Nicole Claire
Kreuzfahrt des Grauens Irrlicht Band 414
Maud zuckte erschrocken zusammen. Vor ihr – keine fünf Meter ...
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Nicole Claire
Kreuzfahrt des Grauens Irrlicht Band 414
Maud zuckte erschrocken zusammen. Vor ihr – keine fünf Meter entfernt – war wieder die Greisin mit dem schlohweißen Haar! Ihre knöchernen Hände schoben die Räder ihres Rollstuhls, der langsam auf Maud zuglitt. Die Augen der Alten starrten zu ihr herüber, und auf dem Gesicht zeigte sich ein Grinsen, das Maud unendlich abstoßend vorkam. Unwillkürlich wich sie langsam zurück. Eine Gänsehaut hatte ihren Körper umhüllt. Als sie sich umdrehte, um der Alten zu entkommen, prallte sie hinter sich plötzlich gegen ein weiches Hindernis…
»Herzlichen Glückwunsch zur bestandenen Prüfung, Maud!« Mrs. Cunnings drückte ihrer Tochter einen liebevollen Kuß auf die Wange. »Danke!« erwiderte Maud, ehrlich erfreut darüber, daß sie von ihren Eltern so herzlich empfangen wurde. »Wir sind alle mächtig stolz auf dich«, ergänzte nun ihr Vater, und zu seiner Frau gewandt fügte er hinzu: »Jetzt erdrück sie doch nicht gleich, Elisabeth! Ich als ihr Vater möchte schließlich auch zu meinem Recht kommen.« Maud löste sich aus der Umarmung ihrer Mutter, und ihr Vater gab ihr einen Kuß auf die Stirn. »Schön, daß du wieder zu Hause bist.« »Ich freue mich auch ganz riesig«, lachte Maud und wischte sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Von der vielen Umarmerei war sie ganz außer Atem. Sie war eine’ junge, bildhübsche Frau von vierundzwanzig Jahren, und ihr leichtes Sommerkleid betonte ihre schlanke Figur, nach der sich in den Vereinigten Staaten so mancher College-Student umgesehen hatte. Doch alle Bekanntschaften, die sie dort geschlossen hatte, waren von vornherein dazu bestimmt, nicht von langer Dauer zu sein. Schließlich hatte Maud gewußt, daß sie nach ihrem Studium wieder nach London zurückkehren mußte – das war sie ihren Eltern einfach schuldig. Und wenn sie ehrlich war, so wußte sie auch, daß sie sich hier in diesem Haus im Londoner Westend noch immer am wohlsten fühlte. »Lassen wir doch das Gepäck erst einmal im Flur stehen«, schlug Mr. Cunnings vor. »Ich habe eine Flasche Champagner im Wohnzimmer stehen. Ich finde, auf deine bestände Prüfung sollten wir anstoßen.«
Damit nahm er seine Tochter an die Hand und führte sie in den eleganten Wohnraum. Sekunden später perlte das prickelnde Getränk bereits in den Gläsern, und sie stießen auf Mauds Prüfung an. Und in diesem Moment fühlte es die junge Frau ganz deutlich: Sie war froh, endlich wieder zu Hause zu sein! Ihre Eltern hatten ihr das Studium in Amerika finanziert, weil sie später zusammen mit ihrem Bruder die Firma ihres Vaters übernehmen sollte, einen Großhandel für Büroeinrichtungen mit mittlerweile über fünfzig Angestellten. Doch das würde noch ein paar Jahre dauern. Zunächst sollte Maud erst einmal die verschiedenen Abteilungen durchlaufen und so den gesamten Betrieb kennenlernen. Ihr Bruder, der sechs Jahre älter als sie war, hatte das bereits mitgemacht und deshalb schon eine der leitenden Positionen inne. Es war der Wunsch ihres Vaters, daß die Firma in Familienbesitz bleiben sollte. Und im Grunde genommen hatte Maud auch gar nichts gegen ein Leben als Frau im rauhen Geschäftsleben. Im Moment fühlte sie sich gerüstet, um mit allen Schwierigkeiten fertig zu werden, die auf sie warten mochten. Ihr fiel auf, daß ihr Bruder gar nicht anwesend war. »Ist Rick heute nicht zu Hause?« fragte sie ihre Eltern. »Er hat noch eine geschäftliche Besprechung, kommt aber bestimmt später noch vorbei.« »An diese ständige Hin- und Herhetzerei zwischen den einzelnen Geschäftsterminen werde ich mich jetzt wohl gewöhnen müssen.« »Damit hat es noch ein bißchen Zeit. Du fängst ja erst in vier Wochen an, bei mir zu arbeiten. Deine Mutter und ich, wir hatten uns gedacht, daß du dich erst einmal richtig erholen sollst.«
»Du willst ihr die Überraschung jetzt schon verraten?« fragte Mrs. Cunnings. »Was für eine Überraschung?« fragte Maud sofort gespannt. »Nun«, begann ihr Vater bedächtig. »Wir haben uns gedacht, daß du bestimmt nichts gegen eine schöne Urlaubsfahrt hast. Und deswegen haben wir eine vierwöchige Kreuzfahrt für dich gebucht.« »Eine Kreuzfahrt?« Maud sah ihre Eltern fassungslos an. »Als Geschenk für die bestandene Prüfung.« »Aber…« Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. »Eine Kreuzfahrt? Aber wohin denn?« »Nach Rio de Janeiro!« Jetzt mußte Maud sich erst einmal hinsetzen. Dann sprang sie augenblicklich wieder auf und fiel erst ihrer Mutter und dann ihrem Vater um den Hals. »Ich danke euch vielmals. Das ist wirklich ein ganz wunderbares Geschenk. Wann geht es denn los?« Maud war plötzlich schrecklich aufgeregt. »Übermorgen schon«, erklärte Mr. Cunnings. »Leider war auf der Reise, die wir ursprünglich buchen wollten, schon alles belegt. Also haben wir uns kurzfristig nach einer Alternative umgesehen. Und wir haben auch ein kleines bißchen Glück gehabt, daß wir auf dieser Fahrt noch eine Kabine für dich bekommen haben. Ein anderer Teilnehmer hat kurz vor Reisebeginn noch abgesagt.« »Übermorgen schon«, überlegte Maud laut. »Da werde ich kaum Gelegenheit haben, alle Freunde zu besuchen, die ich hier habe.« »Jetzt haben sie dich so lange nicht gesehen«, erwiderte ihre Mutter, »da wird es doch auf vier Wochen mehr oder weniger auch nicht ankommen, oder?« »Du hast vollkommen recht, Mutti. Wahrscheinlich bin ich einfach nur viel zu aufgeregt. Ich freue mich wirklich sehr über
euer Geschenk. Es ist nur schade, daß ihr nicht mitkommen könnt. Euch würde die Kreuzfahrt sicherlich auch guttun.« »Du weißt doch, Daddys Termine lassen das in diesem Jahr nicht zu. Vielleicht holen wir das nächstes Jahr nach.«
»Alles in Ordnung, Miß Cunnings«, sagte der Beamte hinter dem Schalter und händigte Maud die Reiseunterlagen und den Paß wieder aus, nachdem er ihn mit einem Stempel versehen hatte. »Ihr Gepäck befindet sich bereits an Bord und wird Ihnen auf Ihre Kabine gebracht. Sie haben die Kabine 415. Der Steward wird Sie hinführen. Und hier ist Ihre Bordkarte. Eine gute Reise dann noch.« Maud bedankte sich und steckte die Unterlagen zurück in die kleine Reisetasche, die sie um die Schulter hängen hatte. Als sie eben draußen auf dem Kai gestanden hatte, war sie völlig überrascht von der Größe des Schiffes gewesen, das schon fast so etwas wie eine eigene Welt war. Laut Reiseprospekt gab es dort fast alles, vom Swimmingpool über eine Diskothek bis hin zum Tennisplatz. Jeder erdenkliche Luxus wurde geboten. Nachdem sie nun den Landungssteg hinaufgegangen war, nahm sie sofort ein Steward im weißen Anzug in Empfang. Es war ein braungebrannter junger Mann, den man seinem Aussehen nach als Mischling bezeichnen konnte. Er hatte tiefschwarzes Lockenhaar, und auf seinem Gesicht zeigte sich ein freundliches Lächeln, das eine Spur über die übliche Professionalität hinausging. »Willkommen an Bord«, sagte er mit einem leichten Akzent. »Darf ich Sie zu Ihrer Kabine bringen?« »Ja, gerne«, erwiderte Maud gut gelaunt und reichte ihm ihre Bordkarte, auf der ihre Zimmernummer stand.
»Kabine 415 also«, las der Steward, und für einen winzigen Moment verdüsterte sich sein Blick. Doch gleich darauf lächelte er wieder. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo sie sich befindet.« Während des Weges erklärte ihr der Steward, wie sie sich innerhalb der Kabinengänge am besten orientieren konnte und wo die verschiedenen Plätze lagen, vom Speisesaal bis hin zum Friseur, den es an Bord ebenso wie ein komplettes Einkaufszentrum gab. »Sie werden während der kommenden Wochen übrigens öfters mit mir vorliebnehmen müssen«, meinte er schließlich. »Ich bin nämlich der Steward, der für Ihren Bereich zuständig ist. Wenn Sie möchten, können Sie mich Diego nennen.« »Gern«, sagte Maud, die sich über die Freundlichkeit freute, mit der sie an Bord des Schiffes begrüßt wurde. Und ein bißchen trug auch der junge, gutaussehende Mann dazu bei, der vor ihr stand. »Vorausgesetzt, Sie nennen mich Maud.« »Eine solche persönliche Anrede ist uns gegenüber den Gästen eigentlich nicht gestattet«, meinte er schmunzelnd. »Aber ich werde sehen, ob ich nicht eine Ausnahme machen kann, Maud.« »Steward?« rief in diesem Augenblick ein anderer Gast von hinten. Als Maud sich umwandte, erkannte sie einen dicken Mann, der den gesamten Kabinengang auszufüllen schien. »Bitte?« fragte Diego höflich. »Kommen Sie mal mit«, schnaufte der Mann und deutete aufgeregt hinter sich. »Das Bullauge in meiner Kabine ist kaputt. Es läßt sich nicht öffnen. Ich hatte erwartet, daß ich hier erstklassigen Service voraussetzen kann. Und jetzt entdecke ich, daß ich eine minderwertige Kabine bekommen habe.« »Warten Sie«, entgegnete Diego. »Ich werde Ihnen sofort zeigen, wie man es öffnen kann.«
Und zu Maud gewandt, fügte er hinzu: »Sie sehen ja, Miß Cunnings, die Pflicht ruft.« »Maud«, sagte Maud. »Wie?« machte er verblüfft. »Maud, und nicht Miß Cunnings. Haben Sie etwa schon wieder vergessen, was wir vereinbart haben?« Er runzelte für einen Moment verwirrt die Stirn, dann hellte sich seine Miene wieder auf. »Nein, nein, natürlich nicht, Maud.« Er lachte und drückte ihr den Schlüssel in die Hand. »Aber jetzt muß ich Ihnen noch sagen, wie Sie zu Ihrer Kabine kommen. Einfach den Gang weiter hinuntergehen. Hinter der Ecke rechts die vierte oder fünfte Kabine.« Maud bedankte sich und sah zu, wie sich Diego an dem Mann vorbeiquetschte und ihr dabei einen gequälten Blick zuwarf. Dann ging sie, wie Diego es ihr erklärt hatte, den Gang hinunter und bog nach rechts ab. Sie hatte gerade ihre Kabinentür erreicht, als sich von der anderen Seite des Ganges jemand näherte. Es war eine Greisin mit schlohweißem Haar. Sie saß in einem Rollstuhl, der von einem dunkelhäutigen Mann geschoben wurde. Er mochte gut zwei Meter groß sein und hatte breite, kräftige Schultern. Auf einem Stiernacken saß ein grobschlächtiges Gesicht. Maud spürte unangenehm berührt, wie die beiden sie eindringlich musterten, und sie bemühte sich daher, rasch ihre Kabinentür aufzuschließen. Bevor sie jedoch im Innern verschwinden konnte, hatte sie das Paar erreicht. Die Hände der alten Frau griffen nach ihrer Hand und klammerten sich daran fest.
Maud erschauerte unwillkürlich, als sie auf die dürren Finger blickte, die von einer pergamentartigen Haut umspannt waren, so daß sich die Knochen überdeutlich abzeichneten. Sie sahen wie die Hände eines Skeletts aus. Das Gesicht der Greisin war ebenfalls eingefallen und glich mehr einem Totenschädel denn einem Gesicht. Doch in den weißen Augen, die ihr entgegenstarrten, brannte ein unheimliches Feuer. Fast kam es Maud so vor, als stände sie einer Wahnsinnigen gegenüber. Sie versuchte ihre Hand zu befreien, doch es gelang ihr nicht. Die Alte verfügte trotz ihres gebrechlichen Aussehens über erstaunliche Kräfte. »Was wollen Sie von mir?« fragte Maud nach einer Weile, da die Frau im Rollstuhl nur ihre Hand umklammert hielt und ihr ins Gesicht starrte. Die Greisin baute sich ein wenig in ihrem Rollstuhl auf. »Lobpreise dich, mein Kind. Du bist die Hoffnung dieser Welt. Und schon bald wird der Tag der Erfüllung kommen.« Ihre Stimme war tief, eine dumpfe Grabesstimme, die ebenso wenig wie die stechenden Augen zu dem gebrechlichen Körper paßte. Maud lief ein Schauer über den Rücken. Dann – plötzlich – ließ die Greisin sie los. Der dunkelhäutige Mann schob den Rollstuhl herum. Ohne ihr noch einen Blick zuzuwerfen, entfernte sich das seltsame Paar wieder. Schnell schlüpfte Maud durch die Tür in ihre Kabine und schloß von innen ab. Diese Begegnung hatte ein Gefühl der Beunruhigung in ihr hinterlassen. Sie fragte sich, was diese seltsame Frau wohl von ihr gewollt hatte. Was hatte sie gesagt?
Irgend etwas von einem Tag der Erfüllung und davon, daß sie die Hoffnung dieser Welt wäre? Gab es denn an ihr irgend etwas Besonderes? Nein! Maud schüttelte den Kopf. Die Greisin war aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich übergeschnappt und konnte Wirklichkeit und Wunschdenken nicht mehr auseinanderhalten. Und wer weiß – so wie sie geredet hatte, war sie vielleicht auch noch von einem religiösen Fanatismus erfüllt. Nun, Maud beschloß, sich von der Frau die Reise auf keinen Fall verderben zu lassen. Zur Not war da ja auch noch Diego, der Steward. Wenn sie zu aufdringlich werden würde, würde sie ja ihm Bescheid sagen können. Maud lächelte unwillkürlich bei dem Gedanken, daß er ihr ein Gefühl der Geborgenheit vermittelte. Doch im Moment war es gar nicht nötig, ihn zu Hilfe zu holen. Das Schiff war groß genug, und Maud war sicher, daß es nicht schwer sein würde, ihr aus dem Weg zu gehen. Sie sollte sich irren…
Die Kabine war sehr geräumig, und durch die Bullaugen drang sonniges Tageslicht herein. Das Gepäck stand bereits vor dem Bett, und Maud nutzte die Zeit vor dem Dinner, um einen ersten Teil ihrer Kleider und ihre übrigen Sachen in die Schränke zu verteilen. Dann zog sie sich rasch ein eleganteres Kleid an, das sie sich erst gestern extra für diese Reise gekauft hatte. Es war aus reiner Seide und umschmeichelte ihre Figur tadellos. Maud sah wirklich bildhübsch aus. Als sie sich vor dem Spiegel drehte, überlegte sie zwar einen Moment, ob ihr Kleid nicht doch eine Spur zu festlich sei für den heutigen Abend, aber als sie dann
pünktlich um neunzehn Uhr den Speisesaal betrat, sah sie, daß fast alle Frauen ähnlich gekleidet waren. Alle schienen diese Luxusreise gleichzeitig dazu zu benutzen, sich selbst zu präsentieren. Und je älter eine Frau war, desto auffälliger und teurer waren ihr Kleid und ihr Schmuck. Maud sah sich ausführlich in dem Speisesaal um. Von der Decke hingen riesige, glitzernde Kronleuchter und verstrahlten sanftes Licht. Stewards in weißen Fracks liefen umher und bedienten die Passagiere, die sich schon gesetzt hatten. Sanfte Musik unterstrich zusätzlich den eleganten Rahmen. Ein wenig ängstlich suchte Maud die Greisin im Rollstuhl, doch sie schien zum Glück nicht da zu sein. Jetzt trat ein Steward auf Maud zu und bat höflich, sie zu ihrem Tisch führen zu dürfen. Die junge Frau nickte und folgte ihm willig. Der Tisch, zu dem sie geführt wurde, war für acht Personen gedeckt, wobei fünf der Plätze schon besetzt waren. Maud setzte sich neben ein älteres Ehepaar, das ihr freundlich zunickte und sich als Mrs. und Mr. Ballard aus Bristol vorstellte. Sie waren bereits Rentner und hatten, wie sie freimütig zugaben, die letzten Jahre gespart, um sich an ihrem Lebensabend noch einmal eine solche Reise zu gönnen. Ihre unkomplizierte, offene Art machte sie für Maud sofort sympathisch. Anschließend stellte sich Maud ihrerseits vor, als sie von einer anderen Seite angesprochen wurde. »Mein Name ist Donner«, sagte ein Mann an der gegenüberliegenden Seite des Tisches. Es war der dicke Passagier, den sie schon auf dem Kabinengang kennengelernt hatte. »Richard Donner. Ich reise in Finanzen.« Er lachte schnaufend. »Ich meine, ich bin natürlich nicht reich, sondern Vertreter für Finanzgeschäfte. Die Reise ist eine Prämie, die
ich für meine guten Abschlüsse im letzten Jahr gewonnen habe. Wenn Sie also eine gute Anlagemöglichkeit für Ihr Geld brauchen, ich stehe Ihnen immer zur Verfügung. Donner, merken Sie sich den Namen Richard Donner.« »Ja«, erwiderte Maud schwach. Er hatte sie mit seinem Redeschwall fast erdrückt. »Und wie geht es Ihrem Bullauge?« »Was?« machte der Mann überrascht. »Na, dem Bullauge in Ihrer Kabine«, erinnerte Maud ihn. »Ist es noch immer kaputt?« »Ach das.« Er winkte ab. »Wissen Sie, von Technik verstehe ich nicht viel. Aber für meinen Geschmack hätte der Verschluß durchaus nicht so kompliziert zu sein brauchen. Kein Wunder, wenn man sich da nicht zurechtfindet.« Sein Zeigefinger stocherte wieder in der Luft herum und machte eine kreisförmige Bewegung. »He, Steward!« »Ja, Sie wünschen?« fragte sofort einer der Bediensteten. »Noch ein Glas Wein«, befahl der Mann, während er sich mit einem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht wischte. »Vielleicht dürfen wir uns Ihnen auch vorstellen, da wir ja wohl für die nächsten Wochen zumindest beim Essen Zusammensein werden«, sagte nun ein Mann auf der rechten Seite. Er mochte auch schon in den Fünfzigern sein, hatte eine hohe Stirn und leicht angegraute Schläfen. »Mein Name ist Harry Parker, und dies hier ist meine Schwester Viktoria.« Er deutete auf die neben ihm sitzende Person, eine ältere Frau, die Maud über den Rand ihrer starken Brille hinweg anblickte und ihr ein freundliches Lächeln schenkte. »Ich hoffe, wir werden uns gut vertragen«, sagte sie. »Bestimmt«, erwiderte Maud freundlich. »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf«, mischte sich da wieder ihr Bruder ein. »Lassen Sie sich nur nicht von meiner
Schwester in eine Unterhaltung über irgendwelche Forschungen verstricken. Es ist ihr Steckenpferd, und in ihrer Begeisterung nimmt sie auf fremde Personen keine Rücksicht.« »Jetzt übertreibe doch nicht so maßlos, Harry«, tadelte sie ihn. »Woher willst du wissen, daß sich das junge Fräulein überhaupt dafür interessiert?« »Oh, ich interessiere mich durchaus dafür«, erwiderte Maud höflich. »Und im Ernstfall werde ich mich schon dagegen zu wehren wissen.« »Gut gesprochen«, lobte Viktoria Parker. »Aber erzählen Sie doch einmal. Was hat Sie hier so allein auf diese Kreuzfahrt verschlagen? Oder sind Sie vielleicht doch in Begleitung?« »Nein«, erwiderte Maud lachend. »Ich bin allein auf der Fahrt hier.« »Eine so hübsche junge Frau wie Sie hat bestimmt keine Mühe, sich einen passenden Reisebegleiter zu angeln. Obwohl die meisten Passagiere hier aus den reiferen Jahrgängen sind, sind bestimmt genügend junge Männer an Bord.« »So wichtig ist mir das nicht«, sagte sie abwehrend. Sie befürchtete fast, daß Mrs. Parker auf den Gedanken kommen könnte, die Vermittlerin zu spielen. Bei dem Gedanken schlich sich unwillkürlich das fröhliche Gesicht Diegos in ihren Kopf. »Mir genügt es durchaus, mich erst einmal ein paar Tage zu erholen und an nichts mehr zu denken. Ich habe erst vor ein paar Tagen mein Studium beendet, und meine Eltern haben mir diese Reise als Belohnung geschenkt.« Mrs. Parker beugte sich interessiert vor. »Sie haben studiert? Darf ich fragen, in welcher Richtung? Archäologie? Geschichte?«
»Nein«, antwortete sie. »Ich habe Wirtschaft studiert. Ich soll später einmal in der Firma meines Vaters mitarbeiten.« »Also etwas Praktisches.« Obwohl Mrs. Parker weiterhin freundlich lächelte, konnte man ihr anmerken, daß sie ein bißchen enttäuscht war. Vielleicht hatte sie ja auf eine fachkundige Gesprächspartnerin gehofft. »He, ich kenne einen guten Witz«, riß nun der dicke Mann, der sich als Mr. Donner vorgestellt hatte, das Gespräch wieder an sich. »Also, da kommt ein Pferd in eine Kneipe, und…« Die anderen am Tisch sollten nie erfahren, was dem Pferd in der Kneipe passiert war, denn der Kapitän des Schiffes war an ein aufgestelltes Mikrophon getreten und begrüßte die Passagiere an Bord. Schlagartig verstummten alle Gespräche, und alle Augenpaare richteten sich auf den Mann in der weißen Uniform. Es war kein besonders großer Mann, dennoch aber von kräftiger Gestalt. Er sah so aus, wie man sich einen Kapitän immer vorstellte. Er hielt eine kurze Begrüßungsansprache und wünschte allen schließlich eine gute Reise. Dann stieß man miteinander bei einem Glas Sekt an, und danach brandete Applaus auf. Das Essen war hervorragend, und der trockene Weißwein, den Maud dazu trank, stieg ihr recht schnell in den Kopf. Erst jetzt, da sie etwas Abstand von all den Dingen der letzten Tage gewann, merkte sie, wie sehr ihr doch die Anstrengung der letzten Tage in den Knochen steckte. Vor ihrer Prüfung hatte sie sich über Wochen intensiv vorbereitet und buchstäblich von morgens bis abends über ihren Büchern gehockt. Nach der bestandenen Prüfung kamen ein, zwei Tage voller ausgelassener Unternehmungen und Parties, denn alle College-Absolventen gingen nun auseinander
und hatten die letzte Gelegenheit, etwas zusammen zu unternehmen. Auch die Rückreise war anstrengend gewesen, besonders der Zeitunterschied, der den inneren Rhythmus völlig durcheinanderbrachte. Und die letzten beiden Tage hatte Maud auch kaum Erholung gefunden, sie war fast ständig unterwegs gewesen. Mal mit ihrer Mutter, mal mit ihrem Bruder Rick, und sie hatte sogar noch Zeit gehabt, eine Freundin zu besuchen, wenn auch nur für ein paar Stunden. Nach dem Essen schlug sie deshalb den Vorschlag von Mr. und Mrs. Parker aus, an der Bar zusammen noch einen Drink zu nehmen. Sie spürte die Müdigkeit und war froh, endlich ins Bett zu kommen. Als sie den Gang hinunter zu ihrer Kabine ging, ertappte sie sich dabei, wie sie erst vorsichtig um die Ecke sah, ob nicht vielleicht die Greisin im Rollstuhl in der Nähe war. Aber dem war nicht so. Auch während des Abendessens hatte Maud die seltsame Frau nicht zu Gesicht bekommen, was angesichts der Größe des Speisesaals auch nicht verwunderlich war. Sie ärgerte sich ein bißchen, daß sie die unheimliche Begegnung von heute nachmittag nicht verdrängen konnte. Immer wieder mußte sie an den festen Griff ihrer knöchernen Hand denken und an den stechenden Blick ihrer Augen, der noch im Nachhinein ein unbehagliches Gefühl in ihr auslöste. Als sie endlich in ihrer Kabine war, gelang es ihr, diese Gedanken abzuschütteln. Sie ging ins Badezimmer und duschte ausgiebig, bevor sie unter die Bettdecke schlüpfte und Sekunden später einschlief.
Als Maud am nächsten Morgen erwachte, brauchte sie ein paar Augenblicke, um sich daran zu erinnern, wo sie sich befand. Fast hatte sie erwartet, wieder in ihrer kleinen Studentenwohnung in den Vereinigten Staaten aufzuwachen, doch der sanfte Wellengang bewies ihr, daß sie sich bereits auf ihrer Urlaubsreise befand. Dieser Traum war Wirklichkeit! Maud lächelte, als sie die Beine aus dem Bett schwang und sich den Schlaf aus den Augen rieb. Sie trat zum Bullauge und sah vor sich die endlos in der Morgensonne glitzernde Fläche des Meeres. In jedem der kleinen Wellenkämme spiegelten sich für einen jeweils winzigen Moment die gleißenden Sonnenstrahlen. Maud öffnete das Bullauge und dachte, kurz belustigt, daran, was für Schwierigkeiten dieser Mr. Donner wohl mit dem Verschluß gehabt haben mochte. Tief atmete sie die salzige und frische Seeluft ein, die durch die Luke ins Innere drang. Es war zwar schon fast zehn Uhr, aber dennoch herrschte noch immer ein recht frischer Wind. Der Frühling hatte sich in diesem Jahr sehr viel Zeit gelassen, und man befand sich ja noch in nördlichen Breiten. In ein paar Tagen, wenn das Schiff an Spaniens Küste vorbeifuhr, würden sicherlich schon einige Passagiere über die Hitze stöhnen. Die Frische der Luft ließ Maud frösteln. Trotzdem machte sie das Bullauge nicht wieder zu. Sie mochte die salzige Luft des Meeres. Jetzt wollte sie erst einmal unter die Dusche. Maud genoß die warmen Strahlen des Wassers, bevor sie sich zum Abschluß kurz kalt abduschte. Zitternd trat sie unter der Dusche hervor und trocknete sich schnell mit dem weichen Frotteehandtuch ab. Als sie wieder ins Zimmer trat, waren ihre Lebensgeister geweckt. Sie zog sich ein knöchellanges weißes
Baumwollkleid an und vollführte übermütig eine Drehung vor dem Spiegel. Dieser Tag schien genau wie geschaffen dafür, der erste Tag eines schönen Urlaubs zu sein. Sie ging zurück ins Badezimmer und fönte sich das Haar. Für ein paar Sekunden blieb sie dann vor dem Spiegel stehen, und sie überlegte, ob ihr eine neue Frisur nicht gut stehen würde. Bislang trug sie die schulterlangen blonden Haare glatt gekämmt, aber vielleicht würde ihr ja auch eine Dauerwelle stehen? Oder eine strähnige Frisur, unter Umständen auch eine Löwenmähne? Maud versuchte sich vorzustellen, wie sie mit solchen Haaren aussehen würde. »Ja«, flüsterte sie leise. »Warum nicht einmal etwas Frecheres?« Sie lachte, als sie ihr Selbstgespräch bemerkte. Dennoch nahm sie sich vor, in den nächsten Tagen einmal beim Bordfriseur vorbeizuschauen. Zeit genug dafür hatte sie ja, und warum sollte sie das nicht ausnutzen? Maud hatte wirklich ausgezeichnete Laune. Als sie wieder ins Zimmer zurückging, klopfte es leise an der Tür. Verwundert darüber, wer wohl zu ihr wollte, öffnete sie und entdeckte, daß es ein Zimmermädchen war. »Guten Morgen«, begrüßte sie das Mädchen, das einen weißen Kittel trug. »Guten Morgen! Entschuldigen Sie, ich komme nur, um das Zimmer zu machen.« »Kommen Sie ruhig schon herein. Ich bin gleich verschwunden.« Maud griff sich noch rasch eine weiße Strickjacke, da es oben an Bord bestimmt noch ziemlich frisch sein dürfte. Hinter ihr
hatte das Mädchen die Kabine betreten und begann das Bett zu machen. »Sagen Sie«, fragte Maud, als sie ein leichtes Hungergefühl verspürte. Die Seeluft schien Appetit zu machen. »Gibt es im Speisesaal jetzt eigentlich noch etwas zu essen?« Das Mädchen sah auf die Uhr. Es war jetzt bereits kurz vor elf. Sie schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich glaube kaum. Aber Sie können es ja noch einmal versuchen. Vielleicht haben Sie Glück.« »Probieren kann ich es ja mal«, sagte Maud und verließ die Kabine. »Gut, daß ich Sie treffe«, sagte eine Stimme neben ihr auf dem Gang, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Etwas erschrocken drehte Maud sich um. Vor ihr stand der dicke Mann und beugte sich etwas zu ihr vor. Sie blickte ihm überrascht entgegen. »Was kann ich denn für Sie tun?« fragte Maud jetzt etwas ratlos. »Sie kennen mich doch, ich heiße Donner«, sagte der Mann und vergaß fast, Luft zu holen. »Richard Donner. Und Sie sind Miß… äh… Miß…« Er blickte hilfesuchend zur Decke, und aus irgendeinem Grund schien ihn diese tatsächlich an Mauds Namen zu erinnern. »Äh, Miß Cunnings, richtig?« »Ja«, sagte sie. »Natürlich kenne ich Sie. Sie sitzen bei mir am Tisch.« »Sehen Sie, wie gut es ist, wenn man sich den Namen von Leuten genau merken kann, denen man einmal begegnet ist?« fragte sie Mr. Donner stolz. »Mein Gedächtnis ist in dieser Hinsicht ausgezeichnet geschult, denn es ist das wichtigste Kapital in meinem Beruf.« »Was kann ich für Sie tun, Mr. Donner?« erinnerte ihn Maud. Er unterbrach sich überrascht.
»Ach ja. Hören Sie. Irgendwie habe ich das Gefühl, als hätten die hier an Bord meine Kabine verlegt. Jedenfalls – ich kann sie nicht mehr finden.« Unwillkürlich mußte Maud lachen. Täuschte sie sich, oder hatte er ihr nicht gerade noch etwas von einem besonders guten Gedächtnis erzählt? »Was ist denn?« fragte Mr. Donner mit verblüffter Miene. »Ach nichts«, sagte Maud und bemühte sich, wieder ernst zu sein. »Zeigen Sie mir doch einmal den Schlüsselbund.« »Genau das ist der Kernpunkt meines Problems«, lamentierte er. »Ich glaube, ich habe ihn in der Tür steckengelassen.« »Aber wie kann ich Ihnen dann helfen? Warum haben Sie nicht im Zentralbüro nachgefragt? Die hätten Ihnen doch bestimmt Auskunft geben können.« »Meinen Sie«, stieß er entrüstet aus, »ich wollte mich vor diesen Leuten blamieren?« »Tja«, machte Maud. »Dann kann ich Ihnen wohl auch kaum helfen. Das heißt, warten Sie einen Moment.« Sie hatte eine Idee. In welche Richtung war Diego gestern mit Mr. Donner gegangen? Sie überlegte kurz, dann winkte sie ihm, ihr zu folgen. Er ging schnaufend hinterher. Nach zwei Biegungen hatte sie den Gang erreicht, in dem gestern der nette Steward mit dem Mann verschwunden war. »Hier müßte Ihr Zimmer eigentlich irgendwo sein«, sagte sie. Er blickte den Gang ratlos hinunter. »Hier unten sieht alles irgendwie gleich aus. Kein Wunder, daß man sich verirrt. Auf die Passagiere wird hier an Bord überhaupt keine Rücksicht genommen. Vielleicht sollte ich mich bei der Reederei beschweren«, überlegte er. »Aber ein Problem wäre noch immer nicht beseitigt. Wie soll ich unter all den Kabinen hier nun eigentlich meine Kabine herausfinden?«
»Wie wäre es denn mit der?« schlug Maud vor und deutete mit dem Arm auf eine Kabinentür, in der außen noch der Schlüssel mit dem Nummernanhänger steckte. »Ja«, rief er jubelnd aus und setzte sich in Bewegung. »Das muß sie sein!« Er stürmte an ihr vorbei und hätte sie sicherlich umgerissen, wenn sie sich nicht schnell genug gegen die Wand gedrückt hätte. Er riß die Kabinentür auf. Nachdem er einen kurzen Blick ins Innere geworfen hatte, hellte sich seine Miene auf, verdüsterte sich jedoch noch im selben Moment. »Ich will nicht hoffen, daß man in meiner Abwesenheit etwas gestohlen hat. An Bord drückt sich bestimmt lichtscheues Gesindel herum. Na ja, man hört ja viel davon. Da kann man seine Sachen ja eigentlich keinen Moment aus den Augen lassen. Das wird eine saftige Beschwerde geben, wenn mir etwas fehlt.« »Freut mich, daß ich Ihnen helfen konnte«, sagte Maud leise und entfernte sich, etwas enttäuscht darüber, daß sich Mr. Donner nicht einmal bedankt hatte. Er schien offensichtlich nur an seine Beschwerden zu denken. Sie konnte sich nach seinem bisherigen Verhalten kaum vorstellen, daß es etwas auf dieser Welt gab, was ihm Spaß machte. Außer seinen Geschäften vielleicht. Doch er hatte ihre Worte gehört und drehte sich noch einmal zu ihr um. »Haben Sie vielen Dank, Miß… äh… Na ja, ist ja auch egal!« rief er hinter ihr her. »Und wenn Sie irgendwann vielleicht einmal günstig Geld anlegen wollen… Ich kenne da ein paar günstige Geldanlagen in der Schweiz. Wenn Sie in dieser Hinsicht also einmal Schwierigkeiten haben sollten…« Er unterbrach sich kurz, um neuen Atem zu schöpfen.
»… Sie sind jederzeit für mich da«, beendete Maud den Satz, ohne sich umzusehen. »Ich weiß, Mr. Donner.« Dann verschwand sie hinter der nächsten Gangbiegung.
Das Zimmermädchen hatte recht gehabt. Zum Frühstücken war es bereits etwas zu spät. In dem großen Speisesaal, in dem sich im Moment fast ausschließlich Bedienstete aufhielten, wurde schon alles für das Mittagessen vorbereitet. Maud ärgerte sich zwar, daß sie kein Frühstück mehr bekam, sie wußte aber, daß sie es sich letzten Endes selbst zuzuschreiben hatte. Warum hatte sie sich auch keinen Wecker gestellt, sondern darauf gehofft, von selbst rechtzeitig zu erwachen? Maud tröstete sich bei einer Tasse Cappuccino, den sie an der Bordbar erhielt. Auf den hinteren Sitzen entdeckte sie schließlich Mr. Parker, der in eine Zeitung vertieft war. Auf dem kleinen Tisch stand ebenfalls eine Tasse Kaffee. Maud nahm ihr Gedeck und ging zu diesem Tisch hinüber. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?« fragte sie. Mr. Parker hob den Kopf und sah sie über den Rand der Zeitung hinweg an. »Aber gerne.« »Wie kommt es, daß Sie so wenig mit Ihrer Schwester unternehmen?« erkundigte sich Maud, nachdem sie sich gesetzt hatte. »Wie Sie ja wohl wissen, haben meine Schwester und ich höchst unterschiedliche Interessen. Warum sollten wir uns also damit quälen, den anderen damit zu belästigen?« erwiderte er freundlich. »Und warum unternehmen Sie diese Kreuzfahrt dann gemeinsam?« hakte Maud nach und errötete einen Moment
später. »Oh, entschuldigen Sie bitte, wenn ich mich so aufdringlich danach erkundige.« »Aber das macht doch gar nichts. Fragen Sie ruhig. Wenn es mir zu unangenehm wird, kann ich Ihnen ja einfach keine Antwort geben, nicht wahr?« Mr. Parker machte einen weltmännischen Eindruck, und irgendwie begann Maud ihn zu mögen – obwohl er fast ihr Vater sein konnte. »Aber Sie haben gefragt, warum ich diese Reise zusammen mit meiner Schwester mache. Nun, die Antwort ist einfach: Sie hat mich dazu überredet. Sie meinte, ich müßte in meinem Alter endlich noch einmal etwas von der Welt sehen. Nach dem Tod meiner Frau vor fünf Jahren habe ich mich ziemlich zurückgezogen.« »Das tut mir leid«, sagte Maud mitfühlend. »Das braucht Ihnen nicht leid zu tun. Schließlich kannten Sie meine Frau ja nicht einmal. Außerdem heilt die Zeit ja bekanntlich alle Wunden.« Seine Stimme hatte einen ironischen Tonfall angenommen. »Zu meiner Misere kam dann auch noch etwas anderes hinzu. Ich hatte bei meinen geschäftlichen Unternehmungen nie den richtigen Riecher. Vielleicht war es Pech, vielleicht fehlte mir auch einfach der Geschäftssinn, den man dabei braucht. Nach dem Tod meiner Frau habe ich es dann aufgegeben, das Erbe noch weiter zu vergeuden. Seitdem lebe ich von den Zinsen meines Vermögens. Und wie Sie sehen, vermag es mir ein recht angenehmes Leben zu ermöglichen.« Er sah, daß Maud ihre Tasse ausgetrunken hatte. »Darf ich Ihnen noch einen Kaffee bestellen?« »Nein, danke. Das ist sehr nett, aber ich möchte mich vor dem Mittagessen noch ein bißchen auf dem Schiff umsehen. Ich hatte bis jetzt noch keine Gelegenheit dazu gehabt. Wenn ich ehrlich bin, ich bin nämlich eben erst aufgestanden.«
Sie lächelte Mr. Parker etwas verlegen an, während sie aufstand. Er nickte ihr freundlich zu. »Nur recht so. Der Urlaub ist schließlich dazu da, sich zu erholen. In meinem Alter brauche ich nicht mehr so viel Schlaf. Dafür werde ich mich jetzt mal wieder ausführlich mit meiner Zeitung beschäftigen.« Er hob die Zeitung und vertiefte sich darin. Maud ging hinaus auf das Deck.
Es dauerte eine gute Minute, bis sie das Heck des Schiffes erreicht hatte. Hier erstreckte sich hinter den Aufbauten an Deck eine große, ebene Fläche, in deren Mitte ein großer Swimmingpool lag. Einige Passagiere schwammen bereits in dem Becken. Maud fröstelte bei dem Gedanken, jetzt dort zu baden. Doch dann fiel ihr ein, daß das Wasser natürlich geheizt sein mußte. Um den Swimmingpool herum standen unzählige Liegen, die auch schon die Reling gesäumt hatten, jedoch selten besetzt gewesen waren. Doch hier hinten befanden sich viele Passagiere. Die meisten waren in wärmende Decken gehüllt und ließen sich von der Sonne bescheinen. Maud suchte sich schließlich auch einen Liegestuhl und legte sich etwas hin. Sie schloß die Augen und konzentrierte sich auf das brausende Geräusch der Wellen, die von dem Schiffsrumpf zerteilt wurden. Es war ein beruhigendes Geräusch, und Maud fühlte sich, als sei sie im Einklang mit der ganzen Welt. Der leichte Wind spielte mit ihren Haaren. Maud streckte sich wohlig und beschloß, die Zeit bis zum Mittagessen hier vor sich hinzuschlummern und ihren Gedanken freien Lauf zu lassen.
Sie bemerkte nicht, wie vor ihr plötzlich die weißgekleidete Gestalt des Kabinenstewards Diego auftauchte. Er war zufällig hier aufgetaucht und blieb wie angewurzelt stehen, als er Maud in dem Liegestuhl entdeckte. Seine Augen strichen zärtlich über ihren schlanken Körper, doch dann verhärtete sich seine Miene. Schließlich gab er sich einen Ruck und ging an Maud vorbei, ehe sie ihn entdecken konnte.
»Oh, Miß Cunnings«, sagte Mrs. Parker beim Mittagessen. »Wir haben uns schon alle gefragt, wo Sie heute beim Frühstück geblieben sind.« »Ich habe nur verschlafen«, antwortete Maud und bedeutete dem Steward, noch ein bißchen mehr Gemüse auf ihren Teller zu tun. »Ach so«, murmelte Mrs. Parker. »Ich hatte fast schon befürchtet, Sie litten an der Seekrankheit.« »Nein«, lachte Maud. »Bislang hat sie mich verschont. Und ich würde mich freuen, wenn es auch so bleiben würde.« »Nun, da drücke ich Ihnen die Daumen. Auch mich hat sie bisher auf meinen wenigen Schiffsfahrten noch nicht erwischt. Übrigens, was haben Sie heute nachmittag denn so vor?« »Bislang habe ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht.« »Haben Sie Lust, sich mit mir ein paar Stunden in die Sonne zu setzen? Ich würde mich freuen, wenn ich einen Gesprächspartner hätte.« »Was habe ich Ihnen gesagt?« unkte Mr. Parker wieder. »Gern«, erwiderte Maud auf ihre Frage. »Wirklich gern.« »Und nun, liebe Schwester«, mischte sich wieder Mr. Parker ein, »solltest du dich vielleicht einmal ein bißchen mehr um
das Mittagessen kümmern, ehe es kalt wird. Es wäre doch nun wirklich schade, wenn dieses Cordon bleu kalt werden würde.« »Womit er ausnahmsweise recht hat«, stimmte Mrs. Parker ihrem Bruder schmunzelnd zu. Für die nächsten Minuten verstummten alle Gespräche, weil alle das hervorragende Mittagessen genossen. Maud fiel auf, daß die drei Plätze an ihrem lisch noch immer unbesetzt waren. Aber vielleicht würden ja noch andere Gäste bei den nächsten Anlegepunkten dazukommen, schließlich war die Reise ja ausgebucht. Maud dachte daran, daß sie sich bislang noch gar nicht genau um die Route der Kreuzfahrt gekümmert hatte. Dazu war in den letzten Tagen einfach zu viel los gewesen. Sie wußte nur, daß das Schiff zuerst südwärts fahren würde, bevor es sich an die große Überfahrt über den Atlantischen Ozean machte. Sie nahm sich vor, ihr fehlendes Wissen in den nächsten Tagen im Zentralbüro aufzufrischen. Und bei der Gelegenheit könnte sie sich auch gleich einmal erkundigen, welche Ausflüge man bei den Tagesaufenthalten bei den einzelnen Landungspunkten buchen konnte. Noch ein anderer fehlte übrigens beim Mittagessen. Es war Mr. Donner, der sich gerade schnaufend an den anderen Tischen vorbeischob und dabei mit dem Ellbogen ein Glas umwarf, ohne es jedoch zu bemerken. Jetzt hatte er den Tisch erreicht. »Sie werden es kaum für möglich halten«, sagte er anstelle einer Begrüßung, als er sich stöhnend in den Sitz fallen ließ und seine Blicke neugierig über die Teller der anderen Gäste schweifen ließ. »Aber ich habe drei Anläufe gebraucht, um den Speisesaal wiederzufinden. Einmal bin ich sogar im Maschinenraum gelandet. Es ist eine wahre Schande, wie unübersichtlich dieses
Schiff aufgebaut ist, das reinste Labyrinth. Meinen Sie nicht auch?« Er blickte sich beifallheischend um, erntete jedoch von allen Seiten nur stumme Blicke. »Übrigens, falls ich mich noch nicht vorgestellt habe: Mein Name ist Donner. Richard Donner. Ich bin…« »Halt!« unterbrach ihn Maud. Alle Augen wandten sich ihr zu. »Lassen Sie mich raten.« »Raten? Was denn raten?« »Was Sie von Beruf sind.« »Ach so.« Er machte eine etwas abfällige Handbewegung. »Wenn Sie möchten. Aber ich glaube wirklich nicht, daß Sie darauf kommen.« »Abwarten. Hm, lassen Sie mal sehen.« Maud musterte ihn von oben bis unten. »Sie sind… Anlageberater!« »Unglaublich«, staunte Mr. Donner. Gelächter am Tisch, und sogar der sonst so distanzierte Mr. Parker konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Richard Donner sah sich verwirrt um. »Was denn? Was denn?« machte er. »Was ist denn daran so lustig? Die junge Dame hier hat durchaus recht. Ich bin Anlageberater.« Er beugte sich vertraulich zu Maud vor. »Sagen Sie, haben Sie nicht Lust, mit in mein Büro einzusteigen? Mit Ihrer unglaublichen Menschenkenntnis werden Sie es noch weit bringen können in dem Beruf. Glauben Sie mir!« Maud schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich glaube nicht, daß das etwas für mich wäre. Dafür sind Sie der geeignetere Mann!« Mr. Donner lehnte sich wieder zurück. Auf seinem Gesicht zeigte sich ein geschmeicheltes Lächeln. »Nicht wahr?« sagte er mehr zu sich selbst und nickte verdrossen mit dem Kopf.
»Miß Cunnings!« rief jemand durch den Gang, als Maud gerade dabei war, ihre Kabinentür aufzuschließen. Sie hatte sich mit Mrs. Parker am Swimmingpool verabredet, wollte sich aber besser doch eine Hose anziehen. Wenn sie ein paar Stunden dort oben blieb, würde es doch recht kühl werden. Und Maud wollte sich nicht schon einen Tag nach Antritt der Reise einen Schnupfen holen. Das wäre nun wirklich unnötig. In ein paar Tagen würde es so warm sein, daß sie im Bikini herumlaufen konnte. Sie drehte sich um und entdeckte am Ende des Ganges den Kabinensteward, der ihr zuwinkte und langsam auf sie zukam. Maud stemmte übertrieben die Arme in die Hüften. »Mit Kabinenstewards, die mich mit Miß Cunnings anreden, werde ich in Zukunft nicht mehr reden.« Sie bemühte sich, ernst auszusehen. Doch als er ein erschrockenes Gesicht machte, lachte sie vergnügt. »Du hast wirklich ein schlechtes Gedächtnis, Diego. Ich dachte, wir haben eine Abmachung getroffen. Jetzt muß ich dich schon zum zweiten Mal daran erinnern.« Sie blickte zu ihm empor, und ihre Blicke kreuzten sich, blieben lange aneinander hängen. Maud glaubte sogar, daß seine Arme ein paar Zentimeter nach vorne zuckten, als wollte er sie spontan in den Arm nehmen. Doch dann schien es, als habe er es sich im letzten Augenblick doch noch anders überlegt. Irgendwie empfand Maud das als schade. »Was gibt es?« fragte sie schließlich, um das Schweigen zu brechen. Auf Diegos Stirn bildete sich ein leichter Schweißfilm vor Aufregung. »Tja, weißt du…«
»Ja?« erkundigte Maud sich erwartungsvoll. Sie bemühte sich, ihm ein bißchen Unterstützung zu geben, weil sie ahnte, auf was er hinauswollte. »Also, ich habe heute abend frei, und ich… ich dachte, wir…« Er brach ab und sah verlegen auf seine Fußspitzen. Maud mußte unwillkürlich über seine Schüchternheit schmunzeln. In den Staaten, wo sie studiert hatte, hatten die Jungen meist weniger Probleme damit gehabt und waren direkt auf den Kern der Sache gekommen. Und damit hatten sie in aller Regel das Bett in ihrer Wohnung gemeint. Maud waren solche Annäherungsversuche bei weitem zu plump. Und sie freute sich richtig, daß Diego nicht zu solchen Männern gehörte. »Und da dachtest du bestimmt«, vollendete Maud seinen Satz, »daß wir heute abend zusammen etwas unternehmen könnten, nicht wahr?« Langsam blickte er wieder hoch, und sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Ja«, gab er nickend zu. »Das dachte ich. Entschuldige bitte, daß ich mich dabei so dumm angestellt habe. Möchtest du?« Er sah sie hoffnungsvoll an, aber sie zeigte ein unergründliches Lächeln. »Und an was dachtest du da?« fragte sie ihn, ohne eine Antwort zu geben. »Vielleicht könnten wir zusammen einen Wein trinken?« »Nicht schlecht.« Sie schien zu überlegen. »Und wann?« »Vielleicht um acht. Natürlich nur, wenn du möchtest.« Sie beschloß, das Spiel nicht länger hinauszuzögern. »Nun gut, hier hast du meine Antwort«, sagte sie. »Überleg dir selbst, was sie wohl zu bedeuten hat.« Sie gab dem verblüfften Kabinensteward einen Kuß auf die Wange, bevor sie sich umdrehte, ihm noch einmal zulächelte und dann in der Kabine verschwand.
Während sie hinter sich die Tür schloß, fragte sie sich erstaunt, wie sie plötzlich dazu gekommen war, so ausgelassen zu sein. Lag es nur an dieser wunderschönen Reise und ihrer Urlaubsstimmung? Oder steckte vielleicht mehr dahinter? Zum Beispiel ein gutaussehender Kabinensteward? »Wir werden sehen«, flüsterte sie leise, während sie eine Jeanshose und einen Pullover aus dem Schrank holte. Darin würde es ihr auch oben auf Deck nicht kalt werden. Sie zog sich schnell um, denn Mrs. Parker würde sicherlich schon auf sie warten. Und Maud wollte nicht den Eindruck erwecken, daß die alte Dame ihr unwichtig sei. Irgendwie machte sie einen erfahrenen, fast schon weisen Eindruck. Maud freute sich schon auf das, was sie zu erzählen hatte. Denn daran, daß Mrs. Parker die meiste Zeit reden würde, gab es gar keinen Zweifel.
»Wissen Sie, mein Mann und ich haben bereits sehr früh geheiratet. Es war in der Zeit, da Winston Churchill noch sein ›Schweiß, Blut und Tränen‹ predigte. Zum Glück kam mein Mann unversehrt aus dem Krieg zurück. Von da an widmeten wir unser Leben den Forschungen. Mein Mann hat viele selbst geleitet. Die meisten davon in Südamerika. Dort gab es damals noch mehr zu entdecken, als man sich träumen lassen konnte. Und auch die Reisen selbst waren ein finanzieller Erfolg gewesen, die Museen haben sich um die Fundstücke gerissen. Nun, ein paar Jahre später, unsere Tochter war gerade geboren worden, hat ihn dann ein tragisches Schicksal ereilt. Und das daheim in England. Da ist er unversehrt aus mörderischen Kriegsjahren zurückgekehrt, hat Tausende von Meilen im tiefsten Dschungel zurückgelegt – und dann das.«
»Was ist mit Ihrem Mann passiert?« erkundigte sich Maud mitfühlend. Sie und Mrs. Parker befanden sich auf dem Sonnendeck. Sie hatten ihre Liegen eng zusammengestellt, und die alte Dame mußte nicht laut sprechen, damit die blonde Engländerin sie verstand. Die weiteren Liegen waren unbesetzt, und so gab es niemanden, der ihnen zuhören konnte. Mrs. Parker war in eine wärmende Wolldecke gehüllt. Sie nahm ihre Brille ab und begann die Gläser zu reinigen, bevor sie mit ihrer Erzählung fortfuhr. »Er ist beim Reiten auf einem Ausflug vom Pferd gestürzt. Das Tier hat gescheut, und bei dem Sturz hat er sich das Genick gebrochen.« Mrs. Parker schluchzte leise. »Seit dieser Zeit habe ich mein Leben völlig den Forschungen verschrieben. Vielleicht aus dem Gefühl heraus, ich müßte die Arbeit meines Mannes weiterführen. Wenn Sie möchten, erzähle ich Ihnen gerne ausführlicher darüber. Vielleicht sollten wir uns dazu noch einen Kaffee bestellen. Wie ist es, möchten Sie auch einen?« »Gerne«, erwiderte Maud. Mrs. Parker rief nach einem der Stewards. »Sie wünschen?« »Bringen Sie uns zwei Kaffee, bitte.« »Gerne.« Der Steward nickte und entfernte sich wieder. »Sie hatten Ihre Tochter erwähnt«, meinte Maud. »Was ist mit ihr? Mittlerweile müßte sie doch auch schon fast erwachsen sein, oder?« »Meine Tochter?« wiederholte Mrs. Parker und blickte versonnen zu Boden. »Ja, eigentlich müßte sie jetzt schon eine erwachsene Frau sein…« Mrs. Parker unterbrach sich und schwieg. »Was ist mit Ihrer Tochter?« fragte Maud. »Nun, meine Tochter ist… sie ist tot.«
»Was?« »Ja. Gestorben bei einer Fahrt wie dieser. Sie muß bei Nacht über Bord gegangen sein. Wer weiß, vielleicht hat sie sich einfach nur zu weit über das Geländer gebeugt. Ja, so muß es gewesen sein.« »Man hat sie nie gefunden?« »So ist es. Trotz einer ausgedehnten Suchaktion – man hat nie eine Spur von ihr gefunden.« »Und kann es nicht doch sein, daß sie vielleicht dennoch überlebt hat?« sprach Maud den Gedanken aus, der ihr gerade gekommen war. Sie war sich jedoch sicher, daß Mrs. Parker auch schon an diese Möglichkeit gedacht hatte. »Ich glaube nicht«, erwiderte diese und vermied es, Maud anzublicken. »Es passierte mitten auf dem Atlantik. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie von einem anderen Boot aufgefischt worden ist, ist gleich null. Außerdem hätte sie sich in diesem Fall bestimmt bei mir gemeldet. Der Unglücksfall ist immerhin sieben Jahre her.« Mrs. Parker wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Maud befürchtete, sie würde jeden Augenblick in Tränen ausbrechen, und beschloß daher, dieses Thema jetzt nicht mehr zu berühren. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte die alte Dame. »Aber es fällt mir noch immer sehr schwer, über diese Dinge zu sprechen. Denn schließlich war Theresa mein einziges Kind.« In diesem Augenblick kam der Steward zurück und brachte zwei Tassen Kaffee auf einem Tablett. Schweigend tranken die beiden Frauen die ersten Schlucke, dann meinte Mrs. Parker: »Lassen Sie uns lieber zu meinen Forschungsreisen zurückkommen. Wie mein verstorbener Mann habe ich besonders Südamerika zum Ziel genommen.
Ich habe die unglaublichsten Sachen gefunden. Die absonderlichsten Riten.« Die Möglichkeit, aus ihrem Leben zu erzählen, schien Mrs. Parker wieder zu beruhigen. Man hatte ihr angemerkt, wie unangenehm es ihr war, daß die Sprache jetzt auf ihre Tochter gekommen war. »Erzählen Sie ruhig mehr«, sagte Maud. »Übrigens, sind Sie irgendwann vielleicht einmal auf den Begriff wie ›Tag der Erfüllung‹ gestoßen?« Maud wußte selbst nicht, wie sie ganz plötzlich auf die wirren Worte der Greisin kam. Aber sie konnte sich gut vorstellen, daß die Alte vielleicht etwas mit südamerikanischen Sekten zu tun haben könnte. Und wer weiß, vielleicht wußte Mrs. Parker ja etwas darüber. Es war gut möglich, daß die Greisin im Rollstuhl aus Südamerika stammte. Da Maud gerade hinaus auf das weite Meer blickte, entging ihr, wie Mrs. Parker bei ihren Worten unvermittelt zusammenzuckte. Ihr Gesicht war um einige Nuancen bleicher. »Der Tag der Erfüllung?« fragte sie mit versteinerter Miene. »Ja«, antwortete Maud. »So oder so ähnlich hat es sich angehört.« Als sich Maud ihr wieder zuwandte, lächelte Mrs. Parker, als wäre nichts geschehen. »Wie kommen Sie darauf?« »Ach, eigentlich ist das nicht von Bedeutung, glaube ich zumindest«, erwiderte Maud. »Ich hatte gestern nur eine alte Dame im Rollstuhl getroffen, die mir irgend etwas von dieser Sache erzählt hatte. Aber wahrscheinlich war die gute Frau nicht mehr ganz richtig im Kopf.« »Das kann gut möglich sein«, murmelte Mrs. Parker und bemühte sich, sich ihren Schrecken nicht anmerken zu lassen.
»Ich weiß auch nicht, wie ich gerade darauf gekommen bin. Ich dachte nur, vielleicht könnten Sie etwas über diese Sache wissen. Aber es war sicherlich dumm von mir, das zu denken.« »Ach, sagen Sie das nicht. Ich kann ja einmal bei mir in der Kabine nachsehen. Ich habe nämlich eine Menge Bücher mit auf diese Reise genommen, müssen Sie wissen. Vielleicht finde ich in einem von ihnen etwas über diese Sache.« »Ja, aber Sie müssen sich meinetwegen keine besondere Mühe machen.« »Das mache ich doch gerne«, erwiderte Mrs. Parker. »Doch um jetzt auf die Forschungen in Südamerika zurückzukommen. Eine der interessantesten Reisen habe ich in das Amazonasgebiet unternommen…« Die nächsten beiden Stunden erzählte Mrs. Parker Maud viel über ihre Reisen. Die Zeit verging dabei so schnell, daß sie beide von dem Signal zum Abendessen überrascht wurden. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht gelangweilt«, meinte Mrs. Parker, als sie beide von den Liegen aufstanden. »Nein, ganz bestimmt nicht.« Maud lächelte. »Sonst wäre ich bestimmt schon früher gegangen.« »Nun, wenn Sie nichts dagegen haben, können wir unsere Unterhaltung ja morgen fortsetzen. Vielleicht wieder nachmittags? Ich finde, dann ist es hier oben am schönsten.« »Aber gerne.«
»Schön, daß du Zeit für mich hattest«, sagte Diego, als sie abends zusammen bei einem Glas Wein an der Bordbar saßen. Der Barkeeper hatte dem Steward zwar einen vieldeutigen Blick zugeworfen, sich aber jeden Kommentars enthalten. Anstelle seines weißen Anzuges trug er jetzt eine schwarze Hose und ein graues Cordhemd mit langen Ärmeln. Fast schien es, als sei auch er einer der vielen Passagiere an Bord.
In der Bar herrschte gedämpftes Licht. Auf dem Tisch standen flackernde Kerzen und warfen unruhige Schatten. Von den anderen Tischen, die zur Hälfte besetzt waren, drangen gedämpft Gesprächsfetzen herüber. »Wer könnte schon einem so schüchtern vorgetragenen Wunsch wie deinem widerstehen?« fragte Maud jetzt etwas ironisch wieder zurück. »Jetzt machst du dich über mich lustig.« »Nein, überhaupt nicht«, beschwichtigte sie ihn. »Ich freue mich wahrscheinlich ebenso wie du, daß wir uns getroffen haben.« »Wirklich?« fragte er zweifelnd. »Wirklich«, bestätigte sie mit Verschwörermiene. »Das ist schön.« Diego legte seine Hand sanft auf die ihre. Maud entzog sich dieser Berührung nicht. Im Gegenteil, sie genoß die Wärme der Haut, die sie so dicht an ihrer spürte. Dieses Gefühl jagte ihr ein kleines wohliges Schaudern den Rücken hinunter. Eine Weile saßen sie sich so gegenüber, schwiegen und sahen sich einfach nur an. »Woran denkst du?« fragte Diego schließlich leise. Maud legte den Kopf in den Nacken und lächelte etwas. »Ach, an nichts Bestimmtes«, meinte sie. »Mir geht so vieles durch den Kopf. Ich möchte zum Beispiel mehr über dich wissen. Aus welchem Land kommst du? Bitte, erzähl mir von dir.« »Oh, ich dachte, du wärst schon von allein darauf gekommen«, antwortete er. »Erkennt man das nicht an meiner Aussprache?« »Nein«, sagte Maud. »Du sprichst sehr gut Englisch. Zwar mit einem leichten Akzent, aber man könnte denken, daß es deine Muttersprache wäre.«
»Nein, das ist sie nicht. Aber ohne meine Kenntnisse der Sprache wäre ich bestimmt nicht an Bord dieses Schiffes gekommen.« Er lächelte sie an. »Ich komme aus Brasilien. Von dort, wo das Schiff gerade hinfährt. Ich bin in den Slums von Rio de Janeiro aufgewachsen. Meine Eltern sind sehr früh gestorben. Bei einer alten Dame habe ich dann Englisch gelernt, und sie hat mir auch die Möglichkeit gegeben, aus der Armut herauszukommen. Für jemanden wie mich war es fast ein Traum, einmal an Bord eines solchen Schiffes mitzureisen – und sei es auch nur als Steward.« »Das kann ich gut verstehen«, sagte Maud mitfühlend. Sein Gesicht verdüsterte sich etwas. »Natürlich habe ich diesen Job auch nur durch Beziehungen der alten Dame bekommen. Ich habe viele Zugeständnisse machen müssen, aber letztendlich ist es doch nur wichtig, was das Ergebnis ist, oder? Jedenfalls versuche ich immer, mir das einzureden.« Maud schwieg. Sie sah an seinem Gesichtsausdruck, daß er nicht weiter darüber sprechen wollte. »Doch lassen wir dieses Thema«, sagte er dann auch. »Was wichtig ist, ist nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart. Und das besonders, wenn man einem solch hübschen Mädchen wie dir gegenübersitzt.« »Oh«, machte Maud, »danke für das Kompliment.« Sie blieben noch eine gute Stunde in der Bar und unterhielten sich über dies und das. Dann drängte Diego zum Aufbruch. Er hatte morgens bereits sehr früh Dienstantritt, und er wollte frisch sein, wenn es soweit war. »Warum sollte ich dir böse sein?« fragte Maud auf seine Frage. »Ich möchte deinem Dienst nicht im Wege stehen.« »Und was machst du jetzt noch?« »Ich glaube, ich werde ebenfalls ins Bett gehen. Vielleicht wache ich dann morgen früh rechtzeitig zum Frühstück auf. Heute habe ich es nämlich verschlafen.«
»Dann darf ich dich doch sicher zu deiner Kabine bringen.« Dagegen hatte Maud nichts einzuwenden. Sie hakte sich bei Diego unter, als sie über die Deckpromenade zu den Kabinen gingen. Vor ihrer Tür verabschiedeten sie sich voneinander mit einem innigen Kuß. Wieder ging die Initiative dazu von Maud aus. War Diego nur so schüchtern? Oder gab es etwas, das zwischen ihnen stand? Maud wußte nicht, ob sie sich nur unnötige Gedanken machte, als sie ihre Kabine betrat und aus den Kleidern schlüpfte. Nachdem sie sich ins Bett gelegt hatte, beschäftigten sich ihre Gedanken noch lange mit dem Kabinensteward. Sie hatte ganz unwillkürlich Vertrauen zu ihm gefaßt, und dem jungen brasilianischen Mann schien es ebenso zu ergehen. Doch schließlich, nachdem sie eine ganze Zeitlang wachgelegen hatte, glitt sie in den Schlaf hinüber. Das Bild Diegos tauchte aber immer wieder in ihren Träumen auf…
Als Maud am nächsten Morgen erwachte, hatte sie an all diese Träume keine Erinnerungen mehr. Dafür fühlte sie sich herrlich ausgeruht und ausgeschlafen. Rasch sprang sie aus dem Bett. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, daß es erst knapp vor neun Uhr war. Diesmal würde sie also rechtzeitig zum Frühstück im Speisesaal sein können. Als sie die Bullaugen – von denen es in ihrer Kabine zwei gab – aufmachte, stellte sie fest, daß bereits ein recht warmer Wind hereinwehte, wenn auch noch keine hochsommerlichen Temperaturen herrschten.
Aber man merkte, daß das Schiff über Nacht ein ganzes Stück an der französischen Küste südwärts entlanggefahren war. Das Frühstück nahm Maud zusammen mit Mr. Donner ein. Mr. und Mrs. Parker waren beide offenbar Frühaufsteher und hatten die Mahlzeit bereits hinter sich gebracht. Auch Maud bemühte sich, so schnell wie möglich fertig zu werden, als Mr. Donner anfing, ihr davon zu erzählen, wie abenteuerlich doch so ein Beruf als Anlageberater wäre und daß er gezwungen sei, den ganzen Tag unter voller Konzentration zu arbeiten. Maud flüchtete schließlich aufs Deck und machte einen Spaziergang rund um das Schiff. Der Wind hatte etwas zugenommen und blies angenehm warme Luft aus westlichen Gefilden herüber. Gegen Mittag würde es bestimmt schon knapp über zwanzig Grad sein. Da die junge Engländerin keine Lust hatte, den Vormittag bequem auf einem der vielen Liegestühle zu verbringen, sah sie sich auch die unteren Decks an. Hier fand sie das Zentralbüro der Reiseleitung, und sie erkundigte sich erst einmal etwas genauer über die Reiseroute des Schiffes. Die Angestellte erklärte ihr alles ausführlich und deckte sie auch mit einem Stapel Prospekten ein, in der alles über die Anlagehäfen stand und welche Tagesfahrten oder sonstige Dinge man buchen konnte. Maud erfuhr, daß das Schiff morgen früh um neun Uhr in Lissabon anlegen würde, der portugiesischen Hauptstadt. Hier hatten alle Passagiere und auch ein Teil der Besatzung die Möglichkeit, von Bord zu gehen und sich die Stadt anzusehen. Maud beschloß, Diego zu fragen, ob er frei bekommen könnte. Denn sie konnte sich nichts Besseres vorstellen, als mit
dem Kabinensteward einen ausgedehnten Stadtbummel zu machen. Gleichzeitig erinnerte sie der morgige Anlegepunkt daran, daß sie sich vorgenommen hatte, ihren Eltern von jedem Hafen aus eine Postkarte zu schicken. Sie kaufte sich also einen kleinen Stapel Postkarten mit Motiven des Schiffes, um auch ihre ganzen Freunde und Freundinnen nicht zu vergessen, und zog sich bis zum Mittagessen in ihre Kabine zurück. Den Nachmittag verbrachte sie wieder zusammen mit Mrs. Parker, von der sie gefragt wurde, ob sie den Landaufenthalt nicht zusammen mit ihr und ihrem Bruder verbringen wolle. Da Maud immer noch die Hoffnung hatte, mit Diego Zusammensein zu können, lehnte sie höflich ab, was Mrs. Parker durchaus verstand. Doch am Abend, als Diego kurz in ihrer Kabine auftauchte, mußte er ihr leider sagen, daß er den Aufenthalt über Dienst hatte, und vertröstete sie auf Gran Canaria, wo sie zwei Tage später anlegen würden. Dort hätte er bestimmt frei, das wäre schon jetzt in seinem Dienstplan festgelegt. So kam es, daß Maud den Landaufenthalt allein verbrachte. Sie machte einen ausgedehnten Bummel durch die malerischen Straßen Lissabons, die rund um die Uhr starken Verkehr aufwiesen. Dem südländischen Temperament der Einwohner entsprechend vergingen kaum ein paar Sekunden, in denen nicht von irgendwoher eine Hupe ertönte. Doch nach einiger Zeit hatte sich Maud an diese Eigenart gewöhnt und nahm das Gehupe kaum mehr wahr. Irgendwie gehörte das alles mit zum Flair dieser Stadt. Vom vielen Umhergehen müde, verbrachte Maud die nächsten Stunden in einem malerischen Restaurant, von dem aus man zum Hafen hinuntersehen konnte. Der riesige weiße Schiffsrumpf des Passagierdampfers, der dort unten vor Anker lag, wirkte von hier aus sehr klein.
Maud probierte einige Fischspezialitäten, und sie bereute es nicht. Sie schien richtig zu schmecken, daß die Fische tatsächlich erst vor kurzem gefangen worden waren. Schließlich machte sie sich auf den Rückweg, da sie die Abfahrt des Schiffes nicht verpassen wollte. Außerdem mußte sie noch die Postkarten loswerden, die sie an Bord geschrieben hatte. Zum Glück fand sie recht schnell einen Portugiesen, der auch ein bißchen Englisch verstand und ihr den Weg zum Postamt dann genau beschreiben konnte. Die Sonne hatte sich inzwischen dem Horizont schon ein gutes Stück genähert, und die Schatten in den schmalen Gassen waren lang geworden. Plötzlich beschlich Maud ein seltsames Gefühl, als ob sie von jemandem verfolgt würde. Doch jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, konnte sie hinter sich nichts Verdächtiges entdecken. Keiner der Passanten hinter ihr schien auf sie zu achten. Und dennoch – als Maud sich umdrehte, um weiterzugehen, hatte sie wieder dieses seltsame Gefühl. Es war, als könnte sie in ihrem Nacken fast körperlich die Blicke eines anderen spüren. Jetzt mach dich doch nicht selbst verrückt! dachte sie ärgerlich. Trotzdem war sie froh, als sie endlich das Postgebäude erreicht hatte. Während sie in der kleinen Schlange vor dem Schalter wartete, um Briefmarken zu kaufen, sah sie durch die schon lange nicht mehr geputzte Scheibe nach draußen. Doch auch dort war nichts zu entdecken. Doch Mauds seltsames Gefühl blieb. Am nächsten Taxistand stieg sie in einen Wagen ein und bat den Fahrer, sie zurück zum Hafen zu fahren. Schließlich würde
das Schiff in einer halben Stunde ablegen, und es konnte nicht schaden, ein bißchen eher dazusein. Als der Wagen losfuhr, blickte sie sich um und sah zurück zum Taxistand. Täuschte sie sich, oder stieg da gerade hinter ihr eine weißgekleidete, schlanke Gestalt in den nächsten Wagen ein? Maud ärgerte sich, daß sie sich so schnell verängstigen ließ. Und außerdem – sollte ihr Verfolger – wenn es ihn wirklich gab – doch hinterherfahren! Bald hatte das Taxi den Hafen erreicht, und der andere würde ihr bestimmt nicht an Bord des Schiffes folgen können!
Nachdem Maud den Taxifahrer bezahlt hatte, der sie direkt vor dem Ende der Gangway abgesetzt hatte, stieg sie aus. Sie zeigte dem Steward, der sie begrüßte, ihre Bordkarte und ging danach aufs Schiff hinauf. Sie blickte in die Richtung, aus der ihr Taxi gekommen war, doch auf der Straße, die nach zweihundert Metern hinter einer Biegung verschwand, war kein anderer Wagen zu erkennen. Obwohl sie sich sagte, daß es bestimmt Unsinn war, blieb sie eine Zeitlang oben auf der Reling stehen und beobachtete die Straße. Nach ein paar Minuten – Maud wollte gerade schon zu ihrer Kabine gehen – kam eine schlanke Gestalt die Straße hinunter. Es war ein Mann in einem weißen Freizeitanzug. Als er näher kam, erkannte sie, daß er kurzgeschnittenes, dunkelblondes Haar hatte. Als er zu dem Schiff hinaufblickte, erwischte sich Maud dabei, wie sie unwillkürlich zurückzuckte, damit man ihre hellen Haare nicht hinter der Reling sehen konnte. Verstohlen sah sie danach wieder über den Rand hinweg und entdeckte zu ihrer Überraschung, daß der Mann dort unten dem
Steward etwas zeigte und dann ebenfalls die Gangway hinaufstieg. Konnte es sein, daß dieser Mann, der offensichtlich ebenfalls ein Passagier war, sie in Lissabon verfolgt hatte? Oder spielte ihr lediglich ihre Phantasie einen Streich? Maud verließ die Reling, bevor der andere an Bord gekommen war und sie entdecken konnte. Durch die Gänge ging sie hinunter zu ihrer Kabine. Vor dem Abendessen, das es kurz nach dem Ablegen gab, wollte sie sich noch etwas frisch machen und sich umziehen. Schließlich konnte sie beim Abendessen ja schlecht in den ausgewaschenen Jeans und dem T-Shirt erscheinen.
Als Maud vor ihrer Kabinentür in der kleinen Umhängetasche, mit der sie unterwegs gewesen war, den Schlüssel suchte, fiel ihr ein, daß sie ihn gar nicht bei sich haben konnte. Sie schüttelte den Kopf, als sie daran dachte, daß sie ihn vor dem Landausflug im Zentralbüro abgegeben hatte, um ihn nicht versehentlich zu verlieren. Da ihre Gedanken die ganze Zeit bei dem Mann im weißen Anzug waren, hatte sie gar nicht mehr daran gedacht. Sie machte sich auf den Weg zum Büro. Plötzlich zuckte sie erschrocken zusammen. Vor ihr – keine fünf Meter entfernt – war wieder die Greisin mit dem schlohweißen Haar. Ihre knöchernen Hände schoben die Räder ihres Rollstuhls, der langsam auf Maud zuglitt. Die Augen der Alten starrten zu ihr herüber, und auf dem Gesicht zeigte sich ein Grinsen, das Maud unendlich abstoßend vorkam. Ganz unwillkürlich wich sie langsam zurück. Eine richtige Gänsehaut hatte ihren Körper umhüllt.
Als sie sich umdrehte, um der Alten zu entkommen, prallte sie hinter sich plötzlich gegen ein weiteres Hindernis. Gerade noch konnte sie einen Aufschrei unterdrücken. Das Hindernis war die Brust des hünenhaften Mannes, der vor ein paar Tagen den Rollstuhl geschoben hatte. Maud hatte sich so sehr auf die Greisin konzentriert, daß sie an ihn überhaupt nicht mehr gedacht hatte. Bei dem Aufprall ihres Körpers hatte er nicht einmal ein kleines Stückchen geschwankt. Er mußte über unwahrscheinliche Kräfte verfügen. Maud zuckte zurück, und sie blickte hoch zu dem Gesicht des Mannes. Seine Augen sahen teilnahmslos auf sie hinab. Doch Maud war sicher, daß er bestimmt sofort eingreifen würde, wenn sie versucht hätte, an ihm vorbeizulaufen. Und sie hatte wirklich überhaupt keine Lust, den Griff der kräftigen Hände zu spüren. Die Greisin hatte sie nun erreicht, und unwillkürlich drehte sich Maud um. Schnell steckte sie die Hände in die Hosentaschen ihrer Jeans, damit die Greisin sie nicht wieder umklammern konnte. Doch so etwas schien diese auch nicht im Sinn gehabt zu haben. Statt dessen stieß ihr knöcherner Arm nach oben, und ihr Zeigefinger deutete genau auf Mauds Gesicht. Wieder stieg das Verlangen in Maud hoch, einfach loszuschreien. Doch sie zwang sich dazu, erst einmal abzuwarten und zu sehen, was die Greisin diesmal im Sinn hatte. Vielleicht war das Ganze nur eine harmlose Sache. Und wenn der Mann zudringlich werden würde, konnte sie ja immer noch schreien. Von irgendwoher in der Nähe erklang das beruhigende Geräusch von Schritten.
Maud starrte auf den Arm der Greisin. Der Umhang, den sie über die Schulter gelegt hatte, war verrutscht und offenbarte ein blutrotes Sonnensymbol, das in die pergamentartige Haut eintätowiert war. »Bald ist der Tag gekommen, mein Kind«, weissagte die Frau im Rollstuhl mit ihrer tiefen Grabesstimme. »Der Tag der Erfüllung. Denke immer daran.« Unter anderen Umständen hätte Maud sicherlich eine passende Antwort gefunden, nun aber schien es ihr die Sprache verschlagen zu haben. Mehr unterbewußt nahm sie wahr, wie die Greisin ihren Arm wieder sinken ließ. Der Mann schob sich an ihr vorbei und drehte den Rollstuhl herum. Ein paar Sekunden später hatten die beiden den Gang verlassen. Maud atmete ein paarmal tief ein und aus. Langsam beruhigte sich auch ihr wild klopfendes Herz wieder. Was wollten die beiden nur von ihr? Maud überlegte, ob sie es weiterhin für einen übler Scherz halten oder ob sie vielleicht nicht doch besser die Schiffsführung von diesen Belästigungen in Kenntnis setzen sollte. Aber was sollte sie denen schon sagen? Daß man sie zweimal auf dem Gang angesprochen hatte und daß sie sich dadurch beunruhigt fühlte? Maud zuckte mit den Schultern und machte sich endgültig auf den Weg zum Zentralbüro, um ihren Schlüssel zu holen.
»Sie sehen bleich aus«, sagte Mrs. Parker beim Abendessen. »Ist es Ihnen an Land nicht gut ergangen?« »Doch, doch«, erwiderte Maud wahrheitsgemäß. »Es hat mir in Lissabon wirklich sehr gut gefallen. Daran liegt es nicht. Ich
bin vielleicht nur ein wenig müde und von dem vielen Umherlaufen erschöpft.« Die erneute Begegnung mit der Greisin wollte sie hier am Tisch im Speisesaal natürlich nicht erwähnen. Die restlichen drei Plätze waren jetzt übrigens auch belegt. Die Gäste waren in Lissabon zugestiegen. Es handelte sich um ein Ehepaar aus Portugal, das zusammen mit seinem dreizehnjährigen Sohn diese Kreuzfahrt gebucht hatte. Mr. Parker war als erster mit dem Essen fertig und stand auf, während er den anderen am Tisch noch einmal zunickte. Seine Schwester sah ihm nach, bis er aus dem Speisesaal verschwunden war, und wandte sich dann an Maud. »Er hat in der Bar jemanden getroffen, dem er vor Jahren bereits in England begegnet ist. Jetzt sitzen die beiden den ganzen Tag in dem verrauchten Raum und unterhalten sich oder spielen Backgammon. Mein Bruder ist nämlich ein großer Anhänger dieses Spiels und freut sich bestimmt, einen Spielpartner gefunden zu haben. Aber ich frage Sie, kann man das nicht auch einmal draußen an der frischen Luft tun?« »Sicherlich«, sagte Maud, wenig gesprächig. Mrs. Parker erkannte wohl, daß sich die junge Engländerin mit dem hellbonden Haar nicht in bester Stimmung befand, und gab ihre Versuche auf, ein Gespräch beginnen zu wollen. Mauds Appetit war ebenfalls nicht sehr groß. Als sie schließlich aufstand, hatte sie kaum die Hälfte der Portion gegessen, die sich auf ihrem Teller befunden hatte. Ihre Gedanken kehrten irgendwie immer wieder zu der Greisin zurück. Und auch der Mann, den sie nach sich die Gangway hinaufkommen gesehen hatte, beschäftigte sie. Gab es vielleicht sogar einen Zusammenhang zwischen beiden? Schließlich verließ auch sie den Speisesaal.
Mrs. Parker warf ihr einen langen nachdenklichen Blick nach. Man konnte ihr ansehen, daß sich ihre Gedanken mit der jungen Frau beschäftigten, die alleine auf diese Kreuzfahrt gegangen war. Maud indessen ging nach unten. Bevor sie den Gang, der zu ihrer Kabine führte, betrat, spähte sie vorsichtig um die Ecke, konnte aber außer ein paar anderen Passagieren niemand entdecken. Etwas verärgert über ihre Vorsicht, zugleich aber auch erleichtert, ging sie zu ihrer Kabine und verschloß die Tür hinter sich. Sie zog sich die Schuhe aus und warf sich auf das Bett. Fast zwangsläufig kehrten ihre Gedanken wieder zu der Greisin zurück. Die seltsame Tätowierung auf dem Oberarm hatte sich Maud tief ins Gedächtnis eingebrannt. Sie fragte sich, was dieses Symbol wohl zu bedeuten hatte. Irgendwann ärgerte sich Maud darüber, daß sie ganz unentwegt an diese unangenehme Begegnung denken mußte. Obwohl es noch früh am Abend war, hatte sie fast schon Lust, im Bett zu bleiben. Doch sie hatte sich ja noch mit Diego verabredet. Heute ab zweiundzwanzig Uhr fand in der Lounge ein Tanzabend statt, und sie hatten beschlossen, dort gemeinsam hinzugehen. Der Gedanke an Diego ließ Mauds Laune wieder ein bißchen steigen. Wie gut, daß sie ihn kennengelernt hatte. Ohne ihn würde ihr die Fahrt sicherlich weniger Freude machen – aber da kam ihr plötzlich auch der Gedanke, daß sie sich in ein paar Wochen von ihm verabschieden würde müssen. Für immer? Maud lächelte, als sie merkte, wie sie über Möglichkeiten nachdachte, wie sie weiterhin Zusammensein konnten.
Um sich ein wenig in Stimmung zu bringen, bestellte Maud sich über das Zimmertelefon einen Cocktail, den sie sich in die Kabine bringen ließ. Sie öffnete die Bullaugen und ließ die warme Abendluft herein. Jetzt merkte man bereits deutlich, daß das Schiff in südlicheren Breitengraden war. Und noch ein Gutes gab es hier draußen auf See. Es gab so weit von der Küste entfernt keine stechfreudigen Insekten. Wenn man über Nacht die Bullaugen offenließ, mußte man nicht befürchten, daß man am nächsten Morgen völlig zerstochen aufwachte. Dafür bemerkte Maud, wie sich die Haut an ihren Armen gerötet hatte und empfindlich auf jede Berührung reagierte. Sie seufzte, als sie feststellte, daß sie sich tagsüber beim Landaufenthalt wahrscheinlich einen leichten Sonnenbrand geholt hatte. Dummerweise hatte sie natürlich vergessen, sich mit einer Schutzlotion einzucremen. Ein Versäumnis, das sich nun rächte. Um sich ein bißchen Linderung zu verschaffen, holte sie das jetzt nach. Dann öffnete Maud den Kleiderschrank und überlegte, was sie zu dem Treffen mit Diego anziehen sollte. Sie entschied sich schließlich für ein langes, elegantes Abendkleid aus dunkelrotem Satin, das ihr wirklich hervorragend stand. Eine Viertelstunde verbrachte Maud noch im Badezimmer und schminkte sich ein wenig, dann machte sie sich mit klopfendem Herzen auf den Weg zu ihrem Rendezvous. Es war jetzt Viertel nach zehn, doch in der Lounge tanzten bereits einige Pärchen zu der einschmeichelnden Musik der Kapelle. Nervös blickte Maud sich um. War Diego schon da? In dem gedämpften Licht, das heute abend hier herrschte, um die Romantik zu erhöhen, konnte sie zwar kaum ein Gesicht
erkennen, aber sie war sich sicher, daß Diego noch nicht da war. Plötzlich verspürte Maud, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Schnell wandte sie sich um und erkannte neben sich das braungebrannte Gesicht Diegos. Er warf einen bewundernden Blick an ihr herunter und lächelte sie freudig an. »Du siehst sehr schön aus!« »Danke«, erwiderte Maud, und plötzlich wollte ihr kein weiteres Wort mehr einfallen. Diego beugte sich vor, und einen Lidschlag später trafen sich ihre Lippen zu einem zärtlichen Kuß. »Ich habe uns dort hinten einen Tisch reservieren lassen«, sagte er nach einer ganzen Weile und deutete mit dem Arm auf einen Platz neben dem Fenster. Er sah sie fragend an, als warte er auf ihre Zustimmung. Sie nickte ihm freundlich zu. »Worauf warten wir noch?« Ein paar Augenblicke später saßen sie zusammen an dem Tisch. Durch die Scheibe konnte man die Lichter des Schiffes sehen, die sich auf den Kronen der leichten Wellen widerspiegelten. Und über der Linie des Horizonts funkelten die Sterne, als gäben sie sich ganz besondere Mühe, einen passenden Rahmen für diesen Abend zu bieten. Diego bestand darauf, Champagner zu bestellen, obwohl Maud sich zuerst dagegen wehrte. Ihrer Meinung nach hätte einfacher Sekt durchaus genügt. Im Gegensatz zu vielen richtigen und angeblichen Kennern war sie der Meinung, daß sein Geschmack einen derart höheren Preis nicht rechtfertigte. Insgeheim vermutete sie, daß ihn viele nur deshalb tranken, weil er teurer war und sie so ihren Wohlstand zur Schau stellen konnten. Ein solches Verhalten war Maud zuwider, obwohl sie selbst aus einer begüterten Familie stammte. Aber sie konnte
durchaus verstehen, daß Diego auf diese Art vielleicht seine Zuneigung für sie zeigen wollte. Dabei wäre es ihr viel lieber gewesen, wenn er das in Worte anstatt in Champagner gekleidete hätte. So freundlich er bisher zu ihr gewesen war, hatte sie doch das Gefühl, als gäbe es irgend etwas, was letztlich noch zwischen ihnen stand. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, daß er mit der Zeit ganz bestimmt von allein die Sprache darauf bringen würde, wenn ihm irgend etwas an ihrer Freundschaft lag. Der Champagner kam, und Diego ließ es sich nicht nehmen, die Flasche selbst zu öffnen. Nachdem sie angestoßen hatten, saßen sie eine Zeitlang schweigend da und beobachteten die tanzenden Paare. Gerne hätte es Maud gesehen, wenn er sie zu einem Tanz aufgefordert hätte, doch er schien nicht auf diese Idee zu kommen. Mehrmals überlegte Maud, ob sie ihn fragen sollte, und gab sich schließlich einen Ruck. Doch Diego schüttelte den Kopf und preßte die Lippen ein wenig zusammen. »Es tut mir leid, Maud, ich habe nie Tanzen gelernt, so gerne ich es manchmal auch getan hätte. Aber ich hatte nie die Gelegenheit dazu gehabt. Wenn ich mit dir auf die Tanzfläche gehen würde, würde ich dir sicherlich nur auf die Füße treten und uns vor allen anderen blamieren.« »Es braucht dir nicht leid zu tun«, erwiderte Maud und legte ihre Hand sanft auf Diegos Arm. Sie freute sich, als er bald wieder lächelte. Die Kapelle beendete ein Lied, und von überall ertönte leiser Applaus.
Ein paar Sekunden war es bis auf das beständige Stimmengewirr ruhig, dann setzten die ersten Takte des nächsten Liedes ein. »Darf ich um diesen Tanz bitten?« fragte eine Stimme hinter Maud. Überrascht drehte sie sich um und erstarrte im nächsten Moment. Vor ihr stand der Mann, der in Lissabon nach ihr zurück auf das Schiff gekommen war. Der Mann, der sie vielleicht auch schon in der Stadt verfolgt hatte? Jetzt konnte Maud auch zum ersten Mal sein Gesicht genau erkennen, das recht attraktiv war. Er war vielleicht dreißig bis fünfunddreißig Jahre alt. Die Haare waren kurzgeschnitten, und unter ihnen lagen zwei graue Augen, die Maud eindringlich ansahen. Der Mann war in ein weißes Dinnerjackett gekleidet und hatte eine ebenfalls weiße Hose an. Eigentlich machte er einen recht eleganten Eindruck, doch etwas störte Maud an seinem Anblick und verursachte ein unangenehmes Gefühl in ihr. »Verzeihung«, meinte er, als sie keine Antwort gab, und beugte sich ein Stückchen zu ihr hinunter. »Gewähren Sie mir diesen Tanz?« Maud senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, und wie um es sich selbst noch einmal zu beweisen, wiederholte sie: »Nein, ich glaube, ich habe keine Lust dazu.« Aus den Augenwinkeln sah Maud, wie Diego sich bereitmachte, um sofort aufzustehen, falls der Fremde sie nicht in Ruhe lassen würde. Und Maud wollte nicht, daß es zu irgendwelchen Streitigkeiten kam, und drehte sich wieder zu Diego um.
Doch der fremde Mann gab nicht auf. Sein Finger tippte leicht gegen Mauds Schulter, und sie zuckte unwillkürlich zusammen. »Bitte«, sagte er nochmals, und sein Tonfall wurde beschwörend. »Sie müssen mir diesen Tanz gewähren!« »Nein«, entgegnete Maud nochmals, ohne aufzusehen. Sie hoffte, der Mann würde bald verschwinden. Diego war mittlerweile aufgestanden und schob sich zwischen Maud und den Fremden. »Sie haben doch gehört, was die Dame gesagt hat«, sagte er und blickte dem anderen dabei drohend in die Augen. »Verschwinden Sie jetzt, und zwar sofort.« Maud sah entsetzt, wie der rechte Arm des Mannes zuckte, als wollte er zuschlagen, doch dann schien er es sich anders zu überlegen. Er warf Diego noch einen giftigen Blick zu, bevor er zu Maud sah und ihr zunickte. »Verzeihen Sie bitte, Lady. Ich glaube, ich habe mich dumm benommen.« Er drehte sich um und verschwand zwischen den anderen Gästen. Diego setzte sich erst wieder hin, als die weißgekleidete Gestalt des Mannes nicht mehr zu sehen war. »Wer war dieser Kerl?« fragte er Maud, nachdem er seine Hände um die ihren geschlossen hatte. Sie war dankbar für dieses Stück Wärme, das er ihr vermittelte. Trotz der angenehmen warmen Luft hatte sie bei der Begegnung zu frösteln begonnen. »Ich weiß es nicht«, sagte sie, befreite eine Hand und griff nach ihrem Glas. Sie überlegte, ob sie Diego etwas von dem Gefühl verraten sollte, in Lissabon verfolgt worden zu sein. Doch dann entschied sie sich anders.
»Komm, laß uns diese Sachen einfach vergessen«, meinte sie und schenkte Diego ein Lächeln, das jedoch noch etwas gekünstelt war. Er schien es jedoch nicht zu bemerken. »In Ordnung«, erwiderte er. »Was hältst du davon, wenn wir den Champagner austrinken und noch einen Spaziergang zum Sonnendeck machen? Um diese Uhrzeit ist dort bestimmt keiner mehr. Hast du Lust?« Maud nickte.
Als Maud am nächsten Morgen aufwachte, stellte sie fest, daß sie eine ziemlich unruhige Nacht hinter sich haben mußte. Das Bett war zerwühlt, das Kopfkissen lag auf dem Boden. Mauds Kopf fühlte sich an, als hätte sie gestern abend zuviel getrunken, doch es war bei der einen Flasche Champagner geblieben. Und dennoch – der bohrende Kopfschmerz blieb. Sie trat an das geöffnete Bullauge und atmete ein paarmal tief ein. Als sie auf die Uhr sah, stellte sie fest, daß sie das Frühstück abermals verschlafen hatte. Es war bereits kurz vor elf Uhr. Jeden Augenblick konnte das Mädchen kommen, das das Zimmer aufräumte. Langsam ging Maud ins Badezimmer und überlegte, ob sie eine Kopfschmerztablette nehmen sollte. Doch sie entschloß sich dafür, es erst einmal mit einer Dusche zu probieren. Manchmal konnte man damit den Schmerz vertreiben, und Maud wollte nach Möglichkeit nicht leichtfertig zu Tabletten greifen. Sie betrachtete ihr Spiegelbild mit den zerzausten Haaren mißmutig, bevor sie sich das T-Shirt, das sie sich zur Nacht angezogen hatte, über den Kopf streifte.
Während sie mit geschlossenen Augen unter der Dusche stand und die lauwarmen Wasserstrahlen genoß, die auf ihren Rücken prasselten, dachte sie an die gestrige Nacht zurück, in der sie noch lange mit Diego auf dem Sonnendeck gewesen war. Sie hatten sich auf zwei der leeren Liegestühle gesetzt, sich die Hände gehalten und meist schweigend in die Nacht gesehen. In der Nähe des brasilianischen Stewards fühlte Maud sich geborgen, und sie war froh darüber, daß er sie vor dem fremden Mann in Schutz genommen hatte. Und dennoch mußte sie durch die seltsamen Geschehnisse mehr beunruhigt sein, als sie bislang angenommen hatte. Schließlich hatte sie die gesamte Nacht nur sehr unruhig geschlafen und war immer wieder aus ihren Träumen hochgeschreckt. Doch nun bei Tageslicht sah alles wieder ein bißchen freundlicher aus. Maud fragte sich, ob sie sich letzten Endes vielleicht nur selbst verrückt machte. Die ganzen Dinge, die in den letzten Tagen vorgefallen waren, konnten nichts weiter als purer Zufall sein – auch die verrückte Greisin im Rollstuhl. Maud war gerade mit dem Abtrocknen fertig, als es an die Tür klopfte. »Einen Moment noch!« rief Maud und schlüpfte schnell in ein hellblaues Sommerkleid, bevor sie die Tür öffnete. Draußen war das Mädchen, das für ihre Kabine zuständig war. »Verzeihen Sie«, sagte es mit einem Blick auf Mauds noch feuchte und unfrisierte Haare. »Ich wollte Sie nicht stören.« »Aber das macht doch gar nichts. Kommen Sie ruhig herein. Ich möchte Ihre Arbeit ja schließlich nicht behindern, nur weil ich ständig das Frühstück verschlafe.« Während das Mädchen das Zimmer machte, zog sich Maud noch einmal ins Badezimmer zurück, fönte und kämmte ihr
Haar. Als sie so vor dem Spiegel stand, dachte sie plötzlich an ihre Gedanken von vor einigen Tagen zurück. Sie faßte spontan den Entschluß, die Zeit bis zum Mittagessen beim Bordfriseur zu verbringen.
»Fast hätte ich Sie gar nicht erkannt«, begrüßte Mrs. Parker Maud am Mittagstisch. »Die neue Frisur steht Ihnen wirklich ausgezeichnet.« Maud bedankte sich mit einem Lächeln, als sie sich setzte. Sie hatte sich für eine Löwenmähne entschieden, nachdem die Friseuse ihr gesagt hatte, daß diese Frisur ihr sehr gut stehen würde, und mittlerweile hatte sich auch Maud schon daran gewöhnt. Sie war gespannt darauf, was Diego zu ihrem neuen Aussehen sagen würde. Und erst ihre Eltern, wenn sie wieder zurück nach London gekommen sein würde. »Ausnahmsweise hat meine Schwester vollkommen recht«, bestätigte auch Mr. Parker. Mr. Donner nickte nur anerkennend. Er konnte nichts sagen, weil er den Mund voller Essen hatte. »Ach, übrigens, Henry«, sagte Mrs. Parker und reichte ihrem Bruder einen weißen Umschlag. »Dein Cousin hat uns einen Brief geschrieben. Vielleicht möchtest du ihn ja auch einmal lesen…« »Wenn du es möchtest«, meinte Mr. Parker ein wenig gleichgültig und steckte den Umschlag ein. »Sie haben Post bekommen?« fragte Maud. »Wie ist das denn hier auf See möglich?« »Sie vergessen, daß wir gestern in Portugal angelegt haben«, erklärte Mrs Parker freundlich und sah Maud über den Rand ihrer Brille hinweg an. »Im Hafen ist die Post für die Passagiere an Bord gebracht worden.«
»Ob für mich auch etwas dabeigewesen ist?« fragte Maud. Ihrer Meinung nach war es gut möglich, daß ihr ihre Eltern zur ersten Anlegestelle hin einen Brief geschickt hatten, da hier die Post noch rechtzeitig am Zielort sein konnte. »Haben Sie sich denn noch nicht im Zentralbüro erkundigt? Dort wird die Post aufbewahrt.« »Nein, auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen«, gab sie zu. »Wahrscheinlich hätte ich mich doch ein bißchen mehr mit den Prospekten über das Bordleben beschäftigen sollen. Aber danke für den Tip. Ich werde gleich nach dem Mittagessen einmal nachsehen.«
Zu Mauds Überraschung lag nicht nur ein Brief in ihrem Fach. Die Angestellte der Reiseleitung überreichte ihr zwei Umschläge. Der eine war mit einer kompletten Anschrift versehen und stammte tatsächlich von ihren Eltern aus England. Maud schmunzelte, als sie daran dachte, wie gut sie die beiden doch kannte. Auf dem zweiten Umschlag stand lediglich ihre Kabinennummer, eine Absenderangabe war nicht zu entdecken. Maud runzelte kurz die Stirn, klemmte sich dann aber beide Briefe unter den Arm. Sie bedankte sich bei der jungen Frau hinter dem Schalter und ging nach oben. Auf dem Sonnendeck suchte sie sich einen ruhigen Platz, bevor sie die Briefe las. Ihre Eltern wünschten ihr noch einmal alles Gute für die Reise, und auch ihr Bruder Rick hatte unterschrieben, worüber Maud sich sehr freute. Als sie den zweiten Umschlag öffnete und das Papier entfaltete, erstarrte sie. Auf dem Blatt war nur ein Satz geschrieben:
Verlassen Sie so schnell wie möglich das Schiff, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist! Ein Freund stand dort mit schwarzer Tinte geschrieben. Ansonsten war das Papier leer. Maud sah sich nach allen Seiten um, als wollte sie sehen, ob sie vielleicht von jemandem beobachtet wurde. Doch sie konnte niemanden entdecken. Mit zusammengepreßten Lippen las sie den Satz nochmals, bevor sie das Papier wieder in den Umschlag zurücksteckte. Tausend Fragen schossen in ihr hoch, und die dringendsten von ihnen waren: Was hatte diese Warnung zu bedeuten, und von wem stammte sie? Die Schrift war gleichmäßig und kräftig. Sie ließ keinen Rückschluß darauf zu, wer diese Nachricht geschrieben hatte. Sie konnte genausogut von einem Mann wie auch von einer Frau stammen. Maud dachte an die Greisin im Rollstuhl. War sie für die Warnung verantwortlich? Oder war es der Mann gewesen, der sie gestern abend so aufdringlich zum Tanzen aufgefordert hatte? Oder vielleicht gar jemand, den sie überhaupt nicht kannte? Es gab zu viele Möglichkeiten! Doch Maud hatte keine Lust, diese Sache so einfach hinzunehmen. Denn schließlich wurde in der Warnung davon gesprochen, daß ihr Leben bedroht wäre. Sie machte sich auf den Weg zur Reiseleitung. Dort würde sie den Brief vorzeigen. Ja, das war das beste. Vielleicht würde sich sogar der Kapitän höchstpersönlich darum kümmern, denn schließlich war er für die Sicherheit des Schiffes verantwortlich. Hier draußen auf See verkörperte er den Arm des Gesetzes. Doch auf dem Weg überlegte Maud es sich doch noch einmal anders. Vielleicht sollte sie erst einmal Diego von der Sache
erzählen. Nicht nur, weil sie Vertrauen zu ihm hatte. Nein, schließlich war er auch der Kabinensteward, der für ihren Bereich zuständig war. Maud fand ihn in einem der Kabinengänge. »Maud!« rief er erstaunt aus. »Du siehst wirklich fabelhaft aus mit deiner neuen Frisur. Wie bist du denn auf diese Idee gekommen?« »Die ist mir heute morgen beim Aufstehen gekommen. Freut mich, daß ich dir gefalle«, erwiderte Maud. »Aber deswegen komme ich nicht zu dir. Hier, sieh dir an, was heute morgen in meinem Fach gewesen ist.« Sie reichte Diego den Umschlag ohne Absender. Er entfaltete das Papier und las den Inhalt mit gerunzelter Stirn. Kopfschüttelnd sah er Maud an. »Wer hat dir denn diesen Streich gespielt?« »Ich weiß es nicht«, meinte sie und nahm den Umschlag wieder an sich. »Aber glaubst du, daß es wirklich nur ein Scherz ist?« »Natürlich!« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Solche Dinge passieren an Bord eines solchen Schiffes öfters. Du glaubst gar nicht, auf was für dumme Gedanken so manche Passagiere kommen.« »Nun, wenn du meinst«, murmelte sie kleinlaut, und gewissermaßen war sie froh, daß Diego ihre Befürchtungen zerstreute. »Aber da ist noch etwas, was ich dir erzählen muß.« »Und?« Maud erzählte ihm von den beiden Begegnungen mit der Greisin im Rollstuhl und ihrem riesigen Begleiter. Sie redete von dem Tag der Erfüllung, den die Alte immer wieder beschworen hatte. Sie konzentrierte sich so auf die beiden Begegnungen, daß sie gar nicht bemerkte, wie sich Diegos Gesicht versteinerte, als er ihre Worte hörte.
Als sie fertig erzählt hatte und zu ihm hochsah, lächelte er jedoch schon wieder beschwichtigend. »Die beiden sind bestimmt harmlos«, meinte er. »Die sind gar nicht so weit entfernt untergebracht. Aber sie verlassen die Kabine eigentlich kaum und lassen sich auch das Essen dorthin bringen.« »Warum machen die beiden dann eine Kreuzfahrt, wenn sie nie an Deck kommen oder sich an sonst irgendeiner Sache beteiligen?« »Woher soll ich das wissen? Jedem das Seine. Auf jeden Fall haben die Greisin und ihr Begleiter sich bislang nichts zuschulden kommen lassen. Du kannst natürlich darauf bestehen, den Kapitän zu informieren. Ich werde ihm die Beschwerde auch überbringen. Aber ich an deiner Stelle…« Er ließ den Rest des Satzes unausgesprochen. »Ich glaube, du hast recht. Man soll nicht aus jeder Mücke einen Elefanten machen. Vielleicht hat mich dieser Mr. Donner mit seinem ewigen Gerede angesteckt. Aber etwas unwohl fühle ich mich dennoch dabei.« »Das brauchst du nicht«, sagte Diego und legte ihr behutsam den Arm auf die Schulter. »Zur Not bin ich ja noch bei dir.« »Schön, das zu wissen«, erwiderte Maud und meinte es auch so. Zusammen gingen sie nun hinauf an Deck. Diego löste sich von ihr und trat an die Reling. »Und das brauchen wir dann ja auch nicht mehr«, sagte er und zerriß den Brief mit der Warnung in kleine Stückchen. Langsam öffnete er die Handfläche, und der Fahrtwind blies die Papierschnipsel davon. Es war, als hätte es den Brief nie gegeben. Diego verabschiedete sich nach ein paar weiteren Minuten von Maud, er mußte seinen Aufgaben nachgehen.
Dafür vertröstete er sie auf den nächsten Tag, wo sie in Santa Cruz auf La Palma den gesamten Tag verbringen konnten. Um zehn Uhr morgens würde das Schiff dort anlegen und erst um sieben Uhr abends wieder abfahren. In den Prospekten sah die Insel aus wie ein einziges Urlaubsparadies, und Maud freute sich schon riesig darauf. Diego hatte es zum Glück auch geschafft, ihre trübseligen Gedanken ein wenig zu vertreiben. Den Nachmittag verbrachte sie in einem Liegestuhl an der Reling, nachdem sie sich aus der Kabine einen Schmöker geholt hatte. Sie war sorgfältig darauf bedacht, im Schatten zu bleiben, um ihre noch immer gerötete Haut etwas zu schonen. Schließlich würde sie morgen fast den ganzen Tag in der Sonne sein. Einige Male hielt sie Ausschau nach Mrs. Parker, doch sie konnte die rüstige alte Dame nirgends entdecken. Maud zuckte die Schultern und hatte sich schon bald in ihr Buch vertieft, so daß sie ihre Umgebung kaum wahrnahm. Sie entdeckte auch nicht den Fremden im weißen Anzug, der etliche Meter von ihr entfernt ebenfalls in einem Liegestuhl saß und sein Gesicht hinter einer Zeitung verborgen hatte. Ab und zu warf er einen Blick hinüber zu Maud, als wollte er sich vergewissern, daß sie noch da war. Hinter seiner Stirn arbeiteten die Gedanken, und sie beschäftigten sich mit nichts Freundlichem. In seiner Miene lag ein Ausdruck von Besorgnis. Doch von all dem bemerkte Maud nichts. Für sie verging die Zeit fast wie im Flug. Erst kurz vor dem Abendessen ging sie schließlich wieder hinunter in ihre Kabine, um sich umzuziehen.
»Was ich Ihnen heute abend zu erzählen habe«, begann Mrs. Parker, »ist keine schöne Geschichte. Aber ich habe mich heute nachmittag in meine Bücher vergraben, um vielleicht etwas über diesen Tag der Erfüllung zu finden.« »Und?« fragte Maud und beugte sich interessiert nach vorn. Sie hatten sich in die Bar gesetzt, die zu dieser Zeit – es war kurz nach dem Abendessen – noch nicht allzu voll war. Aus einer Ecke, dort, wo das Piano stand, drangen leise Klaviermelodien. »Was haben Sie herausgefunden?« »Nichts Erfreuliches. Bei einer brasilianischen Sekte gibt es tatsächlich einen Kult, der sich um den Tag der Erfüllung dreht. Sie stammt übrigens aus Rio de Janeiro, von dort, wo unser Schiff hinfahren wird. Diese Sekte stammt aus der Zeit der spanischen Eroberer und hat sich im Laufe der Jahrhundert sehr gewandelt. Soweit ich weiß, steht sie im Moment unter der Führung einer weißen Frau.« »Und was hat es mit dem Tag der Erfüllung auf sich?« »Es handelt sich dabei um einen Opferritus, um die Dämonen des Meeres milde zu stimmen. Dieser Tag findet nur alle sieben Jahre einmal statt, bei Vollmond in einer bestimmten Nacht. So verlangt es jedenfalls die Überlieferung. Das Opfer ist meist eine junge blonde Frau, und allein daran erkennen Sie, daß diese Sekte europäische Einflüsse gehabt haben muß.« »Was passiert mit dieser Frau?« fragte Maud atemlos. Sie wollte nach ihrem Cocktailglas greifen und stieß dabei versehentlich die Handtasche von Mrs. Parker über die Tischkante. Schnell bückte sich Maud, um das Mißgeschick wiedergutzumachen. Die Tasche hatte sich geöffnet, und einige Gegenstände waren herausgefallen. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte Maud, als sie die Tasche wieder auf den Tisch legte und Mrs. Parker die herausgefallenen Gegenstände wieder zurückgab. Unter ihnen
befand sich ein Foto, und unwillkürlich behielt Maud es für einen Augenblick in der Hand. Die junge Frau, die dort abgebildet war, hätte ihre Zwillingsschwester sein können, so groß war die Ähnlichkeit. Die Frau auf dem Foto hatte ebenfalls langes blondes Haar, so wie es Maud vor ihrem Friseurbesuch getragen hatte, und stand an einer Reling. Sie lächelte etwas schüchtern in die Kamera. »Wer ist das Mädchen auf diesem Foto?« fragte Maud, während sie es Mrs. Parker zurückgab. »Fast könnte man annehmen, es sei ein Foto von mir.« Mrs. Parker steckte das Foto hastig in die Handtasche zurück. Sie trank einen Schluck aus ihrem Cocktailglas, bevor sie antwortete. Maud konnte sehen, daß ihre Hände etwas zitterten, und sie kannte die Antwort der alten Dame schon, bevor diese sie ausgesprochen hatte. »Meine Tochter«, sagte sie tonlos. Die Erinnerung schien sie zu überwältigen, und Maud befürchtete fast, Mrs. Parker würde anfangen zu weinen. Sie bereute es, daß sie die Sprache auf dieses Thema gebracht hatte. »Bitte, seien Sie mir nicht böse. Ich wollte Sie wirklich nicht verletzen.« »Schon gut«, erklärte Mrs. Parker. »Dies ist halt eine Sache, mit der ich fertig werden muß.« »Erzählen Sie mir doch noch etwas über diesen Ritus«, schlug Maud in dem Versuch vor, das Thema zu wechseln. »Was passiert mit der Frau, die von der Sekte als Opfer ausgesucht wird?« Mrs. Parker schneuzte in ein Taschentuch. Sie brauchte noch ein paar Sekunden, ehe sie weiterreden konnte. »Dieser Frau wird die Kehle durchgeschnitten. Ihr Blut wird danach ins Meer gegossen.« »Aber das ist ja schrecklich!« entfuhr es Maud.
»Sie sagen es.« Mrs. Parker nickte bedächtig. »Und einiges spricht dafür, daß diese Sekte noch immer tätig ist.« »Das reicht jetzt wohl!« sagte plötzlich verärgert eine Stimme neben Maud. Überrascht wandte sie den Kopf und sah, daß Diego neben ihr stand und Mrs. Parker einen wütenden Blick zuwarf. »Aber… was hast du denn?« »Du wirst doch wohl nicht an einen solchen Unsinn glauben?« meinte er ärgerlich und ergriff sie am Arm. »Komm, oder willst du dir das Geschwätz noch länger anhören?« Maud war viel zu überrascht, um Gegenwehr zu leisten. Sie ließ es zu, daß er sie hinaus auf das Promenadendeck führte, wobei sie Mrs. Parker noch einen entschuldigenden Blick zuwarf. Keiner von ihnen sah die weißhaarige Greisin, die verdeckt in einer Nische in ihrem Rollstuhl saß. Ihr starrer Blick traf Mrs. Parker, die nun allein an ihrem Tisch saß und der jungen Engländerin nachblickte, die gerade zusammen mit Diego aus der Bar verschwand. Der Arm der Greisin deutete auf die alte Dame, während sie mit ihrer Grabesstimme einen Fluch ausstieß. Keiner der Gäste achtete auf sie.
»Kannst du mir vielleicht erklären, warum du einen solchen Aufstand gemacht hast?« fragte Maud, als sie draußen an der Reling standen. Diego versuchte sie in den Arm zu nehmen, doch sie wehrte seine Hände ab und ging einen Schritt zurück. »Erst eine Erklärung«, sagte sie hart. Diego blickte zu Boden und stieß einen Seufzer aus. »Du verstehst das vielleicht nicht«, meinte er leise. »Du bist eine
Engländerin. Jemand wie du wird nie in der Lage sein, mein Land oder seine Einwohner zu verstehen. Für euch ist das alles Aberglaube. Ihr seid ja zivilisiert und beglückt die ganze Welt damit. Bei uns in Brasilien – besonders in den Slums, in denen ich aufgewachsen bin – gibt es etwas Wichtigeres als die Zivilisation, und zwar den Glauben. Und dann kommen solche Frauen wie die dort in der Bar daher, erzählten Gruselgeschichten darüber und machen uns und unser Land schlecht.« Mauds Ärger war nun vollends verflogen. »Du hast recht, Diego. Ich weiß wirklich wenig über dich und dein Land. Aber ich finde es auch nicht gut, wenn du Mrs. Parker schlecht machst. Sie ist eine wirklich bewundernswerte Frau, die in ihrem Leben schon viel durchgemacht hat.« »Das ist schlimm. Und ich entschuldige mich auch dafür, daß ich mich so aufgeführt habe. Ich bin einfach nur etwas durchgedreht, als ich gehört habe, wovon sie erzählt hat.« »Ist schon gut«, lächelte Maud. »Vergessen wir das Ganze einfach.« Sie barg den Kopf an Diegos Brust, und obwohl er seine Arme um sie legte, glaubte sie zu spüren, daß er mit den Gedanken woanders war und daß etwas in ihm arbeitete.
Maud war später noch einmal in die Bar zurückgekehrt, doch Mrs. Parker hatte sich nicht mehr dort befunden. Sie nahm sich vor, sich bei der nächsten Gelegenheit unbedingt für Diegos Benehmen zu entschuldigen, und ging dann recht früh ins Bett. Schließlich legte das Schiff um zehn Uhr in Santa Cruz an, und sie wollte bei der Einfahrt in den Hafen an Deck sein, um es sich anzusehen. Außerdem freute sie sich schon sehr darauf, den Tag zusammen mit Diego zu verbringen.
Leider begann der nächste Morgen mit einer schlechten Nachricht. Kaum hatte sie sich angezogen – es war gegen halb zehn –, klopfte es an der Tür. Während der Einfahrt in den Hafen stand Maud an der Reling und sah traurig zum Kai herüber. Ohne Diego war ihr die Lust auf einen Ausflug fast verflogen. Es war Diego, doch er hatte noch immer seine weiße Uniform an. Er machte ein untröstliches Gesicht. »Maud, es tut mir wirklich leid, aber heute ist ein Kollege von mir krank geworden. Die Schiffsleitung hat bestimmt, daß ich seinen Dienst übernehme.« »Was?« In Maud stieg ein Gefühl der Enttäuschung auf. »Es tut mir wirklich sehr leid«, wiederholte er. »Aber es läßt sich nicht ändern. Ich muß heute an Bord bleiben. Du mußt dir Santa Cruz allein ansehen.« Maud konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. Sie hatte sich so sehr auf den Tag gefreut. Und Diego hatte kaum Zeit, weil er wieder zurück zum Dienst mußte. Er war nur kurz vorbeigekommen, um ihr Bescheid zu sagen. Trotzdem ging sie von Bord und schlenderte etwas durch die Straßen. Die Mittagsstunden verbrachte sie bei einer Eisschokolade in einem Cafe. Mächtige Bäume spendeten in dieser Hitze erfrischenden Schatten. Es herrschte eine Temperatur von nahezu dreißig Grad im Schatten. Die Hitze war dann auch wohl dafür verantwortlich, daß Maud keinen Appetit verspürte und sich vornahm, noch ein bißchen herumzulaufen.
Sie ging langsam die Straßen hinunter, die zur großen gotischen Kathedrale führten, eine der Sehenswürdigkeiten, die es hier zu bewundern gab. Während sie die Straßen mit den
weißgetünchten Häuserwänden entlangging, fühlte sie sich auch schon ein wenig besser. Sie freute sich, daß sie sich entschlossen hatte, allein durch den Ort zu gehen, anstatt in einem stickigen und überfüllten Bus von einer Sehenswürdigkeit zur anderen gefahren zu werden. Am später Nachmittag bekam sie schließlich doch Hunger und verbrachte die restliche Zeit in einem Restaurant. Einen kleinen Wermutstropfen gab es allerdings noch. Nachdem sie gegessen hatte und sich langsam auf den Rückweg machte, entdeckte sie plötzlich an einem der Tische des Cafes an der gegenüberliegenden Straßenecke wieder jenen hageren Mann im weißen Anzug. Er sah zu ihr herüber, und als sie ihn entdeckte, blickte er schnell in eine andere Richtung. In Maud stieg Ärger hoch. Sie winkte dem Ober und zahlte. Dann ging sie aus dem Restaurant und direkt zur anderen Straßenseite, wo der Mann jetzt ebenfalls aufstand. »Sie können sich ruhig die Mühe ersparen, mir weiter nachzuspionieren«, sagte sie unfreundlich, als sie ihn erreicht hatte. Er sah sie an und machte eine unsichere Geste. »Sie mißverstehen das!« »Oh, ich mißverstehe das keinesfalls. Sie laufen mir nach, und ich habe etwas dagegen – das ist alles! Wenn Sie also endlich die Güte hätten, mich in Frieden zu lassen!« Maud wartete keine Antwort ab, sondern ließ ihn einfach stehen und ging weiter. Der Mann griff nach seiner Jacke und lief ihr nach. »Hören Sie«, rief er. »Ich kann Ihnen das erklären.« Maud drehte sich um und kniff die Lippen zusammen. Zum Glück kam auf der Straße gerade ein Taxi gefahren, und sie winkte danach.
»Ich brauche keine Erklärungen, sondern nur meine Ruhe«, rief sie zurück, während sie in den Wagen einstieg und die Tür hinter sich schloß. Sie sagte dem Fahrer, daß sie zum Hafen wollte. »Sie machen einen Fehler!« schrie er, als sich der Wagen in Bewegung setzte. Maud sah, wie er dem Taxi noch ein paar Schritte hinterherlief und dann stehenblieb. Er sah sich auf der Suche nach einem Taxi um, doch im Moment war kein anderer Wagen zu sehen. Maud freute sich, den Kerl abgehängt zu haben, und lehnte sich zufrieden in das verschlissene Polster des Sitzes zurück. Als der Passagierdampfer ablegte, war sie wieder an Bord und sah vom Heck aus der kleiner werdenden Insel nach. Das letzte Stückchen Land vor der großen Fahrt über den Atlantischen Ozean blieb hinter ihr zurück. Für die nächsten Tage würde es um das Schiff herum nichts anderes als die endlose Fläche des Meeres geben.
Am nächsten Morgen waren beim Frühstück außer Maud nur Mr. Donner und die portugiesische Familie anwesend. Von den beiden Parkers war nichts zu sehen, und auch ihre Bestecke waren noch unberührt. Maud wunderte sich etwas darüber, weil die beiden ansonsten immer sehr früh zum Frühstück erschienen waren. Und nun war es bereits kurz vor halb elf Uhr, im Hintergrund wurden bereits die ersten Tische abgeräumt. Maud holte sich schließlich eine große Portion Rühreier mit Schinken vom Frühstücksbüffet. Als der für ihren Tisch zuständige Steward in der Nähe war, winkte Maud ihn zu sich heran. »Sagen Sie, waren Mr. und Mrs. Parker heute noch nicht beim Frühstück?«
»Sie wissen noch nicht, was gestern passiert ist?« fragte der Steward mit ernster Miene. »Nein.« Maud schüttelte den Kopf. »Ist ihnen denn etwas passiert?« »Sie liegen seit gestern abend im Bordhospital. Sie haben sich eine Vergiftung zugezogen. Wahrscheinlich durch verdorbene Lebensmittel. Die müssen sie sich allerdings mitgenommen haben, denn bei uns wird alles frisch zubereitet.« »Natürlich«, beschwichtigte Maud den Steward. »Wie geht es den beiden?« »Das weiß ich auch nicht so genau. Vielleicht sollten Sie sich da einmal im Bordhospital erkundigen. Die können Ihnen bestimmt Genaueres sagen.« Maud bedankte sich bei dem Steward, der sich wieder entfernte. Nach dem Essen trank sie noch einen Orangensaft, bevor sie aufstand. Ihre Gedanken waren bei Mrs. Parker. Hoffentlich ging es ihr nicht so schlecht, daß sie die Reise vorzeitig abbrechen mußte. Auf dem Weg zum Hospital fragte sich Maud, ob sie heute wohl noch Diego zu Gesicht bekommen würde. Seit seiner Absage am gestrigen Morgen hatte sie ihn nicht mehr getroffen. Aber wahrscheinlich war er nach seinem doppelten Dienst so geschafft, daß er erst einmal ausschlafen mußte. Beim Hospital empfing sie der Bordarzt. Er war ein älterer, freundlicher Herr im unvermeidlichen weißen Kittel. »Was kann ich für Sie tun, junge Frau?« »Für mich weniger«, antwortete Maud. »Aber vielmehr für eine Mrs. Parker und ihren Bruder, die hier gestern eingeliefert worden sind.« »Ja, die beiden liegen nebenan im Krankenzimmer.« »Und wie geht es ihnen?«
»Den Umständen entsprechend gut. Die beiden haben für ihr Alter eine gute Konstitution. Ein oder zwei Tage absolute Ruhe, und sie sind wieder über den Berg.« »Kann ich sie besuchen?« »Nein, das wird zumindest für die nächsten vierundzwanzig Stunden nicht möglich sein. Die beiden schlafen, und das soll nach Möglichkeit auch so bleiben.« Maud wollte sich gerade schon umdrehen und wieder weggehen, als sie doch noch einmal den Arzt ansprach. »Sagen Sie, was ist eigentlich für diese Erkrankung verantwortlich?« Der Arzt runzelte mißtrauisch die Stirn. »Darüber darf ich Ihnen keine Auskunft erteilen. Sie verstehen, die Schweigepflicht gilt auch für mich. Aber warum fragen Sie?« »Es ist nur, weil, weil… weil…« Maud suchte nach Worten für eine Erklärung. Was sollte sie dem Arzt nur sagen? Da ging ihr Blick hinüber zu einer Ablage, und sie entdeckte darauf Mrs. Parkers schwarze Handtasche. Eine Idee tauchte in ihrem Kopf auf, und sie wußte selbst nicht, warum sie die nächsten Worte aussprach, anstatt sich einfach für ihre Wißbegier zu entschuldigen und zu gehen. »Es ist nur, weil ich Mrs. Parkers Tochter bin.« »Oh, das wußte ich nicht«, sagte der Arzt. Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Aber in den Bordpapieren stand nichts davon, daß sie mit ihrer Tochter unterwegs wäre.« »Ich habe auch getrennt gebucht. Wenn Sie sich überzeugen wollen, sehen Sie doch in die Handtasche meiner Mutter dort drüben. Sie hat ständig ein Foto von mir dabei.« Der Arzt ging zu der Tasche und zog darauf das Foto von Mrs. Parkers toter Tochter heraus. Er sah mehrfach zwischen Maud und dem Foto hin und her.
»Ja«, sagte er dann. »Das sind unverkennbar Sie. Nur die Haare haben sich ein bißchen geändert. Ich hoffe, es gefällt Ihnen auf dieser Reise genausogut an Bord wie damals.« »Was?« machte Maud erstaunt. Was hatten diese Worte zu bedeuten? War Mrs. Parker mit ihrer Tochter etwa damals auch an Bord dieses Schiffes gewesen? »Das Bild ist hier an Bord gemacht worden?« »Ja, natürlich«, erwiderte der Arzt und deutete Mauds Erstaunen falsch. Für ihn gab es nach diesem Foto keinen Zweifel mehr, daß die Tochter seiner Patientin vor ihm stand. »Erinnern Sie sich denn nicht mehr? Das Foto ist oben auf dem Promenadendeck gemacht worden. Aber noch vor dem Umbau vor drei Jahren. Deshalb auch die andere Reling. Aber das ist unverkennbar unser Schiff.« »Ja«, sagte Maud schnell. »Jetzt erinnere ich mich auch. Wir haben so viele Kreuzfahrten gemacht, daß ich immer alles durcheinanderbringe. Gut, dann werde ich heute abend noch einmal nachfragen, wie es meiner Mutter geht.« »Warten Sie«, hielt der Arzt die junge Frau zurück. »Sie wollten doch den Grund für die Krankheit wissen. Es handelt sich um eine Vergiftung. Erst dachten wir an eine Lebensmittelvergiftung, aber wir haben keine Reste in der Kabine gefunden. Unter Umständen kann es auch andere Ursachen haben…« »Was meinen Sie damit?« »Vielleicht hat sie jemand vergiften wollen. Doch im Moment ist das nur eine der vielen Möglichkeiten. Wir haben an Bord keine Möglichkeit, eine genaue Analyse zu machen. Da müssen wir abwarten, bis wir in Rio sind. Es ist äußerst rätselhaft. Aber behalten Sie das vorerst für sich. Ich will keine Unruhe unter den Passagieren. Vielleicht kann uns Ihre Mutter mehr sagen, wenn sie wieder aufwacht.« »Ja«, murmelte Maud. »Das hoffe ich auch.«
Mauds Gedanken drehten sich, als sie das Bordhospital wieder verließ. Was hatte das alles zu bedeuten? Warum hatte Mrs. Parker verschwiegen, daß sie mit ihrer Tochter an Bord dieses Schiffes gewesen war? Und war ihre Tochter vielleicht auch auf dieser Fahrt ums Leben gekommen? Maud schob die Fragen zur Seite, weil sie spürte, daß sie vor dem Erwachen der alten Dame bestimmt keine Antwort darauf finden würde. Da sie schon auf dem C-Deck war, ging sie gleich zur Reiseleitung. Vielleicht hatten ihr die Eltern ja wieder eine Nachricht geschickt, wenn das auch wenig wahrscheinlich war. Sie hatte recht. Es war kein Brief in ihrem Fach. Dafür übergab ihr die Frau hinter dem Schalter ein dickes Buch. »Was ist denn das?« fragte sie verwundert. »Dieses Buch wurde gestern für Sie abgegeben.« »Und von wem?« Maud sah verwundert auf den Titel des Buches: Brasilianische Mythen und Riten. »Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Eine Kollegin hatte Dienst. Ich selbst war beim Landaufenthalt mit dabei.« »Schon gut«, meinte Maud. »So wichtig ist das nun auch wieder nicht.« Sie konnte sich schon denken, wer ihr das Buch gegeben hatte. Eigentlich konnte es niemand anders als Mrs. Parker gewesen sein. Aber aus welchem Grund?
Maud kam erst nach dem Mittagessen dazu, in dem Buch zu lesen. Sie hatte sich in ihre Kabine zurückgezogen und sich nach dem Essen ein wenig hingelegt. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie eingeschlafen war.
Als sie erwachte und auf die Uhr sah, stellte sie fest, daß sie fast drei Stunden geschlafen hatte. Doch trotz des Schlafes fühlte sie sich immer noch ein wenig müde. Sie ließ sich von dem Steward einen Longdrink vorbeibringen. Sie hatte die Hoffnung, Diego würde kommen, doch er würde erst später Dienst haben, wie der Steward erklärte. Maud hatte die Bullaugen geöffnet, doch ohne die eingeschaltete Klimaanlage, die es hier in jeder Kabine gab, war die drückende Hitze kaum auszuhalten. Sie hatte die Schuhe abgestreift und lag auf dem Bett, als sie das Buch in die Hand nahm. Sie mußte an die Dinge denken, die ihr Mrs. Parker vorgestern in der Bar erzählt hatte, bevor Diego dazwischengekommen war. Zwischen zwei Seiten ragte ein Stück Papier hervor, und als sie das Buch an dieser Stelle aufschlug, entdeckte sie eine Notiz von Mrs. Parker. Liebe Maud, lesen Sie dieses Kapitel unter allen Umständen. Sie schweben in großer Gefahr! Maud wurde unbehaglich zumute. Das Kapitel behandelte genau die Sekte, über die die alte Frau erzählt hatte. Mit klopfendem Herzen begann sie zu lesen. Welchen Grund gab es, daß sie ihr dieses Buch zu lesen gegeben hatte? Die ersten Seiten gaben tatsächlich das wieder, was Mrs. Parker schon gesagt hatte. Maud erfuhr einige weitere Einzelheiten, und es war auch eine Methode angegeben, mit der man errechnen konnte, wann die Termine für die siebenjährlichen Opferungen gekommen waren. Maud überblätterte diese Seiten, weil sie keine Lust hatte, jetzt solche Rechnungen durchzuführen. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab. Oft glaubte sie, eine Lösung für alles zu haben, doch wenn sie diese Gedanken greifen wollten, entglitten sie ihr immer wieder.
Doch sie war sich sicher, daß alle diese Dinge miteinander zusammenhängen mußten. Als sie die nächsten Seiten des Buches umblätterte, wurden ihre Befürchtungen zur Gewißheit. Auf diesen Seiten wurde nämlich das Symbol abgebildet, durch das die Anhänger der Sekte ihre Zugehörigkeit bekundeten: ein blutrotes Sonnensymbol. Dasselbe, das Maud auf dem Oberarm der weißhaarigen Greisin gesehen hatte! Maud erschrak fast zu Tode, als sie dieses Zeichen sah. Mit einem Mal wurden die Zusammenhänge klarer, und sie merkte, wie sich die Angst in ihr ausbreitete, ihren Körper durchzog wie ein frostiger Schauder, der ihre Adern durchlief. Die weißhaarige Greisin im Rollstuhl war ein Mitglied der Sekte. Vielleicht sogar die hellhäutige Führerin, von der Mrs. Parker berichtet hatte. Ihr breitschultriger Diener gehörte sicherlich auch dazu. Wie paßte der hagere Mann im weißen Anzug in das Bild, der sie gestern wieder verfolgt hatte? Maud zweifelte nun nicht mehr daran, daß er auch schon in Lissabon hinter ihr her gewesen war. Wahrscheinlich gehörte er ebenfalls zu dieser Sekte. Nach dem Gerede der Greisin war zu befürchten, daß man sie als nächstes Opfer auserwählt hatte – nein, verbesserte sie sich in Gedanken, es war nahezu sicher. Sie stand auf und vergewisserte sich, daß die Kabinentür abgeschlossen war. Dann überlegte sie, ob sie über das Telefon in ihrer Kabine den Steward verständigen sollte. Doch sie verwarf den Gedanken wieder. In dem Buch stand geschrieben, wie man den Termin für die Opferung ausrechnen konnte. Aus dem kleinen Schreibtisch nahm sie einen Briefblock mit dem Schiffssymbol und einen Kugelschreiber.
Auf ihrem Bett studierte sie die Anweisung und rechnete nach. Sie wurde blaß und wiederholte die Prozedur, bis das Ergebnis endgültig feststand. Der Tag der Erfüllung war heute, und um Mitternacht würde die Opferung vollzogen werden!
Für Maud gab es mittlerweile keine andere Lösung für die ganzen Dinge, als daß sie das auserwählte Opfer sein würde. Doch wie paßte der Brief mit der Warnung vor ein paar Tagen in dieses Schema? Von wem stammte er? Maud konnte diese Frage nicht beantworten, und deshalb stellte sie sie erst einmal beiseite. Viel wichtiger war jetzt, daß sie die Schiffsführung darüber informierte, was hier an Bord los war. Zwar würde sie es schwer haben, jemanden von der Sache zu überzeugen – aber es mußte genügen, um für die kommende Nacht in Sicherheit gebracht zu werden. Danach mußten erst weitere sieben Jahre vergehen, bevor die nächste Opferung stattfinden konnte. Sie nahm das Buch und ihre Berechnungen mit, als sie ihre Kabine verließ. Sorgfältig schloß sie die Tür ab. Noch dürfte sie ein bißchen Zeit haben, bevor man versuchen würde, ihrer habhaft zu werden. Dachte Maud jedenfalls. Als sie ein paar Schritte den Gang hinunter gemacht hatte, sah sie plötzlich, wie vor ihr der Rollstuhl mit der weißhaarigen Greisin hinter einer Ecke hervorkam. Auf dem Gesicht der Alten zeigte sich ein wirres Grinsen. »Siehst du, mein Kind«, sagte sie mit tiefer Stimme. »Nun ist der Tag der Erfüllung gekommen. Bald brauchen wir keine Sorgen mehr für die nächsten Jahre zu haben.« Entsetzt starrte Maud auf die Greisin, als wäre sie eine übernatürliche Erscheinung. Dann drehte sie sich um und
wollte zur anderen Seite des Ganges laufen, um über die Treppe auf das Hauptdeck zu gelangen. Doch nach ein paar Schritten erstarrte sie. Vor ihr tauchte am Gangende der breitschultrige Begleiter der Greisin auf. Maud sah sich gehetzt um. Sie saß in der Falle! Es gab keine Möglichkeit, den Gang zu verlassen! Und von beiden Seiten näherten sich die unheimlichen Gestalten. Sie holte den Zimmerschlüssel aus ihrer Hosentasche und lief zu ihrer Kabinentür. In der Aufregung glitt der Schlüsselbart ein paarmal ab, bevor sie ihn endlich in das Schloß stecken konnte. Entsetzt sah Maud, daß der Hüne sie fast erreicht hatte und schon seine Hände nach ihr ausstreckte. Buchstäblich in letzter Sekunde schlüpfte sie in ihre Kabine und schloß die Tür hinter sich ab. Schwer atmend lehnte sie sich von innen gegen die Tür. Sie hatte es gerade noch einmal geschafft! Dennoch zuckte sie zusammen, als hinter ihr ein paar wütende Schläge gegen die Stahltür donnerten. Doch sie war selbst für einen so kräftigen Mann zu stabil. Atemlos lauschte Maud mit dem Ohr an der Tür. Auf der anderen Seite war jetzt wieder alles ruhig. Dennoch fürchtete sie, daß die beiden auf dem Kabinengang warten würden. Und wenn sie die Tür nur einen Spalt aufmachte, würde sie der Hüne wahrscheinlich ganz aufstoßen können. Die junge Engländerin bemühte sich, ganz ruhig zu bleiben und einen kühlen Kopf zu bewahren. Für den Augenblick war sie in Sicherheit. Wenn sie sich auch nicht traute, die Kabine zu verlassen. Vielleicht sollte sie hier warten, bis Mitternacht vorbei war. Aber sie kam sich in diesen Wänden wie eingesperrt vor. Zum Glück gab es in ihrer Kabine ja noch das Telefon. Damit konnte sie sicherlich Hilfe holen.
Sie nahm den Hörer ab und wählte die Nummer des Kabinenstewards. Zu ihrer Erleichterung nahm Diego am anderen Ende ab. »Oh, Diego, ich bin ja so froh, daß ich deine Stimme höre!« »Ich habe meinen Dienst erst vor ein paar Minuten begonnen. Was ist denn los? Du hörst dich so aufgeregt an.« »Du mußt unbedingt zu mir in die Kabine kommen!« »Ist dir etwas passiert?« »Noch nicht, aber bald. Versprichst du mir, daß du sofort zu mir kommst? Und klopfe bitte nur an, wenn der Gang vor den Kabinen leer ist. Dort wartet nämlich jemand nur darauf, daß ich die Tür aufmache.« »Willst du mir nicht sagen, was los ist?« »Ich erkläre dir alles später. Jetzt komm erst einmal so schnell wie möglich vorbei.« »Ich bin in zwei Minuten bei dir!«
Es dauerte noch nicht einmal zwei Minuten, bis es an Mauds Tür klopfte. »Wer ist da?« rief sie ängstlich von innen. »Ich bin es, Diego«, erklang eine Stimme von der anderen Seite, die sich durch die stählerne Tür hindurch dumpf anhörte. Aber es war unverkennbar der Steward. »Bist du allein?« »Ja, hier ist niemand zu sehen.« Maud öffnete die Tür und war froh, als auf dem Gang tatsächlich nur der Steward zu erkennen war. Schnell zog sie ihn in den Raum und schloß die Tür wieder ab. »Was gibt es denn, was so dringend ist?« fragte er, nachdem er sich in der Kabine umgesehen hatte, jedoch nichts Außergewöhnliches entdecken konnte. »Man will mich umbringen!«
»Was? Wie kommst du denn darauf?« »Setz dich!« sagte Maud und deutete auf die Bettkante. »Das ist eine lange Geschichte.« Sie hatte sich entschlossen, sich Diego anzuvertrauen. Wenn jemand für ihre Lage Verständnis hatte, dann bestimmt er. Maud erzählte ihm alles, was sich in den letzten Tagen zugetragen hatte. Angefangen von der Greisin im Rollstuhl, von der er ja schon wußte. Über den hageren Mann im weißen Anzug, der ihr laufend nachspionierte, und über das Buch, das Mrs. Parker ihr ausgeliehen hatte. Tat Diego es anfangs noch als Hirngespinst ab, so ließ er sich durch die Abbildung der Tätowierung in dem Buch überzeugen. Beunruhigt runzelte er die Stirn. »Und du bist sicher, daß du genau die Tätowierung bei der Greisin gesehen hast?« »Genau diese«, beharrte Maud. »Das ändert die Sache natürlich«, überlegte Diego laut. »Und was wirst du jetzt tun? Den Kapitän verständigen?« Diego schüttelte zu Mauds Überraschung den Kopf. »Nein, überleg doch mal. Das, was du bislang herausgefunden hast, ist zwar alles schön und gut, aber es beweist überhaupt nichts. Die Greisin hat ja noch nichts getan. Ich bezweifle, daß der Kapitän dir zuhören würde.« Maud begann zu begreifen, daß Diego recht hatte. »Aber… aber du glaubst mir doch?« »Ja«, sagte er und strich ihr mit der Hand durch das Haar. Er sah ihr in die Augen. »Es ist das beste, wenn du einfach über Nacht in deiner Kabine bleibst.« »Nein«, erwiderte Maud bestimmt. »Hier werde ich nicht bleiben. Wer weiß, wie die vielleicht doch hier hereinkommen. Du mußt mich in Sicherheit bringen. Kann ich nicht in deiner Kabine bleiben?«
Er überlegte. »Vorerst ja. Aber wir müssen aufpassen, daß uns keiner sieht. Ich würde sonst einen Riesenärger bekommen. Außerdem habe ich nicht eine Kabine für mich allein. Aber mein Zimmergenosse hat im Augenblick erst einmal Dienst.« »Worauf warten wir dann noch?« fragte Maud. »Je eher ich hier weg bin, desto besser!« Diego öffnete vorsichtig die Tür, und als auf dem Gang niemand zu sehen war, winkte er Maud, ihm zu folgen. Ein paar Minuten später waren sie wohlbehalten in Diegos Kabine angekommen, die bei weitem nicht so komfortabel war wie die für die Passagiere. Doch Maud war das wirklich gleichgültig. Hauptsache, sie war für diese Nacht an einem sicheren Ort. »Du mußt nur daran denken, daß ich im Augenblick Dienst habe«, sagte er. »Ich kann nicht die ganze Zeit bei dir bleiben. Am besten wird es sein, wenn du die Tür von innen abschließt. Dann kann dir gar nichts passieren. Nur verlasse die Kabine auch nicht. Man darf dich hier in den Mannschaftsräumen nicht sehen. Ich bringe dir dann später etwas zu essen vorbei.« Sie umarmte ihn spontan. Was hätte sie nur gemacht, wenn er nicht an Bord gewesen wäre? »Ein Problem gibt es da noch«, erinnerte sie sich. »Und zwar der hagere Mann, der mir ständig gefolgt ist. Ich befürchte, daß er auch mit in der Sache steckt.« Diego wußte sofort, um welchen Passagier es sich handelte. »Der ist mir schon in den letzten Tagen seltsam vorgekommen. Er hat sich nur selten mit jemandem unterhalten und war stets allein. Mal sehen, vielleicht kann ich ihn ja heute abend in seiner Kabine festhalten. Dann kann er nicht zu dir.« »Das würdest du tun? Kannst du da keinen Ärger bekommen?«
Er lachte kurz auf. »Wenn ich vorsichtig bin, bestimmt nicht.«
Es war gegen zweiundzwanzig Uhr dreißig, als Diego endlich sah, wie der hagere Mann in seiner Kabine verschwand. Der Steward hatte den Mann den ganzen Abend im Auge behalten, wenn er dadurch auch seinen Dienst vernachlässigen mußte. Nach dem Abendessen war der fremde Mann auf dem Schiff umhergewandert, als würde er jemanden suchen. Diego war sich sicher, daß es sich dabei nur um Maud handeln konnte. Denn er glaubte das, was die junge Engländerin erzählt hatte. Kaum hatte der Mann seine Kabine betreten, eilte der Steward zu der Kabinentür. Er zog aus der Hosentasche einen Zweitschlüssel hervor, den er sich besorgt hatte. Für ihn war das ein Leichtes. Als er den Schlüssel von außen langsam ins Schloß schob, verging ein banger Moment, in dem er befürchtete, der andere Schlüssel würde von innen stecken. Doch das Schloß war frei. Vorsichtig drehte Diego den Schlüssel einmal herum, bevor er einmal kurz mit dem Handballen gegen das herausragende Stück schlug. Der metallene Schaft brach entzwei, und nun konnte den Mann vorerst auch niemand von draußen befreien. »So, Freundchen«, murmelte Diego zufrieden. »Du wirst uns nicht in die Quere kommen.« Er steckte das abgebrochene Teil ein und dachte daran, daß dem Mann auch das Kabinentelefon nichts nützen würde, denn in der Zentrale, wo er Dienst hatte, hatte er diesen Anschluß bereits abgestellt. Er machte sich auf den Weg zu seiner eigenen Kabine, wo Maud auf ihn wartete. Vor zwei Stunden hatte er ihr etwas zu essen vorbeigebracht, das er aus der Küche geholt hatte, und sie würde sicherlich schon ungeduldig auf ihn warten…
Als der hagere Mann ein Geräusch an der Tür hörte, war er mit ein paar schnellen Schritten bei ihr und lauschte. Nach ein paar Sekunden wollte er die Tür öffnen, um nachzusehen, wer für dieses Geräusch verantwortlich war, doch sie war verriegelt. Auf seiner Stirn bildete sich eine steile Falte. Er holte seinen Schlüssel, doch der ließ sich nicht ins Schloß schieben. Er war eingesperrt. Der Mann wußte sofort, was das zu bedeuten hatte. Man hatte ihn entlarvt und außer Gefecht gesetzt. Mit zusammengebissenen Lippen ging er zu den Bullaugen und öffnete sie. Überlegend maß er den Durchmesser mit den Augen ab. Vielleicht würde er es schaffen, sich dort hindurchzuzwängen. Als er jedoch den Kopf durch die Öffnung steckte und nach oben sah, erkannte er die Verwegenheit seines Vorhabens. Über ihm lagen gute zwei Meter bis zum Rand der Reling. Die glatte Bordwand bot kaum einen Halt. Und unten wartete das Meer. Wenn er den Halt verlieren und nach unten stürzen würde, würde sicherlich kein Mensch an Bord auf ihn aufmerksam werden. Er holte tief Luft und ging zum Nachtschrank. Dort holte er eine Pistole hervor, überprüfte, ob sie geladen war, und steckte sie sich dann auf dem Rücken unter den Gürtel. Er hatte keine andere Wahl. Er mußte versuchen, über die Bordwand nach oben zu gelangen. Nur so konnte er seinen Auftrag erfüllen. Er mußte Maud Cunnings finden! Und zwar schnell!
»Du kannst nicht mehr länger in meiner Kabine bleiben«, sagte Diego, als Maud ihn wieder hereingelassen hatte. »Mein
Zimmergenosse hat in ein paar Minuten Dienstschluß. Er darf dich hier nicht finden.« »Und wo soll ich bleiben?« fragte sie verzweifelt. »Es ist in einer halben Stunde Mitternacht, und ich habe wirklich keine Lust, dieser Frau oder ihren Helfern in die Arme zu laufen.« »Um den hageren Mann brauchst du dir vorerst keine Sorgen mehr zu machen«, antwortete Diego grinsend. »Ich habe ihn in seiner Kabine eingesperrt. Ich glaube kaum, daß er bis Mitternacht entkommen kann. Und außerdem will ich ja auch nicht, daß du auf dem Schiff herumläufst. Ich bringe dich an einen sicheren Ort, an dem du bis morgen früh bleiben kannst.« »Einen sicheren Ort? Wohin?« »In der Nähe des Maschinenraums gibt es ein paar Lagerräume, die selten benutzt werden. Dort kannst du dich verstecken.« »Gut!« Maud nickte erleichtert. Ein paar Minuten später gingen sie los. Diego öffnete vorsichtig die Kabinentür und sah sich um. Auf dem Gang war niemand zu sehen. Er winkte ihr, ihm zu folgen. Während er durch die Gänge schlich, folgte ihm Maud vorsichtig und leise. Zweimal drückten sie sich in eine Nische, als in der Nähe Stimmen zu hören waren. Doch zum Glück kam niemand vorbei. Ein kurzes Stück gingen sie über ein Passagierdeck, wo zwar ein paar Menschen waren, aber niemand auf sie achtete. Kurz darauf verschwanden sie hinter einer Stahltür mit der Aufschrift: Unbefugten ist der Zutritt verboten! Über eine enge Treppe ging es nach unten. Sie erreichten wohlbehalten die Maschinenräume. Durch die dicken Stahlwände war das Dröhnen der mächtigen Maschinen zu hören. Es wurde so laut, daß Diego beinahe schreien mußte, wenn er Maud etwas erklären wollte. Einen Vorteil hatte der
Krach. Jemand anders würde sie kaum bemerken können. Es schien, als sei Maud endgültig in Sicherheit. »Hier ist es!« sagte er, als sie in einem Seitengang eine Stahltür erreicht hatten. »Ich bringe dir später noch eine Decke vorbei. Es wird zwar ein wenig unbequem werden, aber das nimmst du ja sicherlich in Kauf.« Er stieß die Tür auf. Als er sah, daß sie zögerte, deutete er mit dem Arm auf die Öffnung. »Willst du nicht hineingehen?« fragte er. »Es kann immer noch jeden Augenblick jemand kommen, der uns sieht.« Maud gab sich einen Ruck und trat in den Raum. Diego kam hinterher und drückte die Tür ins Schloß. Maud sah sich aufmerksam in dem Raum um, der beinahe schon eine kleine Lagerhalle war. Meterhohe Stahlregale standen umher, und auf ihnen lagerte eine Unmenge von Kisten und Kartons, die die Sicht in den hinteren Teil der Halle versperrten. Diego hatte recht. Dies war wirklich ein ideales Versteck, um hier die Nacht zu verbringen. Maud ging an einer Regalreihe entlang, während sie die Aufschriften der Kisten überflog. Nach den Angaben mußte es sich zumeist um Ersatzteile für die Schiffsmaschinen handeln. Dann hatte sie das Ende der Reihe erreicht. Sie zuckte zurück, als sie vor sich plötzlich jemanden entdeckte. Mit aufgerissenen Augen starrte Maud auf die Greisin im Rollstuhl. Neben ihr tauchte ihr breitschultriger Begleiter auf. Auf seinem sonst so ausdruckslosen Gesicht lag ein hämisches Grinsen. Maud stieß einen Schrei aus und wirbelte herum. »Diego!« rief sie dem Steward zu. »Wir müssen hier sofort weg!«
Doch dieser reagierte nicht. Erst als Maud ihn erreicht hatte, stellte er sich ihr plötzlich in den Weg. Als sie voller Panik nach ihm schlug, hielt er ihre Arme fest. »Es tut mir leid, Maud«, sagte er. Doch darauf achtete sie längst nicht mehr. Sie blickte auf den Oberarm des Stewards. Der Hemdsärmel seiner Uniform war nach oben gerutscht, als er ihre Arme abgewehrt hatte. Maud sah voller Entsetzen auf das blutrote Sonnensymbol, das dort eintätowiert war!
Mit einem Schlag war sämtlicher Widerstand in Maud erloschen. Ihr Körper sackte etwas in sich zusammen, und Diego, der ihre Hilflosigkeit spürte, ließ sie wieder los. Die Falle hatte zugeschnappt, und die Engländerin konnte nicht mehr entkommen. Selbst ihre Schreie wären sinnlos gewesen. Hier unten würde sie niemand hören. »Erkläre mir nur eines, Diego«, sagte sie und sah ihn mit tränenverschleiertem Blick an. »Warum? Warum hast du das getan?« Er senkte den Kopf, und Maud kam es vor, als fiele es ihm schwer, eine Antwort zu geben. »Ich habe dir erzählt«, begann er dann, »daß mich eine alte Frau aus den Slums geholt hat. Ich habe viele Zugeständnisse machen müssen, das weißt du. Und eines davon muß ich jetzt einlösen.« Die Rollstuhlfahrerin war es, der er alles zu verdanken hatte. Und sie war es auch, die ihn an diese Sekte gebunden hatte. Eine andere Sache kam ihr in den Sinn. »Und du warst es auch, der Mrs. und Mr. Parker vergiftet hat?« »Ja«, gestand er und deutete auf die Greisin. »Sie ist von ihr verflucht worden und ich mußte gehorchen. Ich habe den
Dienst getauscht und ihnen abends vergifteten Wein in die Kabine gebracht.« »Genug geredet!« kam aus dem Hintergrund die dumpfe Stimme der Greisin. »Der Zeitpunkt ist gekommen! Laßt uns beginnen!« Unwillkürlich keimte noch einmal Aufbegehren in Maud auf. In einem verzweifelten Versuch wollte sie fliehen, doch die starken Hände des hünenhaften Mannes griffen nach ihr und hielten sie unerbittlich fest. Maud schrie, als sie sah, wohin er sie schleppte. In der Halle war ein Tisch aufgebaut, und am Boden des einen Endes stand eine kupferne Schale auf dem Boden. Sie wußte nur zu gut, daß darin ihr Blut aufgefangen werden sollte, nachdem man ihr die Kehle durchgeschnitten hatte. Ihre Schreie verstummten, als sich die Hand des breitschultrigen Mannes auf ihren Mund legte.
Sie hatten Maud zu dem Tisch getragen und ihre Füße am unteren Ende festgebunden. Ihr Kopf ragte von den Schultern an über das andere Tischende hinaus, während ihr der Begleiter der Greisin die Arme festhielt. Unter ihr befand sich die Schale. Trotz ihrer verzweifelten Versuche loszukommen, wußte Maud doch, daß es sinnlos war. Was vor wenigen Tagen wie eine herrliche Kreuzfahrt begonnen hatte, endete in ein paar Minuten, wenn es Mitternacht sein würde, mit ihrem Tod. Die Greisin war mit ihrem Rollstuhl langsam an den Tisch gefahren und betrachtete Mauds Gesicht mit einem wohlgefälligen Grinsen. »Nun ist der Tag der Erfüllung gekommen, mein Kind. Habe keine Angst. In ein paar Minuten’ wird alles vorbei sein. Dann
wirst du erlöst sein. Preise dich glücklich, diesem höheren Zweck zu dienen!« Maud drehte den Kopf zur Seite, weil sie das totenkopfähnliche Gesicht nicht mehr ertragen konnte. So bemerkte sie den hageren Fremden, der am Ende der Regalreihen aufgetaucht war, etwas früher als die anderen. Es war niemand anderer als der Mann, von dem sie sich verfolgt gefühlt hatte. Er war keine fünf Meter von ihnen entfernt und hielt mit beiden ausgestreckten Armen eine Pistole auf sie gerichtet. »Okay, Freunde«, rief er, und für Maud erschien er in diesem Moment wie der rettende Engel, der vom Himmel geschickt worden war. »Der Spaß ist vorbei! Ich würde euch raten, die Hände jetzt ganz langsam über den Kopf zu heben!« Alle Blicke richteten sich auf den Mann, der so überraschend aufgetaucht war. »Aber… aber das gibt es doch nicht!« stammelte Diego. »Ich weiß genau, daß ich ihn eingesperrt habe.« »Aber nicht gut genug«, erwiderte der Mann. Der Hüne hatte Mauds Arme losgelassen und wandte sich ebenfalls dem Neuankömmling zu. »Los!« zischte da die Greisin und deutete auf ihren Begleiter. »Nimm ihm die Waffe weg!« Der breitschultrige Kerl begann sich plötzlich nach vorne zu bewegen. Es schien, als nähme er die Waffe in der Hand des anderen gar nicht wahr. Maud hatte sich von ihren Fußfesseln befreit. Schnell stand sie vom lisch auf, und die Hand der Greisin, die sie festhalten wollte, verfehlte ihr Ziel. »Maud!« rief der hagere Mann, während er den breitschultrigen Kerl im Auge behielt, der sich ihm langsam näherte. »Komm sofort her!« Maud lief auf ihren Retter zu und entschlüpfte auch dem Griff Diegos. Der Hüne hatte den Mann mit der Waffe
schließlich fast erreicht, als der in diesem Moment den entscheidenden Fehler beging. Um den Hünen abzuschrecken, hob er den Lauf in die Luft. Er zog den Stecher zweimal durch, und ein doppelter Donnerschlag durchlief den Lagerraum. Doch der Mann kam nicht mehr dazu, den Lauf noch einmal nach unten zu richten. Mit einem gewaltigen Satz war der Hüne bei ihm und schlug ihm die Waffe aus der Hand. Sie landete polternd auf dem Stahlboden. Der hagere Mann reagierte blitzschnell. Er packte Maud, die ihn erreicht hatte, am Handgelenk und zog sie mit sich fort in Richtung Ausgang. »Los, laß uns von hier verschwinden! Schnell!« Das Gesicht der Greisin verkrampfte sich. »Töte ihn!« zischte sie. Der stiernackige Kerl bückte sich und griff nach der Pistole, während Diego an ihm vorbeilief, um die beiden Flüchtenden zu verfolgen, die gerade die Tür erreicht hatten. Der hagere Mann riß sie auf und drängte Maud durch die Öffnung. Als er einen letzten Blick zurück in die Halle warf, sah er, wie neben den Regalen die Greisin aufgetaucht war. Neben ihr stand der Hüne und zielte mit der Waffe auf ihn. Krachend löste sich ein Schuß, und die Kugel hätte ihn sicherlich getroffen, wenn in diesem Moment nicht Diego in die Schußbahn gekommen wäre. Die Kugel traf ihn im Rücken und riß seinen Körper ein Stückchen nach vorn. Maud konnte vom Gang aus sehen, wie sie sein letzter Blick traf, bevor seine Augen brachen und er zu Boden stürzte. »Diego!« schrie Maud und wollte unwillkürlich zu dem Steward laufen, als sie der hagere Mann zurückdrängte und die Stahltür hinter ihnen schloß. Eine weitere Kugel schlug von innen gegen das Schott.
»Ich muß zu ihm!« rief Maud, als der Mann sie den Gang hinunterzerrte. »Mädchen, du kannst nichts mehr für ihn tun. Er ist tot. Und wenn wir nicht schnellstens von hier verschwinden, geht es uns ebenso.« Wie zur Bestätigung seiner Worte wurde hinter ihnen das Schott aufgestoßen. Der Hüne erschien auf dem Gang. Noch immer hielt er die Waffe in der Hand. Der hagere Mann riß einfach die nächste Tür auf und hatte Glück, daß sie nicht abgeschlossen war. Das hätte bestimmt ihr Ende bedeutet, da das Gangende viel zu weit vor ihnen lag. So aber warfen sie sich gerade rechtzeitig in den Raum hinein, während hinter ihnen eine Kugel gegen den Rahmen schlug. Sie waren in einer Turbinenhalle, die fast so groß wie eine Turnhalle war. In der Mitte stand ein mächtiges Aggregat, um das herum viele Aufbauten vorhanden waren. Die Halle wurde von einem gewaltigen Dröhnen erfüllt. Jedoch schien sich keiner der Mannschaft hier zu befinden. Der Mann drängte Maud hinter die Aufbauten. Sie krochen in eine kleine Nische. Der Hüne würde ihnen zweifellos folgen. »Wer sind Sie?« fragte Maud außer Atem. »Für Formalitäten haben wir im Moment keine Zeit. Ich heiße Clive Taylor. Du kannst mich Clive nennen.« »Und warum haben Sie… hast du mich die ganze Zeit verfolgt? Wer bist du?« In dem Dröhnen der Turbinen bestand kaum die Gefahr, daß ihre Worte sie verraten würden. Clive spähte nach draußen, ob da irgendwo ein Zeichen von dem Kerl zu sehen war. »Ich bin Privatdetektiv. Mrs. Parker hat mich engagiert, weil sie befürchtete, daß es an Bord zu einem solchen Zwischenfall kommen würde.«
»Mrs. Parker?« fragte Maud verwundert. »Aber hat sie das denn die ganze Zeit gewußt?« »Ja, sie wußte Bescheid. Denn vor genau sieben Jahren ist ihre Tochter an Bord dieses Schiffes der Sekte zum Opfer gefallen. Seitdem hat sie Vorbereitungen für diese Reise getroffen. Außer uns beiden weiß niemand, daß ihre Tochter damals nicht über Bord gegangen ist, sondern ermordet wurde. Nicht einmal ihr eigener Bruder.« »Aber warum hat sie nicht die Polizei eingeschaltet?« »Meinst du, die hätten sich sieben Jahre lang mit dem Fall beschäftigt? Doch ruhig jetzt!« Er hob den Finger an die Lippen und deutete nach vorne. Vor ihrer Nische war der Schatten des hünenhaften Kerls aufgetaucht. Ängstlich drückte sich Maud an Clive. Was für falsche Schlußfolgerungen hatte sie nur die ganze Zeit gezogen? Sie hatte sich von dem hageren Mann bedroht gefühlt, dabei hatte er nichts weiter im Sinn gehabt, als sie zu beschützen. Und beinahe hätte sie dafür gesorgt, daß er ihr heute nicht zu Hilfe kommen konnte, weil sie ihn hatte einsperren lassen. Der Schatten vor ihrem Versteck war weitergewandert und dann wieder verschwunden. »Ist er weg?« fragte sie leise. »Zumindest ist er erst einmal ein Stück weitergegangen.« »Wie bist du eigentlich aus deiner Kabine entkommen?« »Über die Bordaußenwand. War eine ganz schöne Kletterei. Beinahe hätte ich es auch nicht geschafft. Ich habe das ganze Schiff nach dir abgesucht und dich dabei glücklicherweise zusammen mit dem Steward zu den Maschinenräumen hinuntergehen sehen.« »Und von dir stammte auch die Warnung in meinem Fach?« »Ja.« Er senkte den Kopf und vermied es, sie anzusehen. »Eigentlich solltest du ahnungslos bleiben. Aber nachdem ich
dich ein paar Tage beobachtet hatte, da… dachte ich… Nun, ist ja auch egal. Auf jeden Fall wollte ich nicht, daß dir etwas zustößt.« Sie bemerkte, daß er seine Verlegenheit hinter der Unwirschheit verstecken wollte. Er deutete wieder nach vorne. »Vielleicht sollten wir es jetzt probieren. Wenn wir erst aus den Räumen hier unten heraus sind, kann uns so gut wie nichts mehr passieren. Bist du sicher, daß du schnell genug laufen kannst, wenn es darauf ankommt?« »Ja«, antwortete Maud tapfer. Sie hielt ihn zurück, als er aus dem Versteck gehen wollte. Er drehte sich überrascht zu ihr um. »Was ist?« fragte er. Sie lächelte hintergründig. »Vielleicht ist das der denkbar ungeeignetste Ort. Aber ich möchte mich noch bei dir für die Rettung bedanken. Wer weiß, ob wir an dem Kerl vorbeikommen, und da sollst du wenigstens wissen, wie froh ich darüber bin, daß du aufgetaucht bist.« Er errötete etwas, ein Zug, der so gar nicht zu seinem kompromißlosen Handeln paßte, und Maud entdeckte, daß hinter seiner rauhen Schale ein weicher Kern steckte. Er öffnete den Mund für eine Entgegnung, doch da vereinigten sich ihre Lippen schon zu einem innigen Kuß. »Noch sind wir nicht in Sicherheit«, sagte er, nachdem sie sich einen Augenblick in die Augen gesehen hatten. Maud fragte sich, warum sie vor diesem Mann Angst gehabt hatte. »Komm!« Sie schlichen nach draußen, an der Turbine vorbei. Clive entdeckte einen großen Schraubenschlüssel, den er als Waffe benutzen konnte. Seiner Zählung zufolge war nur noch eine Kugel in der Pistole. Vielleicht hatten sie Glück.
Doch der breitschultrige Kerl hatte sich direkt neben der Tür postiert. Wenn sie entkommen wollten, mußten sie an ihm vorbei. Clive konnte ihn durch eine Lücke in den Aufbauten sehen und bedeutete Maud stehenzubleiben. Er überlegte ein paar Sekunden und drehte sich dann zu Maud um. »Jetzt mußt du mir ganz fest die Daumen drücken«, meinte er. »Das werde ich tun. Aber warum denn?« Statt einer Antwort ging er plötzlich ein paar Schritte nach vorn, verließ die schützende Deckung gerade so weit, daß der Kerl ihn sehen konnte. »He! Hier bin ich!« rief er. Der Kopf des Hünen zuckte herum, und einen Moment später folgte der Lauf der Waffe. Clive hechtete in die Deckung zurück. Dort, wo er eben noch gestanden hatte, pfiff die Kugel vorbei und schlug irgendwo im Hintergrund ein. Clive atmete erleichtert auf, erhob sich wieder und griff nach dem Schraubenschlüssel. »Und jetzt kommt Teil zwei meines Planes. Wenn ich rufe, dann lauf so schnell wie möglich zur Tür. Ich werde diesen Koloß ein wenig beschäftigen.« Maud nickte, während er die Deckung verließ, den Schlüssel in der rechten Hand. Der Hüne war bereits ein paar Schritte auf sie zugekommen. Noch immer hielt er die Waffe in der Hand. Als er Clive aus der Deckung kommen sah, zeigte sich auf seinem Gesicht ein abfälliges Grinsen, das jedoch sofort wieder verschwand, als er den Stecher erneut durchdrückte und nur ein trockenes Klicken erklang. Die Waffe war leer. Clive war mit ein paar Schritten bei dem Hünen und schmetterte ihm den Schraubenschlüssel gegen den Kopf. »Maud, lauf! So schnell du kannst!« schrie er, als der Hüne schwankte. Doch so unglaublich es auch war, er hielt sich auf
den Beinen. Wieder schwang Clive den Schlüssel, doch der Hüne wehrte ihn ab und entriß ihn dem hageren Mann. Zumindest hatte Maud diese Zeitspanne genutzt, um bis zur Tür zu kommen. Clive sprang zur Seite, und der Schlag des Hünen verfehlte ihn. Schnell lief er zur Tür. Mit einem letzten Blick in den Maschinenraum sah er, wie der Hüne ihnen nachkam. Doch der Schlag hatte ihm zu schaffen gemacht. Sein Gang war torkelnd und nicht mehr so zielgerecht. Dennoch wollte Clive verhindern, daß er einen von ihnen in die Finger bekam. »Los, weiter!« rief er und zog Maud mit sich durch den Gang. Sie hatten das Ende schon erreicht, als der Hüne hinter ihnen auf dem Gang erschien. Über eine Treppe hetzten sie nach oben. Plötzlich hielt Clive Maud zurück, als aus einer der geöffneten Kabinen Stimmen drangen. Es war ein Aufenthaltsraum, im dem sich einige der Mannschaftsmitglieder aufhielten. Es waren kräftige Kerle mit hervortretenden Muskelsträngen an den Oberarmen. Sie blickten den beiden überrascht und ein wenig feindselig entgegen, doch Clive strahlte sie allesamt an. »Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, Jungs«, sagte er und barg Maud an seiner Brust, »wie froh wir sind, euch zu sehen.« Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis er den Leuten die Lage erklärt hatte. Über das Bordtelefon wurde der Kapitän verständigt. Die Männer bewaffneten sich mit ein paar Gegenständen, bevor sie den Aufenthaltsraum verließen, um zu verhindern, daß der breitschultrige Kerl und die Greisin noch mehr Schaden anrichteten. Als sie allein in der Kabine waren, klammerte sich Maud noch immer an ihren Retter. Clive umarmte sie, und seine Hand spielte mit ihren Haaren. »Der Spuk ist vorbei«, sagte er sanft. »Jetzt bist du in Sicherheit.«
Vor dem Bug des Schiffes erhob sich das mächtige Massiv des Zuckerhutes. Es war das Wahrzeichen von Rio de Janeiro. Das Schiff hatte seinen Zielhafen erreicht, fast die Hälfte der Reise war vorbei. Die Rückreise würde erst in ein paar Tagen beginnen. Während Maud oben auf dem Sonnendeck stand und wie die vielen anderen Passagiere dem Hafen entgegenblickte, dachte sie daran, daß sie auch noch auf der Rückreise mit Clive Zusammensein würde. Mrs. Parker, die mittlerweile zusammen mit ihrem Bruder aus dem Bordhospital entlassen worden war, ging es wieder gut, und sie hatte Maud gestanden, von dem Zeitpunkt an alles gewußt zu haben, seitdem sie gehört hatte, daß die Engländerin der Greisin im Rollstuhl begegnet war. Bei ihrer Tochter vor sieben Jahren war es genauso gewesen, und nun endlich hatte sie ihre Rache vollziehen können. Maud verstand die Gefühle der alten Frau und nahm ihre Entschuldigung an, sie nicht gewarnt zu haben. Die letzten Tage hatten sie fast ausschließlich zusammen verbracht. Und Maud verspürte immer mehr Zuneigung zu dem Mann, der ihr das Leben gerettet hatte. Er hatte sich als ein intelligenter und charmanter Mann erwiesen. Und auch für ihn schien es nichts anderes mehr als die blonde Engländerin zu geben. Maud freute sich schon darauf, in Rio mit ihm zusammenzusein. Auch wenn sie sicherlich einige Zeit bei den Behörden verbringen mußte. Die Greisin und ihr Begleiter waren rasch aufgegriffen worden und in zwei getrennte Kabinen gesperrt worden. Dort warteten sie jetzt darauf, den brasilianischen Behörden übergeben zu werden. Das alles erschien Maud mittlerweile wie ein böser Traum, der vergessen ist, sobald man erwacht. Denn seit sie Clive kennengelernt hatte, war diese Kreuzfahrt die glücklichste Zeit ihres Lebens.
Mrs. Parker hatte zugesagt, ihm auch noch die Rückreise zu finanzieren, obwohl sein Auftrag eigentlich abgeschlossen war. Und so würden sie auch noch die nächsten Wochen Zusammensein. Zudem wohnte auch er in London, so daß ihrer Zukunft eigentlich nichts mehr im Wege stand. Denn Maud spürte instinktiv, daß er der Mann war, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte. Glücklich klammerte sie sich an Clive, der neben ihr an der Reling stand und einen Arm um ihre Schultern gelegt hatte. »Woran denkst du?« fragte er sie. »Kannst du dir das denn nicht denken?« fragte sie zurück und gab ihm einen langen Kuß. Als sie sich wieder voneinander gelöst hatten, sah Maud hinter sich Mrs. Parker und ihren Bruder stehen, die ebenfalls die Einfahrt in den Hafen miterleben wollten. Mrs. Parker lächelte den beiden zu, und man konnte ihr ansehen, wie sehr sie sich über das junge Glück freute. Sie zwinkerte Maud über ihren Brillenrand hinweg fröhlich zu, als wolle sie damit sagen, daß die beiden ihr Einverständnis und ihren Segen hätten. Maud wollte gerade zurückzwinkern, als sie einen Stoß in die Seite erhielt, der sie beinahe zu Boden geworfen hätte, hätte Clive sie nicht festgehalten. Es war Mr. Donner, der sich an ihnen vorbei zur Reling drängte. »Das soll also Rio sein!« schnaufte er, als er auf die Stadt blickte. »Wurde ja auch Zeit, daß wir endlich ankommen. Dieser ewige Ozean hängt mir sowieso schon zum Hals heraus. Warum nur habe ich nicht eine Flugreise gewonnen? Schneller wäre das auch gegangen…«