte er ein Scheit nach, an dem sofort helle Flammen hochzüngelten, und rückte den Turban auf
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seinem Kopf zurecht. »Nun, was kann ich für Sie tun, Herr Prokurator?« »Ich möchte Ihnen einige Fragen stellen, Herr Lutbatz.« Der Mann setzte sich, die roten Lippen höchst effeminiert geschürzt, vor den Kamin und fing an leicht mit der flachen Hand auf seine Brust zu trommeln, als wollte er sich selbst beruhigen. »Gern, Herr Prokurator«, erwiderte er und stützte die Hände auf die Knie. Seine Nägel waren sorgfältig geschnitten und poliert, bis auf die der beiden kleinen Finger, die sich krümmten wie Adlerkrallen. »In Königsberg geht ein Mörder um. Davon haben Sie sicher gehört?« Er nickte ernst. Dann verzog er bestürzt das Gesicht, und seine Augen begannen zu funkeln. »Sie glauben doch nicht etwa, dass ich etwas damit zu tun habe, Herr Prokurator?« »Ich brauche lediglich ein paar Informationen von Ihnen als Händler«, antwortete ich mit einem beschwichtigenden Lächeln. »Ich handle mit Stoffen«, sagte er. »Sind Sie sicher, dass ich der bin, den Sie suchen?« Ohne auf meine Antwort zu warten, sprang er auf und hastete zur anderen Seite des Zimmers. »Sehen Sie, Herr Prokurator, das ist mein Geschäft – feinste Stoffe und Garne.« Er öffnete eine der Kisten, die den größten Teil des Bodens bedeckten, und holte dunkelrote Samtmuster heraus. »Ich bereise den ganzen Kontinent, vor allen Dingen Frankreich und die Niederlande, um meine Waren zu erwerben, und hier in Preußen verkaufe ich sie wieder. Alle Geschäfte in
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Königsberg gehören zu meinen Kunden, und dazu kommen noch ein paar Privatleute. Nur die beste Klientel …« »Wie beispielsweise Frau Koch?«, fragte ich. »Frau Koch?«, wiederholte er erstaunt. »Sie ist seit fünf Jahren tot. Die arme Frau …« »Setzen Sie sich wieder, Herr Lutbatz«, herrschte ich ihn an. »Ich bin nicht hier, um mir Ihre Ware anzusehen.« Mit unglücklichem Gesicht sank er auf seinen Stuhl zurück. »Frau Koch war die Frau meines Assistenten. Sergeant Koch hat doch heute mit Ihnen gesprochen, nicht wahr?« Lutbatz stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Ja, Herr Prokurator. Seine Frau war Näherin und viele Jahre eine gute Kundin von mir, eine höchst angenehme Person. Ich habe ihr Materialien im Tausch für ihre besten Arbeiten überlassen.« »Ich möchte wissen, was Sergeant Koch Sie fragte und was Sie ihm antworteten.« Lutbatz sah mich verwundert an. »Er ist doch Ihr Assistent, Herr Prokurator. Hat er Ihnen das nicht selbst gesagt?« »Ich möchte von Ihnen hören, wie das Treffen verlief«, erklärte ich. »Nun, er wollte sich über eine bestimmte Sorte Nadeln informieren, Herr Prokurator«, erklärte Lutbatz ein wenig nervös. »Für Wandteppiche. Ich habe ihm meine Muster gezeigt, und Sergeant Koch hat gefragt, ob ich Nadeln dieser Art hier in Königsberg verkauft hätte.«
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»Und wie lautete Ihre Antwort?« »Auf dieser Reise habe ich noch keine solchen Nadeln verkauft. Aber da sich Sergeant Koch auch für frühere Transaktionen interessierte, habe ich ihm meine Aufzeichnungen überlassen.« Ich holte den Zettel aus der Tasche, den ich bei Koch gefunden hatte, und reichte ihn Lutbatz. »Ist das die Liste, die Sie ihm heute gaben?« »Ich glaube schon.« Er setzte einen silbernen Kneifer auf seine Nase. »Ja, das ist meine Schrift, und das sind meine Kunden. Morgen möchte ich noch einen oder zwei davon treffen, dann geht’s weiter nach Potsdam.« »Heißt das, dass Ihre Geschäfte hier in der Stadt noch nicht abgeschlossen sind, Herr Lutbatz?« »So ist es, Herr Prokurator«, antwortete er. »Haben Sie schon mit Professor Kant gesprochen?« »Was für ein Zufall!«, rief er aus. »Sergeant Koch hat mir genau die gleiche Frage gestellt. Ich kann Ihnen die von Herrn Kant georderten Nadeln zeigen. Für die nämlich interessierte sich Sergeant Koch besonders.« Er erhob sich und durchquerte das Zimmer. »Kommt Herr Kant hierher, oder suchen Sie ihn zu Hause auf?«, erkundigte ich mich. »Er kommt zu mir, Herr Prokurator«, antwortete Lutbatz, kniete nieder und öffnete einen großen braunen Koffer. »Da sind sie ja!« Er holte ein kleines Holzkästchen heraus und streckte es mir entgegen. »Erwirbt Herr Kant immer nur solche?«, fragte ich, während Lutbatz ein zusammengerolltes Bündel aus dem Kästchen nahm und es mir überreichte. »Nein, nein, Herr Prokurator. Er kauft auch andere
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Dinge – Baumwolle, Wolle, manchmal auch ein wenig flämisches Linnen oder französische Seide. Aber diese langen Nadeln! Keine Ahnung, wofür er sie braucht.« »Haben Sie ihn je gefragt?« »Nein. Ich gehe davon aus, dass sie für seine Frau sind. Es schien mir allerdings nie angemessen, ihn danach zu fragen. Jedoch würde es mich interessieren, wie die Arbeit seiner Frau aussieht«, erklärte der Händler. »Ich habe das beste Verhältnis zu meinen Kunden; sie zeigen mir oft die Dinge, die sie fertigen. Und wenn sie etwas taugen, erwerbe ich sie. Die Sachen von Frau Koch erstand ich, um sie gegen neue Materialien einzutauschen. Ihre Arbeiten waren sehr beliebt …« »Aber Herr Kant hat Ihnen die Erzeugnisse seiner Frau bisher nicht angeboten, habe ich recht?«, erkundigte ich mich. »Und in seinem Haus waren Sie vermutlich auch noch nie.« Er hob erstaunt die Augenbrauen. »Woher wissen Sie das, Herr Prokurator? Ich nehme an, seine Frau ist krank. Wenn sie ihren Mann zum Einkaufen schickt, erfreut sie sich bestimmt nicht besonders guter Gesundheit.« Schweigend entrollte ich das Bündel. Was hatte Koch wohl gedacht, als er Kants Namen auf der Liste entdeckte? In dem Tuch befanden sich sechs Nadeln. »Walfischbein«, erklärte Herr Lutbatz stolz. »Was für eine hübsche Farbe! Cremeweiß mit gelbem Grundton.« Sie waren ein wenig länger und heller als die von Anna Rostova, und sie schienen liebevoll poliert. An einem Ende besaßen sie ein großes Öhr, an dem anderen eine feine Spitze.
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»Perfekt«, sagte Herr Lutbatz. »Sie sind leicht und liegen gut in der Hand. Man muss vorsichtig mit ihnen umgehen, aber letztlich halten sie mehr aus, als man ihnen zutraut. Damit lassen sich wunderschöne Dinge gestalten. Darf ich sie Herrn Kant geben, falls er sich vor meiner Abreise bei mir melden sollte?« »Ich glaube nicht, dass er sie noch benötigen wird«, sagte ich. »Bessere findet er nirgends«, erklärte Herr Lutbatz mit einem Achselzucken. »Das hat Sergeant Koch auch erkannt. Seiner Frau hätten sie gefallen.« »Bestimmt, Herr Lutbatz. Jetzt können Sie sie wieder verstauen. Danke, Sie sind mir eine große Hilfe gewesen.« »Keine Ursache, Herr Prokurator. Ich hoffe, meine Pflicht getan zu haben. Aber dürfte ich Sie noch etwas fragen? Warum interessieren Sie sich so sehr für Herrn Kant?« »Wissen Sie, wer er ist?«, erwiderte ich. »Einer meiner Kunden, Herr Prokurator«, antwortete er. »Er kauft zwar nicht regelmäßig, aber in meinem Gewerbe macht Kleinvieh auch Mist.« »Professor Immanuel Kant ist ein berühmter Mann«, informierte ich ihn. »Er hat bis vor Kurzem Philosophie an der Königsberger Universität gelehrt.« »Ach, das meinen Sie! Das hat er mir gleich bei unserem ersten Treffen vor etwa einem Jahr stolz wie ein Pfau erzählt. Allerdings habe ich ihn nicht ganz ernst genommen, das muss ich zugeben.« »Warum denn nicht?«, erkundigte ich mich. Lutbatz zögerte. »Nun, er sagte, er stehe in engem
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Kontakt zum König. Natürlich ließ ich mir nichts anmerken, aber das meiste habe ich ihm nicht abgekauft.« »Hat Herr Kant Ihnen verraten, welche Art von Arbeit seine Frau verrichtet?«, wollte ich wissen. »Was für eine Frage, Herr Prokurator!«, rief der Händler aufgeregt in die Hände klatschend aus. »Als er mich das zweite Mal aufsuchte, fragte ich nach, ob seiner Frau die Nadeln gefallen hätten.« »Und wie lautete seine Antwort?« »Er reagierte ausweichend. Sie nähe nur zum Spaß, sagte er.« Ich sah zum Fenster hinaus. Im Norden bricht die Morgendämmerung früh herein, und der Himmel färbte sich bereits rosa. »Es tut mir leid, dass ich Sie stören musste, Herr Lutbatz«, sagte ich. »Ich habe Sie um den Schlaf gebracht. Danke für Ihre Auskünfte. Sie haben mir sehr geholfen.« Wieder huschte der Händler zur anderen Seite des Raumes. »Würden Sie Ihre Unterschrift in mein Buch setzen, bevor Sie gehen, Herr Prokurator?«, fragte er. »Ich bitte jeden Besucher, seinen Namen und eine kurze Bemerkung hineinzuschreiben. Das ist ein großer Trost, wenn man allein unterwegs ist wie ich. Sie enttäuschen mich doch nicht? Sergeant Koch hat sich entfernt, ohne mir den Gefallen zu tun …« Ich nahm das in Leder gebundene Buch entgegen, auf dem ein großes rotes Samtherz sowie das Wort »Erinnerungen« in eleganten weißen Lettern aufgestickt waren. »Mein Werk!«, erklärte er voller Stolz. »Bemerkenswert«, musste ich zugeben. »Hier ist etwas zum Schreiben, Herr Prokurator.«
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Lutbatz brachte mir Feder und Tintenfass. »Wenn Sie ein paar Seiten zurückblättern, finden Sie die Widmung von Herrn Kant.« Ich fand die Stelle, und meine Hände begannen zu zittern, während ich las: Zwei Dinge erfüllen mein Gemüt mit Bewunderung und Ehrfurcht – der bestirnte Himmel über mir und die finsteren Abgründe meiner Seele. »Nur Mut, Herr Prokurator!«, rief Roland Lutbatz aus. »Vielleicht können Sie es besser.« Ich nahm die Feder in die Hand, und kurz darauf stand folgender Satz in dem Buch: Die Vernunft hat Licht ins Dunkel gebracht. Ich unterzeichnete, genau wie Immanuel Kant es vor mir getan hatte. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne liebkosten bereits golden den Horizont, als ich das Blaue Einhorn verließ und in den Morgen hinaustrat.
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atte ich Immanuel Kant, diesen alten, gebrechlichen Mann, wirklich auch nur einen Moment lang für den Mörder gehalten? Wenn ja, dann rettete mich der Blick in Roland Lutbatz’ Buch vor einem schwerwiegenden Fehler, denn die kindliche Handschrift darin war ein lächerlicher Abklatsch von der des großen Philosophen. Plötzlich wurde mir klar, dass in den vergangenen Tagen mehrfach ein vertrauter Schemen meine Wege gekreuzt hatte. Ich war ihm weder in den letzten Tagen noch sieben Jahre zuvor begegnet, als Professor Kant mich so unerwartet zu sich nach Hause eingeladen hatte. Sein alter Diener wohnte damals dem Begräbnis seiner Schwester bei – in seiner dreißigjährigen Dienstzeit bei dem Philosophen der einzige Tag seiner Abwesenheit. Und obwohl Jachmann den sechzigjährigen Martin Lampe mittlerweile entlassen hatte, sah Frau Mendelssohn ihn immer wieder bei Kant ein- und ausgehen. Martin Lampe und ich waren wie zwei Himmelskörper, die um ein und denselben mächtigen Planeten kreisten, einander aber nie begegneten. Warum wohl hatte Kant Lampe erlaubt, aus der Verbannung zurückzukehren? Vielleicht befriedigte er ja das Bedürfnis des Philoso-
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phen nach Struktur und Ordnung. Doch das, was Kant als harmloses Geplauder erschienen sein musste, war für Lampe die Quelle einer unheilvollen Macht. Wie ein Kuckuck im fremden Nest vertrieb er alle Freunde Kants und beobachtete jeden meiner Schritte. Weil er fürchtete, sein Herr könnte mir größere Zuneigung entgegenbringen als ihm selbst, versuchte er, mich aus dem Weg zu räumen, und brachte aus Versehen Sergeant Koch um, weil der den Umhang Kants trug. Aber wieso hatte Lampe die anderen ermordet? Um das herauszufinden, musste ich mit ihm selbst reden. Doch wo sollte ich mit meiner Suche beginnen? Wo lebte er, wo konnte er sich verbergen? Ich warf einen Blick auf meine Taschenuhr. Es war halb sechs morgens. Raschen Schrittes ging ich die Königstraße hinunter. »Lieber Gott, vergib den Totzens und Anna Rostova für ihre Sünden und Verbrechen und verzeih Lublinsky seine Schwäche«, betete ich. Sie alle waren meiner Unfähigkeit zum Opfer gefallen. »Hilf mir, Martin Lampe aufzuhalten! Erlöse die Seele von Amadeus Koch. Und stehe mir bei!« Als ich mein Ziel erreicht hatte, drückte ich das quietschende Gartentor auf und klopfte laut an die Tür. Erst nach einer ganzen Weile kam der Diener heraus, die Perücke schief auf dem Kopf. »Es ist noch nicht mal sechs!«, beklagte er sich. »Zu früh für einen Besuch. Außerdem hat mein Herr eine Erkältung und empfängt heute niemanden.« »Für mich wird er eine Ausnahme machen«, erwiderte ich. »Sagen Sie ihm, Prokurator Stiffeniis müsse ihn in einer sehr wichtigen Angelegenheit sprechen.«
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Der Diener verschwand und kehrte ein paar Minuten später zurück. Ohne ein Wort der Entschuldigung für seinen unhöflichen Tonfall trat er beiseite, um mich einzulassen, und deutete die Treppe hinauf. Herr Jachmann lag zwischen einem Berg Kissen im Bett, eine graue Schlafmütze tief in die Stirn gezogen. Im Zimmer hing schwerer Kampfergeruch. »Sie schon wieder?«, begrüßte er mich. »Noch ein Albtraum diese Nacht.« Ich setzte mich auf einen Stuhl neben dem Bett, ohne auf eine Einladung zu warten. »Ich komme wegen Martin Lampe«, sagte ich. Jachmann spitzte die Ohren. »Erzählen Sie mir alles, was Sie über ihn wissen.« Mit einem lauten Seufzen schloss er die rot unterlaufenen Augen. »Ich dachte, Sie wollen den Mörder finden, nicht Klatsch über die Bediensteten hören.« »Ich brauche Ihre Hilfe, wenn ich Professor Kant beschützen soll«, sagte ich. »Kennen Sie Frau Mendelssohn?« Er nickte stumm. »Sie behauptet, sie habe Martin Lampe mehr als einmal in Professor Kants Haus gehen sehen.« Da schlug Jachmann die Augen auf und bedachte mich mit einem wütenden Blick. »Halten Sie diesen Mann von Kant fern!«, kreischte er so laut, dass er einen Hustenanfall bekam. »Haben Sie mir alles gesagt, was ich über ihn wissen muss, Herr Jachmann?« Nervös nestelte er an der Wollmütze auf seinem Kopf herum und an der Decke, die um seine Schultern ge-
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schlungen war. »Lampe war nicht nur ein einfacher Diener«, erklärte er schließlich, »sondern viel, viel mehr. Ohne ihn wäre Professor Kant verloren gewesen wie ein Kind ohne Mutter. Kants intellektuelle Leistungen hängen in hohem Maße von Martin Lampes Hilfe ab.« Ich sah ihn ungläubig an. »Glauben Sie, ich übertreibe?«, fragte Jachmann mit einem matten Lächeln. »Martin Lampe wurde damals aus der Armee entlassen, und Kant brauchte einen Diener, das traf sich gut. Kant ist im Haushalt hilflos; Lampe sollte ihm zur Hand gehen. Nach einer Weile organisierte er den ganzen Alltag für Kant, und der war ihm dankbar dafür, denn der Professor braucht Disziplin.« Jachmann wischte sich die Nase ab. »Und warum haben Sie ihn nach so vielen Jahren treuen Dienstes entlassen?«, fragte ich. »Weil er für seinen Herrn zur Gefahr wurde«, antwortete Jachmann, in sein Taschentuch schniefend. »Martin Lampe hatte sich … unentbehrlich gemacht.« »Was für eine Gefahr meinen Sie genau, Herr Jachmann? Ich begreife nicht ganz.« »Kennen Sie Gottlieb Fichte?«, fragte er unvermittelt und fuhr sogleich, ohne auf eine Antwort zu warten, fort: »Fichte gehörte zu den vielversprechendsten Schülern Kants. Als seine Doktorarbeit erschien, meinten manche, Kant habe sie geschrieben, unter dem Pseudonym ›Fichte‹, doch das stimmte nicht. Fichte besuchte den Professor regelmäßig, und der empfing ihn immer herzlich. Aber nach der Publikation der Doktorarbeit veränderte sich ihr Verhältnis, es wurde kühl und feindselig. Die Philosophie bewegte sich in eine andere Rich-
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tung; die neuen Schlagwörter lauteten Gefühl und Pathos. Vernunft und Logik waren aus der Mode, genau wie Kant. Irgendwann verfasste Fichte dann ohne erkennbares Motiv eine beißende Attacke gegen Kant und beschuldigte ihn der geistigen Trägheit. Und wenig später stand er vor der Tür des Professors und forderte dreist ein Gespräch mit seinem Mentor.« »Hat Kant ihn empfangen?« »Aber natürlich. Sie kennen ihn doch. Er wollte unbedingt mit dem Mann sprechen, der in der Lage war, neue Konzepte zu formulieren. Doch Martin Lampe sah die Sache anders.« »Martin Lampe war nur der Diener. Wie konnte er Einfluss nehmen?« Jachmann schenkte meinem Einwand keine Beachtung. »Fichte schrieb mir, was an jenem Tag geschah«, erzählte er. »Er habe Angst um sein Leben gehabt, gestand er in dem Brief.« Jachmann presste ein mit Kampfer getränktes Tuch gegen den Mund und atmete tief ein. »Nachdem Fichte Kants Haus verlassen hatte, wurde er auf der dunklen, nebligen Straße das Gefühl nicht los, verfolgt zu werden. Da er niemanden sah, der ihm hätte helfen können, stellte er seinen Verfolger schließlich zur Rede.« »Kannte er ihn?«, fragte ich. Jachmann nickte. »Ja. Es war Immanuel Kant.« Hatte das Fieber Jachmanns Hirn vernebelt? »Nicht der liebenswürdige Kant, den Fichte soeben erst verlassen hatte«, erklärte er. »Sondern ein Dämon, der aussah wie Kant und gekleidet war wie dieser. Er stürzte sich mit einem Küchenmesser auf Fichte und hät-
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te ihm die Kehle durchgeschnitten, wenn dieser nicht so schnell gewesen wäre. In diesem Moment erkannte Fichte den Mann. Es handelte sich nicht um Kant selbst, sondern um dessen alten Diener, der eine halbe Stunde zuvor den Tee serviert hatte.« »Du gütiger Himmel!«, rief ich aus. »Fichte beschrieb ihn als die dunkle Seite seines Herrn.« »Warum erzählen Sie mir das erst jetzt?«, wollte ich wissen. Jachmann sah mich ein paar Sekunden lang schweigend an. »Was hätte Ihnen dieses Wissen genutzt?«, erkundigte er sich kühl. »Haben Sie Kant je von dem Zwischenfall erzählt?«, fragte ich zurück. Jachmann zuckte zusammen. »Halten Sie mich für verrückt, Stiffeniis? In jenem Haus war es zu einem dramatischen Persönlichkeitswandel gekommen. Aus dem Diener war der Herr geworden.« »Also entließen Sie ihn lieber«, schloss ich. »Ich überzeugte Kant davon, dass er einen jüngeren Mann benötige. Und dann schrieb ich Ihnen und wies Sie an, ihm fernzubleiben. Ich wollte, dass Kant seine letzten Jahre friedlich verlebt. Man muss den Professor vor der Welt schützen, vor Einflüssen wie dem Ihren oder Martin Lampes. Das Alter ist nicht spurlos an ihm vorübergegangen …« Jachmann machte eine Pause. »Kurz nach der Entlassung Lampes entdeckte ich noch etwas: Er war verheiratet! Seit sechsundzwanzig Jahren, und keiner wusste davon.« »Aber er wohnte doch im Haus von Kant.«
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»Ja, Tag und Nacht, all die Jahre.« Jachmann schüttelte den Kopf. »Eigentlich war Lampe die Heirat strikt untersagt.« »Versteht Lampe etwas von Philosophie?«, fragte ich. Jachmann zuckte mit den Achseln. »Was weiß ein gemeiner Soldat schon von solchen Dingen? Des Lesens und Schreibens ist er wohl mächtig. Aber da war auch diese Besessenheit. Kant kann sein Werk ohne meine Hilfe nicht fortführen, hat er einmal gesagt. Außerdem habe ich ihn mehrmals dabei ertappt, wie er in der Küche die Traktate seines Herrn durchblätterte. Wie viel er davon wohl verstand? Als er das Haus endgültig verließ, warnte er mich, dass Kant ohne seinen Beistand nie wieder ein Wort schreiben würde. Leider hat sich diese Prophezeiung tatsächlich bewahrheitet.« »Haben Sie danach noch etwas von ihm gehört?«, fragte ich. »Ich habe so gut wie keinen Kontakt mehr zu Kant. Trotzdem tue ich alles in meiner Macht Stehende, um Lampe von ihm fernzuhalten.« Er sah mich mit fiebrigem Blick an. »Ist Frau Mendelssohn ganz sicher, dass sie ihn gesehen hat?« »Ja. Sie hat ihn beobachtet, wie er Kants Haus verließ, erst gestern.« »Finden Sie ihn, Stiffeniis«, sagte Jachmann. »Spüren Sie ihn auf, bevor er noch mehr Unheil anrichtet.« »Haben Sie eine Ahnung, wo er sich aufhält?« »Da kann Ihnen sicher seine Frau weiterhelfen. Sie lebt … die beiden leben außerhalb von Königsberg, ich weiß nicht genau, wo. Aber jetzt« – er beugte sich vor und streckte mir seine feuchtkalte Hand entgegen –
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»müssen Sie mich entschuldigen. Ich danke Ihnen für alles, was Sie für Professor Kant getan haben«, erklärte er abschließend spöttisch. »Ich werde alles mir Mögliche unternehmen, um Martin Lampe …« Doch Jachmann, der damit beschäftigt war, die Kampferdämpfe einzuatmen, hörte mir schon nicht mehr zu. Draußen rief ich eine zweirädrige Kutsche herbei und wies den schläfrigen Fahrer an, mich zum Schloss zu bringen, wo ich sofort in meine Stube hastete. Obwohl ich die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, war ich hellwach. Wo hielt sich Lampe auf? Wo war seine Frau? Die Gendarmen konnte ich nicht auf die beiden ansetzen, denn niemals durfte jemand von der Verbindung zwischen Lampe, den Morden und Professor Kant erfahren. Ich fühlte mich wie eine Fliege in einem Glas, die, das Licht vor Augen, immer wieder gegen eine Wand knallt. In diesem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Einen konnte ich nach Martin Lampe fragen – Professor Kant selbst. Er musste ja wissen, wo der Mann zu finden war. Da klopfte es zweimal an der Tür. Ich öffnete. Vor mir stand ein verschlafener Soldat. »Eine dringende Nachricht, Herr Prokurator.« »Worum geht es?« »Eine Frau wartet unten auf Sie.« War Helena am Ende auf die Idee verfallen, nach Königsberg zu kommen, ähnlich wie sie die Woche zuvor das Grab meines Bruders besucht hatte? »Sie sagt, sie heißt Lampe, Herr Prokurator«, fügte der Soldat hinzu.
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rau Lampe, die mich im Flur vor dem Raum der Wachen erwartete, war überraschend jung, höchstens fünfundvierzig. Im flackernden Licht traten die Konturen ihres blassen Gesichts scharf hervor. Ein dünnes graues Kammgarntuch schützte Kopf und Schultern nur unzureichend gegen die Kälte. Obwohl sie müde wirkte, hatte sie etwas zeitlos Schönes. »Prokurator Stiffeniis?«, fragte sie mit einem musternden Blick aus ihren großen dunklen Augen. »Sie müssen Frau Lampe sein«, gab ich zurück. Sie nickte kaum merklich. »Kommen Sie herein, draußen ist es kalt.« Ich führte sie in den kleinen Raum der Nachtwache. »Danke, Herr Prokurator. Ich hätte schon längst zu Ihnen kommen sollen«, begann sie. »Es geht um meinen Mann.« Nachdem ich ihr einen Stuhl angeboten hatte, setzte ich mich hinter den Schreibtisch. »Ich kenne Ihren Mann«, sagte ich. »Ach, tatsächlich?«, fragte sie erstaunt. »Nicht persönlich, aber ich habe seinen Namen oft im Zusammenhang mit Professor Kant gehört.« Frau Lampe senkte den Blick. »Dann kennen Sie also den Professor?«
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»Ja, ich habe das Vergnügen.« »Das Vergnügen?«, wiederholte sie. »Auch ich kenne ihn, Herr Prokurator, wie ein Krüppel seinen verwachsenen Arm.« »Erklären Sie mir lieber, weswegen Sie hier sind«, erwiderte ich barsch. »Sie halten mich für unhöflich?«, fragte sie. »Für Sie ist Professor Kant vielleicht ein Freund, aber mein Mann und ich, wir kennen seine dunkle Seite. Meine Einstellung hat nichts mit mangelndem Respekt zu tun, sondern mit bitterer Erfahrung.« »Sie sind vermutlich nicht zu mir gekommen, um sich über Professor Kant zu beklagen«, sagte ich. »Also, was führt Sie her?« »Professor Kant ist die Ursache aller Probleme meines Mannes, Herr Prokurator«, antwortete sie. »Deswegen bin ich hier.« »Wenn Sie mir in meiner Funktion als Magistrat etwas sagen wollen, sollten Sie das umgehend tun«, drängte ich sie. »Ich muss nämlich dringend mit Ihrem Mann sprechen. Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?« Sie bedachte mich mit einem traurigen Blick aus ihren dunklen Augen. »Genau das ist es ja, Herr Prokurator«, schluchzte sie. »Ich habe keine Ahnung, wo Martin steckt. Er ist vorgestern Nacht verschwunden. Als ich eine Vermisstenanzeige aufgeben wollte, hat man mich zu Ihnen geschickt. Aber Sie leiten die Ermittlungen in den Mordfällen. Warum soll ich mit Ihnen sprechen? Ist ihm etwas passiert?«, fragte sie und wischte sich die Tränen mit ihrem Tuch weg. War ihrem Mann tatsächlich etwas zugestoßen, oder
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versuchte Frau Lampe, ihm ein Alibi zu verschaffen, indem sie sein Verschwinden auf fast vierundzwanzig Stunden vor dem Mord an meinem Assistenten datierte? Ich erhob mich. »Ich muss Ihr Haus durchsuchen, Frau Lampe.« Zu meiner Überraschung stand sie ebenfalls sofort auf und ging zur Tür. »Ich tue alles, was dazu beitragen könnte, Martin zu finden, Herr Prokurator.« Sie lächelte matt und begleitete mich schweigend hinaus zum Tor, wo eine Polizeikutsche wartete. Ich weckte den Fahrer, und wir stiegen ein. »Sagen Sie ihm, wo er hinfahren soll, Frau Lampe«, bat ich sie, woraufhin sie dem Kutscher eine Adresse in Belefest gab. »Werden Sie ihn leichter finden, wenn Sie das Haus durchsuchen?«, fragte sie unsicher, als wir losfuhren. »Ich habe selbst schon alles umgekrempelt. Er hat keine Nachricht hinterlassen, und es fehlt auch nichts.« »Das ist normales polizeiliches Prozedere, Frau Lampe«, erklärte ich. »Möglicherweise haben Sie einen Hinweis übersehen.« Sie nickte, offenbar erleichtert, die Angelegenheit mir überlassen zu können. Da schlug die Kirchturmuhr acht. Um diese Zeit, dachte ich mit einem Blick aus dem Kutschenfenster, war jede andere Stadt in Preußen hellwach, und in den Geschäften tummelten sich die Menschen, doch hier rührte sich nichts. Abgesehen von den Patrouillen an allen Kreuzungen hielt sich keine Menschenseele draußen auf. Königsberg befand sich im Belagerungszustand, und die Schuld daran trug Martin Lampe. Bonapartes
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Armee stellte eine geringere Bedrohung dar als der Feind innerhalb der Stadtmauern. Diesen Feind musste ich aufspüren, damit das Leben wieder beginnen konnte. Nach ein oder zwei Meilen verlangsamte die Kutsche ihr Tempo und hielt schließlich vor einer Reihe ärmlicher Häuschen mit eingesunkenen grauen Reetdächern. Wir stiegen aus. Der unbefestigte Weg wurde von hohen, kahlen Bäumen gesäumt. Im Frühjahr und Sommer, wenn alles grünte und blühte, hätte alles vermutlich einen weniger tristen Eindruck auf mich gemacht. »Sie werden im Haus kaum Dinge von Martin finden, Herr Prokurator. Mein Mann und ich sind selten zusammen, weil Professor Kant nicht ohne ihn zurechtkommt«, sagte Frau Lampe verbittert. Das winzige Haus mit dem kleinen Garten war das letzte in der Reihe der ärmlichen Behausungen. Sie erklärte mir, dass sie und ihr Mann nur zwei Räume bewohnten. Das gesamte obere Stockwerk sei vermietet. Als sie die Tür aufschloss, schlug uns starker Kohlgeruch entgegen. Sie holte eine Lampe, die schon bald den düsteren Raum erhellte. »Darf ich mich umsehen?«, fragte ich, bevor ich Schränke und Schubladen öffnete, unter jedes Kissen und jede Decke schaute und das Bett hochhob, um die Strohmatratze zu untersuchen. Es fand sich nichts Aufregenderes als ein paar angeschlagene Krüge und alte Teller, abgetragene Kleidung für die Gartenarbeit, Erinnerungsstücke an Martin Lampes Militärzeit, eine fadenscheinige Pferdedecke und einige Ersatzlaken. »Früher hatten wir mehr«, murmelte die Frau, »aber jetzt ist alles im Pfandhaus. Mein erster Mann Albrecht
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Kolber war Messdiener, und uns ging es gut, doch leider starb er an Cholera.« Sie habe Martin Lampe neun Jahre nach dessen ehrenhafter Entlassung aus der preußischen Armee, für die er unter Friedrich dem Großen in Polen und Westrussland gedient hatte, geehelicht, erzählte sie. Danach habe Martin Lampe bei Immanuel Kant angefangen. »Martin wollte mich heiraten, und ich brauchte einen Ehemann«, erklärte sie nüchtern. »Wir mussten die Hochzeit geheim halten, weil Professor Kant nur Ledige beschäftigte.« Inzwischen war ich am Ende meiner erfolglosen Suche angelangt und wischte mir den Staub von den Händen. »Wie gesagt, Herr Prokurator: Hier finden Sie so gut wie keine Hinweise auf ihn. Und wir haben auch keine Wertsachen.« »Gibt es irgendwo ein Versteck für Geld oder Dokumente?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich trage alles, was mir gehört, am Körper. Sie suchen am falschen Platz. Wenn Sie mehr über Martin erfahren möchten, müssen Sie sich anderswo hinwenden.« »Und wohin?« »Sie behaupten, ein Freund von Professor Kant zu sein. Warum fragen Sie nicht ihn? Wenn ich könnte, würde ich es selbst tun …« »Wieso glauben Sie, dass Kant etwas weiß?« »Martin besucht ihn oft«, sagte sie, ohne zu zögern. »Er hilft ihm beim Verfassen eines Buches.« »Er tut was?«, platzte es aus mir heraus. »Nicht, dass er damit etwas verdienen würde«, fuhr
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sie fort. »Ich habe keine Ahnung, was er genau macht. Wenn er nach Hause kommt, ist er allerdings meist so müde, dass er nicht einmal mehr im Garten arbeiten kann.« »Als er aus Kants Diensten entlassen wurde, hat man Ihrem Mann verboten, das Haus jemals wieder zu betreten«, erklärte ich. »Professor Kants Freunde sorgen dafür, dass er keinen Kontakt mehr zu ihm aufnimmt.« Frau Lampe lachte schrill. »Auch die engsten Freunde müssen irgendwann schlafen, Herr Prokurator. Martin besucht den Herrn Professor stets nach Anbruch der Dunkelheit. Mir gefällt das nicht, denn im Wald ist es gefährlich in der Nacht.« Sie runzelte die Stirn. »Sie haben keine Vorstellung davon, wie Martins Leben in Kants Haus ablief, nicht wahr? Dreißig Jahre lang hat er alles für den berühmtesten Sohn Preußens getan. Würden Sie die Wahrheit kennen, Sie wären nicht neidisch auf ihn, Herr Prokurator.« »Ihr Mann kann sich glücklich schätzen, dem scharfsinnigsten Denker gedient zu haben, den Preußen je hervorgebracht hat«, widersprach ich. Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Ich könnte Ihnen Dinge verraten, von denen nicht einmal Kants beste Freunde wissen«, sagte sie mit leiser Stimme. »Bitte, erzählen Sie«, ermutigte ich sie. »Jeder in Königsberg – und auch anderswo, soviel ich weiß – kennt Professor Kant, sein präzises Denken, seine starren Gewohnheiten, seine strenge Moral, sein gepflegtes Äußeres. Kein Haar am falschen Platz, kein sprachlicher Fauxpas, kein Fleck auf seiner weißen Weste. In dieser Stadt nennt man ihn die lebende Uhr. Bei ihm pas-
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siert nichts zufällig. Aber haben Sie einmal darüber nachgedacht, was das für seine Bediensteten bedeutet? Martin hatte keine Freiheit, kein eigenes Leben. Er begleitete seinen Herrn jede Sekunde des Tages, von dem Moment an, wenn er ihn morgens weckte, bis zu dem, wenn er abends den Professor ins Bett brachte und die Kerze ausblies. Er diente ihm wie ein Sklave. Mein Mann war besessen von dem Gedanken, Professor Kant den Alltag zu erleichtern. Als Herr Jachmann ihn entließ, wurde mir klar, dass etwas nicht stimmte. Er machte Martin Vorwürfe …« »Es ging nicht um Vorwürfe«, unterbrach ich sie. »Herr Jachmann war zu dem Schluss gekommen, dass Professor Kant einen jüngeren Mann brauchte.« »Das mag vielleicht sein«, sagte sie mit einem Achselzucken, während sie mich nervös ansah. »Aber Martin erfüllte in Kants Haus eine besondere Aufgabe, etwas, das nur er konnte.« »Eine besondere Aufgabe?«, wiederholte ich. »›Ich bin das Wasser in Kants Brunnen‹ hat Martin mir einmal gesagt.« »Und was meinte er Ihrer Meinung nach damit?« »Nun, das Buch von Professor Kant!«, rief sie. »Martin hat mir erzählt, dass er seinem Herrn dabei hilft. Kants Hand ist nicht mehr so ruhig wie früher, er sieht auch nicht mehr so gut, und er braucht einen Sekretär, der den Text für ihn niederschreibt.« »Kant hat Ihrem Mann diktiert?«, fragte ich ungläubig. Frau Lampe schloss die Augen und nickte. »Jede Nacht. Oft kam er erst im Morgengrauen nach Hause.
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Martin ist nicht mehr der Jüngste, aber er war stolz auf die gemeinsame Arbeit mit Professor Kant und darauf, dass er ihm half, seine Philosophie neu zu formulieren, wie er es ausdrückte.« »Wann fing das alles an?« »Vor über einem Jahr. In manchen Nächten kam er überhaupt nicht nach Hause, und wenn er dann endlich zurückkehrte, war er ein anderer Mensch. Dann saß er hier am Fenster und starrte hinaus, ohne ein Wort zu sagen.« »Hat er Ihnen verraten, wie seine Arbeit für Professor Kant im Detail aussah?«, fragte ich. »Er meinte, ich würde das nicht verstehen, er und sein Herr erforschten gerade eine neue Dimension.« »Hat sich Ihr Mann je mit Philosophie beschäftigt?«, erkundigte ich mich. »Nein, Herr Prokurator. Aber er hat viel vom Professor gelernt. Martin redete die ganze Zeit von diesen jungen Philosophen, die Kant angriffen. Seiner Meinung nach würden sie sich eines Besseren besinnen müssen, sobald das Buch herauskäme.« Da war es wieder, jenes mysteriöse Werk, sozusagen Immanuel Kants Vermächtnis, das niemand kannte. Niemand außer Martin Lampe … »Dieses Buch hat Martin in einen anderen Menschen verwandelt«, fuhr sie fort. »Manchmal jagte er mir Angst ein, Herr Prokurator. Er war besessen, und das lag nur an Kant.« »Ihr Mann tat seine Pflicht«, erwiderte ich, »so unangenehm sie auch gewesen sein mag.« »Unangenehm?«, zischte sie. »Schlimmer noch. Kant machte aus Martin fast einen Mörder.«
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»Wie bitte?«, fragte ich. »Eines Tages bekam Kant Besuch von einem jungen Mann, mit dem er sich beim Tee über Philosophie unterhielt …« »Hieß der Mann Gottlieb Fichte?« »Das weiß ich nicht, Herr Prokurator. Jedenfalls begleitete Professor Kant ihn am Ende ihres Gesprächs zur Tür.« »Was geschah dann?« »Kant wies meinen Mann an, dem jungen Philosophen nachzulaufen und ihn mit einem Messer umzubringen.« »Gehorchte Ihr Mann?« »Natürlich, es war ja seine Pflicht. Aber der junge Philosoph entkam.« »Glauben Sie, dass Ihr Mann Kants Anweisung tatsächlich ausgeführt hätte, wenn Fichte nicht geflohen wäre?« Sie faltete die Hände wie zum Gebet. »Kant ist senil, dabei, den Verstand zu verlieren. Offen gestanden, war ich froh, als Herr Jachmann meinen Martin entließ. Ich dachte, dann käme er wieder zu sich selbst, aber nichts änderte sich. Professor Kant rief ihn in der Nacht zu sich …« »Frau Lampe«, wechselte ich das Thema, nachdem mein Blick auf ein besticktes Zierdeckchen über einem Stuhlrücken gefallen war, »nähen Sie gern?« Sie nickte verwundert. »Wo kaufen Sie Ihre Materialien?« Sie sah mich verständnislos an. »In einem Laden? Oder von einem fahrenden Händler?«, fragte ich.
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»In zwei Geschäften«, antwortete sie schließlich. »Kennen Sie einen gewissen Roland Lutbatz?« »Ja, Herr Prokurator.« »Haben Sie in letzter Zeit etwas bei ihm erworben?« »Ich kenne ihn nicht persönlich. Er beliefert den Laden von Herrn Reutlingen. Dort habe ich ihn ein oder zwei Mal gesehen. Was hat Herr Lutbatz denn mit dem Verschwinden meines Mannes zu tun?« »Herr Lutbatz sagt, dass er sich kürzlich mit Ihrem Mann unterhalten hat«, antwortete ich. »Martin wollte Nadeln zum Auffädeln von Gobelinwolle kaufen.« »Zum Auffädeln von Gobelin wolle?«, wiederholte sie. »Haben Sie Ihren Mann gebeten, diese Nadeln für Sie zu erwerben?« »Nein. Vielleicht wollte er mich mit einem Geschenk überraschen. Das tut er manchmal.« Sie sah mich fragend an. »Nützt Ihnen diese Information etwas, Herr Prokurator?« »Sie waren mir eine große Hilfe, Frau Lampe«, dankte ich ihr und erhob mich. »Bitte setzen Sie sich mit mir in Verbindung, wenn Ihnen noch etwas Wichtiges einfällt. Die Polizei wird Ihren Gatten bald finden, da bin ich mir sicher.« »Da wäre noch etwas, Herr Prokurator«, sagte sie an der Schwelle. »Eigentlich hätte ich es schon früher erwähnen sollen, aber ich dachte, es sei nicht nötig.« »Was bitte, Frau Lampe?« »Ich zeige es Ihnen.« Durch den tiefen Schnee stapfte sie mir voran in den kleinen Garten hinter dem Haus, wo sie und ihr Mann einen Apfelbaum gepflanzt und ein
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paar Gemüsebeete angelegt hatten. Jenseits davon erstreckte sich ein dichter, dunkler Wald, in dem glänzende Eiszapfen von dicken Nebelschwaden eingehüllt waren. »Sehen Sie die Spuren?«, fragte sie und deutete auf Fußabdrücke im überfrorenen Schnee. Ich kniete nieder, um sie genauer zu betrachten. Sie waren verwischt und stammten offensichtlich von jemandem, der für dieses Wetter und Terrain ungeeignete Schuhe trug. »In der Nacht, in der Martin verschwand, schneite es. Ich habe diese Spuren am Morgen danach entdeckt, als ich getrocknete Kräuter aus dem Schuppen dort drüben holen wollte. Seitdem ist kein Neuschnee gefallen.« »Warum hat er Ihrer Ansicht nach diesen Weg gewählt?«, fragte ich. »Das ist ein Abkürzung zu Professor … in die Stadt«, korrigierte sie sich. Ich folgte den Spuren bis zu einem wilden Pflaumenbaum. Dort fand ich einen deutlichen Fußabdruck, den ich lange und entsetzt anstarrte. »Sind Sie sicher, dass diese Spuren von Ihrem Mann stammen?«, rief ich Frau Lampe zu. »Ich habe Martins Sohlen selbst eingeschnitten, weil das Leder abgetragen und glatt war. Ich wollte nicht, dass er ausrutscht und sich verletzt.« Das kreuzförmige Muster kannte ich bereits – von Lublinskys erster Tatortzeichnung, aus Professor Kants Garten und von dem Schnee neben Amadeus Kochs Leiche in der Sturtenstraße.
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ach der Rückkehr aus Belefest betrat ich nachdenklich mein Zimmer. Nun hatte der Mörder einen Namen, Martin Lampe, und diesen musste ich aufspüren und daran hindern, dass er wieder zuschlug. Aber ich hatte noch etwas anderes vor, etwas, wozu im Grunde kein Magistrat das Recht hat: Ich beschloss, die Identität des Mörders zu verschleiern. Professor Kant durfte nie erfahren, wer der Täter war. Ich würde die Ermittlungen unauffällig in eine andere Richtung lenken, bis sie von selbst im Sande verliefen. Die Leute sollten Martin Lampe lediglich als Diener Kants in Erinnerung behalten. Aber Lampe war verschwunden, und seine Frau glaubte, er sei tot. Konnte ich das zu meinem Vorteil nutzen? Eigentlich brauchte ich nur Stadtschen zu informieren, dass sich der Mann nirgendwo finden lasse und möglicherweise ermordet worden sei. Dann würde sich eine Suchmannschaft auf den Weg machen, um ihn zu mir zu bringen, und ich könnte ihn befragen, ohne Aufsehen zu erregen. Ich schenkte mir ein Glas Wein ein und leerte es mit einem einzigen Zug. Der Alkohol begann schnell zu wirken, und mir wurde klar, was passieren würde, sobald
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ich Lampe in meiner Gewalt hätte. Eine schreckliche Energie ergriff von mir Besitz. Meine Gedanken eilten zurück zu einem kalten grauen Morgen zehn Jahre zuvor, zu dem berauschenden Geruch von Blut, nachdem das Fallbeil mühelos den Hals des französischen Königs durchtrennt hatte. Ich ballte die Hände zu Fäusten und drückte sie gegen die Augen, um das Bild aus meinem Gehirn zu verbannen. Ich würde Martin Lampe umbringen. Lange saß ich still da, um mich zu sammeln. Eine öffentliche Verhandlung konnte ich nicht riskieren, denn es ist nicht leicht, das Gesetz zu manipulieren. Sobald Lampe im Gerichtssaal vor mir stünde, müsste ich seine Schuld beweisen. Ein Magistrat hat nicht nur die Aufgabe, Verbrecher zu verurteilen, sondern auch aufzuklären, was sie zu ihrer Tat getrieben hat. Im Gerichtssaal würde möglicherweise zu viel über Professor Kants Einfluss auf seinen Diener herauskommen. Wenn ich jedoch Anweisung gab, den Mann zu seiner eigenen Sicherheit festzusetzen, würde niemand an meinen guten Absichten zweifeln können. Und wenn ihm in meiner Obhut etwas passierte, würde vermutlich keiner es wagen, mir die Schuld dafür zu geben. Es klopfte an der Tür, und ein Soldat trat ein. »Verzeihen Sie die Störung, Herr Prokurator«, sagte er und legte zwei Briefe auf meinen Tisch, »die sind von Wachtmeister Stadtschen.« Ich warf einen Blick auf die Schreiben. Das größere, ein weißer Umschlag mit imposantem roten Siegel, ließ mich schlucken. Es gehörte zu jenen Briefen, vor denen alle Beamten der preußischen Verwaltung Angst haben –
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um die Mitteilung irgendeines namenlosen Sekretärs, der einen auffordert, das eigene Tun zu rechtfertigen. Seine Majestät König Friedrich Wilhelm forderte bis zum folgenden Morgen einen Bericht über den derzeitigen Stand meiner Ermittlungen. Ich ließ den Brief auf den Tisch fallen. Was sollte ich tun? Konnte ich den königlichen Befehl ignorieren, bis ich mich in einer weniger schwierigen Situation befände? Ich überflog das Schreiben noch einmal, bevor ich mich dem zweiten, weniger Furcht einflößenden zuwandte, das kein Hohenzollern-Siegel schmückte. Es handelte sich um einen einzelnen grauen Papierbogen, zwei Mal gefaltet und mit einem Band verschlossen. Doch als ich Stadtschens Nachricht las, begann mein Herz zu rasen. … ein Haufen Knochen. Kleiderfetzen weisen darauf hin, dass es sich bei dem Opfer um einen Mann gehandelt haben könnte. Er wurde durch den Wald gehetzt, das zeigen die Blutspuren im Schnee, und schließlich in Stücke gerissen. Es fanden sich Pfotenabdrücke von mindestens einem Dutzend Tieren … Wieder hatte man eine Leiche entdeckt. Aber warum war ich nicht sofort informiert worden? Stadtschen, der nach Kochs Tod offenbar seine Chance auf Beförderung witterte, hatte die Soldaten angewiesen, die Knochen in einem Sack zu sammeln und ins Schloss zu bringen. »Die sterblichen Überreste sollen dort einen Tag lang aufbewahrt werden für den Fall, dass jemand darauf Anspruch erhebt«, schrieb er. »Wenn nicht, erfolgt die Beisetzung in einem Armengrab.« Ein verärgertes Stöhnen entrang sich meiner Kehle,
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als ich weiterlas: »Obwohl die Leiche nicht innerhalb der Stadtmauern entdeckt wurde, untersteht der Fall dem Herrn Prokurator«, hieß es da. Ich sprang von meinem Stuhl auf, riss die Tür auf und rief nach Stadtschen. Schon kurz darauf eilte der Mann heran. Die Perücke saß ihm schief auf dem Kopf, der oberste Knopf seiner Uniform stand offen. Sein verschwitztes Gesicht sah aus, als hätte es jemand in Schmalz gedrückt. Ehrlich gesagt freute es mich, ihn in Verlegenheit gebracht zu haben. »Herr Prokurator?«, fragte er, heftig atmend. »Wo ist die Leiche, Stadtschen?« Er sah mich mit einer Mischung aus Überraschung, Schreck, Angst und Diensteifer an. »Die Leiche, Herr Prokurator?« »Der tote Mann aus dem Wald nahe Belefest«, herrschte ich ihn an und hielt ihm sein Schreiben vor die Nase. »Wer hat Ihnen erlaubt, sich an ihm zu schaffen zu machen? Begreifen Sie denn nicht, was in Königsberg vor sich geht, Stadtschen? Hier treibt ein Mörder sein Unwesen, und die einzige Möglichkeit, ihn zu fassen, besteht darin, jeden Tatort sorgfältig nach Hinweisen abzusuchen. Und Sie befehlen, die Leiche ins Schloss zu bringen! Ich vermute, Ihre Männer sind überall herumgetrampelt wie eine Herde Kühe.« »Prokurator Stiffeniis«, fiel er mir mit zitternder Stimme ins Wort. »Ich hatte keinen Grund zu der Annahme, dass der Mann von einem Menschen getötet wurde.« Er deutete auf das Schreiben in meiner Hand. »Das habe ich auch notiert, ganz am Schluss. Vermutlich wurde der Mann von Wölfen zerrissen …«
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»Und was veranlasst Sie zu dieser Annahme?«, brüllte ich ihn an. »Der Mörder könnte den Mann durch den Wald gehetzt haben. Vielleicht war er schon tot, als die Wölfe ihn fanden.« »Aber Herr Prokurator!«, widersprach Stadtschen. »Der Mörder schlägt immer innerhalb der Stadtmauern zu. Deshalb dachte ich …« Martin Lampe hatte tatsächlich nie einen Mord außerhalb der Stadt begangen; allerdings war Belefest sein Heimatort. Verbarg er sich in der Nähe seines Hauses oder in den Wäldern dahinter? Weniger als eine Stunde zuvor hatte ich seine Fußabdrücke auf dem schneebedeckten Pfad nach Königsberg gesehen. Hatte Lampe womöglich auf dem Nachhauseweg aus der Stadt jemanden umgebracht? Oder war er nach dem Mord an Sergeant Koch selbst in Stücke gerissen worden? »Befindet sich die Leiche noch im Schloss?« »Ja, Herr Prokurator. Wenn Sie wollen, führe ich Sie hin.« »Tun Sie das.« Nicht weit vom Haupttor entfernt nahm Stadtschen eine brennende Fackel von der Wand und reichte sie mir. Nachdem er eine weitere ergriffen hatte, öffnete er eine schmale Bogentür, hinter der eine Wendeltreppe zu den Verliesen und Labyrinthen unter dem Schloss hinabführte. Dort hatte ich am Abend meiner Ankunft in Königsberg mit Koch dem Nekromanten bei der Arbeit zugesehen. Unten angekommen, bogen wir nach rechts in einen engen, in den Fels gehauenen Gang ein, dessen raue, feuchte Wände mit dunkelgrünem Moos bewachsen
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waren. Hier schimmelten allerlei kaputte Stühle, Tische, Pritschen und stinkende Matratzen vor sich hin. Rostige Brustpanzer mit dem doppelköpfigen Adler waren aufeinander gestapelt, und an den Wänden lehnten altmodische Pulvermusketen. Alle diese Dinge schienen es darauf abgesehen zu haben, uns den Weg zu verstellen oder auf uns herabzufallen und uns bei lebendigem Leib zu begraben. Nur das flackernde Licht der Fackel spendete Trost, doch gegen die Kälte konnte es nichts ausrichten. »Wir befinden uns in den Eingeweiden der Erde, Herr Prokurator«, verkündete Stadtschen mit ernster Stimme. »Lange vor der Gründung von Königsberg und bevor die Menschen Häuser bauten, lebten sie hier unten.« Es war nur schwer vorstellbar, dass man bei dieser Kälte, die mir bis in das Mark der Knochen kroch, lange überleben konnte. Die schwere Wollkleidung, die mich bisher gegen den feuchten Nebel und den eisigen Wind in Königsberg geschützt hatte, nützte mir in dieser düsteren Höhle nichts. Normalerweise habe ich nichts gegen Kälte und erfreue mich an Raureif auf dem Gras, an der Wintersonne und der klaren Luft, aber der klamme unterirdische Moder wirkte sich negativ auf meine Stimmung aus. Schon als Kind hatte ich Angst davor gehabt. Jedes Jahr am Todestag meines Großvaters schloss mein Vater die Familiengruft auf und führte uns zu einem Gebet für unsere Vorfahren hinunter. So lernte ich bereits früh den Geruch von Gräbern kennen. Oft fragte ich mich damals, ob die Seelen meiner Vorfahren dazu verdammt seien, diesen muffigen Gestank bis in alle Ewigkeit einzuatmen.
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»Da wären wir, Herr Prokurator«, sagte Stadtschen und deutete auf eine schwere Eisentür. »Trotz der Kälte hält sich eine Leiche hier nicht lange. Das liegt an der Feuchtigkeit. Der Verwesungsprozess setzt schnell ein, und die Ratten tun ein Übriges …« »Das kann ich mir vorstellen«, unterbrach ich ihn hastig. »Ich wollte nur erklären, dass Leichen so kurz wie möglich im Beinhaus aufbewahrt werden …« »Und wie lange befindet sich diese schon hier?«, fragte ich. »›Leiche‹ würde ich die traurigen Überreste kaum noch nennen.« »Wie lange?«, wiederholte ich. »Vier Stunden, Herr Prokurator«, antwortete er. »Meine Leute sind dabei, in der Stadt Zettel auszuhängen.« Er sah mich unsicher an. »Soll ich diese Anweisung rückgängig machen?« »Nein, nein«, erwiderte ich. »Es könnte ja sein, dass sich jemand meldet, der etwas über die Sache weiß.« »Ich wollte Sie informieren«, fuhr er fort. »Aber als ich an Ihre Tür klopfte, reagierten Sie nicht. Die Wachen teilten mir mit, dass Sie das Schloss in Gesellschaft einer Frau verlassen hätten. Ich schrieb eine Nachricht für Sie und befahl den Soldaten, sie Ihnen zu überreichen, sobald Sie zurück wären. Ich hatte die ganze Nacht Dienst, Herr Prokurator.« Als Stadtschen den rostigen Riegel zum Beinhaus zurückzog, übertönte die laut über den groben Steinfußboden scharrende Metalltür meine leisen Gebete. Ich wünschte mir, tatsächlich bald die Leiche von Martin
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Lampe vor mir zu haben, damit der Schrecken in Königsberg sowie meine eigene Besessenheit ein Ende hätten. »Sie sollten Mund und Nase bedecken, Herr Prokurator«, riet Stadtschen mir. »Einer meiner Männer ist an der Cholera gestorben, nachdem er eine Woche fast durchgehend auf der Latrine verbracht hatte. Was für eine scheußliche Art, das Zeitliche zu segnen!« Stadtschen hob die Hand vor Mund und Nase, während ich mich mit dem Jackenkragen bedeckte. So betraten wir den Raum, in dem uns süßlicher Gestank entgegenschlug. Das flackernde Licht unserer Fackeln wanderte über die frisch gekalkten Wände und landete schließlich auf einer großen Zinkwanne. Ich sah hinein und wandte den Blick sofort wieder ab. In der Wanne lag die nackte Leiche eines Mannes mit herausquellenden Augen, breiter, eingesunkener Brust, faltiger, gelber Haut und aufgeblähtem Bauch. Nicht lange, dann würden sich die giftigen Gase einen Weg heraus suchen. »Da drüben«, sagte Stadtschen und deutete mit der Fackel in die andere Ecke. Der Tote aus dem Wald ruhte auf einer Matte aus grobem Sackleinen. Stadtschen hatte recht gehabt – »Leiche« war nicht der angemessene Ausdruck. Während ich versuchte, meinen Würgereiz zu unterdrücken, hörte ich, wie sich Stadtschen hinter mir räusperte und ausspuckte. »Hoffentlich war er schon tot, als sie ihn abnagten«, murmelte er, während ich die Fackel in eine Wandhalterung steckte.
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Dann kniete ich nieder, um die Leiche zu untersuchen, wie Professor Kant es mir beigebracht hatte. Ich betrachtete die Knochen, Rippen und die mindestens an drei Stellen gebrochenen Wirbel sowie das, was von Armen und Beinen noch übrig war: Wo sich früher Muskeln und Fleisch befunden hatten, schimmerte nun alles fahlorange oder dunkelbraun. An den Gelenken hingen Sehnen- und Knorpelreste, aber kaum noch weiches Gewebe. Es gelang mir nicht festzustellen, wie weit die Totenstarre bereits fortgeschritten war. »Mein Gott, die Biester müssen richtig Hunger gehabt haben!«, raunte Stadtschen. Er hatte recht. Ich holte den Schlüssel zu meinem Arbeitszimmer im Schloss aus der Tasche und drehte damit den Schädel in meine Richtung, so dass ich das, was einmal das Gesicht gewesen war, und den lockeren Kiefer genauer betrachten konnte, an dem, genau wie an Wangen, Kinn und Ohren, keinerlei Fleisch mehr hing. Die Wölfe hatten die Zunge herausgerissen, und der Rest des Mundes war, bis auf eine hell leuchtende Stelle am Gaumen, blutig. Am Oberkopf klebte eine letzte, an den Spitzen weiße Haarsträhne, die der Gier der Wölfe entgangen war. Ein älterer oder vor der Zeit gealterter Mann, schloss ich daraus. Lampe war über siebzig und konnte durchaus weiße Haare gehabt haben. »Sie haben ihm den Kopf abgerissen, Herr Prokurator, das ist deutlich zu sehen. Dieser Fall hat nichts mit dem Mord an Ihrem Assistenten zu tun, so viel steht fest. Entschuldigung, ich weiß, dass Sie ihm nahe standen.« Ohne etwas zu erwidern, wandte ich mich dem Torso der Leiche zu. Rippen, Becken und die anderen Knochen
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lagen in einem blutigen Brei – das Einzige, was von den inneren Organen noch übrig war. An den größeren Knochen entdeckte ich Bissspuren. Offenbar hatten die Tiere den Mann zu Boden gerissen, bevor sie sich über ihn hermachten. In den Gewebe- und Knochenteilen hingen Kleiderreste, deren Farbe nicht mehr auszumachen war. »Keine vollständigen Kleidungsstücke und keine Schuhe«, stellte ich fest. »Die haben sie wahrscheinlich verschlungen, Herr Prokurator«, meinte Stadtschen, der von der Bedeutung der Schuhe mit den kreuzförmig gemusterten Sohlen nichts ahnte. »Ein hungriger Wolf frisst alles. Die Biester haben eine Verdauung wie ein französischer Grenadier.« Ich stieß einen Seufzer aus. In diesem blutigen Haufen würde ich keinerlei taugliche Hinweise finden. Wenn der Mann tatsächlich Martin Lampe gewesen war, hatte sich seine Identität gänzlich aufgelöst. »Der Regimentsarzt wird sich die beiden Toten noch heute Vormittag anschauen«, informierte mich Stadtschen. »Allzu gut sehen sie ja nicht aus. Je schneller sie unter die Erde kommen, desto besser.« »Bevor Sie mit dem Arzt sprechen«, sagte ich, »könnten Sie sich selbst einen Gefallen tun.« »Herr Prokurator?« »Sie haben eigenmächtig gehandelt, das ist Ihnen doch klar, oder?« Er hielt den Atem an. »Eigentlich sollte ich ja Ihren unbedachten Befehl, die Leiche sofort ins Schloss bringen zu lassen, in dem Bericht an den König erwähnen«, sagte ich. »Aber vielleicht überlege ich es mir noch anders, wenn Sie mir so
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schnell wie möglich Frau Lampe heranschaffen. Sie wohnt in Belefest und kam heute in aller Frühe zu mir, um mir mitzuteilen, dass ihr Mann verschwunden sei. Ich bezweifle zwar, dass sie uns irgendetwas sagen kann, doch die Pflicht verlangt ein solches Vorgehen. Sorgen Sie dafür …« Sorgen Sie dafür, dass Sie ihn identifiziert. »Sie können sich auf mich verlassen«, erklärte Stadtschen mit einem zackigen Salut. Mittlerweile war meine Fackel fast heruntergebrannt. Die Aussicht, mich ohne Licht in diesen Gemäuern wiederzufinden, brachte mich dazu, den Raum hastig zu verlassen. Stadtschen folgte mir. Am Haupttor entließ ich ihn, und er machte sich auf den Weg in Richtung Belefest. »Bringen Sie mich in die Prinzessinstraße«, rief ich dem Kutscher, der am Tor wartete, zu. »So schnell Sie können.«
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XXXIII
A
m Nachmittag und in der Nacht war ich so beschäftigt gewesen, dass ich kaum einen Gedanken an Professor Kant verschwendet hatte. Das wurde mir erst klar, als ich den Kopf gegen das Polster der Kutsche lehnte und mich dem gleichmäßigen Rütteln des Gefährts überließ. Schon bald schlief ich tief und fest. Vor dem Haus fuhr ich erschrocken hoch und streckte den Kopf zum Fenster hinaus, wo ich den jungen italienischen Arzt, den ich tags zuvor kennengelernt hatte, mit einer großen braunen Arzneiflasche in der Hand den Gartenpfad entlang zur Tür laufen sah. Kants Diener ließ ihn ein. Ich sprang aus der Kutsche und hastete ihm nach, bevor Johannes Odum die Tür schließen konnte. »Was ist los?«, fragte ich den Diener keuchend. »Professor Kant«, jammerte Johannes mit tränennassen Augen. »Er verliert immer wieder das Bewusstsein. Der Arzt hat gerade etwas zur Stärkung gebracht.« Ich schob ihn beiseite und eilte die Treppe zu Kants Schlafzimmer hinauf. Dort wurde mir sofort klar, dass ich zu spät gekommen war. Der winzige, verschrumpelte Mann im Bett befand sich bereits mit einem Bein im Jenseits. Immanuel Kants Wangen waren eingefallen, die
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geschlossenen Augen lagen tief in den Höhlen. Seine schmalen Schultern zeichneten sich spitz unter den Laken ab wie Flügel. Er atmete laut und regelmäßig, wirkte aber schwach. Dies war der Beginn eines Schlafes, von dem er nie mehr erwachen würde. Herr Jachmann stand mit geneigtem Haupt da, während Doktor Gioacchini vorsichtig Professor Kants Lippen öffnete, um ihm eine dunkelgrüne Flüssigkeit einzuflößen. Ich trat einen Schritt näher an das Fußende des Bettes heran. Der Arzt begrüßte mich mit einem kurzen Nicken über die Schulter, bevor er sich wieder auf seinen Patienten konzentrierte. Ein paar Minuten lang herrschte völlige Stille, dann rief der Arzt plötzlich: »Herr Professor!« Kant hatte die Augen geöffnet und musterte mich unverwandt. Der Arzt senkte sofort den Kopf auf die Brust seines Patienten, um dessen Herzschlag zu überprüfen. Nachdem er sein Ohr dem weit offen stehenden Mund Kants genähert hatte, sah er mich an. »Der Professor möchte mit Ihnen sprechen«, flüsterte er und holte seine Uhr aus der Tasche, um den Puls des Sterbenden zu nehmen. »Beeilen Sie sich«, drängte er. »Seine Lebenskraft erlischt.« Ich beugte mich übers Bett. Dass Kant die Augen schloss, erschreckte mich, weil ich das Gefühl hatte, nicht mehr mit ihm in Kontakt treten zu können. »Ich bin’s, Hanno Stiffeniis, Professor«, sagte ich leise. Kants Lider flatterten, sein Gesicht war zu einer Maske erstarrt, auf seiner breiten Stirn glänzten Schweißtropfen.
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»Wie lange befindet er sich schon in diesem Zustand?«, fragte ich den Arzt. »Zu lange«, antwortete dieser. Ich drehte mich wieder zum Bett. »Professor Kant!«, sagte ich, lauter als beim ersten Mal. Da schlug Kant die blauen Augen auf, die jetzt fahler wirkten denn je, und sah mich an. Dann öffnete er den Mund und schloss ihn wieder. »Holen Sie ihn zurück«, drängte Doktor Gioacchini mich. »Professor Kant, sprechen Sie mit mir«, flehte ich ihn an und senkte mein Ohr direkt an seine Lippen, so dass ich den süßen, fauligen Geruch des nahenden Todes einatmete. Doch ich wich nicht zurück, sondern sog ihn in mich ein wie klare Gebirgsluft. Plötzlich erfüllte mich ein merkwürdiges Gefühl der Ekstase, denn der Mensch, mit dem der große Immanuel Kant in seinen letzten Minuten auf dieser Erde sprechen wollte, war ich. Als mein Ohr seine Lippen berührte, spürte ich sie erbeben. »Zu spät …«, hauchte er. »Professor?«, fragte ich schluckend. Sein Kopf sank mit der Andeutung eines Lächelns auf das Kissen zurück. »Ich habe den Mörder noch nicht gefasst«, begann ich. Seine letzte Kraft zusammennehmend, schüttelte Kant den Kopf, während sein Blick starr auf mich gerichtet blieb. »Aber ich werde seinem Treiben ein Ende machen«, fügte ich hinzu.
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»Sie hatten recht«, keuchte er schließlich. Ich hielt den Atem an. »In Paris haben Sie der Wahrheit ins Auge geblickt. Und dann Ihr Bruder …« Am liebsten wäre ich aus dem Zimmer gerannt, doch das konnte ich nicht. »Sie haben ihn sterben sehen«, fuhr er fort, jedes Wort eine unsägliche Anstrengung. »Deshalb habe ich Sie geholt, Hanno … Sie kennen die Gedanken eines Mörd …« Da sank er erschöpft zurück, und die Luft entwich aus seiner Lunge wie aus einer Orgelpfeife. »Er verliert das Bewusstsein«, murmelte Doktor Gioacchini und legte mir die Hand auf die Schulter, während sich ein rätselhaftes Lächeln auf den blutleeren Lippen Kants ausbreitete. Und dann sprach Immanuel Kant plötzlich ganz klar seinen letzten Satz auf Erden, den Herr Jachmann wenige Monate später in seiner Schilderung dieses denkwürdigen Augenblicks notieren würde. »Es … ist … gut.« Er wiederholte den Satz mehrfach, am Ende tonlos, als fiele eine schwere Last von ihm ab. Dann bewegte er sich nicht mehr. Immanuel Kant war tot. Draußen begann die Abenddämmerung hereinzubrechen, ein angemessener Hintergrund. Einen Moment lang stand ich stumm und reglos da, dann ergriff ich laut aufschluchzend die kalte Hand meines Mentors. Es ist gut. Was war gut? Sie hatten recht. Sie haben die Wahrheit erkannt …
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In welcher Hinsicht hatte ich recht? Und welche Wahrheit hatte ich erkannt? Das Bild von Immanuel Kant im Sterbebett verdrängte eine Weile alle anderen Überlegungen, als ich in der Kutsche von seinem Haus wegfuhr. Doch je näher ich dem Schloss kam, desto stärker begannen meine Gedanken, um das rätselhafte Lächeln auf seinen Lippen zu kreisen. Am Ende verband es sich mit dem Gesicht jenes namenlosen Mannes, dessen Schädel und Knochen im Beinhaus lagen. Konnte es zwei unterschiedlichere Arten geben, diese Erde zu verlassen? Ich beschloss, mir die Leiche im Beinhaus noch einmal anzusehen, diesmal allein, ohne Stadtschen. Sobald ich das Schloss erreicht hatte, durchquerte ich den Hof und ging in den Nordturm. Schon bald langte ich an dem schmalen Einlass zu den Verliesen an, wo ich eine Fackel von der Wand nahm und eintrat. Noch an der Schwelle zögerte ich, denn schon dort schien mir der üble Fäulnisgeruch entgegenzuschlagen, doch dann wagte ich den ersten Schritt, schloss die Tür hinter mir und begann die Treppe hinunterzugehen. Kurze Zeit später sah ich, dass sich das Licht einer anderen Fackel auf mich zu bewegte. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahm ich zwei schattenhafte Gestalten wahr, eine davon Wachtmeister Stadtschen. Aber wer war der andere? Mein Herz setzte einen Schlag aus. Hatte der Regimentsarzt bereits Anweisung gegeben, die Leiche aus dem Beinhaus zu entfernen und beizusetzen? Da erkannte ich die schwarz gekleidete Gestalt von
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Frau Lampe, die sich schwer auf den Arm des Soldaten stützte. Stadtschen hob den Blick, entdeckte mich und blieb stehen. Die Frau sah mich wenig später. Ihre Haut wirkte wächsern, noch fahler als kurz zuvor Professor Kants Gesicht, und ihre Wangen und ihr Mund waren aufgeschwollen. Fast hätte ihre Trauer mich gefreut, denn sie bestätigte meine Theorie, dass es sich bei der Leiche um Martin Lampe handelte. »Frau Lampe!«, rief ich aus. Sie begann laut zu schluchzen und schüttelte den Arm von Stadtschen ab, als hätte ich sie in einem Moment der Schwäche ertappt. »Die Leiche wurde auf dem Waldpfad hinter Ihrem Haus gefunden«, sagte ich. »Leider ist nicht viel davon übrig. Sie sind vermutlich ziemlich aus der Fassung. Es tut mir leid …« »Aus der Fassung?«, wiederholte sie mit überraschend fester Stimme. »In einer solchen Situation wäre wohl jeder aus der Fassung, Herr Stiffeniis. Ich bete zu Gott, dass keine andere Frau je das sehen muss, was ich gerade gesehen habe.« Ich musterte sie unsicher. »Nichts an diesem entsetzlichen Ding«, zischte sie wütend, »kann mich davon überzeugen, dass das mein Martin ist. Nichts! Ich hoffe, Sie suchen weiter nach ihm.« Es war also doch nicht vorbei. »Die Leichen sollten so schnell wie möglich beigesetzt werden, Herr Prokurator«, meldete sich Stadtschen zu Wort. »Sobald ich Frau Lampe nach oben gebracht habe, hole ich den Regimentsarzt. Einer Frau sollte man
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einen solchen Anblick wirklich ersparen. Und auch jedem Mann. Wenn wir die beiden nicht sofort begraben, riskieren wir eine Epidemie.« »Gut«, pflichtete ich ihm bei. »Informieren Sie den Arzt und bringen Sie Frau Lampe nach Hause. Aber im Laufe der nächsten Stunde möchte ich eine eidesstattliche Versicherung von Ihnen, dass angesichts des Zustands der Leiche keine eindeutige Identifizierung möglich war. Ich warte in meinem Zimmer auf Sie. Ich muss den Ermittlungsbericht für den König verfassen«, erinnerte ich ihn. Ein Ausdruck der Bestürzung trat auf Stadtschens Gesicht, als er sich verneigte, die Hacken zusammenschlug und mir versicherte, dass er meine Anweisungen buchstabengetreu befolgen würde. Offenbar hatte er meine Drohung verstanden. »Sie müssen entschuldigen«, sagte ich unterdessen zu Frau Lampe, »dass ich Sie einer solchen Tortur ausgesetzt habe. Hätte man die Knochen an dem Ort gelassen, an dem sie gefunden wurden, wäre vielleicht eine Identifizierung möglich gewesen.« Mit einem Blick auf Stadtschen fügte ich hinzu: »Der Verantwortliche wird bestraft.« Ich sah Frau Lampe an. »Wissen Sie übrigens schon, Frau Lampe …«, begann ich, doch dann besann ich mich eines Besseren. Nein, ich würde ihr nicht sagen, dass Kant gestorben war. »Was soll ich wissen, Herr Stiffeniis?«, fragte sie. »Ach, nichts von Bedeutung«, antwortete ich, wandte mich ab und ging die Stufen hinauf. Sie würde sich noch früh genug über das Ableben des Philosophen freuen können, den sie nie gemocht hatte.
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XXXIV
I
ch ging hinauf in mein Arbeitszimmer und rief den Wachposten, damit er mir die Kerzen anzündete. Es war höchste Zeit, den Bericht für den König zu schreiben. Noch immer wusste ich nicht, wie ich mich ans Werk machen, wie viel ich enthüllen beziehungsweise verbergen sollte. Entschlossen nahm ich die Feder zur Hand, tauchte sie ins Tintenfass, setzte die Spitze aufs Papier und blieb dann fünfzehn Minuten oder länger reglos wie eine aus Stein gehauene Statue sitzen. Am einfachsten, redete ich mir schließlich ein, wäre es, nur jene Fakten oder Ereignisse zu erwähnen, für die schriftliche Zeugnisse existierten. »Heute, am 12. Tag des Monats Februar des Jahres 1804«, begann ich, schwöre ich, Hanno Stiffeniis aus Lotingen, Assistenzprokurator des Zweiten Gerichtsbezirks des Obersten preußischen Gerichtshofs, dem die Ermittlungen zu den Morden an vier Bürgern der Stadt Königsberg übertragen wurden, kurz vor deren Abschluss, dass die folgenden Aussagen wahr und unbestreitbar sind. Es gibt gute Gründe für die Annahme …
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Ich hielt inne, tauchte die Feder wieder ins Tintenfass und stieß dann einen lauten Seufzer aus. Mir fiel kein einziger guter Grund ein. Letztlich ließen mich all die winzigen Mosaikstückchen, die ich bis dahin zusammengetragen hatte, das Schlimmste vermuten. Ich warf die Feder hin, rückte den Stuhl zurück, stand auf, durchquerte das Zimmer und blickte düster zum Fenster hinaus. Der Himmel war dunkel, und von der See herüber trieben tief hängende Wolken, die Regen, Schneeregen, vielleicht auch noch mehr Schnee, mit sich brachten. Ich öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Unten im Hof marschierten Soldaten auf und ab. Es war sechs Uhr abends, Wachablösung. Da klopfte es an der Tür, und wenig später noch einmal. Schließlich hörte ich Wachtmeister Stadtschen mit tiefer Stimme fragen: »Darf ich eintreten, Herr Prokurator?« »Kommen Sie später wieder!«, rief ich. »Ich arbeite gerade an dem Bericht für den König.« Doch Stadtschen klopfte erneut, noch lauter als zuvor. »Herr Prokurator, bitte. Die Angelegenheit kann nicht warten.« Ich schloss das Fenster und marschierte zornig zur Tür, um Stadtschen zurechtzuweisen. Schließlich hatte er durch die Entfernung der Leiche aus dem Wald meine Ermittlungen zunichte gemacht. Wenn es nach mir ginge, würde er degradiert und meinetwegen auch noch ausgepeitscht. »Nun, was ist?«, fragte ich, nachdem ich die Tür geöffnet hatte. Er stand stocksteif da und sah mich unsicher an. Erst
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nach einer ganzen Weile streckte er mir ein Blatt Papier entgegen. »Die eidesstattliche Aussage, Herr Prokurator«, verkündete er. »Identifizierung der Leiche durch Frau Lampe. Dieses Zeichen hier ersetzt ihre Unterschrift.« Ich entriss ihm das Papier und überflog den Text darauf: Hiermit schwöre und bestätige ich, dass die sterblichen Überreste, die im Wald nahe Belefest gefunden wurden und die ich in Anwesenheit eines Militärangehörigen im Königsberger Schloss in Augenschein genommen habe, die meines rechtmäßig angetrauten Ehemannes Martin Lampe sind. Der Name der Frau war in derselben steilen Handschrift vermerkt wie der Text und die Signatur Stadtschens. Frau Lampe hatte nur ihr Kreuz darunter gesetzt. »Die Frau kann nicht schreiben«, erklärte der Wachtmeister. »Was für ein Wunder ist denn da geschehen?«, fragte ich. »Frau Lampe hat doch Stein und Bein geschworen, dass es sich bei der Leiche nicht um ihren Mann handelt.« »Nun, es ist alles auf dem Nachhauseweg herausgekommen. Der Geruch im Beinhaus war einfach zu viel für sie. Frau Lampe hat gleich zu Anfang geklagt, dass ihr übel sei. Und ich konnte sie doch nicht zwingen, die Leichenreste eingehend zu untersuchen. Als Sie eintrafen, Herr Prokurator, war ich gerade dabei, mit ihr zum Luftschnappen in den Hof hinaufzugehen. Ich hätte sie
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wieder nach unten gebracht, aber Sie wiesen mich an, sie nach Hause zu begleiten.« »Und wieso hat sie ihre Meinung geändert, wenn sie doch gar nicht in der Lage war, die Leiche richtig zu begutachten?« »Ich habe sie draußen in Belefest nach besonderen Merkmalen ihres Mannes gefragt, auf die wir achten könnten, falls wir ihn fänden, Herr Prokurator«, erklärte Stadtschen. »Offiziell galt er ja als vermisst, hatte vielleicht die Erinnerung verloren oder war verwundet.« Ein Lächeln trat auf Stadtschens Gesicht. »Er habe tatsächlich ein solches besonderes Mal, sagte sie.« »Welcher Art?«, erkundigte ich mich. »Wir haben es selbst gesehen, Herr Prokurator, ihm aber keine Beachtung geschenkt«, antwortete Stadtschen. »Erinnern Sie sich noch an die helle Stelle in seinem Mund? Während seines Dienstes in der preußischen Armee war Lampe vor vierzig Jahren durch ein feindliches Bajonett verwundet worden. Es durchbohrte seine Unterlippe und schlitzte seinen Gaumen auf!« Ich erinnerte mich gut, denn ich hatte die gezackte Narbe für den frei liegenden Gaumenknochen gehalten. »Wir eilten zurück in die Stadt und kamen gerade noch rechtzeitig. Natürlich ließ ich sofort nach Ihnen suchen, Herr Prokurator«, fügte er hastig hinzu, »aber Sie waren nicht da. Der Totenschein war bereits ausgestellt, der Geistliche gerufen, und man hatte die Gräber für Lampe und den Soldaten ausgehoben. Nach einer kurzen Erklärung sorgte der Arzt dafür, dass Frau Lampe den Schädel halb von einem Tuch verdeckt zu sehen bekam, so dass sie nicht wieder unnötige Qualen leiden
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musste, und sie identifizierte ihren Mann. Anschließend verfasste ich die eidesstattliche Erklärung, las sie ihr vor, und sie setzte ihr Kreuz darunter. Frau Lampe ist jetzt offiziell Witwe.« »Hervorragende Arbeit, Stadtschen«, lobte ich ihn. »Nun muss ich diese Leiche in meinem Bericht nicht erwähnen, was bedeutet, dass Sie keine Scherereien bekommen.« »Gott segne Sie, Herr Prokurator«, murmelte er und verließ den Raum. Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, setzte ich mich frohen Mutes ob dieser glücklichen Fügung des Schicksals wieder an den Schreibtisch. »Der König soll seinen Bericht haben!«, rief ich. Dann nahm ich die Feder zur Hand und machte mich mit frischer Energie ans Werk: Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass es sich bei den Tätern um Ulrich Totz, einen Königsberger Gastwirt, und seine Frau Gertrude Totz, geb. Sonner, handelt. Sie selbst sagten aus, dass ihr Gasthaus »Der baltische Walfänger« als Ort der Zusammenkunft für napoleonische Kollaborateure und allerlei andere aufrührerische Elemente diente. Ihre Absicht war es, Verwirrung in der Stadt zu stiften und den Weg zu bereiten für eine Invasion durch die französische Armee. Ihre Verbrechen nahmen, wie Eure Hoheit wissen, ihren Anfang im Januar 1803 … Ich strich mir mit der Feder übers Kinn und fuhr, Einzelheiten ausführend, fort:
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… sie wurden unter Mithilfe von Anna Rostova, einer bekannten Prostituierten, Engelmacherin und Anhängerin der Schwarzen Magie, die alle diese Dinge freiwillig zugab, verübt. Es war nicht möglich, das genaue Ausmaß der aufrührerischen Absichten festzustellen – möglicherweise gibt es keine formelle Verbindung zum Ausland. Totz und seine Frau begingen, nachdem sie ihre Sympathie für die jakobinische Sache sowie ihre Mitwirkung an den Morden, unter anderem an ihrem eigenen Neffen Morik Lüthe, gestanden hatten, trotz strenger Überwachung im Gefängnis Selbstmord. Die Leiche von Anna Rostova wurde drei Tage später im Pregel gefunden. Es ist unklar, ob es eine Absprache gab, ob Anna Rostova gedroht hatte, ihre Komplizen zu verraten, und dann für ihren Verrat bestraft wurde, oder ob eine andere unbekannte Person, möglicherweise kein Mitglied der Gruppe, für ihren Tod durch Ertrinken verantwortlich ist. Im Hinblick auf diesen Vorfall hat trotz intensiver Ermittlungen noch keine Festnahme stattgefunden. Alles weist darauf hin, dass die verbliebenen Angehörigen der Verschwörergruppe, drei ausländische Saboteure, die sich im »Walfänger« einquartiert hatten, auf der Flucht sind. Sie halten sich nicht mehr in Königsberg auf; gegen sie liegt ein Haftbefehl vor. Die Namen der drei Gesuchten sowie alle relevanten Dokumente einschließlich der Vernehmungsprotokolle, Suchberichte und Notizen befinden sich in der Akte Nummer 7-8/ 1804. Angesichts der Auflösung der Gruppe können wir davon ausgehen, dass die Königsberger Mordserie sowie die damit verbundene Gefahr inneren Aufruhrs ein Ende gefunden haben.
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An dieser Stelle möchte ich besonders auf den Mut und die selbstlose Pflichterfüllung des Beamten Amadeus Koch, meines Assistenten, hinweisen, der den Verschwörern als Letzter zum Opfer fiel. Ohne Sergeant Kochs ausdauernde und hingebungsvolle Unterstützung und ohne seine höchst hilfreichen Informationen über die Königsberger Unterwelt wäre die schwierige Aufgabe, die Schuldigen aufzuspüren, kaum lösbar gewesen. Der Mörder von Herrn Koch gehört aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls zu den jakobinischen Kollaborateuren, die im Gasthaus von Herrn und Frau Totz verkehrten. Ich gehe davon aus, dass Koch nach dem Ableben der Hauptschuldigen, des Ehepaares Totz und Anna Rostovas, von einem Unbekannten umgebracht wurde, dessen Absicht es war, Verwirrung bei den Ermittlungen zu stiften und die irrige Annahme meines verehrten Vorgängers Prokurator Rhunken zu bekräftigen, die Morde gingen auf das Konto eines einzelnen Verrückten … Außerdem möchte ich meiner Dankbarkeit gegenüber dem verstorbenen Professor Immanuel Kant Ausdruck verleihen. Die Stadt Königsberg steht tief in der Schuld jenes Mannes, der mit absoluter Hingabe an der Aufklärung dieser Verbrechen und der Wiederherstellung der Ruhe in seiner geliebten Stadt mitgewirkt hat. Die Weisheit Eurer Majestät ist allgemein bekannt; ich bin sicher, dass Ihr die Bedeutung der Arbeit zu schätzen wisst, die dieser angesehene Professor der Philosophie ohne finanzielle Unterstützung oder sonstige Ermutigung durch die örtlichen Behörden bei der Entwicklung und Realisierung eines Systems der logischen und analytischen Polizeiermittlung geleistet hat, welches in die Annalen der
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Kriminalgeschichte eingehen wird. Hiermit verspreche ich, die Methoden, die ich von Professor Kant gelernt habe, in meiner künftigen Tätigkeit als Magistrat anzuwenden und weiterzugeben. Überdies schlage ich vor, die preußischen Polizeibehörden umgehend damit vertraut und sie zum Nutzen der Menschheit allgemein bekannt zu machen. Ich erachte dies als angemessenen Tribut an diesen großen Sohn Preußens. Meine treue Ergebenheit dem Haus Hohenzollern und Eurer Königlichen Hoheit gegenüber versichernd, bitte ich um Erlaubnis, nach Lotingen zu meiner Familie zurückkehren und mich wieder den dortigen Aufgaben widmen zu dürfen. Ihr untertänigster Diener, Hanno Stiffeniis, Prokurator PS: Wertvollen Beistand erhielt ich von Wachtmeister Stadtschen von der Königsberger Garnison. Ich empfehle seine Beförderung. Nachdem ich das Geschriebene mehrfach durchgelesen hatte, fertigte ich eine Kopie für General Katowice, ohne ein einziges Komma zu verändern. Als ich schließlich die Feder weglegte und mich auf dem Stuhl zurücklehnte, um meine schmerzende Rücken- und Halsmuskulatur zu entspannen, hatte die Fiktion bereits Wahrheitsstatus erlangt. Ja, das war die Wahrheit – die Wahrheit, wie ich sie meiner Frau, meinen Kindern und irgendwann meinen Enkeln erzählen und wie die Welt sie erfahren würde.
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Ich faltete den Bericht und die Abschrift und versiegelte beides. Dabei redete ich mir ein, dass ich von Gott, dem Herrn, in meinem Handeln geleitet worden war. Er hatte mich nach Königsberg und zu Immanuel Kant geführt. Er hatte mich gedrängt, Sergeant Koch den Umhang zu geben, und in Seiner unermesslichen Weisheit entschieden, dass Koch für die Sache sterben und ich überleben sollte. Der Herr hatte mich diesen Abschluss finden lassen und mir diesen Epilog nahegelegt. Als ich meinen Siegelring in das heiße rote Wachs drückte, glaubte ich, Seine Kraft dahinter zu spüren. Ich war Sein Werkzeug, nicht mehr. Ich legte das Siegel zum Abkühlen auf den Tisch, blies die Kerze aus und rief nach einem Gendarmen. Nachdem ich ihm die Schreiben übergeben hatte, warf ich einen Blick auf die Uhr und ging in die Schlafstube, wo ich mich wusch und das Hemd für die Beisetzung von Amadeus Koch um neun Uhr in der Kapelle auf dem Militärfriedhof wechselte. Außer mir war niemand anwesend, als der schlichte Holzsarg von vier Soldaten in den kalten Boden gesenkt wurde. Ich betete stumm für die große Seele von Sergeant Koch, der mich direkt zum Mörder geführt hatte. Während ich den Hut aufsetzte und mich zum Gehen wandte, hörte ich, wie die Soldaten Erde auf den Sarg schaufelten. Hatte ich das Richtige getan? Merete Koch lag sicher irgendwo in der Stadt begraben. Hätte ich mich genauer erkundigen sollen, bevor ich die Beisetzung Kochs innerhalb des Schlosses anordnete? Die beiden waren Gefährten im Leben gewesen und hätten einander auch im Tod trösten sollen.
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Abgesehen von diesem einen Punkt erachtete ich die Königsberger Angelegenheiten nun tatsächlich für abgeschlossen. Zwei Stunden später hatte ich meine Reisetasche gepackt und saß in derselben Kutsche, die mich in Gesellschaft von Amadeus Koch nach Königsberg gebracht hatte. Über mir und über der Stadt lastete ein bleigrauer Himmel.
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as Wetter wurde nicht besser, vielmehr immer schlechter, und so fand die Beisetzung Immanuel Kants erst nach sechzehn Tagen statt. Der Boden war zu hart gefroren, um ein Grab auszuheben. Die Leiche lag aufgebahrt in der Universitäts- und Domkirche von Königsberg und schien von Tag zu Tag mehr zu schrumpfen. Nach einer Weile ähnelte sie, wie es in einer örtlichen Zeitung hieß, so sehr einem Skelett, dass die Stadtväter um einen Wetterumschwung beteten. Ich stürzte mich unterdessen in Lotingen in die Arbeit, machte aber kaum Fortschritte in den Fällen, die sich in meiner Abwesenheit angesammelt hatten. Stunde um Stunde saß ich in meiner Amtsstube und starrte das Blumenmuster der Tapete an. Mein einziger Trost war die Familie. Helena bewies mir ihre Liebe durch tausend Blicke und Gesten und sorgte dafür, dass ich viel öfter mit meinen geliebten Kindern zusammen war als früher. Eines Morgens kam Helena mit der neuesten Ausgabe der Königsbergischen Monatsschrift in meine Amtsstube. »Es ist, als hätte sich die Erde geweigert, ihn aufzunehmen«, sagte sie, während sie mir die Zeitung auf den Tisch legte. Doch nun hatte es heftig geregnet und an-
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schließend getaut, und sofort war die Beisetzung von Professor Kant für den folgenden Tag um ein Uhr angesetzt worden. »Fahr nach Königsberg, Hanno, und begleite ihn auf seinem letzten Weg«, sagte Helena mit sanfter Stimme. Obwohl ich Königsberg nie wieder hatte betreten wollen, bestieg ich am nächsten Tag bei Morgengrauen die Kutsche, bekleidet mit schwarzem Anzug und Mantel sowie Trauerflor am Hut. Ich war froh darüber, der einzige Passagier zu sein, weil mir nicht der Sinn danach stand, mich mit irgendjemandem zu unterhalten. Wir kamen mittags an, und ich machte mich sofort auf den Weg zur Prinzessinstraße, wohin Kants sterbliche Überreste am Vortag verbracht worden waren. Auf der Straße wimmelte es von Schaulustigen, und ständig trafen neue Freunde und Bekannte des Philosophen ein, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Die Szenerie ähnelte einem Rummelplatz. Ich trat durchs Gartentor und wurde von einer Woge Studenten in der Robe des Collegium Fridericianum mitgerissen. Im Esszimmer ruhte ein üppiger Eichensarg auf einem mit Efeu umkränzten, blumengeschmückten Katafalk. Der Sargdeckel lehnte an der Wand. Als mein Blick auf Kants Gesicht mit diesem rätselhaften Lächeln auf den Lippen fiel, nahm ich voller Ehrfurcht den Hut ab. »Alles ist genau so, wie er es gewollt hätte«, hörte ich da Herrn Jachmann neben mir, der mir die Hand zum Gruß hinstreckte. »Sie haben die Stadt so überstürzt verlassen, Stiffeniis«, fügte er hinzu. »Ich war mir nicht sicher, ob ich Sie heute hier sehen würde.«
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»Ich musste kommen«, sagte ich mit erstickter Stimme, während der Deckel von der Wand genommen und auf dem Sarg festgenagelt wurde. Wortlos sahen wir zu, wie sechs Studenten den Sarg schulterten und hinaus auf die Straße trugen. Jachmann dirigierte mich ans vordere Ende der scheinbar endlos langen Schlange von Trauernden, die hinter der schwarzen, von vier Rappen gezogenen Kutsche herging. Der Zug bewegte sich auf von zahllosen Menschen gesäumten Straßen durch Königsberg. Die Universitäts- und Domkirche wurde von Hunderten Kerzen erhellt. Eine Orgel spielte gedämpft ernste Klänge, während die geladenen Gäste und die Honoratioren der Stadt ihre Plätze einnahmen. Auch Johannes Odum, Frau Mendelssohn und Doktor Gioacchini waren da. Ich setzte mich ein paar Reihen hinter sie und war dabei so tief in Gedanken versunken, dass ich die Frau direkt vor mir erst bemerkte, als diese ihr schwarzes Kopftuch zurechtrückte: Frau Lampe. Die Witwe hätte ich nun wirklich nicht bei den Beisetzungsfeierlichkeiten für den Mann erwartet, den sie für alle Kümmernisse ihres Gatten verantwortlich machte. Warum war sie gekommen? Die feierliche Zeremonie, bei der zahlreiche Redner, unter ihnen auch Herr Jachmann, wie dies bei solchen Gelegenheiten Brauch ist, Plattitüden von sich gaben, dauerte gute zwei Stunden. Als schließlich nichts mehr zu sagen war, hievten die Studenten den Sarg erneut auf ihre Schultern und trugen ihn gemessenen Schrittes aus der Kirche hinaus. Ich trat in den Gang, um ihnen zu folgen, doch Frau
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Lampe stellte sich mir in den Weg. »Ich hatte gehofft, Sie hier zu treffen, Herr Prokurator«, begrüßte sie mich. »Sonst wäre ich nicht gekommen. Wieso sollte ich schließlich diesem Monster die letzte Ehre erweisen?« Meinen Versuch, um sie herumzugehen, vereitelte sie. »Ich habe da etwas, das Sie interessieren dürfte«, flüsterte sie mir zu und holte eine schmale Lederaktenmappe unter ihrem Mantel hervor. »Was auch immer dies sein mag«, sagte ich, »übergeben Sie es der örtlichen Polizei. Meine Arbeit hier ist abgeschlossen.« »Sie waren mit ihm befreundet«, erklärte sie mit geschürzten Lippen. »Ich finde, es steht Ihnen zu.« Stumm betrachtete ich, was sie mir entgegenstreckte. »Das habe ich vor ein paar Tagen gefunden. Das Buch, an dem die beiden arbeiteten.« Ich sah sie fragend an. »Ich habe Sie schon zu lange aufgehalten«, sagte sie, drückte mir die Mappe in die Hand und hastete aus der Kirche. Ich drückte das unerwartete Geschenk mit der gleichen Inbrunst an die Brust wie ein paar Jahre zuvor mein erstgeborenes Kind. Immanuel Kants philosophisches Testament – das seiner Meinung nach die gesamte Moralphilosophie verändern würde. Auf die Knie sinkend, dankte ich meinem Schöpfer dafür, dass ich auserwählt war, die unvergleichliche Größe Immanuel Kants zu preisen. Hastig lief ich aus der Kirche und bahnte mir mit glü-
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henden Wangen einen Weg durch die draußen Wartenden. Von irgendwoher hörte ich Jachmann rufen, aber ich kämpfte mich, ohne ihm Beachtung zu schenken, durch die Menschenmassen, das wertvolle Päckchen fest an mich gepresst. Auf der halbwegs ruhigen Straße angekommen, hielt ich inne, um Atem zu schöpfen. Wo konnte ich das Traktat ungestört lesen? Warum ging ich nicht zu Jachmann und den anderen Freunden Kants, um ihnen die Mappe zu zeigen? Nun, ich wollte die letzten Gedanken des Philosophen mit niemandem teilen, weil die Worte, die er Martin Lampe diktiert hatte, meiner Ansicht nach nur für mich bestimmt waren. Ein Stück weiter die Straße hinunter befand sich ein Kaffeehaus, in dem sich normalerweise Studenten tummelten, doch die waren heute alle bei der Trauerfeier. Ich ging hinein, setzte mich an einen Tisch in der hintersten Ecke und bestellte als Rechtfertigung für meine Anwesenheit eine heiße Schokolade. Sobald der Kellner sie serviert hatte, zog ich das Manuskript unter meinem Mantel hervor wie ein Dieb seine Beute. Die Seiten wurden durch ein schmutziges rotes Band zusammengehalten, und beim Durchblättern sah ich, dass auf manchen von ihnen noch der Sand zum Trocknen der Tinte klebte. Das Traktat trug keinen Titel; auf der Vorderseite konnte ich auch keinen Autorennamen entdecken. Doch die Schrift erkannte ich sofort. Die Wörter stolperten unregelmäßig und mit hässlichen, kindlichen Buchstaben dahin. Wieder einmal fragte ich mich, warum Professor Kant seine Gedanken einem solchen Gehilfen anvertraut hatte.
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Als ich die ersten Abschnitte las, wurde mir bewusst, wie sehr ich Martin Lampe beneidete. Kant griff seine Grundthese auf, derzufolge das moralische Wesen der Pflicht das menschliche Verhalten universellen, den Prinzipien der Rationalität unterliegenden Gesetzen unterwirft. Alles Handeln, betonte er, solle dem Gemeinwohl dienen, das für echte Freiheit stehe. Der grässlichen Handschrift Lampes zum Trotz erkannte ich den unverwechselbaren Tonfall Immanuel Kants wieder und seine Theorie der Moralphilosophie, die er zuerst in Grundlegung zur Metaphysik der Sitten formuliert und später in Kritik der praktischen Vernunft weiter ausgeführt hatte. Ich kann nicht sagen, ab wann mich eine gewisse Unsicherheit zu beschleichen begann. Fest steht lediglich, dass Kant sich von seinen vertrauten Pfaden wegbewegte. Plötzlich fand ich mich auf unbekanntem Terrain wieder. Verzweifelt suchte ich nach einem Konzept, das sich als eindeutig kantisch identifizieren ließ. Hatte Frau Lampe sich getäuscht? Handelte es sich bei dem Dokument nicht um das, wofür sie es hielt? Die Formulierungen wirkten so ungeschliffen, so anders als die eleganten Wendungen Immanuel Kants. Und trotzdem meinte ich das, was ich las, irgendwie zu kennen … Während sich das Kaffeehaus allmählich füllte und ich eine zweite Tasse heiße Schokolade zu mir nahm, vertiefte ich mich immer mehr in die Gedanken des Textes. In der Mitte von Seite vier setzte mein Herz einen Schlag aus. Entsetzt schloss ich die Augen. War dies die wahre Hölle? Eine Hölle nicht mit lodernden Flammen, sondern eine Schattenwelt, in der die Engel plötzlich ihre
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Cherubimmasken und glänzenden Flügel abnahmen, um die hässliche Realität darunter zu offenbaren. Das philosophische Vermächtnis von Professor Immanuel Kant, niedergeschrieben in der ungelenken Handschrift Martin Lampes, begann mit meinen eigenen Worten, mit dem, was ich Kant sieben Jahre zuvor unter vier Augen anvertraut hatte …
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ei meinem damaligen Besuch schlug Kant einen Spaziergang ums Schloss vor. »Bei dem Wetter?«, wandte Herr Jachmann mit besorgtem Gesicht ein, doch Kant schlüpfte in seinen Mantel, ohne ihm Beachtung zu schenken. Die Luft draußen war vom Nebel schwer wie ein feuchtes Tuch. »Gehen Sie voran, Stiffeniis. Ich folge Ihnen«, sagte er und stützte sich auf meinen Arm. Als wir aufbrachen, begann ich nervös von meinem Sommer zuvor in Italien zu erzählen. Ich berichtete von der unerbittlichen Sonne, von der erfrischenden Kühle des Herbstes und dem kalten, feuchten Winter, während ich durch Frankreich zurück in Richtung Heimat fuhr. Plötzlich blieb Kant stehen. »Genug vom Wetter!«, herrschte er mich an. Ich konnte sein fahles Gesicht im dichten Nebel kaum erkennen. »›Es gibt eine menschliche Erfahrung, die vergleichbar ist mit der ungezügelten Kraft der Natur‹, haben Sie beim Essen gesagt. ›Kaltblütiger Mord, Mord ohne Motiv.‹ Was meinten Sie damit, Stiffeniis?« Nach kurzem Zögern beschrieb ich, was ich an einem kalten, grauen Morgen keine zwei Monate zuvor gesehen hatte. Berauscht von den Idealen der Aufklärung
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und neugierig darauf, wie die Revolutionäre mit ihrem früheren Monarchen verfahren würden, hatte ich meine Reise in Paris unterbrochen und am 2. Januar 1793 auf der Place de la Révolution gestanden, als Louis XVI. die Stufen zum Schafott erklomm. Ich hatte niemals vorher einer Hinrichtung beigewohnt und beobachtete fasziniert, wie der König vor der Guillotine niederkniete, während die Klinge unter Trommelwirbel hochgezogen wurde. »Da blickte ich dem Teufel in die Augen«, erzählte ich Kant. »Die Klinge sauste herunter, grub sich mit einem Übelkeit erregenden Knirschen in den Hals des Königs, und plötzlich stieg mir der Geruch von Blut in die Nase. Ich atmete ihn ein wie Weihrauch, während ich jede Zuckung des Körpers fasziniert mitverfolgte, als der abgetrennte Kopf in den bereitgestellten Korb rollte. So einfach war das: Man betätigte einen Hebel und machte einem Leben ein Ende. Ursache und Wirkung. So schnell, so verheerend, so endgültig. Ich wollte es wieder und wieder sehen …« In diesem Augenblick erhob sich ein Ungeheuer in der Seele des rationalen Menschen, für den ich mich bis dahin gehalten hatte. Dieser Doppelgänger liebte den Tod und die damit einhergehende Euphorie. Ich versuchte, Kant das Gefühl mit einem Wort zu beschreiben, das er begreifen würde. »Es hatte etwas Erhabenes«, gestand ich ihm. »Ich konnte mich der Erfahrung nicht entziehen.« Nun war es heraus. Professor Kant blieb eine Weile stumm. »Aber da ist noch mehr, nicht wahr?«, fragte er plötzlich. »Warum
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sprechen Sie von Mord ohne Motiv? Die Pariser hatten Grund genug, den König hinzurichten. Sie wollen mir doch noch etwas anderes sagen.« Er schien in die tiefsten Tiefen meiner Seele zu blicken. »Ja«, gab ich schließlich zu. »Ich brachte den Wahnsinn mit nach Hause. Vor einem Monat starb mein Bruder …« »Haben Sie ihn umgebracht?«, fragte Kant in dem gleichen höflichen Tonfall, in dem er sich kaum eine Stunde zuvor erkundigt hatte, ob ich das Brot mit oder ohne Butter wolle. Er stellte die Verbindung her, vor der ich selbst Angst hatte, reagierte aber weder erschreckt noch angewidert. Für ihn handelte es sich um eine notwendige Frage, nicht mehr und nicht weniger. »Stefan wurde vor einem Jahr aus der Armee entlassen«, erklärte ich. »Er war als bester Kadett der Militärschule ausgezeichnet worden und somit genau der Sohn, den sich mein Vater immer gewünscht hatte – also das genaue Gegenteil von mir mit meiner ewigen Grübelei. Aber Stefan verlor ohne ersichtlichen Grund immer wieder das Bewusstsein. Wie sich herausstellte, war das Zuckerungleichgewicht in seinem Urin die Ursache. Nur Honig konnte ihn wieder herstellen. Alle im Haus wussten, was zu tun war, wenn er einen Anfall hatte. In jedem Raum stand Honig mit einem Löffel bereit. Sobald Stefan blass wurde, zu schwitzen begann oder sich seltsam verhielt, mussten wir ihm davon geben. Er durfte das Haus nur mit einem durch einen Korken verschlossenen Gläschen mit Honig verlassen.« Ich schwieg, auf eine Reaktion von Professor Kant wartend, doch der blieb stumm, ein fahler Schatten im Nebel.
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»Bei meiner Rückkehr«, fuhr ich fort, »hatte sich mein durch die Pariser Ereignisse verursachter innerer Aufruhr noch nicht gelegt. Ich erzählte niemandem davon außer meinem Bruder Stefan, der sich meine Geschichte stumm anhörte und mich weder beurteilte noch kritisierte. Dann, ein paar Tage später, forderte er mich plötzlich auf, genau das zu tun, was Vater uns verboten hatte.« »Und was war das?«, erkundigte sich Kant. »In der Nähe des Hauses befindet sich eine Felsnase, die Richtergade, die wir als Kinder gern um die Wette hinaufkletterten. Ich hätte Nein sagen sollen, ja, müssen, aber ich tat es nicht. Er provozierte mich, forderte mich heraus zu einem Spiel, auf das ich mich gern einließ, weil körperliche Aktivität mich von meinen düsteren Gedanken ablenkte. Ich erinnerte ihn lediglich daran, das Gläschen Honig in die Tasche zu stecken. Er nickte, und dann machten wir uns auf den Weg. Es war kalt, ein guter Tag für eine Kletterpartie, und ich erreichte den Gipfel als Erster. Der Wind dort oben beruhigte den Aufruhr in mir. Ich wollte Stefan gerade von meiner Euphorie erzählen, mich bei ihm bedanken, doch da nahm ich wahr, dass er noch immer nicht oben angekommen war und sich keuchend bemühte, einen Felsvorsprung unter mir zu erreichen. Als ich hinunterschaute, blickte ich dem Tod erneut ins Auge. Stefan hatte Schaum vor dem Mund, seine Augen waren verdreht, und seine Muskeln begannen zu zittern, als er zu sprechen versuchte. Immer wieder glitten seine Nägel an dem feuchten Stein ab. Vor meinen Augen spielte sich ein Kampf auf Leben und Tod ab, doch für mich hätte es sich genauso gut um … ein wissenschaftliches Experiment handeln
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können. Stefan rutschte ab, stürzte ins Nichts. Und was machte ich? Ich sah untätig zu. Erst nach einer ganzen Weile hastete ich hinunter und fand seinen leblosen Körper im Gras. Er war mit dem Kopf auf einem scharfen Stein aufgekommen, das Moos rund um ihn herum voller Blut und Hirnmasse. An jenem Abend stürzte Vater in mein Zimmer, in der Hand ein Gläschen mit goldenem Honig. ›Das habe ich in deiner Tasche gefunden‹, warf er mir vor. Seinen Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen. ›Warum hast du deinen Bruder nicht gerettet?‹, schien er sagen zu wollen. Ich schwöre, dass ich den Honig nicht in meine Jacke gesteckt hatte. Er nannte mich nicht ›Mörder‹. Nein, das war das letzte Wort meiner Mutter, bevor sie starb. Nach dem Tod Stefans lag sie wochenlang reglos im Bett und starrte vor sich hin, bis sie mit diesem schrecklichen Vorwurf ihr Leben aushauchte. Ich durfte ihrer Beisetzung beiwohnen, aber dann befahl Vater mir, das Haus zu verlassen und es nie mehr zu betreten. Bei der Trauerfeier erzählte mir ein Freund meines Vaters von Ihnen, Professor Kant, und er behauptete, das moralische Diktat der Vernunft sei bedeutend stärker als die Gefühlsimpulse des Menschen. Da wusste ich, dass ich mit Ihnen sprechen musste, weil Sie mich verstehen würden. Ich hoffte, die Philosophie könne mich retten. Aus diesem Grunde bin ich heute hier«, erklärte ich. »Ich suchte Sie am Ende der Vorlesung auf und sagte …« »›Der Tod hat mich verhext‹«, beendete Kant den Satz für mich, bevor er mich mit eindringlichem Blick musterte.
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»Bin ich ein Mörder, Professor?«, fragte ich. »Ihr Bruder hat Sie herausgefordert«, antwortete er nach längerem Überlegen. »Er kannte das Risiko besser als Sie. Nehmen wir einmal an, dass Sie den Honig, ohne nachzudenken, einsteckten. Dann wussten Sie tatsächlich nicht, dass er sich in Ihrer Tasche befand. Ihr Bruder hingegen ging davon aus, das getan zu haben, was er immer tat, wenn er das Haus verließ, doch das war nicht der Fall. Der Geist kann dem Menschen seltsame Streiche spielen«, bemerkte er mit einem Lächeln und tippte sich mit dem Finger an die Stirn. »Ist Ihnen das schon aufgefallen? Manchmal vergessen wir selbst die wichtigsten Dinge.« »Aber ich sah zu, wie er sich abmühte. Warum versuchte ich nicht, ihn zu retten?« »Vermutlich waren Sie so bestürzt, dass Sie einfach nicht reagieren konnten. Und es war niemand anders da. Sie geben sich die Schuld für seinen Tod, aber das ist nur die halbe Geschichte. Das Gleiche hätte auch an einem anderen Ort passiert sein können, in Ihrer Abwesenheit. Sie sagten doch, er sei krank gewesen.« »Aber ich war da«, widersprach ich. »Bedauerlicherweise ja«, pflichtete Kant mir bei. »Und zwar in einer sehr merkwürdigen Verfassung nach dem, was Sie in Paris gesehen hatten. Der Tod beherrscht uns alle, und die Erhabenheit des Schreckens erzeugt einen höchst eigenartigen Geisteszustand, für den ich keinen passenden Ausdruck finde …« »Was soll ich also tun?«, fragte ich ihn. Professor Kants Rat sollte mein Leben verändern. »Sie wissen, wie Mörder denken, Hanno, und haben
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Überlegungen angestellt, zu denen sich nur wenige Menschen bekennen würden. Dieses Wissen macht Sie zu etwas Besonderem. Und das sollten Sie nutzen«, sagte er. »Aber wie, Professor?« »Bringen Sie Ordnung ins Chaos, bekämpfen Sie das Unrecht. Studieren Sie Juristerei.« Zwei Wochen danach schrieb ich mich als Student der Jurisprudenz an der Universität von Halle ein, und fünf Jahre später, nach meinem Abschluss, nahm ich meine Arbeit als Magistrat in der kleinen Ortschaft Lotingen auf, wo ich mit Helena Jordaenssen zusammenzog, der Frau, die ich sieben Monate zuvor geheiratet hatte. Dort führte ich ein ruhiges Leben, dessen Gleichförmigkeit ich zu schätzen lernte. Meine Aufgabe war es weniger, Urteile zu fällen und zu bestrafen, als einfach nur mein Amt zu bekleiden. Bis zu dem Tag, an dem Koch meine Amtsstube betrat. Ich senkte den Blick wieder auf den Text, den Kant Lampe diktiert hatte. Die Gesetze der Natur werden auf den Kopf gestellt, wenn ein Mensch gottgleiche Macht über einen anderen ausübt. Kaltblütiger Mord öffnet die Tür zum Erhabenen. Er ist eine Apotheose, die ihresgleichen sucht … Hatte ich Professor Kant mit meinem Wahn angesteckt und ihm den Pfad zu verbotenem Wissen offenbart? Hatte er am Ende seines Lebens den Weg zur absoluten Freiheit entdeckt, der ihm zuvor durch Rationalität, Disziplin und Logik verborgen geblieben war? Kurz vor
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dem Fund von Sergeant Kochs Leiche hatte Kant fiebrig und voller Leidenschaft von seinen Gegnern gesprochen, von den Hohepriestern des Sturm und Drang. »Sie ahnen nicht, was ich …«, hatte er begonnen und ich vollendete den Satz für ihn: Sie ahnen nicht, was ich mit Ihrer Hilfe getan habe, Stiffeniis. Hatte Immanuel Kant mit diesem Buch im Gehirn seines treuen Dieners den Samen des Bösen gesät, wissend, dass Lampe ihn beim Wort nehmen würde? Hatte Kant mit ihm einen mörderischen Golem geschaffen und diesen auf Königsberg losgelassen? Wenn Kant also gewusst hatte … Jan Konnen, Paula-Anne Brunner, Johann Gottfried Haase und Jeronimus Tifferch waren ihm zum Opfer gefallen. Er hatte letztlich den Tod Prokurator Rhunkens sowie den von Morik herbeigeführt, die Totzens in den Selbstmord getrieben, Anna Rostova auf dem Gewissen und Lublinskys Seele genauso monströs zugerichtet wie sein Gesicht. Das Leben Frau Tifferchs und ihrer verbitterten Magd war ebenso zerstört wie das aller, die die Ermordeten gekannt oder geliebt hatten. Die Stadt und ihre Bewohner waren in einem Netz aus Schrecken gefangen, das Kant so kunstvoll gewebt hatte. Und er hatte Koch, meinen treuen Assistenten, ermordet, Koch, der die düstere Verwicklung Kants in den Fall geahnt und das Böse in seinem Labor wahrgenommen hatte, während ich den Professor nur bewunderte. Wenn Kant also gewusst hatte … Er hatte mich einzig und allein gewählt, weil ich wusste, wie Mörder denken, das hatte er selbst gesagt. Mich – nicht Prokurator Rhunken oder irgendeinen an-
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deren erfahreneren Magistraten –, denn ich würde die höllische Schönheit seiner letzten philosophischen These bewundern. Den erhabenen Ausdruck des Willens, den Akt, der Logik und Vernunft, Gut und Böse übersteigt: Mord ohne Motiv. Den Augenblick, in dem der Mensch befreit ist von jeglicher Moral, wie die Natur, oder wie Gott. Als ich auf logischen Beweisen sowie glaubwürdigen Erklärungen bestand, als ich nicht begriff, was er mir mitteilen wollte, öffnete Kant die Tür und schickte mich mit seinem Umhang hinaus, um mich ermorden zu lassen. Doch Koch nahm meinen Platz ein und empfing den tödlichen Streich, der eigentlich für mich bestimmt war. Wenn Kant also gewusst hatte … Er hatte sich nicht für das interessiert, was aus mir geworden war, den fleißigen Magistraten aus Lotingen mit Frau und zwei kleinen Kindern, sondern für die verwirrte Kreatur, die er zuvor nur ein einziges Mal gesehen hatte, für den Mann, der noch befleckt war vom Blut eines vor seinen Augen in Paris ermordeten Königs, der den Tod seines eigenen Bruders beobachtet und ihm an einem kalten, nebligen Nachmittag bei einem Spaziergang um das Königsberger Schloss das dunkelste Geheimnis der menschlichen Seele enthüllt hatte. Indem er mir den Fall übertrug, wollte der Professor den Dämon wecken, der ihm sieben Jahre zuvor begegnet war. Und gelang es ihm nicht fast? Die Köpfe in den Glasgefäßen faszinierten mich stärker, als ich zugeben mochte. War es allein der wissenschaftliche Aspekt? Oder verspürte ich nicht vielmehr Erregung bei der Untersuchung der gefrorenen Leiche
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von Anwalt Tifferch, des gespaltetenen Schädels von Morik, bei dem Fausthieb gegen Frau Totz und dem Anblick ihres Mannes nach dessen Selbstmord? Trotz Kochs Warnung stimmte ich bereitwillig der Folter zu. Augustus Vigilantius riss ein tiefes Loch in meinen schwachen Panzer der Normalität, und Anna Rostova erkannte in meiner dunklen Seite eine verwandte Seele. Ich konnte nicht umhin zuzugeben, dass ihre Skrupellosigkeit und Laszivität mich stimulierten … Ich schloss beschämt die Augen. Doch da regte sich Widerspruch in mir. Nein! Das alles hatte ich allein getan, um einen Mörder zu fassen. Kants Labor hatte ich im Interesse der Wissenschaft und Methodologie genutzt, die ich bewunderte, nicht jedoch die makabren Exponate in den Glasbehältern. Tifferchs Leiche hatte mir verraten, wie alle Opfer umgekommen waren. Und gegen Gerta Totz hatte ich die Hand erhoben, um ihr eine weit schlimmere Strafe zu ersparen. Die Verzweiflung und Entschlossenheit, die die Eheleute verband, konnte ich nicht ahnen. Dann war Anna Rostova aufgetaucht – eine Frau, die sich so sehr von meiner Helena unterschied. Es hatte Augenblicke gegeben, in denen ich hoffte, die Albino-Frau vor den Konsequenzen ihres Tuns beschützen zu können. Darum war es mir gegangen, nicht darum, ihren schönen Körper zu besitzen. In Kants Augen hatte ich es nicht geschafft, die Schönheit dieser Morde zu schätzen. Ich war nicht mehr länger das Wesen, für das er mich gehalten hatte, denn mein Herz wurde von der Liebe erwärmt und gerettet, von der Liebe meiner Frau und meiner Kinder. Von der Liebe zu Gesetz, Moral und Wahrheit. Nichts, womit
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Kant mich lockte, hatte meine dunkle Seite wieder zum Vorschein bringen können. Ich war kuriert, neu geboren, und das hatte ich ihm zu verdanken … Ich schob die Seiten zusammen, legte eine Münze auf den Tisch und hastete aus dem Kaffeehaus. Draußen empfing mich die kalte Nachtluft, die ich als erfrischend empfand und die mir klarmachte, dass ich tun musste, wozu die Vernunft mich zwang. In der Dämmerung eilte ich über das Kopfsteinpflaster bis zu der Steinbrücke am Ende der Straße und über das graubraune Wasser des Pregel bis zur Mitte der Brücke, wo ich mich übers Geländer beugte und das Dokument, das Frau Lampe mir überlassen hatte, in kleine Stücke zu zerreißen begann. Wie frischer Schnee flatterten die weißen Fetzen hinunter und wurden von den Fluten verschlungen. So wurde das letzte Werk von Immanuel Kant, Professor für Logik an der Universität zu Königsberg, der ahnungslosen Welt übergeben.
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u Hause in Lotingen kehrte ich an meine Arbeit zurück, überzeugter denn je davon, dass die Tätigkeit eines Landmagistraten ausreichen würde, mich zufrieden zu machen. Ich verbrachte meine Tage damit, Grundstücks- und Erbschaftsstreitigkeiten, Auseinandersetzungen zwischen Krämern und Bauern, Ausschweifungen wegen Trunkenheit sowie andere kleinere Gesetzesverstöße zu klären und zu ahnden. In meinem Alltag ereignete sich nichts Aufregenderes, als dass hin und wieder ein Hahn von einem Karren überrollt wurde. Ich vergaß die Vorfälle in Königsberg nicht ganz, aber mit der Zeit verloren sie für mich an Bedeutung. Die Erinnerung daran war wie eine Narbe, die an einem kalten Tag zu jucken beginnt. Mein Leben verlief fast gänzlich wieder in normalen Bahnen, als ich Anfang April einen Brief von Olmuth Hanfstaengel, seit Urzeiten Anwalt unserer Familie, erhielt, in dem mich dieser informierte, dass mein Vater zehn Tage zuvor unerwartet gestorben sei, dass man ihn seinem letzten Willen gemäß neben meiner Mutter und meinem Bruder im Familiengrab auf dem Ruislinger Friedhof beigesetzt habe und dass Hanfstaengel beauftragt sei, den Nachlass zu regeln. Grund, Haus und
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alles andere bis auf eine Ausnahme seien verkauft worden und der Erlös nach der Begleichung der Beisetzungskosten an die Militärakademie in Druzba gegangen, wo Stefan seinem Land einige Monate gedient hatte. In einem Zusatz teilte Hanfstaengel mir mit, dass ich in dem Testament ein Mal direkt erwähnt sei und von ihm in Kürze detaillierter Nachricht darüber erhalten werde. Helena stand, die Hände vor der Brust verschränkt, neben mir, während ich den Brief las. Ich reichte ihn ihr wortlos. Nachdem sie ihn überflogen hatte, machte sich ein Ausdruck unverhohlener Freude auf ihrem Gesicht breit. »Ich glaube, Stefan hat tatsächlich für uns gebetet«, sagte sie schließlich. Offenbar meinte sie immer noch, ihr zufälliges Zusammentreffen mit meinem Vater an jenem Tag auf dem Friedhof habe Wunder gewirkt und er habe sich mit mir ausgesöhnt und mich deshalb in seinem Testament bedacht. Einen Moment lang redete ich mir ein, dass sie recht hatte. Doch der Tonfall des Schreibens sprach dagegen. Meinen Bruder bezeichnete Vater jedes Mal als »Stefan, meinen geliebten Sohn«, während ich stets nur mit meinem Namen erwähnt wurde. Trotzdem warteten wir gespannt auf die Nachricht von Anwalt Hanfstaengel, die zwei Wochen später eintraf. Sie bestand nur aus wenigen Worten: »Hiermit schicke ich Ihnen das im letzten Willen des verstorbenen Wilhelm Ignatius Stiffeniis bezeichnete Erbe.« Gleichzeitig hoben der Bote und sein Gehilfe ein Paket von ihrem Wagen und trugen es in den Flur. Sofort erkannte ich die mit Stahlbändern verschlossene Eichen-
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holzkiste aus dem Ankleidezimmer meiner Mutter wieder. Mein Herz begann schneller zu schlagen, ich bekam weiche Knie. Ich ließ mich auf dem kalten Steinfußboden nieder, um sie zu öffnen. In der Kiste lagen alle Besitztümer Stefans: seine Lieblingskleider, Erinnerungsstücke, die Bücher, die er wieder und wieder gelesen hatte, und obenauf fünf Gläschen mit goldenem Honig. Das war mein Erbe. Mein Vater wollte also, dass ich niemals vergaß, dass ich nie zur Ruhe kam. Sein Fluch besaß über das Grab hinaus Gültigkeit. Als ich mich Helena zuwandte, sah ich, dass Freude und Hoffnung aus ihren Augen verschwunden waren. Ich glaubte, wieder die Fragen zu hören, die ich ihr bisher nicht beantwortet hatte. Sie hatte sie mir nach ihrem ersten und einzigen Treffen mit meinem Vater in jenem Brief nach Königsberg gestellt: Wie kann ein Vater nur so hassen? Wofür gibt er Dir die Schuld, Hanno? Wortlos schaffte ich die Kiste auf den Speicher, wo sie allmählich verstaubte. Nach einem ungewöhnlich feuchten Sommer kletterte ich eines kühlen Herbstabends hinauf, um Kerzen zu holen. Vor dem Hinuntergehen wandte ich mich, einem plötzlichen Impuls folgend, der Kiste zu und widmete mich ihrem Inhalt noch einmal genauer. Als der Deckel mit einem rostigen Quietschen zurückklappte, schien sich zusammen mit dem Staub eine Wolke aus Schmerz und Kummer zu erheben. Stefans Hab und Gut war so hastig in die Kiste geworfen worden, dass nun ein Gläschen des Honigs zersplitterte, sich über ein Bündel Liebesbriefe, das von einem ausgeblichenen rosaroten Band
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zusammengehalten wurde, ergoss und Stefans Lieblingsbuch Die Leiden des jungen Werthers verklebte. Ich setzte mich auf den Holzfußboden – das Buch in meiner Hand wog schwer wie Blei – und rief mir ins Gedächtnis, wie sehr Stefan den Roman geliebt hatte. Er hatte ihn bestimmt hundert Mal gelesen, mit einer Leidenschaft, die nie nachzulassen, sondern sich im Gegenteil bei jeder Lektüre noch zu steigern schien. Wie oft hatte er in unserem gemeinsamen Arbeitszimmer daraus zitiert? Als ich mich daran erinnerte, glitt mir das Buch aus der Hand und landete aufgeschlagen auf dem Boden. Ich blickte auf die Stelle, an der der frühe Tod des jungen Protagonisten beschrieben wird. Stefan hatte wie immer kritische Kommentare am Rand vermerkt. Zu meinem Erstaunen entdeckte ich meinen Namen. »Liebster Hanno«, hieß es da, Du magst Dich gefragt haben, warum ich schwieg, als Du von Paris und der Hinrichtung des Königs erzähltest. Mein ganzes Leben lang hatte ich Dich mit Fragen gequält, doch jetzt sagte ich nichts. Du konntest nicht ahnen, welche Gefühle Deine Worte in mir weckten. Wie sollte ich sie Dir auch mitteilen? Falls es kein Leben nach dem Tode gibt, keinen Ort, an dem wir uns Wiedersehen, möchte ich Dir an dieser Stelle dafür danken, dass Du mir Dein Geheimnis offenbart und mir den Pfad gewiesen hast. Lässt sich Selbstmord als kaltblütiger Mord interpretieren? Jedenfalls handelt es sich um die schwerwiegendste Entscheidung, die ein Mensch fällen kann. Gibt es eine größere Freiheit? Wenn wir ohnehin unser Leben lassen, die Pfeil’ und
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Schleudern des wütenden Geschicks erdulden müssen, wie Shakespeare schreibt, warum dann noch einen Tag warten? Der Tod ist die Erfüllung eines jeden Lebens. Ich habe beschlossen, meine Leiden zu beenden. Und zwar mit Deiner Hilfe, lieber Hanno, auch wenn Du das nie erfahren wirst, denn ich bezweifle, dass Du dieses Buch jemals liest! Morgen werden wir die Richtergade erklimmen, und Du wirst mich nicht enttäuschen. Unser Geist und unser Herz sind aufgewühlt. Du hast Deine Gründe, ich die meinen. Dieses Wettklettern wird uns beiden guttun. Aber ich werde nicht zurückkehren, denn ich habe den Honig satt! Vielleicht wirst Du meine List irgendwann durchschauen … Demnach hatte er das Gläschen mit dem Honig in meine Tasche gesteckt, bevor wir an jenem Morgen das Haus verließen. Tränen traten mir in die Augen, als ich die letzte Zeile seiner Botschaft las: So wie Du mir den Blick auf die Freiheit ermöglicht hast, offenbare ich Dir den Blick auf meinen Tod. Ruisling, 17. März 1793. So also entdeckte ich mein wahres Erbe. Hätte es schöner sein können? Trotz seiner Härte und seines Wunsches, mir ein Verbrechen anzulasten, das ich nie begangen hatte, gab mein unerbittlicher Vater mir den sieben Jahre zuvor verlorenen Seelenfrieden zurück. Am folgenden Morgen, bei einem Spaziergang an dem ersten sonnigen Tag seit Wochen, der den kleinen Im-
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manuel zu ersten unsicheren Gehversuchen veranlasste, beantwortete ich endlich alle Fragen Helenas: Ich erzählte ihr ganz offen vom Tod Stefans und davon, dass mein Vater mir die Schuld dafür gegeben hatte. Sie lauschte mir schweigend, ohne den Blick von mir zu wenden, wie einst mein Bruder, als ich ihm meine Erlebnisse in Paris schilderte, und wie einst Kant, als ich ihm meine Angst vor den Dämonen gestand, die von meinem Geist Besitz ergriffen hatten. Ich beschrieb ihr den grüblerischen jungen Mann, der ich gewesen war, bevor wir uns kennengelernt hatten. Da legte sie sanft ihre Hand auf die meine, hob den Finger an die Lippen und lenkte meine Aufmerksamkeit durch eine Kopfbewegung auf unseren kleinen Sohn. Immanuel hatte sich ihrem Griff entwunden und marschierte mit ernstem Gesicht, aber recht sicher auf seinen zwei pummeligen Beinchen vor uns her. »Ein mutiges kleines Bürschchen, Hanno. Vielleicht ein bisschen eigensinnig. Genau wie sein Vater«, sagte Helena. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir nach Ruisling fahren, meinst du nicht auch?« Am Abend hörte ich, wie sich Lotte und Helena in der Küche unterhielten. »Ich habe Ihren Mann noch nie so sorglos erlebt wie heute«, bemerkte Lotte. »Er wirkt, als hätte er sich von einer langen, schweren Krankheit erholt.« »Genau das hat er, Lotte«, antwortete Helena in jenem fröhlichen Tonfall, den sie normalerweise den Kindern vorbehielt. Zwei Tage später pilgerten wir zum Familiengrab in Ruisling, wo ich mich bei Stefan bedankte und für das Seelenheil meines Vaters und meiner Mutter betete.
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An einem hellen, sonnigen Maimorgen, der die schlummernden Felder erglänzen ließ – die Woche zuvor hatte uns allein Nebel und Nachtfrost beschert –, betrat Lotte Havaars die Küche mit theatralisch-geheimnisvollem Gesichtsausdruck. Sie streckte den Kindern die geschlossenen Fäuste entgegen und öffnete sie unvermittelt. Zwei leuchtend orangefarbene Marienkäfer kamen zum Vorschein. »Es wimmelt nur so davon«, verkündete sie mit einem freudigen Lachen. »Das heißt, dass der Sommer gut wird. Marienkäfer so früh im Jahr! Es wird eine üppige Ernte geben. Und Napoleon wird eine starke Nation wie die unsere nicht in die Knie zwingen.« Helena und ich, die wir uns an ihre düsteren Prophezeiungen vom Vorjahr erinnerten und daran, was sich tatsächlich ereignet hatte, lächelten matt. Wir waren nur allzu gern bereit zu glauben, was Lotte sagte. Und sie behielt recht. Der Sommer des Jahres 1805 zeichnete sich durch Überfülle aus. Frieden herrschte in Ostpreußen, und wie Königsberg und alle anderen Städte und Dörfer im Königreich kehrte Lotingen zu seiner einstigen Geschäftigkeit zurück. Napoleon Bonaparte lenkte seine Truppen nach Süden, um bei Austerlitz gegen die vereinten Kräfte Österreichs und Russlands zu kämpfen. Offenbar hatte der französische Kaiser uns den Rücken zugekehrt. Doch wie lange würde der Frieden halten? Napoleon war 1803 in Hannover einmarschiert und hatte die Stadt besetzt. Und jeder wusste, dass er das Gleiche wieder tun könnte, wann immer er wollte. Das hatte nicht nur Margreta Lungrenek, die persönliche Wahrsagerin General Katowices, in den blutigen Einge-
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weiden der Krähe auf ihrem Tisch gesehen. Die Geschichte sollte auch ihr recht geben. In Napoleon Bonaparte reifte der preußische Gedanke, und vielleicht schon im nächsten Jahr würde er auf den Flügeln eines unschuldigen Marienkäfers von einem Kornfeld vor Jena herübergetragen werden …
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Danksagung Viele interessante Bücher haben die Entstehung dieses Romans beeinflusst, doch eine der eindringlichsten Schilderungen des preußischen Lebens und Denkens im frühen neunzehnten Jahrhundert ist wohl Tales from the German Underworld von Richard J. Evans (New Haven/London: Yale University Press, 1998). Manfred Kühn macht in seinem Werk Kant. Eine Biographie (München: dtv, 2007) Schluss mit sehr vielen Mythen um Leben und Ideen von Immanuel Kant und eröffnet völlig neue Aspekte. Beide Bücher seien dem Leser an dieser Stelle ans Herz gelegt. Außerdem wollen wir unserer Agentin Leslie Gardner für ihre kritischen Anregungen und unermüdliche Ermutigung sowie allen bei Faber and Faber, besonders unserem Lektor Walter Donohue, danken.
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