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K L E I N E
B I B L I O T H E K
D E S
W I S S E N S
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
FRITZ ...
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K L E I N E
B I B L I O T H E K
D E S
W I S S E N S
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
FRITZ KAHN
WINDE— WOLKEN — WÜSTEN
Signature Not Verified
Digitally signed by Mannfred Mann DN: cn=Mannfred Mann, o=Giswog, c=DE Date: 2005.02.27 11:35:49 +01'00'
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU • MÜNCHEN • INNSBRUCK • BASEL
Enträtselung der Atmosphäre Im 20. Jahrhundert leben heißt umlernen, gleidisam mit neuen Augen all das betrachten, was in der Vergangenheit selbst den weitsichtigsten Wissenschaftlern und Denkern als völlig bekannt gegolten hatte. Nach „unten" sind es die allerkleinsten Dinge, die sich unversehens als eine ganze, bis dahin völlig unbekannte Welt voll ungeheurer Energiequellen offenbart haben, nach „oben" ist es die Unendlichkeit des Weltalls, in dessen Tiefen der Mensch mit den „Fernsehgeräten" der Riesenteleskope und Radarspiegel immer weiter hineindringt. Umlernen heißt es aber auch in der nächsten Umgebung der Erde, die wir die Atmosphäre nennen, jenen flatternden Mantel, der den Erdkörper umgibt. Raketen sind die jüngsten Sonden, die das Revier um den Erdball abzutasten beginnen. Im Jahre 1946 stieß eine Rakete 183 km hoch in die Atmosphäre vor. 1947 waren 217 km der Höhenrekord. Schon zwei Jahre später, 1949, stieg eine amerikanische Rakete 402 km hoch. Dann dauerte es acht Jahre, bis dieser Rekord überboten wurde — bis zum Oktober 1957, der in doppelter Hinsicht bedeutungsvoll für die Erforschung der Erdumgebung und der in ihr wirkenden Kräfte geworden ist. In Ostrußland löst sich am 4. Oktober eine mehrstufige Trägerrakete, hebt sich bis in die Randzone der Atmosphäre und startet hier, etwa 900 km hoch, die Satellitenkugel ,Sputnik I' zu ihrem Umlauf. Auf kreis-elleptischer Bahn beginnt dieser erste „Künstliche Mond", antriebslos dem Gebot der Keplerschen Gesetze und dem Gesetz des Beharrungsvermögens folgend, mit der achtfachen Geschwindigkeit des wirklichen Mondes um den Erdball zu jagen, während er seine Signale zu den Menschen heruntersendet. Wenige Tage später — und das ist das zweite denkwürdige Ereignis dieses Oktobers 1957 — gelingt es zum ersten Male, quer durch das dicke Polster der Lufthülle hindurch den freien Raum zu gewinnen. Eine amerikanische Vierstufenrakete, die von einer Außenstation, einer Ballongondel, abgeschossen wird, erreicht eine Höhe von 6000 Metern. Der Raketenkopf mit seinen Geräten kehrt auf die Erde zurück. Anfang November 1957 gelangt auch erstmals eine russische Rakete, die den zweiten Erdsatelliten „Sputnik II" mit sich trägt, in den Außenraum jenseits der Erdatmosphäre.
Was ist diese Atmosphäre, die der Mensch sieh als jüngstes Feld seiner Forschung erobert hat, und was geht in ihr vor? Wir wissen, daß sie jener von irdischen und kosmischen Naturkräften beherrschte Teil des Erdganzen ist, der sich wegen der Leichtigkeit der Atome nicht niedergeschlagen hat; es sind vorwiegend Atome der ersten acht Elemente des Periodischen Systems, die den Erdball als Atmosphäre umschweben. Wir sagen „leicht", aber die ungeheure Summe der Moleküle ist gar nicht leicht (30000000000000000000 in jedem Kubikzentimeter). Auf unseren Schultern lastet das Gewicht von Geldschränken. Man sollte erwarten, daß wir plattgedrückt wie die Eierkuchen am Boden lägen, aber wir leiden so wenig unter dem Druck der Luft wie der Tiefseefisch unter dem des Wassers, weil wir Luft einatmen und folglich derselbe Druck von innen entgegenwirkt. Der Mensch zeigt sich dieser ungeheuren Naturkraft völlig gewachsen. Bis zu 14 km Höhe reicht die normale Tragkraft der Luft, auch für Wolken, und folglich beschränkt sich das „Wetter" auf die unteren 14 Kilometer, die man als „Troposphäre" bezeichnet. Piloten haben das Wort verballhornt in Troublesphäre; ein angemessener Name wäre „Wettersphäre", weil sich hier das eigentliche Wettergeschehen abspielt. Über der Troposphäre liegt, bis in etwa 80 km reichend, die Stratosphäre, die, von Einzelheiten abgesehen, wölken- und wetterlos ist. An der Grenze zwischen beiden weht ein starker Wind, den die Piloten den Turbinenstrom „Jet-stream" nennen, denn er soll mit Geschwindigkeiten bis zu 300 km in der Stunde ostwärts wehen. Er ist in zahlreiche Ströme geteilt, die im Durchschnitt 150 km breit und 2 km hoch zu sein seheinen. Sie sind von der Natur angebotene „Fahrstraßen" für den Stratosphärenflug und werden vielleicht die „Passatwinde" der Luftfahrt werden. Durch den geringen Luftwiderstand und die ewige Klarheit ist die Stratosphäre die gegebene Domäne für den Luftverkehr; deshalb steigen, nachdem der fliegende Mensch in den ersten Jahrzehnten genug mit den Widernissen der Wettersphäre gekämpft hat, immer mehr „Stratosphären-Flugzeuge" auf. Vielleicht werden einmal noch höhere Atmosphärenschichten von den Verkehrswegen der Menschheit durchzogen sein. Nach einer langen Dämmergeschichte am Boden der trüben Atmosphäre werden
dann zum erstenmal die Menschen die Erde sehen als das, was sie ist: als eine Kugel, die im Raum schwebt und sich dreht. Es wird ein kopernikanisches Erlebnis sein, und wieder wird sich das Weltbild in den Köpfen der Menschen wandeln, und sie werden darüber nachsinnen, in welch wahrhafter Froschteich-Perspektive sie doch früher gelebt haben. Sie haben vom blauen Himmel gesprochen — nun erweist er sich nicht als blau, sondern als schwarz. Was werden, aus jenen Höhen betrachtet, die Wolken sein? Nichts als Bodennebel. Unter ihnen sollen die Städte der Menschen liegen — wo sind sie? Da, jene Flecken! Wie Staub auf der Lampenglocke kleben sie auf dem Globus. In solch einem Fleck habe ich gestern gelebt? Hunderttausend Menschen in diesem Pünktchen zusammengepfercht? Er wird nachdenklich sein, der Reisende der Zukunft. Steht nicht in diesem Fleck das Haus, um das seit Jahren ein Erbschaftsstreit das Leben der Familie vergiftet? Soll er es glauben? Hunderttausende Menschen leben dort unten durcheinander, schreiben, rechnen, telephonieren, und jeder nimmt sich und die Dinge, die ihn belasten, so schrecklich wichtig. Er wird besinnlich, der Höhen-Reisende. Er wird mit Zweifeln in der Brust wieder auf der Erde landen, und das wird vielleicht der größte Gewinn sein, den Mensch und Menschheit durch die Eroberung noch größerer Höhen erwerben.
„Natürlich", so belehrte man uns in unseren Studienjahren, nimmt die Dichte der Luft und auch ihre Temperatur mit dem Abstand von der Erde fortgesetzt ab, und schließlich kommt man in den kalten, luftleeren Weltraum. Aber die Natur ist oft anders, als es sich Menschenköpfe ausdenken. Nehmen wir an, wir stiegen mit einem Ballon in jene Höhen, die bis heute nur von unbemannten Raketen erreicht wurden. Zuerst fällt das Thermometer, bis es bei 20 km auf minus 60° gekommen ist. Dann aber steigt es, und zwischen 50 und 60 km wird es sommerlich warm: 40° Hitze! Diese Tropenschicht ist schmal, und rasch sinkt die Quecksilbersäule in 80 bis 90 km Höhe wieder auf minus 70°. Aber bei 90 km Höhe steigt sie plötzlich wieder, und zwar wird es so heiß, daß man eine Omelette backen kann, indem man eine Pfanne zum Fenster hinaushält. Ja, es soll Schichten geben, die zwar nur ein paar Dutzend Zentimeter
Am heißen Äquator steigt die Warmluft auf und erzeugt eine Zone niederen Luftdrucks und aufsteigender Luftbewegung: die Kalmen, über den höheren Breiten sinkt die abgekühlte Trockenluft im Bogen nieder und erzeugt ©ine Zone hohen Luftdrucks und trockenen Steppenklimas: die lloßbreiten. Von diesen zur Äquatorzone wehen zur Auffüllung des entstandenen Vakuums die Passatwinde (vgl. Text Seite 7)
dick, aber noch viel heißer sind! Diese Schichten haben die Physiker theoretisch errechnet und vorausgesagt, und zwar schon um die Jahrhundertwende! Der englische Physiker Oliver Heaviside, der 1295 gestorben ist, vollbrachte die Glanzleistung, die Existenz der Ionosphäre erwiesen zu haben. Vom Sonnenlicht schlägt jene Strahlung, die eine hohe Energie besitzt, aus den Atomen dieser Höhensphäre Elektronen heraus und macht sie elektrisch, „ionisiert" sie also, weshalb man diese Schicht ionisierter Atome Ionosphäre nennt. Infolge der Abgabe ihrer Energie gelangen die Sonnenstrahlen von dorther nur noch als schwache Schwingungen in die Tiefe, und daher fehlen dem Sonnenlicht in Erdnähe alle Strahlen von hoher Energie. Es ist ein etwas grober Vergleich, aber man denke an das Billardspiel: Ein Ball, der trifft und Teilenergien an einen anderen abgibt, diesen „ionisiert", erreicht die Bande an der Gegenseite nicht; aber der andere Ball kommt an. Durch die Bremsung der Sonnenstrahlung entsteht Bremswärme, und sie ist es, die die Schichten in jenen Höhen erhitzt. Die Stärke der Sonnenstrahlung wechselt, ebenso wechseln die atmosphärischen Bedingungen; folglich wechseln auch Höhe und Ausbildung der Ionosphäre. Da sie es ist, an der sich die Kurzwellen der Radiosendungen wie an einem Spiegel brechen, um zur Erde zurückzukehren, wechselt mit Lage und Zustand der Ionosphäre die Brechung der Wellen. Wenn wir beim Abhören von Kurzwellen an einem Tag begeistert und am andern verzweifelt sind, und an manchen Tagen eine sonst wohlvernommene Station sogar stumm bleibt, so tröste man sich mit dem erworbenen Wissen: Es ist nicht der Apparat schuld, nicht die Sendestation, nicht unsere Laune, sondern die Wechselhaftigkeit der Sonnenstrahlung und der von ihr geschaffenen Ionosphäre. Man weiß heute, daß es mehrere Ionosphärenschichten gibt, die mit den Buchstaben D, E, Es, Fi, F2 bezeichnet werden. Sie reichen bis in etwa 300 km Höhe hinauf. Sowohl unterhalb wie oberhalb der Ionosphäre gibt es noch Schichten besonderer Art, zum Beispiel eine Ozonschicht, in der die Schwingungen des Sonnenlichts die Atome des Sauerstoffs veranlassen, sich statt zu zweit zu dritt zu kuppeln und das Ozon zu bilden. An dieser ungefähr in 40 km Höhe schwebenden Schicht brechen sich die gegen den Himmel schwingenden Schallwellen und kehren in
ungefähr 200 km Abstand jenseits einer „Zone des Schweigens" zur Erde zurück. Weit oberhalb all dieser Schichten aber soll oder muß es im Weltraum Schichten geben, die mit dem Erdball durch den Raum dahinreisen; denn schickt man Radiowellen aus, so kehren aus Sphären, die Hunderte von Kilometern entfernt sind, Echos zurück. Ja. es soll sogar jenseits der Mondbahn, also mehr als 400 000 km entfernt, eine den Erdball umringende Supersphäre geben. Aber die Naturkräfte, die in ihr wirksam werden, sind noch zu wenig bekannt, als daß man über diese Schicht etwas Genaueres aussagen könnte.
Wir zünden eine Kerze an und blasen den Rauch einer Zigarette gegen sie. Vom Strom warmer Luft hochgerissen, steigt er auf. Mit diesem einfachen Experiment erleben wir die wichtigste Erscheinung der Klima- und Wetterbildung: Erwärmte Luft ist, da die Moleküle sich voneinander entfernen und die Luft folglich in der Raumeinheit weniger Masse enthält, leichter und steigt hoch. Mit der Entfernung von der Wärmequelle nimmt die Eigenbewegung der Moleküle wieder ab, sie nähern sich, die Luft wird dichter und schwerer und sinkt wieder abwärts. Erwärmte Luft steigt auf. Kaltluft sinkt zu Boden. Durch den Aufstieg der Luft entsteht am Fuß der Kerze ein luftverdünnter Raum. Er saugt, um sich zu füllen, die Luft der Umgebung an, und es erscheint ein Luftzug, ein „Wind". Durch die drei Bewegungen: Aufstieg der Warmluft, Abstieg der Kaltluft, Füllung des Vakuums durch Wind, bewegt sich die Luft in einem Zirkel, dem Zirkülationssystem. Wir schieben hinter die Kerze einen Ball und haben nun das Modell des von der Sonne erwärmten Erdballs vor uns (Abb. S. 5). Wo die Kerzenflamme brennt, ist der Äquator. Die Äquatorzone ist ein Gebiet aufsteigender Luft und verhältnismäßiger Windstille (Kalmen). In der Höhe angekommen und abgekühlt, kann die schwerer gewordene Luft nicht direkt sinken, sondern wird von der nachsteigenden Warmluft seitwärts geschoben und kehrt in zwei Bögen nördlich und südlich vom Äquator zur Erde zurück. Diese Zonen, in denen die abgekühlte Luft aus der Höhe zurückkehrt«
nennt man mit einem nicht mehr erklärlichen Wort die Roßbreiten. Die über dem Äquator aufsteigende Warmluft verliert in der Höhe ihren Wasserdampf und regnet ihn aus. Daher ist die Äquatorzone nicht nur heiß, sondern auch feucht; es ist die Zone der Regenwälder, der Fiebersümpfe und der Dschungel. Die Roßbreiten hingegen werden von kalten Trockenwinden überweht, und folglich liegen in ihnen die kahlen Prärien, Steppen und Tundren mit ihren kümmerlichen Gewächsen. Aus ihnen weht zur Füllung des Vakuums am Äquator ein beständiger Wind, der den Segelschiffen zur „Passage" diente und daher Passat genannt wird. Aufstieg der Warmluft am Äquator mit täglichem Regen, Abstieg der abgekühlten Trockenluft in den höheren Breiten und Rückkehr dieser Luft zum Äquator als Passat, das ist das Zirkulationssystem der irdischen Atmosphäre, ein wahrhaft weltbeherrschendes Kräftesystem. Durch die Drehung der Erde nach Osten ziehen die Passatwinde nicht senkrecht gegen den Äquator wie die Längengrade, sondern in einem Winkel nach Westen als Nord-Ost-Passate auf der nördlichen und als Süd-Ost-Passate auf der südlichen Halbkugel. Vom Passat schräg südwärts abgetrieben, landete Columbus auf den Antillen. Die Geschichte Amerikas und damit der modernen Welt wäre eine andere geworden, wenn Columbus statt auf den mittelamerikanischen Inseln etwa am Hudson gelandet wäre. Wie dick das Luftpolster der Erde ist, wird man wohl erst genau erfahren, wenn die Ergebnisse der Satellitenreisen und der Raketenaufstiege einmal ausgewertet sind. Vielleicht sind es 1000 Kilometer. Aber etwas glaubt man heute schon mit Gewißheit sagen zu können: Die äußeren Luftschichten bewegen sich viel rascher um die Erde als die Erde sich dreht. Man glaubt, daß ihre Geschwindigkeit in 700 km Höhe mehr als 7 km in der Sekunde beträgt, daß also dort stärkste Luftbewegungen herrschen. Meteorologen haben das errechnet, und Astronomen bestätigen, daß auch auf dem Jupiter die äußere Atmosphäre sich schneller bewegt als der sich drehende Planetenkörper darunter. Doch kehren wir wieder zur Erde zurück, von der wir in diese noch rätselvollen Höhenräume aufgestiegen sind.
Die Erdteile sind wie Großinseln in den Erdmeeren. Drei Fünftel der Erde sind von Wasser überdeckt. Die pazifische Hälfte des Erdballs, die auf dem Bild gezeigt wird, ist fast nichts als ein gewaltiges Meer (s. Text Seite 12)
Wasser — überall Wasser Die vom Boden aufsteigende Luft führt von den Wasserflächen, aus dem feuchten Erdreich, durch Verdunstung aus den Pflanzen und aus der Lebenswelt der Menschen und Tiere beträchtliche Men-
gen von Wasser in Dampfform aufwärts. In den kühleren Höhen ballen sich die Moleküle zu Tropfen und werden sichtbar als Wolken. Aus den Wolken kehren sie in Niederschlägen wieder zur Erde zurück. Von der Menge des Wassers, das täglich aus der Atmosphäre über den Erdball niedergeht, machen sich die wenigsten Menschen einen Begriff. Man zähle: 21, 22, 23 . . . Mit jeder Sekunde fallen 16 Milliarden Liter Wasser als Regen oder Schnee aus den Wolken, und weitere 1000 Millionen Liter schlagen sich in jeder Sekunde nieder als Tau. Ist diese Naturkraft nicht zu gewaltig für die betroffene Erde? In jedem Augenblick mehr als 16 Milliarden Liter Wasser! Wir dürfen beruhigt sein. Die Erde hat sie seit mehr als 1000 Millionen Jahren ertragen und wahrscheinlich Epochen durchlebt, in denen zehnmal mehr Wasser vom Himmel fiel. Wie ein sich tummelnder Delphin taucht sie immer wieder triefend aus den Fluten hervor. Wasser ist das Element, das alle irdischen Dinge durchtränkt. Sein Anteil ist so erstaunlich hoch, daß man nie aufhört, darüber nachzudenken. Das Auge, mit dem der Leser in diesen Augenblick auf die Buchstaben sieht, besteht zu 92 Prozent aus Wasser. Das Gehirn, mit dem man über diese unglaubliche Enthüllung nachdenkt, besteht zu über 80 Prozent aus Wasser. Wenn man das nächste Mal ein Brot kauft, so denke man daran (aber man sage es nicht dem Bäcker): Die Hälfte des Geldes, das man hinlegt, zahlt man für Wasser, gewöhnliches Leitungswasser. Aber man tröste sich; die Pflanze, die das Mehl bereitete, hat noch mehr gezahlt. Man habe zehn Minuten Geduld und lasse vor seinen Augen eine Wanne volllaufen bis zum Rand — so viel Wasser haben die paar Dutzend Weizenhalme durch ihre Wurzeln aus dem Boden ziehen und verarbeiten müssen, um die zwei Hände voll Mehl zu bilden, die da als Brot vor uns liegen. So vorbereitet, graben wir den Boden auf und sind nun nicht mehr ungläubig, wenn wir hören, daß alle Böden, selbst die sogenannt trockenen, so viel Wasser enthalten, daß von allen Pflanzen gilt, was die Araber von der Palme sagen: Ihr Fuß steht im Wasser, ihr Kopf in der Sonne. Alle Pflanzen sind „Wasserpflanzen". Das
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Erdreich besteht aus Krümeln. Die Lücken zwischen ihnen füllen sich mit Wasser, und sie geben es, wie die feinen Röhren der Thermometer, nicht wieder her. Außerdem umspannt sich jede Krume mit einer feinen Haut von Wasser, die ihr ansitzt wie ein Trikot, und es bedarf der saugenden Kraft der Wurzel, diese Wasserhaut von den Krümeln zu ziehen. Selbst der Boden der Wüste ist nur oberflächlich trocken. Wüsten sind nicht unfruchtbar, weil ihre Böden kein Wasser enthalten, sondern weil die Pflanzen in den heißen und windigen Trockengebieten enorme Mengen von Wasser verdunsten, die ihnen ein Boden ohne reichlichen Zufluß von Wasser nicht ersetzen kann. In Gegenden mit gemäßigtem Klima und durchschnittlicher Regenmenge hingegen erhält der Boden mehr Wasser, als die Lücken und Krümel zu halten vermögen. Der Überschuß sickert in die Tiefe. Da das Wasser hier nicht verdunsten kann, sind die tieferen Schichten bis zum Höchstmaß durchwässert, und wo man das Gestein in der Tiefe ansticht, trieft es. Sind Lücken und Sprünge vorhanden, so folgt ihnen das Wasser, und wo Gefälle vorhanden sind, entstehen unterirdische Flüsse. Gibt eine weiche Schicht dem Wasser nach, so entstehen Höhlen, ja ganze Täler. Der im Altertum bestaunte Mäanderfluß, der in dieser Richtung verschwindet und in jener wiederkehrt, die Adelsberger Grotte in Istrien oder die Karlsbadhöhlen in Neu-Mexiko sind unterirdische Wasserläufe, durch die man kilometerweit mit elektrischen Bahnen dahinfährt — Spazierfahrten in der Unterwelt. Stößt das Wasser auf seinem Weg in die Tiefe gegen eine undurchlässige Schicht, so sammelt es sich über ihr, und es entsteht ein Grundwassersee. Ein französischer Geologe kam bei seinen Studien zu dem Ergebnis, daß das Wasser der zeitweilig wasserreichen, aber rasch verschwindenden Flüsse der nordafrikanischen Gebirge sich unter der Sahara stauen und hier zu finden sein müsse. Bohrungen ergaben, daß sich tatsächlich unter der Wüste ein „Wasserspiegel" befindet als Oberfläche eines unterirdischen Sees, der so ausgedehnt sein soll wie ganz Frankreich — eine der bemerkenswertesten Entdeckungen unseres Jahrhunderts. Man hat begonnen, das Wasser dieses Sees zu heben, und manche neue Oasen verdanken ihm ihre Entstehung. 11
Selten findet das Grundwasser wie unter der Sahara Raum genug, sich so weit auszudehnen, daß es verborgen bleibt. Meist quillt es durch Lücken an das Tageslicht hervor als „Quelle". Am Rand fast aller Gebirge fließen solche Grundwasserquellen durch das geborstene Gestein. Gerät das Wasser, bevor es herausbricht, in erhitzende Tiefen, so kommt es als „Therme" zum Vorschein. Die meisten Thermen sprudeln an den Sockeln von Gebirgen, die durch ihr Gewicht tief hinabtauchen und vielleicht durch den „Bergdruck" das tief hinabgeratene Grundwasser erhitzen. Erhitzte Schichten, von heißem Wasser durchspült, geben willig Salze her, und so kommt das Wasser mit Salzen beladen zum Vorschein. Aus Gründen, die wir noch wenig übersehen, wirken diese Thermalwässer gegen manche Krankheiten heilsam. Drei Fünftel der Erde sind von Wasser bedeckt. Die Landmassen sind auf die eine Erdhälfte zusammengedrängt, während die andere fast ausschließlich von Wasser, und zwar dem Stillen Ozean —dem Pazifik — eingenommen wird, dessen Fläche größer ist als die aller Landmassen zusammen. Die Kugel, auf der wir leben, ist, was ihre Oberfläche betrifft, kein „Erdball", sondern ein kilometerhoch bedeckter „Wasserball", aus dem die Festländer als Inseln ragen. Die Kontinente erheben sich nur flach aus den Meeren. Würde man die Erdkruste glattwalzen, so verschwände alles Land im Wasser, und die Erde wäre von einem 400 Meter hohen Meer bedeckt. Die Masse des Wassers scheint zuzunehmen. Wie die Meere entstanden sind, wissen wir nicht. Wir wissen auch nicht, woher die Salze stammen. Die übliche Erklärung, daß die Flüsse die löslichen Salze aus den Festländern ausgeschwemmt hätten, klingt zwar überzeugend, aber sie wird von manchen Forschern bestritten. Auffallend ist, daß die Salze des Meerwassers in ihrer Zusammensetzung übereinstimmen mit den Gasen der Vulkane. Es ist vielleicht möglich, daß sie also „Thermalseen" sind und daß die Meere noch heute aus solchen Rissen der Erdkruste nachgefüllt werden. Es gibt gegenwärtig zwei große Sammlungen von Wasser, die sich auf den beiden Hälften der Erdkugel gegenüberstehen: der Stille und der Atlantische Ozean. Sie sind grundverschieden. Der Stille Ozean ist groß und „alt"; der Atlantik „jung" und klein. Der Stille Ozean besteht aus einem tiefen zentralen Becken und flacheren 12
Randgebieten. Das Zentralstück ist ein fast kreisrundes Loch von 35 000 000 km2 Ausdehnung, dessen Boden durchschnittlich um das Doppelte tiefer liegt als der normale Meeresboden, nämlich 5000 m. Seine Ränder sind von Brüchen umsäumt, die abermals doppelt so tief, also 10 000 m, hinabreichen. Es ist, als sei hier ein kreisrundes Stück aus der Erdkugel herausgerissen worden; der Erde fehlt hier die Oberschicht der Erdkruste, die man Sial nennt, weil sie vorwiegend aus Silizium (Si) und Aluminium (AI) besteht (vgl. Abb. S. 17), während die tiefere Schicht Sima heißt, da sie vorherrschend Silizium (Si) und Magnesium (Ma) enthält. Am asiatischen Rand liegt Japan, am amerikanischen Kalifornien, beide wie alle Bruchgebiete von Erdbeben häufig betroffen. Durch den rissigen Rand des Beckens quillt das Magma. Von den 500 aktiven Vulkanen der Gegenwart liegen 300 innerhalb und 100 am Rande des „Loches im Pazifik". Wie dieses Loch in der Erdrinde enststanden ist, wissen wir nicht. Ernsthafte Gelehrte haben die Theorie aufgestellt, daß sich hier der Mond von der Erde losgerissen habe. Das ist natürlich nur eine wissenschaftliche Annahme. Der Atlantik ist ein „junger" Ozean, der nach der Theorie von den driftenden Kontinenten (vgl. Lux-Lesebogen 209 „Die Erde lebt") dadurch entstanden sein soll, daß sich Amerika von der Alten Welt gelöst hat und westwärts schwimmt. Sein Becken ist nicht wie
Die Kontinente schwimmen im halbflüssigen Magma, gasdorchsetztem, heißem, geschmolzenem Gestein der Erdtiefe (vgl. Text Seite 18)
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das des Pazifiks ein von Sprüngen umsäumtes Loch, sondern sein Boden ist die natürliche Fortsetzung der angrenzenden Kontinente und wird, wie die Verfechter der Kontinentaldrift annehmen, in der Mitte zwischen den beiden auseinanderrückenden Festlandmassen von einer Welle von Gebirgen durchzogen, die ungefähr so hoch sind wie die Alpen und parallel zu den Küsten verlaufen. Eine ganze Reihe verschiedener Kräfte wirkt zusammen, das Wasser der Meere in zahlreichen Strömen zu bewegen. Die erste ist die Drehung der Erde; die Zentrifugalkraft drängt die Wassermassen zum Äquator, so daß der Meeresspiegel hier höher steht. Hierdurch entsteht ein „Gefälle", welches das Wasser veranlaßt, zu den Polen zurückzukehren. Durch den Widerstreit der beiden Bewegungen und das Vorhandensein der Landmassen entstehen Strömungen und durch sie wieder Wirbel. Zu diesen Ursachen kommen zahlreiche andere Kräfte: Durch den Aufstieg der Warmluft über dem Äquator ist der Luftdruck geringer und folglich das Wasser etwas leichter. Es steigt aus der Tiefe empor. Außerdem ist das Wasser hier wärmer, wodurch sein Gewicht weiter vermindert wird. An den Polen wird das Wasser abgekühlt, wird schwerer und sinkt in die Tiefe. So entstehen auf- und absteigende Ströme, die an manchen Stellen Gewalt und Gestalt von „Wasserfällen" annehmen. Ein Wasserfall dieser Art von angeblich ungeheurer Fallkraft soll vor der englischen Küste existieren. Weitere Bewegungskräfte: Am Äquator verdunstet mehr Wasser als an den Polen. Hierdurch wird Wasser aus den Polarzonen angesogen. Die Salze der Meere sind ungleich verteilt. Salze machen das Wasser schwer, so daß überall auch zwischen salzreichen und salzarmen Meeren Gefälle entstehen. Die Kontinente ziehen die Meere an, aber ungleichmäßig, denn dort, wo Hochgebirge aufsteigen, ist die Anziehung am stärksten. Die beiden größten Kräfte aber, die geradezu wie die Kolben von Pumpen wirken, sind die Winde und die Flut. Windstraßen wie die Monsune und die Passate treiben nicht nur die Segelschiffe, sondern auch das Wasser vor sich her. Die täglich zweimal um den Erdball rollende Flut aber hebt es bis zu 30 Meter hoch und wälzt es gegen die Festländer, und der Flutwelle folgt die saugende Ebbe. 14
Jedem Oberflädienstrom der Meere entspricht ein Gegenstrom in der Meerestiefe. Man sagt, durch die Dardanellen fließt das Wasser vom Schwarzen Meer ins Mittelmeer. Darunter aber fließt ein Unterstrom in umgekehrter Richtung. Durch die Straße von Gibraltar fließt der Oberstrom vom Atlantik ins Mittelmeer, weil dieses wärmer ist und stärker verdunstet. Ein schwächerer Unterstrom fließt in umgekehrter Richtung. Man sieht, vor welch einer Fülle von Fragen man steht, wenn man sich in das Labyrinth der Meeresströmungen begibt, und wir haben dabei bis heute nur ganz „oberflächliche" Erfahrungen. Wer weiß, was sich am Grund der Meere abspielen mag, wo wahrscheinlich aus Rissen der Erdrinde gewaltige Wassermassen aufwärtssteigen und an anderen Stellen möglicherweise in der geheimnisvollen Tiefe verschwinden. Der für die westliche Welt wichtigste und daher bekannteste Meeresstrom ist der Golfstrom. Wie die Babylonier am Euphrat und die Ägypter am Nil leben die Menschen der westlichen Welt gleichsam an den Golfstromufern. Der Golfstrom ist der größte Strom der Erde, der mehr Wasser führt als alle Landströme zusammen und durch seine an das Blut erinnernde Wärme die Aorta der westlichen Zivilisation bildet. Vor der Küste Amerikas ist er ungefähr 33 Kilometer breit und bewegt sich mit der Geschwindigkeit eines trabenden Pferdes. Im Golf von Mexiko, der nur einen unbedeutenden Teil des Wassers liefert, ist er fast 30° warm. Vor der Küste Kanadas stößt er gegen den Labradorstrom, wodurch die „Schlechtwetterfabrik vor Neufundland" entsteht. Hier wendet er sich nach Osten, überquert den Atlantik und trifft stark verbreitert und ab^ gekühlt an der Westküste Europas ein. Er gibt den Britischen Inseln ihr mildes Klima und ihren reichlichen Regen. England ist wie ein im Meer gelegenes Treibhaus, das durch die Warmwasserleitung des Golfstroms geheizt und mit warmem Regen berieselt wird. Die vom Moos duftenden Wälder, der unvergleichliche englische Rasen, die Wolle Schottlands und das Linnen von Irland sind Ergebnisse des Golfstroms. Die von ihm mitgebrachten Winde beregnen Europa bis zu den Kämmen der Karpaten. Schwenkte heute der Golfstrom ab, so welkte morgen die Kultur des Abendlandes dahin. Der Gedanke, den man häufig erörtert hört, die klimatischen Bedingungen durch Ablenkung der Meeresströme „günstig" zu beein15
flussen, ist ein gefährlicher Traum. Man stelle sich vor, man folgte dem Plan, die Landenge von Panama zu sprengen und den Golfstrom in den Pazifik zu leiten. Als erstes würde der Labradorstrom^ da er nun weniger Widerstand findet, an der Ostküste Amerikas südwärts vorstoßen und den Hafen von New York vereisen. Florida müßte einen anderen Namen bekommen, denn es wäre keine Blumenküste mehr. Europa würde um 2 bis 3 ° kälter, und nun hätte England ein Klima wie Lappland und Frankreich jenes von Finnland. Die Schlechtwetterfabrik von Neufundland zöge nach Süden, und es führen keine Wolkenschiffe mehr mit der Fracht des Regens über den nördlichen Atlantik. Europa würde eine Trockensteppe. Über den regenverarmten Alpen würde die Eisdecke dünner, die Gletscher zögen sich zurück, und die erleichterten Berge wären wie entladene Schiffe auf dem Magmameer. Nach weiteren fünf Jahren gäbe es über den Alpen kein Eis mehr. Noch fünf Jahre, und eines Nachts sprängen die Menschen aus ihren Betten: Die Erde bebte, denn die vom Eis entladenen Alpen stiegen aus dem Magmameer auf. Es wären nur Zentimeter im Jahr, aber genug, daß das Matterhorn sich zur Seite legte wie ein leckgewordenes Schiff und das Wasser der Schweizer Seen in den Rissen versickerte. Vielleicht wird der Mensch von morgen Winde zu lenken, Regen zu mehren, Steppen in Wälder und Wüsten in Felder zu verwandeln verstehen. Aber so leicht, wie es sich die Stürmer und Dränger zu Beginn der Atomzeit denken, die da vom Schmelzen der Polarkappen und der Ablenkung der Meeresströme reden, geht es nicht. Die Erde hat ihre eigenen Gesetze, nach denen sich das Auf und Ab ihres Daseins vollzieht, nicht nur im Bereich der Lufthülle und der Meere, sondern auch im scheinbar unverrückbaren Gefüge des Landes.
Land — wie ein lebendes Wesen Betrachtet man das Leben des Landes, so fragt man sich sorgenerfüllt, wie lange kann es überhaupt bestehen? Wo es sich aus dem schützenden Schoß der Ozeane hervorwagt und zu Gebirgen emporwachst, sucht die Tiefe es wieder herabzuziehen. Das Wasser jagt
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Das Becken des Pazifischen Ozeans ist ein scharf ausgestanztes Loch mit Tiefen bis über 10 000 m. Es gibt Gelehrte, die der Ansicht sind, daß sich hier der Mond losgerissen und ein Loch in der Erdkruste hinterlassen habe, das bis zur Unterschicht der Erdkruste, dem Sima, hinabreicht
ihm in Wolken nach und überschüttet das Land mit Regen, und die schöne Erde schwemmt es wieder in Bächen zu Tal. Wie oft noch, fragt man sich? In Sturmesnächten rütteln die Winde wie wetternde Riesen an den Felsen, und als Zeugnis früherer Heimsuchungen sieht man die gebrochenen Grate und die geborstenen Wände und zu ihren Füßen die Halden von gefallenem Schutt — wie lange noch, fragt man sich, und auch diese Wand liegt unten als Bruch? Drunten aber in den Ebenen schnappen die Flüsse wie gefräßige Haie an den Böschungen des Landes, und jeder Brocken, der von den Bergen gefallen, wird verschluckt, und übermorgen ist er im Meer. Auch das Meer ist unersättlich. Es brandet gegen die Felsenküste, nagt sie ab, und in den Buchten knirscht der Kies, von der Wellenmühle hin und her geworfen wie in einem Schütteltrog, bis er zermahlen ist zu Sand, und nun rinnt das, was einst als stolzer Berg zum Himmel 17
ragte, zwischen den Fingern des spielenden Kindes als Sand. Alles wird Sand, Meeresböden und Wüste sind das unausbleibliche Ende — so denkt der Mensch. Aber die Natur ist anders. So wie heute lebt die Natur seit Hunderten von Millionen Jahren, und die Berge sind nicht geschwunden und die Meere nicht ausgetrocknet, und der Flugsand der Wüsten hat das fruchtbare Land nicht begraben. Es gibt rettende Gesetze. Das erste davon nennt der Wissenschaftler „Isostasie", Gleichstand. Berge sind nicht „fest gegründet", wie die Menschen glauben. Sie schwimmen im Magmameer wie die Eisberge im Wasser. Verliert ein Eisberg oben durch Schmelzen, so steigt automatisch aus dem Wasserspiegel so viel auf, wie über dem Wasser an Masse verlorenging. So steigen auch die Felsenberge um so viel aus^dem Magmameer, Avie die Mächte der Oberwelt ihnen droben rauben. Der Landschaft geht gar nichts verloren. Die den Bergen entführten Massen wandern zwar mit Flüssen und Winden in die Meere und setzen sich hier an den Böden nieder; aber die Meere füllen sich nicht auf, sondern ihre Böden senken sich um ebenso viel, wie ihr Gewicht durch die Ablagerung zunimmt. Die Berge werden nicht niedriger; die Meeresböden nicht höher — es ändert sich wenig. Die „Isostasie" hält die Waagschale der Massen im Gleichstand. Wenn der Leser daher im folgenden von der Zerstörung der Berge liest, braucht ihn nicht das Gruseln anzukommen. Berge sind keine Zuckerburgen, die zerkrümeln, Erdschichten keine Fensterscheiben, die in Scherben zerfallen, Meere keine Kehrichteimer, die sich mit dem Schutt der Erdteile füllen. Hügel sind wie Wellen, es kommen immer neue nach; Gräben reißen auf wie Wunden, wachsen zu wie diese, und ihre Narben sind unsere Gebirge: Die Erde lebt! Nach der Meinung eines altgriechischen Philosophen kann man nicht zweimal durch denselben Fluß schwimmen, weil jedesmal anderes Wasser den Schwimmenden umgibt; so kann man auch nicht zweimal auf denselben Berg steigen. Wenn du den Berg herunterkommst, ist er durch dich kleiner geworden, denn mit jedem Schritt aufwärts hast du ein Stück des Berges niedergetreten. Jeder Besteiger des Berges ist ein Zerstörer. Nicht nur der Mensch, auch Tiere und Pflanze. Wenn die Gemse eine Kluft überspringt, so rollen 18
unter ihren Hufen ein paar Steine zu Tal, und wenn 1000 m tiefer der Hirte die Herde zu den Matten führt, trampeln die Tiere den Hang talwärts, und jeder Huf hinterläßt eine Narbe auf der empfindlichen Flur. Ja, jedes Blatt, das von einem Baum am Berge weht, nimmt ein paar Gramm Boden mit, den die Wurzeln dem Berg entzogen, selbst die Biene, die mit ihren Pollenkörnern von der Alpenwiese heimwärts fliegt, trägt ein Stückehen Berg davon. Aber die Berge schwinden nicht. Die Zugspitze, der höchste Berg Deutschlands, wird alljährlich von Zehntausenden betreten, doch der Gipfel wird nicht flacher. Im Gegenteil: Er steht heute, wie man annimmt, um 11 Zentimeter höher über München als zu Beginn des Jahrhunderts. Entweder ist der Berg gestiegen oder die Stadt gesunken; oder beide steigen, aber München weniger schnell; oder beide sinken, aber München schneller. Man braucht also keine Gewissensbisse zu empfinden, wenn man auf den Rigi steigt, um den berühmten Sonnenaufgang zu genießen, und hierbei mit seinen Schuhen ein Kilogramm des Berges um ein paar Zentimeter tiefer schiebt. Mit Bergen ist es wie mit Menschen. Der einzelne stirbt, ja ganze Familien sterben aus, aber die Menschheit stirbt nicht. Hier steht der Grabstein eines gestorbenen Berges in der Landschaft, aber siehe da, am Horizont rollen die Dünen neuer Hügel daher — die nächste Generation! Die Kettengebirge an der Westküste Amerikas sind ein Wall, den das harte Becken des Pazifik am Bug des westwärts fahrenden Festlandes aufwirft, ein Wall von Pol zu Pol. Ein ähnlicher Bruch reicht von den Alpen bis tief nach Asien hinein. Diese geologische Front ist in ihrer ganzen Länge lebendig, so lebendig, daß sie sich zu den höchsten Gebirgen der gegenwärtigen Welt auftürmt. Hier sind Kräfte am Werk, die weder die Füße der Gemsen noch die Nagelschuhe der Bergsteiger niedertreten können. Über den Hochgebirgen fällt das Wasser der Wolken als Schnee. Durch Druck, Tauen und Wiedergefrieren verwandelt "er sich zu Eis, dem „Ewigen Eis" der Hochgebirge. Eis ist schwer; durch sein Gewicht sollen die Hochgebirge um 100 Meter in das Magmameer eingedrückt worden sein. Aber es ist auch plastisch; es paßt sich seiner Unterlage an, füllt die Mulden und rutscht in Gestalt gefrorener Flüsse die Täler abwärts. Indem diese Eisflüsse, die Glatscher, im Jahr durchschnittlich 100 Meter wandern, schleifen sie durch 19
ihr gewaltiges Gewicht das Tal aus. Gletscher sind die Hobel des Hochgebirges. In den Mittagsstunden schmilzt das Eis, und dann gefriert es wieder. Wenn Wasser gefriert, dehnt es sich um ungefähr ein Zehntel aus. Als Buben stellten wir Bierflaschen, mit Wasser bis obenhin gefüllt, in kalten Winternächten vor die Tür und warteten, „bis die Bombe knallt". Jeder Spalt im Hochgebirge, der sich bei Tag mit Schmelzwasser füllt, ist eine solche Bierflasche, jeder Tropfen, der in eine Ritze sickert, eine Sprengpatrone. Das Wetter führt in der Region des Eises einen Minenkrieg gegen das Gebirge. Es legt um Mittag Zeitbomben, die gegen Abend explodieren. Die Alpinisten sagen, der Berg wird „lebendig". Fällt bei diesen Sprengungen ein Block auf den Gletscher, so bleibt er nicht lange an der Oberfläche liegen; unter dem Druck des Blockes schmilzt das Eis, und langsam sinkt er, bis er den Boden erreicht. Nun rutscht der schwere Gletscher über ihn hin und schleift ihn, und indem er mit dem Eis abwärts rollt, wird er zu einem jener Kugelsteine, die zu Tausenden in den Rinnen der Gletscher liegen. Der Gletscher ist wie ein „Laufendes Band", nicht aus Eisen, sondern aus Eis, das auf Kugeln dahinrollt, nicht aus Stahl, sondern aus Steinen. Im Gegensatz zum langsam sich schiebenden Eis fließt das der Gletscherzunge entträufelnde Schmelzwasser ungestüm davon. Ist der Gletscher ein breit ausladender Hobel, der mit starkem Druck und bedächtigem Schub das Hochtal ausschleift, so ist das Wasser eine Säge, die mit raschen Zügen Schluchten durch die Felsen reißt. Die ausgesägten Stücke lösen sich und fallen zu Tal, werden vom Wasser geschliffen und zu Geröll; aus Geröll werden Steine, aus Steinen Kies, aus Kies wird Sand. Sand ist noch nicht das Ende, denn neben der Zermahlung geht die chemische Lösung einher. Ununterbrochen vollziehen sich innen und außen chemische Prozesse, und jede der hierbei entstehenden Verbindungen, die löslich ist, schwimmt davon. — Im Kreislauf des Kohlenstoffs tritt aus Erdspalten, Vulkanen, Quellen, aus der Zersetzung Kohlendioxyd, „Kohlensäure", auf. Sie verwandelt den wasserbeständigen Kalk in den löslichen kohlensauren Kalk. Enthält ein Gebirge reichlich Kalk und wird er durch kohlensäurereiches Wasser ausgeschwemmt, so zer20
Flüsse graben sieh immer tiefer In die Landschaft ein und ziehen sich gegenseitig das Wasser ab. Die stärkeren rauben den schwächeren die Nebenflüsse, so daß die Zahl der Flußläufe seit der Vorzeit abgenommen hat.
klüftet das Gebirge. Statt langsam im Lauf von Monaten durch die Schichten zu sickern, eilt das Wasser durch diese Klüfte davon, und das Gebirge trocknet wie ein leck gewordener Behälter aus. Die dünne Lage von fruchtbarer Erde, die die Felsen bedeckt, zerkrümelt zu Staub, und der Staub fliegt mit den Winden davon. Mehr und mehr treten die Felsen zutage wie Knochen, und schließlich steht nur das steinerne Skelett des Gebirges da als „Karst". Ist der Widerstand der Schichten verschieden, so schwinden die schwachen zuerst; liegen Schichten, die rascher schwinden, unter solchen, die beständiger sind, so entstehen Höhlen, von denen die Mehrzahl unter der Last des Berges einbricht, so daß sich die Schichten senken, wölben und ein Geschiebe von Schichten entsteht. An der Außenwand von Gebirgen bilden sich geologische Treppen, über deren Stufen das Wasser herabstürzt. Der Niagara fließt über eine Summe von Schichten, in denen harte Lagen von Kalk mit weichen von Ton und Mergel wechseln. Das mit gewaltiger Kraft niederstürzende Wasser zieht durch seinen Sog das Material der weichen Unterlage unter den harten Oberschichten heraus, so daß sich überhängende Decken bilden. Alle paar Jahre, wenn der „Balkon" weit genug unterwühlt ist, bricht die Decke unter der Last des Wassers ein, und so wandert der Fall rückwärts. Alle Wasserfälle wandern in dieser Weise rückwärts. Wasserfälle vernichten sich selbst. Beständige Wasserfälle gibt es nicht. Auch die Flüsse sind wie „Wasserfälle" und streben wie diese danach, ihr Niveau auszugleichen, indem sie sich tiefer graben, bis ihr Oberlauf ebenso tief steht wie die Mündung. Durch dieses Einfressen haben auch sie die Neigung, rückwärts zu wandern. Und so kommt es, daß zwar das Wasser vorwärts wandert, das Flußbett aber rückwärts (vgl. zum Folgenden die Abb. Seite 21). In einem geologisch jungen Land fließen in der Regel die Hauptströme in gemessenen Abständen fast parallel nebeneinander von den Gebirgen ins Meer. Im nördlichen Europa sind es die Loire, Seine, Maas, der Rhein, die Elbe, Oder, Weichsel, der Njemen, die Düna usw., im südlichen Europa bis zum Ural hin ist das gleiche der Fall bei der Donau, dem Pruth, Dnjestr, Bug, Dnjepr, dem Don und der Wolga. Die Nebenflüsse streben etwa senkrecht auf die Hauptflüsse zu, so daß sie den Nebenflüssen des Nachbarstromes den 22
Rücken zukehren. Indem die entgegengesetzt strömenden Nebenflüsse mit ihren Quellen rückwärts wandern, nähern sich ihre Quellgebiete, und eines Tages treffen sie sich. Nun beginnt der Kampf um Wasser und Richtung. Der unterliegende Fluß muß dem siegenden folgen. Ist der Sog des Siegers stark genug, so saugt er nicht nur den Nebenfluß, sondern durch diesen auch das Wasser aus dem Oberlauf des Hauptstromes ab, so daß der Unterlauf dieses Hauptstroms, von seiner Quelle abgeschnitten, zu einem unbedeutenden Flüßchen schrumpft. So hat der Rhein durch Abzapfen des Mains auf seiner Ostseite die Weser, auf der Westseite durch das Absaugen der Mosel die Maas zu Flüssen zweiter Ordnung gemacht. Saugt ein Fluß durch einen Nebenfluß den Oberlauf seines Nachbarstroms ab, so setzt er sich nun ausjzwei ursprünglich parallel nebeneinander laufenden Flüssen zusammen, die durch die Querleiste zweier ehemaliger Nebenflüsse verbunden sind. Diese Querverbindung, eine Art Lötstelle, verrät sich als ein Knick im Mittellauf des großen Stroms. So ist es mit dem Knick des Rheins in der Mitte seines Laufs zwischen der Mainmündung und Bingen. Es ist die Narbe des Siegers, der hier seinen Nebenbuhler in die „Knie" gezwungen hat. Ein in seiner Eindringlichkeit wohl einzig dastehendes Beispiel für das bewegte Schicksal von Flüssen zeigt die Wasserkarte von Palästina. Durch den 800 Meter tief unter das Niveau des Flachlandes reichenden Einbruch des Jordangrabens wurden die drei ansehnlichen Flüsse, die einst vom Inland zum Meer liefen und das Land sicherlich ausreichend bewässerten, nicht weit von ihrer Mündung abgeschnitten und speisen heute mit ih-rem Wasser den Jordan. Der Jordan fließt, durch den Graben gezwungen, gegen die Regel nicht zur Küste, sondern parallel zu ihr und mündet ins Tote Meer. Die Flüsse nagen an den Gebirgen ohne Unterlaß, aber die große Zeit des Wegnehmens ist die Zeit der Regengüsse. Von der Beute beladen, färbt sich das Wasser mit den entführten Erden, und so entstanden die Namen Gelber Fluß, Blauer Nil, Red River (Roter Fluß). Was als „Farbe" in die Ebene fließt, ist fortschwimmendes Gebirge. Der Colorado, der in dem tiefen Erdriß des Gran Canon in Nordamerika besonders reißend dahineilt, trägt so viel Land davon, daß ein Güterzug, der so lang und schnell wie der Fluß mitführe, nicht so viel Boden transportierte wie das Wasser. Der Mississippi 23
schwemmt aus den Ebenen des mittleren Nordamerikas so viel Boden aus, daß der Boden hier in den letzten 15 000 Jahren um einen Meter gesunken ist. Auch der Rhein ist ein Fließband, auf dem ununterbrochen Erde von den Alpen in die Nordsee wandert. Würden die Schweizer einen Ausfuhrzoll auf Erde setzen, so müßten die Holländer zahlen, denn Amsterdam liegt gewissermaßen auf angeschwemmtem „Schweizer" Boden. Ägypten könnte man aus dem gleichen Grunde eine weggeschwemmte Provinz Abessiniens nennen. Im Mai und Juni gehen die Regen nieder über den Hochgebirgen Abessiniens. Eine Flut von Schlamm wälzt sich zu Tal und verläßt als Weißer und Blauer Nil das Land. Sechs Wochen später erreicht die Flut- und Schlammwelle Ägypten, und die Ägypter danken ihrem zum Gott erhobenen „Heiligen Nil" für die Erde, die er Abessinien geraubt hat. Durch Schleusen lassen sie das Wasser über das ausgedorrte Land fließen, und jährlich legt sich eine Schicht abessinischer Erde über den Boden Ägyptens, der in jedem Jahrtausend um etwa 80 Zentimeter steigt. Als die Brüder Josephs mit ihren Geschenken dahergezogen kamen, zogen sie hoch über das zugedeckte Kulturland des „Alten Reiches". Als die Streitwagen der Römer das Land unterwarfen, marschierten sie über den Schultern der Pharaonen; unsere Autos aber fahren über den Köpfen der Kalifen; und wie wir über die anderen, werden andere über uns dahingehen. Sieht man das braune Regenwasser von den Bergen fließen, so möchte man verzagen. Aber man darf optimistisch bleiben. Das Land geht dahin, aber es ist nicht dahin; es wandert nur: dem Hochland verloren, dem Tiefland gewonnen. Regenzeiten sind die Wochen, in denen die Berge ihre Nährkräfte in die Ebenen entsenden und sie fruchtbar machen. Der Christusdorn, der droben auf dem kahl gewaschenen Hochland Judäas in der Sonnenglut dörrt, blüht 30 Jahre später drunten in der Ebene Sharon als „Die Lilie des Feldes". Die Kirschbäume Japans leben von der Erde, die ihnen der Fujiyama in seiner vulkanischen Küche gekocht hat. Die Höhen der Sierra Nevada sind nackt, drunten aber blühen die Orangenhaine der kalifornischen Ebene. Die Wiesenflora der Schweiz ist weltberühmt; kein Wunder, sie wird mit „Alpenmilch" gefüttert; 1 Teelöffel Berg aufgelöst in einem Liter Regen, dreimal im Monat, das ist das Rezept, nach dem die Berge ihre Kinder in den Tälern nähren. 24
Wir haben schon berichtet, wie der Wechsel der Temperatur auf die freistehenden Berge wirkt, und haben hier nur zusammenzufassen: Sternwarten verraten, daß die Berge mit der einseitigen Erwärmung durch die Sonne eine Bewegung ausführen, daß sie im Winter durch das tief gefrierende Eis nach Süden geschoben werden und im Sommer in ihre alten Stellungen zurückkehren. Im Gebiet der vereisten Gipfel sickert in den Mittagsstunden das Schmelzwasser in die Ritzen der Felsen, friert hier bei Einbruch der Nacht und wirkt durch die Ausdehnung des gefrierenden Wassers als Sprengstoff; ebenso jeder Stein, der in eine Ritze fällt und sich hier einklemmt. In kalten Stunden zieht sich der Stein zusammen und rutscht tiefer; es wird in der Regel nur eine Spur sein, ein Millimeter oder weniger. Wird das eingeklemmte Stück an einem warmen Tag oder in der nächsten warmen Jahreszeit stärker erwärmt als der Fels, so dehnt es sich aus und stemmt die ihn einklemmenden Wände auseinander. Es mag Jahrhunderte dauern, ehe diese verborgene Kraft sich eines Tages in Tätigkeit setzt. Aber es liegen Milliarden Splitter in den Klüften, und die Natur hat ja Zeit.
Das von den Flüssen dem Binnenland geraubte Erdreich häuft sich vor den Mündungen als Delta an. Der Nil trägt von den Bergen Abessiniens (1) Schlammfluten ins Niltal (2) und baut an dessen Mündung ein Delta (= A) auf. Ein Teil des Schlammes treibt ins Meer (4)
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Reist man durch die Felsengebirge heißer Trockengebiete, wie zum Beispiel der Sahara, so hebt manchmal abends ein Schießen an, daß der Unerfahrene glaubt, es seien Räuberbanden eingebrochen, und er greift zum Revolver. Aber der Reiseführer beruhigt ihn. Wenn nach Sonnenuntergang die Temperatur, wie es in den Wüsten der Fall ist, um 20° und mehr steil abfällt, verziehen sich die Felsen und platzen wie Möbel aus allzu jungem Holz. Das Krachen hält stundenlang an, und man wundert sich, daß überhaupt noch etwas vom Gebirge dasteht. Tatsächlich gibt es Gebirge, die in Trockengebieten durch Tageshitze und Nachtkälte bis auf schmähliche Reste zersprengt sind. Auf hohen Bergen, dem Mont Blanc, dem Jungfraujoch, der Zugspitze, stellen Wetterstationeri. Stellt man in den Keller des Observatoriums einen Erdbebenmesser, so kann man zu gewissen Zeiten an den Ausschlägen der Kurven die Stärke des Windes ablesen. Von den Stößen der Winde wird die Spitze des Berges hin und her bewegt wie das Schiff von den Wellen. Das ist aber nur der rohere Teil des Angriffs; viel vernichtender ist die zerstörende Kraft, die im Atem der Winde gegen die Berge weht. Luft führt stets mehr oder weniger Wasser mit, das sich an den angewehten Felsen niederschlägt. Dieses Wasser enthalt Spuren von Säuren, Kohlensäure, Schwefelsäure, Salpetersäure und Krümel von Erde, die wieder-Humussäuren in sich tragen. Auch die Pflanzen- und Tierreste, die mitgetragen werden, Spinnfäden, Fliegenflügel, Fetzen von Blättern, Blütenstaub und Samen, setzen sich an und zersetzen durch ihre Säuren und Salze das Gestein. Weht der Wind vom Meer, so sind Arsen, Jod, Chlor beigemischt — alles nur Spuren, aber die Natur hat ja Zeit, zehntausende Jahre lang, Tag für Tag, in jeder Stunde ein Angriff. Stein ist schutzlos; selbst der polierte Granit des Denkmals ist porös; wenn nicht für das Auge, so für das Mikroskop; wenn nicht für den Staub, so für die Moleküle der Luft, die durch diese Poren einfliegen wie die Vögel in Nistkästen. Der Mensch stellt sich unter die Brause; ihm schadet das Wasser nicht. Er geht gereinigt und erfrischt davon. Aber an der Brunnenfigur bleiben die Tropfen hängen, und jeder Tropfen wirkt auf sie ein. Wie kurzlebig Steine sind, lehrt ein Gang über den Friedhof; keine 100 Jahre, und die Inschriften von „Ewiger Liebe" 26
nnd „Unvergeßlicher Treue" sind ausgelöscht — in den Steinen und auch in den Herzen. Einer der größten Feinde des Steins ist der Regen. Unschwer kann man an Denkmälern und Mauern die Wetterseite erkennen, von der Wind und Regen kommen und den Stein zur „Verwitterung" bringen. Auf der Regenseite keimen die angewehten Sporen von Bakterien, Flechten, Moosen. Sie nähren sich, indem sie den Stein fressen, und es ist dieser Prozeß, durch den aus Steinen fruchtbare Erde wird. In Trockengebieten führt der Wind kein Wasser, keine Organismen, die keimen können, und folglich sieht man auch keine Spuren von chemischer Verwitterung. Unangefochten von den Jahrtausenden stehen die Denkmäler in dem von Wüsten umsäumten Ägypten. Die Reliefs und ihre langen Inschriften sind so klar, als habe der Künstler vor einer Stunde den Meisel aus den Händen gelegt. Geht man aber um das Kunstwerk herum, so findet man die Gegenseite radiert, als habe jemand mit Sandpapier darübergerieben. Das ist auch geschehen. Der Jemand war der Wind, und das Sandpapier sieht man nur darum nicht, weil ihm das Papier fehlt, aber der Sand, der scharfe, ist da. Wind in wüstennahen Ländern ist wehendes Sandpapier. Läßt man dort sein Mikroskop nur kurze Zeit im Freien stehen, so sieht man auf dem Objektträger eine ganze Sammlung von mikroskopischen Schwertern, Lanzen, Morgensternen, Feilen, Sticheln und Meißeln, und nun wundert man sich nicht mehr, daß den steinernen Figuren, deren Blick den Wüsten zugewendet ist, Ohren und Nasenspitzen fehlen, als hätten sie die Lepra gehabt. Wie die Kunstkenner mit einem Blick ein Gemälde der Zeit und dem Stil nach einordnen — ein „früher Holländer", ein „später Venezianer" —, so ist der geologisch Geübte bei Betrachtung einer Landschaft nicht einen Augenblick im Zweifel, ob ein Gebirge jung ist oder alt, ob ein Tal von Gletscher oder Fluß, ein Gebirge von Wasser oder Trockenwinden geformt ist. Syrien und Palästina sind zwei kleine Länder, ein Küstenstreifen von wenigen hundert Kilometern Länge. Aber Syrien ist durch seine nördliche Lage und höheren Berge fencht, Palästina mit seinen halb so hohen Gebirgen trocken. Im feuchten Syrien steht der schneebedeckte Hermon, ein wahrhaft majestätischer Berg, ein König mit Hermelin um die Schultern, der nach Süden über die Berge Judas wie über Vasallen 27'
schaut. Diese biblischen Berge sind keine „Berge", es sind windpolierte Kuppen, die einander gleichen wie Luftballons auf einem Rummelplatz. Es ist gleich, ob man über den Moriah hinblickt, auf dem Abraham den Isaak opfern wollte, oder über den Nebo, auf dem Moses gestorben sein soll, oder über den Chattin, auf dem Christus die Bergpredigt gehalten hat. Man kann sie kaum voneinander unterscheiden. Berge in feuchten Landschaften hingegen tragen, da sie leben, wie Menschenköpfe ausgesprochene Züge. Matterhorn, Ätna, Fujiyama, Mount Hood — jeder ist ein Porträt eigener Prägung. Der Windschliff hört nimmer auf. Der Berg wird von oben her abgeschliffen, bis er ein Hügel ist. Jedes abgeplatzte Felsenstück wird so lange gewetzt, bis es kugelrund ist und die größeren wie Schädel, die mittleren wie Brote, die kleinen wie Eier und Erbsen in den Mulden liegen (vgl. Abb. auf der Umschlagseite 2). Wenn man im Schraubstock schleift, bedeckt sich der Boden mit Schleifsand. Wenn der Wind droben die Berge zu Kuppen radiert, füllt sich die Ebene unten mit Sand und wird zur Wüste. Wüsten sind nicht die Böden ausgetrockneter Meere, sondern Sägemehl und Schleifstaub der von Trockenwinden zermahlenen Gebirge. Das beweist unzweifelhaft ihre Verteilung, die den Windstraßen folgt. Schaut man auf eine Weltkarte, so ist man betroffen von der Ausdehnung der Wüsten. Wie wenig Raum ist doch dem Menschen gelassen auf diesem Planeten: Drei Fünftel sind Meer, und von dem Überbleibsel ist ein Viertel Wüste! Die Wüsten ziehen sich in zwei Streifen parallel zum Äquator um den Erdball in der Höhe der „Roßbreiten", das heißt jener Zone, in der die vom Äquator aufgestiegene und hier ausgeregnete Luft aus den Höhen trocken niedersteigt und es folglich wenig regnet. Wüsten sind Friedhöfe zermahlener Gebirge, aber sie sind nicht friedlich, sondern sehr feindselig. Wenn von den Bergen gilt, daß Steine immer nur abwärts rollen, so von den Wüsten, daß Sand immer nur vorwärts wandert. Wüsten haben die Neigung, sich auszudehnen; daß sie sich zurückziehen, ist die Ausnahme. Allenthalben an den Grenzen des ehemaligen Römischen Reiches findet man am Rand der Wüste Städte begraben. Die Wüste von Barchan rückt im Winter um 12 Meter nach Sforden, im Sommer um 18 Meter nach 28
Die Wüsten ziehen sich als zwei Gürtel nördlich und südlich vom Äquator um dßn Erdball. Sie sind das Ergebnis der aus den Höhen trocken niedersteigenden Luft der Roßbreiten (vgl. Text S. 28)
Süden vor. In den Mittelstaaten Nordamerikas kommt in Trockenjahren die Sandflut daher wie das Wasser gegen die Halligen der Nordsee. Dennoch werden die düsteren Prophezeiungen, mit denen man gegenwärtig das Gewissen der Völker alarmiert, unter den Buchtiteln „Wüsten im Anmarsch", oder „Die ausgeplünderte Erde", nicht in Erfüllung gehen. Wir werden nicht im Wüstensand ertrinken, es wird sein, wie es verheißen ist: „Ein Geschlecht kommt und ein Geschlecht geht, aber das Land währet immer." Zu den zerstörerischen Kräften gehört nicht zuletzt der Mensch: Völker brechen ein in einen bisher als „Natur" unberührten Bezirk und formen ihn um nach ihrem Willen. Als erstes Opfer fällt der Wald. Dann werden die Gewässer, die von Leben wimmeln, „reguliert", und nun fließt durch die Kanäle statt des lebendigen Wassers" ein totes Etwas. In das so für die Natur verlorene Land reißen 29
dann die Pflüge tiefe Furchen. Aber eine solche Kultivierung darf nicht hemmungslos vor sieh gehen. Ohne urwüchsige Bodenbedekkung auf weiten Strecken haben die zerstörerischen Elemente gewonnenes Spiel. Früh schon haben die Völker diese Gefahr erkannt, und alle weisen Gesetzgeber haben Vorschriften für die Schonung des Landes erlassen. In der Neuzeit ist die Bekämpfung der Erosion, der Auswaschung und Ausnagung der Erdoberfläche durch Wasser, Eis und Wind, eine Wissenschaft geworden, und alle modernen Staaten unterhalten besondere Dienststellen für Bodenpflege und Wiederbewaldung. Ein großes Aufklärungswerk ist im Gang. Man lehrt den Landmann, den Boden nicht mehr gedankenlos und nicht mehr in geraden Linien zu durchpflügen, sondern die Furchen quer zur Richtung des Windes zu ziehen und an Hügeln dem Profil der Landschaft anzupassen, so daß das Regenwasser nicht mit der Erde davonfließt, sondern sich in den Windungen verfängt. Die alte Kunst des Anbaus in Terrassen wird neu gepflegt. Gefährdete Stellen werden durch wurzelreiche Dauergewächse vor dem Davonrutschen bewahrt, und man klärt den Farmer auf, daß Hecken zwischen den Äckern nicht Verschwendung sind, sondern wertvoller Windschutz. Quer durch Mittelrußland werden breite Gürtel von Wäldern gepflanzt, die durch ihre Wurzeln die Erde und durch ihre Wipfel den Flugsand halten, der von den großen Wüsten her in das Kulturland einweht, ein Limes der Landwirtschaft gegen den Ansturm der Einöden. In Amerika sendet man Flugzeuge über die Wüsten und streut Kapseln aus, die den Keim eines Hartgrases, eingebettet in feuchten Dung, enthalten, so daß die junge Pflanze mit Nahrung und Feuchtigkeit versorgt ist, bis sie Wurzeln in die Tiefe getrieben hat. Der Mensch des 20. Jahrhunderts, der die geologischen Schichten durchschaut, als seien sie Glas, und aus 100 Meter Tiefe Wasser hochzieht, der aus chemischen Formeln Hormone zaubert und über die Wüsten stählerne Vögel schickt, die Fruchtbarkeitspillen ausstreuen, der sich anschickt, Seen über die Sahara und Regen aus dem Himmel zu ergießen, und als neueste Errungenschaft Meerwasser hochpumpt und durch Filter seiner Salze beraubt, so daß er Wasser in dürre Landschaften leiten kann, dieser Mensch wird nicht tatenlos zusehen, wie seine Kultur im Wüstenland versinkt. Ihm ist es aufgegeben, den 30
Kräften der Natur, soweit sie zerstören, seine Willens- und Tatkraft entgegenzustellen. Ein Wort des Propheten gibt ihm Zuversicht: „Siehe ich werde die Wüsten wieder zu Gärten machen, und wo Disteln stehen, * werden Reben grünen, und wo bei Nacht die Schakale heulen, werden die Schnitter Erntelieder singen." Die Erde muß wieder zu dem werden, als was man sie so oft und so gern tituliert hat: „Mutter Erde"
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Die Bildvorlagen stammen vom Verfasser des Lesebogens
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