KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
GÖTZ
HEFTE
WEIHMANN
SCHLUCHTEN — BUCHT...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
GÖTZ
HEFTE
WEIHMANN
SCHLUCHTEN — BUCHTEN EINSAMKEIT
V E R L A G S E B A S T I A N LUX MURNAU
•
MÜNCHEN
•
I N N S B R U C K • ÖLTEN
Erwartungsvolle Anreise Wir stehen an Deck der „Commandant Quere". Es ist Nacht. Hinter uns, im Norden, rücken die tausend und aber tausend Lichter von Nizza in immer weitere Ferne. Der Leuchtturm von Cap Ferrat blinkt uns noch eine Weile seinen Gruß herüber. Dann ist auch dieses letzte Zeichen von Geborgenheit hinter dem Horizont versunken. Eine viertel, eine halbe Stunde ist vollkommene Dunkelheit um uns, und nur die gischtende Bugwelle vor dem 8000 -Tonnen-Dampfer läßt uns die Kraft erkennen, mit der wir durch das Wasser pflügen. Da — eine jähe Lichterscheinung, diesmal in der anderen Himmelsrichtung: Ein Gewitter zieht von Süden herauf. Es wird kühl, und bald fallen die ersten Tropfen. Zeit, die Kojen aufzusuchen und den Rest der Nacht zu verschlafen. Morgen werden wir unsere Kräfte brauchen! Das Stampfen der Maschinen und das leichte Rollen des Schiffes wiegen uns in Schlaf . . .
* „Cinque heures, Messieurs! Levez, s'il vous plait!" Das ist der Steward, der uns auftragsgemäß punkt fünf Uhr weckt. Eine ungewohnt frühe Stunde auf diesem Schiff! Die anderen Passagiere warten mit dem Aufstehen bis zur letzten Minute. Wir aber wollen es erleben, wenn das Ziel unserer Fahrt in Sicht , _ kommt, wenn es näher und höher über den Horizont steigt und schließlich in seinen Einzelheiten erkennbar wird. Rasch also fertiggemacht und aus dem Baue-h des Dampfers auf Deck geklettert — über Stufen, Gepäckberge, Leitern, durch scharfkantige Schottüren, schal riechende Restaurationsräume und vorbei an dämpfenden Ventilationsschächten! Eine arge Enttäuschung erwartet uns: kein strahlender Morgen, keine duftigen, warmen Farben, wie sie sonst von der frühen Mittelmeersonne hervorgezaubert werden — verhangen ist der Him-
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mel, unheimlich düster das Wasser, und ein feiner Nieselregen hängt um das Schiff. Es ist, als wichen die grauen Schleier nur unwillig dem Druck des vorwärtsschiebenden Schiffsrumpfes. Wieder postieren wir uns ganz vorn am Bug der „Commandant Quere", dort, wo man am ehesten das Spiel von Wasser und Wellen beobachten kann und — wo man dem Ziel am nächsten ist. Diesmal sind wir nicht allein. Ein alter Mann mit weißgrauem Kinnbart steht bereits an der Reling und schaut unverwandt schiffvoraus. Es scheint, als stehe er schon Stunden hier, und auch unser Kommen bringt ihn nicht in Bewegung. Fünf Uhr dreißig. Kalt ist es, ungewohnt kalt für diese Breitengrade ! Aber ein klein wenig lichter ist. es geworden. Da und dort reißt der Regen Vorhang auf. Wird die Sonne es schaffen? Das Ziel jedenfalls rückt von Minute zu Minute näher, und nicht mehr lange kann es dauern, bis . . . ' In diesem Augenblick richtet sich der bärtige Alte neben uns zu voller Größe auf, weist mit beiden Händen in Richtung auf einen uns noch unsichtbaren Punkt und ruft leidenschaftlich erregt, die Worte wie Meilenstein,e setzend: „Voilä, c'est la Corse!" Es ist seine Heimat, die er nach Jahrzehnten wiedersieht. Und dann sehen auch wir es, das langgestreckte, graue Etwas, noch immer von Regennebeln verschleiert: Korsika, das Felscneiland im Mittelmeer, ,,1'Ile de Beaute", die Insel der Schönheit... . . . Insel der Schönheit? So, wie sie sich uns jetzt darbietet, möchten wir sie eher ,,1'Ile de Tristesse" taufen, die Insel der Traurigkeit: Wie der Rücken eines riesigen Walrosses hebt sich das Eiland aus den Fluten des Mittelmeeres. Nichts von Farbigkeit, nichts von Lieblichkeit — nichts von dem, was man wohl von einer „Insel der Schönheit" erwartet. Wie mögen sie darauf gekommen sein, sie so zu nennen? Nun, wir sollten es noch erfahren.
* Das Schiff ist erwacht. Aus allen Treppenluken quillt es an Deck. Kontinentfranzosen, Korsen, T o u r i s t e n . . . Zu Bergen türmt sich
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das Gepäck in den schmalen Durchgängen zwischen Reling und Kajüträumen. Ankunftsstimmung . . . Der Dampfer macht eine Schwenkung und hält direkt auf die Hafeneinfahrt zu. B a s t i a , der wirtschaftlich bedeutendste Platz Korsikas, liegt in voller Breite vor uns. Diese Hafeneinfahrt hat kein Hinterland; gleich über den letzten Häusern steigt die Insel steil an. Die Felshänge sind von tiefdunkelgrünem Baum- und Strauchwerk überwuchert, das schier undurchdringlich erscheint. Gegen solch eine Kulisse sinkt die menschliche Siedlung für das Auge fast zur Bedeutungslosigkeit herab. Die Natur ist hier allgewaltig — das ist der erste Eindruck des in Bastia an Land gehenden Reisenden. Und fast möchte man fürchten, daß kein Weg ins Innere dieses urweltlich anmutenden Bergmassivs führt, wenn einen nicht die Landkarte eines Besseren belehrte. Der Regen hat aufgehört, die Sicht ist halbwegs klar geworden. Unser Dampfer macht nur noch wenig Fahrt. Kerzengerade sticht er in die schmale Hafeneinfahrt hinein. Das Hafenbecken ist ziemlich eng — zumindest für ein solches Schiff. Wie will da der Kapitän die Steuerbordseite gegen den backbords gelegenen Kai bringen — eine 180-Grad-Wendung auf diesem Teich? Das Geheimnis liegt in einer knallrot angestrichenen Riesentonne, die inmitten des Hafenbeckens verankert ist und im sanften Wellenschlag vor sich hindümpelt. Eben hält eine Barkasse auf uns zu. Man wirft dem Mann darin von Deck des „Commandant Quere" eine Stahltrosse zu, er packt sie, tuckert mit seinem Bootchen zu der roten Tonne und hängt dort unsere Trosse ein. Jetzt ist das hohle Schaukelding einen Steinwurf weit backbords von uns, aber schon nimmt die Entfernung wieder zu, die Trosse strafft sich, die Tonne neigt sich mit ihrem Kopf zu uns herüber, ächzt ein bißchen — und jetzt wird sie zum Drehpunkt für das ganze 8000-Tonnen-Schiff! Langsam, aber unaufhaltsam treiben wir bei gestoppten Maschinen im Kreis herum, und mit dem letzten Schwung legt sich die „Commandant Q u e r e " mit ihrer Steuer4
Di« ganze KOste entlang stehen noch die alten genuesischen WachttOrme die einst die Insel gegen Seeräuber schützten
bordseite auf den Zentimeter genau gegen den Kai. Das war Maßarbeit! Mit hundertfach geübtem Griff werden die Gangways — die Laufstege — hinaus- und hinuntergeschoben, man öffnet die Barrieren und Sperrketten, und dann stürzt die Flut über unseren Dampfer: Dutzende von Männern jagen, sich gegenseitig stoßend und überholend, den schmalen Laufgang zu uns herauf, quellen über die Decks und ergießen sich ins Innere des Schiffes. „Portern-, porteur!" — „Porteur, Monsieur?" — „Bagage, bagage!" — „Wollen Sie Trägerrr? Koffärr?" — „Porteur, %'il vous plait!" Nein, unser Gepäck können wir noch allein bewältigen. Unsere Hauptsorge gilt dem Auto, das eben mit dem Ladebaum an Land gehievt wird. Aber alles geht glatt. Wir tasten uns die lattenbenagelte Gangway hinunter und — ja, und nun erst sind wir so richtig „gelandet". Ein großes Abenteuer steht uns bevor: das Abenteuer Korsika.
Der Fels Ja, Korsika ist für den Bürger des zivilisierten, durchorganisierten Mitteleuropa ein Abenteuer. Gewiß, es hat nicht die Weiträumigkeit Spaniens, nicht die Lieblichkeit Hollands, nicht die Kultur des festländischen Frankreichs,«nicht die Kunstreize Italiens — es hat „ n u r " Natur, Urwüchsigkeit, Ursprünglichkeit. Man kann dort nicht von Hotel zu Hotel reisen, nicht von Kathedrale zu Kathedrale eilen, nicht in Gotik, Barock oder Romantik schwelgen; man kann keine Königsschlösser besichtigen, keine Aquädukte, Amphitheater oder auch nur moderne Bahnhöfe bewundern. Korsika — das ist Steilküste, Wald, Felsenschlucht; das ist halbverfallenes Hafenviertel, schmaler Eselspfad, versteckt gelegene Kultstätte. Korsika, das ist Urnatur . . .
• 8778 Quadratkilometer mißt dieses Eiland und ist damit die viertgrößte Insel des Mittelmeeres. Nur Sardinien, Sizilien und Zypern
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übertreffen sie an Bodenfläche. Von allen Mittelmeerinseln nennenswerter Größe ist sie die am nördlichsten gelegene; bis zur französischen Riviera sind es kaum 200 Kilometer Luftlinie — jene Strecke, die wir soeben mit unserm Dampfer zurückgelegt haben —, und ihr nördlichster Punkt liegt auf dem gleichen Breitengrad wie der französische Kriegshafen Toulon, wie die mittelitalienische Provinzhauptstadt Perugia, übrigens ist die Reise von Osten herüber noch näher als die Anfahrt von Frankreich: Die italienische Küste ist nämlich noch nicht einmal 100 Kilometer entfernt. Legen wir schließlich das Lineal auf die korsische Landkarte selbst, so messen wir als größte Länge 183 Kilometer; das ist die Verbindungslinie von Cap Corse im Norden bis zum Cap Bonifacio im Süden. Quer herüber kommen wir auf 84 Kilometer. Aber was sagen Kilometerzahlen bei einer so vielfach zerklüfteten Felseninsel wie dieser über die wahren Entfernungen, die wahren Größenverhältnisse? Korsika ist ein einziges Gebirgsmassiv. Im Norden, im Westen, und an der Südspitze steilt der Fels fast unmittelbar aus dem Wasser zu mächtiger Höhe empor. Das Cap Corse gar, jener 38 Kilometer lange und nur 12 Kilometer breite Finger im Nordwesten der Insel, ist ein einziger kompakter Bergrücken, der nur an ganz, ganz wenigen Stellen Ansiedlungen zuläßt. In zahllosen Kurven und An- und Abstiegen wird er von einer 100 Kilometer langen Straße umrundet, die oft dem Meere zugehöriger erscheint als dem Land. Sie begleitet die sanfter sich senkende Ostküste nur wenige Meter neben und über dem Wasser, zieht an immergrün überwucherten Hängen entlang und eröffnet romantische Ausblicke auf versteckte Dörfer und uralte Wachttürme. Jedoch im Westen! Da führt sie hoch über der wildzerrissenen Steilküste entlang, schwingt sich um Felsnasen und Klüfte und drängt sich eifersüchtig zwischen Berg und Meer. Man meint zu fliegen, so steil und fern unter einem donnert die weiße Brandung an die Klippen und blau} das Meer ins Grenzenlose . . .
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So ist es am Cap Corse, und so ist es immer wieder an der korsischen Küste, mit Ausnahme der östlichen zwischen Bastia und Porto-Vecchio. Hier allein zeigt sie einen flachen Verlauf, aber auch hier genügen wenige Kilometer Fahrt ins Landesinnere hinein, um schon wieder an die Felshänge und Steilanstiege heranzukommen. Wo gibt es das wieder: in zwei, drei Kilometer Entfernung von der Küste Berge von über 1300 Meter Höhe und nicht weit davon ein zentraler Gebirgsstock mit Dutzenden von Zweitausender-Gipfeln, von denen der höchste — der Monte Cinto — auf 2707 Meter ansteigt, noch keine fünfundzwanzig Kilometer vom Meere entfernt? Acht Berge über 2500 Meter Höhe zählt man auf dieser Insel, und zweiundvierzig Gipfel über 2000 MeterI Diese Gesteinsmassen sind jedoch nicht die Zeugen von Ausbrüchen aus dem Erdinnern, sondern im Gegenteil die Überreste eines alten Kontinents, der vor undenklichen Zeiten einbrach und dabei das heutige Mittelmeer bildete. Im größeren, nämlich westlichen Teil der Insel sind es durchweg Granite und Porphyre, imSüdosten weiche Sedimentgesteine — abgelagerte Schichten —, die am schönsten ganz im Süden in Erscheinung treten, bei Bonifacio, wo wir ihnen auf unserer Reise noch begegnen werden. Dieses Gebirgsmassiv ist nun aber keine in sich geschlossene Einheit, sondern ist tausendfach zerklüftet und zerrissen; und das gibt der Insel ihr urtümliches, um nicht zu sagen: urweltliches Gepräge. Gewiß, das Pyrenäenmassiv und vor allem die Dinarischen Alpen in Jugoslawien sind wilde Regionen, mit denen sich selbst die Zentralalpen nicht messen können. Aber Korsika übertrifft sie alle bei weitem. Denn hier ist die Zerklüftung, die Zerrissenheit allüberall — auch dort, wo der Mensch sich niedergelassen hat. Hier gibt es keine „Zivilisationsgrenze". Korsika, das ist durch und durch Urnatur.
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Die Schluchten Korsikas Sie sind das eine große Erlebnis des Reisenden. Schon diese Namen: „(Jorges de l'Asco", „La Spelunca", „Gorges de la Restonica", „Scala di Santa Regina", , ,D6fil6 de Lancone" . . . Gorges de l'Asco — Schlucht des Asco-FIusses inmitten Nordkorsikas: Eben n,och fuhren wir durch ein verstepptes Hügelgelände, bewachsen allein mit hartem, dornigem Gestrüpp; eben noch brannte eine unbarmherzige Sonne auf uns nieder — da recken sich vor uns Felsen auf, schließen sich zu einer Sperrmauer (Zusammen. Doch jetzt macht die Straße eine scharfe Wendung und führt geradewegs hinein in den einzigen Einschlupf, den die Gesteinsmassen zu bieten scheinen: die Schlucht des Asco. Wie kann dieses Flüßchcn solch ein Werk vollbracht haben! Senkrecht in den Himmel wachsen die Wände zu beiden Seiten, daß neben dem Wassergerinne kaum ein Platz für die Straße bleibt. Und diese Schlucht ist hundertfach gewunden, und an jeder Biegung, an jedem vorspringenden Fels haben die Wasser genagt und die bizarrsten Formen herausgeschliffen. Hier ist eine spitze Nadel stehengeblieben, dort ein Kopf, einem gigantischen Menschenhaupt nicht unähnlich, da eine gedrechselte Säule; jetzt wuchtet eine gewaltige Nase empor, dann wieder scheint ein hausgroßes, auf knapper Kante stehendes Reststück aus der Höhe auf uns niederstürzen zu wollen. Und wieder windet sich der Weg, wieder und wieder. Ist das eine Märchenwelt? Scala di Santa Regina — Tal des mächtigen Golo-Flusses, der später den Asco aufnimmt und sich an der Ostküste ins Meer ergießt. Aber ehe die Wasser dieses flache, friedliche Küstengelände erreichen, müssen sie sich durch die Schlucht der Heiligen Regina nahe dem alten Städtchen Calacuccia zwängen. Ebenso eng wie der Einschnitt des Asco ist dieses Tal, aber höher und gewaltiger sind seine granitenen Wände, von denen — wie an vielen Stellen der Insel — in der regenreichen Jahreszeit gigantische Wasser-
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fälle in die Tiefe stürzen. Und auch hier die wohl hundertfachen Windungen des Flusses, der Schlucht, der Straße . . . La Spelunca, dicht an der mittleren Westküste, unweit des Hafenortes Porto: Unheimlich schon ihr Name, geheimnisvoll und düster, sie selber ein verzweigtes, unzugängliches Schluchtengewirr, das tief, tief in die steilen Granitwände eingeschnitten ist. Ängstlich schmiegt sich die einzige Durchgangsstraße in halber Hohe an einen der Berghänge, und der Mensch blickt überwältigt und manchmal wohl auch schaudernd hinunter in die Tiefe und hinüber zu den zerrissenen Felswänden, die sich, dem Auge unentwirrbar, vielfach staffeln und verzweigen. Kein Busch, kein Baum belebt dieses Felsgewirr, und kein Vogel singt. Rötlich ipt das kahle Gestein, wie so oft hier an der korsischen Westküste. Doch wenn das gelbe Licht der sinkenden Sonne darauffällt, dann leuchtet es schwefelig über den schwarzen Schlünden. Und bald steigen graue Nebel aus der Tiefe empor, und der Meerwind spielt ihnen zum Tanz. Des Nachts aber rauscht und grollt und flüstert es da unten, als würden tausend Geister lebendig — in der Spe/lunca, der unheimlichen. Und noch ein überwältigendes Beispiel der korsischen Urweltnatur wollen wir besuchen — keine Schlucht diesmal, sondern ein Felsmassiv unmittelbar an der Küste: Les Calanches de Piana, wenige Kilometer südlich Porto. Unvermittelt führt uns die Straße vom sanften, sonnigen Sandstrand des Hafenstädtchens hinein in dieses Naturwunder, das in Europa gewiß nicht seinesgleichen hat. Les Calanches. . . Mächtige Felstürme steigen steil aus der See, formen sich zu sinnverwirrenden Nadeln und Bögen und Köpfen — eine kilometerlange, Wirklichkeit gewordene Albtraumlandschaft. Und diese Steingebilde sind rot, leuchtend rot! Und drunten breitet sich das tiefblaue Meer, und weiß gischten die Wasser gegen den Fuß der Felsen . . . 10
Was da wächst auf Korsika
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Nein, so ist es nun wieder nicht, daß Korsika ein einziges nacktes Felsungeheuer sei. So wie wir die Bergesgipfel und die Schluchten, die Täler und die Steilküsten als das eine Große an Korsika erleben, so die eigenartige und wiederum urtümliche Vegetation als ein anderes Großes. Vegetation — das heißt auf dieser so seltsamen, so wunderbaren Insel in erster Linie Wald und Macehie. Der Wald: Glück und Unglück Korsikas zugleich. Glück, weil er den Reichtum des Landes ausmacht — den einzigen materiellen Reichtum, wohlgemerkt; und Unglück, weil man in den letzten Jahrhunderten allzu sorglos von diesem Reichtum gezehrt hat und nun das Gespenst der Erosion von weiten Gebieten der Insel Besitz ergreift. Schon machen sich Zeichen der Entvölkerung bemerkbar, schon muß mancher Sohn der Familie sein Glück in Festland-Frankreich suchen, weil die Insel nicht für alle Lebensmöglichkeiten bietet. , Früher galt Korsika als einer der waldreichsten Plätze Europas. Neben der Kastanie, der Korkeiche, dem mächtigen Eukalyptusbaum, der Steineiche und der Buche war es vor allem eine Kiefernart — der Pinus larix —, die als wertvoller Holzlieferant geschätzt war. Dieser Baum erreicht Höhen von vierzig, ja fünfzig Meter. Sein Stamm — immer kerzengerade gewachsen und von geradezu unglaubhafter Ebenmäßigkeit — ist dabei vom Boden weg bis weit, weit hinauf vollkommen astfrei. Diesen einzigartigen Baum gab und gibt es in nennenswerten Beständen nirgends sonst in Europa — eine Tatsache, die auch auf die Geschichte Korsikas Einfluß gehabt hat. Der englische Admiral Nelson hatte nämlich ein Auge auf jene Pinienwälder geworfen, weil sie für seine Kriegsschiffe ideale Masten abzugeben geeignet waren. Sein Angriff auf die schon damals französische Insel im Jahre 1794 soll von diesem Interesse an den Larix-Pinien beeinflußt gewesen sein. Inzwischen sind anderthalb Jahrhunderte verflossen, eine Zeitspanne ständig wachsenden Holzbedarfs und entsprechend steigen11
der Holzpreise. Die Versuchung, sich durch umfangreiche Rodungen rasch und verhältnismäßig mühelos Geld und beweglichen Besitz zu schaffen, wurde immer größer. Aufkäufer aus aller Herren Ländern kamen hereingeströmt, machten ihre Angebote — gute Angebote! —, und bald begann das große „Aufräumen". Noch bis in die Zeit des letzten Krieges hinein fällte man Baum um Baum, verschwand Hain um Hain, Wald um Wald. Erst in allerletzter Zeit raffte sich die französische Regierung zu Gegenmaßnahmen auf. Zu spätl Ein so zerklüftetes, Wind und Wetter, Regen und Steinschlag so erbarmungslos ausgesetztes Land wie die korsische Insel braucht den Raum als Bewahrer von Bodenfeuchtigkeit und Erdkrume. Wo der Baum fällt, da waschen die Regen den Boden aus und schwemmen den Humus in die Schluchten, Täler, Flußläufe — hinaus ins Meer. Korsika ist der grausame Reweis solchen Wirkens der Naturkräfte: Weite Gebiete sind heute versteppt, die Hänge der Berge kahl, die Hochflächen verödet. Freilich, noch gibt es da und dort fast unberührte Wälder mit herrlichen Baumbeständen; Zufall, Gleichgültigkeit gegenüber materiellem Besitz oder vielleicht bessere Einsicht haben sie vor der Ausrottung bewahrt. Für den Reisenden sind sie ein großes Erlebnis! Da ist der Wald von l'Ospedale ganz drunten im Südosten, der sich in 700 bis 1100 Meter Höhe über die Hänge, Täler «nd Hochflächen hinzieht. Kilometer um Kilometer windet sich die gut angelegte Straße aufwärts und wieder hinab, und nicht oft begegnet man hier einem Menschen. Da ist der Wald von Carozzica oberhalb der Asco-Schlucht, zu Füßen eines Kranzes von Zweitausender-Gipfeln, und nur selten von Fremden gesehen und bewundert. Hier ist noch das Mufflon zu Hause und das Wildschwein; hier geht der einsame Jäger noch auf Jagd nach roten Rebhühnern, Schnepfen und Wildgänsen. Hier ist die Natur noch Majestät. Ja, und dann der Foret de Valdo-Niello, auch er auf Höhen von über 1000 Meter sieh erstreckend. Auf der Fahrt dorthin klettern wir übrigens über den höchsten Paß der Insel,
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Eine der zahlreichen „Eselsbrücken" aus der Zelt, in der Korsika zum reich Genua gehörte
den kühnen Col de Vergio, der mit seinen 1451 Meter — kaum fünfzehn Kilometer Luftlinie von der Westküste entfernt — der Stolz der Korsen ist. Und hier finden wir neben Birke und Buche auch noch die Larix-Pinie, die mit ihrer dunklen Färbung dem ganzen Revier seinen Namen gegeben hat: Valdo-Niello, Schwarzes Land. Staunend stehen wir am Fuße eines solchen Riesen, schauen an seinem Stamm entlang nach oben, bis der Blick in die dunkle Krone mündet, und verlieren jedes Maß für solche Höhe. In diesem und einigen wenigen anderen Gebieten also finden wir noch den, geschlossenen, wenn auch nicht sonderlich gepflegten Wald Mitteleuropas. Andere Teile des Landes, auf der Karte ebenfalls als „ F o r e t " bezeichnet, möchten wir kaum als „Wald" bewerten. Lockere Anhäufungen von Bäumen sind es, verwildert meist und nicht von jenem anheimelnden Charakter wie die. echten Forets. Da sind in den niederen Regionen die Kastanienhaine — südwestlich der Hafenstadt Bastia haben sie der Landschaft sogar ihren Namen gegeben: Castagniccia —, deren Früchte noch heute dem einsam wohnenden Korsen das Mehl zu einem süßlichen Brot oder die Beigabe zu einer sparsamen Suppe geben. Da sind in größerer Höhe noch Eichen und Buchen — allerdings nur selten so schöne Bäume wie bei uns — und schließlich das karge Busch- und Strauchwerk des Hochgebirges. Uns aber, die wir mit Wald wahrhaft verwöhnt sind, ist etwas anderes auf Korsika von viel größerer Eindruckskraft. Schon bei der Anfahrt, noch kilometerweit von der Küste entfernt, hatte uns der Wind einen Duft von der Insel herübergetragen, wie wir ihn noch nie verspürt hatten. Es war der Dujft der Macchie, des immergrünen Buschwaldes. „Buschwald", das heißt, nicht „Baumbestand"; Buschwald bedeutet ein ineinander- und dirrcheinanderwachsendes Gefilz von Strauchwerk, dornigem Gestrüpp, niedrigwachsenden Wildblumen, von Farnen, Kräutern und Unkräutern und nicht zuletzt von jenen Gewürzpflanzen, die mit ihrem unsagbar durchdringenden Geruch die Atmosphäre nicht nur 14
einzelner Gebiete, sondern im wahrsten Sinne des Wortes der ganzen Insel bestimmen. Schon an trockenen, hitzeflimmernden Tagen lagert dieser Ruch allerorten und unverkennbar über Feld und Wald, über Steppe, Schlucht und Hügel, und auch über Dorf und Stadt. Wenn aber in solch heißer Sommerzeit einmal ein Regen fällt, dann . . . Wie war es doch bsi unserer Ankunft in Bastia? Was wir als bedrückendes Vorzeichen empfunden hatten, jener Regenfall — er war der erste Niederschlag auf Korika seit Mitte April; und nun hatten wir Ende August. Dieser Regen hatte der dürstenden Macchie ein schier tropisches Leben eingehaucht. Und so hatten wir es selbst verspürt, was manchmal von Kennern Korsikas erzählt wird und was mancher nicht glauben mag: daß man die Insel eher riecht als sieht. Ja, und dann die Fahrt von Bastia an der Ostküste entlang bis zur Golo-Mündung bei Casamazza und vor allem das westwärts führende Golo-Tal aufwärts nach Ponte-Leccia: Das war kein Duft mehr, der da über dem Land lag, das war eine einzige betäubende Wolke. Dieser Atem des ganzen wuchernden Reichtums — in jenen Stunden sanft fallenden Nieselregens war er nicht mehr belebend, sondern betäubend. Wer mag da noch unterscheiden, analysieren: Thymian und Rosmarin, W a cholder und Steinlorbeer, Myrte und Lavendel, Erika und Ginster . . . Tausend Arten, tausend verschiedene Einzeldüfte, die sich — je nach Vorkommen und Anteil — hier und da und dort zu immer neuen Duftakkorden zusammenfügen. Im Napaccia-Tal roch es anders als am Porto-Fluß, bei Porto-Vecchio anders als bei Sartene, auf Cap Corse anders als ,in der Balagne. Macchie — überallhin kriecht sie: entlang den Straßengräben, über die Hügel, durch die zerrissenen Felshänge, bis heran an die Dörfer und an das Ufer von Meer, Fluß und Bach. Wo nur eine sparsame Krume noch liegt, dort ist duftende Macchie. Mögen der Hirte und der Bauer sie im Sommer abbrennen, um Dung für neue Weide zu gewinnen, nächstes Jahr ist sie wieder da. Weite Gebiete des Landes15
Korsika in aller Kürze Amtlicher Name: La Corse — Staatszugehörig'keit: Frankreich — Bodenfläche: 8778 qkm — Größte Länge: 183 km — Größte Breite; $4 km — Umfang (Küstenlänge): rund 700 km — Mittl. jährt. Niederschlag: Küstennähe 75 cm, Hochgebirge 100 cm — Einwohnerzahl: 268 000 (31 auf den Quadratkilometer) — Sprache: eine Art italienischer Dialekt — Wappen: Kopf eines Mauren mit weißem Stirnband — Eisenbahnlinien: 232 km — Ausgebaute Straßen: rund 3000 km — Bemerkenswerte Berge (von N nach Monte Cinto (2707 m) — Paglia Orba (2523 (2343 m) — Monte Tozzo (2099 m) — Monte Monte d'Oro (2391 m) — Monte Ilenoso (2357 m)
S) m) — Capo Tafonato Rotondo (2625 m) — — Vlncudine (2136 m).
Zauberhafte Buchten: Golf von St. Florent (im N) — Golf von Calvi (im NW) — Golf von Porto (im W) — Golf von Sagone (im W) — Golf von Ajaccio (im SW) '—• Golf von Valinco (im SW, mit der Stadt Propriano) — Golf von Porto Vecchio (im SO). Die schönsten Schluchten Defile de Lancone (südl. Oletta) — Gorges de l'Asco (westt, Ponte Leccia) — Scala di Santa Regina (bei Caiaciiccia) — La Spelunca (westl. Evisa) — Les Calanches de Piana (nordöstl. Plana) — Gorges de la Restonica (südwestl. Corte) — Gorges du Tavignano (westl. Corte) ~ DSfile de Vlnzecca (ösll. Ghisoni). interessante Uafenorte: Bastia (48 700 Einw.) — St. Florent — Calvi — Porto — Sagone — Ajaccio (31 400 Einw.) ~ Propriano — Bonifacio — Porto-Vecchio. Sonstige interessante Punkte: Stadt CorU (Mitte der Insel, 5090 Einw.) — Stadt Sarthne (im SW, 3920 Einw.) — Luftkurort Vizzavona (südl. Corte, 906 m) — Luftkurort Zonza (nordwestlich Porto-Vecchio, 784 m, 1070 Einw.) — Dorf Carghse (zwischen Piana und Ajaccio, griechische Siedlung., 740 Einw.) ~ Dorf Asco (westlich Ponte Leccia, 470 Einw.) — Dorf Nonza (Westküste CaP Corse, 190 Einw., schönster alter Turm) — Dorf Fonlanaccia (südlich Sartöne, besterhaltener Dolmen) — Die Gebiete der Castaniccia (im NO) -— Desert des Agriates Balagne (im NW) — (Wüstenlandschaft zwischen lle Roitsse und St. Florent) — Cap Corse, vor allem die Westküste — Grotten von Ajaccio, Bonifacio, Rrando, Barretali, Evisa, Pietrabello (bei Ponte Leccia) und andere — Col de Vergio (Straße Calacuccia—Evisa, 1464 m) — Col de Verde (Straße Zicavo—Ghisoni, 1283 mj — Col de Bavella (Straße Zonza Solenzara, 1243 m) — tles Sangitinaires (Inseln westlich Ajaccio)*
Übersicht Ober die Insel Korsika
inneren macht sie unbegehbar, ja undurchdringlich; anderwärts — besonders in größerer Höhe — steht sie lockerer, ehe sie sich an der Vegetationsgrenze oder im blanken Felsgestein allmählich verliert. Strohgelb, stumpfgrün und rotbraun, das ist die Farbe der meist ein bis zwei Meter hohen Macchie fast das ganze Jahr hindurch. Im Frühling aber, wenn nacheinander die Gewächse blühen, dann zieht sich einmal rosa, einmal weiß, dann wieder leuchtend gelb ein Blütenteppich über das Felsland. Dann ist Korsika wohl am schönsten I
Die Korsen Politisch und wirtschaftlich gehört Korsika heute zu Frankreich, und zwar nicht etwa als Kolonie, sondern als Departement, also als fest eingegliederter Verwaltungsbezirk. Der Korse hat einen französischen Paß, er zahlt seine Steuern an den französischen Staat, er wählt seine Abgeordneten ins französische Parlament. Also ist er Franzose? Der Korse ist so wenig Franzose, wie der Nordire Engländer ist. Schon seine Sprache: ein Gemisch aus viel Italienisch, wenig Französisch und dazu uralten, kaum mehr erforschbaren vorlateinischen Sprachquellen, zu denen das Etruskische und das Iberische zählen. Was also ist der Korse? Er ist — nun, eben Korse. Und so wie sich seine Heimat, seine Insel ein Höchstmaß an Eigenart bewahrt hat, so auch er selbst. Der Korse ist in seiner Geisteshaltung, in seiner Auffassung von Leben und Tod, in seiner Einstellung zu seinesgleichen, in seinem Verhältnis zu Wohlstand und Besitz von einer in Europa sonst nicht mehr zu findenden Ursprünglichkeit. Wohlstand und Besitz: daran ist ihm wenig gelegen (wir sprechen hier selbstverständlich vom unverfälschten, echten, wahren Korsen). Die meisten Korsen werden arm geboren, führen ein bescheidenes, wenn nicht ärmliches Dasein und sterben arm. Sie 18
leben nicht für ihren Besitz und dessen Vermehrung; sie leben, weil ihnen das Leben nun einmal von Gott gegeben ist. Nur für eines zahlen sie jeden Preis: für ihre Freiheit. Der Drang nach Freiheit und innerer Unabhängigkeit wacht in diesen Menschen ununterdrückbar und unüberwindbar. Und wie ein roter Faden zieht sich der Kampf des Korsen um diese Freiheit durch pcine Geschichte: Die Etrusker waren die ersten, die Interesse an der Insel gewannen; wohl drei Jahrtausende ist es her, daß sie die ersten Handelsstädte an der korsischen Küste gründeten. Ihnen folgten die griechischen Phokäer, die Karthager, die Römer. Jeder Besetzungsversuch, jede Landnahme war mit Kampf und Blutvergießen verknüpft. Alle historischen Großmächte Südeuropas und des Vorderen Orients haben im Laufe der Zeit um die Insel gekämpft und sie besetzt, und selten verging ein Jahrhundert ohne neuen Ansturm, ohne neuen Einfall: 458 n. Chr. wurde die Insel von den Vandalen erobert, 533 von den Byzantinern, 754 von den Franken, 850 von den Sarazenen. Um 1020 nahm die Republik Pisa das korsische Eiland in Besitz. Ihr folgte um 1300 die Republik Genua. Aus dieser und der folgenden Zeit stammen übrigens jene „Genueser Brücken", die wir heute noch — teils benutzbar, teils halbverfallen — an vielen Stellen der Insel finden, so bei Ota nahe Porto und bei Asco, jenem Dorf am westlichen Ausgang der Asco-Schlucht in 625 Meter Höhe, dem man seiner Lage wegen den Beinamen „das korsische Zermatt" gegeben hat. Und die Genuesen waren es auch, die im 14. und 15. Jahrhundert entlang der ganzen Küste jene seltsamen Rundtürme errichteten, die zu einem Wahrzeichen der Insel geworden sind. Viele sind nooh heujte erhalten — die einen sagen, es seien 67, die anderen sprechen von 91 —, und oft stehen sie so dicht, daß man deren drei zugleich im Gesichtsfeld hat. Die Genueser haben die Wachttürme gegen die Sarazenen errichtet, mit deren Ansturm gerechnet werden mußte. Fast immer stehen diese Bastionen auf höchster Höhe oder 19
auf vorspringender Felsnase, so daß man im Falle der Gefahr von Turm zu Turm Fackelsignale geben konnte. Pasquale Paoli war es, der Nationalheld der Korsen, der im Jahre 1755 sein Land in einem gewaltigen Aufstand von der genuesischen Herrschaft befreite. Aber Selbständigkeit war der Insel dennoch nicht beschieden. 1768 fiel sie an Frankreich. Paoli mußte nach England fliehen, kehrte aber vierundzwanzig Jahre später zurück, eroberte seine Heimat für die englische Krone, verlor sie 1796 abermals an die Franzosen. Bei diesem Besitzstand blieb es bis in unsere Tage, von einer Zeitspanne während des letzten Krieges abgesehen, als italienische und deutsche Truppen die Insel für ein Jahr in Besitz nahmen. Und es seheint, als wäre der Korse mit dem heutigen Stand zufrieden. Eine solch wechselvolle, kampfreiche Geschichte formt natürlich auch den Menschen, und die Natur in ihrer Gewaltigkeit — um nicht zu sagen: in ihrem heroischen Charakter — trägt das ihre dazu bei. Er wird nach außen, mißtrauisch und wachsam, ist seinesgleichen aber eng verbunden, ist ehrlich, treu und opferbereit. Solche Geisteshaltung findet ihren Ausdruck nicht nur in einer ausgeprägten Stammestreue, sondern auch in einem ebenso ausgeprägten Familiensinn. Die Familie ist dem Korsen ein unzerstörbarer Kraftquell. Dabei gilt immer und überall und auf alle Fälle der älteste Sohn als Erbe des ganzen Besitzes und als späteres Oberhaupt der Familie; ihm ordnen sich die Brüder und Schwestern bedingungslos unter, während anderseits er die Seinen niemals im Stich oder, wenn ihm einiger Besitz zur Verfügung steht, in Armut lassen wird. Dazu die Heimattreue des Korsen: Mag er, ohne Erbteil und auch ohne Arbeitsmöglichkeit geblieben, aufs Festland übersiedeln und im Mutterland Frankreich Existenz und Lebensgrundlage finden — im Alter wird er zurückkehren auf die Insel. Denn hier ist er geboren, hier will er seinen Lebensabend verbringen, und hier will er seine letzte Ruhe finden. 20
Sein ausgeprägtes»Ehrgefühl und sein empfindlicher Familiensininl brachten allerdings auch die Vendetta hervor, die Blutrache. Allein im Laufe von vierhundert Jahren genuesischer Herrschaft forderte sie 300 000 Opfer, und noch bis in das vergangene Jahrhundert hinein waren es alljährlich 500 bis 1000 — in einem Lande wohlgemerkt, dessen Gesamtbevölkerung damals wie heute nur an 260 000 Menschen zählt. Dabei war es oft ein ganz geringer Anlaß, der zu solch blutiger Fehde führte, manchmal gar nur ein Mißverständnis. Aber einmal in Gang gebracht, ging der Kampf Familie gegen Familie, Sippe gegen Sippe ohne Aussicht auf Befriedung weiter, oft bis zur Ausrottung beider Geschlechter. Heute ist die Vendetta so gut wie verschwunden. Wohl hört man dann und wann noch Schauermärchen über die Gefahren des Daseins auf Korsika, aber der Reisende kann beruhigt sein: Eine Fahrt auf dieser Insel bringt picht mehr Gefahren als eine Reise durch irgendein anderes europäisches Land. Ja, was die Sorge anlangt, beraubt und bestohlen zu werden, so kann man beruhigt sein: Ein Korse stiehlt nicht. An materiellem Wert ist ihm wenig gelegen. Außerdem verbietet ihm sein ausgeprägter Sinn für Gastfreundschaft, dem Fremden, dem Besucher seines Landes, Unannehmlichkeiten zu bereiten.
Wovon der Korse lebt Ja, wovon kann man leben auf dieser kargen Felseninsel? Es liegt nahe, an die Schätze des Meeres zu denken, das mit all seinem Reichtum an Fischen und Schalengetier die Küsten Korsikas bespült. Aber seltsam: Der Korse ist — alles in allem genommen — kein Fischer, kein Seemann. Er liebt das Meer nicht, hat keine Sehnsucht nach Seefahrt und Ferne. Für ihn ist das Meer nur der Weg, auf dem der Feind vom Festland herüberkam, um seine Heimat zu besetzen. Gewiß, es gibt einige nicht unbedeutende Häfen — Bastia und Ajaccio vor allem, dann auch Calvi und Ile Rousse; aber die wahre Heimat des Korsen sind die Berge. Hierhin zog 21
er sich jedesmal zurück, wenn der Feind übers Große Wasser kam; hier, in dem Reich der unübersehbaren und für den Fremden undurchdringlichen Macchie, fand er Zuflucht und Unterschlupf. Der bedrängte Korse ging ins „Maquis", wie diese Form des Buschwaldes auf französisch heißt. Und im Anklang an diese historische Art der ausweichenden Verteidigung gingen dann auch im letzten großen Krieg auf dem Festland die Franzosen vor den andringenden deutschen Truppen ,,ins Maquis" (obwohl es in Südfrankreich kaum echte Macchies gibt) und nannten sich schließlich selbst „Maquis", die gleiche Rolle spielend wie in den Ostländern die Partisanen: Verteidiger der Heimat aus dem Hinterhalt heraus. So also kommt es, daß wir gerade in den abgelegensten, unfruchtbarsten Inselregionen menschliche Ansiedlungen finden: an steilem Berghang, auf vorspringendem Felsplateau, inmitten trostloser Einsamkeit. Erreichbar sind manche dieser Siedlungen nur über schmale Maultierpfade, manche gar nur auf beschwerlichem, gänzlich wegelosem Marsch quer durch die Macchie, über Geröll und durch enge Nebenschluchten. Zu vielen Dörfern führen heute indes einwandfreie Wege und gut befahrbare Straßen, und immer wieder findet der Reisende Möglichkeiten, mit dem Auto auch in entlegenere Gebiete vorzudringen und altkorsische Siedlungen zu besuchen. Aber manche wird er — wiewohl auf der Karte eingezeichnet — niemals zu Gesicht bekommen. Wie aber sieht eine solche Siedlung aus! Fast immer ist sie ohne jeden erkennbaren Gesamtplan gebaut. Wir könnten sie eher als „Häuserhaufen" bezeichnen denn als „Dorf". Regellos, kreuz und quer kleben die Häuser am Hang, kaum sind verbindende Pfade angelegt, nur ganz selten findet man so etwas wie einen Dorfplatz. Die Häuser selbst sind aus Granitsteinen gebaut — nein, nicht gebaut, sondern „aufgeschichtet" — und fast immer schmucklos geblieben, grau und roh. Das Dach ist im allgemeinen kaum geneigt. So hängt Haus neben und über und unter Haus am Hang — eine urtümliche Bauweise.
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Rings um das Dorf ist dieser Hang terrassenförmig abgetragen. Und hier gewinnt der Korse seinen spärlichen Lebensunterhalt: Auf den nur wenige Meter breiten Terrassenstufen baut er vor allem Obst und Gemüse, gelegentlich auch etwas Weizen. Freilich, nicht überall ist das so. Hier und da — allerdings fast ausschließlich in Küstennähe — gibt es durchaus Möglichkeiten zu ertragreicher Arbeit. Da ist vor allem die B a 1 a g n e , der Garten Korsikas, ein Gebiet von schätzungsweise 50 Quadratkilometer, das sich hart an der Nordküste zwischen Ile Rousse, Muro und Belgodere erstreckt. Wer dieses Fleckchen Erde richtig schätzen lernen möchte, der nähert sich ihm nicht von der Küste her, sondern vom Süden, aus dem I n s e l i n n e r e n . . . Am frühen Morgen sind wir vom Dörfchen Asco zu Füßen einer grandiosen Bergwelt durch die gewaltige Asco-Schlucht gefahren und bei Ponte Leccia in das Flachtal des Napaccia eingemündet und haben, ihm nach Nordwesten folgend, langsam wieder an Höhe gewonnen. Heiß brennt die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. Links und rechts versteppte, verkarstete Hänge . . . Kaum einmal ein Haus, eine Tenne, ein trockener Brunnen . . . Die Straße windet sich enger, wird steiler . . . Jetzt ein letzter Anstieg — wir sind oben auf dem Col de San Colombano. (Ist es der zwanzigste oder der dreißigste auf dieser Reise? Wir haben aufgehört, die Pässe zu-zählen.) Hinter uns trostlose Armseligkeit, vor uns aber ein einzigartiger, gewaltiger Blick hinunter auf die Niederungen der Balagne, hinüber zur fernen Hafenstadt Ile Rousse, hinaus auf die Unendlichkeit des Meeres. Einer der herrlichsten Blicke ist dies und einer der schönsten Punkte der ganzen Insel — nicht zuletzt durch den Kontrast zwischen dem Herüben und dem Drüben des Paßüberganges. W i r fahren hinunter, hinein in die Gartenlandschaft. Anderwärts mag ein Gebiet der Fruchtbarkeit wie dieses keine sonderliche Aufmerksamkeit beim Reisenden wecken. Hier ist es eine Sensation: Solch eine Landschaft mit Feldern und Gärten und
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Baumkulturen gibt es eben auf Korsika nicht wieder. Da wachsen nicht nur Getreide, Kartoffeln und Gemüse aller Art, da gedeihen Orangen und Zitronen, Pfirsiche und Mandeln, Wein, Oliven, Feigen in Üppigkeit — alle jene Früchte, die uns Mitteleuropäern Symbol südlicher Wärme und Fruchtbarkeit sind. Zwar ist das Gebiet der Balagne nur klein, aber es ist eine unentbehrliche Quelle für die Ernährung der Inselbevölkerung. Und es ist die einzige Stelle auf Korsika, wo der Mensch den Charakter der Landschaft geprägt hat. Was steht dem Korsen sonst als Lebensgrundlage zur Verfügung? Mit dem Holzverkaufen allein ist es ja nicht getan — heute weiniger als in früheren Zeiten. Nun, ölhaine finden sich in vielen Teilen der Insel; und da schon 4 Kilogramm Oliven 1 Kilogramm Speiseöl ergeben, ist die Ernte durchaus lohnend und ertragreich. Weiter treffen wir da und dort auf Korkeichen — Bäume, deren Nutzwert nicht im Holz, sondern in der Rinde liegt. Alle elf Jahre darf die Korkeiche geschält werden; das geschieht mit einem langen, gekrümmten Schälmesser. Die Rinde wird dann an der Sonne getrocknet, später unter Dampf flachgepreßt und in mächtigen Ballen exportiert. Ausgeführt werden aus Korsika auch Edelkastanien, für die mancher Feinschmecker in Kontinenteuropa eine Vorliebe hat. Da und dort treibt natürlich auch der Korse Fischfang; bietet doch das Meer rings um die Insel allen Reichtum, den ein Fischer sich nur wünschen kann: Austern und kiloschwere Hummern, Thunfische und Tintenfische, Sardellen und Sardinen, Muränen, Doraden und Pulpen. Mehr aber widmet sich der Korse — besonders im Innern des Berglandes — der Viehzucht. Bergziegen und Schafherden klettern überall umher, auch im einsamsten Hochgebirge. Vielleicht darf man sagen, daß der Korse seiner Natur nach Hirte ist, und er versteht es, seine Kleintierherden wirtschaftlich gut auszunutzen. Der echte Korse hat eine ganz besondere Vorliebe für Schaf- und Ziegenkäse, die für ihn eine wichtige Einnahme-
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In diesem Hause in Ajaccio wurde Napoleon geboren
quelle sind. An der Ostküste aber gewinnt man Salz nach jenem einfachen Verdunstungsverfahren, das wir überall in meerangrenzenden südlichen Ländern finden. ' Ja, und dann nicht zu vergessen: der Fremdenverkehr! Bis vor wenigen Jahren noch war Korsika für den Tourismus unentdeckt und galt — nicht zuletzt, weil das Gerücht von der dort angeblich noch immer herrschenden Blutrache nicht aussterben wollte — als tabu. Und auch heute noch ist die Insel weitgehend unentdeckt, unerschlossen. Aber die Zahl der Unternehmungslustigen nimmt von J a h r zu Jahr zu, und mancher Korse lebt bereits ausschließlich vom Gelde der Touristen. Jetzt beginnt das ausgezeichnete Verkehrsnetz, das die Franzosen in dem Departement „Korsika" angelegt, beziehungsweisje modernisiert haben, Früchte zu tragen I Rund 3000 Kilometer Straße — oft schmal, fast immer sehr kurvenreich, aber doch gut befahrbar — stehen zur Verfügung, dazu eine einspurige Dieselzug-Verbindung von Bastia nach Ajaccio mit einer Abzweigung nach Ile Rousse und Calvi, Bahnstrecken von oft grandioser Anlage. Und die Air France unterhält im Sommer zwischen dem Festland und der Insel eine regelmäßige Flugverbindung. Was freilieh Korsika diesen Touristen nicht bieten kann, das sind großzügige und denkwürdige Bauwerke, welcher Art auch immer. Niemals in seiner wechselvollen Geschichte hat der Korse so etwas wie einen Baustil entwickelt, so wenig wie es einen korsischen Dichter, einen korsischen Maler, einen korsischen Musiker gegeben hat. Nur einen Bereich schöpferischer baulicher Betätigung gibt es: die Grabmalkunst. Mag der Korse noch so arm, noch so uninteressiert an künstlerischem Ausdruck sein — niemals wird er auf die rechtzeitige Beschaffung einer möglichst glanzvollen letzten Ruhestätte verzichten. So findet man bei jedem Dorf, bei jedem Städtehen einen weiträumigen, reich ausgestatteten Friedhof. Die Grabmäler dort sind manchmal von unerhörter Pracht, dabei oft von seltsamem Stil: Wir finden altgenuesische 26
Baugedanken mit maurischen gemischt, finden tempelartige Anlagen, sehr häufig auch regelrechte kleine, weiß getünchte Häuschen — die Wohnhäuser bleiben ungetüncht —, deren Ansammlung aus der Ferne wahrhaftig wie ein richtiges Dorf aussieht. Und dann finden wir immer wieder einzelstehende kapellenartige Familiengräber — im allgemeinen nicht besonders gut gepflegt, aber im baulichen Aufwand doch möglichst prunkvoll gehalten. Vor allem aber muß die Lage der Grabstätte in der Landschaft immer so schön wie möglich sein. Der Tote will von seiner letzten Ruhestätte aus alle Schönheiten seiner Heimat vor sich haben: den Blick hinab in die Meeresbucht, hinüber zum Bergesgipfel, hinein in den tiefdunklen Wald. In solcher Tradition äußern sich die uralten Glaubenssitten und der Totenkult der Mittelmeervölker, wie er weit in die Jahrtausende zurückzuverfolgen ist. Bei dieser Gelegenheit müssen wir auch der Dolmen und Menhire aus der Jungsteinzeit Erwähnung tun, jener sagenhaften und geheimnisumwitterten Steinmale, die seit undenklichen Zeiten in den entlegensten Teilen der Insel zu finden sind — das heißt: für den Fremden meist nicht zu finden sind, denn sie liegen fast immer schwer zugänglich inmitten weiter Macchienfelder oder zumindest weitab von Weg und Steg. Dolmen, das sind einfache Totenkammern in Gestalt steinerner Tische, bestehend aus mehreren Tragsteinen und einem Deckstein, während die Menhire au^rechtstehende, viele Meter hohe Kultsäulen sind, die aus einem einzigen Felsstück bestehen. Diese Male gehen auf jene Großsteingräber-Kulturen zurück, die einst vom Mittelmeerraum her weite Teile Europas erfaßten, nicht zuletzt Norddeutschland, wo viele solche steinernen Zeugen als „Hünengräber" und „Hinkelsteine" bis heute erhalten geblieben sind.
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Die korsisdien Städte Nur eine von ihnen liegt nicht an der Küste: Corte, die alte Hauptstadt im Herzen der Insel mit etwa 5000 Einwohnern. Ringsum ist sie von schützenden Bergen umgeben, und von vielen Stellen der Stadt öffnet sich uns ein einzigartiger Blick auf Schluchten und Gipfel. Ihr trutziges Wahrzeichen ist die fünfhundert Jahre alte Zitadelle, die von einer hochragenden Felsnase aus die Stadt weithin überschaut. Jahrhunderte hindurch ist dieser Ort der Mittelpunkt und das Symbol korsischer Freiheitsliebe geblieben. Mochten die Eindringlinge die Häfen und die schmalen Küstenstreifen erobert oder sich auch da und dort ins Innere des Landes gewagt haben — Corte war nicht so leicht zu erreichen und zu erobern! Bastia, Ile Rousse und Calvi, Ajaccio, Bonifacio und Porto-Vecchio — das sind die anderen größeren korsischen Ortschaften. Hafenstädte sind es allesamt, und eine ist so charakteristisch wie die andere. Bastia ist einer der Zielorte der Festland-Dampfer, wo auch wir korsischen Boden betreten haben: Bischofssitz, größte Stadt und wirtschaftliches Zentrum der Insel, von 1791 bis 1810 sogar Korsikas Hauptstadt. Sie hat weit mehr Einwohner als die heutige Hauptstadt Ajaccio (49 000 dort gegen 31000 hier), hat einen lebhaften Hafen und betriebsame alte und neue Straßen. „Schön" im eigentlichen Sinne des Wortes kann man Bastia nicht nennen. Allzu grotesk sind die Gegensätze: h^er der moderne Wohnteil im Norden mit Hotels, Pensionen, modernen Wohnblocks, Villen — dort die Altstadt mit ihren lieblos grauen sechsstöckigen Häuserungetümen (der Korse hat eine seltsame Vorliebe für Hochbauten), ihren ungepflegten Straßen und der halbverfallenen und staubüberpuderten alten Zitadelle; hier der Neue Hafen mit seinem lebensvollen Wirtschaftsgetriebe — dort der Alte Hafen, dem seine verwahrloste Umgebung schon wieder eine gewisse Romantik verleiht. Eine merkwürdige Stadt, dieses B a s t i a . . .
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lte Rousse an der Nordküste ist der am wenigsten bemerkenswerte Hafen, der zweite Zielort der Dampferlinien. Wer von Marseille oder Nizza kommend hier an Land geht, hat gewiß den am wenigsten korsischen Eindruck von Korsika. Wie anders ist es in Calvi, der nur 24 Straßenkilometer westlich gelegenen Hafenstadt, einer altgenuesischen Gründung! Auf weit ins Meer gerecktem Arm baut sich ein steil emporsteigendes Mauerwerk auf, das den alten Stadtteil trägt. Einst, vor Jahrhunderten, war hier zwischen den engen Mauern der Befestigungsanlage das Gemeinleben zusammengefaßt. Heute ist dieser Stadtteil fast vollkommen verlassen und verfallen. Ein seltsames Gefühl von Trostlosigkeit einerseits und Ehrfurcht vor einstiger Größe anderseits befällt uns, die wir unter einer unbarmherzigen Mittagssonne in den holprigen Gassen umherirren und mit den Schuhen den Sandstaub aufwirbeln. Unten dagegen, zu Füßen dieser Altstadt-Zitadelle, der neue Stadtteil mit seinem Getriebe, das Hafenbecken, heller Sandstrand, grüne Kiefern, und im Hintergrund die Gipfel der grauen Berge. Calvi — ob man sich vom Meere her der Stadt nähert oder ob man vom Gebirge zu ihr hinabsteigt, ihr architektonisches Bild ist unvergleichlich schön. Ajaccio, Hauptstadt des Departements Korsika, Mittelpunkt des Fremdenbetriebs und — ja, daß wir dies nicht vergessen! — der Geburtsort von Napoleon Bonaparte, dem Manne, der einst Europa umgestaltet hat. Wenn auch jeder Bewohner der Insel ein Korse ist — „Der Korse" ist und bleibt für alle Zeit der Name für diesen Mann. Doch erstaunlich: wochenlang kann man die Insel (auch sie nennt der Franzose einfach „La Corse") durchstreifen und immer wieder Zeichen lebendiger Erinnerung an die beiden Nationalhelden Sampiero Corso und Pasquale Paoli finden — von Napoleon ist nirgendwo die Rede, nirgendwo wird man von Napoleon-Gedenktafeln oder Napoleon-Andenken oder auch nur Napoleon-Gesprächen bedrängt. Nirgendwo, außer in Ajaccio — hier allerdings im Übermaß. Ajaccio lebt von der Erinnerung an den großen Kor29
sen! Da ist zunächst das Geburtshaus Napoleons in der Rue Napoleon: ein unscheinbarer dreistöckiger Bau, dessen Inneneinrichtung in allen Einzelheiten erhalten geblieben ist und gepflegt wird und das „selbstverständlich" — so jedenfalls meinen die Fremdenführer — jeder Tourist besichtigt haben muß. (. . . „Hier sehen Sie den Stuhl, auf welchem Napoleons Vater, Advokat von Beruf, zu sitzen pflegte, wenn er sein Souper einnahm . . . Und hier sehen Sie einen Wandbehang, welchen die Mutter Napoleons eigenhändig gearbeitet hat, leider nicht besonders gut erhalten. Anschließend sehen Sie hier rechts . . .") Dann ist da die Napoleon-Grotte, in der Bonaparte als Kind zu spielen pflegte. Weiter preist der Fremdenprospekt eine Pforte an, durch die, wie es da heißt, „Napoleons Mutter alltäglich zu schreiten pflegte, als sie ihren Sohn unter dem Herzen trug". Natürlich fehlt ein Napoleon-Monument ebensowenig wie ein Napoleon-Museum. Ja, und dann: „Cafe Napoleon", „Hotel Napoleon", „Reisebüro Napoleon" . . . Und schließlich die hundertfachen Napoleon-Souvenirs: Feuerzeuge, Mokkalöffel, Puderdosen, Taschenmesser, Schlüsselanhänger, Kopftücher, Brieföffner — alles mit dem Bilde Napoleons. Napoleon in Gips, Napoleon in Porzellan, in Bronze. Elfenbein, Holz. . . Wie gesagt: in Ajaccio lebt man von Napoleon. Sonst bietet die Stadt einen wunderschönen, weit geschwungenen Golf, umrahmt von einem Hügelkranz mit fast afrikanisch anmutender Vegetation, eine palmenbeschattete Uferpromenade, einen betriebsamen Hafen, eine großzügige Hauptstraße (sie heißt natürlich „Cour Napoleon") mit Dutzenden von Cafehäusern und Restaurants. Dennoch, Ajaccio hat wenig von dem, was man gemeinhin von einer Hauptstadt erwartet. Es ist kleiner, stiller, weniger gepflegt, und es ist — trotz allem Napoleonkult — gemüt-i licher. Aber es ist im Aufbau, man sieht es allenthalben, und fast möchten wir sagen: leider . . . Dann aber Bonifacio, die Hafenstadt an der Südspitze der Insel, deren Gründung auf das 8. Jahrhundert zurückgeht. Sechzig
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Meter hoch steigen die weißen Kreidefelsen — hier und da von den anbrandenden Wassern tief ausgewaschen — senkrecht aus dem Meer empor, ein kleines Plateau bildend, das die alte Festung und die engen, dunklen Gassen der Altstadt trägt. Zugbrücken mit verrosteten Ketten und Riegeln, ausgetretene Treppen, Schwibbogen, dicke Mauern, und ringsum tief unten das blaue Wasser — das ist Bonifacio, der südlichste Punkt Korsikas und eine der seltsamsten Städte Europas. Und was da drüben im Dunst verschwimmt, das ist Sardinien. Nur siebzig Meter tief und zwölf Kilometer breit ist das Wasser, ist die „Straße von Bonifacio", welche die beiden Schwesterninseln trennt. La Corse aber ist gewiß die schönere von beiden. Und schließlich Porto-Vecchio, 27 Kilometer nördlich von hier, neben Bastia der einzige Hafen an der Ostküste. Kein Wunder übrigens; denn der östliche Küstenstrich ist — im Gegensatz zum Norden, Westen und Süden — sumpfig, lagunenreich und nur schwer zugänglich. Lange galt er dem Menschen sogar als tote Zone, denn er war beherrscht von Moskitos und somit von der Malaria. Nach dem Kriege aber hat man einige Jahre hindurch einen Vernichtungsfeldzug gegen dieses Stechmücken-Ungeziefer geführt — drunten am Hafenbecken von Porto-Vecchio sehen wir gerade noch einige letzte DDT-Fässer lagern — mit dem Erfolg, daß heute die ganze Insel als malariafrei bezeichnet werden darf. Der eigentliche Reiz von Porto-Vecchio ist seine einzigartige Lage an einem Golf, von dem viele sagen, er sei der schönste des Mittelmeeres. Seinen ganzen Zauber erschließt er uns, wenn wir die Straße ins Bergland hinauffahren, die nach l'Ospedale führt. In zahllosen Windungen klettert sie empor, von Stufe zu Stufe neue Ausblicke auf die Bucht eröffnend, die sich dem Auge entfaltet wie ein blaugrüner Fächer. Und oben, wo der Kiefern-; wald beginnt, schweift der Blick vom Golf im Osten weit über das unberührte Land nach Süden, bis dahin, wo die flachen Kreidefelsen von Bonifacio schemenhaft im Dunst v e r g e h e n . . . 31
Das also ist die korsische Küste. Ist es alles, was davon zu sagen wäre? Nun, vergessen wir nicht Saint Florent am Golf von Saint Florent ganz im Norden, jenes reizende Fischerdorf; vergessen wir nicht Porto, wieder an einem Golf gelegen, dort, wo der gleichnamige Fluß ins Meer mündet, einen herrlichen Sandstrand und einen idealen Platz für den Erholungsuchenden bildend; denken wir an Sagone am Golf von Sagone, genau in der Mitte der Westküste, an Propriano am Golf von Valinco . . . Ja, die Buchten, die Schluchten, die Einsamkeit der Wälder und die Unermeßlichkeit der Macchie — das ist das Wesen von Korsika.
Der Dampfer schaukelt in der leichten Dünung. Scharf schneidet der Bug durch das tiefblaue Wasser und wirft eine weiße Doppelwelle empor. Hinter uns, im Dunst und Sonnenglast, verschwimmt das graue, langgestreckte Etwas, versinkt La Corse, die Insel der Schönheit. . .
Ums^hlaggestaltung und Karte Seite 17: Karlheinz Dobsky Bilder: G. Weihmann, Dr. Dietz-Bavaria, A. Bonnefoy L u x - L e s e b o g e n 2 2 9 (Erdkunde) - H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natur- und kulturpolitische Hefte - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murnau, München, Innsbruck, Ölten — Druck: Buchdruckerei Auer, Donauwörth
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