Inga Fuchs-Goldschmidt Konsens als normatives Prinzip der Demokratie
Inga Fuchs-Goldschmidt
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Inga Fuchs-Goldschmidt Konsens als normatives Prinzip der Demokratie
Inga Fuchs-Goldschmidt
Konsens als normatives Prinzip der Demokratie Zur Kritik der deliberativen Theorie der Demokratie
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl. Dissertation an der Universität Freiburg
. 1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Katrin Emmerich / Marianne Schultheis VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16075-7
Inhalt
Einleitung ................................................................................................... 13
A
Das liberale Theorem der Selbstorganisation in Rousseaus Gesellschaftsvertrag
1
Zur erkenntnistheoretischen Ausgangslage des Rousseau’schen Gesellschaftsvertrags ........................................................................... 1.1 Das kontraktualistische Theorem ................................................ 1.2 Der Umbruch im Verständnis der sozialen Ordnung zu Beginn der Neuzeit ................................................................ 1.3 Zur Epistemologie des Gesellschaftsvertrags ..............................
23 23 24 27
2
Rousseaus Theorie des Gesellschaftsvertrags ..................................... 2.1 Die freie Natur des Menschen .................................................... 2.2 Der gesellschaftliche Pakt ........................................................... 2.3 Der absolute Souverän ................................................................ 2.4 Die „Volonté générale“ .............................................................. 2.5 Die Allgemeingültigkeit des Gesetzes ........................................ 2.6 Die Figur des Législateur ...........................................................
29 29 31 33 36 39 41
3
Das Problem des Normativen im Verständnis von Rousseaus Gesellschaftsvertrag ........................................................................... 44
B
Konsens als Telos der Sprache. Das Problem der sprechakttheoretischen Begründung kommunikativen Handelns
1
Das Telos der Sprache ........................................................................ 49
2
Handeln, Kommunikation und Reflexion ............................................ 51
6
Inhalt
3
Habermas’ These von der Verständigungsorientierung als Originalmodus der Sprache ................................................................ 54
4
Das sprechakttheoretische Verständnis von Illokution und Perlokution ......................................................................................... 55
5
Habermas’ sprechakttheoretische Begründung des kommunikativen Handelns ............................................................................................ 57 5.1 Das Kriterium der Zustimmungsfähigkeit ................................... 57 5.2 Zum Verfahren der Argumentation / Die Diskursrationalität ...... 61
6
Eine Revision: Habermas’ Ausdifferenzierung des Konsens-Begriffs ................................................................................ 62
7
Exkurs: Der schwache Konsens konstativer und expressiver Sprechhandlungen .............................................................................. 64
8
Handlungskoordinierung, illokutionäre Bindungswirkung (Konsens) und strategisches Handeln .................................................................. 8.1 Die kategoriale Differenz: Aufforderungen in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ ................................................. 8.2 Revision des Verständnisses von Aufforderungen? .................... 8.3 Der illokutionäre Bindungseffekt (Konsens) und Perlokutionen .............................................................................
67 68 73 74
9
Zur Kritik: Das Handlungsmoment der Sprache ................................. 9.1 Die Gestaltungseffekte der Illokution ......................................... 9.2 (Normative) Aufforderungen und Imperative ............................. 9.3 Normen und kommunikatives Handeln .......................................
78 79 81 83
C
Die Gesellschaftskonzeption der Theorie kommunikativen Handelns
1
Kommunikatives Handeln und Gesellschaft ....................................... 87
2
Der kommunikative Begriff der Lebenswelt ....................................... 88 2.1 Die sprachliche Transzendentalität der Lebenswelt .................... 89 2.2 Die Reproduktion der Lebenswelt .............................................. 93
7
Inhalt
3
Entkoppelung von System und Lebenswelt? ....................................... 95 3.1 Die (prozessuale) Rationalisierung der Lebenswelt .................... 96 3.2 Der Einfluss systemischer Handlungszusammenhänge ............... 98
4
Das Problem der zweistufigen Gesellschaftskonzeption ..................... 99 4.1 Habermas’ Rekonstruktion des gesellschaftlichen Strukturwandels ....................................................................... 101 4.2 Das Primat der Lebenswelt ....................................................... 104 4.3 Die These von der Kolonialisierung der Lebenswelt ................. 108
D
Das philosophische und das soziologische Gesellschaftsverständnis
1
Die Theorie kommunikativen Handelns als Grundlage eines philosophischen Verständnisses der Gesellschaft .............................. 111
2
Die Diskursethik und das Problem der Transzendentalität ................ 114
3
Die sprachpragmatische Transformation der Philosophie ................. 3.1 Zur Neutralitätsthese der (analytischen) Philosophie ................ 3.2 Die Pragmatik der sprachpragmatischen Begründung ............... 3.3 Das (diskursethische) Argument des performativen Widerspruchs ........................................................................... 3.4 Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft ........................ 3.5 Die reale und die ideale Kommunikationsgemeinschaft ............
117 117 119 122 125 130
4
Das Problem des Normativen ........................................................... 133 4.1 Der postmetaphysische Begründungsversuch im hermeneutischen Zirkel ............................................................ 133 4.2 Der strukturell „unbestimmte“ Status des Normativen in der Diskursethik ............................................................................. 137
E
Das konstruktive Normativitätsverständnis als Grundlage eines soziologischen Gesellschaftsverständnisses
1
Das erkenntnistheoretische Problem in einem modernen Verständnis der Normativität ............................................................ 141
8
Inhalt
2
Leben in sozialen Bezügen ............................................................... 144
3
Die Entwicklung von Formen der Erwartung .................................... 3.1 Die ethologische Form der Erwartung ...................................... 3.2 Die antizipatorische Form der Erwartung ................................. 3.3 Die Steigerung der Erwartung zum Sollen ................................
4
Die Grundverfassung des Sollens als Ergebnis der Anforderung einer sozialen Daseinsweise .............................................................. 148
5
Die Ausbildung der Norm ................................................................. 5.1 Vom Sollen zur Norm .............................................................. 5.2 Die Geltung der Norm: Zum Verhältnis von Sein und Sollen ... 5.3 Die Idealität des Sollens ...........................................................
6
Das Postulat des Sollens in der modernen Marktgesellschaft ............ 154
7
Die Pflicht als Pendant des Sollens ................................................... 156 7.1 Die Pflicht als Form sozialer Vernunft ..................................... 157 7.2 Zur Behauptung der Pflicht im Widerstreit der Interessen ........ 158
F
Das liberale Theorem der Selbstorganisation (Konsens) im deliberativen Politikkonzept
1
Ein zweigleisig deliberatives Politikkonzept ..................................... 163
2
Die ideale Prozedur politischer Beratung und Beschlussfassung ....... 165
3
Das (transzendentallogische) Problem mit der Mehrheitsregel .......... 168
4
Das System der Politik im deliberativen Politikkonzept ................... 170 4.1 Das Drei-Stufen-Modell der Politik .......................................... 173 4.2 Zur Prozeduralität des demokratischen Verfahrens ................... 175
5
Das Intermediäre der Zivilgesellschaft ............................................. 177
6
Der deliberative Begriff der Öffentlichkeit ....................................... 179 6.1 Die kommunikative Struktur der Öffentlichkeit ........................ 180 6.2 Die Diskursivität der öffentlichen Meinungsbildung ................ 182
145 145 146 147
149 149 151 153
9
Inhalt
7
Die Diskursivität der öffentlichen Meinungsbildung und die Medien ............................................................................................. 183
8
Autochthone versus nutznießende Akteure der Öffentlichkeit? ......... 185
G
Die Irrealität des Konzeptes deliberativer Politik
1
Die transzendentallogische Konzeption der deliberativen Politik ...... 189
2
Die Prozeduralität der Politik ........................................................... 2.1 Zivilgesellschaftliche Kommunikation zur Bestimmung der Politikgehalte? .......................................................................... 2.2 Politische Meinungs- und Willensbildung in der Öffentlichkeit? ......................................................................... 2.3 Soziale Bewegungen ................................................................ 2.4 Zum formalisierten Verfahren der parlamentarischen Gesetzgebung ........................................................................... 2.5 Das normativistische Problem im deliberativen Verständnis der Politik .................................................................................
190 191 193 197 199 202
3
System und Lebenswelt in der Politik ............................................... 3.1 Das Problem im Verständnis der Gesellschaft .......................... 3.2 Das ökonomische System ......................................................... 3.3 Das System der Politik .............................................................
204 204 206 207
4
Das System des Rechts ..................................................................... 211
Literaturverzeichnis .................................................................................. 215
Die vorliegende Arbeit wurde im Mai 2007 von der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg als Dissertation angenommen. Bedanken möchte ich mich bei den Menschen, ohne die diese Arbeit nicht zustande gekommen wäre: An erster Stelle gilt mein Dank meinem akademischen Lehrer Professor Dr. Günter Dux. Seine Lehren bilden die Grundlage dieser Arbeit. Möglichkeiten wissenschaftlicher Betätigung und den Raum für inhaltliche Diskussionen hat mir das Walter Eucken Institut geboten. Seinem Direktor Professor Dr. Viktor Vanberg und allen Mitarbeitern des Instituts gilt hierfür mein aufrichtiger Dank. Zu existentiellem Dank bin ich meinem Mann Nils Goldschmidt verpflichtet. Er hat mich während der langen Entstehungsphase der Arbeit immer wieder motiviert und durch seine eigene Arbeit für unsere gemeinsame Lebensgrundlage gesorgt. Schließlich möchte ich mich bei meinen Eltern bedanken, die mich auf den Weg gebracht haben und dabei nie den Glauben an mich verloren haben.
Neubiberg, im Juli 2008
I. F.-G.
Einleitung
In der politischen Theorie der Moderne ist das Verständnis politischer Ordnung umstritten. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen zum einen die Frage nach der Funktion des Staates, d. h. das Problem der „Unregierbarkeit“ moderner Gesellschaften, und zum anderen die Frage nach den soziomoralischen Grundlagen der politischen Ordnung.1 Beide Fragen stellen sich vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Einsicht in die Konvergenz und Konstruktivität der menschlichen Lebensform sowie des Bewusstseins der Historizität. Infolge dieser Einsichten wird erstmals in der Antike und radikal zu Beginn der Neuzeit die soziale Ordnung als verfügbar verstanden und infolgedessen im Interesse ihrer Mitglieder auf ihr So-und-nicht-anders-Sein befragt. Die demokratietheoretische Frage nach den Bedingungen der Gestaltbarkeit der sozialen Ordnung ist mit den Vertragstheorien der frühen Neuzeit für die politische Theorie der Moderne bestimmend geworden. Seither geht es in der politischen Theorie um eine Auseinandersetzung mit dem im weiten Sinne liberalen Theorem der Selbstorganisation. Als gerecht gilt diesem zufolge eine gesellschaftliche Ordnung, in der die Freiheit und Gleichheit eines jeden ihrer Mitglieder verwirklicht ist. Zu bestimmen, wie und in welchem Maße diese beiden Prinzipien verwirklicht sind oder stärker verwirklicht werden müssten, stellt dementsprechend das normative Problem im Verständnis der Demokratie dar.2 Vor dem Hintergrund dieser Annahme lassen sich die Demokratietheorien der Moderne auf einer Skala der Selbstbestimmung anordnen, die zwischen einem hohen Grad an individueller Freiheit – der liberalen Konzeption – und einem hohen Grad an Gleichheit – der republikanischen Konzeption –
1
2
Vgl. z. B. A. Nassehi (2002), Politik des Staates oder Politik der Gesellschaft?, in: K.-U. Hellmann & R. Schmalz-Bruns (Hg.), Theorie der Politik. Niklas Luhmanns politische Soziologie, Frankfurt a. M., S. 38-59; H. Münkler (1992), Politische Tugend. Bedarf die Demokratie einer sozio-moralischen Grundlegung?, in: H. Münkler (Hg.), Die Chancen der Freiheit. Grundprobleme der Demokratie, München, S. 25-46 und E. Forndran (2002), Demokratie und demokratischer Staat in der Krise?, Baden-Baden. Vgl. H. Abromeit (2002), Wozu braucht man Demokratie?, Opladen, S. 10; T. Assheuer (2003), Schattenboxen im leeren Raum, in: Die Zeit, Nr. 23, 28. Mai 2003, S. 40-41.
14
Einleitung
verläuft.3 In der klassischen Lehre treffen so als die grundlegenden Konzeptionen die (repräsentativ) liberaldemokratische und die (republikanisch) radikaldemokratische Konzeption aufeinander. Um das im weiten Sinne liberale Theorem der Selbstorganisation geht es aber auch in der neoklassischen Lehre, die sich in Abkehr von der klassischen Lehre in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat.4 Eine bedeutende Ausarbeitung einer Demokratietheorie im Sinne der liberalen Selbstorganisation stellt die deliberative Theorie der Demokratie von Jürgen Habermas dar. Sie zeichnet sich durch drei starke Annahmen aus: 1. Die deliberative Theorie der Demokratie von Jürgen Habermas ist ein Gesellschaftskonzept, dem die Annahme zugrunde liegt, die Lebenswelt werde durch ein normatives Konsensprinzip gebildet, das zur Grundlage auch der Verfassung der Gesellschaft werde. 2. Als grundlegend für die deliberative Theorie der Demokratie nimmt Habermas an, dass sich das Konsensprinzip des kommunikativen Handelns aus der Lebenswelt in den Meinungs- und Willensbildungsprozess der Politik übertragen lasse. 3. Schließlich beruht auch die deliberative Theorie der Demokratie auf der allgemeinen demokratietheoretischen Annahme, dass in der Demokratie der Moderne das liberale Theorem der Selbstorganisation des Volkes wie des Einzelnen aufgehoben sei. Zu 1.: Der Theorie kommunikativen Handelns zufolge stellt die Lebenswelt den Hintergrundkonsens dar, der die soziale Integration kommunikativ handelnder Subjekte ermöglicht. Dabei bildet sich der Hintergrundkonsens der Lebenswelt über die Rationalität des Mediums Sprache. Der Sprache, so Habermas, ist das Telos der Verständigung eingeschrieben.5 Gleichzeitig geht Habermas allerdings davon aus, dass im (historischen) Prozess der Rationalisierung die Konvergenz lebensweltlicher Hintergrundüberzeugungen schrumpft, während Prozesse der gesellschaftlichen Differenzierung individuell erfolgsorientiertes Handeln freisetzen und erforderlich machen. Deshalb wird die in den differenzierten Gesellschaften der Moderne notwendig kom3 4
5
Vgl. J. Nida-Rümelin (1999), Demokratie als Kooperation, Frankfurt a. M., S. 20. Zur allgemeinen Übersicht vgl. etwa M. G. Schmidt (2000), Demokratietheorien, Opladen. In ihr wird das Theorem liberaler Selbstorganisation in der Form des „demokratischen Pluralismus“ oder des „demokratischen Elitismus“ verhandelt. Vgl. D. Zolo (1992/1998), Die demokratische Fürstenherrschaft, Göttingen, S. 90f. Für die neueren Entwicklungen in der Demokratietheorie vgl. auch A. Zimmer (1995), Demokratietheorie. Vom Pluralismus zur Identitätsfindung, in: Gegenwartskunde 4, S. 537-567. Vgl. J. Habermas (1981/1995), Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, Frankfurt a. M., Bd. I, S. 387; im Folgenden TdkH.
Einleitung
15
plexe soziale Integration durch die Rechtsgültigkeit des Systems der Rechte gewährleistet. Habermas zufolge ist im System der Rechte die Komplexität ausdifferenzierter Gesellschaften aufgehoben, indem es erfolgs- und verständigungsorientiertes Handeln in sich vereinigt. Die einzelne Rechtsnorm stelle aus der Sicht des strategisch Handelnden eine soziale Tatsache dar mit kalkulierbaren Folgen für den Fall einer Regelverletzung. Bei einer durchschnittlichen Normbefolgung garantiere die Norm die Legalität von Verhalten, das erforderlichenfalls auch durch Sanktionen erzwungen werden könne. Als Bestandteil einer im Ganzen legitimen Rechtsordnung treten laut Habermas diese Normen mit einem normativen Geltungsanspruch auf, „der auf eine rational motivierte Anerkennung angelegt ist“.6 Während Habermas so im Zusammenhang mit dem normativen Geltungsanspruch einer einzelnen Rechtsnorm zunächst auf den Geltungsmodus der gesamten Rechtsordnung verweist, führt er dem modernen Rechtsverständnis entsprechend auch diese Rechtsordnung auf positiv gesatztes Recht zurück. Im Sinne der grundlegenden demokratietheoretischen Annahme von der liberalen Selbstorganisation sieht er dessen legitime Geltung darin begründet, dass in der Positivität des Rechts ein „legitimer Wille“ Ausdruck erlangt, der sich der „präsumptiv vernünftigen Selbstgesetzgebung politisch autonomer Staatsbürger“7 verdankt. Mit dieser Annahme wird das normative Konsensprinzip der Lebenswelt zur Grundlage auch der Verfassung der Gesellschaft. Dem Recht kommt dabei als konkrete Ausgestaltung der Verfassung eine gesamtgesellschaftliche Integrationsfunktion zu. Zu 2.: Unter der Annahme, dass sich das Konsensprinzip des kommunikativen Handelns aus der Lebenswelt in den Meinungs- und Willensbildungsprozess der Politik übertragen lasse, beschreibt Habermas eine „ideale Prozedur politischer Beratung und Beschlussfassung“.8 Mit dem diskurstheoretischen Verständnis der Politik vermutet Habermas, dass „unter Bedingungen eines problembezogenen Informationsflusses und sachgerechter Informationsverarbeitung vernünftige bzw. faire Ergebnisse erzielt werden“9. Er versteht die demokratische Meinungs- und Willensbildung als ein prozeduralisiertes Verfahren der Volkssouveränität.10 Ihre Institutionalisierung werde durch die Prinzipien des Rechtsstaates ermöglicht. Allerdings hängt laut Habermas die 6 7 8 9 10
Vgl. J. Habermas (1992/1994), Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt a. M., S. 49; im Folgenden FuG. Habermas, FuG, S. 51. Vgl. ebd., S. 359. Ebd., S. 359f. Vgl. J. Habermas (1988), Volkssouveränität als Verfahren, wieder abgedruckt in: ders., FuG, S. 600-631, S. 626.
16
Einleitung
deliberative Politik nicht nur von der staatlichen Institutionalisierung dieser Prozesse ab, sondern wesentlich auch von dem Zusammenspiel der institutionalisierten Beratungen und Beschlussfassungen mit einer informell gebildeten öffentlichen Meinung.11 Wie bereits bei der Konzeption der Rechtsstaatlichkeit so geht Habermas auch im Zusammenhang mit dem deliberativen Politikkonzept davon aus, dass es der Vorstellung einer über die Ausdifferenzierung der Subsysteme dezentrierten Gesellschaft entspricht. Das politische System sei dabei ein auf kollektiv bindende Entscheidungen spezialisiertes Handlungssystem, das an die Netzwerke der Öffentlichkeit rückgebunden bleibe. Damit werde die Ausübung politischer Macht über die demokratische Willensbildung programmiert, ohne dass die Gesellschaft als eine im Ganzen politisch konstituierte gelten könne.12 Zu 3.: Habermas referiert sowohl bei der Auseinandersetzung mit der rechtsstaatlichen Verfassung der Gesellschaft als auch bei der Bestimmung seines deliberativen Politikverständnisses auf die Selbstorganisation der Bürger. Dabei interpretiert er das liberale Theorem kommunikationstheoretisch, sodass sich ihm das demokratische Verfahren als eine intersubjektivische Interpretation der Volkssouveränität darstellt: „Das ‚Selbst‘ der sich selbst organisierenden Rechtsgemeinschaft verschwindet in den subjektlosen Kommunikationsformen.“13 Im Zusammenhang mit dem Prozess der Gesetzgebung, den Habermas als Ort sozialer Integration darstellt, führt er aus, Ausgangspunkt dieses Prozesses müsse sein, dass private Rechtssubjekte eine Staatsbürgerrolle übernehmen. Mit ihrer Staatsbürgerrolle, so Habermas, übernehmen Rechtspersonen die „Perspektive von Mitgliedern einer frei assoziierten Rechtsgemeinschaft“.14 In dieser sei ein Einverständnis über die normativen Grundsätze der Regelung des Zusammenlebens entweder schon über Tradition gesichert oder dieses Einverständnis könne über „eine Verständigung nach normativ anerkannten Regeln herbeigeführt werden“.15 Das Anliegen der folgenden Untersuchung ist es, diese drei Annahmen auf ihre Begründbarkeit hin zu überprüfen. Dabei muss in einem neuzeitlichen Verständnis der Demokratie als das Kernproblem gelten, zu bestimmen, welchen normativen Anforderungen sich die Demokratie ausgesetzt sieht. Grund11 12 13 14 15
Vgl. Habermas, FuG, S. 372ff. Vgl. ebd., S. 364 und 367. J. Habermas (1992), Drei normative Modelle der Demokratie, wieder abgedruckt in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1996, S. 277-292, S. 291. Vgl. Habermas, FuG, S. 50. Vgl. ebd.
Einleitung
17
legend ist dafür, zu klären, inwieweit die deliberative Theorie der Demokratie tatsächlich die realen Strukturen der modernen Gesellschaft erfasst. Die leitende Frage der hier vorgenommenen Untersuchung ist, ob die Normativität des kommunikativen Handelns, wie Jürgen Habermas sie versteht, wirklich in die Strukturen der modernen Gesellschaft eingebunden ist. Sollte dies nicht der Fall sein, sollte sich vielmehr herausstellen, dass in die deliberative Theorie der Demokratie nicht eingeht, wodurch die Strukturen der systemisch verfassten Gesellschaft der Moderne tatsächlich bestimmt sind, würde dies bedeuten, dass die deliberative Theorie der Demokratie in ihrer normativen Annahme zu kurz greift – der Annahme, dass das normative Konsensprinzip die Grundlage der Verfassung der Gesellschaft bilde. Die deliberative Theorie der Demokratie würde dann das eigentliche normative Problem der Demokratie gar nicht in den Blick bekommen. Wie sich zeigen wird, liegt dieses darin, dass die normativ begründete Gestaltungshoheit der Politik durch die systemischen Anforderungen einer systemisierten Gesellschaft begrenzt wird. Mit einer Fokussierung auf die systemischen Anforderungen, die sich vor allem über die Anforderungen des ökonomischen Systems sowie über die Anforderungen des Systems der Politik selbst bestimmen, muss dann insbesondere die grundlegende demokratietheoretische Annahme, in der Demokratie der Moderne sei das liberale Theorem der Selbstorganisation des Volkes wie des Einzelnen aufgehoben, infrage gestellt werden. Um der demokratietheoretischen Frage nach den Bedingungen der Gestaltbarkeit der modernen Gesellschaft nachzugehen, wird in Kapitel A zunächst das liberale Theorem der Selbstorganisation eingeführt, das seit den frühneuzeitlichen Vertragstheorien für das normative Verständnis der Demokratie bestimmend ist. Dabei wird vor allem untersucht, inwieweit Rousseaus Theorie des Gesellschaftsvertrags vor dem Hintergrund seiner Zeit verstanden werden muss, und was sie uns heute noch zu sagen hat. In der frühen Neuzeit wurden die Gesellschaftsmitglieder durch die Entwicklung der Marktwirtschaft aus den traditionalen Fesseln der Ständegesellschaft befreit. Vor diesem Hintergrund stellt sich Rousseau die für die Moderne grundlegende Frage nach einer politischen Ordnung, in der jede Form von klassischer, feudaler Herrschaft überwunden ist. Er verweist dazu auf das prozeduralisierte Verfahren der Volkssouveränität. In diesem zeigt sich aber in aller Deutlichkeit das grundlegende normative Problem moderner Demokratietheorien: die Notwendigkeit, den realen Geltungsanspruch eines über die Postulate von Gleichheit und Freiheit bestimmten demokratischen Verfahrens ausweisen zu müssen.
18
Einleitung
Da Habermas’ Theorie kommunikativen Handelns das normative Problem des liberalen Theorems der Selbstorganisation über die Sprache zu lösen versucht, wird in Kapitel B ihrer grundlegenden Annahme nachgegangen, dass das Verfahren diskursiver Verständigung als Telos in der Sprache angelegt sei. Dabei zeigt die Auseinandersetzung mit Habermas’ Versuch, diese Annahme sprechakttheoretisch zu begründen, dass sie sprachpragmatisch nicht haltbar ist. Habermas’ sprachphilosophische Annahme, im Sprachgebrauch ginge es lediglich um die diskursive Klärung von Bedeutungen, ist mit der sprechakttheoretischen Einsicht, dass mit performativen Äußerungen reale Handlungen vollzogen werden, nicht vereinbar. Mit der Annahme von der vorbehaltlosen Verständigung als Originalmodus der Sprache geht Habermas auch davon aus, dass es die vorbehaltlose Zustimmungsfähigkeit zu Geltungsansprüchen sei, die eine Handlungskoordinierung über Normen begründe. Damit und mit der in diesem Kapitel vorgebrachten sprachpragmatischen Kritik dieser Annahme zeichnet sich ein prozessuales Normverständnis ab, das sich grundlegend von dem idealistischen Normverständnis unterscheidet, das Habermas in der Tradition der klassischen Philosophie anführt. Kapitel C behandelt den Gesellschaftsbegriff, den Habermas in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ ausarbeitet, und die Frage, welche normative Problematik sich aus Habermas’ philosophischem Verständnis der Sprache ergibt. Habermas’ Ausführungen zum Gesellschaftsbegriff in der „Theorie kommunikativen Handelns“ klären nicht das Problem, die funktionale Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Subsysteme widerspruchsfrei mit der normativen Annahme vereinbaren zu können, so dass auch in der ausdifferenzierten Gesellschaftsform die über die Normativität des kommunikativen Handelns bestimmte Lebenswelt für den Bestand der Gesellschaft im Ganzen bestimmend sein kann. Inhalt von Kapitel D ist die Diskursethik, wie sie Habermas in weitgehender Übereinstimmung mit Karl-Otto Apel entwickelt hat, und die Frage, wie sie begründet, dass die diskursive Form der Verständigung eine allgemeine Grundnorm darstellt. In Abgrenzung zu Kants metaphysischem Begründungsversuch einer a priori geltenden Norm führen Apel und Habermas die Geltung der moralischen Grundnorm, sich auf Diskurse einlassen zu müssen, auf eine transzendental-pragmatische Begründung im hermeneutischen Zirkel zurück. Als problematisch erweist sich dabei, dass auch Apel und Habermas nicht zu erklären wissen, wie man überhaupt dazu kommt, sich zu etwas verpflichten zu lassen. Es ist mithin das Faktum der Normativität selbst, das auch im hermeneutischen Zirkel von normativer und faktischer Geltung immer schon
Einleitung
19
gegeben ist und damit selbst unbegründet bleibt. Bezogen auf das moderne Gesellschaftsverständnis bedeutet dies, dass auch die transzendental-pragmatische Begründung der Diskursethik, die in den Strukturen der modernen Gesellschaft auftretenden Grenzen der Geltung einer diskursiven (Grund-) Norm nicht in den Blick bekommt. In Kapitel E wird dargestellt, wie sich in Abgrenzung zu Habermas das Faktum der Normativität prozessual begründen lässt. Die prozessuale Rekonstruktion begründet ein anderes Normativitätsverständnis als das transzendentallogische. Bei einer solchen Rekonstruktion zeigt sich, dass die Geltung des idealen Sollens in der modernen über den Markt bestimmten Gesellschaft über Probleme begründet ist, die realiter in den Strukturen der Marktgesellschaft angelegt sind. In ihr sind die Gesellschaftsmitglieder darauf angewiesen, die Mittel zur Sicherung ihres Daseins auf dem Markt zu erwerben. Die Möglichkeit dazu wird aber nicht schon von der über den Markt bestimmten Gesellschaft gewährleistet. Das politische System sieht sich vielmehr strukturlogisch der Anforderung ausgesetzt, gedeihlichere Verhältnisse für die Subjekte zu schaffen, als aus den Bedingungen der Marktgesellschaft heraus entstehen. Als das normative Problem der modernen Gesellschaft erweist sich dabei, dass sich die Anforderungen des politischen Systems nicht nur darüber bestimmen, individuelle Sicherungsleistungen für die einzelnen Gesellschaftsmitglieder zu organisieren. Das politische System ist seit dem Beginn der Moderne vor allem darauf festgelegt, die Bestandsvoraussetzung des Gesamtsystems der Gesellschaft und seiner Teilsysteme sicherzustellen, insbesondere die des ökonomischen Systems. Als ausdifferenzierte Subsysteme widersetzen sich die Systeme einer systemisierten Gesellschaft aber den Einwirkungen anderer Systeme; so auch denen des politischen Systems. In Kapitel F wird herausgearbeitet, dass sich der Verdacht, das deliberative Politikkonzept bekomme diese Problematik im normativen Verständnis der Demokratie gar nicht in den Blick, bestätigt. Während die demokratietheoretische Problematik darin besteht, dass sich das politische System den Steuerungsimperativen der sozialen Vernunft ausgesetzt sieht, ohne ihnen aufgrund der Ausdifferenzierung der Subsysteme folgen zu können, geht Habermas davon aus, dass sich das Konsensprinzip des kommunikativen Handelns aus der Lebenswelt auf die moderne politische Meinungs- und Willensbildung übertragen lasse und sich damit auch in der modernen Gesellschaft als der gesamtgesellschaftliche Integrationsmodus behaupte. Damit bleibt auch im deliberativen Politikkonzept als die entscheidende normative Annahme bestehen, dass sich der Bestand der komplexen Gesellschaftsform der Moderne
20
Einleitung
über die Normativität des kommunikativen Handelns bestimmt. Wie bereits in Habermas’ Gesellschaftskonzept zeigen sich dabei auch in seinem Versuch, mittels des „Zweigleisigen“ im Konzept deliberativer Politik der systemischen Ausdifferenzierung der Gesellschaft gerecht zu werden, konzeptionelle Widersprüchlichkeiten. Diese sind darauf zurückzuführen, dass sich die transzendentallogische Geltung des Konsensprinzips nicht mit der systemischen Prozeduralität der Gesellschaft vereinbaren lässt. In Kapitel G wird abschließend noch einmal die Problematik der Annahme in den Blick genommen, dass die Normativität des kommunikativen Handelns auch für den Bestand der modernen Marktgesellschaft bestimmend sei. Dabei wird zunächst Habermas’ demokratietheoretische Annahme, die Politikgehalte seien kommunikativ bestimmt, als unhaltbar ausgewiesen. Die Bestimmung der Politikgehalte kann weder auf zivilgesellschaftliche Diskurse zurückgeführt werden, noch kann sie in der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung oder in den formalisierten Verfahren der parlamentarischen Gesetzgebung als kommunikativ begründet gelten. Die Aufgabe der Politik ist es, die Bestandsvoraussetzungen des Gesamtsystems der Gesellschaft zu organisieren. Das bedeutet, dass ihre Prozeduralität durch systemische Vorgaben bestimmt wird, die sich im Wesentlichen aus der Prozeduralität des ökonomischen Systems ergeben sowie aus der über Macht bestimmten Prozeduralität des politischen Systems selbst. In einem neuzeitlich prozessualen Verständnis der Normativität muss so aber vor allem der normative Anspruch des deliberativen Politikkonzepts als unbegründet gelten. Die entscheidende Einsicht der hier vorgenommenen Untersuchung ist, dass das ideale Sollen der deliberativen Theorie der Demokratie – die normative Anforderung, nicht nur gemeinschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Konflikte in einem diskursiven Verfahren klären zu müssen – tatsächlich nicht in den Strukturen der modernen Gesellschaft wiederzufinden ist. Anders als Habermas meint, kann damit die von der deliberativen Theorie der Demokratie vorgestellte normative Anforderung auch nicht als kontrafaktisch geltend angenommen werden. Denn in Abgrenzung zu einem a priori vorgegebenen Geltungsanspruch, wie ihn die Diskursethik im Telos der Sprache ausmacht, kann es in einem neuzeitlichen Verständnis der Normativität nur darum gehen, eine prozessuale Rekonstruktion des idealen Sollens vorzunehmen, die aus den realen Anforderungen des Zusammenlebens heraus erfolgt. Nur einem solchen aus den realen Anforderungen heraus bestimmten idealen Sollen kann auch ein realer Geltungsgrund zugeschrieben werden.
Einleitung
21
Die hier aufgestellte These, dass die deliberative Theorie der Demokratie die Strukturen der modernen Gesellschaft nicht erreicht, bestätigt sich schließlich an einer Bestimmung dessen, wie die systemische Verfassung der Systeme, die für die moderne Gesellschaft strukturbildend sind, zu verstehen ist. Zu verdeutlichen gilt es dabei, dass es die spezifische Eigenlogik der jeweiligen Systeme ist, die die Systeme überhaupt erst zu Systemen macht. Sowohl das ökonomische System als auch das System der Politik, die in ihrer Prozeduralität einmal auf die Maximierung von Gewinn und einmal auf den Gewinn und Erhalt von Macht festgelegt sind, sind deshalb für die Normativität des kommunikativen Handelns unzugänglich. Dies gilt ebenfalls für das System des Rechts. Anders als in der deliberativen Theorie der Demokratie angenommen, ist auch dieses an die systemische Verfassung der Marktgesellschaft und an die über Macht bestimmte Prozeduralität der Politik gebunden, in der sich das Recht bestimmt.
A Das liberale Theorem der Selbstorganisation in Rousseaus Gesellschaftsvertrag
1
Zur erkenntnistheoretischen Ausgangslage des Rousseau’schen Gesellschaftsvertrags
1.1 Das kontraktualistische Theorem Die Essenz von Rousseaus Theorie des Gesellschaftsvertrags ist die Forderung, dass jedes Gesellschaftsmitglied die Möglichkeit haben muss, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Wie Hobbes und Locke so reflektiert auch Rousseau mit dieser grundlegenden Annahme seines Gesellschaftsvertrags auf die veränderten historischen Bedingungen eines aus den traditionalen Fesseln der Ständegesellschaft befreiten Individuums. Die klassischen Vertragstheoretiker der frühen Neuzeit argumentieren mit der freien und gleichen Natur des Menschen gegen eine kosmisch legitimierte Herrschaftsordnung. Die Bedeutung der frühen Vertragstheorien liegt deshalb zunächst darin, mit der Reflexion auf den Einzelnen das traditionale Verständnis sozialer Ordnung überwunden zu haben.1 Während es dabei Hobbes und Locke unternommen haben, mit dem Vertragsabschluss eine über die freie und gleiche Selbstbestimmung begründete Form von legitimer Herrschaft zu begründen, radikalisiert Rousseau die Frage der rechtmäßigen Begründung einer gesellschaftlichen Ordnung weiter, indem er versucht, die freie und gleiche Selbstbestimmung in einem prozeduralisierten Verfahren der Volkssouveränität auf Dauer zu stellen. Er begründet damit die neuzeitliche Vorstellung eines radikalen liberaldemokratischen Verfahrens der politischen Willensbildung. Mit dieser Vorstellung wird in der Moderne jede Form von klassischer, feudaler Herrschaft in Frage gestellt.
1
Vgl. W. Kersting (1996), Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt, S. 10f.
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Rousseaus Gesellschaftsvertrag
1.2 Der Umbruch im Verständnis der sozialen Ordnung zu Beginn der Neuzeit Die bürgerlichen Revolutionen des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts müssen als ein Versuch der Umsetzung der neuzeitlichen Vorstellung von der demokratischen Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse verstanden werden. Ihr Unternehmen gründet auf der zu Beginn der Neuzeit gewonnenen Einsicht, dass die menschliche Lebensform eine auf den Menschen konvergierende Lebensform ist. Heraufgeführt wurde dieses Bewusstsein von der Konstruktivität und Konvergenz menschlicher Lebensformen durch die naturwissenschaftliche Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts. Diese hat das Universum jeder Geistigkeit nach Art des über Sinn organisierten menschlichen Daseins entsetzt.2 Eine Erkenntnis, die die Einsicht nach sich ziehen musste, dass die Lebensform des Menschen auf den Menschen selbst konvergiert. Mit dem durch die naturwissenschaftliche Revolution heraufgeführten Umbruch im Weltbild der Neuzeit musste sich neben dem Bewusstsein der Konstruktivität und Konvergenz auch das Bewusstsein der Historizität einstellen. Es sind Rousseaus Ausführungen zur Geschichtsphilosophie, in denen das Bewusstsein der Konvergenz und Konstruktivität zuerst im Verbund mit dem Bewusstsein der Historizität erscheint.3 Rousseau reflektiert in seinen Schriften mit zuvor nicht gekannter Konsequenz auf die Historizität der menschlichen Daseinsform. Was er dabei deutlich zu machen sucht, ist, dass die Geschichte und der Mensch, mit dem sie ihren Ausgang nahm, sich selbst überlassen sind. So stellt Rousseau die Welt des Menschen zu Beginn seines ersten Diskurses „Über Kunst und Wissenschaft“ mit großer Entschiedenheit als das Ergebnis der vom Menschen selbst geschaffenen Lebensformen dar: „Es ist ein großes und schönes Schauspiel, den Menschen sozusagen aus dem Nichts durch seine eigenen Anstrengungen hervorgehen zu sehn. Er erhellt mit dem Licht seines Verstandes die Finsternis, in die ihn die Natur gehüllt hat. Er erhebt sich über sich selbst, schwingt sich durch seinen Geist bis in die himmlischen Regionen empor, durchmißt mit Riesenschritten sonnengleich die ungeheure Ausdehnung des Universums, kehrt – was noch größer ist – in sich selbst zurück, um hier den Menschen zu studieren, und seine Natur, seine Pflichten und seine Bestimmung zu erkennen.“4
2 3 4
Vgl. G. Dux (2000), Historisch-genetische Theorie der Kultur. Instabile Welten. Zur prozessualen Logik im kulturellen Wandel, Weilerswist, S. 29f. Vgl. ebd., S. 45. J.-J. Rousseau (1750/1995), Über Kunst und Wissenschaft, in: ders., Schriften zur Kulturkritik, hrsg. von K. Weigand, Hamburg, S. 2-59, S. 7.
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Während Rousseau also den Menschen in aller Bestimmtheit für verantwortlich erklärt, sieht er ihn zugleich in einer nur schwer durchsichtigen Weise der Entwicklung der Gesellschaft unterworfen. Entsprechend stellt sich Rousseau die Geschichte, die er mit dem Verlassen des Naturzustands beginnen lässt, als ein überaus ambivalenter Prozess dar.5 Obwohl er die menschlichen Unzulänglichkeiten der Kultur zuschreibt, beschreibt er die Geschichte zugleich als einen Prozess der Perfektibilisierung. So geht Rousseau davon aus, dass der Mensch sich nicht mit der Art der Existenz begnügt, die er von der Natur empfangen hat. Vielmehr strebe er aufgrund der Gabe der Perfektibilität über seinen ursprünglichen Zustand hinaus. Dabei hebe die Perfektibilität ihn zwar über die Natur hinaus, mache ihn aber zugleich zum Tyrannen über die Natur und zum Tyrannen seiner selbst.6 Als die entscheidende Einsicht der von Rousseau ausgearbeiteten Geschichtsphilosophie muss daher gelten, dass mit ihr das teleologische Weltverständnis durchbrochen wird.7 „Eine Geschichte, die sich durch einen sich selbst überlassenen Menschen in Bewegung setzt, ist ebenfalls sich selbst überlassen. Diese Form der Perfektibilisierung des Menschen wie der Geschichte ist jedoch offen zur Zukunft.“8
Rousseau versteht die Geschichte somit als eine Geschichte sich erst entwickelnder sozietärer Organisationsformen, die in der hinter ihr liegenden Natur gerade nicht schon angelegt ist. Während diese Einsicht einen wirklichen Erkenntnisfortschritt darstellt, bleibt ungeklärt, welche Folgerungen sich aus dieser Einsicht für die Frage nach den politischen Gestaltungsmöglichkeiten sozialer Verhältnisse ergeben. Geht es um ein Verständnis der normativen Frage, gilt es zunächst zu sehen, dass die Welt vor dem durch die naturwissenschaftliche Revolution heraufgeführten Umbruch noch als eine einheitliche nach Art des menschlichen Handelns und menschlicher Sozialität über Sinn organisierte kosmische Ordnung verstanden wurde. Im vormodernen Weltverständnis wurde deshalb die gegebene Ordnung zugleich als die gesollte Ordnung verstanden.9 So galten etwa in der politischen Philosophie der Vormoderne Herrschaft und Zwang als 5 6 7 8 9
Vgl. W. Kersting (2002), Jean-Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, Darmstadt, S. 22. Vgl. J.-J. Rousseau (1755/1995), Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, Erster Teil, in: ders., Schriften zur Kulturkritik, hrsg. von K. Weigand, Hamburg, S. 77-269, S. 107f. Vgl. auch E. Cassirer (1932/1975), Das Problem Jean-Jacques Rousseau, Darmstadt, S. 32f. Dux, Historisch-genetische Theorie der Kultur, S. 46. Vgl. G. Dux (1997), Das Sollen in der Positivität des Seins. Zur Genese der normativen Verfassung der Gesellschaft, in: R. Walter & C. Jabloner (Hg.), Hans Kelsens Wege sozialphilosophischer Forschung, Wien, S. 9-26, S. 16.
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fraglose Bestandteile der über Sinn bestimmten kosmischen Ordnung. Ungleichheit zwischen den Menschen wurde phänomenal als eine aus der über Sinn bestimmten Ordnung sich ergebende Tatsache verstanden.10 Rousseau bringt dieses Verständnis sozialer Ordnung im ersten Buch seiner Theorie des Gesellschaftsvertrags eindrücklich zur Anschauung: „Ebenso wie ein Hirte von höherer Art als seine Herde ist, sind die Menschenhirten, die Herrscher also, ebenfalls ihren Völkern überlegen. Kaiser Caligula dachte nach dem Bericht des Philon nicht anders; er schloß aus dieser Analogie, daß die Könige Götter oder die Völker Tiere seien.“11
In der politischen Philosophie bis zur Neuzeit wurde deshalb lediglich nach Kriterien gesucht, mit deren Hilfe sich eine gute Herrschaft von einer schlechten unterscheiden ließ, ohne dabei die Herrschaft als solche in Frage zu stellen.12 Als die beste Herrschaftsform galt dabei diejenige Herrschaft, die einer als gesollt gedachten gegebenen Ordnung – dem Absoluten im Kosmos – am besten gerecht wurde. Erst in dem Maße, in dem mit der Einsicht in die Konstruktivität und Konvergenz menschlicher Lebensformen die Vorstellung von einer im Absoluten begründeten kosmischen Ordnung verloren ging, wurde auch Herrschaft als solche in Frage gestellt. Somit stellt sich erst mit dem Verlust einer im Gegebenen immer schon realisierten gesollten Ordnungsvorstellung die eigentliche, für die Neuzeit bestimmende Frage nach der politischen Gestaltung sozialer Verhältnisse. Sie findet in der Frage, „ob die faktische Ordnung auch die gesollte Ordnung ist oder ob nicht vielmehr eine andere gesollt ist“, ihren erkenntniskritischen Ausdruck.13 Ersichtlich wird mit dieser Frage angenommen, dass die faktisch gegebene Ordnung auch eine andere sein kann. Vor allem als Ausdruck dieser Einsicht in die Gestaltbarkeit sozialer Verhältnisse müssen die klassischen Vertragstheorien der frühen Neuzeit verstanden werden. Dabei gehen sie davon aus, dass eine gerechte Ordnung allein in der freien und gleichen Übereinkunft der Menschen zu begründen ist. Rousseau führt diese grundlegende Annahme zum Auftakt seiner Abhandlung „Zum Gesellschaftsvertrag“ an:
10 11 12 13
Vgl. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 7f. J.-J. Rousseau (1762/1996), Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts, Baden-Baden, I, 1, S. 12f. Vgl. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 4. Vgl. Dux, Das Sollen in der Positivität des Seins, S. 16.
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„Aber die gesellschaftliche Ordnung ist ein geheiligtes Recht, auf dem alle anderen Rechte beruhen. Dieses Recht entstammt allerdings keineswegs der Natur; es gründet auf Übereinkünften.“14
Übereinkünfte bilden demzufolge, wie Rousseau mit größter Konsequenz versucht, zum Ausdruck zu bringen, die einzige Grundlage für eine rechtmäßige Autorität zwischen den Menschen: „Da kein Mensch natürliche Herrschaft über einen anderen besitzt und weil Stärke kein Recht schafft, bleiben also die Übereinkünfte als Grundlage aller rechtmäßigen Autorität zwischen den Menschen.“15
Zu bestimmen, welcher erkenntnistheoretische Stellenwert dieser politischen Anforderung liberaler Selbstorganisation zukommt, stellt das normative Problem in der Auseinandersetzung mit der Theorie des Gesellschaftsvertrags dar.
1.3 Zur Epistemologie des Gesellschaftsvertrags Da Rousseau davon ausgeht, dass die Geschichte als eine Geschichte sich erst entwickelnder sozietärer Organisationsformen in der hinter ihr liegenden Natur gerade nicht schon angelegt ist, interessiert er sich in seiner Abhandlung „Vom Gesellschaftsvertrag“ nicht in der Form für den Naturzustand, wie dies seine kontraktualistischen Vorgänger getan haben.16 Anders als Hobbes und Locke begnügt Rousseau sich in seiner Theorie des Gesellschaftsvertrags mit der Feststellung, dass der Naturzustand zu verlassen sei, weil es die Selbsterhaltungskräfte des Einzelnen übersteige, in ihm zu verbleiben. Er führt an, als Ausweg aus einer misslichen Situation, die letztlich auf ein zufälliges Zusammentreffen widriger Umstände zurückzuführen sei, bleibe nur, die Selbsterhaltung kollektiv zu organisieren:
14 15 16
Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, I, 1, S. 10. Ebd., I, 4, S. 15. Rousseau lässt es aufgrund seines genealogischen Geschichtsverständnisses bei der Annahme bewenden, dass die Natur von Zufällen bestimmt ist, so auch der Ausgang der Geschichte. In seinem Diskurs „Über den Ursprung der Ungleichheit zwischen den Menschen“ schreibt Rousseau: „Ohne Annahme des eigenartigen und zufälligen Zusammentreffens der Umstände, auf die ich noch zu sprechen komme, die sehr wohl niemals hätten einzutreten brauchen, ist jedenfalls klar, daß sich der erste, der sich Kleider und Wohnung herrichtete, sich damit sehr unnötige Sachen anschaffte, denn er war bis dahin ohne sie ausgekommen.“ Rousseau, Über die Ungleichheit, Erster Teil, S. 103f; eigene Hervorhebung. Wie Wolfgang Kersting anführt, bietet der Gesellschaftsvertrag deshalb auch keine Lösung für Probleme, die sich aus diesem ergeben. Vgl. Kersting, Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, S. 18f.
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„Ich nehme an, daß die Menschen den Punkt erreicht haben, an dem die Hindernisse, die ihrem Fortbestehen im Naturzustand schaden, in ihrem Widerstand über die Kräfte steigen, die jeder Einzelne aufbringt, um sich in diesem Zustand zu erhalten. Der natürliche Zustand kann dann nicht länger fortbestehen, das Menschengeschlecht würde zugrunde gehen, wenn es seine Lebensweise nicht veränderte. Da nun die Menschen nicht neue Kräfte schaffen können, sondern nur die bestehenden zu vereinen und zu lenken imstande sind, verfügen sie zu ihrer Erhaltung über kein anderes Mittel, als durch Zusammenschluß eine Summe von Kräften zu schaffen, die über jeden Widerstand zu siegen vermögen, und diese aus einem einzigen Antrieb heraus gemeinschaftlich vereint wirken zu lassen.“17
Gleichzeitig verfolgt Rousseau – in Übereinstimmung mit seinen vertragstheoretischen Vorgängern – die typisch vertragstheoretische Strategie, aus der Geschichte herauszutreten und aus einem vorgesellschaftlichen Zustand heraus, eine rechtmäßige Ordnung zu begründen. Deshalb beginnt Rousseau seine Abhandlung mit einer Fragestellung, die die Annahme eines geschichtlichen Prozesses der Verrechtlichung entschieden zurückweist: „Der Mensch ist frei geboren, und überall befindet er sich in Ketten. Wer vermeint, der Herr über andere zu sein, ist mehr noch ein Sklave als jene. Wie ist es zu diesem Wandel gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann ihn rechtmäßig machen? Auf diese Frage glaube ich eine Antwort zu haben.“18
Eine solche „rein“ normativ bestimmte Fragestellung macht einsichtig, dass die Ausführungen zum Gesellschaftsvertrag, wie Karlfriedrich Herb feststellt, auch in Abgrenzung zu Rousseaus eigenen geschichtsphilosophischen Erörterungen zu verstehen sind.19 Deutlich wird, dass Rousseau die Theorie vom Gesellschaftsvertrag als Frage nach einer radikalen Neubegründung einer gerechten gesellschaftlichen Ordnung verstanden wissen will, und dies vor dem Hintergrund der Annahme, dass der historisch gegebenen Ordnung keinerlei Anhaltspunkte für die Begründung einer gerechten Gesellschaftsform zu entnehmen sind. Herb versucht daraufhin, den erkenntnistheoretischen Status des Gesellschaftsvertrags wie folgt zu bestimmen: „Angesichts des Nachdrucks, mit dem Rousseau die Frage der Rechtsgeltung betont, erweist es sich als fraglich, die Interpretation des Werkes ohne weiteres mit der Hypothek einer Fundierung in der Geschichtsphilosophie zu belasten. Rousseaus Selbstverständnis spricht für eine prinzipientheoretische Lesart des Gesellschaftsvertrags aus sich selbst heraus, nämlich so weit als möglich aus den dort vorgetragenen Grundsätzen.“20
17 18 19 20
Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, I, 6, S. 23f. Ebd., I, 1, S. 10. Vgl. K. Herb (2000), Zur Grundlegung der Vertragstheorie, in: Jean-Jacques Rousseau. Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, hrsg. von R. Brandt & K. Herb, Berlin, S. 27-43, S. 29 und Kersting, Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, S. 22. Herb, Zur Grundlegung der Vertragstheorie, S. 31.
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Ebenfalls auf den rein normativen Anspruch verweisend stellt Ernst Cassirer heraus, dass Rousseau „das Wort und den Begriff der Gesellschaft von Anfang an in einem doppelten Sinne versteht. Er unterscheidet aufs bestimmteste zwischen der empirischen und der idealen Form der Gesellschaft – zwischen dem, was sie unter den gegenwärtigen Bedingungen ist und dem, was sie sein kann und was sie künftig sein soll“21. Während es Rousseau in seinem Diskurs „Über den Ursprung der Ungleichheit zwischen den Menschen“ zunächst nur darum geht, die historisch heraufgeführten Gesellschaftsformen zu kritisieren, geht es ihm mit seiner Abhandlung „Zum Gesellschaftsvertrag“ also um eine entschieden normative Begründung einer gerechten Gesellschaftsordnung. Als die einzige Möglichkeit der Begründung einer solchen Gesellschaftsform erscheint ihm dabei eine rein theoretische, „aus sich heraus“ einsichtige Begründung. In diesem Sinne führt Rousseau in seinem „Briefe vom Berge“ das freiwillige Engagement desjenigen, der sich verpflichtet, als das einzige „aus sich heraus einsichtige“ – und das heißt mit Vernunftgründen nicht zu bestreitende – Prinzip der Vergesellschaftung an: „Kann es ein sichereres Fundament für die Verpflichtung unter Menschen geben als das freiwillige Engagement desjenigen, der sich verpflichtet? Man kann jedes andere Prinzip bestreiten, dieses wird man nicht bestreiten können.“22
Mit der Abhandlung „Zum Gesellschaftsvertrag“ geht es Rousseau mithin darum, ein Prinzip der Gerechtigkeit auszuweisen, das rein theoretisch ist und sich allein aus der Einsicht in die abstraktiv-ideellen Gründe der Vernunft ergibt. Diese Gründe werden als von den faktischen Gegebenheiten strikt getrennt verstanden. Rousseaus Konzeption des Gesellschaftsvertrags bringt damit ein philosophisches Verständnis des Normativen zum Ausdruck. Wie sich zeigen wird, steht dieses in einem erkenntnistheoretischen Konflikt zur Empirie.
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2.1 Die freie Natur des Menschen In einer Kritik der bestehenden Legitimationsmodelle, die Rousseau seiner Abhandlung „Zum Gesellschaftsvertrag“ vorausschickt, stellt er den Gedan21 22
Cassirer, Das Problem Jean-Jacques Rousseau, S. 68. Rousseau, Briefe vom Berge, zitiert nach Herb, Zur Grundlegung der Vertragstheorie, S. 42.
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ken der Freiheit an den Anfang seiner Überlegungen und sucht diesen über die „Natur des Menschen“ zu begründen. So handelt der Mensch laut Rousseau nur dann vernünftig und seiner Natur gemäß, wenn er sich selbst erhält: „Diese gemeinschaftliche Freiheit ergibt sich aus der Natur des Menschen. Es ist sein oberstes Gesetz, auf seine eigene Erhaltung zu achten, seine höchsten Pflichten sind jene, die er sich selber schuldet, und sobald er großjährig und reif genug ist, vernünftig und allein über die rechten Mittel zu seiner Selbsterhaltung zu entscheiden, wird er dadurch sein eigener Herr.“23
Diese freie Natur des Menschen, sein angeborenes, individuelles Recht auf Selbstbestimmung führt Rousseau im ersten Buch des Gesellschaftsvertrags nicht nur gegen die Annahmen der Ungleichheit ins Feld, wie sie Aristoteles im klassisch philosophischen Denken zum Ausdruck gebracht hat, sondern auch gegen die Entäußerungsbegründungen, die, wie Rousseau anführt, seine vertragstheoretischen Vorgänger vorgelegt haben. So legt Rousseau etwa dar, dass sich die Vernunft der Selbsterhaltung gegen die vertragstheoretischen Annahmen des Grotius richtet. Dieser schließt aus dem individuellen Recht auf Freiheit auf die Möglichkeit, dass ein ganzes Volk sich seiner Freiheit entledigt und zum Untertanen eines Königs macht. Rousseau hält dieser Vorstellung die Unvernunft einer Unterwerfung entgegen, die einem Volk – anders als Sklaven – weder die Sicherung des Lebensunterhalts noch „bürgerliche Ruhe“ einbringe. Eine solche Entäußerung sei deshalb ohne Nutzen und damit unvorstellbar: „Die Annahme, daß ein Mensch sich umsonst gebe, ist absurd und unvorstellbar; eine solche Handlung ist ungesetzlich und ungültig allein schon deshalb, weil jemand, der sie setzen würde, nicht bei gesundem Verstand wäre. Dasselbe von einem Volk zu sagen, würde ein Volk von Narren voraussetzen; und Irrsinn schafft kein Recht.“24
Ebenso wie die Unterwerfungsverträge der Naturrechtsjuristen Grotius und Pufendorf stellt Rousseau auch die Rechtmäßigkeit aller Verträge in Abrede, die zur Begründung einer Abhängigkeit im Rahmen staatlicher Herrschaft führen. Damit richtet er sich auch gegen die Staatsverträge von Hobbes und Lockes.25 Jede Einschränkung des freien Willens stellt sich Rousseau als Unvernunft und als der menschlichen Natur unangemessen dar. Ergebnis der bislang begründeten Verträge sei deshalb, so Rousseau, durchweg eine übermächtige, die Freiheit verschlingende Herrschaft und somit eine im Ergebnis paradoxe rechtliche Selbstvernichtung der Individuen: 23 24 25
Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, I, 2, S. 11. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, I, 4, S. 16. Vgl. dazu auch Kersting, Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, S. 44f.
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„Auf seine Freiheit zu verzichten bedeutet, die menschlichen Eigenschaften, die Menschenrechte und sogar -pflichten aufzugeben. Für den, der auf alles verzichtet, ist keine Entschädigung möglich. Ein solcher Verzicht ist mit der Natur des Menschen unvereinbar; und wer alle Freiheit seines Willens nimmt, nimmt seinen Handlungen jede Sittlichkeit. Darüber hinaus wäre es ein nichtiger und widersprüchlicher Vertrag, einerseits unumschränkte Herrschaft und andererseits grenzenlosen Gehorsam festzulegen. Ist es nicht einsichtig, daß man dem, von dem alles zu fordern man das Recht besitzt, nichts schuldet, und zieht allein der Umstand, daß es weder Gegenseitigkeit noch wechselseitige Verpflichtung gibt, nicht die Nichtigkeit des Aktes nach sich?“26
2.2 Der gesellschaftliche Pakt Worin im Gegensatz zu den bisherigen Versuchen ein rechtmäßiger Vertrag allein zu begründen sei, legt Rousseau in seinen Ausführungen zum gesellschaftlichen Pakt dar.27 Wie erwähnt sind es dabei zufällig heraufgeführte Umstände, die, wie Rousseau meint, den Zusammenschluss individueller Kräfte notwendig machen. Der natürlichen Wesensbestimmung des Menschen entsprechend sieht Rousseau in einem solchen Zusammenschluss jedoch die Gefahr der Vernachlässigung der je eigenen Selbsterhaltung gegeben. Dieses Problem bestimmt die Ausgangslage für den Gesellschaftsvertrag: „Wie aber kann der Einzelne, ohne sich zu schaden und ohne die Fürsorge zu vernachlässigen, die er sich schuldet, seine Kraft gemeinschaftlich einsetzen, wenn doch Stärke und Freiheit jedes Menschen die ersten Werkzeuge zu seiner eigenen Erhaltung sind?“28
Der Gesellschaftsvertrag hat folglich die Aufgabe, eine Form des Zusammenschlusses zu finden, „die mit aller gemeinsamen Kraft die Person und die Güter jedes Teilhabers verteidigt und schützt, und durch die ein jeder, der sich allen anderen anschließt, dennoch nur sich selber gehorcht und ebenso frei bleibt wie zuvor“29. Möglich ist dies nur unter der Bedingung, dass jeder Einzelne sich vorbehaltlos in die Gemeinschaft einbringt und sich vollständig mit ihr identifiziert. Nur in diesem Fall bringt der Einzelne seine gesamten Kräfte ebenso für seine eigene Selbsterhaltung wie für die Erhaltung der Gemeinschaft ein. Rousseau führt dementsprechend die „völlige Entäußerung jedes Mitglieds mit allen seinen Rechten an das größere Gesamtwesen“30 als die Bestimmung des gesellschaftlichen Pakts an, in der alle anderen zusammenlaufen: 26 27 28 29 30
Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, I, 4, S. 17. Vgl. ebd., I, 6, S. 23-26. Ebd., I, 6, S. 24. Ebd. Ebd., I, 6, S. 24f.
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„Wenn man nun vom gesellschaftlichen Pakt alles Nicht-Wesentliche beseitigt, verdichtet er sich wie folgt: Jeder von uns stellt gemeinsam seine Person und ganze Kraft unter die oberste Richtlinie des allgemeinen Willens; und wir nehmen in die Gemeinschaft jedes Mitglied als untrennbares Teil des Ganzen auf.“31
Einem solchen gesellschaftlichen Pakt können die Menschen zustimmen, wie Rousseau des Weiteren anführt, weil sie dies unter absolut gleichen Bedingungen tun, so dass für niemanden ein Nachteil entsteht, sondern sich für alle der gleiche Vorteil der Kooperation ergibt. Rousseau führt die für alle gleichen Bestimmungen des Vertrags aus: „Da zum ersten ein jeder sich mit seiner ganzen Person gibt, besteht für alle die gleiche Bedingung, und weil sie für alle gleich ist, hat keiner Interesse daran, sie für den anderen belastend zu machen.“32
Aus dieser Ausgangsbedingung entsteht eine gesellschaftliche Ordnung, die niemandem besondere Ansprüche oder Rechte zubilligt: „Da darüber hinaus die Entäußerung rückhaltlos erfolgt, ist das Bündnis so vollkommen, wie es nur sein kann, und kein Mitglied hat noch etwas zu fordern: Wenn dem Einzelnen einige Rechte bleiben sollten, würde jeder, weil es keine höhere Instanz gäbe, die zwischen ihm und der Öffentlichkeit Recht sprechen könnte, und weil jeder gewissermaßen sein eigener Richter ist, bald den Anspruch anmelden, in allen Dingen den Maßstab vorzugeben. Der Naturzustand würde fortbestehen und der Zusammenschluß müßte notwendigerweise tyrannisch und nichtig werden.“33
Und unter der Voraussetzung der gleichen rückhaltlosen Entäußerung bewahrt auch jeder in der zu konstituierenden gesellschaftlichen Ordnung seine individuelle Selbstbestimmung, so dass alle gleich frei bleiben: „Da schließlich ein jeder sich allen gibt, gibt keiner sich irgendwem.“34
Womit Rousseau schließlich auf den Vorteil der Kooperation verweist, der mit Abschluss des gesellschaftlichen Paktes allen gleichermaßen zukommt: „(...) und da man über jedes Mitglied dasselbe Recht erwirbt, das man auch allen über sich einräumt, gewinnt man dabei ebensoviel, wie man abtritt, und dazu noch ein mehr an Kraft, um zu bewahren, was man hat.“35
Schließlich führt Rousseau noch einmal an, dass der Vertrag mit der gleichen rückhaltlosen Entäußerung aller eine universale Form erhält, die einem jeden 31 32 33 34 35
Ebd., I, 6, S. 25; die Hervorhebung entspricht dem Original. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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einsichtig sein sollte, und entsprechend in genau dieser Form einen unbedingt gültigen Geltungsanspruch erhält: „Die Bestimmungen dieses Vertrages sind durch die Natur des Aktes solchermaßen vorgegeben, daß die geringfügigste Veränderung sie null und nichtig machen würde; obwohl sie vielleicht niemals in Worten ausgesprochen wurden, sind sie stets die gleichen, stets stillschweigend gültig und anerkannt, bis, falls der gesellschaftliche Pakt verletzt wird, ein jeder wieder in seine ursprünglichen Rechte zurückkehrt und erneut seine natürliche Freiheit an sich nimmt, wobei er die vertragsbedingte bürgerliche Freiheit verliert, zu deren Gunsten er auf seine frühere verzichtet hatte.“36
Wie einleitend angemerkt, liegt das zentrale Anliegen von Rousseaus Ausführungen „Zum Gesellschaftsvertrag“ darin, ein unbedingt gültiges Prinzip der Vergesellschaftung aufzustellen. Darauf, dass es in den gleichen Bedingungen des gesellschaftlichen Paktes begründet liegt, verweist Rousseau auch an anderer Stelle seiner Ausführungen, indem er dort feststellt, dass alle seine Überlegungen zusammenpassen, „nur bin ich nicht imstande, sie alle zugleich darzulegen“.37
2.3 Der absolute Souverän Rousseau beschreibt die staatliche Körperschaft oder Gemeinschaft, die sich im Augenblick des Abschlusses des gesellschaftlichen Paktes konstituiert, zunächst eindrücklich als eine Gemeinschaft, die sich ausschließlich über die subjektiven Pflichten begründet, unter denen sich die Vertragspartner gegenseitig binden. Dementsprechend stellt sich die politische Gemeinschaft der Rousseauschen Republik in einer Form dar, in der Macht nur in der Beziehung zu anderen staatlichen Körperschaften Relevanz hat: „Dieser Akt des Zusammenschlusses schafft augenblicklich und anstatt der Einzelpersonen jedes Vertragspartners eine sittliche und kollektive Gemeinschaft, die aus so vielen Mitgliedern besteht, als die Versammlung an Stimmen besitzt, und die aus diesem Akt heraus ihr gemeinschaftliches Ich, ihr Leben und ihren Willen erhält. Diese öffentliche Person, die aus dem Zusammenschluß aller ihr Leben bezieht, trug früher den Namen der Cité (Polis), und heißt heute Republik oder staatliche Körperschaft, die ihre Mitglieder Staat im passiven Sinne oder Souverän in ihrer aktiven Rolle nennen, während untereinander, also zwischen den Staaten, von Macht die Rede ist. Im Hinblick auf die Mitglieder ist in der Gesamtheit vom Volk die Rede, als Individuen jedoch nennen die Teilhaber der souveränen Macht sich Bürger oder Untertanen, wenn sie den Gesetzen des Staates unterworfen sind.“38
36 37 38
Ebd., I, 6, S. 24. Vgl. ebd., II, 5, S. 50. Ebd., I, 6, S. 25f; die Hervorhebungen entsprechen dem Original.
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Gleichwohl stellt Rousseau hier auch fest, dass die Individuen des Gemeinwesens sowohl als Bürger (Citoyen) als auch als Untertanen (Sujet) zu verstehen seien. So verweist er im darauf folgenden Kapitel auch ausdrücklich darauf, dass jeder, „der sozusagen mit sich selber den Vertrag eingeht, sich doppelt bindet: Nämlich als Glied des Souveräns gegenüber den Einzelnen und als Glied des Staates gegenüber dem Souverän“.39 Geht es um die Pflichten, die sich aus dem Abschluss des Gesellschaftsvertrags ergeben, ist es deshalb entscheidend zu sehen, dass Rousseau meint, dass ein „öffentlicher Beschluss“ zwar die Untertanen gegenüber dem Souverän verpflichten kann, ein solcher Beschluss aber den Souverän nicht gegen sich selbst binden könne. Rousseau verdeutlicht damit, dass dem über den gesellschaftlichen Pakt begründeten Souverän absolute Macht zukommt.40 Dementsprechend fährt Rousseau auch mit dem Hinweis fort, dass es gegen die „Natur des Staatswesens“ sei, „wenn der Souverän ein Gesetz erließe, das er nicht auch brechen kann“.41 Folgerichtig steht damit dem absoluten Souverän auch der Gesellschaftsvertrag selbst zur Disposition.42 Als Pflicht, die der absolute Souverän hingegen aufgrund des Gesellschaftsvertrags erfüllen muss, führt Rousseau den Schutz gegen innere und äußere Bedrohungen des Gemeinwesens an. Er sieht auch diese Funktionsbestimmung in der völligen Entäußerung der Vertragschließenden begründet, über die sich das politische Gemeinwesen konstituiert: „Sobald diese Menge sich auf solche Weise zu einer Körperschaft vereint findet, kann keines ihrer Mitglieder verletzt werden, ohne daß damit das Ganze angegriffen würde; und noch weniger kann die Körperschaft verletzt werden, ohne daß ihre Mitglieder die Wirkung fühlen würden. Pflicht und Vorteil zwingen so beide Vertragsteile gleichermaßen, einander gegenseitig zu unterstützen, und die gleichen Menschen müssen versuchen, in dieser Doppelbeziehung alle Vorteile, die sich daraus ergeben, zu vereinen.“43
Im Unterschied zu der vertraglichen Vereinbarung, die Locke konzipiert hat, sieht Rousseau mit der völligen Entäußerung eines jeden Einzelnen allerdings nicht die Notwendigkeit gegeben, dass sich die souveräne Macht gegenüber den Untertanen verbürgen muss: „Da der Souverän sich nur aus den Einzelnen zusammensetzt, die ihn bilden, wird und kann er keine Absicht hegen, die den seinen entgegengesetzt wären; folglich muß sich die souve39 40 41 42 43
Vgl. ebd., I, 7, S. 26. Vgl. Kersting, Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, S. 64f. Vgl. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, I, 7, S. 27. Vgl. ebd. Wobei dessen Auflösung die politische Selbstauflösung und die Rückkehr in den Naturzustand zur Folge hätte. Ebd., I, 7, S. 28.
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räne Macht gegenüber den Untertanen nicht verbürgen, weil es unmöglich ist, daß die Körperschaft allen ihren Mitgliedern schaden will; und wir werden in der Folge sehen, daß sie auch keinem Einzelnen im besonderen schaden kann. Allein durch seine Existenz ist der Souverän immer alles, was er sein soll.“44
Anders verhält es sich jedoch mit der Beziehung der Untertanen gegenüber dem Souverän. So führt Rousseau an, dass jeder Mensch auch als Teil des Gemeinwesens seinen eigenen Willen haben könne, der mit dem allgemeinen Willen, den er als Bürger hat, gegebenenfalls nicht zu vereinbaren ist. Die Rechtmäßigkeit dieses Willens bestreitet Rousseau grundsätzlich nicht.45 Im Rahmen der Gemeinschaft versteht er ihn jedoch als einen Faktor, der den Bestand der staatlichen Körperschaft gefährdet. Er erklärt deshalb, dass der gesellschaftliche Pakt – damit er „kein sinnloses Stück Papier“ bleibe – die (nicht notwendigerweise ausgesprochene) Übereinkunft enthalte, dass „jeder, der dem allgemeinen Willen den Gehorsam verweigert, durch die gesamte Körperschaft dazu gezwungen werden wird“.46 Was nichts anderes heißt, wie Rousseau fortfährt, „als daß man ihn zwingen wird, frei zu sein.“47
Hinter dieser Aussage steht die Annahme, dass der Einzelne allein durch die Allgemeinheit der öffentlichen Übereinkünfte, die Gesetze der Republik, vor persönlichen Abhängigkeiten geschützt wird.48 Während es Rousseau also darum geht, ein rein normatives Prinzip gerechter Ordnung zu begründen, wird gleichwohl gerade die hier von Rousseau gemachte Feststellung nur vor dem historischen Hintergrund seiner Ausführungen verständlich. Während rein normative Interpretationen in dieser Feststellung Rousseaus einen Vorlauf zum modernen Totalitarismus ausgemacht haben49, geht es ihm hier – ganz offenkundig in Abgrenzung zu den vormodernen Herrschaftsformen – darum, die Gefahr der willkürlichen Ausbeutung zu bannen.50 So ist es eben die in der
44 45 46 47 48 49 50
Ebd. Vgl. ebd., I, 7, S. 28f. Vgl. ebd., I, 7, S. 29. Ebd. Vgl. Cassirer, Das Problem Jean-Jacques Rousseau, S. 16f; Kersting, Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, S. 49. Vgl. J. L. Talmon (1961), Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln. Vgl. R. Wokler (1995), Rousseau and his critics on the fanciful liberties we have lost, wieder abgedruckt in: Jean-Jacques Rousseau. Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, hrsg. von R. Brandt & K. Herb, Berlin 2000, S. 83-106, S. 89 und R. Wokler (1995), Rousseau, Freiburg, Basel, Wien, S. 83-115.
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Geschichte herausgebildete private Abhängigkeit, die Rousseau als das größte gesellschaftliche Übel überhaupt betrachtet.51 Den Aspekt, dass die Herrschaft des allgemeinen Willens den Willen des Einzelnen bezwingt und den Einzelnen damit zwingt, frei zu sein, greift Rousseau noch einmal auf, indem er in dem Kapitel „Vom bürgerlichen Stand“ verdeutlicht, worin die Differenz zwischen „natürlicher“ und „bürgerlicher Freiheit“ liegt. So führt er hier an, dass der Mensch mit dem Gesellschaftsvertrag seine „natürliche Freiheit“ und „ein unbeschränktes Recht auf alles, was er anstrebt und was er erreichen kann“, verliert.52 Während dabei die natürliche Freiheit keine Grenzen als die Kräfte des Individuums kenne, erfahre die bürgerliche Freiheit durch den allgemeinen Willen ihre Grenzen. Da dieser laut Rousseau jedoch als Ausdruck einer vernünftigen Selbstbestimmung zu verstehen ist, meint er, dass nur der Gehorsam vor dem Gesetz des allgemeinen Willens als wahre Freiheit zu verstehen sei: „Man könnte dem Gesagten noch hinzufügen, daß wir mit dem Erwerb des bürgerlichen Standes auch sittliche Freiheit gewinnen, die allein den Menschen wirklich zum Herren seiner selbst macht; denn der Antrieb des bloßen Begehrens ist Sklaverei, nur der Gehorsam vor dem Gesetz, das man sich selber gegeben hat, ist Freiheit.“53
2.4 Die „Volonté générale“ Geht es Rousseau im ersten Buch seiner Abhandlung „Zum Gesellschaftsvertrag“ um das Anführen der Grundsätze einer gerechten sozialen Ordnung, geht es ihm in den darauf folgenden Ausführungen vor allem darum, die Konsequenzen aufzuzeigen, die sich aus diesen Grundsätzen ergeben. Dabei führt er als die erste und wichtigste Folgerung an, dass „der allgemeine Wille allein die Kräfte des Staates nach dem Zweck seiner Einrichtung, die das Gemeinwohl ist, lenken soll.“54
Im Anschluss an diese erste und wichtigste Folgerung stellt sich als die grundlegende Frage, wie das Gemeinwohl der Republik zu bestimmen ist. Rousseau setzt den Begriff des Gemeinwohls mit dem des allgemeinen Willens gleich 51 52 53 54
Vgl. P. Riley (2000), Eine mögliche Erklärung des Gemeinwillens, in: Jean-Jacques Rousseau. Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, hrsg. von R. Brandt & K. Herb, Berlin, S. 107-134, S. 111. Vgl. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, I, 8, S. 30. Ebd., I, 8, S. 31. Ebd., II, 1, S. 36.
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(volonté générale) und bestimmt Letzteren zunächst aus dem allen gemeinsamen Interesse, das als notwendige Voraussetzung des Gesellschaftsvertrags bereits gegeben ist, mit dessen Abschluss aber zu einer allgemein anerkannten Norm wird.55 So bestimmt Rousseau den allgemeinen Willen in einer ersten Darlegung wie folgt: „Wenn der Widerstreit von Einzelinteressen die Gründung von Gesellschaften notwendig gemacht hat, dann hat die Harmonie dieser gleichen Interessen sie ermöglicht. Das gesellschaftliche Band erwächst aus dem Gemeinsamen dieser unterschiedlichen Interessen. Wenn es nicht irgendeinen Punkt gäbe, an dem alle Interessen übereinstimmen, würde keine Gesellschaft bestehen können. Nur auf der Grundlage dieses gemeinsamen Interesses darf die Gesellschaft regiert werden.“56
Im Anschluss an diese erste Bestimmung versucht Rousseau den allgemeinen Willen genauer zu bestimmen. Er tut dies, indem er ihn als „unveräußerlich“ ausweist: „Ich denke daher, daß die Souveränität, die nur die Ausübung des allgemeinen Willens ist, niemals veräußert werden kann, und daß der Souverän, der nichts als ein Gesamtwesen ist, nur durch sich selbst vertreten werden kann; übertragen werden kann freilich die Macht, nicht aber der Wille.“57
Dieser Bestimmung zufolge ist der allgemeine Wille an den Souverän, „der nichts anderes als ein Gesamtwesen ist“, gebunden. Er kann sich also nur aus einer Gesamtheit der Willen aller bestimmen. Darauf verweist Rousseau auch in einer weiteren Bestimmung des allgemeinen Willens, in der er versucht, den allgemeinen Willen als eine Gesamtheit von dem Willen aller abzusetzen: „Es gibt oft einen großen Unterschied zwischen dem Willen aller und dem allgemeinen Willen; dieser achtet nur auf das gemeinsame Interesse, der Wille aller dagegen auf das private Interesse, ja er ist nur eine Summe individueller Wünsche. Wenn man freilich davon das Mehr oder Weniger abzieht, das sich gegenseitig aufhebt, dann bleibt als Summe der Unterschiede der allgemeine Wille.“58
Dass sich der allgemeine Wille nur aus der Gesamtheit der Willen aller bestimmen lässt, liegt auch Rousseaus Hinweis zugrunde, dass die Souveränität „unteilbar“ ist: 55
56 57 58
„So ist die Volonté Générale im Grunde Norm und nicht Wille; sie ist Maß und nicht Akt“. M. Imboden (1963), Rousseau und die Demokratie, Tübingen, S. 11. Vgl. auch I. Fetscher (1960), Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, Neuwied, S. 120. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, II, 1, S. 36. Ebd. Ebd., II, 3, S. 41.
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„Aus dem gleichen Grund, aus dem die Souveränität unveräußerlich ist, ist sie unteilbar. Denn der Wille ist entweder allgemein, oder er ist es nicht; er ist Ausdruck des Volkes oder nur eines Teiles davon. Im ersteren Falle ist dieser erklärte Wille ein Akt der Souveränität und schafft Gesetze; im zweiten handelt es sich nur um einen Einzelwillen oder einen Verwaltungsakt, bestenfalls haben wir eine Verordnung.“59
Dabei macht Rousseau hier zugleich auf den abstraktiv-ideellen Status aufmerksam, den er der Gesamtheit der Willen aller zuschreibt. Er weist damit die Gesamtheit als eine schlechthin allgemeingültige Norm aus.60 Als eine solche Norm bleibt sie allen konkreten Bestimmungen vorgeordnet: „Dieser Fehler >der, dass die Politiker versuchen, die Souveränität zu teilen, I. F.-G.@ erklärt sich daraus, daß sie keine genauen Vorstellungen von der souveränen Macht haben, und als einen Teil dieser Macht ansehen, was nur Auswirkungen derselben sind. So hat man etwa den Akt der Kriegserklärung und des Friedensschlusses als Akte der Souveränität eingestuft, was nicht richtig ist, denn keiner dieser Akte ist ein Gesetz, sondern nur eine Anwendung des Gesetzes, ein einzelner Akt, der den Gesetzesfall genau bestimmt.“61
Dementsprechend schreibt Rousseau der Regierung im engeren Sinne auch bloß die Aufgabe zu, die absoluten Gesetze des Souveräns gemäß der unterschiedlichen Situation anzuwenden.62 Der Regierung unterliegt somit lediglich die Rechtsdurchsetzung, sie verhilft damit der Gesamtheit der Willen aller zur Verwirklichung.63 Er führt dabei auch ausdrücklich an, dass die Exekutive, die neben der Jurisdiktion die Regierung im engeren Sinne ist, der Legislative bzw. dem Normativen des allgemeinen Willens strikt nachgeordnet bleibt: „Wenn man auf diese Weise die anderen Teilungen betrachtete, so würde man gewahr, daß man sich jedesmal täuscht, wenn man die Souveränität geteilt zu sehen glaubt, und daß die 59 60
61 62 63
Ebd., II, 2, S. 38. „Die einzig legitime Gewalt ist die Gewalt, die das Prinzip der Legitimität als solches, die die Idee des Gesetzes selbst über die Einzelwillen ausübt. Diese Idee nimmt das Individuum immer nur als Glied der Gemeinschaft, als mitwirkendes Organ des Gesamtwillens, nicht aber in seinem partikularen Dasein und So-Sein in Anspruch.“ Cassirer, Das Problem Jean-Jacques Rousseau, S. 19; die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, II, 2, S. 39. Vgl. ebd., III, 1, S. 77-84. In diesem Sinne gehört auch die Güterverwaltung zu ihren Aufgaben: „[Denn] im Hinblick auf seine Mitglieder ist der Staat durch den Gesellschaftsvertrag, der innerhalb des Staates als Grundlage aller Rechte gilt, Herr aller Güter, aber im Verständnis fremder Mächte ist er dies nur nach dem Recht des Erstbesitzers, das er von den Einzelnen her bezieht.“ Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, I, 9, S. 32. Die historische Aufgabe der Regierung ist es außerdem, an ihrer eigenen Überflüssigkeit zu arbeiten. Da sie der bürgerlichen Selbstbestimmung verpflichtet ist, soll sie durch eine entsprechende Erziehungsarbeit die Bürger selbstbestimmungstauglich machen. Siehe dazu insbesondere J.-J. Rousseau (1758/1981), Abhandlung über die politische Ökonomie, in: ders., Sozialphilosophische und Politische Schriften, München, S. 227265. Vgl. auch Kersting, Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, S. 147ff und Cassirer, Das Problem Jean-Jacques Rousseau, S. 22f.
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Rechte, die man für Teile dieser Souveränität hält, ihr alle untergeordnet sind und nur stets höchsten Willen voraussetzen, dem diese Rechte nur zu seiner Verwirklichung verhelfen.“64
In dem Bestreben, die Gesamtheit der Willen aller als die entscheidende Norm einer Republik auszuweisen, führt Rousseau schließlich auch an, dass diese durch Gruppierungen innerhalb der Gesamtheit, durch die Ausbildung von Teilinteressen, die sich von dem Interesse der Gesamtheit wie des Einzelnen absetzen, verfälscht würde. Dagegen bleibe die Unfehlbarkeit des Gemeinwillens erhalten, solange die Bürger nur ihr strikt individuelles Interesse in das Herausbilden des allgemeinen Willens einbringen: „Wenn die Bürger keine Verbindung zueinander hätten und das Volk genügend unterrichtet wäre, wenn es Beschlüsse faßt, dann würde aus der großen Anzahl kleiner Unterschiede immer der allgemeine Wille hervorgehen, und die Entscheidung wäre immer gut. (...) Um die genaue Stimme des allgemeinen Willens zu erhalten, ist es also wichtig, daß es im Staat keine Teilgesellschaft gibt und daß jeder Bürger nur seinen eigenen Standpunkt vertritt.“65
In der ausschließlichen Ausrichtung auf das allgemeine Wohl (die Gesamtheit der Willen aller) zeigt sich zugleich die Grenze der souveränen Macht. Dem jeweiligen privaten Interesse der Bürger kann und soll sie nicht gerecht werden: „Es zeigt auch, daß der allgemeine Wille, um wirklich als solcher zu gelten, in seinem Zweck wie in seinem Wesen allgemein sein muß; daß er von allen ausgehen und sich auf alle erstrecken muß, und daß er seine natürliche Richtigkeit verliert, sobald er sich auf irgendeinen privaten und festgelegten Bereich richtet.“66
2.5 Die Allgemeingültigkeit des Gesetzes Des Weiteren versucht Rousseau deutlich zu machen, dass eine solche allgemein anerkannte Norm (die volonté générale) zwar als allgemein geltend anerkannt werde, sie zugleich aber immer wieder gegen die Interessen der Einzelnen durchgesetzt werden müsse. Rousseau führt den fortdauernden Unterschied zwischen Einzelwille und Allgemeinwille an: „Obwohl es sein kann, daß ein Einzelwille mit dem allgemeinen Willen auf irgendwelche Weise übereinstimmt, ist es immerhin unmöglich, daß diese Übereinstimmung dauerhaft und beständig sei, denn der Einzelwille drängt naturgemäß nach Vorzug und Ausnahme, der Gemeinwille dagegen nach Gleichheit. Noch unmöglicher ist es, für diese Harmonie eine 64 65 66
Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, II, 2, S. 39. Vgl. auch Kersting, Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, S. 88f. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, II, 3, S. 41f. Ebd., II, 4, S. 44.
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Garantie zu finden: wenn sie auch immer anhalten würde, so wäre sie kein Ergebnis menschlicher Kunst, sondern des Zufalls.“67
Der Konflikt zwischen Einzelwille und Gemeinwille werde jedoch durch das prozeduralisierte Verfahren der Gesetzgebung aufgehoben. Zur Bedeutung der Gesetzgebung, in die jeder Bürger einer Republik sich notwendig mit seinen Interessen einbringen müsse, schreibt Rousseau: „Durch den gesellschaftlichen Pakt haben wir dem Staatskörper Vorhandensein und Leben geschenkt: Es kommt jetzt darauf an, ihm Antrieb und Willen durch die Gesetzgebung zu verleihen. Der ursprüngliche Akt, durch den die Körperschaft sich formt und vereint, besagt nämlich nicht, was sie tun muß, um sich zu erhalten.“68
Dabei verweist Rousseau auch bei den Gesetzen darauf, dass in ihnen Rechte und Pflichten miteinander verbunden werden und sich allein durch diese in Gesetzen festgelegte gegenseitige Verpflichtung Gerechtigkeit unter den Menschen herstellen lasse: „Zweifellos gibt es eine universale Gerechtigkeit, die allein der Vernunft entspringt; aber damit diese Gerechtigkeit unter uns Menschen anerkannt werde, muß sie gegenseitig sein. Menschlich besehen: Die Gesetze der Gerechtigkeit bewirken unter den Menschen nichts, da sie ohne natürliche Folgen bleiben; sie dienen nur dem Vorteil der Bösen und schaden den Gerechten, weil nur diese sie vor aller Welt achten, ohne daß jemand sie ihnen gegenüber einhielte. Es bedarf also der Übereinkünfte und Gesetze, um Rechte und Pflichten zu verbinden und der Gerechtigkeit ein Ziel zu geben.“69
Dabei müssen Gesetze laut Rousseau, um als Gesetze gelten zu können, vollkommen allgemein sein; nur als solche gelten sie auch unbedingt: „Aber wenn das ganze Volk über das ganze Volk bestimmt, sieht es sich nur selber, und wenn sich jetzt ein Verhältnis bildet, dann zwischen einem Ganzen unter einem Gesichtspunkt und wiederum dem Ganzen unter einem anderen Gesichtspunkt, ohne irgendeine Teilung. Dann ist die Sache, über die bestimmt wird, so allgemein wie der bestimmende Wille. Das Ergebnis eines solchen Vorgangs nenne ich ein Gesetz.“70
Die angeführte Passage macht deutlich, dass das notwendige Allgemeine der Gesetze zwei Kriterien beinhaltet: Das formale Allgemeinheitskriterium, welches besagt, dass ein Beschluss nur dann als Gesetz gilt, wenn er dem Willen aller Bürger entstammt. Jeder Bürger ist gleichberechtigter Mitgesetzgeber, deshalb darf niemand von der Entscheidung ausgeschlossen werden. Das inhaltliche Allgemeinheitskriterium besagt, dass nur ein Beschluss Gesetz hei67 68 69 70
Ebd., II, 1, S. 36f. Ebd., II, 6, S. 51. Ebd., II, 6, S. 51. Ebd., II, 6, S. 52f.
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ßen kann, der sich inhaltlich auf die Allgemeinheit bezieht. Durch dieses Kriterium ist die Gleichbehandlung der Adressaten gesichert: das Gesetz muss die allgemeinen Lebensumstände gestalten und daher jeden in gleicher Weise treffen.71 Damit verkörpert auch das allgemeine Gesetz als abstraktiv-ideelle Norm die absolute Gerechtigkeit einer möglichen Gesellschaftsordnung. Wie bereits angemerkt, wird eine solche abstraktiv-ideelle Norm als den realen Gestaltungen vorgegeben verstanden, ohne dabei selbst in irgendeiner konkreten Form wirklich zu sein: „Wenn ich sage, daß der Gegenstand der Gesetze immer allgemein ist, meine ich damit, daß das Gesetz die Untertanen als Gesamtheit und Handlungen für abstrakt betrachtet; niemals sieht es im Menschen das Individuum noch in der Handlung das Einzelne. (...) Da das Gesetz die Gesamtheit des Willens und seines Anliegens vereint, ist das, was ein Mensch, wer immer er sein mag, eigenmächtig bestimmt, kein Gesetz; selbst die Weisung des Souveräns ist im Einzelfall kein Gesetz, sondern eine Verordnung, und keine souveräne Handlung, sondern ein Verwaltungsakt.“72
Rousseau führt hier an, dass er nur einen durch Gesetz regierten Staat als Republik bezeichne, denn: „Das öffentliche Anliegen und die ‚öffentliche Sache‘ besitzen nur dort ihre Gültigkeit.“73
Schließlich seien Gesetze im Sinne des schlechthin Allgemeinen der Ausdruck der Selbstherrschaft des Volkes über sich und damit zugleich Ausdruck der Freiheit: „Mit dieser Einsicht wird augenblicklich klar, (...) wie man frei und den Gesetzen unterworfen ist, wenn sie doch nur zum Inhalt haben, was wir alle wünschen.“74
2.6 Die Figur des Législateur Im Anschluss an seine Ausführungen zum „System der Gesetzgebung“ stellt Rousseau sich die grundlegende Frage, wie es überhaupt zum Abschluss des Gesellschaftsvertrags beziehungsweise zu der „schwierigen Unternehmung“, sich an ein „System der Gesetzgebung“ zu machen, kommen kann. So weiß er sich mit Hobbes darin einig, dass sich aus der natürlichen Ungeselligkeit des Menschen eine Ausrichtung auf das Gemeinwohl nicht erklären lässt. Zum 71 72 73 74
Vgl. Kersting, Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, S. 117. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, II, 6, S. 53f. Ebd., II, 6, S. 54. Ebd., II, 6, S. 53. Vgl. auch Cassirer, Das Problem Jean-Jacques Rousseau, S. 18f und Kersting, Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, S. 120.
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Abschluss des sechsten Kapitels stellt Rousseau sich deshalb die Frage, wie es zur Begründung einer gerechten Gesellschaftsordnung kommen kann, wenn der „blinden Menge“ die notwendige Einsicht dazu fehlt: „Das den Gesetzen unterworfene Volk muß deren Urheber sein; nur jene, die sich zusammentun, haben das Recht, die Bedingungen dieser Gemeinschaft zu bestimmen: Aber wie geschieht das? Etwa durch ein gemeinsames Einverständnis, durch eine plötzliche Eingebung? (...) Wie kann eine blinde Menge, die oft nicht weiß, was sie will, weil sie nur selten ahnt, was gut für sie ist, aus sich heraus an eine so große und schwierige Unternehmung wie ein System der Gesetzgebung schreiten?“75
Zur Lösung dieses Problems bedient sich Rousseau der Figur des großen Gesetzgebers. Er ist ein gottgleicher Schöpfer, der die große Unternehmung wagt, ein Volk zu begründen. Dabei führt Rousseau an, dass der Législateur mit der Begründung eines Volkes die Natur der Menschen verändert. Er wandelt jedes Individuum, „das in sich selber ein vollkommenes und einsames Ganzes ist“ zu einem „moralischen“ Wesen um: „Wer die Unternehmung wagt, ein Volk zu begründen, muß sich dazu imstande fühlen, gewissermaßen die menschliche Natur zu verändern; er muß jedes Individuum, das in sich selber ein vollkommenes und einsames Ganzes ist, zum Teil eines größeren Ganzen verwandeln, aus dem dieses Individuum sozusagen sein Leben und Sein beziehen soll; es geht darum, die Verfassung des Menschen zur eigenen Stärkung hin zu verändern; das körperliche und unabhängige Wesen, das wir alle von der Natur erhalten haben, zu ersetzen durch ein Leben als Teil eines Größeren und als moralische Existenz.“76
Rousseau schreibt dem Législateur mithin schöpferische Fähigkeiten zu. Der große Gesetzgeber muss außerhalb der Herrschaftsgewalt stehen; er muss die Verfassung der Republik schaffen, ohne selbst ein Mitglied des neuen Gemeinwesens zu sein. Seine Autorität ist also nicht die des Souveräns.77 Rousseau bestimmt den Législateur als den Gesetzgeber der vierten Gesetzesart. Diese vierte Gesetzesart ist „die wichtigste von allen: sie wird weder auf Marmor noch in Metall geritzt, sondern in das Herz der Bürger; sie macht die eigentliche Verfassung des Staates aus (...) Ich rede von den Sitten und Gebräuchen und vor allem von der Meinung“78. Mithilfe des Gesetzgebers, der den von Natur aus ungeselligen Menschen zu einem moralischen Wesen macht, versucht Rousseau das normative Problem der Theorie des Gesellschaftsvertrags zu lösen. Die Frage nämlich, wie das in der Theorie des Gesellschaftsvertrags ausformulierte „reine“ Sollen, das, um Geltung beanspru75 76 77 78
Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, II, 6, S. 54. Ebd., II, 7, S. 56f. Vgl. ebd., II, 7, S. 57f. Vgl. auch Kersting, Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, S. 169. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, II, 12, S. 75f.
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chen zu können, von den gegebenen Verhältnissen der Gesellschaft strikt geschieden sein muss, gleichwohl zu einer realen Möglichkeit der Gesellschaft wird. Rousseau benennt das normative Problem wie folgt: „Damit ein in Entstehung begriffenes Volk die weisen Grundsätze der Politik schätzen und den Grundregeln der Staatsräson folgen lernt, müßte die Wirkung zur Ursache werden und der gemeinschaftliche Sinn, der das Werk des Staates zu sein hat, müßte dessen Errichtung vorausgehen, ebenso wie die Menschen schon vor den Gesetzen sein müßten, was sie durch die Gesetze erst werden sollen.“79
Kaum, dass Rousseau solchermaßen das Problem einer „reinen“, abstraktivideellen Norm benannt hat, führt er empirische Bedingungen an, die die Realisierung einer solchen Norm gewährleisten sollen. Diese sind das richtige Alter eines Volkes, der richtige Zeitpunkt des Erlasses der Verfassung und das räumliche Kriterium der richtigen Größe eines Staates und der dazu passenden Bevölkerungszahl.80 Damit benennt Rousseau Bedingungen, die in dem von ihm angeführten Sinne bereits zur Voraussetzung machen, was der Gesellschaftsvertrag erst bewirken soll. Einer wirklichen Lösung wird das normative Problem somit nicht zugeführt. Rousseau führt darüber hinaus vielmehr auch an, dass der Législateur Beistand durch die bürgerliche Religion erhalte. Im letzten Kapitel des Gesellschaftsvertrags formuliert er ein bürgerliches Glaubensbekenntnis, das dadurch zur Sicherung der sozialen Kohärenz beiträgt, dass es von allen dissensriskanten Glaubenssätzen bereinigt ist: „Die Dogmen der bürgerlichen Religion müssen einfach sein, es darf nur wenige davon geben, und sie müssen mit Genauigkeit, ohne Erklärungen und Kommentare, zum Ausdruck kommen. Das Vorhandensein der allmächtigen, wissenden, Gutes bewirkenden, vorhersehenden und fürsorgenden Gottheit, das zukünftige Leben, das Glück der Gerechten, die Bestrafung der Bösen, die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze – dies alles sind positive Dogmen.“81
Obwohl Rousseau, wie Wolfgang Kersting feststellt, der Religion keine konkrete Funktion zuschreibt, lässt seine Abhandlung darauf schließen, dass sie (ganz ebenso wie der Législateur) dazu dienen soll, die Bürger gegen ihr unmittelbares Selbsterhaltungsinteresse zu motivieren. Kersting führt an, sie könne die Menschen dazu motivieren, ihr Leben für die Republik zu opfern, sie also zu Soldaten zu machen.82 79 80 81 82
Ebd., II, 7, S. 59. Vgl. ebd., II, 8-10, S. 61-71. Ebd., IV, 8, S. 185. Vgl. Kersting, Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, S. 197ff.
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Rousseaus Gesellschaftsvertrag
Die Notwendigkeit, den Législateur und die bürgerliche Religion in die Konzeption des Gesellschaftsvertrags einzuführen, ergibt sich aus der für Rousseau grundlegenden Annahme von der unbedingten Selbstbestimmung des Menschen. Diese macht die gegenseitige Verpflichtung, auf die der Abschluss des Gesellschaftsvertrags zurückgeht, zu einem theoretischen Problem. Die Problematik zeigt sich in der in der Auseinandersetzung mit der dem Législateur häufig gestellten Frage, wie Rousseaus These von der unbedingten Selbstbestimmung des Menschen mit dem heteronomen Eingriff des Législateurs (und der transzendierenden Funktion der Religion) zu vereinbaren sei.83 Mit der Feststellung, dass die vertragstheoretische Annahme von der unbedingten Selbstbestimmung des Menschen nicht haltbar ist, verliert die Problematik ihre theoretische Bedeutung.
3
Das Problem des Normativen im Verständnis von Rousseaus Gesellschaftsvertrag
Die von Rousseau in seiner Abhandlung „Zum Gesellschaftsvertrag“ ausgearbeitete Begründung einer gerechten sozialen Ordnung gilt deshalb als die radikalste Ausarbeitung einer vertragstheoretischen Begründung gerechter Gesellschaftsordnung, weil sie versucht, ohne jeden Bezug zur Empirie auszukommen.84 Die Theorie des Gesellschaftsvertrags bringt damit die in der frühen Neuzeit gewonnene Einsicht zum Ausdruck, dass der gegebenen Ordnung kein Anhalt für eine gesollte, gerechte Ordnung zu entnehmen ist. Hinter der Ausformulierung einer „rein“ normativen Theorie steht deshalb die Annahme, dass nur eine solche normative Theorie Gültigkeit beanspruchen darf, deren Begründung von jeglichen empirischen Beimengungen bereinigt ist. Rousseau hat dieser normativen Annahme im „Émile“ Ausdruck verliehen und dabei seine im Gesellschaftsvertrag begründeten Prinzipien des Staatsrechts
83
84
Vgl. Imboden, Rousseau und die Demokratie, S. 12; R. Brandt & K. Herb (2000), Einführung in Rousseaus Gesellschaftsvertrag, in: Jean-Jacques Rousseau. Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, hrsg. von R. Brandt & K. Herb, Berlin, S. 3-25, S. 10f; Kersting, Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, S. 198; B. Gagnebin (1964), Die Rolle des Gesetzgebers, wieder abgedruckt in: Jean-Jacques Rousseau. Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, hrsg. von R. Brandt & K. Herb, Berlin 2000, S. 135-150 und M. Rehm (2000), „Ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis“: Zivilreligion als Vollendung des Politischen?, in: Jean-Jacques Rousseau. Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, hrsg. von R. Brandt & K. Herb, Berlin, S. 213-240. Vgl. Kersting, Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, S. 19.
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als einen solchen rein theoretisch bestimmten Maßstab angeführt, an dem sich die Gesetze eines Landes messen lassen sollen: „Ehe man beobachtet, muß man Regeln für seine Beobachtung aufstellen: Man muß einen Maßstab aufstellen, nach dem man die genommenen Maße ausrichtet. Unsere Prinzipien des Staatsrechts sind dieser Maßstab. Unsere Maße sind die politischen Gesetze des Landes.“85
In der Vorstellung, dass es darum geht, einen Maßstab auszuweisen, an dem die faktischen Gegebenheiten gemessen werden können, und dieser Maßstab, um als solcher dienen zu können, von den faktischen Gegebenheiten strikt getrennt sein muss, kommt ein philosophisches Normativitätsverständnis zum Ausdruck, das sich bis heute in der Annahme hält, dass das Sollen nicht aus dem Sein abzuleiten ist.86 Dass Rousseaus Theorie des Gesellschaftsvertrags in diesem Sinne als eine „rein“ normative Theorie verstanden werden muss, ist weitgehend unstrittig. Kant hat sie deshalb als sein philosophisches Vorbild angesehen.87 Und in der ersten Version des Gesellschaftsvertrags (Genfer Manuskript) hat Rousseau seine Theorie des Gesellschaftsvertrags auch noch selbst in diesem Sinne als eine „rein“ normative Theorie dargestellt: „Es gibt tausend Arten, um Menschen zu versammeln, aber nur eine einzige, um sie zu vereinen. Aus diesem Grund liefere ich in diesem Werk >im Gesellschaftsvertrag, I. F.-G.@ nur eine einzige Methode zur Bildung politischer Gesellschaften, wenngleich es in der Vielzahl von Anhäufungen, die augenblicklich unter diesem Namen existieren, vielleicht nur zwei gibt, die auf dieselbe Weise gebildet wurden und nicht eine einzige auf die Art, die ich vorstelle. Aber ich suche das Recht und die Vernunft und streite nicht über Tatsachen (...) Es geht nicht um die Frage, was ist, sondern darum, was angemessen und gerecht ist, nicht um die Gewalt, der zu gehorchen man gezwungen ist, sondern um diejenige, die anzuerkennen man verpflichtet ist.“88
Es muss aber als fraglich angesehen werden, welcher Geltungsanspruch der Theorie des Gesellschaftsvertrags als einer solchen „rein“ normativen Theorie tatsächlich zugeschrieben werden kann.89 Im Anschluss an Rousseau hat Kant dieses Problem, das Problem der erkenntnistheoretischen Bestimmung des Normativen, ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit gerückt.90 Rousseau selbst 85 86 87 88 89 90
J.-J. Rousseau, Émile, zitiert nach Herb, Zur Grundlegung der Vertragstheorie, S. 30. Vgl. L.H. Eckensberger & U. Gähde (1993), Einleitung, in: L.H. Eckensberger & U. Gähde (Hg.), Ethische Normen und empirische Hypothese, Frankfurt a. M., S. 7-19, S. 7. Vgl. Kersting, Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, S. 19 sowie R. Brandt (2000), Der Contrat social bei Kant, in: Jean-Jacques Rousseau. Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, hrsg. von R. Brandt & K. Herb, Berlin, S. 271-294. J.-J. Rousseau, Du Contrat Social. Essai sur la Forme de la République (Première Version), zitiert nach Herb, Zur Grundlegung der Vertragstheorie, S. 29f. Vgl. Herb, Zur Grundlegung der Vertragstheorie, S. 31. Vgl. ebd., S. 30. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kapitel D, insb. Abschnitt 2.
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Rousseaus Gesellschaftsvertrag
geht dieser Frage nicht systematisch nach. Wie sich gezeigt hat, kommt die angesprochene Problematik gleichwohl auch in seinen Ausführungen immer wieder zum Ausdruck. Dies am eindrücklichsten in der Figur des Législateur. Dieser muss, wie oben angeführt, in gottgleicher Manier aus dem Nichts heraus die Natur der Menschen verändern, um ihnen die Vernunft des Gesellschaftsvertrags einsichtig zu machen.91 Darüber hinaus zeigt sich das Problem darin, dass es Rousseau tatsächlich nicht gelingt, eine „rein“ normative Theorie zu konzipieren. Neben dem großen Gesetzgeber führt er so auch empirische Bedingungen an, die die Begründung eines Volkes begünstigen sollen.92 Aus dem Rahmen einer „rein“ normativ begründeten Theorie fällt die Betrachtung von Kriterien wie der richtigen geographischen Größe eines Landes und der richtigen Bevölkerungszahl vor allem dadurch, dass sie in einer Form als bereits gegeben angenommen werden müssen und damit zur Voraussetzung machen, was doch erst verwirklicht werden soll. Die Problematik im Verständnis des Normativen wird andererseits aber auch daran deutlich, dass Rousseau angesichts der realen gesellschaftlichen Verhältnisse – wie er sie vor allem für seine „Considération sur le Gouvernement de Pologne“ und für seine Arbeiten zur politischen Gestaltung Kretas in den Blick nimmt93 – die Einführung eines durch die Volkssouveränität begründeten allgemeinen, unbedingt geltenden Gesetzes tatsächlich für unmöglich hält: „Mettre la loi au-dessus de l’homme est un problème en politique que je compare à la quadrature du cercle en géométrie.“94
Auch lehnt Rousseau in Anbetracht der historisch gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse jegliche Formen einer politischen Revolution ab – und dies ganz ausdrücklich, falls die Revolutionäre meinen sollten, sich dabei auf seine „rein“ normative Theorie des Gesellschaftsvertrags beziehen zu können.95 Gerade auch im Anschluss an diese letzten Äußerungen Rousseaus wird deutlich, dass das normative Problem im Verständnis des Gesellschaftsvertrags ungeklärt bleibt. Rousseau will zwar die in der Theorie des Gesellschaftsvertrags aufgezeigten Maßstäbe einer gerechten Gesellschaftsordnung 91 92 93 94 95
Vgl. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, II, 7, S. 56f. Vgl. ebd., II, 8, 9, 10, S. 61-71. Vgl. Imboden, Rousseau und die Demokratie, S. 21. Rousseau, Considérations sur le gouvernement de Pologne, zitiert nach Imboden, Rousseau und die Demokratie, S. 21. Vgl. auch Herb, Zur Grundlegung der Vertragstheorie, S. 42. Diese Haltung Rousseaus ist dokumentiert bei R. Brandt & K. Herb, Einführung in Rousseaus Gesellschaftsvertrag, S. 6.
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als „wirkliche“ Maßstäbe verstanden wissen, als Maßstäbe also, an denen sich die politische Wirklichkeit auch tatsächlich messen lassen soll und ausrichten können soll, weiß aber, dass die Maßstäbe selbst in keiner Form in der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorzufinden sind. Max Imboden stellt infolgedessen fest, dass Rousseaus Aussagen zur Konstitution einer gerechten Gesellschaftsordnung in einer erkenntnistheoretisch unbestimmten Schwebe bleiben: „So steht seine Theorie zwischen Hellsicht und Halluzination, zwischen interpretierender Konstruktion und Postulat, zwischen Idee und Programm.“96
96
Imboden, Rousseau und die Demokratie, S. 21.
B Konsens als Telos der Sprache. Das Problem der sprechakttheoretischen Begründung kommunikativen Handelns
1
Das Telos der Sprache
Die Theorie der deliberativen Politik, wie Habermas sie entwickelt hat, greift auf die von Rousseau in der Theorie des Gesellschaftsvertrags entwickelte Vorstellung zurück, dass sich die freie und gleiche Selbstbestimmung der Bürger in einem auf Dauer gestellten Verfahren der demokratischen Willensbildung verwirklicht.1 Dabei hat allerdings die normative Begründung des demokratischen Verfahrens zur Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse in Habermas’ Ausformulierung der deliberativen Theorie der Politik eine ungleich systematischere Fundierung erhalten, als dies in Rousseaus Konzeption des Gesellschaftsvertrags der Fall ist. So führt Habermas das demokratische Verfahren zur Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse auf ein in der Sprache angelegtes Potential der Vernunft zurück. Nur mit dieser in der Sprache bereits angelegten Form von Vernunft könne, wie Habermas in Bezugnahme auf Hobbes anführt, das ungeklärte Problem der Vertragstheorie gelöst werden.2 So macht Habermas gegenüber der vertragstheoretischen Annahme von der natürlichen Ungeselligkeit des Menschen die vorbehaltlose Verständigung als das Telos der Sprache aus.3 Mit dem Telos der Sprache sieht Habermas die Menschen darauf verpflichtet, Konflikte über ein Verfahren vorbehaltloser Verständigung zu klären. Den auf eine vorbehaltlose Verständigung hin angelegten Sprachgebrauch sucht Habermas wiederum über die Sprechakttheorie zu begründen.
1 2 3
Vgl. Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie, S. 283. Vgl. J. Habermas (1988), Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktionen und Lebenswelt, in: ders., Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt a. M., S. 63-104, S. 82. Vgl. Habermas, TdkH, Bd. 1, S. 387.
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Konsens als Telos der Sprache
Die Sprechakttheorie wurde von John L. Austin begründet und erhielt durch John R. Searle ihre für den Stand der Forschung repräsentative Form.4 Ihre grundlegende Einsicht ist, dass mit performativen Äußerungen reale Handlungen vollzogen werden. Die Sprechakttheorie schließt damit an die Grundbegrifflichkeit der Handlungstheorie an und ist deshalb in besonderer Weise dazu geeignet, dem Verständnis sprachlich vermittelter Interaktion nachzugehen. Ob sich allerdings Habermas’ emphatischer Begriff der vorbehaltlosen Verständigung mit ihr begründen lässt, ist überaus fraglich. Habermas hat im Laufe der Zeit mehrfach auf Kritiken reagiert, die sich gegen seine in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ angeführte Bestimmung des – sprechakttheoretisch begründeten – kommunikativen Handelns gerichtet haben.5 So hat er zuletzt in den „Sprechakttheoretischen Erläuterungen zum Begriff der kommunikativen Rationalität“ eine weiter ausdifferenzierte Bestimmung des über den Originalmodus der Sprache begründeten Konsenses eingeführt.6 Das grundlegende Problem seiner Konzeption bleibt gleichwohl, dass der Handlungskoordinierung das Kriterium der Zustimmungsfähigkeit über Geltungsansprüche zugrunde gelegt wird. Es ist diese Annahme, aus der folgt, dass Gesellschaften darauf angelegt sind, prinzipiell alle Formen sozialer Auseinandersetzung über einen einverständlichen Konsens zu regeln. Welche konzeptionellen Probleme dieses Verständnis für das Verständnis moderner Gesellschaften mit sich bringt, zeigt sich in der ebenfalls in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ ausgearbeiteten Vorstellung eines zweistufigen Gesellschaftsbegriffs. Bevor es um eine Auseinandersetzung mit diesem geht, soll jedoch zunächst das sprachphilosophisch begründete Problem in dem Versuch einer sprechakttheoretischen Begründung des kommunikativen Handelns aufgezeigt werden.
4 5
6
Vgl. J. L. Austin (1955/2002), Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Stuttgart und J. R. Searle (1969/1971), Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt a. M. Vgl. Habermas, Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktionen und Lebenswelt, S. 63-104; J. Habermas (1988), Zur Kritik der Bedeutungstheorie, in: ders., Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt a. M., S. 105-135 und J. Habermas (1986/2002), Entgegnung, in: A. Honneth & H. Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘, 3. Aufl., Frankfurt a. M., S. 327-405. Vgl. J. Habermas (1996), Sprechakttheoretische Erläuterungen zum Begriff der kommunikativen Rationalität, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 50, S. 65-91.
Konsens als Telos der Sprache
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Handeln, Kommunikation und Reflexion
In der „Theorie des kommunikativen Handelns“ greift Habermas drei in den Sozialwissenschaften gängige Handlungskonzeptionen auf, um zunächst den Unterschied zwischen Handeln und (reflexiver) Kommunikation herauszuarbeiten.7 Diese annäherungsweise Bestimmung der kommunikativen Rationalität sowie der Diskursrationalität hat in späteren Abhandlungen eine genauere Bestimmung erfahren.8 Zunächst führt Habermas jedoch das teleologische, normenregulierte und das dramaturgische Handeln als Handlungsformen ein, die sich insofern von dem kommunikativen Handeln unterscheiden, als allein Letzteres auf den unverkürzten Gebrauch der Sprache zurückgeht. Die zuvor genannten Handlungstypen unterscheiden sich Habermas zufolge untereinander durch den jeweils zugrunde gelegten Weltbezug: Das telelogische Handeln setzt allein eine objektive Welt voraus und ist als ein Handeln zu verstehen, bei dem der Handelnde einen Zweck verwirklicht oder das Eintreten eines erwünschten Zustandes bewirkt, indem er „die in der gegebenen Situation erfolgsversprechenden Mittel wählt und in geeigneter Weise anwendet“.9 Dieses instrumentelle Handlungsmodell muss zum strategischen Handlungsmodell erweitert werden, sobald in das Erfolgskalkül des Handelnden „die Erwartung von Entscheidungen mindestens eines weiteren zielgerichteten Aktors eingehen kann“.10 Das normenregulierte Handeln, wie es durch Durkheim und Parsons paradigmatische Bedeutung gewonnen hat, setzt hingegen sowohl die objektive Welt bestehender Sachverhalte als auch eine soziale Welt voraus. Dabei besteht die soziale Welt aus „einem normativen Kontext, der festlegt, welche Interaktionen zur Gesamtheit berechtigter interpersonaler Beziehungen gehören“.11 Hier stellt sich die Frage nach der Rationalität des Handelns als die Frage, ob das Handeln mit bestehenden Normen übereinstimmt, sowie in der Frage, ob die bestehenden Normen zu Recht bestehen.12 Das dramaturgische Handeln schließlich setzt, wie Habermas im Anschluss an Goffman anführt, eine Innen- und eine Außenwelt voraus. Beim dramaturgischen Handeln verfolgt der Handelnde eine Selbstdarstellung gegenüber einem Publikum, wobei sich die Frage stellt, ob der Aktor
7 8 9 10 11 12
Vgl. Habermas, TdkH, Bd. 1, S. 126ff. Zuletzt in Habermas, Sprechakttheoretische Erläuterungen, S. 67ff. Vgl. Habermas, TdkH, Bd. 1, S. 126f. Vgl. ebd., S. 127. Vgl. ebd., S. 132. Vgl. ebd., S.133f.
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„meint, was er sagt, oder ob er die Erlebnisse, die er äußert, bloß vortäuscht“.13 Von diesen Handlungsmodellen setzt Habermas das kommunikative Handeln ab. Es unterscheide sich dadurch von den anderen Handlungstypen, dass es auf der Interaktion zwischen mindestens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten beruht.14 Dabei sei eben entscheidend, dass der Sprache als Medium unverkürzter Verständigung eine entscheidende Stellung zukommt. Habermas hebt hervor, dass die anderen Handlungsformen zwar auch Sprache als Medium nutzen, aber nur das kommunikative Handeln die Sprache als ein Medium unverkürzter Verständigung nutze. Dabei bezögen sich Sprecher und Hörer (im Unterschied zu handelnden Akteuren) „gleichzeitig, auf etwas in der objektiven, sozialen und subjektiven Welt (...), um gemeinsame Situationsdefinitionen auszuhandeln“.15 Der über die Sprache vermittelte Weltbezug der kommunikativ Handelnden sei demnach nicht nur reflexiv und mittelbar, sondern auch umfassender als in den anderen Formen des Handelns: „Für das kommunikative Handlungsmodell ist Sprache allein unter dem pragmatischen Gesichtspunkt relevant, daß Sprecher, indem sie Sätze verständigungsorientiert verwenden, Weltbezüge aufnehmen, und diese nicht nur wie im teleologischen, normenregulierten oder dramaturgischen Handeln direkt, sondern auf eine reflexive Weise. Die Sprecher integrieren die drei formalen Weltkonzepte, die in den anderen Handlungsmodellen einzeln oder paarweise auftreten, zu einem System und setzen diese gemeinsam als einen Interpretationsrahmen voraus, innerhalb dessen sie eine Verständigung erzielen können. Sie nehmen nicht mehr geradehin auf etwas in der objektiven, sozialen oder subjektiven Welt Bezug, sondern relativieren ihre Äußerungen an der Möglichkeit, daß deren Geltung von anderen Aktoren bestritten wird. Verständigung funktioniert als handlungskoordinierender Mechanismus nur in der Weise, daß sich die Interaktionsteilnehmer über die beanspruchte Gültigkeit ihrer Äußerungen einigen, d.h. Geltungsansprüche, die sie reziprok erheben, intersubjektiv anerkennen.“16
Während Habermas in dieser Bestimmung die reflexive Dimension des kommunikativen Handelns betont, muss es ihm im Rahmen einer Gesellschaftstheorie um die Frage konkreter Interaktionen gehen. In Hinblick auf diese unterscheidet Habermas in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ strategisches und kommunikatives Handeln. Beide Formen des Handelns müssten dabei nicht nur analytisch strikt getrennt werden, sie seien auch empirisch als zwei differente Formen nachweisbar.17 Ihre Unterscheidung führt Habermas 13 14 15 16 17
Vgl. ebd., S. 139; die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Vgl. ebd., S. 128. Vgl. ebd., S. 142. Ebd., S. 148; die Hervorhebungen entsprechen dem Original. „Weil die Struktur des verständigungsorientierten Sprachgebrauchs den kommunikativ Handelnden Einstellungen und Perspektiven auferlegt, die mit der unvermittelt am eigenen Erfolg
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zunächst auf eine erfolgs- und eine verständigungsorientierte Einstellung der Handelnden zurück, die er prinzipiell als nicht aufeinander reduzierbar verstanden wissen will: „Indem ich strategische und kommunikative Handlungen als Typen bestimme, gehe ich davon aus, daß sich konkrete Handlungen unter diesen Gesichtspunkten klassifizieren lassen. Ich möchte mit ‚strategisch‘ und ‚kommunikativ‘ nicht nur zwei analytische Aspekte bezeichnen, unter denen sich dieselbe Handlung einmal als wechselseitige Beeinflussung von zweckrational handelnden Gegenspielern, und zum anderen als Prozeß der Verständigung zwischen Angehörigen einer Lebenswelt beschreiben lassen. Vielmehr lassen sich soziale Handlungen danach unterscheiden, ob die Beteiligten entweder eine erfolgs- oder eine verständigungsorientierte Einstellung einnehmen.“18
In der hier von Habermas vorgebrachten Unterscheidung deutet sich bereits die mit der Vorstellung einer vorbehaltlos verständigungsorientierten Handlungskoordinierung verbundene Problematik an. So ist die Unterscheidung nämlich insofern irreführend, als sie suggeriert, kommunikatives Handeln sei in gar keiner Weise erfolgsorientiert.19 Das trifft jedoch nicht zu, wie Habermas später selbst klarstellt.20 Denn als Erwiderung auf mannigfache Kritiken verdeutlicht Habermas, es gelte, dass die Erfolgsorientierung des kommunikativen Handelns unter anderen Bedingungen stehe als die des strategischen Handelns. Die eigentliche Differenz bestünde zwischen einer egozentrischen und einer nicht-egozentrischen Verfolgung der je eigenen Zwecke. Kommunikatives Handeln koordiniere „die Handlungspläne der beteiligten Aktoren nicht über egozentrische Erfolgskalküle, sondern über Akte der Verständigung“.21 Die teleologische Grundstruktur allen Handelns dürfe auch in den sozialen Interaktionen nicht übersehen werden.22
18 19
20 21 22
ausgerichteten kausalen Einflußnahme auf den Gegenspieler unvereinbar sind, unterscheide ich aber die beiden kontroversen Handlungstypen nicht nur unter analytischen Gesichtspunkten. Auch der soziologische Beobachter ist grundsätzlich in der Lage, kommunikatives von strategischem Handeln anhand der Einstellungen zu unterscheiden, die aus der Aktorperspektive eine vollständige Alternative darstellen.“ Habermas, Entgegnung, S. 366; die Hervorhebung entspricht dem Original. Habermas, TdkH, Bd. 1, S. 385f; die Hervorhebung entspricht dem Original. Vgl. auch Habermas, Zur Kritik der Bedeutungstheorie, S. 132f. Vgl. E. Tugendhat (1985), Habermas on Communicative Action, wieder abgedruckt in: ders., Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M., S. 433-440, S. 433ff; A. Dorschel (1990), Handlungstypen und Kriterien. Zu Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 44, S. 220-252, S. 247f und J. Greve (1999), Sprache, Kommunikation und Strategie in der Theorie von Jürgen Habermas, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 51, S. 232-259, S. 235. Vgl. Habermas, Entgegnung, S. 364. Vgl. Habermas, TdkH, Bd. 1, S. 385. Vgl. Habermas, Entgegnung, S. 364 Fußnote 60.
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Habermas’ These von der Verständigungsorientierung als Originalmodus der Sprache
Habermas’ zentrale These, die er anhand der Sprechakttheorie zu begründen sucht, geht jedoch über die bloße Differenzierung der beiden sozialen Handlungstypen hinaus. Sie behauptet vielmehr, dass ein interner Zusammenhang zwischen dem Gebrauch der Sprache und einer kommunikativen respektive verständigungsorientierten Absicht besteht: „Verständigung wohnt als Telos der menschlichen Sprache inne. Zwar verhalten sich Sprache und Verständigung nicht wie Mittel und Zweck zueinander. Aber wir können das Konzept der Verständigung nur klären, wenn wir angeben, was es heißt, Sätze in kommunikativer Absicht zu verwenden. Das Konzept des Sprechens und der Verständigung interpretieren sich wechselseitig.“ 23
Das beinhaltet, dass laut Habermas die Verständigungsorientierung gegenüber einer strategischen Einstellung im Sprachgebrauch Vorrang hat. In diesem Sinne soll das kommunikative Handeln als die originäre Form des sozialen Handelns ausweisbar sein, zu dem sich das strategische und das latent strategische Handeln parasitär verhalten. Der Vorrang der verständigungsorientierten Absicht soll dabei insbesondere in den praktischen Diskursen gelten, bei denen es um die tagtägliche Koordinierung von Interessen im Rahmen einer soziokulturellen Lebensführung geht. Habermas will mit anderen Worten anhand der Sprechakttheorie zeigen, dass ein Konsens über Geltungsansprüche den Grundmodus der Interaktion darstellt, wohingegen allen anderen Formen der Verständigung ein abgeleiteter Status zugeschrieben werden muss. Dabei werden Habermas zufolge in einem verständigungsorientierten Sprachgebrauch verschiedene Einzelhandlungen so zu einem Interaktionszusammenhang zusammengefügt, dass sie in diesem aufgehen; sie werden in ein einverständliches Handeln transformiert: „Der Begriff des kommunikativen Handelns ist so angesetzt, daß die Akte der Verständigung, die die teleologisch strukturierten Handlungspläne verschiedener Teilnehmer verknüpfen und damit Einzelhandlungen zu einem Interaktionszusammenhang erst zusammenfügen, nicht ihrerseits auf teleologisches Handeln reduziert werden können.“24
Um die These von dem verständigungsorientierten Originalmodus des Sprachgebrauchs zu begründen, wendet Habermas sich Austins Bestimmung von Sprechhandlungen zu. Dabei arbeitet er ein Verständnis von Sprechakten 23 24
Habermas, TdkH, Bd. 1, S. 387. Ebd., S. 388.
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heraus, das den sprachlichen Mechanismus der Handlungskoordinierung mithilfe eines illokutionären Bindungseffekts erklären soll, der sich aus der Zustimmung des Hörers zu einem Sprechaktangebot ergibt. Dieser Bindungseffekt gründet auf einem emphatischen Begriff der Verständigung.25 Er geht darin über eine bloße Sinn-Verständigung hinaus, dass er zudem eine Einigung beinhaltet, die über den mit einem Sprechakt meist implizit erhobenen Geltungsanspruch erfolgt. Mit diesem voraussetzungsvollen Begriff der Verständigung und mit der Bestimmung von Perlokutionen, die Habermas nicht zum kommunikativen, sondern zum strategischen Sprachgebrauch rechnet, entwickelt Habermas jedoch ein Verständnis von Sprechakten, das sich in problematischer Weise von dem Austins unterscheidet.
4
Das sprechakttheoretische Verständnis von Illokution und Perlokution
Austin hat bekanntlich drei Momente eines Sprechaktes unterschieden: das lokutorische, das illokutorische und das perlokutorische. Mit dem lokutorischen Moment wird zunächst grundlegend festgestellt, dass ein Sprecher S etwas sagt. Die Lokution bezeichnet in diesem Sinne „die vollständigen Einheiten der Rede“.26 Entscheidend für Austins Entdeckung, dass jemand etwas tut, indem er etwas sagt, ist die Illokution. „Er >der Ausdruck ‚performativ‘, I. F.-G.@ soll bedeuten, daß jemand, der eine solche Äußerung tut, damit eine Handlung vollzieht.“27
Die Illokution unterscheidet sich dadurch von der Lokution, dass sie angibt, welche Rolle eine Äußerung spielt.28 Während mit der Lokution also lediglich festgehalten wird, dass eine Äußerung mit dem propositionalen Gehalt p gemacht wurde, lässt sich mit der Illokution feststellen, in welchem Modus der Gehalt p mitgeteilt wurde. So kann der propositionale Gehalt eines Sprechaktes – heute Nachmittag schneit es – als (kognitive) Erwartung oder als Warnung geäußert werden. Austin hatte bei seiner Beobachtung, dass manche Äußerungen reale Handlungen darstellen, zunächst Äußerungen im Sinn, die 25
26 27 28
Zum Begriff des Emphatischen in Habermas’ Verständnis der Verständigung vgl. K.-O. Apel (1994), Das Problem des offen strategischen Sprachgebrauchs in transzendentalpragmatischer Sicht. Ein zweiter Versuch, mit Habermas gegen Habermas zu denken, wieder abgedruckt in: ders., Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt a. M. 1998, S. 701-725, S. 707f. Vgl. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, S. 112. Ebd., S. 30. Vgl. ebd., S. 126.
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institutionell geregelt sind.29 Dementsprechend stellt die Sprechhandlung „Ich taufe dieses Schiff auf den Namen ‚Queen Elisabeth‘“ nur dann den regulären Vollzug einer Taufe dar, wenn sie von einer dazu berufenen Person ausgeführt wird. Im Unterschied zur Illokution, um deren Verständnis es Austin vordringlich ging30, ist die Bestimmung der Perlokution umstritten und Austins Ausführungen haben eine schwierige Diskussion um ihr Verständnis ausgelöst.31 Austin selbst führt zur Bestimmung der Perlokution an, dass mit ihrem Akt „gewisse Wirkungen erzielt werden“.32 „Wer einen lokutionären und damit einen illokutionären Akt vollzieht, kann in einem dritten Sinne auch noch eine weitere Handlung vollziehen. Wenn etwas gesagt wird, dann wird das oft, ja gewöhnlich, gewisse Wirkungen auf die Gefühle, Gedanken oder Handlungen des oder der Hörer, des Sprechers oder anderer Personen haben; und die Äußerung kann mit dem Plan, in der Absicht, zu dem Zweck getan worden sein, die Wirkungen hervorzubringen. Wenn wir das im Auge haben, dann können wir den Sprecher als Täter einer Handlung bezeichnen, in deren Namen der lokutionäre und der illokutionäre Akt nur indirekt oder überhaupt nicht vorkommen.“33
Während illokutionäre Akte meist „kraft Konvention zu einer Antwort oder Reaktion auffordern“34, werden mit perlokutionären Akten zwar Effekte erzielt, dies sei, im Unterschied zu den Wirkungen, die illokutionäre Akte erzielen, aber nur mittelbar möglich. Als Beispiel führt Austin an, dass es wenig Sinn mache, einen Satz mit „Ich erschrecke Sie damit, dass ...“ zu beginnen, während es möglich ist, als performative Äußerung einen Satz mit: „Ich warne Sie...“ einzuleiten.35 In Anlehnung an Austins Bestimmung kann deshalb als die entscheidende Bedingung des perlokutionären Effekts gelten, dass der Hörer auf eine Sprechhandlung angemessen reagiert.36 In der Regel beinhaltet dies, dass dem perlokutionären Sprechakt eine weitere Handlung angeschlossen wird.37 Im Unterschied zur Illokution ist die Art der Reaktion weder konventional geregelt noch reicht das Verständnis der Sprechhandlung selbst zur Verwirklichung der Intention des Sprechers aus. Während also der illokutionäre Akt mit der Äußerung gegeben ist, verlangen perlokutionäre Akte, wie 29 30 31 32 33 34 35 36 37
Vgl. ebd., S. 122. Vgl. ebd., S. 120. Vgl. Habermas, TdkH, Bd. 1, S. 390-393. Vgl. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, S. 137. Ebd., S. 118f. Ebd., S. 133. Vgl. ebd., S. 121 und 135. Vgl. Greve, Sprache, Kommunikation und Strategie in der Theorie von Jürgen Habermas, S. 239 und 245. Vgl. Dux, Historisch-genetische Theorie der Kultur, S. 312.
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Austin anführt, noch etwas zusätzlich.38 So ist, um die oben angeführten Beispiele noch einmal aufzunehmen, das Erschrecken des Hörers nicht dadurch schon gegeben, dass der Sprecher ihm etwas mitteilt, sondern hängt davon ab, wie der Hörer die Mitteilung aufnimmt. Die Art dieser Reaktion kann der Sprecher durch die Mitteilung selbst nicht bestimmen. Dagegen gilt, was immer ein Sprecher mit „Ich warne Sie...“ einleitet, als Warnung. Der Hörer ist gewarnt, auch wenn er sich die Warnung nicht zu eigen macht. Austin bezieht sich zur Unterscheidung der beiden Arten des Sprachgebrauchs auch auf die „performative Formel“39. Dieser zufolge manifestiert sich die illokutionäre Sprechhandlung in dem Gebrauch von Verben in der ersten Person Singular des Indikativ Präsens Aktiv.
5
Habermas’ sprechakttheoretische Begründung des kommunikativen Handelns
5.1 Das Kriterium der Zustimmungsfähigkeit Habermas setzt sich dadurch von Austins Auseinandersetzung mit Sprechhandlungen ab, dass er ihren Gebrauch unter das Ziel subsumiert, sich mit dem Hörer über etwas verständigen zu wollen und die Erreichung dieses Ziels von der Zustimmung des Hörers abhängig macht: „Der Sprecher verfolgt mit seinem Sprechakt das Ziel, sich mit einem Hörer über etwas zu verständigen. Dieses – wie wir sagen wollen – illokutionäre Ziel ist zweistufig: der Sprechakt soll vom Hörer zunächst verstanden und dann – nach Möglichkeit – akzeptiert werden.“40
Mit dieser Bestimmung versteht Habermas die Zustimmung des Hörers – obwohl sie einen über den eigentlichen Sprechakt hinausgehenden Aspekt darstellt (und nicht als in der Konvention aufgehend zu verstehen ist) – als einen Bestandteil der Illokution. Dagegen kritisiert Habermas in der „Theorie 38 39 40
Vgl. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, S. 147. Ebd., S.121. Habermas, Sprechakttheoretische Erläuterungen, S. 72. Im Einzelnen zählt Habermas die folgenden vier Kommunikationsbedingungen auf, die zur Realisierung einer kommunikativen Absicht gegeben sein müssen: „Sprecher und Adressat, die eine gemeinsame Sprache beherrschen (...); eine von beiden Seiten inspizierbare Sprechsituation; ein intersubjektiv geteiltes (oder sich hinreichend ‚überlappendes‘) Hintergrundverständnis; eine lokal situierte Äußerung des Sprechers mit einer Ja-/Nein-Stellungnahme des Adressaten.“ Habermas, Sprechakttheoretische Erläuterungen, S. 90.
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des kommunikativen Handelns“ Austins Verständnis, auch perlokutionäre Effekte als einen möglichen Bestandteil von Sprechhandlungen zu verstehen. Im Sinne seiner zunächst zweifachen Unterscheidung des sozialen Handelns vertritt Habermas die Ansicht, dass Interaktionen, in deren Folge perlokutionäre Effekte auftreten, als „typenverschieden“41 von verständigungsorientierten Sprechhandlungen zu verstehen seien. Er deutet perlokutionäre Effekte als ein Anzeichen für das dem kommunikativen Handeln entgegengestellte strategische Handeln: „Perlokutionäre Effekte sind ein Anzeichen für die Integration von Sprechhandlungen in Zusammenhänge strategischer Interaktion. Sie gehören zu den intendierten Handlungsfolgen oder Ergebnissen einer teleologischen Handlung, die der Aktor in der Absicht unternimmt, mit Hilfe illokutionärer Erfolge auf einen Hörer in bestimmter Weise einzuwirken.“42
Die von Austin aufgezeigte Problematik, dass der perlokutionäre Effekt einen mittelbaren Effekt von Sprechhandlungen darstellt, deutet Habermas in Anlehnung an Strawson als den Versuch der Täuschung.43 So trete der perlokutionäre Effekt nur dann ein, wenn der Aktor die Intention seines Sprachgebrauchs nicht offen zugeben kann: Perlokutionäre Ziele darf ein Sprecher, wenn er Erfolg haben will, nicht zu erkennen geben, während illokutionäre Ziele allein dadurch zu erreichen sind, daß sie ausgesprochen werden. Illokutionen werden offen geäußert; Perlokutionen dürfen nicht als solche zugegeben werden.“44
Gleichzeitig gründet Habermas’ Argument dafür, dass der verständigungsorientierte Sprachgebrauch als originärer Sprachgebrauch zu gelten habe, in der Annahme, dass sich das illokutionäre Ziel eines Sprechaktes aus der wörtlichen Bedeutung einer Äußerung ergibt. Mit diesem Verständnis von Sprechakten, demzufolge es ihr Sinn ist, genau diejenigen Absichten zu verfolgen, die dem Hörer mittels der manifesten Bedeutung des Gesagten zu erkennen
41 42 43
44
Habermas, TdkH, Bd. 1, S. 396. Ebd., S. 394. Vgl. P. F. Strawson (1964), Intention and Convention in Speech Acts, in: Philosophical Review 73, S. 439-460, S. 439ff. Seiner These vom Originalmodus des Sprachgebrauchs entsprechend verallgemeinert Habermas anfangs jedoch Strawsons Annahme, dass dem perlokutionären Sprachgebrauch die Intention unterliege, den Hörer zu täuschen. Hingegen stellt Strawson den Aspekt der Täuschung als nur einen Aspekt dar, durch den sich perlokutionäre Sprechakte von illokutionären unterscheiden. Vgl. A. W. Wood (1985), Habermas’ Defense of Rationalism, in: New German Critique 35, S. 145-164, S. 161 Fußnote 7 und Greve, Sprache, Kommunikation und Strategie in der Theorie von Jürgen Habermas, S. 244f. Habermas, TdkH, Bd. 1, S. 393.
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gegeben werden, bezieht Habermas sich auf Searle und dessen „Prinzip der Ausdrückbarkeit“: „Aber prinzipiell ist es für den Sprecher immer möglich, genau zu sagen, was er meint. Deshalb ist im Prinzip jeder Sprechakt, den man vollzieht oder vollziehen könnte, durch einen gegebenen Satz (oder durch eine gegebene Reihe von Sätzen) eindeutig bestimmbar, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, daß der Sprecher aufrichtig spricht und daß der Zusammenhang passend ist.“ 45
Während demzufolge nur (illokutionäre) Sprechakte konstitutiv für eine Verständigung sein können, seien perlokutionäre Effekte darauf angewiesen, sich mithilfe illokutionärer Effekte verständlich zu machen: „Wenn der Hörer nicht verstehen würde, was der Sprecher sagt, könnte auch ein teleologisch handelnder Sprecher den Hörer nicht mit Hilfe kommunikativer Akte veranlassen, sich in gewünschter Weise zu verhalten. Insofern ist, was wir zunächst als ‚konsequenzorientierten Sprachgebrauch‘ bezeichnet hatten, gar kein originärer Sprachgebrauch, sondern die Subsumtion von Sprechhandlungen, die illokutionären Zielen dienen, unter Bedingungen erfolgsorientierten Handelns.“46
Darin, dass sich das Verständnis des (illokutionären) Sprechaktes aus der manifesten Bedeutung des Gesagten ergibt, kommt zugleich dessen Selbstgenügsamkeit zum Ausdruck: „Die Selbstgenügsamkeit des illokutionären Aktes ist in dem Sinne zu verstehen, daß sich die kommunikative Absicht des Sprechers und das von ihm angestrebte illokutionäre Ziel aus der manifesten Bedeutung des Gesagten ergeben.“47
Mit dieser Bestimmung der Selbstgenügsamkeit verweist Habermas auf die Notwendigkeit des „vorbehaltlosen“ Gebrauchs von Sprechhandlungen. Ein wirklicher Konsens respektive Interaktionszusammenhang konstituiert sich demzufolge nur dann, wenn die Sprechhandlung nicht durch eine nicht ausgesprochene Absicht ihrer Wirkung enthoben wird. Eine Äußerung müsse für den Hörer grundsätzlich in vollem Umfang zustimmungsfähig sein. Zum kommunikativen Handeln rechnet Habermas deshalb nur solche sprachlich vermittelten Interaktionen, „in denen alle Beteiligten ihre individuellen Handlungspläne aufeinander abstimmen und daher ihre illokutionären Ziele vorbehaltlos verfolgen“.48 45 46 47 48
Searle, Sprechakte, S. 32f und S. 34ff; vgl. außerdem J. Habermas (1976), Was heißt Universalpragmatik?, wieder abgedruckt in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1984, S. 353-440, S. 403. Habermas, TdkH, Bd. 1, S. 394. Ebd., S. 389. Vgl. ebd., S. 395; die Hervorhebungen entsprechen dem Original.
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Problematisch an dieser von Habermas vorgenommenen Bestimmung des Sprechaktes ist, dass er den Sprechakt als solchen mit dem Moment der Illokution identifiziert und die Illokution in einem ganz anderen Sinn als Austin als die allgemeine Idee der vorbehaltlosen Verständigung versteht. Dies hat zur Folge, dass der Sprechakt seiner unmittelbaren Wirkung enthoben wird, die das eigentliche Ergebnis von Austins sprechakttheoretischer Analyse war. Habermas spricht ihm den Charakter einer Handlung ab. Dagegen soll seine Bedeutung Habermas zufolge in einer Verständigung über (semantische) Bedeutungen liegen. In diesem Sinne wirft Habermas auch Austin vor, ihm sei die grundlegende Unterscheidung des verständigungs- und des erfolgsorientierten Gebrauchs von Sprechakten aus dem Blick geraten. In der „Theorie des kommunikativen Handelns“ führt er dies darauf zurück, dass Austin nicht ausreichend zwischen dem „Akt der Verständigung“ und der „sprachlich vermittelten Interaktion“ unterscheide. Er neige vielmehr dazu, Sprechhandlungen „mit den sprachlich vermittelten Interaktionen selber zu identifizieren“.49 Habermas setzt dagegen die eigenständige Funktion der Sprechhandlung von anderen Handlungen ab: „Er >Austin, I. F.-G.@ hat nicht gesehen, daß Sprechhandlungen als Koordinationsmechanismen für andere Handlungen funktionieren.“50
Dadurch, dass Habermas hier zwei konkrete Formen einer Handlung unterscheidet: die eigentliche „Sprechhandlung“ und „andere Handlungen“ wird seine Abkehr von Austins grundlegenden sprechakttheoretischen Einsicht, dass „jemand, der eine solche >performative, I. F.-G.@ Äußerungen tut, damit eine reale Handlung vollzieht“51 besonders deutlich. Während also Austin mit dem illokutionären Moment einer Sprechhandlung die kommunikative Form einer realen Handlung bezeichnet, subsumiert Habermas die Bedeutung des (illokutionären) Sprechaktes unter das selbstgenügsame Ziel einer intersubjektiven Einigung über Geltungsansprüche.
49
50 51
Vgl. ebd., S. 397. Die eigenständig konstruktive Leistung der Illokution tritt mit anderen Worten dort zu Tage, wo Habermas zwischen einer Sprechhandlung und dem Interaktionszusammenhang unterscheidet, „den sie [die Sprechhandlung, I. F.-G.] durch ihre handlungskoordinierende Leistung konstituiert.“ Ebd., S. 389. Ebd., S. 397; die Hervorhebung entspricht dem Original. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, S. 30.
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5.2 Zum Verfahren der Argumentation / Die Diskursrationalität Das Ziel der intersubjektiven Einigung über Geltungsansprüche realisiert sich Habermas zufolge im Verfahren der Argumentation. Während er davon ausgeht, dass ein interner Zusammenhang zwischen der Rationalität einer Sprechhandlung und ihrer möglichen Rechtfertigung besteht, macht er zugleich deutlich, dass nur in Argumentationen die „mit einer Sprechhandlung implizit erhobenen Geltungsansprüche als solche thematisiert und mit Gründen geprüft werden“52 können. Im Verfahren der Argumentation kommt somit der originäre Modus des Sprachgebrauchs voll zur Geltung. In ihm geht es ausdrücklich um die mit dem Gebrauch von Sprechakten (meist implizit) erhobenen Geltungsansprüche: „Unter dem Stichwort ‚Handeln‘ führe ich den Kommunikationsbereich ein, in dem wir die in Äußerungen (auch in Behauptungen) implizierten Geltungsansprüche stillschweigend voraussetzen und anerkennen, um Informationen (d. h. handlungsbezogene Erfahrungen) auszutauschen. Unter dem Stichwort ‚Diskurs‘ führte ich die durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation ein, in der problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und auf ihre Berechtigung hin untersucht werden.“53
Obwohl die Diskursrationalität also nur zu gegebenem Anlass in Anspruch genommen wird, liegt sie Habermas’ Konzeption zufolge prinzipiell jedem Sprach- gebrauch zugrunde. Eben darin gründet seine Annahme vom Originalmodus des Sprachgebrauchs. Dies gilt auch, nachdem Habermas es unternommen hat, die Stellung der Diskursrationalität neu zu bestimmen: „Da die Argumentationspraxis sozusagen eine Reflexionsform kommunikativen Handelns ist, sitzt zwar die im Diskurs verkörperte Begründungsrationalität der im Alltagshandeln verkörperten kommunikativen Rationalität gewissermaßen auf; dennoch steht diese mit der epistemischen und der teleologischen auf der gleichen Stufe. Die kommunikative Rationalität bildet nicht die umfassende Struktur, sondern eine von drei Kernstrukturen, die allerdings über die – aus der kommunikativen Rationalität hervorgehende – Diskursrationalität miteinander verflochten sind.“54
52 53 54
Habermas, Sprechakttheoretische Erläuterungen, S. 72. J. Habermas (1972), Wahrheitstheorien, wieder abgedruckt in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1984, S. 127-186, S. 130. Habermas, Sprechakttheoretische Erläuterungen, S. 66f; die Hervorhebung entspricht dem Original.
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Eine Revision: Habermas’ Ausdifferenzierung des Konsens-Begriffs
Mit der Neubestimmung der Diskursrationalität reagiert Habermas auf die in den Jahren seit Erscheinen der „Theorie des kommunikativen Handelns“ erfolgten Auseinandersetzungen mit seiner These vom Originalmodus des verständigungsorientierten Sprachgebrauchs.55 Mit der in den „Sprechakttheoretischen Erläuterungen zum Begriff der kommunikativen Rationalität“ außerdem angeführten Differenzierung im Verständnis des Konsenses reagiert Habermas auch auf konzeptionelle Probleme, die sich in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ vor allem in Bezug auf die Bestimmung von Aufforderungen zeigten. Die Revision erstreckt sich dabei notwendig auch auf das Verständnis perlokutionärer Effekte. Sie hat zur Folge, dass Habermas nur noch den offen strategischen Sprachgebrauch als eindeutig strategisches Handeln versteht. Das grundlegende Problem in Habermas’ Konzeption bleibt jedoch, dass er auch nach seiner Revision nur für den offen strategischen Sprachgebrauch den realen Handlungskontext bestimmend sein lässt. Damit findet die unmittelbare Handlungs- oder Gestaltungsdimension, die das eigentliche Verständnis von Sprechakten ausmacht, weiterhin keinen Eingang in Habermas’ Begründung des kommunikativen Handelns. In den „Sprechakttheoretischen Erläuterungen“ unterscheidet Habermas vier anstelle der ursprünglichen zwei Typen des sprachlich strukturierten Handelns. Er unterscheidet den nicht-kommunikativen Sprachgebrauch („in mente“ verwendete Aussage- und Absichtssätze), das schwache kommunikative Handeln, das starke kommunikative Handeln und die folgenorientierte, indirekte Verständigungsform der Perlokutionen.56 Dabei verkörpern nun sowohl das schwache als auch das starke kommunikative Handeln eine Form der kommunikativen Rationalität. Mit dieser Ausweitung des KonsensBegriffs macht Habermas jetzt neben dem – mit der These vom Originalmodus des vorbehaltlos verständigungsorientierten Sprachgebrauchs eingeführten – voraussetzungsvollen Verständigungsbegriff auch den Begriff der bloßen Sinn-Verständigung für die kommunikative Rationalität geltend. Die bloße 55
56
Die Neubestimmung der Diskursrationalität geht insbesondere auf eine von Herbert Schnädelbach vorgebrachte Kritik zurück. In dieser heißt es: „Die Fixierung an das Begründungsmodell von Rationalität verführt dazu, alles solange für irrational zu halten, wie es nicht vollständig argumentativ oder diskursiv eingelöst ist, und damit wäre das Feld des Irrationalen ins geradezu Gigantische ausgeweitet.“ H. Schnädelbach (1992), Über Rationalität und Begründung, in: ders., Vorträge und Abhandlungen, Bd. 2, Zur Rehabilitierung des animal rationale, Frankfurt a. M., S. 61-78, S. 63 und Habermas, Sprechakttheoretische Erläuterungen, S. 65. Für eine Darstellung im Überblick vgl. die Tabelle in: Habermas, Sprechakttheoretische Erläuterungen, S. 86.
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Sinn-Verständigung begründet den „schwachen“ Konsens konstativer und expressiver Sprechakte sowie einfacher Aufforderungen. Diese stellen eine unvollständige Form des kommunikativen Handelns dar. Die volle illokutionäre Bindungswirkung entfaltet sich weiterhin nur im starken kommunikativen Handeln; nur hier werden alle Geltungsansprüche (auch die lediglich implizit erhobenen Geltungsansprüche) in einem praktischen Diskurs abgewogen. Dagegen bleibt wie bereits erwähnt dem strategischen Handeln der illegitime Status im Rahmen der Handlungskoordinierung. Die in diesem Modus des Sprachgebrauchs bestimmenden Perlokutionen stellen Habermas zufolge weiterhin einen manifesten Missbrauch der mit dem Gebrauch von Sprechakten begründeten illokutionären Effekte dar. Während sich also die schwache Form des kommunikativen Handelns dadurch auszeichnet, dass sie den voraussetzungsarmen Begriff der SinnVerständigung beinhaltet, begründet sich das starke kommunikative Handeln weiterhin über ein konsensuales Einverständnis und verkörpert somit weiterhin den voraussetzungsvollen Verständigungsbegriff über Geltungsgründe. Die beiden Formen der Verständigung unterscheiden sich Habermas zufolge auch dadurch, dass sich die Kommunikanten in dem einen Fall aus aktorrelativen Gründen und in dem anderen Fall aus dem gleichen d. h. aktorunabhängigen Grund einigen. Im Falle der bloßen Sinn-Verständigung akzeptiert der Hörer die Gründe des Sprechers, ohne dass dies Gründe sein müssen, die er sich selbst zu eigen macht: „Nun macht es allerdings einen Unterschied, ob zwischen den Beteiligten über eine Tatsache Einverständnis besteht, oder ob sich beide über die ernsthafte Absicht des Sprechers bloß verständigen. Einverständnis im strengen Sinne wird nur dann erreicht, wenn die Beteiligten einen Geltungsanspruch aus denselben Gründen akzeptieren können, während eine Verständigung auch dann zustande kommt, wenn der eine sieht, daß der andere im Lichte seiner Präferenzen unter gegebenen Umständen für die erklärte Absicht gute Gründe hat, d.h. Gründe, die für ihn gut sind, ohne daß sich der andere diese Gründe im Lichte eigener Präferenzen zu eigen machen müßte. Aktorunabhängige Gründe erlauben einen stärkeren Modus von Verständigung als aktorrelative Gründe.“57
Nur im einverständnisorientierten Sprachgebrauch, der einen starken Konsens begründet, werden auch die normativen Geltungsansprüche von Absichts- und Aufforderungssätzen thematisiert. Und nur in dem Fall, dass Absichts- und Aufforderungssätze „in normative Kontexte ‚eingebettet‘ und durch einen solchen Hintergrund ‚autorisiert‘“58 sind, ist es laut Habermas möglich, dass Sprecher und Hörer eine Äußerung aufgrund des gleichen, aktorunabhängigen 57 58
Ebd., S. 76; die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Ebd., S. 78f.
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Grundes als gültig anerkennen. Mit der normativen Einbettung ändern sich laut Habermas auch der illokutionäre Sinn und die Geltungsbasis von Äußerungen: „Um den illokutionären Sinn eines solchen Sprechakts zu verstehen, muß man den normativen Kontext kennen, der erklärt, warum sich ein Aktor zu einer bestimmten Handlung autorisiert oder verpflichtet fühlt oder warum er von seiten des Adressaten mit der Befolgung einer Aufforderung rechnen darf. Soweit die Beteiligten einen normativen Hintergrund (z. B. im Rahmen einer gemeinsamen Lebenswelt) intersubjektiv anerkennen, können sie regulative Sprechhandlungen aus denselben Gründen als gültig akzeptieren.“59
So verweist Habermas ebenso wie in seinen früheren Ausführungen auch hier darauf, dass sich mit regulativen Sprechakten, die normativ autorisiert sind, ein Geltungsanspruch verbindet, der auf eine Einlösung im praktischen Diskurs angelegt ist. Erst im starken kommunikativen Handeln erwarten die Aktoren demnach voneinander, dass „sie sich an gemeinsamen Normen oder Werten orientieren und gegenseitige Verpflichtungen anerkennen“.60 Für das starke kommunikative Handeln bedeutet dies, dass ein Sprechakt unter allen drei Gesichtspunkten kritisiert werden kann, unabhängig davon, ob der normative Geltungsanspruch in Befehlen oder Versprechen ausdrücklich erhoben wird oder unthematisch bleibt.
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Exkurs: Der schwache Konsens konstativer und expressiver Sprechhandlungen
In der „Theorie des kommunikativen Handelns“ hat Habermas sich bei der Frage, welche Bedeutung konstativen und expressiven Sprechhandlungen für die Handlungskoordinierung zukommt, noch darauf beschränkt, eine Asymmetrie festzustellen, die zwischen konstativen und expressiven auf der einen und auffordernden Sprechhandlungen auf der anderen Seite besteht. Im Rahmen des sozialen Handelns hat der illokutionäre Effekt konstativer und expressiver Sprechhandlungen also nur eine geringe Bedeutung: „So betreffen die unter (a) genannten Bedingungen bei expressiven und konstativen Sprechhandlungen wie (3) und (4) nicht die Handlungsverpflichtungen, die sich aus der intersubjektiven Anerkennung des jeweiligen Geltungsanspruches ergeben, sondern allein das Verständnis des propositionalen Gehalts eines Erlebnis- bzw. eines Aussagesatzes, für den der Sprecher Gültigkeit beansprucht. Bei regulativen Sprechakten wie (1) und (2) betreffen die Bedingungen (a) zwar ebenfalls das Verständnis des propositionalen Gehalts eines Ab59 60
Ebd., S. 79; die Hervorhebung entspricht dem Original. Vgl. ebd., S. 81.
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sichts- bzw. eines Aufforderungssatzes, für den der Sprecher normative Gültigkeit erzeugt bzw. beansprucht; aber hier umschreibt der Inhalt zugleich die interaktionsfolgenrelevanten Verbindlichkeiten, die sich für den Hörer aus dem Akzeptieren des Geltungsanspruches ergeben.“61
Der hier von Habermas angeführte Konsens beschränkt sich darauf, dass der Hörer dem Sprecher zugibt, dass dieser den von ihm geäußerten Sachverhalt für wahr hält. Ebenso beschränkt sich eine erfolgreich ausgeführte expressive Sprechhandlung darauf, eine Situation herbeizuführen, in dem auch dem Hörer gegenwärtig ist, in welchem Gemütszustand der Sprecher sich befindet: „Aus der Bedeutung expressiver Sprechakte ergeben sich im allgemeinen Handlungsverpflichtungen nur in der Weise, daß der Sprecher spezifiziert, womit sein Verhalten nicht in Widerspruch geraten darf. Daß ein Sprecher meint, was er sagt, kann er nur in der Konsequenz seines Tuns, nicht durch die Angabe von Gründen glaubhaft machen. Deshalb können Adressaten, die einen Wahrhaftigkeitsanspruch akzeptiert haben, in bestimmten Hinsichten eine Verhaltenskonsistenz erwarten.“62
Dabei kann der Hörer dadurch, dass er des Sprechers Wahrhaftigkeit ohne Umstände anerkennt, dessen Enthüllungen, Offenbarungen oder auch Geständnisse einfach hinnehmen. Die Aussage des Sprechers muss für ihn keine Relevanz haben. Habermas deutet an, dass sich für den Hörer keine notwendige Handlungsfolge oder -verpflichtung ableiten lässt.63 Obwohl also der Adressat einer expressiven Sprechhandlung eine gewisse Verhaltenskonsistenz vom Sprecher erwarten kann, kann dies für den Hörer und dessen Verhalten auch unerheblich bleiben. Die im Verhältnis von konstativen und expressiven Sprechhandlungen auf der einen Seite und auffordernden Sprechhandlungen auf der anderen Seite festgestellte Asymmetrie hat Habermas später mit der Unterscheidung von dem nicht-kommunikativen und dem kommunikativen Sprachgebrauch sowie einem im kommunikativen Sprachgebrauch begründeten schwachen Konsens ausgearbeitet. Für den nicht-kommunikativen Sprachgebrauch ist demnach entscheidend, dass er „nicht auf eine interpersonale Beziehung zwischen Sprecher und Hörer in einer Kommunikationssituation angewiesen“64 ist; er stellt also den monologischen Gebrauch der Sprache dar. In diesem Bereich des nicht-kommunikativen Sprachgebrauchs liege wesentlich die Bedeutung von Aussage- und Absichtssätzen. Sie seien ihrer Struktur nach nicht notwendig an einen Hörer gerichtet: „Ihr Bedeutungsgehalt besteht unabhängig von 61 62 63 64
Habermas TdkH, Bd. 1, S. 407; die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Ebd., S. 407f; eigene Hervorhebungen. Vgl. ebd., S. 408. Habermas, Sprechakttheoretische Erläuterungen, S. 73.
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den illokutionären Akten, in die sie eingebettet werden können – weshalb sie sich auch mit Mitteln der formalen Semantik erschöpfend analysieren lassen.“65 Werden Aussagesätze jedoch in kommunikativer Absicht verwendet, bedeutet dies nun laut Habermas, dass ein Sprecher mit der Behauptung einer Tatsache dem Adressaten nicht nur zu erkennen geben will, dass er selbst ‚p‘ für wahr hält. Vielmehr verfolge er dann das illokutionäre Ziel, dass der andere anerkennt, dass ‚p‘ wahr ist: „Der illokutionäre Sinn von einer Äußerung ist nicht der, daß der Hörer die Meinung (oder Absicht) von S zur Kenntnis nehmen möge, sondern daß er zu derselben Auffassung gelangen soll wie S (bzw. daß er die Ankündigung von S ernst nehmen soll). Damit S sein illokutionäres Ziel erreicht, genügt es nicht, daß H die Wahrheits- (bzw. die Erfolgs)bedingungen von ‚p‘ kennt; H soll auch den illokutionären Sinn von Behauptungen (und Absichtserklärungen) verstehen und nach Möglichkeit die entsprechenden Geltungsansprüche akzeptieren.“66
In vergleichbarer Weise gewönnen Absichtssätze erst dann illokutionäre Kraft, wenn der Sprecher sie in der Absicht äußert, der Hörer möge seine Absichten ernst nehmen. Für beide Sprachstrukturen gilt nun, dass sie erst dann die illokutionäre Kraft des kommunikativen Sprachgebrauchs entfalten, wenn sie den Hörer mit einem Geltungsanspruch konfrontieren: „Die Differenz zum nicht-kommunikativen Sprachgebrauch ergibt sich aus dem Hinzutreten eines Geltungsanspruchs, mit dem der Sprecher einen Hörer konfrontiert.“67
Habermas ist in Bezug auf die Bedeutung, die konstativen und expressiven Sprechakten in der kommunikativen Auseinandersetzung zukommt, also entschiedener als in seiner früheren Bestimmung: „Mit ihnen >den Absichtssätzen, I. F.-G.@ verbindet sich nicht schon per se eine illokutionäre Kraft; diese gewinnen sie erst, wenn der Aktor seine Absichten in einer Kommunikationssituation ankündigt, also mit dem illokutionären Ziel äußert, daß andere seine Absichten ernstnehmen und mit ihrer Ausführung rechnen.“68
Der illokutionäre Erfolg dieser Sprechhandlungen beschränkt sich jedoch weiterhin darauf, eine schwache Form des Konsenses herzustellen. Bei einem solchen geht es entweder um die Verständigung über eine Tatsache:
65 66 67 68
Ebd., S. 74. Ebd., S. 75. Ebd.; die Hervorhebung entspricht dem Original. Ebd., S. 74f; die Hervorhebungen entsprechen dem Original.
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„Im Falle einer Behauptung erhebt der Sprecher für das Gesagte einen Wahrheitsanspruch. Dazu wird der Hörer (wie implizit auch immer) nur mit ‚Ja‘ Stellung nehmen, wenn er das Gesagte für begründet hält oder mindestens die Garantie für glaubwürdig hält, die der Sprecher dafür übernimmt, ihn gegebenenfalls mit guten Gründen von der behaupteten Tatsache zu überzeugen.“69
– oder eine einseitige Willensäußerung: „Im Falle des Geltungsanspruchs einer Absichtserklärung wird der Hörer die angekündigte Absicht ernst nehmen, wenn er überzeugt ist, daß der Sprecher meint, was er sagt, und gute Gründe hat, eine Ankündigung wahr zu machen: er unterstellt die Ernsthaftigkeit einer Äußerung, wenn er die Absicht von S (aus dessen Sicht) für begründet hält.“70
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Handlungskoordinierung, illokutionäre Bindungswirkung (Konsens) und strategisches Handeln
Im Unterschied zu den expressiven und konstativen Sprechakten sind Fragen und auffordernde Sprechhandlungen „von Haus aus“, wie Habermas anführt, auf eine kommunikative Verwendung hin angelegt.71 Dabei sind Aufforderungen grundsätzlich Bestandteil intersubjektiver Auseinandersetzungen, die anders als die oben beschriebenen Formen der Kommunikation in der Regel auch eine effektive Handlungskoordinierung zur Folge haben. So macht es eben die Bestimmung von Aufforderungen aus, Handlungen zu koordinieren. Habermas’ Auseinandersetzung mit diesen kann deshalb als Prüfstein für seine These vom verständigungsorientierten Originalmodus der Sprache gelten. So ist diese nur dann haltbar, wenn die effektive Handlungskoordinierung in Übereinstimmung mit dem verständigungsorientierten Originalmodus zu begründen ist. Wie bereits angedeutet, zeigen sich in Habermas’ Bestimmung von einfachen Aufforderungen (und „echten“ Imperativen) und deren Verhältnis zu normativ autorisierten Aufforderungen in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ einige Schwierigkeiten. Habermas versucht, die Problematik zunächst dadurch zu lösen, dass er einen kategorischen Unterschied zwischen einfachen Aufforderungen und normativ autorisierten Aufforderungen annimmt. Während in diesem Sinne in die Akzeptanz von einfachen Aufforderungen (oder „echten“ Imperativen) „externe“ empirische Gründe wie Sanktionen oder Gratifikationen eingehen, seien für normativ autorisierte Aufforderungen allein kognitive Gründe, i. e. Argumente, die auf ein rationales Einver69 70 71
Ebd., S. 75f. Ebd., S. 76. Vgl. ebd., S. 74, 77.
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ständnis abzielen, ausschlaggebend. Ein solcher Konsens, der in seiner diskursiven Begründung aus dem Handlungszusammenhang herausgelöst ist, kann jedoch, so die grundlegende sprechakttheoretische Einsicht, keine effektive Handlungskoordinierung herbeiführen. Das bedeutet aber, wie im Folgenden näher ausgeführt werden soll, dass die These vom verständigungsorientierten Originalmodus der Sprache nicht haltbar ist.
8.1 Die kategoriale Differenz: Aufforderungen in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ Im Unterschied zu seinen späteren Ausführungen hält Habermas in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ bei der Frage, wie einfache Aufforderungen zu verstehen sind, die Kenntnis der Bedingungen, unter denen eine Äußerung von einem Hörer akzeptiert werden kann, noch eng mit der Analyse verbunden. Er hebt hervor: „Wir verstehen einen Sprechakt, wenn wir wissen, was ihn akzeptabel macht.“72
So seien es zwei Komponenten, die den Adressaten wissen lassen, was einen auffordernden Sprechakt akzeptabel macht. Zunächst sei es, wie auch bei konstativen und expressiven Sprechakten, notwendig, dass der Hörer den propositionalen Gehalt des Sprechaktes verstehe. Es geht dann zunächst darum, zu verstehen, auf welche Handlung (oder unterlassene Handlung) sich die Aufforderung bezieht: „In der Tat versteht der Hörer die Aufforderung (5), wenn er die Bedingungen kennt, unter denen ‚p‘ eintreten würde, und wenn er weiß, was er selbst unter gegebenen Umständen tun oder lassen müßte, damit diese Bedingungen erfüllt werden.“73
Aus der auf den Interaktionszusammenhang erweiterten Perspektive werde aber auch deutlich, so Habermas weiter, dass die Kenntnis der propositionalen Erfüllungsbedingungen allein nicht hinreicht, um zu wissen, wann eine Aufforderung akzeptabel ist. Dazu müsse als zweite Komponente klar sein, warum der Sprecher davon ausgeht, dass der Hörer der Aufforderung nachkommt:
72 73
Habermas, TdkH, Bd. 1, S. 400; die Hervorhebung entspricht dem Original. Ebd., S. 403; Habermas führt als Aufforderung (5) folgendes Beispiel an: „Ich fordere Dich (hiermit) auf, das Rauchen einzustellen“. Ebd., S. 402.
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„Der Hörer versteht den illokutionären Sinn der Aufforderung vollständig erst dann, wenn er weiß, warum der Sprecher erwartet, daß er seinen Willen dem Hörer imponieren kann.“74
Trotz dieser Feststellung bestreitet Habermas sodann, dass Imperative – da sie, wie gemeinhin angenommen wird, als eine Form von Aufforderungen zu verstehen sind – als Versuche zu verstehen seien, mit denen ein Sprecher es unternimmt, einen Hörer dazu zu veranlassen, eine bestimmte Handlung auszuführen. Er verweist hingegen darauf, dass auch diese Form einer Aufforderung einen verständigungsorientierten Sinn habe und sucht sie damit von dem Verständnis der Perlokution abzusetzen: „Mit dieser Auffassung wird aber der illokutionäre Sinn von Aufforderungen verkannt. Indem ein Sprecher einen Imperativ äußert, sagt er, was H tun möge. Diese direkte Form der Verständigung macht eine Sprechhandlung, mittels deren er einen Hörer zu einer bestimmten Handlung indirekt veranlassen könnte, überflüssig.“75
Mit dieser Bestimmung spricht Habermas Imperativen jedoch ihren auffordernden Charakter ab; er bringt sie also um ihren Sinn. So sollen auffordernde Sprechakte seinem Verständnis zufolge zwar als auf eine kommunikative Verwendung ausgerichtet verstanden werden, jedoch ohne dass dabei eine Beeinflussung des Adressaten stattfindet. Habermas will Aufforderungen vielmehr als einen sprachlich vermittelten Hinweis darauf verstanden wissen, welchen allgemeinen, aktorunabhängig gegebenen Tatbestand ein Hörer zu realisieren hat. Dementsprechend paraphrasiert er den illokutionären Sinn von auffordernden Sprechhandlungen auch in einer verallgemeinerten Form76: „(5a) S hat dem H gesagt, er möge dafür Sorge tragen, daß ‚p‘ zustande kommt; (5b) S hat dem H bedeutet, er solle ‚p‘ verwirklichen; (5c) Die von S geäußerte Aufforderung ist dahingehend zu verstehen, daß H ‚p‘ herbeiführen solle.“77
In Abkehr zu dieser Bestimmung von Aufforderungen verweist Habermas im späteren Verlauf seiner Argumentation allerdings auch darauf, dass Aufforderungen vom Hörer zunächst als eine faktische Willensäußerung verstanden werden und deshalb durch ein mit der Sprechhandlung verknüpftes Sanktionspotential ergänzt werden müssten:
74 75 76 77
Ebd., S. 403. Ebd., S. 402; die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Hinter einer solchen Aufforderung kann also die Figur des „verallgemeinerten Anderen“ vermutet werden, die bekanntlich auf G. H. Mead zurückgeht; vgl. G. H. Mead (1934/1998), Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a. M. und Habermas, TdkH, Bd. 2, S. 61f. Habermas, TdkH, Bd. 1, S. 402.
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„Der Sprecher erhebt mit einem Imperativ einen Machtanspruch, dem sich der Hörer, wenn er ihn akzeptiert, unterwirft. Es gehört zur Bedeutung eines Imperativs, daß der Sprecher für die Durchsetzung seines Machtanspruchs eine begründete Erwartung hegt; dies gilt nur unter der Bedingung, daß S weiß, daß sein Adressat Gründe hat, sich seinem Machtanspruch zu fügen. Da wir Aufforderungen zunächst im Sinne faktischer Willensäußerungen verstehen, können diese Gründe nicht im illokutionären Sinn der Sprechhandlung selber liegen; sie können nur in einem mit der Sprechhandlung extern verknüpften Sanktionspotential liegen. Mithin müssen die Erfüllungsbedingungen durch Sanktionsbedingungen ergänzt werden, um die Akzeptabilitätsbedingungen vollständig zu machen.“78
Mit dieser Bestimmung schreibt Habermas einfachen Aufforderungen zwar wieder einen auffordernden Charakter zu; gleichzeitig spricht er ihnen in diesem Zusammenhang aber den Charakter einer (illokutionären) Sprechhandlung ab. Als faktische Willensäußerungen fallen sie aus dem Rahmen der Verständigungsorientierung. Dementsprechend können es Habermas zufolge auch nicht die illokutionären Bindungseffekte sein, die eine solche Verständigung respektive die Befolgung einer auffordernden Sprechhandlung bewirken. Dies habe zur Folge, dass sie als faktische Willensäußerung durch ein externes Sanktionspotential ergänzt werden müssten. Dabei würden sie aber zugleich die kommunikative Struktur von (illokutionären) Sprechakten nutzen. Habermas nimmt deshalb an, sie seien als eine parasitäre Form der eigentlichen Verständigung zu verstehen. Einfache Aufforderungen (wie die „echten“ Imperative) machen sich demnach als faktische Willensäußerungen den sprachlichen Mechanismus der Verständigung zunutze, ohne jedoch das Ziel einer einverständlichen Einigung zu verfolgen. Im Unterschied zu einfachen Aufforderungen setzen autorisierte Aufforderungen oder Befehle anerkannte Normen und einen institutionellen Rahmen voraus.79 Mit dem von Habermas vorgebrachten Verweis auf den „institutionellen Rahmen“80 rekurriert er hier ebenso wie oben auf „externe“ Bedingungen. Diesen kommt hier allerdings eine grundlegend andere Bedeutung zu als den empirischen Erfüllungsbedingungen von „echten“ Imperativen. Denn die Frage der normativen Begründung einer Aufforderung vollzieht sich Habermas zufolge in (praktischen) Diskursen. Damit komme in normativen Auffor78 79
80
Ebd., S. 403f; die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Mit der Differenzierung von „echten“ Imperativen und normativ autorisierten Befehlen wird hier deutlich, dass Habermas der imperativischen Aufforderung ein anderes Verständnis unterlegt, als ihr im allgemeinen Sprachgebrauch zukommt. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Imperativ als die grammatikalische Form eines Befehls verstanden. Diese grammatikalische Bestimmung ist unabhängig von der Gültigkeit des Befehls. In Habermas’ Verständnis von Imperativen manifestiert sich hingegen das Bestreben, den allgemeinen Sprachgebrauch über den Austausch von Gründen zu bestimmen. Diese Bestimmung steht quer zum allgemeinen Verständnis der Sprache und ihrem tatsächlichen Gebrauch. Habermas, TdkH, Bd. 1, S. 404.
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derungen – anders als bei „echten“ Imperativen – die selbstgenügsame, illokutionäre Bindungskraft von Sprechhandlungen zur Geltung. Wie bereits erwähnt, ist aber die Annahme, dass sich Aufforderungen – insbesondere auch normative Aufforderungen – rein kognitiv begründen lassen, nicht haltbar. So verweist auch Habermas in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ im Zusammenhang mit autorisierten Aufforderungen zunächst auf sowohl empirische als auch kognitive Gründe, die zu ihrer Akzeptanz führen: „Wiederum läßt sich der illokutionäre Sinn zunächst durch die unter (a) genannten Bedingungen spezifizieren; aber im Falle von Anweisungen verweist der illokutionäre Sinn nicht nur auf Bedingungen (b), die aus dem Kontext der Sprechhandlung ergänzt werden müssen; vielmehr ergeben sich diese Bedingungen für das Akzeptieren des sprachlichen Anspruchs, und damit für ein Einverständnis zwischen S und H, aus dem illokutionären Akt selber.“81
Zu Recht führt er außerdem an, dass es für den Aufforderungscharakter eines regulativen Sprechaktes keinen Unterschied macht, ob er normativ begründet ist oder nicht: „Solange sich S nicht auf die Gültigkeit von Normen beruft, macht es keinen Unterschied, ob das Sanktionspotential rechtlich oder faktisch begründet ist.“82
Er bemerkt hier auch, dass das Ja zu einem Geltungsanspruch, der sich nur aufgrund einer normativ autorisierten Aufforderung stellt, „keine allein empirisch motivierte Entscheidung“83 darstellt. Im Folgenden deutet Habermas den Begründungsunterschied zwischen „echten“ Imperativen und normierten Aufforderungen jedoch entsprechend seiner oben erwähnten kategorialen Unterscheidung aus. So führt er an, dass normativ autorisierte Anweisungen nicht durch hinzutretende Sanktionsbedingungen vervollständigt werden müssten: „Geltungsansprüche sind intern mit Gründen verknüpft. Insofern können die Bedingungen für die Akzeptabilität von Anweisungen dem illokutionären Sinn einer Sprechhandlung selbst entnommen werden; sie brauchen nicht durch hinzutretende Sanktionsbedingungen vervollständigt zu werden.“84
Ein Sprecher, der sich auf die Gültigkeit von Normen beruft, brauche lediglich Argumente vorzubringen; er könne einen Hörer somit „rational“ zur Akzeptanz einer Aufforderung motivieren:
81 82 83 84
Ebd.; eigene Hervorhebung. Ebd., S. 405. Ebd.; eigene Hervorhebung. Ebd.; die Hervorhebungen entsprechen dem Original.
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„Ein Sprecher kann einen Hörer zur Annahme eines Sprechaktangebotes, wie wir nun sagen können, rational motivieren, weil er aufgrund eines internen Zusammenhangs zwischen Gültigkeit, Geltungsanspruch und Einlösung des Geltungsanspruchs die Gewähr dafür übernehmen kann, erforderlichenfalls überzeugende Gründe anzugeben, die einer Kritik des Hörers am Geltungsanspruch standhalten.“85
Der Übergang zu normativen Aufforderungen und deren argumentativer Begründung stelle somit einen Kategorienwechsel dar: „An die Stelle der empirisch motivierenden Kraft eines mit Sprechhandlungen kontingent verknüpften Sanktionspotentials tritt die rational motivierende Kraft der Gewährleistung von Geltungsansprüchen in allen Fällen, wo die illokutionäre Rolle keinen Macht-, sondern einen Geltungsanspruch zum Ausdruck bringt.“86
Auch im Zusammenhang mit der potentiellen Möglichkeit, dass „echte“ Imperative in Befehle transformiert werden, hebt Habermas darauf ab, dass bei normierten Aufforderungen das für die Durchsetzung eines imperativischen Machtanspruchs notwendige Sanktionspotential ersetzt würde durch die rational motivierenden Bedingungen eines kritisierbaren Geltungsanspruchs. Mit Bezug auf die These vom Originalmodus des vorbehaltlos verständigungsorientierten Sprachgebrauchs ist es allerdings bedeutsam, zu sehen, dass Habermas zum Abschluss dieser Ausführungen in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ noch einmal präzisiert: „Mit der Bestimmung der ‚vorbehaltlosen Verfolgung illokutionärer Ziele‘ sollten Fälle latent strategischen Handelns ausgeschlossen werden, in denen der Sprecher illokutionäre Erfolge unauffällig für perlokutive Ziele einsetzt. Nun sind aber imperativische Willensäußerungen illokutionäre Akte, mit denen der Sprecher das Ziel der Einflußnahme auf die Entscheidung eines Gegenübers offen deklariert, wobei er die Durchsetzung seines Machtanspruchs auf ergänzende Sanktionen stützen muß. Deshalb können Sprecher mit echten Imperativen oder nicht-normierten Aufforderungen illokutionäre Ziele vorbehaltlos verfolgen und gleichwohl strategisch handeln.“87
Mit dieser Bestimmung kann Habermas die kategoriale Unterscheidung von „echten“ Imperativen und normativen Aufforderungen nicht aufrechterhalten. Denn er nimmt hier die faktische Einflussnahme auf die Entscheidung eines Gegenübers als ein (legitimes) Mittel der Verständigungsorientierung an. Es erscheint folglich fraglich, ob es sinnvoll ist, auf einer vorbehaltlosen Verständigungsorientierung als Originalmodus der Sprache zu bestehen.
85 86 87
Ebd., S. 406; die Hervorhebung entspricht dem Original. Ebd.; die Hervorhebung entspricht dem Original. Ebd., S. 410; die Hervorhebungen entsprechen dem Original.
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8.2 Revision des Verständnisses von Aufforderungen? Auf diese mit dem Verständnis von Aufforderungen verbundene Problematik wurde schon bald nach Erscheinen der „Theorie des kommunikativen Handelns“ hingewiesen. Habermas ist auf die entsprechenden Kritiken hin von der Annahme abgerückt, dass zwischen „echten“ Imperativen und normativ autorisierten Aufforderungen ein kategorialer Unterschied besteht, der sich auf die empirische respektive kognitive Begründung von einfachen respektive normierten Aufforderungen bezieht. In einer frühen Replik auf Skjei88 und im Vorwort zur dritten Auflage der „Theorie des kommunikativen Handelns“ bezeichnet Habermas auch im Anschluss an weitere Kritiken von Zimmermann und Tugendhat89 die beiden Formen einer Aufforderung nun als die Pole eines Kontinuums: „Nur in Grenzfällen findet eine imperativische Willensäußerung Nachachtung allein aufgrund nackter Unterwerfung unter die Gewalt angedrohter Sanktionen. Im Normalfall funktionieren einfache Imperative durchaus im Rahmen kommunikativen Handelns, weil die Machtstellung, auf die der Sprecher den mit seinem Imperativ erhobenen Anspruch stützt, von den Adressaten anerkannt wird – und selbst dann anerkannt wird, wenn sich diese Stellung auf faktisch eingewöhnte Macht, jedenfalls nicht ausdrücklich auf normative Autorität stützt. Ich will also plausibel machen, daß sich die scharfe Abgrenzung zwischen normativ autorisierten und einfachen Imperativen nicht aufrechterhalten läßt, daß vielmehr ein Kontinuum zwischen der bloß faktisch eingewöhnten und der in normative Autorität verwandelten Macht besteht. Dann lassen sich nämlich alle Imperative, denen wir eine illokutionäre Kraft zuschreiben, nach dem Muster normativ autorisierter Aufforderungen analysieren. Was ich fälschlicherweise für einen kategorialen Unterschied gehalten habe, schrumpft aus dieser Sicht zu einem graduellen.“90
Es wurde in Reaktionen auf diese Revision darauf hingewiesen, dass sich mit ihr das ursprünglich von Habermas in Angriff genommene Ziel, mithilfe der sprechakttheoretischen Analyse strategisches und kommunikatives Handeln als Typen zu bestimmen, unter denen sich konkrete Handlungen klassifizieren lassen, als nicht einlösbar erweist.91 Aufforderungen können demzufolge weder dem strategischen noch dem kommunikativen Handeln eindeutig zugeordnet werden, weil sie zugleich aufgrund des Verweises auf Macht wie auf die 88 89 90 91
Vgl. J. Habermas (1985), Reply to Skjei, in: Inquiry 28, S. 105-113 und E. Skjei (1985), A Comment on Performative, Subject, and Proposition in Habermas’s Theory of Communication, in: Inquiry 28, S. 87-122, S. 95ff. Vgl. R. Zimmermann (1985), Utopie – Rationalität – Politik, Freiburg, München, S. 350ff; Tugendhat, Habermas on Communicative Action, S. 433-440, insb. S. 437ff. Habermas, TdkH, Bd. 1, S. 6 (Vorwort zur dritten Auflage); die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Vgl. auch Habermas, Reply to Skjei, S. 112. Vgl. Greve, Sprache, Kommunikation und Strategie in der Theorie von Jürgen Habermas, S. 252 und Dorschel, Handlungstypen und Kriterien, S. 249f.
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Geltung von Normen Anerkennung finden. Habermas zieht derweil aus der Annahme, dass alle Aufforderungen (mehr oder weniger) sowohl empirisch als auch kognitiv begründet sind, die Schlussfolgerung, dass alle Imperative, denen eine illokutionäre Kraft zugeschrieben wird, nach dem Muster normativ autorisierter Aufforderungen verstanden werden können: „Als Soziologe hätte ich wissen müssen, daß ein Kontinuum zwischen der bloß faktisch eingewöhnten und der in normative Autorität verwandelten Macht besteht. Deshalb lassen sich alle Imperative, denen wir eine illokutionäre Kraft zuschreiben, nach dem Muster normativ autorisierter Aufforderungen analysieren.“92
8.3 Der illokutionäre Bindungseffekt (Konsens) und Perlokutionen Wie bereits erwähnt, spezifiziert Habermas diese Überzeugung in den „Sprechakttheoretischen Erläuterungen“. Obwohl er hier weiterhin anführt, dass Sanktionen und Gratifikationen eine Rolle spielen, verweist er nun darauf, dass sich der illokutionäre Erfolg einer Aufforderung an den Wahrheitsund Wahrhaftigkeitsansprüchen des Sprechers bemisst: „Ankündigungen und Aufforderungen zielen nicht auf Einverständnis. Gleichwohl bewegen sie sich im Horizont einer auf Geltungsansprüchen basierten Verständigung – und damit noch im Bereich kommunikativer Rationalität. Wohl ist die Akzeptabilität der Geltungsansprüche über die Zweckrationalität vermittelt, die Vorsatz und Entscheidung für den erfolgsorientiert eingestellten Aktor haben; aber der illokutionäre Erfolg bemißt sich wiederum, wenn auch nur mit Bezug auf die Präferenzen des Sprechers (bzw. in Verbindung mit den vom Sprecher dem Hörer zugeschriebenen Präferenzen), an Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsansprüchen.“93
Bei einfachen Aufforderungen werde so ein begrenztes Einverständnis erzielt. Dieses erstrecke sich zwar nicht auf die motivierenden Absichten und Präferenzen der Akteure, wohl aber auf die Rationalität der wörtlich zum Ausdruck gebrachten Aufforderung: „In dieser Hinsicht bedeutet Verständigung lediglich, daß der Hörer den Inhalt der Absichtserklärung bzw. Aufforderung versteht und deren Ernsthaftigkeit (sowie Durchführbarkeit) nicht bezweifelt. Basis der für die Handlungskoordinierung wirksamen Verständigung ist allein das Akzeptieren des für eine Absichtserklärung oder Aufforderung erhobenen Wahrhaftigkeitsanspruchs, der durch die erkennbare Rationalität des Vorsatzes oder der Entscheidung beglaubigt wird.“94
92 93 94
Habermas, Entgegnung, S. 361. Habermas, Sprechakttheoretische Erläuterungen, S. 78. Habermas, Sprechakttheoretische Erläuterungen, S. 81.
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Während Habermas nun also auch bei einer Aufforderung eine illokutionäre Kraft ausmacht, wird der Gestaltungseffekt respektive Handlungskontext vor allem im Ergebnis der Aufforderung wieder in die Konzeption eingebracht. Habermas hat im Verlauf seiner Arbeiten sein Verständnis der Perlokution und der perlokutionären Effekte in diesem Sinne ausdifferenziert. So versteht Habermas perlokutionäre Effekte in seinen neueren Abhandlungen zunächst ganz allgemein als jene Effekte, die über das Verstehen und das Akzeptieren von Sprechhandlungen hinausgehen: „‚perlokutionär‘ sollen alle darüber hinausgehenden Ziele und Effekte heißen“95. Im Konkreten unterscheidet Habermas nun zwischen drei verschiedenen perlokutionären Effekten: „Von den perlokutionären Effekten1, die sich aus der Bedeutung des Sprechaktes ergeben, will ich perlokutionäre Effekte2 unterscheiden, die sich nicht als grammatisch geregelte Erfolge aus dem Gesagten selbst ergeben, sondern auf kontingente Weise, jedoch bedingt durch einen illokutionären Erfolg einstellen. H versteht (illokutionärer Erfolg1) und akzeptiert (illokutionärer Erfolg2) die Aufforderung, dem Y etwas Geld zu geben. H gibt dem Y ‚etwas Geld‘ (perlokutionärer Erfolg1) und erfreut damit dessen Frau (perlokutionärer Erfolg2). Diese letzte Sorte von grammatisch nicht geregelten Effekten wird in der Regel ein öffentlicher Bestandteil der Situationsdeutung oder doch von der Art sein, daß sie deklariert werden könnten, ohne den Handlungsverlauf zu beeinträchtigen. Anders verhält es sich, wenn der Sprecher den Adressaten mit seiner Aufforderung dazu veranlassen will, dem Y mit dem erhaltenen Geld die Vorbereitung zu einem Einbruch zu ermöglichen, wobei S annimmt, daß diese Straftat von H nicht gebilligt würde. In diesem Falle wäre die Ausführung der geplanten Straftat ein perlokutionärer Effekt3, der nicht zustande käme, wenn der Sprecher ihn von vornherein als Ziel deklarieren würde.“96
Da sich bei Aufforderungen der „Handlungseffekt“ aus der Bedeutung des Gesagten ergibt, ordnet Habermas die vom Adressaten der Aufforderung ausgeführte Handlung unter die Klasse der perlokutionären Effekte1 ein. Dabei behauptet er für diese Effekte, dass die illokutionären Ziele gegenüber den perlokutionären Zielen Vorrang haben und deshalb auch sie eine (schwache) Form kommunikativer Rationalität verwirklichen. Das bedeutet, dass Habermas die tatsächliche Befolgung einer Aufforderung (und eines „echten“ Imperativs) auf einen Konsens über deren (semantische) Bedeutung zurückführt und nicht auf eine Form der (empirischen Willens-) Einwirkung. „Externe“ 95
96
Habermas, Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktionen und Lebenswelt, S. 71. Das bedeutet, dass sie im Unterschied zu ihrer ursprünglichen Bestimmung nicht mehr per se als Anzeichen für strategische Handlungszusammenhänge gelten können. Sie sind auch nicht mehr allein auf den Aspekt der Täuschung gegründet. Vgl. Habermas, Zur Kritik der Bedeutungstheorie, S. 133. Habermas, Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktionen und Lebenswelt, S. 71.
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Bedingungen (wie Gratifikationen oder Sanktionen) werden zwar von ihm angeführt, konzeptionell spielen sie aber keine Rolle. Eine konstitutionelle Bedeutung haben Habermas zufolge die empirischen respektive realen kontextuellen Bedingungen des Sprachgebrauchs allein im Zusammenhang vollwertiger Perlokutionen. Hingegen geht Habermas davon aus, dass sowohl im Falle der perlokutionären Effekte2 als auch im Falle der perlokutionären Effekte3 die illokutionären Ziele die perlokutionären noch dominieren; wenn auch nur vordergründig. Während er dabei im Falle der perlokutionären Effekte2 noch sicher annimmt, dass auch sie kognitiv begründet werden können und somit potentiell zur „legitimen“ Form der Handlungskoordinierung gehören, bleibt die Frage, welcher Status den perlokutionären Effekten3 zukommt, unbestimmt. Diese ergeben sich aus der bereits aus der „Theorie des kommunikativen Handelns“ bekannten Form des latentstrategischen Handelns, das auf die Täuschung des Hörers zielt: „Perlokutionäre Effekte3 können schließlich nur auf eine für den Adressaten unauffällige Weise erzielt werden; auch der Erfolg einer solchen, für die andere Seite latent bleibenden strategischen Handlung ist vom manifesten Erfolg eines illokutionären Aktes abhängig.“97
Die vollwertige Perlokution setzt Habermas von den perlokutionären Effekten1,2 und 3 noch einmal ab. Bei der Perlokution wird das illokutionäre Ziel vollständig durch das perlokutionäre Ziel überlagert. Bei ihr geht es somit um keine Form der „einverständlichen“ Verständigung mehr.98 Sprachpragmatisch entscheidend ist jedoch, dass sie sich gleichzeitig dadurch auszeichnet, dass sie das perlokutionäre Ziel offen deklariert: „Einen für analytische Zwecke interessanten Sonderfall bilden die sogenannten Perlokutionen. Auch sie benötigen das Vehikel erfolgreicher illokutionärer Akte; aber in diesem Fall verschwindet selbst die scheinbare Dominanz des illokutionären Zieles, die auch noch für die zuletzt genannte Klasse perlokutionärer Effekte notwendig ist. Der illokutionäre Akt einer Behauptung [–] Du benimmst Dich wie ein Schwein [–] erhält im Lichte des offen verfolgten perlokutionären Zieles, den Hörer zu verletzen, einen anderen Sinn: die Behauptung gilt dann nämlich als Beschimpfung, Vorwurf oder Beleidigung. In ähnlicher Weise können beliebige illokutionäre Akte, je nach dem gegebenen Kontext, als Äußerungen von Spott oder Hohn gelten, weil die wörtlich ausgedrückte illokutionäre Bedeutung von dem gesetz-
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Habermas, Sprechakttheoretische Erläuterungen, S. 83; die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Greve führt aber zu Recht an, dass in Habermas’ Beispiel bereits die Täuschung nur aus einer auf den Kontext erweiterten Perspektive deutlich wird. In dem Sprechakt selbst, wird über die Motivation des Sprechers keine Aussage gemacht. Um die Täuschung aufzuheben, muss also über die manifeste Bedeutung des Gesagten hinausgegangen werden. Vgl. Greve, Sprache, Kommunikation und Strategie in der Theorie von Jürgen Habermas, S. 247. Vgl. Habermas, Zur Kritik der Bedeutungstheorie, S. 135.
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ten perlokutionären Ziel, den Angesprochenen bloßzustellen (bzw. von dem eingetretenen Effekt der Bloßstellung) überlagert und uminterpretiert wird.“99
Als eine besondere Sorte der Perlokution führt Habermas darüber hinaus die Drohung an. Dadurch, dass bei Nichtbefolgung einer solchen „Ankündigung“ ein konkreter Nachteil angedroht wird, wird der illokutionäre Sinn der Aufforderung „in den Schatten“100 gestellt. Habermas verweist darauf, dass ein solcher Sprechakt nicht bestritten werden könne. Es könne nur erklärt werden, „warum der beabsichtigte Effekt nicht eintritt und die Perlokution unwirksam bleibt“.101 Dies gilt freilich nur für den Fall, dass der Machtanspruch, auf dem die Drohung fußt, tatsächlich nicht gegeben ist. Deutlich wird jedenfalls, dass im Falle der Drohung eine bloße Verständigung über Machtpotentiale stattfindet und der Diskurs als Möglichkeit ausgeschlossen bleibt. Nach den von Habermas vorgenommenen Revisionen bleibt die Perlokution, der offen strategische Sprachgebrauch, als einzige Form des strategischen Handelns übrig. Sie stellt zugleich dessen Grundform dar: „In strategischen Handlungszusammenhängen funktioniert die Sprache allgemein nach dem Muster von Perlokutionen.“102
Wie eingangs bereits angeführt, geht Habermas davon aus, dass die Aktoren in strategischen Interaktionen aufgrund von wechselseitiger Beobachtung erfolgsorientierte Entscheidungen treffen. Im Unterschied zum kommunikativen Handeln würden die Aktoren also keine performative Einstellung annehmen, sondern begegneten sich als Gegenspieler, die im Interesse ihrer eigenen Handlungspläne aufeinander Einfluss nehmen. Habermas führt hier aus, dass der offen strategische Sprachgebrauch nur möglich ist, weil die Beteiligten „parasitär von einem gemeinsamen Sprachwissen zehren“.103 Im Unterschied zum schwach-kommunikativen Handeln, bei dem lediglich der geteilte normative Kontext und die entsprechenden Ansprüche auf normative Richtigkeit fehlten, würden im manifest strategischen Handeln nicht einmal mehr die Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsansprüche auf die unmittelbare Rationalität des Hörers zielen. Der Hörer müsse vielmehr indirekt schlussfolgern, was der Sprecher ihm zu verstehen geben will. Dabei wird ihm dies, wie Habermas in einem Beispiel verdeutlicht, durch manifeste Drohungen „erleichtert“: 99 100 101 102 103
Habermas, Sprechakttheoretische Erläuterungen, S. 83. Ebd., S. 84. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 85.
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„Strategisch handelnde Subjekte unterstellen einander gewiß, daß sie, sofern sie rational entscheiden, ihren Entscheidungen Meinungen zugrunde legen, die sie selbst für wahr halten. Aber die Wahrheitswerte, an denen sich jeder von ihnen aus der Perspektive je eigener Präferenzen und Zielsetzungen orientiert, verwandeln sich nicht in Wahrheitsansprüche, die auf intersubjektive Anerkennung angelegt sind – und die sie deshalb öffentlich, mit dem Anspruch auf diskursive Einlösung erheben. (Diese Form der indirekten Verständigung kennen wir aus dem diplomatischen Verkehr mißtrauischer Parteien oder aus kriegerischen Kommunikationen; in der Kuba-Krise mußte beispielsweise der sprichwörtliche ‚Schuß vor den Bug‘ (der russischen Schiffe) die fehlende illokutionäre Kraft der verbalen Ankündigung durch ein Anzeichen ersetzen, aus dem der Gegner auf die Ernsthaftigkeit der amerikanischen Absichten schließen konnte.)“104
Wie bereits die Bestimmung des Begriffs kommunikativen Handelns in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ so lässt auch diese überarbeitete Differenzierung zwischen dem strategischen und dem verständigungsorientierten Sprachgebrauch nicht darüber hinwegsehen, dass der Ausweis einer vorbehaltlosen Verständigungsorientierung als Originalmodus eines Sprachgebrauchs, der in die Praxis der Lebensführung eingebunden ist, Probleme bereitet. Dies zeigt sich hier im Zusammenhang mit Habermas’ Bestimmung der Perlokution. Mit ihr schreibt Habermas der „indirekten“ Verständigung einen für die sprachliche Verständigung illegitimen Status zu. Dies ist aber eine Annahme, die sprachpragmatisch nicht haltbar ist.105 Grundlegend problematisch ist darüber hinaus, dass Habermas mit seinem Bestreben, in der Sprache die Bedingungen der Möglichkeit einer vorbehaltlosen Verständigungsorientierung aufzudecken, immer wieder aus dem Blick rückt, worum es in einem gesellschaftstheoretischen Verständnis vor allem gehen muss, nämlich: die Frage der effektiven Handlungskoordinierung zu klären. Die Annahme, der Sprache sei das Telos einer vorbehaltlos intersubjektiven Einigung über Geltungsgründe eingelagert, ist der Klärung dieser Frage nicht dienlich.
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Zur Kritik: Das Handlungsmoment der Sprache
Die Kritik an Habermas’ sprechakttheoretischer Begründung des kommunikativen Handelns setzt an dessen Verständnis der Illokution an. Dabei steht mit der Frage nach dem richtigen Verständnis von Sprechakten Habermas’ zentra104 Ebd.; die Hervorhebungen entsprechen dem Original. 105 Zur Widerlegung dieser Annahme aufgrund der Bedeutung der indirekten Verständigung, des Zu-verstehen-Gebens und des Verstehenlassens in der Alltagskommunikation vgl. auch Greve, Sprache, Kommunikation und Strategie in der Theorie von Jürgen Habermas, S. 241-246 sowie Apel, Das Problem des offen strategischen Sprachgebrauchs in transzendentalpragmatischer Sicht, S. 714, S. 717 und S. 722.
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le gesellschaftstheoretische Annahme zur Disposition: Die Annahme, dass das Einverständnis über Geltungsansprüche konstitutiv für das gesellschaftliche Zusammenleben ist. Das entscheidende Missverständnis liegt darin, dass Habermas mit seinem Verständnis der Illokution den Sprechakt um seinen Handlungscharakter bringt. Dies lässt sich nicht zuletzt daran festmachen, dass er die Perlokution als illegitimes Mittel des Sprachgebrauchs versteht, weil sie über das indirekte Zu-verstehen-Geben ihren propositionalen Wahrheitsgehalt nicht zur Diskussion stellt. Die von Habermas als Sonderfall klassierte Drohung bringt die Problematik in aller Deutlichkeit zum Ausdruck: Mit der kommunikativ vermittelten Androhung von Sanktionen wird der Adressat unmissverständlich zur Tat aufgefordert. Dabei soll die Möglichkeit der Diskussion von vornherein ausgeschlossen bleiben.106 Während Habermas also das Verfahren der Argumentation, den Diskurs, der aus dem Handlungszusammenhang herausgelöst ist, für konstitutiv für den allgemeinen Sprachgebrauch erklärt, war Austins entscheidende Feststellung, dass mit performativen Äußerungen reale Handlungen vollzogen werden: Indem man etwas sagt, tut man etwas. Dabei kann die Sprechakttheorie, eben weil sie das Moment der Gestaltung als Handlungsmoment der Sprache ausmacht, als allgemeine Theorie des Sprachgebrauchs gelten.107 Für jede Äußerung gilt, dass dadurch, dass sie gemacht wird, etwas getan wird.
9.1 Die Gestaltungseffekte der Illokution Die soziologische Bedeutung der Illokution geht noch über die Bedeutung hinaus, die Austin ihr im Rahmen der Analyse von institutionell geregelten Sprechhandlungen zugeschrieben hat.108 Dass alle Äußerungen einen gewissen Gestaltungseffekt für die Beziehung von Sprecher und Hörer haben, zeigt sich, sobald die Analyse von Sprechakten formalpragmatisch nicht nur an die Satzstruktur109, sondern auch an die Situation, in der Sprechakte ausgetauscht werden, angeschlossen wird.110 Ein eindrückliches Beispiel für die Tatsache, 106 Vgl. dazu auch Apel mit einem eindrücklichen historischen Beispiel in: Apel, Das Problem des offen strategischen Sprachgebrauchs in transzendentalpragmatischer Sicht, S. 719ff. 107 Vgl. Dux, Historisch-genetische Theorie der Kultur, S. 310. 108 Zum Folgenden vgl. G. Dux (2004), Die Moral in der prozessualen Logik der Moderne. Warum wir sollen, was wir sollen, Weilerswist, S. 225-235. 109 Vgl. Habermas, TdkH Bd. 1, S. 417. 110 Bekanntlich hat Austin zum Abschluss seiner Vorlesung eine nicht abgeschlossene Liste mit Verben angeführt, die Formen von Handlungen im Englischen verkörpern. Er hat sie in die
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dass alle Äußerungen ein intentionales Gestaltungsmoment enthalten, liefern insbesondere solche Sprechakte, die die Form des Erzählens haben. So kann ein spontan dargebotener Erlebnisbericht Menschen, die in einer Runde zusammensitzen, vom Druck des Schweigens erlösen. Das Gefühl der Erlösung ist dabei Ausdruck der Tatsache, dass in kommunikativen Situationen nicht nicht kommuniziert werden kann. Auch Äußerungen, die als bloße Tatsachenfeststellung formuliert werden, wirken in diesem Sinne gestaltend. So stellt die Feststellung des Linienrichters, dass der Ball im Aus ist, eine Entscheidung dar, die den Fortgang des Spiels bestimmt. Während ferner der gestalterische Effekt von Aufforderungen evident ist, muss auch expressiven Äußerungen ein solcher zugeschrieben werden. So kann die expressive Sprechhandlung „Ich fühle mich wohl bei dir“ einem Leben, dadurch, dass sie gemacht wird, eine Wende geben. Aufgrund des illokutionären Gestaltungsmoments ist auch Habermas’ Bestimmung ungenügend, dass mit perlokutionären Effekten solche Ziele und Effekte gemeint sind, die über das Verstehen und Akzeptieren von Sprechhandlungen hinausgehen. Das perlokutionäre Moment einer Sprechhandlung bedarf einer genaueren Bestimmung, denn irgendeinen Effekt bringen alle Sprechhandlungen hervor. So ist, um noch einmal das klassische Beispiel einer performativen Äußerung heranzuziehen, mit dem „Ich warne dich...“ beabsichtigt, bei dem Adressaten ein Gefühl der Besorgnis hervorzurufen. Auch wenn der Adressat sich die Warnung nicht zu eigen macht, ist für das Warnen, anders als Habermas annimmt, nicht das verhaltene Interesse, dem Adressaten einen Grund zum Nachdenken zu geben, sondern das Hervorrufen der Besorgnis konstitutiv. Bei perlokutionären Sprechakten zielt hingegen das illokutionäre Moment der Gestaltung eigens darauf ab, eine weitere Handlung angeschlossen zu sehen. Mit dem perlokutiven Moment einer Sprechhandlung geht deren kommunikative Bedeutung also dadurch über die unmittelbare performative Wirkung hinaus, dass sie eine weitere – nicht wörtlich zum Ausdruck gebrachte – Absicht des Sprechers verfolgt. Als Beispiel eines perlokutionären Sprechaktes kann gelten, dass jemand berichtet, die Kommune plane, eine neue Gewerbefläche zu erschließen. Die Absicht ist, den Adressaten zum Verkauf seiner landwirtschaftlichen Nutzungsflächen zu bewegen. Ebenso folgenden Gruppen eingeteilt: verdiktive Äußerungen (z. B. Urteile einer Jury, Schätzen, Bewerten, Taxieren), exerzitive Äußerungen (z. B. Ernennen, Anweisen, Warnen), kommissive Äußerungen (z. B. Versprechen, Schwören, Geloben, Sich-bereit-Erklären), konduktive Äußerungen (z. B. Beglückwünschen, Sich-entschuldigen, Empfehlen, Beileid-aussprechen) und expositive Äußerungen (z. B. ich behaupte, ich antworte, ich räume ein, ich gebe ein Beispiel). Vgl. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, S. 168-183.
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stellt es einen perlokutionären Sprechakt dar, wenn einem Mann erzählt wird, seine Frau gehe fremd, wobei das Ziel der Mitteilung ist, die Ehe geschieden zu sehen. Das illokutionäre Gestaltungsmoment der Sprache stellt die Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation und Gesellschaft dar. Allein aufgrund einer solchen pragmatischen Zweckrationalität wird auch die Genese der Sprache soziologisch verständlich.111 Es ist der illokutionäre Effekt, der die Voraussetzung für die Fortsetzung der Kommunikation schafft. So gründet eine soziale Beziehung auf ihrer fortgesetzten kommunikativen Gestaltung. Die in der Sprache verkörperte Prozeduralität ist also für die kommunikative respektive interaktive Beziehung zwischen Sprecher und Hörer konstitutiv. Grundlage der kommunikativen Prozeduralität ist somit aber das Bewusstsein der Differenz. Auch in der Konsequenz dieser Einsicht setzt sich das sprachpragmatische Verständnis der Kommunikation grundlegend von dem Habermas’schen Verständnis der Diskursrationalität ab. In der Konsequenz des Bewusstseins der Differenz muss der Prozess der Kommunikation als ein offener Prozess verstanden werden. Dabei geht in das Bewusstsein der Differenz sowohl ein, dass die Kommunikanten die kommunikative Situation unterschiedlich verstehen, als auch, dass die Kommunikanten unterschiedliche Interessen in sie einbringen. Wie dieser Prozess der Kommunikation zu verstehen ist, ist seit George Herbert Mead bekannt.112 Die Kommunikanten bilden in dem Bewusstsein der Differenz zum Aufbau von Handlungssicherheit Erwartungen aus. Diese Erwartungen haben sich aufgrund der konstitutionellen Unsicherheit sozialer Beziehungen zur Grundstruktur der Kommunikation ausgebildet. In der entwickelten Form kommunizieren die Kommunikanten über reziproke Erwartungen, wobei jeder in die eigenen Erwartungen auch die Erwartungen des anderen einschließt. Entscheidend für das Verständnis der Kommunikation ist, dass sich im Ergebnis der sprachlichen Auseinandersetzung deren Prozeduralität dahingehend auswirken kann, dass das Ergebnis ein anderes ist, als die Kommunikanten im Vorhinein beabsichtigt hatten.
9.2 (Normative) Aufforderungen und Imperative Für das Verständnis der prozeduralen Gestaltung sozialer Beziehungen ist dabei entscheidend, dass die Erwartungen der Kommunikanten nicht lediglich 111 Ausführlich dazu Dux, Historisch-genetische Theorie der Kultur, S. 277ff. 112 Vgl. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft.
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antizipatorische Erwartungen sind. Sie stellen nicht nur kognitive Kalküle dar, sondern enthalten ein darüber hinausgehendes Moment der Aufforderung.113 Aufgrund dieses Momentes der Aufforderung ist es nicht sinnvoll, die Kommunikation über – als Drohung formulierte – Aufforderungen oder „echte“ Imperative als eine illegitime Form der Interaktion zu verstehen. Denn während die grundlegende kommunikative Erwartung zunächst darin besteht, dass der andere der in einer Äußerung vermittelten Information Rechnung trägt – eben dies macht den Sinn der Kommunikation aus – erfährt das illokutionäre Moment der Gestaltung einer sozialen Beziehung in Aufforderungen eine Steigerung. Das zeigt sich in der folgenden Form einer Warnung, die als Aufforderung formuliert wird: „Tu das nicht! – Es ist zu gefährlich“. Während sich hier die Form der Aussage geändert hat, bleibt der Grund für sie der gleiche, nämlich: die vom Sprecher wahrgenommene Gefahr. Dadurch, dass die Aufforderung also eine Steigerungsform des performativen Sprachgebrauchs darstellt, ist sie (ebenso wie ein Imperativ) prinzipiell nicht anders zu verstehen als dieser. Und entgegen Habermas’ Versuch der sprachphilosophischen Begründung macht es gerade die Bestimmung von Aufforderungen aus, dass der Sprecher auf den Willen des Hörers einzuwirken sucht. Wie erwähnt, macht der Sprecher dabei Interessen geltend, die zu jeder Form von Interaktion gehören. Im Verfolg dieser Interessen die (auffordernde) Aussage des Sprechers lediglich als ein Sprechaktangebot zu verstehen, über dessen Akzeptabilität der Hörer (gegebenenfalls aufgrund einer rational motivierten Stellungnahme) entscheidet, ist kontraintuitiv. Der Sprecher will mit der Aufforderung auf den Hörer einwirken, ihn in seinem Sinne bestimmen. In den sozialen Lebenslagen, in die die Menschen konstitutiv eingebunden sind, können Interessen nur in der Form von Aufforderungen an den anderen verfolgt werden. Indem nun der Sender mit einer Aufforderung auf den Adressaten einwirken will, stellt sich auch das Normative – das Sollen – anders dar, als Habermas in der philosophischen Tradition des rein idealistischen Normverständnisses annimmt. Während Habermas, wie angeführt, das Sollen als ein allgemeines aus dem konkreten Handlungszusammenhang herausgelöstes Verhaltensmuster versteht, das sich im Verlauf der Sozialisation der moralischen Verhaltenskontrolle des Subjekts einbildet114, ist das Sollen einer Aufforderung zunächst ein empirisches Sollen, das sich in face-to-face Interaktionen gegebenenfalls auch in der zum Einsatz gebrachten Leiblichkeit Ausdruck verschafft. 113 Siehe hierzu ausführlich Kapitel E. 114 Zur Internalisierung der Verhaltensmuster vgl. Habermas, TdkH, Bd. 2, S. 62f.
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Formal liegt das Sollen also in der an den anderen gerichteten auffordernden Erwartung. Zu einer normativen Aufforderung wird dieses formale Sollen zwar dadurch, dass es in abstraktiv-ideeller Form generalisiert wird. In die abstraktiv-ideelle Generalisierung gehen dabei jedoch die faktischen Verhältnisse ein. Dagegen ist für das idealistische Normverständnis bestimmend, dass es von einem Apriori der Geltungsdimension ausgeht. In eben diesem Sinne ist die transzendentale Geltung der Diskursivität in der Theorie des kommunikativen Handelns zu verstehen. Die praktische Bedeutung der Normativität (des Sollens) liegt aber darin, dass sie starke (respektive mächtige) Interessen abstützt. Denn es sind diese, die sich in der prozeduralen Gestaltung sozialer Beziehungen durchsetzen. Darüber hinaus gibt es tatsächlich nur wenige Aufforderungen, die nicht normativ abgestützt sind.115 Dass nicht nur hinter Imperativen, sondern auch hinter normativen Aufforderungen Sanktionen stehen, kommt in der Regel noch hinzu. Die als (normative) Aufforderung an den anderen adressierte Erwartung stellt also die Grundstruktur gesellschaftlicher Interaktion dar. Aufgrund der konstitutionellen Unsicherheit sozialer Beziehungen geht es nicht darum, wie Habermas in einem rein idealistischen Sinne annimmt, eine vorbehaltlos einverständliche Verständigung herbeizuführen, sondern darum, in einem pragmatischen und realen Sinne, kommunikative Anschlussfähigkeit herzustellen. Dies ist, was sich im Allgemeinen über normative Aufforderungen realisieren lässt.
9.3 Normen und kommunikatives Handeln Aus der über auffordernde Erwartungen gebildeten Struktur der Kommunikation entwickeln sich soziologisch auch die Normen. In ihnen sind diejenigen Erwartungen fixiert, für deren Einforderung der Sprecher den Konsens der Gesellschaftsmitglieder erwarten kann. Aufgrund ihrer Entwicklung aus der auffordernden Struktur der Kommunikation heraus wird jedoch deutlich, dass Normen nicht in Habermas’ Sinne in einem handlungsentlasteten Verfahren der Argumentation einverständlich begründet sind. Ebenso wenig sind sie auf einen Diskurs hin angelegt. Im Gegenteil: der Verweis auf die Geltung einer Norm beendet jede Auseinandersetzung und zwar, weil die Norm gilt. Auch in dieser Einsicht zeigt sich die Faktizität des Normativen: Normen regeln sozia115 Vgl. dazu das Beispiel des § 1353 BGB, der die Pflicht zu ehefreundlichem Verhalten festschreibt, bei Dux, Die Moral in der prozessualen Logik der Moderne, S. 231.
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le Verhältnisse. Gegenüber einem widerstreitenden Interesse kommt ihrer Geltung dementsprechend ein Zwangscharakter zu. So bedienen sich auch Normen, die nach dem Urteil aller legitim sind, der Androhung der Macht, um durchgesetzt zu werden. Auch dem Fall, in dem der Sprecher meint, mit seiner Forderung einen normativen Anspruch oder sogar einen Rechtsanspruch verbinden zu können, liegt also die kommunikative Grundstruktur der Aufforderung zugrunde. Der illokutionäre Sinn eines Sprechaktes ändert sich dadurch nicht, wie Habermas meint.116 So zum Beispiel, wenn ein Gläubiger seinen Schuldner auffordert, das gewährte Darlehen termingerecht zurückzuzahlen. Der Gläubiger kann dies etwa über den propositionalen Gehalt der folgenden Äußerung tun: „Ich bestehe auf der Rückzahlung des Darlehens zum 31.12.!“ Mit dieser Äußerung bringt der Gläubiger zum einen die allgemein akzeptierte Norm in Anschlag, dass (vertragliche) Absprachen einzuhalten sind.117 Gleichzeitig hat die Äußerung aber auch die kommunikative Struktur einer Handlung, die das Ziel verfolgt, die Situation zwischen Gläubiger und Schuldner zu klären. Der Gläubiger richtet die Aufforderung, sich an die getroffene Vereinbarung zu halten, also in dem konkreten Interesse an den Schuldner, das geliehene Geld auch tatsächlich zum vereinbarten Termin zurückzuerhalten. Habermas’ sprachphilosophische Begründung des kommunikativen Handelns könnte dagegen nahelegen, es ginge in der kommunikativen Auseinandersetzung zuvorderst darum, ein allgemein akzeptiertes Einverständnis bestätigt zu sehen. Wäre dies der Fall, hätte der Schuldner mit einer Zustimmung zur prinzipiellen Gültigkeit der Norm, dass Verträge einzuhalten sind, seine eigentliche Pflicht bereits erfüllt. Der Grund für die Regelung sozialer Beziehungen über Normen ist, dass sie fragil sind. Vermöge der Sprache lassen sich Erwartungen als normative Aufforderungen zum Ausdruck bringen. Wie erwähnt, ist deshalb für das Verständnis der Sprache wie für ihre Genese entscheidend, dass sie eine reale Gestaltungsmacht transportiert. Über Aufforderungen wird dabei ein Selbstbehauptungsanspruch – oder auch eine Übermacht über andere – artikuliert, ohne dass Machtpotentiale tatsächlich in Anspruch genommen werden müssen. Gleichzeitig können über die Sprache die über Machtprozesse geschaffenen Verhältnisse ins Sollen übertragen werden. So kann festgestellt werden, dass sich „eine Geschichte lang (...) an jede der sich faktisch ausbildenden Verkehrsregulierungen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern und an jede der 116 Vgl. Habermas, Sprechakttheoretische Erläuterungen, S. 79. 117 Eine Norm, die zudem meist auch rechtlich abgestützt ist.
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Positionen, die sich jemand faktisch zu verschaffen wußte, die Erwartung knüpfte, respektiert zu werden“118. Normen stellen die (abstraktiv-ideelle) Generalisierung dieser protonormativen Erwartung dar. Sie bilden damit ein dauerhaftes Ordnungsmuster des Handelns. Dabei schreiben sich die Verhältnisse im kommunikativen Handeln darüber fest, dass die Kommunikation aus einer bestimmten Situation heraus erfolgt und diese zugleich auch mit in die Kommunikation aufnimmt. Dieser Prozess stellt eine rekursive Schleife dar, in dem die faktischen Verhältnisse fortlaufend festgeschrieben werden.
118 Dux, Historisch-genetische Theorie der Kultur, S. 315.
C Die Gesellschaftskonzeption der Theorie kommunikativen Handelns
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Kommunikatives Handeln und Gesellschaft
Die Auseinandersetzung mit der sprechakttheoretischen Begründung des Begriffs kommunikativen Handelns hat gezeigt, dass Habermas die vorbehaltlose Verständigung, den Konsens, als grundlegend für seine Theorie des kommunikativen Handelns erachtet. Wie sich bereits in der sprachpragmatischen Kritik dieses Verständnisses angedeutet hat, hat diese begriffliche Entscheidung weitreichende Folgen auch für das Verständnis der Gesellschaft. Sie begründet ein Gesellschaftsverständnis, in dem davon ausgegangen wird, dass soziale Konflikte grundsätzlich über diskursiv herbeigeführte Einverständnisse geregelt werden. In der „Theorie des kommunikativen Handelns“ bestimmt Habermas zunächst die Lebenswelt als das gesellschaftstheoretische Korrelat zum sprechakttheoretisch begründeten Begriff des kommunikativen Handelns. Die Lebenswelt stellt demzufolge den (handlungslogischen) Ausgangspunkt der von Habermas konzipierten allgemeinen Gesellschaftstheorie dar.1 Bestimmend für Habermas’ Konzeption der Gesellschaft ist darüber hinaus, dass er in einer historischen Rekonstruktion ausführt, wie sich in der Entwicklung hin zur Moderne die beiden Systeme von Ökonomie und Politik aus dem Bereich der Lebenswelt herausdifferenziert haben. In dieser Ausdifferenzierung macht er in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ eine Gefahr für den Bestand der Gesellschaft aus, welche in der Kolonialisierung der Lebenswelt besteht.2 Gleichzeitig versteht Habermas die moderne Gesellschaft als eine „Entität“, „die sich im Verlaufe der Evolution sowohl als System wie als Lebenswelt
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Vgl. dazu auch J. Berger (1982), Die Versprachlichung des Sakralen und die Entsprachlichung der Ökonomie, wieder abgedruckt in: A. Honneth & H. Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2002, S. 255-277, S. 257f und S. 263-269. Vgl. Habermas, TdkH, Bd. 2, S. 293.
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ausdifferenziert hat“.3 Zu Recht führt er dabei als das grundlegende gesellschaftstheoretische Problem der Theorie kommunikativen Handelns an, bestimmen zu müssen, wie die beiden „durch ‚System‘ und ‚Lebenswelt‘ gekennzeichneten Begriffsstrategien befriedigend verknüpft werden können“.4 Der in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ verfolgte Versuch, dieses Problem zu lösen, hat eine weitreichende, teils sehr kritische Diskussion ausgelöst.5 Habermas ist dem Problem deshalb wiederholt nachgegangen.6 Grundlegend für seine wiederholten Ausführungen zu dem über die Systeme und die Lebenswelt bestimmten Gesellschaftsverständnis der Theorie kommunikativen Handelns bleibt jedoch, dass er an der Annahme festhält, die Ordnungsform der über das kommunikative Handeln bestimmten Lebenswelt sei bestimmend für den Bestand der Gesellschaft als Ganze.7
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Der kommunikative Begriff der Lebenswelt
Habermas greift den phänomenologischen Begriff der Lebenswelt auf, um seine Konzeption des kommunikativen Handelns gesellschaftstheoretisch nutzbar zu machen. In diesem Sinne stellt der Begriff der Lebenswelt das Korrelat der kommunikativen Verständigungsprozesse dar.8 Der Begriff der Lebenswelt soll, wie Habermas anführt, den Anschluss der kommunikativen
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Vgl. ebd., S. 228. Vgl. ebd. Vgl. etwa T. McCarthy (1986/2002), Komplexität und Demokratie – die Versuchung der Systemtheorie, in: A. Honneth & H. Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘, 3. Aufl., Frankfurt a. M., S. 177-215; V.-M. Bader (1986), Schmerzlose Entkoppelung von System und Lebenswelt. Kritische Bemerkungen zu Jürgen Habermas’ Zeitdiagnose, in: Prokla: Probleme des Klassenkampfes. Zeitschrift für politische Ökonomie und sozialistische Politik 16, S. 139-149; G. Kneer (1991), Geld, Macht und die verlorene Unschuld der Lebenswelt. Ungelöste Probleme der Kolonialisierungsthese von Jürgen Habermas, in: R. Eickelpasch (Hg.), Unübersichtliche Moderne? Zur Diagnose und Kritik der Gegenwartsgesellschaft, Opladen, S. 137-174; H.-J. Giegel (1992), Diskursive Verständigung und systemische Selbststeuerung, in: H.-J. Giegel (Hg.), Kommunikation und Konsens in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M., S. 59-112; N. Mouzelis (1992), Social and system integration: Habermas’ view, in: The British Journal of Sociology 43, S. 267-288; S. Dietz (1993), Lebenswelt und System. Widerstreitende Ansätze in der Gesellschaftstheorie von Jürgen Habermas, Würzburg. Vgl. J. Habermas (1982), Erläuterungen zum Begriff des kommunikativen Handelns, wieder abgedruckt in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1984, S. 571-606 sowie vor allem Habermas, Entgegnung, Kap. III. Vgl. Habermas, TdkH, Bd. 2, S. 230. Vgl. ebd., Bd. 1, S. 107.
Die Gesellschaftskonzeption der Theorie kommunikativen Handelns
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Handlungstheorie an eine soziologische Gesellschaftstheorie sichern.9 Für die Gesellschaftskonzeption der Theorie kommunikativen Handelns ist dabei gleichwohl entscheidend, dass der Begriff der Lebenswelt nicht mit der Gesellschaft als solcher identifiziert wird.10 Deshalb geht es Habermas in der Auseinandersetzung mit dem Begriff der Lebenswelt zum einen darum, diejenigen Strukturen der Lebenswelt herauszuarbeiten, die gegenüber „historischen Ausprägungen partikularer Lebenswelten und Lebensformen als invariant gesetzt werden“.11 Er arbeitet diese heraus, indem er zunächst auf die durch die Sprache gegebenen transzendentalen Momente der Lebenswelt verweist. Darüber hinaus sucht er aber auch zu klären, wie die Lebenswelt selbst durch den Strukturwandel der Gesellschaft im Ganzen begrenzt und verändert wird.12
2.1 Die sprachliche Transzendentalität der Lebenswelt In der Theorie kommunikativen Handelns bildet die Lebenswelt zunächst den Horizont, in dem sich die kommunikativ Handelnden ‚immer schon‘ bewegen: „Kommunikativ handelnde Subjekte verständigen sich stets im Horizont einer Lebenswelt. Ihre Lebenswelt baut sich aus mehr oder weniger diffusen, stets unproblematischen Hintergrundüberzeugungen auf. Dieser lebensweltliche Hintergrund dient als Quelle für Situationsdefinitionen, die von den Beteiligten als unproblematisch vorausgesetzt werden.“13
Mit dieser Bestimmung der Lebenswelt greift Habermas auf die einschlägigen Arbeiten von Edmund Husserl und Alfred Schütz zurück, nimmt dabei aber eine kommunikationstheoretische Neubestimmung der bewusstseinsphilosophischen Grundbegriffe vor. Demnach könne die Lebenswelt als durch einen „kulturell überlieferten und sprachlich organisierten Vorrat an Deutungsmustern repräsentiert“14 verstanden werden. Entscheidend für die kommunikationstheoretische Neubestimmung ist also, dass Habermas die lebensweltlichen Zusammenhänge als kommunikationstheoretische Bedeutungszusammenhänge begreift:
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Vgl. ebd., S. 377. Vgl. ebd., Bd. 2, S. 222 und S. 225f. Vgl. ebd., S. 182. Vgl. ebd., S. 182; ders., Entgegnung, S. 377-396. Habermas, TdkH, Bd. 1, S. 107. Ebd., Bd. 2, S. 189; eigene Hervorhebung.
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Die Gesellschaftskonzeption der Theorie kommunikativen Handelns
„Verweisungszusammenhänge gehen auf grammatisch geregelte Beziehungen zwischen Elementen eines sprachlich organisierten Wissensvorrats zurück.“15
Aufgrund dieser Bestimmung kommt der Sprache (sowie der Kultur) gegenüber allem anderen, was zum Bestandteil einer klärungsbedürftigen Handlungssituation werden kann, eine halbtranszendentale Stellung zu: „Sprache und Kultur sind für die Lebenswelt selbst konstitutiv. Die Kommunikationsteilnehmer bewegen sich, indem sie eine Sprechhandlung ausführen oder verstehen, so sehr innerhalb ihrer Sprache, daß sie eine aktuelle Äußerung nicht als ‚etwas Intersubjektives‘ (...) vor sich bringen können (...). Das Medium der Verständigung verharrt in einer eigentümlichen Halbtranszendenz. Solange die Kommunikationsteilnehmer ihre performative Einstellung beibehalten, bleibt die aktuell benutzte Sprache in ihrem Rücken. Ihr gegenüber können die Sprecher keine extramundane Stellung einnehmen. Dasselbe gilt für die kulturellen Deutungsmuster, die in dieser Sprache tradiert werden.“16
Die Lebenswelt erhält dadurch einen grundlegenderen Status als die „formalen Weltkonzepte“ des kommunikativen Handelns. So legen die Strukturen der Lebenswelt überhaupt erst die Formen der Intersubjektivität möglicher Verständigung fest. Sie verschaffen den Kommunikanten die extramundane Stellung gegenüber dem Innerweltlichen, über das sie sich verständigen. „Die Lebenswelt ist gleichsam der transzendentale Ort, an dem sich Sprecher und Hörer begegnen; wo sie reziprok den Anspruch erheben können, daß ihre Äußerungen mit der Welt (der objektiven, der sozialen oder subjektiven Welt) zusammenpassen; und wo sie diese Geltungsansprüche kritisieren und bestätigen, ihren Dissens austragen und Einverständnis erzielen können.“17
Das Transzendentale der sprachlich bestimmten Lebenswelt kann also „mit einem Satz“ wie folgt gekennzeichnet werden: „>Z@u Sprache und Kultur können die Beteiligten in actu nicht dieselbe Distanz einnehmen wie zur Gesamtheit der Tatsachen, Normen oder Erlebnisse, über die Verständigung möglich ist.“18
Gegenüber ihrem bewusstseinsphilosophischen Verständnis zeichnet sich die kommunikationstheoretische Neubestimmung der Lebenswelt so vor allem dadurch aus, dass die Lebenswelt nun nicht mehr als eine Spiegelung des subjektiven Erlebens einsamer Aktoren verstanden wird, sondern intersubjektivisch als Komplementärbegriff des kommunikativen Handelns.19 15 16 17 18 19
Ebd., S. 190; die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Ebd.; die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Ebd., S. 192. Ebd. Vgl. ebd., S. 198.
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Vor dem Hintergrund einer solchen kommunikationstheoretischen Neubestimmung greift Habermas nun für eine nähere Bestimmung des Transzendentalen der Lebenswelt auf die Aspekte zurück, die bereits Alfred Schütz und Thomas Luckmann für ihre Bestimmung angeführt haben. Sie heben auf drei Aspekte der Lebenswelt ab, die Habermas übernimmt. Zu diesen zählt (a) die fraglose Gegebenheit der Lebenswelt. Schütz und Luckmann führen aus: „Unter alltäglicher Lebenswelt soll jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet. Mit schlicht gegeben bezeichnen wir alles, was wir als fraglos erleben, jeden Sachverhalt, der uns bis auf weiteres unproblematisch ist.“20
Habermas deutet die fraglose Gegebenheit der Lebenswelt kommunikationstheoretisch als den mittelbaren Kontext des kommunikativen Handelns. Er führt an, dass zwar die Bestandteile einer Handlungssituation, über die die Beteiligten einen Konsens erzielen wollen, auch in Frage gestellt werden können müssen. Der Bereich des Problematisierbaren bleibe aber stets auf eine Handlungssituation beschränkt, die in die Horizonte einer Lebenswelt eingeschlossen bleibe: „Die Lebenswelt bildet zu dem, was in der Situation gesprochen, besprochen, angesprochen wird, einen mittelbaren Kontext, der zwar im Prinzip zugänglich ist, aber nicht zu dem thematisch ausgegrenzten Relevanzbereich der Handlungssituation gehört.“21
Während der unmittelbare Relevanzbereich einer Handlungssituation verschoben und verändert werden kann, bleibt also die Lebenswelt ‚als solche‘ stets im Hintergrund: „Nur dieser unmittelbar angesprochene Kontext kann [...] jeweils in den Problematisierungssog des kommunikativen Handelns hineingeraten, während die Lebenswelt stets im Hintergrund bleibt.“22
Die transzendentale Bestimmung der Lebenswelt beinhaltet (b), dass sie über Gewissheit bestimmt ist. Diese verdankt sich Habermas zufolge einem in die Intersubjektivität sprachlicher Verständigung eingebauten sozialen Apriori.23 Das Moment der Intersubjektivität haben bereits Schütz und Luckmann betont:
20 21 22 23
A. Schütz & Th. Luckmann (1979), Strukturen der Lebenswelt, Bd. 1, Frankfurt a. M., S. 25. Habermas, TdkH, Bd. 2, S. 199. Ebd. Vgl. ebd.
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„So ist meine Lebenswelt von Anfang an nicht meine Privatwelt, sondern intersubjektiv; die Grundstruktur ihrer Wirklichkeit ist uns gemeinsam. Es ist mir selbstverständlich, daß ich bis zu einem gewissen Maß von den Erlebnissen meiner Mitmenschen Kenntnis erlangen kann, so z. B. von den Motiven ihres Handelns, wie ich auch annehme, daß das gleiche umgekehrt für sie mit Bezug auf mich gilt.“24
Habermas führt außerdem an, dass es zwar ein „kultureller Wissensvorrat“ sei, den die Angehörigen einer Lebenswelt teilen. Aber der relevante Ausschnitt der Lebenswelt könne im Licht einer aktuellen Handlungssituation auch den Status einer zufälligen Wirklichkeit erhalten, die auch anderen Interpretationen offen stehe. Doch auch dies bedeute nicht, dass das grundlegende naive Vertrauen in die Lebenswelt erschüttert werde: „Die Angehörigen leben gewiß mit dem Bewußtsein des Risikos, daß jederzeit neue Situationen auftreten können, daß sie ständig neue Situationen bewältigen müssen; aber diese Situationen können das naive Vertrauen in die Lebenswelt nicht erschüttern. Die kommunikative Alltagspraxis ist unvereinbar mit der Hypothese, daß ‚alles auch ganz anders sein könnte‘.“25
Schließlich stellt sich die Lebenswelt aufgrund ihrer Transzendentalität (c) als immun gegenüber Totalrevisionen dar. Mit dieser Eigenart wird vor allem der Bereich der Lebenswelt in den Blick genommen, der stets jenseits des mittelbaren Kontextes einer Handlungssituation bleibt: „Situationen wechseln, aber die Grenzen der Lebenswelt lassen sich nicht transzendieren. Die Lebenswelt bildet die Umgebung, in der sich Situationskontexte verschieben, erweitern oder verengen. Sie bildet einen Kontext, der, selber unbegrenzt, Grenzen zieht.“26
Schütz und Luckmann schreiben der Lebenswelt damit eine der unmittelbaren Erfahrung und des Wissens vorenthaltene Dimension zu. Sie erhält so ein Moment der genuinen Unbestimmtheit: „Der Wissensvorrat des lebensweltlichen Denkens ist nicht zu verstehen als ein in seiner Gesamtheit durchsichtiger Zusammenhang, sondern vielmehr als eine Totalität der von Situation zu Situation wechselnden Selbstverständlichkeiten, jeweils abgehoben von einem Hintergrund der Unbestimmtheit. Diese Totalität ist nicht als solche erfaßbar, ist aber, als ein sicherer, vertrauter Boden jeglicher situationsbedingter Auslegung erlebt, im Erfahrungsablauf mitgegeben.“27
Auch Habermas führt das Unhintergehbare an, das die Lebenswelt für ihre Angehörigen hat: 24 25 26 27
Schütz & Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, S. 26. Habermas, TdkH, Bd. 2, S. 200. Ebd., S. 201; die Hervorhebung entspricht dem Original. Schütz & Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, S. 31.
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„Für Angehörige bildet die Lebenswelt einen nicht hintergehbaren und prinzipiell unerschöpflichen Kontext.“28
2.2 Die Reproduktion der Lebenswelt In Anlehnung an Durkheim sucht Habermas sodann, die Perspektive einer historischen Entwicklung in den Begriff der Lebenswelt einzubringen. Damit ist er zugleich bemüht, einen weiteren, über die direkte Betroffenheit der Angehörigen hinausgehenden Zugang zur Analyse der Lebenswelt zu finden. Er sieht dabei die Notwendigkeit für eine Erweiterung des phänomenologischen Begriffs der Lebenswelt gegeben: „Wenn aber die Solidaritäten der über Werte und Normen integrierten Gruppen und die Kompetenzen vergesellschafteter Individuen in ähnlicher Weise wie kulturelle Überlieferungen a tergo ins kommunikative Handeln einfließen, empfiehlt es sich, die kulturalitische Verkürzung des Konzepts der Lebenswelt zu korrigieren.“29
Über die phänomenologische Konzeption der Lebenswelt hinausgehend verweist Habermas deshalb auf das (kommunikative) Handeln der Aktoren in der Lebenswelt.30 Das Handeln, verstanden als die Bewältigung von Situationen, stelle sich, wie Habermas anführt, als ein Kreisprozess dar, in dem der Aktor sowohl der Initiator zurechenbarer Handlungen ist als auch das Produkt vorangegangener Handlungen. So sei der Aktor zum einen das Produkt von Überlieferungen, in denen er steht, zum anderen das Produkt von solidarischen Gruppen, denen er angehört, sowie schließlich das Produkt von Sozialisationsund Lernprozessen, denen er unterworfen ist. Lebensweltliche Gewissheiten stellen demnach nicht nur Restriktionen, sondern auch Ressourcen des (kommunikativen) Handelns dar: „Während sich a fronte dem Handelnden der situationsrelevante Ausschnitt der Lebenswelt als Problem aufdrängt, das er in eigener Regie lösen muß, wird er a tergo vom Hintergrund seiner Lebenswelt getragen, die keineswegs nur aus kulturellen Gewissheiten besteht. Dieser Hintergrund besteht auch aus individuellen Fertigkeiten, dem intuitiven Wissen, wie man mit einer Situation fertig wird, und aus sozial eingelebten Praktiken, dem intuitiven Wissen, worauf man sich in einer Situation verlassen kann, nicht weniger als aus den trivialerweise gewußten Hintergrundüberzeugungen.“31
28 29 30 31
Habermas, TdkH, Bd. 2, S. 202. Ebd., S. 205. Vgl. ebd., S. 204. Ebd., S. 205; die Hervorhebungen entsprechen dem Original.
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Um nun über den analytischen Aspekt der Handlung einen über die direkte Betroffenheit der Angehörigen hinausgehenden Zugang zur Analyse der Lebenswelt zu finden, schließt Habermas zunächst an die Analyse narrativer Aussagen sowie an die Analysen von Erzählkontexten an. Dabei stellt er fest, dass diese zwar bereits zu einem (Laien-)Konzept der Lebenswelt verhelfen würden; als ein solches beziehe sich das (Laien- oder Alltags-)Konzept der Lebenswelt auch auf die Gesamtheit der soziokulturellen Tatsachen und biete einen Anknüpfungspunkt für eine allgemeine Gesellschaftstheorie. Jedoch beziehen sich, wie Habermas anführt, auch die narrativen Darstellungen lediglich auf Innerweltliches. Eine theoretische Darstellung soll dagegen die Reproduktion der Lebenswelt selbst erklären.32 Um diese erklären zu können, sei es, so Habermas weiter, notwendig, den im Medium der Sprache ebenfalls angelegten funktionalen Aspekt des kommunikativen Handelns hervorzuheben. Es sind Habermas zufolge drei reproduktive Funktionen, die das kommunikative Handeln erfüllt: „Unter dem funktionalen Aspekt der Verständigung dient kommunikatives Handeln der Tradition und der Erneuerung kulturellen Wissens; unter dem Aspekt der Handlungskoordinierung dient es der sozialen Integration und der Herstellung von Solidarität; unter dem Aspekt der Sozialisation schließlich dient kommunikatives Handeln der Ausbildung von personalen Identitäten. [...] Diesen Vorgängen der kulturellen Reproduktion, der sozialen Integration und der Sozialisation entsprechen die strukturellen Komponenten der Lebenswelt Kultur, Gesellschaft und Person.“33
Die drei Reproduktionsfunktionen des kommunikativen Handelns erstrecken sich, wie Habermas anführt, auf die symbolischen Strukturen der Lebenswelt. Von der Reproduktion dieser symbolischen Strukturen müsse jedoch noch die Erhaltung des materiellen Substrats der Lebenswelt unterschieden werden. Anders als die Reproduktion der symbolischen Strukturen vollziehe sich diese im Medium der Zwecktätigkeit.34 Wie sich im Folgenden zeigen wird, ist es zunächst diese Annahme, auf der Habermas’ Vorstellung gründet, dass der Lebensweltbegriff in der historischen Perspektive nicht mit dem Begriff der Gesellschaft im Ganzen identifiziert werden könne.
32 33 34
Vgl. ebd., S. 207. Ebd., S. 208f; die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Vgl. ebd., S. 209.
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Entkoppelung von System und Lebenswelt?
In seinen frühen Schriften zur Bestimmung gesellschaftlicher Verhältnisse hatte Habermas zunächst angenommen, dass sich im Zuge der sozialen Evolution zwei differente gesellschaftliche Handlungsbereiche herausbilden, die sich über je einen Handlungstyp reproduzieren. In „Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘“ führt er die Sozialpathologien moderner Gesellschaftsformen dementsprechend auf Differenzen zurück, die durch den wissenschaftlichtechnischen Fortschritt einerseits und die Emanzipation der Lebenswelt andererseits verursacht wurden. Den wissenschaftlich-technischen Fortschritt rechnet er dabei eindeutig dem Handlungsbereich der objektiven Arbeitswelt und die Emanzipation der Lebenswelt eindeutig dem von der materiellen Reproduktion entlasteten sozialen Handlungsbereich zu.35 Diese eindeutige Zuordnung von Handlungstypen und Gesellschaftsbereichen hat Habermas in seiner in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ ausgearbeiteten Gesellschaftstheorie aufgehoben. So unterscheidet er in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ zwar noch zwischen einer symbolischen und einer materiellen Reproduktion der Lebenswelt. Wie im Folgenden dargestellt werden soll, führt er nun aber darüber hinausgehend an, dass sich diese Reproduktionsprozesse in der Entwicklung zur Moderne jeweils zu einem verständigungsorientierten und einem systemisch bestimmten Bereich der Gesellschaft ausgebildet haben. Dabei ist entscheidend, dass der systemisch bestimmte Bereich der Gesellschaft aufgrund seiner eigenen funktionalen Logik über die reine (in der Lebenswelt angelegte) handlungslogische Dimensionierung der Gesellschaft hinausgeht. Habermas führt dementsprechend in seiner „Entgegnung“ auf die Kritiken des in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ entwickelten Gesellschaftsverständnisses an, dass es ein Ziel seiner dort gemachten Darlegungen war, die ursprünglich eindeutige Zuordnung der beiden Handlungstypen zu je einem der Reproduktionsprozesse aufzuheben.36 Habermas entwickelt in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ ein zweistufiges Gesellschaftskonzept, das versucht, die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme in eine handlungslogisch angelegte Gesellschafts35 36
Vgl. den Titelaufsatz in: J. Habermas (1968), Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘, Frankfurt a. M., S. 48-103, S. 62 sowie auch den Titelaufsatz in: J. Habermas (1976), Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt a. M., S. 144-199, S. 145f. Vgl. Habermas, Entgegnung, S. 377; zu einem weiteren Versuch der Zuordnungen von Handlungs- und Ordnungstypen zunächst Habermas, Erläuterungen zum Begriff des kommunikativen Handelns, S. 603 und in schließlich nochmals korrigierter Fassung Habermas, Entgegnung, S. 383.
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theorie einzuholen. Als problematisch erweist sich dabei seine Annahme, dass im Verständnis der Theorie kommunikativen Handelns die einverständliche Verständigungsorientierung der Lebenswelt auch in der Moderne das umfassendere Ordnungskonzept bleibt und deshalb als grundlegend für den Bestand der Gesellschaftsordnung als Ganze gilt.37 Darum stellt sich gerade in einem über die funktionale Logik der Subsysteme bestimmten Begriff der Gesellschaft die Frage, welche Bedeutung der einverständlichen Verständigungsorientierung der Lebenswelt tatsächlich zukommt.
3.1 Die (prozessuale) Rationalisierung der Lebenswelt Habermas geht auch bei der Frage nach der Ausgangslage soziokultureller Entwicklungen zunächst von den Reproduktionsprozessen der (symbolischen) Strukturen der Lebenswelt aus. In der „Theorie des kommunikativen Handelns“ führt er Störungen an, die sich aus der rekonstruktiven Perspektive heraus in den drei Reproduktionsprozessen der Lebenswelt ausmachen lassen. Diese haben zum einen Folgen für die jeweiligen Bereiche der Lebenswelt: die der Kultur, die der Gesellschaft und die der Person. „Reproduktionsstörungen manifestieren sich in dem jeweils eigenen Bereich der Kultur, der Gesellschaft und der Person als Sinnverlust, Anomie oder seelischer Krankheit (Psychopathologien). In den jeweils anderen Bereichen kommt es zu entsprechenden Entzugserscheinungen.“38
Zum anderen zeige sich in diesen Störungen auch, dass alle drei Reproduktionsprozesse einen Beitrag zur Reproduktion der Lebenswelt als Ganze leisteten. In der Feststellung, dass „jeder der Reproduktionsprozesse zur Erhaltung aller Komponenten der Lebenswelt Beiträge leistet“39, sieht Habermas die Bestätigung dafür, dass es der kommunikative Sprachgebrauch ist, dem die allgemeine Funktion der Reproduktion der Strukturen der Lebenswelt zugeschrieben werden muss. Zur gesellschaftstheoretischen Bestätigung dieser Feststellung verweist Habermas auf die von Mead vermittelte Einsicht, dass kommunikatives Handeln anthropologisch fundamental sei. Bei Mead seien es empirische Gründe, „die dafür sprechen, daß die Strukturen der sprachlich vermittelten normengeleiteten Interaktion die Ausgangslage für soziokulturel-
37 38 39
Vgl. Habermas, TdkH, Bd. 2, S. 230 sowie ders., Entgegnung, S. 377-396. Habermas, TdkH, Bd. 2, S. 216. Ebd.; die Hervorhebungen entsprechen dem Original.
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le Entwicklungen überhaupt bestimmen“.40 Mit der anthropologisch fundamentalen Bedeutung der Sprache ist für Habermas „auch der Spielraum festgelegt, innerhalb dessen historische Lebenswelten variieren können“.41 Mit der Feststellung von der fundamentalen Bedeutung des kommunikativen Handelns für die soziokulturelle Entwicklung sei jedoch, so Habermas weiter, noch nicht die Frage der gesellschaftlichen Entwicklungsdynamik geklärt.42 Er geht auch dieser Frage zunächst nach, indem er nach einer Entwicklung der (symbolischen) Strukturen der Lebenswelt fragt. Als Lernprozess oder gerichtete Variation sei die strukturelle Ausdifferenzierung der Lebenswelt (in die Bereiche der Kultur, der Gesellschaft und der Persönlichkeit) nur zu verstehen, wenn sie sich als ein Zuwachs an Rationalität darstellen lasse. Ein solcher Zuwachs an Rationalität manifestiert sich Habermas zufolge in der Zunahme rational motivierter Verständigung, „also einer Konsensbildung, die sich letztlich auf die Autorität des besseren Arguments stützt“.43 Dabei würde eine in diesem Sinne rationalisierte Lebenswelt laut Habermas insofern eine „eigentümliche Transparenz“ gewinnen, „als sie nur Situationen zuließe, in denen die erwachsenen Aktoren erfolgs- und verständigungsorientierte Handlungen ebenso klar unterscheiden würden wie empirisch motivierte Einstellungen von rational motivierten Ja/Nein-Stellungnahmen“.44 Die Rationalisierung der Lebenswelt würde wesentlich also eine Trennung von erfolgsund verständigungsorientiertem Handeln beinhalten. Zur Klärung der Frage, ob eine solche Entwicklung der Lebenswelt vorliegt, rekonstruiert Habermas die Anhaltspunkte, die Mead und Durkheim für eine Rationalisierung der Lebenswelt angeführt haben. Zu diesen Anhaltspunkten gehören neben der strukturellen Differenzierung der Lebenswelt auch die Trennung von Form und Inhalt sowie das Reflexivwerden der symbolischen Reproduktion. Es zeigt sich laut Habermas, dass dies allesamt Anhaltspunkte sind, die eine Entfaltung des im kommunikativen Handeln angelegten Rationalitätspotentials beinhalten.45 40 41 42
43 44 45
Vgl. ebd., S. 217f. Vgl. ebd., S. 218. Für eine Kritik des von Habermas angeführten Verständnisses sozialer Evolution vgl. insbesondere K. Holz (1998), Begründungslogische Evolutionstheorie, in: F. Welz & U. Weisenbacher (Hg.), Soziologische Theorie und Geschichte, Wiesbaden, S. 218-232 sowie J. P. Arnason (1986/2002), Die Moderne als Projekt und Spannungsfeld, in: A. Honneth & H. Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘, 3. Aufl., Frankfurt a. M., S. 278-326 und Berger, Die Versprachlichung des Sakralen und die Entsprachlichung der Ökonomie, S. 255-277. Vgl. Habermas, TdkH, Bd. 2, S. 218. Vgl. ebd., S. 219. Vgl. ebd., S. 219ff. und Habermas, TdkH, Bd. 1, S. 109.
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3.2 Der Einfluss systemischer Handlungszusammenhänge Allerdings garantiere auch die fortschreitende Rationalisierung der Lebenswelt, wie Habermas im weiteren Verlauf seiner Rekonstruktion feststellt, keine störungsfreie Reproduktion der lebensweltlichen Strukturen. Es verschiebe sich lediglich das Niveau, auf dem Störungen auftreten könnten. Um diese aber vollständig erklären zu können, sei es notwendig, zu klären, wie Prozesse der Systemdifferenzierung auf die Lebenswelt einwirken. Habermas greift somit nun hier die bereits angeführte Annahme wieder auf, dass die Reproduktion der symbolischen Lebensweltstrukturen von der Reproduktion des materiellen Substrats der Lebenswelt unterschieden werden müsse und führt im Anschluss an diese Differenzierung die Bedeutung systemisch bestimmter Handlungszusammenhänge in seine (lebensweltliche) Gesellschaftskonzeption ein. Wie bereits erwähnt, meint Habermas, dass aufgrund der Differenz von kommunikativer und materieller Reproduktion Gesellschaften nicht mit der Lebenswelt als solcher identifiziert werden dürften; ebenso wenig dürften sie andererseits aber auf systemische Zusammenhänge reduziert werden. Habermas lässt sich bei der Aufklärung von Reproduktionsstörungen deshalb von der Idee leiten, „daß einerseits die Dynamik der Entwicklung durch Imperative gesteuert wird, die aus Problemen der Bestandssicherung, d. h. der materiellen Reproduktion der Lebenswelt resultieren; daß aber diese gesellschaftliche Entwicklung andererseits strukturelle Möglichkeiten nützt, und ihrerseits strukturellen Beschränkungen unterliegt, die sich mit der Rationalisierung der Lebenswelt systematisch, und zwar in Abhängigkeit von entsprechenden Lernprozessen verändern“46.
Habermas verweist darauf, dass bei einem solchen Verständnis gesellschaftlicher Entwicklung zum einen die systemtheoretische Perspektive durch die Annahme relativiert werde, dass die Rationalisierung der Lebenswelt zu einer gerichteten Variation von Strukturmustern führt, die wiederum den Systembestand definieren. Zum anderen werde so deutlich, dass sich die drei Annahmen von der Autonomie der Handelnden, der Unabhängigkeit der Kultur und der Durchsichtigkeit der Kommunikationen, die jenen Konzepten der Lebenswelt zugrunde liegen, die die Gesellschaft in dieser aufgehen sehen, nur aus der Binnenperspektive der Lebenswelt aufrechterhalten lassen. Sie seien nur solange zwingend, wie angenommen würde, dass sich die Integration der Gesellschaft „allein unter den Prämissen verständigungsorientierten Handelns“47 46 47
Habermas, TdkH, Bd. 2, S. 223. Ebd., S. 225.
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vollziehe. Tatsächlich würden aber, wie Habermas nun deutlich macht, die zielgerichteten Handlungen der Gesellschaftsmitglieder „nicht nur über Prozesse der Verständigung koordiniert“, sondern auch über „funktionale Zusammenhänge, die von ihnen nicht intendiert sind und innerhalb des Horizonts der Alltagspraxis meistens auch nicht wahrgenommen werden“.48 Als ein Beispiel für einen solchen systemisch bestimmten Handlungszusammenhang führt Habermas den Markt kapitalistischer Gesellschaftsformen an. Sein Funktionalismus unterscheide sich von dem der Verständigung: „Der Markt gehört zu den systemischen Mechanismen, die nicht-intendierte Handlungszusammenhänge über die funktionale Vernetzung von Handlungsfolgen stabilisieren, während der Mechanismus der Verständigung die Handlungsorientierungen der Beteiligten aufeinander abstimmt.“49
Aufgrund dieses durch die systemischen Handlungszusammenhänge erweiterten Gesellschaftskonzeptes der Lebenswelt schlägt Habermas eine gesellschaftstheoretische Unterscheidung vor, die in der Differenz von Sozial- und Systemintegration liegt: „>D@ie eine setzt an den Handlungsorientierungen an, durch die die andere hindurchgreift. Im einen Fall wird das Handlungssystem durch einen, sei es normativ gesicherten oder kommunikativ erzielten Konsens, im anderen Fall durch die nicht-normative Steuerung von subjektiv unkoordinierten Einzelentscheidungen integriert.“50
Aus der Feststellung dieser Differenz folgert Habermas zunächst bloß, dass Gesellschaften formelhaft als „systemisch stabilisierte Handlungszusammenhänge sozial integrierter Gruppen“ verstanden werden können.51 Eine genauere Bestimmung des Verhältnisses von systemisch stabilisierten Handlungszusammenhängen und lebensweltlichen Strukturen ist damit noch nicht geleistet.
4
Das Problem der zweistufigen Gesellschaftskonzeption
Den Zusammenhang von Sozial- und Systemintegration sucht Habermas im Weiteren dadurch zu klären, dass er die soziale Evolution als einen Differenzierungsvorgang zweiter Ordnung darstellt. In einem solchen Vorgang differenzieren sich Habermas zufolge System und Lebenswelt jeweils als System und als Lebenswelt aus. Dies geschehe, indem die Komplexität des Systems 48 49 50 51
Vgl. ebd., S. 225f. Ebd., S. 226; die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Ebd. Vgl. ebd., S. 228.
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und die Rationalität der Lebenswelt wachsen. Gleichzeitig differenzierten sich aber auch System und Lebenswelt untereinander. Während dies in Habermas’ Verständnis zur Folge hat, dass in modernen Gesellschaften auf der einen Seite systemische Mechanismen soziale Auseinandersetzungen unabhängig von Normen und Werten koordinieren, sei es auf der anderen Seite so, dass die Lebenswelt gleichwohl das Subsystem bleibt, „das den Bestand der Gesellschaft im Ganzen definiert“.52 Gerade die systemischen Mechanismen bedürfen deshalb laut Habermas einer Verankerung in der Lebenswelt. In der Frage, ob eine solche tatsächlich gelingen kann, liegt das eigentliche Problem in dem von Habermas herausgearbeiteten Verständnis moderner Gesellschaften. Habermas entfaltet das zweistufige Gesellschaftskonzept, indem er in zwei Schritten verfolgt, wie die Komplexitätssteigerungen des Systems einerseits und die Rationalisierung der Lebenswelt andererseits miteinander verbunden sind. Dabei stellt er in einem ersten Schritt der Rekonstruktion zunächst auf diejenigen Anreize gesellschaftlicher Entwicklung ab, die von der materiellen Reproduktion lebensweltlicher Strukturen ausgehen und die Ausbildung der (modernen) Steuerungsmedien zur Folge haben. Die Entwicklung der Steuerungsmedien rekonstruiert Habermas dabei in Zusammenhang mit den jeweiligen gesellschaftlichen Integrationsmechanismen, die er in den drei in der Geschichte herausgebildeten Gesellschaftsformen (der archaischen Stammesgesellschaft, der traditionalen oder herrschaftlich organisierten Gesellschaft und der modernen Gesellschaft) ausmacht. Die modernen Steuerungsmedien Geld und Macht werden dabei dieser Rekonstruktion zufolge über das bürgerliche Privatrecht an die Lebenswelt rückgebunden. In einem zweiten Schritt unternimmt Habermas es sodann, das „logische“ Primat herauszuarbeiten, das die Theorie kommunikativen Handelns der Rationalisierung der Lebenswelt für die soziale Evolution zuschreibt. In dieser Rekonstruktion des gesellschaftlichen Strukturwandels kommt die grundlegende Frage des modernen Gesellschaftsverständnisses darin zum Ausdruck, dass Habermas selbst anführt, die modernen Steuerungsmedien Geld und Macht verlangten eine eindeutig strategische Einstellung der Akteure.53 Anders als die ersten drei historischen Mechanismen gesellschaftlicher Integration – die segmentäre Differenzierung, die gesellschaftliche Stratifikation und die politische Organisation der Gesellschaft –, die gegenüber den beiden Handlungstypen des kommunikativen und des strategischen Handelns 52 53
Vgl. ebd., S. 230. Vgl. ebd., S. 273 und ders., Entgegnung, S. 383.
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noch neutral seien, würde die vierte, die gesellschaftliche Organisation durch die Steuerungsmedien Geld und Macht, an empirisch motivierten Bindungen ansetzen: „>S@ie codieren einen zweckrationalen Umgang mit kalkulierbaren Wertmengen und ermöglichen eine generalisierte strategische Einflußnahme auf die Entscheidungen anderer Interaktionsteilnehmer unter Umgehung sprachlicher Konsensbildung.“ 54
Es ist diese von Habermas zu Recht getroffene Feststellung, die das grundlegende Problem des Gesellschaftsverständnisses der Theorie kommunikativen Handelns virulent werden lässt; die Frage nämlich, ob die über die Steuerungsmedien von Geld und Macht integrierten Subsysteme der Gesellschaft tatsächlich in Habermas’ Sinne (über das bürgerliche Privatrecht) an die über das kommunikative Handeln begründete Lebenswelt rückgebunden werden können.
4.1 Habermas’ Rekonstruktion des gesellschaftlichen Strukturwandels In einer historisch angelegten Rekonstruktion zeigt sich laut Habermas, dass das Lebensweltkonzept der Gesellschaft am ehesten in den archaischen Stammesgesellschaften eine empirische Stütze findet.55 In diesen bildeten die Strukturen sprachlich vermittelter normengeleiteter Interaktionen zugleich die tragende Sozialstruktur. Der idealen Vorstellung entsprechend, spielten sich in den frühen Gesellschaftsformen alle Interaktionen im Kontext einer gemeinsamen Welt ab. Diese sei über Verwandtschaftsbeziehungen bestimmt. Die Lebenswelt teile sich mithin in Bereiche der Interaktion mit Verwandten und Nichtverwandten. Die erste bestimme sich dabei definitiv über kommunikatives Handeln: „Diesseits dieser Grenze unterliegt das Verhalten der Verpflichtung zu Aufrichtigkeit, Loyalität, gegenseitiger Unterstützung, kurz: zu verständigungsorientiertem Handeln. Das Prinzip von ‚amity‘, das Meyer-Fortes in diesem Zusammenhang einführt, läßt sich als die Metanorm verstehen, die dazu verpflichtet, im Verkehr mit Verwandten die Voraussetzungen kommunikativen Handelns zu erfüllen. Das schließt Rivalität, Auseinandersetzungen, latente Feindseligkeiten nicht aus, wohl aber manifest strategisches Handeln.“56
Aber auch die Interaktion mit Nichtverwandten wird laut Habermas in den frühen Stammesgesellschaften im Grunde einverständlich geregelt, denn das 54 55 56
Habermas, TdkH, Bd. 2, S. 273; die Hervorhebung entspricht dem Original. Vgl. ebd., S. 233. Ebd., S. 235; die Hervorhebung entspricht dem Original.
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vorherrschende mythische Weltbild erlaube keine eindeutige soziale Grenzziehung. Demzufolge verhindert laut Habermas das mythische Weltverständnis das Auseinandertreten des kommunikativen und erfolgsorientierten Handelns: „Soweit das mythische Weltverständnis die aktuelle Handlungsorientierung steuert, können verständigungs- und erfolgsorientiertes Handeln noch nicht auseinandertreten, kann das Nein eines Interaktionsteilnehmers noch nicht Kritik oder Zurückweisung eines Geltungsanspruchs bedeuten.“57
Die Anreize für eine gesellschaftliche Entwicklung schreibt Habermas in der Rekonstruktion des gesellschaftlichen Strukturwandels hier zunächst den Faktoren der materiellen Reproduktion zu. Dabei führt er an, die Erhaltung des materiellen Substrats der Lebenswelt erstrecke sich (unter anderem) auf die Produktion und Verteilung von Gütern, auf militärische Aufgaben sowie auf die Beilegung von inneren Konflikten. Diese Aufgaben verlangten eine kooperative Herangehensweise und könnten mehr oder weniger effektiv bewältigt werden. Habermas bringt mithin das ökonomische Prinzip der Rationalisierung als das Entwicklungsprinzip der materiellen Reproduktion in Anschlag: „Soweit die Sparsamkeit des Aufwandes und der Wirkungsgrad des Mitteleinsatzes als intuitive Maßstäbe für die erfolgreiche Lösung solcher Aufgaben dienen, ergeben sich Anreize für die funktionale Spezifizierung der Leistungen und eine entsprechende Differenzierung der Ergebnisse. Es bestehen, mit anderen Worten, Prämien auf eine Anpassung von einfachen Interaktionssystemen an Bedingungen einer arbeitsteiligen Kooperation.“58
In den archaischen Stammesgesellschaften werde dabei das zur materiellen Reproduktion der Lebenswelt notwendig zweckrationale Handeln über den Tauschmechanismus und einen Mechanismus der Machtbildung koordiniert. Die Entstehung von Machtdifferentialen sei für die Steigerung der Komplexität früher Stammesgesellschaften bestimmend: „Die über Tauschbeziehungen laufende segmentäre Differenzierung steigert die Komplexität einer Gesellschaft auf dem Wege einer horizontalen Aneinanderreihung ähnlich strukturierter Verbände. Dadurch wird die funktionale Spezifizierung der gesellschaftlichen Kooperation nicht notwendig gefördert. Erst mit der vertikalen Schichtung unilinearer Abstammungsgruppen entstehen Machtdifferentiale, die für eine kompetente Zusammenfügung von spezialisierten Leistungen, d.h. für Organisation genutzt werden können.“59
57 58 59
Ebd., S. 238. Ebd., S. 239; die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Ebd., S. 242; die Hervorhebungen entsprechen dem Original.
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Die archaischen Stammesgesellschaften selbst seien dabei noch darüber bestimmt, dass die systemischen Mechanismen mit den sozialintegrativen Institutionen verbunden sind. So fallen laut Habermas etwa in dem über Heiratsregeln normierten Frauentausch Sozial- und Systemintegration zusammen. Auch der Mechanismus der Machtbildung operiere zunächst nur innerhalb der durch das Verwandtschaftssystem vorgegebenen Dimensionen von Geschlecht, Generation und Abstammung. Statusdifferenzen seien demnach nur aufgrund des Besitzes von Prestige, nicht aber aufgrund von politischer Macht möglich.60 Der Machtmechanismus löse sich, so Habermas weiter, erst mit der Ausbildung einer im Staat institutionalisierten Organisationsmacht von den Verwandtschaftsstrukturen ab. Der Mechanismus der staatlichen Organisation finde dann in einer „politischen Gesamtordnung, der die sozialen Schichten ein- und untergeordnet werden, die ihm angemessene Sozialstruktur“.61 In der herrschaftlich (oder traditional) organisierten Gesellschaftsform gehe somit zunächst der Machtmechanismus evolutionär in Führung. Erst mit der Entwicklung einer kapitalistischen Wirtschaftsform im Übergang zur Neuzeit erhalte der Mechanismus des Tausches einen für die Gesellschaft als Ganze strukturbildenden Effekt. Dabei kennzeichnet Habermas zufolge jeden der evolutionär in Führung gehenden Mechanismen ein höheres Integrationsniveau: „Jede neue Ebene der Systemdifferenzierung öffnet einen Spielraum für weitere Komplexitätssteigerungen, d.h. für weitere funktionale Spezifikationen und eine entsprechend abstraktere Integration der eingetretenen Differenzierungen.“62
Somit ändern sich laut Habermas mit den systemischen Mechanismen auch die Institutionenkomplexe, die den jeweils in Führung gehenden Mechanismus der Systemdifferenzierung in der Lebenswelt verankern. Während also die segmentäre Differenzierung in Form von Verwandtschaftsbeziehungen, die Stratifikation in Form von Rangordnungen und die staatliche Organisation in Formen politischer Herrschaft institutionalisiert werden, werden die modernen Steuerungsmedien Geld und Macht in Form von Beziehungen zwischen privaten Rechtspersonen institutionalisiert. Mithin sind laut Habermas die den jeweiligen Gesellschaftsformen entsprechenden Institutionen lebensweltlicher Verankerung in ihrer historischen Folge: Geschlechts- und Generationenrol-
60 61 62
Vgl. ebd., S. 244f. Vgl. ebd., S. 247. Ebd.
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len, der Status von Abstammungsgruppen, das politische Amt und das bürgerliche Privatrecht.63
4.2 Das Primat der Lebenswelt Um die historische Rekonstruktion der sozialen Evolution abzurunden, greift Habermas in einem zweiten Schritt die Frage auf, wie sich im Verlauf der sozialen Evolution der Eigensinn der kommunikativen Rationalität selbst entfaltet. Während es ihm also im vorangegangenen Schritt vor allem um die Ausdifferenzierung von System und Lebenswelt (und die lebensweltliche Institutionalisierung der systemischen Steuerungsmedien) ging, verfolgt Habermas in diesem zweiten Schritt die Frage, wie sich die strukturelle Differenzierung der Lebenswelt selbst entwickelt. Er erklärt damit, wodurch die oben angeführte Ausbildung neuer Institutionen zur lebensweltlichen Verankerung der systemischen Steuerungsmedien möglich wurde. Entscheidend für die Frage der sozialen Evolution aus der Perspektive der Lebenswelt ist Habermas zufolge die Entwicklung von Recht und Moral. Recht und Moral komme eine „Schrittmacherfunktion“ in der sozialen Evolution zu.64 Während also Komplexitätssteigerungen (der Subsysteme) von der strukturellen Differenzierung der Lebenswelt abhängig seien, gehorche der Strukturwandel der Lebenswelt selbst wiederum dem Eigensinn kommunikativer Rationalisierung. Habermas führt aus: „Das Niveau möglicher Komplexitätssteigerung läßt sich, wie gezeigt, nur dadurch anheben, daß ein neuer Systemmechanismus eingeführt wird; jeder neu in Führung gehende Mechanismus der Systemdifferenzierung muß aber in der Lebenswelt verankert, über Status, Amtsautorität oder bürgerliches Privatrecht institutionalisiert werden. Die Gesellschaftsformationen unterscheiden sich letztlich nach den institutionellen Komplexen, die im Marxschen Sinne die Basis der Gesellschaft definieren. Diese Basisinstitutionen bilden nun eine Reihe von evolutionären Neuerungen, die nur unter der Bedingung eintreten können, daß vor allem Recht und Moral eine entsprechende Entwicklungsstufe erreicht haben. Die Institutionalisierung einer neuen Ebene der Systemdifferenzierung verlangt Umbauten im institutionellen Kernbereich der moralisch-rechtlichen, d.h. konsensuellen Regelung von Handlungskonflikten.“65
Während Moral und Recht darauf spezialisiert seien, offene Konflikte einzudämmen, so dass „die Grundlage verständigungsorientierten Handelns und
63 64 65
Vgl. ebd., S. 249. Vgl. ebd., S. 464. Ebd., S. 259.
Die Gesellschaftskonzeption der Theorie kommunikativen Handelns
105
damit die soziale Integration der Lebenswelt“66 nicht zerfalle, müssten sie als Handlungsnormen zweiter Ordnung verstanden werden: „Sie sichern die nächste Ebene des Konsenses, auf die man rekurrieren kann, wenn der Verständigungsmechanismus im Bereich normativ geregelter Alltagskommunikation versagt, wenn also die für den Normalfall vorgesehene Koordination der Handlungen nicht zustande kommt und die Alternative gewaltsamer Auseinandersetzung aktuell wird.“67
Die systematische Begründung für die These vom Primat der Lebenswelt liefert Habermas anhand des Ausweises zweier gegenläufiger Tendenzen, die sich auf der Ebene von Interaktionen und Handlungsorientierungen im Zuge einer fortschreitenden „Wertgeneralisierung“ durchsetzen. Er führt an, dass sich das kommunikative Handeln mit fortschreitender Motiv- und Wertegeneralisierung immer weiter von konkreten und überlieferten normativen Verhaltensmustern löse. Mit dieser ersten (lebensweltlichen) Form der Entkoppelung gehe die Bürde der sozialen Integration immer stärker von einem religiös verankerten Konsens auf die sprachlichen Konsensbildungsprozesse über. Die allgemeinen Strukturen verständigungsorientierten Handelns treten so Habermas zufolge immer reiner hervor: „Die Umpolung der Handlungskoordinierung auf den Verständigungsmechanismus läßt die allgemeinen Strukturen verständigungsorientierten Handelns immer reiner hervortreten. Insofern ist Wertegeneralisierung eine notwendige Bedingung für die Entbindung des im kommunikativen Handeln angelegten Rationalitätspotentials. Schon das berechtigt uns, die Rechts- und Moralentwicklung, auf die die Wertegeneralisierung zurückgeht, als einen Aspekt der Lebensweltrationalisierung zu verstehen.“68
Die Rationalisierung der Lebenswelt sei damit aber zugleich die Voraussetzung für die Ausbildung von zweckrational bestimmten Subsystemen. Erst mit der Motiv- und Wertegeneralisierung entstehe ein Spielraum, innerhalb dessen die Ausbildung von Subsystemen möglich werde. In diesem Sinne beinhalte die Freisetzung kommunikativen Handelns von partikularen Wertorientierungen zugleich die Trennung von erfolgs- und verständigungsorientiertem Handeln: „Mit der Motiv- und Wertegeneralisierung entsteht der Spielraum für Subsysteme zweckrationalen Handelns. Die Handlungskoordinierung kann erst auf entsprachlichte Kommunikationsmedien umgestellt werden, wenn sich Zusammenhänge strategischen Handelns ausdifferenzieren.“69
66 67 68 69
Ebd. Ebd. Ebd., S. 268f. Ebd., S. 269.
106
Die Gesellschaftskonzeption der Theorie kommunikativen Handelns
In der Polarisierung von erfolgs- und verständigungsorientiertem Handeln spiegelt sich die zweite Form der (gesellschaftlichen) Entkoppelung: die von System- und Sozialintegration.70 Die These, dass erst die Rationalisierung der Lebenswelt die Entstehung und das Wachstum der Subsysteme ermöglicht, erhärtet Habermas darüber hinaus anhand der Rekonstruktion einer hypothetischen Folge von Verständigungsformen. Er unterscheidet zu diesem Zweck vier Handlungsbereiche, die sich in die beiden Bereiche des Sakralen und des Profanen gruppieren lassen. Im Bereich des Sakralen macht Habermas (1) den Bereich der kultischen Praxis aus und (2) den Handlungsbereich, in dem die religiösen Deutungssysteme eine unmittelbar orientierende Kraft für die Alltagspraxis behalten (praxissteuernde Weltbilder). Im Bereich des Profanen werde hingegen der kulturelle Wissensvorrat für (3) Kommunikation und (4) für Zwecktätigkeit genutzt, ohne dass sich die Strukturen der Weltbilder unmittelbar in den Handlungsorientierungen durchsetzten.71 Im profanen Bereich unterscheidet Habermas also bei allen Verständigungsformen zwischen Kommunikation und Zwecktätigkeit; auch in solchen Alltagspraxen, die noch nicht die entsprechend differenten Handlungstypen ausgebildet haben – wie etwa in der der archaischen Stammesgesellschaft. In sakralen Bereichen sei eine Unterscheidung von Kommunikation und Zwecktätigkeit hingegen nicht relevant. Die entwicklungslogische Einstufung der Verständigungsformen nimmt Habermas sodann nach dem Grad der Ausdifferenzierung von Geltungsaspekten vor. Während dabei an dem einen Ende der Skala die rituelle Praxis und an dem anderen Ende die Praxis der Argumentation steht, erstreckt sich die Entwicklung auf im Ganzen vier Stufen.72 Entscheidend für Habermas’ Versuch, seine These vom Primat der Lebenswelt zu begründen, ist dabei, dass er davon ausgeht, dass zwischen dem sakralen und dem profanen Handlungsbereich ein Autoritäts- und Rationalitätsgefälle in jeweils entgegengesetzter Richtung besteht.73 Dabei stellt sich das Rationalitätsgefälle so dar, dass der Differenzierungsgrad der Geltungssphäre im Bereich des Profanen stets weiter fortgeschritten ist als im Bereich des Sakralen.74 So sieht Habermas das Rationalitätsgefälle in der archaischen Verständigungsform etwa darin bestehen, dass im Bereich des Sakralen, in den Grundbegriffen des Mythos der Geltungs- und Wirkungszu70 71 72 73 74
Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 283f. Vgl. die Tabelle in: ebd., S. 286. Vgl. ebd., S. 285. Habermas’ Entwicklungslogik ließe sich so etwa auch als eine fortwährende „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ beschreiben.
Die Gesellschaftskonzeption der Theorie kommunikativen Handelns
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sammenhang noch konfundiert sind. Dagegen werde im Bereich des Profanen bereits zwischen Geltung und Wirkung unterschieden. Allerdings herrsche auch im kommunikativen Handeln selbst noch ein Syndrom der Geltungsansprüche vor: „Im Gegensatz zur Magie verlangt die profane Alltagspraxis schon eine Differenzierung zwischen erfolgs- und verständigungsorientierten Einstellungen, aber im kommunikativen Handeln dürften die Wahrheits-, Wahrhaftigkeits- und Richtigkeitsansprüche noch ein Syndrom gebildet haben, das sich auf methodische Weise erst auflöst, wenn mit der Schrift eine Schicht von literarisch Gebildeten entsteht, die lernen, Texte herzustellen und zu bearbeiten.“75
Dabei sei es in den Stammesgesellschaften jedoch der sakrale Handlungsbereich, der strukturbildend sei. Hierin manifestiert sich mithin das Autoritätsgefälle der archaischen Verständigungsform. Nicht anders verhält es sich mit dem Rationalitäts- und Autoritätsgefälle bei der hochkulturellen Verständigung. Allerdings zeichnet diese Form der Verständigung laut Habermas aus, dass im Bereich des Sakralen ein holistischer Geltungsbegriff vorherrscht, wohingegen sich das Syndrom von Geltungsansprüchen auf der Ebene des kommunikativen Handelns bereits auflöst: „Das kommunikative Handeln kann sich auf dieser Stufe von partikularistischen Kontexten freimachen, bleibt aber an den Spielraum gebunden, der durch traditionsfeste Handlungsnormen umschrieben ist. (...) Geltungsspezifische Formen der Argumentation treten noch nicht auf.“76
Damit geht einher, dass auch die Zwecktätigkeit in traditionalen Gesellschaften eine höhere Stufe der Rationalität erreicht hat. Dies manifestiert sich Habermas zufolge darin, dass sich die Zwecktätigkeit von unspezifischen Altersund Geschlechterrollen ablöst und nun als berufspraktisches Wissen kommuniziert wird.77 In der Verständigung voll entfalteter moderner Gesellschaften schreibt Habermas schließlich dem Bereich des Sakralen keinerlei strukturbildende Bedeutung mehr zu.78 Allerdings seien auch in frühmodernen Gesellschaften die Geltungsansprüche noch nicht vollständig ausdifferenziert. Obwohl Kunst, Moral und Recht bereits differenzierte Wertsphären darstellten, hätten sie sich noch nicht ganz vom Sakralbereich gelöst; ihre interne Entwicklung erfolge noch nicht unter nur einem spezifischen Geltungsaspekt.79 75 76 77 78 79
Habermas, TdkH, Bd. 2, S. 289. Ebd., S. 290. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 292. Vgl. ebd., S. 291.
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Die Gesellschaftskonzeption der Theorie kommunikativen Handelns
Für den Bereich des Profanen sei in frühmodernen Gesellschaften hingegen kennzeichnend, dass nun nicht nur auf der Ebene des kommunikativen Handelns zwischen den Geltungsansprüchen differenziert werde, sondern auch auf der Ebene des Diskurses. Das impliziere, dass die Betroffenen in der Alltagskommunikation die Ebenen von Handlung und Diskurs auseinanderhalten. Damit weise hinwiederum die Rationalität des profanen Bereichs bereits über die frühmoderne Verständigungsform hinaus. So führt Habermas für den Bereich des kommunikativen Handelns an, dass sich aufgrund der Diskursivität die Qualität des Normativen ändere: „Positiv rechtlich normierte Handlungsbereiche mit posttraditionalen Rechtsinstitutionen setzen voraus, daß die Beteiligten in der Lage sind, von naiv vollzogenen Handlungen zu reflexiv eingestellten Argumentationen überzugehen. Das kritische Potential der Rede kann gegen bestehende Institutionen in dem Maße aufgeboten werden, wie die hypothetische Erörterung normativer Geltungsansprüche institutionalisiert wird. Natürlich begegnen legitime Ordnungen den kommunikativ handelnden Subjekten nach wie vor als etwas Normatives; aber diese Normativität verändert ihre Qualität in dem Maße, wie Institutionen nicht mehr per se durch religiöse und metaphysische Weltbilder legitimiert sind.“80
Mit dieser frühmodernen Form der Verständigung geht laut Habermas schließlich auch die Trennung von erfolgs- und verständigungsorientiertem Handeln einher. Während also das erfolgsorientierte Handeln bisher noch mit Handlungsnormen verknüpft und in kommunikatives Handeln eingebettet gewesen sei, löse sich nun auch dieser Zusammenhang auf: „Mit der rechtlichen Institutionalisierung des Geldmediums verliert aber das über egozentrische Nutzenkalküle gesteuerte Erfolgshandeln den Zusammenhang mit verständigungsorientiertem Handeln. Dieses strategische, vom Verständigungsmechanismus abgehängte Handeln, das eine objektivierende Einstellung auch gegenüber interpersonalen Beziehungen verlangt, avanciert zum Muster für den methodischen Umgang mit einer wissenschaftlich objektivierten Natur. Auch im instrumentellen Bereich löst sich die Zwecktätigkeit von normativen Restriktionen in dem Maße, wie sie mit Informationsflüssen aus dem Wissenschaftssystem rückgekoppelt wird.“81
4.3 Die These von der Kolonialisierung der Lebenswelt Habermas begrenzt seine Analyse moderner Gesellschaften nicht auf die bloße Feststellung, dass erfolgs- und verständigungsorientiertes Handeln in den Formen der modernen Gesellschaft auseinandergetreten sind. Vielmehr formuliert er aufgrund dieser Feststellung die These von der Kolonialisierung der 80 81
Ebd., S. 291f. Ebd., S. 292.
Die Gesellschaftskonzeption der Theorie kommunikativen Handelns
109
Lebenswelt. Die These ist von der Befürchtung bestimmt, dass die systemischen Mechanismen die Formen der sozialen Integration verdrängen und zwar auch „in jenen Bereichen, wo die konsensabhängige Handlungskoordinierung nicht substituiert werden kann: also dort, wo die symbolische Reproduktion der Lebenswelt auf dem Spiel steht“.82 In dieser Befürchtung bringt sich nun wiederum die bereits angedeutete Problematik der Gesellschaftskonzeption der Theorie kommunikativen Handelns zum Ausdruck. So liegt ihr die berechtigte Annahme von den „strukturellen Unvereinbarkeiten“ von mediengesteuerten Interaktionen und den Bedingungen der vorbehaltlosen Verständigung zugrunde. Habermas selbst formuliert diese Annahme wie folgt: „Diese starke These >von den strukturellen Unvereinbarkeiten, I. F.-G.@ habe ich einerseits mit dem Argument begründet, daß sich das Medienkonzept nicht auf Bereiche der kulturellen Tradition, Sozialintegration und Sozialisation übertragen läßt, andererseits mit der Überlegung, daß sich diese drei Funktionen nur übers Medium verständigungsorientierten Handelns, nicht über die Steuerungsmedien Geld und Macht erfüllen lassen.“83
Gerade die Wahrnehmung der „strukturellen Unvereinbarkeit“ lässt jedoch die gleichzeitig von Habermas vertretene Annahme vom Primat der Lebenswelt und der damit einhergehenden Annahme von der (prinzipiell) erfolgreichen Verankerung der systemischen Steuerungsmechanismen in der Lebenswelt als problematisch erscheinen. In Reaktion auf die an seinem Zweistufenkonzept der Gesellschaft geübten Kritiken greift Habermas die Problematik zwar noch einmal auf, beschränkt sich dort allerdings auf den bloßen Hinweis, dass der Entkoppelungsthese widersprüchliche Tendenzen zugrunde liegen: „Die Entkoppelungsthese führt zur Beschreibung widersprüchlicher Tendenzen. Die einen setzen an der immer noch klassenspezifischen Verankerung der Steuerungsmedien in der Lebenswelt an und dringen auf die Umsetzung lebensweltlicher Imperative in Beschränkungen für die kapitalistische Operationsweise des ökonomischen Systems. Die anderen, die gegenwirkenden Tendenzen überziehen die Lebenswelt mit strukturfremden Formen ökonomischer und administrativer Rationalität.“84
Während so, wie Habermas bereits in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ anführt, die einen (durch die Rationalisierung der Lebenswelt begründeten) Tendenzen eine Verstärkung des institutionellen Rahmens bedeuten, „der die Systemerhaltung den normativen Restriktionen der Lebenswelt unterwirft“, bedeuten die anderen (durch die Steigerung der systemischen Funktionalität bestimmten) Tendenzen eine Befestigung bestehender Klassenstruk82 83 84
Vgl. ebd., S. 293. Habermas, Entgegnung, S. 390. Ebd., S. 392.
110
Die Gesellschaftskonzeption der Theorie kommunikativen Handelns
turen und damit der „Basis, die die Lebenswelt den systemischen Zwängen der materiellen Reproduktion unterordnet und dadurch mediatisiert“.85 Geht es um den Bestand moderner Gesellschaften (und damit einhergehend um die Frage einer normativ begründeten Politik), bleibt der bloße Verweis auf die Widersprüchlichkeit der Tendenzen jedoch unbefriedigend. Vor allem lässt dieser Verweis auf die Widersprüchlichkeit gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen – angesichts der strukturellen Unvereinbarkeit von mediengesteuerten Interaktionen und den Bedingungen der vorbehaltlosen Verständigung – die entscheidende Frage ungeklärt, welche Bedeutung dem über das kommunikative Handeln bestimmten Ordnungskonzept der Lebenswelt in einer über die Subsysteme von Ökonomie und Politik bestimmten Gesellschaft tatsächlich zukommt.
85
Vgl. Habermas, TdkH, Bd. 2, S. 275f.
D Das philosophische und das soziologische Gesellschaftsverständnis
1
Die Theorie kommunikativen Handelns als Grundlage eines philosophischen Verständnisses der Gesellschaft
Mit den Ausführungen zur Gesellschaftskonzeption der Theorie kommunikativen Handelns sollte deren normative Grundannahme für das Verständnis der modernen Gesellschaft deutlich geworden sein. Diese liegt darin, dass die Entwicklung zur Moderne nicht nur eine Ausdifferenzierung der Gesellschaft mit sich gebracht hat, sondern zugleich auch die Möglichkeit, die systemischen Integrationsmechanismen der gesellschaftlichen Subsysteme an die in der Lebenswelt bestehenden Bedingungen der vorbehaltlosen Verständigung anzubinden. Während diese normative Grundannahme in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ vor allem darin zum Ausdruck kommt, dass Habermas meint, die Lebenswelt bleibe für die Gesellschaft als Ganze bestimmend, erfährt sie in Habermas’ Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates eine weitere Ausarbeitung. In der Einleitung zu „Faktizität und Geltung“ führt Habermas an, dass er die über das kommunikative Handeln begründete Möglichkeit der gesamtgesellschaftlichen Integration zum einen in den „Zeugnissen eines universalistischen Moralbewusstseins“ und zum anderen in den „freiheitlichen Institutionen des demokratischen Rechtsstaats“ gewährleistet sieht.1 Er macht dabei auch deutlich, dass es das ausdrückliche Anliegen seiner Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates sei, ein über den „normativen Eigensinn“ des kommunikativen Handelns begründetes Gesellschafts- respektive Demokratieverständnis zu begründen:
1
Vgl. Habermas, FuG, S.11.
112
Das philosophische und das soziologische Gesellschaftsverständnis „Die Diskurstheorie ist ein Versuch, dieses >moderne, I. F.-G.@ Selbstverständnis so zu rekonstruieren, daß es seinen normativen Eigensinn gegenüber szientistischen Reduktionen wie gegenüber ästhetischen Assimilationen behaupten kann.“2
Im Rahmen der sprechakttheoretischen Begründung des Begriffs kommunikativen Handelns hat Habermas angeführt, dass es die diskursive Form der Verständigung sei, die der menschlichen Sprache als Telos innewohne.3 Er bestimmt damit in einem ganz anderen Verständnis als Austin die vorbehaltlose Verständigung als den Originalmodus der Sprache. Diese liege, so behauptet er, im illokutionären Sprechakt begründet. Während dabei Austin als das Konstitutive des Sprechaktes ausgemacht hat, dass der Sprecher, indem er etwas sagt, etwas tut, meint Habermas, dass mit dem illokutionären Sprechakt nicht mehr intendiert sei, als Bedeutungen zur Diskussion zu stellen. Laut Habermas unternimmt es der Sprecher mittels eines illokutionären Sprechakts in Zurückhaltung eigener Interessen, dem Hörer etwas zu verstehen zu geben, wozu der Hörer mit einer Ja- oder Nein-Antwort Stellung nehmen kann. Entscheidend für Habermas’ Verständnis ist, dass eine solche selbstgenügsame Klärung von Bedeutungen eine Einflussnahme des Sprechers auf den Hörer ausschließt. Austin dagegen sieht den Grundmodus der Sprache gerade in ihrer pragmatischen Dimension gegeben. Ihm folgend kann die Sprache dadurch, dass sie tatsächlich die Interessen des Sprechers transportiert, als ein wirkliches Medium sozialer Verkehrsregulierung verstanden werden. In Habermas’ Verständnis erfolgt die eigentliche Handlung erst in einem zweiten Schritt. Sie stellt sich dann als die Konsequenz einer erfolgreich durchgeführten kommunikativen Verständigung dar. Im Diskurs selbst hingegen – so bekanntlich Habermas’ Diktum – herrscht der zwanglose Zwang des besseren Arguments. Die Eigentümlichkeit dieses zwanglosen Zwanges liegt darin, frei zu sein von dem (instrumentellen) Zweck, den eine erfolgsorientierte Handlung ausmacht. Es ist in diesem Sinne, dass der Diskurs eine „reine“ Form von Verständigung verkörpert. Dementsprechend begreift Habermas illokutionäre Erfolge als etwas, das jenseits der pragmatischen Dimension der realen Welt liegt; er stellt fest, dass sie „in diesem Sinne nichts Innerweltliches, sondern extramundan“ seien.4
2
3 4
Ebd. Dabei schreibt Habermas die „szientistischen Reduktionen“ Luhmann zu und hält Derrida die „ästhetischen Assimilationen“ vor. Vgl. ebd. sowie N. Luhmann (1992), Beobachtungen der Moderne, Opladen und J. Derrida (1991), Gesetzeskraft. Der ‚mystische Grund der Autorität‘, Frankfurt a. M. Vgl. Habermas, TdkH, Bd. 1, S. 387. Vgl. ebd., S. 394; die Hervorhebung entspricht dem Original.
Das philosophische und das soziologische Gesellschaftsverständnis
113
Die „reine“ Form diskursiver Verständigung bildet die konstitutive Grundlage einer Gesellschaftsform, die reale Konflikte über diskursiv herbeigeführte Einverständnisse regelt. Entscheidend an diesem Verständnis ist, dass die Grundannahme der Theorie kommunikativen Handelns und damit auch das Gesellschaftsverständnis dieser Theorie nicht allein auf der Einsicht gründet, dass die Menschen in einer kommunikativ geschaffenen Welt leben. Vielmehr macht die Theorie kommunikativen Handelns in der Struktur der Sprache außerdem eine Verpflichtung aus, die darin besteht, dass die Menschen mit der Sprache (anthropologisch) auf eine diskursive Lösung von realen Konflikten verwiesen sind. Diese Annahme findet ihren systematischen Ausdruck in der Diskursethik, wie sie Habermas in weitgehender Übereinstimmung mit Karl-Otto Apel entwickelt hat. Deren grundlegende Annahme ist, dass sich aus der „Nichthintergehbarkeit“ der Sprache eine diskursive Verpflichtung ergibt. Es war zunächst Karl-Otto Apel, der diese Form der Verpflichtung über das Argument des performativen Widerspruchs zu begründen gesucht hat. Diesem Argument zufolge folgt die Verpflichtung auf eine einverständliche Verständigung im Diskurs daraus, dass Verständigung überhaupt nur innerhalb einer apriorischen Kommunikationsgemeinschaft möglich ist. Die Diskursethik sieht also in die Verständigung durch Sprache eine moralische Verpflichtung eingebaut, sich auch vorbehaltlos auf eine diskursive Form der Verständigung einzulassen. Sie begründet mit anderen Worten eine moralische Verpflichtung, die sich in der Prozeduralität von Verständigung ausprägt. Mit einer solchen prozeduralisierten Form der Pflicht sucht sich die Diskursethik von einer metaphysisch begründeten Ethik abzusetzen, wie sie Kant im kategorischen Imperativ formuliert hat. Mit dem Verweis auf die konstitutive Bedeutung der Sprache, die dieser für den konstruktiven Aufbau der soziokulturellen Daseinsform des Menschen tatsächlich zukommt, kann die Theorie kommunikativen Handelns in der Tat einen Erkenntnisgewinn gegenüber der klassischen Transzendentalphilosophie verzeichnen. Die Einwände aber, die sich gegen Habermas’ Ausarbeitung des modernen Gesellschaftsverständnisses, das auf der Einsicht in die konstitutive Bedeutung der Sprache gründet, ergeben, gehen auf die normative Aufladung zurück, die diese Einsicht durch Habermas’ Verweis auf das Telos der Sprache erhält. In der Auseinandersetzung mit dem modernen Gesellschaftsverständnis liegt das Problem folglich darin, dass der kommunikativen Verständigung aufgrund des Telos der Sprache eine Vorrangstellung gegenüber allen anderen Medien der Regulierung des sozialen Verkehrs zukommt. Jedoch folgt aus der Tatsache, dass sich etwa das Medium Macht, als ein ebenfalls
114
Das philosophische und das soziologische Gesellschaftsverständnis
elementares Mittel sozialer Verkehrsregulierung, nur auf der Grundlage von Sprache als spezifisch humane Form der sozialen Verkehrsregulierung hat entwickeln können, nicht notwendig, dass es der sprachlichen Regulierung nachgeordnet ist. Wie schon in der Auseinandersetzung mit der sprechakttheoretischen Begründung des kommunikativen Handelns angeführt, legt eine Analyse der Sprachpragmatik im Anschluss an Austin vielmehr nahe, dass der Grundmodus der Sprache eher darin liegt, den Hörer durch einen Sprechakt zu etwas zu bewegen, was bedeutet, dass die Sprache reale Gestaltungsmacht transportiert. Jedenfalls schließt ihr üblicher Gebrauch, entgegen Habermas’ Ausführungen, eine reale Gestaltungsmacht in Form von Einflussnahme nicht aus. Vor dem Hintergrund dieser Einsicht stellt sich dann aber die Frage nach der Begründung des Telos der Sprache. Angesichts des pragmatischen Grundmodus der Sprache ist die vorbehaltlose Verständigung weder im Entwicklungsprozess der Sprache noch etwa in der Natur, die seit der Neuzeit jeder Teleologie entsetzt ist, als „Telos“ angelegt. Der nicht unbegründete Verdacht, der sich infolgedessen aufdrängt, ist, dass die Annahme von der Teleologie der reinen Verständigung einem Rest von Metaphysik geschuldet ist.5
2
Die Diskursethik und das Problem der Transzendentalität
Es war zunächst Karl-Otto Apel, der sich in dem gleichen Bestreben wie Habermas, eine sprachpragmatisch begründete (moralische) Verpflichtung in Form einer (diskursiven) Grundnorm auszuweisen, darum bemüht hat, die Transformation der metaphysischen Transzendentalphilosophie voranzutreiben. Er hat dies in weitgehender Übereinstimmung mit dem über die Sprechakttheorie begründeten Ansatz von Habermas durch eine sprachpragmatische Begründung der (moralischen) Grundnorm unternommen. Ähnlich wie Habermas versteht Apel die von ihm vorgenommene Transformation der Philosophie als eine Transformation der Transzendentalphilosophie des (Privat-) Subjekts – wie sie für die Vertragstheorien bestimmend ist – in eine Transzendentalphilosophie der Intersubjektivität.6 Die für das hier verfolgte Interesse entscheidende Frage ist, wie die Diskursethik dabei mit dem klassisch philosophischen Problem der Transzendentalität im Verständnis der Normativität 5 6
Vgl. J. Habermas (1988), Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen, in: ders., Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt a. M., S. 153-186, S. 184. Vgl. K.-O. Apel (1973), Transformation der Philosophie, 2 Bände, Frankfurt a. M.
Das philosophische und das soziologische Gesellschaftsverständnis
115
umgeht. Dabei geht es insbesondere um die Frage, wie Apel und Habermas in ihrer Diskursethik das eigentliche Faktum des Normativen begründen. Während sich die Diskursethik vor allem an Kants metaphysischer Begründung des kategorischen Imperativs abarbeitet, erfuhr die Philosophie bereits in dem von David Hume im Jahre 1739/40 veröffentlichten „Traktat über die menschliche Natur“ eine erste eindrückliche Schilderung von der transzendentalen Problematik im Verständnis von Normativität und Moral. Hume weist im dritten Buch seines Traktats „Über Moral“ darauf hin, dass in den ihm bekannten Moralsystemen stets unter der Hand ein Übergang von rein deskriptiven Sätzen in moralische Sätze mit Sollensanforderung vollzogen würde, was zur Folge habe, dass sich die Sollensanforderungen bei genauerer Betrachtung als vollkommen unbegründet darstellten. Hume empfiehlt deshalb seinem Leser, an diesen Stellen moralischer Abhandlungen Aufmerksamkeit walten zu lassen, was, wie er anführt, eigentlich zur Folge haben müsste, dass alle gängigen Moralsysteme seiner Zeit ihrer Geltung enthoben werden müssten: „In jedem Moralsystem, das mir bisher vorkam, habe ich immer bemerkt, daß der Verfasser eine Zeitlang in der gewöhnlichen Betrachtungsweise vorgeht, das Dasein Gottes feststellt oder Beobachtungen über menschliche Dinge vorbringt. Plötzlich werde ich damit überrascht, daß mir anstatt der üblichen Verbindungen von Worten mit ‚ist‘ und ‚ist nicht‘ kein Satz mehr begegnet, in dem nicht ein ‚sollte‘ oder ‚sollte nicht‘ sich fände. Dieser Wechsel vollzieht sich unmerklich; aber er ist von größter Wichtigkeit. Dies ‚sollte‘ oder ‚sollte nicht‘ drückt eine neue Beziehung oder Behauptung aus, muß also notwendigerweise beachtet und erklärt werden. Gleichzeitig muß ein Grund angegeben werden für etwas, das sonst ganz unbegreiflich scheint, nämlich dafür, wie diese neue Beziehung zurückgeführt werden kann auf andere, die von ihr ganz verschieden sind. Da die Schriftsteller diese Vorsicht meistens nicht gebrauchen, so erlaube ich mir, sie meinen Lesern zu empfehlen; ich bin überzeugt, daß dieser kleine Akt der Aufmerksamkeit alle gewöhnlichen Moralsysteme umwerfen und zeigen würde, daß die Unterscheidung von Laster und Tugend nicht in den bloßen Beziehungen der Gegenstände begründet ist, und nicht durch die Vernunft erkannt wird.“7
Das von Hume hier thematisierte moraltheoretische Begründungsproblem wird im Anschluss an ihn zumeist als Problem der Deduktion verhandelt. So ist Humes Erkenntnis als ein Gesetz in die Theorie der Moral und der Ethik eingegangen, das verbietet, das Sollen aus dem Sein abzuleiten. Wie Eckensberger und Gähde 1993 in einer interdisziplinären Bestandsaufnahme zur Begründungsproblematik der Ethik feststellen, wird dies bis heute in der Regel so interpretiert, dass ein „schier unüberwindlicher Abgrund zwischen der 7
D. Hume (1739-40/1989), Ein Traktat über die menschliche Natur, Bd. 2, Hamburg, S. 211f.
116
Das philosophische und das soziologische Gesellschaftsverständnis
Welt der faktischen Gegebenheiten einerseits und der Welt der Normen und Werte andererseits klafft“.8 Das von Hume im Verständnis des Normativen zum Ausdruck gebrachte deduktive Begründungsproblem stellt sich der Philosophie seit René Descartes’ „Meditationen über die Grundlagen der Philosophie“.9 Im Anschluss an Descartes geht es dabei um das Problem, auf der Grundlage (subjektiven) menschlichen Erkenntnisvermögens ein (allgemein) gültiges Sollen auszuweisen. Descartes’ in den „Meditationen über die Grundlagen der Philosophie“ formulierte Einsicht, dass die Grundlage der Erkenntnis eben nicht in den Gegenständen, sondern im Subjekt liegt, hat Kant in der „kopernikanischen Wende“ in seiner Vorrede zur „Kritik der reinen Vernunft“ (B) aufgegriffen und weiterentwickelt.10 Ähnlich wie Rousseau verortet Kant daraufhin das Prinzip menschlichen Erkenntnisvermögens in der transzendentalen Vorgabe einer „reinen“ Vernunft. Auf eine solche muss sich insbesondere auch die Begründung einer Sollensanforderung stützen, sofern diese überhaupt normative Gültigkeit für sich beanspruchen können soll. Eine in diesem transzendentalen Sinne allgemeingültige Norm zeichnet sich mithin auch nach Kant dadurch aus, frei von jeglichen empirischen Beimengungen zu sein. Denn den empirischen Verhältnissen ist, so Kants entscheidende Einlassung in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, keine Bestimmung des Sollens zu entnehmen.11 Eine Bestimmung des Sollens müsse vielmehr auf dem „bloßen“ Faktum der Vernunft gründen. Wie dieses bloße Faktum der Vernunft zu bestimmen ist, stellt im Anschluss an Kant das entscheidende Problem normativer Theorien dar. Auch Habermas und Apel schließen mit ihrem transzendental-pragmatischen Begründungsversuch einer Diskursethik an diese von Kant systematisierte Problematik an und versuchen, sie einer Lösung zuzuführen. So führt Habermas in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ zwar zunächst noch in unmittelbarem Anschluss an Kant an, dass der Begriff der Sollgeltung von empirischen Beimengungen gereinigt sein müsse.12 Ebenso 8 9 10 11
12
Vgl. Eckensberger & Gähde, Ethische Normen und empirische Hypothese, S. 7. Vgl. R. Descartes (1641/1993), Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg. Vgl. I. Kant (1787/1974), Kritik der reinen Vernunft, Bd. III der Werkausgabe hrsg. von W. Weischedel, Frankfurt a. M., S. 25f. Vgl. I. Kant (1785/1974), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Bd. VII der Werkausgabe hrsg. von W. Weischedel, Frankfurt a. M., S. 7-102, S. 58f. Wie bereits in der Auseinandersetzung mit Rousseaus Abhandlung „Zum Gesellschaftsvertrag“ angeführt, systematisiert Kant damit die auch von Rousseau verfolgte Strategie der Begründung einer „rein“ normativen Theorie. Vgl. oben Kapitel A. Vgl. Habermas, TdkH, Bd. 1, S. 81 sowie Bd. 2, S. 143.
Das philosophische und das soziologische Gesellschaftsverständnis
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verweist auch Apel im Sinne einer transzendentalen Vernunft auf den „idealen Maßstab“, der in einer „einsehbar selbstkonsistenten Vernunftordnung“ liegt.13 Jedoch legen beide der Bestimmung des Normativen eine Prozeduralität zugrunde, die über den „bloßen“ Verweis auf das „Faktum der Vernunft“ hinausgeht. Apel hat dieses Verständnis in seiner grundlegenden Abhandlung zur Begründung der Diskursethik „Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik“ ausgearbeitet.14 Habermas schließt sich den darin formulierten Ausführungen in seiner grundlegenden Abhandlung zur Diskursethik in groben Zügen an.15 Die Frage, die sich in der Auseinandersetzung mit dem transzendentalpragmatischen Ausweis der Diskursethik gleichwohl stellt, ist, ob es Apel und Habermas mit ihrer Bestimmung tatsächlich gelingt, ein wirkliches Verständnis des Normativen beizubringen. Vor dem Hintergrund einer radikalen Erkenntniskritik, wie sie sich seit dem Beginn der Neuzeit mit der Entgeistigung der Natur und der Einsicht in die Konstruktivität menschlicher Lebensformen Geltung verschafft hat, muss eine moderne Theorie der Ethik, um als begründet gelten zu können, eine Erklärung dafür anführen, warum überhaupt Normativität ist und nicht vielmehr nicht ist.
3
Die sprachpragmatische Transformation der Philosophie
3.1 Zur Neutralitätsthese der (analytischen) Philosophie Bei der Begründung einer moralischen Grundnorm gehen Habermas und Apel im Anschluss an die klassische Transzendentalphilosophie davon aus, dass zwischen den empirisch-analytischen Erkenntnissen der Sozialwissenschaften und deren transzendentalen Erkenntnisbedingungen, wie sie allein eine reflexive Philosophie aufzudecken vermöge, ein Verhältnis der Komplementarität bestünde.16 Eine These, die sich anhand einer Auseinandersetzung mit der 13
14 15 16
Vgl. K.-O. Apel (1990), Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung? Beruht der Ansatz der transzendentalpragmatischen Diskursethik auf einem intellektualistischen Fehlschluß?, wieder abgedruckt in: ders., Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt a. M. 1998, S. 221-280, S. 269. Vgl. K.-O. Apel (1973), Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in: ders., Transformation der Philosophie, Bd. 2, Frankfurt a. M., S. 358-435, S. 422. Vgl. J. Habermas (1983), Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M., S. 53-125. Vgl. K.-O. Apel (1979), Warum transzendentale Sprachpragmatik? Bemerkungen zu H. Krings: ‚Empirie und Apriori. Zum Verhältnis von Transzendentalphilosophie und Sprach-
118
Das philosophische und das soziologische Gesellschaftsverständnis
analytischen respektive wissenschaftlichen Philosophie, wie Apel sie in seiner Abhandlung zum Apriori der Kommunikationsgemeinschaft durchführt, insoweit eindrucksvoll bestätigen lässt, als sie den begrenzten, allein auf die Neutralitätsthese gestützten Ansatz der analytischen Philosophie in der transzendental-pragmatisch begründeten intersubjektiven Struktur der Sprache aufgehen lässt. In Überwindung des seit der frühen Neuzeit bestehenden Problems, moralisches respektive ethisches Handeln nicht objektiv (oder eben intersubjektiv) begründen zu können, verweisen Apel und Habermas so auf eine in der Sprache angelegte anthropologisch begründete Verpflichtung zur diskursiven Einigung. Apel stellt seine Abhandlung zum Apriori der Kommunikationsgemeinschaft unter die allgemeine Anforderung, das Verhältnis von Wissenschaft und Ethik (respektive Philosophie) theoretisch (oder metatheoretisch) neu bestimmen zu müssen.17 Gekennzeichnet sei diese Problematik, wie er anführt, zum einen durch die weit verbreitete Überzeugung, dass „die Möglichkeit intersubjektiver Geltung von Argumenten überhaupt genau so weit reicht wie die Möglichkeit wissenschaftlicher Objektivität im Bereich der logisch-mathematischen Formalwissenschaften und im Bereich der empirisch-analytischen Realwissenschaften“.18 Mit dieser Überzeugung, so Apel, ginge andererseits die Ansicht einher, dass der Geltungsanspruch moralischer Normen oder Werturteile in den Bereich der unverbindlichen Subjektivität verwiesen sei: „Die in weltanschaulich-ideologischen Kontexten implizit oder explizit vertretenen Geltungsansprüche der Ethik müssen – so scheint es – auf irrationale, emotionale Reaktionen oder ebenso irrationale Willkürentscheidungen zurückgeführt werden. Rational begründbar sind demzufolge nicht die ethischen Normen selbst, sondern nur die wertfreien Beschreibungen der faktisch befolgten moralischen Normen bzw. die kausalen oder statistischen Erklärungen des Zustandekommens moralischer Normen oder Wertsysteme durch die sogenannten empirischen Sozialwissenschaften.“19
Apel kritisiert nun, dass es die Philosophie infolge dieses Verständnisses aufgegeben habe, ein letztes Prinzip ethischer Normen zu begründen. Er macht darin die Transformation der „praktischen“ zur „analytischen“ Philosophie aus. Letztere verstehe ihr Geschäft fürderhin nur noch darin, eine wertfreie wissenschaftlich-theoretische Beschreibung des Sprachgebrauchs oder der
17 18 19
pragmatik‘, wieder abgedruckt in: ders., Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt a. M. 1998, S. 195-220, S. 203 sowie J. Habermas (1983), Die Philosophie als Platzhalter und Interpret, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M., S. 9-28, S. 23. Vgl. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, S. 361. Vgl. ebd. Ebd., S. 362.
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logischen Regeln des sogenannten „moralischen Diskurses“ vorzunehmen.20 Gegen dieses begrenzte Selbstverständnis richtet Apel seinen Versuch, über den Ausweis des Apriori der Kommunikationsgemeinschaft eine allgemeine Ethik zu begründen. Die Problematik, an der sich Apel abarbeitet, besteht folglich darin, eine tatsächlich geltende moralische Norm oder ein normatives Prinzip auszuweisen, ohne dieses entweder im Sinne Humes aus „bloßen“ Fakten herzuleiten – auch Apel führt explizit an, dass zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, strikt unterschieden werden müsse21 – oder es im Sinne der analytischen Philosophie dezisionistisch zu begründen. Der Grundnorm, die Apel transzendental-pragmatisch auszuweisen sucht, soll also zum einen ein intersubjektiv einsichtiger Status zukommen, mit dem sie auch dem wissenschaftlichen Anspruch der Objektivität gerecht wird. Zum anderen sucht Apel mit seinem Unterfangen gleichzeitig infrage zu stellen, dass eine normative Ethik als „logisch“ überholt verstanden werden müsse. Seine Kritik der „‚wissenschaftlichen‘ Philosophie“ beinhaltet somit insbesondere auch deren Grundannahme, dass nämlich jegliche Grundlagen der Ethik „als dogmatisch bzw. ideologisch entlarvt und ihr Geltungsanspruch je nachdem als bedauernswerte Illusion oder als autoritäre Repression und Gefahr für die menschliche Freiheit gebrandmarkt“ werden.22
3.2 Die Pragmatik der sprachpragmatischen Begründung Apel stellt dieser Grundannahme der analytischen Philosophie die These entgegen, dass jede (rationale) Logik bereits die Geltung einer Ethik voraussetze. Den formal-logischen Einwand, sich damit in einem unendlichen Regress zu verfangen, bringt er dabei wie folgt zur Sprache: „Jede Begründung – so könnte man argumentieren – setzt die Geltung der Logik schon voraus; wenn diese nun ihrerseits die Geltung der Ethik voraussetzt, so scheint weder eine Begründung der Ethik noch eine solche der Logik möglich zu sein, da jeder solche Versuch in einen Zirkel oder regressus ad infinitum führen muß“.23
Die Unmöglichkeit, einen „letzten“ (i. e. „rational“ entscheidenden) Grund anzuführen, wurde bekanntlich insbesondere von Karl Popper und Hans Albert als die Grundeinsicht des kritischen Rationalismus herausgestellt. Albert führt 20 21 22 23
Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 362f. Vgl. ebd., S. 363. Ebd., S. 405.
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diese Einsicht in seinem „Traktat über kritische Vernunft“ in dem sogenannten Münchhausen-Trilemma an.24 Diesem zufolge besteht philosophisch respektive logisch lediglich die Wahl zwischen einem infiniten Regress, einem logischen Zirkel oder dem Abbruch des Verfahrens logischer Begründung.25 Gegen diese vom kritischen Rationalismus vorgebrachte Einsicht gibt Apel zu bedenken, dass sie nur unter der Voraussetzung Berechtigung habe, dass eine Letztbegründung als die Deduktion im Rahmen eines als gegeben angenommenen axiomatischen Systems verstanden werde.26 In Abgrenzung dazu sucht Apel an die Stelle der Deduktion (auf die dem kritischen Rationalismus zufolge die Philosophie festgelegt ist) die philosophische Form einer „transzendentalen Reflexion“ oder „Besinnung“ zu setzen. Er gibt damit der Feststellung, dass die Logik selbst nicht im Sinne einer Deduktion begründet werden kann, eine andere Wendung. Er fasst sie als eine „Einsicht“ im Sinne transzendentaler Reflexion und schreibt ihr einen heuristischen Wert zu: „Ist aber nicht gerade der Hinweis darauf, daß man die Logik in diesem Sinne nicht begründen kann, da sie für alle Begründung immer schon vorausgesetzt wird, der typische Ansatz einer ‚philosophischen Begründung‘ im Sinne transzendentaler Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit aller Argumentation? Wenn wir im Kontext einer philosophischen Grundlagendiskussion feststellen, daß etwas deshalb prinzipiell nicht begründet werden kann, weil es die Bedingung der Möglichkeit aller Begründung ist, so haben wir nicht lediglich eine Aporie im Deduktionsverfahren festgestellt, sondern eine Einsicht im Sinne transzendentaler Reflexion gewonnen.“27
Während Popper und die Schule des kritischen Rationalismus, wie Apel anführt, an die Stelle der Letztbegründung einen „Glaubensakt“, eine prärationale (oder willkürliche) Entscheidung (für oder gegen das Prinzip des „critics frame“) setzt, führt Apel das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft als den rationalen – mithin prozedural einsichtigen – Geltungsgrund für ein normatives Prinzip an. Als einen solchen transzendental-pragmatischen (oder auch kritisch rational) einsichtigen „Geltungsgrund“ zeichnet Apel darüber hinaus auch die Regeln der Konsequenzlogik aus, auf die sich der kritische Rationalismus laut Hans Lenk bezieht.28 Damit lassen sich Apel zufolge auch die Einsichten des kritischen Rationalismus auf nichthintergehbare Bedingungen zurückführen. So macht er mit dem Verweis auf Lenks „Minimallogik“ 24 25 26 27 28
Vgl. H. Albert (1968/1991), Traktat über kritische Vernunft, Tübingen. Vgl. Albert, Traktat über kritische Vernunft, S. 15 und Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, S. 405. Vgl. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, S. 405f. Ebd., S. 406; die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Vgl. H. Lenk (1970), Logikbegründung und Rationaler Kritizismus, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 24, S. 183-205, S. 203.
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deutlich, dass die Regeln der Konsequenzlogik in dem Sinne einer rationalen Revision entzogen bleiben, nicht empiristisch (im Sinne des formal-logischen Rationalismus) falsifiziert werden zu können. Der von ihm angeführten „Operation der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit der kritischen Überprüfung“ seien sie hingegen sehr wohl zugänglich.29 Dass der kritische Rationalismus dieses transzendental-pragmatische Argument der reflexiven Besinnung nicht als (philosophisch) gültiges Argument erachtet, ist dabei darauf zurückzuführen, wie Apel zu Recht feststellt, dass dieser sich auf einen um die (sprach-)pragmatische Dimension verkürzten, rein abstraktiven Begriff der logischen Folgerung stützt.30 Die transzendental-pragmatische Reflexion auf die nichthintergehbaren Präsuppositionen des Argumentierens soll dabei, wie Apel explizit anführt, jede „Begründung durch Ableitung“ erübrigen.31 Gleichwohl kann Apel zufolge auch diese Form der reflexiven Vergewisserung noch als eine Form philosophischer Letztbegründung gelten – allerdings nur noch als eine indirekte Form der Letztbegründung. Anders als Apel sucht Habermas sich auch noch von dieser indirekten Form einer Letztbegründung abzusetzen. Habermas stellt im Unterschied zu Apel auf „die Alternativlosigkeit der Regeln für die Argumentationspraxis“ ab.32 Für Habermas sind deshalb – wie auch Apel in kritischer Distanzierung zu Habermas anführt33 – die anthropologisch voraus- und tieferliegenden Bedingungen der lebensweltlichen Kommunikation grundlegend. In einem solchen, anthropologisch bestimmten Verständnis führt Habermas in seiner Frankfurter Antrittsvorlesung im Jahr 1965 an: „Das, was uns aus der Natur heraushebt, ist nämlich der einzige Sachverhalt, den wir seiner Natur nach kennen können: die Sprache. Mit ihrer Struktur ist Mündigkeit für uns gesetzt. Mit dem ersten Satz ist die Intention eines allgemeinen und ungezwungenen Konsensus unmißverständlich ausgesprochen.“34
29 30 31 32 33 34
Vgl. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, S. 410; die Hervorhebung entspricht dem Original. Vgl. ebd., S. 406. Vgl. Apel, Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?, S. 235; die Hervorhebung entspricht dem Original. Vgl. Habermas, Diskursethik, S. 105; die Hervorhebung entspricht dem Original. Vgl. Apel, Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?, Fußnote 28, S. 237f und K.-O. Apel (1997), Dialog mit Karl-Otto Apel, in: SIC et NON; Text unter: http://www.archiv.sicetnon.org/artikel/aktuelles/apel.htm. J. Habermas (1965), Erkenntnis und Interesse, wieder abgedruckt in: ders., Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘, Frankfurt a. M. 1968, S. 146-168, S. 163; die Hervorhebungen entsprechen dem Original.
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Aufgrund dieses anthropologischen Verständnisses geht Habermas davon aus, dass den Regeln der Argumentationspraxis die Gewissheit fehle, die ihnen in Apels Rekonstruktion noch zugestanden werde.35
3.3 Das (diskursethische) Argument des performativen Widerspruchs Während Apel und Habermas also die intersubjektive Struktur der Sprache gegen den methodischen Solipsismus der analytischen Philosophie zur Geltung bringen, erfolgt die eigentliche Begründung der Diskurs-Ethik vor allem in Form des Arguments des performativen Widerspruchs, das Apel als Ausweis des Apriori der Kommunikationsgemeinschaft anführt. Dabei stellt die diskursive Verpflichtung, die sich aus der Nichthintergehbarkeit des Diskurses ergibt, die kommunikative Form des kategorischen Imperativs dar. Apel weist sie in zwei Schritten einer (fiktiven) Auseinandersetzung mit einem Skeptiker nach.36 Habermas hat sich dieser Argumentation weitestgehend angeschlossen.37 Die in dieser Argumentation gleichwohl auftretenden Differenzen sind auf das bereits erwähnte Bestreben Habermas’ zurückzuführen, sich auch noch von dem indirekt erwiesenen Letztbegründungsanspruch abzusetzen.38 In dem ersten Schritt der von Apel entwickelten fiktiven Auseinandersetzung geht es darum, den Skeptiker, der sich dem (moralischen) Diskurs argumentativ verweigert, auf den performativen Widerspruch hinzuweisen, in den er sich mit dieser argumentativen Verweigerung begibt. In der Auseinandersetzung mit dem kritischen Rationalismus beschreibt Apel den performativen Widerspruch, in den sich derjenige Skeptiker begibt, der sich weigert, in einen Diskurs über die Geltung von Moralgrundsätzen einzutreten, wie folgt: „Allein: wer die m. E. durchaus sinnvolle Frage nach der Rechtfertigung des Moralprinzips stellt, der nimmt ja schon an der Diskussion teil, und man kann ihm ... ‚einsichtig machen‘, was er ‚immer schon‘ als Grundprinzip akzeptiert hat und daß er dieses Prinzip als Bedingung der Möglichkeit und Gültigkeit der Argumentation durch willentliche Bekräftigung akzeptieren soll. Wer dies nicht einsieht, bzw. nicht akzeptiert, der scheidet aus der Diskussion aus. Wer aber nicht an der Diskussion teilnimmt, der kann überhaupt nicht die Frage nach der Rechtfertigung ethischer Grundprinzipien stellen, und daher ist dies sinnlos: von der Sinnlosigkeit seiner Frage zu reden und ihm einen wackeren Glaubensentschluß zu empfehlen.“39
35 36 37 38 39
Vgl. Habermas, Diskursethik, S. 107. Vgl. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, S. 412ff und S. 420ff. Vgl. Habermas, Diskursethik, S. 53-125. Vgl. ebd., S. 106f. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, S. 420f.
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Was dem Skeptiker in diesem ersten Schritt der Argumentation zu Bewusstsein kommen sollte, ist, laut Apel, dass er, sobald er sich überhaupt auf einen Diskurs (über normative Geltungsansprüche) einlässt, diejenigen Regeln des Argumentierens (implizit) bereits anerkannt hat, die diesen zu einer diskursiven Auseinandersetzung machen; andernfalls macht er sich eines performativen Widerspruchs schuldig. In diesem Fall würde der Skeptiker bestreiten, was er noch im Bestreiten in Anspruch nimmt – eben die Regeln des Diskurses. Apel führt als die Bedingung der Möglichkeit eines Diskurses an, die jeder, der sich überhaupt auf einen Diskurs einlässt, als normativ gehaltvolle Prämisse akzeptieren muss, jeden als gleichberechtigten Diskurspartner anzuerkennen: „Kurz: in der Argumentationsgemeinschaft ist die wechselseitige Anerkennung aller Mitglieder als gleichberechtigter Diskurspartner vorausgesetzt.“40
Die wechselseitige Anerkennung aller Mitglieder als gleichberechtigte Diskurspartner stellt Apel zufolge das moralische Grundprinzip der Diskursethik dar. Es hat, wie Apel annimmt, auch weitreichende inhaltliche Implikationen.41 Davon, dass die Diskursethik neben der Verpflichtung auf die Regeln des Diskurses auch inhaltliche Prinzipien der Moral angibt, sucht sich Habermas zu distanzieren. So bestimmt er das moralische Grundprinzip als den Universalisierungsgrundsatz ‚U‘. Habermas betont, dass erst dieses „konsensermöglichende Brückenprinzip“ die (inhaltliche) Bestimmung der Diskursethik selbst ermögliche.42 Dabei geht Habermas jedoch ganz ebenso wie Apel davon aus, dass es sich bei dem Brückenprinzip um Argumentationsregeln handelt, die zur Logik des praktischen Diskurses gehören. Habermas führt im Sinne des performativen Widerspruchs an, dass sich „jeder, der den ernsthaften Versuch unternimmt, normative Geltungsansprüche diskursiv einzulösen, intuitiv auf Verfahrensbedingungen“ einlasse, die „einer impliziten Anerkennung von ‚U‘ gleichkommen“.43 Und der Universalisierungsgrundsatz gilt laut Habermas „– wenn die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus einer allgemeinen Befolgung der strittigen Normen für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können.“44 40 41 42 43 44
Ebd., S. 400. Vgl. ebd., S. 431f. Vgl. Habermas, Diskursethik, S. 73 und S. 103f. Vgl. ebd., S. 103; die Hervorhebung entspricht dem Original. Ebd.
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Die Diskursethik selbst lasse sich dann auf den sparsamen Grundsatz ‚D‘ bringen; dieser beinhaltet, „– daß nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten).“45
Mit diesem Grundsatz formuliert auch Habermas einen Satz, der als Verfahrensbedingung diskursiver Auseinandersetzung verstanden werden soll. Wie in anderen Zusammenhängen bereits angedeutet, enthält jedoch auch dieser Satz, anders als Habermas meint, materiale Vorgaben. So wird über die Bestimmung des argumentativen Verfahrens im Grunde das Anerkenntnis gleicher Interessenbefriedigung begründet. Denn nur auf eine solche könnten sich alle Betroffenen einvernehmlich einigen, wie dies ja insbesondere Habermas’ emphatischer Verständigungsbegriff verlangt. Infolge der von Habermas und Apel formulierten Vorgaben der Diskursregeln kann im Diskurs letztlich also nur noch darüber gestritten werden, was inhaltlich als gleiches Interesse gelten soll. Es gilt gleichwohl festzuhalten, dass Habermas wie Apel mithilfe dieses ersten performativen Widerspruchs, in den sich der Skeptiker in der argumentativen Auseinandersetzung um die diskursive Begründung einer ethischen Grundnorm verwickelt, konstitutive Regeln ausweisen, die den Sinn diskursiver Verständigung ausmachen. Im Anschluss an den pragmatischen Ausweis dieser normativ gehaltvollen Regeln, ist es jedoch entscheidend, zu klären, wie weit die Verpflichtung reicht, die sich aus diesen Regeln dafür ergibt, sich auch auf eine darüber hinausgehende diskursive Klärung von allgemeinen Geltungsansprüchen einzulassen, wie dies die Begründung einer (moralischen) Grundnorm verlangt. Mit dieser Frage kommt der eigenartig erkenntniskritische Status des Apriori der Kommunikationsgemeinschaft in den Blick. So begrenzt sich der Begründungsanspruch der Diskursethik eben nicht nur darauf, auf die notwendige Geltung der Argumentationsregeln im Diskurs zu verweisen. Vielmehr macht es gerade die transzendentale Bestimmung der Diskursethik aus, aus der für das menschliche Dasein konstitutiven Bedeutung der Sprache eine allgemeine und damit allgemein notwendige Verpflichtung zum Diskurs abzuleiten. Dem diskursethischen Begründungsanspruch zufolge gibt es also keinen Bereich des menschlichen Zusammenlebens, der nicht über die diskursive Klärung von Geltungsansprüchen bestimmt ist. Ließe sich diese Annahme bestätigen, wäre in der Tat eine Formel für die Lösung aller normativen Probleme gefunden, die sich dem menschlichen Zusammenleben auch 45
Ebd.
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im Rahmen der modernen, über die Logik der Subsysteme bestimmten Gesellschaftsform stellen. In dem über die kopernikanische Wende begründeten erkenntniskritischen Bewusstsein der Neuzeit, kann diese Annahme jedoch nicht ohne einen weiteren, einsichtigen Geltungsgrund als begründet angenommen werden. Während also im Anschluss an Apel und Habermas angenommen werden kann, dass es Situationen gibt, in denen das Erfordernis besteht, sich auf die argumentativen Regeln des Diskurses einzulassen, stellt sich aber die Frage, ob dies für alle Situationen gilt, in denen sich menschliche Interaktionen abwickeln.
3.4 Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft Die unbegrenzt geltende Verpflichtung zur argumentativen Auseinandersetzung soll sich vor allem in dem eingangs erwähnten zweiten Schritt der fiktiven Auseinandersetzung mit dem Skeptiker, wie Apel sie entwickelt, zeigen. In diesem zweiten Schritt geht es Apel darum, dem Skeptiker zu Bewusstsein zu bringen, dass es grundsätzlich unmöglich ist, sich außerhalb der Kommunikationsgemeinschaft zu positionieren. So ist es nach Apel nicht sinnvoll, sich dem Diskurs überhaupt zu verweigern, denn die Kommunikationsgemeinschaft sei die Bedingung des je eigenen Seins. Dies dennoch zu unternehmen, die diskursive Auseinandersetzung abzubrechen, dem Transzendentalpragmatiker also den Rücken zuzukehren und zu gehen, würde erneut einen performativen Widerspruch darstellen. Apel entfaltet auch dieses Argument zunächst in Auseinandersetzung mit dem kritischen Rationalismus: „Wer also die obskurantistische Entscheidung im Sinne Poppers trifft, der kann sie trotzdem nur unter der Voraussetzung dessen, was er selbst verneint, verstehen; er trifft sie noch innerhalb des transzendentalen Sprachspiels der transzendentalen Kommunikationsgemeinschaft; und wenn er die Entscheidung in einem radikalen und prinzipiellen Sinne trifft, dann verläßt er mit ihr die transzendentale Kommunikationsgemeinschaft und begibt sich damit zugleich der Möglichkeit des Selbstverständnisses und der Selbstidentifikation.“46
In diesem zweiten Argumentationsschritt soll dem Skeptiker also zu Bewusstsein kommen, dass es keinen Standpunkt außerhalb der kommunikativen Vernunft gibt. Anders als Apel meint, ist diese Annahme jedoch nicht ganz so tragfähig, wie es zunächst den Anschein haben mag. Denn die von Apel hier gegen den kritischen Rationalismus vorgebrachte Annahme, dass mit der 46
Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, S. 414; die Hervorhebungen entsprechen dem Original.
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Kommunikationsgemeinschaft stets auch die Bedingung der Möglichkeit zum je eigenen Selbstverständnis wie zur je eigenen Selbstidentifikation gegeben ist, wird der Problematik, auch unter den in der Moderne über die spezifischen Logiken der Subsysteme bestimmten Bedingungen ein (konsistentes) Selbstverständnis entwickeln zu müssen, nicht gerecht. Dabei ist gerade die in dem zweiten Argumentationsschritt behauptete Annahme Apels dem apriorischen Verständnis der kommunikativen Vernunft geschuldet, und diesem zufolge sind die kommunikativen Erkenntnisbedingungen den realen Erfahrungen stets vorgeordnet. Als solche ist auch die kommunikative Vernunft, die Pflicht, sich auf eine diskursive Verständigung einzulassen, keiner weiteren Erklärung zugänglich – ganz ebenso wie die prärationale Entscheidung im Sinne Poppers. Während Apel in dem zweiten Argumentationsschritt also zunächst auf die apriorische Geltung des Diskursprinzips abhebt – die sich eben dadurch auszeichnet, jeder realen Erfahrung vorgeordnet und damit keiner weiteren Begründung zugänglich zu sein – verdeutlicht sich die eigentümliche Problematik dieses transzendentalen Status der apriorischen Kommunikationsgemeinschaft weiterhin daran, dass in Apels Auseinandersetzung mit dem kritischen Rationalismus gleichwohl die Frage nach einem realen Geltungsgrund für den allgemeinen (i. e. transzendentalen) Geltungsanspruch der Diskursethik aufscheint. So macht Apel dem kritischen Rationalismus zwar das Zugeständnis, dass der im Muster des Vertragsabschlusses bemühte „gute Wille“ durchaus von Relevanz sei, für die praktische Umsetzung einer transzendental-reflexiv begründeten Ethik stelle er aber lediglich eine zusätzliche Bedingung dar. Während Apel hier also zwischen der allgemeinen Geltung des Diskursprinzips und seiner praktischen Umsetzung differenziert, besteht er gegenüber dem kritischen Rationalisten darauf, dass die zugestandene Entscheidungsfreiheit mit dem eigentlichen Begründungsproblem der Ethik nichts mehr zu tun habe.47 Vielmehr macht Apel gerade darin, dass im Sinne der transzendentalen Reflexion der jeweils „immer schon“ gegebene Wille zur universalen Gerechtigkeit zu Bewusstsein gebracht wird, den (transzendentalpragmatischen) Sinn des Rawls’schen Gedankenexperiments zur Begründung des Gesellschaftsvertrags aus: „Das Gedankenexperiment der ‚rationalen Wahl‘ in der ‚original position‘ hat also bei Rawls eigentlich nur den Sinn, den schon vorausgesetzten, notwendig einsehbaren Willen der praktischen Vernunft zur universalen Gerechtigkeit (das deontische Prinzip, das dem ‚kategorischen Imperativ‘ Kants entspricht) durch Zwischenschaltung einer exakten Imagi47
Vgl. Apel, Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?, S. 237ff.
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nation der strategischen Interessen aller möglichen Mitbürger als konsensfähig für alle Betroffenen zu erweisen.“48
Im Anschluss an diese Feststellung müsste sich Apel eigentlich dem Problem stellen, die Differenz von allgemeiner (transzendentaler) Gültigkeit und praktisch realer Umsetzung erkenntniskritisch näher zu bestimmen – und zwar in strukturlogischer Parallele zum vertragstheoretischen Normenbegründungsverfahren, wie auch in Apels Auseinandersetzung mit Karl-Heinz Ilting anklingt.49 Dies ist jedoch aufgrund des eigentümlichen Status der apriorischen Kommunikationsgemeinschaft nicht möglich. So hat Apel dieses Problem zwar als das „Differenzproblem“ benannt und die Annahme der Differenz auch in einem „Zwei-Stufen-Schema“ ausformuliert.50 Jedoch beschränkt sich auch dieses Schema darauf, erneut das Apriorische der Kommunikationsgemeinschaft anzuführen und damit von der bereits bestehenden (transzendentalen) Geltung des normativen Prinzips der Diskursethik auszugehen. So führt Apel etwa auch in diesem Sinne an, dass die allein philosophisch (i. e. transzendental-reflexiv) zu leistende Begründung des Prinzips der Diskursethik von seiner praktischen Anwendung – der situationsbezogenen Realisierung in praktischen Diskursen – analytisch zu trennen sei.51 Demnach ist zwar von einem normativ berechtigten Geltungsanspruch der jeweiligen historisch realisierten Normen auszugehen, zugleich wird diesen jedoch lediglich der Status revidierbarer Vorschläge im Rahmen praktischer Diskurse zugesprochen. Nur als solche seien sie als ein gültiger Ausdruck des (transzendentalen) Diskursprinzips zu verstehen. An anderer Stelle verweist Apel ganz ebenso darauf, dass zwischen den Diskursbedingungen der idealen Kommunikationsgemeinschaft und den realen Bedingungen eines Diskurses, wie er in der Lebenswelt tatsächlich stattfindet, sowohl ein Kontinuum als auch eine qualitative Differenz bestünde.52 Auch bei dieser Feststellung ist für die (erkenntniskritische) Frage, worin denn nun eigentlich der reale normative Geltungsanspruch der Diskursethik besteht, entscheidend, dass die (transzendentale) normative Geltung des Diskursprinzips zunächst als bereits bestehende Anlage in der realen Kommunikationsgemeinschaft angenommen wird. Die entscheidende Frage, die hier verfolgt wird, ist jedoch, ob die allgemeine (transzendentale) Verpflichtung zum idealen Diskurs nicht lediglich in die realen Verhältnisse hineingelesen wird, ohne dass die Anlage zu einer solchen allgemeinen Ver48 49 50 51 52
Ebd., S. 245. Vgl. ebd., S. 247f. Vgl. ebd., S. 275. Vgl. ebd., S. 246f. Vgl. ebd., S. 277.
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pflichtung auch tatsächlich in diesen ausgewiesen werden kann. Dabei würde es sich allein für ein transzendentallogisches Verständnis, in dem das Faktum des Normativen als ein immer schon gegebenes und somit nicht weiter zu begründendes Moment der diskursiven Normativität angenommen wird, als notwendig darstellen, auch von der unbedingten normativen Geltung des Diskursprinzips auszugehen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass sich hinter der transzendentallogischen Rekonstruktion der allgemeinen normativen Geltung des Diskursprinzips ein Manko verbirgt, das darin besteht, nicht erklärt zu haben, wie es überhaupt dazu kommt, dass es das Faktum der Normativität gibt und nicht vielmehr nicht gibt. Die transzendentallogische Annahme, dass die realen Verhältnisse immer schon die Anlage zum idealen Diskurs enthalten (und er damit diesen transzendental vorgeordnet ist), gilt auch für Habermas’ Konzeption der Diskursethik, obgleich es gerade im Rahmen dieses zweiten Argumentationsschritts im Diskurs mit dem Skeptiker ist, dass sich Habermas auf die bereits erwähnte Weise von Apels Argumentation abzusetzen sucht. Während Apel dem Skeptiker, der sich dem Diskurs überhaupt verweigert, indem er dem Transzendentalpragmatiker den Rücken kehrt, vorhält, er bringe sich damit um die Konstitution seines je eigenen Seins, führt Habermas zur Rettung des Skeptikers die Differenz von Kommunikationsgemeinschaft und sittlicher Lebenswelt an.53 Er rekurriert damit auf die Differenz von Diskurs und Handlung und argumentiert vollkommen zu Recht, dass es sich keineswegs von selbst versteht, dass „Regeln, die innerhalb von Diskursen unausweichlich sind, auch für die Regulierung des Handelns außerhalb von Argumentationen Geltung beanspruchen können“.54 Mit dieser Einlassung kommen zwar diejenigen Grenzen in den Blick, auf die sich der Geltungsanspruch der Regeln des Diskurses tatsächlich beschränkt, Habermas verfolgt diesen Aspekt jedoch nicht weiter. Er beschränkt sich vielmehr auf den bereits erwähnten Einwand, dass Apel meint, mit dem Diskursprinzip bereits eine inhaltliche Bestimmung der Moral gefunden zu haben. Wie angeführt, hebt Habermas hingegen darauf ab, dass das Diskursprinzip ein rein formales Prinzip sei, das noch keine materiale oder inhaltliche Begründung von Handlungsnormen beinhaltet: „Das skizzierte Begründungsprogramm beschreibt als den, wie wir jetzt vielleicht sagen dürfen, aussichtsreichsten Weg die transzendentalpragmatische Begründung einer normativ gehaltvollen Argumentationsregel. Diese ist gewiss selektiv, aber formal; sie ist nicht mit allen inhaltlichen Moral- und Rechtsprinzipien vereinbar, aber als Argumentationsregel präjudiziert sie keine inhaltlichen Regelungen. Alle Inhalte, auch wenn sie noch so fundamen53 54
Vgl. Habermas, Diskursethik, S. 109f. Vgl. ebd., S. 96.
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tale Handlungsnormen berühren, müssen von realen (oder ersatzweise vorgenommenen, advokatorisch durchgeführten) Diskursen abhängig gemacht werden.“55
Von der Annahme, dass der Skeptiker den Diskurs nicht überhaupt verweigern kann, geht somit auch Habermas aus. Weil die vorbehaltlose Verständigung in der Sprache angelegt ist, so seine Argumentation, gibt es keine soziokulturelle Lebensform, die nicht auf die Fortsetzung kommunikativen Handelns mit argumentativen Mitteln wenigstens implizit angelegt wäre.56 Damit bleibt auch in Habermas’ Verständnis noch der konsequente Aussteiger den Präsuppositionen der Argumentation verhaftet. Es ist mithin dieser zweite Schritt in der Argumentation mit dem Skeptiker, in dem die apriorische Geltung der Diskursethik deutlich wird. Er beinhaltet, dass der Geltungsanspruch des diskursiven Verfahrens zur Klärung realer Geltungsansprüche jedenfalls gilt. Apel wie Habermas erklären die diskursive Einigung in diesem Sinne für schlechthin konstitutiv für das menschliche Zusammenleben. Demnach muss jeder überhaupt und zu jeder Zeit auftretende Anspruch (somit jeder auch als Rechtsanspruch auftretende Anspruch) deshalb im Diskurs geklärt werden, weil dies aufgrund der Sprache (theoretisch) möglich ist. Wie angeführt, gilt die unbegrenzte Verpflichtung zum Diskurs so gerade auch gegen das (transzendentallogisch lediglich als vordergründig zu verstehende) jeweilige konkrete Interesse des oder der Betroffenen. Denn während eine wirkliche Klärung im Sinne des Diskursprinzips, wie Habermas es in Grundsatz ‚D‘ formuliert hat, allein unter der Bedingung erreicht ist, dass alle Betroffenen zustimmen können, gilt die Verpflichtung zum Diskurs intersubjektiv und ist (anthropologisch) über die Sprache (beziehungsweise über das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, wie Apel meint) begründet. Die grundlegende Annahme der Diskursethik, wie sowohl Habermas als auch Apel sie bestimmen, ist demzufolge: Wir sind dadurch, dass wir durch die Sprache auf Verständigung festgelegt sind, auch dazu verpflichtet, eine solche herbeizuführen. Missachten wir diese Pflicht, handeln wir den Grundlagen unseres Daseins zuwider. Auch Apel erklärt den argumentativen Diskurs als nichthintergehbare Legitimationsinstanz allen Handelns in einem solchen anthropologischen Sinne zur „Lebens-Funktion“.57
55 56 57
Ebd., S. 104. Vgl. ebd., S. 110. Vgl. Apel, Warum transzendentale Sprachpragmatik?, S. 215; eigene Hervorhebung.
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3.5 Die reale und die ideale Kommunikationsgemeinschaft Das in dem Diskurs mit dem Skeptiker aufscheinende Problem, einen realen Grund für den transzendental begründeten normativen Geltungsanspruch der Diskursethik anführen zu müssen, wird in Apels dialektischer Differenzierung von einer „realen“ und einer „idealen“ Kommunikationsgemeinschaft zum ausdrücklichen Thema der Diskursethik. Bei der Unterscheidung einer realen und einer idealen Kommunikationsgemeinschaft geht es Apel dabei vor allem um eine Analyse der realen Verhältnisse und damit um die historische Dimensionierung seines Ansatzes. Dies führt ihn dazu zu fragen, „wieviel durch die transzendentale Reflexion auf die moralischen Normen der Kommunikationsgemeinschaft, die im Apriori der Kommunikationsgemeinschaft mitvorausgesetzt ist“, „wirklich“ erreicht ist.58 Wie erinnerlich, ist Habermas die historische Dimensionierung des kommunikativen Vernunftpotentials im Rahmen seines Ausweises eines zweistufigen Gesellschaftsbegriffs angegangen. Bei dem Versuch, einen solchen Gesellschaftsbegriff auszuweisen, muss Habermas sich vorhalten lassen, mit der Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Subsysteme aus dem Bereich der Lebenswelt eine Differenzierung vorgenommen zu haben, die sich nicht widerspruchsfrei durchführen lässt. Denn die transzendentallogische Begründung der Diskursethik, deren Geltungspotential im Bereich der Lebenswelt Habermas zufolge erst in der Moderne voll zur Entfaltung gekommen ist, lässt sich ihrer inneren Logik nach nicht mit einem über die Logik der Subsysteme bestimmten Verständnis der Gesellschaft in Einklang bringen. Eine transzendentallogische Begründung der Normativität sieht ihrer eigenen Logik zufolge keinerlei Einschränkungen auf den Bereich der Lebenswelt vor. Im Vergleich zu dieser von Habermas in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ dargelegten Konzeption ist Apels frühe gesellschaftstheoretische Konzeption insofern radikaler (und logisch konsistenter), als sie zunächst noch keinerlei Zugeständnisse an die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in die Subsysteme von Ökonomie und Politik macht. In „Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft“ führt Apel vielmehr noch ganz unvermittelt an, der Sinn der realen Kommunikationsgemeinschaft liege darin, die ideale Kommunikationsgemeinschaft zu verwirklichen. Er formuliert diese Annahme auch in der Form von zwei grundlegenden Prinzipien, von denen er meint, dass sie als die langfristige moralische Handlungsstrategie eines jeden Menschen gelten könnten: 58
Vgl. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, S. 423.
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„Erstens muß es in allem Tun und Lassen darum gehen, das Überleben der menschlichen Gattung als der realen Kommunikationsgemeinschaft sicherzustellen, zweitens darum, in der realen die ideale Kommunikationsgemeinschaft zu verwirklichen. Das erste Ziel ist die notwendige Bedingung des zweiten Ziels; und das zweite Ziel gibt dem ersten seinen Sinn, – den Sinn, der mit jedem Argument schon antizipiert ist.“59
Während Apel hier zunächst auf die anthropologische Überlebensnotwendigkeit verweist, ist es gleichwohl entscheidend, zu sehen, dass auch in diesen Ausführungen eine ausgesprochen emanzipatorische, i. e. teleologische Perspektive angelegt ist: „Die Überlebensstrategie erhält ihren Sinn durch eine langfristige Emanzipationsstrategie.60
So führt Apel auch einleitend als das Problem seiner Abhandlung „Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft“ an, dass in der Moderne der Eindruck entstanden sei, diese habe in eine paradoxe Situation geführt. In dieser habe das individuelle Handeln über die technisch-wissenschaftlichen Konsequenzen globale Dimensionen angenommen, ohne aber dabei einer globalen, allgemein verbindlichen Handlungsorientierung habhaft sein zu können.61 Jedoch führt Apel gerade diesem (somit lediglich vordergründigen) Paradoxon gegenüber die transzendental-pragmatisch begründete, i. e. unbedingt geltende Diskursregel an. Die so auch in dem von Apel formulierten Ansatz enthaltene teleologische Dimension der Diskursethik zeigt sich auch beispielhaft in der folgenden Formulierung Apels: „Denn, wenn schon die normativen Bedingungen gelingender Diskurse nicht auf Realbedingungen der Kommunikationswirklichkeit reduzierbar sind, so kann doch andererseits die Wirklichkeit der sozialen Systeme sich schwerlich auf lange Sicht der in der Möglichkeit diskursiver Konsensbildung angelegten Forderung nach moralischer Legitimation entziehen.“62
Wie bereits erwähnt, führt Apel – anders als Habermas – auch weitreichende inhaltliche Konsequenzen an, die die transzendentallogische Geltung des Diskursprinzips mit sich bringt. In „Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft“ führt er so etwa aus, dass die Realisierung der idealen Kommunikationsgemeinschaft notwendig die „Aufhebung der Klassengesellschaft“ impliziere. Wobei dieses Ziel kommunikationstheoretisch neu formuliert werden müsse. So impliziere die Aufgabe, die ideale Kommunikationsgemeinschaft
59 60 61 62
Ebd., S. 431. Ebd., S. 432; die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Vgl. ebd., S. 359. Apel, Warum transzendentale Sprachpragmatik?, S. 216.
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zu realisieren, wie Apel (in Anlehnung an Habermas) neu formuliert, die „Beseitigung aller sozial bedingten Asymmetrien des interpersonalen Dialogs“.63 In späteren Schriften hat Apel dem Problem, unter den Bedingungen der realen (über die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Subsysteme bestimmten) Kommunikationsgemeinschaft eine individuelle Handlungsstrategie entwickeln zu müssen, mehr Beachtung geschenkt, als dies noch in seiner frühen Abhandlung zum Apriori der Kommunikationsgemeinschaft der Fall ist. So hat er das Problem später als den „Begründungsteil B“ einer allgemeinen Ethik beschrieben und es als Frage der ethischen Strategiebildung behandelt.64 Es findet in dem von Apel so genannten „teleologischen Ergänzungsprinzip“ seinen Niederschlag. Mit diesem Ergänzungsprinzip kehrt Apel hervor, dass der (dialektische) Widerspruch zwischen realer und idealer Kommunikationsgemeinschaft nicht nur individuell ausgehalten werden müsse, sondern auch tätlich aufgelöst werden müsse.65 Damit besteht das „teleologische Ergänzungsprinzip“ jedoch lediglich darin, dass das, was sich im Grunde (teleologisch) aus sich selbst heraus verwirklicht – nämlich die ideale Kommunikationsgemeinschaft – nun auch als ein moralisch für gut befundenes Ziel erklärt wird.66 Die ideale Kommunikationsgemeinschaft soll mit anderen Worten auch individuell gewollt und nach Kräften realisiert werden. Apel macht daraufhin in dem „Zwei-Stufen-Schema“ der Ethikbegründung auch noch eine dritte „Stufe“ aus. Diese bestehe in der an jeden Einzelnen gerichteten moralischen Aufforderung, für Verhältnisse zu sorgen, die es erlauben, die anstehenden Probleme nach den Regeln des idealen Diskurses zu lösen.67 Wie bereits 63
64
65 66 67
Vgl. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, S. 432 und J. Habermas (1971), Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: J. Habermas & N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a. M, S. 101141. Vgl. Apel, Warum transzendentale Sprachpragmatik?, S. 216f und ders., Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?, S. 257f und S. 275. Mit dem Begründungsteil B der Ethik wehrt sich Apel zugleich gegen den Vorwurf, die Diskursethik sitze einem „intellektualistischen Fehlschluss“ auf. Diesem Vorwurf zufolge begründet die Diskursethik eine Form der Handlungsorientierung, die keine wirkliche moralische Relevanz habe, weil sie in Bezug auf ein bereits bestehendes gemeinsames Handlungsziel instrumentell zweckmäßig sei. Die Normen des argumentativen Diskurses stellten somit lediglich hypothetische Imperative im Sinne Kants dar. Vgl. ebd., S. 223f und S. 263ff und Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 43. Vgl. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, S. 430f. Vgl. Apel, Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?, S. 279. Vgl. ebd., S. 261. Im Unterschied dazu gibt Karl-Heinz Ilting fünf Stufen der Ethikbegründung an. Vgl. K.-H. Ilting (1982), Der Geltungsgrund moralischer Normen, in: W. Kuhlmann & D. Böhler (Hg.), Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik, Frankfurt a. M., S. 612-648.
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erwähnt, ergibt sich jedoch auch diese Aufforderung bereits aus dem Apriori der Kommunikationsgemeinschaft.68 Eine wirkliche „Ergänzung“ stellt die Ausformulierung des „teleologischen Ergänzungsprinzips“ mithin nicht dar und auch mit der dritten Stufe im Schema der (hermeneutischen) Ethikbegründung ist bezüglich der Frage, worin der reale Grund für den normativen Geltungsanspruch der Diskursethik liegt, kein eigentlicher Erkenntnisgewinn zu verzeichnen. Dies bestätigt sich eindrücklich an der Antwort auf die Frage, die Apel sich im Anschluss an die Ausformulierung des teleologischen Ergänzungsprinzips stellt. So fragt Apel, ob die moralische Aufforderung, für Verhältnisse zu sorgen, die es erlauben, die anstehenden Probleme nach den Regeln des idealen Diskurses zu lösen, unter allen Umständen gelte. Dies weiß er nicht anders als durch den Verweis auf das Webersche „Augenmaß“ zu verneinen, das die Philosophie den politisch Verantwortlichen diesbezüglich zusprechen müsse.69 In dem Verweis auf das „Augenmaß“ der Politik kommt aber nicht mehr als die im Apriori der Kommunikationsgemeinschaft bereits angeführte (erkenntniskritisch unbestimmte und damit ungenügende) transzendentallogische Annahme zum Ausdruck, dass in den realen (politischen) Verhältnissen bereits die Anlage zum (idealen) Diskurs enthalten sei. Festzuhalten bleibt somit an dieser Stelle lediglich, dass es nicht im Horizont der Diskursethik liegt, zu fragen, ob sich diese Annahme auch anhand einer konsequent rekonstruktiven Analyse der realen gesellschaftlichen Verhältnisse bestätigen lässt.
4
Das Problem des Normativen
4.1 Der postmetaphysische Begründungsversuch im hermeneutischen Zirkel Als das eigentliche Problem im Verständnis des Normativen, an dem sich Apel wie Habermas mit ihrem Versuch einer transzendental-pragmatischen Begründung einer allgemeinen (diskursiven) Grundnorm abarbeiten, gilt ihnen, dass die Geltung des Normativen nicht aus einem „bloßen“ Faktum abgeleitet werden kann. Es war, wie erinnerlich, David Humes Kritik an den Mo68 69
Vgl. Apel, Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?, S. 278f. Vgl. ebd., S. 279. Ähnlich Habermas, der in seinen Notizen zu einem Begründungsprogramm der Diskursethik anführt, der Skeptiker der Diskursethik dramatisiere die Schranken, die sich ihrer begrenzt realisierten Geltung im Rahmen der Geschichte böten. Vgl. Habermas, Diskursethik, S. 116.
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raltheorien seiner Zeit, die das Problem der Deduktion, das Sollen nicht aus dem Sein ableiten zu können, virulent werden ließ. Seit George Edward Moore wird dieses Problem unter dem Titel des „naturalistischen Fehlschlusses“ verhandelt.70 Moore hat das Hume’sche Gesetz in kritischer Auseinandersetzung mit einer evolutionistischen Ethik angewandt. Sein Einwand richtet sich folglich gegen die Annahme, „dass wir uns in der Richtung der Evolution bewegen sollen, bloß weil es die Richtung der Evolution ist“.71 Dass der planen Natur nach ihrer neuzeitlichen „Entgeistigung“ keine Begründung des Normativen entnommen werden kann, muss, wie bereits ausgeführt, als weitestgehend unstrittig angenommen werden. Die Frage, die hier verfolgt wird, ist jedoch, wie sich die Diskursethik, mit dem von ihr vertretenen transzendentalen Begründungsanspruch, der Problematik der Deduktion stellt. Apel geht dem deduktiven Begründungsproblem nach, indem er nach dem Status der moralischen Grundnorm fragt. Wie bereits angeführt, sucht er im Zuge dieser Bestimmung die „metaphysische“ Begründung der klassischen Transzendentalphilosophie hinter sich zu lassen. Dabei sieht Apel es als Problem an, dass auch die ausdifferenzierte Begründung des kategorischen Imperativs Kants, wie er sie in der „Kritik der praktischen Vernunft“ angeführt hat, auf einer metaphysischen Vorstellung von der Realität eines nicht weiter begründbaren Faktums gründe.72 Apel richtet sich nun gegen eine solche metaphysische Vorstellung von Realität und setzt an deren Stelle das Argument des hermeneutischen Zirkels.73 Das eigentliche Argument der Diskursethik liegt dabei sowohl Apel als auch Habermas zufolge darin, dass sie die Vorstellung von einer – „bloß“ gegebenen – metaphysischen Realität prozedural „auflöse“ oder „verflüssige“. Habermas beschreibt die argumentative Dynamisierung der Differenz von Sein und Sollen als eine „Verflüssigung“ des Absoluten. Im Unterschied zu Apel meint er, dass darin ein „Rest von Metaphysik“ bestehen bleibe: „Das Moment Unbedingtheit, das in den Diskursbegriffen der fehlbaren Wahrheit und Moralität aufbewahrt ist, ist kein Absolutes, allenfalls ein zum kritischen Verfahren verflüssig70
71 72 73
Vgl. E.-M. Engels (1993), George Edward Moores Argument der ‚naturalistic fallacy‘ in seiner Relevanz für das Verhältnis von philosophischer Ethik und empirischen Wissenschaften, in: L. H. Eckensberger & U. Gähde (Hg.), Ethische Norm und empirische Hypothese, Frankfurt a. M., S. 92-132. Vgl. G. E. Moore (1903/1970), Principia Ethica, Stuttgart, S. 98; die Hervorhebung entspricht dem Original. Vgl. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, S. 417; I. Kant (1788/1974), Kritik der praktischen Vernunft, in: Bd. VII der Werkausgabe hrsg. von W. Weischedel, Frankfurt a. M., S. 103-302. Vgl. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, S. 422.
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tes Absolutes. Nur mit diesem Rest von Metaphysik kommen wir gegen die Verklärung der Welt durch metaphysische Wahrheiten an.“74
In Apels Konzeption wird die prozedurale Auflösung (im Diskurs) durch den dialektischen Widerspruch begründet, der zwischen dem Faktum einer realen und dem Faktum einer idealen Kommunikationsgemeinschaft liegt: „Die Pointe unseres Apriori scheint mir vielmehr darin zu liegen, dass es das Prinzip einer Dialektik (diesseits) von Idealismus und Materialismus bezeichnet: Wer nämlich argumentiert, der setzt immer schon zwei Dinge gleichzeitig voraus: Erstens eine reale Kommunikationsgemeinschaft, deren Mitglied er selbst durch einen Sozialisationsprozeß geworden ist, und zweitens eine ideale Kommunikationsgemeinschaft, die prinzipiell imstande sein würde, den Sinn seiner Argumente adäquat zu verstehen und ihre Wahrheit definitiv zu beurteilen.“75
Dabei muss, wie bereits angeführt, die Bestimmung des Zusammenhangs von realer und idealer Kommunikationsgemeinschaft als problematisch gelten. Apel selbst führt das „Merkwürdige“ dieses Verhältnisses an: „Das Merkwürdige und Dialektische der Situation liegt aber darin, daß er >derjenige, der argumentiert, I. F.-G.@ gewissermaßen die ideale Gemeinschaft in der realen, nämlich als reale Möglichkeit der realen Gesellschaft, voraussetzt; obgleich er weiß, daß (in den meisten Fällen) die reale Gemeinschaft einschließlich seiner selbst weit davon entfernt ist, der idealen Kommunikationsgemeinschaft zu gleichen.“76
In der Bestimmung dieses Status kommt das eigentliche Problem der Transzendentalität zum Ausdruck: die transzendentale Vorgabe muss, um als eine Vorgabe gelten zu können, über die Wirklichkeit hinausgehen und dabei zugleich Teil derselben sein. Andernfalls ist sie nicht anschlussfähig und kann nicht über die Wirklichkeit hinausweisen. Das Dilemma des transzendentalen Normativitätsverständnis liegt mithin darin, dass die transzendentale Vorgabe zwischen einer realen und einer nicht-realen Existenz schwebt. So beschreibt Apel „den transzendentalen Stellenwert“ der Präsuppositionen des Diskurses auch so, dass sie kein „empirisches Datum“, sondern eben im Sinne der Transzendentalität die „Instanz einer Bedingung der Möglichkeit von empirischer Erkenntnis“ seien.77 Dabei stellt jedoch die ideale Kommunikationsgemeinschaft auch als eine solche „Instanz“ ein Faktum dar; und zwar ein Faktum, das ganz im Sinne von Apels Kritik an Kants „Faktum der Vernunft“ ein nicht weiter begründbares Faktum darstellt. Wie es überhaupt zu diesem Fak74 75 76 77
Habermas, Die Einheit der Vernunft und die Vielfalt ihrer Stimmen, S. 184. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, S. 429. Ebd.; die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Vgl. Apel, Warum transzendentale Sprachpragmatik?, S. 209; eigene Hervorhebung.
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tum – dem Faktum der Normativität, der Tatsache, dass man (zu etwas) verpflichtet ist – kommt, das ist das eigentliche (postmetaphysische) Problem, das ungeklärt bleibt. Apels Versuch, das Problem, die „metaphysische“ Begründung durch die Einführung des hermeneutischen Zirkels prozedural aufzulösen und zu überkommen, lässt sich auch anhand der Ausführungen verdeutlichen, mit denen er darstellt, inwiefern er mit der Bestimmung des hermeneutischen Zirkels an Fichte anschließt. Dieser beschreibt, wie Apel anführt, die Methode einer rekonstruktionistischen Transzendentalphilosophie wie folgt: „Unser Gang ist fast immer der, daß wir a) Etwas vollziehen, in dieser Vollziehung ohne Zweifel geleitet durch ein unmittelbar in uns tätiges Vernunftgesetz. – Was wir in diesem Falle eigentlich, in unserer eigentlichen höchsten Spitze sind, und worin wir aufgehen, ist doch noch Faktizität. – Daß wir sodann b) das Gesetz, welches eben in diesem ersten Vollziehen uns mechanisch leitete, selber erforschen und aufdecken; also das vorher unmittelbar Eingesehene, mittelbar einsehen aus dem Prinzip und Grunde seines Soseins, also in der Genesis seiner Bestimmtheit es durchdringen. Auf diese Weise nun werden wir von faktischen Gliedern aufsteigen zu genetischen; welches Genetische denn doch wieder in einer andern Ansicht faktisch sein kann, wo wir daher gedrungen sein werden, wieder zu dem, in Beziehung auf diese Faktizität Genetischen aufzusteigen, solange bis wir zur absoluten Genesis, zur Genesis der W.-L. hinaufkommen.“78
Entscheidend an dieser Bestimmung ist, wie Apel erläutert, dass Fichte es mit ihr unternommen hat, die „bloße“ Faktizität des Kantschen „Faktums der Vernunft“ durch „einsichtigen Mit- und Nachvollzug nach und nach“ aufzulösen. „Indem so die Vernunft sich selbst aneignet oder rekonstruiert, soll sowohl der dogmatische Rekurs auf ein bloß vorhandenes metaphysisches Faktum wie andererseits die Willkür einer unbegründeten, dezisionistischen Setzung vermieden werden.“79
Während insbesondere Fichtes Spätphilosophie zeigt, dass er sich noch nicht von der Voraussetzung einer Metaphysik zu lösen vermochte, die sich bei ihm in dem ‚absoluten Ich‘ Gottes als einer Urtatsache manifestiert, bestimmt Apel die unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft als die transzendentale Vorgabe, die sich einem reflexionsabhängigen Rekonstruktivismus erschließen soll. In Apels Konstruktion tritt also an die Stelle der Ableitung des kategorischen Imperativs aus dem „bloßen“ Faktum der Vernunft eine transzendentalpragmatische Begründung im hermeneutischen Zirkel von normativer und faktischer Rekonstruktion. Sowohl Apel als auch Habermas verweisen dabei auf die „Doppelstruktur“ der moralischen Grundnorm respektive den doppel78 79
J. G. Fichte (1804/1908), Die Wissenschaftslehre, in: Werke, Bd. 4, hrsg. von Fritz Medicus, Leipzig, S. 165-392, S. 206; die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, S. 419.
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ten Sinn im Ausweis der normativen Anlage der Gesellschaft.80 So will Apel das Kant’sche „Faktum der Vernunft“ in der Form des Apriori der Kommunikationsgemeinschaft als ein „apriorisches Perfekt“ verstanden wissen.81 Als solches erweist es sich – wie das Argument des performativen Widerspruchs zeigen soll – immer wieder, in jeder neuen, real durchgeführten Argumentation, mithin „in der Tat“ als immer schon gegebenes und behauptet sich dabei zugleich – in uno actu – als normatives Moment, das der Argumentation stets vorgegeben ist. Damit bleibt aber auch im Rahmen des Zirkels von normativer und faktischer Rekonstruktion die normative Vorgabe (des Diskurses) bestehen, ohne selbst weiter begründet zu werden. Eine solche Begründung scheint der Diskursethik nicht möglich.
4.2 Der strukturell „unbestimmte“ Status des Normativen in der Diskursethik Dem transzendentalen Begriff der Sollgeltung liegt, wie oben bereits angeführt, die Vorstellung zugrunde, dass normative Prinzipien, gingen sie in der Wirklichkeit auf, nicht zugleich transzendental über diese hinausweisen könnten. Normative Prinzipien müssen demnach einen Gehalt aufweisen, der von der Wirklichkeit geschieden gedacht wird; ihnen muss ein Moment eignen, das nicht bereits (empirisch) ist. Richtet sich nun das Augenmerk auf dieses Moment, das (noch) nicht ist, so ist dieses Moment „als solches“ notwendig (und zwar im „dynamischen“ Verständnis des hermeneutischen Zirkels – in der sogenannten Prozeduralität des Diskurses – immer wieder und immer wieder) frei von jeder Empirie – es „ist“ als transzendentales Moment eben stets „noch nicht“. Das transzendentale Moment ist und bleibt so stets eine Vor-Gabe. So ist in diesem Sinne etwa auch Habermas’ Hinweis zu verstehen, dass auch eine nachmetaphysische Theorie nicht die Erreichbarkeit des Vernunftideals vorgaukeln dürfe.82 Sobald aber die Annahme von einem solchen (rein theoretischen) transzendentalen Moment vorgegeben wird, stellt sich die Frage, wie dieses rein abstrakte oder „ideale“ Moment in der Wirklichkeit Bedeutung erlangt. Diese Frage stellt sich, wie Apels Auseinandersetzung mit Kant zeigt, der transzendentalen Theorie als ihr ureigenes Problem – auch oder gerade weil (im Anschluss an Kant) angenommen wird, dass das norma80 81 82
Vgl. Apel, Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?, S. 256f und Habermas, TdkH, Bd. 1, S. 9. Vgl. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, S. 419. Vgl. Habermas, Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen, S. 184.
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tive Moment jenseits empirischer Erkenntnisbedingungen liegt.83 So verweist Apel zwar darauf, dass Kants „Faktum der Vernunft“, obwohl es sich ganz im Sinne Humes unter der Hand und entgegen Kants anfänglicher Intention von der Frage nach der moralischen Geltung – der Frage also, ob der kategorische Imperativ gelten soll oder zu Recht gilt – in die Frage nach der „Faktizität“ der entsprechenden Gewissensnötigung wandelt, als eine andere Form der Verwechslung als die von Hume gemeinte zu verstehen sei. Denn es handele sich hierbei ganz offensichtlich nicht, wie Apel meint, um ein „bloß“ empirisches Faktum im Sinne Humes.84 Gleichwohl ist auch hier das Problem, wie in Apels Auseinandersetzung mit Kant zumindest anklingt, zu klären, wie das „reine“ Moment (das prinzipielle Sollen des normativen Prinzips) der transzendentalen Theorie Anschluss an die Wirklichkeit findet. Diesen Anschluss an die Wirklichkeit muss das transzendentale Moment notwendig haben, um über die Wirklichkeit hinausweisen zu können. Das Transzendentale muss also in irgendeiner Form real und damit „in der Welt“ sein; in welcher (konkreten) Form es dies ist, bleibt in der transzendentalen Bestimmung jedoch unklar. Darauf, dass dies so ist – und strukturlogisch auch so sein muss – hat George Edward Moore 1903 in seinen „Principia Ethica“ hingewiesen. Er hat darin das Gute als einen grundsätzlich undefinierbaren Begriff bestimmt.85 Wie oben angeführt, stellt Apel dieses Problem der transzendentalen Theorie – in strukturlogischer Übereinstimmung mit dem vertragstheoretischen Normativitätsverständnis – dadurch heraus, dass er zwischen der allgemeinen moralischen Grundnorm und „dem Faktum einer bestimmten Übereinkunft“ differenziert.86 Eben darin zeigt sich jedoch das Dilemma der transzendentalen Theorie: Der Status des Transzendentalen muss strukturlogisch unbestimmt bleiben, andernfalls verliert es seinen transzendentalen Charakter. Bleibt die transzendentale Vorgabe aber in diesem Sinne im Unbestimmten und damit letztlich „unwirklich“, hat sie realiter keine Bedeutung. Die transzendentale Konstruktion der Normativität macht also auch in der von Habermas und Apel begründeten postmetaphysischen Form der Diskursethik aus, dass die Differenz von Empirie und normativem Prinzip gedacht wird und dabei die Empirie strukturnotwendig als auf die Verwirklichung des normativen Prinzips angelegt verstanden wird. Wobei, und das ist das Problem der transzendentalen Theorie, das normative Prinzip als (transzendentales) Prinzip per definitionem nicht selbst zu verwirklichen ist. Wenn aber die 83 84 85 86
Vgl. dazu Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 58f. Vgl. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, S. 417f. Vgl. Moore, Principia Ethica, S. 39f. Vgl. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, S. 426.
Das philosophische und das soziologische Gesellschaftsverständnis
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transzendentale Vorgabe in diesem Sinne als nicht „wirklich“ gedacht wird, was „ist“ sie dann?
E Das konstruktive Normativitätsverständnis als Grundlage eines soziologischen Gesellschaftsverständnisses
1
Das erkenntniskritische Problem in einem modernen Verständnis der Normativität
Habermas und Apel machen für das Normativitätsverständnis, das sie in ihren Darlegungen zur Diskursethik entwickeln, eine Annahme geltend, die für ein modernes Verständnis der Normativität nicht länger haltbar ist. Diese Annahme liegt darin, dass beide Diskurstheoretiker davon ausgehen, in der Sprache sei eine nicht weiter zu begründende, apriorische Verpflichtung zur diskursiven Verständigung angelegt. Mit dieser Annahme von einer a priori (oder auch transzendental) geltenden normativen Prämisse zeigt sich die Diskursethik einem philosophischen Verständnis des normativen Geltungsanspruchs verhaftet, das den neuzeitlichen Anforderungen eines prozessual aufgeklärten Verständnisses von der Normativität nicht gerecht wird. Mit dem Verweis auf den hermeneutischen Zirkel, der auf einer sowohl normativen als auch faktischen Rekonstruktion der Diskursethik beruht, entwickeln Apel und Habermas zwar das transzendentale Problem weiter, das in Kants Versuch begründet liegt, den kategorischen Imperativ über das „bloße“ Faktum der Vernunft zu begründen. Während Kant mit der Begründung des kategorischen Imperativs aus dem „bloßen“ Faktum der Vernunft heraus nicht einsichtig machen konnte, was dessen (transzendental begründete) Geltung real werden lässt, wird die faktische Geltung der moralischen Grundnorm in der Diskursethik immer schon mitgeführt. Sie ist ein Bestandteil der normativen und faktischen Rekonstruktion im hermeneutischen Zirkel. Wie angeführt, bleibt jedoch auch in diesem postmetaphysischen Begründungsversuch der Diskursethik als Desiderat bestehen, zu klären, wie es überhaupt zur Geltung von Normen kommt. Warum man überhaupt zu etwas verpflichtet ist und nicht vielmehr nicht verpflichtet ist, bleibt auch im hermeneutischen Begründungszirkel eine Frage, die nicht weiter geklärt wird. Apel führt die Annahme,
142
Das konstruktive Normativitätsverständnis
dass es die Verpflichtung (zum Diskurs) gibt, auf das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft zurück, während für Habermas der Grund für die immer schon geltende Verpflichtung zum Diskurs in vergleichbarem Sinne darin liegt, dass Sprache als konstitutives Moment menschlicher Lebensformen nicht hintergehbar sei. Beide Diskursethiker verstehen somit die Verpflichtung zum Diskurs, ganz im Sinne Kants, als eine transzendentale Prämisse. Gerade darin, in dem in der Vor-gabe begründeten apriorischen Status der Pflicht zum Diskurs, zeigt sich jedoch ein Rest von Metaphysik.1 Dieser metaphysische Rest steht dadurch im Konflikt zur Empirie, dass er erkenntnistheoretisch unbestimmt bleibt. Es wird folglich nicht klar, wie weit der reale Geltungsanspruch der Pflicht zum Diskurs tatsächlich reicht. Die Grenzen der Pflicht, sich auf einen Diskurs einlassen zu müssen, zeigen sich hingegen, sobald der Versuch unternommen wird, das Faktum des Normativen selbst in seinem Bildungsprozess einsehbar werden zu lassen. Erst mit der Einsicht in den Bildungsprozess des Normativen selbst wird so auch kenntlich, als was sich das Normative in der modernen Gesellschaftsverfassung realiter ausbildet. Dabei wird mit dem Versuch, den Bildungsprozess des Normativen selbst einsichtig zu machen, ein ganz anderes Verständnis des Normativen heraufgeführt, als es das philosophisch transzendentallogische Verständnis darstellt. Das Problem der Vorgabe In einem evolutiven Verständnis von der Welt und dem Dasein des Menschen in der Welt wird konsequent im Ausgang von der Natur gedacht.2 Für die Bestimmung des Sollens und der Normativität der gesellschaftlichen Verfassung bedeutet dies, dass ihr nichts anderes zu Gebote steht, als das, was sich an Anforderungen im Bildungsprozess der sozialen Daseinsform zu erkennen gibt. In den Darlegungen des folgenden Kapitels soll es darum gehen, ein solches konsequent prozessuales Verständnis der Normativität zu entwickeln.3 Dabei wird zwar auch im prozessualen Verständnis des Normativen ein Wissen um die Tatsache der normativen Geltung (sowie der dazugehörigen 1
2 3
Wie bereits angeführt, weist Habermas auf diesen metaphysischen Rest auch explizit hin. Er führt an, in seinem Diskursbegriff sei ein Moment der Unbedingtheit aufbewahrt, die als ein „Rest von Metaphysik“ verstanden werden müsse. Vgl. Habermas, Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen, S. 184. Vgl. Dux, Historisch-genetische Theorie der Kultur, S. 167ff. In das Verständnis geht Luhmanns konstruktives Verständnis der Normativität ein. Vgl. N. Luhmann (1980/1987), Rechtssoziologie, Opladen. Die Ausführungen hier folgen Dux, Die Moral in der prozessualen Logik der Moderne, S. 111-141.
Das konstruktive Normativitätsverständnis
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Pflicht) vorausgesetzt. Und zwar ist dies ein Wissen, das jenem Wissen gleichkommt, das die jeweiligen Akteure in der Gesellschaft haben. Im Unterschied zur metaphysischen Erkenntnisvorgabe stellt die Wissensvorgabe in einem historisch-genetischen Rekonstruktionsprozess jedoch eine bloße Verständnisvorgabe dar. Damit erhält dieses Wissen einen ganz anderen erkenntnistheoretischen Status als die apriorische Erkenntnisvorgabe. Es wird relational und prozessual. Relational ist das Wissen insofern, als es sich in das Gesamtverständnis der Natur einordnen lässt. Prozessual ist es, als gilt, dass sich die jeweiligen Organisationsformen des Lebens nicht in einem solchen Sinne aus einer zuvor schon entwickelten Organisationsform ableiten lassen, dass sie in dieser bereits angelegt gewesen wären. Es gehört vielmehr zum modernen Verständnis der Evolution, dass sich prinzipiell neue Organisationsformen im Universum zu bilden vermögen.4 Für das Verständnis des Normativen kommt es dabei grundlegend auf ein prozessuales Verständnis der Enkulturation an: „Was sich an geistigen, soziokulturellen Lebensformen entwickelt: die Organisationsform des Denkens wie des Sprechens, des Handelns wie der Interaktion und mit allem insbesondere der Normativität, liegen gerade nicht schon in der biologischen Verfassung. Dort liegen nur die Bedingungen, um sie zu entwickeln. Sie selbst bilden sich erst in einem Prozeß der Kommunikation und Interaktion derer, die sich durch sie vergesellschaften.“5
Mit einem solchen prozessualen Verständnis des Normativen geht einher, dass es – ganz anders als in dem transzendentallogischen Begründungsversuch – nicht darum gehen kann, materiale, i. e. inhaltlich bestimmte Prinzipien auszumachen, die gegebenenfalls normativ in Geltung gesetzt werden könnten. Bei der prozessualen Rekonstruktion geht es vielmehr darum, zu erfassen, wodurch und als was sich die normative Geltung sowie das Bewusstsein der Pflicht bei den Mitgliedern der Gesellschaft realiter bilden. Während es also in einem prozessualen Verständnis des Normativen nur darum gehen kann, die tatsächliche Geltung normativer Strukturen zu erklären, ist die Frage, wie Gesellschaften eigentlich sein sollten, nicht von Interesse. Denn die Frage nach materialen Prinzipien der Normativität zu stellen, wäre nur dann sinnvoll, wenn ihre Beantwortung Anhaltspunkte dafür mitlieferte, dass die von ihr ausgemachten normativen Prinzipien auch eine Chance hätten, in der Gesellschaft realisiert zu werden. Wie bereits angeführt, drängen sich aber etwa mit Bezug auf das Diskursprinzip Zweifel auf, ob dieses tatsächlich dem un4 5
Vgl. I. Prigogine & I. Stengers (1981), Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens, München. G. Dux (2001), Gesellschaft, Norm und Recht in der prozessualen Logik der Moderne, in: G. Dux & F. Welz (Hg.), Moral und Recht im Diskurs der Moderne, Opladen, S. 11-42, S. 18.
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bedingten Geltungsanspruch gerecht werden kann, den es durch seine apriorische Begründung zugeschrieben bekommt. Wie sich im Weiteren zeigen soll, ist die Gesellschaft der Moderne von anderen Anforderungen als der Anforderung bestimmt, sich auf Diskurse einzulassen.
2
Leben in sozialen Bezügen
Der Mensch wächst in dichten kommunikativen Bezügen auf, zumeist in denen einer Familie. In der Gemeinschaft der Familie sind die kommunikativen und interaktiven Beziehungen am dichtesten, deshalb galt sie in der Vergangenheit als paradigmatisch für die soziale Daseinsform des Menschen. Es haben sich jedoch auch andere Formen von Gemeinschaft herausgebildet, wie etwa Hausgemeinschaften, Nachbarschaften und Gemeinschaften am Arbeitsplatz, auch sie Formen enger sozialer Beziehungen. Diese Gemeinschaften charakterisiert, dass der Mensch mit seinem Dasein in den Einflussbereich anderer und in die Abhängigkeit von deren Handeln gerät. In jeder Gemeinschaft ist es deshalb notwendig, die eigenen Interessen gegenüber anderen geltend zu machen und die Akzeptanz dieser Interessen zu sichern. Außer bei den frühen Sammler- und Jäger-Gemeinschaften bleibt das Leben der Menschen dabei auch nicht auf diese Bezüge in der Gemeinschaft beschränkt. Vielmehr sind die kleinen Gemeinschaften des täglichen Lebens zumeist in eine umfassendere Form der Sozialität, in die Gesellschaft, eingebunden. Und es sind verschiedene Gesellschaften global vernetzt. So ist etwa das Mitglied einer modernen Gesellschaft in den Kooperationen auf dem Markt unausweichlich den Handlungen anderer ausgesetzt und muss Vorkehrungen dagegen treffen, in den eigenen Interessen beeinträchtigt zu werden. Dies gilt ebenfalls für solche (historischen) Gesellschaftsformen, die gesetzlich geregelt sind. Denn auch in ihnen kann sich jeder auch ungesetzlich verhalten. Die Vorkehrungen gegen die Beeinträchtigung der eigenen Interessen werden dabei mit den Mitteln der Kommunikation und Interaktion getroffen, die den Menschen zur Verfügung stehen, um in Beziehung miteinander zu treten und die Beziehungen zu regulieren. Da in der Gesellschaft jeder vom anderen erwartet, seine Vitalsphäre respektiert zu sehen, adressiert er diese Erwartung als Aufforderung an den anderen, ihr auch Rechnung zu tragen. Die Erwartung als Aufforderung geltend zu machen, kann je nach Anlass in latenter oder auch offener Form geschehen. Es ist diese in sozialen Bezügen mitgeführte und an den anderen adressierte Erwartung, die die Grundverfas-
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sung des Sollens ausmacht. Das bedeutet, dass das Sollen nicht in einem bestimmten, manifesten Gehalt besteht, sondern in einer solchen formalen Struktur sozialer Beziehungen. Der materiale Gehalt des Sollens ergibt sich erst aus den Interessen, die in die sozialen Beziehungen eingebracht werden. Wie bereits angeführt, richten sich dabei die elementarsten Formen des Sollens durchweg darauf, die eigene Vitalsphäre gegen Beeinträchtigungen durch andere zu schützen. Sie richten sich auf Unterlassungen, darauf, das eigene Leben, den Körper, den Frieden des Hauses nicht von anderen verletzen zu lassen. Es ist jedoch nicht nur der Schutz der Vitalsphäre, der das Sollen ausbilden lässt. Alle Praxisformen des Handelns in der alltäglichen Lebensführung stoßen auf andere, ohne dass sie ohne weiteres auf die Akzeptanz der anderen rechnen können. Auch alle anderen Interessen des alltäglichen Handelns müssen deshalb so geformt sein, dass sie den Anspruch mit sich führen, anerkannt zu werden. Es ist also die in das alltägliche Handeln eingelassene Erwartung, die eigenen Interessen in sozialen Bezügen vom anderen anerkannt zu sehen, die dem Sollen seine für die menschliche Daseinsform schlechterdings grundlegende Bedeutung verleiht. Wie einleitend bereits angedeutet, gilt es in der Auseinandersetzung mit dem transzendentallogisch begründeten Verständnis des Sollens vor allem, deutlich zu machen, dass sich das Sollen keinem präexistenten „Faktum der Vernunft“ verdankt; es bildet sich vielmehr aus den Anforderungen der sozialen Daseinsform als eine Struktur sozialer Beziehungen heraus. Weil Menschen nicht von Natur aus auf bestimmte Verkehrsformen festgelegt sind, sind sie darauf angewiesen, eine soziale Verkehrsform zu schaffen, in der sich jeder die Anerkennung seiner eigenen Interessen durch die anderen im sozialen Umfeld sichert.
3
Die Entwicklung von Formen der Erwartung
3.1 Die ethologische Form der Erwartung Erwartungen entsprechen in ihrer ethologischen Form einer Grundstruktur des Lebens, in der sich die Beziehung von Organismus und Umwelt gestaltet. Über die Erwartung wird die Umwelt in das operativ geschlossene System der Binnenorganisation des Organismus hineingenommen, so dass der Organismus auf eine Außenwelt, mit der er interagieren muss, ausgerichtet ist. Die
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ethologische Form der Erwartung stellt mithin das Pendant zur Autonomie des lebenden Organismus dar. Sie lässt sich für ein artgerechtes Verhalten nutzen. So beruhen bereits einige Formen des Lernens im Tierreich darauf, dass Erfahrungen in dem Sinne genutzt werden, dass in bestimmten wiederkehrenden Situationen der Eintritt bestimmter Ereignisse erwartet und das Verhalten an diesen Erwartungen ausgerichtet wird. Auch im Tierreich kann sich so die ethologische Form der Erwartung in einer rudimentär reflexiven Form der Erwartung auf das Verhalten anderer Artgenossen sowie die Interaktion mit diesen erstrecken.6
3.2 Die antizipatorische Form der Erwartung Die reflexive Form der Erwartung, wie sie für die Grundverfassung des menschlichen Sollens bestimmend ist, schließt an die ethologische Form der Erwartung an, unterscheidet sich zugleich aber in signifikanter Weise von ihr. So bleibt zwar auch der menschliche Organismus auf die Außenwelt ausgerichtet. Anders als im Tierreich werden jedoch die Praxisformen in der Interaktion mit der Außenwelt so wie die Organisationsformen der humanen Welt selbst erst konstruktiv geschaffen. Die geschaffenen Organisationsformen treten dabei an die Stelle der ersten Natur; sie werden zu einer Art zweiter Natur. Diese gewinnt zwar nie die Härte der ersten Natur, gleichwohl gerät so die Erwartung des Menschen unter die Anforderungen einer soziokulturellen Lebensform. In einer solchen Lebensform wird die Struktur der Erwartung reflexiv. Die Reflexivität liegt dabei darin, dass der handelnde Mensch um die Unsicherheit seines Handelns weiß und sie entsprechend in Rechnung stellt. Das bedeutet, dass die Organisation des Handelns beim Menschen in der Form einer offenen Erwartung erfolgt. Wie bereits im Zusammenhang mit dem Begriff kommunikativen Handelns erwähnt, ist es diese offene Form der Erwartung, die sich als kognitive oder antizipatorische Form der Erwartung bestimmen lässt. Der Handelnde rechnet damit, dass die Verhältnisse so sind, wie er sie antizipiert.7 Dabei muss gleichwohl derjenige als klug gelten, der darauf gefasst ist, dass es auch anders kommen kann.
6 7
Vgl. die Schilderungen bei J. Lawick-Goodall (1971), Wilde Schimpansen. 10 Jahre Verhaltensforschung am Gombe-Strom, Reinbek bei Hamburg. Diese Form der kognitiven Erwartung erfährt in einer verlängerten Zeitspanne gesteigerte Bedeutung. Je weiter die Handlung zeitlich greift, desto wichtiger ist es, die Situationen und Ereignisse, die für das Handeln bestimmend sind, zu antizipieren.
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Das Problem der antizipatorischen Erwartungen wird durch Handeln in sozialen Situationen in spezifischer Weise gesteigert. Während bereits der Konstruktcharakter des Handelns und der Welt, in die hineingehandelt wird, jede Handlung unsicher erscheinen lässt, bewirkt die Tatsache, dass der Handelnde sich mit anderen in einer sozialen Situation befindet, dass sich das Handeln als doppelt bedingt darstellt. Eben darauf zielt Luhmann mit dem Verweis auf die doppelte Kontingenz ab.8 So zeigt sich das Handeln sowohl von der Person des Handelnden abhängig als auch von der Willkür der anderen im sozialen Umfeld. Während das Handeln also einerseits durch das Interesse, das der Handelnde verfolgt, sowie andererseits durch die Umsetzung dieses Interesses in die konkreten Handlungen, in denen er das Interesse zu befriedigen sucht, bedingt wird, ist das Handeln zum anderen auch durch die jeweilige Person des oder der anderen bedingt, auf die die Handlung trifft. Dabei kann bereits unsicher sein, wer von der Handlung in welcher Weise betroffen ist. Die Unsicherheit erstreckt sich des weiteren aber auch darauf, was an Interessen der anderen in Betracht gezogen werden muss, wie die, die von der Handlung betroffen sind, auf diese reagieren werden, und wie die eigene Handlung in Hinblick auf das unterstellte Interesse der anderen und deren Handlungspläne demgemäß aussehen muss. Während sich für einige dieser Unsicherheiten routinierte Verlaufsformen herausbilden können, bleibt doch die Willkürlichkeit der Handlungen der anderen als eine permanente Unsicherheit bestehen. Festgehalten werden muss jedenfalls, dass es für alles Handeln in sozialen Situationen grundlegend ist, sich antizipatorisch eine Vorstellung davon zu machen, in welcher Weise die anderen möglicherweise handeln werden, um dies in der eigenen Handlungsweise zu berücksichtigen. Es ist deshalb diese Form der antizipatorischen Erwartung, die in spezifischer Form erweitert wird.
3.3 Die Steigerung der Erwartung zum Sollen Für das Handeln in sozialen Situationen hat sich eine besondere Struktur des Handelns herausgebildet. Sie gründet darauf, dass Erwartungen für den Handelnden reflexiv verfügbar sind. Die reflexive Verfügbarkeit von Erwartungen schafft die Möglichkeit, die Erwartungen, die sich auf das Handeln anderer beziehen, in Form einer Aufforderung an die anderen zu adressieren, die darin besteht, den eigenen Erwartungen Rechnung zu tragen. Es ist diese Form der 8
Vgl. N. Luhmann (1984), Soziale Systeme, Frankfurt a. M., S. 148ff.
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Erwartung, eine Erwartung, die eine Aufforderung in sich einschließt, die sich als die Grundform der Kommunikation und Interaktion entwickelt. Sie manifestiert sich im Sollen. Es ist also die an den anderen adressierte Aufforderung, bestimmte Handlungen auszuüben oder zu unterlassen, die das Sollen ausmacht; und es ist diese Form einer über die Erwartung geübten Einflussnahme auf das Handeln des anderen, die die Praxis kommunikativen Handelns bestimmt. Die Differenz, die zwischen der Erwartung, die sich auf die kognitive Antizipation erstreckt, und der auffordernden Erwartung besteht, hat Luhmann in seinen rechtssoziologischen Ausführungen zu einem konstruktiven Verständnis der Normativität in eindrücklicher Weise herausgearbeitet.9 So führt er in seiner „Rechtssoziologie“ an, es gebe zwei konträre Möglichkeiten, auf Erwartungsenttäuschungen zu reagieren. Sie bestünden darin, entweder „die enttäuschten Erwartungen zu ändern und der enttäuschenden Wirklichkeit anzupassen oder sie festzuhalten und im Protest gegen die enttäuschende Wirklichkeit weiterzuleben“.10 Im Unterschied zu den bloß kognitiv antizipatorischen Erwartungen sind die in Normen manifest gewordenen Erwartungen weitgehend resistent gegen Lernen. Geändert werden müssen deshalb die antizipatorischen Erwartungen, sobald sich herausstellt, dass sie falsch sind. Der von den Umständen Enttäuschte muss in dem Fall einsehen, dass sein Kalkül falsch war. Handelt es sich hingegen um Erwartungen, die in Normen eingelassen sind und deshalb als Sollen an den anderen adressiert werden, geht die Enttäuschung zu Lasten des Adressaten. Es ist dann an diesem einzusehen, dass hinter normativen Erwartungen gesellschaftlich anerkannte Interessen stehen, die nicht umstandslos preisgegeben werden.
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Die Grundverfassung des Sollens als Ergebnis der Anforderung einer sozialen Daseinsweise
In der Folge eines konsequent konstruktiven Verständnisses der Normativität, wie es bisher anhand eines Verständnisses der Grundverfassung des Sollen entwickelt wurde, kann die Frage, warum es das Sollen gibt und nicht vielmehr nicht gibt, nur wie folgt beantwortet werden: Das Sollen bildet sich aus den konstitutiven Anforderungen kommunikativer und interaktiver Beziehungen heraus. In sozialen Beziehungen muss jeder darauf achten und darauf 9 10
Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie. Vgl. ebd., S. 42.
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hinwirken, dass seinen Interessen Rechnung getragen wird. Es ist so einzig über die als Sollen artikulierte Aufforderung, dass sich eine Lebensform realisieren lässt, in der sich die Sorge des Subjekts um sich mit dem Faktum seiner sozialen Daseinsform in Einklang bringen lässt. Das Sollen ist in diesem Sinne eine Struktur der Kommunikation und Interaktion. Durch diese Struktur adressieren die Akteure ihre Interessen aneinander und verschränken sie miteinander. Als ein solches Strukturmoment der Kommunikation und Interaktion ist das Sollen ubiquitär. Als Strukturmoment der Kommunikation und Interaktion wird die Ausbildung des Sollens mithin in einer ganz anderen Weise einsichtig als in dem transzendentallogischen Verständnis des Sollens respektive der Normativität, wie Habermas und Apel es in ihren Ausführungen zur Diskursethik entwickeln. Apels Verweis auf das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft – als Grund für die (unbedingte) Geltung des Diskursprinzips – steht dabei als die entscheidende Einsicht entgegen, dass es keine Form der Vernunft und auch keine bestimmte Form des Sollens in der Vernunft gibt, die dem konstruktiven Weltenbau der Menschen a priori vorgegeben ist. Vielmehr können sich sowohl die Vernunft als auch das Sollen nur unter den pragmatischen Anforderungen der Konstruktion selbst ergeben.
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Die Ausbildung der Norm
5.1 Vom Sollen zur Norm Die auffordernde Erwartung stellt die Grundform des Sollens dar. Sie bildet allerdings zunächst nur eine protonormative Form des Sollens. Zur Norm im eigentlichen Sinne werden Erwartungen erst, wenn mit ihnen die Pflicht verbunden ist, ihnen auch tatsächlich nachzukommen. Dazu gehört, sie in so einer Weise zu generalisieren, dass bestimmte Formen des Verhaltens für bestimmte, wiederkehrende Situationen allgemeine Anerkennung finden. Die Frage ist also, was das Anerkenntnis in der Gesellschaft bewirkt, für eine bestimmte Situation ein bestimmtes Verhalten zur Pflicht zu machen. Diesem Prozess, dem Grundmodus der normativen Vergesellschaftung, liegt das Erfordernis zugrunde, Handlungen in sozialen Situationen zu koordinieren und miteinander abzugleichen. Die grundlegende Situation ist, dass jedes Handeln eines jeden Einzelnen auf die Handlungsinteressen und das Handeln anderer trifft, denen er in dem jeweiligen System der sozialen Beziehungen verbunden
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ist. Als soziales System wird dabei das Netzwerk von Handlungen und Kommunikationen verstanden, durch das die Subjekte miteinander verbunden sind. Sie bestehen sowohl in der Familie und in den kleinen Gemeinschaften als auch in der Gesellschaft. Die Netzwerke bilden sich durch das oben beschriebene Handeln der Subjekte in sozialen Situationen. Der Einzelne formt seine Handlung reflexiv, in dem Wissen um die Welt, in die hinein er handelt. Zu diesem Wissen zählt auch das Wissen um die Handlungspositionen und die Handlungsmacht der relevanten anderen, die diese zur Durchsetzung ihrer jeweiligen eigenen Interessen haben. Dabei kann der Handelnde auch versuchen, die Positionen der anderen zu seinen Gunsten zu beeinflussen, aber dazu bedarf es eines entsprechenden Potentials an Macht. Falls ihm diese nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung steht, bleibt ihm nur die Möglichkeit, seine eigenen Handlungen auf die der relevanten anderen abzustimmen. In der Regel verlaufen die sozialen Prozesse in kommunikativen Akten ab. Wie bereits in der Auseinandersetzung mit Habermas’ Begriff des kommunikativen Handelns angeführt, liegen auch diesen die differenten Handlungspotentiale zugrunde, ohne allerdings dabei eigens artikuliert werden zu müssen. Anders als Habermas meint, ist es dabei in den sozialen Interaktionen schlicht nicht notwendig, sich auf eine vorbehaltlose Verständigung einzulassen. Notwendig ist nur, die Handlungen aneinander anschlussfähig zu machen; und es ist dies, was zumeist auch einverständlich geschieht. Anders als in dem von Habermas vorgestellten sprachphilosophischen Verständnis angenommen wird, muss dabei auch davon ausgegangen werden, dass in den sozialen Netzwerken genügend Raum besteht, differente Handlungs- und Machtpotentiale auszubilden und es sind diese, die sich zu Strukturen verfestigen.11 Die Organisationsformen der Gesellschaft bilden sich unter den Anforderungen des Handelns, die sich aus den systemischen Bedingungen der Vernetzungen der Handlungen ergeben. In einer Vielzahl der Gesellschaften vor der Neuzeit hat deshalb Herrschaft die Strukturen bestimmt. Die Strukturen der modernen Gesellschaft bestimmt der Markt. Dabei ist die Gesellschaft dadurch, dass jeder seine Handlungs- und Machtpotentiale verfolgt, keineswegs zu einem Krieg aller gegen alle geworden. Denn zunächst einmal akzeptiert jeder das Dasein und die Integrität eines jeden in der Gesellschaft. Dabei akzeptiert er ihn in der Position, die er sich aufgrund seines Handlungs- und Machtpotentials in der Gesellschaft einzurichten vermochte. Es ist mithin der sich verstetigende systemische Verbund, der die Anforderungen an das indivi11
Vgl. dazu auch H. Popitz (1968), Prozesse der Machtbildung, wieder abgedruckt in: ders., Phänomene der Macht, Tübingen 1992, S. 185-231, S. 190.
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duelle Handeln stellt. Auch der Normbildungsprozess koordiniert die Handlungen in der Form, in der sie sich in den Strukturen der Gesellschaft bilden können. „So wie sich das Netzwerk der gesellschaftlichen Ordnung aus der gegenseitigen Bedingtheit der Handlungen und Interaktionen unter den gegebenen Strukturen der gesellschaftlichen Verfassung bildet, so schreibt sich auch die Normativität dieser Verfassung fest. Sie fixiert die Interessen und Interessenlagen, die sich mit den Strukturen bilden und vergleichsweise stabil sind.“12
Handlungsmuster generalisieren sich also in der Form, dass sie dauerhafte Interaktionsformen im sozialen Verkehr entstehen lassen. Als solche finden sie die Anerkennung derer, die miteinander handeln. Damit sind Generalisierung und Akzeptanz zwar zum einen eine Folge des Interesses an Sicherheit. Zum anderen sind sie aber auch eine Folge davon, dass jeder bestrebt ist, eine einmal errungene Handlungsposition zu erhalten. Damit ist gesagt, dass Normen letztlich deshalb Akzeptanz finden, weil die Bedingungen, unter denen die Menschen ihr Leben führen, in sie eingegangen sind. In der Auseinandersetzung mit dem klassisch philosophischen und dem von Habermas und Apel angeführten transzendentallogischen Begründungsverfahren geht es zunächst grundlegend darum, zu sehen, dass Normen an die faktisch realisierten Formen des Verkehrs rückgebunden sind. Wenn man dies sieht, lässt sich des Weiteren feststellen, dass mit der Generalisierung und der Akzeptanz zwar eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für die Ausbildung einer Norm benannt wurde. So verlangen Normen, um handlungsleitend zu werden, als weiteres Moment ihrer Geltung eine abstraktive Generalisierung. Um handlungsleitend zu werden, muss das in Normen manifest gewordene Handlungsmuster in abstraktiver Form vorgestellt werden. Erst auf diese Weise entsteht ein Sollen, das die eingelebte Ordnung als eine ideelle Ordnung vor sich hat. Und erst auf dieser Verständnisgrundlage lässt sich genauer bestimmen, wie das Verhältnis von Realität und Idealität, das die normative Theorie seit Hume und Kant bestimmt, zu verstehen ist.
5.2 Die Geltung der Norm: Zum Verhältnis von Sein und Sollen Um als Muster künftiger Handlungen verfügbar zu sein, muss bereits bei der einfachen Form der Generalisierung eine Handlung in abstraktiv-reflexiver Form vergegenwärtigt werden. Wenn Handlungen als Muster künftigen Han12
Dux, Die Moral in der prozessualen Logik der Moderne, S. 123.
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delns normativ verbindlich werden sollen, gilt dies erst recht: Sie müssen abstraktiv gefasst und in dieser Form in Geltung gesetzt werden. Schon jede einzelne Norm stellt sich im Modus des Sollens nur in ihrer abstraktivideellen Form dar. Dabei ist es wichtig, zu sehen, dass die ideelle Form unmittelbar zur idealen Form wird. Der Grund dafür liegt darin, dass sie unter den gegebenen Bedingungen als das richtige Handeln angesehen wird. Wäre dies nicht der Fall, könnte ihr keine Verbindlichkeit für künftige Handlungen zugeschrieben werden. Gilt dies schon für die einzelne Norm, so gilt dies erst recht für die normative Verfassung als Ganze. Bereits in den frühen Gesellschaftsformen bildet sich aus der Vielzahl der einzelnen Normen, fasst man ihren abstraktiven Geltungsmodus in den Blick, eine von der Realität abgehobene, in Begriffen und Maximen systematisierte Ordnung. Entscheidend ist, zu sehen, dass diese systematisierte Ordnung der realen zwar als ideelle gegenübertritt, dabei aber gleichwohl die reale Ordnung zur Grundlage hat. Mit der Ausbildung der Philosophie im antiken Griechenland wird diese Differenz auch gewusst. Der Tatbestand, dass es die reale Ordnung ist, die im Sollen in ideeller Form erscheint, bleibt davon unbeeinflusst. In normativen Verfassungen wird sachlich und zeitlich festgehalten, was unter den je gegebenen Verhältnissen als die bestmögliche Koordination von Interessen und gegebenenfalls als Lösung von Konflikten gelten soll. Im Anschluss daran kann das, was als erfolgreich koordiniertes Verhalten ausgezeichnet wird, von allen eingefordert werden. Obgleich die moderne gesellschaftliche Verfassung – im Unterschied zu den vormodernen Ordnungen – nicht mehr über ein Absolutes zu legitimieren ist, führt auch ihre abstraktiv-reflexive Ordnung das idealisierende Moment des Sollens als ideelle Ordnung mit. Für ein aufgeklärtes prozessuales Verständnis der Normativität ist es dabei wesentlich, zu sehen, dass das idealisierende Moment ein Moment ist, das sich an der faktischen Ordnung gebildet und aus ihr herausgesetzt hat. Das Verhältnis von Realität und Idealität lässt sich demnach in der folgenden Form genauer bestimmen: Eine Ordnung, die gilt, hat sich real durchgesetzt und kehrt als ein Sollen in abstraktiv-reflexiver Form als normative Ordnung wieder. Ganz im Sinne Humes geht es bei der normativen Geltung einer sozialen Ordnung also keineswegs um das pure Faktum, dass es geht, wie es geht. Vielmehr tritt in der normativen Verfassung des Gesollten das eingelebte Geltende sich selbst noch einmal in idealer Gestalt als Sollen gegenüber. In einer Lebensform wie der menschlichen, die sich dadurch auszeichnet, konstruktiv und damit symbolisch-medial organisiert zu sein, ist es
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überhaupt nur in dieser Form sozialer Prozessualität möglich, dass sich das Reale erhält. Damit klärt sich im prozessualen Verständnis der Normativität auch das grundlegende Problem, das sich dem klassisch philosophisch und dem transzendentallogisch bestimmten Normverständnis darin stellt, dass in diesem das Sollen zunächst zwar von der sozialen Ordnung, wie sie sich realiter ausgeprägt hat, abgelöst sein muss, um überhaupt als Sollen gelten zu können, es gleichzeitig aber auch einen Anschluss an die Wirklichkeit der sozialen Ordnung haben muss, um über diese hinausweisen zu können. Wie sowohl im Verständnis von Rousseaus Gesellschaftsvertrag als auch in der Auseinandersetzung mit der Diskursethik ausgeführt, ergibt sich daraus das Problem, dass das Normative in seinem erkenntnistheoretischen Status unbestimmt bleibt. Es wird nicht klar, worin nun eigentlich das Faktum des Normativen liegt – oder auch worin der reale Geltungsgrund einer „rein“ normativ bestimmten Anforderung liegt.
5.3 Die Idealität des Sollens Obwohl es, wie bereits erwähnt, gerade in der kritischen Auseinandersetzung mit dem transzendentallogischen Verständnis der Geltung des Sollens zunächst darum gehen muss, deutlich zu machen, dass sich das Ideale des Sollens aus dem Realen heraus bestimmt, ist damit die Idealität des Sollens noch nicht vollständig erfasst. So gilt es darüber hinaus, zu sehen, dass das Sollen mit seiner Idealität tatsächlich über die reale Ordnung hinauszuweisen vermag. Während so bereits die politischen Revolutionen in der hinter uns liegenden Geschichte gezeigt haben, dass sich das Ideale des Sollens auch in Widerspruch zu den gesellschaftlichen Strukturen setzen kann, bestimmt sich insbesondere das Sollen der modernen Marktgesellschaft aus dem Konflikt heraus, in dem es mit den Strukturen der Gesellschaft liegt. Insbesondere das Sollen in der Marktgesellschaft bestimmt sich aus der an den bestehenden Verhältnissen heraus geübten Kritik. Dabei gehört es zwar lange schon zum Verständnis der Normativität, dass die Verhältnisse nicht sind, wie sie sein sollten. In eben diesem Sinne gilt das Normative kontrafaktisch. Damit wird zunächst aber nur festgestellt, dass das Sein stets hinter dem Sollen zurückbleibt; und gerade dieses Verständnis erhält im prozessualen Verständnis der Moderne einen anderen Sinngehalt. Im Unterschied zu dem philosophischen über die Dialektik von Sein und Sollen bestimmten Sinngehalt, geht dabei der
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prozessuale Sinngehalt des Sollens einerseits auf das Bewusstsein der Machbarkeit und andererseits auf die historische Dimensionierung der gesellschaftlichen Verfassung zurück. Damit wird die Verfassung der Gesellschaft in der Moderne von einem Sollen begleitet, das im Widerspruch zu dem, was sich an faktischen Lebensbedingungen herausbildet darauf drängt, gedeihlichere Lebensbedingungen für die Subjekte zu schaffen. Dieses moderne Postulat des Sollens setzt sich aus dem konkreten Anspruch derjenigen Subjekte heraus, die tatsächlich unter den Bedingungen der modernen Marktgesellschaft leben. Bei einem solchen prozessual bestimmten Sollen ist es schlicht nicht nötig, nach einem post-metaphysischen oder transzendentalen Grund seiner Geltung zu suchen. Das Sollen setzt sich aus den Ansprüchen der Subjekte heraus. Dabei ist aber eben auch diese Form des Sollens, die aufgrund ihrer Idealität im Widerspruch zu den Strukturen der Gesellschaft steht, an die historische Entwicklung beziehungsweise an den sozialen Wandel und an dessen konkrete Ausdrucksformen – in der Moderne eben an die Marktgesellschaft – gebunden.
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Das Postulat des Sollens in der modernen Marktgesellschaft
Wie in den Ausführungen zu Rousseaus Gesellschaftsvertrag bereits angeführt, kommt das Bewusstsein, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse gestaltbar sind, nach einem Vorlauf in der Antike erst mit dem Bürgertum zu Beginn der Neuzeit voll zum Durchbruch. Es ist dieses Bewusstsein, das sich in der Überwindung der Herrschaftsverfassung der Feudalgesellschaft und der Etablierung einer demokratischen politischen Verfassung manifestiert. Die Etablierung des demokratischen politischen Systems muss dabei auch als Bedingung dafür gelten, die Form einer Marktgesellschaft zu schaffen, die sich im Anschluss an die französische Revolution gebildet hat. Diesem Prozess, in dem sich die moderne Marktgesellschaft herausbildet, liegt dabei eine eigentümliche Ambivalenz zugrunde. So stellt er sich einerseits zwar als eine Dokumentation der Machbarkeit der Verhältnisse dar, andererseits jedoch als eine Machbarkeit, die in die Grenzen der historisch heraufgeführten Strukturen eingeschlossen ist. Die politikwissenschaftlich entscheidende Weiterung dieser Feststellung ist, dass das politische Handeln die Strukturen der Gesellschaft nur unter Bedingungen weiterentwickeln kann, die es selbst bereitstellt. Das bedeutet in der Gegenwart, dass sich die Marktgesellschaft in ihren Strukturen sowohl der Verfügungsgewalt des Einzelnen als auch der organisierten
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Verfasstheit des politischen Systems entzieht. Während also von der früheren Herrschaftsverfassung noch gelten konnte, dass sie das Werk derjenigen war, die sich die Herrschaft über Land und Leute anzueignen vermochten, macht diese Annahme in Bezug auf die Marktgesellschaft keinen Sinn mehr. So lässt sich auch sagen, dass an der Entwicklung der Marktgesellschaft, die sich nach einem Vorlauf im Mittelalter im Verbund mit der industriellen Revolution vollzieht, zwar alle mitwirken, die Entwicklung für den Einzelnen selbst aber unwiderstehlich ist. Für ein aufgeklärtes Verständnis der Politik stellt sich damit als grundlegend die Frage, inwieweit die Marktgesellschaft der Moderne eigentlich einer politischen Gestaltungshoheit zugänglich ist und bleibt. Die Marktgesellschaft muss einerseits als unwiderstehlich vorgegeben andererseits aber auch als der politischen Organisationsmacht unterworfen verstanden werden. Dabei ergibt sich das eigentliche Problem, das das Sollen der über den Markt bestimmten Gesellschaften der Moderne bestimmt, aus einem Konfliktpotential, das in den Strukturen der Marktgesellschaft selbst angelegt ist. Es besteht darin, dass in der Marktgesellschaft zwar alle darauf angewiesen sind, die Möglichkeit für die Sicherung ihres eigenen Daseins auf dem Markt zu erwerben, dies jedoch nicht von der Marktgesellschaft selbst gewährleistet wird. Als das grundlegende Problem muss gelten, dass das ökonomische Subsystem der Gesellschaft keine Garantie dafür enthält, die Arbeitskraft, über deren Verwertung für die meisten Menschen die Mittel zur Daseinsvorsorge erworben werden, zu Bedingungen abzunehmen, die zur Sicherung eines lebenswerten Daseins ausreichen. Mit anderen Worten, es sind strukturlogische Gründe, die das Postulat entstehen lassen, gedeihlichere Verhältnisse zu schaffen, als sie von sich aus entstehen würden. Und es ist dieses Sollen, gedeihlichere Verhältnisse zu schaffen, das sich in den über den Markt bestimmten Gesellschaften der Moderne an die Politik richtet. Das politische System bietet sich als Adressat dieses Sollens insofern an, als es sich bereits seit dem Beginn der Moderne darüber bestimmt, auf der einen Seite individuelle Sicherheitsleistungen auf der anderen Seite aber auch die Bestandsvoraussetzungen des Gesamtsystems der Gesellschaft wie auch des ökonomischen Teilsystems zu organisieren. In der modernen Marktgesellschaft sieht sich das politische System mithin dem Postulat ausgesetzt, eine Garantenpflicht dafür zu übernehmen, dass jeder in das ökonomische System inkludiert wird und zwar in einer Weise, die es ihm erlaubt, an den Errungenschaften der Gesellschaft teilzuhaben. Es ist eben dies, was mit dem Sozialstaat, wie er in der westlichen Welt des 20. Jahrhunderts herausgebildet wurde, sichergestellt
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wurde. Dabei konnte die Politik ihrer Garantenpflicht bislang in den Formen des Sozialstaates nachkommen, weil es ihr gelang, ihre Gestaltungskompetenz gegenüber den Strukturen der Ökonomie zu behaupten. Unter den Bedingungen der Globalisierung scheint dies für die Zukunft immer weniger gewährleistet zu sein. Worum es in der hier verfolgten Auseinandersetzung mit dem Sollen vor allem geht, ist, deutlich zu machen, dass sich das Sollen insbesondere in der Moderne gegen die Strukturen der Gesellschaft richtet. Von diesen geht die Bedrückung der Subjekte aus, die unter den bestehenden Verhältnissen leiden. Das Postulat des Sollens gründet dabei im Selbstbehauptungsinteresse der Subjekte. Von diesen geht die an die Politik gerichtete Forderung aus, für gedeihlichere Verhältnisse zu sorgen. Die Frage, was diese Form des Sollens für die Politik auch verbindlich werden lässt, muss hier offen bleiben. Nachgegangen werden soll im Folgenden hingegen der Frage, wie sich im konstruktiven Verständnis der Normativität die Frage der Pflicht darstellt. Auch sie trägt zur Klärung der Frage bei, wie die Geltung des Normativen reale Bindungswirkung erhält. Eine Frage, die, wie bereits verschiedentlich erwähnt, im transzendentallogischen Verständnis der Diskursethik strukturnotwendig unbestimmt bleibt.
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Die Pflicht als Pendant des Sollens
Während das strukturelle Sollen zunächst als das Ergebnis der Anforderung zu verstehen ist, die sich aus der sozialen Daseinsweise des Menschen ergibt, und das Ideale des Sollens als reflexiv aus der real durchgesetzten Ordnung heraus gebildet zu verstehen ist, ist mit diesem Verständnis des Normativen gleichwohl noch nicht geklärt, wie es zur tatsächlichen Befolgung einer an die anderen gerichteten Aufforderung kommt. Die Frage, die sich im Verständnis der Normativität des Weiteren stellt, ist also, was das von den Interessenten an andere adressierte Sollen für Letztere verbindlich werden lässt. Bei dieser Frage lässt sich zunächst feststellen, dass sich das (strukturelle) Bewusstsein der Pflicht ganz ebenso wie das Sollen aus der Struktur der Handlung respektive Interaktion in sozialen Situationen herausbildet. Die Pflicht, sich normgemäß zu verhalten, stellt in diesem Sinne das Pendant des Sollens dar. Die Pflicht, den Aufforderungen auch Folge zu leisten, wird mit dem Sollen mitgeführt und geltend gemacht. Es würde das wechselseitige Adressieren von Erwartungen um den Sinn bringen, ginge damit nicht zugleich das Bewusst-
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sein einher, dem, was normativ fixiert ist, prinzipiell auch Folge leisten zu müssen. Damit ist die Frage, was den Adressaten dazu bringt, die Pflicht auch für sich geltend zu machen, gleichwohl noch nicht geklärt. Geklärt werden muss vielmehr erst noch, was die Steigerung von dem bloßen Wissen um die Pflicht dahin bewirkt, sich auch tatsächlich selbst zu verpflichten. Erst mit dieser Überlegung geht es um das eigentlich verpflichtende Moment, das in den Überlegungen der Diskursethik ungeklärt bleibt. Auch seine Klärung bedarf eines prozessualen Verständnisses des Sollens und der Pflicht.
7.1 Die Pflicht als Form sozialer Vernunft Als Pendant eines Sollens, durch das die Handlungsinteressen der Akteure in der Gesellschaft vernetzt und fixiert werden, geht das Bewusstsein der Pflicht aus der Reflexion dieser Prozesse hervor. Ganz ebenso wie der Autor des Sollens sein Handeln von den Gegebenheiten und Anforderungen der sozialen Situation bestimmt sein lässt, lässt auch der Adressat des Sollens das Bewusstsein der Pflicht von diesen bestimmt sein. Für beide bestimmt sich das Handeln mithin aus einer abstraktiven Form der Reflexion auf das relevante Handlungsumfeld. Das Ergebnis dieser Reflexion kann dabei wie folgt beschrieben werden: Weil das soziale System, in dem ich mein Leben führe, nur möglich ist, wenn ich mir das eingeforderte Sollen zur Pflicht mache, verpflichte ich mich auch tatsächlich dazu. Es ist also die abstraktive Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit von Sozialität, die zu der Einsicht führt, sich auch tatsächlich zu verpflichten. Weil die Pflicht aber auf die Einsicht in die Bedingung der Möglichkeit von Sozialität zurückgeht, gilt sie, ganz anders als Apel und Habermas mit der transzendental-pragmatisch begründeten Diskursethik meinen, nur begrenzt. Sie reicht nicht weiter, als die Notwendigkeit und die Einsicht in die Notwendigkeit der sozialen Bezüge sie im jeweiligen sozialen System reichen lässt. Dabei kann die Pflicht – als Ausdruck der Einsicht in die Bedingungen der Möglichkeit sozialer Systeme – durchaus als eine Form sozialer Vernunft verstanden werden. Bei einem solchen konstruktiven Verständnis der Vernunft wird, anders als im transzendentallogischen Verständnis, auch sie nicht transzendental vorgegeben. Vielmehr bildet auch die Vernunft sich erst reflexiv mit der Einbindung des Subjekts in die Gesellschaft. Sie stellt damit eine zweckrationale Form des Handelns dar, die von der Einsicht des Subjets in die Verhältnisse bestimmt ist.
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„Und exakt darin, sich allererst unter den Anforderungen der Sozialität zu bilden, zeigt sich, dass sich auch die Vernunft selbst erst mit der Sozialität bildet. Auch sie ist als soziale Vernunft das, was als Bedingung der Möglichkeit von den Akteuren realisiert werden muss, wenn die sozialen Systeme, in denen Menschen ihr Leben führen, möglich sein soll – das familiale System der Geschlechterbeziehung ebenso wie das umfassende der Gesellschaft.“13
7.2 Zur Behauptung der Pflicht im Widerstreit der Interessen Wirklich zum Tragen kommt das Bewusstsein der Pflicht überhaupt erst dann, wenn die aktuellen Interessen im Widerstreit zu der Pflicht stehen, sich normgerecht zu verhalten. Die eigentliche Frage, die sich stellt, ist also, wodurch sich die Pflicht – sofern sie sich behauptet – auch im Widerstreit der Interessen behauptet. In einem konstruktiven Verständnis, das die Pflicht aus den Anforderungen hervorgehen lässt, die sich aus dem Bildungsprozess der Sozialität ergeben, kommen drei Gründe in Frage, die das Subjekt veranlassen können, sich auch noch im Widerstreit der Interessen gemäß der Pflicht zu verhalten. Dies ist einmal der Zwang, der sich aus der Einsicht in die Notwendigkeit ergibt; das sind zum Zweiten Nachteile, die sich aus einem pflichtungemäßen Verhalten ergeben können; und zum Dritten ist es die Identifikation mit dem anderen. Anders als im transzendentallogischen Verständnis, in dem die Geltung der moralischen Grundnorm und damit die Pflicht, ihr zu folgen, transzendental vorgegeben ist und somit prinzipiell gilt, sind diese Gründe in einer Form bedingt, die zugleich die engen Grenzen der Behauptung einer pflichtgemäßen Vernunft im Widerstreit der Interessen deutlich werden lassen. Auch mit diesem Verständnis setzt sich das konstruktive Verständnis der Normativität also radikal von einem transzendental-pragmatisch begründeten Verständnis der Normativität ab, wie es Habermas und Apel in der Diskursethik ausarbeiten. Denn dieser zufolge kann das Diskursprinzip in seiner prinzipiellen Geltung nicht eigentlich verletzt oder aufgehoben werden. Das Diskursprinzip bildet die apriorische Grundlage einer jeden Form von Interaktion und ist als solche im Prinzip auch in jeder Form von Interaktion wiederzufinden. In der Vernunft, darin, den Bedingungen der Möglichkeit sozialen Daseins Rechnung zu tragen, liegt ein intrinsischer Zwang. Es ist vernünftig, den Anforderungen des sozialen Daseins Rechnung zu tragen. Die Normativität der sozialen Bezüge bleibt dabei auch dann Bedingung der Möglichkeit des 13
Dux, Die Moral in der prozessualen Logik der Moderne, S. 135.
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eigenen Daseins, wenn konkrete Interessen des Handelns in konkreten Situationen der Pflicht entgegenstehen. Die abstraktive Reflexion auf die Bedingungen des eigenen Daseins im sozialen System bietet deshalb zwar von sich aus schon hinreichend Grund, die Verpflichtungen auch zu akzeptieren, denn zumindest in abstracto stellt pflichtwidriges Handeln immer auch ein Handeln gegen die eigene (soziale) Daseinsform dar. Jedoch liegt hierin auch bereits die Grenze der Pflicht. Die Einsicht in die Notwendigkeit, der Pflicht zu folgen, ist eben das Ergebnis einer abstrakten Reflexion. Gegen diese Einsicht stehen gegebenenfalls die konkreten Interessen, die von einer „Logik des Augenblicks“ und dem unmittelbaren Triebpotential des Organismus motiviert werden. Ganz im Gegenteil zu dem, was Kant und in seiner Folge Apel und Habermas meinen, ist es im konstruktiven Verständnis deshalb als ein Nachteil für die Behauptung der Pflicht anzusehen, als „reine“ Pflicht aufzutreten. Es muss vielmehr gelten, dass die Pflicht durch empirische Gründe notwendige Unterstützung erfährt. Ganz im Gegenteil zu Kants Einlassung aus der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ kann also nicht die Reinheit der Pflicht, ihre Befreiung von jeglichen empirischen Beimengungen, als Garant der Sittlichkeit gelten. Notwendig ist vielmehr ihre empirische Untermauerung. Eine notwendige Voraussetzung für die Ausprägung eines Pflichtbewusstseins ist deshalb dessen Absenkung in die Emotionalität der Vitalzone. Sind die Umstände dementsprechend günstig, geschieht dies auch in der Ontogenese eines jeden nachwachsenden Gattungsmitglieds. Das für die Sittlichkeit grundlegende Bewusstsein, anderen moralisch verpflichtet zu sein, wird dabei mit der Handlungs- und Interaktionskompetenz in der frühen Ontogenese erworben. Es war zunächst der auch von Apel in diesem Sinne bemühte Philosoph Fichte, der das konstruktive Moment in einer solchen konsequent konstruktiven Bestimmung des Verpflichtungsbewusstseins deutlich hervorgekehrt hat. So erklärt Fichte in „Das System der Sittenlehre“, dass das Sittengesetz nicht etwas sei, „welches ohne alles Zuthun in uns sey, sondern dass es erst durch uns selbst gemacht wird.“14 Sowohl das Bewusstsein, sich verpflichten zu müssen, als auch die Fähigkeit sich verpflichten zu können, werden mithin ontogenetisch erworben. Die Pflicht wird dabei in die Struktur der Subjektivität eingelassen. Weil damit in der Regel die normative Verfassung der Sittlichkeit in die Grundverfassung der Emotionalität eines jeden Subjekts 14
J. G. Fichte (1798/1971), Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, in: Werke, Bd. IV: Zur Rechts- und Sittenlehre II, hrsg. von Immanuel Hermann Fichte, Berlin, S. 1-365, S. 192.
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eingeht, vermag im Grunde auch niemand außerhalb der Sittlichkeit zu leben. Ein Leben außerhalb der Sittlichkeit hätte zur Folge, dass sich die Konturen des persönlichen Systems verlören. Gleichzeitig ist die Chance, das Pflichtbewusstsein zu behaupten, dort am größten, wo das Subjekt auch tatsächlich in soziale Bezüge eingebunden ist. Nur in diesen wird ihm das Bewusstsein, verpflichtet zu sein, auch wirklich abverlangt. Damit kommt der zweite Grund in den Blick, der das Subjekt dazu veranlassen kann, der Pflicht auch noch im Widerstreit der Interessen Folge zu leisten. Anders als Kant meint, der die Bestimmung der Pflicht als reine Pflicht, gerade gegen eine solche Bestimmung, nämlich Nachteile in den sozialen Bezügen gewärtigen zu müssen, abgegrenzt hat, stellt dies sicherlich die nachhaltigste Form dar, das Bewusstsein der Pflicht auch bestimmend werden zu lassen. Denn das Bewusstsein der Pflicht behauptet sich mit Sicherheit dort am stärksten, wo konkrete andere das Sollen an den Adressaten richten und der Adressat diesen anderen auch lebenspraktisch verbunden ist. Vor dem Hintergrund eines konstruktiven Verständnisses der Pflicht, ist es eben nicht sinnvoll, von einer aus reiner Pflicht begründeten Pflicht auszugehen. Vielmehr ist es so, dass, wie bereits angemerkt, das Eigeninteresse auch in die Vernunft eingeht, auf der die Pflicht gründet. Denn die Vernunft beruht ja gerade auf der Einsicht in die sozialen Bedingungen des (je eigenen) Daseins. Schließlich beinhaltet jede Form der Pflicht auch eine Parteinahme für den anderen. Es ist konstitutiver Bestandteil der Pflicht, den Interessen des oder der anderen Rechnung zu tragen. Und zu jeder Parteinahme gehört ein Moment der Identifikation. Die Identifikation mit alter ist dabei bereits in der Struktur der Kommunikation und Interaktion angelegt. Denn um zu verstehen was alter sagt, meint oder will, ist es bei jeder Form von Kommunikation für ego notwendig, sich an die Stelle alters zu versetzen. Das Verfahren der Identifikation entwickelt sich deshalb auch notwendig in der frühen Ontogenese als ein Strukturmoment der Interaktion und Kommunikation. Das Verfahren wird mit der Einbildung der Alterität in die Subjektstruktur internalisiert. Dabei ist die Identifikation nicht nur ein effizientes Verfahren, um zu verstehen, was dem anderen geschuldet ist, sondern auch, um sich selbst zu motivieren. Denn in der Position alters macht ego dessen Interesse auch für sich geltend; er richtet die Forderung alters zusammen mit alters Begründung gegen sich selbst. Die Identifikation macht aus, dass Sender und Adressat zusammenfallen. Aufgehoben werden kann die Identifikation von alter und ego in dem Bewusstsein, die Rolle des anderen nur in der Vorstellung übernommen zu haben.
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Unterdessen gilt auch für die Identifikation mit dem anderen, dass sie an die tatsächliche, praktische Verbundenheit mit dem anderen gebunden ist. Deshalb lässt sich aus dem Verfahren der Identifikation nicht umstandslos ein normatives Postulat ableiten, wie dies im transzendental-pragmatischen Verständnis der Normativität geschieht. Aus der prozessualen Perspektive wird vielmehr deutlich, dass die Bindung an den anderen, die die Voraussetzung des Bewusstseins und der Behauptung der Pflicht ist, an enge Grenzen gebunden ist. Wie Habermas in seinen Ausführungen zum zweistufigen Gesellschaftsbegriff zu Recht – allerdings im Widerspruch zur transzendentalen Logik – anführt, ist es deshalb fragwürdig, ob die Pflicht, sich auf eine diskursive Verständigung einlassen zu müssen, tatsächlich in den Strukturen gesellschaftlicher Interaktion zur Geltung kommt. Wie oben bereits angemerkt, knüpft die Kritik des transzendentalen Geltungsanspruchs der Diskursethik an eben diese Feststellung an. Habermas und Apel können keinen prozessual einsichtigen Grund dafür anführen, dass die Regeln des Diskurses auch außerhalb diskursiver Bezüge gelten. Es ist deshalb fraglich, ob der Normativität des kommunikativen Handelns tatsächlich Geltung für die Prozessualität der modernen Marktgesellschaft zukommt.
F Das liberale Theorem der Selbstorganisation (Konsens) im deliberativen Politikkonzept
1
Ein zweigleisig deliberatives Politikkonzept
In der Konzeption deliberativer Politik unternimmt Habermas es aufzuzeigen, in welcher Form sich das Diskursprinzip auch in der politischen Gestaltung der komplexen Gesellschaftsformen der Moderne realisiert. Wie bereits angeführt, macht er die Geltung des Diskursprinzips nicht nur in den „Zeugnissen eines universalistischen Moralbewußtseins“, sondern insbesondere auch in den „freiheitlichen Institutionen des demokratischen Rechtsstaates“ aus.1 Zu diesen zählt er die rechtsstaatlich institutionalisierten Verfahren der Politik, hierbei vor allem das Verfahren der parlamentarischen Gesetzgebung, und die Prozesse der politischen Meinungs- und Willensbildung, die in den informellen und spontanen Prozessen einer zivilgesellschaftlich basierten Öffentlichkeit stattfinden. Dabei ist es vor allem die „zweigleisige“ Annahme, dass die in den rechtsstaatlichen Demokratien der Moderne institutionalisierten Verfahren der parlamentarischen Gesetzgebung und die informelle Meinungs- und Willensbildung der Öffentlichkeit in einem wechselseitigen Ergänzungsverhältnis zueinander stehen, mit der Habermas auf den Fall moderner Gesellschaftsformen reagiert.2 Diesen schreibt er im Anschluss an das Gesellschaftsverständnis, das er in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ ausgearbeitet hat und demzufolge sich die Systeme der Politik und Ökonomie aus dem Bereich der Lebenswelt ausdifferenzieren, einen hohen Grad an Komplexität zu. Dabei führt Habermas als das Ziel seiner Darlegung eines zweigleisig deliberativen Politikmodells an, ein Modell entwickeln zu wollen, das einerseits normativ anspruchsvoller ist als das (idealtypisch zugespitzte) „liberale“ Mo1 2
Vgl. Habermas, FuG, S. 11. Vgl. ebd., S. 9 und S. 13.
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dell, das andererseits aber auch versucht, die ethische Überfrachtung (des idealtypisch zugespitzten) „republikanischen“ Modells zu vermeiden.3 In einem solchen (kommunikativ begründeten) Modell der Politik zieht sich, wie Habermas meint, eine intersubjektivisch aufgelöste „Volkssouveränität“ in die demokratischen Verfahren der Meinungs- und Willensbildung und in die rechtsstaatlichen Voraussetzungen ihrer Implementierung zurück: „Eine subjektlos und anonym gewordene, intersubjektivisch aufgelöste Volkssouveränität zieht sich in die demokratischen Verfahren und in die anspruchsvollen kommunikativen Voraussetzungen ihrer Implementierung zurück. Sie sublimiert sich zu jener schwer greifbaren Interaktion zwischen einer rechtsstaatlich institutionalisierten Willensbildung und kulturell mobilisierter Öffentlichkeiten. Die kommunikativ verflüssigte Souveränität bringt sich in der Macht öffentlicher Diskurse zur Geltung, die autonomen Öffentlichkeiten entspringt, aber in den Beschlüssen demokratisch verfaßter Institutionen der Meinungs- und Willensbildung Gestalt annehmen muß, weil die Verantwortung für praktisch folgenreiche Beschlüsse eine klare institutionelle Zuordnung verlangt.“4
Damit bleibt auch im Konzept der deliberativen Politik als die grundlegende Annahme die normative Annahme der Theorie kommunikativen Handelns bestehen. Sie liegt darin, dass sich mit dem Zweigleisigen des Konzeptes gerade auch in der komplexen Gesellschaftsform der Moderne die kommunikative Rationalität als der gesamtgesellschaftliche Integrationsmodus entfaltet. Die Problematik, die diese Annahme angesichts der Komplexität moderner Gesellschaftsformen mit sich bringt, führt Habermas im Zusammenhang mit der Entfaltung seines deliberativen Politikkonzeptes ausdrücklich an: „Der Diskursbegriff der Demokratie, der sich von überlieferten Vorstellungen einer politisch konstituierten Gesellschaft gelöst hat, ist also nicht von vornherein inkompatibel mit Form und Operationsweise funktional differenzierter Gesellschaften. Andererseits bleibt der Zweifel, ob, und gegebenenfalls die Frage, wie der für eine Assoziation freier und gleicher Rechtsgenossen unterstellte Modus der diskursiven Vergesellschaftung, also die Selbstorganisation der Rechtsgemeinschaft, unter den Reproduktionsbedingungen einer komplexen Gesellschaft überhaupt möglich ist. Für eine soziologisch informierte Entscheidung dieser Frage ist es wichtig, den prozeduralen Kern der Demokratie auf der richtigen Ebene zu operationalisieren.“5
Unter der Voraussetzung, dass der prozedurale Kern der Demokratie auf der richtigen Ebene operationalisiert wird, geht Habermas aber auch im Rahmen seines deliberativen Politikkonzeptes davon aus, dass der Modus der diskursiven Vergesellschaftung auch unter den komplexen Reproduktionsbedingungen moderner Gesellschaften möglich ist. Unter dieser Annahme stellt sich ihm 3 4 5
Vgl. Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie, S. 287. Habermas, Volkssouveränität als Verfahren, S. 626. Habermas, FuG, S. 367.
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das diskursive Niveau der Meinungs- und Willensbildung als die wichtigste „Variable“ der deliberativen Politik dar.6 Damit bildet die diskursive Struktur der Meinungs- und Willensbildung den legitimatorischen Maßstab, an dem die Politik moderner Rechtsstaaten gemessen werden muss: „Die deliberative Politik gewinnt ihre legitimierende Kraft aus der diskursiven Struktur der Meinungs- und Willensbildung, die ihre sozialintegrative Funktion nur dank der Erwartungen einer vernünftigen Qualität ihrer Ergebnisse erfüllen kann.“7
Wie bereits in der Begründung des Gesellschaftsbegriffs über das kommunikative Handeln so besteht also auch die „Pointe“ des (zweigleisig) deliberativen Politikkonzepts darin, dass „das demokratische Verfahren Diskurse und Verhandlungen mit Hilfe von Kommunikationsformen institutionalisiert, die für alle verfahrenskonform erzielten Ergebnisse die Vermutung der Vernünftigkeit begründen sollen“.8
2
Die ideale Prozedur politischer Beratung und Beschlussfassung
Zur Bestimmung des Konzeptes deliberativer Politik greift Habermas zunächst die von Joshua Cohen vorgestellte Bestimmung einer „idealen Prozedur“ politischer Beratung und Beschlussfassung auf.9 Zur erkenntnistheoretischen Bestimmung dieser „idealen Prozedur“ verweist er in „Faktizität und Geltung“ darauf, dass die Vorstellung einer „idealen Sprechsituation“, an die die Bestimmung der idealen Prozedur politischer Beratung und Beschlussfassung anknüpft, lediglich als eine „methodische Fiktion“ gelten könne. In einem solchen „unverfänglichen Sinne“ böte sich „die ideale Kommunikationsgemeinschaft als Modell ‚reiner‘ kommunikativer Vergemeinschaftung“ an. Nur einer solchen idealen Gemeinschaft stünde als „Mechanismus der Selbstorganisation“ allein das Mittel diskursiver Verständigung zur Verfügung.10 In Bezug auf „konkrete, in Raum und Zeit lokalisierte und bereits differenzierte Gesellschaften“ müsse die ideale Prozedur hingegen mithilfe der demokratischen Mehrheitsregel realisiert werden.11 Zunächst führt Habermas jedoch vier 6 7 8 9 10 11
Vgl. ebd., S. 369. Ebd.; die Hervorhebung entspricht dem Original. Vgl. ebd., S. 368; eigene Hervorhebung. Vgl. J. Cohen (1989), Deliberation and Democratic Legitimacy, in: A. Hamlin & B. Pettit (Hg.), The Good Polity, Oxford, S. 17-33. Vgl. Habermas, FuG, S. 392f. Zur jeweiligen Bestimmung des Diskurs- und des Demokratieprinzips vgl. Habermas, FuG, S. 138f.
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Postulate einer idealen Prozedur politischer Beratung und Beschlussfassung an, die den normativen Anforderungen des rationalen Diskurses entsprechen. So geht Cohen in Übereinstimmung mit der demokratietheoretischen Grundannahme der Theorie kommunikativen Handelns zum Ersten davon aus, dass sich auch die Beratungen und Beschlussfassungen der Politik in argumentativer Form vollziehen. Er beschreibt den rationalen Charakter des argumentativen Verfahrens: „Deliberation is reasoned in that the parties to it are required to state their reasons for advancing proposals, supporting them or criticizing them. ... Reasons are offered with the aim of bringing others to accept the proposal, given their disparate ends and their commitment to settling the conditions of their association through free deliberation among equals.“12
Zum Zweiten sollen die Beratungen, wie Habermas im Anschluss an Cohen anführt, inklusiv und öffentlich sein: „Im Prinzip darf niemand ausgeschlossen werden; alle von den Beschlüssen möglicherweise Betroffenen haben gleiche Chancen des Zugangs und der Teilnahme.“13
Zum Dritten sollen politische Beratungen frei von externen Zwängen sein: „[T]he participants regard themselves as bound only by the results of their deliberation and by the preconditions for that deliberation. Their consideration of proposals is not constrained by the authority of prior norms or requirements.“14
Zum Vierten soll eine argumentativ begründete Politik auch frei von solchen internen Zwängen sein, die eine Beeinträchtigung der Gleichstellung der Teilnehmer zur Folge haben: „In ideal deliberation parties are both formally and substantively equal. ... The participants are substantively equal in that the existing distribution of power and resources does not shape their chances to contribute to deliberation, nor does that distribution play an authoritative role in their deliberation.“15
Während Cohen hier (ähnlich wie Apel) ausdrücklich auf die Voraussetzung manifester Gleichheit abstellt, beschränkt sich Habermas auch hier auf den „bloßen“ Verweis, dass der zwanglose Zwang des besseren Arguments zu gelten habe:
12 13 14 15
Cohen, Deliberation and Democratic Legitimacy, S. 22; die Hervorhebung entspricht dem Original. Habermas, FuG, S. 370. Cohen, Deliberation and Democratic Legitimacy, S. 22. Ebd., S. 22f; die Hervorhebung entspricht dem Original.
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„Jeder hat die gleichen Chancen, gehört zu werden, Themen einzubringen, Beiträge zu leisten, Vorschläge zu machen und zu kritisieren. Ja-/Nein-Stellungnahmen sind allein motiviert durch den zwanglosen Zwang des besseren Argumentes.“16
Als Postulate, die dem spezifischen Charakter politischer Beratungen geschuldet sind, führen Cohen und Habermas außerdem die folgenden drei Postulate an: Zunächst soll so, wie bereits angedeutet, die Mehrheitsregelung als eine weitere Regelung zur legitimen Begründung eines politischen Beschlusses gelten. Während in einem rein kommunikativ begründeten Verständnis auch die politischen Beratungen auf ein rational motiviertes Einverständnis abzielen und im Prinzip unbegrenzt fortgesetzt oder jederzeit wieder aufgenommen werden können, müssen diese, so die Einschränkung des kommunikativ begründeten Demokratieprinzips, mit Rücksicht auf die konkreten Entscheidungszusammenhänge realer Gesellschaften durch Mehrheitsbeschluss beendet werden. Vor diesem Hintergrund versteht Habermas die Mehrheitsregel wie folgt: „Wegen ihres internen Zusammenhangs mit einer deliberativen Praxis begründet die Mehrheitsregel die Vermutung, daß die fallible Mehrheitsmeinung bis auf weiteres, nämlich bis die Minderheit die Mehrheit von der Richtigkeit ihrer Auffassungen überzeugt hat, als vernünftige Grundlage einer gemeinsamen Praxis gelten darf.“17
Als zweites Postulat wird in einem deliberativen Politikkonzept – ähnlich wie in Rousseaus Theorie des Gesellschaftsvertrags – angeführt, dass sich die politische Beratung und Beschlussfassung auf sämtliche Materien erstrecken soll, „die im gleichmäßigen Interesse aller geregelt werden können“.18 Insofern als dabei die faktische Wahrnehmung gleicher Kommunikations- und Teilnahmerechte betroffen ist, beinhaltet dies auch, dass die klassisch liberale Trennung zwischen den privaten und öffentlichen Lebensbereichen der Bürger aufgehoben wird: „But there is of course no reason to expect as a general matter that the preconditions for deliberation will respect familiar institutional boundaries between ‚private‘ and ‚public‘ and 16 17
18
Habermas, FuG, S. 370. Ebd., S. 371. Cohen meint, dass es selbst unter idealen Bedingungen keine Garantie dafür gäbe, dass auch wirklich ein Konsens zustande kommt: „Even under ideal conditions there is no promise that consensual reasons will be forthcoming. If they are not, then deliberation concludes with voting, subject to some form of majority rule. The fact that it may so conclude does not, however, eliminate the distinction between deliberative forms of collective choice and forms that aggregate non-deliberative preferences.“ Cohen, Deliberation and Democratic Legitimacy, S. 23. Vgl. Habermas, FuG, S. 371.
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will all pertain to the public area. For example, inequalities of wealth, or the absence of institutional measures designed to redress the consequences of those inequalities, can serve to undermine the equality required in deliberative arenas themselves.“19
Dies beinhaltet zum Dritten, dass sich politische Beratungen notwendig auch auf die Interpretation von Bedürfnissen und „die Veränderung vorpolitischer Einstellungen und Präferenzen“ erstrecken.20 „The relevant conceptions of the common good are not comprised simply of interests and preferences that are antecedent to deliberation. Instead, the interests, aims and ideals that comprise the common good are those that survive deliberation, interests, that, on public reflection, we think it legitimate to appeal to in making claims on social resources.“21
3
Das (transzendentallogische) Problem mit der Mehrheitsregel
Anhand der Frage nach dem (kommunikativen) Verständnis der Mehrheitsregel lässt sich hier die Problematik aufzeigen, mit der Habermas sich angesichts einer systemisch ausdifferenzierten Gesellschaftsform bei der Konzeption eines kommunikativ begründeten Politikkonzeptes konfrontiert sieht. Durch die angenommene Geltung der Mehrheitsregel versucht sich das deliberative Politikkonzept von der allgemeinen Theorie kommunikativen Handelns abzusetzen. Schon in der klassischen radikaldemokratischen Auseinandersetzung beruht dabei die Frage nach der Geltung der Mehrheitsregel auf der problematischen Feststellung, dass sie Entscheidungen begründet, die gegen das Interesse einer Minderheit sind. Die Diskussion dieser Problematik geht auf die These von der „Tyrannei der Mehrheit“ zurück, wie sie zunächst von Alexis de Tocqueville und im Anschluss an ihn auch von John Stuart Mill vorgebracht wurde.22 Wie bereits angedeutet, sucht Habermas dieses Argument dadurch zu entkräften, dass er im Anschluss an eine Kampfschrift des deutschen Demokraten Julius Fröbel aus dem Jahre 1848 auch der Mehrheitsregel eine interne Beziehung zur Wahrheitssuche zuschreibt.23 Eine mit Majorität getroffene Entscheidung sei demzufolge lediglich als Zäsur in einer im Grunde fortlaufenden Diskussion zu verstehen. Eine Mehrheitsentscheidung halte somit lediglich ein interimistisches Ergebnis fest. Dies setzt allerdings 19 20 21 22 23
Cohen, Deliberation and Democratic Legitimacy, S. 27. Vgl. Habermas, FuG, S. 371. Cohen, Deliberation and Democratic Legitimacy, S. 25. Vgl. A. de Tocqueville (1835-40/1956), Über die Demokratie in Amerika, hrsg. von J. P. Mayer, Frankfurt a. M., Hamburg und J. S. Mill (1859/1960), On Liberty, New York. Vgl. Habermas, Volkssouveränität als Verfahren, S. 612ff.
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voraus, wie Habermas anführt, dass die politischen Beratungen und Beschlussfassungen unter den Kommunikationsvoraussetzungen eines rationalen Diskurses geführt werden: „Nur dann kann nämlich ihr Inhalt als das rational motivierte, aber fehlbare Ergebnis einer Argumentation betrachtet werden, die im Hinblick auf institutionelle Entscheidungszwänge abgebrochen worden ist – und im Prinzip wieder aufgenommen werden kann.“24
Anders als Habermas meint, wird die Mehrheitsregel durch die Anbindung an ein diskursives Verfahren politischer Beratung und Beschlussfassung jedoch um ihren Sinn gebracht.25 Dies verdeutlicht insbesondere auch Habermas’ Annahme, dass die im fortlaufenden Prozess der politischen Meinungs- und Willensbildung bestehende Möglichkeit, die Mehrheitsverhältnisse zu ändern, lediglich eine zusätzliche Bedingung für die Legitimität eines Argumentationsprozesses ist, der im Grunde die Richtigkeit fallibler Entscheidungen zu gewährleisten habe. Diesem Verständnis zufolge ist es nicht die Änderbarkeit der Mehrheitsverhältnisse, die die Geltung der Mehrheitsregel begründet. Vielmehr wird die Änderbarkeit der Mehrheitsverhältnisse als Argument dafür verstanden, dass die Mehrheitsregel einem diskursiv begründeten Konsens nicht die Geltung nimmt: „Allerdings ziehen Mehrheitsentscheidungen in diskursiv bearbeiteten Sachfragen (wenn auch nicht ohne weiteres in Personalfragen) ihre legitimierende Kraft keineswegs per se aus der Änderbarkeit der Mehrheitsverhältnisse; diese ist allerdings eine notwendige Bedingung dafür, daß die Mehrheitsregel einem Argumentationsprozess, der die Vermutung der Richtigkeit fallibler Entscheidungen begründen soll, seine legitimierende Kraft nicht nimmt.“26
Dadurch, dass Habermas die Mehrheitsregel nur vor dem Hintergrund eines potentiell wiederaufgreifbaren diskursiven Verfahrens gelten lässt, wird die Mehrheitsregel jedoch der konstitutiven Bedeutung enthoben, die ihr in einem prozeduralen Verständnis der Demokratie tatsächlich zukommt. Und zwar geht deren Bedeutung auf die Konsequenzen zurück, die eine aufgrund der Mehrheitsregel getroffene politische Entscheidung für den Prozess der Politik und die Gestaltung der Gesellschaft hat. Die Annahme, dass auch die konkrete Mehrheitsentscheidung nur aufgrund eines diskursiv begründeten Konsenses Geltung beanspruchen könne, beinhaltet mit anderen Worten, dass die (unumkehrbaren) Konsequenzen, die eine über Mehrheitsbeschluss getroffene Entscheidung nach sich zieht, nicht in die Konzeption des deliberativen Politik24 25 26
Habermas, FuG, S. 220. Vgl. H. Abromeit (1987), Korrektive parlamentarische Mehrheitsherrschaft. Ein Überblick, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 18, S. 420-435, S. 422. Habermas, FuG, S. 221; eigene Hervorhebung.
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konzepts eingehen. Auf die Konsequenzen, die einer mehrheitlich begründeten Wahlabstimmung für den politischen Prozess zukommt, hat Giovanni Sartori hingewiesen. Er macht dabei deutlich, dass Minderheiten bei Mehrheitsentscheidungen schlichtweg keine Rechte haben: „Bei Wahlen und Abstimmungen hat also die Minderheit keine Rechte: sie besteht aus den Wählern, deren Stimmen unter den Tisch gefallen sind – punktum. Es folgt, daß im Zusammenhang mit Wahlen und Abstimmungen der Ausdruck ‚Mehrheitstyrannei‘ unanwendbar und sinnlos ist.“27
Sartori führt infolgedessen an, dass die Mehrheitsregel auf der Verfassungsebene einer Einschränkung zum Schutz von Minderheiten bedarf.28 In einem solchen Verständnis beschränkt sich der demokratietheoretische Anspruch einer allgemeinen Mitbestimmung auf die Geltung des verfassungsmäßig festgeschriebenen Rechts auf politische Opposition. In einem vergleichbaren Sinne führt zwar auch Habermas im Zusammenhang mit der rechtsstaatlichen Institutionalisierung eines demokratischen Verfahrens an, dass der Minderheitenschutz einer grundrechtlichen Gewährleistung bedarf.29 Im Grunde müsste Habermas das Recht auf Opposition aber als eine nicht zu legitimierende Einschränkung der (kommunikativ verflüssigten) Volkssouveränität gelten.30 Die dem deliberativen Politikkonzept (transzendentallogisch) zugrunde liegende Vorstellung, dass sich in einer „idealen Prozedur“ politischer Beschlussfassung ein einverständlicher Gemeinwille verwirklicht, lässt sich mit einem Recht auf Opposition nicht vereinbaren.31
4
Das System der Politik im deliberativen Politikkonzept
Während Habermas mit einer zweigleisigen Konzeption gleichwohl versucht, an die Einsicht in die über die (funktionale) Ausdifferenzierung der Subsysteme begründete Komplexität moderner Gesellschaftsformen anzuknüpfen, wirft er Cohen vor, sich mit seiner Bestimmung eines deliberativen Politik27 28 29
30 31
G. Sartori (1987/1992), Demokratietheorie, Darmstadt, S. 140. Vgl. ebd., S. 139. Vgl. Habermas, FuG, S. 221. Zu Habermas’ Bestimmung des Verhältnisses von verfassungsmäßigen Grundrechten und universalistischen Menschen- respektive Weltbürgerrechten vgl. auch J. Habermas (1995), Kants Idee des ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, wieder abgedruckt in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1996, S. 192-236. Vgl. auch Habermas, Volkssouveränität als Verfahren, S. 612. Vgl. dazu auch O. Marquard (1984), Das Über-Wir. Bemerkungen zur Diskursethik, wieder abgedruckt in: ders., Individuum und Gewaltenteilung, Stuttgart 2004, S. 38-67, S. 50.
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begriffs nicht „energisch genug von der Idee einer im ganzen deliberativ gesteuerten und insofern politisch konstituierten Gesellschaft“ gelöst zu haben.32 Habermas versteht demgegenüber die ideale Prozedur politischer Beschlussfassung, aus der politische Entscheidungen gegebenenfalls ihre Legitimität beziehen, lediglich als die „Kernstruktur eines ausdifferenzierten, rechtsstaatlich verfassten politischen Systems“. Als Modell für die Prozeduralität anderer gesellschaftlicher Systeme, wie insbesondere des ökonomischen Systems, könne die ideale Prozedur politischer Beschlussfassung hingegen nicht gelten.33 In dem von Cohen vorgestellten Bild deliberativer Politik fehlten so aber, wie Habermas anmerkt, Aussagen „zum Verhältnis zwischen den entscheidungsorientierten Beratungen, die durch demokratische Verfahren reguliert sind, und den informellen Meinungsbildungsprozessen in der Öffentlichkeit“.34 Vor dem Hintergrund einer systemisch bestimmten Prozeduralität der Politik baut Habermas das Zweigleisige seines deliberativen Politikkonzepts also auf einer funktional begründeten Differenz auf, die er zwischen dem über demokratische Verfahren regulierten Beratungen des politischen Systems und dem deliberativen Verfahren einer unstrukturierten Öffentlichkeit ausmacht. So sei für die demokratischen Verfahren der parlamentarischen Öffentlichkeit entscheidend, dass ihr operativer Sinn weniger in der Entdeckung und Identifizierung als vielmehr in der effektiven Bearbeitung von Problemen liege: „Die Öffentlichkeiten parlamentarischer Körperschaften sind vorwiegend als Rechtfertigungszusammenhang strukturiert.“35
Während also die parlamentarischen Körperschaften weniger auf die Sensibilisierung für neue Problemstellungen als auf die Rechtfertigung der Problemwahl und die Entscheidung zwischen konkurrierenden Lösungsvorschlägen gerichtet sind, bleiben Habermas zufolge die im Parlament getroffenen Entscheidungen gleichwohl in einen gesamtgesellschaftlich demokratischen Prozess eingebunden. Dieser besteht aus den vom allgemeinen Publikum der Staatsbürger getragenen Strukturen einer nicht regulierten Öffentlichkeit: „Sie [die Öffentlichkeiten parlamentarischer Körperschaften, I. F.-G.] bleiben nicht nur auf die administrative Zuarbeit und Weiterverarbeitung angewiesen, sondern auch auf den Ent-
32 33 34 35
Vgl. Habermas, FuG, S. 369. Vgl. ebd., S. 369f. Vgl. ebd., S. 372; die Hervorhebung entspricht dem Original. Ebd., S. 373.
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deckungszusammenhang einer nicht durch Verfahren regulierten Öffentlichkeit, die vom allgemeinen Publikum der Staatsbürger getragen wird.“36
Der funktionalen Differenzierung entsprechend zeichnet sich die vom allgemeinen Publikum der Staatsbürger getragene Öffentlichkeit einerseits dadurch aus, von politischen Beschlüssen entkoppelt zu sein. Andererseits fungiert sie so als das Sensorium für neue Problemstellungen. Habermas führt an, sie werde von einem offenen und inklusiven Netzwerk verschiedener Teilöffentlichkeiten gebildet: „Die von Beschlüssen entkoppelte Meinungsbildung vollzieht sich in einem offenen und inklusiven Netzwerk von sich überlappenden subkulturellen Öffentlichkeiten mit fließenden zeitlichen, sozialen und sachlichen Grenzen.“37
Zur Verdeutlichung des „systemischen“ Moments im deliberativen Politikkonzept greift Habermas auch auf das von Bernhard Peters entwickelte Modell eines demokratischen Machtkreislaufs zurück. Diesem Modell zufolge gewährleistet das politische System die Bearbeitung der Komplexität moderner Gesellschaftsstrukturen über einen systemischen Routinemodus. Während dieser systemische Modus der Politik entweder zirkulär oder sogar in Gegenrichtung zum eigentlich demokratischen Prozess verläuft, gründet die Legitimität des routinemäßigen Prozesses darauf, dass die eingespielten Routinen für erneuernde Anstöße aus der Peripherie offen bleiben. Peters unterscheidet in diesem Sinne zwischen einem „normalen“ und einem „außerordentlichen“ Problemverarbeitungsmodus der Politik.38 Wie Habermas anführt, geht dabei der „außerordentliche“ Modus politischer Problemverarbeitung auf den Einfluss spontaner Meinungs- und Willensbildung zurück. Die normativen Erwartungen des deliberativen Politikkonzeptes liegen deshalb vor allem auf den peripheren Strukturen der Meinungsbildung, i. e. den (spontanen) Strukturen einer deliberativen Öffentlichkeit: „Die Erwartungen richten sich an deren Fähigkeit, gesamtgesellschaftliche Probleme wahrzunehmen, zu interpretieren und auf eine zugleich Aufmerksamkeit erregende und innovative Weise in Szene zu setzen. Diese starken Erwartungen wird die Peripherie nur in dem Maße erfüllen können, wie die Netzwerke der nicht-institutionalisierten öffentlichen Kommunikation mehr oder weniger spontane Meinungsbildungsprozesse ermöglichen.“39
36 37 38 39
Ebd. Ebd. Vgl. B. Peters (1993), Die Integration moderner Gesellschaften, Frankfurt a. M., S. 346. Habermas, FuG, S. 434.
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Als die Pointe des von Habermas vorgestellten „Systemischen“ im deliberativen Konzept der Politik muss so aber gleichwohl gelten, dass das rechtsstaatlich institutionalisierte demokratische Verfahren parlamentarischer Gesetzgebung unter den komplexen Bedingungen der Moderne überhaupt erst die Voraussetzung dafür schafft, dass der eigentliche (deliberative) Problemverarbeitungsmodus der Demokratie – im Krisenfall – bestimmend wird. Erst indem der Routinemodus parlamentarischer Gesetzgebung die Allgemeinheit der zum Publikum versammelten Staatsbürger von der Notwendigkeit politischer Entscheidungsfindung entlastet, wird eine diskursive Willensbildung in den spontanen und informellen Prozessen der Öffentlichkeit möglich.
4.1 Das Drei-Stufen-Modell der Politik Das von Peters angeführte Modell des demokratischen Machtkreislaufs geht dabei grundlegend davon aus, dass die Kommunikations- und Entscheidungsprozesse einer demokratischen Ordnung auf einer Zentrum-Peripherie-Achse angeordnet sind.40 Demnach bestehe eine demokratische Ordnung aus dem Kernbereich eines politischen Systems sowie aus dessen innerer und äußerer Peripherie. Zum Kernbereich des politischen Systems rechnet Peters den institutionellen Komplex eines demokratischen Rechtsstaates. Im Sinne der klassischen Gewaltenteilungslehre soll dieser aus der Verwaltung, der Regierung und dem Gerichtswesen eines Staates sowie einer demokratischen Meinungsund Willensbildung bestehen, die sich sowohl in den parlamentarischen Körperschaften als auch in der Form von Wahlen und Parteienkonkurrenz institutionalisiere.41 Wie bereits erwähnt, zeichnet sich dabei das Zentrum des politischen Systems durch formelle Entscheidungskompetenzen aus. Peters weist darauf hin, dass das Zentrum der Politik aufgrund der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung auch in sich als „polyarchisch“ gegliedert verstanden werden müsse. Mithin geht er davon aus, dass aufgrund der (funktionalen) Komplexität, die das politische System bestimmt, auch keine dauerhaften Machtzentren innerhalb des Systems entstehen können: „Dieser instiutionelle Kernbereich ist jedoch selbst differenziert oder polyzentrisch – ein Komplex institutioneller Zentren, die unter sich wiederum in keiner eindeutig hierarchischen Relation stehen.“42
40 41 42
Vgl. Peters, Die Integration moderner Gesellschaften, S. 330. Vgl. ebd., S. 330-337. Ebd., S. 330.
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Während auch Habermas die polyarchische Gliederung des Zentrums des politischen Systems anführt, hebt er in seiner Darstellung darauf ab, dass die funktionale Handlungs- respektive Entscheidungsfähigkeit auch innerhalb des Kernbereichs des politischen Systems mit dem Grad der Organisationsdichte variiere: „Der parlamentarische Komplex ist für die Wahrnehmung und Thematisierung gesellschaftlicher Probleme am weitesten geöffnet, bezahlt diese Sensibilität jedoch mit einer im Vergleich zum administrativen Komplex geringeren Problemverarbeitungskapazität.“43
Des Weiteren geht Habermas aber in Übereinstimmung mit Peters davon aus, dass sich die innere Peripherie des politischen Systems als der Randbereich staatlicher Administration herausbildet. Peters verweist darauf, dass die innere Peripherie aus Institutionen besteht, die wie etwa Universitäten, Kammern, Wohlfahrtsverbände und Stiftungen mit delegierten staatlichen Kontroll- und Hoheitsfunktionen oder Selbstverwaltungsrechten ausgestattet sind.44 In Abgrenzung dazu werde der eigentliche periphere Kontext durch zivilgesellschaftliche Assoziationen gebildet: „Diese meinungsbildenden, auf Themen und Beiträge, allgemein auf öffentlichen Einfluß spezialisierten Vereinigungen gehören zur zivilgesellschaftlichen Infrastruktur einer durch Massenmedien beherrschten Öffentlichkeit, die mit ihren informellen, vielfach differenzierten und vernetzten Kommunikationsströmen den eigentlichen peripheren Kontext bildet.“45
Das Modell des demokratischen Machtkreislaufs sucht die über zivilgesellschaftliche Assoziationen gebildete äußere Peripherie ferner in „Abnehmer“ und „Zulieferer“ von Politiken zu unterteilen. Während demzufolge als „Abnehmer“ der Politik die von politischen Entschlüssen betroffenen Personen oder Organisationen gelten sollen, müssen diese dem Modell zufolge von „Zulieferern“ der Politik unterschieden werden, die gesellschaftliche Probleme zur Sprache bringen: „Auf der Seite der Implementation sind für verschiedene Politikfelder komplexe Netzwerkstrukturen zwischen öffentlichen Verwaltungen und privaten Organisationen, Spitzenverbänden, Interessengruppen usw. entstanden, die in regelungsbedürftigen, aber intransparenten gesellschaftlichen Bereichen Koordinationsfunktionen erfüllen. Von diesen Verhandlungssystemen sind zuliefernde Gruppen, Assoziationen und Verbände zu unterscheiden, die gegenüber Parlamenten und Verwaltungen, aber auch auf dem Wege über die Justiz, gesellschaftliche Probleme zur Sprache bringen, politische Forderungen stellen, Interessen
43 44 45
Habermas, FuG, S. 430. Vgl. Peters, Die Integration moderner Gesellschaften, S. 338f. Habermas, FuG, S. 431.
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oder Bedürfnisse artikulieren und auf die Formulierung von Gesetzesvorhaben oder Politiken Einfluß nehmen.“46
Dabei geht es Habermas auch in diesem Zusammenhang darum, auf das eigentlich Informelle oder Spontane der äußeren Peripherie abzuheben. Er verweist in diesem Sinne darauf, dass die faktische Fusion von „Abnehmern“ und „Zulieferern“ in der äußeren Peripherie rein normativ betrachtet ein Problem darstellt: „Wie die neokorporative Debatte über Verhandlungssysteme zeigt, ist freilich die Unterscheidung zwischen output-orientierten ‚Abnehmern‘ und input-orientierten ‚Zulieferern‘ nicht trennscharf. Aber die faktisch zu beobachtende Fusion zwischen der Einflußnahme auf die Implementation beschlossener Politiken einerseits, der Einflußnahme auf die Formulierung und Durchsetzung von Politiken andererseits, kann ohne Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien nicht rechtlich ‚normalisiert‘ werden.“47
4.2 Zur Prozeduralität des demokratischen Verfahrens Wie die bindenden Entscheidungen des politischen Systems in dieser sowohl systemisch als auch informell spontan (i. e. zweigleisig) bestimmten Konzeption der Demokratie zu rechtfertigen sind, erklärt schließlich das Schleusenmodell des demokratischen Machtkreislaufs. So sind dem Schleusenmodell zufolge zunächst überhaupt nur solche Entscheidungen legitim, die durch die „engen Kanäle des Kernbereichs“ des politischen Systems geflossen sind.48 Die Schleusen befinden sich sowohl am Eingang des parlamentarischen Komplexes als auch am Eingang der Gerichte (sowie gegebenenfalls am Ausgang der implementierenden Verwaltung). Darüber hinaus müssen politische Entscheidungen, um legitim zu sein, von Kommunikationsflüssen gesteuert werden, die von der Peripherie ausgehen und von dort aus die Schleusen der parlamentarischen Beschlussfassung passieren. Während nur eine solche Flussrichtung die Rechtmäßigkeit politischer Entscheidungen gewährleisten könne, könne sie zugleich die (potentielle) Verselbstständigung sowohl der administrativen Macht des politischen Systems als auch der sozialen Macht der peripheren Strukturen verhindern: „Nur dann kann ausgeschlossen werden, daß sich auf der einen Seite die Macht des administrativen Komplexes oder auf der anderen Seite die soziale Macht der auf den Kernbereich
46 47 48
Ebd., S. 430. Ebd., S. 431. Vgl. ebd., S. 432.
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einwirkenden intermediären Strukturen gegenüber einer kommunikativen Macht, die sich im parlamentarischen Komplex bildet, verselbständigen.“49
Die Schleusen leiten so aber nicht nur die Kommunikationsflüsse in die richtige demokratietheoretisch begründete Richtung. Vielmehr kommt ihnen auch in der richtigen demokratietheoretisch begründeten Flussrichtung politischer Meinungs- und Willensbildung Bedeutung zu. So weist Habermas die Schleusen zugleich als die Bedingung der prozeduralen Legitimierung einer spontanen, zivilgesellschaftlich basierten öffentlichen Meinung aus. Während Habermas den Begriff der Zivilgesellschaft im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zur Öffentlichkeit zunächst aufgreift, um zu verdeutlichen, dass nur autochthone Akteure, die an den Bereich der Lebenswelt gebunden bleiben, als wirklich legitime Akteure der Öffentlichkeit gelten können, führt er dort zugleich an, dass die in den zivilgesellschaftlichen Assoziationen begründeten öffentlichen Meinungen die „Filter der institutionalisierten Verfahren demokratischer Meinungs- und Willensbildung“ passieren müssen, um in kommunikative Macht verwandelt zu werden und somit in die legitime Rechtsetzung eingehen zu können.50 Während also einerseits die spontane Meinungs- und Willensbildung einer unstrukturierten Öffentlichkeit die Legitimität des politischen Systems gewährleistet, muss diese ihrerseits durch eine rechtsstaatlich institutionalisierte Form der Meinungs- und Willensbildung ergänzt werden: „[E]rst wenn dieser publizistisch-politische Einfluß die Filter der institutionalisierten Verfahren demokratischer Meinungs- und Willensbildung passiert, sich in kommunikative Macht verwandelt und in legitime Rechtsetzung eingeht, kann aus der faktisch generalisierten öffentlichen Meinung eine unter dem Gesichtspunkt der Interessenverallgemeinerung geprüfte Überzeugung hervorgehen, die politische Entscheidungen legitimiert.“51
Die systemisch begründete Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse schränkt somit also auch die unmittelbare Geltung einer spontan begründeten öffentlichen Meinung ein. Habermas verweist ausdrücklich darauf, dass die autochthonen Öffentlichkeitsstrukturen als solche für eine demokratische Gestaltung der Gesellschaft nicht ausreichend sind: „Die kommunikativ verflüssigte Souveränität des Volkes kann sich nicht allein in der Macht informeller öffentlicher Diskurse zur Geltung bringen – auch dann nicht, wenn diese autonomen Öffentlichkeiten entspringen. Ihr Einfluß muß sich auf die Beratungen demokra-
49 50 51
Ebd. Vgl. ebd., S. 449. Ebd.
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tisch verfaßter Institutionen der Meinungs- und Willensbildung auswirken, um politische Macht zu erzeugen.“52
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Das Intermediäre der Zivilgesellschaft
Die Zivilgesellschaft bestimmt Habermas (zusammen mit der Öffentlichkeit) als ein intermediäres System im Gesamtsystem der Gesellschaft.53 Als intermediäres System unterscheidet sie sich sowohl von der Lebenswelt als auch von den etablierten Strukturen des Systems der Politik. Bedeutsam für ihr politisches Verständnis ist dabei zunächst, dass sie an den liberalen Begriff einer Bürgergesellschaft anschließt.54 Im Unterschied zur klassischen Bestimmung der Bürgergesellschaft umfasst der moderne Begriff der Zivilgesellschaft jedoch nicht den Bereich der (privatrechtlich konstituierten) Ökonomie: „Unter civil society, also Zivil- oder Bürgergesellschaft, wird in der Regel ein gesellschaftlicher Raum, nämlich die plurale Gesamtheit der öffentlichen Assoziationen, Vereinigungen und Zusammenkünfte verstanden, die auf dem freiwilligen Zusammenhandeln der Bürger und Bürgerinnen beruhen. Vereine, Verbände und soziale Bewegungen sind dabei typische Organisationsformen. Diese Vereinigungen sind unabhängig von einem staatlichen Apparat und in der Regel auch unabhängig von wirtschaftlichen Profitinteressen, das heißt idealtypisch bilden sie eine Sphäre aus, die nicht staatlich ist und nicht auf reinen Marktprinzipien beruht.“55
Indem sich die Zivilgesellschaft also aus spontan entstandenen Vereinigungen, Organisationen und Bewegungen zusammensetzt, artikuliert sie die in den privaten Lebensbereichen wahrgenommenen Probleme. Habermas verweist in einer kommunikativen Bestimmung der Zivilgesellschaft darauf, dass zivilgesellschaftliche Assoziationen problemlösende Diskurse zu Fragen von allgemeinem Interesse institutionalisieren: „Den Kern der Zivilgesellschaft bildet ein Assoziationswesen, das problemlösende Diskurse zu Fragen allgemeinen Interesses im Rahmen veranstalteter Öffentlichkeiten institutionalisiert.“56
52 53 54
55 56
Ebd., S. 449f; die Hervorhebung entspricht dem Original. Vgl. ebd., S. 443ff. Die klassische Bestimmung der Bürgergesellschaft geht vor allem auf Hegel zurück. Zur Begriffsgeschichte vgl. J. Schade (2002), ‚Zivilgesellschaft‘ – eine vielschichtige Debatte, INEF Report, Heft 59, Duisburg, S. 8 und S. 12ff außerdem G. W. F. Hegel (1821/1979), Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke 7, Frankfurt a. M. F. Adloff (2005), Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis, Frankfurt a. M., New York, S. 8. Habermas, FuG, S. 443f.
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Das liberale Theorem der Selbstorganisation im deliberativen Politikkonzept
Obwohl zivilgesellschaftliche Assoziationen also Diskurse „institutionalisieren“, müssen sie Habermas zufolge gleichwohl als so frei verstanden werden, dass sie nicht als deckungsgleich mit den institutionalisierten Verfahren der Meinungs- und Willensbildung (im parlamentarischen Komplex) angesehen werden können. Vielmehr nehmen Erstere Einfluss auf Letztere: „Immerhin bilden sie [die zivilgesellschaftlichen Assoziationsverhältnisse, I. F.-G.] das organisatorische Substrat jenes allgemeinen, aus der Privatsphäre gleichsam hervortretenden Publikums von Bürgern, die für ihre gesellschaftlichen Interessen und Erfahrungen öffentliche Interpretationen suchen und auf die institutionalisierte Meinungs- und Willensbildung Einfluß nehmen.“57
Andererseits verkörpert die Zivilgesellschaft dadurch, dass sie über spontane Assoziationen bestimmt wird, den engen Zusammenhang von „autonomer Bürgergesellschaft“ und „unversehrter Privatsphäre“.58 Habermas führt an, dass das Verständnis der Zivilgesellschaft in diesem Sinne durch die Vorstellung einer „selbstbezüglichen Reproduktion“ geprägt ist.59 Demnach müssen die autochthonen Kommunikationsstrukturen der Öffentlichkeit auf der einen Seite von einer vitalen Bürgergesellschaft intakt gehalten werden: „Daß sich die politische Öffentlichkeit in gewissem Sinne selber stabilisieren muß, zeigt sich an der merkwürdigen Selbstbezüglichkeit der zivilgesellschaftlichen Kommunikationspraxis. (...) Der performative Sinn öffentlicher Diskurse hält, diesseits der manifesten Gehalte, die Funktion einer unverzerrten politischen Öffentlichkeit als solche gegenwärtig. Die Institutionen und rechtlichen Gewährleistungen der freien Meinungsbildung ruhen auf dem schwankenden Boden der politischen Kommunikation derer, die sie, indem sie davon Gebrauch machen, zugleich in ihrem normativen Gehalt interpretieren, verteidigen – und radikalisieren.“60
Auf der anderen Seite garantiere aber erst der verfassungsmäßig festgeschriebene Grundsatz der Versammlungsfreiheit (Art. 8 im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland) und das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden (Art. 9 GG) den Spielraum für freiwillige Assoziationen. Auch die grundrechtlich festgeschriebene Freiheit von Presse, Rundfunk und Fernsehen sowie das Recht zur freien publizistischen Tätigkeit (Art. 5 GG) gewährleisteten erst eine offene mediale Meinungsbildung im Sinne einer autochthonen Öffentlichkeitsstruktur.61 57 58 59 60 61
Ebd., S. 444. Vgl. ebd., S. 446. Vgl. ebd., S. 448. Ebd., S. 447; die Hervorhebung entspricht dem Original. Habermas führt darüber hinaus die Rechte an, die den Schutz der Privatheit vor Übergriffen des Staates sichern. Er nennt die grundrechtlich gewährleisteten Persönlichkeitsrechte (Art. 2 GG), die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG), den Schutz der Familie (Art. 6 GG),
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6
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Der deliberative Begriff der Öffentlichkeit
Das „systemische“ Moment, das die Bestimmung des Zweigleisigen in der deliberativen Politikkonzeption ausmacht, dringt auch in die Bestimmung des an den Begriff der Zivilgesellschaft anschließenden Begriffs der Öffentlichkeit ein. In der Bestimmung der Öffentlichkeit zeigt sich die kommunikativ begründete normative Anlage des deliberativen Politikkonzeptes jedoch deutlicher als in der Bestimmung des (eigentlichen) Systems der Politik. Während Habermas so also zunächst davon ausgeht, dass die diskursive Form der Vergesellschaftung erst aufgrund der Institutionalisierung des parlamentarischen Verfahrens auch unter den Bedingungen einer funktional differenzierten Gesellschaft möglich ist, ist für sein deliberatives Verständnis der Demokratie gleichwohl entscheidend, dass sich das (demokratische) Verfahren des rationalen Diskurses gegenüber dem Routinemodus des Systems der Politik behauptet. In diesem Sinne richten sich im Modell des demokratischen Machtkreislaufs die normativen Erwartungen des zweigleisig deliberativen Politikmodells darauf, dass eine zivilgesellschaftlich basierte öffentliche Meinung tatsächlich Einfluss auf den systemischen Routinemodus der Politik gewinnt. Habermas’ demokratietheoretisch entscheidende These lautet deshalb: „Ich möchte plausibel machen, daß die Zivilgesellschaft unter bestimmten Umständen in der Öffentlichkeit Einfluß gewinnen, über eigene öffentliche Meinungen auf den parlamentarischen Komplex (und die Gerichte) einwirken und das politische System zur Umstellung auf den offiziellen Machtkreislauf nötigen kann.“62
Zur Begründung dieser These setzt sich Habermas in „Faktizität und Geltung“ neuerlich mit der bereits in seiner Habilitationsschrift verhandelten Kategorie der (bürgerlichen) Öffentlichkeit auseinander. Das kommunikative Verfahren, in dem sich seinem Verständnis zufolge das grundlegende Prinzip der Öffentlichkeit verwirklichen soll, beschreibt er in seinen neueren Abhandlungen als eine „höherstufige Intersubjektivität von Verständigungsprozessen“. Diese kommunikativ bestimmten Verständigungsprozesse bilden den Kern des deliberativen Politikverständnisses:
62
das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG), die Freizügigkeit (Art. 11 GG) sowie die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG). Die Verzahnung der Öffentlichkeit mit dem politischen System werde hingegen über das Recht der politischen Parteien, bei der politischen Willensbildung mitzuwirken (Art. 21 GG), sowie über das Wahlrecht der Bürger (Art. 20 (2) GG) gewährleistet. Vgl. ebd., S. 445f. Ebd., S. 451; die Hervorhebung entspricht dem Original.
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Das liberale Theorem der Selbstorganisation im deliberativen Politikkonzept
„Diese subjektlosen Kommunikationen, innerhalb und außerhalb der politischen, auf Beschlußfassung programmierten Körperschaften, bilden Arenen, in denen eine mehr oder weniger rationale Meinungs- und Willensbildung über gesamtgesellschaftlich relevante Themen und regelungsbedürftige Materien stattfinden kann.“63
Unter Bezugnahme auf eine in der Regel latent bleibende Gesetzmäßigkeit der Öffentlichkeit nimmt Habermas so an, dass es die allgemeine Zustimmungsfähigkeit der zum Publikum versammelten Staatsbürger sei, die die Legitimität der Politik bestimmt: „Wenn sich dann zivilgesellschaftliche Akteure zusammenfinden, ein entsprechendes Thema formulieren und in der Öffentlichkeit propagieren, können ihre Initiativen Erfolg haben, weil mit der endogenen Mobilisierung der Öffentlichkeit eine sonst latent bleibende Gesetzmäßigkeit in Kraft tritt, die in der Binnenstruktur jeder Öffentlichkeit angelegt ist und im normativen Selbstverständnis der Massenmedien auch präsent gehalten wird: daß die Spieler in der Arena ihren Einfluß der Zustimmung der Galerie verdanken.“64
6.1 Die kommunikative Struktur der Öffentlichkeit In der Einleitung zu seiner Abhandlung zum „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ stellt Habermas noch die allgemein bestehende Unklarheit im Verständnis der Öffentlichkeit fest: „[A]uch die Wissenschaften, vor allem Jurisprudenz, Politik und Soziologie, sind offensichtlich außerstande, traditionelle Kategorien wie ‚öffentlich‘ und ‚privat‘, ‚Öffentlichkeit‘, ‚öffentliche Meinung‘ durch präzisere Bestimmungen zu ersetzen.“65
Dieser begrifflichen Unklarheit begegnet er in „Faktizität und Geltung“ mit einem aus der Theorie des kommunikativen Handelns heraus entwickelten Öffentlichkeitsbegriff. Dabei führt er zunächst an, dass die Öffentlichkeit über ihre kommunikative Struktur bestimmt werden müsse: „Die Öffentlichkeit läßt sich am ehesten als ein Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen, also von Meinungen beschreiben; dabei werden die Kommunikationsflüsse so gefiltert und synthetisiert, daß sie sich zu themenspezifisch gebündelten öffentlichen Meinungen verdichten.“66
Wie die Lebenswelt so reproduziert sich auch die Öffentlichkeit über das kommunikative Handeln: 63 64 65 66
Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie, S. 288. Habermas, FuG, S. 461f. J. Habermas (1962/1995), Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a. M., S. 54. Habermas, FuG, S. 436; die Hervorhebungen entsprechen dem Original.
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„Wie die Lebenswelt insgesamt, so reproduziert sich auch die Öffentlichkeit über kommunikatives Handeln, für das die Beherrschung einer natürlichen Sprache ausreicht; sie ist auf die Allgemeinverständlichkeit der kommunikativen Alltagspraxis eingestellt.“67
Da Habermas die Öffentlichkeit als einen Bestandteil der Lebenswelt ausmacht, richtet sich seine Bestimmung der Öffentlichkeit ausdrücklich gegen eine (historisch) ausdifferenzierte und institutionalisierte Form des öffentlichen Diskurses. Die (politische) Meinungs- und Willensbildung der Öffentlichkeit wird mithin nicht nur an die Vorstellung einer (auf Dauer gestellten) einfachen Interaktion gebunden: „Die Lebenswelt haben wir als ein Reservoir für einfache Interaktionen kennengelernt; an diese bleiben auch die spezialisierten Handlungs- und Wissenssysteme rückgebunden, die sich innerhalb der Lebenswelt ausdifferenzieren. Diese knüpfen entweder (wie Religion, Schule, Familie) an allgemeine Reproduktionsfunktionen der Lebenswelt, oder (wie Wissenschaft, Moral, Kunst) an verschiedene Geltungsaspekte des alltagssprachlich kommunizierten Wissens an. Aber die Öffentlichkeit spezialisiert sich weder in der einen, noch in der anderen Hinsicht; soweit sie sich auf politisch relevante Fragen erstreckt, überläßt sie deren spezialisierte Bearbeitung dem politischen System.“68
Habermas führt vielmehr auch an, dass das Öffentliche einen weiteren, dritten Aspekt des kommunikativen Handelns selbst darstellt: „Die Öffentlichkeit zeichnet sich vielmehr durch eine Kommunikationsstruktur aus, die sich auf einen dritten Aspekt verständigungsorientierten Handelns bezieht: weder auf die Funktionen noch auf die Inhalte der alltäglichen Kommunikation, sondern auf den im kommunikativen Handeln erzeugten sozialen Raum.“69
Damit bringt sich auch im Begriff der Öffentlichkeit – dem „sozialen Raum“, der über die performative Einstellung der kommunikativ Handelnden erzeugt wird – die konsensuale Grundannahme der Theorie kommunikativen Handelns zum Ausdruck. Das Öffentliche soll als „Ort“ illokutionärer Verpflichtungen verstanden werden: „Der intersubjektiv geteilte Raum einer Sprechsituation erschließt sich mit den interpersonalen Beziehungen, die die Beteiligten eingehen, indem sie zu gegenseitigen Sprechaktangeboten Stellung nehmen und illokutionäre Verpflichtungen übernehmen. Jede Begegnung, die sich nicht in Kontakten wechselseitiger Beobachtung erschöpft, sondern vom gegenseitigen Zugeständnis kommunikativer Freiheit zehrt, bewegt sich in einem sprachlich konstituierten öffentlichen Raum.“70
67 68 69 70
Ebd.; die Hervorhebung entspricht dem Original. Ebd. Ebd.; die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Ebd., S. 437.
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6.2 Die Diskursivität der öffentlichen Meinungsbildung In „Faktizität und Geltung“ erläutert Habermas, in welcher Form sich dieses im kommunikativen Handeln verankerte (konsensuale) Prinzip diskursiver Verständigung in den öffentlichen Prozessen der politischen Meinungs- und Willensbildung realisiert. Anders als die demokratischen Verfahren der politischen Beratung und Beschlussfassung im System der Politik unterliegen dabei die Prozesse der Öffentlichkeit keinerlei räumlichen oder zeitlichen Begrenzungen. Habermas gilt deshalb allein die öffentliche Meinung als rechtmäßige öffentliche Meinung, in der sich tatsächlich das Diskursprinzip verwirklicht. Er führt an, dass in der Öffentlichkeit Äußerungen nach Themen und zustimmenden bzw. ablehnenden Stellungnahmen sortiert und die Informationen und Gründe zu fokussierenden Meinungen verarbeitet werden sollen. Dabei gelte: „Was derart gebündelte Meinungen zur öffentlichen Meinung macht, ist die Art ihres Zustandekommens und die breite Zustimmung, von der sie ‚getragen‘ werden.“71
Habermas verweist darauf, dass sich sein spezifisches Verständnis des prozeduralen Charakters der Meinungsbildung insbesondere im Kontrast zu den im statistischen Sinne repräsentativen Meinungen herausstellen ließe. Die öffentliche Meinung solle so eben kein Aggregat einzeln abgefragter und privat geäußerter individueller Meinungen darstellen. Die (politische) Meinungsforschung liefere vielmehr nur ein gewisses Spiegelbild der eigentlichen öffentlichen Meinung. Habermas betont dagegen, dass es bei der Begründung einer legitimen öffentlichen Meinung auf die Regeln der gemeinsam befolgten Kommunikationspraxis ankomme. So seien es vor allem diese, die neben einer breiten Zirkulation von Inhalten und Stellungnahmen, die eine hinreichende Inklusion der Beteiligten sicherstellt, für die Begründung einer öffentlichen Meinung bestimmend sind: „Aber für die Strukturierung einer öffentlichen Meinung sind die Regeln einer gemeinsam befolgten Kommunikationspraxis von größerer Bedeutung. Zustimmung zu Themen und Beiträgen bildet sich erst als Resultat einer mehr oder weniger erschöpfenden Kontroverse, in der Vorschläge, Informationen und Gründe mehr oder weniger rational verarbeitet werden können.“72
Eine gültige öffentliche Meinung zu bilden, hänge demnach von „formalen“ Kriterien ab, die Habermas in der „mehr oder weniger erschöpfenden Kontroverse“ und der „mehr oder weniger rationalen“ Verarbeitung von Vorschlä71 72
Ebd., S. 438; geänderte Hervorhebung. Ebd.; die Hervorhebungen entsprechen dem Original.
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gen, Informationen und Gründen ausmacht. Anhand dieser Kriterien lässt sich laut Habermas das diskursive Niveau öffentlicher Kommunikation auch empirisch überprüfen.73 Dem idealen normativen Anspruch entsprechend soll dabei das diskursive Niveau bestimmen, in welchem Maße der Einfluss, den die öffentliche Meinung auf das politische System ausübt, gerechtfertigt ist: „Normativ betrachtet, begründet sie [die Qualität der öffentlichen Meinung, I. F.-G.] ein Maß für die Legitimität des Einflusses, den öffentliche Meinungen auf das politische System ausüben.“74
7
Die Diskursivität der öffentlichen Meinungsbildung und die Medien
Im Vorwort zur Neuauflage des „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ aus dem Jahre 1990 führt Habermas an, dass er die ursprünglich negative Einschätzung, die er aufgrund der unter den massenmedialen Bedingungen gewandelten Strukturen der Öffentlichkeit vor allem bezüglich des Publikumsverhaltens vertreten habe, neueren Einsichten nach abschwächen könne: „Kurzum, meine Diagnose einer geradlinigen Entwicklung vom politisch aktiven zum privatistischen, ‚vom kulturräsonierenden zum kulturkonsumierenden Publikum‘ greift zu kurz. Die Resistenzfähigkeit und vor allem das kritische Potential eines in seinen kulturellen Gewohnheiten aus Klassenschranken hervortretenden, pluralistischen, nach innen weit differenzierten Massenpublikums habe ich seinerzeit zu pessimistisch beurteilt.“ 75
Im Sinne der in „Faktizität und Geltung“ vorgenommenen (zweigleisigen) Differenzierung sucht Habermas nun vielmehr auch dadurch den spezifischen Bedingungen der modernen Massendemokratie Rechnung zu tragen, dass er ein „systemisch“ begründetes Verständnis der Medien einführt, das gleichwohl den normativen Anforderungen eines diskursiv begründeten Politikverständnisses gerecht wird. Er führt dort aus, dass unter den Bedingungen der Massendemokratie die im kommunikativen Handeln gestiftete räumliche Struktur einfacher und episodischer Begegnungen über den Einsatz der Massenmedien in abstrakter Form für ein größeres Publikum von Anwesenden generalisiert und verstetigt werde. Im Unterschied zur physischen Präsenz der klassischen Öffentlichkeitsvorstellungen sei heute deshalb von einer medial vermittelten und somit nur noch virtuellen Gegenwart eines zudem räumlich 73 74 75
Vgl. dazu kritisch J. Gerhards (1997), Diskursive versus liberale Öffentlichkeit. Eine empirische Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 49, S. 1-34. Habermas, FuG, S. 439. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Vorwort zur Neuauflage 1990, S. 30.
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weit verstreuten Publikums auszugehen. Mit dieser Bestimmung wird der (legitime) Zweck der Massenmedien darauf festgelegt, eine „Abstraktion“ der „Raumstruktur einfacher Interaktionen“ herbeizuführen.76 Damit wird also auch für die „systemische“ Bestimmung der Massenmedien das diskursive Prinzip der Öffentlichkeit als bestimmend verstanden. So führt Habermas auch an, dass das diskursiv begründete Verständnis der Massenmedien in Übereinstimmung mit den Grundsätzen des journalistischen Berufskodex und der medienrechtlichen Organisation eines freien Pressewesens stehe. Deren von Habermas in diesem Zusammenhang zitierte regulative Idee laute: „[D]ie Massenmedien sollen sich als Mandatar eines aufgeklärten Publikums verstehen, dessen Lernbereitschaft und Kritikfähigkeit sie zugleich voraussetzen, beanspruchen und bestärken; sie sollen, ähnlich wie die Justiz, ihre Unabhängigkeit von politischen und gesellschaftlichen Aktoren bewahren; sie sollen sich unparteilich der Anliegen und Anregungen des Publikums annehmen und den politischen Prozeß im Lichte dieser Themen und Beiträge einem Legitimationszwang und verstärkter Kritik aussetzen.“77
Dadurch, dass Habermas nun also davon ausgeht, dass auch die Medien eine normative Funktion im Sinne des deliberativen Politikkonzeptes erfüllen, kann er in unmittelbarem Anschluss an die regulative Idee des journalistischen Berufskodex und der medienrechtlichen Organisation eines freien Pressewesens des Weiteren anführen: So soll die Medienmacht neutralisiert – und die Umsetzung von administrativer oder sozialer Macht in politisch-publizistischen Einfluß blockiert werden.“78
Es ist also nur, weil Habermas auch in dem neu bestimmten „systemischen“ Verständnis der Medien davon ausgeht, dass auch in ihnen die normative Anforderung einer kommunikativ begründeten Meinungs- und Willensbildung angelegt ist, dass er überhaupt in der hier zitierten (unbestimmten) Form – i. e. transzendentallogisch – davon ausgehen kann, dass die Neutralisierung einer (ökonomisch oder parteipolitisch begründeten) Medienmacht möglich ist. Einer solchen ökonomisch oder parteipolitisch begründeten Medienmacht, wie sie insbesondere von der Soziologie der Massenkommunikation aufgezeigt wird, wird (unvermittelt) die (transzendental-pragmatische) Normativität einer politischen Meinungs- und Willensbildung entgegengehalten, die an die Strukturen der Lebenswelt gebunden ist:
76 77 78
Vgl. Habermas, FuG, S. 437. Ebd., S. 457. Ebd.
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185
„Nach dieser Idee dürften die politischen und gesellschaftlichen Aktoren die Öffentlichkeit nur insoweit ‚benutzen‘, wie sie überzeugende Beiträge zur Behandlung der Probleme leisten, die vom Publikum wahrgenommen oder mit dessen Zustimmung auf die öffentliche Agenda gesetzt worden sind. Auch die politischen Parteien müßten sich an der Meinungsund Willensbildung des Publikums aus dessen eigener Perspektive beteiligen, statt aus der Perspektive der Erhaltung ihrer politischen Macht auf das Publikum einzuwirken, um Massenloyalität aus der Öffentlichkeit zu extrahieren.“79
8
Autochthone versus nutznießende Akteure der Öffentlichkeit?
Habermas differenziert in seinen Ausführungen zum deliberativen Politikkonzept schließlich auch zwischen „autochthonen“ und „nutznießenden“ Akteuren der Öffentlichkeit.80 So müsse unterschieden werden, ob sich die Akteure der Öffentlichkeit neu formieren und als eine nur lose organisierte Gruppe „‚aus‘ dem Publikum hervortreten“ oder, ob sie lediglich „‚vor‘ dem Publikum auftreten“ und die Öffentlichkeit somit lediglich zur Vermittlung bereits bestehender Interessen nutzen.81 In der politischen Medien- und Kommunikationsforschung wird das Problem der hier von Habermas eingeführten Unterscheidung vor allem unter der Frage verhandelt, ob eine von Regierungsseite geleistete Öffentlichkeitsarbeit (Public Relations) demokratietheoretisch zu rechtfertigen sei. Zur Diskussion steht dabei, ob die Regierung für bestimmte Themen und Entscheidungen um Anerkennung werben darf. Toralf Staud führt die Problematik anhand des Beispiels der Arbeit des deutschen Bundespresseamtes an: „Zudem hat das BPA >Bundespresseamt, I. F.-G.@ ein grundsätzliches Problem: Streng genommen, darf es über Politik bloß informieren, nicht für sie werben. Und seine Arbeit darf frühestens beginnen, wenn ein Vorhaben im Kabinett beschlossen ist. Zu diesem Zeitpunkt aber sind die öffentlichen Deutungskämpfe in der Regel längst entschieden, haben die Parteien schon ausgiebig gestritten, die Medien über etliche Entwürfe berichtet und unzählige Kommentare verfasst.“82
Den Anforderungen des deliberativen Öffentlichkeitsverständnisses werden dabei nur die autochthonen Akteure der Öffentlichkeit gerecht. In Übereinstimmung mit seinem „genuin prozeduralistischen Verständnis der Demokratie“ führt Habermas die Differenz der Akteure darauf zurück, dass autochthone Akteure ihre jeweiligen Identifikationsmerkmale erst hervorbringen müss79 80 81 82
Ebd., S. 457f. Vgl. ebd., S. 454. Vgl. ebd., S. 453. T. Staud (2004), Schönreden für Schröder. Wie die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung scheitert – ein Tag im Bundespresseamt, in: Die Zeit, Nr. 34, 12. August 2004, S. 5.
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ten, wohingegen nutznießende Akteure bereits „von Haus aus über Organisationsmacht, Ressourcen und Drohpotentiale“ verfügten.83 Als beispielhaft für Akteure, die aus dem Publikum selbst hervortreten, sieht Habermas soziale Bewegungen an. Diese würden durch ihr Agieren zugleich eine aktive Reproduktion der (autochthonen) Öffentlichkeitsstrukturen betreiben. Sie müssten dabei, so Habermas’ grundlegende Annahme, nicht nur zu Beginn eine Phase der Selbstidentifizierung und der Selbstlegitimierung durchlaufen: „[A]uch später betreiben sie parallel zu ihren zielgerichteten Politiken eine selbstbezügliche ‚identity politics‘ – sie müssen sich ihrer Identität immer wieder vergewissern.“84
Als paradigmatisch für soziale Bewegungen gelten in der Politikwissenschaft die sozialen Bewegungen, die sich in den 1960er Jahren in den westlichen Demokratien als Friedens-, Umweltschutz- und Frauenbewegungen formiert haben. Habermas hat sich mit ihnen zunächst im Zusammenhang mit dem Thema des zivilen Ungehorsams auseinandergesetzt.85 Die im deliberativen Politikverständnis begründete Problematik im Verständnis sozialer Bewegungen hat Habermas aber auch in seinen neueren politischen Studien wieder aufgegriffen.86 So stellt er dort etwa in Bezug auf die Frauenbewegung fest, dass Frauen nun neuerlich, durch die bereits erfolgten frauenpolitischen Maßnahmen diskriminiert würden. Aus juristischer Sicht sei dies auf strukturell bedingte „überverallgemeinernde Klassifikationen“ zurückzuführen.87 Eine Feststellung, die Habermas im Sinne des deliberativen Politikverständnisses dazu nutzt, auf die Legitimität einer in face-to-face Interaktionen begründeten (politischen) Meinungs- und Willensbildung hinzuweisen. Demnach ist eine autonome Selbstbestimmung eben nur solange gewährleistet, wie die Betroffenen selbst unmittelbar an der (politischen) Willensbildung beteiligt sind: „[D]ie subjektiven Rechte, die Frauen eine privatautonome Lebensgestaltung gewährleisten sollen, können gar nicht angemessen formuliert werden, wenn nicht zuvor die Betroffenen
83 84 85 86 87
Vgl. Habermas, FuG, S. 453; die Hervorhebung entspricht dem Original. Ebd., S. 454. Vgl. J. Habermas (1983), Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, wieder abgedruckt in: ders., Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt a. M. 1985, S. 79-99. Vgl. J. Habermas (1993), Kampf um Anerkennung im demokratischen Rechtsstaat, wieder abgedruckt in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1996, S. 237-276. Vgl. ebd., S. 244.
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selbst in öffentlichen Diskussionen die jeweils relevanten Hinsichten für Gleich- und Ungleichbehandlung typischer Fälle artikulieren und begründen.“88
Was sich hier mithin auch zeigt, ist aber, dass sich einem über einfache Interaktionen kommunikativ begründeten Verständnis politischer Prozeduralität die strukturell (oder systemisch) bedingten Vorgaben einer funktional differenzierten Gesellschaft tatsächlich als eine Form von „Entfremdung“ darstellen.89 So führt Habermas auch als Beispiele für Akteure, die die (bereits konstituierte) Öffentlichkeit bloß nutzten, ohne zugleich deren kommunikative Strukturen zu reproduzieren, etablierte politische Parteien und mit (sozialer) Macht ausgestattete Interessenverbände an: „Zu diesen politischen und gesellschaftlichen Akteuren, die sich ihre Ressourcen nicht aus anderen Bereichen beschaffen müssen, rechne ich in erster Linie die etablierten, weitgehend verstaatlichten Parteien und die großen, mit sozialer Macht ausgestatteten Interessenverbände; sie bedienen sich der ‚Beobachtungsagenturen‘ der Markt- und Meinungsforschung und betreiben selber professionelle Öffentlichkeitsarbeit.“90
Entgegen der kategorischen Differenzierung, die Habermas hier mit der Unterscheidung von „autochthonen“ und „nutznießenden“ Akteuren der Öffentlichkeit einführt, ist so auch für sein zweigleisiges Verständnis der Politik entscheidend, dass es über die Normativität des kommunikativen Handelns bestimmt ist. Er geht so auch im Kontext einer ausdifferenzierten Öffentlichkeit davon aus, dass die „Grenzen innerhalb der allgemeinen, durch ihren Bezug zum politischen System definierten Öffentlichkeit“ prinzipiell durchlässig bleiben.91 Trotz der vielfältigen zu beobachtenden Differenzierungen innerhalb der Öffentlichkeit – die, wie Habermas anführt, von episodischen Kneipen-, Kaffeehaus- oder Straßenöffentlichkeiten, veranstalteten Präsenzöffentlichkeiten und den abstrakten, über die Massenmedien hergestellten Öffentlichkeiten reichen – bleiben Habermas zufolge all diese (umgangssprachlich konstituierten) Teilöffentlichkeiten doch porös füreinander.92 Damit führt Habermas auch im Zusammenhang mit der Öffentlichkeit noch einmal die normative Grundannahme seines deliberativen Politikkonzeptes an. Die Annahme nämlich, dass es im Grunde auch in der komplexen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft der Moderne die „unverzerrten“ Kommunikations88 89 90 91 92
Ebd., S. 245. Vgl. H. Plessner (1960), Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung, wieder abgedruckt in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. X, hrsg. von G. Dux, O. Marquard & E. Ströker, Frankfurt a. M. 1985, S. 212-226, S. 218. Habermas, FuG, S. 453. Vgl. ebd., S. 452. Vgl. ebd.
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Das liberale Theorem der Selbstorganisation im deliberativen Politikkonzept
prozesse einer aus der Lebenswelt hervorgehenden nicht-vermachteten Zivilgesellschaft (respektive Öffentlichkeit) seien, die die politische Meinungsund Willensbildung bestimmen.93
93
Vgl. ebd., S. 453.
G Die Irrealität des Konzeptes deliberativer Politik
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Die transzendentallogische Konzeption der deliberativen Politik
Habermas macht in der Struktur der Sprache eine transzendentallogisch angelegte Form der Verpflichtung aus. Die Sprache begründe, so die grundlegende Annahme seiner Diskursethik, eine moralische Verpflichtung, die sich in der Prozeduralität der Verständigung ausprägt. Das Diskursprinzip gilt Habermas demzufolge als eine allgemeine Grundnorm, die transzendentallogisch in jeder Form von Interaktion vorausgesetzt wird. In der Bestimmung des deliberativen Politikkonzepts schwächt Habermas diese transzendentallogische Geltung des Diskursprinzips ab. Er tut dies, indem er die Prozeduralität der Politik als ein zweigleisiges Konzept versteht. So baut auch das deliberative Politikkonzept auf der gesellschaftstheoretischen Annahme auf, die Habermas bereits in der Theorie kommunikativen Handelns als grundlegend für das moderne Verständnis der Gesellschaft angeführt hat: In der Moderne differenzieren sich aus der Lebenswelt neben dem ökonomischen System auch ein funktional bestimmtes System der Politik sowie ein System der Rechte aus. Dabei soll das System der Politik mithilfe der rechtsstaatlichen Institutionalisierung eines demokratischen Verfahrens parlamentarischer Gesetzgebung die Verarbeitung der komplexer werdenden Anforderungen gewährleisten, die die modernen Gesellschaftsformen an das kommunikative Handeln stellt. Die rechtsstaatliche Institutionalisierung des demokratischen Verfahrens entlastet dabei nicht nur die Subjekte von den Anforderungen des kommunikativen Handelns; sie gewährleistet zugleich auch die Entfaltung einer diskursiven Willensbildung in den kommunikativen Prozessen der politischen Öffentlichkeit. Das System der Politik in seiner formalisierten Prozessualität ist wiederum auf die Problemwahrnehmung einer zivilgesellschaftlich basierten Öffentlichkeit angewiesen. Dieser zweigleisigen Konzeption zufolge wird das Diskursprinzip also zum einen in den rechtsstaatlich institutionalisierten Verfahren der parlamentarischen Gesetzgebung
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Die Irrealität des Konzeptes deliberativer Politik
verwirklicht und zum anderen in der politischen Meinungs- und Willensbildung, die in den informellen und spontanen Prozessen einer zivilgesellschaftlich basierten Öffentlichkeit stattfindet. Damit behält die Kernaussage der Theorie kommunikativen Handelns auch im Rahmen des deliberativen Politikkonzepts ihre Gültigkeit. Auch nach diesem Verständnis können die berechtigten Interessen der Bürger letztlich allein in einem allgemeinen diskursiven Verfahren geklärt werden. In dieser Annahme von der kommunikativen Prozeduralität der Politik liegt zugleich das grundlegende Problem des (zweigleisig) deliberativen Politikkonzepts begründet. Es lässt sich in Form der folgenden Frage präzisieren: Kann von der Prozeduralität der Politik tatsächlich gesagt werden, sie gründe in einer kommunikativen Bestimmung der Politikgehalte? Dieser Frage soll in dem nachfolgenden Abschnitt durch eine Überprüfung der Prozeduralität der Politik auf den von Habermas angeführten Ebenen nachgegangen werden. In dem darauf folgenden Abschnitt soll es abschließend noch einmal um das Problem der Theorie kommunikativen Handelns gehen, das diese mit Bezug auf das Verständnis moderner Gesellschaften aufweist. Dabei geht es vor allem um das Verständnis der gesellschaftlichen Subsysteme, um die Frage, ob eine auf der Normativität des kommunikativen Handelns gründende Gesellschaftstheorie tatsächlich die jeweiligen Logiken der gesellschaftlichen Subsysteme erfasst. Denn sie sind es, die die normativen Anforderungen bestimmen, denen sich eine moderne, demokratisch organisierte Gesellschaftsform ausgesetzt sieht.
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Die Prozeduralität der Politik
Im Anschluss an Habermas’ zweigleisige Konzeption bezieht sich die Frage, ob sich die Politikgehalte in einem kommunikativen Verfahren bestimmen, zum einen auf die Prozeduralität der zivilgesellschaftlich basierten Strukturen der Öffentlichkeit und zum anderen auf die Prozeduralität der institutionalisierten Formen der Entscheidung in der Politik, im Wesentlichen also auf das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren.1 Auf beiden Ebenen der politi1
Wie oben angeführt, geht Habermas in der Beschreibung des politischen Verfahrens von drei Ebenen im Aufbau des politischen Prozesses aus. In diesem Sinne führt er in Anlehnung an das Modell von Bernhard Peters ein Zentrum der Politik sowie dessen innere und äußere Peripherie an; ebenso hat er bereits in „Die Neue Unübersichtlichkeit“ den Aufbau des politischen Prozesses in Anlehnung an ein Modell von Claus Offe über drei Arenen der Politik beschrieben; vgl. J. Habermas (1985), Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopi-
Die Irrealität des Konzeptes deliberativer Politik
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schen Prozeduralität liegt bei Habermas die Annahme zugrunde, dass sich die Politikgehalte in einem kommunikativen Verfahren bestimmen, an dem die jeweils betroffenen Bürger beziehungsweise ihre legitimen Repräsentanten unmittelbar beteiligt sind und ihre jeweiligen (autonomen) Interessen einbringen. Darin gründet der prozeduralisierte radikaldemokratische Ansatz des deliberativen Politikverständnisses.
2.1 Zivilgesellschaftliche Kommunikation zur Bestimmung der Politikgehalte? Habermas geht so zunächst davon aus, dass die – demokratietheoretisch bedeutsamen – Themen der Politik von der zivilgesellschaftlichen Peripherie vorgebracht werden. Er führt an, die zivilgesellschaftliche Peripherie besitze gegenüber dem Zentrum der Politik den Vorzug, über größere Sensibilität für die Wahrnehmung und Identifizierung neuer Problemlagen zu verfügen.2 Die Zivilgesellschaft sei in besonderer Form sensitiv für die Problemfindung der Politik. So ist es zunächst diese Vorstellung des deliberativen Politikverständnisses, in der sich die Annahme von der Geltung des Diskursprinzips zum Ausdruck bringt. Dabei geht, wie bereits erwähnt, die Vorstellung von der politischen Bedeutung der Zivilgesellschaft auf die Annahme zurück, das Diskursprinzip wirke sich über den (kommunikativen) Einfluss aus, den die zivilgesellschaftlich basierten Öffentlichkeitsstrukturen auf die Politik ausübe. Dieser transzendentallogisch begründeten Annahme steht jedoch die über die systemischen Vorgaben der gesellschaftlichen Subsysteme begründete Annahme entgegen, dass die Gehalte der Politik durch solche Problemlagen der nationalen Gesellschaften bestimmt werden, die jenseits einer (angenom-
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scher Energien, in: ders., Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. M., S. 141-163, S. 159. Gleichwohl geht es – im Sinne der Zweigleisigkeit des deliberativen Politikkonzeptes – im Wesentlichen um den kommunikativen Einfluss, den die zum allgemeinen Publikum versammelten Staatsbürger auf das systemisch routinierte Verfahren der Politik ausüben (sowie andererseits um die Gewährleistung des kommunikativen Verfahrens der politischen Meinungsund Willensbildung durch die Institutionalisierung eines verfassungsmäßigen Systems der Rechte). Vgl. Habermas, FuG, S. 461f und G. Palazzo (2002), Die Mitte der Demokratie. Über die Theorie deliberativer Demokratie von Jürgen Habermas, Baden-Baden, S. 61. Dabei soll im Folgenden auch die Problematik der „Zwischenstufe“ eines solchen Drei-EbenenModells aufgegriffen werden. Dies zum einen im Zusammenhang mit der Frage nach der politischen Meinungs- und Willensbildung in der Öffentlichkeit (Abschnitt 2.2) und zum anderen im Zusammenhang mit der Frage nach der demokratischen Organisationsform sozialer Bewegungen (Abschnitt 2.3). Vgl. Habermas, FuG, S. 460.
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menen) kommunikativ begründeten politischen Willensbildung liegen, wie sie laut Habermas in den zivilgesellschaftlichen Strukturen der Öffentlichkeit erfolgt. Im Überblick lassen sich drei Themenbereiche ausmachen, die für die Politiken der nationalen Gesellschaften bestimmend sind: 1. Zum einen ist die Politik mit Problemen befasst, die sich aus der Prozeduralität des ökonomischen Systems ergeben. Dies vor dem Hintergrund, dass sich die Politik in der Moderne als ein System herausgebildet hat, das dem Funktionieren des Gesamtsystems der nationalen (Markt-)Gesellschaft verpflichtet ist. Während sich also der moderne Staat darüber bestimmt, die Bestandsvoraussetzungen des Gesamtsystems der Gesellschaft zu organisieren, das im Wesentlichen über das ökonomische Teilsystem bestimmt ist, bewirkt das ökonomische System selbst aufgrund seiner über das Interesse der Kapitalakkumulation bestimmten Eigenlogik Verwerfungen, die über das Gestaltungspotential der organisatorischen Verfasstheit des politischen Systems mit den Bestandsvoraussetzungen des Gesamtsystems der Gesellschaft in Einklang gebracht werden müssen. In den westlichen Demokratien ist dies vor allem mithilfe der seit dem 19. Jahrhundert herausgebildeten wohlfahrts- oder sozialstaatlichen Einrichtungen gelungen. In jüngerer Zeit ist der Sozialstaat allerdings aufgrund einer Vielzahl von unterschiedlichen Gründen in die Krise geraten.3 Zu diesen zählen hauptsächlich die stark gestiegenen Kosten im Bereich der Gesundheits- und Altersvorsorge sowie die Entwicklung eines Weltmarktes, der die Grenzen der nationalstaatlichen Regulierung überschreitet.4 Die brennende Frage, die sich für die (nationale) Politik der westlichen Gesellschaften deshalb gegenwärtig stellt, ist, ob und wie die sozialen Sicherungssysteme gegenüber dem ökonomischen (transnationalen) Imperativ behauptet werden können. 2. Zum anderen wird die Politik von Themen bestimmt, in denen sich die Politik mit sich selbst befasst. Es sind dies Probleme, die sich aus der über den Gewinn respektive Erhalt von Macht bestimmten Eigenlogik des Systems der Politik ergeben. Dazu gehören die Fragen der Entscheidungsfindung, Fragen des Machtaufbaus der politischen Eliten in der Organisationsstruktur der Parteien sowie die allgemeinen Fragen des Machterhalts. 3. Im Weiteren werden die nationalen Politikgehalte durch internationale Politiken bestimmt. Dies gilt zum einen für die Politiken der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die durch die Gesetzgebung der Europäischen 3 4
Vgl. F.-X. Kaufmann (1997), Herausforderungen des Sozialstaates, Frankfurt a. M. Vgl. D. Döring (1999), Sozialstaat in unübersichtlichem Gelände. Erkundung seiner Reformbedarfe unter sich verändernden Rahmenbedingungen, in: D. Döring (Hg.), Sozialstaat in der Globalisierung, Frankfurt a. M., S. 11-40.
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Union nicht nur mittelbar, sondern auch unmittelbar bestimmt werden. Darüber hinaus haben sich aber seit dem Ende des Kalten Krieges auch die macht-, militär- und geopolitischen Fragen der Weltpolitik neu formiert. Als entscheidende Themenbereiche gelten so heute das Zerfallen von Staaten, der Klimawandel, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, die Welthandelsordnung sowie der internationale Terrorismus.5 Um es noch einmal hervorzuheben: Mit dem Hinweis, dass die Themen der Politik durch Problemlagen bestimmt werden, die sich zunächst aus den systemischen Vorgaben der Ökonomie sowie der Politik selbst ergeben, und dass diese wiederum für die systemische Verfasstheit nationaler Gesellschaften bestimmend sind, sollen Strukturen aufgezeigt werden, die mit einem kommunikativen Prozess der politischen Willensbildung, wie Habermas ihn in den Strukturen der Zivilgesellschaft angelegt sieht, nicht vereinbar sind. Entsprechend kann einer (politischen) Problemfindung durch die (angenommenen) informellen und spontanen kommunikativen Prozesse der Zivilgesellschaft auch keine über den Einfluss der Öffentlichkeit begründete konstitutive demokratietheoretische Bedeutung zugesprochen werden.
2.2 Politische Meinungs- und Willensbildung in der Öffentlichkeit? Auch in den Prozessen der Öffentlichkeit besteht für die Annahme, dass es ein kommunikativer Meinungs- und Willensbildungsprozess sei, der für die Politikgehalte bestimmend ist, kaum Anhalt. Dabei ist die Öffentlichkeit aufgrund ihrer „Offenheit“ zunächst zwar als eine anomische Institution zu verstehen. Als solche wird sie über die prinzipiell freie Zugangsmöglichkeit aller Bürger und die Tatsache geprägt, dass es sich bei ihrem Publikum nicht nur um Experten, sondern auch um Laien handelt und dass mehrere Akteure um die Aufmerksamkeit des Publikums werben.6 Geht es um die politische Mei5
6
Vgl. J. Ross (2006), Welterklärer, verzweifelt gesucht. Außenpolitik wird immer wichtiger – und immer schwieriger, in: Die Zeit, Nr. 35, 24. August 2006, S. 8 sowie A. Merkel (2006), „Das ist nicht meine Sprache“, in: Die Zeit, Nr. 37, 7. September 2006, S. 2. Dem Bericht von Jan Ross zufolge versucht der Planungsstab des Auswärtigen Amtes zur Zeit die folgenden Großthemen als mittel- und langfristige Schwerpunkte einer zeitgemäßen Außenpolitik für die Bundesrepublik Deutschland zu identifizieren: das Problem der Knappheit der Rohstoffe (nicht nur von Öl und Gas), die Aufgabe, einen neuen Klimaschutz nach dem Kyoto-Protokoll zu begründen, die Frage nach einer europäischen Ostpolitik und die Frage nach einem angemessenen Umgang mit den Islam sowie dem Aufstieg der Länder Asiens. Vgl. Ross, Welterklärer, verzweifelt gesucht, S. 8. Vgl. J. Gerhards (1998), Öffentlichkeit, in: O. Jarren, U. Sarcinelli & U. Saxer (Hg.), Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft, Wiesbaden, S. 268-274, S. 271.
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nungsbildung, zeigt sich jedoch, dass für diese vornehmlich die Medien bestimmend sind. Denn: „Öffentlichkeit in gegenwärtigen Gesellschaften bedeutet in erster Linie massenmediale Öffentlichkeit.“7 So sind es die Medien, die im Prozess der Öffentlichkeit allererst die Themen und Inhalte vorbringen, über die eine politische Meinungsbildung stattfindet. Fernsehen und Printmedien liefern erst das notwendige Informationsmaterial für eine allgemeine politische Meinungs- und Willensbildung. Politikwissenschaftlich wird die Funktion des Agenda-Setting zugleich als die wichtigste politische Funktion der Medien angesehen.8 So gilt es inzwischen als ausgemacht, dass die mediale Berichterstattung zumindest zum Teil darüber bestimmt, welche Themen von der Bevölkerung – wie auch von den Akteuren der Politik – als die jeweils wichtigsten Themen angesehen werden.9 In der Agenda-SettingForschung wird der Berichterstattung der Medien darüber hinaus ein PrimingEffekt zugeschrieben. Dieser erklärt sich daraus, dass für die Beurteilung von Sachverhalten und Personen in der Regel nicht alle überhaupt verfügbaren Informationen herangezogen werden, sondern nur die, die gerade verfügbar sind. Welche verfügbar sind, hängt von der Berichterstattung der Medien ab.10 Nach einer Auswertung der empirischen Studien zur Medienkommunikation in der Bundesrepublik Deutschland kommt Jürgen Gerhards dabei gleichwohl zu dem Schluss, dass es durchaus möglich sei, sich eine politisch differenzierte Meinung zu bilden aufgrund der Vielfalt der Informationsangebote durch die Medien.11 Gegenüber Habermas’ Verständnis der kommunikativen Meinungsbildung ist es jedoch entscheidend festzuhalten, dass gerade die Meinungsbildung – und zwar sowohl die Meinungsbildung der Bürger als auch die staatliche Entscheidungsfindung – nicht, wie Habermas meint, in einem öffentlichen Prozess der Kommunikation stattfindet. Die eigentliche Meinungsbildung findet in der Regel vielmehr im Privaten (respektive „hinter verschlossenen Türen“) statt. Eben dies, die Annahme einer öffentlichen Meinungsbildung, macht aber den Kern des kommunikativen Verständnisses der 7 8
9 10 11
Gerhards, Öffentlichkeit, S. 270. Vgl. K. von Beyme & H. Weßler (1998), Prozesse, Dimensionen, Strategien politischer Kommunikation. Politische Kommunikation als Entscheidungskommunikation, in: O. Jarren, U. Sarcinelli & U. Saxer (Hg.), Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft, Wiesbaden, S. 312-323, S. 315. Für einen Überblick über die Agenda-Setting-Forschung vgl. H.-B. Brosius (1994), AgendaSetting nach einem Vierteljahrhundert Forschung: Methodischer und theoretischer Stillstand?, in: Publizistik 39, S. 269-288. Vgl. M. Jäckel (2005), Medienwirkungen, Wiesbaden, S. 175. Vgl. J. Gerhards (1995), Welchen Einfluss haben die Massenmedien auf die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland?, in: G. Göhler (Hg.), Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht, Baden-Baden, S. 149-177, S. 170ff.
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Bestimmung der Politikgehalte aus, wie Habermas sie versteht. Die Bestimmung der Politikgehalte muss nach diesem Verständnis insofern in einem öffentlichen Prozess der Kommunikation stattfinden, als stets alle potentiell Betroffenen die Möglichkeit haben müssen, sich (unmittelbar) an diesem Prozess zu beteiligen. Die Feststellung, dass die politische Meinungs- und Willensbildung nicht in einem öffentlichen Prozess der Kommunikation stattfindet, stellt mit Bezug auf die staatliche Entscheidungsfindung ein besonderes Problem im kommunikativ begründeten radikaldemokratischen Denken dar. So müssen staatliche Institutionen diesem Verständnis zufolge in ihrer Entscheidungsfindung transparent und damit der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich sein. Zur Öffentlichkeit der Entscheidungsfindung im politischen Zentrum stellen von Beyme und Weßler jedoch fest: „Von den Zentren der Entscheidungspolitik sind die Medien dabei meistens ausgeschlossen. Das gilt für Koalitionsausschussverhandlungen, Kabinettssitzungen, Kanzlergespräche, Spitzengespräche mit wichtigen Verbänden und selbst für die meisten Ausschusssitzungen. In diesen Fällen ist der reine Verlautbarungsjournalismus noch nicht ausgestorben.“12
Die jeweiligen Positionen und Beschlüsse im Verfahren der politischen Entscheidungsfindung werden also in aller Regel durch die Medien veröffentlicht, aber die Verhandlungen selbst finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.13 Darin, dass die staatliche Macht nicht „öffentlich“ ist, sie nicht im Sinne der Aufklärung „sichtbar“ gemacht wurde, macht Danilo Zolo im Anschluss an Norberto Bobbio das schwerwiegendste nicht eingehaltene Versprechen der Demokratie aus.14 Zolo führt an, dass sich im klassisch radikaldemokratischen Verständnis die demokratische Macht jeder unkontrollierten Geheimniskrämerei widersetze. Diesem Verständnis zufolge, stellt das Öffentliche – ganz im Sinne des deliberativen Politikkonzeptes – die konstitutive Regel demokratischer Macht dar.15 In Wirklichkeit strukturieren sich westliche Demokratien jedoch durch einen „doppelten Staat“, wie Zolo anführt: 12 13 14 15
Beyme & Weßler, Prozesse, Dimensionen, Strategien politischer Kommunikation. Politische Kommunikation als Entscheidungskommunikation, S. 315. Vgl. E. Schuett-Wetschky (2001), Auswanderung der Politik aus den Institutionen: Schwächung der Demokratie? Zur Legitimation der Parteiendemokratie, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 11, S. 3-29, S. 21. Vgl. Zolo, Die demokratische Fürstenherrschaft, S. 132f sowie N. Bobbio (1984/1987), The Future of Democracy, Minneapolis, S. 33ff sowie S. 79-97. Im Anschluss an Gerhard Göhler könnte die kommunikativ begründete Prozeduralität der Politik in Anlehnung an die Sprachwissenschaft als „intransitiv“ bezeichnet werden. Göhler führt diese Bezeichnung auf die jeweiligen Bestimmungen von Macht bei Max Weber und
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„(...) doppelt in dem Sinn, dass der sichtbare Staat in den demokratischen Systemen – und nicht nur in den totalitären – mit einem ‚unsichtbaren Staat‘ zusammenlebt. Dieser Bereich des Unsichtbaren stimmt mit den Sektoren staatlicher Steuerung der Wirtschaft und mit dem der Massenkommunikation überein.“16
Dabei macht Zolo neben der staatlichen Steuerung der Wirtschaft gerade auch die mediale Massenkommunikation als einen „unsichtbaren“, „nicht öffentlichen“ Bereich des Staates aus. Er stützt die Behauptung, dass die Massenkommunikation nicht im Sinne der klassischen Demokratietheorien verstanden werden kann, auf ihren asymmetrischen, nicht interaktiven Charakter. Zu Recht führt Zolo außerdem an, dass gerade die elektronischen Technologien die Möglichkeit des systematischen Sammelns und Manipulierens von Informationen derart gesteigert hätten, dass es undenkbar sei, von einer kritisch autonomen Meinungsbildung der Bürger im Sinne der (auch deliberativ) liberal- oder radikaldemokratischen Theorien auszugehen.17 Dies tut Zolo allerdings, ohne entschieden genug auf die auch für die Massenkommunikation bestimmenden systemischen Vorgaben der politischen (sowie ökonomischen) Prozesse moderner Gesellschaften abzustellen. So nehmen die Massenmedien eben, wie oben bereits angeführt, sowohl auf die politische Meinungs- und Willensbildung der Bürger als auch auf die Meinungsbildung der Politiker Einfluss.
16 17
Hannah Arendt zurück. Er beschreibt das intransitive (im Unterschied zum transitiven) Verständnis der Macht, das Arendt vertritt, wie folgt: „Dagegen ist Macht intransitiv, wenn in der sozialen Beziehung keine Einschränkung der Handlungsoptionen erfolgt, diese vielmehr durch Gemeinsamkeit gesteigert oder überhaupt erst ermöglicht werden. ... Intransitive Macht ist das Produkt des Zusammenlebens der Akteure – oder noch genauer: der Sachverhalt des Zusammenhandelns selbst. So entsteht für Hannah Arendt unter dem Stichwort ‚Macht‘ durch das Miteinander-Reden-und-Handeln der Akteure erst der ‚Erscheinungsraum‘ des Menschlichen, das Öffentliche, die Politik.“ G. Göhler (1995), Einleitung, in: G. Göhler (Hg.), Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht, Baden-Baden, S. 7-21, S. 8f. Vgl. auch H. Arendt (1970), Macht und Gewalt, München, S. 45 sowie dies. (1960), Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, S. 193f und M. Weber (1922/1972), Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hrsg. von J. Winckelmann, Tübingen, I, 16, S. 28. Habermas hat auch selbst ausgeführt, inwieweit er in diesem Sinne an Arendts Bestimmung von Macht anknüpft. Vgl. J. Habermas (1976), Hannah Arendts Begriff der Macht, wieder abgedruckt in: ders., Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a. M. 1981, S. 228-248. Zolo, Die demokratische Fürstenherrschaft, S. 132f. Vgl. Zolo, Die demokratische Fürstenherrschaft, S.133 sowie S. 177ff.
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2.3 Soziale Bewegungen In seinen Ausführungen zum deliberativen Politikkonzept führt Habermas auch an, dass es vor allem die informellen Organisationen seien, die eine kommunikative politische Willensbildung gewährleisten. Zu diesen gehört neben den Friedens-, Umwelt- und Frauenrechtsbewegungen heute vor allem die sogenannte „globalisierungskritische Bewegung“. Zu dieser Bewegung wird eine Vielzahl transnationaler und regionaler Bewegungen gezählt, die sich dadurch auszeichnen, dass sie nicht nur politische Einzelforderungen verfolgen, sondern Forderungen aus unterschiedlichen Politikfeldern miteinander verknüpfen.18 Dabei wird in der Regel der Protest gegen eine globale Form des „Neoliberalismus“ als der kleinste gemeinsame Nenner dieser Bewegungen genannt. Sie richten sich damit gegen eine „exklusive, eine auf die globale Finanzwirtschaft beschränkte Entgrenzung der Welt“.19 Die prominenteste globalisierungskritische Bewegung stellt dabei wahrscheinlich die mit der Asienkrise 1997/98 aktiv gewordene Bewegung Attac dar. Inwieweit und in welcher Form (transnationale) soziale Bewegungen jedoch tatsächlich in Habermas’ Sinne kommunikativ bestimmt sind, lässt sich nicht eindeutig sagen. Habermas geht davon aus, dass informelle soziale Bewegungen nicht nur in ihren Anfängen eine Phase der Selbstidentifizierung und der Selbstlegitimierung durchlaufen, sondern auch später, parallel zu ihren zielgerichteten Politiken selbstbezügliche ‚identity politics‘ betreiben und sich so ihrer Identität immer wieder neu vergewissern. Dies lässt sie Habermas zufolge als wahrhaft autochthone Akteure der Öffentlichkeit erscheinen.20 Ein solcher fortlaufender Prozess der Selbstfindung wird der globalisierungskritischen Bewegung Attac durchaus zugeschrieben.21 Geht es aber um die Frage, ob auch die demokratische Qualität dieser Bewegungen als kommunikativ begründet angesehen werden kann, muss es – auch bei informellen politischen Zusammenschlüssen – vor allem um die Frage von deren Organisationsform gehen. Denn auch bei den informellen Bewegungen ist das Problem der Organisation nicht
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Vgl. O. Marchart & R. Weinzierl (2006), Radikale Demokratie und Neue Protestformationen, in: O. Marchart & R. Weinzierl (Hg.), Stand der Bewegung. Protest, Globalisierung, Demokratie – eine Bestandsaufnahme, Münster, S. 7-13, S. 7. Vgl. C. Leggewie (2003), Die Globalisierung und ihre Gegner, München, S. 11. Vgl. Habermas, FuG, S. 454. Vgl. N. Nicoll (2005), Attac Deutschland. Kritik, Stand und Perspektiven, Marburg, insb. S. 45ff.
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von ihrer inhaltlichen Ausrichtung zu trennen.22 Jede Form eines politischen Zusammenschlusses zeichnet sich zunächst dadurch aus, ein Ziel zu verfolgen, das es strategisch umzusetzen gilt.23 Leggewie weist in einer Studie zu einigen Varianten der globalisierungskritischen Bewegung drei Aspekte auf, die deutlich machen, dass die Form des Willensbildungsprozesses (transnationaler) sozialer Bewegungen tatsächlich nicht eindeutig zu klären ist und damit deren kommunikativ begründeter (radikal)demokratischer Anspruch zumindest fragwürdig bleiben muss: – „Erstens wirken NRO >Nichtregierungsorganisationen, I. F.-G.@ zumindest informell an Entscheidungsprozessen mit, ohne sich einer Kontrolle durch die davon Betroffenen zu unterziehen. – Zweitens wird bewegungs- oder organisationsintern unter Mitgliedern und Anhängern selten ein Meinungsbild erstellt, Sprecher von NRO sind in der Regel nicht mit einem Mandat ausgestattet. – Drittens operieren NRO oft ohne Rückbindung an Institutionen, die legiti-merweise mit dem Anspruch auftreten können, als Volksvertretungen den Willen der Gesamtbevölkerung oder als Interessengruppen Teile davon zu vertreten.“24
Auch der (radikal)demokratische Anspruch transnationaler sozialer Bewegungen scheitert demnach im Grunde, wie Leggewie hervorhebt, am Widerspruch zu einer über Macht und Arbeitsteilung bestimmten „Organisations-Wirklichkeit“.25 Eine solche wird jeder politischen Willensbildung vom System der Politik abverlangt. Als das eigentlich entscheidende Argument gegen Habermas’ Argumentieren für soziale Bewegungen muss deshalb aber auch gelten, dass soziale Bewegungen nicht für die politische Willensbildung als solche bestimmend sind. Vielmehr stellen sie im Allgemeinen den „Regel-Ausnahme-Fall“ einer im Rahmen der westlichen Nationalstaaten organisierten parlamentarischen Parteiendemokratie dar.26 Als demokratietheoretisch entscheidend muss dabei gelten, dass sich die sozialen Bewegungen als „Regel-Ausnahme-Fall“ der parlamentarischen Parteiendemokratie normalerweise nicht gegen die Organi-
22 23 24 25 26
Vgl. S. Riedmann (2006), Lasset uns beten ...! MayDay-Mobilisierung zwischen Kultur und Politik, in: O. Marchart & R. Weinzierl (Hg.), Stand der Bewegung. Protest, Globalisierung, Demokratie – eine Bestandsaufnahme, Münster, S. 45-60, S. 51. Vgl. dazu auch J. Schmid & U. Zolleis (2005), Zwischen Anarchie und Strategie. Der Erfolg von Parteiorganisationen, in: J. Schmid & U. Zolleis (Hg.), Zwischen Anarchie und Strategie. Der Erfolg von Parteiorganisationen, Wiesbaden, S. 9-21. Leggewie, Die Globalisierung und ihre Gegner, S. 149. Vgl. ebd. Vgl. B. Guggenberger (1984), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, in: B. Guggenberger & C. Offe (Hg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, S. 184-195, S. 184.
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sationsform der parlamentarischen Parteiendemokratie als solche richten.27 Wie Claus Leggewie herausgearbeitet hat, sind auch die neuen globalisierungskritischen Bewegungen beispielhaft dafür. Dabei zeigt die Geschichte sozialer Bewegungen, dass diese sich, sofern sie sich auf lange Frist im System der Politik behaupten wollen, mit ihren Beiträgen zur politischen Willensbildung stärker in die in den westlichen Demokratien ausgeprägte Organisationsstruktur einfügen müssen; eine Organisationsstruktur, die, wie bereits erwähnt, über die systemische Vorgabe des Machterwerbs und -erhalts bestimmt ist. Die Tatsache, dass die politische Willensbildung durch (im Wesentlichen) in Parteien (und in weitaus geringerem Maße in sozialen Bewegungen) organisierte Interessensstrukturen sowie durch eine massenmedial geprägte Struktur der Öffentlichkeit bestimmt ist, hat so als eine systematische Einsicht für das Verständnis der Politik zur Konsequenz, dass die kommunikative Bestimmung von Politikgehalten als Maßstab für die demokratische Qualität der Politikgehalte hinfällig wird.
2.4 Zum formalisierten Verfahren der parlamentarischen Gesetzgebung Die Feststellung, dass die Politikgehalte nicht kommunikativ bestimmt sind, gilt auch für die politische Willensbildung im formalisierten Verfahren der parlamentarischen Gesetzgebung. Auch die parlamentarische Willensbildung ist nicht an eine im diskursiven Verfahren begründete Form politischer Überzeugung gebunden. Belegt wird dies eindrücklich durch die im parlamentarischen Verfahren immer wieder aufkommende Diskussion um die Fraktionsdisziplin parlamentarischer Abgeordneter. In der neueren Geschichte der Bundesrepublik Deutschland kam eine solche zuletzt bei der anstehenden parlamentarischen Verabschiedung des Reformprogramms Agenda 2010 auf, das die rot-grüne Bundesregierung vorgelegt hatte.28 In krassem Widerspruch zum 27 28
Vgl. ebd., S. 184f. Vgl. M. Geis (2003), Die Wichte und die Wichtigen, in: Die Zeit, Nr. 43, 16. Oktober 2003. Zu einem Abschluss kam die Frage der Fraktionsdisziplin in diesem Zusammenhang erst mit der von Bundeskanzler Gerhard Schröder am 1. Juli 2005 gestellten Vertrauensfrage. Dass sich bei dieser Frage die Fraktionsdisziplin auflöste, ist ein Ereignis, das verdeutlicht, in welchem Maße die Durchsetzung der Fraktionsdisziplin daran gebunden ist, dass die politische Macht in der Demokratie nur auf Zeit verliehen wird. Zu „Macht auf Zeit“ als einem wesentlichen Faktor der Konfliktentspannung im Hinblick auf die Fraktionsdisziplin vgl. J. Dittberner (2003), Freies Mandat und politische Geschlossenheit. Widerspruch oder Ergänzung zweier Prinzipien des Parlamentarismus, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 3, S. 550-564, S. 563.
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deliberativen Verständnis geht es bei der Diskussion um die parlamentarische Fraktionsdisziplin stets darum, die Abgeordneten einer Fraktion zur geschlossenen Abstimmung für eine von der Fraktionsführung vorgegebene politische Entscheidung zu bewegen. Ein Bestreben, das in der Tat im Widerspruch dazu steht, dass jeder Abgeordnete im Parlament aufgrund seiner Wahl durch das Wahlvolk gleiches Stimmrecht hat. Grundlegend für die Diskussion um die Fraktionsdisziplin ist dabei die bereits 1848 im Frankfurter Paulskirchenparlament gemachte Erfahrung, dass es der einzelne Abgeordnete auch im Parlament nicht schafft, sich mit seinen politischen Interessen durchzusetzen.29 Politischen Erfolg können auch die Abgeordneten des Parlaments nur als eine geschlossen agierende Gruppe haben, „und zwar sowohl hinsichtlich der Lösung politischer Probleme und des Erhalts beziehungsweise Erwerbs der Regierungsmacht als auch der Sicherung ihres eigenen Mandats“.30 Ganz anders als im Verständnis deliberativer Politik angenommen, stellt mithin auch im Parlament eine über die Fraktionen begründete Geschlossenheit die Bedingung für politischen Erfolg dar. Eine Einsicht, die sich bis in die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages durchgesetzt hat. So müssen nach § 57 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages alle Vorlagen von Mitgliedern des Bundestages, zu denen Gesetzesentwürfe, Anträge, Große und Kleine Anfragen gehören, von einer Fraktion oder von 5% der Mitglieder des Bundestages unterzeichnet werden.31 Die politische Notwendigkeit, sich zu einer Fraktion zusammenzuschließen, geht dabei bekanntlich so weit, dass die Fraktionsführung versucht, aufsässige Abgeordnete durch formelle und informelle Sanktionen unter Druck zu setzen.32 Gerade einem solchen Fraktionszwang sind allerdings durch das freie Mandat des Abgeordneten rechtliche Grenzen gesetzt.33 Festzuhalten gilt es jedenfalls, dass entgegen dem deliberativen Prinzip kommuni29
30 31 32 33
So geht in Deutschland auch die Entstehung der Fraktionen auf die verfassungsgebende Versammlung der Paulskirche zurück. Vgl. M. Botzenhart (1998), Parlamentarisches System, Fraktionswesen und Parteibildung. Zur politischen Selbstorganisation der bürgerlichen Gesellschaft, in: P. Bahners & G. Roellecke (Hg.), 1848 – Die Erfahrung der Freiheit, Heidelberg, S. 35-48, S. 40f. Vgl. Dittberner, Freies Mandat und politische Geschlossenheit, S. 551. Vgl. W. Demmler (1994), Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, Berlin, S. 23. Vgl. Geis, Die Wichte und die Wichtigen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geht davon aus, dass sich das in Art. 38 GG festgeschriebene Prinzip der Freiheit des Abgeordneten und das aus der Partei kommende Prinzip der Geschlossenheit, das auf die in Art. 21 GG festgeschriebene Parteiendemokratie zurückgeht, einander ergänzen und optimieren. Vgl. C. Arndt (1989), Fraktion und Abgeordneter, in: H.-P- Schneider & W. Zeh (Hg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin, S. 643-672, S. 652 und S. 654.
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kativer Politikbegründung auch der fraktionelle Zusammenschluss der Parlamentarier eine politische Notwendigkeit darstellt.34 Auch diese fraktionelle Form der Organisation politischer Interessen ist der systemischen Logik der Politik geschuldet. In der politikwissenschaftlichen Literatur wird dabei die Möglichkeit, den im Verfahren der parlamentarischen Gesetzgebung herrschenden Druck zur Geschlossenheit realpolitisch umzusetzen, auf die in den Parteien und den parlamentarischen Fraktionen bestehende Personalunion zurückgeführt. So kommen in der Regel die Abgeordneten überhaupt nur über Parteien in die Parlamente.35 Während also die parlamentarische Fraktion Ausdruck einer sowohl hierarchischen als auch arbeitsteiligen Organisationsstruktur im Parlament ist, weisen bekanntlich auch die Parteien selbst eine ausgeprägte Organisationsstruktur auf. Insbesondere seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben die politischen Parteien der westlichen Demokratien, die ursprünglich als eine Form freiheitlicher Zusammenschlüsse konzipiert waren, eine bürokratische Organisationsstruktur entwickelt.36 Einen wesentlichen Punkt in dieser Entwicklung stellt die Einrichtung öffentlicher Parteienfinanzierung dar. Vor allem diese hat die bürokratischen Aspekte der Parteiorganisation verstärkt.37 Bewirkt habe sie dies, wie Zolo schreibt, indem sie „die Macht in den Händen der Parteispitze und der Wahlkreisleitungen konzentriert, den hierarchischen Apparat bezahlter Funktionäre ausweitet, einen wachsenden Bereich der Kompetenz von Experten zugesteht und die einfachen Mitglieder und Basiskämpfer entmachtet“.38 Damit sind aber auch die Annahmen einer im Rahmen der parteipolitischen Organisation kommunikativ begründeten politischen 34
35
36 37 38
Vgl. Schuett-Wetschky, Auswanderung der Politik aus den Institutionen, S. 18f sowie ders. (1984), Grundtypen parlamentarischer Demokratie. Klassisch-altliberaler Typ und Gruppentypen. Unter besonderer Berücksichtigung der Kritik am „Fraktionszwang“, Freiburg. Grundlegend dazu bereits E. Fraenkel (1964/1991), Deutschland und die westlichen Demokratien, Frankfurt a. M., S. 47. Für die gleichwohl anhaltende Diskussion um die demokratietheoretische Bewertung dieser Problematik vgl. etwa J. von Blumenthal (2002), Auswanderung der Politik aus den Institutionen. Replik auf Eberhard Schuett-Wetschky, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 11, S. 3-26. In der Bundesrepublik Deutschland sind 95% der Abgeordneten im Bund und in den Ländern Mitglied einer Partei. „Freie“ Bewerber oder Parteilose finden sich allenfalls noch auf der Ebene kommunikativer Vertretungskörperschaften. Wobei auch diese meist über Wählergemeinschaften oder Bürgerinitiativen in die Gemeinderäte gewählt werden. Vgl. Dittberner, Freies Mandat und politische Geschlossenheit, S. 552. Vgl. Zolo, Die demokratische Fürstenherrschaft, S. 151. Zur Bedeutung der staatlichen Subventionierung der Parteifinanzen für den Wandel der Parteiorganisation vgl. auch K. v. Beyme (2000), Parteien im Wandel. Von den Volksparteien zu den professionalisierten Wählerparteien, Opladen, S. 127ff. Vgl. Zolo, Die demokratische Fürstenherrschaft, S. 152.
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Willensbildung nicht länger haltbar.39 Diesen zufolge muss der demokratische Konsens innerhalb der Organisationskreisläufe der Parteien von der Basis zu den Spitzen verlaufen. In Wirklichkeit folgen die Ströme der politischen Legitimation einer umgekehrten Richtung: „Dank der vertikalen Linien der bürokratischen Macht innerhalb der Parteien wird der Prozess des decision-making a posteriori gerechtfertigt und die Legitimation ist wesentlich stärker an die Mechanismen des politischen Austausches gebunden als an eine rationale Überzeugung, die diskursiv durch die Gegenüberstellung der Meinungen erlangt wird.“40
Dass die Parteien gleichwohl als legitime demokratische Organe gelten können, liegt, wie Zolo ebenfalls anführt, darin begründet, dass sie trotz ihrer weitgehenden Bürokratisierung die rechtliche Struktur einer privaten freien Vereinigung behalten. Als solche stehen sie weiterhin für den Eintritt und die aktive Mitwirkung eines jeden Bürgers offen.
2.5 Das normativistische Problem im deliberativen Verständnis der Politik Schließlich muss eine Kritik der These von der kommunikativen Begründung von Politikgehalten auch der normativen Implikation gewärtig sein, die Habermas der Bestimmung der Kommunikation selbst eingeschrieben hat. Wie in der Auseinandersetzung mit der Diskursethik herausgearbeitet, geht in die Habermas’sche Bestimmung des diskursiven Verfahrens eine materiale Vorgabe ein. Sie liegt in dem entscheidenden Kriterium des Diskursprinzips begründet. So darf, wie erinnerlich, dem Diskursprinzip zufolge nur eine solche Norm Geltung beanspruchen, die die Zustimmung aller an einem praktischen Diskurs beteiligten Betroffenen finden könnte.41 Wie bereits angeführt, setzt damit jede gültige Norm einen Ausgleich der jeweils im Diskurs vertretenen Interessen voraus. Denn nur einem solchen Ausgleich könnten alle, die von der jeweiligen Regelung betroffen sind, auch wirklich zustimmen.42 Wie bereits aus den vorangehenden Ausführungen deutlich geworden sein sollte, sieht sich aber die politische Willensbildung mit systemischen Vorgaben konfrontiert. Diese folgen zum einen dem Interesse der Kapitalakkumulation im 39 40 41 42
Vgl. auch Beyme, Parteien im Wandel, S. 144ff. Zolo, Die demokratische Fürstenherrschaft, S. 155. Vgl. Habermas, Diskursethik, S. 103 sowie oben Kapitel D. Wie bereits angeführt, bedeutet das, dass in der diskursiven Auseinandersetzung nur noch darüber gestritten wird, welche Ansprüche inhaltlich jeweils als gleichberechtigte Ansprüche gelten können.
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System der Ökonomie und zum anderen dem Interesse der Machtgewinnung und des Machterhalts im System der Politik selbst. Es ist ersichtlich, dass in diese Interessen der diskursethische Anspruch, einen allgemeinen diskursiven Interessensausgleich herzustellen, nicht eingeht. Diese Feststellung auf die plane normative Einsicht zurückzuführen, dass die politische Realität stets hinter den normativen Vorgaben einer Diskursethik zurückbleibt, wäre für ein aufgeklärtes Verständnis der Normativität zu kurz gegriffen. Denn das systemische Interesse der Politik, einen Machtgewinn und Machterhalt zu erzielen, ist normativ begründet darin, dass Macht die prozedurale Voraussetzung für die staatliche Steuerungsfähigkeit der Politik darstellt. Dass es die systemische Vorgabe ist, Macht zu erhalten oder zu gewinnen, die für die politische Willensbildung entscheidend ist, und diese normativ darin begründet ist, dass erst der prozedurale Erhalt oder Erwerb von Macht staatliche Handlungs- und Steuerungsfähigkeit gewährleistet, und nicht etwa ein im diskursiven Verfahren begründeter Interessensausgleich, erweist sich beispielhaft daran, dass sich in den westlichen Demokratien der Moderne die Mehrheitsregel als das allgemeine Verfahren demokratischer Entscheidungsfindung etabliert hat. Aus der normativen Perspektive hat sich die Mehrheitsregel als eine „praktikable ‚Notlösung‘“ zur Begründung des demokratischen Verfahrens durchgesetzt, wie Heidrun Abromeit es formuliert.43 Dass sie sich durchgesetzt hat, sei darauf zurückzuführen, dass das Institutionensystem parlamentarischer Mehrheitsherrschaft mit dem Mechanismus des Parteienwettbewerbs die tendenziell gegenläufigen Systemimperative der Politik – auf der einen Seite unparteiisch und auf der anderen Seite steuerungsfähig zu sein – vergleichsweise gut erfülle.44 Dabei beinhaltet die Mehrheitsregel, wie bereits in der Auseinandersetzung mit Habermas’ Darlegungen dazu angeführt, dass die Interessen der entscheidungsberechtigten Minderheit entweder gar nicht oder in nicht gleichberechtigter Form in die jeweiligen politischen Entscheidungen eingehen.45 Bei einer Anwendung der Mehrheitsregel auf mehreren Ebenen nacheinander (wie etwa bei einer über die Mehrheitsregel begründeten Wahl von Parlamentsmitgliedern, die als Repräsentanten des Wahlvolkes dann ihrerseits über die Mehrheitsregel begründete politische Entscheidungen treffen) kann sie darüber hinaus zur Folge haben, dass über die Mehrheitsregel begründete Beschlüsse bloß die Zustimmung einer faktischen Min-
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Vgl. H. Abromeit (1984), Mehrheitsprinzip und Föderalismus, in: B. Guggenberger & C. Offe (Hg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, Opladen, S. 132-147, S. 133. Vgl. Abromeit, Korrektive parlamentarischer Mehrheitsherrschaft, S. 420. Vgl. Kapitel F, Abschnitt 3 und Sartori, Demokratietheorie, S. 140.
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derheit (des im Parlament repräsentierten Wahlvolkes) haben.46 Von einem kommunikativen Verfahren des Interessenausgleichs ist die Mehrheitsregel deshalb, um mit Abromeit zu sprechen, „meilenweit entfernt“.47 Mehr als das: Ein solches auf einer face-to-face Interaktion basierendes Verfahren wird von der Logik eines politischen Systems, das darauf gegründet ist, das systemische Funktionieren des Gesamtsystems der Gesellschaft sicherzustellen, ausgeschlossen. Genau dies zeigt sich aber an der in den westlichen Demokratien etablierten Mehrheitsregel. Sie gründet eben nicht auf dem (transzendentallogisch begründeten) Anspruch eines Interessensausgleichs, sondern wird durch das systemisch orientierte Argument der Entscheidungseffizienz legitimiert.48
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System und Lebenswelt in der Politik
3.1 Das Problem im Verständnis der Gesellschaft Habermas hat die Theorie kommunikativen Handelns zunächst handlungslogisch entwickelt. Auf die Irrealität dieses Konzeptes hat er zwar alsbald selbst hingewiesen.49 Wie aber bereits die Ausführungen zum Gesellschaftsverständnis der Theorie kommunikativen Handelns deutlich gemacht haben, hat er erst im Anschluss an die handlungslogische Grundlegung der Theorie kommunikativen Handelns die beiden Systeme von Politik und Ökonomie in den Entwurf einer allgemeinen Gesellschaftstheorie eingeführt. Mit dem Verweis auf die systemische Verfasstheit dieser Bereiche der Gesellschaft gesteht Habermas zu, dass in ihnen die Handlungen der Gesellschaftsmitglieder nicht über Prozesse der Verständigung, sondern über funktionale Zusammenhänge koordiniert werden.50 Während er also davon ausgeht, dass das kommunikative Handeln in den systemisch verfassten Bereichen der Gesellschaft seiner 46 47 48
49 50
Ausführlich zu dieser Problematik H. J. Varain (1964), Die Bedeutung des Mehrheitsprinzips im Rahmen unserer politischen Ordnung, wieder abgedruckt in: B. Guggenberger & C. Offe (Hg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, Opladen 1984,S. 48-61, insb. S. 51ff. Vgl. Abromeit, Korrektive parlamentarischer Mehrheitsherrschaft, S. 422. Vgl. E. Schuett-Wetschky (1986), Wahlsystem und politisches System in der parlamentarischen Demokratie, in: Politische Bildung 19, S. 3-17, S. 4; C. Offe (1984), Politische Legitimation durch Mehrheitsentscheidungen?, in: B. Guggenberger & C. Offe (Hg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, Opladen, S. 150-183. Offe führt drei Aspekte an, die die Mehrheitsregel als effiziente Entscheidungsregel ausweisen: geringe zeitliche Kosten der Entscheidungen, vergleichsweise hohe Qualität der Entscheidungen sowie hoher Anerkennungsgrad der Entscheidungen. Vgl. ebd., S. 152ff. Vgl. Habermas, Diskursethik, S. 102; Ders., Wahrheitstheorien, S. 174ff; Ders., FuG, S. 392f. Vgl. Habermas, TdkH, Bd. 2, S. 225f.
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Geltung enthoben ist, besteht er gleichwohl darauf, dass auch die systemisch verfassten Bereiche der Gesellschaft der Lebenswelt und deren über das kommunikative Handeln bestimmten Normativität verhaftet bleiben. Eben dies versucht er zunächst in einem zweistufigen Gesellschaftskonzept sowie später auch in den Bestimmungen eines zweigleisig angelegten Politikkonzeptes darzulegen. Dabei muss es jedoch zunächst einmal darum gehen, deutlich zu machen, dass mit Habermas’ Zugeständnis, die Systeme der Politik und Ökonomie dem kommunikativen Handeln entzogen zu sehen, so gut wie alle bedeutenden Prozesse in der Gesellschaft dem kommunikativen Handeln entzogen sind. Unterworfen bleiben ihm lediglich die vorgelagerten Prozesse der Gesellschaft. Als Beispiele hierfür können die Familie und die Wissenschaft angeführt werden. So ist etwa in den dichten Interaktionen der Familie sowie in den kleinen Gemeinschaften des täglichen Lebens kommunikatives Handeln angesagt. Die Gesellschaft selbst, die durch die Ordnungsformen von Ökonomie, Politik und Recht bestimmt ist, ist hingegen systemisch verfasst. Als das grundlegende Problem, das sich einer Gesellschaftstheorie stellt, wurde so bereits in den Ausführungen zur Gesellschaftskonzeption der „Theorie des kommunikativen Handelns“ deutlich, dass Habermas nicht klar zu machen weiß, wie die Systeme der Gesellschaft an die über das kommunikative Handeln bestimmte Lebenswelt rückgebunden sein sollen. Um dieses Problem zu klären, ist es notwendig, zu fragen, was Habermas eigentlich meint, wenn es um Ökonomie geht und was, wenn es um Politik geht. Mit anderen Worten, die Kritik der Theorie kommunikativen Handelns fußt auf einer Bestimmung dessen, wie eigentlich die systemische Verfassung von Ökonomie und Politik zu verstehen ist. Dabei legt der Verdacht, dass das System der Politik und das der Ökonomie von einer je spezifischen Eigenlogik bestimmt ist, die These nahe, dass es nicht nur Habermas ist, der nicht zu sagen weiß, wie die Rückbindung dieser systemisch verfassten Bereiche der Gesellschaft an die über das kommunikative Handeln bestimmte Normativität der Lebenswelt zu verstehen ist. Vielmehr scheint der Blick auf die innere Organisation der Systeme Inkompatibilitäten mit einer über das kommunikative Handeln bestimmten Lebenswelt aufzuweisen, die eine Rückbindung der systemisch verfassten Bereiche an die über das kommunikative Handeln bestimmte Normativität der Lebenswelt tatsächlich unmöglich macht. Die These von der Inkompatibilität der systemischen und der lebensweltlichen Logiken lässt sich erhärten. In einem ersten Schritt soll dies durch einen Blick auf die systemische Verfasstheit der Ökonomie geschehen.
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3.2 Das ökonomische System Das ökonomische System ist seiner inneren Logik nach auf das Prinzip der Gewinnerzielung oder auch -steigerung fixiert. Die grundlegende Feststellung ist, dass innerhalb des Systems der Ökonomie alle sozialen Austauschprozesse davon bestimmt werden, Geld zu erwerben. Geld ist für alle Mitglieder einer Marktgesellschaft das Mittel, sich die Subsistenzen des eigenen Daseins zu sichern. Das marktbestimmende Interesse, Geld zu erwerben, verfolgt jeder der Marktteilnehmer für sich selbst. Über die Interessen der anderen braucht sich der jeweilige Marktteilnehmer dabei nur insoweit Gedanken zu machen, als sie sein eigenes Interesse berühren. Dabei ist die entscheidende Einsicht, dass sich der einzelne Marktteilnehmer nicht nur keine Gedanken um den anderen auf dem Markt zu machen braucht, er kann es nicht einmal. Denn die von der modernen Ökonomik herausgearbeitete Tatsache, dass die Funktionalität des Marktes über den über Angebot und Nachfrage bestimmten Preisbildungsprozess bestimmt ist, bedeutet, dass es nicht im Belieben der Akteure steht, diesem Code der Funktionalität zu folgen oder nicht zu folgen.51 Dass alle Austauschprozesse innerhalb des Systems von der Dominanz des Kapitalinteresses bestimmt werden, gilt auch für die Prozesse auf dem Arbeitsmarkt. Dabei könnte man meinen, dass am ehesten hier, auf dem Arbeitsmarkt, ein lebensweltliches Moment der kommunikativen Normativität in die vertraglichen Regelungen einginge. Immerhin geht es für den Arbeitnehmer beim Abschluss eines Arbeitsvertrags um die Sicherung seines Daseins. Der Vertrag bestimmt den Umfang des Gelderwerbs des Arbeitnehmers und damit die Basis seiner gesamten Lebensführung. Man könnte also meinen, das Interesse der Arbeitnehmer, durch den Lohn ein gedeihliches Auskommen zu finden, werde kommunikativ ausgehandelt und somit letztlich doch von einer apriorischen Normativität bestimmt. Jedoch lässt sich dies weder anhand der Geschichte der Marktgesellschaft noch anhand der gegenwärtigen marktwirtschaftlichen Prozesse bestätigen. Vielmehr ist auch in der Gegenwart allein das Interesse der Kapitalakkumulation für die Regulierung der arbeitsvertraglichen Beziehungen bestimmend. So richtet sich der Arbeitsvertrag an dem aus, was unter den Bedingungen der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt erreichbar ist. Herrscht ein Überangebot an Arbeitskräften, sinkt die Entlohnung 51
Daraus, dass es nicht das autonome Interesse des Einzelnen ist, das den Marktprozess bestimmt, leitet die moderne Ökonomik ab, dass allein die aus diesem Prozess entstehende Verteilung als gerecht anzusehen sei. Vgl. F. A. von Hayek (1973-9/2003), Recht, Gesetz und Freiheit. Eine Neufassung der liberalen Grundsätze der Gerechtigkeit und der politischen Ökonomie, Tübingen, insb. Kap. 8 und 9.
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der Arbeit ab. Dabei tendiert die Entlohnung in den Niedriglohngruppen stets dazu, bis unter das Existenzminimum abzusinken. Sinkt der Lohn unter das Existenzminimum ab, werden auch die Kosten der Reproduktion der Arbeitskraft unterschritten. Wie bereits angeführt, werden solche durch die systemische Logik der Ökonomie auftretenden Ausfälle gegenwärtig noch durch sozial- oder wohlfahrtsstaatliche Leistungen aufgefangen. Die Pointe an den Ausführungen zum System der Ökonomie ist, dass Systeme überhaupt erst durch ihre spezifische Logik zu Systemen werden. Und die Logik des Systems kennt keine anderen Strategien, als die, die die Logik des Systems bestimmen. Eben deshalb ist es nicht denkbar, dass das kommunikative Handeln in die systemische Prozessualität der Ökonomie Eingang findet. Die eingangs gegen Habermas’ Konzeption vorgebrachte These lässt sich vielmehr noch einmal erhärten: Gelingt es, andere Interessen als die der Kapitalakkumulation in das ökonomische System einzubringen, kann dies nicht etwa darauf zurückgeführt werden, dass die Interessenten ihre Interessen in einem kommunikativen Prozess mit der Unternehmerseite einzubringen gewusst hätten – einem kommunikativen Prozess, der unter der apriorischen Vorgabe des Interessenausgleichs steht. Vielmehr wäre dies im gegebenen Fall allein darauf zurückzuführen, dass die Interessenten ein Handlungs- und Machtpotential für sich haben aufbieten können, das die Unternehmerseite gezwungen hat, ihren Interessen Rechnung zu tragen.
3.3 Das System der Politik Die Frage, wie es mit der Rückbindung der systemischen Prozesse an die über das kommunikative Handeln bestimmte Normativität der Lebenswelt steht, stellt sich auch mit Bezug auf das System der Politik. Es zeigt sich, dass dieses gleich unter zwei systemischen Anforderungen steht. Dies sind zum einen die Anforderungen des ökonomischen Systems und zum anderen die Anforderungen des über Machtprozesse bestimmten Systems der Politik selbst. Wie bereits angeführt, fällt der Politik im Rahmen des Funktionserhalts der Gesamtgesellschaft auch die Aufgabe zu, die Funktionserfordernisse des ökonomischen Systems sicherzustellen. Sie übernimmt Zulieferer- und Steuerungsleistungen für das ökonomische System. Dazu muss sich die Politik in den Grenzen des ökonomischen Systems bewegen. Wie oben bereits herausgearbeitet, macht dies aber die Rückkoppelung an die Normativität des kommunikativen Handelns unmöglich. Denn es ist schlechterdings nicht ersicht-
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lich, wie innerhalb der Logik der Kapitalakkumulation normativ begründete Interventionen zur Geltung gebracht werden könnten. Weil das ökonomische System einzig über die Logik der Kapitalakkumulation bestimmt ist, erbringt es aus sich heraus nur solche Leistungen, die für es selbst funktional sind. So geht es bei der marktwirtschaftlichen Produktion von Gütern bekanntlich um den Absatz des je eigenen Gutes – im Wettbewerb mit einem mit diesem Gut konkurrierenden anderen Gut. Wettbewerbsfähig ist ein Produkt dabei dann, wenn es möglichst kostengünstig hergestellt wird. Damit ist dies, die über den Kostenfaktor begründete Wettbewerbsfähigkeit eines Gutes – und nicht etwa das Wohlbefinden des jeweiligen Käufers – für die Herstellung des Gutes bestimmend. Im Marktprozess tritt der Käufer mithin keineswegs im Sinne Kants als „Zweck in sich selbst“ in Erscheinung, sondern eben „bloß als Mittel“ zum Zweck der Absatzsteigerung.52 Die darin angedeutete moralische Problematik verdeutlicht sich ferner darin, dass die Maxime der kostengünstigen Produktion zur Folge hat, dass für den Absatz nicht notwendige Ausstattungen genau so lange unterbleiben, wie sie nur Kosten und keine Absatzsteigerung verursachen. Das betrifft in aller Regel Umweltfaktoren sowie vor allem auch gesundheitliche Faktoren.53 Interessen wie die gesundheitlichen Interessen der Käufer treten solange nicht in den Horizont der marktwirtschaftlichen Produktion, wie sie nicht selbst zu einem Kostenfaktor werden. Während dabei zwar auch diese Interessen über das Kaufverhalten der Konsumenten dem ökonomischen System vermittelt werden können, haben Schadensersatzforderungen eine deutlich nachhaltigere Wirkung.54 Geht es also 52 53
54
Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 61. Ein aktuelles Beispiel hierfür stellt der technisch seit langem mögliche Einbau von Rußfiltern in Dieselmotoren dar, der jedoch aus Kostengründen von deutschen Automobilherstellern lange verzögert wurde. Aus einer vom Umweltbundesamt im Jahre 2003 in Auftrag gegebenen Studie geht hervor, dass jährlich 14.000 Menschen in Deutschland an der Folge von verkehrsbedingten Rußpartikelemissionen sterben. Das sind doppelt so viele Todesfälle wie im Jahre 2002 durch Verkehrsunfälle zu beklagen waren. Vgl. D. H. Lamperter (2005), Staubig, in: Die Zeit, Nr. 14, 31. März 2005. Informationen der Deutschen Umwelthilfe (DHU) zufolge hatte sich gleichwohl bis vor kurzem im VW-Konzern eine Linie durchgesetzt, wonach es für das Unternehmen per Saldo günstiger sei, wenn die Filter in Deutschland nicht (durch steuerliche Begünstigungen) gefördert würden. Siehe „Diesel mit Rußfiltern sofort steuerlich fördern“ (31.1.2005); Text unter: http://www.nabu.de. So kam neben den Aktivitäten des Aktionsbündnisses „Kein Diesel ohne Filter“ auch dadurch Bewegung in die Auseinandersetzung um die staatliche Förderung des Einbaus von Rußfiltern, dass laut einer Aussage des Verkehrsexperten des Bundes für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND) im Jahre 2005 von betroffenen Anwohnern in Belastungszonen in mehreren Anwaltskanzleien Klagen gegen die Gefährdung ihrer Gesundheit vorbereitet wurden. Siehe „Diesel mit Rußfiltern sofort steuerlich fördern“ (31.1.2005); Text unter: http://www.nabu.de.
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darum, ob das auf die ökonomischen Verhältnisse hin ausgerichtete Handeln der Politik auf eine über das kommunikative Handeln bestimmte Normativität zurückgeführt werden kann, muss dies mit dem Hinweis auf die Einsicht in die Logik des ökonomischen Systems zurückgewiesen werden. Das ökonomische System bleibt stets seiner eigenen Funktionalität verhaftet; es reagiert nur auf solche Umstände oder auf solche von der Politik gestellten Anforderungen, bei denen „es sich rechnet“, diesen nachzukommen. Das heißt aber, dass es nicht nur nicht gelingt, über die Politik die Normativität kommunikativen Handelns in das System der Ökonomie einzubringen; vielmehr zwingt das ökonomische System unweigerlich auch dem System der Politik seine eigene Logik auf. Die Logik des ökonomischen Systems wird so für das gesamte System der Gesellschaft bestimmend: „Systemisch, das muss man sehen, durchdringt der Code im System der kapitalistischen Marktgesellschaft das gesamte System.“55
Dass der Code im System der kapitalistischen Marktgesellschaft das gesamte System der Gesellschaft durchdringt, wird eindrücklich durch die ökonomische Theorie selbst zum Ausdruck gebracht. Auch sie lässt die über den Wettbewerb bestimmte marktwirtschaftliche Prozessualität für die moderne Gesellschaftsform bestimmend sein, schreibt ihr dabei allerdings – im Sinne des klassisch naturalistischen Fehlschlusses – eine normativ begründete konstitutive Bedeutung zu. Damit verkürzt die ökonomische Theorie die normative Problematik des politischen Handelns auf ein an der Funktionalität des Marktes orientiertes Handeln.56 Die Gesellschaft soll demnach sein, was der Markt sie sein lässt.57 Die Politik kann aber dem ökonomischen System von außen her Bedingungen setzen und Grenzen ziehen. Das beinhaltet, dass die Frage der politischen Handlungsorientierung, anders als die ökonomische Theorie meint, über die bloße Orientierung an der Funktionalität des Marktes hinausgeht. So zielen insbesondere die sozialstaatlichen Anforderungen darauf ab, dem ökonomischen Prinzip Grenzen zu ziehen. Wie bereits angedeutet, sind diese Anforderungen dadurch normativ begründet, dass das System der Ökonomie selbst keine Garantie dafür übernimmt, dass jedes Gesellschaftsmitglied in einer solchen Form in die Prozessualität des Marktes integriert wird, dass ihm ein 55 56 57
Dux, Die Moral in der prozessualen Logik der Moderne, S. 268. Vgl. V. Vanberg (2001), Konstitutionenökonomische Überlegungen zum Konzept der Wettbewerbsfreiheit, in: ORDO – Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 52, S. 37-62. Vgl. Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit.
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gedeihliches Auskommen in der Gesellschaft gesichert ist.58 Allerdings stehen gerade diese, dem Funktionserhalt des Gesamtsystems geschuldeten Steuerungsimperative der Politik, unter dem Einfluss des politischen Systems selbst. Obgleich also – anders als im System der Ökonomie, wo nur die untergebracht sind, die mithalten können – das Ganze der Gesellschaft tatsächlich eine Funktionseinheit des Systems der Politik darstellt und das Ganze der Gesellschaft deshalb auch eine Leitfunktion für das politische Handeln behält, ist das System der Politik selbst von Machtprozessen bestimmt – und nicht etwa von kommunikativem Handeln. So ist Macht, wie Niklas Luhmann dargelegt hat, das Medium, durch das sich das politische System im demokratischen Verfahren überhaupt erst formiert.59 Wie oben bereits angeführt, ist dabei das demokratische Verfahren selbst in aller Regel über die Mehrheitsregel bestimmt. Die sich ändernden Interessengruppierungen, die das Ergebnis des demokratischen Verfahrens bestimmen, führen zwar dazu, dass das Handeln der Politiker nicht allein dem Verfolg ihrer je eigenen Interessen zugerechnet werden kann; vielmehr fließt aufgrund des demokratischen Verfahrens in das Interesse der Politiker – einen Machtgewinn oder -erhalt zu erzielen – strukturnotwendig immer auch das Interesse ihrer Wähler ein.60 Das System der Politik selbst verschafft sich jedoch erst durch Macht seine eigenen prozeduralen Voraussetzungen. Die Politik erwirbt erst durch Macht staatliche Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit. Gleichzeitig ist dabei Macht auch das Medium, durch das sich das Verhältnis des Staates den Bürgern gegenüber gestaltet. Auch in der Moderne sind die Bürger deshalb der Gestaltungshoheit des Staates unterworfen.61 Dass auch die Politik über eine spezifische systemische Logik bestimmt ist, bedeutet so aber in jedem Fall, dass auch im Kontext der staatlichen Steuerungsfähigkeit nicht ersichtlich ist, wie eine Rückbindung des über Macht bestimmten Systems der Politik an die Normativität des kommunikativen Handelns möglich sein soll.
58
59 60 61
Ein gedeihliches Auskommen ist dann gesichert, wenn sich das Gesellschaftsmitglied auf dem Niveau der Gesellschaft bewegen und deren Errungenschaften in Anspruch nehmen kann. Zur normativen Grundlage des Sozialstaates vgl. Dux, Die Moral in der prozessualen Logik der Moderne, S. 270f. Vgl. N. Luhmann (2002), Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a. M., S. 18ff. Vgl. etwa Varain, Die Bedeutung des Mehrheitsprinzips, S. 55f. Vgl. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 18.
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Das System des Rechts
Einen wesentlichen Bestandteil der deliberativen Theorie der Demokratie, durch den Habermas das Problem der Komplexität moderner Gesellschaften angeht, bildet das Rechtsverständnis. So meint Habermas, wie bereits angeführt, dass angenommen werden könne, in der modernen Gesellschaft werde eine durch das kommunikative Handeln auftretende Überforderung der Subjekte durch das Recht aufgefangen. Dabei sind die Vorstellungen vom Recht, die Habermas im deliberativen Konzept demokratischer Gesellschaftsformen entwickelt, bipolar. Er geht zum einen davon aus, dass das Recht unter den komplexen Bedingungen der Moderne überhaupt erst die Voraussetzung für die Entfaltung der Verfahrensform einer diskursiven Willensbildung schaffe. Erst eine rechtsstaatliche Verfassung könne, so Habermas’ Annahme, eine allgemeine politische Willensbildung in der Form des kommunikativen Handelns gewährleisten. Wie im vorangegangenen Kapitel angeführt, wirft er, eben dies nicht zu sehen, solchen Bestimmungen eines deliberativen Politikbegriffs vor, die sich nicht „energisch genug von der Idee einer im ganzen deliberativ gesteuerten und insofern politisch konstituierten Gesellschaft“ gelöst haben.62 Solche Vorstellungen unterschätzen Habermas zufolge die Komplexität moderner Gesellschaften. Unter den komplexen Voraussetzungen der Gesellschaft sei die rechtliche, i. e. verfassungsmäßige Institutionalisierung eines demokratischen Verfahrens die notwendige Voraussetzung für eine Politik, in der sich die normativen Prinzipien des kommunikativen Handelns entfalten. Eben dies ist Habermas’ rechtsstaatliche Grundannahme.63 Zum anderen geht Habermas zwar zu Recht davon aus, dass die Bestimmung des Rechts in den Prozessen einer politischen Willensbildung erfolgt. Als solches ist das Recht auch als Ausdruck dafür zu verstehen, dass die Verfassung der Gesellschaft einem intentionalen Verfahren der Organisation unterworfen wird: „Das Recht stellt als Konstruktion einer schon konstruierten Gesellschaft das Medium der politischen Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung dar.“64
Allerdings meint Habermas, auch die Rechtsbildung erfolge in einer Form der politischen Willensbildung, deren Rückbindung an die Lebenswelt die über das kommunikative Handeln bestimmte Normativität auch für die Rechtsbil62 63 64
Vgl. Habermas, FuG, S. 369. Vgl. ebd., S. 166ff. Dux, Die Moral in der prozessualen Logik der Moderne, S. 276.
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dung bestimmend sein lasse. So liegt in der Annahme, deutlich gemacht zu haben, dass es zum einen die verfassungsmäßige Institutionalisierung des Rechts und zum anderen die in der politischen Willensbildung begründete kommunikative Prozeduralität des Rechts ist, die die Sollgeltung rechtlicher Regelungen begründet, die vermeintliche Pointe des von Habermas vorgestellten demokratischen Konzeptes.65 An einem solchen in zweifacher Hinsicht über die Normativität des kommunikativen Handelns begründeten Rechtsverständnis muss auch die Kritik zweifach ansetzen. So gilt es zunächst, zu sehen, dass die Rechtsbildung immer schon mit der gesellschaftlichen Verfassung in ihren systemischen Ausprägungen konfrontiert ist; in der Moderne findet die Rechtsbildung die gesellschaftliche Verfassung in ihrer systemischen Ausprägung, insbesondere in der systemischen Ausprägung der Ökonomie, immer schon vor. Wie die Ausführungen zur Logik der Systeme bereits deutlich gemacht haben, ist es deshalb aber ganz undenkbar, dass sich im Recht, das regulierend in die über die Systeme bestimmte Verfassung der Gesellschaft einzugreifen sucht, die Gestaltungskraft der normativen Prinzipien des kommunikativen Handelns entfalten können. So ist es einerseits die systemische Verfassung der Gesellschaft, die im Recht zum Objekt der Gestaltung wird, andererseits ist sie es auch, die die entscheidenden Anforderungen an die Rechtsbildung stellt. Dabei ist das Ausmaß, in dem die Verhältnisse der rechtlichen Gestaltung zugänglich sind, je nach Regelungsmaterie unterschiedlich; es ist im Umweltrecht ein anderes als im Zivilrecht. Ist es etwa einerseits die Voraussetzung einer rechtlichen Regelung, die zivilrechtlichen Normierungen des Handelns auf dem Markt zu berücksichtigen, bleibt es andererseits die ökonomische Praxis, die in dem jeweiligen richterlichen Urteilsspruch (oder in der Gesetzgebung) – in normativ verarbeiteter Form – wiederkehrt. Was es in der Auseinandersetzung mit dem deliberativen Konzept vor allem deutlich zu machen gilt, ist, dass der Gesetzgeber die Verhältnisse notwendigerweise in Blick auf diese gestaltet, auf andere Verhältnisse also, als wenn sich Subjekte zueinander verhalten, die sich einander moralisch verpflichtet wissen, wie dies im kommunikativen Verfahren der Fall ist. In zweiter Hinsicht geht es in der Auseinandersetzung mit dem deliberativen Rechtsverständnis um die Frage, ob die rechtsstaatliche Institutionalisierung eines demokratischen Verfahrens in den komplexen Strukturen der modernen Gesellschaftsform tatsächlich eine Entfaltung kommunikativen Handelns gewährleistet, dessen Normativität damit zugleich die Rechtsbildung 65
Vgl. Habermas, Volkssouveränität als Verfahren, S. 626.
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wie vor allem auch die Rechtsgeltung bestimmt, wie Habermas meint. Wie bereits verschiedentlich erwähnt, meint Habermas, dass die Bestimmung des Rechts in Prozessen einer politischen Willensbildung erfolge, in der sich die normativen Garantien des kommunikativen Handelns verwirklichen. Mit Bezug auf diese Annahme kehren jedoch alle Bedenken wieder, die bereits bei der Erörterung der Gestaltungshoheit der Politik angeführt wurden. So muss, ganz anders als Habermas meint, auch das Recht aus den Determinanten heraus verstanden werden, denen die Gestaltungshoheit der Politik unterworfen ist. Die Politik steht dabei, wie im letzten Abschnitt dargetan, sowohl unter den systemischen Zwängen der Ökonomie als auch der Politik selbst. Diese Zwänge übertragen sich auch auf das Recht, dessen Bestimmung in den Prozessen der politischen Willensbildung erfolgt. Auch das Recht ist somit daran gebunden, die Funktionserfordernisse des ökonomischen Systems sicherzustellen. Und auch das Recht ist mit seinen Gestaltungsmöglichkeiten an die systemischen Prozesse der Macht gebunden. Zusammenfassend bedeutet dies, dass das Recht, ganz anders als im deliberativen Konzept der Demokratie angenommen, weder von seiner Regelungsmaterie her, die sich aus der systemischen Verfassung der Gesellschaft ergibt, noch von seiner Gestaltungshoheit her, die an die Zwänge der systemischen Prozessualität gebunden ist, die Manifestation des kommunikativen Handelns in seiner prozeduralisierten Form ist oder sein kann.
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