Nr. 358
Krieg der Magier Die Zukunft beginnt in der Barriere von Oth von Marianne Sydow
Pthor, der Kontinent des Schr...
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Nr. 358
Krieg der Magier Die Zukunft beginnt in der Barriere von Oth von Marianne Sydow
Pthor, der Kontinent des Schreckens, der dank Atlans und Razamons Eingreifen der Erde nichts anhaben konnte, liegt nach jäh unterbrochenem Hyperflug auf Loors, dem Planeten der Brangeln, in der Galaxis Wolcion fest. Pthors Bruchlandung, die natürlich nicht unbemerkt geblieben war, veranlaßte Sperco, den Tyrannen von Wolcion, seine Diener, die Spercoiden, auszuschicken, damit diese den Eindringling vernichten. Daß es ganz anders kam, als Sperco es sich vorstellte, ist allein Atlans Eingreifen zu verdanken. Denn der Arkonide übernahm beim Auftauchen von Spercos Dienern sofort die Initiative und ging systematisch daran, die Macht des Tyrannen zu unter graben. Inzwischen haben die durch Sperco Unterdrückten ihre Freiheit wiedergewonnen, und Sperco selbst starb in dem Augenblick, als sein Raumschiff bei der Landung auf Loors zerschellte. Atlan jedoch überlebt die Schiffskatastrophe. Und während er sich zusammen mit »Feigling«, seinem mysteriösen neuen Gefährten, auf den mühevollen Rückweg zur FESTUNG macht, wo die Odinssöhne längst ihre Herrschaft über Pthor angetreten haben, kommt es zu einer entscheidenden Auseinandersetzung in der Barriere von Oth. Es entbrennt der KRIEG DER MAGIER …
Krieg der Magier
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Die Hautpersonen des Romans:
Thalia - Die Odinstochter in der Maske ihres Vaters.
Heimdall, Sigurd und Balduur - Die Odinssöhne werden »erzogen«.
Razamon und Kolphyr - Sie stehen Thalia hilfreich zur Seite.
Tonkuhn - Ein Abgesandter der Liebesmagierin.
Copasallior und Jarsynthia - Der Krieg der Mächtigen entbrennt.
1. Die Nacht war vorüber, und mit dem neuen Tag nahm das Leben im Gebiet der Fe stung seinen gewohnten Lauf – soweit man sich bei den ständigen Katastrophen der letz ten Zeit überhaupt an etwas gewöhnen konn te. Die meisten Technos und Dellos hatten von ›Odins‹ Rückkehr ohnehin nichts ge merkt. Sie hatten im Lauf des von den Magi ern inszenierten Unwetters fast vollzählig das Bewußtsein verloren. Die anderen – Ro botbürger, eine Gruppe von Händlern, Bau ern von den Ufern des Xamyhr und Kelotten aus Aghmonth – sprachen nicht von den Er eignissen des letzten Abends. Es war nie gut, sich zu intensiv mit den Angelegenhei ten der Herrscher zu beschäftigen. Es be stand auch kein Zweifel daran, daß Odin von jetzt an die Zügel in die Hand nehmen wür de. Der einzige, der erhebliche Zweifel am Erfolg ›Odins‹ hegte, war der Zurückgekehr te selbst, beziehungsweise Thalia, die in der magischen Maske steckte und sich gar nicht sehr wohl in dieser Rolle fühlte. Oder war es etwa kein schlechtes Zei chen, daß schon in der ersten Nacht jemand das Spiel durchschaut hatte? »Das ist Unsinn«, sagte Razamon ärger lich, als sie ihm ihre Bedenken erklärte. »Die Maske ist perfekt. Magier scheinen ihr Handwerk zu verstehen.« Thalia nickte nur. Was half ihr die Maske, wenn sie innerlich noch immer nagende Furcht vor ihrem Vater empfand? Für einige Zeit hatte sie diese Angst vergessen. Aber da waren auch nicht ihre Brüder in der Nähe gewesen. Hinzu kam, daß Fenrir den falschen Odin
strikt ablehnte. Sie hatte den Wolf dazu ge zwungen, sie zu respektieren, aber mehr ließ sich bei einem Wesen wie Fenrir nicht errei chen, solange sie in dieser Maske steckte. Und sie fürchtete, daß auch ihre Brüder miß trauisch wurden, wenn es ihr nicht bald ge lang, ein besseres Verhältnis zu dem Wolf herzustellen. »Deine Brüder warten sicher schon«, be merkte Razamon. »Es ist besser, wenn sie uns nicht zusammen sehen. Du solltest zu ihnen gehen. Wenn sie frech werden – denke daran, wenn sie vor irgend jemandem Re spekt haben, dann ist es Odin! Nimm ja kei ne Rücksicht auf ihre Gefühle, denn das würden sie nur falsch verstehen. Ich werde mit Kolphyr versuchen, dir zu helfen, wenn etwas schiefgeht. Mach dir also keine Sor gen!« Er hatte leicht reden. Er steckte ja nicht in der Maske, die haargenau so aussah, wie die Kinder Odins sich ihren Vater vorstellten. Odin war groß und muskulös, seinen schar fen Augen entging nichts, und wenn er sich bewegte, spürte man förmlich die gewaltige Kraft, die in diesem Körper steckte – oder eben in der Maske, deren magische Perfekti on auch Thalia nur immer wieder bewun dern konnte. Sie verließ das Zimmer und sah sich ver stohlen nach allen Seiten um. Sie atmete auf, als sie feststellte, daß kein lebendes Wesen sich in Sichtweite befand. Wenn jetzt Atlan käme, könnte von mir aus sogar der wirkliche Odin erscheinen, dachte sie. Ich würde es mit jedem aufneh men. Dann fiel ihr ein, was Copasallior ihr über den wunden Punkt der Maske gesagt hatte: Wenn sie auf Atlan traf, mußte das magische Gebilde sich auflösen. Eine Liebesmagierin
4 hatte die Maske dahingehend beeinflußt. Es war der Beitrag einer Gruppe von Magiern zu diesem Werk, die offenbar bei jeder Ge legenheit anderen Wesen Böses zufügten – einfach aus Prinzip. Thalia schüttelte sich bei dem Gedanken, was die Magier alles anstellen könnten, wä ren sie nicht erstens durch unverständliche Gesetze gebunden und zweitens meistens mit internen Schwierigkeiten ausreichend beschäftigt. Der Stimmenmagier und die an deren Bewohner der Tronx-Kette gefielen ihr, denn sie alle waren freundlich und ehr lich. Copasallior, den sechsarmigen Welten magier, fand sie etwas unheimlich und schwer zu durchschauen. Glyndiszorn war in Thalias Augen ein echter Widerling. Breckonzorpf, der Wettermagier, hatte sie dagegen mehr beeindruckt, als sie offen zu gegeben hätte. Er machte keine großen Wor te, aber er packte zu, wo er gebraucht wurde. Hinzu kam, daß Thalia Breckonzorpfs Ma gie noch am ehesten begreifen konnte. Ein Tunnel durch Zeit und Raum, Koratzos »Übersprache« oder Copasalliors Fähigkeit, sich selbst oder andere ohne Zeitverlust an jeden gewünschten Ort zu transportieren, waren beeindruckend, aber auch ziemlich abstrakt für die Tochter Odins, die sich mit solchen Dingen nie befaßt hatte. Sie stieß eine Tür auf und sah ihre drei Brüder am Tisch sitzen. Heimdall sprang auf, sobald er »Odin« entdeckte. Thalia schwieg, wie es ihre Rolle verlangte, setzte sich an den Tisch und nahm sich Brot und kalten Braten. Ihre Brüder beobachteten sie verstohlen. Sie tat, als merkte sie es nicht. »Eine Gruppe Kelotten hat an diesem Morgen bei unseren Dellos vorgesprochen«, bemerkte Sigurd vorsichtig, als »Odin« das Brotmesser weglegte und sich zurücklehnte. »Sollen wir das erledigen, oder willst du selbst mit ihnen sprechen?« »Was wollen die Kelotten in der FE STUNG?« fragte Thalia. Natürlich wußte sie, daß ihre Brüder alle Bewohner Pthors aufgefordert hatten, die Söhne Odins schleunigst als die neuen Herr-
Marianne Sydow scher von Pthor anzuerkennen – aber als Odin durfte sie davon keine Kenntnis haben. »Sie haben uns bereits volle Unterstüt zung und Gehorsam zugesichert«, erklärte Balduur mit einigem Stolz. »Nun bieten sie uns ihre Dienste an für den Fall, daß wir neue Dellos brauchen. Viele von diesen Kunstwesen wurden vernichtet – im Kampf um die FESTUNG, aber auch bei den nach folgenden Katastrophen. Hinzu kommt, daß wir Dellos in die Senke der verlorenen See len schicken mußten. Die Schläfer sind er wacht. Wir können diesen Wesen nicht er lauben, kreuz und quer durch das Land zu ziehen. Viele von den Wiedererwachten sind aggressiv.« »Ich weiß«, versicherte Odin, und seine Augen blitzten unheilverkündend. »Nun – welchen Auftrag wolltet ihr den Kelotten er teilen?« Balduur zögerte und sah seine Brüder hil fesuchend an. Heimdall blickte weg. Sigurd zuckte die Schultern. »Wir brauchen Dellos«, murmelte Baldu ur schließlich. »Es herrscht große Unord nung. Die Überschwemmung und die star ken Erschütterungen bei der Landung haben Spuren hinterlassen. Wir müssen eine Mög lichkeit finden, dieses Land zu steuern, und es scheint jetzt festzustehen, daß wir die Mittel dazu nur in den Tiefen unterhalb der FESTUNG finden. Wie aber sollen wir da nach suchen, wenn die Gänge einzustürzen drohen? Es gibt so viel zu tun …« »Wir haben Zeit«, unterbrach »Odin« ihn. »Und das Problem der Steuerung wird sich vielleicht schon bald auf andere Weise lö sen.« »Weißt du etwa, wie …« Thalia unterbrach Sigurd mit einer knap pen Geste. »Ihr solltet den Kelotten empfehlen, die Herstellung von Dellos zu unterlassen«, sag te sie. »Es gibt genug andere Probleme, auf die man sich in Aghmonth stürzen kann. Es wird Zeit, daß für die Bewohner von Pthor neue Möglichkeiten erschlossen werden, Nahrungsmittel zu erzeugen.«
Krieg der Magier »So schlimm sieht es nun auch wieder nicht aus«, meinte Heimdall mißmutig. »Wenn die Vorräte knapp werden, schicken wir ein paar Zugors nach draußen. Es ist ei ne karge Welt, aber für uns reicht das, was sie zu bieten hat. Niemand wird verhungern, auch wenn wir über Jahre hinweg hier fest sitzen.« »Ich nehme an, du hast dich draußen um gesehen, daß du deiner Sache so sicher bist.« »Boten haben Berichte geliefert«, wich Heimdall zögernd aus. Thalia unterdrückte ein spöttisches Lä cheln, von dem sie nicht wußte, wie die Maske es nach außen interpretieren würde. ›Warte nur‹, dachte sie. ›Boten waren wir für dich, wie? Razamon hat recht, euch darf man nicht zu freundlich behandeln, denn das versteht ihr nicht!‹ »Es ist eine arme Welt«, bestätigte sie. »Und darum ist es ein beson ders häßlicher Einfall, die Bewohner dieses Planeten, deren Leben ohnehin nicht einfach ist, auch noch auszuplündern. Die Kinder Odins leben nicht als gemeine Räuber!« Thalia war überzeugt, daß ihr Vater – wä re er wirklich ins Reich der Lebenden zu rückgekehrt – genau diese Meinung vertre ten hätte. Die drei Männer wagten es kaum, Odin anzuschauen. Wie Kinder, die ein schlechtes Gewissen hatten, saßen sie rund um den Tisch. Die Gelegenheit war günstig. Die Söhne Odins befanden sich genau in der richtigen Stimmung, um das zu hören, was Thalia ihnen zu sagen hatte. »Dies ist ein großes Land«, fuhr sie fort. »Es muß nur richtig behandelt werden, dann braucht niemand Not zu leiden, und trotz dem wird Pthor keinem fremden Volk mehr Tod und Verderben bringen. Die Horden der Nacht existieren nicht mehr. Die Ebene Kalmlech kann also besiedelt werden.« »Die Gnitaheide?« fuhr Sigurd auf. »Dieses vergiftete Land? Dort wird nichts wachsen, was Menschen essen können!« »Unfug. Die Bestien haben auch genug Futter gefunden. Und was den Fluch über Kalmlech betrifft, so rührte der nur vom
5 Dämmersee her. Sein Wasser machte die Horden der Nacht so blutgierig. Aber es gibt genug gute Quellen in Kalmlech, und das Land ist sogar sehr fruchtbar. Nur die Rän der sehen trostlos aus, damit niemand auf die Idee kam, sich genauer dort umzuse hen.« »Woher weißt du das?« fragte Sigurd – und verstummte erschrocken, als ihm klar wurde, daß man so nicht mit Odin sprach. Thalia begnügte sich damit, ihrem Bruder einen strafenden Blick zuzuwerfen. Sigurd sah aus, als hätte er sich am liebsten im Bo den verkrochen. In Wirklichkeit war die Frage natürlich gar nicht dumm. Thalia wußte von den Ma giern einiges über Kalmlech und den Däm mersee. Sie hatte während ihres Aufenthalts in der Großen Barriere von Oth viel dazuge lernt. Es wäre ihr in der Tat schwergefallen, die Quelle ihres neuen Wissens geheimzu halten, hätten ihre Brüder nur die richtigen Fragen gestellt. So jedoch konnte sie sich auf Odins »Allwissenheit« berufen. »Nicht nur die Ebene Kalmlech kann nun genutzt werden«, fuhr sie fort, »sondern auch die Eisküste, wie ihr wohl wißt. Damit aber sieht es auch am Rand der Wüste Fylln wieder günstiger aus.« ›Besonders dann, wenn Breckonzorpf be schließen sollte, dort nicht mehr seine Un wetter auszuprobieren‹, setzte sie in Gedan ken hinzu. »Wir sind keine Valjaren«, brummte Heimdall. »Sollen wir unsere Tage damit verbringen, Grünzeug zu pflanzen?« »Gewiß nicht«, stimmte »Odin« erstaun lich sanft zu. »Aber ihr werdet die Befehle geben, die andere dazu veranlassen, die Fel der anzulegen und zu pflegen!« »Sicher werden solche Befehle dem Herr scher von Pthor viel Ehre einbringen«, wandte Balduur vorsichtig ein, »aber ich fürchte, die Bewohner dieses Landes sind nicht besonders gut geeignet, um die Rolle friedlicher Bauern zu übernehmen.« »Sie sind seit langem gezwungen, sich mit dem Nötigsten zu versorgen. Sogar die
6 Gordys sind sich nicht zu fein, um in den Pflanzungen um Donkmoon zu arbeiten.« »Sie sollten sich stärker darauf konzen trieren«, stimmte Heimdall grimmig zu. »Dann kamen sie wenigstens nicht mehr auf die Idee, meine Bruchstücke vom Parra xynth zu stehlen.« Thalia nickte in ihrer Maske. Sie war dankbar für jeden winzigen Schritt, den ihre Brüder in Richtung auf einen neuen Kurs für dieses Land gingen. Es würde nicht leicht sein, sie von ihren alten Ideen abzulenken. Das hatte sie gewußt, bevor sie dem Plan der Magier zustimmte. Sigurd betrachtete Odin zweifelnd. Thalia konnte ihrem Bruder ansehen, was in ihm vorging. Sigurd haßte Winkelzüge. Er ging offen an sein Ziel heran. Schon setzte er zu der entscheidenden Frage an, und Thalia überlegte bereits, ob es klug war, schon jetzt das Ziel zu nennen. Aber die Sache mit den Dellos war ihr zu wichtig. Und Sigurd über legte es sich zum Glück doch noch anders. »Dann lassen wir doch die Kelotten für Feldarbeiter sorgen«, schlug er vor. Thalia hörte den leichten Spott in der Stimme des Bruders. »Dellos!« sagte sie mit Odins Stimme verächtlich. »An etwas anderes denkst du wohl nicht mehr? Womit willst du deine Dellos ernähren? Sie werden das essen, was auf ihren Feldern wächst, und du kannst zu sehen und hungern, wenn sie dir nichts ab geben.« »Wir sind die Herrscher von Pthor!« rief Sigurd empört. »Die Dellos haben zu gehor chen, sonst nichts!« »Sicher. Aber mit dem Gehorchen ist es so eine Sache. Manchmal übertönt ein knur render Magen jeden Befehl derer, die sich selbst als Herrscher bezeichnen. Haben die Söhne Odins denn alles vergessen, was man ihnen vor langer Zeit beibrachte? Habt ihr durch das Ende der Herren der FESTUNG nichts dazugelernt?« Die drei Männer schwiegen, zum Teil aus Betroffenheit, zum Teil aber auch aus Trotz. »Wir haben dich zurückgeholt«, sagte
Marianne Sydow Balduur endlich leise, »weil du der wahre Herrscher von Pthor sein sollst. Wir werden dir gehorchen. Die Kelotten sollen nach Aghmonth zurückkehren. Ich werde ihnen sagen, was sie zu tun haben.« »Was wirst du ihnen befehlen?« fragte »Odin«, als Balduur schon fast den Raum verlassen hatte. Balduur wandte sich um. »Sie sollen erforschen, welche Nutzpflan zen sich für den Anbau in der Ebene Kalm lech und an der ehemaligen Eisküste eig nen«, sagte er. Thalia nickte nachdenklich. Sie spürte den Widerstand, den die drei Männer ihr entge gensetzten. Aber ihre Achtung vor Odin war stärker als jeder andere Einfluß. »Ich werde mich draußen ein wenig um sehen«, sagte sie zu Sigurd und Heimdall. »Gegen Mittag kehre ich in diesen Raum zu rück. Dann werden wir alles weitere bespre chen.« Sie hatte den Raum kaum verlassen, da tauchte Razamon lautlos vor ihr auf. »Komm«, sagte er leise. »Kolphyr sitzt vor einem Schirm und beobachtet deine Brü der, es wird dir also nichts entgehen. Ich werde dir inzwischen berichten, was wäh rend deiner Abwesenheit geschehen ist.« »Das meiste weiß ich«, erwiderte Thalia. »Die Magier haben Möglichkeiten, alles zu beobachten. Ich bin sogar über die Vorgänge in der Senke der verlorenen Seelen infor miert.« Razamon schwieg. Er dachte an das, was in der verborgenen Stadt der Berserker ge schehen war und an den Mann namens Griz zard, der ihm eine Nachricht in Interkosmo hinterlassen hatte. Wo mochte Grizzard jetzt sein? Lebte er noch? Und wenn ja – gab es noch eine Chance, etwas darüber zu erfah ren, wo und wie er die Einheitssprache Ter ras gelernt hatte? Er wollte Thalia fragen, ob der Magier et was über Grizzard berichtet hatten, da huschte etwas Graues auf sie zu, und Thalia stieß Razamon zur Seite. Der Pthorer tau melte und fing sich an der Wand ab. Er
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schrocken fuhr er herum, aber Fenrir konnte den falschen Odin nicht erreichen, so sehr er sich auch bemühte. Der Wolf duckte sich tief auf den Boden und knurrte dumpf, wäh rend er Thalia mit glühenden Augen beob achtete. »Komm!« befahl Razamon rauh. »Laß Odin in Ruhe, Alter, du ziehst doch nur den kürzeren.« Fenrir rührte sich nicht von der Stelle. Thalia hatte die rechte Hand gehoben und deutete mit dem Zeigefinger auf den Rachen des Wolfes. Razamon erschauerte, denn er spürte die fremden Kräfte, die sich zwischen dem Wolf und der Tochter Odins entfalte ten. Gleichzeitig fühlte er wieder das schmerzhafte Zerren seines Zeitklumpens am Bein. Plötzlich fragte er sich, ob nicht auch das ein Werk der Magier sein mußte. Wenn sich die Gelegenheit ergab, würde er versuchen, in die Barriere von Oth zu gelan gen. Vielleicht konnte man ihm dort helfen. »Fenrir!« sagte er eindringlich. »Komm mit, ich brauche dich. Wir sehen uns drau ßen um.« Der Wolf schob sich nach rückwärts, blieb dann stehen und schüttelte sich. Er warf »Odin« noch einen schrägen Blick zu, dann schlich er lautlos davon. Er achtete nicht auf Razamon. Der Berserker sah ihm kopfschüttelnd nach. Lange Zeit waren sie Freunde gewesen – Fenrir schien das alles vergessen zu haben. Thalia ging schweigend weiter. Razamon begleitete sie bis zum Ausgang, dann trenn ten sie sich – es war besser, wenn man »Odin« nicht in Begleitung des ehemaligen Berserkers sah. In den Gärten zwischen den Pyramiden trafen sie sich wieder, an einer Stelle, wo sie vor neugierigen Blicken sicher waren. Razamon berichtete, was er und Kol phyr über die Schläfer in der Senke der ver lorenen Seelen herausgefunden hatten. Viel war es nicht. Und von Atlan ließ sich nicht einmal feststellen, ob er noch am Leben war.
2.
Solange Magier in der Großen Barriere von Oth hausten, blieb das Gebiet westlich vom Ko-Tomarth den Sterblichen vorbehal ten. Es gab ungefähr fünfzig von ihnen. Zwei oder drei Familien stammten von den eigentlichen Magiern ab, meistens von sol chen, denen man wegen schwerer Verfeh lungen ihre magischen Fähigkeiten genom men hatte. Sie führten ein ziemlich verbor genes Leben und waren froh, wenn man sie in Ruhe ließ. Aber manchmal gingen aus ih nen auch Magier hervor, die überraschende Kräfte entwickelten und sich einen Platz im anderen Teil des Gebirges eroberten. Die anderen Sterblichen entstammten al len möglichen Völkern, sogar solchen, die sonst nirgends in Pthor zu finden waren. Manche waren als Flüchtlinge von ihren ver wüsteten Planeten in die Große Barriere ge raten. Andere kamen als Wanderer aus dem Blutdschungel oder von der Küste der Stille. Sogar Valjaren und zwei Froijos aus der Dunklen Region gehörten dazu. Sie profi tierten von den magischen Kräften, die sich im Lauf ungezählter Jahre überall in den Felsen und im Wasser der Flüsse und Seen angesammelt hatten. Nur wenige entwickel ten genug Geschicklichkeit, um diese Ener gien in die richtigen Bahnen lenken zu kön nen, noch seltener war einer mit echten ma gischen Fähigkeiten unter ihnen, aber sie standen dennoch alle unter dem speziellen Schutz aller mächtigen Magier, denn sie er füllten zwei wichtige Funktionen. Erstens bildeten sie und ihre Behausungen eine Art Pufferzone zu dem maschinellen Gebilde, das die Stadt Wolterhaven darstell te, und zweitens ging aus ihren Reihen der Nachwuchs für jene Magier hervor, die – obwohl unsterblich – bei Unfällen oder an deren unglückseligen Gelegenheiten ihr Le ben ließen. Die Auswahl wurde dabei nicht von den Magiern oder den Sterblichen selbst getroffen, sondern von der Natur. In unre gelmäßigen Abständen wurden Kinder gebo ren, deren magisches Potential von Anfang an hoch war und die infolgedessen ohne Einwirkung von außen die Unsterblichkeit
8 erlangten. Denn die Magier bezogen ihre Unsterblichkeit einzig und allein aus den Bergen von Oth. An keinem anderen Ort konnten sie für immer leben, wenn sie nicht vorher bestimmte Vorkehrungen trafen. So lange die Magier allerdings die Grenzen von Pthor nicht überschritten, gab es immer eine Verbindung zur Großen Barriere von Oth, so daß der Effekt einem Außenstehenden gar nicht auffiel. Die Sterblichen führten ein bequemes Le ben, wenn nicht gerade wieder Nachwuchs gesucht wurde. Eigentlich war es merkwür dig, daß immer zum rechten Zeitpunkt ent sprechend begabte Kinder zur Welt kamen. Und genauso unverständlich war die Hektik, die prompt unter den Sterblichen ausbrach, wenn sie vom Tod eines anderen Magiers erfuhren. Voller Eifer und Ungeduld begannen sie dann, sich in den verschiedensten Künsten zu üben, obwohl sie doch wissen mußten, daß Fleiß nicht ausschlaggebend war. Nie mand konnte das, was einen echten Magier ausmachte, so einfach erlernen. Wäre es nach denen gegangen, die sich um Jarsyn thia, Wortz und den Kristallmagier Karsja nor scharten, so hätte man die Sterblichen einfach sich selbst überlassen und einfach abgewartet, bis die echte Begabung sich bei dem einen oder anderen durchsetzte. Aber schon vor langer Zeit hatte sich die Mehrheit der Magier dafür ausgesprochen, den Sterb lichen jederzeit mit Rat und Tat zu helfen. So kam immer wieder der eine oder andere Magier in diesen Randbezirk von Oth, um die Sterblichen ein paar einfache Tricks zu lehren und ihnen das Gefühl zu geben, als wären sie eben doch gleichberechtigt und hätten die Chance, eines Tages zu den Mächtigen zu gehören. Seitdem nun der Große Knoten die Bar riere von Oth umschloß, war bei den Sterbli chen große Aufregung ausgebrochen. Vier echte Magier waren gestorben. Und die Ver bindungen zu den Robotbürgern existierten nicht, so daß die Sterblichen sich ganz auf die Frage danach konzentrieren konnten,
Marianne Sydow wer von ihnen diesmal die Grenze zum KoTomarth überschreiten würde. Spannend wurde das Ganze dadurch, daß praktisch jeder Sterbliche die geforderten Fähigkeiten geerbt haben konnte, ohne daß er selbst oder jemand aus seiner Umgebung davon wußten. Nur die Magier sahen auf den ersten Blick, in wem magische Fähig keiten schlummerten. Ein uraltes, strenges Gesetz verbot es ihnen jedoch, die natürliche Entwicklung zu beeinflussen. Andererseits konnte gerade Jarsynthia es nie lassen, schon im voraus um neue Ge folgsleute zu werben. Meistens verzichtete sie darauf, direkt auf die Sterblichen einzuwirken. Auch diesmal hatte sie einen ihrer treuesten Anhänger in den Grenzbezirk geschickt, einen Magier na mens Tonkuhn, der sich mit seinen schwa chen Künsten mehr schlecht als recht durch schlug. Seine einzige Fähigkeit bestand dar in, daß er Wasser durch bloße Berührung er starren lassen konnte. Tonkuhn liebte es, diese Kunst bei jeder Gelegenheit zur Schau zu stellen. Genau damit war er auch jetzt im Reich der Sterblichen beschäftigt. Unter dem Vorwand, seine »Schüler« durch eine Demonstration dem ersehnten Ziel näher bringen zu wollen, näherte er sich dem Ufer eines reißenden Sturzbachs, der über den Südhang eines Berges, den die Sterblichen »Lichterfang« nannten, zum Rand floß. »Gebt acht!« empfahl Tonkuhn seinen Zuschauern. »Noch fließt das Wasser. Jetzt sammle ich die magische Energie aus den Uferfelsen. Spürt ihr, wie sich das Span nungsfeld entwickelt? Seht auf meine Hän de. Dort, das Flimmern, es ist deutlich zu er kennen. Und jetzt …« Tonkuhn schwenkte die Hände über das Wasser hin, »ist es er starrt!« Und so war es. Die Sterblichen spendeten Beifall, aber besonders begeistert klang das nicht. Selbst sie konnten erkennen, daß Tonkuhns Kräfte gering waren. Der Wassermagier zeigte auf den erstarrten Bach. »Überzeugt euch selbst davon, daß die Wirkung gut und dauerhaft ist. Ihr könnt
Krieg der Magier zum anderen Ufer gehen. Keinem wird et was geschehen!« Die Sterblichen hatten längst bequeme Wege in ihrem Bezirk geschaffen, und gera de über diesen Bach führten zahlreiche Brücken, so daß Tonkuhns Werk ihnen ziemlich unnütz erschien. Aber sie kannten auch die Magier und wußten, daß Leute wie Tonkuhn leicht die Beherrschung verloren, wenn man ihre Künste nicht ausreichend würdigte. So wagten sie sich in einer langen Reihe an das erstarrte Wasser heran, betasteten es und schritten schließlich zum anderen Ufer hinüber. Das Wasser war nicht gefroren. Es stand nur einfach still und war hart und klar wie Glas. Tonkuhn geriet angesichts seines teilnahmslosen Publikums in Wut. Dennoch trat er in heldenhafter Pose auf das erstarrte Wasser hinaus und gedachte dort, seine Kräfte besser herauszustreichen, indem er die Erstarrung eingrenzte. Tonkuhns Trick war tatsächlich nicht un gefährlich. Wasser ließ sich zwar magisch besonders leicht beeinflussen, aber nur dann, wenn es Verbindung zu festen Bezugspunk ten wie den Uferfelsen hatte. Tonkuhn löste diese Bande und ließ das Wasser in Ufernä he in den flüssigen Zustand zurückkehren. Auch ober- und unterhalb seines Standorts begann der Bach zu fließen. So stand Tonkuhn schließlich auf einer kaum sichtba ren Insel, scheinbar mitten im tobenden Wasser, ohne auch nur nasse Füße zu be kommen. Wären die Sterblichen nicht so oft mit den verblüffenden Tricks aller möglichen Ma gier konfrontiert worden, so hätten sie sicher staunend und ehrfürchtig zugesehen. So blieben sie immer noch ziemlich gleichgül tig. Und Tonkuhns Wut wuchs ins Uner meßliche. »Ihr …«, begann er, aber da geschah es. Einer von denen, die ihn vom Ufer her be obachteten, war ein künftiger Magier. Er hatte das vielleicht gehofft, aber sicher nicht gewußt. Und niemand konnte im voraus be rechnen, wann die schlummernden Kräfte
9 sich offenbarten. Es war allerdings bekannt, daß es – war es einmal soweit – oft zu spon tanen Reaktionen kam, die gefährliche Aus wirkungen haben konnten. In diesem Falle ging es relativ harmlos zu. Aber Tonkuhn, der auf seiner glasartigen In sel stand, vergaß vor lauter Wut, seine magi schen Sperren auf dem normalen Stand zu halten, und plötzlich durchfuhr es ihn wie ein Schlag, als die wachsende Einflußsphäre eines neuen Magiers über ihn hinwegglitt. Gleich darauf wurde aus dem eher geistigen Schmerz ein ganz konkretes Gefühl des Fal lens, und Tonkuhn stieß einen entsetzten Schrei aus, während es ihn in rasender Fahrt den Lichterfang hinunterriß. Er konnte überhaupt nichts unternehmen. Um erneut ein festes Feld schaffen zu können, hätte er Berührung mit den Felsen bekommen müssen. Das war nicht schwer zu schaffen, denn der Bach schoß oft genug beängstigend schmal und schnell zwischen massiven Steinwänden dahin. Aber Tonkuhns Geschwindigkeit war so hoch, daß er schwere Verletzungen erleiden muß te, wenn er dem Felsen zu nahe kam. Er war daher sogar gezwungen, ständig Ausweich manöver zu unternehmen. Zum Glück exi stierte noch eine Art Scholle unter seinen Füßen, die er unter Aufwendung aller Kräfte zu steuern vermochte. Tonkuhn murmelte verzweifelte Be schwörungen und flehte in Gedanken sogar die Geister vergangener Epochen an, damit sie ihm beistanden, und inzwischen raste er mit haarsträubendem Tempo mit dem Bach den Berg hinunter, dann in eine Schlucht, von deren Wänden feine Kristallsplitter auf ihn herabregneten, und schließlich in eine Senke zwischen dem Lichterfang und einem anderen Berg hinein. Dort gab es einen klei nen, tiefen See, und Tonkuhn gelang es, sich an das Ufer heranzuarbeiten. Atemlos stand er auf den Felsen und blickte schaudernd über den Rand des Sees in eine schier un endliche Tiefe. Der Bach reichte gar nicht bis an den Rand heran, sondern verschwand kurz davor
10 in einer Bodenspalte, die bis auf die entge gengesetzte Seite des Wölbmantels zu rei chen schien. Es war stockfinster in dieser Höhle, und Tonkuhn konnte weder sehen noch hören, wie tief das Wasser fiel, bis es zum erstenmal wieder auf Felsen traf. Auf ein paar hundert Meter kam es aller dings auch gar nicht an. Tonkuhn begann nachträglich noch zu zittern. Er verfluchte denjenigen, der ihn – ohne es zu wissen und zu wollen – in diese Lage gebracht hatte. Das brachte ihn auf die Sterblichen, und er sah sich hastig um, ob auch keiner von ihnen in der Nähe war und den Wassermagier be obachtete. Seine Blicke fielen auf eine seltsame Wand, die aus faserigen, dunklen Nebeln be stand, mit einzelnen helleren Flecken dazwi schen. Im ersten Moment begriff Tonkuhn nichts. Dann dämmerte ihm die Wahrheit, und er keuchte entsetzt und raste um den See herum, auf die neblige Zone zu. Er prallte mit dem Schädel gegen die unwirkliche Wand und stürzte rücklings zu Boden. Be nommen blieb er sitzen. Auf seiner Stirn bil dete sich eine Beule. Sobald er wieder klar denken konnte, kroch Tonkuhn auf allen vieren erneut vorwärts. Diesmal stemmte er sich vorsichtiger gegen den Nebel, aber das Zeug war fest wie gewachsener Fels. Tonkuhn stöhnte laut auf und wich vor der Wand zurück. Er drehte sich um und er blickte den Rand, wie man ihn immer gese hen hatte – ein kahler Streifen aus Sand und Felsen, auf dem die verschiedensten Plane ten Spuren hinterlassen hatten. Treibgut aller Art lag dort herum, die Spuren von Meeren hatten sich in Form salziger Krusten abgela gert, und die Schalen und Skelette fremder Tiere bleichten im fahlen Sonnenlicht, das von draußen hereinsickerte. Draußen – das war die nicht sichtbare Oberfläche eines un bekannten Planeten. Da, wo der Wölbmantel sich um Pthor schloß, wogte geisterhafter Nebel, nicht so dunkel wie die Wand hinter Tonkuhn, aber genauso undurchdringlich. Der Magier setzte sich in den Sand und starrte fassungslos ins Leere.
Marianne Sydow Er hatte die Barriere verlassen und die Wand des Großen Knotens durchdrungen, so viel stand fest. Aber wie kam er zurück? Für einen Augenblick dachte Tonkuhn daran, einfach längs des Wölbmantels nach Westen zu marschieren. Es konnte nicht weit sein bis nach Wolterhaven. Die Robot bürger kannten die Magier und waren durch vielfältige Geschäfte mit ihnen verbunden. Tonkuhn konnte also hoffen, daß man ihn in Wolterhaven aufnahm und ihm Gastfreund schaft gewährte, bis er eine Entscheidung über seine Zukunft getroffen hatte. Wolter haven lag außerdem so nahe an den magi schen Bergen, daß Tonkuhns Wohlbefinden keineswegs leiden würde. Das Dumme war nur, daß er draußen ziemlich hilflos war. Tonkuhn wußte nur zu genau, daß er mit sei ner Kunst, Wasser erstarren zu lassen, kaum seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Und andere Fertigkeiten hatte er nie erwor ben. Wenn er die Wand des Großen Knotens in einer Richtung durchdrungen hatte, mußte es doch auch einen Rückweg geben! Oder lag es am plötzlich aufbrechenden Einfluß jenes Sterblichen, der den Platz eines Magiers ein nehmen sollte? Hatten am Ende die fremden Fähigkeiten und Tonkuhns Künste sich er gänzt und gemeinsam einen Durchgang er möglicht? Dann war ihm die Rückkehr nicht möglich, denn selbst wenn er gewußt hätte, welchem Sterblichen er seine unwirkliche Reise verdankte, so gab es doch keine Chan ce, ihn herbeizurufen. Tonkuhn stand schließlich auf. Es hatte keinen Sinn. Je länger er über alles nach dachte, desto verwirrter wurde er. Er mußte es eben versuchen. Und wenn es nicht klappte – nun, er konnte sich immer noch et was einfallen lassen. Wie lange würde es überhaupt dauern, bis Glyndiszorn den Großen Knoten löste? Tonkuhn hatte gehört, daß Jarsynthia den Knotenmagier überreden wollte, wenigstens einen ständigen Durchgang zu öffnen, aber es schien dem Wassermagier, als hätte die
Krieg der Magier Liebesmagierin diesmal wenig Chancen, ih ren Willen durchzusetzen. Glyndiszorn war nicht so leicht zu betören. Die Zukunft schien somit außerordentlich unsicher, und Tonkuhn begab sich nunmehr mit Entschlossenheit an den schwierigen Versuch, allen heimlichen Bedenken zum Trotz ein Hindernis zu überwinden, an dem sogar Copasallior persönlich scheitern muß te. Er suchte zuerst links vom Bach, aber die Wand des Knotens war undurchdringlich. Dann kletterte er über die glitschigen Felsen am Ende des Sees, denn noch wagte er es nicht, seine Kräfte in dieses Wasser zu len ken – immerhin befand er sich außerhalb der Barriere, und dieses Wissen verunsicherte ihn. Auf der anderen Seite erwies sich die Wand des Großen Knotens jedoch ebenfalls als unangreifbar. Tonkuhn, den allmählich die Panik packte, hämmerte mit den Fäusten auf den wogenden Nebel ein und bombar dierte anschließend die Wand mit magischen Energien, bis er total erschöpft zu Boden sank. Tonkuhn hatte Glück im Unglück: Über all in der Barriere gab es Gesteinsadern, die die magischen Energien nicht nur weiterlei teten, sondern auch reinigten und ihnen so zu einer heilenden Wirkung verhalfen – eine solche Ader führte übrigens unter Heimdalls Lettro vorbei, was der wahre Grund dafür war, daß der skullmanente Magier Kröbel überhaupt etwas mit seinem schwachen Ta lent anfangen konnte. Und eine solche Ader trat auch hier am Rand aus den anderen Ge steinsschichten hervor. Tonkuhn geriet mit den Händen rein zufällig an die richtige Stelle, und hastig kroch er weiter, bis er die heilende Wirkung deutlich fühlte. Er ließ sich flach auf den Bauch fallen und starrte keuchend in den nur etwa zwei Meter ent fernten Abgrund, in dem das Wasser des Sturzbaches spurlos verschwand. Während er sich den heilenden Strömungen überließ, hing er den seltsamstem Gedanken nach – er überlegte allen Ernstes, ob er nicht versu chen sollte, in diese unbekannten Tiefen
11 vorzudringen. Was mochte es dort alles ge ben. Vielleicht war dies der direkte Weg zur Macht. Tonkuhn hätte nichts dagegen einzu wenden gehabt, wäre seine Macht ein wenig gewachsen. Es machte ihm oft schwer zu schaffen, zwischen all den anderen Magier zu leben, die verächtlich lächelten, wenn er seine Kunst anwenden wollte … Tonkuhn richtete sich ärgerlich auf. Nicht alle verachteten ihn. Jarsynthia wußte sehr gut, was sie an Tonkuhn hatte, und auch Karsjanor erteilte ihm gerne heikle Aufträge. Tonkuhn fühlte sich erfrischt und ge stärkt, und auch die Angst hatte er soweit überwunden, daß seine Hände nicht länger zitterten. Er pirschte sich abermals an die graue Wand heran, und diesmal ließ er sich zu keiner gewaltsamen Reaktion verleiten. Systematisch tastete er sich vorwärts, bis an das Ufer heran, aber da war nicht die gering ste Öffnung zu spüren. Er sah sich nachdenklich um, musterte die Oberfläche des kleinen Sees und versuchte, die Stellen auszumachen, an denen die Strö mung nachließ. Vorhin, als er den Sterbli chen seinen Trick zeigte, war er der Quelle des Baches nahe gewesen, und er hatte mit einfachen Mitteln das nachströmende Was ser zwingen können, einen anderen Weg ins Tal zu suchen, bis die Starre aufgehoben wurde. Hier unten dagegen mußte er sehr vorsichtig sein. Ließ er einfach den Bach über die ganze Breite seines Laufes erstar ren, so ergoß sich mit tödlicher Sicherheit wenige Sekunden später eine wahre Sintflut über Tonkuhn. Schließlich fand er, wonach er suchte. Ein sandiger Uferstreifen verriet ruhiges Wasser. Tonkuhn bückte sich und leitete die magi sche Energie in die richtigen Bahnen. Dann wartete er und beobachtete den Bach, bis er völlig sicher war, daß ihm keine Gefahr drohte. Vorsichtig ging er auf die glasartige Fläche und von dort aus an den nächsten Abschnitt der nebelhaften Wand heran. Er stieß einen triumphierenden Schrei aus, als er schon beim ersten Versuch eine Ver
12 änderung spürte. Zentimeter um Zentimeter tastete er sich weiter, und er spürte, wie seine eigenen Kräfte sich mit der Energie dieser Wand verbanden, und plötzlich riß etwas wie ein Vorhang vor seinen Augen auseinander, und Tonkuhn stand am Ufer des Baches, direkt neben der Wand des Großen Knotens. Noch nie hatte der Anblick der wilden Gipfel von Oth ihn mit einem solchen Gefühl der Glückseligkeit erfüllt. Tonkuhn atmete tief ein, dann wurde er sich seiner wackeligen Knie bewußt. Er setzte sich hastig hin. Jetzt, da er das Hin dernis überwunden hatte, mußte er beson ders vorsichtig sein. So gab er sich gelassen und sondierte unauffällig die Umgebung. Er war alleine. Selbst die Tiere schienen Glyn diszorns Werk zu meiden. Die Sterblichen suchten weiter oben nach dem verschwunde nen Magier. Tonkuhn bedachte die Wand des Großen Knotens mit einem wütenden Blick und wollte sich gerade abwenden, da kam ihm eine phantastische Idee. Er wußte, daß nur der Knotenmagier selbst einen Weg nach draußen schaffen konnte. Alle anderen waren somit von Glyn diszorn abhängig. Selbst Copasallior kam nicht darum herum den Knotenmagier um Hilfe zu bitten, wenn er die Barriere verlas sen wollte. Aber er, Tonkuhn, hatte aus eigener Kraft die Wand durchstoßen, nicht nur einmal, sondern in beiden Richtungen! Der Wassermagier nickte zufrieden und murmelte schützende Formeln vor sich hin, dann beschloß er, es noch einmal zu versu chen, ehe er Jarsynthia benachrichtigte – die Liebesmagierin war zwar ganz besessen dar auf, einen Weg durch diese Wand zu finden, aber wenn jemand falschen Alarm gab, wur de sie wütend. Tonkuhn trat abermals auf das erstarrte Wasser hinaus. Er hatte überhaupt keine Schwierigkeiten, die Lücke zu finden, nach dem er einmal wußte, was er zu tun hatte. Mit einem einzigen Schritt verließ er den
Marianne Sydow Großen Knoten, und die fahle Helligkeit des äußeren Randes tat sich vor ihm auf. Tonkuhn ging rückwärts, und die graue Ne belwand schloß sich vor seinen Augen. Kein Zweifel – er hatte das Problem ge löst. Tonkuhn fühlte sich unbesiegbar. Er stand als einer der Mächtigen da, und sie würden sich darum reißen, daß er ihnen half. Jetzt mußte er klug handeln, denn es galt, einen hohen Gewinn aus seiner Entdeckung zu ziehen. Tonkuhn rechnete in Gedanken verschiedene Möglichkeiten durch – und während er so dastand und in das Wasser blickte, sah er etwas, dessen Bedeutung ihm zuerst nicht aufging. Als er endlich begriff, war ihm, als hätte ihn unvermutet ein Schwall Eiswasser getroffen. In allen Bächen der Barriere lebten Fi sche, darum hatte er den Tieren so lange kei ne Beachtung geschenkt. Jetzt erst fiel ihm auf, daß die Fische im Bach hin und her schwammen und dabei ständig von einer Seite der Wand auf die andere gerieten. Und das Wasser? Auch das durchdrang die ge heimnisvolle Grenze! Tonkuhn überlegte einen Augenblick lang, dann sammelte er hastig ein paar große, weiße Steine zusammen und schich tete sie an der kritischen Stelle neben dem Wasser auf. Abermals sah er sich um. Aber auch diesmal war kein Sterblicher zu sehen. Der Wassermagier eilte entlang der nebligen Wand nach Osten, bis er den nächsten Was serlauf erreichte. Es war ein sehr schmaler Bach, ein Rinn sal, kaum einen Schritt breit und so seicht, daß nicht einmal der winzigste Fisch in dem Wasser schwamm. Aber an der Grenze zur Außenwelt hatte dieser Bach inzwischen ei ne recht große Bodensenke in einen stillen Teich verwandelt. Deutlich konnte Tonkuhn die Stelle ausmachen, an der das ehemalige Bachbett von der Wand des Großen Knotens abgeschnitten war. Dort hatte das Wasser den Boden tief ausgewaschen, und auch jetzt stieß es in seinem Lauf noch zunächst an das Hindernis, ehe es zur Seite auswich und in den Teich floß. Der See wiederum hatte
Krieg der Magier einen Abfluß in Gestalt einer Felsspalte ähn lich der, in der Tonkuhn um ein Haar gelan det wäre. Der Wassermagier untersuchte die Wand, um ganz sicherzugehen. Es gab keine Lücke, auch nicht direkt über dem Wasser, wo nach seiner festen Überzeugung die Verbindung zwischen seiner Magie und der Kraft, die in der Grenze steckte, am leichtesten herzustel len war. Tonkuhn fluchte erbittert vor sich hin. Er schleuderte einen Stein gegen die Grenze – er prallte zurück. Hastig lief er wieder zu »seinem« Bach und wiederholte den Versuch dort. Der Stein verschwand im faserigen Grau. Tonkuhn folgte dem Wurfgeschoß und gelangte nach draußen. Neben ihm schossen die Fische un geniert hin und her. »Nun gut«, murmelte Tonkuhn grimmig. »Was macht das schon? Ich werde aufpassen müssen. Aber sonst ändert sich schließlich nichts.« Damit kehrte er in die Barriere von Oth zurück. Er stieg den Hang des Lichterfangs hinauf, bis er ein halbwildes Yassel fand, das in einer grasbewachsenen Senke weide te. Das Tier versuchte zu fliehen, gab es aber schnell auf, als es merkte, daß es diesmal nicht an einen unbeholfenen Sterblichen ge raten war. Tonkuhn ritt weiter nach oben, bis er einen Weg fand, den er wiedererkann te. Er trieb das Yassel an und brauste in flie gendem Galopp nach Osten. Erst als er die Grenze zum Ko-Tomarth vor sich sah, zü gelte er das Tier. »Was willst du?« fragte eine Stimme mit ten in Tonkuhns Kopfs. »Laß mich passieren«, forderte der Was sermagier. »Ich werde deinen Bezirk nicht betreten, Kolviss.« Der Traummagier produzierte ein spötti sches Kichern in Tonkuhns Gedanken. Der Wassermagier bemühte sich, seine Gedan ken in Zaum zu halten, aber er wußte natür lich, daß er gegen Kolviss nicht viel ausrich ten konnte. Zum Glück verhielt sich der Traummagier in nahezu allen Situationen
13 neutral. Tonkuhn hoffte, daß Kolviss sich auch diesmal an seine seltsamen Regeln hal ten würde. »Die Sterblichen machen sich große Sor gen um dich, Tonkuhn«, bemerkte Kolviss schließlich. »Sie wissen nicht, was mit dir geschehen ist. Sollen sie den ganzen Berg nach dir absuchen?« »Ich werde ihnen eine Nachricht zukom men lassen«, versprach Tonkuhn ungedul dig. »Es dauert nicht lange.« Kolviss begnügte sich mit einem vagen Impuls von Zustimmung, und Tonkuhn hatte ein etwas unangenehmes Gefühl, als er wei territt und sich dem neutralen Weg näherte, der südlich vom Ko-Tomarth begann, nur ein paar Schritte von der Grenze zum Bezirk des Traummagiers entfernt. Aber Kolviss meldete sich nicht, und da auch sonst alles ruhig blieb, schöpfte Tonkuhn neue Hoff nung. Um so mehr Kopfzerbrechen bereitete ihm die Frage, wie er seine Neuigkeit los werden sollte, ohne die halbe Barriere in Aufruhr zu setzen. Es gab – nicht weit entfernt – eine Höhle mit jenen Kristallen, die auf ein bestimmtes Zeichen hin Gedanken aufnahmen und transportierten. Leider war dieses Nachrich tenmittel anfällig gegen allerlei Mittelchen, aus geheimen Nachrichten öffentliche Ver lautbarungen zu machen. Tonkuhn war sich des Risikos bewußt. Selbst wenn er sich vor sichtig ausdrückte, mußte er darauf gefaßt sein, daß einige Leute neugierig wurden. Aber Tonkuhn fühlte sich so stark, daß er selbst das in Kauf nahm. Abgesehen davon – die wirklich mächtigen Magier hatten andere Dinge im Kopf, als ständig vor irgendwel chen Spionkristallen zu sitzen. Entschlossen trieb er das Yassel an und hielt erst vor der Höhle wieder an. »Jarsynthia!« rief er halblaut, als er vor den Kristallen stand. »Tonkuhn? Wo treibst du dich herum?« »Ich bin bei den Sterblichen.« »Hast du Ergebnisse?« Tonkuhn lächelte zufrieden. »Ja«, sagte er und vollführte dabei eine
14 Geste, deren Bedeutung hoffentlich nur der Liebesmagierin bekannt war. Ein paar Sekunden lang blieb es still. »Ich habe verstanden«, antwortete Jarsyn thia dann zögernd. »Kehre an den Ort zu rück. Wenn meine Arbeit es erlaubt, werde ich mich selbst darum kümmern. Bis ich einen genauen Überblick habe, solltest du dort bleiben, damit uns nichts entgeht.« Tonkuhn verzichtete auf eine Antwort. Er rannte nach draußen und schwang sich auf das Yassel. Als Tonkuhn schließlich wieder vor der grauen Wand stand und den Fischen zusah, die ungerührt unter der Grenze hin durchschwammen, war er fast davon über zeugt, daß niemand ihm auf die Schliche ge kommen war. Kaum eine halbe Stunde später tauchten zuerst Wortz, dann auch noch Jarsynthia auf. Triumphierend wies Tonkuhn auf den Bach. »Ich habe einen Weg nach draußen gefun den!« sagte er. Jarsynthia – oder das, was sie zum Zweck der Erkundung an diesen Ort geschickt hatte – drehte sich überrascht um. Ehe Tonkuhn noch etwas unternehmen konnte, erhob sich die Liebesmagierin um einige Zentimeter in die Luft und schwebte direkt auf die Lücke zu. »Halt«, rief Tonkuhn, der nur zu gerne das Geheimnis für sich alleine auswerten wollte, aber es war bereits zu spät. »Du bist ein Dummkopf«, sagte Wortz ungerührt. Tonkuhn sah den Zwerg ängstlich an. Wenn es überhaupt jemanden gab, den er wirklich fürchtete, dann war es dieser Le bensmagier. Seine Kräfte waren gewaltig, auch wenn Wortz wie ein zerknittertes, altes Männchen aussah, das kaum fähig war, sich ohne fremde Hilfe in den unwirtlichen Ber gen der Randbezirke zu bewegen. »Willst uns einreden, daß nur du nach draußen ge hen kannst – versuchst, die Liebesmagierin und mich zu betrügen!« Tonkuhn zitterte vor Furcht, obwohl Wortz keineswegs wütend aussah. »Laß ihn«, murmelte Jarsynthia, die eben wieder aus der dunklen Wand zum Vor-
Marianne Sydow schein kam. »Immerhin hat er die Lücke ent deckt. Ich denke, wir sollten ihm eine Chan ce geben. Was meinst du, eignet er sich für eine Aufgabe wie diese?« Tonkuhn hatte natürlich keine Ahnung, wovon Jarsynthia überhaupt sprach, aber er war sehr stolz, daß sie wenigstens mit eini ger Freundlichkeit zu ihm herübersah. »Ich werde mir große Mühe geben, um dich nicht zu enttäuschen, Liebesmagierin!« versicherte er hastig. Jarsynthia – oder das Trugbild, hinter dem sie sich verbarg – lachte schallend. »Das wirst du«, murmelte sie dann nach denklich. »Davon bin ich überzeugt. Es wäre auch gar nicht gesund für dich, in diesem Fall zu versagen. Allerdings, wenn Glyndis zorn inzwischen etwas gemerkt hat, wäre es sinnlos, ein solches Risiko einzugehen.« Sie sah Wortz fragend an, und der Le bensmagier neigte den Kopf, als lausche er auf eine ferne Stimme. Tonkuhn war wie er starrt, denn allmählich ging ihm auf, daß Jarsynthia es ernst meinte – wo wollte sie ihn hinschicken? Welche Aufgabe hatte sie ihm zugedacht? Er nahm sich fest vor, sein Bestes zu geben. Er hatte lange genug auf eine Gelegenheit wie diese gewartet. »Glyndiszorn weiß nichts«, stellte Wortz fest. »Und die anderen haben ebenfalls nichts bemerkt. Wir sollten nicht zu lange warten.« Jarsynthia lachte übermütig. »Ist Tonkuhn erst jenseits dieser Wand, dann kann niemand ihn mehr aufhalten«, be hauptete sie. »Nur Glyndiszorn selbst könnte ihm folgen – und er hat gewiß nichts derarti ges im Sinn.« »Hoffentlich merkt Opkul von den Rebel len nichts«, sagte Wortz besorgt. »Dieser Narr steckt seine Nase ja ständig in fremder Leute Angelegenheiten!« »Ich werde mich um ihn kümmern«, ver sprach Jarsynthia. »Im Tal der Nebel findest du ein kleines Geschenk für den Herrn Leondagan, Wortz. Du kennst das Versteck. Holst du das Zeug her?« Wortz verschwand auf der Stelle und
Krieg der Magier kehrte wenige Sekunden später zurück. Er reichte Tonkuhn eine flache Kassette. »Du darfst sie nicht öffnen«, warnte Jar synthia. »Bringe sie nach Wolterhaven, aber sorge dafür, daß keiner von den Dienern den Kasten an sich nimmt. Der Inhalt ist nur für den Quorkmeister von Wolterhaven be stimmt, merke dir das! Fordere dafür einen Zugor mit normaler Ausrüstung. Wenn man dich mit einem anderen Transportmittel ab speisen will, dann sprich dieses Wort aus«, sie reichte Tonkuhn einen winzigen Zettel, »aber hüte dich, die Formel ohne triftigen Grund zu gebrauchen! Es ist eine mächtige Waffe – Koratzo könnte dir mehr davon er zählen.« Tonkuhn zögerte, sagte sich dann aber, daß Jarsynthia jeden schädlichen Einfluß, den selbst das geschriebene Wort auf einen anderen Magier ausüben vermochte, längst neutralisiert haben mußte. »Die Wirkung wird anhalten, bis du die übliche Formel sprichst, mit der so ein Bann sich lösen läßt«, fuhr Jarsynthia fort. »Weißt du, wie du zum Quorkmeister gelangst?« Tonkuhn nickte. Er war schon mehrmals in Wolterhaven gewesen und kannte das Ge heimnis der hohlen Säulen, so daß er zuver sichtlich war, was den ersten Teil seines Auftrags betraf. Er wartete gespannt, daß Jarsynthia ihm den Zweck des Handels mit Leondagan erklärte. »Mit dem Zugor verläßt du Wolterhaven in nördlicher Richtung. Sobald du in der Ferne den Dämmersee auftauchen siehst, biegst du nach Osten ab. Achte darauf, daß du stets nördlich der Straße der Mächtigen bleibst! Sie bietet dir immer noch etwas Schutz vor Entdeckung. Auch mußt du über dem Zentrum von Kalmlech noch einmal nach Norden steuern, dann entlang der Sen ke der verlorenen Seelen nach Osten, bis du den Taamberg vor dir siehst. Auch ihn um fliegst du im Norden, ehe du dich nach Sü den wendest, wo du leicht den Weg zur FE STUNG finden wirst. Aber hüte dich, dem Wachen Auge oder der Stadt Donkmoon zu nahe zu kommen.«
15 »Ich soll in die FESTUNG fliegen?« frag te Tonkuhn atemlos. »Warum nicht? Du brauchst keine Angst zu haben, denn dort herrschen jetzt die Söh ne Odins, und diese Narren …« »Du verwirrst ihn nur«, wurde sie von Wortz unterbrochen. »Die Rebellen aus der Tronxkette haben mit Unterstützung des Weltenmagiers einen bösen Streich ausge heckt. Angeblich haben die Söhne Odins es endlich geschafft, ihren Vater zu beschwö ren und auch körperlich in diese Welt zu rückzuholen. In Wahrheit hat man Odins Tochter zu ihnen geschickt, in einer magi schen Maske. Natürlich haben die drei Brü der keine Chance, dem Schwindel auf die Spur zu kommen, wenn ihnen niemand da bei hilft. Diese Rolle sollst du übernehmen.« Wortz hatte sich reichlich ungenau ausge drückt. Die Idee, Thalia als Odin zu verklei den, stammte von Copasallior, und so drehte sich einiges um, wenn man die Wahrheit kannte. Aber davon wußte Tonkuhn nichts. Er hatte Mühe, den Sinn des Ganzen über haupt zu durchschauen. »Odin ist also in Wirklichkeit Thalia«, murmelte er schwerfällig. »Genau«, antwortete Jarsynthia ungedul dig. »Die Maske hat zwar eine wunde Stelle, aber derjenige, der die Auflösung auch ge gen seinen Willen bewirken könnte, ist ver schollen, und niemand weiß, ob er jemals nach Pthor zurückkehren kann. Auf jeden Fall vergeht bis dahin zu viel Zeit. Der falsche Odin darf die drei Brüder nicht län ger beeinflussen. Also ist es deine Aufgabe, sie auf den Betrug hinzuweisen.« »Sie werden mir kein Wort glauben.« »Das bezweifle ich. Odins Pläne dürften ihnen gewaltig gegen den Strich gehen. Ih rem Vater schulden sie Gehorsam, aber wenn sie eine Chance wittern, sich auf an ständige Weise von diesen Plänen zu distan zieren, dürfte ihnen die Entscheidung nicht schwerfallen. Außerdem hast du alle Vortei le auf deiner Seite. Thalia ist fest davon überzeugt, daß nur der Fremde namens At lan sie demaskieren könnte. Sie wird dir
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leicht in die Falle gehen, wenn du dich nicht allzu ungeschickt anstellst. Was ist, Tonkuhn? Wenn du noch lange zögerst, ist es vielleicht zu spät. Ich würde selbst gehen, aber – nun, man würde meine Abwesenheit sehr schnell bemerken, und was dann ge schieht, dürfte dir klar sein.« Tonkuhn war ein bißchen benommen. Er hatte zwar mit allen möglichen Folgen ge rechnet, als er Jarsynthia benachrichtigte, aber eine Fahrt in die FESTUNG, noch dazu unter diesen Umständen … Er gab sich einen Ruck und schloß beide Hände um die Kassette, die für den Quork meister von Wolterhaven bestimmt war. »Ich mache mich sofort auf den Weg«, versprach er und wandte sich entschlossen der grauen Wand des Großen Knotens zu.
3. Während Tonkuhn über das Treibgut vie ler Welten wanderte, sah sich Thalia erneut gezwungen, ihre Autorität als Odin auszu spielen, denn die drei Brüder waren noch längst nicht bereit, ihre eigenen Pläne so ein fach fallenzulassen. Die Kelotten waren be reits auf dem Rückweg, und wenn sie sich an die Befehle hielten, würde es keine neuen Dellos mehr geben. Aber inzwischen hatte sich eine andere Bevölkerungsgruppe Pthors in der FESTUNG gemeldet, und diese We sen hatten so ernsthafte Beschwerden vorzu tragen, daß man nicht darüber hinweggehen konnte. Die Abordnung kam aus Panyxan, der Stadt der Guurpel. Die Guurpel waren – wie so viele andere Intelligenzen – irgendwann in dieses Land geholt worden. Sie waren nicht besonders nützlich, aber die früheren Herren der FE STUNG hatten zuweilen Vergnügen daran gefunden, bizarre Intelligenzen in ihrem Reich anzusiedeln. Panyxan kennzeichnete das südliche Ende der Bucht der Zwillinge. Der Name war ein wenig irreführend, denn die Bezeichnung »Bucht« beinhaltet schließ lich die Nähe von Wasser. War Pthor jedoch
zwischen den Dimensionen auf großer Fahrt, dann wurde das Land trocken, und die Guur pel litten unter der Trockenheit und dem Mangel an frischer Nahrung. Die Guurpel hatten sich dennoch niemals über diese Unbequemlichkeiten beschwert. Erstens hätte ihnen das höchstens noch mehr Ärger eingebracht, zweitens sorgten die Her ren der FESTUNG trotz allem recht gut für ihre Untertanen. Die Reisen dauerten mei stens nicht so lange, daß die Lage für die Guurpel gefährlich wurde, und sobald man auf einem neuen Planeten materialisierte, wurde die Bucht der Zwillinge zu dem, was sie dem Namen nach sein sollte. Nicht im mer gab es dann ein echtes Meer, wie die Guurpel es eigentlich brauchten, und oft leb ten in diesen Gewässern Tiere und Pflanzen, die dem Geschmack der schuppigen Bewoh ner von Panyxan nicht entsprachen, aber we nigstens war Wasser vorhanden – dafür war gesorgt, und die Guurpel waren bescheidene Wesen, die höchstens heimlich über die Her ren der FESTUNG schimpften. Leider war die Landung Pthors diesmal gründlich mißglückt. Die Guurpel hatten zwar gemerkt, daß etwas nicht stimmte, und als das Land sich auf den Planeten Loors herabsenkte, da saßen sie zitternd und za gend in ihren Lehmhütten, fest davon über zeugt, daß sie allesamt vor das Gericht der Ahnen würden treten müssen, aber als es ru higer wurde und nach einer fürchterlichen Nacht ein neuer Morgen anbrach, da liefen sie nach draußen und zum Strand hinunter, und sie konnten es kaum erwarten, endlich wieder in frisches Wasser gleiten zu können und sich von den Wellen wiegen zu lassen – und dann standen sie vor dem knochen trockenen Uferstreifen, der sich im geister haften Nebel des Wölbmantels verlor. Dort gab es kein Meer. Nicht einmal ein paar Pfützen hatten sich gebildet. Solange die Guurpel auch warteten, es änderte sich nichts. Vor Verzweiflung hatten sie die fast ver gessenen Götter ihrer Heimat angerufen. Aber die schienen Panyxan längst verlassen
Krieg der Magier zu haben. Tage und Nächte vergingen, und selbst die optimistischsten Guurpel begannen all mählich an dem guten Willen derer, die die ses Land steuerten, zu zweifeln. Den Herren der FESTUNG trauten sie ohnehin nicht. Nun aber kamen die Dellos angeflogen und verkündeten lautstark, die Söhne Odins hät ten die Herrschaft über Pthor angetreten, und alles würde in Zukunft besser und ange nehmer werden, wenn nur jeder bereit sei, Sigurd, Heimdall und Balduur unverbrüchli che Treue zu schwören. Die Guurpel hatten nichts gegen die Söh ne Odins, im Gegenteil, sie verehrten diese Männer, wie es sich gehörte, aber als immer mehr Tage vergingen und das Fischmehl knapp wurde, als die Guurpel unter der Trockenheit litten, ohne daß jemand auch nur danach fragte, wie ihnen zumute sei – da erwachte die Wut in ihnen. Die Söhne Odins wußten davon nichts. Zwar hatten sie einmal ein paar Leute aus Panyxan holen lassen, weil sie sich von ih nen Hilfe erhofften, als es galt, in den über fluteten Räumen unterhalb der FESTUNG nach einer Steuerzentrale zu suchen, aber seitdem war schon wieder viel Zeit verstri chen, und es schien, als sollten sie auf die sem Planeten bleiben, bis die Guurpel samt und sonders vertrocknet waren, denn eines war den Schuppigen inzwischen auch klar – ehe sie nicht erneut durch die Dimensionen reisten, konnten sie auf keine Änderung der Verhältnisse hoffen. Die Guurpel waren wirklich sehr beschei den. Es mußte ja kein ganzes Meer sein, nicht einmal ein See oder ein Fluß – wenn sie nur Wasser bekamen. Einmal im Lauf ei nes Tages brauchten sie ein Bad, denn ihre Haut wurde rissig in der trockenen Luft, und dann bildeten sich schmerzhafte Entzündun gen. Noch gefährlicher war die schleichende Verhärtung der Kiemen, die unweigerlich zu einem qualvollen Tod führte. So standen sie nun vor der riesigen Pyra mide, zehn Gestalten, die den hartherzigsten Herrscher hätten rühren müssen. Vor weni
17 gen Wochen noch gehörten sie zu den be sten Jägern ihres Volkes – jetzt waren sie so schwach, daß sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. »Gebt uns Wasser, ihr Herren von Pthor!« sagte der Sprecher der Guurpel heiser und warf sich vor »Odin« in den Staub, was ihm einen fürchterlichen Hustenanfall einbrach te. »Unser Volk muß sonst sterben. Haben wir nicht immer treu der FESTUNG ge dient?« Thalia wußte ihre Brüder knapp einen Meter hinter sich. Wenn sie sich jetzt um drehte und auch nur mit einem Blick zu ver stehen gab, daß sie die Meinung der Söhne Odins zum Schicksal der Guurpel zu hören wünschte, würden die drei dann noch ihrem Vater den nötigen Respekt zollen? Was hätte der echte Odin dem Guurpel gesagt? Was konnte man überhaupt tun? Wie sollte man für ausreichend Wasser sor gen, wenn doch jenseits des Wölbmantels ein so trockenes Land begann wie der Konti nent Loorsat? »Wir werden euch helfen«, versprach Thalia schließlich. Sie winkte einen Techno heran. »Bringe diese Leute gut unter«, befahl sie. »Sorge dafür, daß sie vor allen Dingen Gele genheit zum Schwimmen und Tauchen be kommen. Melde dich in einer Stunde bei mir, dann werde ich den Guurpeln mitteilen, was zu geschehen hat.« Als sie sich umdrehte und ihre Brüder sah, wußte sie, daß sie einen Fehler gemacht hatte – aber wann? Sie bemühte sich um Fassung. Die magische Maske half ihr dabei. An den Söhnen Odins vorbei schritt sie in die Pyramide hinein. Aus den Augenwinkeln sah sie Kolphyr, der davoneilte, vermutlich, um Razamon zu holen. Sie mußte lächeln. Was konnte der ehemalige Berserker wohl tun, um zwischen »Odin« und dessen eigen sinnigen Söhnen zu vermitteln? »Nun?« fragte sie herausfordernd, als die Kinder Odins unter sich waren. »Mich wundert es nur«, murmelte Heim dall und musterte »Odin« aus halb geschlos
18 senen Augen, »daß du so gut über die Guur pel informiert bist!« Das war es also! Thalia hätte sich ohrfeigen mögen, daß sie nicht selbst daraufgekommen war. Seit wann lebten die Guurpel in Panyxan? Konnte Odin sie noch kennengelernt haben? Was wußte der Vater der drei Männer auf der anderen Seite des Tisches überhaupt über die Verhältnisse in Pthor? Thalia stellte voller Schrecken fest, daß sie sich gar nicht mehr so genau an alles er innern konnte. War wirklich so viel Zeit ver gangen? Oder lag es daran, daß sie sich im Schloß Komyr vor der Wirklichkeit ver steckt hatte? Ihre Brüder warteten auf eine Antwort, und Thalia wußte, daß sie sich keinen zwei ten Fehler erlauben durfte. »Ich weiß so gut wie nichts von den Gu urpeln«, antwortete sie herablassend. »Die Technos nannten sie so.« »Aber …« Balduur stieß Sigurd heimlich an, und Si gurd verstummte. Thalia konnte sich den ken, was ihrem Bruder merkwürdig vorkom men mochte. Sie beschloß, ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen, soweit das jetzt noch möglich war. »Diese Wesen brauchen also Wasser«, murmelte sie mit gespieltem Gleichmut. »So wie sie aussehen, nahm ich an, daß sich das nicht aufs Trinken bezog. Stimmt das?« »Sie sind im Meer zu Hause«, antwortete Heimdall mißmutig. Er starrte Odin düster an. In Gedanken verfluchte Thalia ihn und sein ewiges Mißtrauen. »Aber sie gehorch ten dem Befehl aus der FESTUNG und bau ten sich in Panyxan ihre seltsamen Häuser. Sie brauchen viel Wasser, das stimmt. Ich sehe aber nicht, wie wir ihnen helfen könn ten.« »Panyxan?« fragte Thalia. »Eine kleine Stadt an der Bucht der Zwil linge«, erklärte Sigurd und ließ sich dabei in einen Sessel fallen. Thalia atmete verstohlen auf. Das Schlimmste hatte sie wohl überstanden. Sie
Marianne Sydow nahm sich fest vor, nie wieder so unvorsich tig Kenntnisse über die Völker von Pthor zu zeigen. »Es gibt also nicht viele Guurpel?« verge wisserte sie sich. »Genaue Zahlen kann ich dir nicht nen nen«, gab Heimdall zu, der jetzt wenigstens die rechte Hand vom Griff der Khylda löste. »Sie hatten sicher auch ziemliche Verluste zu erleiden. Die Überschwemmung dürfte ihnen nicht viel ausgemacht haben, aber seit der Landung Pthors auf diesem Planeten ist viel Zeit verstrichen. Du hast ja gesehen, in welchem Zustand sie sind. Dabei haben sie sicher ihre kräftigsten und gesündesten Leu te zu uns geschickt.« Thalia biß sich auf die Zunge, ehe sie den nächsten Fehler begehen konnte. Abgesehen davon, daß ihre Brüder tatsächlich kaum Ge legenheit gehabt hatten, sich mit den Guur peln zu befassen, hatte auch Thalia diese Wassermenschen glatt vergessen. Für sich selbst wollte sie eine so fadenscheinige Ent schuldigung wie das Vorhandensein wichti gerer Probleme erst recht nicht gelten lassen. »Wir könnten sie umsiedeln«, sagte sie. »Aber das bringt diesen Wesen wahrschein lich nicht viel ein. Ich nehme an, daß sie sich auch von Meerestieren ernähren? Das dachte ich mir. Die Gewässer von Pthor sind also kaum geeignet, den Guurpeln eine neue Heimat zu bieten.« »Wir werden irgendwann starten«, misch te Balduur sich ein, »und dann kann Pthor genau wie früher eine Position einnehmen, bei der allen Völkern der gewohnte Lebens raum garantiert ist. Das wird auch den Guur peln mit Sicherheit als die beste Lösung er scheinen.« »Falls sie es dann noch selbst beurteilen können«, meinte Sigurd nüchtern. »Lange halten sie es nicht mehr aus. Und sie erwar ten sicher von uns, daß wir unser Wort hal ten.« Thalia ignorierte die stumme Herausfor derung. Sie wünschte sich, daß es jetzt eine Möglichkeit gäbe, Kontakt zu den Magiern aufzunehmen. Sie hätten helfen können,
Krieg der Magier schnell und vor allen Dingen wirksam, und niemand hätte dann noch Grund gehabt, an Odins Wort zu zweifeln. Vielleicht wußten die Magier sogar schon, worum es ging. Ko ratzo hatte ihr versprochen, daß man Thalia von der Barriere aus beobachten würde. Der Techno trat ins Zimmer. Thalia sah ihn überrascht an. Die Stunde war noch längst nicht verstrichen. »Die Guurpel haben einen See gefunden«, sagte der Techno. Er wandte sich an »Odin«. »Sie erholen sich schnell. Ich habe mit ihnen gesprochen. Der Brunnen in Panyxan gibt genug Wasser. Auch glauben die Guurpel, daß es unter dem Brunnen eine große, mit Wasser gefüllte Grotte gibt. Sie wagen es nur nicht, sich persönlich davon zu überzeu gen. Sie müßten mindestens fünfzig Meter tief klettern, und dazu sind sie selbst dann nicht fähig, wenn sie genug Wasser und Nahrung haben. Der Schacht ist eng, und sie kennen keine andere Lichtquelle als einfa che Fackeln, vielleicht auch Öllampen.« »Aus welcher Stadt kommst du?« fragte Thalia. Sie wußte natürlich, daß sie einen Gordy vor sich hatte, denn sie kannte die Unter schiede in der Kleidung recht genau. »Aus Donkmoon, Herr«, antwortete der Techno bereitwillig. »Das ist doch großartig!« rief Sigurd plötzlich und sprang auf. »In Donkmoon gibt es doch genug Maschinen, mit denen man einen neuen Schacht anlegen könnte! Er müßte breit sein, nicht zu steil, mit Stufen und Lampen – für die Gordys ist das doch ein Kinderspiel!« Er drehte sich nach seinen Brüdern um und verstummte verwirrt, als er deren ab weisende Mienen sah. Verlegen zuckte er die Schultern. »Andererseits«, gab er zu, »werden die Gordys sich nicht darum reißen, irgend et was für die Guurpel zu unternehmen.« »Sie werden für kein Volk einen Finger rühren«, korrigierte Heimdall, der mit den Bewohnern von Donkmoon nur schlechte Erfahrungen gemacht hatte.
19 »Sie werden es sich anders überlegen«, versicherte »Odin« freundlich und wandte sich an den Techno. »Du hast den Brunnen und den engen Schacht sicher nicht ohne Grund erwähnt, oder?« »Sie werden den Guurpeln nicht freiwillig helfen, Herr«, stimmte der Mann aus Donk moon zu. »Aber wenn du ihnen befiehlst, diesen Schacht zu bauen, werden sie sich so fort an die Arbeit machen.« »Dann sorge dafür, daß sie so schnell wie möglich anfangen«, befahl Thalia entschlos sen. »Wer weiß, was der Kerl wirklich bezweckt«, murmelte Heimdall mißtrauisch. »Einem Gordy kann man nicht trauen.« »Odin« stand ärgerlich auf und ging nach draußen. »Die Gordys machen mir noch nicht ein mal die größten Sorgen«, murmelte Balduur und betrachtete seinen Bruder Sigurd. »Sie sind sterblich und relativ unwichtig, und wenn sie plötzlich auf seltsame Gedanken kommen, so ist das nicht schlimm. Aber was werden die Pthorer denken, wenn derart merkwürdige Befehle aus der FESTUNG kommen?« »Vielleicht werden deine Pthorer sogar anfangen, Sympathien für diejenigen zu ent wickeln, die diese merkwürdigen Befehle geben!« sagte Sigurd ärgerlich. Dann ging auch er nach draußen, und seine beiden Brü der sahen sich besorgt an. Sigurd dagegen trat neben seinen angebli chen Vater und betrachtete gedankenverlo ren den Garten der FESTUNG, in dem sich die Blumen und Bäume gerade wieder zu er holen begannen. »Welchen See mag der Techno gemeint haben?« fragte Odin nach einer Weile. Sigurd schritt schweigend voran. Wäh rend Thalia ihm folgte, dachte sie für einen Augenblick daran, daß vielleicht jetzt eine Möglichkeit gegeben war, sich dem Bruder zu erkennen zu geben. Sigurd war aufge schlossener als die beiden anderen. Aber da hatten sie den See schon erreicht. Es war eher ein Zierteich, aber die Guur
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pel stellten keine besonderen Ansprüche. Sie steckten die Köpfe aus dem Wasser. Als sie »Odin« erblickten, der wieder in seiner sil bernen Rüstung steckte, winkten sie und dankten ihm begeistert – offensichtlich hatte der Gordy ihnen bereits mitgeteilt, was man für die Bewohner von Panyxan zu tun ge dachte. »Das ist immerhin ein Anfang«, sagte Thalia nachdenklich. »Ein Anfang für was?« fragte Sigurd. Seine Schwester sah ihn mit Odins Augen verwundert an. »Für ein Leben in Frieden in diesem Land! Durch gegenseitige Hilfe werden Gordys und Guurpel Verständnis füreinan der gewinnen, und so wird es allen anderen Völkern von Pthor auch ergehen. Eines Ta ges wird es dann soweit sein, daß wir dieses Land für friedliche Zwecke einsetzen, wohin wir auch mit ihm geraten, und alle Bewoh ner des Landes werden uns dabei helfen.« Sigurd starrte »Odin« an, dann drehte er sich um und stapfte verbissen quer durch Blumen und Büsche davon. Thalia zuckte die Schultern. Irgendwann würden die drei sich entscheiden müssen – entweder unter stützten sie ›Odins‹ Pläne, oder sie wandten sich gegen ihren Vater. Thalia hoffte, daß es dazu nicht kommen würde, aber sie nahm sich vor, die von den Magiern auf sie über tragenen Kräfte nicht zu verschwenden.
* Razamon hatte Sigurd und Thalia aus der Pyramide kommen sehen. Er wußte bereits, was »Odin« beschlossen hatte – die halbe FESTUNG schwirrte nur so von Gerüchten. Besonders die Dellos waren in helle Aufre gung geraten, soweit es sich bei ihnen nicht um Spezialanfertigungen für bestimmte Ar beiten handelte, und die Kelotten sie deshalb nicht mit der Fähigkeit versehen hatten, ir gendein Gefühl zu empfinden. Die anderen Androiden machten sich bereits Hoffnun gen. Und Razamon sorgte sich deswegen. Er mußte mit Thalia darüber sprechen – sie
durfte keine zu großen Hoffnungen bei die sen Wesen erwecken, ehe nicht die einfach sten Voraussetzungen dafür geschaffen wa ren, daß die hochfliegenden Pläne sich reali sieren ließen. Thalia würde solche Ermahnungen nicht gerne hören. Razamon zweifelte sogar dar an, daß es überhaupt einen Sinn hätte, dar über zu sprechen. Seit sie in der Maske ihres Vaters in die FESTUNG gekommen war, schien sie ihm verändert gegenüber früher. Hatten die Magier sie noch in anderer Weise beeinflußt? Vielleicht wußte sie gar nichts davon. Sie hatte ihm einiges erzählt, von den Leuten, die in der Barriere von Oth lebten. Sie war fest davon überzeugt, daß zumindest die, die sie getroffen hatte, es ehrlich mit ihr mein ten. Aber auch solche Überzeugungen ließen sich manipulieren! Razamon ging um die große Pyramide herum. Manchmal, wenn er die grauen, an vielen Stellen mit dichtem Moos bewachse nen Wände des ehemaligen Raumschiffs sah, versuchte er sich vorzustellen, wie es früher hier ausgesehen und welchen Anblick die Pyramide geboten haben mochte, als sie noch frei landen und starten konnte. Es schien unvorstellbar. Nicht wegen der Größe dieses Gebildes, denn auch in terrani schen Werften wurden längst größere Flug körper hergestellt. Auch nicht wegen der ausgefallenen Form – warum sollte eine Py ramide nicht flugfähig sein, wenn man ihr nur die entsprechend starken Triebwerke gab? Aber dieses Gebilde war uralt. Raza mon wußte, daß rund zehntausend Jahre ver gangen waren, seit man ihn beim letzten Be such Pthors auf der Erde verbannte. Er hatte an einen großen Teil dieser Zeit keine deut liche Erinnerung mehr, und was er hier, in diesem alptraumhaften Land, einst erlebt hatte, war ohnehin aus seinem Gedächtnis gelöscht. Nur eines wußte er mit absoluter Sicher heit – schon damals hatte es die FESTUNG gegeben, und die Herren der FESTUNG,
Krieg der Magier und die Pyramiden wie auch die Herrscher von Pthor waren uralt gewesen. Er fragte sich, wie alt. Und manchmal konnte er sich nicht an die Vorstellung gewöhnen, daß ein paar zusammengewürfelte Leute innerhalb weniger Stunden einen derart alten und aus gefeilten Machtapparat hatten zerstören kön nen. Jedesmal, wenn ihm das einfiel, hatte Razamon die gräßliche Vision einer Faust, die sich auf dieses Land herabsenkte, lautlos und so langsam, daß niemand etwas merkte, ehe das Ende kam. Vielleicht waren die Herren der FE STUNG wirklich geschlagen, ein für alle mal, aber die unbekannten Wesen, in deren Auftrag sie Pthor durch Zeit und Raum ge steuert hatten, lebten sicher noch in der Schwarzen Galaxis, von der Razamon bisher nur den Namen kannte. Er war sich auch nicht sicher, ob er mehr darüber erfahren würde. Aber eine Ahnung sagte ihm, daß diese Auftraggeber sich bald melden wür den. Mit jedem Tag, den Pthor erlebte, stieg die Gefahr. Was ihm daran am meisten zu schaffen machte, war die Tatsache, daß er nur warten konnte. Er wußte nichts über den Zeitpunkt des Angriffs, über die Waffen, die zum Ein satz kommen würden oder die Gegner, die die Waffen bedienten, nicht einmal der Weg war ihm bekannt, auf dem die Gefahr sich näherte. Nach dem Tod der früheren Herren schien es nicht einmal jemanden zu geben, von dem man Auskünfte zu diesen Fragen bekam. Das alles machte Razamon nervös. Er hat te bei seinem langen Aufenthalt auf der Erde gelernt, geduldig abzuwarten, aber der er neute Aufenthalt in diesem Land hatte einen Teil dieser Fähigkeit erlöschen lassen – je denfalls schien es dem Pthorer so. Wenn er an die Zeit auf Terra zurück dachte, so erinnerte er sich eigentlich nur an ein schier unendlich langes Versteckspiel, an ein ständiges Ausweichen, das ihn zur Selbstbeschränkung zwang, manchmal sogar zur Selbstverleugnung. Von dem Augen
21 blick an, in dem er und Atlan die Küste von Pthor erreichten, änderte sich alles. Manch mal waren sie quälend langsam vorange kommen, aber Razamon hatte stets sein Ziel vor sich gesehen und auch – in gewissen Grenzen – gewußt, worauf er sich gefaßt machen mußte, wenn er dieses Ziel erreich te. Jetzt trieb ihn eine innere Unruhe immer öfter durch die Gärten der FESTUNG. Immerhin hatte er jetzt ein Alibi für seine rastlose Suche nach einem Gegenstand, ei nem Zeichen oder einem Ereignis, von dem er nicht einmal ahnte, in welcher Gestalt es ihm begegnete: Er hatte Thalia versprochen, ihr nach Möglichkeit zu helfen. Und viel leicht fand er ja wirklich etwas, was für »Odin« nützlich war. Er hatte die andere Seite der großen Pyra mide erreicht. Nachdenklich blickte er einen Pfad entlang, der zu einem der früheren Bei boote führte. Dort hatte er sich bereits mehr mals gründlich umgesehen. Das hieß aller dings nicht, daß er das Vorhandensein noch unbekannter Räume und Geräte ausschlie ßen durfte. Nicht nur das Innere der Pyrami den bildete ein wahres Labyrinth – unter der Oberfläche setzten sich die Anlagen fort, und Razamon war überzeugt davon, daß Jahre gründlichster Arbeit nicht ausreichten, um dieses Gewirr von Gängen, Kammern, Hallen und Schächten jemals voll zu erfor schen, noch dazu ohne das passende techni sche Gerät. Als er sich am Beginn des Pfades noch einmal umsah, entdeckte er in der schrägen Wand der zentralen Pyramide eine Öffnung. Überrascht blieb er stehen. Hatte er diesen Eingang bis jetzt überse hen, oder war er erst in den letzten Tagen entstanden? Die Räume jedenfalls, die dahinter liegen mochten, kannte er nicht. Er war sicher, daß er vom entgegengesetzten Eingang nicht so tief in die Pyramide vorgedrungen war, daß er die volle Grundfläche des Raumschiffs kannte. Kurz entschlossen kehrte er um. Die Öff
22 nung lag mehrere Meter über dem Boden. Die Wand unterhalb der Schleuse wirkte narbig – auf dem stumpfgrauen Metall hat ten sich kleine, runde Moospolster festge setzt. Manche waren grün, andere bräunlich verfärbt. Als Razamon versuchte, an dieser Wand einen Halt zu finden, berührte er so einen braunen Moosfleck. Das Zeug zerfiel unter seinen Fingern. Das Metall, das darun ter zum Vorschein kam, war auffallend blank. Im übrigen gab es an dieser Wand nichts, was dem Pthorer Halt für Hände und Füße bieten konnte. Er verwarf die Idee, von der anderen Seite der Pyramide oder den nahe gelegenen Ne bengebäuden ein Fahrzeug zu holen. Statt dessen drang er in das Unterholz zwischen den alten Bäumen ein. Nach kurzem Suchen fand er einen Ast, der lang und fest war – er stammte von keinem abgestorbenen Baum, sondern war wahrscheinlich erst durch das von den Magiern erzeugte Gewitter abge brochen, denn die winzigen Blätter an den Enden der Zweige waren noch grün. Razamon lehnte den Ast gegen die Wand und verschob ihn, bis das obere Ende sich in der rätselhaften Öffnung festgehakt hatte. Mißtrauisch sah er sich um, ehe er nach oben kletterte. Er mußte einem eventuellen Beobachter ein ziemlich seltsames Schau spiel bieten, als er wie ein Affe nach oben turnte. Aber falls es dort oben etwas Beson deres gab, so wollte er es mit eigenen Augen gesehen haben, ehe er irgend jemanden dar auf hetzte. Es fiel ihm auf, daß die kleinen grünen Blätter sich verändert hatten, als er das Ende des Astes erreichte und sich in die Kammer schwang. Aber noch schenkte er dieser Be obachtung keine Bedeutung. Die Kammer war leer. Die Wände bestan den aus grauem Metall. Es gab keine Be leuchtungskörper, keinen Bedienungshebel und auch keine Kontrollampen – nicht ein mal die Spur dafür, daß solche Einrichtun gen früher existiert hatten. Ratlos sah Raza mon sich um. Was sollte ein Eingang zu ei nem absolut leeren Raum?
Marianne Sydow Er suchte den Rand der Öffnung ab und stellte fest, daß es ein richtiges Schott gab. Also handelte es sich wirklich nicht um einen toten Raum, der zufällig sichtbar ge worden war. Systematisch klopfte Razamon die Wände ab. Zuerst blieb auch das ohne Ergebnis. Der Pthorer wurde ärgerlich. Als er die letzte Wand untersucht hatte, trat er wütend mit dem Fuß dagegen – und das schien hier das einzig richtige Kommunikationsmittel zu sein. Jedenfalls öffnete sich vor dem Pthorer lautlos ein weiteres Schott, und dahinter lag ein kurzer, finsterer Gang. Mißtrauisch spähte Razamon in die Dun kelheit. Er tastete die Wände des Ganges ab, soweit er sie erreichen konnte, fand aber auch auf der anderen Seite des Schottes kei ne Schalter oder ähnliche Elemente. Dafür erklang plötzlich ein seltsames, helles Zwit schern. »Kolphyr?« rief Razamon leise, obwohl er sich sagte, daß der Bera unmöglich rein zufällig ausgerechnet an diesem Ort aufge taucht sein konnte. Es blieb ein paar Sekunden still, dann hör te Razamon das Tappen von Schritten. Der Geruch nach Zimt stieg ihm in die Nase. Im Gang wurde es hell. Kolphyr hatte eine Sei tentür geöffnet und sah erstaunt um die Ecke. »Was machst du denn hier?« fragte er mit seiner eigenartig hellen Stimme. »Dasselbe könnte ich dich fragen«, brummte Razamon und wagte sich endlich in den Gang hinein. Kolphyr wich einen Schritt zurück. An ihm vorbei gelangte der Pthorer in einen ziemlich großen Raum, in dessen Mitte Razamon eine schwach leuch tende Kugel erkannte. Kolphyr hielt eine Lampe in der Hand, mit der er jetzt in den Raum hineinleuchtete. »Die Söhne Odins scheinen mir einige ge fährliche Gedanken zu hegen«, begann der Bera, und Razamon lächelte flüchtig. Kol phyr schwankte anscheinend ständig zwi schen allen möglichen Extremen. Immer noch kam es vor, daß er in ein grauenhaftes
Krieg der Magier Kauderwelsch verfiel, als hätte er gerade erst ein paar Brocken Pthora gelernt. Bei an deren Gelegenheiten verstieg er sich zu sorgsam gedrechselten Redewendungen, als übe er sich bereits für Verhandlungen mit den traditionsbewußten Gordys aus Donk moon. »Es schien mir ratsam, nach einem Versteck für unsere maskierte Freundin zu suchen.« »Wie ernst ist die Sache?« fragte Raza mon ungeduldig. Der Bera zuckte in einer menschlich an mutenden Weise die Schultern. Das Licht der Lampe brach sich an seinem schimmernden Velst-Schleier. Razamon beobachtete fasziniert das verwirrende Spiel winziger Lichtpunkte über Kolphyrs grüner Haut. »Sie mögen Odins Pläne nicht«, erklärte Kolphyr nüchtern. »Das ist eigentlich alles. Aber Heimdall äußerte immerhin schon den Verdacht, daß diese Pläne nicht zum Wesen seines Vaters paßten. Und Balduur findet es verdächtig, daß Fenrir diesen Odin nicht ausstehen kann.« »Haben sie Thalia erwähnt?« »Nein. Ich glaube, sie denken eher an die Möglichkeit, daß ihr Vater bei seiner Rück kehr einem feindlichen Einfluß unterlag.« Razamon nickte nachdenklich. Er hatte et was Ähnliches erwartet. Sie konnten sich von ihren bisherigen Vorstellungen nicht so schnell und einfach lösen. Es lag in ihrer Mentalität, nach Fehlern grundsätzlich nicht bei sich selbst zu suchen. Als sie feststellten, daß die Beschwörung ihres Vaters nicht ge lang, schoben sie Thalia die Schuld daran in die Schuhe. Jetzt, da sie meinten, Odins Bot schaft wirklich zu hören und sie unbequem fanden, suchten sie nach der nächstbesten Ausrede, um dem herbeizitierten Vater die Worte im Mund zu verdrehen. Sie würden nicht davor zurückschrecken, Odin notfalls sogar für geistesgestört zu erklären. Es war höchste Zeit, daß Thalia etwas tat, womit sie »ihre« Identität eindeutig unter Beweis stell te. »Was ist das für eine Kugel?« fragte er. »Keine Ahnung. Ich suchte nach einem
23 Gang, der tiefer in die Pyramide führt und den dreien vielleicht noch unbekannt ist – für den Fall, daß Thalia schnell fliehen muß und keine Zeit mehr hat, draußen nach ei nem Flugzeug zu suchen. Ich dachte, es wä re am besten, sie hier zu verstecken, denn in der Pyramide wird man sie nicht so schnell suchen. Ich fand auch einen Gang, aber der führte direkt in diesen Raum. Wie geht es da drüben weiter?« »Es ist nur ein kurzes Stück«, murmelte Razamon und ging auf die Kugel zu. »Als Fluchtweg kaum geeignet, denn der Aus gang läßt sich schwer tarnen. Jeder Dello käme auf Anhieb auf die Idee, hinter die Py ramide zu schauen.« »Du gönnst mir nur den Erfolg nicht«, quietschte der Bera beleidigt. »Warum hast du dich in dieser Gegend umgesehen?« Razamon antwortete nicht. Er konnte es nicht. Für einen Augenblick war er wie er starrt, und erschrocken dachte er an eine Fal le, in die er vertrauensselig hineingetappt war. Dann wurde er sich des seltsamen Sum mens bewußt, das seinen ganzen Körper durchdrang. Er hatte das Gefühl, bis zum Kinn in zähem Sirup zu stecken. Dennoch gelang es ihm, sich zu bewegen. Im näch sten Moment war er frei. Er taumelte vor Überraschung. »Was ist?« fragte Kolphyr besorgt. Raza mon musterte die Kugel mißtrauisch. »Ich weiß nicht«, murmelte er. »Spürst du nichts? Ein Summen, und so etwas wie eine unsichtbare Fessel?« »Nein«, antwortete der Bera knapp. Razamon ließ sich die Lampe geben und leuchtete damit die Kugel ab. Aber das Licht brach sich an dem glasartigen Material aus dem das Gebilde bestand, so daß eher weni ger zu erkennen war. Enttäuscht senkte der Pthorer den Lichtkegel – da sah er an dem dünnen Sockel, auf dem die Kugel ruhte, ein glänzendes Plättchen. Er glaubte, Schriftzei chen darauf zu erkennen, konnte sie aber nicht deutlich entziffern. Schließlich vergaß er in seiner Ungeduld, was ihm vorher wi derfahren war, und er trat einen Schritt näher
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heran. Erst als er das Wort auf dem Plättchen le sen konnte, merkte er, daß er die kritische Entfernung unterschritten hatte, ohne daß er etwas von einer Lähmung merkte. Nur das Summen hörte er deutlich. Es schien direkt aus der Kugel zu kommen. Es klang bösar tig. Jetzt konnte er sogar sehen, was sich in der Kugel befand, aber er vermochte mit dem, was er sah, nichts anzufangen. Da drinnen liefen zahllose Linien durch einander, manche waren farbig, andere schienen von dünnen Drähten gebildet zu werden, wieder andere bestanden nur in Form hauchfeiner Lichtstrahlen. Razamon erkannte allerlei geometrische Figuren, aber er wußte nicht, wieweit diese wirklich be standen oder nur als optische Täuschung ge wertet werden konnten. Sobald er direkt in die Kugel hineinsah, erfaßte ihn ein starkes Schwindelgefühl, denn da drinnen schienen alle Entfernungen zu verschwimmen. »Was heißt das, was auf dem Sockel steht?« fragte Kolphyr schrill. Razamon zuckte zusammen. Er hatte über dem Anblick der Kugel den Bera fast ver gessen. »VONTHARA!« murmelte er, und seine Gedanken überschlugen sich. »Das Ding ist ein Wächter.«
4. Tonkuhn hatte keine Schwierigkeiten, die Stadt Wolterhaven zu finden. Sie ragte auf ihren stählernen Stelzen wie ein abstraktes Kunstwerk aus dem morastigen Boden auf. Der Wassermagier hielt ärgerlich nach ei nem Robotdiener Ausschau, der ihn für den Rest des Weges mitnahm – die Robotbürger von Wolterhaven schickten ihre Arbeiter oft wegen aller möglichen Arbeiten in die Um gebung der Stadt. Aber es war bemerkenswert ruhig in Wol terhaven. Vielleicht hing das mit dem Fall der FESTUNG zusammen. Tonkuhn stellte sich vor, wie plötzlich die üblichen Befehle ausblieben und die Robotbürger dadurch zur
Untätigkeit und Langeweile verurteilt wa ren. Er lachte über sich selbst. Besonders der Herr Leondagan würde die Zeit gewissen haft nutzen, um in den Lagern des Quork meisters neue Schätze anzuhäufen. Der Ge danke ermutigte Tonkuhn, denn unter diesen Umständen mußte es leicht sein, mit den Ro botbürgern ins Geschäft zu kommen. Er stapfte durch schwarzen Morast an die metallenen Stelzen der Stadt und überlegte, wo er am besten anfangen sollte, denn er mußte sich über verschiedene Ebenen bis zu Leondagans Kuppel vorarbeiten. Tonkuhn war sich eines gewissen Risikos durchaus bewußt. Die Robotbürger und alle ihre Un tertanen gehorchten einem obskuren Gesetz der Vollkommenheit, in dem es keinen Platz für organische Gebilde gab. Man brauchte nur einen Blick auf Wolterhaven zu werfen – die Stadt war kahl und blank, keine Pflan ze wuchs auf den Plattformen, und selbst der sumpfige Boden zwischen den metallenen Stützpfeilern zeigte keine Spuren von Le ben. Tonkuhn wußte, daß es sehr weit oben, fast außer Reichweite für jeden gewöhnli chen Besucher, der jemals diese Stadt betrat, einen Park gegeben hatte, der Göttin Gino ver geweiht, und es hieß sogar, daß Ginover selbst sich lange Zeit in Wolterhaven aufge halten hatte. Aber Tonkuhn wußte so gut wie nichts von dieser Göttin, und im übrigen war sie wohl nur eine rühmliche Ausnahme, auf das Verhalten der Robotbürger gegen über Gästen aller Art bezogen. Der Magier wußte jedenfalls, daß er sehr aufpassen mußte, damit ihn kein würdiger Arbeiter als Störfaktor im Gesetz der Vollkommenheit betrachtete und ihn deshalb umbrachte. Er wanderte ein Stück unter den Plattfor men entlang, hütete sich jedoch, zu tief unter die stählernen Gebilde zu geraten – weiter drinnen gab es auch nicht mehr Transport säulen, nur traf man dort leichter auf Robot diener niederer Klasse, die sich um die Pfle ge der Säulen und die Beseitigung von Ab fällen aller Art kümmerten. Es wurde Abend, und Tonkuhn überlegte bereits, ob es nicht besser war, die Nacht außerhalb von
Krieg der Magier Wolterhaven zu verbringen, denn gegen wil de Tiere glaubte er sich besser schützen zu können als gegen arbeitswütige Maschinen. Er trat leise heran und versuchte, den oberen Ausstieg zu sehen, ohne sich dabei in das Transportfeld zu begeben. Er blickte direkt in blauglitzernde Linsen. »Kommst du herauf, oder willst du nur unter unserer Stadt hindurchmarschieren?« fragte eine schnarrende Stimme. »In wessen Diensten stehst du?« rief Tonkuhn zurück. »In denen des Herrn Leondagan«, klang es von oben reichlich mißtönend herab. »Ach nein!« entfuhr es dem Magier, und unwillkürlich trat er vor. Das Feld erfaßte ihn und riß ihn nach oben, daß Tonkuhn vor Überraschung laut aufschrie und mit den Ar men wedelte. Bis ihm der Robotdiener ein fiel, der das Schauspiel interessiert verfolg te, hatte er sein Ziel schon fast erreicht, den noch wäre er glatt am Ziel vorbeigeschos sen, wenn ihn der Roboter nicht am Kragen seiner Jacke aus der Säule gefischt hätte. »Nachdem du nun weißt, wem ich diene«, sagte die Maschine, »solltest du mir auch verraten, wem dein Besuch gilt.« »Wie der Zufall es fügt«, murmelte Tonkuhn schicksalsergeben und brachte sei ne verrutschte Kleidung in Ordnung. »Bringe mich zu deinem Herrn. Ich komme aus der Barriere von Oth und habe im Na men der Magier ein Geschäft mit ihm zu be sprechen.« »Das weiß ich«, versicherte der Robotdie ner gleichmütig. »Ich sah dich kommen und habe auf dich gewartet.« »Warum hast du mich nicht abgeholt?« fragte Tonkuhn ärgerlich. Der Robotdiener stampfte auf plumpen Beinen vor ihm her ins Freie. Tonkuhn folg te ihm, und ihm war ziemlich unbehaglich zumute. Vielleicht hätte er doch nicht so voreilig der Stimme des Robotdieners ant worten sollen. Jetzt saß er in der Falle, falls die Maschinen Böses im Schilde führten. Seine bescheidenen magischen Fähigkeiten halfen ihm oben in der Stadt wenig, und um
25 ihn herum gab es so gut wie gar keine nutz baren Energieströme. Zu allem Überfluß wurde es schnell dunkel. Ein paar Beleuch tungskörper erhellten die Ränder der Platt formen. Sonst war es still und finster. Drü ben über dem Blutdschungel tauchten für einen flüchtigen Augenblick in blauem Licht die Umrisse eines großen, geflügelten Tieres auf und verschwammen gleich darauf in den aufsteigenden Nebelschwaden. Aus weiter Ferne hörte man den Schrei eines anderen Tieres, dann vernahm Tonkuhn nur noch die stampfenden Schritte des Robotdieners, den er in der sinkenden Dunkelheit kaum noch zu sehen vermochte. »Wie heißt du?« fragte Tonkuhn, um die unbestimmte Furcht zu bannen, die ihn be schlich. »Liwo«, antwortete der Robotdiener. »Hier ist die nächste Säule. Komm, wir brauchen nicht mehr weit zu gehen.« Tonkuhn tappte unsicher weiter, stieß sich den Schädel an einem metallenen Rahmen und fluchte lautstark. »Kannst du kein Licht machen?« fragte er ärgerlich. »Wozu?« fragte Liwo, und seine Stimme hörte sich an, als machte er sich über den Magier lustig. »Ich brauche keines.« »Aber ich!« protestierte Tonkuhn. »Warum sagst du das nicht gleich?« erkun digte sich der Roboter. Eine kleine Lampe flammte auf – sie saß genau da, wo bei einem organischen Wesen der Bauchnabel hätte sitzen müssen –, und in ihrem rötlichen Licht erkannte Tonkuhn direkt vor seinen Füßen einen finsteren Ab grund. Seine leicht überreizten Nerven woll ten ihm vorgaukeln, daß der Roboter drauf und dran sei, ihn, den Magier in Jarsynthias Auftrag, meuchlings zu ermorden. Er sprang zur Seite, geriet dennoch mit den Füßen in das Feld und stieg kopfunter in die Höhe. »Ihr Hüter der Vollkommenheit!« mur melte Liwo, während er an Tonkuhn vorbei stieg und den Magier bei den Füßen nach draußen beförderte. »Schließt eure Augen und Ohren angesichts solcher Verwirrung.
26 Welchem Umstand mögen es die Bewohner von Oth verdanken, daß man sie weithin fürchtet? Sie sind doch kaum lebensfähig, diese Trottel.« »Schweige, du unverschämtes Blechei!« fauchte Tonkuhn, sobald er festen Boden unter den Füßen spürte. »Ich könnte sonst die Mächte der Magie zu Hilfe rufen!« »Nur zu«, entgegnete Liwo ungerührt. »Ich bin gespannt darauf, ob sie vernünftiger sind als du.« Tonkuhn preßte die Kassette an sich und sah sich nach der Fortsetzung des Weges um. Er hatte keine Ahnung, was für eine Art Robotdiener er vor sich hatte, aber eines schien ihm klar: Dieses Wesen hatte vor den Magiern keinen Respekt. »Ich habe es eilig«, sagte Tonkuhn schließlich. »Zeige mir endlich den Weg zu Leondagan.« »Es ist schon dunkel«, gab Liwo zu be denken. »Du solltest bis zum Morgen war ten.« »Willst du mir einreden, es gäbe für dei nen Herrn einen Unterschied zwischen Tag und Nacht? So dumm bin ich nicht!« »Ein Quorkmeister hat viele Aufgaben zu erfüllen«, erklärte Liwo nüchtern. »Im Au genblick ist er beschäftigt, und es könnte sein, daß er deinen Wünschen nicht die volle Aufmerksamkeit entgegenbringt. Siehst du, für den Herrn Leondagan ist es tatsächlich unwichtig, ob es hell oder dunkel ist, aber du zumindest bist ein organisches Wesen und kennst die Müdigkeit. Bis mein Herr mit sei ner jetzigen Arbeit fertig ist, würde dich die Müdigkeit längst überwältigen. Also sei ver nünftig und ruhe dich aus. Morgen früh brin ge ich dich zu Leondagan!« »Nein!« »Warum nicht?« »Ich habe es eilig. Ich muß weiterreisen.« »Im Traum? Oder hast du die Absicht, je manden das Gehen für dich erledigen zu las sen?« »Leondagan wird mir einen Zugor ver kaufen!« verkündete Tonkuhn eine Spur zu selbstsicher.
Marianne Sydow »Dann hast du ihm sicher etwas sehr Wertvolles zu bieten«, stellte Liwo fest. Sei ne blaue Sehzelle glitzerte. Tonkuhn er schrak, denn es schien, als hätte er dem Ro botdiener jetzt erst recht einen Grund ver schafft, den Magier vom Quorkmeister fern zuhalten. »Gib es mir!« forderte Liwo denn auch und streckte eine Greifklaue aus. »Nein!« quetschte Tonkuhn hervor und preßte die Kassette noch fester an sich. »Ich bekomme es ja doch«, machte Liwo ihn auf seine Position aufmerksam. »Ich bin Leondagans würdiger Arbeiter. Alle Schätze werden durch mich in das Depot gebracht.« Tonkuhn hielt das für kein abschließendes Argument. Es war schon ein Unterschied, ob zuerst Leondagan und dann Liwo den Inhalt der Kassette begutachtete, oder ob die Rei henfolge umgekehrt wurde. »Dann eben nicht.« Bevor Tonkuhn den Sinn dieser Bemer kung durchschauen konnte, gab Liwo ein trockenes Knacken von sich, und dem Ma gier kam es vor, als hätte ein Hammer sei nen Hinterkopf getroffen. Er brach in die Knie, krümmte sich und streckte sich seuf zend auf dem kalten Metall der Plattform aus. »Freiwillig wäre es leichter gewesen«, be merkte Liwo über seinem Kopf und wand die Kassette aus den kraftlosen Händen des Magiers. »Für dich, jedenfalls!« Tonkuhn verlor die Maschine aus den Au gen, und auch das Stampfen der Schritte hörte irgendwann auf. Betäubt lag er im Dunkeln. Er zerbrach sich vergeblich den Kopf darüber, was in den Robotdiener ge fahren sein mochte. Warum tat er so etwas? Er konnte sich doch keinen Vorteil aus so ei nem feigen Raub versprechen! Wenn der Herr Leondagan seinem Diener auf die Sch liche kam, würde er seinem würdigen Arbei ter das elektronische Leben ganz schön sau er machen … Tonkuhn konnte nicht wissen, daß die mächtigsten Robotbürger höchstpersönlich ihre Diener zu derart eigenmächtigen Hand
Krieg der Magier lungen berufen hatten. Seit dem Überfall der Händler wurden Waren, die nach Wolterha ven gelangten, noch genauer überprüft. Zwar schien es keinen großen Unterschied auszumachen, denn auch die Illusionssteine waren von einem würdigen Arbeiter begut achtet worden, und er hatte leider überhaupt nichts gemerkt, aber die Überprüfung war auch nur ein kleiner Teil neuerdachter Si cherheitsmaßnahmen. Liwo hatte dennoch nicht ganz legale Ab sichten. Die Verhältnisse änderten sich. Auf Pthor gab es neue Herrscher, und es schien, als sollte sich das auch auf Wolterhaven aus wirken. Jedenfalls entnahm Liwo verschie denen Anzeichen, daß man in naher Zukunft weniger würdige Arbeiter brauchen würde. Einem Robotdiener hatte so etwas egal zu sein, aber Liwo empfand trotzdem tiefen Abscheu bei dem Gedanken, von der zwangsläufigen Rückstufung erfaßt zu wer den. Er war darauf aus, gewisse Verdienste zu erwerben, mit denen sich seine Position festigen ließ. So zog er sich mit der Kassette an einen geschützten Ort zurück und überzeugte sich davon, daß niemand ihn beobachtete. Natür lich konnte der Herr Leondagan jederzeit überprüfen, wo sein Arbeiter sich gerade herumtrieb, aber darüber machte Liwo sich keine Sorgen. Dem Quorkmeister konnte es nur recht sein, wenn diese verdächtige Kas sette ihren Inhalt außerhalb der Kuppel eines Bürgers offenbaren mußte. Liwo registrierte, daß der Magier sich stöhnend zu regen begann, als er selbst gera de die Verschlüsse der Kassette durchschaut hatte. Ziemlich hastig setzte der Robotdiener seine Klauen an, aber der Behälter rutschte immer wieder zurück. Liwo wurde ungedul dig. Er erkannte, daß es mit dieser Kassette eine höchst seltsame Bewandtnis hatte, und seine Entschlossenheit, das Rätsel im Allein gang zu lösen, stieg nur noch. In einer ge walttätigen Anwandlung, die eines würdigen Arbeiters ganz und gar unwürdig war, klemmte Liwo die Kassette mit den Beinen am Boden fest und riß am Deckel – und im
27 nächsten Augenblick flog der Robotdiener im hohen Bogen, begleitet von einem pfei fenden Geräusch, schräg in die Luft hinauf, über den Rand der Stadt hinweg und hinun ter auf den mit Sumpflöchern durchsetzten Boden nahe dem Rand. Es klatschte gewaltig. Eine Fontäne von Schlamm und Wasser stieg auf. Tonkuhn, der sich gerade wieder aufgerichtet hatte, starrte benommen in die Tiefe, dann fiel ihm ein, daß seine wertvolle Kassette irgend et was mit dem Unglück zu tun hatte, und kalte Furcht ergriff ihn. Er wußte genau, was damals in Wolterha ven geschehen war, und ihm war es auch nicht verborgen geblieben, daß Jarsynthia den Orceyanern bei der Beschaffung der Il lusionssteine mehr als nur behilflich gewe sen war. Wenn das hier wieder eine Falle für die Robotbürger war, von der er, Tonkuhn, nur nichts gewußt hatte … Er rannte dahin, wo Liwo mit der Ge schwindigkeit eines Geschosses aus der Dunkelheit aufgestiegen war. Er fand auf Anhieb eine Tür, die jetzt offenstand, und aus einem ihm unbekannten Grund machte ihm auch die Finsternis nichts mehr aus – dort stand die Kassette, mit geöffnetem Deckel, und etwas, das an eine überdimen sionale Spiralfeder erinnerte, ragte schwan kend aus dem Behälter. Tonkuhn klammerte sich am Türrahmen fest, weil er das Gefühl hatte, der Boden unter seinen Füßen gerate in schlingernde Bewegung. Dann bückte er sich und tippte das metallene Gebilde an. Es bog sich unter der leichten Berührung, wieg te sich quietschend in der Luft, schrumpfte dabei und kroch – Tonkuhn sah es mit Stau nen – ganz von selbst in die Kassette zurück. Als die Feder verschwand, hechtete Tonkuhn vorwärts, warf den Deckel zu und sank keuchend über der jetzt ganz harmlos wirkenden Kassette zusammen. Ein tropfendes Geräusch näherte sich der offenen Tür. »Wo steckt das Ding?« fragte Liwo, und seine Stimme hörte sich rostig an.
28 Tonkuhn sah auf. Er hatte Mühe, sich das Lachen zu verbeißen, obwohl seine Lage durchaus nicht erfreulich war. »Wovon sprichst du?« fragte er zurück. Der Robotdiener schob sich stumm ein paar Meter näher heran. Er sah ziemlich mit genommen aus. Seine Lampe baumelte nur an einem dünnen Draht außerhalb des metal lenen Körpers hin und her, und auch die Sehzelle hatte gelitten. Ein Greifarm war verbogen, ein anderer am vorher spitzen En de abgeflacht und zusammengestaucht. Schlamm bedeckte den eiförmigen Körper, und kleine Pfützen bildeten sich bei jedem Schritt unter Liwos Füßen. Die Kassette schlenkerte vom vorletzten Gelenk an haltlos hin und her. »Gib sie mir. Sofort!« »Was willst du damit?« fragte Tonkuhn, der einsah, wie sinnlos es war, die Existenz der verhängnisvolle Kassette leugnen zu wollen. Mit entsprechender Raffinesse brachte man jedes organische Wesen dazu, einen Vorgang nachträglich für eine Sinnes täuschung zu halten – bei einem Robotdie ner erübrigten sich derartige Scherze. »Ich werde das Ding beseitigen«, versi cherte Liwo und fuchtelte mit dem lädierten Greifarm durch die Luft, daß Tonkuhn fürchtete, aus purem Zufall erschlagen zu werden. »Es ist gefährlich.« »Ach nein«, machte Tonkuhn und richtete sich langsam auf, hielt aber die Kassette hin ter seinem Rücken verborgen. »Du hast doch den Behälter nicht etwa geöffnet? Du weißt, daß der Inhalt nur für den Herrn Leondagan bestimmt war!« Liwo geriet ins Schwanken – buchstäb lich, denn der nach unten sickernde Schlamm setzte sich in den Gelenken ab. Er erkannte wohl auch, daß er in der Klemme saß. Ganz so gründlich hatte auch der Herr Leondagan die Anordnung mit der Untersu chung aller Waren nicht gemeint. Wenn Liwo die gemeingefährliche Kassette zurück hielt, mußte er zugeben, daß er sie geöffnet hatte. Ließ er Tonkuhn aber in die Kuppel des Quorkmeisters und die heimtückische
Marianne Sydow Waffe wurde dort ausgelöst – dem würdigen Arbeiter erhitzten sich mindestens zwei Dut zend Drähte, weil die Gedankenströme in wirren Kreisen durcheinanderrasten. Und die ganze Zeit über starrte der Magier den Diener an und gab Liwo durch sein Verhal ten zu verstehen, daß er das Problem lösen mußte, so oder so. »Komm!« krächzte der Robotdiener end lich. Tonkuhn stellte beunruhigt fest, daß sein Begleiter Gleichgewichtsstörungen hatte. Liwo kam nicht mehr auf geradem Wege vor an. Statt dessen schraubte er sich in wackeli gen Spiralen quer über die Plattform bis zu einem spindeldürren Steg. Dort hielt er an, so abrupt, als sei er gegen eine Mauer ge rannt. »Halt!« dröhnte die – für Tonkuhn lautlo se – Stimme seines Herrn durch Liwos Be wußtsein. »Du wirst dich einer gründlichen Reinigung unterziehen, Liwo! Der Magier mag herkommen – dachtest du, ich hätte das Geheimnis der Kassette nicht längst durch schaut?« Liwo fand zwar, daß der Herr Leondagan sich ungewöhnlich ausdrückte, aber seine Erleichterung darüber, daß ihm das Problem abgenommen war, hielt ihn davon ab, auf dringliche Fragen zu stellen. Liwo schaltete den Rückwärtsgang ein und schoß geradezu fröhlich von dannen. Sein Gleichgewichts sinn funktionierte wieder. Tonkuhn sah es mit Staunen. Der Magier war einigermaßen ratlos, aber er schritt vorsichtig auf den Steg hinüber, und als er drüben ankam, öffnete sich eine Tür, und er sah direkt in die Kuppel des Quorkmeisters hinein. Der Anblick der stil len Kugeln, aus denen der Bürger Leonda gan bestand, beruhigte Tonkuhn. Er trat nä her und entdeckte einen Gegenstand, der ei nem Sessel nicht unähnlich war. Tonkuhn war müde, und die Füße taten ihm weh. Aber als er sich in den vermeintlichen Sessel sinken lassen wollte, stieß das Ding einen entsetzten Quietscher aus und floh seitwärts. Tonkuhn sah sich verwirrt um.
Krieg der Magier »Was bringst du?« fragte eine Stimme, die vermutlich Leondagan gehörte, denn es war kein Robotdiener in Sicht – bis auf das sesselförmige Gebilde, das auf der anderen Seite der Kuppel in Deckung ging. »Eine Kassette«, antwortete Tonkuhn un sicher. »Die Liebesmagierin Jarsynthia schickt sie dir. Sie bittet dich, mir dafür einen Zugor zur Verfügung zu stellen. Das Fahrzeug soll gut ausgestattet sein. Ich habe eine lange Reise vor mir.« »So«, sagte Leondagan, und es hörte sich spöttisch an. »Die Kassette kenne ich schon – dank der Tölpelhaftigkeit eines Dieners, der sich bis jetzt als würdig bezeichnen durf te.« Tonkuhn spürte plötzlich beinahe so et was wie Mitleid mit der Maschine da drau ßen. Er sah sich nach dem wildgewordenen Sessel um, aber der war inzwischen spurlos verschwunden. Irgendwie kam ihm das ver dächtig vor, aber ehe er eine Frage stellen konnte, meldete sich Leondagan wieder. »Lege die Kassette auf das blaue Pult hin ter dir«, befahl er dem Magier. Tonkuhn sah abwechselnd die Kassette und das bezeichnete Pult an. Sollte er sich so leichtfertig von diesem Gegenstand trennen – dem einzigen, der hier draußen von Wert für ihn war? Aber was immer auch in der Kassette zu finden war, Jarsynthia hatte of fenbar gründlich dafür gesorgt, daß es nur dem von ihr bestimmten Empfänger erreich bar blieb. Also trennte der Magier sich wi derstrebend von dem Behälter. Leondagan gab durch nichts zu erkennen, ob er zufrie den war, und für Tonkuhn sah es so aus, als kümmere der Quorkmeister sich gar nicht um die Kassette, denn das Ding lag still und stumm auf dem Pult, und nicht einmal das Licht in der blauen Platte veränderte sich. »Du sollst den Zugor erhalten«, sagte Leondagan dann plötzlich. »Das Fahrzeug wartet auf der unteren Plattform auf dich, da, wo du Liwo zuerst getroffen hast.« »Wie soll ich den Weg finden?«
»Das ist deine Sache.«
29 »He!« rief Tonkuhn empört. »Ich habe keine Lust, die halbe Nacht umherzuirren und schließlich deinen Dienern unangenehm aufzufallen! So war das Geschäft nicht ge dacht!« Und er streckte die Hand aus, um die Kas sette an sich zu nehmen. Ratsch, war der Behälter hinter einer schnell zuschnappenden Platte verschwun den. Tonkuhn erstarrte und hob ganz lang sam die rechte Hand. Am Daumen und dem darunterliegenden Ballen fehlte eine kaum millimeterdicke Hautschicht. Hätte er schon fester zugegriffen gehabt, so wäre er jetzt wahrscheinlich amputiert. Zorn und Furcht kämpften in seinem Inneren, und die letztere Empfindung trug den Sieg davon – Tonkuhn war noch nie besonders mutig gewesen, und abgesehen davon brauchte er seine Hände noch sehr dringend. Wer aber so leichtfertig Finger abzuschneiden versuchte, schreckte bestimmt auch vor dem Kopf eines Opfers nicht zurück. Tonkuhn rannte aus der Kuppel, über den Steg und bis zu einer Säule, und erst als er sich schon wieder den Kopf stieß, bemerkte er, daß der Einstieg sich geschlossen hatte. Mühsam rief er sich seine Informationen ins Gedächtnis. »Broaigh!« stotterte er atemlos. Die Säule rührte sich nicht. Dafür senkte sich ein schwarzer Schatten auf den Magier herab. »Du hast dich verirrt.« Tonkuhn erschrak heftig, denn er glaubte, Liwo sei zurückgekehrt. Aber als er aufsah, zeichnete sich gegen den etwas helleren Himmel ein ganz anders gestalteter Roboter ab. »Du störst unsere Ordnung, Magier«, fuhr die Maschine fort und senkte sich summend noch tiefer herab. Tonkuhn ahnte Füchterli ches und wich zurück. Seine Hände zitter ten, und der kalte Schweiß lief ihm über den Rücken. »Es ist besser, wenn du die Stadt verläßt, ehe man dich entfernt.« »Aber …« Der fremde Robotdiener ließ Tonkuhn
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Marianne Sydow
kaum zu Wort kommen. Er erwischte den Magier mit einem stählernen Arm, und Tonkuhn fühlte sich schon wieder am Jackenkragen in die Höhe gehievt. Er stram pelte wild mit den Beinen, dachte er doch, daß man ihn jetzt zu den organischen »Abfällen« transportierte, aber im nächsten Augenblick stauchte der Robotdiener seine Beute auf den Boden, und Tonkuhn spürte unter den Händen ein Material, das sich wär mer anfühlte als der Stahl der Plattformen. »Gute Reise!« wünschte der Robotdiener und entfernte sich. »Danke«, murmelte Tonkuhn automa tisch, dann taumelte er auf die Füße, rieb sich den schmerzenden Hals und stolperte über den Instrumentensockel. Da erst begriff er, daß er bereits in seinem Zugor stand. Hastig setzte er das Fahrzeug in Gang. Zuerst achtete er gar nicht darauf, in welche Richtung er flog, wenn er nur schnell aus der Nähe dieser verdammten Stadt kam! Als er endlich einen Blick nach unten warf, sah er die Straße der Mächtigen mattsilbern im Sternenlicht glänzen. Erschrocken korrigier te Tonkuhn den Kurs. Er hoffte, daß Jarsyn thia nichts gemerkt hatte. Er gönnte Wolterhaven keinen Blick mehr. Was immer auch geschah – er war fest entschlossen, auf dem Rückflug einen anderen Weg zu wählen.
* Fast genau zu dem Zeitpunkt, als Tonkuhn über dem Blutdschungel Kurs auf den Dämmersee nahm, entdeckte Jarsynthia höchstpersönlich eine neue Lücke in der bis dahin so undurchdringlich wirkenden Wand des Großen Knotens. Ihre Ungeduld hatte sie nicht ruhen lassen. Unentwegt hatte sie die Grenzen der Barriere abgetastet und so gar ihre eigene Sicherheit vernachlässigt. Jetzt war sie sicher, daß das Risiko sich ge lohnt hatte. Triumphierend manifestierte sie sich außerhalb der Barriere, blickte an der geisterhaften Wand hinauf und lachte spöt tisch. Dann lauschte sie in die Weite, und sie
spürte das pulsierende Leben dieses Landes, die Vielfalt der Wesen, die in Pthor lebten, und sie badete förmlich im Gefühl der Macht, die sie jetzt zurückerhielt. Sie brauchte nur spielerisch hinauszugreifen, und schon hing ein neues Leben an ihren Fängen. Das war Macht. Das war Leben über haupt. Was hatte es für einen Sinn, jenseits dieser Grenzen die magischen Kräfte zu konservieren! Voller Spott dachte Jarsynthia an Copa sallior, den Weltenmagier, der zu oft für ihr Gefühl die Grenzen neutralen Verhaltens vergessen hatte. Es war höchste Zeit, daß Glyndiszorns Knoten zerbrach. Jarsynthia ahnte, daß große Veränderungen bevorstan den. Sie war sehr zuversichtlich, was ihre ei gene Rolle in dieser Zukunft betraf. Wenn die Magier erst wieder diese Freiheit spür ten, würden sie feststellen, daß Copasallior einen großen Fehler begangen hatte. Überhaupt, Copasallior wurde anschei nend – der Unsterblichkeit zum Trotz – alt und vergeßlich. Oder hatte Koratzo den Weltenmagier auf seine heimtückische Wei se gefangengenommen? Es spielte kaum ei ne Rolle. Für Jarsynthia war es klar, daß ein Weltenmagier dieser Art als mächtigster Magier untauglich war. Man mußte ihn dar an hindern, weiterhin Entscheidungen zu treffen, die den anderen Bewohnern von Oth nichts als Nachteile einbrachten. Leider würde Copasallior sich diesen Ar gumenten verschließen. Und er war immer noch mächtig. Vor allem gab es zu viele Magier, die in ihren Gedanken der harten Entscheidung immer noch auswichen. Diese Leute mußte man überzeugen – oder beste chen. Wieder lachte Jarsynthia, laut und über mütig, und sie tanzte vor Vergnügen auf dem noch warmen Sand zwischen den Hü geln. Wenn es darum ging, den eigenen Vor teil zu erkennen und auszunützen, so war sie jedem anderen Magier überlegen. Vor allen Dingen dann, wenn es sich bei ihren Gegen spielern um Narren vom Rang eines Koratzo
Krieg der Magier handelte. Bald würde ein neuer Mächtiger die Ge schicke der Magier lenken. Jarsynthia glaub te zu wissen, welchen Namen man sich bald würde einprägen müssen – und zwar nicht nur in Oth, denn sie hatte nicht die Absicht, sich auf die Herrschaft über die Magier zu beschränken. Aber – jetzt galt es, dafür zu sorgen, daß auch die Magier erkannten, wem die Zukunft gehören mußte. Jarsynthia beschloß, ein großes Fest zu feiern. Es war lange her, daß es so etwas in der Großen Barriere gegeben hatte. Nun war es mit dem Feiern von Festen so eine Sache im Reich der Magier. Niemand wußte, warum, aber die Tatsache ließ sich nicht umgehen: Nur wenige Magier konnten Wein trinken. Es lag irgendwie an den be sonderen Begabungen dieser Leute. Sie sa hen sehr unterschiedlich aus, und einige – wie der Traummagier Kolviss – hatten nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Men schen. Aber sie ernährten sich alle von den selben Grundstoffen, so daß man eigentlich hätte meinen sollen, daß sie alle auch Alko hol vertrugen. Trotzdem war Alkohol für viele Magier reines Gift. Sie verloren die Kontrolle über ihre magischen Fähigkeiten, und das reichte in den meisten Fällen aus, um die Betroffe nen in ernste Gefahren zu bringen. Die Bar riere von Oth war ein Gebirge mit außeror dentlich hohen Bergen und tiefen Schluch ten, und normalerweise umgab sich jeder Magier mit schützenden Feldern, die nicht nur spionierende Konkurrenten außer Ge fecht setzen sollten, sondern auch die feh lenden Geländer und Brüstungen an Wegen ersetzen, die einem normalen Sterblichen als glatte Selbstmordfallen erscheinen mußten. Unter Alkoholeinfluß fielen die schützen den Felder zusammen und die trunkenen Magier in den nächsten Abgrund. Das konn te nicht der Sinn von Jarsynthias Aktion sein, denn auf diese Weise hätte sie ihre An hänger schnell und gründlich dezimiert. Es gab einen Ort in Pthor, an dem man die absonderlichsten Waren kaufen konnte, vor
31 ausgesetzt, man hatte den richtigen Gegen wert zu bieten. Jarsynthia überschlug in Ge danken die Zahl der Magier, die auf jeden Fall ihrem Ruf folgen würden, fügte die Na men derer hinzu, bei denen sie sich nicht si cher war, und beschloß, auch einige direkte Gegner zu berücksichtigen – auf besondere Weise, versteht sich. Dann stellte sie in Ge danken eine komplette Liste aller notwendi gen Spezialitäten zusammen. Der Preis – nun, man würde sehen. Tynär Stump aus Or xeya war bestimmten Reizen gegenüber sehr aufgeschlossen. Jarsynthia kannte den Seele nerschaffer durch und durch, und sie trieb mit ihm Handel, seit er sein Amt übernom men hatte – was auch nur mit ihrer Hilfe hatte gelingen können. Die Liebesmagierin Jarsynthia brauchte kein Yassel und keinen Zugor, um nach Or xeya zu gelangen. Sie löste den manifestier ten Körper flugs auf, verwandelte sich in ei ne unsichtbare Kette von Gedanken und Wünschen und huschte wie ein Blitz über das Land nördlich der Barriere dahin. Sie hielt sich dabei an die Regel, die sie Tonkuhn eingebleut hatte – sie konnte nicht ahnen, was dem Wassermagier inzwischen widerfahren war –, und schlüpfte an jener Stelle in die Stadt der Händler, an der die Straße der Mächtigen unter dicken Erd schichten verschwand. Zwar wußte niemand genau, ob noch Kraft in dem schlafenden Fafnir steckte, nachdem er sich an Ragnarök erhoben hatte, aber Jarsynthia ging lieber kein Risiko ein. Diese Straße gehörte zu den Dingen auf Pthor, die mindestens so alt wie die Magier waren und deren Einfluß nicht unterstanden. Den Seelenerschaffer spürte Jarsynthia auf Anhieb auf. Es war noch niemals schwierig gewesen, da Tynär Stump seine Zeit fast ausschließlich damit verbrachte, den jungen Mädchen nachzustellen. Damit entwickelte er eine buchstäblich magische Anziehungskraft für Jarsynthia. Sie drang als körperloses Etwas in Stumps Haus ein und wartete ungeduldig darauf, daß sie unter vier Augen mit dem Seelenerschaffer spre
32 chen konnte. Stump legte größten Wert auf Diskretion, denn in Orxeya war er ohnehin ständiges Stadtgespräch, und wenn die aber gläubischen Händler dahinterkamen, daß Stump Geschäfte mit den Magiern betrieb, konnte es ihm leicht an den Kragen gehen – selbst in seiner Position. Leider traf Stump keine Anstalten, das fruchtlose Techtelmechtel mit einer unge wöhnlich störrischen Orxeyanerin endlich abzubrechen. Das Mädchen erteilte ihm eine so geharnischte Abfuhr, daß wahrscheinlich jeder andere es aufgegeben hätte. Stump je doch balzte wie ein verliebter Hahn um die Orxeyanerin herum. Jarsynthia hatte es schließlich satt. Zwar hatte sie nur einen Teil ihrer selbst nach Or xeya geschickt, aber selbst in diesem Zu stand konnte sie noch einiges anrichten – vor allem, wenn es um solche Probleme ging. Im psychologisch günstigen Moment der nächsten Ohrfeige, die das Mädchen dem Seelenerschaffer herunterhaute, griff sie nach Stump. Mit großem Vergnügen registrierte sie die Verwirrung, die den Seelenerschaffer befiel. Stump wußte nicht, wie ihm geschah. Seine Wange glühte wie im Feuer, und die zorn blitzenden Augen des jungen Mädchens lie ßen ihn zurückschrecken. Was, um alles in der Welt, hatte er an diesem häßlichen Weibsbild gefunden? Wie kam er dazu, sich wegen einer … Batsch! Er hatte versehentlich zu laut gedacht, und schon ließ ihn die nächste Ohrfeige zur Seite taumeln. Stump ließ sich in einen Sessel fallen, be tastete ratlos sein schmerzendes Gesicht und achtete gar nicht mehr auf das Mädchen. Jar synthia ließ die Orxeyanerin ebenfalls aus den Augen, denn sie interessierte sich nur für den Augenblick, in dem ein vernünftiges Gespräch mit Stump möglich war. Die Gefühle der Orxeyanerin jedoch schwenkten urplötzlich zum nächsten Ex trem.
Marianne Sydow Sie, die vor wenigen Sekunden noch be reit gewesen wäre, dem geistlichen Ober haupt der Händlerstadt, den Hals umzudre hen, damit es endlich Ruhe gab, fuhr jetzt in jähem Schrecken zusammen. Was hatte sie getan? Stump saß da, mit feuerroten Wan gen und reuevoller Miene, und daran war zweifellos sie alleine schuld. Welche Schan de, wenn jemand erfuhr, daß der Seelener schaffer selbst, der hinter jedem Rockzipfel in ganz Orxeya herjagte, diese eine Orxeya nerin verschmähte! Schluchzend warf sie sich dem Pthorer vor die Füße. Stump starrte fassungslos auf sie hinab. Ihrem Gestammel entnahm er, daß sie zutiefst bekümmert sei und was es der Beteuerungen noch gab, und er fühlte sich im Moment absolut unfähig, dem Mädchen etwas zu erklären, was er selbst noch nicht verstand. Jarsynthia war nahe daran, endgültig die Geduld zu verlieren. Aber da es wenig Zweck hatte, mitten in Orxeya die reinigende Kraft eines Wutanfalls zu genießen, riß sie sich zusammen und deckte die beiden Pthorer im Nebenzimmer mit einem wahren Schauer magischer Impulse ein. Sie küm merte sich kaum darum, daß manche ihrer Befehle sich gegenseitig widersprachen, und als die Orxeyanerin halb schluchzend, halb lachend und im übrigen einigermaßen hyste risch davonrannte, seufzte die Liebesmagie rin erleichtert auf. Stump hockte in seinem Sessel und bewegte sich nicht. Er starrte Lö cher in die Luft. Die ihn umgebende Seele hatte eine düstere Färbung angenommen. Jarsynthia achtete kaum auf diese Alarmzei chen, sondern versetzte den draußen agie renden Teil ihres Ichs um einige Meter. Di rekt vor Tynär Stump nahm sie jene Gestalt an, in der sie dem Seelenerschaffer schon immer begegnet war. Tynär Stump reagierte nicht auf ihr Er scheinen. Und da endlich begriff sie, daß sie es wohl etwas zu bunt getrieben hatte. Daran waren nur Copasallior und Koratzo und Glyndiszorn und all die anderen Narren schuld, die den Knoten gewünscht hatten,
Krieg der Magier damit die Barriere von Oth isoliert wurde! Während Jarsynthia sich um Tynär Stump bemühte, fluchte sie in Gedanken so ausgie big, daß allein dies zur Stärkung ihres Selbstbewußtseins beitrug. Je wohler sie sich fühlte, desto lebendiger wurde auch Stump. Das Aussehen seiner Seele normali sierte sich, und in seine Augen trat ein we nig Glanz. Schließlich hob er den Kopf. »Danke«, murmelte er mit matter Stimme. »Du hast mir das Leben gerettet.« Jarsynthia schwieg wohlweislich. Stump brauchte niemals zu erfahren, daß er ohne die Liebesmagierin gar nicht in diese fatale Lage geraten wäre. »Ich habe dich lange nicht gesehen«, mur melte Stump nach einer Pause. »Ich hörte Gerüchte. Es hieß, die Magier hätten sich zurückgezogen, vielleicht sogar für alle Zei ten.« »Du siehst, daß diese Gerüchte dumm wa ren. Hier stehe ich, und ich komme aus ge schäftlichen Gründen nach Orxeya.« »Hm.« »Ist das alles, was du mir zu sagen hast?« fragte Jarsynthia aggressiv. Stump blickte sie an und begann plötzlich zu lachen. »Was wäre ich ohne dich, Liebesmagie rin?« fragte er, und an seinem Blick erkann te Jarsynthia, daß der Seelenerschaffer es ehrlich meinte. »Eben erst erhielt ich einen Beweis dafür, wie es um meinen Ruf bestellt wäre, könnte ich nicht deine Hilfe in An spruch nehmen. Die Pause war sehr unange nehm für mich. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich ohne dich auskommen soll.« Stump wußte nicht, welchen Rang Jarsyn thia in der Großen Barriere einnahm. Er hat te auch keine Ahnung davon, daß Jarsynthia höchst heimtückisch mit ihren Fähigkeiten umging. Stump war alles andere als dumm, aber aus Bequemlichkeit gelingt es selbst Genies, sich an Erkenntnissen vorbeizu drücken, die nichts als Ärger einbringen. Den ersten Schritt zur Erfassung der Wahr heit hatte Stump getan, als er zwangsweise spürte, wie sehr er von Jarsynthias Hilfe ab
33 hängig geworden war. Aber er weigerte sich, in dieser Richtung weiterzudenken. Jarsynthia genoß das Geständnis des See lenerschaffers. Sie hatte lange genug kein Lob mehr gehört. Selbstverständlich gab es auch im Reich der Magier Bewunderer ihrer Kunst, aber das zählte nicht. »Ich brauche ein paar Kleinigkeiten«, er klärte sie geschmeichelt und zählte auf, was sie sich vorher überlegt hatte. Stump lausch te mit halbgeschlossenen Augen. Manchmal nickte er. Nur selten nahm sein Gesicht einen bedenklichen Ausdruck an. »Ich gebe dir einen Tag Zeit«, sagte Jar synthia schließlich. »Das reicht nicht!« protestierte Stump. »Den Kromyat zu beschaffen, das ist kein Problem, auch Bmuurth-Saft und dieses Wurzelmus gibt es in Hülle und Fülle. Aber verschiedene Essenzen sind selten und teu er.« »Um den Preis brauchst du dir keine Ge danken zu machen, wie du eigentlich wissen solltest.« »Es geht um andere Dinge«, widersprach Stump hastig. »Es hat viel Ärger gegeben, und die Handelswege sind zum Teil unter brochen. Was nützt uns aller Reichtum, wenn wir nichts mehr dafür eintauschen können? Am schlimmsten ist es, daß die Horden der Nacht fast ganz und gar ver schwunden sind. Wir brauchen die Bestien! Was soll ohne die Horden der Nacht aus un serer Stadt werden? Unser ganzes System ist auf den Bestien aufgebaut. Die Seelenschei ne …« »Werden ihren Wert behalten«, unter brach Jarsynthia den Seelenerschaffer spöt tisch. »Bald wird alles sich wieder einge spielt haben. Es ist halb so schlimm. Nur die Namen derer, die in der FESTUNG sitzen, haben sich geändert. Du wirst sehen, daß auch sie nur herrschen wollen, und sonst nichts.« »Gerüchte …« »… wachsen schnell wie das Unkraut und sind genauso schwer auszurotten. Was im mer du gehört hast – es stimmt nicht. Das
34 sage ich, und du tust gut daran, es zu glau ben!« Der Seelenerschaffer starrte die Liebes magierin an – beziehungsweise jenes ver wirrende Bild, das er für die Magierin hielt. Er zitterte vor Angst, denn er spürte, daß diese merkwürdige Frau wütend war. Damit hatte er durchaus recht. Jarsynthia steckte so voller Zorn, daß sie auf der Stelle hätte explodieren können. Auch das war Koratzos Werk, und Copa sallior, dieser alte Narr, unterstützte den Re bellen auch noch! Das ganze Gerede von der neuen Zeit, die nach Ragnarök anbrechen sollte, war ein groß angelegter Schwindel, und die Saat einiger Magier, die vor langer Zeit törichten Träumen nachgehangen hat ten, ging üppig auf. »Und du«, sagte sie abschließend, »wirst mir diese Sachen liefern, oder ich sorge da für, daß du vom neuen Reichtum Orxeyas nichts abbekommst.« »Ich werde liefern«, versprach Stump re signierend. »Vergiß nicht unsere Abmachungen. Morgen nach Sonnenuntergang stellst du al les im üblichen Raum ab. Was nun den Preis betrifft, so nehme ich an, daß du ein paar Wünsche hast – nach so langer Zeit.« Tynär Stump brauchte nicht lange nach zudenken. Ein Problem lag ihm seit langem auf der Seele, und er würde keine ruhige Mi nute mehr finden, ehe es gelöst wurde. »Es gibt ein Kind in dieser Stadt«, stotter te er, »das meine Fähigkeiten geerbt hat.« »Das ist mir nichts Neues«, murmelte Jar synthia. »Die Zahl deiner Kinder ist groß, und jedes bekommt einen Teil deiner Talen te mit auf den Lebensweg, ob du nun damit einverstanden bist oder nicht. Ich nehme an, dieses eine Kind ist besser als die anderen?« »Ein Seelenhändler hatte es aufgespürt«, berichtete Stump bitter. »Er verkaufte echte Seelenscheine. Wahrscheinlich weiß das Kind gar nichts von seiner Fähigkeit, denn sonst hätte seine Mutter längst versucht, mich zu erpressen.« Jarsynthia schwieg. Tynär Stump war
Marianne Sydow kein schlechter Mensch, aber sein Charakter war gewissermaßen eindimensional. Jarsyn thia konnte sich wenigstens etwas in die Rolle einer Mutter versetzen, die ausgerech net von Stump ein Kind erwartete. Von de nen, die es erlebt hatten, entschieden sich nahezu hundert Prozent gegen Stump. Sie alle wußten, daß der Seelenerschaffer nie manden neben sich duldete, und ein Kind barg nun einmal ein gewisses Risiko in sich. Es Stump unter die Nase zu halten und an seine Vatergefühle zu appellieren, das war glatter Kindesmord. »Ich muß das Kind unter meine Kontrolle bringen«, sagte Stump denn auch. »Es ist wichtig. Und für dich ist es sicher ein Kin derspiel, es aufzuspüren.« »Wenn du weißt, daß es lebt und schon Seelenscheine hergestellt hat, dürftest du es auch ohne meine Hilfe schaffen.« »Ich hatte die Chance«, knirschte Stump und ballte die Fäuste. »Sie ist mir ent wischt.« »Sie?« »Ich bin mir ziemlich sicher, daß es ein Mädchen ist.« »Hm«, machte Jarsynthia. Stump schwieg verbissen. Er hatte keine Lust, diese ärgerliche Geschichte mit den beiden Fremden zu erzählen, die ihn nach Strich und Faden hereingelegt hatten – wor an er selbst nicht unschuldig war, denn er hatte sich zu sicher gefühlt. »Ich werde nach dem Kind suchen«, ver sprach Jarsynthia schließlich, und in Gedan ken malte sie sich aus, welchen Schlag sie auf diesem Wege gegen Copasallior und sei ne neuen Freunde aus der Tronx-Kette füh ren könnte. Aber noch war es nicht soweit. Sie durfte keine vorzeitige Entdeckung ris kieren. Nach dem Fest, wenn sie genau wuß te, wie es laufen sollte … Unmöglich, noch heute mit der Suche zu beginnen, noch un vorstellbarer, dem Seelenerschaffer das Kind auszuliefern, ehe das Fest nicht vor über war. Es würde zu viel Staub aufwir beln. »Aber erst in einigen Tagen«, fuhr sie
Krieg der Magier fort. Stump setzte zu einem Protest an. Jar synthia schnitt ihm mit einer zornigen Geste das Wort ab. »Du mußt dich damit zufrieden geben. Es sind höhere Interessen im Spiel. Das Mädchen wird keine Rolle spielen, dar auf darfst du dich verlassen.« »Ich will das Kind«, wiederholte Stump stur. »Ich will es so schnell wie möglich!« »Narr!« sagte Jarsynthia verächtlich, und Stump zuckte zusammen, als zwischen ihm und der Liebesmagierin eine Feuersäule auf stieg. »Sorge du für die Waren!« hörte er die Stimme aus einiger Entfernung noch sagen. »Aber laß das Kind noch einige Tage aus dem Spiel. Ich könnte sonst auf die Idee kommen, mir einen bescheideneren Ge schäftspartner zu suchen!« Tynär Stump starrte ins Leere. Er wußte, daß er sich fügen mußte. Das Traumkraut, das einige Händler vom Rand der Ebene Kalmlech mitbrachten, reichte ihm längst nicht mehr, und auch die zähen Kräuter von den Steilfelsen an der Küste der Stille konn ten Stump nicht mehr in die Tiefen der Träu me befördern. Er brauchte Jarsynthia und das Gift, das sonst niemand ihm zu liefern vermochte. Also würde er stillhalten und warten. Es war immer noch besser, als den Verstand zu verlieren. Jarsynthia verfolgte unbemerkt seine Ge danken. Als sie sicher war, daß Stump ge horchen würde, zog sie sich eilig zurück. Vor der Grenze der Barriere manifestierte sie sich noch einmal, sah sich mißtrauisch um und schlüpfte endlich zufrieden durch die Lücke ins Reich der Magier. Im Tal der Nebel richtete sich ihr echter Körper auf. Flüchtig überzeugte sie sich davon, daß die Projektion, hinter der sie sich stets verbarg, in Ordnung war. Dann sah sie Wortz an. Jar synthia amüsierte sich über das faltige Ge sicht des Lebensmagiers. Sie hätte sich einen attraktiveren Verbündeten gewünscht, aber die Macht ließ sich nicht beliebig ver teilen. Wortz war immerhin zuverlässig. »Morgen geben wir ein Fest«, sagte Jar synthia und streckte sich wie eine Katze.
35 »Ich freue mich schon darauf, die dummen Gesichter einiger Narren zu sehen.«
5. Dennoch war Jarsynthias Ausflug nicht gänzlich unbemerkt geblieben, und das war Pech für die Liebesmagierin. Glyndiszorns Luftschiff ORSAPAYA bil dete nach wie vor das Zentrum des Großen Knotens. Oben in der Gondel, am Schnitt punkt magischer Felder, die von verschach telten Kristallteilen gehalten wurden, gab es einen Punkt, von dem aus man alles, was mit dem Knoten zusammenhing, kontrollieren konnte. Dieser Knoten war ein ideales Versteck. Er versetzte die Barriere von Oth mit allem, was sich darin befand, in eine andere Zeit und eine andere Dimension – ohne daß dies im Innern des Knotens spürbar wurde. Wie fast alle großen magischen Werke wies auch der Knoten in seltsamer Mischung geradezu geniale Vorzüge neben beinahe lächerlichen Schwachstellen auf. So war diese Wand un durchlässig für jede Art von Materie und Energie, dennoch drang Atemluft hindurch, und dies in beide Richtungen. Aber diese Luft verhielt sich außerordentlich brav und bereitete niemandem Schwierigkeiten. Kein Windhauch durchdrang die Grenze, von ei nem Sturm ganz zu schweigen. Ein Nachteil dagegen war es, daß erstens Glyndiszorn selbst die Barriere nicht verlassen konnte. Er hatte die Macht, anderen den Weg zu öff nen, und das war auch schon geschehen, mit großartigem Erfolg. Aber wenn er selbst durch die Grenze marschierte, mußte der Knoten auf der Stelle zerplatzen. Die dabei entstehenden Phänomene kannte nicht ein mal Glyndiszorn, weil ihm der Blick in die zukünftigen Zeitströme verschlossen blieb. Glyndiszorn fühlte zum Glück gar kein Verlangen danach, sich außerhalb des Gebir ges umzusehen. Im Gegenteil. Er fand, daß man ihn zu oft störte. Seitdem dieser verflix te Knoten stand, kamen immer wieder Ma gier angelaufen, die nach draußen wollten.
36 Glyndiszorn konnte schon gar nichts mehr davon hören, ohne einen Wutanfall zu be kommen. Um sich dummen Fragen wenigstens zeit weise zu entziehen, zog er sich ab und zu in die Höhlen unter dem Gipfel des Gnorden zurück. Dort hatte er seine Ruhe. Niemand konnte ihm folgen, denn die Wege waren geheim und auf Glyndiszorns Ausstrahlung eingestellt. Jeden Fremden würde der Fels auf der Stelle zerquetschen. Dummerweise nahm der Knoten es übel, wenn sein Schöpfer ihn einmal aus den Au gen ließ. Glyndiszorn hatte dies bemerkt, ihm jedoch keine Bedeutung beigemessen. Erst seit wenigen Stunden wußte er, daß sich durch seine häufige Abwesenheit Lücken gebildet hatten. Sein erster Gedanke war es, dies geheim zuhalten. Wenn er Alarm schlug, würden die anderen Magier ihn für unfähig halten, und das kam ihm unerträglich vor. So schwieg er und meldete sich auch nicht, als ihn ein drin gender Ruf aus der Zelle der freien Gedan ken erreichte. Eilig stieg er in die Gondel der ORSAPAYA auf und widmete sich dort seinen eigenartigen Geräten. Er hoffte, daß er die Lücken schließen konnte, ehe jemand sie auch nur bemerkte. Aber da zeigte sich ein anderer wunder Punkt in diesem Wundergebilde. Bei der Entwicklung des Großen Knotens war Glyndiszorn in große Gefahr geraten. Energien unbekannter Art und aus einer fremden Welt waren herübergeströmt und hatten den Knotenmagier neutralisiert, so daß er jede Kontrolle über seine Fähigkeiten verlor. Nur dem Stimmenmagier Koratzo hatte es Glyndiszorn zu verdanken, daß er lebend aus dieser selbsterbauten Falle her auskam. Er war damals zu dem Schluß ge kommen, daß eine der Schneisen, durch die er in fremde Zeiten und Universen schauen konnte, eine Welt berührten, auf der es star ke magische Kräfte gab. Diese Kräfte hatten den Großen Knoten entstehen lassen. Glyn diszorn konnte dieses Gebilde in bestimmten Grenzen kontrollieren, aber er mußte fest-
Marianne Sydow stellen, daß ständig Energie verlorenging. Bei all seiner Macht hatte Glyndiszorn keine Chance, diese Energie zu ersetzen. Er ver suchte, eine neue Verbindung zu jener unbe kannten Welt herzustellen – aber es gelang ihm nicht. Die Spuren waren verwischt. Sei ne Berechnungen wurden ungültig durch die Ausbreitung, die der Große Knoten erfahren hatte, und durch die Reise, die Pthor inzwi schen unternommen hatte. So mußte er sich mit den bereits entstan denen Lücken abfinden. Zuerst hielt er das für nicht so wichtig, denn diese Tore waren vergleichsweise winzig und darum schwer zu finden. Aber dann erkannte er, daß immer mehr Wege sich öffnen mußten, ohne daß er etwas dagegen tun vermochte. Der Vorgang war in Schwung gekommen, und er hätte ihn bestenfalls verzögern können. Er beschloß, Copasallior zu benachrichti gen. Es war nicht der rechte Zeitpunkt, um seinen Stolz zu pflegen. Die Magier hatten sich schnell umgestellt. Die Schranken nach innen, zu den Bezirken der direkten Nach barn, waren stärker geworden. Die Abschir mung zur Außenwelt dagegen existierte praktisch nicht mehr. Glyndiszorn hatte kei ne Ahnung, wie die Lücken von draußen aussehen mochten. Jedenfalls war es höchste Zeit, sich mit diesen Dingen zu befassen. Bevor er sich auf den schweren Weg zum Crallion machte, nahm er eine letzte Kon trolle vor. Und da spürte er es. Es war wie ein elektrischer Schlag, der den Körper des Knotenmagiers durchlief. Glyndiszorn stand sekundenlang regungslos da. Dann raffte er sich dazu auf, einen direk ten Ausblick zu versuchen. Vor ihm bildete sich mitten in der Gondel des Luftschiffs ei ne lichtlose Kugel, von der aus sich dünne Strahlen nach allen Richtungen durch die Luft zogen. Blitzschnell ertasteten Glyndis zorns darauf trainierte Sinne jene Spur, auf der sich etwas bewegte. Wie durch ein von Finsternis umrahmtes Fenster sah er einen Ort nahe der Grenze zum Hügelland nördlich von Oth. Die schwarze Spur führte weiter, durchstieß die
Krieg der Magier graue Wand, und Glyndiszorns Blicke glit ten hinterher. Er erkannte, daß die Störung bereits in der Vergangenheit lag. Es konnten nur wenige Minuten vergangen sein, eine unter normalen Bedingungen für den Kno tenmagier lächerliche Zeitspanne. Aber jetzt waren seine Möglichkeiten beschränkt. Oh ne viel Hoffnung versuchte er, eine Verbin dung herzustellen – und es klappte! Jetzt erst wurde ihm voll bewußt, was es bedeutete, wenn der Knoten zerriß. Für einen Augenblick geriet Glyndiszorn in Versuchung, das Gebilde selbst mit Ge walt zu zerreißen, denn endlich sah er einen Weg, um seine volle Macht zurückzugewin nen. Dann erkannte er das, was sich außer halb der Barriere aufgehalten hatte, und er nüchtert zog er sich zurück. »Jarsynthia?« fragte Copasallior kurz dar auf ungläubig, und als Glyndiszorn nickte: »Aber was wollte sie da draußen?« Glyndiszorn schwieg. Für ihn war Copa salliors Frage lediglich ein Ausdruck der Ratlosigkeit, die den Weltenmagier zunächst beherrschte. Niemand hatte mit einer sol chen Entwicklung rechnen können, und daß ausgerechnet die Liebesmagierin als erste den Weg nach draußen gefunden hatte … »Irrtum!« sagte eine lautlose Stimme. »Kolviss! Was hast du beobachtet?« »Es war Tonkuhn«, erklärte die Gedan kenstimme des Traummagiers. »Ich wußte nicht, was er vorhatte. Er ist ein Narr und ein schlechter Wassermagier dazu, aber mit seinen Gedanken hatte ich seit jeher Schwie rigkeiten. Er hielt sich bei den Sterblichen auf, und gestern kam er über die Grenze, um Jarsynthia eine Nachricht zuzuspielen. Das ist alles. Ich fürchte, er ist bereits unterwegs zur FESTUNG.« »Wie kommst du darauf?« fragte Glyndis zorn gespannt. »Euer Trick mit dem falschen Odin hat Jarsynthia sehr geärgert. Sie wagt es nicht, selbst in dieser Sache aktiv zu werden – es ist einfacher und ungefährlicher, einen Dummkopf wie Tonkuhn loszuschicken.« Copasallior dachte nach. Glyndiszorn be
37 obachtete ihn unauffällig. Der Weltenmagier wirkte nicht besonders besorgt, aber das war nicht anders zu erwarten. Copasallior hatte es sehr leicht, wenn es darum ging, Gefühle zu verbergen. Seine Augen blieben ohnehin stets ausdruckslos. »Wir müssen also mit allem rechnen«, sagte Copasallior schließlich. »Kolviss, kannst du feststellen, ob Tonkuhn die Bar riere wirklich verlassen hat?« »Wo sollte er sonst sein? Es macht ihm Spaß, den Sterblichen seine schäbigen Tricks vorzuführen, aber länger als ein paar Stunden hält die Freude nicht an. Und er ist nicht zurückgekehrt, seit er nach dem Ge spräch mit Jarsynthia zum Lichterfang ritt.« »Trotzdem muß ich Gewißheit haben«, drängte der Weltenmagier. »Es sähe Jarsyn thia ähnlich, den Wassermagier zu ver stecken, nur um uns zu übereilten Handlun gen zu verlocken. Ehe ich nicht weiß, daß Tonkuhn wirklich draußen herumläuft, ist mir das Risiko zu hoch.« »Um dich nicht bloßzustellen, ließest du Thalia über die Klinge springen, wie?« er kundigte Kolviss sich spöttisch. »Unsinn!« wehrte Copasallior ärgerlich ab. »Was ist nun mit Tonkuhn?« Kolviss' Gedankenimpulse verrieten Unsi cherheit. Copasallior kannte die Motive des Traummagiers – er kümmerte sich um das Schicksal der Odinstochter, weil er zum Ge lingen des Plans beigetragen hatte. Wenn Jarsynthia – und mit ihr war stets der Le bensmagier Wortz am Werk – Thalias Tar nung zunichte machte, so würde Kolviss das als persönliche Kränkung auffassen. Der Weltenmagier seufzte leise bei diesem Ge danken. Ausgerechnet Kolviss warf ihm mangelnde Rücksicht im Zusammenhang mit der Tochter Odins vor! »Und ich habe recht!« behauptete der Traummagier, der diese Gedanken aufgefan gen hatte. »Aber gut, ich werde versuchen, von Karsjanor und den anderen etwas zu er fahren. Wie ich Jarsynthia kenne, hat sie je doch auch für diesen Punkt alles genau vor bereitet. Und ich kann Tonkuhn selbst nur
38 aufspüren, wenn er sich in meiner Nähe be findet.« »Schon gut, Kolviss«, murmelte Copasal lior. »Niemand verlangt Unmögliches von dir. Versuche es, und wenn du nichts findest, müssen wir uns eben etwas anderes einfallen lassen.« Kolviss gab keine Antwort. Copasallior vermutete jedoch, daß der Traummagier sich sofort an die Arbeit begab. »Wie lange wird der Knoten noch beste hen bleiben?« fragte er Glyndiszorn. Der Knotenmagier bewegte die Hände in der Geste der Ratlosigkeit. »Es werden sich laufend neue Lücken bilden«, murmelte er. »Es kommt darauf an, ob sich dieser Vor gang noch beschleunigt. Es ist unmöglich, einen genauen Zeitpunkt zu nennen.« »Auch gut«, meinte Copasallior gleich mütig. »Konntest du erkennen, was Jarsyn thia draußen suchte?« »Sie war schon auf dem Rückweg. Direkt vor der Barriere nahm sie für einen Augen blick Gestalt an. Damit hat sie alle anderen Spuren gelöscht.« Copasallior nickte nachdenklich. Er wuß te, daß die Liebesmagierin mit vielen Ptho rern Tauschhandel trieb. Sie hatte überall Verbündete, die alles für sie taten, weil sie von den Künsten Jarsynthias abhängig wa ren. Aber der Weltenmagier glaubte zu wis sen, wohin die Magierin aus dem Nebeltal sich diesmal gewandt hatte. Allerdings ergab das alles noch kein klares Bild. Die Zeiten waren unsicher. Copasallior war sich der Tatsache nur zu deutlich bewußt, daß der winzigste Fehler in eine Katastrophe führen konnte. »Wie dem auch sei«, murmelte er, »wir müssen uns stellen.« »Wir?« fragte Glyndiszorn aufmerksam. Copasallior starrte ihn mit seinen riesigen, ausdruckslosen Augen an. »Wir«, bestätigte er. »Du mußt nicht da zugehören – es steht dir frei, dich für die ei ne oder andere Seite zu entscheiden. Aber du weißt, daß du um eine Stellungnahme nicht herumkommst.«
Marianne Sydow »Bei den Geistern der FESTUNG«, flü sterte Glyndiszorn entsetzt. »Du meinst es ernst! Warum soll es ausgerechnet jetzt so weit sein! Was bringt dich überhaupt auf diese Idee?« Copasallior schwieg. Jetzt war es Glyn diszorn, der seine Betroffenheit in Form sinnloser Fragen zum Ausdruck brachte. Und der Knotenmagier sah das auch ein. »Ich gehe zurück zum Gnorden«, sagte er schließlich. »Von dort aus kann ich noch am ehesten etwas tun.« Er stand auf und blickte nachdenklich auf den Weltenmagier hinab. Er überlegte, ob er schon jetzt erklären sollte, welche Seite er gewählt hatte. Er tat es nicht. Copasallior wußte wohl ohnehin, woran er war, und an dere Magier konnten die Informationen nur für Zwecke einsetzen, die Glyndiszorns Ab sichten genau entgegengesetzt waren. Glyndiszorn öffnete mit einem kaum merklichen Wink eine »Falte« in der Welt, trat hindurch und stand wieder in der Gondel der ORSAPAYA.
* Copasallior versiegelte mit großer Sorg falt die Höhlen am Crallion. Er war sich nicht sicher, ob das etwas gegen Jarsynthia half, denn er war noch nicht dazu gekom men, die vielen verschiedenen Sperren gründlich zu überprüfen, aber er wollte sich wenigstens keine Nachlässigkeit vorzuwer fen haben, wenn Jarsynthia oder Wortz aber mals in seinem Bezirk ihr Unwesen trieben. Nachdenklich sah er dann vom Rand des Plateaus nach unten. Es war bereits dunkel, aber die blauen Leuchtstäbe tauchten den Serpentinenweg in ein für Copasalliors Au gen optimales Licht. Er entdeckte ein paar Tiere, die über die Straße wechselten. Kein Magier kam aus der Tiefe herauf. Sein Blick flog am Gnorden vorbei in je ne Richtung, in der das Eistal der Kunstma gierin Malvenia lag. Er hatte versucht, eine Aussprache mit Malvenia herbeizuführen, denn er hoffte,
Krieg der Magier daß das Eis brach – und er hätte sogar einen schlimmen Streit dafür in Kauf genommen. Malvenia jedoch versteifte sich darauf, sich im Einhornhaus zu verstecken und im übri gen jeden Kontakt zur Außenwelt zu unter brechen. Copasallior litt unter diesem Schweigen. Dabei war er ziemlich sicher, daß er nicht der einzige war, den Malvenia seit der Versammlung der Magier im Tal der Schneeblume so feindselig behandelte. Er hoffte, daß sie – wenn sie doch jeman den hatte, mit dem sie ab und zu sprach – nicht auf falsche Freunde hereingefallen war. Es wäre schlimm für Malvenia, sich ausgerechnet bei dem, was der Barriere be vorstand, als Gegner des Weltenmagiers wiederzufinden. Gerade weil er sie auf seine Weise liebte, hatte Copasallior Geheimnisse vor Malvenia. Sie wußte wenig über seine Magie, und Malvenia gehörte zu den weni gen Magiern, die tatsächlich davon über zeugt waren, daß Copasalliors Macht nur aus der Tradition zu erklären war. Er verbannte Malvenia aus seinen Gedan ken und konzentrierte sich auf die Brücke zur Tronx-Kette. Diesmal kam er nicht auf Schleichwegen. Es blieb einfach nicht genug Zeit für solche Vorsichtsmaßnahmen. Er überwand die Ent fernung zum östlichen Abschnitt der Barrie re mit einem einzigen Schritt. Aber er ging nicht durch eine »Falte«, wie Glyndiszorn, der niemals wahrnahm, durch welche Art von Raum sein Weg ihn führte, sondern Co pasallior streifte bei jedem dieser Transporte das Nichts, und er erinnerte sich noch vage an die Zeit, als er begonnen hatte, diese Fä higkeiten zu üben. Damals war er fest davon überzeugt gewesen, »drüben« Wesenheiten zu spüren, Dinge mit kalter Haut und gieri gen Fingern, die ihn festzuhalten versuchten. Diese Angst war verflogen, aber in dieser Nacht überkam den Weltenmagier allen Er fahrungen zum Trotz eine Gänsehaut, als er in die Wirklichkeit der Barriere zurückglitt. Etwas stimmte nicht dort »drüben«. Es herrschte Unordnung, und die Luft war nicht still wie sonst, sondern erfüllt von lautem
39 Fauchen und Pfeifen. Er spähte mißtrauisch zum Himmel hin auf. In der Dunkelheit war von der Wand des Knotens nichts zu sehen. Die fremden Sterne funkelten in hartem, hellem Licht. Dennoch glaubte er, die Unruhe dort lokali sieren zu können. Welche Kräfte hatte Glyndiszorn da ge bannt? Und was geschah, wenn die Auflö sung des Knotens sich in einen rapiden Zu sammenbruch verwandelte? »Copasallior?« fragte eine krächzende Stimme aus der Dunkelheit. »Ja«, sagte der Weltenmagier und beeilte sich, von der schmalen Brücke herunterzukommen. Für einen Augenblick hatte er über dem Knoten die viel nähere Gefahr vergessen, die – we nige Schritte entfernt – um die Ränder der Brücke wogte. Howath erkannte die Stimme des Weltenmagiers und ließ eine Doppelrei he von hellen Flammen entstehen. Die rußi gen Nebel aus der Tiefe der Schlucht sanken hilflos zurück. Howath sah dem Sechsarmi gen aufmerksam entgegen. »Du mußt wichtige Nachrichten haben, wenn du so spät noch zu uns kommst«, be merkte Howath. »Wo finde ich Opkul?« »Wer sagt mir, daß ich dich zu ihm führen darf?« fragte Howath zurück. Jedem anderen hätte Copasallior diese Frage übel genommen, aber Howath hatte geradezu die Aufgabe, mißtrauisch zu sein. Er wachte über die Brücke und verwaltete die gemeinsamen Sperren aller Rebellen. Er trug damit mehr Verantwortung als jeder an dere Magier von Oth, denn nur die Rebellen verzichteten darauf, jeder seinen eigenen, ei fersüchtig abgeschirmten Bezirk zu errich ten. Copasallior, noch vor kurzem erklärter Gegner der Leute um Koratzo, war inzwi schen nicht mehr ganz davon überzeugt, daß ein solcher Zusammenschluß ein Zeichen von Schwäche sein mußte. »Ich kann es dir nicht sagen«, erklärte er gelassen. »Du weißt selbst, wo die Grenzen liegen.« Es lag in Howaths Händen, wie Copasal
40 liors Kontaktversuch ausging. Hatte Koratzo den Feuermagier eingeweiht? Wenn ja, dann mußte Howath zu allem Überfluß damit rechnen, daß ihm gar nicht der echte Copa sallior gegenüberstand, sondern daß Jarsyn thia versuchte, sich in dieser Gestalt Zutritt zur Tronx-Kette zu verschaffen. Eine solche Täuschung hier draußen aufzudecken, dazu reichte Howaths Macht nicht aus, es sei denn, er hätte die ganze Tronx-Kette freige geben. Und war Copasallior erst jenseits der Grenze, dann war auch Jarsynthia nicht mehr aufzuhalten. Copasallior hatte keine Ahnung, auf wel che Weise Howath das Problem schließlich löste, und er fragte den Feuermagier auch nicht danach. Er atmete nur erleichtert auf, als er in Howaths Wächterzimmer stand und zusah, wie der Feuermagier mit Hilfe der magischen Kristalle nach Opkul suchte. Ho wath hatte noch keine Antwort gefunden, da meldete sich auch schon Koratzo. »Er ist bei mir«, drang seine Stimme aus dem Nichts. »Du kennst den Weg.« Howath nickte dem Weltenmagier zu, und Copasallior trat erneut durch die unruhige Welt jenseits der Wirklichkeit. Es war noch schlimmer geworden. Copasallior spürte, wie etwas ihn umfing und zurückzerrte, und er stemmte sich mit aller Kraft vorwärts. Et was riß mit lautem Knall. Copasallior stol perte und starrte verwundert auf die knieho he Brüstung vor seinen Füßen. »Verdammt!« sagte jemand etliche Meter über seinem Kopf. »Da ist etwas schiefge gangen. Ich habe ihn aus den Augen verlo ren. Wo mag er herausgekommen sein?« Copasallior hätte Opkuls Frage leicht be antworten können, aber er zog es vor, seinen Gedanken noch ein paar Sekunden Zeit zu lassen. Außerdem hätten die beiden Magier auf dem Plateau über ihm sicher erwartet, daß er im Handumdrehen neben ihnen auf tauchte, nachdem er schon so nahe war. Copasallior war um nichts in der Welt be reit, den nächsten Schritt dieser Art zu tun, bevor er wußte, was sich »drüben« abspielte – zumindest wollte er sich vorher etwas aus-
Marianne Sydow geruht haben. Ihm zitterten alle sechs Hände bei der bloßen Erinnerung an die geisterhaf ten Fesseln. Er stand auf einem Sims, kaum zwei Me ter breit, und er wunderte sich ein wenig darüber, daß er immerhin sicher genug ge landet war, um sich nicht einmal an den schartigen Fesseln zu stoßen. Nach beiden Seiten führte der Sims ein Stück um den Fel sen herum. Dann verschwand er in zwei senkrechten Schächten, deren Wände im Sternenlicht glitzerten. Copasallior konnte Koratzos Stimmhöh len nicht benutzen. Darum versuchte er ein paar seiner Gesten und stellte fest, daß sich tatsächlich ein Flugfeld unter seinen Füßen bildete. Es war unvorsichtig, sich dem Feld so einfach anzuvertrauen. Dies war nicht sein Bezirk. Trotzdem wagte er es und stieg langsam an den Felsen hinauf. Er atmete tief ein, als er den festen Felsen am Plateau un ter seinen Füßen spürte. Koratzo und Opkul standen wenige Schritte von ihm entfernt. Sie drehten ihm den Rücken zu. Copasallior räusperte sich, und die beiden wirbelten blitzschnell herum. Copasallior erkannte, daß er einen Fehler gemacht hatte. Er reagierte gerade noch schnell genug, ließ fast seine gesamte Kraft in das Flugfeld schießen und raste in haar sträubendem Tempo in die Höhe. Er spürte den Schlag, der ihn in der Luft taumeln ließ, und nur mit viel Glück konnte er einen tödli chen Absturz über dem Rand des Plateaus verhindern. Dann stieß Opkul einen warnen den Ruf aus, und Copasallior ruderte mit al len sechs Armen in der Luft herum, bis er endlich neben einer Bank am Haus auf den Boden gelangte. Er setzte sich keuchend hin. Niemand sprach. Copasallior rang um sei ne Fassung. Er war Koratzos Gast. Zwar hatte nie mand ihn in die Tronx-Kette gebeten, aber man hätte ihn spätestens an Howaths Grenz station zurückweisen müssen – jetzt trug Koratzo in einem gewissen Rahmen die Ver antwortung für Copasalliors Sicherheit. An dererseits hatte der Weltenmagier einen
Krieg der Magier Transportweg gewählt, der nicht der Kon trolle des Stimmenmagiers unterstand. Er hatte – wenn es nur um die Form ging – durchaus das Recht, sich über Koratzo und Opkul gründlich aufzuregen. Sie hatten ihn mit ihrem ungezügelten Gegenschlag in große Gefahr gebracht. Ebenso gut konnten der Stimmenmagier und sein Freund dem Weltenmagier vorwerfen, in der Anwendung seiner speziellen Magie versagt zu haben. Beides führte unweigerlich zu ernsten Un stimmigkeiten, die eine Zusammenarbeit zwar nicht unmöglich machten, aber auf lan ge Sicht erschwerten. So standen sie sich schweigend gegen über, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, bis Koratzo tief aufseufzte und die Tür zu seiner Wohnhalle aufstieß. Copasallior setzte sich an einen Tisch mit steinerner Platte und berichtete, was er von Glyndiszorn erfahren hatte. »Kannst du feststellen«, wandte er sich dann an Opkul, »ob sich dieser Wasserma gier draußen herumtreibt, und wenn ja, wie nahe er der FESTUNG inzwischen ist?« Opkul strich nachdenklich mit der Hand über die Tischplatte. Copasallior wich vor sichtig etwas zurück, als farbige Flächen sich auf dem glatten Stein abzuzeichnen be gannen. Er beobachtete die Karte, die immer deutlicher wurde. Der helle Fleck im Osten Pthors war verschwunden – statt dessen zeichneten sich klein aber deutlich die Pyra miden der FESTUNG ab. Es war eine merk würdige Karte. Copasallior blickte zufällig auf den Blutdschungel. Er glaubte, einen hellen Punkt im dunklen Grün der Bäume zu erkennen. Als er sich vorbeugte, entdeckte er verblüfft eine Lichtung. Primitive Hütten duckten sich unter Bäume mit kümmerli chem Laub. Feuer loderten. Erlegtes Wild drehte sich an riesigen Spießen. Spärlich be kleidete Leute mit blauschwarzer Haut be wegten sich in langsamen Tanzschritten zwischen den Feuern hindurch. Copasallior rieb sich die Augen und warf Opkul einen scharfen Blick zu. Der Magier mit den violetten Augen sah die magische
41 Landkarte an und bewegte behutsam die rechte Hand. Copasallior war sich ziemlich sicher, daß die Bilder aus dem Blutdschun gel Opkuls Werk waren. Trotzdem hielt er den Mund. Opkul sollte nicht denken, daß Copasallior von diesem Trick übermäßig be eindruckt war. Opkul brauchte Selbstbestätigung dieser Art nicht. Er wußte zu genau, welchen Wert seine Fähigkeiten für alle Magier hatten. Und es schien, als sollte er für lange Zeit der einzige sein, der den Blick in die Ferne be herrschte. »Wenn er nach dem Gespräch ins Revier der Sterblichen zurückkehrte«, murmelte Opkul und deutete auf ein paar Gipfel nahe am Rand, »dann befindet sich eine von Glyndiszorns Lücken wahrscheinlich in die sem Bereich.« »Direkt am Rand?« fragte Copasallior verblüfft. »Warum nicht im Norden?« »Dort hätte ich Tonkuhn bereits ent deckt«, behauptete Opkul selbstsicher. »Das Land ist doch sehr übersichtlich. Außerdem wird Jarsynthia ihm empfohlen haben, mög lichst nicht die Straße der Mächtigen zu überschreiten. Vor langer Zeit bildeten be sonders die Abschnitte zwischen Wolterha ven und Orxeya und zwischen Zbohr und Donkmoon starke Sichtsperren für mich. Das ist längst überwunden, aber die Liebes magierin weiß nichts davon. Nein, ich bin ziemlich sicher, daß er irgendwo südlich vom Lichterfang herauskam. Er wird nach Wolterhaven gegangen sein. Wenn er zu Fuß bis zur FESTUNG marschiert, ist er viele Tage unterwegs, und Jarsynthia ist sehr ungeduldig.« Copasallior nickte unwillkürlich. »Wolterhaven«, sagte er gedehnt. »Ich weiß zwar, daß man sich auf die Robotbür ger nicht immer verlassen kann – aber wel che Art von Handel sollte die Liebesmagie rin ausgerechnet mit diesen Wesen treiben?« »Dem Herrn Leondagan ist es egal, woher er die Mittel bezieht, um seine Schatzkam mern zu füllen«, meinte Koratzo. »Jarsynthia läßt sich ihre Dienste gut bezah
42 len.« »Kannst du ihn dort sehen?« fragte Copa sallior gespannt und starrte auf den Punkt, der Wolterhaven darstellte. Wieder hatte er das Gefühl, tiefer in diese Landschaft hin einzusehen. Da lagen sie, die stählernen Plattformen und die Kuppeln der Bürger, die Säulen und Rampen … Er blinzelte und strich sich mit einer Hand über die Stirn. Die Karte war wieder normal. »Dieser Tonkuhn ist ein gerissener Bur sche«, murmelte Opkul. »Es geht mir mit ihm wie dem Traummagier. Er ist schwer zu fassen. Aber – ja, er war in Wolterhaven.« »Wann?« »An diesem Abend. Schade, wir haben ihn nur um wenige Stunden verpaßt.« »Er kann nicht weit gekommen sein!« Opkuls Augen schillerten. Der Magier schien durch die Karte auf dem Tisch hin durchzuschauen. Er bewegte vorsichtig die Hände, dann winkte er resignierend ab. Die Karte verschwand. »Man hat ihm einen Zugor gegeben«, er klärte er. »Die Spur führte zunächst in unse re Richtung, ich konnte ihn über der Straße der Mächtigen für einen Augenblick lokali sieren.« »Dann muß er doch noch dort sein«, sagte Copasallior aufgeregt. »Die Spur war schon alt«, wehrte Opkul ab. »Am Rand des Blutdschungels habe ich sie verloren. Er ist nicht über der Ebene von Kalmlech – es ist sinnlos, blindlings nach ihm zu suchen. Inzwischen müßte er die Nä he der Senke der verlorenen Seelen erreicht haben. Dort ist allerhand los. Die Schläfer sind noch immer nicht voll unter Kontrolle, und ständig sind Dellos mit ihren Fahrzeu gen unterwegs. Weiter westlich ist es noch schlimmer.« »Jarsynthia hat an alles gedacht, wie?« fragte Copasallior mißmutig. Opkul nickte und stand auf. »Ich versuche es morgen bei Tagesan bruch noch einmal«, erklärte er. »Tonkuhn kann unmöglich früher in der FESTUNG eintreffen.«
Marianne Sydow Koratzo wartete ein paar Minuten. Als Copasallior keine Anstalten traf, auf seinem gewohnten Weg in die Höhlen am Crallion zurückzukehren, holte er einen Krug mit verdünntem Sternblumennektar. Sie tranken sich schweigend zu. »Wir brauchen jemanden, der sich für uns bei Jarsynthia umsieht«, sagte Copasallior plötzlich. »Es kommt nur jemand aus dem Revier der Sterblichen in Frage. Hast du zu fällig etwas bemerkt? Es wäre Zeit, daß ein neuer Magier die Grenze überschreitet.« »Es gibt da ein Mädchen«, sagte Koratzo zögernd. »Sie weiß bereits, daß sie zu uns gehört, aber es scheint, als hätte sie Angst davor, den entscheidenden Schritt zu tun.« »Meinst du, daß sie uns helfen könnte?« fragte Copasallior zweifelnd. Ängstliche Magier waren ihm ein Greuel. »Ich weiß es nicht, denn ich kenne ihre Fähigkeiten nicht. Aber am guten Willen dürfte es nicht mangeln. Jarsynthia hat ihr übel mitgespielt. Du kennst ja das Verfah ren. Romanzen im Revier der Sterblichen sind ohne Jarsynthias Mitwirkung nicht vor stellbar. Islars Geliebter vertiefte sich zu sehr in die Gesänge der Liebesmagierin. Er ist auf und davon – zu einer Valjarin, die er noch niemals gesehen hat.« Koratzo sah Copasallior gespannt an. Er erwartete, daß der Weltenmagier sich sofort auf den Weg zum Lichterfang machte, um nach Islar zu suchen und sie in den Plan ein zuweihen. Als Copasallior regungslos sitzen blieb, stand für Koratzo fest, daß der Wel tenmagier tatsächlich Schwierigkeiten hatte, seine Magie zum Einsatz zu bringen. Das war nicht gerade beruhigend, wenn man be rücksichtigte, daß es in nächster Zukunft wahrscheinlich auf die volle Einsatzfähig keit jedes einzelnen Magiers ankam. »Ich werde mit Kolviss darüber reden«, erklärte Copasallior schließlich. Koratzo zog sich schweigend in einen pri vaten Teil seiner Wohnhöhle zurück. Als er noch einmal nach draußen sah, saß Copasal lior immer noch am Tisch. Er schien sich mitten in einer lautlosen Unterhaltung mit
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dem Traummagier zu befinden. Koratzo un terdrückte das Verlangen, sich genauer zu informieren und die Gedanken der beiden anderen für sich hörbar zu machen. Er wür de auch so früh genug erfahren, was Kolviss und Copasallior vereinbarten.
Boden des Zugors zusammen, um einige Stunden zu schlafen, ehe er seinen Flug in die FESTUNG fortsetzte. Er hatte das unbe stimmte Gefühl, daß er seine Kräfte noch dringend brauchte.
* 6. Tonkuhn fühlte sich vor allen Magiern und sonstigen Beobachtern sicher, während er auf die Senke der verlorenen Seelen zu steuerte. Von hier oben sah es aus, als wären die meisten Glaspaläste verlassen. Nur in wenigen dieser Gebäude gab es Licht. Dafür erhoben sich riesige Zelte aus der Dunkel heit. Durch ihre Wände schimmerte schwa ches Licht. Tonkuhn starrte neugierig hin über. Er hätte zu gerne ein paar von den Schläfern gesehen. Aber in der Senke selbst war es sehr ruhig. Er hielt sich weiter süd lich. In der Nähe des Regenflusses entdeckte er ein paar seltsame Wesen, die sich am Waldrand entlang bewegten. Tonkuhn ver zögerte den Flug des Zugors. Sekunden spä ter tauchte hinter ihm eine Flugschale auf. Grelles Licht spielte über den Himmel und erfaßte Tonkuhns Zugor. Der Magier hörte das Fauchen einer Waggu. Fluchend ließ er sich fallen. Der Zugor stürzte wie ein Stein in die Tiefe. Tonkuhn würgte, denn ihm stieg der Magen die Kehle hinauf. Trotzdem schaffte er es, die Flugschale kurz vor dem Aufprall abzufangen. In wenigen Metern Höhe schoß er davon. Er hörte über sich die Dellos, die nach ihm suchten, aber wie durch ein Wunder entkam er ihnen. Die Neugierde war ihm nach diesem Zwi schenfall gründlich vergangen. Von jetzt an hielt er sich an seinen Kurs und blieb in ge höriger Höhe, so daß die Gefahr einer Ent deckung wesentlich geringer wurde. Als der Morgen dämmerte, erreichte Tonkuhn den Taamberg. Er umflog ihn in weitem Abstand und wagte erst eine gute Stunde später, westlich vom Wachen Auge in einer verlassenen Gegend zu landen. Er war müde, und darum rollte er sich auf dem
Zur selben Zeit stattete Razamon dem VONTHARA einen erneuten Besuch ab. Bis jetzt hatten nur er und Kolphyr das Gebilde entdeckt. Sie hielten es geheim, hat ten aber vereinbart, Thalia einzuweihen, so bald die Pthorerin ihren Brüdern ›Odins‹ Macht neu beweisen mußte. Kolphyr hatte einen kurzen Blick auf den geheimnisvollen Odins-Leuchter erhascht. Das Antimaterie wesen behauptete, die geometrischen Linien in der gläsernen Kugel wiesen vage Ähn lichkeiten mit Teilen des Leuchters auf. So waren die beiden auf die Idee verfallen, im äußersten Notfall den Söhnen Odins die Hal le mit dem VONTHARA als Odins-Saal zu präsentieren. Razamon versuchte immer wieder, mehr über den Wächter zu erfahren – einerseits, um Thalia zu helfen, anderer seits, weil ihm klar war, daß der VONTHA RA alles andere als harmlos sein konnte. Im Sockel hatte er etwas entdeckt, was er für ein Zeitschloß hielt. Es ließ sich nicht öffnen, und andere Wege, einen Blick auf das Innenleben des »Wächters« zu werfen, gab es nicht. Razamon vergewisserte sich, daß er unbe obachtet war, ehe er die große Pyramide durch die hintere Schleuse verließ. Er schlenderte gemächlich durch die Gärten und beobachtete die Dellos, die ihre Arbeit an den Grünanlagen wieder aufnahmen. Er sah viele Technos, und verschwommen kam ihm der Gedanke, daß es eigentlich Zeit wä re, dem Geheimnis dieser Wesen auch ein mal nachzugehen. Er erinnerte sich daran, zu Beginn ihrer Suche nach den Herren der FE STUNG gemeinsam mit Atlan einen Techno beobachtet zu haben, dessen Körper im Mondlicht durchscheinend geworden war. Damals war er beinahe überzeugt gewesen,
44 daß die Technos künstliche Wesen waren. Inzwischen kannte er die Dellos aus Agh month, die man in jeder gewünschten Weise modifizieren konnte. Es erschien ihm un wahrscheinlich, daß die Herren die Produkti on von Dellos förderten, wenn ihnen in Form der Technos ohnehin genug Andro iden zur Verfügung standen, die offensicht lich auch ohne Hilfe der Kelotten erzeugt wurden. Es gab ein Geheimnis um die Tech nos – aber Razamon wußte nur zu gut, daß jetzt weder Zeit noch Gelegenheit war, dem Rätsel nachzuspüren. Thalia stieß mit ihren Ideen bei den Söh nen Odins auf immer stärkeren Widerstand. Noch verhielten die drei Brüder sich passiv. Sie hatten auf Thalias Drängen die Völker Pthors aufgefordert, Abgesandte zur FE STUNG zu schicken, mit denen über die Zu kunft des Landes diskutiert werden sollte. Aber seit dem Eintreffen der ersten Delega tionen weigerten sich die Söhne Odins, die Abgesandten zu empfangen. Allmählich breitete sich auch unter diesen Gästen Unru he aus. Razamon kam an einem Gebäude vorbei, in dem die Dellos einige solche Gruppen untergebracht hatten. Ein paar Val jaren starrten den ehemaligen Berserker dü ster an. Sie wichen vor ihm zurück, aber er hörte hinter sich drohendes Murmeln. Sie hatten Razamon in Begleitung ›Odins‹ gese hen und brachten ihn mit ihren Schwierig keiten in Verbindung. »Komm schnell!« hörte Razamon plötz lich Kolphyrs helle Stimme. Der Bera winkte ihn zurück zur großen Pyramide. Ungeduldig lief Razamon hinter Kolphyr her. »VONTHARA macht Krach«, verkündete Kolphyr lakonisch. Razamon sah den Bera mißtrauisch an, aber Kolphyr wirkte durchaus ernst. Als er vor der Kugel stand, erschrak der Pthorer. Der VONTHARA hatte sich in der kurzen Zeit besorgniserregend verändert. Das Leuchten war intensiver geworden, und das Summen klang drohend. Razamon versuch te, das seltsame Schloß zu öffnen. Es ging
Marianne Sydow nicht. Als er einen Schritt zurücktrat, hatte er plötzlich das Gefühl, aus dem Innern der Kugel beobachtet zu werden. »Das gefällt mir gar nicht«, sagte er rauh. »Es wird höchste Zeit, daß die Söhne Odins sich mit dem Ding befassen, anstatt darauf zu warten, daß Thalia endlich einen Fehler macht.« »Willst du ihnen den Saal zeigen?« »Nein. Das kann Thalia tun.« »Der VONTHARA ist gefährlich«, sagte Kolphyr plötzlich. Razamon starrte den Bera verblüfft an, dann lachte er und wandte sich ab. »Das habe ich auch schon gemerkt«, er klärte er. »Aber du hoffst, daß das Schloß irgendwie auf die Kinder Odins eingestellt ist. Sie haben mit dem VONTHARA nichts zu tun. Es ist sinnlos, sie hierherzuführen.« Razamon nickte nur. Er wußte selbst, wie winzig die Chance war, daß dieser Wächter sich doch noch als harmlos entpuppte. Trotzdem würde er es versuchen. Wenn es auch nichts einbrachte – wenigstens gewann Thalia etwas Zeit. Sie hatte es dringend nö tig, denn allmählich ging das Katz- undMaus-Spiel mit ihren Brüdern über ihre Kräfte. Es stellte sich heraus, daß ausgerechnet jetzt eine Gruppe von Dellos mit den Arbei ten in den Gärten hinter der Hauptpyramide begonnen hatten. Razamon und Kolphyr hat ten keine andere Wahl, als quer durch die ganze Pyramide zu marschieren, wenn sie den Saal mit dem VONTHARA nicht vor zeitig der Entdeckung preisgeben wollten. Sie verloren Zeit. Auch in den Innenräumen wurde gearbeitet. Immer wieder mußten sie warten, bis sie ungesehen ihren Weg fortset zen konnten. Alles in allem hatte die Sonne ihren höch sten Stand bereits erreicht, als Razamon und Kolphyr aus der großen Schleuse traten. Sie kamen gerade zur rechten Zeit. »Das ist nicht Odin!« verkündete ein lei chenhäutiges Wesen mit weißlichem Haar und gelben Katzenaugen.
Krieg der Magier
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Thalia stand regungslos vor ihren Brüdern und gab den Blick scheinbar kühl und gelas sen zurück, aber der Fremde ließ sich von der imponierenden Gestalt mit der silbernen Rüstung und dem wallenden roten Umhang nicht einschüchtern. »Die Magier von Oth haben mich zu euch geschickt, ihr Söhne Odins«, fuhr er fort, »um euch vor schlimmem Unglück zu be wahren. Nicht Odin lebt in dieser Rüstung, sondern Thalia, seine Tochter.« Lähmende Stille breitete sich aus.
* Tonkuhn genoß den Triumph in vollen Zügen. Es war gar nicht so einfach gewesen, an die Söhne Odins heranzukommen. Die Dellos wiesen jeden zurück. Erst der Hin weis auf die Magier von Oth, mit entspre chender Schärfe vorgebracht, ließ die Kunst wesen zur Besinnung kommen. Von da an lief alles wie geschmiert. Vor dem Haupteingang zur großen Pyramide traf er auf die Kinder Odins. Sich selbst gegenüber gab Tonkuhn zu, daß ihn beim Anblick des Hünen leise Zwei fel beschlichen. Das sollte Thalia sein? Er hatte diese Frau noch nie gesehen, aber wenn Jarsynthia nicht auf einen bösen Streich hereingefallen war – was für eine Tochter hatte Odin da hervorgebracht? Und welchen Grund mochte es für Odin gegeben haben, eine Tochter wie Thalia einfach zu rückzuweisen? Tonkuhn brachte das hervor, was er sich zurechtgelegt hatte, und die Pthorer, die nicht wissen konnten, daß Tonkuhns Gesicht normalerweise einen maigrünen Schimmer hatte, waren sichtlich beeindruckt. Nur Odin musterte den bleichen Wassermagier mit kühlen, blauen Augen, und Tonkuhn begann innerlich zu zittern. Er hätte lieber doch versuchen sollen, erst mit den drei Söhnen zu sprechen, ehe die Gegenüberstellung stattfand. »Du hast natürlich Beweise für das, was du sagst!« knurrte Sigurd drohend und trat
von hinten an den Magier heran. Tonkuhn spürte das nahende Urteil förmlich zwischen den Schulterblättern. Aber er hielt stand. »Öffnet Odins Maske«, empfahl er hoch mütig. »Dann könnt ihr euch von der Wahr heit überzeugen.« Niemand sprach. Tonkuhn schielte nach allen Seiten. Die Dellos, die Tonkuhn an diesen Platz geführt hatten, waren ver schwunden, wie weggezaubert. Überhaupt schien es, als wäre dieser Teil der Festung plötzlich von allen lebenden Wesen verlas sen. Nur dicht an der Schleuse entdeckte Tonkuhn zwei Gestalten, die ihm aber nicht gerade Zuversicht einflößten. Der eine war riesig und hatte grüne Haut – Tonkuhn konnte sich nicht entsinnen, ein solches We sen je zuvor gesehen zu haben. Der andere war ein Berserker. Und das jagte dem Was sermagier einen heillosen Schrecken ein. »Soll ich diesem Wurm den Hals umdre hen, oder willst du ihn selbst bestrafen?« wandte sich Sigurd an »Odin«. Wie auf ein Stichwort kam das Wesen auf den Platz gelaufen, das Thalia sich sicher am allerwenigsten herbeigewünscht hatte: Fenr ir trabte aus den Sträuchern und hielt direkt auf Odin zu. Tonkuhn spürte mit dem siche ren Instinkt eines geborenen Feiglings die vage Chance, die Dinge zum Guten zu wen den. Er deutete mit herrischer Gebärde auf den Wolf und rief: »Fenrir kennt die Wahrheit!« Es war ein Schuß ins Blaue, aber die Wir kung ließ nicht auf sich warten. Sigurd trat einen Schritt zurück, und sein Gesicht zeigte deutlich, daß seine Selbstsicherheit erschüt tert worden war. Heimdalls Blicke flogen zwischen Fenrir und »Odin« hin und her. Balduur starrte düster zu Boden. Alle drei dachten an das erste Zusammentreffen zwi schen Odin und dem Wolf. Und Odin selbst? Thalia ließ sich noch immer nichts anmer ken. Razamon, der die Szene stumm beob achtete, konnte nicht umhin, die Tochter Odins zu bewundern. Sie hielt sich fabelhaft. Leider kam Fenrir unaufhaltsam näher, und selbst wenn die magische Energie ausreich
46 te, den Wolf noch einmal zu stoppen, war das Mißtrauen der drei Brüder jetzt so hell wach, daß Thalia bereits auf verlorenem Po sten schien. Razamon trat ein paar Meter vor. Er starrte Thalia an und versuchte, sich ganz auf den VONTHARA zu konzentrie ren. Es war ein verzweifelter Versuch mit ungewissem Ausgang. Thalia hatte ihm er klärt, daß sie mit der magischen Energie auch die Gedanken anderer für sich hörbar machen konnte. Fenrir duckte sich und fletschte die Zäh ne. Razamon hielt seine Gedanken eisern im Zaum, aber immer wieder glitten seine Blicke hinüber zu diesem Magier. Wenn Thalia es nur jetzt noch einmal schaffte, dann gab es vielleicht noch eine Chance. Die drei Brüder mußten schon sehr verwirrt sein, wenn sie nicht merkten, was für eine taube Nuß sich ihnen da als Sprecher aller Magier präsentierte! Und Fenrir wich tatsächlich zurück. Er knurrte und schnappte nach der Luft, aber er ging »Odin« aus dem Weg. Die drei Brüder starrten den Wolf wie hypnotisiert an. Dar um entging es ihnen, daß Tonkuhn in jähem Schmerz zusammenzuckte, als Thalia den entscheidenden – und für alle anderen un spürbaren – Schlag führte. Razamon lächelte böse. Weiter, Thalia! dachte er begeistert. Nimm dir den Magier vor! Ein Schlag nur! Und dann zeige diesen Narren den VONTHARA! Er war selbst überrascht, als Thalia sich ein wenig zur Seite wandte und dem Berser ker kaum merklich zunickte. Eine Sekunde später wand sich Tonkuhn am Boden. Er hielt sich stöhnend den Kopf. »Was ist mit dem los?« fragte Sigurd ver wirrt. »Vielleicht haben die Magier gemerkt, was er in ihrem Namen verkünden will«, sagte »Odin« mit beißendem Spott. »Was für eine Sorte von Magier bist du, Tonkuhn? Ich kann mich nicht an dich erinnern. Hast du am Ende sogar den Platz des Weltenma giers eingenommen?«
Marianne Sydow Razamon biß die Zähne zusammen, aber diesmal gab es keine mißtrauischen Reaktio nen. Offenbar waren die drei Brüder davon überzeugt, daß der echte Odin die Magier gut gekannt hatte. Tonkuhn hingegen sah seine Felle davonschwimmen. Der magische Schlag und das Verhalten des Wolfes, dazu die Erkenntnis, daß Thalia noch eine Über raschung bereit haben mußte, das alles war zu viel für ihn. Er sank vor Heimdalls Füßen zu Boden und blieb regungslos liegen. »Was soll ich mit ihm machen?« fragte Heimdall. Razamon registrierte, daß er sich nicht an »Odin«, sondern an seine Brüder wandte. Sigurd versuchte den Fehler auszu bügeln, indem er mit einer Geste auf seinen Vater verwies. »Wir lassen ihn liegen«, sagte Thalia. »Sollen die Magier über ihn richten, sie sind in diesen Dingen sowieso empfindlich. Ich wollte euch etwas zeigen, ehe dieser Narr uns aufhielt.« Thalia schritt voran, und die drei Pthorer folgten »Odin« gehorsam – wie weit sie auch innerlich überzeugt waren, wirklich ih ren Vater vor sich zu haben, stand auf einem anderen Blatt. Razamon wich ihnen aus. Er zerbrach sich fieberhaft den Kopf, wie es weitergehen sollte. Er konnte doch schlecht »Odin« zu dessen eigenem Saal führen! »Weiterdenken!« sagte eine lautlose Stim me in seinem Kopf. Razamon verschob alle Fragen auf einen späteren Zeitpunkt. Reglos stand er neben dem Eingang und ließ seine Gedanken im mer wieder durch die Gänge der FESTUNG eilen. Kolphyr, der ohne Worte erfaßte, worum es ging, verschwand verblüffend lautlos und schnell in den Gärten – Razamon war sicher, daß der Bera versuchen würde, im äußersten Notfall von der anderen Seite der Pyramide aus Thalia Zeichen zu geben. Aber es ging alles glatt. Kolphyr berichte te Razamon später, die drei Brüder wären schier außer sich vor Überraschung beim Anblick des VONTHARA gewesen. Sicher hatten sie auch die Drohung gespürt, die von dem Ding ausging, dieses Gefühl aber wohl
Krieg der Magier mit ihrem Verhalten »Odin« gegenüber in Verbindung gebracht. Razamon hoffte, daß sich der VONTHARA nicht später für Tha lia als Bumerang erwies. Zunächst war er heilfroh, als Thalia heil und gesund aus der Pyramide trat. Ihre Brüder folgten ihr. Nur Heimdall schien noch eine Spur von Miß trauen zu hegen. Razamon, der gerade in diesem Augenblick merkte, daß Tonkuhn zu sich kam, war mit wenigen Schritten bei dem Magier, packte ihn im Genick, hob ihn hoch und schüttelte ihn. »Laßt ihn laufen«, befahl Thalia. Raza mon sah sie düster an. »Wollt ihr euch nicht wenigstens bewei sen lassen, daß er ein wirklicher Magier ist?« wandte er sich an die drei Brüder. Tha lia schwieg. Heimdall räusperte sich schließ lich. »Er hat recht, Odin«, wandte er sich an seine Schwester. »Du hast die Eigenheiten der Magier selbst erwähnt. Wenn dies nur ein Schwindler ist, werden sie uns zur Ver antwortung dafür ziehen, daß er nicht festge halten wurde.« »Welches sind deine magischen Fähigkei ten?« fragte Thalia den Magier. Tonkuhn witterte Morgenluft. »Hat es sich …«, begann er, aber Raza mons Hand drückte ihm das Genick zusam men, daß er vor Furcht verstummte. »Ich bin ein Wassermagier«, sagte er kleinlaut. »Ich lasse Wasser erstarren.« »Welch gewaltige Magie!« rief Sigurd be lustigt und stieß Heimdall an, der sich sofort an Kröbel erinnerte. »Gib uns eine Probe deines Könnens!« »Ich brauche Wasser«, stotterte Tonkuhn. »Der See mit den Guurpeln ist in der Nä he«, überlegte Balduur. »Ja«, stimmte Sigurd zu. »Aber die Pa nyxaner sind unsere Gäste. Wir sollten ihnen die Ruhe gönnen. Sieh her, Magier, es gibt nur den Brunnen dort zwischen den Bäu men. Versuche es mit ihm!« Razamon hielt den Atem an, als Tonkuhn mit siegessicherer Miene die Hände in das kalte Wasser steckte – aber der Brunnen floß
47 munter fort, und Tonkuhn schien förmlich zu erstarren. Die Söhne Odins, vorher nahe daran, Tha lias Geheimnis zu durchschauen und sich bitter für den Betrug zu rächen, schwenkten abrupt ins andere Extrem. Sigurds Faust schnellte plötzlich hoch, und Razamon konnte Tonkuhn eben noch zurückreißen, ehe der Schlag voll traf – von Tonkuhns Un terkiefer wäre sonst nicht viel übrig geblie ben. Der Pthorer schaltete blitzschnell und wirbelte Tonkuhn herum, so daß die Söhne Odins sich plötzlich dem ehemaligen Ber serker gegenübersahen, statt dem schwächli chen Magier. Das ernüchterte sie ein wenig. »Zurück!« befahl auch Thalia. »Laßt ihn laufen. Die Magier werden selbst mit ihm abrechnen.« Ihre Brüder zögerten. »Ich weiß, daß er seine Strafe erhält!« fügte »Odin« hinzu. Das verschaffte Razamon und Tonkuhn Gelegenheit zum Rückzug. »Odin« wandte sich düster den drei Brüdern zu, die jetzt erst zu begreifen schienen, was geschehen war. Razamon schmunzelte, als er den Beginn ei ner Strafpredigt hörte, die es in sich hatte. Er zweifelte nicht daran, daß Thalia sich aller alten Erziehungstricks entsann und notfalls sogar handgreiflich werden konnte, nach dem sie mit mehr Glück als Verstand denk bar knapp diese Klippe überwunden hatte. Am Rand der FESTUNG, wohin er Tonkuhn mit einem kleinen Bodenfahrzeug gebracht hatte, wartete eine einsame, hagere Gestalt auf die beiden ungleichen Männer. Razamon hielt das Fahrzeug an und starrte verblüfft den seltsamen Gast an. Dieser schwang sich mit Hilfe seiner sechs Arme erstaunlich gewandt in das Fahrzeug, gönnte Razamon nur einen kurzen Blick mit seltsam starren Augen und war im nächsten Augen blick verschwunden. Fort war auch Tonkuhn. Razamon wendete nachdenklich und kehrte zu den Pyramiden zurück. Thalia hat te recht behalten. Die Magier kümmerten sich selbst um Tonkuhn. Es stellte sich her
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aus, daß Copasallior aus der Großen Barrie re von Oth sogar noch mehr unternahm, um Thalia zu unterstützen. Razamon traf gerade rechtzeitig ein, um zu hören, wie der Wel tenmagier sich bei »Odin« in aller Form für das unwürdige Verhalten eines unbedeuten den Wassermagiers aus den Randbezirken entschuldigte. Die drei Brüder sahen stumm zu und wag ten es kaum, ihre maskierte Schwester anzu sehen. Erst das VONTHARA, dann Tonkuhns Versagen, jetzt der Weltenmagier – Kolphyr winkte Razamon siegessicher zu, und der Pthorer lehnte sich erleichtert in sei nem Fahrzeug zurück. Vorerst war Thalia sicherer denn je zuvor. Es sei denn, Atlan tauchte endlich auf. So sehr Razamon den Arkoniden herbei wünschte – er wußte, wie groß die Gefahr für Thalia dann wurde. Aber noch schien die magische Maske in bester Ordnung zu sein. Copasallior verschwand, nachdem er sich mit äußerster Hochachtung von »Odin« ver abschiedet hatte.
7. Während Razamon und Kolphyr sich all mählich entspannten, fing für die Magier von Oth der Ärger erst richtig an. Nach vielen vergeblichen Versuchen hatte Opkul sich schließlich darauf beschränkt, die Hauptpyramide zu beobachten, denn dort mußte Tonkuhn zwangsläufig auftauchen. Nebenher erkundete er die Grenzen der Bar riere und fand immer neue Tore in die Au ßenwelt. Es gab jetzt keinen Zweifel mehr, daß der Große Knoten in Auflösung begrif fen war. Copasallior war nervös. Ihn plagte die Ungewißheit, wann er wieder seine Fä higkeiten einsetzen konnte. Und Kolviss hat te endlich die neue Magierin Islar dazu be wegen können, sich für den Anfang bei Jar synthia um Beistand zu bemühen. Das war so üblich. Jeder, der über die Grenze kam, ließ sich von den Magiern ver schiedener Fachrichtungen schulen. So ließ sich am ehesten feststellen, welchem Spezi-
algebiet sich ein Neuling zuwenden würde. Die meisten weiblichen Anwärter fingen bei Jarsynthia an, denn diese sorgte schon dafür, daß die Mädchen wegen ihrer schlechten Er fahrungen mit Liebhabern aller Art die Be herrschung der Liebesmagie für ein erstre benswertes Ziel hielten. Jarsynthia war ent zückt über Islars Entschluß. Das Fest, das in der Nacht beginnen sollte, würde die junge Magierin tief beeindrucken. Jarsynthia war fest davon überzeugt, am Ende als Herrin über alle Magier dazustehen, aber sie kannte auch die Gesetze sehr genau und wußte, daß sie nach einem Sieg Freunde noch dringen der brauchte als vorher. Von den Mächtig sten in Oth durfte sie sich nur auf Wortz voll verlassen. Malvenia war zwar voller Zorn und Rachegelüste, aber erstens hatte Jarsyn thia gelernt, sich auf derartige Gefühle nicht unbedingt zu stützen, und zweitens hielt sie die Kunstmagierin für nicht besonders wich tig. So nahm sie sich ihrer Schülerin sofort an und verzichtete sogar darauf, Islar zuvor gründlich zu überprüfen. Islar war zwar auf geradem Wege vom Revier der Sterblichen ins Tal der Nebel gekommen, hatte zuvor je doch Besuch erhalten. Jetzt stand sie in stän diger Verbindung mit zwei Rebellen in der Tronx-Kette: Opkul sah mit ihren Augen, und Estrala konnte jedes Geräusch hörbar machen, das in Islars Nähe entstand. So gerüstet, sahen Copasallior und Korat zo dem Abend mit Zuversicht entgegen. Nur die Sache mit Thalia machten ihnen noch et was Sorgen, denn Copasallior bezweifelte, daß er auf dem üblichen Weg in die FE STUNG gelangen konnte. Koratzo brachte schließlich das Kunststück fertig, den Wel tenmagier zum Reden zu bringen, ohne den gestrengen Ehrenkodex der Magier zu ver letzen. Als Opkul wenig später Tonkuhn mit dem Zugor nahe der Hauptpyramide fand, stand Glyndiszorn schon bereit. Er brachte Copasallior zu einer Lücke in der Wand des Knotens, und nachdem der Weltenmagier dieses geheimnisvolle Gebilde zu Fuß ver lassen hatte – er kam sich ziemlich lächer
Krieg der Magier lich dabei vor –, bereitete es ihm keine Schwierigkeiten, durch die Welt jenseits der Wirklichkeit zu gehen. Mit Tonkuhn machte Copasallior kurzen Prozeß. Er nahm ihn in Empfang und ver setzte sich mit ihm in die Nähe des Wachen Auges. Dort nahm er Tonkuhn seine magi schen Fähigkeiten, was eine Sache von kaum einer Sekunde war, da Tonkuhns Kräfte gering waren. Der Wassermagier stierte Copasallior blicklos an und torkelte dann auf die fernen Gebäude zu. Copasallior sah ihm ungerührt nach. Tonkuhn hatte noch etliche gute Jahre vor sich, denn die Folgen des Eingriffs würden bei Tonkuhns schwa cher Veranlagung gering sein. Danach begann eine Zeit des Wartens und Wachens. Zwar hatte Copasallior den Be weis erhalten, daß Jarsynthia einen Verrat begangen hatte – da niemand gegen Thalias Entsendung und Maskierung Einspruch er hoben hatte, galt die Sache als offiziell ge billigt –, aber zu einem Angriff fehlte noch eine Kleinigkeit. Niemand wußte, ob Jarsyn thia nicht im letzten Augenblick erkannte, was sich für sie zusammenbraute. Es schien, als sei die Liebesmagierin trunken vom Ge fühl des Triumphs, obwohl sie keinen Grund dazu hatte. Es hätte ihr auffallen müssen, daß keiner aus den Gruppen um Copasallior, Koratzo, Parlzassel, Kolviss und Breckon zorpf die Barriere verließ, aber sie kümmer te sich nicht darum. Der Weltenmagier selbst ging mit seinem Besuch in der FE STUNG kein Risiko ein. Anders war es mit Karsjanor und einigen anderen, die – ob wohl der Beschluß der Magier es noch im mer verbot – ungeniert den Großen Knoten verließen, aus reiner Freude am Verbotenen. Gegen Abend ergaben die Beobachtungen regen Reiseverkehr auf den neutralen We gen, und die, die da ins Tal der Nebel zogen, bildeten nicht gerade den Stolz der Magier von Oth. Srika schwebte in ihrem Feder hemd über dem Zug und hielt Ausschau nach Gegnern. Aber die gaben sich nicht die Blöße, jetzt schon so nahe am Ort der Ent scheidung aufzutauchen.
49 Die Dunkelheit brach herein, und Islar meldete das Verschwinden der Liebesmagie rin zur Tronx-Kette hinüber. Copasallior nickte Glyndiszorn zu. Im nächsten Moment standen beide an der inneren Wand des Kno tens, genau an der Stelle, an der die Liebes magierin hinausgeschlüpft war. Copasallior eilte durch die Lücke. »Sie ist in Orxeya«, verkündete er, als er zurückkehrte. Verwundert sah er sich um. Glyndiszorn war weg. Nur wenige Sekunden später kehrte der Knotenmagier zurück. Co pasallior setzte zu einer ärgerlichen Frage an, da sah er das Gesicht des anderen, und er hielt es für besser, zu schweigen. »Ich sah etwas, das erledigt werden muß te«, sagte Glyndiszorn schließlich, dann brachte er Copasallior ohne weitere Erklä rung in die Tronx-Kette zurück. Kaum eine Stunde später begann im Tal der Nebel ein Fest, wie es die Barriere seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatte. Jene Magier, die sich um Koratzo versammelt hatten, brauchten nicht einmal in die Rich tung zu sehen, in der das Tal der Nebel lag. Zu deutlich waren die Strömungen zu spü ren, die sich dort trafen und vereinigten. An fangs ging es noch ruhig und geordnet zu. Dann machten sich der Kromyat und die verschiedenen Rauschmittel aus Orxeya be merkbar. Die Rebellen der Tronx-Kette hat ten sich auf einem Hang an der Südgrenze ihres Bezirks versammelt. Copasallior stand alleine und regungslos etwas abseits. Gegen Mitternacht traf Breckonzorpf ein. Erstes Zeichen dessen, was nicht mehr zu vermei den war, bildete die Abwesenheit der schwarzen Katzen, die den Wettermagier sonst begleiteten: Breckonzorpfs Donnerwa gen war diesmal für die Aufnahme von Fluggästen eingerichtet. Aus dem gleichen Motiv heraus brachte Parlzassel gleich ein Dutzend flugfähiger Großtiere mit. Kolviss brauchte seinen Bezirk nicht zu verlassen, um seine Kräfte gezielt einzusetzen, aber das galt für viele andere auch. Dennoch kam der Traummagier, und mit ihm erschien so gar Glyndiszorn am Treffpunkt.
50 Bei Sonnenaufgang gab Copasallior das Zeichen. Niemand sprach, als die versam melten Magier sich schnell auf die verschie denen Transportmittel verteilten. Glyndis zorn holte jene, die den weiten Weg nicht hatten bewältigen können. Das Zeichen zum Einverständnis war einfach – jeder Magier wußte in diesem Augenblick, wer zur Seite des Gegners gehörte. Als sie am Tal der Nebel eintrafen, bilde ten die Gruppen um Copasallior bereits eine Übermacht. Aber für Jarsynthias Blicke sah es wohl anders aus. Sie bemerkte die Ankömmlinge und trat aus den Nebeln hervor. »Ah!« rief sie laut. »Copasallior, welche Ehre! Tritt ein. Ich habe für alles gesorgt, du brauchst …« »Du weißt, warum wir hier sind!« fuhr der Weltenmagier dazwischen. »Mach dich nicht lächerlich«, kicherte die Liebesmagierin verächtlich. »Warum sich mit uns anlegen? Dir werde ich den Posten nicht streitig machen! Wenn du es allerdings vorziehst, lieber gemeinsame Sache mit ein paar aufsässigen Rebellen zu machen, dann …« Copasallior sagte nichts mehr. Es war sinnlos. Jarsynthia hatte die Schwelle schon seit langem überschritten. Die Entscheidung war überflüssig. Die Existenz der Herren der FESTUNG hatte die Magier lange daran ge hindert, das zu tun, was erforderlich war. Und jetzt war es eben soweit. Für Verhand lungen aller Art war es schon zu spät gewe sen, als man an Ragnarök nicht einmal zu denken wagte. Den ersten Schlag führte Copasallior ganz alleine. Als die Nebel aufrissen, lag das Tal schutzlos vor ihnen. Jarsynthia stieß einen Schrei aus, verwandelte sich in einen Strei fen von flüssigem Feuer und raste blitz schnell die Spirale zur LORKI hinauf. Die anderen Magier im Tal waren vor Entsetzen wie erstarrt. Die Anwesenheit der Liebesma gierin und deren Bewirtung hatten sie die Gefahr total vergessen lassen.
Marianne Sydow Die Gegner draußen standen ebenfalls still, denn sie mochten ihren Augen nicht trauen. Was sie vor sich sahen, war die Kon zentration all dessen, was Magie eben nicht darzustellen hatte – wenn man nach den Ge setzen der Barriere handelte. In diesem Augenblick fiel die Entschei dung. Was danach kam, war dem erlösenden Regen zu vergleichen, der dem ersten Blitz schlag folgt. Noch einmal lief eine unsicht bare Front durch die Reihen der Magier. Die, die im Tal der Nebel plötzlich zur Be sinnung kamen, wären vor Scham am lieb sten im Boden versunken, dann aber stürzten sie sich mit doppelter Kraft in den Kampf. Es war eine gespenstische Schlacht. Kaum jemand benutzte etwas, was einer Waffe auch nur entfernt glich. Karsjanor, der sich am liebsten auf seine Kristallschleu der verließ, war schon vor dem ersten Schuß gezwungen, sich auf seine natürlichen Kräf te zu besinnen. Denen, die wie er dachten, erging es nicht besser. Von da an gab es nur noch das zähe Ringen um die magischen Sperren, die jeder für sich errichten konnte. Diese Sperren waren die einzige Waffe, die den Magiern im Kampf gegen ihresgleichen gestattet waren. Sie aufgeben zu müssen, hieß, schutzlos dazustehen. Ein Magier war ohne diese Schirme tatsächlich seinem Geg ner restlos ausgeliefert. Als es um die Rangfolge in Oth ging, vor langer Zeit, hatte man die Macht der Magier in zahllosen einzelnen Auseinandersetzun gen erforscht. Niemals war es zu einem der artigen Kampf gekommen, wie er jetzt statt fand. Und darum herrschte auch – trotz aller persönlichen Überzeugungen – Ungewißheit über den Ausgang des Geschehens. Plötzlich ernüchtert, strebte jeder danach, sich möglichst schnell in Sicherheit zu brin gen. Die Gegner jedoch gingen geordnet vor. Die Rebellen waren die ersten, die sich zusammenschlossen und so, mit vereinten Kräften, zuerst die Sperren des zweitgrößten Gegners niederrissen – Wortz, der Lebens magier, taumelte plötzlich und brach zusam men, weil ein unsichtbarer Blitz ihn lähmte.
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Danach ging es wie ein Schatten durch das Tal, und immer kleiner wurde die Schar de rer, die sich noch am Ende der Transportspi rale hielten. Ein gemeinsamer Angriff der Mächtigsten von Oth machte auch dieser letzten Bastion des Widerstands den Garaus. Gleichzeitig zerrissen unsichtbare Verbindungen zu vie len Gebieten von Pthor, aber auch innerhalb der Barriere. Nur Jarsynthia selbst blieb noch für einen Augenblick frei – dann holte Glyndiszorn sie aus der Gondel ihres Luft schiffs und warf sie vor Copasallior zu Bo den. Die Liebesmagierin sah schlimm aus. Von der betörenden Schönheit, mit der sie sich zu schmücken pflegte, war nichts geblieben. »Du hättest den Tod verdient«, sagte Co pasallior mit steinerner Miene. »Aber uns stehen schlimme Zeiten bevor, und du und deine Freunde sollen eine letzte Chance er halten.«
»Freue dich nicht zu früh!« warnte Copa sallior. »Die magischen Kräfte sollen dir bleiben, aber das Tal der Nebel wird es nicht wieder geben, bis all diese Magier hier es anders entscheiden.« Jarsynthia sackte bewußtlos zu Boden, und Copasallior nickte dem, der sie betäubt hatte, zu. Gemeinsam mit dem Luftmagier Haswahu und den früheren Rebellen kehrte er in die Tronx-Kette zurück. Das Leben ging weiter, und die Magier verteilten sich über die Barriere, aber die Grenzen der Bezirke wurden durchlässig. Fast hätten Leute wie Koratzo sich wieder wohl fühlen können in Oth. Aber die Zu kunft war voller Schatten und einer großen Gefahr.
E N D E
ENDE