Band 42 der Fernseh-Serie Raumpatrouille H. G. Ewers
Kreuzweg der Dimensionen
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Band 42 der Fernseh-Serie Raumpatrouille H. G. Ewers
Kreuzweg der Dimensionen
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
Unter Leitung der ORION-Crew war das Sternenschiff ins Innere der letzten kugelförmigen Dunkelwolke vorgestoßen. Sie alle, die mit allergrößten Hoffnungen aufgebrochen waren, waren sicher, vor dem Höhepunkt des Unternehmens zu stehen, das PROJEKT PERSEIDEN genannt worden war. Aber während sie durch das scheinbar wesenlose Grau des Hyperraums rasten, gingen erschreckende Veränderungen mit ihnen vor. Gleichzeitig entdeckten sie, daß der Kurs des Sternenschiffs durch einen strahlenden Schlauch ging, durch eine Art überdimensionalen Korridor, in dem Steinbrocken, Metallteile und Überreste toter Lebewesen drifteten. Es erweckte den Anschein, als trieben sie durch eine Zone, in der vor undenkbaren Zeiten grauenhafte Auseinandersetzungen stattgefunden hatten. Immer unheimlicher wurden die Geschehnisse, mit denen das Team der Raumfahrer konfrontiert wurde. Als sie erkannten, daß sie sich in einer Art ModellRaumkugel befanden, die ihnen verschiedene Parallel-Erden präsentierte, und als sie die Aufgabe meisterten, diese Parallel-Erden vor furchtbaren Katastrophen zu retten, wußten sie, daß sie nach dem Willen einer unbekannten Macht zu Hütern der Menschheit in der Parallel-Raumkugel bestimmt waren. Doch die Rechnung dieser unbekannten Macht ging nicht auf, denn es gab noch eine Macht, die durch die Aktivitäten in der Parallel-Raumkugel geweckt wurde. Fassungslos erleben die Raumfahrer den gespenstischen und dramatischen Kampf, der am KREUZWEG DER DIMENSIONEN entbrennt ...
Prolog Eine sehr lange Zeit war der Kreuzweg der Dimensionen verödet gewesen – bis auf zwei unsichtbare Ballungen körperloser Wesenheiten, die sich feindselig belauerten, aber zu schwach waren, um einander ernsthaft schaden zu können. Doch Zeit war unwichtig für diese Wesenheiten. Es berührte sie nicht, wie weit die Ausdehnung des Universums, die seit dem Urknall unaufhaltsam voranschritt, sich fortentwickelt hatte, denn es änderte nichts daran, daß die beiden Urmächte, zu denen sie gehörten, irgendwo in einem Überraum schlummerten, dem Tag entgegendämmernd, an dem sich die Schicksalswaage zugunsten einer von ihnen neigte und sie befähigte, wiederum im normalen Kosmos zu materialisieren. Die Ballungen körperloser Wesenheiten, die den Kreuzweg der Dimensionen bewachten, waren nur Teile des Erbes, das die beiden Urmächte hinterlassen hatten. Hinterlassen nach einem erbitterten Ringen, das im Kosmischen Inferno aus Grauen und geistiger Finsternis ein Ende fand, das gleichzeitig das Erste Weltende gewesen war. Damals war die Vitalität des Universums schwer erschüttert worden. Doch sie hatte nicht gebrochen werden können. Nach und nach gewann das Universum seine Lebenskraft zurück und versuchte, die Evolution wieder voranzutreiben, denn ohne umfassende Evolution hätte die Existenz des Universums seinen Sinn verloren. Das, was von den beiden feindlichen Urmächten übriggeblieben war, hatte keinen Anteil an dieser
Evolution – und es würde nie einen Anteil daran haben, wenn es ihren Erben nicht gelang, steuernd in die Zweite Evolution einzugreifen und sie in den Dienst ihrer Erblasser zu zwingen. Einer dieser Erbmächte war es schließlich gelungen, im Hauptast der Zweiten Evolution eine besonders vielversprechende Spezies zu entdecken und die Evolutionsspitze jener Spezies mit behutsamen, vorausschauenden Manövern in die Dunkelballung zu locken, in der sich der Kreuzweg der Dimensionen verbarg. Hier schuf die Erbmacht ein Abbild des Ursprungs dieser Spezies und gab den Vertretern der Evolutionsspitze die Illusion, dort bleiben zu müssen, weil das Schicksal sie dazu ausersehen hätte, Hüter ihrer Spezies und der Keimzelle einer eigenständigen kosmischen Zivilisation zu sein. Der Plan ging auf – und als Folge davon neigte sich die Schicksalswaage zugunsten jener Erbmacht, die den Plan ersonnen hatte. Das wiederum stürzte die konkurrierende Erbmacht in Panik. Die betreffende Ballung von Wesenheiten aktivierte in ihrer Existenzangst Kräfte, von denen sie bis dahin kaum etwas geahnt hatte. Diese Kräfte weckten schlafende Werkzeuge und schleuderten sie zum Kreuzweg der Dimensionen. Und alles, was so lange stabil gewesen war, wurde instabil. Alle sieben Tore der Hölle taten sich auf – und das Chaos griff nach Sonnen und Planeten ...
1. Cliff McLane und Arlene hielten sich an den Händen, als sie von ihrem Wagen zum nächsten Lift gingen, der sie zu ihrer Wohnung bringen sollte. Im Lift lehnte sich Arlene wie schutzsuchend an Cliffs Schulter. »Mir ist so sonderbar, Cliff«, flüsterte sie. Cliff zog sie sanft an sich und küßte sie auf die Stirn. »Du hast zuviel getrunken, Mädchen«, erwiderte er. »Wie wir alle übrigens. Selten ist wohl auf einem Bordfest soviel Alkohol konsumiert worden wie auf diesem.« Arlene schüttele den Kopf. Ihr langes Haar kitzelte Cliffs Hals. »Das ist es nicht, Liebster. Es ist dieses Gefühl der Unwirklichkeit, das mich ängstigt. Wir befinden uns auf der Erde, wenn auch sicher nur auf einer ParallelErde, aber die Menschen dieser Erde sehen weder uns noch das Sternenschiff oder die ORION. Wir sind für sie überhaupt nicht da – und doch sollen wir angeblich hier sein, um die Erde und die Menschheit zu schützen. Wovor überhaupt, Cliff?« Cliff McLane spürte, wie ein Frösteln durch Arlenes Körper ging. Er preßte die Lippen zusammen und dachte nach. PROJEKT PERSEIDEN hatte sie, die kleine Crew der ORION VIII und die größere Crew des riesigen Sternenschiffs, in einer gefährlichen und abenteuerlichen Irrfahrt über zahllose Barrieren aus Staub und Energie ins mathematische Zentrum einer Raumku-
gel geführt und sie zwischen den Sonnen des innersten Kerns eine Erde finden lassen. Noch mehr war geschehen. Vieles würde sich niemals rational erklären lassen. Doch das war das Wesentliche: Sie befanden sich nach mehreren Dimensionsverschiebungen auf einem Planeten, der in allem ihrer vertrauten Erde glich, und auch die Sternbilder des Nachthimmels hatten sich mit den Dimensionsverschiebungen nach und nach in die vertrauten Sternbilder verwandelt, wie sie sie von der Erde kannten, von der sie gekommen waren. Und doch hatten sie im Laufe der Woche, die sie sich auf diesem Planeten aufhielten, nicht heimisch werden können. Wichtigster Grund: Es gab keinen Kontakt mit den Bewohnern dieser Erde. Sie konnten Maschinen bedienen, konnten Reisen über den Planeten unternehmen – aber sie konnten sich den Bewohnern weder optisch noch akustisch verständlich machen. Wenn sie sie berührten, gingen ihre Hände durch ihre Körper hindurch, als wären die Erdbewohner Geister. Und sie selbst waren für die Erdbewohner noch viel weniger. Sie waren einfach nicht vorhanden. Allmählich, so erkannte Commander McLane, würde dadurch die Moral abbröckeln, würde das Gefühl, Ausgestoßene jenseits von Raum und Zeit zu sein, anwachsen und sie alle zum Wahnsinn treiben. Er legte den Arm um Arlene, als der Lift in ihrer Etage hielt, führte sie durch den verlassenen Korridor und öffnete die Wohnungstür. »Ich weiß es auch nicht, Mädchen«, sagte er mit spröder Stimme. »Ich weiß nur, daß wir durchhalten müssen. Die Macht, die uns hierher leitete, muß einen
Zweck damit verfolgt haben. Eines Tages werden wir mehr wissen, als daß wir zu Hütern des Planeten und der Keimzelle der kosmischen Menschen bestellt wurden. Komm, trinken wir noch einen letzten Schluck, dann wollen wir Hand in Hand schlafen und uns von besseren Träumen trösten lassen.« Er lächelte ihr zu, als das Licht anging, dann schritt er zur Bar und kehrte mit zwei Gläsern zurück, in denen eine goldgelbe Flüssigkeit schimmerte. Die glasklaren Eiswürfel zersprangen knackend. Arlene erwiderte das Lächeln, nahm das Glas, das Cliff ihr reichte, roch an der Flüssigkeit und meinte: »Archer's tears! Es gibt doch noch Vertrautes auf diesem Geisterschiff, das Erde heißt.« »Und daran wollen wir uns halten«, ergänzte Cliff und stieß mit seinem Glas an Arlenes. Ein heller Klang zitterte durch den Raum. Die beiden Menschen tranken. Danach schaltete Cliff McLane die Musikanlage ein und drosselte die Leuchtstärke der Lichtquellen. Als er sich umdrehte, hatte Arlene ihr Glas abgesetzt. Sie streckte ihm ihre Arme entgegen. Cliff ging auf sie zu, umarmte sie, fühlte ihre Hände in seinem Nacken, küßte die samtbraune Haut ihres Gesichts und Halses und spürte, wie sie wohlig erschauerte. Gerade wollte er Arlene hochheben, als das Videophon die Stimmung mit schrillem, häßlichem Summen zerstörte. Cliffs Geist tauchte aus wohligem Vergessen in die gespenstische Realität zurück. Arlenes Körper versteifte sich. »Wer immer das ist«, sagte Cliff grimmig, »er ist ein ungehobelter Klotz, der nicht begriffen hat, daß die Menschen wenigstens zeitweise ein Recht auf un-
gestörtes Intimleben haben. Aber ich werde sein Rufen einfach ignorieren.« Arlene seufzte so tief, daß ihre Brust sich deutlich hob und senkte. »Vielleicht eine wichtige Meldung«, wandte sie ein. Cliff war dabei, sich in Wut zu reden. »So wichtig kann keine Meldung auf diesem Geisterplaneten sein, daß sie nicht bis morgen Zeit hätte. Am liebsten würde ich den Bildschirm mit einer Flasche zertrümmern.« Die Wut verrauchte so schnell, wie sie gekommen war. Cliff wußte, daß er sich nicht abkapseln konnte und daß irgendwer vielleicht seine Hilfe brauchte. Schließlich war er als Commander für alles verantwortlich, was mit dem Sternenschiff und seiner Besatzung geschah – und nur von dort konnte der Ruf kommen. Er schob Arlene sanft von sich, ging auf das Videophon zu und schaltete es ein. »Sie, Dave!« rief er erstaunt aus, als der Bildschirm hell wurde und das Abbild von Dave Sligo, des Zweiten Piloten des Sternenschiffs, zeigte. Dave Sligo wirkte verstört – und völlig nüchtern, obwohl Cliff sich daran erinnerte, daß der Zweite Pilot vor einer halben Stunde, als er und Arlene sich von ihm verabschiedeten, erheblich alkoholisiert gewesen war. »Ich habe das Sternenschiff in Alarmzustand versetzt, Cliff«, sagte Sligo stockend. »Bitte, kommen Sie sofort an Bord.« Cliff hörte, wie Arlene an seine Seite eilte und spürte den Druck ihrer Hand auf seinem Unterarm. »Warum, zum Teufel, haben Sie Alarm gegeben,
Dave?« rief er unbeherrscht. »Wird das Schiff angegriffen?« Dave Sligos Blick wurde ausdruckslos. »Nein, Commander«, erwiderte er steif. »Nur folgendes ist geschehen und beobachtet worden: Die Sternkonstellationen verschieben sich rapide, in einem Raumsektor tauchte ein ganzes Nest von Quasars auf, und etwas wirft einen Schatten auf die Erdoberfläche, etwas, das es für uns und unsere Meßinstrumente offenbar gar nicht gibt.« »Ich habe es geahnt«, flüsterte Arlene. »Ich habe geahnt, daß etwas Furchtbares auf uns zukommen wird.« Cliff McLane war mit einem Schlag völlig nüchtern. »Ich komme, Dave!« erklärte er. »Bereiten Sie inzwischen alles für einen Notstart vor. Ende!« Er schaltete das Videophon aus, blickte sich schnell in dem Wohnzimmer um, als wollte er sich eine letzte Erinnerung sichern, dann lief er zur Musikanlage, schaltete auch sie aus und kehrte zu Arlene zurück. »Komm, Mädchen!« sagte er. »Was immer da geschehen ist und noch geschehen wird, unser Platz ist vorerst wieder an Bord des Schiffes.« * Als sie nach rasender Fahrt mit ihrem Robotwagen das Sternenschiff betraten, lagen die Korridore und Liftschächte öde und leer vor ihnen. Ein Beweis dafür, daß sich alle Besatzungsmitglieder auf ihren Alarmstationen befanden. Der Schnellift trug Cliff und Arlene in kürzester Zeit zu dem Deck, in dem die Steuerzentrale lag. Als
sie eintraten, nahmen sie als erstes das hektische Blinken der Kontrollampen an den Kommunikationsgeräten, an der Frontwand des Bordcomputers und an den Ortungs- und Bedienungspulten wahr. Frauen und Männer beugten sich über Anzeigetafeln. Ihre Gesichter wirkten bleich und angespannt. Dave Sligo, der an seinem Pult sämtliche Systeme nach der elektronisch übermittelten Checkliste durchprüfte, wandte den Kopf und atmete erleichtert auf, als er den Commander erkannte. »Gut, daß Sie da sind, Cliff«, sagte er. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, aber die beiden Telemetrie-Sonden, die ich ausgeschickt habe, meldeten, daß in den Gebieten, die der rätselhafte Schatten überwanderte, alle Menschen, die sich im Freien befanden, zu Staub zerfallen sind.« Cliff McLane wurde blaß. »Was?« entfuhr es ihm. »Und wir haben noch immer nichts von dem Objekt entdeckt, das den Schatten wirft, oder?« »Nichts, absolut nichts«, antwortete der Zweite Pilot tonlos. »Wir müssen ...«, fiel Arlene ein und unterbrach sich, als eine imaginäre Faust das Sternenschiff packte und durchschüttelte, als wäre es eine leere Konservendose und kein Schiffsgigant, der über Hunderttausende von Tonnen Masse verfügte. Eine Alarmklingel schrillte. Dave Sligo schaltete, ein Videophonschirm wurde hell, das Gesicht eines jungen Mannes schien genau auf Cliff und Sligo herabzuschauen. »Tigjua!« meldete sich der junge Mann. »Seismologische Station. Unsere Instrumente haben ein Erdbe-
ben Stärke zwölf registriert. Die Herdtiefe liegt bei siebenhundertzwanzig Kilometer. Das Hypozentrum befindet sich in der Banda-See, nahe der Insel Nila.« Dave Sligo runzelte die Stirn, dann blickte er auf die beiden Datenschirme, die die Beobachtungsergebnisse der beiden Telemetrie-Sonden wiedergaben. »Das ist das Gebiet, über das der Schatten vor etwa drei Minuten gewandert ist«, erklärte er. »Übrigens bewegt er sich mit einer Geschwindigkeit zwischen drei und sieben Kilometern pro Sekunde genau in unsere Richtung.« Cliff preßte die Lippen zusammen, dann holte er tief Luft und befahl: »Starten Sie sofort, Dave! Wir müssen vor allem erst einmal das Schiff in Sicherheit bringen. Danach werden wir mit allen Mitteln versuchen, das Ding, das den Schatten erzeugt, ausfindig und unschädlich zu machen.« Dave Sligo wollte etwas erwidern, überlegte es sich aber anders. Er schaltete den elektronischen Checkcontroller aus, danach aktivierte er den Notstartalarmgeber. Das schrille Klingeln der Warnanlage würde die Besatzung aller Schiffssektionen veranlassen, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, die bei einem Notstart erforderlich waren. Cliff McLane und Arlene nahmen ebenfalls in freien Drehsesseln Platz und schnallten sich an. Ein infernalisches Dröhnen brauste vom hinteren Teil des Sternenschiffs durch die gesamte Schiffszelle und schwoll zu ohrenbetäubendem Brüllen an, als der Zweite Pilot die Energieversorgung für die Triebwerke hochschaltete. Nervenzermürbende Vibrationen erschütterten die Schiffszelle – und die in ihr geborgenen Menschen.
Als das Brüllen zu einem erträglichen Summen abgeklungen war und die Vibrationen aufgehört hatten, meldete Sligo: »Höhe zehntausend Meter. Start verlief bisher ohne Komplikationen.« »Danke, Dave!« sagte Cliff McLane. Er schnallte sich los. »Ich übernehme.« Die beiden Männer tauschten ihre Plätze. Cliff musterte die Kontrollen an seinem Pult nur kurz. Es hätte zu lange gedauert, alle angezeigten Werte zu kontrollieren. Dazu gab es zuviel Anzeigen. Er mußte sich darauf verlassen, daß die Frauen und Männer an den verschiedenen Plätzen ihre arbeitsspezifischen Kontrollen gewissenhaft im Auge behielten – und er wußte, daß er das konnte. Cliff McLanes Finger glitten wie spielerisch über die Steuertastatur. Das Sternenschiff stieg weiter, neigte dabei aber den Bug leicht nach Norden. Die auf Radar geschalteten Beobachtungsschirme zeigten die charakteristisch zerklüftete Küste von Cape Arnhem, weiter nördlich die Wessel-Islands und darüber die weite Wasserfläche der Arafura-See. Durch einen schwachen Steuerimpuls drehte Cliff den Bug des Schiffes ein paar Grad nach Westen. Die Flughöhe betrug unterdessen achtzehntausend Meter, und hinter der scheinbar geschrumpften Fläche der Arafura-See war Steuerbord voraus der TanimbarArchipel und Backbord voraus die Insel Timor zu erkennen. Zwischen dem Archipel und der Insel lag die Insel Babar – und zwischen Babar und dem TanimbarArchipel führte eine gedachte Linie von Nila geradewegs zu dem Platz, auf dem das Sternenschiff noch vor einer Minute gestanden hatte.
»Das ist es!« flüsterte Sligo erregt und beugte sich über Cliffs linke Schulter. Cliff sah auf der hell abgebildeten Wasseroberfläche zwischen Babar und dem Tanimbar-Archipel einen Fleck nachtschwarzer Dunkelheit, dessen Konturen sich laufend veränderten und der sich unaufhaltsam vorwärtsschob. »Wenn er seine Richtung beibehält, wird er in Kürze den Nordostzipfel von Arnhem-Land überqueren, danach Queensland«, sagte Arlene mit bebender Stimme. »Ich glaube nicht, daß er nur die Menschen tötet, die sich im Freien aufhalten.« »Ich fürchte, du hast recht, Mädchen«, erwiderte Cliff. Er richtete den Bug des Sternenschiffs in den Weltraum, als wollte er mit dem ganzen Schiff auf die Stelle zwischen den Sternen zielen, die den Schatten auf die Erde warf. »Wir gehen in einen Orbit, der uns die Möglichkeit gibt, dem Todesschatten auf den Fersen zu bleiben und gleichzeitig den irdischen Funkverkehr effektiv zu überwachen«, gab er bekannt. »Außerdem werden wir natürlich mit allen Ortungsinstrumenten nach dem Ding suchen, das den Schatten wirft.« Aber wodurch, fragte er sich gleichzeitig, kommt dieser Schatten zustande, wenn die Sonne auf der anderen Seite der Erde steht? Doch darauf wußte er keine Antwort – noch nicht und vielleicht niemals. * Der Schatten änderte seinen Kurs, während er die Arafura-See überquerte.
In der Steuerzentrale des Sternenschiffs saßen die Menschen schweigend vor ihren Kontrollpulten und lauschten dem Funkverkehr zwischen mehreren Polizeizentralen. Inzwischen hatten sich auch Vlare MacCloudeen und Prac'h Glanskis eingefunden sowie der Rest der ORION-Crew. Sie waren nach Verkündigung des Alarmzustands zuerst in die ORION geeilt und hatten die Systeme des Diskusschiffs durchgecheckt. »... wissen auch nicht, was das eigentlich ist«, sagte eine aufgeregte Männerstimme. »Jedenfalls scheint es Lebewesen in Staub zu verwandeln. Unsere Trupps, die hinter dem Schatten in das nordwestliche Stadtgebiet von Darwin einrückten, fanden dort weder Menschen noch Tiere vor. Aber die Anordnung Tausender von Staubansammlungen verrät, was aus den Menschen und Tieren geworden ist.« Die Stimme steigerte sich zu Hysterie. »Sogar Bäume sind zu Staub zerfallen!« »Mein Gott!« flüsterte MacCloudeen. »Wenn der Schatten seinen jetzigen Kurs beibehält, wird Wyndham sein nächstes Ziel sein«, sagte eine andere Männerstimme. »Wir versuchen, die Stadt zu evakuieren. Außerdem haben wir den nächsten Luftwaffenstützpunkt um Hilfe gebeten. Der Kommandant hat versprochen, den Schatten mit Raketen und Bordwaffen angreifen zu lassen, sobald er sich über unbewohntem Gebiet befindet.« »Meint ihr, daß Raketen und Bordwaffen etwas gegen einen Schatten ausrichten, der anscheinend nicht aus unserer Dimension kommt?« fragte Glanskis. Cliff wandte den Kopf und musterte den Raubtierschädel des Raguers.
»Wie kommst du darauf, der Schatten könnte aus einer anderen Dimension gekommen sein, mein Freund?« erkundigte er sich mühsam beherrscht. Glanskis knurrte und fletschte die Zähne. »Weil wir in unserer Dimension nichts erkennen, das für uns wie ein Schatten aussieht und alle Lebewesen, mit denen es in Berührung kommt, zu Staub verwandelt. Der Ausdruck Schatten dürfte außerdem nicht das Wesen des Phänomens treffen. Ein Schatten ist der lichtfreie Raum hinter einem beleuchteten undurchsichtigen Körper. Wir haben aber keinen undurchsichtigen Körper entdeckt und auch keine Lichtquelle, die einen undurchsichtigen Körper über dem betroffenen Gebiet stark genug beleuchten könnte, um mitten in der Nacht einen derartig finsteren Schatten zu werfen.« »Ein Tor zu einer anderen Dimension?« warf Mario de Monti ein. Noch während er sprach, wandte er sich um und ging zur Frontwand des Bordcomputers. Der Chefkybernetiker bewegte sich wie in Trance. Sein Geist hatte sich bereits auf das Problem konzentriert, das zu lösen er mit Hilfe des leistungsfähigen Bordcomputers hoffte. »Ich brauche eine Projektion des Sternenhimmels, Atan«, sagte Cliff McLane. Atan Shubashi nickte und ließ sich in den Drehsessel vor dem Pult des Astrogators sinken. Er betätigte eine Reihe von Schaltungen. An der Decke der Steuerzentrale erhellten sich zahlreiche Bildschirmsegmente und vereinigten sich zu einem fugenlosen Bild, das den Sternenhimmel über dieser Stelle der Erde zeigte. »Alles hat sich verändert«, sagte Helga Legrelle. »Nicht alles«, korrigierte Atan Shubashi. »Stein-
bock und Wassermann sehen so aus wie immer, Eridanus ebenfalls.« »Aber damit hat es sich schon«, erklärte Hasso Sigbjörnson. »Alle anderen bekannten Sternbilder sind verschwunden oder durch absolut fremdartige ersetzt worden.« »Etwas Ähnliches haben wir schon einmal beobachtet, nur umgekehrt«, meinte Cliff McLane. »Als wir hier ankamen, war die Erde von fremdartigen Sternbildern umgeben. Sie verwandelten sich in mehreren Schüben in die alten vertrauten Sternbilder.« »Und jetzt ist diese positive Wandlung rückgängig gemacht worden«, sagte Arlene. »Was steckt dahinter?« Cliff musterte die Stelle der Sternprojektion, an der früher das Kreuz des Südens gestrahlt hatte. Jetzt leuchteten dort mit überwältigender Strahlkraft sieben sternförmige Gebilde. »Das sind die Quasars, die Sie bei Ihrem Anruf erwähnten, nicht wahr?« wandte er sich an Dave Sligo. Der Zweite Pilot des Sternenschiffs nickte. »Eindeutig an ihrer starken Radiostrahlung erkennbar«, antwortete er. »Ich frage mich, wie Quasars auf uns zukommen können, wo diese Gebilde doch nach allen Erkenntnissen unserer Wissenschaft mit hoher Geschwindigkeit von uns wegstreben und sich eigentlich nur an den Grenzen unseres Universums aufhalten dürften.« »Es gibt eine andere Theorie«, warf Shubashi ein. »Sie ist uralt, wurde im zwanzigsten Jahrhundert von Dr. Petrosian und Dr. Salpeter aufgestellt und seitdem mehrmals von anderen Wissenschaftlern aufgegriffen, aber nie bewiesen. Danach sollen sich die
Original-Quasars in einem benachbarten, in dem unseren dimensional übergeordneten Kontinuum befinden. Die Raumkrümmung unseres Universums wirkt wie eine gigantische Linse, die die Strahlung der Original-Quasars bündelt und Geisterbilder von ihnen in unser Universum projiziert.« »Dann müßten aber alle Quasars zirka zehn Milliarden Lichtjahre von uns entfernt sein«, warf Dave Sligo ein. »Diese sieben Quasars aber stehen in einer Entfernung von nur neunundvierzig Lichtjahren.« »Unmöglich!« grollte Glanskis. »Dieses Wort sollten wir eigentlich aus unserem Sprachschatz gestrichen haben«, sagte Mario de Monti, der mit einem Auswertungsstreifen in der Hand vom Bordcomputer zurückkehrte. »Unser elektronischer Schlauberger schließt jedenfalls aus den vorhandenen Fakten, daß sich in diesem Raumsektor laufend Tore zu anderen Dimensionen öffnen und schließen.« »Ein Kreuzweg der Dimensionen«, flüsterte Arlene. »Aber wie kommt so etwas zustande?« fragte MacCloudeen beklommen. »Handelt es sich um einen natürlichen Vorgang oder um ein Ereignis, das aus Manipulationen intelligenter Wesen resultiert?« »Moment mal!« rief Helga Legrelle. Die Funkerin hatte sich, unbemerkt von den Freunden und Gefährten, in den Drehsessel vor dem Funkpult gesetzt und die Kopfhörer übergestülpt. Ihre Hände drehten an Einstellknöpfen. Auf Kontrollschirmen zeichneten sich Diagramme mit regelmäßigen Zackenlinien ab. Aus Lautsprechern drang neben den statischen Störgeräuschen des Universums eine Kette an- und abschwellender Piepstöne.
Nach einer Weile riß Helga sich die Kopfhörer ab und blickte die Freunde ernst an. »Regelmäßig modulierte Hyperimpulse«, berichtete sie mit vor Erregung flacher Stimme. »Sie kommen aus der Richtung, in der früher das Kreuz des Südens war.« »Also von dort, wo jetzt die Quasars stehen«, warf Dave Sligo ein. »Ergeben die Impulse einen Sinn?« erkundigte sich Cliff. Helga Legrelle schüttelte den Kopf. »Nichts für uns, Cliff. Aber sie sind einwandfrei moduliert, mit regelmäßigen Intensitätsschwankungen. Ich kann nicht ausschließen, daß es sich um Signale intelligenter Wesen handelt.« »Vielleicht jener Wesen, die uns den Dimensionssalat beschert haben und für den Todesschatten verantwortlich sind«, knurrte Prac'h Glanskis grimmig. »Wie lange wollt ihr noch zusehen, wie sie die Erde entvölkern?« Cliff McLane blickte den Raguer nachdenklich an, dann sagte er ernst: »Wir werden nicht länger zusehen, Prac'h.« Er wandte sich an Dave Sligo. »Meine Crew und ich starten mit der ORION und fliegen zum Ausgangspunkt der Signale. Wenn es dort intelligente Wesen gibt, dann werden wir sie fragen, was das alles zu bedeuten hat – und wenn sie für das Chaos verantwortlich sind, werden wir sie zwingen, den Todesschatten von der Erde zu nehmen. Sie, Dave, übernehmen inzwischen das Kommando hier. Beobachten Sie – und handeln sie nötigenfalls nach eigenem Ermessen!« Er erhob sich und verließ die Steuerzentrale des
Sternenschiffs. Weder er noch die anderen Beteiligten ahnten auch nur entfernt, daß alles, was bisher geschehen war, nur einen Anfang von Ereignissen darstellte, die alles, was sie bisher erlebt hatten, weit in den Schatten stellen würde ...
2. Die ORION VIII jagte schemenhaft durch die verwaschenen grauen Schlieren des Hyperraums. Die Sterne des Normalraums waren von hier aus nicht sichtbar. Nur in genauer Flugrichtung schimmerten sieben schwachbeleuchtete, pulsierende Energieblasen. Cliff McLane saß in seinem Kommandantensessel, hatte sich angeschnallt und beobachtete den Zentralschirm mit den sieben Energieblasen. Auch die übrigen Mitglieder der Crew befanden sich in der Steuerkanzel – mit Ausnahme von Hasso Sigbjörnson, dessen Kopf und Schultern auf dem Bildschirm der Bordverbindung zu sehen waren. Als Maschineningenieur war sein Platz im Maschinenleitstand. Atan Shubashi deutete auf die Energieblasen. »Ein Beweis dafür, daß die Original-Quasars sich in einem dimensional übergeordneten Kontinuum befinden«, erklärte er. »Sonst könnten wir sie – beziehungsweise einen bestimmten Teil ihrer Strahlung nicht vom Hyperraum aus sehen.« »Sehr weise gesprochen«, meinte Mario de Monti. »Wenn Petrosian und Salpeter recht hatten, müßten die Quasars eigentlich Tore zu einem anderen Kontinuum sein – oder, vereinfachend ausgedrückt, zu einer anderen Dimension.« »Ich begreife nicht, daß ihr über wissenschaftliche Probleme reden könnt, während hinter uns ein tödlicher Schatten über die Erde wandert und mehr und mehr Menschen, Tiere und Pflanzen in Staub verwandelt«, sagte Arlene vorwurfsvoll. Cliffs Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, das
die Augen nicht erreichte. »Weil wir die Gefahr vielleicht eher von der Erde abwenden können, wenn wir uns darüber klar werden, wie sie entstand und welche Naturgesetze dabei im Spiele waren.« »In einer Minute kehren wir in den Normalraum zurück«, warf Prac'h Glanskis ein. Der Raguer hatte seinen geschmeidigen Raubtierkörper auf dem Bodenbelag der Zentrale ausgestreckt. Irdische Drehsessel waren ihm immer noch ein Greuel, und er vermied ihre Benutzung, wo er konnte. Cliff legte die Hände auf die Schalttastatur vor sich. »Ich übernehme sofort nach dem Rücksturz in Manuellsteuerung«, gab er bekannt. »Mario, du gehst in den Werferstand. Ich hoffe es nicht, aber vielleicht werden wir gezwungen sein, den Overkillprojektor einzusetzen.« »Im Falle eines Falles – Overkill erledigt alles«, erwiderte Mario de Monti, erhob sich und verließ die Steuerzentrale. Vlare MacCloudeen blickte düster vor sich hin. »Ich fürchte, in diesem Fall werden wir unser blaues Wunder erleben, wenn wir uns auf unsere Bewaffnung verlassen«, murmelte er. »Ist diese ParallelErde, von der wir kommen, überhaupt real oder nur eine Illusion?« »Wer von uns könnte schon behaupten, dies sei eine Illusion und das nicht«, meinte Hasso Sigbjörnson über die Bordsprechanlage. »Ich denke, wir müssen uns so einsetzen, als wären wir restlos davon überzeugt, daß wir für die Erhaltung einer realen Erde und einer realen Menschheit kämpfen.« »So ist es«, meinte Cliff. »Achtung, Rücksturz erfolgt – jetzt!«
Die grauen Schlieren des Hyperraums rissen auseinander, verschwanden und gaben den Blick auf die Sterne des Kontinuums frei, in dem der Mensch beheimatet war. Genau voraus aber strahlten die sieben Quasars mit einer konzentrierten Lichtfülle, die erschreckend wirkte. »Wir sind verdammt nahe«, entfuhr es Atan. Er musterte die Anzeigen seiner Ortungsinstrumente. »Ich stelle eine Störung des galaktischen Gravitationsfeldes fest. Genauer gesagt, eine Verbiegung der Gravitationslinien in Richtung auf das Nest der Quasars zu. Die Gebilde entwickeln einen Gravitationssog, der alles an sich reißt, was in seine Nähe kommt.« »Wir sind aber nicht davon betroffen«, erwiderte Cliff McLane. »Das heißt, ich stelle nur eine geringfügige Abweichung fest, die sich aber relativ leicht mit den Triebwerken kompensieren läßt.« »Aber was tun die Objekte, die keine Triebwerke besitzen?« gab Atan Shubashi zurück. Er deutete auf den großen Schirm des Hyperradars, auf dem deutlich ein großes und ein kleines Objekt abgebildet wurden. »Die Masse- und Energietaster zeigen an, daß es sich um eine kleine Sonne und einen etwa marsgroßen Planeten handelt, der die Sonne umkreist. Beide Himmelskörper driften in Richtung des Quasars.« »Dann waren die Signale, die wir auffingen, vielleicht ein Hilferuf von Intelligenzwesen, die auf dem Planeten leben und die bemerkt haben, daß ihre Welt in den Sog der Quasars geraten ist«, sagte Cliff. Er wandte sich an Helga Legrelle. »Was ist mit den Signalen, Helga-Mädchen?« Die Funkerin schaltete an ihrem Pult, dann zuckte sie mit den Schultern.
»Negativ, Cliff. Ich bekomme keine Signale mehr herein.« Cliff warf einen weiteren Blick auf den Schirm des Hyperradars. »Die Signale kamen einwandfrei aus diesem Raumsektor«, überlegte er laut. »Da wir außer der Sonne und ihrem Planeten keine anderen Objekte gefunden haben, die dafür verantwortlich sein könnten, kann sich der betreffende Sender nur auf dem Planeten befinden. Die Sonnenoberfläche dürfte ja wohl ausscheiden.« »Wie ich dich kenne, bist du dafür, daß wir uns den Planeten aus der Nähe ansehen«, meinte Atan. »Ich habe keine Einwände. Bis der Planet mit seiner Sonne in einem der Quasars verschwindet, vergehen noch mindestens zweieinhalb Jahre. Wir haben also genügend Zeit, uns hier umzusehen.« »Irrtum!« korrigierte Cliff McLane. »Wir stehen unter allergrößtem Zeitdruck, denn inzwischen wandert der Todesschatten weiter um die Erde. Atan, überspiele die Koordinaten des Planeten auf mein Pult! Wir brechen sofort auf.« * Die ORION VIII beschleunigte bis nahe an die Lichtgeschwindigkeit, raste an der kleinen Sonne und ihrem Planeten vorbei, kehrte in einer weiten Kurve zurück, und nun konnte die Crew beide Himmelskörper direkt sehen, ohne vom grellen Licht der sieben Quasars geblendet zu werden. »Eine kleine weiße Sonne, die das erste, einfache Novastadium bereits hinter sich haben dürfte«,
schloß Shubashi aus den Anzeigen seiner Instrumente. »Der Planet ist nicht ganz eine Astronomische Einheit von ihr entfernt. Seine Oberfläche muß demnach beim Sonnenausbruch verbrannt worden sein. Keine noch so technisch begabte Zivilisation übersteht eine solche Katastrophe.« »Es sei denn, sie evakuiert sich und kehrt zurück, nachdem die Sonne wieder geschrumpft ist«, wandte Cliff ein. »Eine Sonnenaufblähung läßt sich mit fortgeschrittenen Methoden leicht und lange vorher vorausberechnen, wenn das Ereignis auf der Linie der normalen Sternenentwicklung liegt, das heißt, wenn es darauf beruht, daß der Wasserstoffvorrat verbraucht ist und die Sonne zum Heliumverbraucher umkippt.« »Das ist aber nur eine von vielen Möglichkeiten«, erklärte Atan Shubashi. Cliff nickte. »Auf jeden Fall sehen wir nach, was dort los ist. Grundlos jagt niemand Hyperfunksignale durch den Raum.« Er übernahm die ORION in Manuellsteuerung, nachdem der Annäherungsflug vom Autopiloten einwandfrei absolviert worden war. Das Diskusschiff beschleunigte erneut und jagte seitlich an der Sonne vorbei. Bald war der Planet auch mit bloßem Auge zu erkennen, eine rötlich leuchtende Kugel, die sich kaum merklich um ihre Polarachse drehte. »Der Planet ist tot«, sagte Atan. »Er besitzt weder Meere noch Eiskappen oder Wolkenfelder. Jedenfalls keine aus Wasserdampf, wie die Erde. Dafür tobt auf der Nordhalbkugel ein heftiger Sandsturm.« »Wie ist die Zusammensetzung der Atmosphäre?« erkundigte sich Cliff McLane.
»Stickstoff und Kohlendioxid überwiegend«, antwortete der Astrogator. »Daneben gibt es Spuren von Sauerstoff und von den bekannten Edelgasen. Menschen können dort unten nicht atmen, ganz davon abgesehen, daß die Atmosphäre am Boden ungefähr so dünn ist wie die irdische Lufthülle in zwanzig Kilometern Höhe.« Cliff nickte und steuerte die ORION VIII in einen Orbit, der das Diskusschiff fast genau über den Äquator brachte und in einer Höhe von nur siebzig Kilometern über die imaginäre Äquatorlinie jagen ließ. Die auf Ausschnittvergrößerung geschalteten Bildschirme holten ständig wechselnde Abbildungen der Planetoberfläche herein, die so wirkten, als schaute man aus einem Flugzeug hinab, das in tausend Metern Höhe flog. »Da!« rief Vlare MacCloudeen erregt und deutete auf einen der runden Schirme. »Ein Ruinenfeld! Dort muß eine riesige Stadt gestanden haben.« Atan Shubashi hatte es ebenfalls gesehen und schaltete die betreffenden Aufnahmegeräte auf Fixierung. Dadurch würde das Abbild des Ruinenfelds für die Crew zu sehen sein, bis das Schiff hinter die Krümmung des Horizonts getaucht war. »Ein ringförmiges Ruinenfeld mit einer zirka sechzig Kilometer durchmessenden Schmelzfläche in der Mitte«, flüsterte Mario de Monti. »Das ist charakteristisch für die Verwüstung, die eine dicht über dem Zentrum einer Stadt explodierende Wasserstoffbombe anrichtet. Was wir sehen, sind die Trümmer des Stadtrands, nicht mehr.« »Ich sehe weitere Schmelzflächen und einige tiefe Krater«, erklärte Helga Legrelle.
»So also sieht es aus, wenn eine Zivilisation sich selbst vernichtet«, bemerkte Atan. »Später kam dann noch der Sonnenausbruch. Er wird alles Leben zerstört haben, das die atomare Katastrophe überdauerte. Wie vereinbart sich das mit unserer Vermutung, die Hyperfunksignale könnten von diesem Planeten gekommen sein?« »Vielleicht kamen sie von einer automatisch arbeitenden Station, die sich nur in bestimmten Intervallen einschaltet«, erwiderte Helga. »Sie müssen nicht einmal etwas mit der untergegangenen Zivilisation zu tun haben, sondern könnten von der Funkstation eines Raumschiffs abgestrahlt werden, das irgendwann lange nach der Katastrophe auf dem Planeten notlandete.« »Das wäre denkbar«, warf Prac'h Glanskis ein. Der Raguer hatte den Kopf gehoben und beobachtete aufmerksam die Bildschirme. »Aber wenn es so ist, dann haben die Funksignale nichts mit dem Todesschatten zu tun, der die Erde umwandert.« Niemand sagte etwas darauf. Die Aussicht, Zeit und Mühe für eine Suche nach etwas zu verschwenden, das sie auf diesem Planeten nicht finden würden, während auf der Erde zahllose Menschen, Tiere und Pflanzen zu Staub zerfielen, wirkte bedrückend auf die Crew. »Dennoch müssen wir weitersuchen«, meinte Cliff etwas später. »Wir haben bisher nur den einen Ansatzpunkt.« Erneut wanderte das Abbild eines ringförmigen Ruinenfelds in einen Bildschirm, während das zuerst entdeckte Ruinenfeld allmählich aus dem Erfassungsbereich schwand. »Viel hat die Druck- und Hitzewelle nicht übrigge-
lassen«, bemerkte Atan Shubashi. »Die Gebäudereste sind so zusammengeschmolzen, daß sich die ursprünglichen Formen nicht mehr erkennen lassen.« Mario de Monti erhob sich aus seinem Sessel und ging zur Frontwand des Bordcomputers. »Ich werde den Computer so programmieren, daß er sofort Signal gibt, wenn seine Auswertung der Meßdaten Hinweise auf das Wrack eines notgelandeten Raumfahrzeugs ergeben sollte«, erklärte er, während seine Finger über die Tastatur des Eingabeelements glitten. »Da sind sie wieder!« rief Helga Legrelle mit überschnappender Stimme. Die Köpfe der übrigen Crewmitglieder fuhren herum, als vom Funkpult eine Kette an- und abschwellender Piepstöne erscholl. Helga stülpte sich die Kopfhörer über und drehte an den Einstellungsknöpfen ihres Pultes. Wieder zeigten Kontrollschirme Diagramme mit regelmäßigen Zackenbildungen. »Kannst du die Quelle anpeilen, Helga?« fragte Cliff mit gepreßter Stimme. Die Funkerin antwortete nicht sogleich. Sie arbeitete schweigend und konzentriert. Erst, als die Piepstöne wieder verstummt waren, blickte sie auf. Während sie langsam die Kopfhörer abnahm, sagte sie: »Die gleiche Modulation wie die Hyperfunkimpulse, die wir im großen Schiff aufgefangen haben – und die gleiche Dauer. Das muß eine Botschaft sein, auch wenn wir sie nicht entschlüsseln können.« Cliff holte tief Luft. »Und woher kam die Botschaft?« fragte er ungeduldig. »Hast du die Quelle angepeilt?«
Helga nickte. »Ich überspiele die Werte auf dein Pult, Cliff. Dann kannst du eine genaue Ortsbestimmung durchführen. Aber soviel ist jetzt schon sicher: Die Quelle der Hyperimpulse muß etwa auf der gegenüberliegenden Seite des Planeten liegen.« Cliffs Augen leuchteten auf. »Dann finden wir sie innerhalb der nächsten halben Stunde – und dann werden wir feststellen, ob die Impulse etwas mit dem Todesschatten zu tun haben oder nicht.« * »Von dort müssen die Impulse gekommen sein«, sagte Cliff McLane und deutete auf einen Bildschirm, auf dem ein weiteres Ruinenfeld zu sehen war, das größte, das sie bisher auf diesem Planeten entdeckt hatten. »Hier lag der Treffer nicht genau im Zentrum«, stellte Vlare MacCloudeen fest. »Dadurch blieb nicht nur ein ringförmiges Ruinenfeld übrig, sondern ein sichelförmiges Gebilde, dessen stärkste Stelle ungefähr zwanzig Kilometer breit sein dürfte.« »Und an der am Explosionszentrum abgewandten Seite ragen die Ruinen viel höher auf als bei den bisher beobachteten Trümmerfeldern«, ergänzte Atan Shubashi. »Ich werde einige Teleaufnahmen anfertigen und möchte wetten, daß auf ihnen noch ursprüngliche Formen der Bauwerke zu sehen sein werden.« »Alles schön und gut«, meinte Cliff. »Aber wir sind nicht zu Forschungszwecken hier. Mario, hat unser Schlauberger schon Hinweise auf das Wrack eines Raumschiffes gefunden?«
Mario de Monti schüttelte betrübt den Kopf. »Bisher keine Spur, Cliff.« Cliff McLane bremste das Schiff ab und schaltete die Triebwerke so, daß die ORION leicht geneigt über dem sichelförmigen Ruinenfeld kreiste. »Dann gibt es dort unten auch kein Raumschiffswrack«, kommentierte er. »Bei der Güte unserer Meßgeräte wäre es innerhalb weniger Sekunden aufgespürt worden.« »Nichtsdestoweniger gibt es dort unten einen Hyperfunksender«, warf Helga Legrelle ein. »Wenn wir kreisen, bis er sich wieder einschaltet, können wir eine Ortsbestimmung auf den Zentimeter genau vornehmen.« Prac'h Glanskis knurrte unwillig, stand auf und grollte: »Wollen wir stundenlang über ein- und demselben Fleck des Planeten kreisen und nur die Bildschirme anstarren? Ich bin dafür, daß wir uns die Ruinen aus nächster Nähe ansehen.« »Ich halte den Vorschlag für gut«, sagte Cliff. »Schon deshalb, weil wir nicht unbegrenzt Zeit haben. Drei von uns könnten mit einer LANCET landen und sich an Ort und Stelle umschauen. Was meint ihr dazu, Freunde?« »Ich bin dafür«, meldete sich Hasso Sigbjörnson über die Bordverständigung. Nachdem die anderen Mitglieder der Crew ebenfalls ihr Einverständnis bekundet hatten, sagte Cliff: »Hasso, Prac'h und ich werden mit einer LANCET starten und landen. Mario, du übernimmst inzwischen das Kommando hier oben. Wir bleiben in ständiger Funkverbindung.« »Und wir werden euch gegen eventuelle Überra-
schungen aus dem Raum sichern«, erwiderte der Chefkybernetiker. »Außerdem werden wir die Quasars im Auge behalten«, ergänzte Atan Shubashi. »Ich traue diesen Toren in einer anderen Dimension nicht. Wenn sich ihre Anziehungskraft sprunghaft erhöht, könnte es gefährlich für uns werden.« »Wir alle werden Augen und Ohren offenhalten«, versicherte Cliff McLane ernst. Er erhob sich und streifte seinen Raumanzug über. Der Raguer folgte seinem Beispiel. Sein maßgearbeiteter Anzug wirkte unförmig und plump, aber Glanskis konnte sich erfahrungsgemäß schnell und sicher in ihm bewegen. Nachdem Cliff seine HM 4 und eine Gasdruckpistole an sich genommen hatte, verließen er und der Raguer die Steuerkanzel. Als sie die für den Einsatz vorgesehene LANCET betraten, saß Hasso bereits hinter den Kontrollen. Auch er war mit einem Raumanzug bekleidet und hatte, wie seine Gefährten, den Druckhelm noch geöffnet. Nach den üblichen Vorbereitungen öffnete sich das wie eine Blendenlamelle aussehende und auch so funktionierende Außenschott über der LANCET. Langsam stieg das kleine Beiboot empor, schwebte durch die Schottöffnung und entfernte sich vom Mutterschiff. Dann schloß sich das Lamellenschott wieder. »LANCET eins an ORION«, sagte Cliff McLane ins Mikrophon des Videophons. »Bei uns ist alles in Ordnung. Wir beginnen jetzt mit dem Abstieg.« Er nickte Hasso zu, der daraufhin an der Manuellsteuerung schaltete. Langsam sank die LANCET unter die Flughöhe der ORION VIII.
Auf dem Bildschirm des Videophons war Helga Legrelles Gesicht zu sehen. »Verstanden, Cliff«, erwiderte die Funkerin. »Viel Glück – und paßt auf euch auf.« »So gut wir können«, sagte Cliff ernst. Er beobachtete, wie Hasso Sigbjörnson mit dem kleinen Digitalrechner der LANCET den Abstiegskurs berechnete und nickte zufrieden, als er feststellte, daß das Beiboot auf einer Stelle landen würde, die bei der breitesten Stelle des sichelförmigen Ruinenfeldes – und außerhalb der ehemaligen Ansiedlung – lag. Die Turbulenzen der dünnen Atmosphäre waren schwach. Sie behinderten den Abstieg nicht, und der Sandsturm war so weit entfernt, daß es Tage dauern würde, bevor er die Äquatorregion erreichte. Je tiefer die LANCET kam, desto deutlicher waren die Ruinen zu sehen. Cliff McLane stellte fest, daß sie im »Strahlungsschatten«, der nuklearen Explosion tatsächlich noch so gut erhalten waren, daß man aus ihnen auf die ursprüngliche Formgebung würde schließen können. Bei einer anderen Feststellung kam der Raguer ihm zuvor. »Es handelt sich im Grunde genommen gar nicht um Ruinen einzelner Bauwerke«, erklärte Glanskis. »Vielmehr muß die Stadt früher ein riesiger zusammenhängender Komplex gewesen sein, vielleicht sogar nur ein einziges gigantisches Bauwerk mit zellenförmiger innerer Aufgliederung. Bruchstücke des Daches haben sich hier und da erhalten.« »Was immer dort gelebt hat, es ist wahrscheinlich schon ausgestorben, bevor es auf der Erde den Homo sapiens gab«, meinte Hasso Sigbjörnson. »Der Planet ist nichts weiter als ein Artefakt.«
»Ein Artefakt, auf dem immerhin noch ein Hyperfunksender arbeitet«, gab Cliff zurück. »Ich ahne, daß uns eine Überraschung erwartet.« »Eine angenehme oder eine unangenehme?« fragte Hasso. Cliff zuckte mit den Schultern. »Das eben weiß ich nicht.« Hasso schaltete erneut. Die LANCET beschrieb einen Viertelkreisbogen, klappte die Landebeine aus und ging dann rund hundert Meter von dem Ruinenwall entfernt nieder. Als ein Blinklicht den Bodenkontakt anzeigte, schnallte Cliff sich los und stand auf. »Prac'h und ich gehen zuerst hinaus«, erklärte er. »Du, Hasso, überwachst die weitere Umgebung und bleibst mit uns in Funksprechverbindung.« »Vertretet euch ruhig die Füße«, erwiderte Hasso Sigbjörnson trocken. »Ich werde über euch wachen wie ein Vater.« »Wir können auf uns selber aufpassen«, grollte Prac'h Glanskis und schwang sich in den Schacht, der im unteren Teil der Mittelstütze in der Luftschleuse endete. »Hoffentlich!« gab Hasso zurück. Cliff McLane schlug dem Freund auf die Schulter. »Man soll sich erst dann Sorgen machen, wenn es die Lage gebietet«, erklärte er. »Eine alte Bauernregel.«
3. Die Außenmikrophone in Cliffs Druckhelm übermittelten ein unheimlich klingendes Knistern, während er über den Boden auf den Rand des Ruinengebildes zuschritt, das tot und düster vor ihm aufragte. »Komisch!« sagte Cliff und blieb stehen. »Warte, Prac'h!« rief er dem Raguer zu, der weit vorausgeeilt war. Da Cliffs und Glanskis' Helmfunkgeräte eingeschaltet waren, konnten sie einander hören. Aber auch Hasso hörte alles mit, was gesprochen wurde. »Was ist komisch, Cliff?« erkundigte sich der Maschineningenieur. »Diese Kristalle, die hier und da den Boden bedekken«, erklärte Cliff McLane. »Sie sind etwa perlengroß und rosafarben. Wenn man auf sie tritt, knistern sie ziemlich laut, aber sie verändern sich nicht.« Er ging in die Hocke und musterte die Kristalle genauer. Die kristalline Struktur war nicht zu verkennen. Cliff nahm einen Kristall zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand und hielt ihn in Augenhöhe. Gedankenlos blies er, um die dünne Staubschicht von dem Kristall zu entfernen – und wurde verlegen, als er merkte, daß er nicht an den geschlossenen Helm gedacht hatte. »Sollte das ein Pfiff werden?« fragte Hasso. »Möglich«, erwiderte Cliff und wedelte mit der Hand hin und her. Der schwache Luftzug genügte, um den feinen, grauweißen Staub zu entfernen. Cliff sah, daß sich innerhalb des Kristalls blinde Stellen befanden.
Plötzlich zuckte er zusammen. »Hast du etwas gesagt, Hasso?« fragte er. »Oder du, Prac'h?« »Ich habe nichts gesagt«, erklärte Hasso. »Ich auch nicht«, sagte der Raguer. Cliff stieß eine Verwünschung aus und ließ den Kristall fallen, dann richtete er sich wieder auf. »Dann muß ich wohl an Halluzinationen leiden«, stellte er fest. »Ich war sicher, einen Zuruf gehört zu haben.« »Dann müßtest du ihn auch verstanden haben«, erwiderte Hasso. »Eben das weiß ich nicht«, sagte Cliff nachdenklich. »Es könnte ein warnender Zuruf gewesen sein, aber ...« Er winkte ab. »Ich rede schon blanken Unsinn. Wenn ich gar keinen Zuruf gehört habe, warum sich dann Gedanken über den Wortlaut machen. Prac'h, hast du etwas Besonderes entdeckt?« »Bis jetzt nichts«, antwortete der Raguer. »Ich habe nur zunehmend das Gefühl einer drohenden Gefahr, aber das ist so verdammt vage, daß es auf Einbildung beruhen könnte.« »Ich würde dieses Gefühl nicht einfach abtun«, warf Hasso ein. »Seht euch bloß vor! Wo ein Sender ist, können auch fremde Intelligenzen sein – und der Himmel allein weiß, wie sie auf euer Auftauchen reagieren würden.« »Dann würde ich an deiner Stelle den Himmel fragen«, erwiderte Cliff. Er war gereizt, obwohl er sich den Grund dafür nicht erklären konnte. »Und du, Prac'h, solltest dich nicht so weit entfernen. Ich schlage vor, wir bleiben immer in Sichtverbindung.« »Einverstanden«, erwiderte Prac'h Glanskis.
Cliff McLane sah den Raguer am Rand der Ruinenwand entlangeilen. Er sah ihn nur schemenhaft, denn Glanskis befand sich im Schatten. Etwas schneller als vorher folgte er ihm. Es ärgerte ihn, daß er sich unsicher fühlte und dies durch sein Verhalten offen gezeigt hatte. Schließlich wußte er aus zahlreichen einschlägigen Erfahrungen, daß jeder fremde Planet, den man betrat, anfänglich immer unheimlich und gefahrvoll wirkte, es aber meist nur dann war, wenn man unbesonnen vorging. Kurz vor Erreichen der Schattenzone blieb Cliff erneut stehen. Vor ihm lag eine zirka fünf mal sechs Meter große Fläche, auf der die rosafarbenen Kristalle besonders dicht beieinander lagen. »Wie mögen diese Gebilde entstanden sein?« überlegte er laut. »Keinesfalls als Folge der nuklearen Explosion und auch nicht als Folge des verheerenden Sonnenausbruchs.« Er überlegte, ob er die Ansammlung der Kristalle umgehen sollte, verzichtete dann jedoch darauf. Wieder knisterte es unheimlich, als er auf die kristallinen Gebilde trat. Und im nächsten Augenblick war sich Cliff sicher, einen warnenden Zuruf empfangen zu haben. Doch wiederum konnte er sich nicht an den Wortlaut erinnern. »Ich nehme an, auch diesmal hat keiner von euch gerufen, Hasso und Prac'h«, sagte er. »Aber ich glaube nicht an eine Halluzination. Etwas hat mich warnen wollen, möglicherweise auf telepathischem Wege.« Er sah, wie Glanskis aus dem Schatten der Ruinen auftauchte und sich ihm näherte.
»Fühlst du dich bedroht, Cliff?« fragte der Raguer besorgt. »Nein, aber irgendwie angesprochen«, erwiderte Cliff. Er ging in die Hocke und schaufelte mit den Händen einige Dutzend Kristalle auf. Im nächsten Moment schleuderte er sie überrascht von sich, schnellte hoch und blickte sich um. »Ich habe dich beobachtet, Cliff«, meldete sich Hasso über Helmfunk. »Haben die Kristalle dich gestochen oder sonstwie verletzt?« Cliff McLane schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich denke, sie haben zu mir gesprochen. Natürlich nicht akustisch. Aber jedenfalls vernahm ich eine deutliche Warnung, als ich die Kristalle in den Händen hielt. Es war nur die Überraschung, die mich bewog, die Kristalle fortzuwerfen.« »Eine Warnung wovor?« fragte Hasso Sigbjörnson besorgt. »Das habe ich nicht mitbekommen«, antwortete Cliff. »Prac'h, wir werden einen gemeinsamen Versuch unternehmen. Allerdings braucht die Warnung nicht aktuell zu sein. Wenn es sich um eine Botschaft handelt, die in den Kristallen gespeichert wurde, dann liegt das vielleicht viele Jahrtausende zurück. Die Gründe, die zur Speicherung der Warnung führten, existieren dann sicher nicht mehr.« »Ich bin bereit«, teilte Glanskis mit. Der Raguer war in die Hocke gegangen und hielt seine behandschuhten Pranken so, daß er mit ihnen zwei Kilo der Kristalle aufschaufeln konnte. Cliff lächelte, dann hockte er sich ebenfalls wieder hin. »Fangen wir an!« Gleichzeitig griffen beide in die dicht an dicht lie-
genden Kristalle, schaufelten soviel wie möglich von ihnen auf die Hände und verhielten sich in dieser Haltung völlig still. Cliff McLane zuckte nur innerlich zusammen, als er erneut den Warnimpuls spürte, den er bereits zweimal wahrgenommen hatte. Diesmal behielt er die Kristalle auf den Handflächen – und das Ergebnis zeigte sich wenige Augenblicke später. Zuerst glaubte der Commander ein Wispern und Raunen zu vernehmen, dann artikulierten sich einige gedankliche Gebilde zu halbwegs verständlichen Begriffen – und Cliff verstand, daß die Warnung offenbar nichts an ihrer ursprünglichen Aktualität verloren hatte. Während er selbst schweigend lauschte, gab der Raguer die Botschaft wieder, soweit er sie verstanden hatte. »Sie nennen sich Thaars«, teilte er den Freunden über Helmfunk mit. »Und sie bezeichnen sich als ›die gefrorene geistige Essenz der Erben des Varunja‹, was immer das auch ist. Diese Wesenheiten behaupten, auf Thaar würde ein Mharut darauf lauern, daß jemand mit einem Raumschiff auf dem Planeten landet. Sie warnen uns vor ihm.« Cliff lockerte seine Konzentration etwas und blickte den Raguer an. »Ich wollte nur, sie könnten uns verständlich machen, was sie unter einem Mharut verstehen«, sagte er. »Bist du sicher, daß du die Erklärung der Thaars über sich selbst richtig interpretiert hast? Ich bin mir da nämlich nicht sicher.« »Ich auch nicht«, gab Glanskis zu. »Aber was den zweiten Teil der Botschaft betrifft, bin ich sicher, daß
es sich um eine Warnung vor jemand oder etwas handelt, was hier lauert.« »Oder hier gelauert hat«, wandte Cliff ein. Im nächsten Augenblick versteifte er sich unwillkürlich unter dem Anprall einer lautlosen Erschütterung, die jede einzelne Zelle seines Körpers in Schwingungen versetzte und seine Nerven in glühendes Metall zu tauchen schien. Er sah noch, wie in weitem Umkreis die rosafarbenen Kristalle zersprangen und wie ihre Splitter über den zerrissenen harten Boden hüpften – und er hörte noch einen Schrei, von dem er nicht wußte, ob der Raguer oder er oder sonstwer ihn ausgestoßen hatte, dann brach er zusammen. * Prac'h Glanskis spürte die Vibrationen der lautlosen Erschütterung ebenfalls, doch seine Natur wurde mit der folgenden Schmerzwelle erheblich leichter fertig als die Natur eines Menschen. Mit einem wütenden Brüllen richtete er sich auf. Als er sah, daß Cliff zusammenbrach, wollte er dem Freund zu Hilfe eilen. Da erspähte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung hinter der schlitzförmigen Öffnung der Ruinenwand. Sein Gehirn kombinierte sofort und brachte die Bewegung mit den schmerzhaften Vibrationen in einen Zusammenhang. Er hatte zwar nicht erkennen können, was sich dort in der Ruine bewegt hatte, aber er sah, wie die Kristalle zersprangen und die von ihnen ausgehende Botschaft verstummte. Jemand oder etwas hatte verhindern wollen, daß
Cliff und er mehr über die auf Thaar lauernde Gefahr erfuhren – und dieser Jemand oder dieses Etwas reagierte, indem es die Vibrationen auslöste, die die Kristalle zerspringen ließen. Der Raguer wußte, daß Cliff nur vom Schmerz ohnmächtig geworden war und daß für ihn vorerst keine ernsthafte Gefahr bestand. Es sei denn, der oder das Unbekannte fand eine Möglichkeit, abermals zuzuschlagen. Das mußte verhindert werden. Glanskis schnellte sich aus dem Stand in Richtung der Ruinenwand. Mit weiten Sprüngen überwand er die Entfernung, erreichte die Wand und preßte die Helmscheibe gegen die schlitzförmige Öffnung. Dahinter herrschte graues Dämmerlicht. Offenbar fiel von oben etwas Tageslicht herein. Glanskis erspähte einen schlauchartigen Hohlraum mit zahlreichen Vorsprüngen und Einbuchtungen, eine Art Gang oder Ganglabyrinth, in dem sich jemand mühelos verbergen konnte. Da die schlitzförmige Öffnung zu klein für den Raguer war, suchte er nach einer größeren. Er hatte sie schnell gefunden, denn die Ruinenwand war von zahlreichen großen Öffnungen durchsetzt. Prac'h Glanskis riß den Handscheinwerfer aus der Magnethalterung von seiner Brust und stürmte nun in das Ganglabyrinth, das er schon von draußen gesehen hatte. Mit funkelnden Augen sah der Raguer sich um. Sein Instinkt verriet ihm, daß hier Gefahren lauerten, und sein unbändiger Wille, die Gefahren kämpfend zu bezwingen, trieb ihn weiter vorwärts. Der Lichtkegel seines Handscheinwerfers riß schiefe, zerfurchte Wände aus undefinierbarem Material
aus dem Dämmerlicht. Teilweise war das Material zerschmolzen und hatte seltsam geformte Stalagmiten und Stalaktiten gebildet, grotesk deformierten Gnomen und Fledermäusen ähnelnd, die auf dem Boden hockten oder an der Decke hingen. Hin und wieder entdeckte Glanskis auf dem Boden Überreste von Mosaiken. Immer tiefer drang der Raguer in das Labyrinth ein, wand sich zwischen Säulen hindurch, kletterte steil ansteigendes Gelände hinauf und rutschte Gefällstrecken hinab. Als er eine Art Kammer erreichte, wo der Gang als Sackgasse zu enden schien, blieb er stehen und lauschte. Lange Zeit hörte er nichts außer dem schwachen Gewinsel der durch die Hohlräume der Ruinenlandschaft streichenden bewegten Luft. Dann, als Glanskis schon nicht mehr daran glaubte, seine Geduld könnte von Erfolg gekrönt sein, ertönte ein scharfes Knacken. Der Raguer überlegte, ob das Geräusch durch Material verursacht worden sein könnte, das sich unter dem klimatischen Wechselspiel von Wärme und Kälte ausdehnte und zusammenzog. Er kam zu dem Schluß, daß die schwache Strahlung der kleinen weißen Sonne Thaars nicht ausreichte, um derartig starke Reaktionen auszulösen. Im nächsten Moment handelte er. Er stürzte zu der Wand der Kammer, hinter der das Geräusch entstanden sein mußte. Seine scharfen Augen entdeckten schnell die haarfeinen Fugen, die die Trennlinie zwischen der Wand und einer quadratisch geformten Tür markierten. Seine Pranken legten sich gegen das Material der Tür und drückten mit der
ganzen Kraft seines raubtierhaft starken Körpers dagegen. Zuerst schien es, als wäre seine Mühe vergeblich. Doch dann gab die Tür nach, indem sie sich um ihre Mitte drehte. Das geschah so schnell, daß der Raguer den Halt verlor, durch die Öffnung stürzte und auf den Boden prallte. Sofort schnellte er wieder hoch. Er blickte sich wild um, bereit, sich auf jeden Gegner zu stürzen, der es wagte, ihm entgegenzutreten. Aber er sah niemand, gegen den er kämpfen konnte. Der Lichtkegel seines Handscheinwerfers wanderte durch eine weite Halle, deren Boden, Decke und Wände ganz anders aussahen als im Ganglabyrinth. Hier fehlten die Schmelzspuren. Es sah aus, als hätte jemand alle Unebenheiten sorgfältig beseitigt und anschließend eine bläulich schimmernde Masse darauf gesprüht. Prac'h Glanskis stellte fest, daß die Halle leer war – bis auf eine fremdartige Konstruktion aus schlanken, gleichschenkligen, metallischen Dreiecken, die scheinbar planlos aneinander und übereinander zusammengefügt waren. Das Ganze bildete eine Art Gitterkonstruktion, in der Spulen und Würfel aus anthrazitfarbenem, dünnen Draht hingen. »Zweifellos das Werk intelligenter Lebewesen«, stellte Glanskis fest. Er fragte sich, ob die Konstruktion etwa identisch sei mit dem gesuchten Hyperfunksender. Denkbar war es, denn nicht alles, was absolut fremdartig aussah, mußte auch absolut fremdartige Funktionen erfüllen. Hinter fremdartigen Formgebungen verbarg sich oft ein bekanntes Funktionsprinzip, was sich in
solchen Fällen allerdings erst bei genauer Untersuchung des Objekts zeigte. Der Raguer hatte sich gerade entschlossen, die Konstruktion näher in Augenschein zu nehmen, als abermals das scharfe Knacken ertönte. Gleichzeitig flammte eine grelle Entladung im Innern der Konstruktion auf. Glanskis schloß geblendet die Augen. Als er sie wieder öffnete, flimmerten feurige Ringe vor ihnen. Deshalb sah er das Ding, das sich im Innern der Konstruktion bewegte, nur undeutlich. Es handelte sich um etwas Schwarzes, Glänzendes – und es bemühte sich anscheinend, aus dem Innern der Konstruktion ins Freie zu gelangen. Glanskis zweifelte nicht eine Sekunde daran, daß er einem Gegner gegenüberstand. Er spannte seine Muskeln für einen Sprung an, der ihn bis zu der Konstruktion bringen sollte. Doch er kam nicht dazu, ihn auszuführen, denn über seinem Körper schlug eine Welle so eisiger Kälte zusammen, daß er erstarrte. Einer Statue gleich, stand Prac'h Glanskis reglos in der Halle. Die Handlampe war aus seiner Hand gefallen und strahlte ihn so an, daß sein Schatten bis dicht zu der fremdartigen Konstruktion geworfen wurde, aus der langsam noch viel Fremdartigeres kroch ... * Cliffs Bewußtlosigkeit verging so schnell, wie sie gekommen war. Noch bevor er die Augen aufschlug, merkte er, daß die schmerzhaften Vibrationen erstorben waren. Als er sich aufrichtete, zitterten seine Arme und Beine
noch im Nachhall des Schmerzes, doch das ging schnell vorbei. Cliff McLanes Blick wanderte über große Flächen zersprungener Kristalle und über die Inseln, auf denen die Kristalle sich offenbar unversehrt erhalten hatten. Zuletzt erfaßte sein Blick die finstere, eine unbestimmbare Drohung verströmende Ruinenwand. Er sah gerade noch, wie Prac'h Glanskis durch eine torgroße Öffnung in den Ruinen verschwand. »Prac'h!« stieß er hervor. Es wurde ein undeutlicher, krächzender Ruf. An Stelle des Raguers, der überhaupt nicht auf den Ruf reagierte, antwortete Hasso Sigbjörnson: »Cliff! Was war das?« »Wahrscheinlich Ultraschall«, antwortete Cliff und stellte fest, daß seine Stimmbänder ihm schon besser gehorchten. »Hast du die Vibrationen auch gespürt, Hasso?« »Und wie«, erwiderte Hasso. »Die Schmerzen waren so stark, daß ich ein paar Sekunden weg war. Hat es sich um einen gezielten Angriff gehandelt?« »Mit großer Wahrscheinlichkeit, ja. Aber wahrscheinlich nicht gegen uns gerichtet, sondern gegen die telepathischen Kristalle.« »Ich verstehe, Cliff. Da ich eure Unterhaltung mitgehört habe, weiß ich über die Thaars Bescheid – jedenfalls genausoviel wie ihr. Jemand hat offensichtlich verhindern wollen, daß sie euch noch mehr Informationen geben. Was mag dieser Mharut wohl sein?« »Weiß nicht«, gab Cliff zurück. »Jedenfalls jemand oder etwas, das mit Vorsicht zu genießen ist. Hast du Verbindung zum Schiff?«
»Moment!« erwiderte Hasso Sigbjörnson. Eine Weile herrschte Stille, dann kam seine Stimme wieder. »Auf der ORION ist alles in Ordnung. Ich gebe einen Bericht durch. Was werdet ihr jetzt unternehmen, Cliff?« Cliff McLane blickte zu der Öffnung, durch die Glanskis verschwunden war. »Ich werde Prac'h folgen. Er ist in die Ruinen eingedrungen. Vielleicht hat er etwas beobachtet. Da er auf meinen Ruf nicht reagiert, muß das Material, aus dem die Ruinen bestehen, normale Funkwellen reflektieren. Jedenfalls kann ich ihn nicht allein lassen.« »Du vermutest, daß Prac'h diesem mysteriösen Mharut auf der Spur ist, nicht wahr? Sei vorsichtig, Cliff. Das hat übrigens Arlene durchgegeben. Sie sorgt sich um dich.« »Gutes Mädchen!« sagte Cliff. Aber in Gedanken befand er sich bereits in den Ruinen. »Ich gehe jetzt los, Hasso. Beobachte die Umgebung der LANCET und laß nichts Fremdes heran. Halte vor allem die Schleuse geschlossen und unter Kontrolle!« »Du rechnest damit, daß dieser Mharut sich das Beiboot aneignen will?« »Ich rechne vorsichtshalber mit allem, Hasso. Da die Thaars erklärten, der Mharut würde auf ihrem Planeten darauf lauern, daß ein Raumschiff landet, schließe ich daraus, daß er hierher verschlagen wurde und nach einer Möglichkeit sucht, den Planeten zu verlassen. Da er das nur mit einem Raumschiff bewerkstelligen kann, muß er entweder friedlichen Kontakt mit uns herstellen oder versuchen, sich gewaltsam in den Besitz der LANCET zu setzen.« »Mit einer LANCET kommt er nicht weit«, erwi-
derte Hasso. »Er müßte dann auch noch die ORION erobern, was ihm schwerfallen dürfte.« »Wir kennen seine Möglichkeiten nicht«, sagte Cliff. »Also halten wir besser die Augen auf.« Er setzte sich auf die Ruinenwand zu in Bewegung. »Cliff!« sagte Hasso Sigbjörnson. »Ja?« fragte Cliff, während er weiterging. »Unsere Funkverbindung wird wahrscheinlich abbrechen, sobald du in den Ruinen bist. Ich schlage vor, daß wir eine Frist ausmachen, innerhalb der du zurückkommen mußt. Andernfalls komme ich nach.« »Auf gar keinen Fall!« entgegnete Cliff McLane. »Du darfst die LANCET nicht verlassen. Bin ich in, sagen wir, einer Stunde nicht zurück, startest du und holst Verstärkung aus der ORION. Aber einer muß stets in der LANCET bleiben.« »Verstanden«, sagte Hasso. »Ich drücke dir die Daumen, Cliff.« Cliff hatte unterdessen die Öffnung erreicht, durch die Prac'h Glanskis verschwunden war. Er drehte sich noch einmal um, winkte zur LANCET hinüber und stieg dann ebenfalls durch die Öffnung. Nach drei Schritten blieb er stehen und rief nach Hasso. Wie erwartet, erhielt er keine Antwort. Von jetzt an war er auf sich allein gestellt. Er nahm den Handscheinwerfer in die linke Hand, schaltete ihn ein, nahm die HM 4 in die rechte Hand und drang vorsichtig in das Ganglabyrinth der Ruinen ein. Cliff McLane war sich klar darüber, daß es schwierig sein würde, den Raguer zu finden. Es gab viele Abzweigungen, und praktisch konnte Glanskis in jede von ihnen abgebogen sein. Allerdings kannte Cliff den Raguer gut genug, um zu beurteilen, welchen
Weg er eingeschlagen hatte – vorausgesetzt, er hatte nicht jemanden verfolgt, so daß er seinen Weg nicht nach eigenem Ermessen wählen konnte. Da die letztere Möglichkeit Cliff überhaupt keinen Anhaltspunkt gelassen hätte, klammerte er sie aus. Bald gelangte er in einen Teil des Labyrinths, in dem Stalagmiten und Stalaktiten aus geschmolzenem und wieder erstarrtem Material ihm die Sicht teilweise versperrten. Er bewegte sich langsamer und hielt die HM 4 schußbereit, denn dieser Teil des Labyrinths eignete sich vortrefflich für einen Hinterhalt. Aber niemand trat ihm entgegen. Doch auch von Glanskis war nichts zu hören und zu sehen. Schließlich gelangte Cliff in eine Art Kammer und entdeckte eine starkwandige Tür, die sich auf Bolzen um ihre Mitte drehen ließ. Sie war halb geöffnet, und von der anderen Seite schimmerte Licht hindurch. Cliff McLane schaltete seinen Handscheinwerfer aus und drückte ihn in die Magnethalterung zurück. Der Lichtschein wurde dadurch deutlicher sichtbar. Cliff stellte fest, daß es das gleiche gelbweiße Licht war, das auch von seinem Handscheinwerfer ausgestrahlt wurde. »Prac'h!« flüsterte Cliff ins Mikrophon seiner Helmfunkanlage. Keine Antwort! Cliff duckte sich und schlich zur Tür. Als er einen Blick hindurch warf, sah er den Raguer in einem Saal stehen – anscheinend im Ansatz zu einem Sprung erstarrt. Glanskis' Handscheinwerfer lag auf der Cliff zugewandten Seite auf dem Boden und strahlte den Raguer voll an. Cliff konnte sich nicht erklären, warum Glanskis
sich weder rührte noch auf seinen Anruf reagiert hatte. Innerhalb der Ruinen und bei der geringen Entfernung mußte eine Funkverbindung möglich sein. Schon wollte er auf den Freund zutreten, als er eine Feststellung machte, die er im ersten Moment für eine optische Täuschung hielt. Obwohl die Körperhälfte des Raguers, die Cliff zugewandt war, voll von dem Lichtkegel des Handscheinwerfers beleuchtet wurde, warf er keinen Schatten auf den Boden der anderen Seite! »Das gibt es nicht!« flüsterte Cliff, als er sich vergewissert hatte, daß er keiner optischen Täuschung zum Opfer gefallen war. »Prac'h ist so wenig durchscheinend wie sonst, also muß er einen Schatten werfen!« Es sei denn, fügte er in Gedanken hinzu, auf der mir zugewandten Seite gäbe es eine zweite Lichtquelle. Als ihm klar wurde, daß dies die einzige denkbare Erklärung war, wurde er von Furcht um den Freund ergriffen. Eine zweite Lichtquelle auf der von ihm abgewandten Seite des Raguers konnte bedeuten, daß sich jemand hinter dem erstarrten Freund verbarg und vielleicht etwas mit ihm anstellte, das nicht wieder rückgängig zu machen war. Dieser Gedankengang trieb Cliff zum sofortigen Handeln. Er hob die Hand mit der HM 4, zielte auf eine Stelle des Bodens, die sich zirka einen Meter schräg hinter Glanskis befand, und drückte auf den Auslöser. Der scharf gebündelte Laserstrahl zuckte lichtschnell hinüber, entlud sich im Boden und bildete innerhalb von Sekundenbruchteilen einen Krater, in
dem glutflüssige Schmelze brodelte. Wer oder was immer sich hinter dem Raguer verbarg, mußte dadurch aufgescheucht werden, folgerte Cliff. Es war der letzte klare Gedanke, den er fassen konnte. Eine Welle eisiger Kälte schlug über ihm zusammen und drang trotz des Raumanzugs ohne Verzögerung bis ins Mark vor. Cliff erstarrte zur Statue eines Raumfahrers. Er sah noch, wie sich etwas von Glanskis löste, das einer wirbelnden Rauchwolke ähnelte, dann verlor er das Bewußtsein.
4. Als sein Geist sich aus der Finsternis der Bewußtlosigkeit löste, wollte Cliff McLane erleichtert aufatmen. Im nächsten Moment spürte er seinen Körper und hatte das Gefühl, als würde er von Tausenden glühender Nadeln durchbohrt. Er schrie, und sein Geist trübte sich unter dem Anprall der Schmerzen vorübergehend wieder. Eine tiefe, laut dröhnende Stimme riß ihn in die Wirklichkeit zurück. »Das vergeht wieder«, sagte die Stimme. Prac'h Glanskis' Stimme! Seltsamerweise half ihm diese Erkenntnis, die Schmerzen zu ertragen. Vielleicht klangen sie auch bereits ab. Jedenfalls hörte er auf zu schreien und schlug die Augen auf. Er sah im Halbdunkel undeutlich das Gesicht des Raguers hinter der Sichtscheibe seines Helmes. Gleichzeitig spürte er die kräftigen Arme, die ihn hielten, und merkte an der wiegenden Bewegung, daß Glanskis ging und ihn dabei trug. »Es ist schon besser«, sagte Cliff matt. »Was war eigentlich los, Prac'h? Ich kam zu einer Halle, sah dich unbeweglich darin stehen, und dein Handscheinwerfer, der dich beleuchtete, warf keinen Schatten hinter dich. Jemand mußte sich hinter dir versteckt gehalten haben. Ich feuerte, um ihn aufzuscheuchen. Plötzlich wurde es eisig kalt. Ich muß in Sekundenschnelle zu einem Eisblock erstarrt sein.« »So, wie ich kurz zuvor«, erwiderte Glanskis. »Jedenfalls kam es mir so vor. An dir sah ich dann aller-
dings, daß dieses Gefühl täuschte. Wir waren erstarrt, aber nicht erfroren. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Lähmung des peripheren Nervensystems mit gleichzeitiger drastischer Verlangsamung aller Körperfunktionen. Ich habe unseren Gegner übrigens gesehen, wenn auch nur sehr undeutlich, mehr als einen schwarzglänzenden Schemen.« Cliff McLane runzelte die Stirn. »Dann haben wir beide nicht den gleichen Gegner gesehen, Prac'h. Was ich sah, war etwas wie eine wirbelnde Rauchwolke, die sich von dir löste. Allerdings ist es möglich, daß meine Sinne zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr normal funktionierten, so daß ich meine Hand nicht dafür ins Feuer legen würde, daß diese ›Rauchwolke‹ wirklich war.« »Wir haben es jedenfalls mit einem Gegner zu tun, den wir nicht unterschätzen dürfen«, meinte der Raguer. »Er tauchte plötzlich innerhalb einer seltsamen Konstruktion auf, die mitten in der Halle stand und die ich zuerst für den gesuchten Hyperfunksender hielt.« »Ich sah keine Konstruktion«, wandte Cliff ein. »Übrigens, du kannst mich jetzt absetzen, Prac'h. Ich denke, daß ich allein gehen kann.« Glanskis stellte Cliff behutsam auf die Füße und sagte: »Unser Gegner muß abgebaut haben, nachdem er mich lähmte. Die Konstruktion war jedenfalls nicht mehr da, als ich wieder zu mir kam.« Cliff schaltete seinen Handscheinwerfer ein und warf einen Blick auf seinen Armbandchronographen. Er erschrak. »Ich muß rund zwei Stunden weg gewesen sein«, stellte er fest. »Das bedeutet, daß Hasso vor zirka ei-
ner Stunde gestartet ist, um Verstärkung von der ORION zu holen. So hatten wir es ausgemacht. Wir müssen uns beeilen, damit wir draußen sind, bevor die LANCET wieder landet.« »Die Hälfte der Labyrinthstrecke liegt bereits hinter uns«, erwiderte Glanskis. Er schaltete ebenfalls seinen Handscheinwerfer ein. Cliff und Prac'h eilten den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren. Als sie vor der Öffnung anlangten, durch die sie das Labyrinth betreten hatten, sahen sie, daß die Sonne dicht über dem Horizont hing. Der zerfaserte Ausläufer einer graubraunen Staubwolke schob sich gleich einem schmutzigen Finger bis zu ihrer Mitte. Und noch etwas sahen sie. Die LANCET stand an der gleichen Stelle, an der sie sie verlassen hatten. Cliff und Glanskis sprangen gleichzeitig durch die Öffnung, um Funkkontakt mit Hasso Sigbjörnson herzustellen. Aber bevor sie sprechen konnten, dröhnte eine Stimme in ihren Helmfunkgeräten – die Stimme von Mario de Monti: »... noch eine Minute, dann starten Atan und ich mit der zweiten LANCET, falls ihr euch bis dahin nicht gemeldet habt. Ich wiederhole: ORION VIII ruft LANCET eins. Hasso, Cliff, Prac'h, meldet euch endlich! Seit einer Stunde und vierzig Minuten besteht kein Funkkontakt mehr. Wir warten nicht länger und kommen mit der LANCET zwei.« »Das wird nicht nötig sein«, sagte Cliff. »Cliff!« schrie Mario. »Verdammt nochmal, wo hast du die ganze Zeit gesteckt? Warum hat sich niemand von euch gemeldet? Wir haben schon das Schlimmste
befürchtet. Was war los, und wie geht es euch?« »Das sind viele Fragen auf einmal, Mario«, erwiderte Cliff. »Prac'h und ich waren bis jetzt in den Ruinen, die die Funkwellen reflektieren. Was mit Hasso ist, wissen wir noch nicht. Aber die LANCET eins steht äußerlich unversehrt auf ihrem Landeplatz. Wir gehen an Bord, dann melden wir uns wieder.« »Cliff!« sagte die Stimme Arlenes. »Hasso berichtete uns, ihr hättet vereinbart, daß du nicht länger als eine Stunde in den Ruinen bleibst. Was hat dich davon abgehalten, die Vereinbarung einzuhalten?« »Ein Gespenst, das Prac'h und mich vorübergehend außer Gefecht setzte«, antwortete Cliff lächelnd. »Aber wir sind wieder völlig in Ordnung, Kleines. Ich hoffe, das trifft auch auf Hasso zu.« Er runzelte die Stirn, als in seinem Helmfunk ein lautes Stöhnen aufklang. »Warst du das, Cliff?« fragte Arlene besorgt. »Ich nehme an, es war Hasso«, sagte Cliff, während er im Laufschritt auf die LANCET zueilte. Prac'h Glanskis war schon vor ihm gestartet und hatte die Schleuse in der Mittelstütze bereits erreicht. »Sie ist von innen elektronisch verriegelt«, erklärte er. »Ohne Hassos Hilfe kommen wir nicht hinein.« Cliff McLane blieb schwer atmend neben dem Raguer stehen. »Hasso!« rief er. »Antworte bitte, wenn du kannst!« Ein erneutes Stöhnen erscholl, gefolgt von einer Verwünschung, die unverkennbar von Hasso Sigbjörnsons Stimme getragen wurde. Cliff atmete auf. »Ich nehme an, du warst gelähmt?« fragte er. »Erfroren«, antwortete Hasso. »Ich fühle mich, als
wäre ich nach zehnjähriger Lagerung einer Tiefkühltruhe entstiegen. Kannst du dir vorstellen ... – Oje! Du warst über zwei Stunden fort – und ich habe nicht ...« »Hauptsache, es ist keinem von uns etwas Ernstliches passiert«, warf Glanskis ein. »Wenn du endlich die Schleuse entriegeln würdest, wären wir froh.« »Nein, warte noch!« sagte Cliff schnell. »Hasso, überprüfe die Aufzeichnungen der automatischen Schleusenkontrolle! Es könnte sein, daß sich jemand Einlaß verschafft hat, nachdem er dich außer Gefecht setzte.« »Dann wäre er wohl längst gestartet«, meinte Hasso. »Aber schön, ich prüfe alles gewissenhaft nach. Moment, bitte!« Eine Weile blieb es still, dann meldete sich Hasso Sigbjörnson wieder. »Alles in Ordnung, Cliff. Die Schleuse ist nicht geöffnet worden, seit ihr sie verlassen habt. Ich desaktiviere jetzt die elektronische Verriegelung. Einverstanden?« »Einverstanden«, erwiderte Cliff. »Aber hinter uns wirst du sie sofort wieder aktivieren.« * »Und du hast nichts Verdächtiges bemerkt, bevor du von der Lähmung befallen wurdest?« erkundigte sich Cliff bei Hasso. »Absolut nichts, Cliff«, antwortete der Maschineningenieur. »Und ich habe die Umgebung der LANCET keinen Moment aus den Augen gelassen, darauf kannst du Gift nehmen.« Cliff McLane nickte. Er wußte, daß er sich auf Hasso Sigbjörnson verlas-
sen konnte. Von allen Mitgliedern der ORION-Crew besaß er die ausgeglichenste Persönlichkeit und war absolut zuverlässig. Das traf zwar auch auf die übrigen Mitglieder der Crew zu, aber bei Hasso waren diese Merkmale am stärksten ausgeprägt. Wahrscheinlich, weil er der Älteste an Bord war und zugleich der Reifste. Hasso Sigbjörnson hatte schon vor Jahren das für Raumfahrer festgesetzte Pensionierungsalter erreicht und tat nur deshalb weiter Dienst auf der ORION, weil er sich der Crew eng verbunden fühlte – und weil das Oberkommando der Raumflotte froh war, daß ihr der außerordentlich fähige und pflichtbewußte Maschineningenieur über die Pensionsgrenze hinaus erhalten blieb. Dennoch konnte sich Cliff eines unguten Gefühls nicht erwehren. Er begriff einfach nicht, warum der Mharut – wenn es dieses Wesen war, mit dem sie zusammengestoßen waren – die Möglichkeiten nicht genutzt haben sollte, die sich für ihn daraus ergaben, daß er alle drei auf Thaar gelandeten Raumfahrer für eine bestimmte Zeit außer Gefecht gesetzt hatte. Sicher, eine Kaperung der LANCET hätte ihm nicht geholfen, das System der weißen Sonne zu verlassen. Dazu hätte er auch noch die ORION kapern müssen. Aber wenn ihm das als undurchführbar erschienen wäre, hätte er nur eine einzige Alternative gehabt: nämlich die, doch noch friedlichen Kontakt mit den Raumfahrern aufzunehmen und zu erreichen, daß sie ihn freiwillig mitnahmen. Gerade, als Cliff merkte, daß es noch eine weitere Alternative gab, sprach Hasso ihn an. »Du machst ein Gesicht, als versuchtest du, im Geiste alle Strophen der ›Glocke‹ aufzusagen.«
Cliff lächelte schief. »Ich habe die ›Glocke‹ niemals gelernt, Hasso, und du wahrscheinlich auch nicht. Aber ich bin eben darauf gekommen, daß ich an der Stelle unseres ›Freundes‹ wahrscheinlich versucht hätte, mich heimlich in die LANCET zu schleichen und die ORION als blinder Passagier zu beehren.« »Aber ich sagte doch, die Schleuse wurde nicht geöffnet, seit ihr die LANCET verlassen habt!« protestierte Hasso. »Das wäre von der automatischen Kontrolle registriert und aufgezeichnet worden.« »Alle Aufzeichnungen lassen sich mit entsprechenden Mitteln und ausreichendem technischen Geschick manipulieren«, entgegnete Cliff. »Auch elektronische Aufzeichnungen. Und du hättest, bewußtlos und gelähmt, nichts davon merken können.« »Aber die elektronische Schleusenverriegelung kann nur von innen desaktiviert werden, Cliff«, wandte Hasso ein. »Jedenfalls von uns und mit den Mitteln, die wir besitzen«, erklärte Cliff. »Wenn wir annehmen, unser Gegner verfügt über Erzeugnisse einer höherentwickelten Technologie, sieht die Sache schon anders aus.« »Also müssen wir die LANCET durchsuchen, bevor wir starten«, meinte Hasso. »Bei dieser Nußschale ist das ja eine Sache von höchstens zwanzig Minuten.« Cliff nickte. »So ist es. Aber ich schlage vor, wir starten und gehen auf, sagen wir, tausend Meter Höhe, bevor wir mit der Durchsuchung beginnen – für den Fall, daß unser Gegner draußen lauert und es ihm einfällt, uns noch einmal kaltzustellen.« »Das beflügelt mich ungemein«, sagte Hasso und erschauerte.
Er setzte sich in den Sessel vor dem Steuerpult und drückte die Tasten der Startvorbereitung. Summend wurde die Zentralstütze eingezogen. Die Triebwerke liefen mit dem charakteristischen Heulen an. Der steinharte glatte Boden unter der LANCET spiegelte das grillweiße Wabern der Düsenstrahlen wider, dann hob das Beiboot ab und stieg auf tausend Meter Höhe über Grund. Hasso Sigbjörnson nahm eine weitere Schaltung vor. »Gravitationsanker eingeschaltet«, meldete er. »Wie gehen wir vor, Cliff?« »Wir haben alles mitgehört«, ertönte Mario de Montis Stimme aus den Lautsprechern des Bordradios. »Und wir melden Bedenken an. Wenn unser Gegner tatsächlich in der LANCET versteckt ist, wird er sich wehren, sobald er aufgespürt wird.« »Das müssen wir riskieren«, erwiderte Cliff. »Da ihr über Funk alles mitverfolgen könnt, was in der LANCET geschieht, werdet ihr in einem solchen Fall wenigstens wissen, daß wir einen blinden Passagier haben. Du mußt dann entscheiden, was zu tun ist, Mario. Nein, nicht darüber sprechen! Wir wissen nicht, ob unsere Funkgespräche mitgehört und verstanden werden.« »In Ordnung, Cliff«, sagte Mario. Cliff McLane wandte sich an Glanskis und Hasso. »Ich schlage vor, Prac'h bleibt in der Steuerkanzel, während wir beide, Hasso, alle Räume und Winkel der LANCET nach einem System durchsuchen, das es keinem blinden Passagier erlaubt, sich unbemerkt aus seinem Versteck in den bereits durchsuchten Teil des Bootes abzusetzen.«
»Falls er hierher kommt, wird es ihm nicht noch einmal gelingen, mich zu überraschen!« grollte der Raguer. Cliff nickte ihm zu und verließ mit Hasso die Kanzel. Gemeinsam kämmten sie das Beiboot so gründlich durch, daß ihnen nicht einmal eine Maus entgangen wäre. Doch sie fanden nichts, was nicht in die LANCET gehörte. Erleichtert kehrten sie in die Steuerkanzel zurück. »Alles in Ordnung!« meldete Cliff an die ORION. »Wir kommen jetzt.« Als er nicht sofort eine Antwort erhielt, drückte er ungeduldig auf die Signaltaste, die in der Steuerzentrale der ORION VIII einen lauten Summer aktivierte. Dennoch dauerte es fast noch eine halbe Minute, bis Mario de Monti sich meldete. Atemlos und aufgeregt stieß er hervor: »Kommt sofort zurück, Cliff! Der Gravitationssog des Quasars hat sprunghaft zugenommen und wird immer noch stärker. Unsere Triebwerke müssen bereits mit halber Kraft in Gegenrichtung feuern, um die Anziehung zu kompensieren.« Cliff McLane wurde blaß. »Ich verstehe«, erwiderte er. »Wir kommen, Mario!« Er blickte zu Hasso, aber der Ingenieur hatte bereits seinen Platz vor den Kontrollen eingenommen. Die LANCET beschleunigte und schoß mit rasch zunehmender Geschwindigkeit durch die dünne Atmosphäre von Thaar jenem Punkt im Weltraum entgegen, an dem die ORION wartete. Und plötzlich erstarrten alle drei Personen in der Steuerkanzel und lauschten einer letzten Botschaft,
die der Planet ihnen nachsandte. Sie war kurz, nicht mehr als ein Gedankenfetzen. Als sie verstummte, sahen sie sich an. »Es war, denke ich, wieder eine Warnung«, erklärte Prac'h. »Aber diesmal nicht vor einem Mharut, sondern vor etwas, das Rudraja genannt wurde.« »Genauer, vor den wiedererwachten Kräften des Rudraja«, sagte Hasso Sigbjörnson. »Aber ich verwette einen Jahressold, daß ihr ebenfalls heute den Namen Rudraja zum erstenmal gehört habt.« »So ist es«, erwiderte Cliff ernst. »Und ich kann mir unter den wiedererwachten Kräften des Rudraja absolut nichts vorstellen.« »Aber ich kann mir vorstellen, daß uns böse Zeiten bevorstehen«, sagte Hasso düster. Die nahe Zukunft sollte zeigen, daß er noch stark untertrieben hatte. Doch das konnte er natürlich nicht wissen. * Das Heulen der Triebwerke steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Tosen. Cliff McLane warf einen Blick zu Hasso und sah, daß der Maschineningenieur die Triebwerke der kleinen LANCET auf Vollast geschaltet hatte. Hasso bemerkte Cliffs Blick und sagte: »Es ist der Gravitationssog der Quasars. Er ist so gestiegen, daß wir mit voller Triebwerksleistung dagegen ankämpfen müssen. Wie ich die LANCET unter solchen Umständen heil in die ORION bugsieren soll, ist mir schleierhaft.« »Ich habe mitgehört«, sagte Marios Stimme aus
dem Bordradio. »Wir kommen euch mit der ORION entgegen und nehmen euch auf. Du mußt uns nur genau beobachten, Hasso, damit du die Triebwerke keine Sekunde zu früh und keine zu spät abschalten kannst.« »Ich will es versuchen«, erwiderte Hasso Sigbjörnson. Seine Stirn bedeckte sich mit einem Film glänzender Schweißperlen. Cliff McLane preßte die Lippen zusammen und hielt sich an den Armlehnen seines Sessels fest. Er dachte an die Parallel-Erde und daran, daß sie für ihre Menschen überhaupt nichts erreicht hatten. Das einzige Ergebnis ihrer Expedition zu dem Nest von Quasars war, daß sie sich selbst und ihr Schiff Gefahren ausgesetzt hatten, die zu ihrem Untergang führen konnten. Durch die Sichtscheiben der Kanzel hindurch wanderten die Quasars in sein Blickfeld. Automatisch verdunkelten sich die Scheiben durch die photochemischen Reaktionen in ihnen eingeschmolzener Salze. Dennoch wirkte die Lichtfülle der Quasars bedrohlich. Von Backbord her tauchte ein leuchtendes Etwas auf. Es war die ORION VIII, die sich der LANCET schräg von unten her näherte. Ihre Oberfläche reflektierte das Licht der Quasars wie ein gigantischer Spiegel. Nur verschwommen war in den Lichtreflexen eine dunkle Stelle zu erkennen: der geöffnete Schleusenhangar für die LANCET. »Wir haben euch im Fadenkreuz des Hangarvisiers, Hasso«, teilte Mario de Monti über das Bordradio mit. »Du kannst jetzt mit dem Gegenschub heruntergehen.«
»Verstanden!« erwiderte Hasso. Er schaltete die Triebwerke der LANCET etwas herunter. Sofort wurde das Beiboot vom Gravitationssog in Richtung auf die Quasars gezogen – aber damit auch in Richtung auf die ORION VIII, die sich genau zwischen die Quasars und die LANCET manövriert hatte. Hasso schaltete die Triebwerke um eine Winzigkeit höher, damit die Annäherungsgeschwindigkeit nicht zu groß wurde. Die ORION VIII füllte inzwischen eine ganze Sichtscheibe aus. Mario hatte das Raumschiff leicht nach vorn geneigt. Dadurch empfing sein Oberteil keine Quasarstrahlung mehr. Die Öffnung des Schleusenhangars wurde klar erkennbar, als die Beleuchtung darin eingeschaltet wurde. »Ausgezeichnet, Hasso!« meldete Mario. »Das kommt genau hin.« »Hoffentlich brenne ich euch kein Loch in die Hülle«, erwiderte Hasso trocken. Diese Gefahr bestand tatsächlich, denn da die Triebwerke der LANCET immer noch gegen den Sog der Quasars arbeiten mußten, peitschten ihre Strahlen auf die Außenhülle der ORION nieder und ließen sie hellrot aufglühen. Doch Hasso und Mario kannten die Gefahr und richteten sich danach, indem sie die Annäherungsgeschwindigkeit so hoch ansetzten, wie es gerade noch vertretbar war. Und dann war die Distanz weit genug geschrumpft. Hasso schaltete die Triebwerke der LANCET ab. Mit einem Ruck schnellten die ORION und ihr Beiboot aufeinander zu. Nur um wenige Zentimeter sackte eine Seite der LANCET am Rand der Hangarschleuse vorbei
und knallte gegen die Magnetblöcke, die sie festhielten. Cliff McLane wurde in seinem Sessel so zusammengestaucht, daß seine Zähne aufeinanderprallten. Er spuckte einen winzigen Splitter aus, nickte Hasso anerkennend zu und schnallte sich los. »Das war wieder einmal Maßarbeit«, lobte er. Sie beeilten sich, in die Steuerzentrale der ORION zu kommen, da sie an den Triebwerksgeräuschen des Mutterschiffs hörten, daß es schwer gegen den Gravitationssog der Quasars ankämpfte. Die Schiffszelle vibrierte so stark, daß Hasso und Cliff sich nur mühsam auf den Beinen halten konnten. »Wir schaffen es nicht«, erklärte Mario de Monti, als sie die Zentrale betraten. »Der Sog nimmt zu.« Cliff trat neben den Kybernetiker, der im Sessel vor dem Hauptsteuerpult saß. Er sah an den Anzeigen, daß die Triebwerke der ORION auf Vollast geschaltet waren. Dennoch trieb das Schiff mit drei Kilometern pro Sekunde auf die Quasars zu. »Wir schalten die Schlafende Energie dazu!« entschied Cliff. »Es könnte das Schiff zerreißen«, warnte Mario. »Wenn wir noch länger warten, nützt uns auch die Schlafende Energie nichts mehr«, entgegnete Cliff. »Verstärkt sich der Gravitationssog noch weiter, zerreißt es die ORION ganz bestimmt, wenn wir die Schlafende Energie einsetzen.« Er blickte sich nach Hasso um, aber der Maschineningenieur hatte die Steuerzentrale wieder verlassen. Im nächsten Moment tauchte sein Oberkörper auf der Sichtscheibe der Bordverbindung auf. »Mobilisierung der Schlafenden Energie eingeleitet, Cliff«, meldete er.
»In Ordnung«, sagte Cliff McLane, setzte sich und schnallte sich an. Die übrigen Mitglieder der Crew hatten es ihm inzwischen gleichgetan. »Mario, fang an!« Mario preßte die Lippen zusammen, aktivierte die Vorlaufschaltung für das elektronische Schaltsystem, mit dem die quasi eingefrorene Energie schlagartig freigesetzt werden konnte, dann preßte er die Handfläche auf den Hauptschalter. Ein harter Schlag ging durch die ORION VIII, gefolgt von einem unaufhörlichen Donnern wie von einer schnellen Folge von Atomexplosionen. Kontrolllampen flackerten, blauweiße Blitze zuckten aus einer Sicherungsbatterie; es roch nach Ozon. Die Schiffszelle knirschte, knackte, kreischte und bebte unaufhörlich. Die Bildschirme zeigten Ausschnitte eines scheinbar rasend schnell um das Schiff kreisenden Weltraums, in dem immer wieder sieben verzerrt wirkende, ultrahell wabernde Gebilde erschienen. Das schrille Pfeifen einer Alarmsirene mischte sich in den tobenden Lärm und ging fast darin unter. Die Vibrationen der Schiffszelle wurden so stark, daß die Schaugläser der Instrumente barsten und einen Splitterregen durch die Zentrale schleuderten. Cliff klammerte sich krampfhaft an den Seitenlehnen seines Sessels fest. Er spürte, wie ihm das Blut aus der Nase schoß. Vor seinen Augen flimmerten nur noch bunte Kreise und Sterne. Das ist das Ende! dachte er. Plötzlich schien etwas lautlos zu bersten. Es wurde dunkel und wieder hell. Auf den Bildschirmen schossen graue Schleier vorbei – und es war so still, daß die plötzliche Stille gleich einem Schock wirkte.
»Wir sind im Hyperraum!« grollte Glanskis in die Stille hinein. Der Ausruf des Raguers wirkte wie ein Zauberwort, das einen Bann brach. Für einige Sekunden redete die gesamte Crew heftig gestikulierend durcheinander, dann schwiegen sie wieder und sahen sich erleichtert an. »Wir haben es geschafft«, sagte Atan Shubashi. »Und das tatsächlich im letzten Moment.« »Ja, wir leben noch und haben auch noch unser Schiff«, meinte Cliff McLane leise. »Aber geschafft haben wir es sicher noch lange nicht. Helga, versuche bitte, eine Funkverbindung mit Dave Sligo zu bekommen. Wir müssen wissen, was sich inzwischen bei der Erde getan hat.«
5. Cliff beobachtete die Bildschirme, die die Umgebung der ORION VIII zeigten. Die grauen Schleier waren typisch für die optischen Phänomene des Hyperraums, aber die grell blitzenden funkenartigen Lichterscheinungen, die in immer größerer Anzahl dazwischen auftauchten, waren absolut untypisch. »Was könnte das sein?« wandte sich Cliff an den Astrogator. Atan zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, Cliff. Übrigens, hast du bemerkt, daß die Lichterscheinungen sehr kurzlebig sind? Keine hält sich länger als anderthalb Sekunden.« »Jetzt fällt mir das auch auf«, erwiderte Cliff. »Sie werden so schnell durch neue Lichtpunkte ersetzt, daß man ihre Kurzlebigkeit nur bei genauem Hinsehen bemerkt.« Er wandte sich an Helga Legrelle, die angespannt auf die Kontrollen ihres Funkpults blickte. »Nicht durchzukommen, was?« meinte er. Helga drehte am Lautstärkeregler. Sofort wurde die Steuerzentrale von lautem Knattern erfüllt, in das sich ein an- und abschwellendes Heulen mischte. Nach einigen Sekunden stellte die Funkerin die Lautstärke wieder zurück. »Unbekannte Störungen«, kommentierte sie. »Es scheint, als wäre die Struktur des Hyperraums durch die Störungen so verändert, daß er sich nicht mehr als leitendes Medium für überlichtschnelle Trägerwellen eignet.« »Das kann ja noch heiter werden«, warf Hasso Sigbjörnson ein.
»Hat jemand eine Theorie oder wenigstens eine Hypothese, was in diesem Raumsektor überhaupt vor sich geht?« fragte Cliff. »Diese ganzen Phänomene müssen doch eine oder mehrere Ursachen haben.« »Es scheint so, als wäre unser Universum defekt geworden, so daß Durchbrüche aus einem dimensional anders gearteten Universum erfolgen«, sagte Atan. »Das klingt, als dächtest du an eine Katastrophe, die unser gesamtes Universum verschlingen oder umgestalten würde«, erklärte Arlene. Atan schüttelte den Kopf. »Ich denke eher an einen lokal begrenzten Defekt, der von den Kräften unseres Universums früher oder später wieder ausgebügelt werden wird«, erwiderte er. »Möglicherweise hat sich ähnliches in der Vergangenheit schon immer ereignet, nur eben so weit von uns entfernt, daß wir es nie beobachten konnten.« »Die wiedererwachten Kräfte des Rudraja, vor dem die Thaars uns warnten«, sagte Cliff leise. »Was ist darunter zu verstehen? Naturgewalten oder das Machtpotential intelligenter Wesen, die vielleicht mit den Kräften des Kosmos spielen, ohne uns überhaupt zu bemerken?« »Spekulationen helfen uns nicht weiter, Cliff«, sagte Hasso. »Wir brauchen mehr Fakten, um Ansatzpunkte für Hypothesen und Theorien zu finden.« »Du hast ja recht«, erwiderte Cliff. Er wandte sich an Mario, der noch immer vor dem Hauptsteuerpult saß. »Wann kehren wir in den Normalraum zurück?« »In fünf Minuten«, antwortete Mario de Monti. »Wir müßten rund dreihunderttausend Kilometer vor der Erde herauskommen.«
»Dann werden wir endlich Verbindung mit dem Sternenschiff erhalten«, meinte Cliff und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Die fünf Minuten verstrichen, ohne daß jemand etwas sagte. Dann verschwanden die grauen Schleier – und mit ihnen die seltsamen Lichterscheinungen. Im Zentralschirm leuchtete blau und weiß das vertraute Abbild der Erde. »Ortung spricht an!« meldete Atan Shubashi. »In allen erfaßten Sektoren werden starke Kraftfelder angemessen, die es hier vorher nicht gab. Außerdem sind nur noch wenige Sternkonstellationen erfaßbar – und ausschließlich solche, die wir nicht kennen. Dafür sind drei weitere Nester von Quasars aufgetaucht, deren Gravitation die Raumkrümmung erheblich stört.« »Die Auswertung der Ortungsdaten dürfte eine Aufgabe für dich und den Bordcomputer sein, Mario«, sagte Cliff. »Ich übernehme wieder die Steuerung. Helga, jetzt müßtest du das Sternenschiff erreichen können.« Wortlos stand Mario de Monti auf und ging zur Schaltwand des Computers hinüber. Cliff nahm seinen Platz am Kommandopult wieder ein, schaltete auf Manuellsteuerung und dirigierte die ORION VIII in Richtung Erde. »Verbindung steht!« meldete Helga. Cliff schaute zum großen Bildschirm und atmete erleichtert auf, als er Dave Sligos Abbild erkannte. »Sternenschiff an ORION VIII!« sagte der Zweite Pilot. »Wir gratulieren zu Ihrem Erfolg. Der Todesschatten ist erloschen – allerdings erst, nachdem er das Leben von rund vierzig Millionen Menschen ausgelöscht hat.«
Cliff schaltete sich in die Verbindung ein. »Es ist nicht unser Erfolg, Dave«, erklärte er. »Wir haben praktisch nichts erreicht, was uns und der Menschheit helfen könnte. Was sagt eure Analyse der Kraftfelder, die in diesem Sektor neu aufgetreten sind?« »Es handelt sich dabei mit großer Wahrscheinlichkeit nur um Nebeneffekte von Energieausbrüchen, die dimensional so weit übergeordnet sind, daß sie von unseren Ortungsinstrumenten nicht selbst erfaßt werden können«, teilte Dave Sligo mit. »Cliff, wir alle haben das Gefühl, daß das alles nur der Anfang von Geschehnissen ist, die mit einem Chaos enden werden. Ich bin froh, daß die Erde, die wir bewachen, nur eine Parallelwelt ist, vielleicht sogar nur eine Fiktion, eine materielle Spiegelung der echten Erde. Wenn es ganz schlimm kommt, sollten wir versuchen, diesen Raumsektor zu verlassen und uns zur richtigen Erde durchzuschlagen.« »Ich weiß nicht, ob das richtig wäre, Dave«, entgegnete Cliff. »Vielleicht verteidigen wir unsere richtige Erde, indem wir diese Parallel-Erde beschützen. Wir würden die richtige Erde dem Chaos preisgeben, wenn wir ihr Spiegelbild im Stich ließen. Außerdem wissen wir nicht, in welcher Richtung und in welcher Entfernung die echte Erde liegt.« »Wenn wir diesen Raumsektor verlassen, werden wir sicher Möglichkeiten der Orientierung finden«, warf Vlare MacCloudeen ein, der sich lange Zeit schweigsam verhalten hatte. »Das denke ich auch«, sagte Dave Sligo. »Ich habe die erste Auswertungsreihe abgeschlossen«, meldete sich Mario zu Wort. »Im großen und
ganzen komme ich zum gleichen Ergebnis wie die Kybernetiker des Sternenschiffs. Zusätzlich kommt unser Schlauberger zu der Hypothese, daß die dimensional übergeordneten Energieausbrüche, die sich uns nur durch ihre Nebeneffekte verraten, von Reaktionen zwischen Materie und Antimaterie herrühren und daß die Quasars gar keine echten Quasars sind, sondern Ballungen von Ambiplasma, also einem Gemisch aus Materie und Antimaterie.« »Aber wie kommen diese Ballungen zustande?« fragte Dave Sligo. »Außerdem ist die Radiostrahlung der Quasars nicht so stark, wie sie sein müßte, wenn es sich tatsächlich um Ballungen von Ambiplasma handelt«, warf Atan ein. »Wenn ein Proton und ein Antiproton zusammenstoßen, wird dabei eine kinetische Energie von dreihundert Megavolt frei, die fast vollständig als Radiostrahlung ausgesandt wird.« »Das trifft für einen ungesteuerten Prozeß zu«, warf Mario de Monti ein. »Willst du damit sagen, der Computer hätte gesteuerte Prozesse in den Pseudo-Quasars angenommen?« fragte Cliff. Mario öffnete den Mund zu einer Antwort, aber er kam nicht mehr dazu, sie auszusprechen. Zweierlei geschah zur gleichen Zeit: Das Sternenschiff tauchte auf seinem Orbit aus dem Erdschatten auf und wurde sichtbar, weil es das Sonnenlicht gleich einem riesigen Spiegel reflektierte – und rings um die Erde, das Sternenschiff und die ORION VIII erschienen, scheinbar aus dem Nichts, zahllose nachtschwarze Ballungen. »Was ist das?« fragte Arlene erschrocken.
»Auf jeden Fall müssen wir das Schlimmste annehmen«, sagte Cliff. »Dave, versetzen Sie das Sternenschiff in volle Gefechtsbereitschaft, einschließlich des Aufbaus der Defensivschirme!« Er schaltete ebenfalls die energetischen Defensivschirme ein, dann sah er sich nach Mario um. Aber der Kybernetiker befand sich bereits auf dem Weg zum Werferstand. »Gebündelte Kraftfeldlinien«, sagte Atan. »Wie der Dunkeleffekt zustande kommt, weiß ich nicht, aber hinter den Dunkelballungen messe ich Bündelungen sehr energiereicher Kraftfelder an.« »Sie fliegen mit Erdkurs«, stellte Vlare MacCloudeen fest. Cliff schaltete die Bordsprechanlage zum Werferstand durch und sagte: »Mario, fertigmachen zum Einsatz von Overkill!« * Ein Gefühl völliger Hilflosigkeit bemächtige sich Cliffs, als er sah, daß Hunderte dieser Schattenballungen, die in Wirklichkeit Bündelungen von Kraftfeldlinien waren, auf die ORION VIII zurasten. »Wenn sie uns angreifen, können wir vielleicht zehn oder zwölf von ihnen treffen und eventuell zerstören, aber die übrigen werden uns auslöschen«, sagte Arlene und sprach damit das aus, was Cliff dachte. »Bis jetzt wissen wir nicht, ob sie überhaupt eine Bedrohung darstellen«, wandte Hasso Sigbjörnson ein. »Es könnte sich um Abfallprodukte natürlicher energetischer Prozesse handeln.«
Cliff sagte nichts dazu. Er saß auf seinem Platz, bereit, jederzeit ein Ausweichmanöver einzuleiten und gleichzeitig sicher, daß im Falle eines massierten Angriffs kein Ausweichmanöver die ORION retten würde. Die Schattenballungen jagten mit unverminderter Geschwindigkeit heran. Cliff McLane erkannte, daß keine Ballung mit dem Schiff kollidieren würde. Das schien zu beweisen, daß es sich wenigstens nicht um Geschosse handelte. »Entfernung der ersten Ballungen zwanzig Kilometer«, meldete Atan Shubashi mit gepreßter Stimme. »Zehn Kilometer, zwei – null!« Cliff hielt den Atem an, als die ersten Schattenballungen neben, über und unter der ORION vorbeischossen, ohne auf das Vorhandensein des Diskusschiffs zu reagieren. Einige von ihnen kamen so dicht vorbei, daß der Eindruck erweckt wurde, als könnte man sie durch ein Bullauge mit der Hand berühren. Jede von ihnen war etwa so groß wie eine LANCET. »Sie kümmern sich nicht um uns«, stellte Arlene erleichtert fest, als die letzten Schattenballungen die Position der ORION passiert hatten. »Aber sie fliegen weiter auf die Erde zu«, erwiderte Cliff. Atan schaltete einige Bildschirme auf Ausschnittvergrößerung, so daß die Crew weiterhin den Flug der rätselhaften Ballungen verfolgen konnte. Auch die Konturen des großen Sternenschiffs wurden dadurch erkennbar. Es befand sich zur Zeit genau zwischen dem Schwarm, der an der ORION VIII vorbeigeflogen war, und der Erde. »Sie haben uns nicht angegriffen«, sagte Prac'h
Glanskis. »Wenn sie dafür keinen Grund sahen, werden sie auch keinen Grund sehen, das Sternenschiff anzugreifen.« Cliff nickte, denn die Ballungen formierten sich nicht um, wie es im Falle eines bevorstehenden Angriffs wahrscheinlich gewesen wäre, sondern flogen unverändert weiter. Die ersten Ballungen erreichten das Sternenschiff – und flogen daran vorbei! Schon wollte Cliff befreit aufatmen, als sich aus den Schattenballungen grell strahlende Spiralen lösten und zum Sternenschiff hinüberzuckten. Für einen Moment blähten sich die Defensivschirme des Schiffes auf, dann flackerten sie und brachen zusammen. Die nächsten Energiespiralen verschwanden im Sternenschiff und verwandelten es in eine gluterfüllte Hölle, die in der nächsten Sekunde in einer heftigen Explosion barst. Gelähmt vor Entsetzen starrte die ORION-Crew auf das grauenhafte Schauspiel, das sich ihren Augen bot. Von dem riesigen Sternenschiff mit seiner Besatzung war wenige Herzschläge nach dem Feuerschlag der Dunkelballungen nicht mehr übrig als rasch erkaltende, glühende Fetzen, die nach allen Seiten davontrieben. Über die Bordverständigung kam ein Keuchen, dann sagte Hasso Sigbjörnson tonlos: »Sie haben es einfach im Vorbeiflug ausgelöscht, so, wie man nebenbei eine Mücke erschlägt! Alle unsere Freunde dort ...« Er brach ab. »Wir müssen unsere Freunde rächen!« stieß Prac'h Glanskis zornig hervor. »Was können wir schon tun?« warf Arlene ein.
»Wenn wir die Ballungen angreifen, geht es uns nicht besser als unseren Freunden im Sternenschiff.« »Wir sind so und so verloren«, erklärte Hasso mit dumpfer Stimme. »Der Kampf gegen den Sog der Quasars hat nicht nur die Schlafende Energie aufgebraucht, sondern auch die Triebwerke teilweise ausbrennen lassen. Vielleicht schaffen wir im Hyperraum noch einige Lichtjahre, aber dann hängen wir endgültig fest.« Cliff McLane beschleunigte zögernd, aber nicht so hoch, daß die ORION VIII die Schattenballungen einholen konnte. Auch in ihm schrie alles danach, den heimtückischen Mord an den Freunden zu rächen. Sein Verstand sagte dem Commander allerdings, daß er das Leben der Crew sinnlos opfern würde, wenn er dem Drang nach Rache nachgab. »Nein!« sagte er schließlich leise, aber mit Festigkeit. »Wenn wir unseren Freunden dadurch noch helfen könnten, müßten wir eingreifen. Aber so ...« »Nein!« schrie Helga Legrelle auf. »Die Erde! Sie greifen die Erde an!« Cliff sah es im gleichen Augenblick. Von den Schattenballungen, die der Erde am nächsten waren, lösten sich die nur zu gut bekannten Energiespiralen und zuckten zur Erdoberfläche hinab. Noch war von der Wirkung nicht mehr zu erkennen, als einige punktförmige Ausbrüche, aber was in der Lage gewesen war, das große Sternenschiff zu vernichten, würde bei entsprechender Massierung auch einem Planeten gefährlich werden. »Das lassen wir nicht zu!« schrie Cliff. »Wir greifen an – mit allem, was wir haben!« Er schaltete auf volle Beschleunigung, und die
ORION VIII raste auf die Schattenballungen zu, die sich vor der Erde teilten und wieder und wieder ihre vernichtenden Energiespiralen hinabschickten. Die weißen Wolkenfelder der Erde zerrissen und verfärbten sich, als Dampf und Rauch von unten heraufschossen. »Overkillprojektor feuerbereit!« teilte Mario mit. * »Wir setzen zuerst die Lichtkanonen ein, danach die Raumtorpedos und zum Schluß den Overkill!« sagte Cliff, während er das Schiff nach einem Backbordschwenk nach Steuerbord leitete. »Verstanden!« erwiderte Mario de Monti. Cliff warf einen Blick auf die Gesichter der Freunde und erkannte, daß sie sich alle klar darüber waren, daß die ORION VIII auf verlorenem Posten stand. Es war aussichtslos, die Erde retten zu wollen, wenn der Angreifer entschlossen war, sie um jeden Preis zu zerstören. Dennoch konnten sie nicht tatenlos zusehen, wie die Erde angegriffen wurde – auch wenn es nicht die richtige Erde war, sondern eine Parallelwelt. Vor der ORION tauchte, nur wenige Kilometer entfernt, eine der Schattenballungen auf. »Ziel erfaßt, Cliff!« sagte Mario drängend. »Feuer frei für Lichtkanonen!« erwiderte Cliff. Die stark gebündelten energiereichen Laserstrahlen zuckten hinüber zu der Ballung aus Dunkelheit und unsichtbaren Kraftfeldlinien und verschwanden darin. Von einer Wirkung war nichts zu erkennen. Die Dunkelballung setzte ihren Flug unbeirrt fort und schoß weiter Energiespiralen zur Erde hinab.
»Feuer frei für Raumtorpedos!« sagte Cliff. Drei schlanke Projektile rasten hinüber zur Ballung, nur erkennbar an dem Glühen ihrer Triebwerksdüsen. Ihre nuklearen Sprengköpfe reichten aus, drei Raumschiffe zu zerstören – wenn sie ungeschützt waren. Der Dunkelballung vermochten auch sie nichts anzuhaben. Sie wurden abgelenkt und verschwanden mit unterschiedlichen Kursen im All. »Feuer frei für Overkill!« stieß Cliff hervor. Er hatte im nächsten Moment Mühe, das Schiff zu halten, denn als der Overkill-Strahl zu der Ballung hinüberzuckte, schüttelte sich das Schiff und drohte auszubrechen. Und die Schattenballung verwandelte sich in eine grellweiß strahlende, exakt kugelförmige Wolke, die sich bis fast zur ORION VIII ausdehnte, die Steuerzentrale mit bleichem Licht füllte und dann einfach erlosch, als hätte jemand sie ausgeschaltet. Einen Herzschlag lang herrschte absolute Stille an Bord, dann brach alle aufgestaute Anspannung, alle Furcht und alles Entsetzen in einem Schrei, der weniger Triumph als Hoffnung ausdrückte – die Hoffnung, daß es doch noch gelingen würde, die grauenvolle Bedrohung von der Erde abzuwenden. Als der Schrei abbrach, richtete Cliff McLane das Diskusschiff auf die nächste Schattenballung aus. »Wir gehen diesmal nicht so dicht heran, Mario«, sagte er. »Schieß, sobald du ein Ziel im Zielautomaten hast!« »Schon passiert!« erwiderte Mario. Wieder zuckte der vernichtende Overkill-Strahl zu einer Schattenballung – und wieder blähte sich für Sekunden eine künstliche Sonne im Weltraum auf,
die abermals wie ausgeknipst erlosch. »Ich habe den Vorgang genau beobachtet«, sagte Atan Shubashi. »Er ist untypisch für eine normale Kernexplosion, bei der die Glutwolke verblassen und durchscheinend werden müßte, bevor sie sich auflöst. Hier implodiert die freigesetzte Energie und verschwindet einfach aus unserem Kontinuum.« »Das werden wir später auswerten«, sagte Cliff und hielt das Schiff, dessen Zelle gleich einer riesigen Glocke zu schwingen begann, auf Kurs, während die dritte Ballung vernichtet wurde. »Sie reagieren überhaupt nicht«, sagte Vlare MacCloudeen verwundert. »Es ist, als ob sie gar nicht merken, daß wir unter ihnen aufräumen.« Die vierte künstliche Sonne entstand und implodierte. »Vielleicht ist das unsere Chance«, sagte Cliff. »Weiter, Mario!« Er drängte nicht grundlos, denn die übrigen Schattenballungen setzten den Beschuß der Erde fort. Auf ihrer Oberfläche hatten sich bereits große rotglühende Flecke gebildet, von denen einige die Ausdehnung von Großstädten hatten. Aus ihnen eruptierte Magma, wurde bis über die Wolken geschleudert und regnete in Form von tödlichen Geschossen wieder herab. Die fünfte Ballung wurde vernichtet – und diesmal war die erste Reaktion der übrigen Ballungen erkennbar. Ihre Formation geriet durcheinander. Nach und nach stellten sie den Beschuß der Erde ein, entfernten sich auf verschlungenen Kursen von dem Planeten und schienen in den Weltraum fliehen zu wollen. Doch das war ein Trugschluß, wie sich bald heraus-
stellte. In durchschnittlich fünfhunderttausend Kilometern Entfernung von der Erde sammelten sich die Schattenballungen zu mehreren Pulks. Diese Pulks vollführten einige undurchsichtige Manöver, danach beschleunigten sie und steuerten aus allen Richtungen auf die ORION VIII zu. Cliff McLane wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Diesmal geht es uns an den Kragen«, erklärte er. »Aber wir lassen uns ihre Taktik nicht aufzwingen. Sobald die Ballungen soviel Fahrt haben, daß sie keine engen Kurven fliegen können, stoßen wir mit voller Beschleunigung auf einen Pulk zu, vernichten so viele der Ballungen wie möglich und setzen uns erst mal ein Stück ab.« »Viele Hunde sind der Hasen Tod«, prophezeite Arlene. »Die ORION ist aber kein Hase, sondern kann sich wehren«, entgegnete Prac'h Glanskis. »Und ihre Zähne sind scharf, wie sie bereits bewiesen hat.« Cliffs Augen funkelten kalt. »Es geht los!« flüsterte er und schob den Fahrthebel weit nach vorn. Es wirkte, als vollführte die ORION VIII einen Satz, dann jagte sie sehr schnell auf einen der Pulks zu. Sekunden später sah Cliff, daß die anderen Pulks ihre Fahrt abbremsten. Einige setzten zu Innenkurven, andere zu Außenkurven an. Ungefähr ein Drittel von ihnen aber schwenkten auf Erdkurs ein. »Sie wollen uns zwingen, in Erdnähe zu bleiben«, sagte Cliff. »Aber wir können uns nicht dazu verführen lassen. Es wäre unser Ende – und der Erde würde es nichts nützen.«
Er hielt eisern den einmal eingeschlagenen Kurs. Erneut arbeitete Mario mit dem Overkill-Projektor. Eine, zwei, drei Schattenballungen verwandelten sich in künstliche Sonnen, die kurz darauf implodierten. Aus einer Eingebung heraus riß Cliff die ORION steil nach oben. Im nächsten Moment zuckten von dem Pulk mehrere Energiespiralen heran, trafen sich an einem Punkt, an dem die ORION sich befunden hätte, wäre sie nicht hochgezogen worden, und entluden ihre Energien in Bündeln sonnenheller Blitze, von denen jeder stark genug gewesen wäre, die Defensivschirme und die Außenhülle der ORION zu zerschlagen. Cliff preßte die Lippen zusammen, kippte das Schiff nach vorn und beschleunigte weiter. Mario setzte erneut den Overkill-Projektor ein und vernichtete eine weitere Dunkelballung. Danach zog Cliff die ORION hart nach Steuerbord – und wieder verfehlte eine Salve aus Energiespiralen das Schiff nur knapp. Einer der Entladungsblitze streifte die Defensivschirme und regte sie zu einem Energiegewitter an, das die ORION für Sekunden blind machte. Cliff konnte nichts sehen. Er zog das Schiff einfach nach oben und drückte es gleichzeitig in eine Backbordkurve. Als die die Defensivschirme durchtobenden Entladungen nachließen, sah Cliff, daß die ORION VIII einen imaginären Punkt im All ansteuerte, den der Pulk aus Dunkelballungen etwa zur gleichen Zeit erreichen mußte. Die Distanz nahm ständig ab. Zwar würde Cliff einen Zusammenstoß gerade noch vermeiden können, aber in den nächsten zehn Sekunden würde der, Gegner so viele Tref-
ferchancen haben, daß das Schicksal der ORION und ihrer Besatzung besiegelt schien. »Es war schön mit uns, Cliff«, sagte Arlene. »Ich danke dir für alles, Mädchen«, gab Cliff McLane zurück. »Overkill-Projektor ist ausgefallen«, meldete Mario über die Bordverständigung. »Wahrscheinlich nur ein gewöhnlicher Kurzschluß, der in wenigen Minuten behoben wäre, wenn wir ...« Er sprach nicht weiter, aber Cliff wußte auch so, was der Freund gemeint hatte. Sie würden nicht mehr lange genug leben, um den Kurzschluß zu beheben. Es war überhaupt ein Wunder, daß der Gegner noch keine neue Salve abgefeuert hatte. Cliff wollte ein weiteres Ausweichmanöver fliegen, als er sah, daß zwischen den Schattenballungen Schwärme winziger roter Punkte aufgetaucht waren. Ihr Licht schien sich auf den dunklen Ballungen zu spiegeln, was an sich völlig unmöglich war. »Was ist das, Cliff?« rief Vlare MacCloudeen. Cliff brachte kein Wort heraus. Fassungslos starrte er hinüber zu den Dunkelballungen. Das, was zuvor ausgesehen hatte wie das reflektierte Licht der roten Punkte, entpuppte sich als rotierende Energiewirbel, die sich in die Schwärze bohrten. Nach und nach verblaßte die Schwärze der Ballungen. Fremdartige, metallische Konstruktionen wurden sichtbar. Aber ihre ursprünglichen Formen ließen sich schon nicht mehr bestimmen, denn sie befanden sich in einem Auflösungsprozess, der unaufhaltsam voranschritt. Ungefähr fünf Sekunden nach dem Auftauchen der
roten Punkte war der Pulk, gegen den die ORION VIII gekämpft hatte, nur noch eine Wolke fragmentarischer Trümmer, die auf dem alten Kurs weitertrieben. Die roten Punkte aber verblaßten – und hinter ihnen wurden die stumpfgrauen Hüllen von Raumschiffen sichtbar. Sie waren größer als die ORION VIII und bestanden jeweils aus einem zylindrischen Rumpf, auf dem oben und unten eine flache Scheibe vom Durchmesser der ORION aufgesetzt war. Und es gab Hunderte dieser fremdartigen Raumschiffe! »Sie haben uns fürs erste das Leben gerettet«, meinte Atan Shubashi. »Aber das heißt nicht, daß sie unsere Freunde sind. Wie sollen wir uns ihnen gegenüber verhalten?« »Wir müssen abwarten – und auf alles gefaßt sein«, erwiderte Cliff. »Anscheinend sind wir in eine kosmische Auseinandersetzung geraten, über deren Hintergründe wir nicht das mindeste wissen.«
6. »Der Schaden am Overkill-Projektor ist behoben«, teilte Mario über die Bordverständigung mit. »Eine Verstärkerspule war durchgebrannt. Ich habe sie ausgewechselt.« »Danke, Mario«, erwiderte Cliff McLane. »Aber es sieht nicht so aus, als müßten wir eingreifen. Die Pulks der Schattenballungen sind durch die Angriffe der anderen Schiffe dezimiert.« »Und – die Erde?« erkundigte sich Mario de Monti. Cliff schluckte. Er wollte antworten, brachte aber keinen Ton heraus. Statt dessen blickte er auf den Bildschirm, der in einer Ausschnittvergrößerung die Erde zeigte – oder vielmehr die Parallelwelt der richtigen Erde. Von dem Blau der Ozeane und dem meist makellosen Weiß der Wolkenfelder war nichts mehr zu sehen. Der Planet war in dichte Rauch- und Dampfwolken gehüllt, durch die glühende Flecken schimmerten – Flecken, die die Umrisse der Kontinente besaßen. Der letzte massierte Angriff der Schattenballungen hatte die Ozeane der Erde verdampfen lassen und ihre feste Oberfläche in brodelnde Magmaseen verwandelt. »Das hat niemand überlebt«, sagte Prac'h Glanskis. »Sei still!« fuhr MacCloudeen den Raguer an. Das Gesicht des Pionierchefs von PROJEKT PERSEIDEN war kalkweiß; seine Fäuste schlossen und öffneten sich abwechselnd. Ein Geräusch ließ Cliff nach rechts blicken. Er sah, daß Helga Legrelle die Hände vors Gesicht geschlagen hatte und von einem Weinkrampf geschüttelt
wurde. Arlene erhob sich von ihrem Platz, ging zur Funkerin hinüber und legte einen Arm um ihre Schultern. »Wir haben die Erde nicht retten können«, sagte Hasso Sigbjörnson über die Bordverstärkung. Seine Stimme klang teilnahmslos, doch das kam nur von dem schweren psychischen Schock, der seine Gefühle vorübergehend erstickt hatte. »Es war zwar nur eine Parallel-Erde, aber gleichzeitig unser einziger Anhaltspunkt. Nun besitzen wir nicht einmal eine Ersatzheimat.« »Es gibt noch immer – irgendwo – die richtige, unsere Erde«, sagte Cliff. »Vielleicht können wir uns mit den Fremden, die uns gerettet haben, verständigen. Ihre Technik steht der unseren nicht nach.« »Du meinst, sie würden uns helfen, die ORION zu reparieren?« fragte Hasso. Cliff zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, aber ich bin sicher, daß sie uns helfen können, wenn sie wollen. Folglich müssen wir den Kontakt mit ihnen suchen.« »Es fragt sich nur, ob sie an einem Kontakt mit uns interessiert sind«, warf Mario ein. »Sie brauchen uns nicht. Vielleicht fliegen sie wieder ab, ohne sich um uns zu kümmern.« »Das wäre möglich, also müssen wir uns um sie kümmern«, erwiderte Cliff. Er blickte wieder zu Helga und sah, daß sie sich einigermaßen gefaßt hatte. »Versuche, sie auf allen Wellenbereichen und Frequenzen anzufunken, Helga!« sagte er. »Ich werde die ORION inzwischen in die Nähe des nächsten Verbands der Fremden bringen.«
Er drückte das Schiff in eine Steuerbordkurve und flog den Verband an, der am weitesten von der glühenden Erde entfernt war. Erst hinterher wurde er sich klar darüber, warum er nicht wirklich den nächsten Verband der Fremden angesteuert hatte. Dazu hätte er die ORION VIII näher an die Erde bringen müssen, und er schrak davor zurück, die brennenden Kontinente aus noch größerer Nähe betrachten zu müssen. Inzwischen waren alle Dunkelballungen vernichtet. Der Raum in Erdnähe war angefüllt mit Trümmerwolken, deren größte Teilchen hin und wieder die Strahlen der Sonne reflektierten, so daß es aussah, als hätte jemand riesige Säcke voller Diamanten im All ausgeschüttet. »Wie mögen sie ausgesehen haben?« sinnierte Cliff und meinte damit die Wesen, die die zerstörten Raumschiffe gesteuert und den milliardenfachen Tod über die Erde gebracht hatten und zuletzt selber ausgelöscht worden waren. »Vielleicht waren es Roboter«, sagte Atan. »Das halte ich für unwahrscheinlich«, warf Mario ein. Cliff blickte auf und sah das Abbild des Kybernetikers auf dem Bildschirm der Bordverständigung an. »Mit welcher Begründung, Mario?« »Sie handelten einmal inkonsequent«, antwortete Mario de Monti. »Das war, als sie zwar das Sternenschiff im Vorbeiflug auslöschten, die viel kleinere ORION aber ungeschoren ließen. Eine solche Entscheidungsfreiheit hätten fest programmierte Systeme nicht besessen; sie hätten die ORION ebenfalls vernichtet. Später, als wir die ersten Ballungen ver-
nichtet hatten, zogen sie sich ausnahmslos aus Erdnähe zurück – und zwar so, als hätten unsere Schläge sie schockiert. Robotern wäre so etwas nicht passiert. Sie hatten uns eine kleine Gruppe Schiffe entgegengeworfen und mit dem Gros weiterhin die Erde beschossen.« »Das klingt logisch«, meinte Arlene. Helga nahm ihre Kopfhörer ab. »Ich habe es auf allen Frequenzen und Wellenbereichen versucht«, berichtete sie. »Keine Reaktion, Cliff.« »Bitte, versuche es weiter, Helga-Mädchen«, erwiderte Cliff McLane. »Wenn wir hartnäckig genug sind ...« Er seufzte. »Möglicherweise scheuen die Fremden wirklich den Kontakt mit uns. Der Verband, dem wir uns nähern, weicht nämlich eindeutig aus. Nein, ich korrigiere mich. Er formiert sich zu einer Halbkugel, deren Öffnung auf uns weist.« »Zweifellos eine einladende Geste«, warf Prac'h Glanskis ein. »Allerdings liefern wir uns den Fremden auf Gedeih und Verderb aus, wenn wir dieser Einladung folgen. Ich frage mich, ob wir das riskieren dürfen.« »Ich denke, wir haben so wenig zu verlieren, daß wir ...« Cliff brachte den Satz nicht zu Ende, denn im nächsten Augenblick brach die Hölle los. Die ORION VIII wurde von einer imaginären Faust mit solcher Gewalt getroffen, daß die Schiffszelle wie ein Gong dröhnte und der Diskus viele Kilometer weit davongewirbelt wurde. Cliff wurde in den Gurten nach vorn gerissen, prallte hart zurück und sah einen Körper auf sich zu-
fliegen: Arlene, die neben Helga gestanden hatte und nicht angeschnallt gewesen war. Er packte zu, riß das Mädchen zu sich heran und umklammerte ihren Körper mit aller Kraft, während er wieder und wieder in den Gurten hin und her geschleudert wurde. Krachend fuhren Entladungsblitze durch die Steuerzentrale. Die Beleuchtung erlosch. Die Zentrale wurde in eine Dunkelheit gehüllt, die nur dann von dem Licht der glühenden Erde und dem der Sonne erhellt wurde, wenn diese Himmelskörper in den Bildschirmen des sich überschlagenden Schiffes auftauchten. Es ist alles aus! dachte Cliff McLane. Er unternahm nicht einmal den Versuch, das Schiff zu stabilisieren. Dazu hätte er Arlene loslassen müssen, was ihren sicheren Tod bedeutet hätte. Als ob wir nicht sowieso sterben! dachte Cliff in einem Anflug von Ironie. Jeden Moment kann das Schiff auseinanderbrechen. Jemand stöhnte – oder war es die Schiffszelle, die der ungeheuren Belastung nicht mehr standhielt! Ein neuer Ruck fuhr durch das Schiff; ein Bildschirm barst und verstreute körnige Splitter in der Steuerzentrale. Knallend schlossen sich überall im Schiff die Sicherheitsschotte, was nur bedeuten konnte, daß die Außenhülle beschädigt war und der Druckverlust die Sicherheitsautomatik aktiviert hatte. In all diesem Chaos war es Cliff plötzlich, als tastete etwas nach seinem Gehirn, nichts Abstoßendes, sondern etwas, das beruhigende Impulse von sich gab, ihm Zuversicht einzuflößen versuchte. Cliff McLane frage sich, ob Zuversicht allein ein auseinanderbrechendes Raumschiff zusammenhalten
könnte, da wurde es endgültig dunkel um ihn. Während sein Bewußtsein sich in unergründlichen Tiefen verlor, dachte Cliff, daß es eigentlich gar nicht so schlimm war zu sterben, wenn man die Frau, die man liebte, dabei in den Armen hielt ... * Doch irgendwann flackerte der beinahe erloschene Lebensfunke wieder auf. Das Bewußtsein quälte sich durch einen klebrigen Sumpf aus Alpträumen und Benommenheit, tauchte an die Oberfläche und versuchte zu erkennen und sich zu erinnern. Cliff fühlte etwas Feuchtes, Kaltes und lokalisierte die Stelle, die ihm diese Nachricht übermittelte, als sein Gesicht. Erschrocken stellte er fest, daß er von seinem übrigen Körper nichts spürte. Der Schreck half ihm, die letzte Benommenheit abzuschütteln. Er riß die Augen auf. Zuerst sah er nur so etwas wie neblige Fetzen, die nur ganz langsam Konturen annahmen: die Konturen eines raubtierhaften Gesichts. »Prac'h?« flüsterte Cliff. Die Konturen wurden deutlicher. Cliff sah, daß der Mund sich bewegte. »Wie fühlst du dich, Cliff?« grollte die dumpfe Stimme des Raguers. »Großartig«, log Cliff. Im nächsten Augenblick dachte er an Arlene und erinnerte sich daran, daß er sie in seinen Armen gehalten hatte, bevor er das Bewußtsein verlor. Er erschrak zum zweitenmal seit seinem Erwachen. »Arlene – was ist mit ihr?« brachte er mühsam heraus.
»Sie lebt«, antwortete Glanskis. »Und sie ist nicht ernstlich verletzt. Weißt du, daß du ihr eine Rippe gebrochen hast, Cliff?« »Ich mußte sie festhalten«, verteidigte sich Cliff, während er gleichzeitig erleichtert darüber war, daß Arlene lebte. »Was ist mit den anderen – und was ist mit dem Schiff?« »Sie leben alle«, versicherte der Raguer. »Ein paar Prellungen, ein paar harmlose Schnittwunden, Benommenheit und Erschöpfung. Mehr ist nicht passiert. Und auch das Schiff existiert noch.« Cliff McLane richtete sich auf. Prac'h half ihm dabei. Zuerst sah Cliff sich nach seinen Freunden um. Arlene lag in ihrem Sessel, dessen Rückenlehne weit zurückgeklappt war. Sie hielt die Augen geschlossen, öffnete sie aber, als Cliffs Blick sie traf. »Cliff!« sagte sie leise. »Hallo, Kleines!« erwiderte Cliff zärtlich. »Es tut mir leid, daß ich dir weh getan habe.« »Ohne deine starken Arme lebte ich nicht mehr«, erklärte Arlene. Cliff lächelte und ließ seinen Blick weiterwandern. Helga Legrelle saß aufrecht in ihrem Sessel. Ihre linke Wange war durch ein breites Pflaster verunstaltet, ansonsten schien sie heil zu sein. Atan Shubashi saß ebenfalls auf seinem Platz und musterte nachdenklich die Bildschirme, die die Umgebung des Schiffes zeigten: Cliff folgte dem Blick des Astrogators mit den Augen. Zwei Bildschirme waren ausgefallen, aber die übrigen vermittelten ein klares Bild der Umgebung. Allerdings ein Bild, mit dem Cliff nichts anfangen konnte.
Es gab keine Erde, keine Sonne und keine Fixsterne, nicht einmal etwas, das man als Weltraum bezeichnen konnte. Rings um die ORION erstreckte sich ein wasserblaues Leuchten scheinbar bis in die Unendlichkeit. Es schien zu flackern oder zu pulsieren, doch das konnte ebensogut auf einer optischen Täuschung beruhen. »Was ist das?« stieß der Commander hervor. Atan wandte langsam den Kopf und sah ihn prüfend an. »Aha, du kannst also schon wieder denken!« sagte er ohne Ironie. »Ich weiß auch noch nicht, was es ist. Auf jeden Fall scheinen wir uns nicht innerhalb unseres Universums zu befinden, womit ich allerdings nur feststellen möchte, daß wir keinen Kontakt zu unserem Universum haben.« »Vielleicht lebten wir sonst nicht mehr«, sagte Hasso Sigbjörnson. Cliff bemerkte erst jetzt, daß der Maschineningenieur in die Steuerzentrale zurückgekehrt war. Auch Mario de Monti war auf seinem Platz. Auf der Stirn des Kybernetikers prangten gleich drei Pflasterstreifen. »Ich habe sie zurückgeholt«, erklärte der Raguer. »Danke, Prac'h«, sagte Cliff. »Du bist wie ein Vater zu uns. Es tut mir leid, daß du mit uns in der Tinte sitzt. Unsere ›Freunde‹ haben sehr heftig auf unseren Versuch reagiert, Kontakt mit ihnen aufzunehmen, finde ich.« »Sie hatten nichts damit zu tun«, erklärte Glanskis. »Ich sah, daß ihre Raumschiffe genauso herumgeschleudert wurden wie das unsere. Daran muß die energetische Stoßwellenfront schuld gewesen sein, die die Erde bersten ließ.«
»Die Erde?« fragte Hasso. »Sie ist regelrecht zerplatzt«, sagte der Raguer. »Aber sie war ja schon vorher tot – und außerdem war es nicht eure Erde.« Cliff McLane erhob sich, durchquerte die Zentrale und stellte sich dicht vor einen der intakten Bildschirme, als könnte er so besser erkennen, was außerhalb der ORION VIII los war. »Hier können wir nicht bleiben«, sagte er. »Hier gibt es ja nicht einmal einen Planeten, auf dem wir landen und versuchen könnten, wenigstens einen Teil der Schäden zu beheben, die am Schiff entstanden sind.« Er wandte sich um. »Als erstes müssen wir alle Systeme durchchecken, damit wir wissen, was noch funktioniert und was nicht. Falls die Ortungssysteme noch intakt sind, werden wir versuchen, unsere Umgebung energetisch zu analysieren.« Er holte tief Luft. »Fangen wir an!« Atan beugte sich über sein Schaltpult, drückte einige Tasten, schüttelte verwundert den Kopf und sagte: »Alle Ortungssysteme sind in Ordnung. Das ist kaum zu fassen, so, wie die ORION durchgebeutelt wurde.« »Wir haben eben ein gutes Schiff«, erwiderte Cliff und ging zu Atan hinüber. Gemeinsam aktivierten sie die komplizierten Systeme, schickten lasergeführte Radarwellen in die Umgebung, sandten normalenergetische und hyperenergetische Impulse aus, deren Echos bei ihrer Rückkehr alle möglichen Informationen mitbrachten, die allerdings erst noch ausgewertet werden mußten. Diese Aufgabe übernahm, wie gewohnt, Mario de Monti. Hasso begab sich unterdessen wieder in den
Maschinenleitstand, um festzustellen, wie es um die Antriebs- und Energieversorgungssysteme des Schiffes stand. Mario hatte die erste Auswertungsreihe fast abgeschlossen, als er und die übrigen Mitglieder der Crew erstarrten. Auch Cliff McLane konnte sich, obwohl er es versuchte, nicht dem Bann der lautlosen Stimme entziehen, die in seinem Kopf zu ihnen sprach. Alles andere versank, wurde nebensächlich. »Wir, die Erben des Varunja, haben beschlossen, euch die ganze Wahrheit zu sagen, denn die Erben des Rudraja sind erwacht und bedrohen unseren Plan, eine kosmische Ordnung, das Rithaa, zu schaffen, in der die Kulturen friedlich aufblühen und sich gedanklich miteinander verbinden«, raunte die lautlose Stimme. »Wir führten euch in die Raumkugel, die eine Modellschablone war, nach der die Entwicklung im großen Maßstab gestaltet werden sollte. Ihr wart für würdig befunden worden, als Katalysator dieser Entwicklung zu wirken. Aber die Kräfte der Finsternis erkannten unser Bemühen und rafften sich noch einmal auf, um dem Bösen zum Durchbruch zu verhelfen. Sie konnten die von uns geschaffene Schablone zerstören und hätten auch euch vernichtet, wenn wir euer Schiff nicht in der Überlebensblase in Sicherheit gebracht hätten. Damit ist der alte Kampf wieder ausgebrochen, der Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen, der vor langer Zeit beinahe alle Vitalkräfte des Universums ausgelöscht hätte. Denn das Varunja, dessen Erben wir sind, kämpfte
schon einmal gegen das Rudraja, das seine Kraft aus der Ausbeutung und Versklavung fremder Kulturen schöpfte und hinter sich Verderben und Finsternis zurückließ. In einem titanischen Kampf, dem Kosmischen Inferno, der viele Jahrtausende eurer Zeitrechnung tobte, gingen zahllose Rassen und Kulturen unter oder wurden verstreut. Schließlich setzten beide Seiten die Schwingen der Nacht ein. Als Folge davon versank der Kosmos in einem Meer aus Grauen und geistiger Finsternis. Das war das Erste Weltende. Die Macht des Varunja und des Rudraja wurde gebrochen. Sie retteten den Rest ihrer geistigen Substanz in Form psionischer Extrakte in einen Überraum, von dem niemand weiß, wo er sich befindet und wie er zu erreichen ist. Doch viele ihrer Helfer überdauerten das Erste Weltende, wenn auch oft am Rande der Agonie. Jede Seite versucht seitdem, die Kräfte der Gegenseite zu schwächen und die eigenen Kräfte zu stärken, denn wenn die Kräfte einer Seite Überhand nehmen, wird die Macht, der sie dienen, wieder im normalen Kosmos materialisieren. Sollte das das Rudraja sein, würde es das Ende der friedlichen Evolution bedeuten. Darum kämpfen wir, die Erben des Varunja, mit allen unseren Kräften gegen die Erben des Rudraja, und wir fordern euch auf, ebenfalls für das Gute zu kämpfen und mitzuhelfen, die furchtbare Bedrohung abzuwenden. Um das zu können, müßt ihr allerdings erst durch das Tor des Vergessens zu eurer Heimatwelt zurückkehren und zu Hütern des Guten werden. Aber das Tor des Vergessens ist nicht aktiviert, und es kann
nur aktiviert werden, wenn die Dimensionsfessel, die von den Erben des Rudraja in der Überlebensblase installiert wurde, von euch gesprengt wird.« Cliff merkte erst nach einiger Zeit, daß die Stimme aufgehört hatte, zu »sprechen«. Sein Geist kehrte wie nach einem bösen Traum in die Wirklichkeit zurück. Ein Blick in die Gesichter seiner Freunde verriet ihm, daß sie alle die Botschaft vernommen hatten. »Rätselhaft, mysteriös und schockierend«, sagte er. »Das sind die Adjektive, die mir im Moment zu dieser Botschaft einfallen. Versuchen wir, sie so zu interpretieren, daß wir etwas damit anfangen können!« * »Ich habe nur begriffen, daß wir zwischen die Fronten zweier kosmischer Kräfte geraten sind, die über ungeahnte technische Möglichkeiten verfügen«, sagte Helga Legrelle. »Ich fühle Erleichterung«, erklärte Hasso über die Bordverständigung. »Wenn die Raumkugel, zu der auch die inzwischen vernichtete Erde gehörte, nur eine Modellschablone war, also etwas, das die sogenannten Erben des Varunja in einen leeren Raum projizierten, dann waren die Menschen dieser Erde auch keine echten, fühlenden und denkenden Lebewesen, sondern ebenfalls nur Projektionen.« »Phantome!« grollte Prac'h Glanskis. »Man hat uns Phantome vorgesetzt und ihnen nachjagen lassen. Wir haben das PROJEKT PERSEIDEN geplant, entwickelt und durchgeführt, weil man uns etwas vorgegaukelt hat. Das nenne ich Betrug.« »Wir dürfen nicht vorschnell urteilen«, sagte Mario
de Monti. »Alle diese Phantome sollten doch, wenn ich es richtig verstanden habe, durch eine Rückkopplungsschleife mit der Realität verbunden sein, so daß alles, was in dieser Modellkugel von uns erreicht würde, auch in der Realität verwirklicht worden wäre.« »Immer vorausgesetzt, daß unsere ›Freunde‹ uns diesmal die Wahrheit gesagt haben«, wandte Cliff McLane ein. »Wir haben doch nur Worte gehört, aber keine Beweise gesehen. Das Kosmische Inferno, die Schwingen der Nacht, das Erste Weltende – wer von uns kann denn nachprüfen, ob diese Begriffe nicht nur Ausgeburten einer überreizten Phantasie sind. Und woher sollen wir wissen, daß die Erben des Varunja das Gute wollen und die Erben des Rudraja das Böse. Ebensogut kann es sich genau umgekehrt verhalten.« »Dagegen sprechen die Ereignisse in der Modellprojektion«, sagte Arlene. »Das Sternenschiff und die Erde sind nicht von den Erben des Varunja vernichtet worden, sondern von ihren Gegnern – und wir wurden praktisch im letzten Augenblick von den Erben des Varunja vor dem Tod bewahrt.« »Ich denke, dieses haarspalterische Theoretisieren bringt uns nicht weiter«, warf Hasso Sigbjörnson ein. »Versuchen wir doch, uns an die Tatsachen zu halten. Ich weiß nicht, was das Tor des Vergessens ist, von dem die Stimme sprach, aber wenn wir in ihm eine Möglichkeit haben, endlich nach Hause zu kommen, dann sollten wir nicht zögern, sie zu ergreifen.« Cliff beobachtete den Ingenieur und sah, daß Hassos Augen unnatürlich glänzten. Wie die Augen eines Kindes unterm Weihnachtsbaum, überlegte er.
Im nächsten Moment erkannte er den Grund dafür – und den Grund, warum Hasso sich so sehr dafür einsetzte, von dem Tor des Vergessens Gebrauch zu machen. Er war, im Unterschied zu den anderen Mitgliedern des Teams, verheiratet. Auf der richtigen Erde warteten Frau und Kinder auf ihn. Es war nur natürlich, daß er nach jeder Möglichkeit griff, um seine Familie wiederzusehen. Cliff lächelte. »Einverstanden, Hasso. Ich plädiere ebenfalls dafür, daß wir durch das Tor des Vergessens gehen, sobald wir es gefunden haben. Aber die Stimme sagte auch, daß es nur aktiviert werden könnte, wenn die von den Erben des Rudraja in der Überlebensblase installierte Dimensionsfessel gesprengt würde. Das bringt uns zur Auswertung der bisherigen Ortungsergebnisse zurück. Ich nehme nämlich an, daß das wasserblaue Leuchten, das uns umgibt, mit der Überlebensblase identisch ist. Je früher wir mehr über diese Überlebensblase wissen, desto eher können wir mit der Suche nach der Dimensionsfessel anfangen. Ich habe nämlich keine Ahnung, was darunter zu verstehen ist.« »Wahrscheinlich etwas, das die Überlebensblase in einer fremden Dimension gefangenhält«, meinte Mario. »Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann ich natürlich auch nur raten.« »Ein wahrhaft kosmisches Ratespiel«, sagte Vlare MacCloudeen bitter. »Und ausgerechnet wir, die am wenigsten wissen, sollen das kosmische Rätsel lösen.« Cliff zuckte mit den Schultern. »Uns bleibt nun einmal nichts erspart, Vlare. Mario, wie weit bist du mit der ersten Auswertungsreihe?«
»Fast fertig«, antwortete der Kybernetiker. »Vielleicht noch zwei Minuten.« Er arbeitete rund anderthalb Minuten lang mit äußerster Konzentration, dann gab er das Ergebnis bekannt. »Wir schweben im Mittelpunkt einer Energieblase, deren Innenwandung genau zwölf Millionen Kilometer von uns entfernt ist und die demnach einen Durchmesser von vierundzwanzig Millionen Kilometern hat. Wie stark die Wandung ist, haben die Ortungsinstrumente nicht vermessen können. Wie es aussieht, befindet sich in einer Tiefe von dreihundert Kilometern eine reflektierende Zone.« »Ist das alles?« fragte Hasso ungeduldig. »Irgendwie muß sich doch die Dimensionsfessel in den Ortungsergebnissen gezeigt haben, Mario.« »Das sollte man annehmen«, erwiderte Mario. »Da stimme ich dir völlig zu. Aber die bisherigen Ortungsergebnisse liefern nicht den geringsten Anhaltspunkt.« »Dann müssen Atan und ich eben weitermachen«, sagte Cliff. Mario nickte. »Etwas ist da allerdings noch«, erklärte er zögernd. »Die ORION schwebt genau im Mittelpunkt der Überlebensblase, obwohl ihre Triebwerke nicht arbeiten und von der Energieblase keine gravitatorischen Einflüsse ausgehen. Ich frage mich, was das Schiff dann im genauen Mittelpunkt festhält.« »Das frage ich mich jetzt auch«, bekannte Cliff. »Allerdings, wenn hier etwas wäre, müßte es sich doch auch anmessen lassen, oder?« »Manche Dinge sieht man erst nach der Entfer-
nung«, meinte Atan Shubashi. »Wie schon das alte Sprichwort sagt: Er sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.« Cliff lachte. »Dann wollen wir uns mal aus dem Wald entfernen«, meinte er und kehrte zum Kommandopult zurück. »Hoffentlich werden wir nicht hier festgehalten«, fügte er besorgt hinzu. Vorsichtig schaltete er die noch intakten Triebwerke hoch. Ein befreites Atmen ging durch die Crew, als das Schiff sich bereits mit einem Minimum an Energieausstoß in Bewegung setzte. Leicht wie ein segelndes Blatt glitt es davon. Und befand sich im nächsten Augenblick in völliger Dunkelheit. »Was ist das?« schrie Helga erschrocken. Atan beugte sich über die Ortungsanzeigen. »Eine Dimensionsverwerfung«, erklärte er. »Sie wurde nicht wirksam, solange das Schiff sich nicht bewegte. Ihre Ausstrahlung reichte aber offenbar aus, um die ORION in der Mitte der Energieblase zu halten. Als sie sich bewegte, muß sie in eine Falte der Dimensionsverwerfung gerutscht sein – bildlich ausgedrückt.« »Ich denke, das ist es, was wir finden wollten«, sagte Cliff nachdenklich. »Nur, wie sprengt man eine Dimensionsfessel, in der man sich selbst befindet?« »Mit viel Geduld«, erwiderte Mario lakonisch.
7. Sie hatten eine Serie von Experimenten durchgeführt, denen eine gründliche computergestützte Auswertung gefolgt war. Die einzelnen Auswertungsergebnisse wiederum wurden einander gegenübergestellt, damit Widerspüche aufgedeckt und eliminiert werden konnten. Nach vielen Stunden mühseliger und hartnäckiger Arbeit schien festzustehen, daß ihre Chancen, den einzigen Rückweg aus der Dimensionsverwerfung in die Überlebensblase zu finden, dem Verhältnis von eins zu einer Million entsprachen. »Praktisch bedeutet das für uns das gleiche wie für einen Käfer, der in eine Flasche gerutscht ist, die aufrecht steht«, sagte Mario de Monti. »Es sei denn, dieser Käfer wäre stark genug, die Glaswandung der Flasche zu zertrümmern«, meinte Atan Shubashi. »Wir haben es mit dem Overkill-Projektor versucht; dabei sind uns die Fokussionsspulen restlos durchgebrannt«, entgegnete Mario. »Das geht also nicht. Ganz abgesehen davon, daß unser Overkill-Projektor unbrauchbar ist, da wir keinen Ersatz für die Fokussionsspulen besitzen.« »Was ist mit einer Antimateriebombe?« fragte Vlare MacCloudeen. »Das würde vielleicht klappen, wenn wir eine hätten«, sagte Hasso. »Haben wir«, erklärte MacCloudeen. »Cliff und ich haben uns zwei AM-Bomben aus dem Waffenmagazin des Sternenschiffs geholt – vor drei Tagen. Wir beabsichtigten, sie in einer Dunkelwolke zu zünden, um
das Entstehen einer sogenannten Leidenfrost-Schicht zu beobachten.« »Eine Leidenfrost-Schicht?« fragte Arlene. »Was versteht man darunter?« Cliff McLane lächelte. »Du kannst eine Leidenfrost-Schicht in einer gewöhnlichen Küche erzeugen, wenn sie einen unmodernen Herd mit Heizplatten besitzt«, erklärte er. »Wenn du einen Wassertropfen in die Vertiefung in der Mitte der Kochplatte fallen läßt, die dazu allerdings einige hundert Grad heiß sein muß, bildet sich zwischen ihm und der Platte eine Dampfschicht. Diese Schicht hält den Tropfen von der Platte fern, so daß ihre Hitze nur langsam auf den Wassertropfen übertragen wird. Dadurch verdampft er nicht augenblicklich, sondern hält sich ungefähr fünf Minuten lang in der Schwebe. Das Phänomen wurde nach dem Arzt Johann Gottlob Leidenfrost benannt, der es im achtzehnten Jahrhundert untersuchte und erklärte. Prinzipiell der gleiche Effekt tritt auf, wenn ausreichende Mengen von Materie und Antimaterie miteinander in Kontakt kommen. Dabei wird durch die explosionsartige Zerstrahlung von Protonen Energie erzeugt, die die beiden Materiearten auseinandertreibt. Dadurch wird die Zerstrahlung relativ langsam vor sich gehen und sich auf eine bestimmte Zone beschränken, die in Anlehnung an das Experiment mit dem Wassertropfen und der Kochplatte ebenfalls Leidenfrost-Schicht genannt wird.« »Ich verstehe«, erwiderte Arlene. »Und diese Antimaterie-Bomben sollen uns helfen, den Käfig der Dimensionsverwerfung aufzubrechen.«
»Und dabei vielleicht auch gleich die Dimensionsfessel selbst zu beseitigen«, ergänzte Cliff. »Es gibt nur eine Schwierigkeit«, sagte Vlare MacCloudeen. »Die AM-Bomben haben keinen Zünder. Sie brauchen keinen, denn sie enthalten kein Ambiplasma, sondern ausschließlich Antimaterie. Deshalb genügt es, sie im Zielgebiet aus dem Schiff zu stoßen, auf ausreichende Entfernung zu gehen und ihnen mit Hilfe eines Energiestrahls die zur Reaktion benötigte Materie zu injizieren.« »Dann sehe ich die Schwierigkeit nicht«, warf Helga ein. »Die Schwierigkeit für uns und hier liegt darin, daß eine Bombe, wenn wir sie aus dem Schiff stoßen, in der nächsten Falte der Dimensionsverwerfung verschwinden wird, so daß wir sie mit keinem Energiestrahl erreichen«, sagte MacCloudeen. »Theoretisch könnten wir ihr natürlich einen so schwachen Abstoßimpuls geben, daß sie nicht bis zur nächsten Falte abtreibt. Allerdings würden wir dann die Explosion nicht überleben.« »Wozu dann die ganze Diskussion über die Antimaterie-Bombe?« entrüstete sich Hasso Sigbjörnson. »Das war doch Zeitverschwendung. Denken wir lieber über Möglichkeiten nach, die sich auch realisieren lassen!« »Beispielsweise über den Einsatz unseres Hyperantriebs«, meinte Atan. »Wenn wir die Geschwindigkeit des Lichtes überschreiten, kommen wir automatisch in eine andere Dimension – und damit vielleicht aus unserer Dimensionsverwerfung heraus.« »Es wäre einen Versuch wert«, sagte Mario de Monti.
»Aber dabei ruinieren wir den Überlichtantrieb endgültig«, erklärte Hasso. »Was spielt das für eine Rolle, wenn er sowieso nicht mehr lange genug funktioniert, um mit seiner Hilfe die Erde zu erreichen?« wandte Helga Legrelle ein. »Überhaupt keine«, sagte Cliff McLane. »Hasso, wir riskieren es. Viel können wir dabei nicht verlieren. Wenn wir nicht aus der Dimensionsverwerfung ausbrechen, kommen wir nie nach Hause.« »Das ist ein Argument, das zieht«, erwiderte Hasso lächelnd. »Ich checke den Hyperantrieb vorher gründlich durch, damit er uns im entscheidenden Augenblick nicht im Stich läßt.« »Und wir werden in der Zwischenzeit etwas essen«, sagte Cliff. »Mir ist nämlich vor Hunger schon ganz flau im Magen.« »Du sprichst eine große Wahrheit gelassen aus«, erwiderte Mario. »Jetzt wird mir auch klar, warum ich mich die ganze Zeit so schlapp gefühlt habe.« Arlene erhob sich. »Ich werde den Mikrowellenherd der Kombüse anlassen und ein paar Fertigmenüs für uns garen«, verkündete sie. »Wer hilft mir dabei?« »Ich«, sagte Cliff und erhob sich ebenfalls. »Du bist mir zuvorgekommen«, sagte Mario. »So bleibt mir nur übrig, meinen guten Willen zu bekunden.« »Aber nicht doch«, erwiderte Cliff ironisch. »Ich werde ein Opfer bringen und dir zuliebe zurücktreten. Hasso kann, so denke ich, meine Hilfe besser gebrauchen als Arlene in der Kombüse. Ich hoffe, du wirst uns aus Dankbarkeit zwei fertige Menüs in den Maschinenraum bringen.«
»Mit knirschenden Zähnen!« rief Mario und verschwand schnell in der Kombüse, während sich hinter ihm schadenfrohes Gelächter erhob. Cliff McLane begab sich in den Maschinenraum und prüfte alle Funktionssysteme des Hyperantriebs durch. Das Ergebnis war wie erwartet. Der Hyperantrieb war durch den Kampf gegen den Gravitationssog der Quasars und später durch die energetische Stoßwellenfront so stark in Mitleidenschaft gezogen worden, daß er höchstens noch einige Stunden lang arbeiten würde. Für den vorgesehenen Zweck jedoch mußte das genügen. Als Mario mit den dampfenden RaumfahrerMenüplatten erschien, waren Cliff und Hasso gerade mit der Überprüfung fertig. Sie aßen heißhungrig, denn sie hatten ihre letzte Mahlzeit auf dem Bordfest im Sternenschiff eingenommen – und das lag eine halbe Ewigkeit zurück. Die Gedanken an das Sternenschiff und ihre Freunde, die mit ihm vernichtet worden waren, fiel wie ein Wermutstropfen in die beinahe heiter-gelöste Aufbruchstimmung, die sich der Crew bemächtigt hatte. Aber die Gedrücktheit wurde bald darauf durch die Konzentration auf die Startvorbereitungen verdrängt. Jeder nahm seinen Platz ein. Cliff setzte sich vor das Kommandopult, schaltete die Energieerzeuger und -wandler behutsam hoch und stand dabei ständig mit Hasso in Sicht- und Sprechverbindung. »Vorbereitungen abgeschlossen«, sagte er nach einiger Zeit. »Alles klar«, erwiderte Hasso. »Bisher keine Störungen aufgetreten.« Aus alter Gewohnheit schaltete Cliff das automati-
sche Countdownzählwerk ein. Die Gespräche verstummten, als die leicht verzerrt klingende mechanische Stimme die letzten zehn Sekunden herunterzählte. Bei »null« drückte Cliff die Aktivierungsplatte des Hyperantriebs herunter. Danach streckte er die Hand sofort nach dem Desaktivierungsschalter aus, hielt sie aber wenige Millimeter darüber an. Ein normaler Start »aus dem Stand« zum Hyperraumflug wurde normalerweise nicht praktiziert, denn er verschlang so gut wie alle Energien für das Übergangsmanöver, so daß zum eigentlichen Hyperraumflug keine Energie mehr blieb. In diesem Fall aber war kein echter Hyperraumflug beabsichtigt, sondern nur das Übergangsmanöver. Dennoch hielt die Crew den Atem an, als die Beleuchtung und alle anderen Lichtquellen erloschen und die Schiffszelle von harten Vibrationen geschüttelt wurde. Die absolute Finsternis außerhalb der ORION VIII blieb für den Bruchteil einer Sekunde, dann riß sie schlagartig auseinander. Auf den Bildschirmen erschienen die vertrauten grauen Schleier. Cliff drückte die Desaktivierungsplatte des Hyperantriebs, und im gleichen Augenblick drang aus der zum Maschinenraum durchgeschalteten Bordverständigung ein dumpfer Knall. Die grauen Schleier verschwanden von den Bildschirmen. Das Schiff kreiselte langsam, als hätte es einen Stoß bekommen. Draußen leuchtete wieder die wasserblaue Energieblase, aber die ORION VIII befand sich nicht mehr in ihrem Mittelpunkt, sondern irgendwo zwischen dem Mittelpunkt und der Innenwandung der Überlebensblase. Cliff warf jedoch nur einen kurzen Blick nach
draußen, dann blickte er auf den Bildschirm der Bordverständigung, auf dem eigentlich Hassos Gesicht hätte erscheinen müssen. Statt dessen waren nur Rauchschwaden darauf zu sehen. »Hasso!« rief Cliff. Das Gesicht des Maschineningenieurs tauchte auf dem Bildschirm auf. Es war teilweise geschwärzt, und die Brauen schienen leicht angesengt zu sein. Hasso Sigbjörnson hustete, dann erklärte er: »Der Hyperantrieb ist endgültig über den Jordan gegangen. Wenn du eine halbe Sekunde später desaktiviert hättest, wären wir jetzt allesamt kleine, brave Englein, Cliff.« »Als rußgeschwärzter Teufel siehst du auch ganz attraktiv aus, Hasso«, bemerkte Helga. Hasso grinste. »Danke für das Kompliment, HelgaMädchen. Dafür spendiere ich dir einen Drink, wenn wir erst wieder auf der guten alten Erde sind.« »Wenn ...!« sagte Cliff sorgenvoll und blickte zu der Stelle, an der sich die Dimensionsverwerfung und wahrscheinlich auch die Dimensionsfessel befand. Zu sehen war nichts, aber das hatte er auch nicht erwartet. »Hoffen wir, daß wir diese Nuß von außen knakken können.« Er brauchte nicht auszusprechen, daß ihre Chancen, die Erde zu erreichen, gleich Null sein würden, wenn es mißlang, denn das wußte jeder hier. * Vlare MacCloudeen und Prac'h Glanskis übernahmen die Aufgabe, eine der beiden Antimaterie-Bomben abschußklar zu machen.
Sie entfernten dazu die Fusionsladung aus dem Gefechtskopf eines Raumtorpedos und bauten an ihrer Stelle die AM-Bombe ein. Danach nahm MacCloudeen Manipulationen am Triebwerk vor, die bewirkten, daß der Raumtorpedo nur mäßig beschleunigt werden konnte. Nach zwei Stunden kehrten die beiden in die Steuerzentrale zurück. »Alles klar!« meldete Vlare. »Ich denke, es kommt jetzt darauf an, die Bombe durch Energiebeschuß zur Explosion zu bringen, bevor sie in der Dimensionsverwerfung verschwindet. Sie darf aber auch nicht gezündet werden, bevor sie die Dimensionsverwerfung erreicht hat.« Mario de Monti erhob sich von seinem Platz, um in den Werferstand zu gehen. »Ich werde die Lichtkanone bedienen. Wer übernimmt die Steuerung des Torpedos?« »Ich«, sagte Cliff mit belegter Stimme. Er war sich klar darüber, daß Können allein nicht ausreichen würde, die Bombe im genau richtigen Zeitpunkt durch Beschuß zur Reaktion z u bringen. Wenn nicht eine gehörige Portion Glück dazukam, verschwand die Bombe entweder auf Nimmerwiedersehen oder konnte die Struktur der Dimensionsfessel nicht erschüttern. Mario de Monti verließ die Zentrale und meldete sich kurz darauf über die Bordverständigung aus dem Werferstand. Seinem angespannten Gesicht war anzusehen, daß er die Schwierigkeiten genau kannte. »Abschußrohr eins ausgerichtet!« meldete er. »Ziel rechnungstechnisch erfaßt und fixiert. Impulssteuerung überprüft und in Ordnung befunden.« Cliff McLane warf einen Blick auf den Bildschirm
der Bordverständigung, dann konzentrierte er sich auf den Zielerfassungschirm. Auch er konnte das Ziel nur rechnungstechnisch erfassen, das hieß, durch eine ortungstechnische und rechnerische Ermittlung des Mittelpunkts der Überlebensblase, denn die Dimensionsfessel selbst entzog sich jeder Beobachtung. »Zielpunkt fixiert«, erwiderte er. »Objektverfolgung steht. Torpedo los!« »Torpedo läuft!« gab Mario bekannt. Cliff blickte kurz auf und konnte den Raumtorpedo infolge seiner gemächlichen Fahrt deutlich auf einem Bildschirm erkennen. Danach widmete der Kommandant seine Aufmerksamkeit ausschließlich dem Zielerfassungsschirm und der mit ihm gekoppelten Objektverfolgung. Seine rechte Hand kroch langsam über das Kommandopult auf den Auslöser für die Lichtkanone zu. Sobald der Ortungsreflex der Objektverfolgung den elektronisch auf dem Schirm markierten Zielbereich erreichte, mußte der lichtschnelle Energiestrahl ausgelöst werden. Keine Millisekunde zu früh oder zu spät! Die Frage war nur: Wann war es noch zu früh – und wann war es schon zu spät? Niemand konnte diese Frage beantworten. Erst das Ergebnis des Versuchs würde eine Antwort liefern. In der Steuerzentrale wurde es so still, daß sich Beklemmung ausbreitete. Cliff spürte nichts davon. Er fieberte vor Aufregung. Aber in den letzten, den entscheidenden Sekunden wurde er von eiskalter Ruhe ergriffen. Es gab für ihn im ganzen Universum nur noch diesen einen Ortungsreflex und die Zielbereichmarkierung, zwischen denen die Entfernung mehr und mehr schrumpfte.
Und dann war es soweit! Die beiden Anzeigen verschmolzen miteinander. Cliff unterdrückte den Impuls, lieber zu früh als zu spät auszulösen. Im letzten Moment entschied er sich intuitiv für eine Millisekunde Verzögerung – und hätte beinahe noch länger gezögert. Aber das durfte er nicht, deshalb drückte er endlich doch den Auslöser. Im Mittelpunkt der Energieblase entstand schlagartig eine ultrahell wabernde Sonne, fiel ein Stück in sich zusammen, strahlte, sich noch weiter aufblähend, erneut grell auf und verblaßte schließlich, bis nichts mehr von ihr zu sehen war. Niemand sagte etwas, bis Cliff endlich selber das bedrückende Schweigen brach. »Kontrolliere bitte die Ortungsaufzeichnungen, Atan!« bat er. »Wir müssen ganz genau wissen, woran wir sind.« »Das klingt, als wüßtest du es schon, Cliff«, sagte Arlene. »Ich ahne etwas, aber das nützt uns nichts«, erwiderte Cliff. »Die Ortungsinstrumente arbeiten vielfach genauer als das menschliche Auge. Und außerdem unbestechlich.« Schweigend spielte Atan Shubashi die Ortungsaufzeichnungen über den Flug des Raumtorpedos und den Energiebeschuß ab, dann erklärte er resignierend: »Das Ergebnis ist eindeutig, Cliff. Du hast den Energiestrahl erst ausgelöst, als die Bombe eigentlich schon in der Dimensionsverwerfung hätte verschwunden sein müssen. Das bedeutet, daß sie niemals in die Verwerfung eingedrungen wäre.« »Aber warum nicht?« warf Mario über die Bordverständigung ein.
»Möglicherweise muß ein Objekt eine bestimmte Mindestmasse besitzen, um von der Dimensionsverwerfung geschluckt zu werden«, erwiderte Atan. »Oder eine bestimmte Geschwindigkeit«, meinte Hasso. »Die ORION ist schließlich auch erst von der Verwerfung geschluckt worden, als sie beschleunigte.« Mario de Monti kehrte aus dem Werferstand zurück und ging zu den Computerkontrollen. »Ich werde beide Möglichkeiten durchspielen lassen«, erklärte er. »Dazu brauche ich die Werte, mit denen die ORION beschleunigte, bevor sie von der Verwerfung eingefangen wurde. Würdest du sie mir einmal überspielen, Cliff?« Cliff nickte und rückte die entsprechenden Tasten an seinem Pult. »Ich ahnte etwas, deshalb habe ich gezögert, den Energiestrahl auszulösen«, sagte er. »Dadurch wissen wir wenigstens, daß die Bombe niemals in die Verwerfung eingetaucht wäre«, meinte Glanskis. »Hättest du rechtzeitig ausgelöst, müßten wir annehmen, der Beschuß wäre vielleicht doch etwas früh erfolgt.« »Eine Antimaterie-Bombe haben wir noch«, warf Arlene ein. »Ja, aber nur eine«, erwiderte Cliff. »Wenn wir sie ebenfalls nutzlos verpulvern, können wir unsere Hoffnungen auf eine Heimkehr begraben. Dann werden wir in der Überlebensblase sterben, sobald unsere Vorräte aufgebraucht sind.« »Verflixt!« rief Mario. »Das ist zum ...!« »Was ist los?« erkundigte sich Cliff. »Ich habe alle Möglichkeiten durchgespielt«, be-
richtete der Kybernetiker erbittert. »Masse und Geschwindigkeit müssen anscheinend in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen, um ein Objekt in die Dimensionsverwerfung zu bringen. Je kleiner die Masse ursprünglich ist, desto größer muß ihre Endgeschwindigkeit sein.« »Aber das läßt sich doch bewerkstelligen«, sagte Helga. »Das wußte schon der alte Einstein«, erwiderte Mario. »In unserem Fall müßten wir einen Raumtorpedo bis dicht an die Lichtgeschwindigkeit bringen. Dadurch würde seine effektive Masse groß genug werden, um von der Verwerfung eingefangen zu werden.« »Wenn wir uns bis an die Innenwandung der Energieblase zurückziehen, dürfte die Entfernung bis zur Mitte ausreichen, um einen Raumtorpedo auf annähernd Lichtgeschwindigkeit zu bringen«, erklärte Vlare MacCloudeen. »Ja«, gab Mario de Monti zurück. »Nur wäre er dann einfach zu schnell, als daß sich noch der exakt richtige Zeitpunkt zur Zündung abpassen ließe. Dieser Weg ist nicht gangbar.« »Dann müssen wir uns eben etwas anderes einfallen lassen«, sagte Cliff. »Wir dürfen nur die Geduld nicht verlieren.« Er nickte Arlene beruhigend zu – und dann erstarrte er, wie schon einmal, als die lautlose Stimme sich abermals meldete und ihn in ihren Bann zog. »Die Zeit drängt!« raunte sie. »Ihr müßt entschlossen handeln – und vor allem schnell, sonst kommt ihr zu spät. Solange die Dimensionsfessel existiert, wirkt ein von ihr ausgehender temporärer Nebeneffekt auf
alles ein, was sich innerhalb der Überlebensblase befindet. Und während die Zeit verrinnt, arbeitet sie für die Erben des Rudraja.« Der Bann erlosch. Um Cliffs Mundwinkel bildeten sich Falten der Bitterkeit. »Ihr habt gut reden!« sagte er. »Wie schnell handeln, wenn wir nicht wissen, was wir tun sollen!« »Dieser temporäre Nebeneffekt, was mag damit gemeint sein?« fragte Vlare MacCloudeen. Cliff McLane blickte sich um und sah verbissene Gesichter, Gesichter, deren Besitzer sich vor einer Erkenntnis verschlossen, die sie wahrscheinlich nicht verkraften würden. Und auch Cliff brachte nicht den Mut auf, auszusprechen, was ihm auf der Zunge lag. Er versuchte, die schreckliche Ahnung zu verdrängen. »Es spielt alles keine Rolle für uns, solange wir keine sichere Möglichkeit gefunden haben, die Dimensionsfessel zu sprengen«, erklärte er schroff. »Mario, wir können vorläufig nur eines tun: immer neue Möglichkeiten suchen und durchspielen lassen, bis wir endlich einen Weg finden.« Vlare MacCloudeen erhob sich und wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Glanskis, dann wandte er sich an Cliff und sagte: »Wir werden inzwischen die zweite AM-Bombe in einen Raumtorpedo bauen, damit alles fertig ist, sobald ihr eine Möglichkeit gefunden habt.« »Einverstanden«, erwiderte Cliff. Er blickte dem Pionierchef des Sternenschiffs und dem Raguer noch nach, als sie die Steuerzentrale bereits verlassen hatten. Etwas an MacCloudeen war
ihm eigenartig vorgekommen. Vlare hatte ihn so merkwürdig angesehen. Cliff gab sich einen Ruck. In ihrer Lage war es nicht verwunderlich, wenn jemand merkwürdig dreinschaute. »Fangen wir an, Mario!« sagte er. * Als Vlare MacCloudeen und Prac'h Glanskis in der Ausrüstungskammer ankamen, überzeugte sich der Pionierchef zuerst davon, daß die Bordverständigungsanlage desaktiviert war. Der Raguer beobachtete ihn aufmerksam. »Du hast nicht das vor, was du Cliff sagtest, Vlare«, stellte er fest. MacCloudeen nickte und befeuchtete seine trockenen Lippen mit der Zungenspitze. »Stimmt, Prac'h«, antwortete er mit spröder Stimme. »Ich sehe nur eine einzige Möglichkeit, die Dimensionsfessel zu sprengen. Die letzte AM-Bombe muß erst in die Dimensionsverwerfung gebracht und dann gezündet werden. Anders läßt sich ein Erfolg nicht garantieren.« »Das ist aber nur möglich, wenn die Bombe mit einem Schiff in die Verwerfung gebracht wird«, wandte Glanskis ein. »Beispielsweise mit der ORION.« »Das wäre sinnlos«, erklärte Vlare. »Der Hyperantrieb ist beim Ausbruch aus der Dimensionsfessel restlos ruiniert worden. Die ORION könnte also niemals zurückkehren – jedenfalls nicht, solange die Dimensionsfessel noch besteht. Aber wahrscheinlich würde das Schiff mitvernichtet, wenn die Bombe ex-
plodiert und das Gefüge der Dimensionsfessel zerstört. Dann könnte niemand zur Erde zurückkehren.« »Das sehe ich ein«, meinte Glanskis bedrückt. »Wenn die Warnung der Stimme vor den Erben des Rudraja berechtigt ist, muß die Crew aber zur Erde zurückkehren, sonst wäre alles vergeblich gewesen. Ich nehme an, du denkst an eine LANCET. Mit einem Beiboot ließe sich die Bombe ebenfalls in die Verwerfung bringen – nur mit dem Unterschied, daß dadurch weder die ORION noch die Crew gefährdet würde. Also werden wir mit der Bombe und einer LANCET starten. Aber Cliff würde das niemals zulassen.« »Daran habe ich schon gedacht«, erwiderte MacCloudeen. »Schon, bevor Mario die erste Bombe auf den Weg schickte. Ich habe die Zentralverriegelung der Hangarschleusen ausgeschaltet, so daß die LANCET sich durch die bordeigenen Fernsteueranlagen ausschleusen kann. Aber ich werde allein starten, Prac'h. Es ist nicht nötig, daß wir beide unser Leben aufs Spiel setzen.« Der Raguer schüttelte seinen raubtierhaften Schädel. »Einer allein hat überhaupt keine Chance, Vlare. Wir beide zusammen aber finden vielleicht einen Weg, wie wir innerhalb der Dimensionsverwerfung die LANCET so manövrieren können, daß sie aus dem Wirkungsbereich der Explosion kommt.« Vlare MacCloudeen zögerte. »Mit großer Wahrscheinlichkeit würden wir beide sterben, Prac'h.« »Aber nicht mit Sicherheit«, entgegnete Glanskis hartnäckig. »Wenn ich dich allein gehen ließe, würde ich mir hinterher immer vorwerfen, daß du vielleicht noch leben könntest, wenn ich mitgekommen wäre.
Nein, Vlare, mein Entschluß steht fest. Entweder wir beide oder keiner.« »Dann kann ich wohl nichts machen«, sagte Vlare. »Also, einverstanden – und danke, Prac'h.« Der Raguer nahm den Behälter, in dem die Antimateriebombe lag, und verließ die Ausrüstungskammer. MacCloudeen folgte ihm. Als sie den Schleusenhangar der LANCET eins betraten, strich der Pionierchef mit den Fingern über die Hangarwand, als wollte er Abschied nehmen von der ORION VIII. Bis zur Herstellung der Startbereitschaft wechselten beide kein Wort. Sie wurden von der Furcht zur Eile angetrieben, ihr Plan könnte entdeckt und vereitelt werden. Waren sie erst einmal außerhalb der ORION, bestand diese Gefahr nicht mehr. Jedenfalls konnten sie dann nicht mehr aufgehalten werden. Vlare MacCloudeen holte tief Luft, bevor er die Fernsteuerung für den Ausschleusungsvorgang aktivierte. Falls in der Steuerzentrale jemand entdeckt hatte, daß die Zentralverriegelung ausgeschaltet war, würde er sie auch ohne konkreten Verdacht wieder eingeschaltet haben. Langsam hob die LANCET ab und stieg durch die Hangaröffnung in der Oberseite der ORION VIII. Sie hatte die Bordöffnung kaum passiert, als das Bordradio sich mit einer Reihe von Summtönen und dem Flackern einer roten Leuchtscheibe bemerkbar machte. »Sie haben etwas gemerkt«, sagte der Raguer. MacCloudeen nickte. »Natürlich haben sie etwas gemerkt, denn die Kontrollen leuchten rot auf, wenn eine Schleuse geöffnet wird. Aber sie können uns nicht mehr hindern.«
Die LANCET war inzwischen ganz aus der Schleuse geschwebt. Sie stieg schneller, als Vlare in der Kanzel den Fahrthebel ein Stück vorschob. Das Summen und Flackern des Bordradios hielt unvermindert an. »Sollten wir uns nicht melden?« fragte Glanskis. »Lieber noch nicht«, erwiderte Vlare MacCloudeen. »Erst möchte ich die LANCET im Mittelpunkt der Energieblase plaziert haben.« Er schob den Fahrthebel weiter vor. Die LANCET beschleunigte stärker. Der Raguer schaltete die Ortungssysteme ein, tippte ein paar Daten in den kleinen Digitalrechner des Beiboots und las danach laut die Korrekturdaten ab, nach denen MacCloudeen den Kurs der LANCET so ändern konnte, daß sie ihr Ziel nicht verfehlte. Als Prac'h Glanskis sich umwandte und durch die aufgewölbten Panzerglasscheiben der LANCET blickte, stellte er fest, daß in den Düsenöffnungen der ORION VIII helle Glut waberte. »Sie wollen uns verfolgen, Vlare«, sagte er. MacCloudeen lächelte. »Aber sie holen uns nicht mehr ein. Ich dachte mir, daß sie uns den Weg zu versperren versuchen, sobald sie unsere Absicht durchschauen. Deshalb habe ich mich nicht gemeldet und ihnen vorzeitig verraten, was wir beabsichtigen.« Er beschleunigte noch etwas stärker. Auf volle Beschleunigung durfte er allerdings nicht gehen, sonst hätte er die LANCET nicht im Zielgebiet stoppen können. Das galt genauso für die ORION VIII. Dennoch beschleunigte das Mutterschiff stärker. Es raste dicht über die LANCET hinweg, bremste dann mit Vollschub ab und versuchte, sich vor das Beiboot zu setzen.
Für einige Sekunden sah es so aus, als würde das Manöver gelingen. Doch dann erreichte die LANCET den Zielpunkt – und die ORION VIII kam erst zirka dreißig Kilometer weiter zum Stehen. Vlare MacCloudeen schaltete das Bordradio ein. Auf dem Bildschirm tauchten die Gesichter von Helga Legrelle und Cliff McLane auf. »Kommt sofort zurück!« sagte Cliff zornig und besorgt zugleich. »Ich kann mir denken, was ihr vorhabt. Aber das ist Wahnsinn.« »Die ORION und ihre Crew müssen die Erde erreichen – und zwar bald«, erwiderte Vlare. »Prac'h und ich werden die letzte AM-Bombe innerhalb der Verwerfung zünden. Wir hoffen, daß dadurch die Dimensionsfessel gesprengt wird.« »Die LANCET hat kein Hypertriebwerk, mit dem sie die Dimensionsverwerfung verlassen könnte«, entgegnete Cliff. »Ich lasse nicht zu, daß ihr euch absichtlich opfert. Kommt sofort zurück! Das ist ein Befehl!« »Es hat keinen Zweck, uns umstimmen zu wollen, Cliff«, sagte der Raguer. »Wenn Vlare und ich nichts riskieren, sind wir alle verloren – und niemand könnte die Erde vor der Gefahr warnen, von der die lautlose Stimme berichtete. Aber wir sind nicht ganz ohne Chance. Wenn die LANCET die Explosion übersteht und die Dimensionsverwerfung verschwindet, kehren wir automatisch in den Normalraum zurück. Wenn nicht, grüßt die Erde von uns.« »Eure Chance ist verschwindend gering!« rief Cliff McLane. »Seit vernünftig! Wir werden schon eine Möglichkeit finden, die Dimensionsfessel zu sprengen, ohne daß jemand sich opfert.«
»Du weißt, daß es nur eine Möglichkeit gibt, und zwar die, die Prac'h und ich wahrnehmen werden«, erwiderte MacCloudeen. »Sollten wir beide umkommen, so sterben wir für eine gute Sache, was gewiß nicht jeder Mensch von sich behaupten kann. Auf Wiedersehen, Freunde – oder lebt wohl und grüßt die Erde von uns!« Vlare schaltete das Bordradio ab und beschleunigte erneut. Die LANCET nahm Fahrt auf, wie einige Zeit vorher die ORION VIII – und befand sich plötzlich ebenso in völliger Dunkelheit. »Geschafft!« sagte MacCloudeen. »Jetzt müssen wir nur noch die Bombe präparieren. Ausstoßen und mit einem Energiestrahl zünden, können wir sie nicht; wir würden sie sofort nach dem Ausstoßen verlieren und nicht wiederfinden.« »Wie sollen wir dann überhaupt eine explosive Reaktion hervorrufen?« fragte der Raguer. »Wir brauchen nur die reaktionsneutrale Hülle der Bombe aufzusprengen«, erläuterte Vlare. »Das austretende Antiplasma wird sich dann mit dem Normalplasma vermischen, das überall im Weltraum vorhanden ist, also auch innerhalb der Verwerfung. Eine explosive Reaktion ist dann nicht mehr aufzuhalten.« Er holte eine flache Sprengladung aus einer Beintasche seiner Kombination und befestigte sie, da die reaktionsneutrale Hülle der Bombe absolut amagnetisch war, mit Klebeband an der Bombe. Danach stellte er den Zeitzünder auf eine Laufzeit von zehn Minuten ein. »Das genügt«, erklärte er. »Wenn wir innerhalb von zehn Minuten nicht weit genug wegkommen, schaffen wir es auch in einer größeren Zeitspanne
nicht. In dem Fall möchte ich nicht allzulange auf das Ende warten.« Prac'h Glanskis sagte nichts dazu. Er war in Gedanken versunken. Seinem Gesicht konnte Vlare nicht ansehen, welche Gedanken den Raguer bewegten. Vielleicht ließ er die Erinnerungen an sein bewegtes Leben an seinem geistigen Auge vorbeiziehen; vielleicht aber bereitete er sich durch eine meditative Übung auf den Tod vor. MacCloudeen begab sich in die Luftschleuse der LANCET. Dort schob er die Bombe in ein Ausstoßrohr, nachdem er den Zeitzünder aktiviert hatte. Als er die innere Öffnung schloß, wurde die Ausstoßröhre von einer Pumpe unter Überdruck gesetzt, dann öffnete sich der äußere Verschluß. Zusammen mit einem Schwall Luft wurde die Bombe hinauskatapultiert. Der Pionierchef blickte auf seinen Armbandchronographen, dann preßte er die Lippen zusammen und eilte in die Steuerkanzel zurück. »Noch zehn Minuten!« rief er dem Raguer zu. »Gib mir die Ortungsdaten laufend durch, Prac'h. Ich will versuchen, etwas mit ihnen anzufangen und die LANCET aus dem Wirkungsbereich der Explosion zu bringen.« Glanskis registrierte sehr wohl die Panik in MacCloudeens Stimme. Doch er tat so, als hätte er nichts gemerkt, denn auch ihm war es nicht gleichgültig, ob sie überlebten oder nicht. Mit betont sachlicher Stimme las er die Ortungsdaten von den entsprechenden Anzeigen ab. Allerdings waren es keine Ortungsdaten, wie sie für Manöver im normalen Kontinuum gebraucht wurden. Das hatten schon die Messungen von Bord
der ORION VIII ergeben, als sie sich selbst in der Dimensionsverwerfung befunden hatte. Entsprechend mußte Vlare MacCloudeen umzudenken versuchen, mußte die Daten in der Hoffnung interpretieren, daß sie ihm Anhaltspunkte für die tatsächlichen Bewegungen der LANCET lieferten – und zwar in Beziehung zu den komplizierten räumlichen Verhältnissen der Verwerfung. Allmählich beruhigte sich der Pionierchef wieder. Er unterdrückte die Gedanken an die Gefahr und daran, daß die Flugmanöver sie vielleicht im Kreis herumführten, entsprechend dem verschlungen gekrümmten Raum innerhalb der Verwerfung, bei dem eine Sekunde Flugzeit eine zurückgelegte Entfernung von vielleicht tausend Kilometern bedeutete und andererseits eine ganze Stunde Flugzeit die LANCET nicht einen Zentimeter vom Fleck bringen mochte. Als er wieder auf seinen Armbandchronometer schaute, sah er, daß ihnen nur noch knapp eine Minute blieb. »Bald werden wir es wissen«, sagte er, erkannte seinen Denkfehler und korrigierte sich. »Oder auch nicht, nämlich, dann, wenn es schiefgeht. Für alle Fälle danke ich dir für alles, Prac'h.« »Du warst ein guter Freund«, erwiderte der Raguer erstaunlich leise. Vlare MacCloudeen versuchte ein zuversichtliches Lächeln – und mitten in diesem Lächeln brandete der alles vernichtende Glutsturm der MaterieAntimaterie-Explosion auf ... *
In der Steuerzentrale der ORION VIII schlugen die Frauen und Männer der Crew geblendet die Hände vor die Augen. Vom Mittelpunkt der Überlebensblase aus zuckten ultrahelle Blitze nach allen Seiten. Sie schienen den Innenraum der Energieblase zerreißen zu wollen – und waren offenbar doch nicht mehr als materielose Phantome, denn die ORION VIII wurde von mehreren Blitzen durchschlagen, ohne Schäden davonzutragen. Der ganze Vorgang dauerte nicht länger als ein paar Sekunden, dann trat Ruhe ein. Nur die wasserblaue energetische Hülle der Überlebensblase veränderte sich. Sie pulsierte – zuerst kaum merklich, dann immer stärker. Zugleich setzte in ihr ein rasch wechselndes Farbenspiel ein. »Die Dimensionsfessel ist gesprengt«, flüsterte Arlene. »Ich nehme es jedenfalls an«, sagte Mario de Monti. »Und was ist aus Vlare und Prac'h geworden?« fragte Helga. »Wir werden nach ihnen suchen«, erklärte Cliff McLane. Er beschleunigte die ORION VIII mit geringen Werten und steuerte sie in Richtung auf den Mittelpunkt der Energieblase. »Atan, versuche alles, um Echos hereinzuholen!« »Ich bin schon dabei, Cliff«, erwiderte Atan Shubashi. Sein Gesicht verriet allerdings, daß er die Suche nach Prac'h und Vlare für aussichtslos hielt. Wenn die LANCET noch existierte, hätte sie längst von den Ortungsgeräten erfaßt werden müssen. Langsam ließ Cliff das Schiff einen Kreis um die Stelle beschreiben, wo sich der Eingang, der Schlund
zur Dimensionsverwerfung befunden hatte. Cliff wußte ebenfalls, daß die Ortungsinstrumente ein so großes Objekt wie eine LANCET längst erfaßt haben mußten; dennoch suchte er die Umgebung der ORION aufmerksam mit ein eigenen Augen ab. Hasso Sigbjörnson räusperte sich. »Machen wir uns nichts vor«, sagte er. »Vlare und Prac'h hatten nur eine verschwindend geringe Chance – und sie wußten es. Sie sind mit offenen Augen in den Tod gegangen, damit wir zur Erde zurückkehren und die Menschheit warnen können. Wir können ihre Selbstaufopferung nur würdigen, wenn wir die Gelegenheit zur Heimkehr nutzen, solange sie besteht.« »Ich weiß«, erwiderte Cliff düster. »Dennoch warten wir noch. Vielleicht hat sich die Dimensionsverwerfung nicht sofort vollständig aufgelöst. In diesem Fall könnten unsere Freunde noch nach einiger Zeit wieder zum Vorschein kommen.« »Außerdem – wo bleibt dieses ominöse Tor des Vergessens?« fragte Arlene. Mario deutete nach draußen, wo sich die Struktur der Überlebensblase allmählich veränderte. An zwei Seiten schien sie an Dichte zu verlieren. Dort wirkte das Farbenspiel blaß. Dafür verstärkte sich das farbige Leuchten an den übrigen Stellen der Energieblase. »Vielleicht formt sich die Energieblase zu dem um, was die lautlose Stimme das Tor des Vergessens nannte«, sagte der Kybernetiker. »Warum eigentlich Tor des Vergessens?« warf Helga Legrelle ein. »Ich hoffe doch nicht, daß wir, wenn wir durch das Tor gehen, alles vergessen, was wir bis zu diesem Zeitpunkt erlebt und erfahren haben.« »Das wäre unlogisch, denn dann könnten wir die
Menschheit nicht warnen«, meinte Hasso. »Dennoch bereitet mir diese Bezeichnung ebenfalls Unbehagen.« Atan blickte von den Ortungszahlen auf und schüttelte betrübt den Kopf. »Absolut nichts«, erklärte er. »Cliff, ich schlage vor, wir schicken eine Telemetriesonde zum Mittelpunkt der Energieblase. Möglicherweise kommt es dabei zu einer Reaktion, die uns etwas darüber sagt, ob sich ein Rest der Verwerfung erhalten hat. In diesem Falle könnte die LANCET noch festsitzen.« »Einverstanden«, sagte Cliff und nickte Mario zu. Der Kybernetiker programmierte eine der mitgeführten Telemetriesonden über den Computer, während Cliff das Schiff zur Innenwandung der Überlebensblase steuerte. Die Strukturen der Energiehülle veränderten sich weiter, und als die ORION VIII ihre Position dicht vor der Innenwand eingenommen hatte, waren durch die verdünnten Stellen einige Lichtpunkte zu sehen. »Die Sterne!« entfuhr es Atan. »Siehst du bekannte Konstellationen?« erkundigte sich Cliff. »Keine einzige«, antwortete der Astrogator. »Wir befinden uns in einem Teil des Universums, den noch nie ein von Menschen erbautes Schiff durchquert hat.« »Sonde fertig zum Abschuß!« meldete Mario de Monti. »Ich habe ihr Triebwerk so programmiert, daß sie in der Nähe des Mittelpunkts annähernd auf Lichtgeschwindigkeit kommt. Sollte noch eine Dimensionsverwerfung existieren, müßte sie eingefangen werden und damit für uns verschwinden.« »In Ordnung«, sagte Cliff McLane. »Drückt alle die Daumen, daß es so kommt, Freunde!«
»Abschuß!« rief Mario. Cliff blickte durch einen Bildschirm nach draußen. Er sah das kreisförmige grelle Leuchten am Heck der Telemetriesonde und verfolgte es mit den Augen, bis es zu weit entfernt war, um noch von ihm gesehen zu werden. Danach erhob er sich und trat neben Atan, um die Ortungsanzeigen zu verfolgen. Der Ortungsreflex der Sonde huschte mit zunehmender Geschwindigkeit über den Hauptortungsschirm. Er schrumpfte dabei immer mehr zusammen, leuchtete dafür aber desto intensiver, je näher sich die Sonde der Lichtgeschwindigkeit näherte. Als der Reflexpunkt die Zielmarkierung erreichte, hielt Cliff unwillkürlich den Atem an. Im nächsten Augenblick sackten seine Schultern nach unten. »Die Sonde ist genau durch das Zielgebiet geflogen – und fliegt weiter«, sagte er mit müder Stimme. »Wir müssen uns damit abfinden, daß Vlare und Prac'h den Tod fanden, als sie weitaus mehr als das erfüllten, was man Pflicht nennt. Sorgen wir dafür, daß die Menschheit ihre Namen nie vergißt. Mehr können wir leider nicht tun.« Er kehrte an seinen Platz zurück und blickte eine Weile vor sich hin, ohne wirklich etwas zu sehen. In der Steuerzentrale herrschte eine unnatürliche Stille, die nach einiger Zeit von einem Schluchzen durchdrungen wurde. Als Cliff McLane aufsah, stellte er fest, daß Arlene weinte. Er wollte sie trösten, doch die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Der Tod der beiden Freunde hatte auch ihn tief erschüttert. Plötzlich brach abermals die lautlose Stimme über
ihn herein – und über die anderen Mitglieder der Crew. »Das Tor des Vergessens ist geöffnet!« rief die Stimme in den Gehirnen der Menschen. »Geht hindurch, bevor es zu spät ist! Die Mächte der Finsternis ballen sich wieder zusammen. Sie sind allgegenwärtig. Aber die Mächte des Lichtes werden euch beschützen – wenn ihr bereit seid, dem Bösen mutig gegenüberzutreten. Sehr vieles von dem, was ihr innerhalb der Modellschablone erlebt und erfahren habt, werdet ihr vergessen, aber nicht den Inhalt dieser letzten Ermahnung.« Als die Stimme verstummt und auch ihr Nachhall in Cliffs Gehirn verklungen war, hob der Commander den Kopf und schaute nach draußen. Die Energieblase hatte sich grundlegend verändert. Sie war keine sphärische Blase mehr, sondern ein gigantischer, in allen Farben des Spektrums funkelnder und schillernder Kreisring, der etwas einschloß, das wie ein Strudel aus Finsternis aussah. »Das also ist das Tor des Vergessens«, sagte Atan Shubashi fast andächtig. »Und wir sollen tatsächlich so gut wie alles vergessen, was wir in der Raumkugel erlebten, in die PROJEKT PERSEIDEN uns führte?« warf Hasso Sigbjörnson ein. »Ein geringer Preis, wenn wir dafür die Gelegenheit bekommen, die Menschheit zu warnen«, erwiderte Mario de Monti. Cliff nickte. »Da uns nichts anderes übrigbleibt, werden wir ihn zahlen.« Er schaltete die Triebwerke der ORION VIII hoch und brachte das Schiff auf einen Kurs, der genau ins
Zentrum des dunklen Strudels führte. »Ich habe Angst, Cliff!« flüsterte Helga Legrelle. »Woher wissen wir, was tatsächlich mit uns geschieht, wenn wir mitten in diesen grauenhaften Strudel fliegen?« »Es gibt keine Sicherheit«, erwiderte Cliff. »Nur Hoffnung.« Er schob den Fahrthebel weiter vor. Die ORION VIII beschleunigte und raste auf das Tor des Vergessens zu. Cliff McLane blickte sich um und sah in die bleichen Gesichter der Freunde und in ihre Augen, in denen sich bange und hoffnungsvolle Erwartung paarte. Und auch in Cliff bohrte die bange Frage, ob und wie sie durch das Tor des Vergessens zu ihrer Erde zurückfinden sollten – und nicht zuletzt, was sie dort erwartete. »Wahrscheinlich neue gefährliche Abenteuer«, murmelte Cliff zu sich selbst. In diesem Augenblick tauchte die ORION VIII ins Tor des Vergessens ein ... ENDE