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SERIES IN THE PHILOSOPHY OF KARL R. POPPER AND CRITICAL RATIONALISM SCHRIFTENREIHE ZUR PHILOSOPHIE KARL R. POPPERS UND DES KRITISCHEN RATIONALISMUS Herausgegeben von Kurt Salamun BAND XVII
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KRITISCHE RATIONALITÄT UND VERSTEHEN BEITRÄGE ZU EINER NATURALISTISCHEN HERMENEUTIK
Jan M. Böhm
Amsterdam - New York, NY 2006
Düsseldorf, Univ., Diss. D 61
The paper on which this book is printed meets the requirements of ‘ISO 9706: 1994, Information and documentation - Paper for documents Requirements for permanence’. ISBN: 90-420-1816-X Editions Rodopi B.V., Amsterdam - New York, NY 2006 Printed in The Netherlands
Meinen Eltern gewidmet
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VORWORT
Die hier vorgelegte Arbeit enthält drei inhaltlich zusammenhängende erkenntnistheoretische Untersuchungen über Probleme des Verstehens und Interpretierens von Rede und Text. Auf der Grundlage des im ersten Teil unternommenen Versuchs, den epistemologischen Status menschlicher Zeugnisse zu bestimmen, dienen die Teile zwei und drei dieser Arbeit dazu, den Stellenwert von Rationalitäts- und Wahrheitsunterstellungen beim Verstehen und Interpretieren zu klären. Dies erfolgt in kritischer Auseinandersetzung sowohl mit der sogenannten Situationslogik Karl Poppers als auch mit einschlägigen Positionen der analytischen Philosophie. Das Ziel meiner Untersuchungen besteht jeweils darin, die von unterschiedlichen Autoren vorgebrachten Behauptungen einer erfahrungsunabhängigen Geltung der Prinzipien des Verstehens und Interpretierens einer eingehenden Prüfung zu unterziehen – sei es im Zusammenhang mit der im Rahmen der Sozialen Erkenntnistheorie geführten Diskussion über den Status von menschlichen Zeugnissen, sei es in Form einer Kritik des von Karl Popper im Kontext seiner Situationslogik vertretenen Rationalitätsprinzips oder auch in der eingehenden Analyse der Argumente, die von analytischen Philosophen zugunsten einer erfahrungsunabhängigen Geltung des principle of charity vorgebracht wurden. Diese kritische Ausrichtung meiner Arbeit im Sinne der Zurückweisung der genannten Behauptungen hat jedoch auch eine konstruktive Dimension: Sie zeigt die Möglichkeit einer naturalistischen Hermeneutik, d.h. einer Verstehenslehre, die konsequent auf die Beanspruchung apriorischen Wissens verzichtet. Danken möchte ich zuerst Axel Bühler, der diese Dissertation an der Universität Düsseldorf besonders in der Schlußphase mit außergewöhnlichem Engagement betreute und mich dadurch maßgeblich zu ihrer Fertigstellung motivierte. Ein ebenso herzlicher Dank gebührt Hans Albert, dessen Schriften mich vor vielen Jahren überhaupt erst zum kritischen Rationalismus führten, und der nun auch im persönlichen Kontakt mit freundschaftlicher Unterstützung meine Dissertation begleitet hat. Obwohl sich im Verlauf der Arbeit bei mir zunehmende Zweifel einstellten, ob erkenntnistheoretische Probleme jemals zufriedenstellend gelöst werden können, fühle ich mich durch Hans Alberts Einschätzung, meine Arbeit habe das ihr gestellte Problem gelöst, außerordentlich geehrt. Oliver Scholz bin ich dafür verbunden, mich auf die Bedeutung der Diskussion über das Zeugnis anderer und ihre inhaltliche Verbindung mit der Debatte über den Status der Prinzipien des Verstehens aufmerksam gemacht zu haben. Seine Studien über diesen Themenkomplex bildeten eine wichtige Inspirationsquelle für meine Arbeit, wenngleich ich in zentralen Aspekten entgegengesetzte Auffassungen vertrete. Es freut mich, daß meine Kritik ihn – im Rahmen eines Kolloquiums – dazu angeregt hat, innerhalb seiner Theorie der hermeneutischen Präsumtionen neuerdings verschiedene Bedeutungen von apriorischer Gültigkeit
VIII
Vorwort
zu unterscheiden. Ob diese Unterscheidung bestimmte Teile meiner Kritik an jeglichen Ansprüchen auf erfahrungsunabhängig geltende Prinzipien des Verstehens entschärft, muß sich in einer schriftlichen Kontroverse entscheiden, zu der ich gern bereit bin, sofern sie gewünscht ist. Weiterhin möchte ich Dieter Birnbacher und Volker Gadenne für ausführliche und wertvolle Rückmeldungen auf meine Arbeit danken; ebenso den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an meinen Lehrveranstaltungen zur Hermeneutik an der Universität Duisburg-Essen für manche anregenden Diskussionen. Nicht nur für fachphilosophische Diskussionen allein, sondern besonders für die vielen guten Gespräche jenseits theoretischer Philosophie und für die praktische Unterstützung in den Wochen vor der Abgabe der Dissertation danke ich meiner Frau, Claudia Hoock. Meinen Eltern, die mein Studium und die Promotion jahrelang gefördert und das Zustandekommen der Arbeit mit Interesse verfolgt haben, ist das entstandene Werk gewidmet. Im Hinblick auf die Veröffentlichung meiner Dissertation ist insbesondere Kurt Salamun zu danken, der entschieden hat, sie in seine Schriftenreihe zur Philosophie Karl Poppers aufzunehmen. Münster i.W., im August 2005
Jan M. Böhm
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
V II
EINLEITUNG
1
1. TEIL: DAS ZEUGNIS ANDERER – EINE QUELLE GERECHTFERTIGTER WAHRER MEINUNG?
5
1.1
Die beiden Grundprobleme der Sozialen Erkenntnistheorie
5
1.2 1.2.1 1.2.2
Philosophiehistorischer Ausgangspunkt David Hume über das Zeugnis anderer Thomas Reid über das Zeugnis anderer
8 8 11
1.3 1.3.1 1.3.2
Ein später Sieg der Common-Sense-Philosophie? C.A.J. Coadys Kritik an David Hume Was sind „Zeugnisse“ überhaupt?
13 13 17
1.4
Über die Möglichkeit eines lokalen Reduktionismus
21
1.5
Müssen wir Zeugnisse für wahr halten?
27
1.6 1.6.1 1.6.2 1.6.3
Karl Popper über die Quellen des Wissens Darstellung Fallibilismus ist nicht genug – das Problem der Rechtfertigung Soziale Erkenntnistheorie und kritischer Rationalismus – die soziale Verfassung der Wissenschaft
36 37 41 47
Zwischenergebnisse
50
1.7
2. TEIL: KARL POPPERS THEORIE OBJEKTIVEN VERSTEHENS (SITUATIONSLOGIK)
55
2.1
Problemstellung
55
2.2
Karl Poppers Erkenntnisanspruch, sein Begriff von Hermeneutik und das Verstehen in den Natur- und Geisteswissenschaften 55
2.3
Die Entwicklung der Situationslogik im Überblick
60
X 2.4 2.4.1 2.4.2
Inhaltsverzeichnis
2.4.4
Die erste Konzeption der Situationslogik Die Autonomie der Soziologie und die Situationsanalyse Situationslogik als Metapher für instrumentelle Notwendigkeiten Die Nullmethode der Konstruktion von Modellen rationalen Handelns Beurteilung
64 68
2.5 2.5.1 2.5.2
Die zweite Konzeption der Situationslogik Der Begriff der Situation Das Rationalitätsprinzip
69 69 72
2.6
Die ‚Drei-Welten‘-Ontologie und das objektive Verstehen – die dritte Konzeption der Situationslogik
76
Die Anwendung der Situationslogik und Poppers Interpretationspraxis Das Fallbeispiel: Galileis Theorie der Gezeiten Situationslogik und Nachvollzugs-Hermeneutik im Vergleich Karl Poppers Interpretationspraxis
78 78 80 82
Poppers Situationslogik im Vergleich mit der objektiven Hermeneutik Ulrich Oevermanns
87
Grenzen und Möglichkeiten der Anwendung von Rationalitätsunterstellungen
89
2.4.3
2.7 2.7.1 2.7.2 2.7.3 2.8 2.9
61 61 63
3. TEIL: ÜBER DIE ‚NOTWENDIGKEIT’ VON RATIONALITÄTS- UND WAHRHEITSPRÄSUMTIONEN BEIM VERSTEHEN
93
3.1
Einleitung
93
3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3
Zur Geschichte der „wohlwollenden Interpretation“ Antike und Mittelalter Wohlwollende Interpretation im 17. und 18. Jahrhundert Allgemeine Hermeneutik im 19. und 20. Jahrhundert
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen als notwendige Bedingungen des Verstehens und Interpretierens 3.3.1 Verstehens- und Interpretationsprinzipien als Präsumtionen 3.3.2 Präsumtionen als „instrumentell notwendige“ Bedingungen
94 94 96 100
3.3
109 109 112
Inhaltsverzeichnis Präsumtionen als „evolutionär“ bzw. „naturgesetzlich“ notwendige Bedingungen 3.3.4 Präsumtionen als „konstitutive Bedingungen“ 3.3.4.1 Präsumtionen als „praxiskonstitutive“ Bedingungen 3.3.4.2 Präsumtionen als „begriffskonstitutive“ Bedingungen 3.3.4.2.1 Begründungen aus der methodologischen Notwendigkeit 3.3.4.2.2 Begründungen aus dem Holismus der Interpretation 3.3.4.2.3 Begründungen unter Berufung auf einen Wahrheitshintergrund 3.3.4.2.4 Begründungen unter Berufung auf einen Rationalitätshintergrund: die Begriffe der Meinung, der Handlung und der Person 3.3.5 Besitzen hermeneutische Präsumtionen apriorische Geltung?
XI
3.3.3
3.4 3.4.1
117 119 119 122 123 128 130 141 144
Die Grenzen von Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen Falschheits- und Irrationalitätsannahmen beim Umgang mit Zeugnissen sowie die Möglichkeit der Urteilsenthaltung 3.4.1.1 Falschheits- und Irrationalitätsannahmen bei der Beurteilung 3.4.1.2 Falschheits- und Irrationalitätspräsumtionen beim Verstehen 3.4.1.3 Über Urteilsenthaltung und das Verstehen von Äußerungen ohne Präsumtionen 3.4.2 Grenzen wohlwollender Interpretation und das Prinzip der Erklärbarkeit 3.4.2.1 Bühler über Grenzen der Charity-Prinzipien 3.4.2.2 Hendersons Prinzip der Erklärbarkeit 3.4.3 Grundzüge einer naturalistischen Hermeneutik
146
157 157 158 162
ZUSAMMENFASSENDE SCHLUßBEMERKUNG
167
LITERATURVERZEICHNIS
173
PERSONENREGISTER
185
SACHREGISTER
187
146 147 149 155
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EINLEITUNG In der vorliegenden Arbeit soll auf der Grundlage kritisch-rationaler Erkenntnisund Wissenschaftstheorie zu einigen Problemen der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik Stellung bezogen werden. Hierbei stehen zum einen erkenntnistheoretische Fragen zur Diskussion: Welchen epistemologischen Status besitzen die Prinzipien des Verstehens und Interpretierens? Können sie apriorische Geltung beanspruchen? Sind menschliche Rede und Text („Zeugnisse anderer“) überhaupt eine Quelle des Wissens im Sinne gerechtfertigter wahrer Meinung? – Zum anderen werden die mit den erkenntnistheoretischen Fragen zusammenhängenden methodologischen Probleme besprochen: Gibt es so etwas wie eine genuin geisteswissenschaftliche Methode des Verstehens und Interpretierens, die sich von anderen realwissenschaftlichen Methoden unterscheidet? Ist die Hermeneutik mehr als eine regelgeleitete Kunstlehre des Verstehens? Da die Beantwortung dieser methodologischen Fragen unter anderem davon abhängt, ob man den Prinzipien des Verstehens und Interpretierens apriorische Geltung einräumt und das Zeugnis anderer in einem bestimmten Sinn als eine gerechtfertigte Erkenntnisquelle auffaßt, nimmt die kritische Diskussion der erkenntnistheoretischen Fragen einen breiten Raum ein. Der erste Teil der Arbeit befaßt sich mit der Debatte über das Zeugnis anderer innerhalb der sogenannten Sozialen Erkenntnistheorie (social epistemology), einer relativ aktuellen Strömung der Gegenwartsphilosophie, die für sich in Anspruch nimmt, das Zeugnis anderer als Quelle gerechtfertigter Erkenntnis (wieder)entdeckt zu haben und eine radikale Alternative zur bisherigen Erkenntnistheorie zu bieten – sowohl in Frontstellung zur empiristischen als auch zur rationalistischen Tradition. Dem herkömmlichen Empirismus sowie dem Rationalismus wird hierbei eine sogenannte „individualistische“ Sichtweise der Erkenntnissituation unterstellt, die es zu überwinden gelte (vgl. Scholz 2003: 358). Neben zahlreichen Arbeiten zur Sozialen Erkenntnistheorie, die dem Bereich der Wissenssoziologie (vgl. Fuller 1988) oder auch der Wissenschafts-Soziologie (vgl. Kitcher 1990) zuzuordnen sind, sind vor allem diejenigen Ansätze in der Sozialen Erkenntnistheorie von philosophischem Interesse, in denen es um Fragen der Geltung unseres Wissens geht.1 Als Kristallisationspunkt und Zentrum der Sozialen Erkenntnistheorie kann man hierbei die Diskussion über das ‚Zeugnis anderer’ (testimony) bezeichnen. Mit „Testimony“ sind diejenigen Kenntnisse gemeint, die wir von anderen Menschen übernehmen.2 Empirismus und Rationalismus, so die Vertreter der Sozia-
1
Zur Unterteilung der Sozialen Erkenntnistheorie in den „classical approach“, der Geltungsfragen berücksichtigt, und den relativistischen „anti-classical approach“ vgl. Goldman 2001: S. 1. 2 Eine engere Begriffsbestimmung definiert Zeugnisse als assertorische Sprechhandlungen (vgl. Coady 1992: 25). Daneben existieren auch erheblich weitere Definitionen, die
2
Einleitung
len Erkenntnistheorie, hätten die Testimonialerkenntnis entweder schlicht ignoriert oder aber als zweitrangig bzw. als aus einer anderen Erkenntnisquelle ‚abgeleitet’ aufgefaßt.3 Damit sei jedoch etwas übersehen worden, was dem gesunden Menschenverstand längst bekannt ist: Fast alles, was wir wissen, haben wir von anderen übernommen. Durch die Anerkennung des Zeugnisses anderer als eigenständiger Erkenntnisquelle werde ein grundlegender Wandel in der Epistemologie erreicht: von der individualistischen (empiristischen oder auch rationalistischen) Tradition hin zu einer sozialen Theorie der Erkenntnis. Ist das Zeugnis anderer tatsächlich eine solche Erkenntnisquelle? Und ist es für das richtige Verstehen notwendig, die Wahrheit der zu verstehenden Zeugnisse zu unterstellen? Es soll versucht werden, die Frage nach dem Zeugnis anderer als Quelle des Wissens sowie die Frage nach der Notwendigkeit der Wahrheitsunterstellung beim Verstehen aus kritisch-rationaler Sicht zu beantworten, wobei ich insbesondere auf den bereits bei Karl Popper vorliegenden differenzierten Lösungsversuch eingehen möchte. Während Popper im Hinblick auf den epistemologischen Status des Zeugnisses anderer als Erkenntnisgegenstand der Hermeneutik einen wichtigen Beitrag geleistet hat, sind seine Ausführungen über die Prinzipien des Verstehens und Interpretierens problematisch. Im Gegensatz zu der von ihm vertretenen Wissenschaftstheorie, die durch die Annahme der Fehlbarkeit jeglicher Erkenntnis (Fallibilismus) sowie durch die Betonung des deduktiv-nomologischen Modells kausaler Erklärung und einer deduktiven Methode der Hypothesenprüfung gekennzeichnet ist4, geht er in seiner Verstehenskonzeption von einem apriorischen Rationalitätsprinzip aus, das das Verstehen und Interpretieren anleite. Dieses Prinzip könne nicht widerlegt werden und sei somit unfehlbar, zugleich aber auch notwendig für das richtige Verstehen. Damit kommt der Hermeneutik, die in Poppers eigener Verstehenskonzeption als „Situationslogik“ bezeichnet wird, ein fundamental anderer Status zu als anderen realwissenschaftlichen Methoden der Erkenntnisgewinnung. Im zweiten Teil der Arbeit unter den Begriff des Zeugnisses auch etwa Bilder subsumieren (vgl. Scholz 2003: 356 f.) und damit über den Bereich sprachlich vermittelten Wissens hinausgehen. 3 Es wäre allerdings reichlich irreführend, Philosophen wie John Locke (der gern als Paradebeispiel für einen Testimonial-Skeptiker herangezogen wird) zu unterstellen, sie hätten übersehen, wie viele unserer Meinungen auf das Zeugnis anderer zurückgehen. Bestritten wird von Locke und anderen vielmehr nur, daß solcherart zustande gekommene Meinungen dadurch bereits den Rang von „Wissen“ im Sinne gerechtfertiger wahrer Meinung besitzen. Durch das Kaschieren dieses Unterschieds zwischen Genese und Rechtfertigung kann man einen allzu leichten, doch nur verbalen Sieg in der Streitfrage erreichen, ob Testimony Quelle des „Wissens“ ist oder nicht. 4 Neben dem Fallibilismus – der eine Verallgemeinerung des ursprünglich in der Logik der Forschung vertretenen Falsifikationismus darstellt –, dem deduktiv-nomologischen Modell kausaler Erklärung und der deduktiven Hypothesenprüfung kann man auch den (kritischen) Realismus als Bestandteil des kritischen Rationalismus auffassen (vgl. Albert 1980: 183).
Einleitung
3
wird die Entstehung dieser „Situationslogik“ in Poppers Gesamtwerk chronologisch nachverfolgt sowie das postulierte apriorische Rationalitätsprinzip auf der Grundlage kritisch-rationaler Erkenntnistheorie kritisiert. Im dritten Teil untersuche ich die in den ersten beiden Teilen bereits exemplarisch diskutierten Fragen nach dem Status der Prinzipien des Verstehens systematisch und ziehe aus den Ergebnissen dieser Untersuchung methodologische Konsequenzen. Die beiden zentralen Prinzipien des Verstehens sind die Wahrheits- und die Rationalitätspräsumtion: Es wird unterstellt, daß der Urheber einer Rede oder eines Textes in bestimmter Hinsicht rational ist und daß das, was er sagt, wahr ist. Die Rationalitätspräsumtion spielt schon bei der Besprechung der Situationslogik Poppers eine entscheidende Rolle, während die Wahrheitspräsumtion bereits im Zusammenhang mit der Debatte über das Zeugnis anderer diskutiert wird. Die Anwendung von Wahrheits- und Rationalitätspräsumtionen beim Verstehen und bei der Auslegung von Texten hat eine lange Tradition; sie wurde unter anderem im 17. und 18. Jahrhundert als interpretatorische Billigkeit bezeichnet und in der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts als „principle of charity“ wiederentdeckt. Bei der zentralen Frage, ob und inwiefern Rationalitäts- und Wahrheitsunterstellungen für das Verstehen und Interpretieren notwendig sind, kann ich der von Oliver R. Scholz unternommenen systematischen Rekonstruktion dieser Debatte folgen, in der die verschiedenen Aspekte der Problemstellung bereits deutlich herausgearbeitet worden sind. Ausgehend von Scholzens Theorie der hermeneutischen Präsumtionen sowie seiner Ausdifferenzierung der Problemstellung komme ich dennoch zu einer abweichenden Beurteilung der Notwendigkeit von Rationalitäts- und Wahrheitsunterstellungen. Abschließend sollen aus der erkenntnistheoretischen Untersuchung einige methodologische Konsequenzen im Hinblick auf eine „naturalistische Hermeneutik“ gezogen werden, in der darauf verzichtet wird, den Prinzipien des Verstehens und Interpretierens apriorische Geltung zuzuweisen.5
5
Natürlich werden hierbei auch die Interpretationsergebnisse nicht als sicheres Wissen aufgefaßt, wohl aber als möglicherweise wahre Hypothesen.
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1. TEIL: DAS ZEUGNIS ANDERER – EINE QUELLE GERECHTFERTIGTER WAHRER MEINUNG? 1.1
Die beiden Grundprobleme der Sozialen Erkenntnistheorie
Vertreter der Sozialen Erkenntnistheorie erheben den Anspruch, mit ihr eine Alternative sowohl zur empiristischen als auch zur rationalistischen Tradition vorgebracht zu haben, die den vermeintlichen „Individualismus“ der bisherigen Erkenntnistheorie überwindet. Bevor die Soziale Erkenntnistheorie aber ernsthaft als Alternative zum Rationalismus und Empirismus offeriert werden kann, muß gezeigt werden, daß sie mehr leistet als bloß die Betonung des ‚Sozialen’ im Erkenntnisprozeß – denn die Bedeutung zwischenmenschlicher Kooperation bei der Wissensgewinnung dürfte heutzutage von keinem Vertreter der empiristischen oder rationalistischen Tradition geleugnet werden.6 Umstritten war und ist vielmehr die Frage der ‚Eigenständigkeit’ (bzw. ‚Nicht-Reduzierbarkeit’) des Zeugnisses anderer als Erkenntnisquelle. – Was aber ist damit genau gemeint? Mit der Eigenständigkeit von Testimony als Erkenntnisquelle ist in der Literatur dreierlei gemeint: (1.) daß vieles von dem, was das jeweilige Erkenntnissubjekt weiß, de facto auf das Zeugnis anderer zurückgeht; (2.) daß das Erkenntnissubjekt das ihm durch das Zeugnis anderer vermittelte Wissen auf keine andere Weise erwerben kann und (3.) daß die Tatsache der Abstammung dieses Wissens aus dem Zeugnis anderer bereits als epistemische Rechtfertigung dieses Wissens gelten kann (und damit sein Geltungsgrund nicht in einer anderen Erkenntnisquelle, etwa der Erfahrung, zu suchen ist). Diese drei Bedeutungen von „Eigenständigkeit“ bzw. „Nicht-Reduzierbarkeit“ werden in der Diskussion miteinander konfundiert. Es ist aber nicht unerheblich, daß es sich bei den ersten beiden Fragen um Tatsachenfragen handelt, bei der letzten jedoch um ein davon unabhängiges Rechtfertigungsproblem. Man muß also zwischen zwei voneinander unabhängigen Arten von Problemen im Hinblick auf die ‚Eigenständigkeit’ des Zeugnisses anderer unterscheiden: zwischen dem Tatsachenproblem der Abstammung des Wissens, relativ zu einem bestimmten Erkenntnissubjekt, und dem Problem der Rechtfertigung dieses Wissens. Dies sind m.E. die beiden Grundprobleme der Sozialen Erkenntnistheorie. In der Regel werden diese beiden Grundprobleme nicht unabhängig voneinander diskutiert, vielmehr unterstellt man stillschweigend, ein Nachweis der ‚Eigenständigkeit’ im Sinne von (1) und (2) impliziere auch eine positive Antwort im Hinblick auf die epistemische Rechtfertigung. Daß dies nicht zwingend 6
Innerhalb des kritischen Rationalismus wurde die Bedeutung sozialer Traditionen und Institutionen beim Erkenntnisprozeß ohnehin stets betont. Max Albert ist kürzlich noch darüber hinaus gegangen, indem er methodologische Regeln nicht mehr als Handlungsanleitung für einzelne Wissenschaftler auffaßt, sondern institutionalistisch deutet als „Verfassung der Wissenschaft“ (vgl. M. Albert 2002).
6
Erster Teil
ist und lediglich von dem verwendeten Wissensbegriff abhängt, soll im Verlauf des vorliegenden Kapitels näher erläutert und begründet werden. Die Diskussion über den Status der Testimonialerkenntnis hat weitreichende Bedeutung für die Hermeneutik als der Lehre vom Verstehen und Interpretieren menschlicher Zeugnisse. Testimony bildet den Erkenntnisgegenstand der Hermeneutik, insofern liegt die Annahme nahe, daß mit der Neuakzentuierung des Zeugnisses anderer als gleichberechtigter Erkenntnisquelle auch eine Aufwertung der Hermeneutik einhergeht. Denn ohne das richtige Verstehen sei uns diese Quelle des Wissens verschlossen: „Wahrnehmung, Introspektion, Gedächtnis und Vernunft (Schließen) werden am häufigsten als Quellen für Meinungen und Wissen genannt. Vieles von dem, was wir glauben und wissen, haben wir jedoch dem entnommen, was andere gesagt, geschrieben oder mithilfe anderer Symbole [...] ausgedrückt haben. Weite Bereiche unserer Meinungssysteme gehen auf mündliche, schriftliche oder anders kodifizierte Zeugnisse dieser Art zurück. Um zu den entsprechenden Meinungen zu gelangen, mußten wir die entsprechenden Äußerungen, Texte etc. verstehen. [...] So spielen Formen des Verstehens eine wesentliche Rolle für die Erschließung einer der am reichlichsten sprudelnden Erkenntnisquellen“ (Scholz 1999: 7).
Vertreter der Sozialen Erkenntnistheorie glauben nachgewiesen zu haben, daß die meisten Zeugnisse zuverlässig (im Sinne von wahr) sein müssen (vgl. Quinton 1982: 71, Coady 1992: 153 ff.). Auf das Zeugnis anderer als Erkenntnisquelle könne man sich daher in der Regel verlassen. Es stellt sich die Frage, ob derartig starke Wahrheitspräsumtionen gegenüber Zeugnissen eine ‚Hermeneutik des Vertrauens’ begründen, d.h. eine Lehre vom Verstehen, die von der Wahrheit des Interpretationsgegenstandes ausgeht. Zur Rechtfertigung des Fürwahrhaltens von Zeugnissen werden transzendentale Argumente bemüht: Die Zuverlässigkeit (im Sinne von Wahrheit) der meisten Zeugnisse sei Bedingung der Möglichkeit sprachlicher Verständigung überhaupt. – Falls sich diese Argumentation als haltbar erweisen sollte, käme auch der Hermeneutik die bereits von Gadamer beschworene ‚transzendentale’ Bedeutung zu.7 Die aktuelle Diskussion über den erkenntnistheoretischen Status von Testimony ist daher in hohem Maße relevant für das Selbstverständnis der Hermeneutik als wissenschaftlicher Disziplin. Dieses Selbstverständnis der Hermeneutik als Mittel zur ‚Erschließung einer der am reichlichsten sprudelnden Erkenntnisquellen’ wird jedoch in der Praxis 7
Die Hermeneutik Gadamerscher Provenienz, bei der es sich um eine „existenzialphilosophisch transformierte Variante“ der Transzendentalphilosophie handelt (Scholz 1999: 137), weist in dieser Hinsicht eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den durch die analytische Philosophie inspirierten Argumenten für die Wahrheit von Zeugnissen auf. Sowohl Gadamers „Vorgriff der Vollkommenheit“ als auch die auf D. Davidson zurückgehenden principles of charity können als a priori-Rechtfertigungen des Zeugnisses anderer verstanden werden.
Das Zeugnis anderer
7
mit einigen Beschränkungen konfrontiert: Nur in bestimmten Bereichen, etwa beim Verstehen und Interpretieren historischer Quellen (vgl. Bernheim 1908), existieren hinreichend ausgearbeitete und leistungsfähige Interpretationsmethodologien.8 Wären wir beim alltäglichen Verstehen von Zeugnissen auf eine Hermeneutik als Interpretationsmethodologie angewiesen, wären dem Verstehen weitaus engere Grenzen gesetzt, als wir sie in der Praxis des Verstehens vorfinden. Deshalb erscheint es keineswegs selbstverständlich, daß die Hermeneutik als philosophische oder realwissenschaftliche Disziplin überhaupt nötig ist, damit die „Erkenntnisquelle“ des Zeugnisses anderer nicht versiegt. In einem ersten Schritt (1.2) soll der philosophiehistorische Ausgangspunkt der Debatte untersucht werden: die unterschiedlichen Positionen Thomas Reids und David Humes zum epistemologischen Status des Zeugnisses anderer. Anschließend werden zentrale Argumente der gegenwärtigen Diskussion dargestellt und kritisch analysiert, zunächst die seit 1973 wiederholt vorgebrachte Argumentation Coadys gegen die Position Humes (1.3), bei der die sogenannte Reduktionismusthese Humes im Mittelpunkt steht. Im Abschnitt (1.4) soll diese Frage einer ‚Reduzierbarkeit’ von Testimony auf alternative Erkenntnisquellen systematisch und anhand der kontroversen aktuellen Diskussion nachvollzogen werden. Neben der Auseinandersetzung mit der von sozialen Erkenntnistheoretikern behaupteten Nicht-Reduzierbarkeit von Zeugnissen (‚negative claim’) sind vor allem die positiven Argumente von Bedeutung, die für die epistemologische Eigenständigkeit von Testimony angeführt werden. Diese Diskussion über ein vermeintlich präsumtives Recht, Zeugnisse für wahr zu halten (‚presumptive right thesis’), findet in dem Abschnitt (1.5) statt. Zum Abschluß (1.6) soll – aus Sicht kritisch-rationaler Wissenschaftstheorie – eine Neuinterpretation der Streitfrage, ob das Zeugnis anderer eine eigenständige Quelle unseres Wissens darstellt, vorgenommen werden. Bei Karl Poppers Antwort auf diese Frage handelt es sich um eine „skeptische Lösung“ im Humeschen Sinne dieses Ausdrucks, da das Problem durch eine Neuinterpretation bestimmter Aspekte der Problemsituation gelöst wird. Popper ersetzt insbesondere den traditionellen Begriff des Wissens als gerechtfertigter wahrer Meinung durch seine Konzeption des „Vermutungswissens“. Ob die mit Poppers Ersetzung der Idee der epistemischen Rechtfertigung durch die Idee kritischer Prüfung verbundene Lösung akzeptabel ist, und ob sie – entgegen den Absichten Poppers – zu einer pyrrhonischen Skepsis führt, dies ist allerdings zur Zeit auch innerhalb der kritischrationalen Wissenschaftstheorie eine offene Frage, die kontrovers diskutiert wird. Von dieser kontroversen Beurteilung der Konzeption des „Vermutungswissens“ abgesehen, kann darauf verwiesen werden, daß Popper selbst und auch andere Vertreter des kritischen Rationalismus die soziale Dimension der Erkenntnis hinreichend berücksichtigt haben, so daß die kritisch-rationale Er8
Die Geschichtswissenschaft ist hierbei auch deshalb von Interesse, weil in ihr das Zeugnis anderer die wichtigste Erkenntnisquelle bildet.
8
Erster Teil
kenntnis- und Wissenschaftstheorie von den einschlägigen „anti-reduktionistischen“ Argumenten sozialer Erkenntnistheoretiker nicht betroffen ist. Der Abschnitt (1.7) faßt die Zwischenergebnisse des ersten Teils dieser Arbeit zusammen und skizziert eine naturalistische Lösung der Testimony-Problematik, die im dritten Teil der Arbeit weitergeführt werden soll.
1.2
Philosophiehistorischer Ausgangspunkt
Als philosophiehistorischer Vorläufer der Sozialen Erkenntnistheorie gilt v.a. Thomas Reid, Hauptvertreter der sogenannten Common-sense-Schule der schottischen Philosophie, Zeitgenosse und Antipode David Humes. Entsprechend nimmt die gegenwärtige Diskussion über das ‚Zeugnis anderer’ ihren Ausgangspunkt bei einer Rezeption Reids (vgl. Coady 1992: 54-62, 117-129) sowie einer Kritik der Ausführungen Humes zum Thema ‚Testimony’. Ein eingehender Vergleich der diesbezüglichen Positionen Reids und Humes zeigt jedoch, daß beide Autoren dem ‚Zeugnis anderer’ einen herausragenden Stellenwert in der Erkenntnispraxis einräumen. Umstritten ist allein der erkenntnistheoretische Status von ‚Testimony’.
1.2.1
David Hume über das Zeugnis anderer
Zu den philosophiehistorisch einflußreichsten Texten, die nach wie vor die Debatte über den epistemologischen Status von Zeugnissen anderer prägen, gehört der 10. Abschnitt aus David Humes „An Enquiry concerning Human Understanding”. Humes Ziel in diesem Abschnitt besteht darin, eine „dauernde Schranke gegen jede Art von abergläubischer Verblendung“ (Hume 1748/1993: 129) aufzurichten, vornehmlich gegen jene Berichte über Wunder, die zur Unterstützung der christlichen Religion ins Feld geführt werden. Seine Ausführungen über die Glaubwürdigkeit menschlicher Zeugnisse stehen in diesem Kontext; Humes Beitrag zur ‚Testimony-Debatte’ ist also eher ein Nebenprodukt der religionsphilosophischen Auseinandersetzung mit Wundern. Inwiefern Humes Argumente gegen den Wunder-(Aber)glauben triftig sind, muß uns in unserem Zusammenhang nicht interessieren.9 Das Kapitel beginnt mit einem zustimmenden Hinweis auf die Argumentation Dr. Tillotsons, „jenes gelehrten Geistlichen“, der – ausgehend vom Primat der Sinneserfahrung gegenüber dem Zeugnis anderer – die Lehre von der leiblichen Gegenwart des Leibes Christi beim Abendmahl bestritt. Da die Autorität 9
Eine ausführliche Darstellung und kritische Diskussion findet sich im ersten Kapitel von J. L. Mackies „Wunder des Theismus“ (vgl. Mackie 1982: 27-51).
Das Zeugnis anderer
9
der heiligen Schrift stets nur auf Zeugen beruhe, z.B. Augenzeugen der Wunder des Erlösers, könne einer biblischen Lehre kein Glauben geschenkt werden, sobald sie der Sinneserfahrung widerspreche (128 f.). Erfahrung, so pflichtet Hume bei, sei „unser einziger Führer bei Denkakten über Tatsachen“ (ebd.), wenngleich nicht unfehlbar. Der Glaube an behauptete Sachverhalte richte sich danach, wie häufig Sachverhalte der betreffenden Art bislang durch Beobachtung bestätigt werden konnten. Allein „untrügliche Erfahrung“, d.h. häufige und ausnahmslose Bestätigung, dürfe als beweiskräftig gelten. Bei uneindeutigen Ergebnissen werde – je nach Häufigkeit der Fälle – eine mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des betreffenden Sachverhalts angenommen. Angewendet auf das menschliche Zeugnis gelte Folgendes: „Wenden wir diese Prinzipien auf einen besonderen Fall an, so machen wir wohl die Beobachtung, daß es keine so allgemeine, so nützliche und selbst zu unserem Leben so notwendige Art der Vernunfttätigkeit gibt, wie die, welche von dem menschlichen Zeugnis und den Berichten von Augenzeugen und Zuschauern ausgeht” (Hume 1748/1993: 130).
Hume konstatiert also zunächst, daß die mit dem Zeugnis anderer verbundene Erkenntnispraxis allgemein verbreitet, nützlich, lebensnotwendig und – man kann ergänzen – dadurch pragmatisch gerechtfertigt ist. Dies liefert bereits einen Realgrund (‚Beweggrund’ bzw. Motiv), menschlichen Zeugnissen zu vertrauen: Wir können nicht anders! Der Erkenntnisgrund indes stammt „aus keinem anderen Prinzip [...], als aus unserer Beobachtung der Wahrhaftigkeit menschlichen Zeugnisses und der gewöhnlichen Übereinstimmung der Tatsachen mit den Berichten der Zeugen“ (Hume 1748/1993: 130 f.). Die Zuverlässigkeit von Testimony soll auf Grundlage vergangener Erfahrung beurteilt werden, und zwar durch einen Vergleich der Zeugenberichte mit den Tatsachen. Wer hier beobachtet und urteilt, bleibt bei Hume unbestimmt, allerdings spricht er an dieser Stelle von „unserer Beobachtung“, was auf eine Art von Erkenntnis-Gemeinschaft anstelle eines einsamen Erkenntnissubjektes hindeutet. Die von Hume beabsichtigte empirische Prüfung der Geltung von Testimony bezieht sich auf bestimmte Arten von Zeugnissen (bzw. Zeugen), die anhand davon unabhängiger Erfahrung getestet werden sollen. Dennoch sind auch Hume allgemeine Erwägungen nicht fremd, die einen generellen Vertrauensvorschuß in das Zeugnis anderer sinnvoll erscheinen lassen. Verschiedene uns durch Erfahrung bekannte Dispositionen der menschlichen Natur führten zu der Neigung, die Wahrheit zu sagen: „Wäre nicht das Gedächtnis bis zu gewissem Grade treu, neigten nicht die Menschen für gewöhnlich der Wahrheit und den Prinzipien der Redlichkeit zu; wären sie nicht der Scham zugänglich, wenn sie bei einer Lüge ertappt werden; wäre dies alles nicht durch Erfahrung als wesentliche Eigenschaft der menschlichen Natur bekannt, – so würden wir niemals das geringste Vertrauen in menschliches Zeug-
10
Erster Teil
nis setzen“ (Hume 1748/1993: 131)10. Es ist wichtig festzustellen, daß sich dieses Argument, obwohl auch hier die Rolle der Erfahrung betont wird, von dem zuerst genannten Prinzip der empirischen Prüfung bestimmter Arten von Zeugnissen unterscheidet. Denn die allgemeine Disposition, die Wahrheit zu sagen, scheint eine generelle Rechtfertigung unseres Vertrauens in Testimony zu begründen. Warum also noch eine zusätzliche empirische Prüfung der Glaubwürdigkeit bestimmter Arten von Zeugnissen (und Zeugen)? – Hume gibt an einer späteren Stelle eine Antwort darauf: Es existieren zugleich Dispositionen der menschlichen Natur – etwa Sensationslust, religiöser Eifer und Mangel an Urteilskraft –, die der natürlichen Wahrheitsneigung entgegenwirken und unter Umständen die Oberhand gewinnen (vgl. Hume 1748/1993: 137 f.). Außerdem wissen wir faktisch (aus Erfahrung), daß bestimmte Arten von Zeugnissen (und Zeugen) insgesamt unglaubwürdig sind. Man kann Humes Position demnach so zusammenfassen, daß die besondere Rolle von Testimony in der Erkenntnispraxis und weiterhin die Neigung zur Wahrheit als Disposition der menschlichen Natur zwar einen Vertrauensvorschuß im praktischen Umgang mit Zeugnissen anderer rechtfertigen, aber dennoch eine empirische Prüfung der einzelnen Arten von Zeugnissen und Zeugen erforderlich bleibt. Hume stellt darüber hinaus verschiedene Kriterien auf, nach denen die Zuverlässigkeit oder Unzuverlässigkeit von Zeugnissen empirisch ermittelt werden kann (vgl. Hume 1748/1993: 132): • • • • •
Gibt es entgegengesetzte Zeugnisse oder widersprechende Zeugen? Wie zuverlässig ist der Charakter des Zeugen? Wird das Zeugnis durch weitere Zeugen unterstützt? Ist bei dem Zeugnis persönlicher Vorteil im Spiel? Auf welche Art und Weise (z.B. übermäßig beteuernd) wird das Zeugnis abgegeben?
Diese Kriterien bilden den Kern dessen, was man als eine empiristische Technologie der Prüfung von Zeugnissen bezeichnen könnte. Sie greift zurück auf Gesetzmäßigkeiten, die aus dem Alltagsleben bekannt sind, und die zumindest implizit auch der juristischen Praxis der Beurteilung von Zeugen (vor Gericht) zugrunde liegen. Im Hinblick auf die besondere Art von Zeugnissen, den Wunderberichten, die im 10. Abschnitt der „Untersuchung über den menschlichen Verstand“ diskutiert wird, stellt Hume zunächst das Beurteilungsprinzip auf, die Glaubwürdigkeit eines Berichtes mit der Glaubwürdigkeit des Berichteten zu vergleichen. Die Frage lautet dann: Kann es Zeugnisse geben, die an sich so glaubwürdig sind, daß sie etwas so Unglaubwürdiges wie ein Wunder glaubhaft machen? – Humes Antwort auf diese Frage spielt für unseren Kontext nur insofern eine 10
Hervorhebung im Original.
Das Zeugnis anderer
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Rolle, als er Argumente dafür bietet, unter bestimmten Umständen von einer Falschheitspräsumtion gegenüber Zeugnissen (und Zeugen) bestimmter Art auszugehen. Obwohl Hume nicht kategorisch ausschließt, daß es Wunder geben könnte, zeigt er doch, daß die faktisch vorhandenen Wunderberichte innerhalb der christlichen Tradition notorisch unzuverlässig sind und damit etwas so Unglaubwürdiges wie ein Wunder nicht belegen können.
1.2.2
Thomas Reid über das Zeugnis anderer
In dem Kapitel „Of the analogy between perception and the credit we give to human testimony“ seiner „Inquiry into the Human Mind on the Principles of Common Sense“ (1764) skizziert Thomas Reid, der Begründer der sogenannten Common-Sense-Schule der schottischen Philosophie, eine alternative Vorstellung von der Rolle des Zeugnisses anderer in der Erkenntnistheorie. Seine zentrale These besteht in der Behauptung einer durchgängigen und starken Analogie zwischen Sinneswahrnehmung (testimony of nature) und dem Zeugnis anderer (human testimony): „In the testimony of Nature given by the senses, as well as in human testimony given by language, things are signified to us by signs [...]. We have distinguished our perceptions into original and acquired; and language, into natural and artificial. Between acquired perception and artificial language, there is a great analogy; but still a greater between original perception and natural language“ (Reid 1764/2002: 234).
Bei den „signs in natural language“ handelt es sich um die menschliche Körpersprache, die „signs in original perception“ sind Gefühle, mit denen uns die Natur ausgestattet hat. In beiden Fällen sei die Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem vor jeder Erfahrung vorhanden. Auf der Grundlage von „original perception“ und „natural language“ entstünden „acquired perception“ sowie „artificial language“ (die menschliche Sprache in Rede und Schrift), die sich gleichfalls analog zueinander verhielten. „Acquired perceptions“ sind als Wahrnehmungen zu verstehen, die einen gewissen Lernvorgang voraussetzen, etwa die Identifikation eines Gemäldes als Werk Raffaels. Die von Reid intendierte Analogie zwischen Wahrnehmung und menschlichem Zeugnis möchte ich durch ein Schaubild verdeutlichen:
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Erster Teil
Zeugnis der Natur (testimony of Nature) ursprüngliche Wahrnehmung (original perception)
Menschliches Zeugnis (human testimony) entspricht:
ursprüngliche Sprache (natural language)
(Die Verbindung zwischen Zeichen und den bezeichneten Dingen ist naturgegeben und vor jeder Erfahrung) Zeichen: (signs)
Empfindungen (sensations) (Hitze, Härte, Bewegung ...)
Empfindungen (sensations) (Gesichtsausdruck, Gesten, Ausdruck d. Stimme)
Grundlage für: erworbene Wahrnehmung (acquired perception)
entspricht:
erworbene bzw. ‚künstliche’ Sprache (artificial language)
(Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem naturgegeben, aber durch Erfahrung festgestellt)
(Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem vom Menschen gesetzt und durch Erfahrung festgestellt)
Zeichen: Empfindungen (sensations) oder Dinge, die wir mit Hilfe von Empfindungen wahrnehmen
artikulierte Laute (articulate sounds)
Wie man sieht, faßt Reid das menschliche Zeugnis in strenger Analogie zur Sinneserfahrung auf. Es ist keineswegs abgeleitet von primärer Erfahrung durch die Sinne, sondern er behauptet einen autonomen epistemologischen Status. Reids Problem ist nun: Woher wissen wir, daß Menschen die Sprache zuverlässig und ohne Täuschungsabsicht benutzen? Sind wir dazu berechtigt, Zeugnisse vor jeder empirischen Prüfung für wahr zu halten? – Reid gibt darauf eine positive Antwort, und zwar aufgrund zweier Prinzipien der menschlichen Natur. „The wise and beneficent Author of Nature, who intended that we should be social creatures, and that we should receive the greatest and most important part of our knowledge by the information of others, hath [...] implanted in our natures two principles that tally with each other“ (Reid 1764/2002: 236).
Welches sind nun die zwei Prinzipien? Als erstes nennt Reid das principle of veracity: „The first of these principles is, a propensity to speak truth [...]“ (Reid 1764/2002: 237). Das zweite ist das principle of credulity: „Another original principle implanted in us by the Supreme Being, is as disposition to confide in the veracity of others, and to believe what they tell us“ (ebd.).
Das Zeugnis anderer
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Bei einem Vergleich der Positionen von Hume und Reid fällt zunächst auf, daß beide dem menschlichen Zeugnis eine hohe Wertschätzung entgegenbringen. Beide Autoren halten Testimony für unverzichtbar und informativ sowie für üblicherweise glaubwürdig. Es existiert hier also kein Unterschied in der praktischen Einschätzung der Relevanz von Zeugnissen. Unterschiedlich fällt die Beurteilung in epistemologischer Hinsicht aus: Hume erkennt das Zeugnis nicht als Erkenntnisquelle sui generis an. Der Rechtfertigungsgrund für die Akzeptanz von Zeugnissen liegt in der vorgängigen Sinneserfahrung – eine Position, die in der ‚Testimony-Debatte’ als ‚reduktionistisch’ bezeichnet wird (vgl. Coady 1973). Reid dagegen stellt Sinneswahrnehmung (Zeugnis der Natur) und Testimony (menschliches Zeugnis) als gleichberechtigte und streng analoge Erkenntnisquellen nebeneinander. Damit formuliert er ein theologisches Modell der Erkenntnis: Die Sprechweise „testimony of nature“ ist nur dann nicht bloß metaphorisch, wenn man davon ausgeht, die Natur gebe ein Zeugnis von etwas ab, und zwar ein Zeugnis Gottes, des „weisen und wohlwollenden Autors der Natur“. Ein beträchtlicher weltanschaulicher Gegensatz zum Skeptiker Hume, der gerade eine Schranke gegenüber religiösem Aberglauben aufrichten wollte, ist unübersehbar.
1.3 1.3.1
Ein später Sieg der Common-Sense-Philosophie? C.A.J. Coadys Kritik an David Hume
Wer den Weg für die Anerkennung des Zeugnisses anderer als eigenständiger Erkenntnisquelle freimachen möchte, muß sich zunächst mit Humes Argumentation auseinandersetzen, in der die Geltung von Testimonialerkenntnis auf die Erfahrung zurückgeführt wird. Als relevant werden hierbei insbesondere die kritischen Ausführungen C.A.J. Coadys angesehen. Coady versucht, eine Zweideutigkeit der „Reduktionismus-These“ Humes nachzuweisen und die These in beiden Deutungen ad absurdum zu führen. Er kommt zu dem Ergebnis, daß sich Testimony auf keine andere Erkenntnisquelle zurückführen lasse und somit eine Erkenntnisquelle sui generis sei. In seinen Arbeiten (1973 und 1992: 79 ff.) entwickelt Coady grundlegende Argumente gegen die sogenannte ReduktionismusThese Humes. Auf die Frage „Why do you believe that?“, verstanden als Frage nach den Quellen der Erkenntnis, gibt es laut Coady mindestens vier grundlegende Antworten: „observation, deductive inference, inductive inference and testimony“ (Coady 1973: 239). Die vierte Erkenntnisquelle, Testimony, sei in der traditionellen philosophischen Diskussion bislang vernachlässigt worden; dieses Defizit gelte es zu beheben. Anhand von Zitaten illustriert Coady Humes Position zur Glaubwürdigkeit des Zeugnisses anderer und verweist dabei zuletzt auf Humes Aussage: „Der
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Erster Teil
Grund, aus dem wir Zeugen oder Geschichtsschreibern überhaupt Vertrauen schenken, stammt nicht aus irgend einer Verknüpfung, die wir a priori zwischen Zeugnis und Wirklichkeit auffassen, sondern aus der Gewohnheit, eine Einstimmigkeit zwischen ihnen anzutreffen” (Hume 1748/1993: 132)11. Dies sei die „Reductionist Thesis“ (RT), die Coady attackieren möchte (vgl. Coady 1992: 79). Bedauerlicherweise expliziert Coady RT nicht hinreichend; zuvor sprach er allerdings von „a reduction of testimony as a form of evidence or support to the status of a species [...] of inductive inference. And, again, in so far as inductive inference is reduced by Hume to a species of observation [...], then in a like fashion testimony meets the same fate“ (ebd.). Die Ausdrücke „reduction of testimony“ und „Reductionist Thesis“ wirken recht plakativ, werden aber bei Coady nicht genauer ausgeführt. Dies ist um so überraschender, geht es bei dem sogenannten Reduktionismus doch um den eigentlichen Gegenstand der Kritik, an dem sich die Testimony-Debatte überhaupt erst entzündet hat. Aufgrund des Textzusammenhangs kann man wohl sagen, Coady versteht unter RT die These, der Rechtfertigungsgrund für Zeugnisse anderer liege in der „Erfahrung“, genauer: in bestätigenden Beobachtungen, und ohne solche empirischen Bestätigungen in jedem Einzelfall könne man die jeweiligen Zeugnisse und Zeugen nicht für glaubwürdig halten.12 Als zentrales Argument gegen RT versucht er eine „fatal ambiguity“ der Begriffe „experience“ und „observation“ (Coady 1973: 240 sowie Coady 1992: 80) nachzuweisen. Entweder sei mit diesen Begriffen individuelle Erfahrung oder aber gemeinschaftliche Erfahrung (common experience) gemeint, in beiden Fällen jedoch sei RT inakzeptabel: „My criticism begins by calling attention to a fatal ambiguity in the use of terms like ‚experience’ and ‚observation’ in the Humean statement of RT. We are told by Hume that we only trust in testimony because experience has shown it to be reliable, yet where experience means individual observation [...], this seems plainly false and, on the other hand, where it means common experience (i.e. the reliance upon the observations of others) it is surely question-begging“ (Coady 1992: 80).
Wenn RT nun auf individuelle Erfahrung bzw. Beobachtung Bezug nehme (RT 1), laute die These folgendermaßen: „We rely upon testimony as a species 11
Hervorhebung im Original. Ob Hume RT in dieser Form vertreten hat, ist zweifelhaft. Schließlich stellt er selbst eine Wahrheitspräsumtion gegenüber dem Zeugnis anderer auf, beruhend auf durch Erfahrung bekannten Dispositionen der menschlichen Natur. Coady zitiert auch diesen Abschnitt, es entgeht ihm aber, daß es gerade für RT einen Unterschied macht, ob die Glaubwürdigkeit von (sämtlichen) einzelnen Zeugnissen und Zeugen überprüft werden muß, oder ob es zunächst ausreicht, die Erfahrung gemacht zu haben, daß Menschen in der Regel zur Wahrhaftigkeit neigen. Hume scheint in diesem Punkt nicht ganz eindeutig zu sein – es empfiehlt sich aber bei der Interpretation, getreu dem principle of charity, die argumentativ stärkste Deutung zu wählen, wenn man Hume kritisieren möchte.
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Das Zeugnis anderer
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of evidence because each of us observes for himself a constant and regular conjunction between what people report and the way the world is. More particularly, we each observe for ourselves a constant conjunction between kinds of report and kinds of situation so that we have good inductive grounds for expecting this conjunction to continue in the future“ (Coady 1973: 241 f. u. Coady 1992: 82). In dieser Form sei die These aber „plainly false“, da ja unser gesamter Wissensbestand nicht in allen Einzelheiten individuell nachgeprüft werden könne. Es sei offenkundig, daß jeder Einzelne die meisten Bestandteile seines Wissens nicht aus eigener Sinneserfahrung, sondern vermittelt durch das Zeugnis anderer erworben habe. Jeder weiß, daß Kinder von Frauen geboren werden, aber wer hat dies schon gesehen? „Most of us have never seen a baby born” (Coady 1973: 242). Also, so die absurde Konsequenz von RT 1, könne man gar nicht wissen, ob es nicht doch der Storch ist, der die Kinder bringt. Ist dagegen mit „experience“ gemeinschaftliche Erfahrung (common experience) gemeint, liege die Reduktionismus-These in der Form RT 2 vor, die sich von RT 1 nur darin unterscheidet, daß nicht jeder einzelne für sich die Verknüpfung zwischen dem Bericht und den Tatsachen empirisch überprüfe, sondern dies auf Grundlage der „common experience of mankind“ geschehe (vgl. Coady 1973: 240). In dieser Form sei die These aber petitiös („question-begging“) und damit gleichfalls unhaltbar: „Evidently then, R.T., as actually argued by Hume, is involved in vicious circularity since the experience upon which our reliance upon testimony as a form of evidence is supposed to rest is itself reliant upon testimony which cannot itself be reduced in the same way” (Coady 1973: 241).
Die Beobachtung bzw. Erfahrung anderer sei immer durch ihr Zeugnis vermittelt. Insofern müsse man stets auf Zeugnisse vertrauen, wenn man von der Erfahrung anderer profitieren wolle. Also könne man nicht das eine auf das andere zurückführen. Daraus scheint eine Gleichwertigkeit von Sinneserfahrung und Zeugnis als Erkenntnisquellen zu folgen. Liegt aber wirklich ein Rechtfertigungszirkel vor? Coady glaubt, eine solche Zirkelhaftigkeit von RT 2 entdeckt zu haben: „The idea of taking seriously someone else’s observations, someone else’s experience, already requires us to take their testimony (in this case, reports of what they observe) equally seriously. It is ludicrous to talk of their observations being the major part of our justification in taking their reports seriously when we have to take their reports seriously in order to know what their observations are“ (Coady 1973: 241).
Coady möchte mit seiner anti-reduktionistischen Argumentation nicht die Unfehlbarkeit von Testimony behaupten. Er gesteht zu, daß es falsche Zeugnisse geben kann. Dies könne auch durch Beobachtung nachgewiesen werden. Seine Kritik richte sich nur gegen die These, „that the general reliability of testimony depends upon observation in the way R.T. requires” (Coady 1973: 247).
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Erster Teil
Zwar könne Beobachtung manchmal Zeugnisse revidieren, doch gelte auch der umgekehrte Fall. Da man Beobachtungen aufgrund von Zeugnissen korrigieren könne, ließe sich – wolle man so argumentieren wie Hume – auch ein umgekehrt reduktionistischer (und offenkundig absurder) Schluß ziehen: „Indeed, it would seem equally as valid, on Hume’s line of argument, to claim that since testimony sometimes leads us to abandon an observation then we rely upon observation in general only because we have established its reliability on the basis of testimony“ (Coady 1973: 248). Statt die eine Erkenntnisquelle auf die andere reduzieren zu wollen, müsse man vielmehr ihre wechselseitige Abhängigkeit akzeptieren. Die Beurteilung von Coadys Argumentation gegen RT hängt davon ab, was denn nun wirklich unter „Reduktion“ verstanden wird. In einen RechtfertigungsZirkel der beschriebenen Art kommt der Empirist nur dann, wenn er beansprucht, daß kein Zeugnis (vorläufig) für wahr gehalten werden darf, bevor es durch Erfahrung geprüft wurde, oder wenn er fordert, alle Zeugnisse müßten gleichzeitig empirisch gerechtfertigt werden. Ein solcher „globaler Reduktionismus“ wäre tatsächlich unhaltbar. Daß es demgegenüber noch andere Varianten von „Reduktion“ geben kann, liegt auf der Hand (siehe Abschnitt 1.4). Hier rächt sich die Vagheit des Reduktions-Begriffes sowie der zugehörigen „Reduktionismus-These“ bei Coady. Im übrigen ist sogar fraglich, ob Hume selbst ein (globaler) „Reduktionist“ in dem Sinne gewesen ist, daß jedes Zeugnis empirisch geprüft werden müsse, bevor man es für wahr halten dürfe. Wie in Abschnitt 1.2 ausgeführt, findet man auch bei Hume eine Art Wahrheitspräsumtion gegenüber dem Zeugnis anderer, die es unnötig macht, die Glaubwürdigkeit jedes einzelnen Zeugnisses und jedes einzelnen Zeugen empirisch zu überprüfen. Wir (das heißt: jeder einzelne von uns) wissen nach Hume aus Erfahrung, daß die menschliche Natur eine grundlegende Disposition zur Wahrhaftigkeit besitzt, Menschen also in der Regel die Wahrheit sagen. Nur unter besonderen Umständen ergeben sich Zweifel an Zeugnissen und Zeugen bestimmter Art, die dann bei entsprechender empirischer Bestätigung zu Falschheitspräsumtionen gegenüber diesen besonderen Arten von Zeugnissen und Zeugen führen. Verstehen wir Humes Haltung gegenüber der Geltung von Testimony auf diese Weise, kann man ihm weder RT 1 noch RT 2 unterstellen. Will man aber bereits in dem Umstand, daß Hume seine allgemeine Wahrheitspräsumtion gegenüber dem Zeugnis anderer auf Erfahrung „zurückführt“, eine „Reduktion“ sehen, so liegt hier jedenfalls eine andere Form von „Reduktionismus“ vor, die sich sowohl von RT 1 als auch von RT 2 unterscheidet. Ob die Wahrheitspräsumtion gegenüber dem Zeugnis anderer tatsächlich auf Erfahrung gründet, ist ein Streitpunkt, der von der Frage, ob die einzelnen Zeugnisse (bzw. die einzelnen Arten von Zeugnissen) empirisch gerechtfertigt werden müssen, bevor man an sie glauben darf, unabhängig ist. In der Tat gibt es bei Hume auch Textstellen, die darauf hinzuweisen scheinen, daß jedes Zeugnis empirisch geprüft werden soll, bevor man daran glauben darf. Eine solche Auffassung unterliegt zweifellos den Argumenten Coadys. Allerdings sollte
Das Zeugnis anderer
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man, gemäß dem principle of charity, die (evtl. uneinheitliche) Auffassung eines Autors möglichst in der argumentativ stärksten Form rekonstruieren und nicht in einer Art und Weise, die ihm offensichtliche Absurditäten zuschreibt.
1.3.2
Was sind „Zeugnisse“ überhaupt?
Die Diskussion über den Stellenwert des Zeugnisses anderer leidet nicht nur an der Unklarheit des Reduktionsbegriffes – auch der Begriff des Zeugnisses selbst wird unterschiedlich verwendet. Was ist „Testimony“ überhaupt? Um allen Verwendungsweisen dieses Begriffs in der Diskussion möglichst gerecht zu werden, sagten wir anfangs, „Testimony“ bzw. „Zeugnis anderer“ sei jegliche Art von Erkenntnis, die wir von anderen Menschen übernehmen. Allerdings gibt es auch Versuche, „Testimony“ anders und enger zu definieren. Coady widmet in seiner Monographie „Testimony: A Philosophical Study“ der Frage „What is Testimony“ ein eigenes Kapitel. Während er zuvor „with a rather loose notion of testimony“ operiert hat, um „the extent and significance of our reliance upon the word of others“ (Coady 1992: 25) aufzuzeigen, verlangt – so Coady – eine weitergehende Behandlung der damit verbundenen philosophischen Probleme nach genauerer Abgrenzung und Definition. Die von Coady angestrebte Konzeption des Zeugnisses anderer steht in der Tradition der Sprechakttheorie Austins: „The concept of testimony that I will thus define and use is that of a certain speech act or, in J. L. Austin’s terminology, an illocutionary act, which may be and standardly is performed under certain conditions and with certain intentions such that we might naturally think of the definition as giving us conventions governing the existence of the act of testifying“ (ebd.).
Das Zeugnis anderer sei zunächst einmal eine assertorische Sprechhandlung, d.h. ein Akt des Behauptens, der den Sprecher auf die Wahrheit des Behaupteten festlegt. Coady möchte jedoch darüber hinaus weitere Bedingungen festlegen, die erfüllt sein müssen, damit von einem Zeugnis gesprochen werden kann. Zu diesem Zweck unterscheidet er zwischen „formal testimony“ und „natural testimony“. „Formal testimony“ bezeichnet das Bezeugen vor Gericht, in Untersuchungskommissionen oder ähnlichen Situationen (vgl. Coady 1992: 27), „natural testimony“ dagegen das Bezeugen in Alltagssituationen (vgl. Coady 1992: 38). Coady benennt sechs Kennzeichen eines formalen Zeugnisses: „(a) It is a form of evidence. (b) It is constituted by persons A offering their remarks as evidence so that we are invited to accept p because A says that p. (c) The person offering the remarks is in a position to do so, i.e. he has the relevant authority, competence, or credentials.
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Erster Teil (d) The testifier has been given a certain status in the inquiry by being formally acknowledged as a witness and by giving his evidence with due ceremony. (e) As a specification of (c) within English law and proceedings influenced by it, the testimony is normally required to be firsthand (i.e. not hearsay). (f) As a corollary of (a) the testifier’s remarks should be relevant to a disputed or unresolved question and should be directed to those who are in need of evidence on the matter“ (Coady 1992: 33).
Höchst relevant für unseren Diskussionszusammenhang ist der Umstand, daß Coady unter (e) eine Bedingung für das Vorliegen eines (formalen) Zeugnisses angibt, die auf die Erfahrungsgrundlage von Testimony abhebt. Durch die hier vorliegende Definition wird der Begriff des Zeugnisses (respektive der Sprechakt des Bezeugens) auf solche Fälle beschränkt, in denen der Sprecher direkte Beobachtungen berichtet, im Gegensatz zum bloßen Hörensagen. Warum aber kommt dem Bezeugen auf Grundlage direkter Beobachtung ein höherer epistemischer Wert zu? – Die naheliegende Antwort besteht darin, daß der Erkenntnisgrund des Fürwahrhaltens eines Zeugnisses (und damit dessen Rechtfertigung) einzig und allein in dem Zusammenhang von Zeugnis und Beobachtung liegt. Nur die Erfahrung, so wird durch diese Definition nahegelegt, bietet den Rechtfertigungsgrund für Zeugnisse. Dies ist aber genau die Position, die Coady als „reduktionistisch“ bezeichnet und die er letztlich verwirft. Deshalb verweist Coady einschränkend darauf, es gebe bei dieser Bedingung „numerous categories of exception“ und es sei „clear that a witness can have competence to testify even when the evidence is in no way firsthand“ (Coady 1992: 28). Weiterhin bemüht sich Coady, den Ausschluß des Hörensagens im englischen Recht auf alternative Weise zu erklären. Dennoch bleibt festzuhalten, daß der Zeugnis-Begriff in juristischen Zusammenhängen – und nicht allein im englischen Recht – eine Affinität zur Augenzeugenschaft besitzt, also auf direkte Erfahrung rekurriert. Wer etwas nur vom Hörensagen ‚weiß’, dessen ‚Wissen’ wird vom Richter in der Regel allenfalls eingeschränkt und abgeleitet als Zeugnis aufgefaßt, und zwar abgeleitet von dem Zeugnis des Augenzeugen, d.h. von direkter Erfahrung.13 Wichtiger als das formale Zeugnis erscheint Coady der Begriff des natürlichen Zeugnisses („natural testimony“), das er folgendermaßen definiert:
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Die übliche Gleichsetzung von Zeugnissen mit der Augenzeugenschaft und etwaige Probleme, die daraus entstehen, sind auch jenseits der philosophischen Fachdiskussion bekannt. So lesen wir in einer Sammlung ostfriesischen Volkserzählgutes unter der Überschrift „Nur vom Hörensagen“: „Jan steht als Zeuge vor Gericht. Der Richter traut dem redseligen Jan wohl nicht so recht. Er belehrt ihn eindringlich, er dürfe nur sagen, was er selbst gesehen, nicht was andere ihm von der Sache erzählt hätten. Daraufhin fragt er: ‚Wann sind Sie geboren?’ Jan gibt zur Antwort: ‚Dat weet ik neet, dat hebbt anner Lü mi bloot vertellt’.“ Das Buch vom ostfriesischen Humor. Band 3. Hg. v. Theo Schuster. Leer 1992. S. 65 f.
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„A speaker S testifies by making some statement p if and only if: (1) His stating that p is evidence that p and is offered as evidence that p (2) S has the relevant competence, authority, or credentials to state truly that p. (3) S’s statement that p [...] is directed to those who are in need of evidence on the matter“ (Coady 1992: 42).
Die für Coadys Position problematische Bedingung (e) ist bei der Bestimmung des „natürlichen Zeugnisses“ nicht mehr vorhanden. Sie ist offenbar als Spezialfall in die Kompetenz-Voraussetzung (2) eingegangen. Dagegen läßt sich einwenden, daß bei natürlichen Zeugnissen, die Tatsachenfragen betreffen – und nur solche hatte Hume im Auge – die Kompetenzbedingung häufig auf das Vorhandensein direkter Erfahrung zurückführbar ist. Nehmen wir eines von Coadys eigenen Beispielen für natürliche Zeugnisse: „reporting what happened in an accident“. Berichte darüber, wie sich ein Unfall zugetragen hat, werden nur dann als eine ernstzunehmende Erkenntnisquelle aufgefaßt, wenn sie auf direkte Beobachtung zurückgehen. Dem Augenzeugen kommt hierbei wiederum bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Zeugnisses eine Priorität zu. Bei einem Bericht vom Hörensagen hängt die Beurteilung davon ab, wie glaubwürdig es ist, daß der Sprecher die Beobachtungsaussagen eines Augenzeugen reproduziert. Coady dagegen legt Wert darauf, daß die Bedingung (e) für natürliche Zeugnisse nicht gelte: „That is to say, in ordinary life as in the lawcourts we will not treat just anybody at all as a witness but we do not require natural testimony to be firsthand. Most of the reports we unhesitatingly and rightly accept about race results, football results and attendances, parliamentary happenings, and many geographical facts are far from firsthand [...]“ (Coady 1992: 38).
Gibt es aber tatsächlich einen Unterschied zwischen dem Bezeugen eines Unfallhergangs und dem Bezeugen eines Fußballergebnisses? Verlangen wir als Kompetenzbedingung für die Schilderung eines Unfalls direkte Erfahrung, während wir im Falle von Zeugnissen über Fußballergebnisse andere Kompetenzkriterien anlegen? – Offensichtlich nicht. Natürlich erwarten wir nicht, daß die Person, die uns das Fußballergebnis mitteilt, in dem betreffenden Stadion zur betreffenden Zeit anwesend war. Wir erwarten noch nicht einmal, daß die mitteilende Person das Fußballspiel im Fernsehen verfolgt hat, sie hat das Ergebnis vielleicht nur in der Zeitung gelesen. Und dennoch glauben wir ihrem Bericht, weil wir unterstellen, daß am Anfang der Kette von Zeugnissen ein Augenzeuge stand, etwa der Sportreporter, der den Zeitungsbericht verfaßt hat. Im übrigen ist, zumindest in der deutschen Sprache, der Begriff des Zeugen für den Augenzeugen reserviert und wird nicht auf denjenigen ausgeweitet, der den Bericht eines Augenzeugen weitergibt. Sicherlich steht es Coady frei, von dem Alltagsgebrauch von Begriffen abzuweichen, doch seine Behauptung, natürliche Zeugnisse hätten mit Augenzeugenschaft nichts zu tun, entbehrt jeder
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Erster Teil
Grundlage, gerade in den vom ihm selbst gewählten Beispielen von Zeugnissen, die durchaus im Sinne Humes auf direkte Erfahrung „zurückgeführt“ werden können. Daß wir, wie Coady betont, häufig den Berichten von Personen glauben (müssen), die keine Augenzeugen sind, ist demgegenüber eine triviale und irrelevante Tatsache. Das Problem liegt allein darin, ob wir epistemisch berechtigt sind, solchen Berichten zu glauben, weil wir annehmen, daß am Anfang der Kette von Personen, die als Mittler auftreten, jemand steht, der mit der Kompetenz direkter Erfahrung mitteilt, oder ob wir auch ohne den Rekurs auf Erfahrung epistemisch berechtigt sind, an Zeugnisse zu glauben. Dieses erkenntnistheoretische Problem läßt sich nicht definitorisch lösen, weder indem man – wie Coady – behauptet, natürliche Zeugnisse seien weit entfernt von der Augenzeugenschaft, allerdings auch nicht, indem man darauf verweist, in natürlichen Sprachen sei der Begriff des Zeugen für den Augenzeugen reserviert. Möchte man jedoch bei der Begriffsbestimmung möglichst dicht beim üblichen Sprachgebrauch bleiben, läßt sich eine Bezugnahme der Begriffe „Zeugnis” und „Zeuge” auf direkte Erfahrung schwerlich vermeiden. Eine weitere Kritik an der oben zitierten Definition von „natural testimony“ äußert Arindam Chakrabarti in einer ansonsten überwiegend zustimmenden Rezension der Monographie Coadys: „I have only one problem with the above three-part definition of testimony. The first clause needs reformulation. No good testifier can offer the fact that he says so as evidence for the truth of the knowledge that he tries to communicate. Some irate parents can, of course, say ‚Because I say so’ to a child who demands evidence without having the capacity to assess it. But that disqualifies the parents’ utterance from being a natural testimony“ (Chakrabarti 1994: 967).
Was Chakrabarti an dieser Stelle anzweifelt, betrifft jedoch den Kern der Diskussion, nicht bloß einen marginalen Punkt der Definition: Kann allein die Tatsache, daß jemand etwas sagt, bereits als Erkenntnisgrund (epistemische Rechtfertigung) für die Wahrheit des Gesagten gelten? Wenn ja, dann ist gegen die erste Bedingung von Coadys Begriffsbestimmung nichts einzuwenden. Denn wer annimmt, Testimony sei tatsächlich in diesem starken Sinn eine Erkenntnisquelle, der meint damit, daß das Zeugnis selbst die epistemische Rechtfertigung seiner Wahrheit in sich trägt. Dies ist die sogenannte presumptiveright-thesis (PR), die in den nächsten Abschnitten noch eingehender untersucht werden soll. Sie mag durchaus – wie Chakrabarti nahelegt – an die Haltung autoritärer Eltern erinnern, was aber noch kein Argument in der Sache darstellt. Da eine Begriffsdefinition nicht bereits Stellungnahmen zu den relevanten inhaltlichen Streitfragen vorwegnehmen sollte, erscheint Coadys erste Bedingung seiner Definition in der Tat unangebracht. Um festzustellen, ob die Äußerung p ein ‚echtes’ Zeugnis (im Sinne dieser Definition) ist, müßte man bereits eine Vorentscheidung treffen, ob Testimony in erwähnter Weise eine Erkenntnisquelle darstellt oder nicht. Wer bezweifelt, daß Testimony in diesem Sinne
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eine Erkenntnisquelle darstellt, wird dann sagen müssen, daß es keine solchen Zeugnisse gibt, die Klasse von Äußerungen, die alle Bedingungen der Definition Coadys erfüllen, also leer ist. Zugleich wird man einem solchen TestimonialSkeptiker nicht die übliche Unterstellung machen können, er habe übersehen, daß wir einen Großteil unseres Wissens dem Zeugnis anderer (im Sinne der auch von Coady zunächst verwendeten weiten Definition) verdanken. Es würde sich bei einer solchen Unterstellung lediglich um einen verbalen Trick handeln. Um derartige Probleme zu vermeiden, empfiehlt es sich, auf Definitionen zu verzichten, die eine Vorentscheidung der erkenntnistheoretischen Streitfrage involvieren. Doch selbst wenn wir uns auf Coadys eingangs erwähnte Bestimmung von Testimony als assertorische Sprechhandlungen beschränken, kollidiert dies mit den Erkenntniszielen mancher Vertreter der Sozialen Erkenntnistheorie, die den Begriff des Zeugnisses eben nicht nur auf Behauptungen, sondern auch auf bildhafte Quellen u.ä. ausdehnen möchten. Deutlich wird diese Problematik auch bei Scholz, der zwar die Definition von Testimony als assertorische Sprechhandlung erwähnt, aber sogleich betont, daß Bilder gleichfalls wichtige ‚Zeugnisse’ sein können (vgl. Scholz 2003: 356 f.). Die Definition von Zeugnissen als assertorische Sprechhandlungen ist in dieser Hinsicht also zu eng, gleichzeitig aber auch in anderer Hinsicht zu weit, denn nicht alle assertorischen Sprechhandlungen sind unserem begrifflichen Vorverständnis nach Zeugnisse. Wer beispielsweise nur wiedergibt, was er von anderen gehört hat – selbst wenn er von der Wahrheit des Behaupteten überzeugt ist –, hat nach dem üblichen Verständnis des Wortes kein Zeugnis abgegeben. Jeder Versuch aber, ähnlich wie Coady, die Kriterien genauer zu bestimmen, nach denen von einem Zeugnis die Rede sein kann, schließt Verwendungsweisen aus, die von anderen Autoren als relevant erachtet werden oder nimmt eine Stellungnahme hinsichtlich des epistemologischen Status’ von Testimony bereits vorweg.14 – Die Problematik der begrifflichen Unklarheit von „Testimony“ wird uns noch weiter verfolgen, insbesondere in Abschnitt (1.5) im Zusammenhang mit der für die Soziale Erkenntnistheorie maßgeblichen Frage, ob wir Zeugnisse vor jeder empirischen Prüfung für wahr halten dürfen oder sogar müssen.
1.4
Über die Möglichkeit eines lokalen Reduktionismus
Wer für die Eigenständigkeit des Zeugnisses anderer als Erkenntnisquelle argumentieren will, kann zwei Strategien verwenden: Die erste Argumentationslinie 14
Ein weiterer Streitpunkt könnte sein, ob sich der Begriff „Testimony“ auf „Zeugnisse von“ einem oder auf „Zeugnisse für“ einen behaupteten Sachverhalt bezieht. Es macht einen Unterschied, ob man Zeugnisse primär als Behauptungen auffaßt oder vor allem als Beweisgründe für andere Behauptungen, die ihrerseits nicht als Zeugnisse bezeichnet werden.
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Erster Teil
leugnet schlicht die Möglichkeit einer Reduktion von Testimony auf andere Quellen („negative claim“); die zweite Strategie hebt demgegenüber mit Hilfe einer im Abschnitt 1.5 noch näher zu beschreibenden transzendentalen Argumentation auf eine ‚positive’ Rechtfertigung von Testimony ab. Christopher J. Insole hat die logische Struktur der ersten Argumentationsstrategie folgendermaßen dargestellt: Er beginnt mit dem Hinweis auf die unbestreitbare faktische Bedeutung des Zeugnisses anderer als Quelle des ‚Wissens’. Diese erste Prämisse der Argumentation (‚common-sense restraint’) lautet: „CR. Testimony is in fact a rich source of what we commonly call ‚knowledge’“ (Insole 2000: 44). Die Reduktionsthese, gegen die argumentiert werden soll, differenziert Insole wie folgt: „R-Nec. Our epistemic right to believe what others tell us must be grounded in other epistemic resources and principles such as perception, memory and inference“ (Insole 2000: 45). „R-Poss. It is possible to reduce the epistemic status of beliefs gathered from testimony to other epistemic resources such as perception, memory and inference“ (ebd.). Der optimistische Reduktionist behaupte, daß ‚Reduktion’ sowohl möglich als auch nötig ist: (R-Poss) & (R-Nec). Demgegenüber glaube der „pessimistische Reduktionist“, die Reduktion sei zwar nötig, nicht aber möglich: (R-Nec) & not-(R-Poss). Laut Insole verstößt der pessimistische Reduktionist gegen die von allen akzeptierte Prämisse CR. Seine Position kann daher als inkonsistent ausgeschlossen werden (vgl. Insole 2000: 45). Somit bleibt als Gegner nur noch der optimistische Reduktionist übrig. Das anti-reduktionistische Argument gegen den optimistischen Reduktionisten sei transzendentaler Natur. Es handle sich hierbei um ein Argument, das die sogenannte „presumptive right thesis“ (PR) rechtfertige. Letztere lautet: „PR. A hearer has the epistemic right to believe testimony merely on the ground that it has been asserted“ (Insole 2000: 46). Die transzendentale Rechtfertigung von (PR) formuliert Insole in vier Schritten: „1. Knowledge is gained by testimony [from (CR)] 2. Either it is the case that it is possible generally for the hearer to obtain independent confirmation that an assertion by a given speaker is trustworthy, or it is the case that the hearer has an epistemic right to believe testimony on
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the ground that it has been asserted [...] [from ((R-Poss) or (PR) but not both)] 3. It is not in fact possible generally for the hearer to obtain independent confirmation that a given speaker is trustworthy [from not-(R-Poss)] [...] Therefore 4. (PR)” (Insole 2000: 46). An der Folgerichtigkeit dieser Argumentation gibt es nichts zu beanstanden, doch als entscheidender Punkt stellt sich sogleich die inhaltliche Begründung der dritten Prämisse heraus. Außerdem leidet sogar die erste Prämisse, deren Geltung als selbstverständlich unterstellt wird, unter der Mehrdeutigkeit des Wissensbegriffs. Ist ‚Reduktion’ möglich? Und, wenn ja, was heißt das genau? – Coady hatte bereits in seiner Auseinandersetzung mit Hume die Durchführbarkeit einer globalen Reduktion, d.h. den Anspruch, alle Zeugnisse zugleich empirisch rechtfertigen zu wollen, in Frage gestellt. Elisabeth Fricker argumentiert demgegenüber in ihrem Aufsatz „Against Gullibility“ für die Möglichkeit eines lokalen Reduktionismus, d.h. von ‚Reduktionen’ unter bestimmten Umständen. Sie beschränkt sich in ihrer Argumentation darauf, den von ihr so genannten „negative claim (NC)“ zu entkräften, der mit not-(R-Poss) identisch ist: „NC: It is not, generally speaking, possible for a hearer to obtain independent confirmation that a given speaker is trustworthy – that what she says will be true“ (Fricker 1994: 125).
Wenn dieser NC zutreffe, könne Wissen durch das Zeugnis anderer nur erworben werden, wenn es keine Notwendigkeit für eine unabhängige Bestätigung der Glaubwürdigkeit des Sprechers gebe – mit anderen Worten: wenn die PRThese haltbar sei (vgl. Fricker 1994: 125 f.). Die PR-These wird von Fricker konkretisiert: „PR thesis: On any occasion of testimony, the hearer has the epistemic right to assume, without evidence, that the speaker is trustworthy, i.e. that what she says will be true, unless there are special circumstances which defeat this presumption. (Thus she has the epistemic right to believe the speaker’s assertion; unless such defeating conditions obtain.)“ (Fricker 1994: 125).
Ihr eigenes Argumentationsziel liegt darin, die PR-These durch die Widerlegung von NC zu diskreditieren. Darüber hinaus weist Fricker auch die positiven Argumente für PR zurück, die sich auf die Natur der Sprache und des Verstehens beziehen und dadurch eine generelle Disposition des Vertrauens begründen, ohne jedoch in ihrem Beitrag darauf näher einzugehen (vgl. Fricker 1994: 126). Ihre zentralen Thesen lauten, kurz zusammengefaßt:
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Erster Teil „The Negative Claim, that there can, generally speaking, be no non-circular confirmation that a given speaker is trustworthy, is false. And any fully competent participant in the social institution of a natural language simply knows too much about the characteristic role of the speaker, and the possible gaps which may open up between a speaker’s making an assertion, and what she asserts being so, to want to form beliefs in accordance with the policy a PR allows. The PR thesis is an epistemic charter for the gullible and undiscriminating. This paper argues against gullibility“ (Fricker 1994: 126).
Mit den sozialen Erkenntnistheoretikern stimmt Fricker in der ersten Prämisse, der Commonsense-Bedingung, überein: „I agree with the proponent of the argument that it is a constraint on any epistemology of testimony, that it preserve our commonsense view that knowledge can be gained through testimony“ (Fricker 1994: 127 f.). Auch Fricker unterscheidet hierbei nicht zwischen „Erkenntnisquelle“ im Sinne der Herkunft (Genese) unseres Wissens und „Erkenntnisquelle“ im Sinne der Rechtfertigung von Glaubensüberzeugungen, da auch sie den klassischen Wissensbegriff der gerechtfertigten wahren Meinung vorauszusetzen scheint. Im folgenden beschäftigt sie sich ausschließlich mit dem Rechtfertigungsproblem: „The epistemological ‚problem of justifying belief through testimony’ is the problem of showing how it can be the case that a hearer on a particular occasion has the epistemic right to believe what she is told – to believe a particular speaker’s assertion. If an account showing that and how this is possible is given, then the epistemological problem of testimony has been solved“ (Fricker 1994: 128).
Die reduktionistische Form der Rechtfertigung, gegen deren Möglichkeit sich NC richtet, bestehe darin, die Vertrauenswürdigkeit eines Sprechers empirisch zu bestätigen, so daß der Schritt von „S behauptete, daß P“ zu „P“ ohne Annahme eines präsumtiven Vertrauens-Rechtes (PR) vollzogen werden könne (ebd.). Fricker akzeptiert nun die von Coady u.a. vorgebrachten Argumente gegen einen (globalen) Reduktionismus, behauptet jedoch, daß es eine haltbare Form des Reduktionismus gibt, die sie „lokalen Reduktionismus“ nennt: „Local Reductionist Claim: It can be the case that, on a particular occasion O when a speaker S makes an utterance U and in doing so asserts that P to a hearer H, H has, or can gain, independent evidence sufficient to warrant her in taking S to be trustworthy with respect to U“ (Fricker 1994: 133).
Im weiteren Verlauf versucht Fricker zu klären, welche Bedingungen vorliegen müssen, um die Vertrauenswürdigkeit von Sprechern unabhängig von Testimony zu ermitteln. Hierbei geht es ihr v.a. um „a speaker’s sincerity and competence, or lack of them“ (Fricker 1994: 148). Die Vertrauenswürdigkeit eines Sprechers könne vom Hörer geprüft werden durch „her monitoring the
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speaker for any tell-tale signs revealing likely untrustworthiness“ (Fricker 1994: 150). Zugleich behauptet die Autorin, daß dieses „monitoring [... is] usually found in ordinary hearers, at least to some extent“ (ebd.). Dies ist nun eine Tatsachenbehauptung, die auch sogleich von Vertretern der Sozialen Erkenntnistheorie bestritten wird. „Frickers positive Forderungen an einen rationalen Hörer“, so Scholz, seien „entfremdet“ und „unrealistisch“. Nicht nur bei einem Kind – was Fricker zugesteht – sei notgedrungen eine „Haltung des schlichten Vertrauens“ ausgeprägt. „Auch für Erwachsene ruht die erworbene kritischere Haltung aber auf einer generellen Hintergrunddisposition des Vertrauens auf“ (Scholz 2002a: 16). Demgegenüber sei es realistisch, die „Haltung des schlichten Vertrauens“ durch „eine generelle Hintergrunddisposition, wachsam zu sein“ (ebd.), zu ergänzen. Ist Frickers „monitoring“ tatsächlich entfremdet und unrealistisch? – In ihrer Rezension von Coady 1992 führt Fricker ihre Position noch etwas aus: „In my view, a PR principle worthy of the name must dispense a hearer from the requirement to monitor and assess a speaker for trustworthiness. The contrasted position I have suggested is that a hearer is always required thus to monitor and assess a speaker, though this may be automatic and unconscious. She must engage in a piece of psychological interpretation of her informant, constructing an explanation of her utterance as an intentional speech act. Estimates of her sincerity and her competence, or their lack, will be part of this explanatory mini-theory. Within the interpretative exercise sincerity is the default setting: it can be assumed unless there are signs of its lack. But – and this is why the account is not a PR theory – the hearer must always be scrutinising the speaker for telltale signs of its absence, and she must be alert to the presence of such signs. Similarly, competence may be assumed as default setting, but in this case with respect to a subclass of tellings only, viz. those with subject matters for which commonsense psychological knowledge licenses one to expect the speaker to be competent about them. [...] Again, the speaker must be sensitive to indicators of its lack. [...] A hearer who engages in it does not believe what she is told uncritically, and she has empirical grounds for her trust in her informant“ (Fricker 1995: 404 f.).
Das längere Zitat macht deutlich, daß – entgegen dem ersten Eindruck – offenbar doch keine gravierende Meinungsdifferenz in Tatsachenfragen zwischen den Kontrahenten vorliegt. Beide Seiten gehen von „Wahrheitspräsumtionen“ bzw. von der Vertrauenswürdigkeit als „default setting“ aus. Die kritische Haltung beruhe darauf, für widersprechende Indizien empfänglich zu sein und die Anfangsvermutungen gegebenenfalls entsprechend zu korrigieren. (Der einzige Unterschied dürfte darin liegen, daß es für einen Verfechter von PR schwer zu akzeptieren ist, Zeugnissen bestimmter Art gegenüber eine generelle Falschheitspräsumtion anzunehmen, während dies für einen empiristischen Standpunkt in der Nachfolge Humes selbstverständlich ist.) Der eigentliche Streitpunkt liegt aber auch hier wieder in dem Aspekt der Rechtfertigung, also darin, ob es für das Vertrauen in Zeugnisse empirische
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Erster Teil
Gründe gibt (geben muß) oder ob es auch ohne solche epistemisch gerechtfertigt ist. Daß es gelegentlich möglich ist, aufgrund eigener Erfahrung Zeugnisse anderer zu überprüfen, wird man kaum in Abrede stellen können. Auch Scholz „möchte nur darauf beharren, daß eine erfolgreiche lokale Reduktion nicht der Normalfall sein wird und auch nicht sein kann“ (Scholz 2002a: 16). In der Tat sind wir bei der Überprüfung von Zeugnissen häufig auf die Erfahrung anderer und damit auf ihr Zeugnis angewiesen. Dies kann ebensowenig sinnvoll bestritten werden wie die Möglichkeit „lokaler Reduktionen“. Ein wichtiger Erkenntnisfortschritt hinsichtlich der Geltung von PR ist von der Diskussion über lokalen Reduktionismus nicht zu erwarten. Darüber hinaus ist Frickers lokaler Reduktionismus eine sehr schwache Version des Empirismus, sozusagen ein Rückzug auf den Sonderfall. Dies wird deutlich, wenn wir uns Insoles Differenzierung von zwei Formen des lokalen Reduktionismus näher betrachten: „R-Possuniversal/local It is always the case in a local context that a speaker’s trustworthiness regarding an utterance can be empirically confirmed (by a hearer in the mature, post-developmental phase)“ (Insole 2000: 51). „R-Possparticular/local It is often, or more often than not, the case in a local context that a speaker’s trustworthiness regarding an utterance can be empirically confirmed“ (ebd.). Offenbar ist nur der partikulare lokale Reduktionismus haltbar, denn einem auf sich allein gestellten Individuum, das nur die eigenen Erfahrungen als Prüfinstanz verwenden darf, sind enge Erkenntnisgrenzen gesetzt. Empirische Wissenschaft, die ja stets arbeitsteilig verfährt, kann aber durch „lokale Reduktionen“ dieser Art nicht gerechtfertigt werden. Ein Empirist wäre also schlecht beraten, auf R-Possparticular/local zu setzen, um PR zu entkommen. Frickers Verweis auf die Möglichkeit lokaler Reduktionen stellt sich für den Empiristen, der den sozialen Charakter der Wissenschaft erkannt hat, also als eine argumentative Sackgasse heraus.15
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Das methodologische Prinzip der empirischen Prüfbarkeit von Hypothesen und Theorien ist übrigens von der soeben dargestellten Diskussion überhaupt nicht betroffen. Es besteht in dem Postulat, solche Hypothesen und Theorien aufzustellen, die erfahrungswissenschaftlich geprüft werden können – unabhängig davon, wer dies durchführt und wann oder ob es de facto (in jedem einzelnen Fall) überhaupt getan wird.
Das Zeugnis anderer 1.5
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Müssen wir Zeugnisse für wahr halten?
Neben der Argumentationsstrategie, die PR indirekt durch NC zu stützen versucht, werden auch positive Argumente für PR vorgebracht. Besonders deutlich unternehmen dies Coady in seiner Monographie sowie Anthony Quinton in seinem Beitrag „Authority and Autonomy in Knowledge“. In Abschnitt V versucht Quinton zu zeigen, „why most testimony must be reliable“16: „The reason why most testimony must be reliable, or at least that part of it which relates to the current environment of witness and client, is that unless it were predominantly true what witnesses say could not be understood, and thus identified as testimony, at all. How do we come to understand the sentences that other people utter? In the first instance, at any rate, only by becoming aware of a regular correlation between a given repeated pattern of utterance and a repeated kind of observable situation which usually accompanies it. Unless we become aware of such a regular correlation between utterance-pattern and situation-type we cannot take that pattern to be an observation-sentence. Until we have identified the observation-sentences of those who speak to us we cannot make sense of that large remainder of their utterances which do not refer to the immediate, perceptual environment. For the nonobservational statements of other people have to be explained in terms of antecedently understood statements of observation“ (Quinton 1982: 71 f.).
Quinton formuliert hiermit eine Art ‚transzendentales’ Argument17 aus dem Spracherwerb: Die Zuverlässigkeit der Mehrzahl der Zeugnisse sei eine ‚konstitutive Bedingung’ der Möglichkeit des Sprechens und Verstehens überhaupt. Dieses Argument ist ein Spezialfall des „Argumentes aus dem frühen Faktenlernen“ (Scholz 2002a: 14), welches darauf abhebt, daß ein Kind gar nichts lernen würde, hätte es nicht berechtigterweise die Einstellung des einfachen Vertrauens. Gegen Quintons transzendentales Argument lassen sich zahlreiche Einwände vorbringen: (1) Zunächst bleibt es, genau betrachtet, reichlich unklar, was mit der These „most testimony must be reliable“ überhaupt gemeint sein soll. Kein einziger begrifflicher Bestandteil dieser These wird hinreichend expliziert.
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Im dritten Teil dieser Arbeit werden die transzendentalen Argumente für Wahrheitspräsumtionen systematisch kritisiert, auch unter Berücksichtigung der Arbeiten D. Davidsons. An dieser Stelle möchte ich mich auf die Argumente beschränken, die sich aus der Testimony-Diskussion ergeben. 17 Quinton bezeichnet sein Argument selbst als transzendental: „The argument will be transcendental in character“ (Quinton 1982: 70). Er begründet den transzendentalen Charakter des Arguments damit, daß es vor jeder Möglichkeit einer induktiven Generalisierung ansetze, da etwaige Regeln induktiver Verallgemeinerung selbst wiederum vom Zeugnis externer Autoritäten abhingen. Ein induktives Argument zugunsten der Verläßlichkeit von Zeugnissen sei also zirkulär (vgl. ebd.).
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Erster Teil
Beginnen wir mit der unbestimmten Mengenangabe „most“. Was bedeutet es zu sagen, daß die meisten Zeugnisse verläßlich sein müssen? Ist damit gemeint, daß sich eine numerisch abzählbare Gesamtmenge von Zeugnissen eruieren läßt, mit denen ein Mensch im Laufe einer bestimmten Zeit konfrontiert wird und von denen mehr als die Hälfte verläßlich sein müssen? Wird also etwa angenommen, daß Herr Meier, der morgens zum Frühstück die Bildzeitung liest, in diesem Zeitraum eine quantifizierbare Anzahl von ‚Zeugnissen’ aufnimmt, und zwar mehr ‚verläßliche’ als nicht-‚verläßliche’? Oder ist gar nicht Herr Meier bei seiner Bildzeitungslektüre als Bezugspunkt gemeint, sondern größere soziale Einheiten, innerhalb derer Zeugnisse ausgetauscht werden, etwa „das deutsche Volk“ oder gar die weltweite ‚Kommunikationsgemeinschaft’? – Je nachdem, welchen Bezugspunkt man wählt, wird man unterschiedliche Ergebnisse erhalten, da es bekanntlich mehr oder weniger verläßliche (und sogar notorisch unzuverlässige) ‚Zeugen’ gibt. Sollten nun aber wirklich alle Zeugnisse gemeint sein, die in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von wem auch immer bezeugt worden sind oder noch bezeugt werden, immunisiert sich die These unzulässig gegen Kritik. Denn selbst, wenn sich alle bisherigen Zeugnisse als ‚unzuverlässig’ herausstellen sollten, könnte ja noch eine Mehrzahl ‚zuverlässiger’ Zeugnisse in der Zukunft liegen. Das Problem der begrifflichen Unklarheit setzt sich fort mit dem Ausdruck „testimony“: Was gilt im Zusammenhang mit Quintons These als „Zeugnis“? Ist damit all das gemeint, was uns andere sprachlich überliefern, also auch weltanschauliche Überzeugungen und kulturelle Werte? Oder bezieht sich die These nur auf den verhältnismäßig kleinen Teil von Beobachtungssätzen? Im Rahmen seiner Argumentation bezieht sich Quinton primär auf Beobachtungssätze, die Beobachtungssituationen entsprechen. Dies setzt aus seiner Sicht aber nicht voraus, „that there are pure observation-statements or that there is any precisely demarcated boundary between observation-statements and others but it would be too laborious to try to make this out in detail“ (Quinton 1982: 72). Doch was ihm zu mühsam erscheint, um im Detail ausgearbeitet zu werden, berührt den entscheidenden Streitpunkt: Bezieht sich der Zeugnis-Begriff exklusiv auf Beobachtungssätze, kann man die Testimony-Kontroverse sogleich mangels Relevanz zu Grabe tragen. Beobachtungssätze spielen in Alltagskommunikationen nur eine untergeordnete Rolle, und es war doch gerade der Anspruch der Verfechter von Testimony als Erkenntnisquelle, auf die vernachlässigte Vielfalt von Zeugnissen aufmerksam gemacht zu haben, die unser Wissen bereichern.18 Die Zeitungslektüre gehörte hierbei zu den Standardbeispielen. Wer jedoch Zeitung liest, wird bemerken, daß Beobachtungssätze in den Artikeln kaum eine Rolle
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Dasselbe Problem ergibt sich, wenn man Coadys Vorschlag folgt und „Testimony“ als assertorische Sprechhandlung (bestimmter Art) definiert. Auch hier werden – wie in Abschnitt (1.3.2) ausgeführt – Verwendungsweisen des Begriffs außen vor gelassen, die von Vertretern der Sozialen Erkenntnistheorie intendiert sind.
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spielen. So bleibt die Frage, auf welche Art von Sätzen man sich bezieht, wenn man von Testimony spricht. Welche Probleme aufgrund der Unklarheit von „most“ und „testimony“ für denjenigen auftreten, der der Frage nachgeht, was die These der Verläßlichkeit der meisten Zeugnisse überhaupt besagt, wird schon dadurch deutlich, daß niemand sagen kann, wie viele ‚Zeugnisse’ in einem einfachen Zeitungsartikel enthalten sind – geschweige denn, ob die Mehrzahl dieser Zeugnisse verläßlich ist. Es kann nicht einmal definitiv festgestellt werden, wie viele Zeugnisse in einer Zeitungsüberschrift enthalten sind. Nehmen wir an, Herr Meier liest am 26.09.2003 die Bildzeitungsüberschrift „Dieter Bohlen noch böser/Du Kanalratte/Und Thomas Anders schlägt zurück/Du arme Wurst“. Wie viele Zeugnisse sind in dieser Überschrift enthalten? Wer den Zeugnis-Begriff daran knüpft, ob echte Aussagen im Sinne von wahrheitsfähigen Sätze vorliegen, wird behaupten können, daß die Überschrift kein einziges Zeugnis enthält, denn in der vorliegenden Form stellt die Überschrift keine Aussage dar. Demgegenüber kann man aber die Ansicht vertreten, die Überschrift sei eine abgekürzte Aussage und könne übersetzt werden, z.B. mit „Der Streit zwischen den Mitgliedern des aufgelösten Pop-Duos ‚Modern Talking’, Dieter Bohlen und Thomas Anders, nimmt an Intensität zu“. In diesem Fall ließe sich die Ansicht vertreten, es handele sich bei der Überschrift um ein einziges Zeugnis. An der Berechtigung und Vollständigkeit der gewählten Übersetzung läßt sich aber begründete Kritik anmelden. Zumindest müßte man doch ergänzen, daß die Überschrift nahelegt, Dieter Bohlen habe zu Thomas Anders „Du Kanalratte“ gesagt und Thomas Anders zu Dieter Bohlen „Du arme Wurst“. Damit hätten wir bereits drei Zeugnisse in der Überschrift entdeckt. Nun jedoch dürfte eine Auseinandersetzung entstehen zwischen denjenigen Interpreten, die es damit bewenden lassen möchten, und denjenigen, die in den einzelnen Bestandteilen der Überschrift weitere Zeugnisse über psychische Dispositionen von Dieter Bohlen und Thomas Anders sowie über gegenseitige Unterstellungen von negativen Charaktereigenschaften entdecken. „Dieter Bohlen noch böser“ bringt offenbar zweierlei zum Ausdruck, einmal, daß die genannte Person sich in einem bestimmten Gemütszustand befindet, weiterhin, daß sich dieser Gemütszustand noch verstärkt hat. „Du Kanalratte“ deutet darauf hin, daß die erste Person der zweiten einen verachtenswerten Charakter unterstellt. „Thomas Anders schlägt zurück“ läßt sich interpretieren als eine Reaktion der zweiten Person auf Äußerungen der ersten. „Du arme Wurst“ wäre dann wiederum eine despektierliche charakterliche Unterstellung. Damit hätten wir jetzt ungefähr acht Zeugnisse in der Überschrift identifiziert. Gänzlich hoffnungslos wird die Situation, sobald jemand auf die Idee kommt, daß bei den bislang vorgelegten Versuchen der Deutung und Quantifizierung die sprachpragmatischen Implikaturen nicht genügend berücksichtigt worden sind. Wenn eine Person zur anderen sagt „Du Kanalratte“, liegt ja mehr als eine inhaltliche Stellungnahme über den Charakter des Angesprochenen vor. Vielmehr weiß jeder Sprachkundige, daß damit eine Beleidigung ausgesprochen wurde. Die Überschrift enthält somit auch das Zeugnis „Dieter Bohlen hat Tho-
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mas Anders beleidigt“. Außerdem weiß jeder, daß ein Beleidigter gekränkt reagiert, so daß sich die Antwort Thomas Anders’ auch als Ausdruck des Gekränktseins auffassen läßt, nicht bloß als Aussage über den Charakter Dieter Bohlens usw. usf. Da sich der Umfang sprachpragmatischer Implikaturen nicht quantitativ eingrenzen läßt – es gehören bekanntlich auch solche Aussagen dazu wie „Dieter Bohlen ist ein Mensch“, was wiederum unendlich viele Gesetzmäßigkeiten impliziert –, könnten wir prinzipiell unendlich viele Zeugnisse in der Überschrift entdecken. – Es ist schwer zu sagen, welche Definition von „Zeugnis“ geeignet wäre, ein eindeutiges Ergebnis bei alltäglichen Anwendungsbeispielen dieser Art zu bringen und darüber hinaus von allen Teilnehmern der Testimony-Debatte akzeptiert werden könnte. Daß keiner der in Abschnitt (1.3.2) besprochenen Definitionsversuche das Problem löst, ist offenkundig. Vorläufig aber kann man festhalten, daß niemand in der Lage ist, auch nur anzugeben, wie viele ‚Zeugnisse’ in einer Zeitungsüberschrift enthalten sind, so daß die These einer Verläßlichkeit der Mehrzahl der Zeugnisse bereits aufgrund der Unmöglichkeit einer Quantifizierung hinfällig ist. Nicht ohne Tücke erscheint auch der modale Ausdruck „must be“, denn es fragt sich, in welchem Sinn hier etwas notwendig sein soll. Dies betrifft den transzendentalen Charakter der PR-These. Quinton selbst hält seine These für transzendental, weil sie jeder induktiven Generalisierung vorgängig sei. Doch das beantwortet nicht die Frage, in welchem Sinn die meisten Zeugnisse verläßlich sein müssen. Vermutlich ist, wie eingangs erwähnt, mit „must be“ eine ‚konstitutive Bedingung’ der Möglichkeit von sprachlicher Verständigung gemeint, was etwas anderes darstellen soll als eine bloße praktische Notwendigkeit, welche auch von einem Empiristen eingeräumt werden kann. Daß keineswegs klar ist, was solche ‚konstitutiven Bedingungen’ im Gegensatz zu praktischen (bzw. instrumentellen) Notwendigkeiten ausmachen soll, möchte ich im dritten Teil dieser Arbeit ausführlicher begründen. Schließlich verbleibt noch der Ausdruck „reliable“. Da der Zeugnis-Begriff nicht hinreichend geklärt ist, kann naheliegenderweise auch nicht deutlich gemacht werden, was unter „verläßlich“ zu verstehen ist. Quinton spricht zwar auch von „predominantly true“, doch dies ist auf die Beobachtungssätze bezogen, nicht auf die weit größere Menge von alltäglichen „Zeugnissen“, bei denen es sich zum Teil nicht um wahrheitsfähige Sätze handelt, sofern der ZeugnisBegriff mehr als nur deskriptive Aussagen umfaßt. Beispielsweise wäre bei religiösen Zeugnissen zu berücksichtigen, daß sie häufig nicht als deskriptive Aussagen zu verstehen sind, die wahr oder falsch sein können, sondern Glaubensinhalte und moralische Werte vermitteln, die nicht – jedenfalls nicht in demselben Sinn wie deskriptive Aussagen – wahrheitsfähig sind. Wenn aber bei den zahlreichen Zeugnissen, die keine bloßen Beschreibungen sind, mit „reliable“ nicht „true“ gemeint sein kann, was dann? (2) Doch selbst wenn geklärt wäre, was mit der transzendentalen These überhaupt gemeint ist, ist sie nicht hinreichend, um PR zu begründen. Aus der Annahme, daß die Mehrzahl der Zeugnisse wahr (bzw. ‚verläßlich’) ist, ergibt
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sich kein epistemisches Recht, ein konkret vorliegendes Zeugnis für wahr (bzw. ‚verläßlich’) zu halten. Wenn man in der unkonfortablen Erkenntnissituation sein sollte, das betreffende Zeugnis nicht (empirisch) prüfen zu können, ergibt sich eventuell die praktische Notwendigkeit, es ohne Prüfung zu akzeptieren. Und man hat vielleicht sogar ein gutes Gefühl dabei, weil Zeugnisse ja in der Regel zuverlässig sind. Doch wir können ohne Prüfung nicht wissen, ob das betreffende Zeugnis zu der Mehrzahl der zuverlässigen oder nicht doch zu den unzuverlässigen gehört. Dies ist der Grund, warum Hume trotz der notabene von ihm aufgestellten – wenngleich nicht transzendental sondern naturalistisch begründeten – These der überwiegenden Vertrauenswürdigkeit von Zeugnissen kein Prinzip von der Art PR anerkennt. Eine Verbindung zwischen der These einer überwiegenden Vertrauenswürdigkeit von Zeugnissen und PR ergäbe sich allein durch die Einführung eines Brücken-Prinzips der Form: „Es ist epistemisch gerechtfertigt, alles für wahr zu halten, was andere sagen, wenn das meiste, was andere sagen, wahr ist“. Ein solches unkritisches Brückenprinzip wäre aber genau das, was Fricker den Vertretern von PR unterstellt: „gullibility“. (3) Wenden wir uns nun der inhaltlichen Ausführung des transzendentalen Argumentes aus dem Spracherwerb zu. Bekanntlich haben Eltern ein besonderes Interesse daran, daß ihre Kinder bestimmte Grundfertigkeiten erlernen, darunter auch die Sprache, und sie werden ihre Kinder somit zumindest mit einer genügenden Anzahl korrekt gebildeter Beobachtungssätze konfrontieren. Folgt daraus, daß die Mehrzahl aller Zeugnisse vertrauenswürdig ist? – Ganz offensichtlich nicht. Denn die Klasse der Zeugnisse umfaßt – wenn wir von dem üblichen weiten Begriff von „Testimony“ ausgehen – erheblich mehr als bloße Beobachtungssätze. Es muß sich bei Zeugnissen noch nicht einmal um wahrheitsfähige Sätze handeln, etwa im Fall von religiösen Zeugnissen, die Kindern jedoch üblicherweise so vermittelt werden, als handle es sich um wahre Aussagen. Wie nun aber von der Annahme, daß die meisten Beobachtungssätze, die Kindern gegenüber geäußert werden, wahr sind, auf die Zuverlässigkeit aller Arten von Zeugnissen zwischen beliebigen Menschen geschlossen werden kann, bleibt unerfindlich. Offensichtlich kann man von der Annahme, daß die meisten Beobachtungssätze, die Eltern ihren Kindern gegenüber äußern, wahr sind, noch nicht einmal auf die Wahrheit der meisten Beobachtungssätze schließen, die Erwachsene sich gegenseitig mitteilen. Das transzendentale Argument reicht somit nicht einmal aus, die These der Wahrheit einer Mehrzahl von Beobachtungssätzen zu begründen. (4) Darüber hinaus ist noch ein weiteres Problem mit der transzendentalen Pauschal-Rechtfertigung verbunden: Es wird einfach zu viel gerechtfertigt, der absurdeste Aberglaube ebenso wie die aktuellen realwissenschaftlichen Theorien; eine längst widerlegte Weltauffassung (sofern sie noch Anhänger hat, die sie tradieren) ebenso wie das Weltbild der modernen Physik. Miteinander inkonsistente Auffassungen kommen also gleichermaßen in den Genuß dieser apriorischen Legitimierung. Dies führt entweder zum Wahrheitsrelativismus – sofern der verwendete Rechtfertigungsbegriff auf Wahrheit oder wahrscheinliche
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Wahrheit zielt – oder zu einer Sinnentleerung des Rechtfertigungsbegriffs, der Beliebiges ‚rechtfertigt’ und damit aber auch nur noch eine rhetorischlegitimierende Funktion hat, ohne auf etwas wie „objektive Verläßlichkeit“ hinzudeuten. Der erkenntnistheoretische Optimist übersieht das Ausmaß der Veränderung des Wissens: Das meiste, was ein mittelalterlicher Gelehrter für selbstverständlich hielt, gilt inzwischen als obsolet. Und es ist ohne weiteres möglich, daß ein Großteil „unseres“ Wissens – d.h. die aktuellen Theorien der Realwissenschaften sowie das Alltagswissen – sich in späterer Zeit als falsch herausstellt. Daß Menschen faktisch so vorgehen, wie es beschrieben wird, daß sie üblicherweise dem Zeugnis anderer vertrauen (Reids principle of credulity), kann durchaus zugestanden werden. Daß sie auch glauben, ihr Fürwahrhalten sei ‚gerechtfertigt’, ist bereits weniger leicht nachzuweisen. (Üblicherweise glauben wir einfach und sind von etwas überzeugt und verbinden damit auch einen Wahrheitsanspruch, ohne daß wir zusätzlich davon sprechen, unser Fürwahrhalten sei ‚gerechtfertigt’. Rechtfertigung wird im Alltag sowie in der Wissenschaft erst dann zum Problem, sobald es Umstände gibt, die unser Fürwahrhalten fraglich erscheinen lassen.) Auf jeden Fall muß aber zwischen dem faktischen Vorgehen und Fürwahrhalten einerseits und der epistemischen Rechtfertigung andererseits unterschieden werden. Die Tatsache, daß Menschen dem Zeugnis anderer vertrauen und auch vertrauen müssen, um Erkenntnisziele zu erreichen (also eine instrumentell notwendige Präsumtion), rechtfertigt dieses Vertrauen allenfalls pragmatisch – man kann schließlich nicht anders handeln –, nicht aber epistemisch oder im Sinne objektiver Verläßlichkeit. Es ist unumstritten, daß zum Zwecke der Erkenntnisgewinnung – sowohl im Alltagsleben als auch in der empirischen Wissenschaft – die Wahrheit bestimmter Zeugnisse vorausgesetzt werden muß. Dies gilt ebenso für den theoretischen Physiker, der sich zur Prüfung von Theorien auf Beobachtungsaussagen (Basissätze) des Astronomen oder Experimentators verläßt, wie für den ortsunkundigen Reisenden, der in einer fremden Stadt nach dem Weg fragt. In beiden Fällen wäre es undurchführbar und für das Erkenntnisziel kontraproduktiv, wollte man verlangen, jedwedes Zeugnis kritisch zu prüfen.19 Ein gewisses Vertrauen auf die Verläßlichkeit des anderen ist unabdingbar für jegliche soziale Kooperation, auf der ja auch die wissenschaftliche Arbeit basiert. Wäre dies gemeint mit PR, 19 Wenngleich es undurchführbar ist und deshalb ein sinnloses Postulat wäre, alle Zeugnisse zugleich kritisch zu prüfen oder jedes Zeugnis nur dann (vorläufig) für wahr zu halten, kann die Forderung nach empirischer Prüfbarkeit als methodologisches Prinzip dennoch sinnvoll sein. Dies gilt, wie bereits gesagt, für die Wissenschaftstheorie, kann aber auch auf den Umgang mit alltäglichen Zeugnissen (im Sinne von Behauptungen) angewendet werden. Die Prüfbarkeit bezieht sich hierbei lediglich auf eine bestimmte Form der Hypothesen bzw. „Zeugnisse“, die eine Korrektur anhand von Erfahrung gestattet, nicht aber darauf, wer sie prüft und wann oder ob sie überhaupt geprüft werden.
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befände sich die Soziale Erkenntnistheorie nicht bloß im Einklang mit dem gesunden Menschenverstand, sondern auch mit vielen anderen erkenntnistheoretischen Positionen. Allenfalls ließe sich noch einschränkend ergänzen, daß das Vertrauen in Zeugnisse, die dem praktischen Handeln zugrunde liegen, bzw. in Basissätze, die zum Zwecke der Theorieprüfung als wahr vorausgesetzt werden, immer nur ein vorläufiges ist: Führt uns das Zeugnis in die Irre, werden wir aufgrund dieser Erfahrung beim nächsten Mal weniger geneigt sein, einem Zeugnis/Zeugen entsprechender Art Vertrauen zu schenken. Ist die Beobachtungsaussage einer unabhängigen Prüfung nicht zugänglich, wird der theoretische Physiker nicht bereit sein, diesem Zeugnis besonderes Gewicht zu geben. Genau hier liegt aber das zweite Grundproblem der Sozialen Erkenntnistheorie, das Problem der Rechtfertigung: Sie muß zeigen, daß das Vertrauen in das Zeugnis anderer mehr ist als eine soziale Praxis, die sich aufgrund instrumenteller Notwendigkeit herausbildet; sie muß vielmehr zeigen, daß wir epistemisch gerechtfertigt sind, Zeugnissen anderer zu vertrauen, ohne sie geprüft zu haben. Mit „epistemisch gerechtfertigt“ ist gemeint, daß auch ein Erkenntnisgrund dafür vorliegt, daß das Zeugnis wahr ist, nicht bloß ein Realgrund bzw. Motiv. Im Sinne von PR zu behaupten, ein Zeugnis sei epistemisch gerechtfertigt, allein deshalb, weil es behauptet wurde, entspricht nun nicht mehr dem Common sense, denn hier liegt gar kein Erkenntnisgrund vor. Anstatt eine Wahrheitspräsumtion beim Umgang mit Zeugnissen transzendental zu begründen, reicht eine pragmatische Rechtfertigung völlig aus.20 (5) Ist es aber überhaupt möglich, daß die Mehrzahl von Zeugnissen falsch ist? – Ein Gegner der PR-These muß keineswegs die Falschheit einer Mehrzahl der Zeugnisse behaupten. Er kann statt dessen, wie Hume, durchaus einräumen, daß Menschen zur Wahrhaftigkeit tendieren. Er kann auch eine praktische Notwendigkeit anerkennen, viele Zeugnisse ohne Prüfung für wahr zu halten. Wie steht es aber mit der Möglichkeit, daß die Mehrzahl der Zeugnisse falsch ist? – Coady unterstellt in seiner Argumentation gegen Hume, dieser müsse die Möglichkeit in Erwägung ziehen, daß alle oder die meisten Zeugnisse falsch sind. Bei der angestrebten empirischen Prüfung könnte sich ja herausstellen, daß niemand die Wahrheit gesagt hat. Wer Testimony mit der Realität vergleichen wolle, müsse in Erwägung ziehen, daß es keinerlei Übereinstimmung gebe. Vom Standpunkt eines erkenntnistheoretischen Realismus – der auch dem Alltagsverstand und damit dem von der Sozialen Erkenntnistheorie beanspruchten Common Sense zugrunde liegt – kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, daß die Mehrzahl der Zeugnisse falsch ist.21 Man kann sich ohne weite20
Vgl. dazu die Darstellung und Diskussion der Rolle von Rationalitätsprinzipien bei der Interpretation in Teil 3. 21 Da die These einer Zuverlässigkeit der Mehrheit aller Zeugnisse unklar ist, trifft dies natürlich auch auf ihre Negation zu, so daß sich im Grunde inhaltliche Ausführungen erübrigen. Im folgenden stelle ich lediglich ein Gedankenexperiment auf der Basis einer Common-Sense-Auslegung der Negation dieser These an.
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res den Fall einer (nahezu) totalen Propaganda oder Ideologie vorstellen: Bestimmte Menschen oder Gruppen von Menschen, die sich über alle Tatsachen hinsichtlich ihrer Lebenswelt, ihres Daseins und ihrer Herkunft eine falsche Meinung bilden und diese ihren Nachkommen vermitteln – ausgenommen eine eng begrenzte Zahl von Zeugnissen, die zur Weitergabe der Sprache an die Nachkommen und für das Überleben der eigenen Gruppe (etwa die Warnung vor unmittelbaren Gefahren) unbedingt erforderlich ist. In seiner Argumentation für die These, daß die Mehrzahl der Zeugnisse vertrauenswürdig sein muß, um überhaupt von einer Praxis des Bezeugens sprechen zu können, bestreitet Coady die Möglichkeit, daß alle (oder auch nur die meisten) Zeugnisse falsch sein können: „Imagine a world in which an extensive survey yields no correlation between reports and (individually observed) facts. In such a colossally topsy-turvy world what evidence would there possibly be for the existence of reports at all? Imagine a community of Martians who are in the mess that RT 1 allows as a possibility. Let us suppose for the moment that they have a language which we can translate [...] with names for distinguishable things in their environment and suitable predicative equipment. We find however, to our astonishment, that whenever they construct sentences addressed to each other in the absence [...] of the things designated by the names, but when they are, as we should think, in a position to report, then they seem to say what we [...] can observe to be false. But in such a situation what reason would there be for believing that they even had the practice of reporting?“ (Coady 1992: 85)
Aus der Sicht von Coady ist es nicht sinnvoll, von einer Praxis des Zeugnisgebens zu sprechen, wenn die (scheinbaren) Berichte allesamt in die Irre führen und ihnen auch niemand mehr glaubt, weil sie sich in der Praxis als notorisch unzuverlässig herausstellen. Schlimmer noch: Man könnte die angeblichen Zeugnisse in diesem Fall erst gar nicht verstehen, weil die in scheinbaren Berichten vorkommenden Begriffe keinen eindeutigen Zusammenhang mit Beobachtbarem hätten, so daß ihr Sinn nicht zu ermitteln sei (vgl. Coady 1992: 85 ff.). Diese Annahmen Coadys sind allerdings allesamt nicht zwingend: In dem von mir gewählten Gedankenexperiment einer Totalideologie können viele Begriffe innerhalb der Aussagen eine eindeutige Referenz besitzen, ohne daß die produzierten Berichte wahr sein müssen. (Dies ist ein typisches Phänomen etwa bei fiktionaler Literatur.) Die Mitglieder einer Gemeinschaft von Totalideologen erzählen sich sozusagen ununterbrochen Märchen über die Ereignisse der realen Welt und deren kausale Verknüpfung, obwohl sie die Absicht haben, über die wirkliche Welt zu informieren. Viele der verwendeten Begriffe stehen in eindeutigem Zusammenhang mit beobachtbaren Phänomenen, andere Begriffe stehen in ebenso eindeutigem Zusammenhang mit Entitäten aus einer Welt der Phantasie. Keineswegs jedoch müssen die Begriffe völlig willkürlich verwendet werden, wie Coady voraussetzt. Außerdem gibt es keinen zwingenden Grund, warum die Mitglieder der Gemeinschaft die Märchen als Märchen erkennen müs-
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sen: Daß kein kausaler Zusammenhang zwischen beobachtbaren Ereignissen (z.B. Regen) und rituellen Praktiken (z.B. Tanzritualen) besteht, muß niemanden daran hindern, an einen derartigen Zusammenhang zu glauben und diesen Glauben weiter zu tradieren. – Es ist jedenfalls nicht einsichtig, warum in einer Gemeinschaft von Menschen, die einander keine (mehrheitlich) wahren Zeugnisse mitteilen, keine Praxis des Berichtens etabliert sein soll; es sei denn, man definiert „Testimony“ derart, daß nur wahre Zeugnisse echte Zeugnisse sind. In seiner Rezension versucht Chakrabarti, die Argumentation Coadys zu verstärken und eine zentrale Rolle von Testimony für das gesamte Wissen nachzuweisen: „In an earlier passage while arguing that without the presumption of general veracity of reports the ability to use words ‚correctly’ (even while lying or communicating false beliefs) cannot exist, Coady hits upon the point that teaching the meaning of words itself involves testifying (p. 92). From these points an argument which Coady does not develop could be constructed like this. No knowledge is possible without true belief. No belief is possible without some conceptual representation of a situation of the world. No conceptual representation is possible without some linguistic classification as to what is correctly called what. There is no other source of knowledge about what is correctly called what except testimony of the experts of a community. Thus testimony is central to all knowledge – including direct perception!“ (Chakrabarti 1994: 969)
Damit legt Chakrabarti ein neues transzendentales Argument vor, das noch anspruchsvoller ist als das alte. Während es bislang darum ging, die Verläßlichkeit einer Mehrzahl von Zeugnissen zu begründen, um daraus PR abzuleiten, geht es Chakrabarti um nichts weniger als den Nachweis einer Vorrangstellung von Zeugnissen gegenüber anderen Erkenntnisquellen, wobei hier anscheinend bereits vorausgesetzt wird, daß Testimony im Sinne von PR eine echte Erkenntnisquelle darstellt. Die These einer Vorrangstellung (oder „zentralen“ Stellung) von Testimony ist jedoch viel zu diffus, um sinnvoll diskutiert werden zu können. Abschließend möchte ich zusammenfassen, daß aus der trivialen Tatsache, daß wir die Bedeutung von Wörtern durch das ‚Zeugnis anderer’ gelernt haben, weder die Verläßlichkeit der Mehrheit aller Zeugnisse folgt noch ein epistemisches Recht, sie nur deshalb für wahr zu halten, weil sie geäußert worden sind. Aus der Perspektive eines erkenntnistheoretischen Realisten kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, daß die Mehrzahl der Zeugnisse falsch bzw. unzuverläßlich ist, doch die nachgewiesene Unklarheit der These „most testimony must be reliable“ gilt ebenso für ihre Negation. Da die These selbst unklar ist, kann auch eine inhaltliche Stellungnahme zur Negation dieser These nur auf Grundlage mehr oder weniger willkürlicher Auslegungen erfolgen. Das Gedankenexperiment einer Totalideologie war der Versuch einer Auslegung der Negation dieser These. Der Realist und Empirist, der Zeugnisse durch einen „Ver-
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Erster Teil
gleich mit der Realität“ überprüfen will, braucht sich auf kontrafaktisches Argumentieren dieser Art nicht einzulassen. Da sowohl die These als auch ihre Negation unklar sind, muß er weder postulieren, daß Zeugnisse de facto unzuverlässig sind, noch muß er die Möglichkeit behaupten, Zeugnisse seien generell unzuverlässig. Wenn er die Möglichkeit weder ausschließt noch behauptet, übt er damit eine skeptische Urteilsenthaltung aus.
1.6
Karl Popper über die Quellen des Wissens
Innerhalb des kritischen Rationalismus wurde schon früh – Jahrzehnte vor der Diskussion über „Soziale Erkenntnistheorie“ und das „Zeugnis anderer“ – auf die Bedeutung von Traditionen und sozialen Institutionen in der Erkenntnispraxis hingewiesen. Karl Popper selbst setzt sich bereits in dem Vortrag „Towards a Rational Theory of Tradition“ anläßlich der dritten Jahreskonferenz der Rationalist Press Association am 26. Juli 1948 in Oxford mit dem Thema auseinander (Popper 1949). In diesem Vortrag steht das Spannungsverhältnis zwischen ‚Rationalismus’ und ‚Traditionalismus’ im Vordergrund. Während Rationalisten bislang die Bedeutung (sozialer) Traditionen für die Erkenntnis unterschätzt hätten, pflegten Traditionalisten vielfach einen irrationalen Umgang mit Traditionen, der die Relevanz einer Kritik am Überlieferten mißachte (Popper 1949: 175 f.). Zu einem rationalen Umgang mit Traditionen gehöre die kritische Einstellung, die zunächst bewußt mache, inwiefern wir Traditionen übernommen haben und ihnen folgen. Dies eröffne die Möglichkeit der kritischen Prüfung, die zur Annahme, Ablehnung oder Modifikation von Traditionen führen könne (Popper 1949: 178). Der Rationalismus seinerseits sei selbst eine Tradition, und zwar eine Tradition mit bestimmten problematischen Aspekten (Popper 1949: 178 f.). Neben dem Hinweis auf die Bedeutung von Traditionen weist Popper auch auf die Notwendigkeit einer Analyse von „sozialen Institutionen“ hin (Popper 1949: 182). In seinem Aufsatz „Von den Quellen unseres Wissens und unserer Unwissenheit“22 greift Karl Popper sehr entschieden in den Streit über Erkenntnisquellen ein und formuliert damit auch eine prägnante Position in der TestimonyKontroverse. Die Pointe seiner Position liegt in einer separaten und abweichenden Beantwortung der beiden Grundprobleme: Das Zeugnis anderer wird von ihm als eigenständige und gleichberechtigte Erkenntnisquelle betrachtet, damit ist jedoch keine epistemische Rechtfertigung verbunden. 22
Ein erster kurzer Beitrag mit dem Titel „On the Sources of our Knowledge“ findet sich schon 1959 in: Indian Journal of Philosophy 1, 1959, S. 3-7, später ausführlicher als „On the Sources of Knowledge and of Ignorance“ in: Proceedings of the British Academy 46, 1960, S. 39-71 sowie als “Introduction” in: Conjectures and Refutations. London 1963, S. 3-30; dt.: Vermutungen und Widerlegungen. Tübingen 1994, S. 2-44.
Das Zeugnis anderer 1.6.1
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Darstellung
Popper beginnt mit einer Kritik an der „Lehre, daß die Wahrheit offenbar ist“, sofern man sich der reinen Quellen bediene, sowie an der „Verschwörungstheorie der Unwissenheit“, sofern man »verunreinigte« Quellen verwende (Popper 1960/1994: 3). Er richtet sich damit sowohl gegen den Empirismus, bei dem die Beobachtung die „letzte Quelle aller Erkenntnis“ darstelle, als auch gegen den Rationalismus, bei dem die „intellektuale Anschauung“ diese Funktion erfülle (ebd.). Hiermit nimmt er die maßgebliche Positionierung der Sozialen Erkenntnistheorie vorweg, allerdings mit einem abweichenden Argumentationsziel, und zwar dem der Kritik an jeglicher Lehre von (autoritativen) Erkenntnisquellen: „Ich will hier versuchen zu zeigen, daß die Gegensätze dieser beiden Schulen, des Empirismus und des Rationalismus, weniger groß sind als ihre Berührungspunkte, und daß beide Schulen irren. Ich glaube, daß ihre Lehren falsch sind, obwohl ich mich selbst in einem gewissen Sinn als einen Empiriker und auch als einen Rationalisten bezeichnen könnte. Denn obwohl ich überzeugt bin, daß sowohl die Beobachtung wie auch der Intellekt eine wichtige Rolle zu spielen haben, so glaube ich, daß diese Rollen ganz andere sind als die, die ihre klassischen Vertreter ihnen zugeschrieben haben. Im übrigen möchte ich versuchen zu zeigen, daß weder die Beobachtung noch der Intellekt Quellen der Erkenntnis sind – in dem Sinn, in dem das behauptet wurde und noch behauptet wird“ (Popper 1960/1994: 4).
Die Berufung auf Quellen der Erkenntnis führt Popper auf die Dichtkunst zurück: „Die griechischen Dichter berufen sich auf ihre Quellen, und die Quellen ihres Wissens sind göttlicher Natur. Es sind die Musen“ (Popper 1960/1994: 11). Auch am Beginn der griechischen Philosophie, etwa bei Heraklit und Parmenides, habe es eine Bezugnahme auf göttliche Wissensquellen (Zeus, Dike) gegeben. Aus Poppers Perspektive stehen die neuzeitliche empiristische sowie rationalistische Erkenntnislehre in dieser Tradition: Descartes’ veracitas dei als Wahrheitsgarantie der intellektualen Anschauung und auch Bacons Berufung auf das wahre Wesen der Natur, das man erkennen könne, sobald man den Geist von Vorurteilen befreit habe. Der in der neuzeitlichen Philosophie verbreitete Glaube an Erkenntnisquellen ist, nach Popper, ein unerkanntes Erbe der mittelalterlichen Scholastik und damit letztlich autoritär: Obwohl „die Angriffe, die Bacon und Descartes gegen Vorurteile und gegen leichtsinnig oder gedankenlos übernommene Ansichten richteten, Ausdruck einer echten anti-autoritären und anti-traditionalistischen Haltung“ (Popper 1960/1994: 21) gewesen seien, „konnten sich [Bacon und Descartes] nicht von der autoritären Denkweise freimachen, so sehr sie auch danach strebten. Sie konnten nur die eine Autorität – die Autorität des Aristoteles und die Autorität der Bibel – durch die andere ersetzen. Beide appellierten an neue Autoritäten, der eine an die Autorität unserer Sinne, der andere an die Autorität unseres Intellekts“ (Popper 1960/1994: 22). Dadurch werde der Irrtum
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Erster Teil
auf unser schuldhaftes Versagen zurückgeführt, der jeweiligen Autorität zu gehorchen. Die Herausforderung an die Erkenntnistheorie bestehe nun darin, einerseits die Fehlbarkeit menschlicher Erkenntnis einzugestehen, andererseits Subjektivismus und Relativismus zu vermeiden. Dieses Problem sei von Xenophanes, Demokrit und dem Sokrates der Apologie gelöst worden durch die Betonung von Kritik und Selbstkritik, der Suche nach Irrtümern und der Konzeption von „objektiver Wahrheit“ als regulativer Idee (vgl. ebd.). Die kritische Lehre von der menschlichen Fehlbarkeit, vertreten etwa von Sokrates, Cusanus, Erasmus, Montaigne, Locke, Voltaire, Mill und Russell, stehe im Gegensatz sowohl zum übertriebenen Optimismus als auch zum Pessimismus in der Erkenntnistheorie (vgl. Popper 1960/1994: 23). Popper stellt nun die These auf, daß über die Wahrheit einer Theorie nicht durch die Nachforschung nach ihrem Ursprung (ihrer Quelle) entschieden werden könne (vgl. Popper 1960/1994: 26 ff.). Während der Sinn eines Wortes tatsächlich autoritativ festgelegt werde und somit von seiner Herkunft abhängig sei, gelte dies keineswegs im Hinblick auf die Wahrheit von Aussagen (vgl. Popper 1960/1994: 27). Als falsch betrachtet Popper auch den Anspruch, Behauptungen zu rechtfertigen, indem man die folgende Fragen beantwortet: „Woher weißt Du das? Auf welche Quelle stützt sich Deine Behauptung?“ (Popper 1960/1994: 30). Als Vorwegnahme aktueller Beiträge zur Testimony-Debatte erscheinen die darauf folgenden Ausführungen Poppers: Unsere Behauptungen basierten in der Regel gar nicht auf Wahrnehmungen, sondern auf allen möglichen anderen ‚Quellen’. Als Beispiel erwähnt Popper: „Ich las es in der Times“ (Popper 1960/1994: 31). Durch diesen Verweis auf das Zeugnis anderer als gleichberechtigter Erkenntnisquelle scheint er zum Bundesgenossen der Verfechter einer eigenständigen Testimonialerkenntnis zu werden. Ausführlich setzt er sich mit dem Argument der Empiristen auseinander, daß letzten Endes alle Zeugnisse auf Beobachtungen und somit auf die Wahrnehmung als autoritative Erkenntnisquelle zurückgeführt werden müßten, sonst seien sie unglaubwürdig: „Ich will versuchen zu zeigen, daß diese Argumente um nichts stichhaltiger sind als Bacons Argumente: daß die Entscheidung der Frage nach den Quellen der Erkenntnis gegen die Empiristen ausfällt; und schließlich, daß diese ganze Frage nach den letzten Quellen – Quellen, an die man appellieren kann wie an eine höhere Instanz oder eine höhere Autorität – falsch gestellt ist und auf einem Irrtum beruht“ (Popper 1960/1994: 31).
Poppers Hauptargument ähnelt der Argumentation Coadys gegen die Reduktionismusthese: Beim Versuch, die Quellen der Nachricht zurückzuverfolgen, mache man ständig Gebrauch von Kenntnissen, die nicht auf unmittelbarer Wahrnehmung beruhen, denn jede Beobachtung sei bereits „Interpretation im Lichte unseres theoretischen Wissens“ (Popper 1960/1994: 33). Diese Kenntnis-
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se müßten aber erneut durch eine Quelle bestätigt werden und so fort ad infinitum. Die Suche nach letzten Quellen führe demnach in einen unendlichen Regreß (vgl. ebd.). Eine ‚Reduktion’ unseres Wissens auf die Erfahrung als autoritative Erkenntnisquelle ist also für Popper – ebenso wie für den sozialen Erkenntnistheoretiker – nicht möglich. In diesem Zusammenhang gibt Popper eine erste Antwort auf die Frage nach den Quellen der Erkenntnis: „Was sind nun aber wirklich die Quellen unserer Erkenntnis? Ich glaube, die Antwort auf diese Frage lautet: Es gibt Quellen der verschiedensten Art, aber es gibt keine Erkenntnisquelle, die Autorität besitzt“ (Popper 1960/1994: 35).
Da die Suche nach den ‚letzten’ Quellen unseres Wissens jedoch üblicherweise die Idee des Ursprungs mit der Idee der Gültigkeit konfundiert, seien die Fragen des Empiristen: ‚Woher weißt Du das? Was ist die Quelle Deiner Behauptung?’ falsch gestellt, beruhend auf einer „völligen Verkennung des Problems. Sie sind so gestellt, daß sie eine Antwort in einem autoritativen Sinn herausfordern“ (Popper 1960/1994: 36). Damit wird für Popper die Frage nach den Quellen des Wissens selbst fragwürdig: „[...] Es ist klar, daß diesen Fragen eine autoritäre Tendenz innewohnt. Sie haben große Ähnlichkeit mit jener Frage, die eine der traditionellen Grundlagen der philosophischen Staatslehre ist, der Frage: ‚Wer soll herrschen?’ Diese Frage verlangt nach einer autoritären Antwort: etwa ‚die Besten’ oder ‚die Weisesten’ oder ‚das Volk’ oder ‚die Mehrheit’“ (Popper 1960/1994: 37).
Poppers Lösung besteht – ebenso wie in seiner politischen Philosophie – darin, die Frage zu ändern. Analog zur Ersetzung der politischen Problemstellung ‚Wer soll herrschen’ durch ‚Wie kann man Mißbrauch von Macht verhindern’ soll erkenntnistheoretisch die Frage ‚Welches ist die verläßlichste Quelle der Erkenntnis’ durch ‚Wie kann man Irrtümer entdecken und ausschalten?’ ersetzt werden (vgl. ebd.). Wie andere autoritäre Fragen, so sei „auch die Frage nach den Quellen der Erkenntnis eine Frage nach der Herkunft. Sie fragt nach dem Ursprung unserer Erkenntnis in dem Glauben, daß die Erkenntnis sich durch ihren Stammbaum legitimieren könne“ (Popper 1960/1994: 37). Es gebe – und dies ist nun innerhalb der Wissenschaftstheorie des kritischen Rationalismus ein entscheidender Punkt – kein Wissen im klassischen Sinn (epistēmē), alles sei Raten und Meinen (doxa). Hierdurch ändert sich für Popper die Situation grundsätzlich: „Meine Antwort auf die Frage: ‚Woher weißt Du das? Was ist die Quelle, die Grundlage Deiner Behauptung? Welche Beobachtungen liegen ihr zugrunde?’ ist also: ‚Ich sage ja gar nicht, daß ich es weiß: meine Behauptung war nur als Vermutung gemeint. Auch wollen wir uns nicht um die Quelle oder die Quellen kümmern, aus denen meine Vermutung entsprungen sein mag; es gibt viele mögliche Quellen, ich bin mir kei-
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Erster Teil neswegs über alle im klaren. Auch haben Ursprung und Herkunft nur wenig mit der Wahrheit zu tun“ (Popper 1960/1994: 39).
An die Stelle der Idee vom erkenntnislegitimierenden Ursprung des Wissens möchte Popper die Idee der kritischen Prüfung setzen, ohne damit indes so etwas wie Rechtfertigung des Wissens zu verbinden. Er ist allenfalls bereit, für historische Behauptungen eine Ausnahme zuzugestehen: Letztere müßten sich auf Quellen beziehen. Doch auch hier gehe es vorrangig darum, die Quellen kritisch zu prüfen (vgl. Popper 1960/1994: 39f.). Zum Abschluß faßt Popper seine erkenntnistheoretische Position zum Zeugnis anderer in Thesenform zusammen: „Es gibt keine letzten Quellen der Erkenntnis“ (Popper 1960/1994: 40). Jede Quelle sei uns willkommen, zugleich aber auch Gegenstand kritischer Überprüfung. Und selbst bei historischen Tatsachenbehauptungen ziehe man es vor, die behaupteten Tatsachen selbst zu prüfen, statt den Quellen unserer Informationen nachzugehen. Die Fragen der Wissenschaftslehre haben, so Popper, mit Quellen eigentlich nichts zu tun. Wir untersuchten statt dessen, ob eine Behauptung wahr ist. Dennoch komme der Tradition – und damit dem Zeugnis anderer – bei der Genese unseres Wissens eine immense Bedeutung zu: „Die Tradition ist – abgesehen von Wissen, das uns angeboren ist – bei weitem die wichtigste Quelle unseres Wissens, sowohl in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht. Den Großteil unseres Wissens haben wir durch Beispiel erworben, durch Erzählungen, durch das Lesen von Büchern oder dadurch, daß wir gelernt haben, Kritik zu üben, uns der Kritik anderer zu unterwerfen, sie zu akzeptieren und die Wahrheit zu respektieren“ (Popper 1960/1994: 40f.).
Dennoch sei „kein noch so kleiner Teil unseres überlieferten Wissens (und sogar des uns angeborenen Wissens) [...] davor gefeit, kritisch untersucht und gegebenenfalls umgestoßen zu werden. Trotzdem wäre ohne Tradition Erkenntnis unmöglich“ (Popper 1960/1994: 41). Doch auch für die Tradition (und damit für das Zeugnis anderer) gelte die Kritik an der Lehre von den Quellen der Erkenntnis, d.h. der Rechtfertigung eines Erkenntnisanspruchs durch seine Herkunft. Diese Zurückweisung des ‚Rechtfertigungsdenkens’ wird von Popper zuletzt noch radikalisiert, indem er jegliche Rechtfertigung des Wissens durch „positive Gründe“ verwirft: „Falsch ist, daß wir unsere Erkenntnis oder unsere Theorien durch positive Gründe rechtfertigen müssen, das heißt durch Gründe, die auf mehr hinauslaufen als darauf, daß die betreffenden Theorien bisher der Kritik standgehalten haben. Dieser falsche Gedanke führt weiter zu dem Schluß, daß wir an eine letzte, unbedingte oder autoritative Quelle der Erkenntnis glauben müssen, wobei allerdings offen bleibt, was der Charakter dieser Autorität ist: ob menschlich, wie etwa Beobachtung oder Vernunft, oder übermenschlich und übernatürlich“ (Popper 1960/1994: 43).
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Diese generelle Infragestellung einer Berufung auf autoritative Quellen der Erkenntnis macht deutlich, wie vorschnell es gewesen wäre, Popper als Bundesgenossen der Sozialen Erkenntnistheorie zu betrachten. Menschliches Zeugnis mag zwar eine Erkenntnisquelle sein, doch sie verfügt – aus Sicht von Popper – über keinerlei Autorität und rechtfertigt nichts; ebenso wenig wie jede andere potentielle Quelle unseres Wissens. Für unseren Zusammenhang entscheidend ist zunächst Poppers getrennte Beantwortung der beiden Grundprobleme der Sozialen Erkenntnistheorie: Aus der Tatsache, daß eine Quelle unseres Wissens nicht auf eine andere zu reduzieren ist (Unabhängigkeitsthese), folgt nicht die epistemische Rechtfertigung von Aussagen, die aus dieser Quelle stammen. Dies ist ein Ergebnis, das nach der in Abschnitt (1.4) besprochenen Argumentation Insoles gar nicht möglich sein dürfte. Und zwar deshalb nicht, weil in der ersten Prämisse der Argumentation (CR) bereits der traditionelle Wissensbegriff der „gerechtfertigten wahren Meinung“ verwendet wird. Ersetzen wir diesen Wissensbegriff durch den Begriff des Vermutungswissens im Sinne Poppers, kann man zugestehen, daß wir de facto ‚Wissen’ durch das Zeugnis anderer erwerben, ohne damit eine epistemische Rechtfertigung dieses ‚Wissens’ zu beanspruchen.
1.6.2
Fallibilismus ist nicht genug – das Problem der Rechtfertigung
Handelt es sich bei dieser Position des kritischen Rationalismus um einen ‚dritten Weg’ zwischen empiristischem Reduktionismus und der transzendentalen Wahrheitspräsumtion (PR)? Sowohl der empiristische Reduktionist als auch der soziale Erkenntnistheoretiker könnten einwenden, Poppers Position sei entweder ein rhetorisch verdeckter Skeptizismus oder aber eine Scheinlösung des Problems: Die Berufung auf ‚Vermutungswissen’ reiche nicht aus, um eine eigenständige Position in der Debatte zu begründen, sofern damit lediglich der Fallibilismus gemeint sein sollte. Denn sowohl der Reduktionist als auch der soziale Erkenntnistheoretiker können sich den Fallibilismus zu eigen machen, ohne ihre Position damit zu gefährden. Thomas Grundmann konstatiert in der Einleitung zu seinem Sammelband „Erkenntnistheorie“ eine Vernachlässigung der Diskussion über den Rechtfertigungs-Begriff und führt dies auf den populären Fallibilismus zurück: „Ein Grund dafür ist vermutlich, daß nach dem Niedergang der Gewißheits- und Infallibilitätskonzeptionen von Rechtfertigung der populäre Slogan des Fallibilismus verdeckte, daß ein positiver Begriff der Rechtfertigung nicht mehr existierte. Die Behauptung des Fallibilisten, daß jede gerechtfertigte Meinung sich als falsch erweisen könne, ist rein negativ und läßt die Natur der Rechtfertigung hoffnungslos unterbestimmt. Inzwischen gibt es eine Reihe positiver Vorschläge für die Definition der er-
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Erster Teil kenntnistheoretischen Rechtfertigung. Allerdings wird die Diskussion darüber nach wie vor sehr kontrovers geführt“ (Grundmann 2003: 11 f.).
Es fragt sich indes, ob Grundmann den Fallibilismus, zumindest bei Popper, in seiner Radikalität erkannt hat, schließlich war es ja nicht dessen Absicht, einen neuen Rechtfertigungsbegriff zu entwickeln, sondern die Konzeption der Rechtfertigung von Wissen überflüssig zu machen. Grundmann dagegen erscheint es selbstverständlich, daß „Rechtfertigung“ unabdingbar mit dem Erkenntnisstreben verbunden ist: „Egal ob wir Infallibilisten oder Fallibilisten sind [...], nichts als die Rechtfertigung bestimmt unser epistemisches Verhalten“ (Grundmann 2003: 12). Für den Infallibilisten sei „Rechtfertigung“ hinreichend für „Wissen“. Für den Fallibilisten dagegen nur eine notwendige Bedingung. „Dennoch können wir auch in diesem Fall nichts anderes tun, als unsere Meinungen zu rechtfertigen, wenn wir nach Wissen streben“ (ebd.). – Damit geht Grundmann von einem Wissensbegriff aus, den Popper durch seine Konzeption des „Vermutungswissens“ überwunden zu haben meint. Aber was besagt die Konzeption des „Vermutungswissens“ überhaupt? Tatsächlich meint Popper mit „Vermutungswissen“ mehr als nur die Fehlbarkeit der Erkenntnis, und zwar die Zurückweisung der Idee der (epistemischen) Rechtfertigung generell. Ist dies eine skeptische Position? Und – wenn ja – kann sie dennoch als Antwort auf die Grundprobleme der Sozialen Erkenntnistheorie angesehen werden? Poppers Anspruch bestand darin, durch seine Konzeption des „Vermutungswissens“ das Induktionsproblem gelöst zu haben (vgl. Popper 1973: 1). Die Lösung soll darin bestehen, einerseits jegliche Möglichkeit einer empirischen Rechtfertigung bzw. Bestätigung von (realwissenschaftlichen) Theorien zu leugnen, andererseits aber aufgrund der relativen „Bewährung“ von Theorien eine rationale Auswahl zwischen konkurrierenden und noch nicht falsifizierten Theorien treffen zu können. Unter „Bewährung“ versteht Popper nun jedoch einen „konzentrierten Bericht, der (zu einem bestimmten Zeitpunkt) den Stand der kritischen Diskussion einer Theorie hinsichtlich folgender Punkte bewertet: wie die Theorie ihre Probleme löst; der Grad ihrer Prüfbarkeit; die Strenge der Prüfungen, der sie unterzogen wurde; und wie sie diese Prüfungen bestanden hat. Bewährung(sgrad) ist also ein bewertender Bericht über die bisherigen Leistungen. [...] Aber er sagt nicht das geringste über die zukünftigen Leistungen oder die ‚Verläßlichkeit’ einer Theorie“ (Popper 1973: 18). Es erscheint jedoch kaum nachvollziehbar, wie das Problem der praktischen Bevorzugung einer bestimmten Theorie gegenüber einer konkurrierenden aufgrund des Bewährungsgrades gelöst werden kann. Denn die Theorienwahl unter praktischen Gesichtspunkten hängt von der Erwartung ab, daß die betreffende Theorie auch in Zukunft erfolgreich sein wird oder zumindest erfolgreicher als die konkurrierenden Theorien. Liefert Poppers Konzeption der Bewährung also keinerlei positiven Gründe für eine Theorie, ist es für das praktische Problem der Bevorzugung und damit für jede ernstzunehmende Theorie der Rationalität irrelevant. Das Prinzip der kritischen Prüfung hätte dann keinen besonderen Nutzen für die Praxis rationaler
Das Zeugnis anderer
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Entscheidungen und könnte lediglich mit Hilfe apodiktischer rationalistischer Rhetorik begründet werden: „Die bestgeprüfte Theorie ist diejenige, die im Lichte unserer kritischen Diskussion bis jetzt als die beste erscheint, und ich kann mir nichts ‚Vernünftigeres’ vorstellen als eine gut geführte kritische Diskussion“ (Popper 1973: 22). Diese Rhetorik überdeckt aber nur notdürftig, daß schlicht kein Grund dafür vorgebracht wird, die bestgeprüfte Theorie der weniger geprüften vorzuziehen. Das Kriterium der kritischen Prüfung erscheint unter diesen Umständen völlig willkürlich; ebensogut könnte man sich für die „Schönheit“ von Theorien als Kriterium ihrer praktischen Bevorzugung entscheiden. Für Popper ist es „von größter Bedeutung, daß die ‚vernünftige’ Wahl der bestgeprüften Theorie als Handlungsgrundlage nicht in dem Sinne ‚vernünftig’ ist, daß sie auf guten Gründen für die Erwartung beruht, daß sie sich in der Praxis als erfolgreich herausstellen wird: In diesem Sinne kann es keine guten Gründe geben; genau darin besteht Humes Ergebnis“ (Popper 1973: 22). In welchem anderen Sinn die Wahl der bestgeprüften Theorie als Handlungsgrundlage aber vernünftig ist, wenn nicht im Sinne von „guten Gründen für die Erwartung [...], daß sie sich in der Praxis als erfolgreich herausstellen wird“, bleibt unbeantwortet. Die kritische Prüfung droht damit zum Selbstzweck zu werden, verbunden mit einer rein definitorischen Gleichschaltung von „Rationalität“ und „Kritik“. Während die Konzeption der Bewährung für die praktische Bevorzugung von Theorien irrelevant erscheint, sofern sie nicht in irgendeiner Form als „Bestätigung“ aufgefaßt wird, gerät der Versuch, „Bewährung“ als Form von „Bestätigung“ aufzufassen, erneut in das Induktionsproblem. Denn warum sollte man von dem bisherigen Erfolg einer Theorie, kritischen Tests zu widerstehen, auf ihren zukünftigen Erfolg schließen dürfen? Angesichts dieser Situation bildet die Rechtfertigungs- und Bewährungsproblematik den Kern der aktuellen Auseinandersetzung mit dem kritischen Rationalismus Karl Poppers, gerade auch zwischen kritischen Rationalisten selbst. Bei der gegenwärtigen Debatte über die Rechtfertigungsproblematik innerhalb des kritischen Rationalismus gilt es zu berücksichtigen, daß es inzwischen unterschiedliche „Varianten des kritischen Rationalismus” gibt, die sich z.T. grundlegend voneinander unterscheiden (vgl. H. Albert 2002: 3 ff.). Während manche jegliche Art von „Begründung“ oder „Bestätigung“ von Aussagen oder Theorien sowie des Fürwahrhaltens von Aussagen oder Theorien aufgeben (vgl. Bartley 1987 sowie Miller 1994: 51 ff.), gehen andere Autoren von der Möglichkeit und Notwendigkeit bestimmter Arten von Rechtfertigung aus, sei es eine „Bestätigung“ von Aussagen oder Theorien infolge kritischer Tests (vgl. Gadenne 1998: 108 sowie Gadenne 2002: 76), mit der Konsequenz der Rechtfertigung ihres Fürwahrhaltens, sei es die Rechtfertigung ihres Fürwahrhaltens allein, ohne den Anspruch auf Rechtfertigung des Glaubensinhalts (der Propositionen) selbst (vgl. Musgrave 2002: 26 ff.). Alle genannten Positionen scheinen mit gewissen Schwierigkeiten belastet zu sein: Die erstgenannten vermeiden zwar das Induktionsproblem, geraten dafür in die Nähe eines radikalen Skepti-
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Erster Teil
zismus bzw. sehen diesem zum Verwechseln ähnlich; Musgraves Position umgeht sowohl den Induktivismus als auch den Skeptizismus, leidet aber dafür an dem schwer einsehbaren „seltsamen Prinzip“, es sei „möglich, einen vernünftigen Grund dafür zu haben, eine Proposition P für wahr zu halten, ohne einen vernünftigen Grund für die Wahrheit von P zu haben“ (Schurz 2002: 251); Gadennes Lösung wiederum entspricht am ehesten dem Common Sense, scheint aber genau der Kritik ausgesetzt zu sein, die von Popper selbst im Gefolge von Hume gegenüber induktionslogischen Theoriebegründungen formuliert worden ist23. In unserem Diskussionszusammenhang ergibt sich folgendes: Die beiden Grundprobleme der Sozialen Erkenntnistheorie lassen sich nicht einfach dadurch lösen, daß man auf den Fallibilismus verweist. Popper selbst geht darüber hinaus, indem er die Idee des Wissens als epistemisch gerechtfertigte Meinung gänzlich aufgeben und durch die Konzeption des Vermutungswissens im Sinne prüfbarer bzw. kritisierbarer und damit verbesserungsfähiger Aussagen und Theorien ersetzen möchte. Entsprechend zielt seine Lösung der beiden Grundprobleme der Sozialen Erkenntnistheorie darauf, Testimony als echte und unverzichtbare Wissensquelle anzuerkennen, ohne in dieser Herkunft eine epistemische Rechtfertigung zu sehen. Dies ist eine systematisch eigenständige Position in der Diskussion über den Status des Zeugnisses anderer. Ob sie aber haltbar ist, hängt von der generellen Einschätzung der Popperschen Konzeption des „Vermutungswissens“ ab. Zuletzt möchte ich im Zusammenhang mit der Rechtfertigungsdiskussion noch kurz auf den Versuch eingehen, den seit Hume bekannten und von Popper aufgegriffenen kritischen Argumenten gegen die Möglichkeit epistemisch gerechtfertigten Wissens durch eine Neubestimmung des Rechtfertigungs-Begriffs zu entgehen. Dieser Strategie kommt auch innerhalb der Sozialen Erkenntnistheorie einige Bedeutung zu. In dem oben aufgeführten Zitat von Thomas Grundmann wird auf „Vorschläge für die Definition der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung“ hingewiesen, von denen sich der Autor offenbar einen Erkenntnisfortschritt verspricht. Wolfgang Spohn übernimmt in Grundmanns Sammelband nun die Aufgabe, verschiedene Rechtfertigungs- (bzw. Begründungs-)24 Begriffe zu unterscheiden und den „angemessenste[n] und fruchtbarste[n]“ (Spohn 2003: 33) auszuwählen. Spohn identifiziert vier Begründungsbegriffe, und zwar einen „deduktiven“, einen „komputationellen“, einen „kausalen“ sowie einen „Begründungsbegriff im Sinne der positiven Relevanz“ (ebd.). 23
Dies gilt dann, wenn mit „Bestätigung“ eine ‚objektive’ Verläßlichkeit von Theorien gemeint ist, die mehr besagen will als eine psychologisch oder biologisch begründete Disposition, bewährten Theorien zu vertrauen. 24 Spohn zieht den Ausdruck „Begründung“ dem Ausdruck „Rechtfertigung“ vor, da ihm letzterer „wegen seiner moralischen Untertöne missfällt“ (Spohn 2003: 33).
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Deduktive Begründungen bzw. Rechtfertigungen können nach Ansicht von Spohn kein „Modell für Begründungen im allgemeinen liefern“, dies zeige sich „am totalen Misserfolg von Versuchen, verschiedene Formen des induktiven Begründens rein deduktiv zu behandeln. Ein Beispiel dafür ist etwa Poppers hypothetischer Deduktivismus, der meines Erachtens ein totes Projekt ist; in der einen oder anderen Weise braucht er Hilfe von außen, die sich nicht rein deduktiv fassen lässt, etwa zur Auswahl zwischen bisher noch nicht falsifizierten Hypothesen“ (Spohn 2003: 44). Nun haben wir zwar gesehen, daß die Problematik der Bewährung von Hypothesen tatsächlich auch innerhalb des kritischen Rationalismus kontrovers diskutiert wird, doch Spohn verkennt völlig, daß Popper von vornherein nicht die Absicht hatte, Theorien und Hypothesen epistemisch zu rechtfertigen. Auch die Konzeption der Bewährung soll lediglich dazu dienen, das Problem der praktischen Bevorzugung von konkurrierenden und noch nicht falsifizierten Theorien zu lösen, sie stellt ausdrücklich keinen Versuch dar, Theorien und Hypothesen epistemisch zu rechtfertigen bzw. zu begründen. Vielmehr kann man die Erkenntnistheorie des kritischen Rationalismus als eine Abkehr vom klassischen Begründungsdenken und dessen Verstrickung in das Begründungs-Trilemma einer gleichermaßen aussichtslosen Wahl zwischen „infinitem Regreß“, „logischem Zirkel“ und „dogmatischem Abbruch“ des Begründungsversuches sehen (vgl H. Albert 1980: 13). Als zweite Art von Begründungen nennt Spohn die „komputationellen“ (oder „prozeduralen“). Eine komputationelle Begründung beziehe sich „auf eine spezifische Theorie der Berechnung, der Ableitung oder des Beweises, und dann besteht sie darin, dass eine Proposition (oder besser: ein Satz) genau dann ein Grund für eine andere ist, wenn erstere ein wesentlicher Bestandteil einer Berechnung oder Ableitung ist, die zu letzterer führt“ (Spohn 2003: 44). Doch während „die Standardformen des deduktiven Beweises [...] wirklich gut verstanden“ sind, seien nicht-deduktive Schlußformen in einem „quasi-experimentellen Zustand“ (Spohn 2003: 45). „Kurz, es gibt hier eigentlich nichts Substanzielles, worauf sich eine komputationelle Begründungsbeziehung stützen könnte!“ (Spohn 2003: 47). Die dritte Art von Begründungen sei die „kausale“. Eine Überzeugung sei „genau dann ein Grund für eine andere, wenn erstere eine (Teil-)Ursache der letzteren ist“ (Spohn 2003: 47). Kausale Begründungen beziehen sich, so Spohn, also auf die „Verursachung von Überzeugungen“ (ebd.). Doch selbst wenn wir über eine „Theorie der Verursachung von Überzeugungen“ verfügten, deren Fehlen Spohn bemängelt, ist diese Art von kausaler Begründung nicht im geringsten geeignet, den Inhalt der Überzeugung als zuverlässig, wahr oder in anderer Hinsicht epistemisch auszuzeichnen. Kausale Begründungen in diesem Sinn leisten daher nicht das, was von einer Rechtfertigung gemeinhin erwartet wird. Es gibt aber noch eine „vierte Sorte von Begründungsbeziehung“, die Spohn favorisiert, und welche er als „Positive Relevanz-Relation“ bezeichnet (Spohn 2003: 48). Sie greife „die natürliche Idee auf, dass ein Grund das stützt oder be-
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Erster Teil
stätigt oder dafür spricht oder den Glauben an das bestärkt, wofür er ein Grund ist“ (ebd.). Dies lasse sich leicht präzisieren: „Jede Theorie doxastischer Zustände muss davon ausgehen, dass Überzeugungen auf die eine oder andere Weise Stärkegrade besitzen. Und jede dynamische Theorie doxastischer Zustände muss von bedingten Überzeugungen oder vielmehr von bedingten Glaubensgraden reden. Mit Hilfe dieser Begriffe können wir sagen, dass die Proposition oder Annahme A genau dann ein Grund für die Proposition oder Annahme B ist, wenn A den Glauben an B stärkt, d.h., wenn der Glaubensgrad von B unter der Bedingung A höher ist als unter der Bedingung non-A, d.h. wenn A für B positiv relevant ist“ (Spohn 2003: 48).
Der Vorteil dieser Begründungsart der „positiven Relevanz-Relationen“ soll darin bestehen, daß sie auch das „nicht-deduktive oder nicht garantiert wahrheitserhaltende Räsonieren einbezieht“ (ebd.). Wenden wir nun diesen schwächeren Begriff von Rechtfertigung (bzw. Begründung) auf die Diskussion über die Rechtfertigung der Testimonialerkenntnis an, stellt sich die Frage, ob die Ersetzung des klassischen Begründungsbegriffs durch „positive Relevanz-Relationen“ die bislang geäußerte Kritik an den Rechtfertigungsversuchen sozialer Erkenntnistheoretiker entkräftet. Der entscheidende Unterschied zwischen der klassischen Idee von Begründung und dem schwächeren Rechtfertigungsbegriff besteht darin, daß letzterer von einer Begründung nicht mehr verlangt, die Wahrheit des zu Begründenden sicherzustellen. Offenbar soll die Begründung noch nicht einmal irgendeine Art von Wahrscheinlichkeit dafür angeben, daß die zu begründende Überzeugung wahr ist. Statt dessen geht es in den „positiven Relevanz-Relationen“ um die „Stärkegrade“ von Überzeugungen bzw. um „Glaubensgrade“. Soziale Erkenntnistheoretiker möchten nun begründen, daß die meisten Zeugnisse zuverlässig sind und daß wir ein epistemisches Recht haben, an sie zu glauben. Daß wir de facto vieles, vielleicht sogar „das meiste“ glauben – d.h. für wahr halten –, was wir von anderen erfahren, und somit Glaubensüberzeugungen von bestimmter Stärke besitzen, ist trivial. Daß wir beim Erwerb von Wissen üblicherweise nicht anders können, als an viele oder sogar die meisten Zeugnisse zu glauben, wenn wir Erkenntnisfortschritte machen wollen, ist bereits weniger trivial, aber es kann ebenfalls zugestanden werden, denn auf diese pragmatische Rechtfertigung von Testimony kommt es sozialen Erkenntnistheoretikern in der Diskussion nicht an. Sie möchten nachweisen, daß wir nicht bloß nicht anders können, als an die meisten Zeugnisse zu glauben, sondern daß wir auch epistemisch berechtigt sind, dies zu tun. Um eine solche epistemische Rechtfertigung zu erhalten, bedarf es mehr, als die relative Stärke des Glaubens an Zeugnisse auf bestimmte Gründe zurückzuführen. Vielmehr müssen die Zeugnisse selbst als in einem objektiven Sinn „verläßlich“ herausgestellt werden. Bei der objektiven Verläßlichkeit einer Aussage scheint es sich aber um nichts anderes als um ihre Wahrheit zu handeln. Falls jedoch soziale Erkenntnistheoretiker auf einen anderen Recht-
Das Zeugnis anderer
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fertigungsbegriff ausweichen möchten, müßten sie diesen hinreichend explizieren und nachweisen, daß er in der Lage ist, eine objektive Verläßlichkeit von Zeugnissen zu begründen. Weiterhin wäre zu klären, was die objektive Verläßlichkeit einer Aussage anderes sein soll als ihre Wahrheit bzw. die Wahrscheinlichkeit ihrer Wahrheit. Bislang ist jedenfalls nicht erkennbar, inwiefern ein „nicht-deduktive[s] oder nicht garantiert wahrheitserhaltende[s] Räsonieren“, wie beispielsweise Spohn es im Zusammenhang mit seiner Begründungsbeziehung der „positiven Relevanz-Relationen“ propagiert, auch nur im geringsten zu einer epistemischen Rechtfertigung von Zeugnissen beitragen kann.
1.6.3
Soziale Erkenntnistheorie und kritischer Rationalismus – die soziale Verfassung der Wissenschaft
Traditionell wurde in der Erkenntnistheorie der Erwerb sowie die Rechtfertigung von Wissen auf Einsicht und Erfahrung des einzelnen Erkenntnissubjektes zurückgeführt. Demgegenüber berücksichtigt die Soziale Erkenntnistheorie die Tatsache, daß Erkenntnis eine intersubjektive Dimension besitzt: Es handelt sich sowohl bei der Gewinnung als auch bei der Übermittlung von Wissen um einen arbeitsteiligen Prozeß, d.h. um eine Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Erkenntnissubjekten. Im Bereich der Wissenschaftstheorie und Methodologie haben Autoren aus dem Umfeld des kritischen Rationalismus besonders deutlich darauf hingewiesen, daß Wissenschaft immer auch ein sozialer Prozeß ist, der bestimmte institutionelle Grundlagen besitzt. Bereits Karl Popper berücksichtigte die soziale Verfaßtheit der Wissenschaft. Zwar sprach er zunächst in seiner Logik der Forschung von methodologischen Regeln als „Spielregeln“, die gewissermaßen als Definitionen des Spiels der Wissenschaft aufzufassen seien (vgl. Popper 1934: 26), später jedoch bezog er die institutionellen Grundlagen wissenschaftlicher Forschung in seine Methodologie ein. Hierbei gelangt er zu Ergebnissen, die einer Sozialen Erkenntnistheorie recht nahe kommen: „Was man als wissenschaftliche Objektivität bezeichnen kann, liegt einzig und allein in der kritischen Tradition, die es trotz aller Widerstände so oft ermöglicht, ein herrschendes Dogma zu kritisieren. Anders ausgedrückt, die Objektivität der Wissenschaft ist nicht eine individuelle Angelegenheit der verschiedenen Wissenschaftler, sondern eine soziale Angelegenheit ihrer gegenseitigen Kritik, der freundlichfeindlichen Arbeitsteilung der Wissenschaftler, ihres Zusammenarbeitens und auch ihres Gegeneinanderarbeitens. Sie hängt daher zum Teil von einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ab, die diese Kritik ermöglichen. [...] Die sogenannte Wissenssoziologie, die die Objektivität im Verhalten der verschiedenen einzelnen Wissenschaftler sieht und die die Nichtobjektivität aus dem sozialen Standort der Wissenschaftler erklärt, hat diesen entscheidenden Punkt – ich meine die Tatsache, daß die Objektivität einzig und allein in der Kritik fundiert ist – völlig verfehlt. Was die Soziologie des Wissens übersehen hat, ist nichts anderes als eben die
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Erster Teil Soziologie des Wissens – die Theorie der wissenschaftlichen Objektivität. Diese kann nur durch solche soziale Kategorien erklärt werden, wie zum Beispiel: Wettbewerb (sowohl der einzelnen Wissenschaftler wie auch der verschiedenen Schulen); Tradition (nämlich die kritische Tradition); soziale Institution (wie zum Beispiel Veröffentlichungen in verschiedenen konkurrierenden Journalen und durch verschiedene konkurrierende Verleger; Diskussionen auf Kongressen); Staatsmacht (nämlich die politische Toleranz der freien Diskussion)“ (Popper 1962: 112 f.).
Hans Albert führt in verschiedenen Schriften die institutionalistische Seite der kritisch-rationalen Wissenschaftstheorie fort, besonders in seinem Traktat über rationale Praxis (H. Albert 1978: 33-59), in dessen zweitem Kapitel er u.a. die „soziale Einbettung der Wissenschaft“ beschreibt. Auch Max Albert hat in Fortsetzung und Weiterentwicklung dieser wissenschaftstheoretischen Tradition einen Vorschlag ausgearbeitet, die herkömmlicherweise eher individuumsorientierte Methodologie in Richtung eines stärker sozial orientierten Ansatzes weiterzuentwickeln. Eine Grundidee dieser Weiterentwicklung besteht darin, daß nicht direkte Handlungsanweisungen an einzelne Wissenschaftler den Erkenntnisprozeß steuern, sondern vielmehr die soziale Verfassung der Wissenschaft, insbesondere ihre Institutionen. Hierbei ist die Auseinandersetzung mit Paul Feyerabends Kritik an der herkömmlichen Methodologie ein wichtiger Ausgangspunkt der Argumentation Max Alberts. In seinem Hauptwerk Wider den Methodenzwang diagnostiziert Feyerabend ein vermeintliches Dilemma der herkömmlichen Methodologie: Entweder seien die Regeln, die den Wissenschaftlern diktiert werden, zwar verhaltenssteuernd, aber durch ihre Strenge fortschrittshemmend – oder aber die Regeln seien zwar nicht fortschrittshemmend, dafür jedoch auch nicht verhaltenssteuernd. Mit anderen Worten: Die Methodologie sei entweder eine Fessel der Wissenschaft oder leeres Geschwätz (vgl. Feyerabend 1975/1986: 14 f. sowie Feyerabend 1980: 97 f.). Um die anarchistische und relativistische Kritik Feyerabends zu entkräften, hat Max Albert in seinem Aufsatz „Der Kritische Rationalismus und die Verfassung der Wissenschaft“ (M. Albert 2002) eine radikale Neuinterpretation der Methodologie vorgeschlagen: Methodologische Regeln seien weniger als direkte und bindende Handlungsanweisungen für einzelne Wissenschaftler zu sehen, vielmehr stellten sie eine Art „Verfassung für den Wissenschaftsbetrieb“ dar. Mit diesem institutionalistischen Ansatz in der Methodologie könne das Feyerabendsche Dilemma überwunden werden. Der skizzierte institutionalistische Ansatz in der Methodologie bildet ein vielversprechendes Forschungsgebiet innerhalb der Sozialen Erkenntnistheorie. Die Neuinterpretation der Methodologie als „Verfassung der Wissenschaft“ kann sich als fruchtbar erweisen, wie Max Albert am Beispiel des Umgangs mit (vorläufig) falsifizierten Theorien zeigt: „Wenn man sich klar macht, daß eine Methodologie nicht so sehr individuelle Entscheidungen, sondern den Konkurrenzbetrieb der Wissenschaft regelt, dann wird deutlich, daß methodologische Regeln durchaus streng sein können, ohne einem For-
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scher irgend etwas zu verbieten. Wenn eine Methodologie fordert, daß falsifizierte Theorien zu verwerfen sind, dann heißt das aus institutioneller Perspektive nicht, daß der einzelne Forscher zu einer bestimmten Einstellung oder einem bestimmten Verhalten gezwungen wird. Geändert werden nur die Anreize für die Verfolgung verschiedener Forschungsstrategien. „Verwerfen“ bedeutet, daß diejenigen, die an der Weiterentwicklung einer falsifizierten Theorie arbeiten oder diese Theorie als Grundlage für andere Forschungen benutzen, Nachteile in Kauf nehmen müssen. Falsifizierte Theorien gelten offiziell als vorläufig widerlegt; daraus werden entsprechende Konsequenzen gezogen. Aber diese Konsequenzen sind eben keine Denkverbote oder konkreten Anweisungen. [...] Methodologische Regeln sind also keine Dienstvorschrift für Wissenschaftsbeamte [...]. Ein Forscher darf also durchaus an einer Theorie festhalten, die nach den Regeln der Profession als wissenschaftlich erledigt gilt. Die Regeln der Profession legen allerdings fest, welche Art von Erfolgen er irgendwann vorweisen muß, um sich und seine Theorie zu rehabilitieren. Die Methodologie ist Bestandteil des Regelwerks, innerhalb dessen Forscher miteinander konkurrieren. Die methodologischen Regeln fungieren – mehr oder minder im Einklang mit dem jeweiligen Universitätsgesetz, den Regeln der DFG, den Leitlinien der Herausgeber wissenschaftlicher Zeitschriften, den Kriterien der Nobelpreiskomitees, etc. – als eine Verfassung der Wissenschaft, die regelt, wem Geld und Ehre gebührt. Das Ganze dient, wenn die Verfassung funktioniert, der Wahrheitsfindung; das bedeutet aber keineswegs, daß die Wahrheitsfindung das einzige oder auch nur das wichtigste Ziel aller Beteiligten sein muß“ (M. Albert 2002: 230 f.).
Es stellt sich die Frage, ob dieser Neuansatz tatsächlich die Schwierigkeiten löst, die der herkömmlichen Methodologie zur Last gelegt werden. Das Hauptproblem der ‚individualistischen’ Methodologie bestand darin, geeignete Regeln zu finden, die präzis genug sind, das Handeln der einzelnen Wissenschaftler im Hinblick auf die Wahrheitssuche zu steuern, gleichzeitig jedoch liberal genug, um die Freiheit der Forscher nicht zu gefährden. Es müßte geprüft werden, ob der institutionelle Ansatz ein analoges Problem nach sich zieht, und zwar das Problem, geeignete institutionelle Regelungen zu finden, die oben genannte Kriterien erfüllen. Da Max Albert vom Idealfall eines bereits vorhandenen „funktionierenden Wissenschaftsbetriebs“ (M. Albert 2002: 235) ausgeht, stellt sich für ihn dieses Problem nicht. Ein Kritiker wie Paul Feyerabend dürfte dieses Vertrauen in den etablierten Wissenschaftsbetrieb als allzu optimistisch zurückweisen. In jedem Fall ergeben sich für das Forschungsprogramm einer sozialen Methodologie weitere Aufgaben: Insbesondere müßte der Zusammenhang zwischen bestimmten Zielen der Wissenschaft und ihrem institutionellen Regelwerk genauer analysiert und mit Hilfe empirischer Studien ermittelt werden. Welche Auswirkungen haben die unterschiedlichen institutionellen Regeln? Weiterhin wäre zu unterscheiden zwischen „formellen“ und „informellen“ Regeln des Wissenschaftsbetriebs. Es ist anzunehmen, daß „eine Verfassung der Wissenschaft, die regelt, wem Geld und Ehre gebührt“, nur zum geringeren Teil aus offiziell verlautbarten Regeln und zum größeren Teil aus nicht explizit formulierten Mechanismen besteht, die den offiziell verlautbarten Regeln unter Umständen sogar widersprechen.
50 1.7
Erster Teil Zwischenergebnisse
Es gibt keine einzige autoritative Erkenntnisquelle, die sicheres Wissen garantiert. Statt dessen müssen wir von einem Pluralismus der Quellen ausgehen. – Diese fallibilistische These ist jedoch mit der Wissenschaftstheorie des kritischen Rationalismus ebenso vereinbar wie mit der Sozialen Erkenntnistheorie. Innerhalb der Diskussion über den Status des Zeugnisses anderer kann der kritische Rationalismus nur dann beanspruchen, eine eigenständige Position zu sein, wenn er darüber hinausgehende Annahmen vertritt. In diesem Abschnitt möchte ich im Anschluß an Überlegungen Karl Poppers und Alan Musgraves einige vorläufige Ergebnisse im Hinblick auf den epistemologischen Status des ‚Zeugnisses anderer’ vorstellen. Hierbei komme ich zu dem Resultat, daß man „Testimony“ zwar als eigenständige Erkenntnisquelle bezeichnen kann, allerdings nur in dem von Popper gekennzeichneten (trivialen) Sinn, der mit den Geltungsansprüchen der Sozialen Erkenntnistheorie nicht vereinbar ist, da er sich nur auf die Genese von Meinungen, nicht aber auf ihre Geltung bzw. Rechtfertigung bezieht. Hinsichtlich der beim Umgang mit Zeugnissen faktisch verwendeten Wahrheitspräsumtionen kommt eine pragmatische Rechtfertigung in Betracht, d.h. eine Rechtfertigung der sozialen Praxis des Fürwahrhaltens von Zeugnissen („bis das Gegenteil erhellet“ Meier 1756/1996: 37), im Gegensatz zu den nicht erfolgversprechenden apriorischen Rechtfertigungsversuchen. Wir vertrauen einfach unterschiedlichen Erkenntnisquellen, darunter auch dem Zeugnis anderer, weil wir in der Erkenntnispraxis keine andere Wahl haben. Erst wenn das Vermutungswissen – aus welchen Gründen auch immer – uns problematisch wird, beginnt die kritische Prüfung. Diese kritische Prüfung macht wiederum Gebrauch von relevanten Erkenntnissen aus sämtlichen Wissensquellen, wobei es sich hier natürlich erneut um Vermutungswissen handelt, das nicht epistemisch gerechtfertigt ist, aber im Prüfungszusammenhang vorläufig als wahr vorausgesetzt werden muß. Nötig ist allein die prinzipielle Prüfbarkeit bei Aussagen, die einen Anspruch erheben, über die Wirklichkeit zu informieren. Die Prüfbarkeit wiederum ist einerseits eine formale Eigenschaft von Aussagen, andererseits hat sie eine soziale bzw. institutionelle Komponente, welche die arbeitsteilige Organisation von Wissenschaft betrifft. Da das Erkenntnissubjekt im kritischen Rationalismus kein isoliertes Individuum, sondern die scientific community ist, trifft die IndividualismusKritik der Sozialen Erkenntnistheorie diese Position nicht. Grundsätzlich spielt es keine Rolle, von wem eine Behauptung aufgestellt wird und wer sie überprüft. Es muß lediglich gewährleistet sein, daß es sich um intersubjektiv prüfbare Aussagen handelt. (Auch bei Interpretationen ist das Kriterium der intersubjektiven Prüfbarkeit anwendbar, und zwar auf der Grundlage bestimmter Interpretations- und Verfahrensregeln, die auf empirische Gesetzesannahmen zurückgehen.)
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Wie ist eine solche kritisch-rationale Position innerhalb der Sozialen Erkenntnistheorie nun einzuordnen? Zunächst wäre zu sagen, daß der kritische Rationalismus keine Form von ‚Reduktionismus’ im Sinne der Sozialen Erkenntnistheorie darstellt. Zwar würde ein kritischer Rationalist einräumen, daß ein einzelner Mensch unter bestimmten Bedingungen unabhängig von anderen Personen und allein auf der Basis seiner eigenen Wahrnehmungen Zeugnisse anderer überprüfen kann. Daß es solche sogenannten „lokalen Reduktionen“ gibt, wird aber auch ein sozialer Erkenntnistheoretiker kaum bestreiten. Dennoch wäre es ein utopisches Programm, jegliche Erkenntnisansprüche auf Wahrnehmungserlebnisse einzelner Menschen zurückführen zu wollen. Darüber hinaus hat Popper schon früh darauf hingewiesen, daß aufgrund der „Transzendenz der Darstellung“ nicht einmal einfache deskriptive Aussagen durch Wahrnehmungserlebnisse verifiziert werden können (vgl. Popper 1934: 61). Beim kritischen Rationalismus handelt es sich also keineswegs um eine „lokal-reduktionistische“ Position, geschweige denn um einen „globalen Reduktionismus“, der sämtliche Erkenntnisansprüche auf ‚die Erfahrung’ als angeblich einzige legitime Erkenntnisquelle zurückführen möchte. Dennoch spielt ‚die Erfahrung’ bei der Prüfung von Erkenntnisansprüchen eine prominente Rolle, allerdings eine andere, als der Reduktionismusvorwurf nahelegt. Dies wird dadurch ermöglicht, daß im kritischen Rationalismus ‚die Erfahrung’ methodologisch zu verstehen ist als ein bestimmtes Prüfverfahren mit formalen sowie institutionellen Grundlagen, bei dem natürlich die Sinneswahrnehmung der beteiligten Personen als einer von vielen Faktoren relevant ist.25 Man kann hierbei von einem nicht-reduktiven Empirismus (oder Kritizismus) sprechen. Sofern es sich beim Prüfungsgegenstand um eine Aussage über die Erfahrungswelt handelt, müssen auch die Prüfsätze Aussagen über beobachtbare Sachverhalte sein. Solchen wahrnehmungsbezogenen Aussagen kommt im Rahmen der kritischen Prüfung ein besonderer Stellenwert zu. Übertragen auf die Diskussion über das Zeugnis anderer läßt sich daher sagen, daß wahrnehmungsbezogene Zeugnisse gegenüber nicht-wahrnehmungsbezogenen Zeugnissen in methodologischer Hinsicht einen Vorrang besitzen. Dies möchte ich im Anschluß an Ausführungen Alan Musgraves26 als 25
Bereits in der Logik der Forschung spricht Popper von der „Erfahrung als Methode“ (Popper 1934: 13). „Die ‚Erfahrung’ erscheint in dieser Auffassung als eine bestimmte Methode der Auszeichnung eines theoretischen Systems“ (Popper 1934: 14). Die deduktive Methode der Nachprüfung, die Popper hierbei im Blick hat, ist nicht lediglich eine formal-logische Angelegenheit, sondern beruht u.a. auf methodologischen Regeln, sozialen Institutionen und eben auch auf den Sinneswahrnehmungen der an der Prüfung beteiligten Personen. 26 Alan Musgrave hat einen „Primat der Sinneserfahrung“ in Form seines „Prinzips E“ formuliert: „(E) Ein wahrnehmungsbezogener Glaube ist ein vernünftiger Glaube, außer es gelang ihm nicht, der Kritik standzuhalten“ (Musgrave 2002: 33). Volker Gadenne hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß Musgrave in einem anderen Beitrag auch explizit von ‚testimentory beliefs’ spricht und ein „Prinzip T“ aufstellt, das bestimmen soll, wann derartige Überzeugungen vernünftig sind (vgl. Musgrave 1999: 349). Ob Musgraves
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Erster Teil
methodologischen Primat der Erfahrung bezeichnen. Ein solcher methodologischer Empirismus ist nicht-reduktiv, denn er verlangt weder die Durchführung von „globalen“ noch von „lokalen“ Reduktionen, sondern bezieht sich auf die Form der zu prüfenden Aussagen sowie auf das institutionelle Regelwerk der Wissenschaft. Ein sozialer Erkenntnistheoretiker könnte nun einwenden, es sei zwar richtig, daß die methodologische Regel, die auf kritische empirische Prüfung zielt, selbst keine Reduktion darstelle, wohl aber jede erfolgreich durchgeführte und positiv ausfallende Prüfung als lokale Reduktion bezeichnet werden müsse. Dem kann jedoch entgegengehalten werden, daß erstens eine solche Bewährung eben keine epistemische Rechtfertigung darstellt und zweitens der Geltungsgrund der (vorläufig) für wahr gehaltenen geprüften Aussage nicht allein in den Wahrnehmungserlebnissen einzelner Personen liegt, die eine Prüfung vorgenommen haben. Ein positiver Geltungsgrund von Aussagen, sofern der jeweilige Vertreter des kritischen Rationalismus überhaupt geneigt ist, positive Gründe anzuerkennen, liegt allenfalls in dem komplexen Verfahren der kritischen Prüfung mit all seinen formalen und institutionellen Komponenten, nicht ausschließlich in den Wahrnehmungserlebnissen der Personen, die eine Prüfung durchgeführt haben. Obwohl der kritische Rationalismus kein Reduktionismus ist, kommt er ohne die Annahme aus, daß es ein epistemisches Recht gibt, Zeugnisse vor jeder empirischen Prüfung für wahr zu halten. Führt nun aber eine Position, die weder einen Reduktionismus beinhaltet noch ein epistemisches Recht, Zeugnisse vor jeder empirischen Prüfung für wahr zu halten, auf geradem Wege in einen totalen Zeugnis-Skeptizismus, der Insoles Common-Sense-Bedingung widerspricht? – Erinnern wir uns an die genaue Formulierung dieser Common-SenseBedingung (CR): „CR. Testimony is in fact a rich source of what we commonly call ‚knowledge’“ (Insole 2000: 44). Wer nun, wie Insole, unter „Wissen“ gerechtfertigte wahre Meinung versteht, der hat bei der Beurteilung des erkenntnistheoretischen Stellenwerts von Zeugnissen tatsächlich nur die Wahl, (1.) den Geltungsgrund von Zeugnissen auf andere Erkenntnisquellen zurückzuführen (Reduktionismus) oder (2.) das genannte epistemische Recht anzunehmen, Zeugnisse vor jeder Prüfung für wahr zu halten oder (3.) Zeugnisse nicht als Quelle des Wissens zu betrachten. Der kritische Rationalist, der sich bereits gegen (1) und (2) entschieden hat, müßte also (3) wählen und damit (CR) negieren. Die Zurückweisung von CR stellt jedoch keinen allgemeinen ZeugnisNihilismus oder Zeugnis-Skeptizismus dar; vielmehr wird lediglich die in CR implizite Anwendung des klassischen Wissensbegriffs (auf beliebige Zeugnisse) Rechtfertigungsbedingungen für Glaubensakte bestimmter Art und seine damit verbundene Variante des kritischen Rationalismus haltbar sind, läßt sich im Rahmen meiner Arbeit nicht klären. In meiner Argumentation geht es lediglich darum, auf den methodologischen Charakter der Auszeichnung von wahrnehmungsbezogenen Aussagen hinzuweisen.
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abgelehnt. Daß wir viele Meinungen von anderen übernehmen, bleibt unbestritten, daß dies praktisch erforderlich ist, ebenso wenig, doch darin liegt noch keine epistemische Rechtfertigung ihres Fürwahrhaltens. Keine Erkenntnisquelle ist (für die Genese unseres Wissens) verzichtbar oder durch eine andere ersetzbar, doch die Herkunft einer Tatsachenbehauptung bietet allein noch keine Rechtfertigung. Einzig in dem Sinn einer praktischen Unersetzbarkeit bei der Bildung ‚unserer’ Überzeugungen ist das ‚Zeugnis anderer’ eine eigenständige Erkenntnisquelle. Werden Zeugnisse durch kritische Prüfung epistemisch gerechtfertigt? – Der Prozeß der kritischen Prüfung ist potentiell unendlich. Ob kritische Prüfung zu verläßlichen Resultaten führt, die in einem Sinn „bestätigt“ sind, der über pragmatische Rechtfertigung hinausgeht, ist innerhalb des kritischen Rationalismus umstritten (vgl. 1.6.2). Doch auch wenn kritische Prüfung keinen Erkenntnisfortschritt garantiert, kann man nicht bestreiten, daß dies die in der Praxis erfolgreichste Methode ist, um Erkenntnisziele zu erreichen. Ob bestimmte methodologische Vorschläge die mit ihnen verbundenen Erkenntnisziele befördern, kann ebenfalls Gegenstand von wissenschaftstheoretischen Untersuchungen sein. Gerade eine naturalistische Erkenntnislehre, in der Erklärungen auf der Grundlage nomologischen Wissens angestrebt werden, müßte sich um „detaillierte Erklärungen“ bemühen, „die den Zusammenhang zwischen Methodologie und Erkenntniszielen herstellen sollen“ (Bühler 1991: 274). Indem soziale Erkenntnistheoretiker dem Empiristen den Anspruch unterschieben, Zeugnisse auf individuelle Erfahrung zurückführen zu wollen, lasten sie ihm einen uneinlösbaren Erkenntnisanspruch auf. Ein kritischer Empirist (bzw. kritischer Rationalist) muß sich darauf nicht einlassen. Er muß weder einen globalen noch einen universellen lokalen Reduktionismus postulieren, weil er gar nicht das aussichtslose Projekt verfolgt, alle Elemente unseres ‚Wissens’ zu rechtfertigen, bevor wir an sie glauben. Hierbei steht er in Einklang mit der realen Erkenntnissituation: Es werden üblicherweise eine Vielzahl von Informationen aus unterschiedlichsten Quellen akzeptiert, ohne sie zu prüfen. Derartige Wahrheitspräsumtionen sind in der Erkenntnispraxis instrumentell notwendig, stellen aber keine epistemische Rechtfertigung dar. Erst wenn es einen Grund gibt, etwas nicht zu glauben, kommt die kritische Prüfung (und damit der Primat der Erfahrung) ins Spiel. Wenn sich, wie Hume richtig beschreibt, bestimmte Arten von Zeugnissen und Zeugen wiederholt als unzuverlässig erweisen, können wir aufgrund dieser Erfahrung auch zu allgemeinen Falschheitspräsumtionen gegenüber diesen speziellen Arten von Zeugnissen und Zeugen kommen. Ein solcher nicht-reduktiver Empirismus steht auch im Einklang mit dem Common sense, denn die Hermeneutik des Alltagslebens ist differenzierter, als soziale Erkenntnistheoretiker unterstellen: Die Haltung des einfachen Vertrauens in Zeugnisse ist zwar vielfach praktisch notwendig und pragmatisch gerechtfertigt, doch ebenso kennzeichnend für den alltäglichen Umgang mit Zeugnissen ist eine Haltung des Abwägens aufgrund vorgängiger Erfahrung. Hierbei wird sowohl von Wahrheits- als auch von Falschheitspräsumtionen Gebrauch gemacht.
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2. TEIL: KARL POPPERS THEORIE OBJEKTIVEN VERSTEHENS (SITUATIONSLOGIK) 2.1
Problemstellung
Die vorliegende Arbeit behandelt Probleme des Verstehens aus der Perspektive kritisch-rationaler Wissenschaftstheorie. Während im ersten Teil die Frage nach dem Zeugnis anderer als Erkenntnisquelle aufgeworfen und dabei insbesondere untersucht wurde, ob mit einem Verstehen von menschlichen Zeugnissen bereits eine apriorische Rechtfertigung der Wahrheit derselben verbunden ist, sollen nun Karl Poppers eigene Beiträge zum Problem des Verstehens chronologisch nachvollzogen sowie eingehend geprüft werden: Worin besteht Poppers Theorie objektiven Verstehens? Es zeigt sich, daß er mehrere voneinander abweichende Konzeptionen vertritt, die zum Teil seinen eigenen wissenschaftstheoretischen Kriterien nicht genügen und gerade nach Maßstäben kritisch-rationaler Wissenschaftstheorie zurückzuweisen sind. Insbesondere die Berufung auf ein unwiderlegbares Rationalitätsprinzip führt bei Popper zu einer apriorischen Rechtfertigung von Handlungen und Interpretationen, die zu seiner fallibilistischen Erkenntnislehre in klarem Widerspruch steht.
2.2
Karl Poppers Erkenntnisanspruch, sein Begriff von Hermeneutik und das Verstehen in den Natur- und Geisteswissenschaften
Poppers Arbeiten über die Verstehensproblematik sind kaum bekannt. Allenfalls als Schlagwort erfreut sich die Situationslogik einer gewissen Beliebtheit, wobei dieser Begriff bisweilen in einer Form benutzt wird, die mit den Intentionen seines Urhebers nichts mehr zu tun hat.27 Entgegen der verbreiteten Meinung, der „linguistic turn“ sei an Popper spurlos vorbeigegangen, läßt sich jedoch in seinem Werk über den Zeitraum von mehreren Jahrzehnten eine immer neu einsetzende Auseinandersetzung mit dem Problem des Verstehens und Interpretierens feststellen. Hierbei war es Poppers Erkenntnisanspruch, eine Konzeption des „objektiven Verstehens“ für die Sozial- und Geisteswissenschaften entwickelt zu haben. Sein Beitrag zur Hermeneutik war der Versuch, die Hermeneutik – so wie er sie verstand – durch ein Verfahren zu ersetzen, das er Situationslogik nannte. Damit werde „die sogenannte
27
Hartmut Esser beispielsweise verwendet in seinem Buch „Situationslogik und Handeln“ die folgende eigenwillige Definition: „Unter Situationslogik wird von Karl R. Popper ganz allgemein die ‚logische‘ Verknüpfung der gesellschaftlich strukturierten Handlungsumstände von Akteuren mit typischen Folgen des dadurch induzierten Handelns verstanden“ (Esser 1999: 387, H.i.O.).
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Zweiter Teil
‚Hermeneutik‘ überflüssig, beziehungsweise radikal vereinfacht“ (1970: 189)28. An einer anderen Stelle gibt er indes die Auskunft, daß er „einen Beitrag zur Theorie des Verstehens (der ‚Hermeneutik‘) leisten möchte“ (1968: 167). Popper ist sich offenbar nicht ganz sicher, ob er die Hermeneutik beseitigt oder weiterentwickelt hat. Hierbei unterstellt er einen Begriff von Hermeneutik als Lehre vom einfühlenden Verstehen und Nacherleben. Insbesondere identifiziert er die Hermeneutik mit der „Ansicht, die Geisteswissenschaften unterschieden sich grundlegend von den Naturwissenschaften, und der herausragende Unterschied sei dieser: Hauptaufgabe der Geisteswissenschaften sei das Verstehen in einem Sinne, wie man nur Menschen, nicht aber die Natur verstehen könne“ (1968: 189). Da ein solches Verstehen auf unserem gemeinsamen Menschsein beruhe, sei es „eine Art intuitiver Identifikation mit anderen Menschen“, durch die wir diese selbst, ihre Handlungen und die Erzeugnisse menschlichen Geistes verstünden (vgl. ebd.). Mit Poppers Kritik an der subjektivistischen Ausrichtung der Hermeneutik werden wir uns später noch ausführlicher beschäftigen. An dieser Stelle möchte ich auf Poppers Stellungnahme zu dem vermeintlich grundlegenden Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften eingehen. Interessanterweise verwendet er zwei ganz unterschiedliche Argumente, um die bekannte These einer grundlegenden Differenz von Geistes- und Naturwissenschaften zu kritisieren. Eher beiläufig verweist er auf die Einheit der Methode: „Es ist lange Mode gewesen und nachgerade langweilig geworden, auf dem Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften herumzureiten. Beide wenden die Methode des Problemlösens, der Vermutung und Widerlegung an. Das geschieht bei der Rekonstruktion eines lückenhaften Textes so gut wie bei der Aufstellung einer Theorie der Radioaktivität.“ (1968: 192)
Statt nun aber anhand von Beispielen diese Einheit der Methode konkret nachzuweisen, schreibt Popper in einer Fußnote lediglich, daß die Rekonstruktion eines lückenhaften Textes „bestimmten Verfahren der theoretischen Physik“ sehr ähnlich sei und gelegentlich sogar eine Widerlegung hypothetischer Rekonstruktionen erfolge. Solche Fälle seien aber „ziemlich selten“. In der Regel seien geisteswissenschaftliche Hypothesen – und hierbei denkt Popper v.a. an „historische Interpretationen“ – nicht so streng prüfbar wie naturwissenschaftliche, ausgenommen bestimmte ebenfalls unprüfbare kosmologische Hypothesen (vgl. ebd.). Popper scheint seinem Argument von der methodologischen Einheit der Geistes- und Naturwissenschaften also selbst nicht zu vertrauen, was auch er28
Da die Entwicklung der Verstehenskonzeption Karl Poppers das Hauptthema dieses Teils meiner Arbeit ist, zitiere ich gemäß der Jahreszahl der Erstveröffentlichung. Um Häufungen des Autornamens zu vermeiden, beschränke ich mich bei Popper-Zitaten auf Jahres- und Seitenzahl.
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klärt, warum er es nur en passant erwähnt, und auch dies nur in der allgemeinsten Form.29 Die „Methode des Problemlösens“ wird laut Popper bekanntlich auch von niederen Tierarten angewendet. Wenn nun die methodologische Gemeinsamkeit von Geistes- und Naturwissenschaft einzig und allein darin läge, wäre diese Aussage völlig trivial, da für Popper – um den Titel eines seiner letzten Bücher zu zitieren – gilt: „Alles Leben ist Problemlösen“. Daß die geisteswissenschaftlichen Hermeneutiker davon keine Ausnahme darstellen, ist erfreulich, reicht aber auch nicht aus, um eine methodologische Einheit zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zu begründen.30 Popper ist offenbar von dieser methodologischen Einheit nicht überzeugt, relativiert seine These bereits in der zitierten Fußnote und demonstriert besonders durch seine eigene Verstehenskonzeption, die Situationslogik, daß das Verstehen von Handlungen und von Erzeugnissen des menschlichen Geistes seines Erachtens doch grundlegend anders verläuft als die durch deduktiv-nomologisches Erklären und empirisches Prüfen charakterisierte Methode der Naturwissenschaften. Poppers zweites Argument gegen die These von dem Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften wird von ihm ausführlicher erläutert. Es handelt sich hierbei nicht primär um ein methodologisches Argument, sondern erstaunlicherweise um ein ontologisches. Ebenso wie wir andere Menschen aufgrund unseres gemeinsamen Mensch-Seins verstehen könnten, sei es möglich, die Natur zu verstehen, „weil wir ein Teil von ihr sind“ (1968: 190). Dieses Argument zielt darauf, daß Natur- und Geisteswissenschaften dasselbe Ziel haben, nämlich das Verstehen, und daß sie dieses Ziel nur deshalb erreichen können, weil das jeweilige Erkenntnissubjekt dem Objekt der Erkenntnis in gewisser Hinsicht ‚seinsmäßig verwandt’ ist. Popper gibt zu, daß das Verstehen anderer Menschen nicht ganz dasselbe ist wie das Verstehen von Sonnensystemen oder Elementarteilchen, „doch es gibt hier keine scharfe Trennungslinie“, wie er meint, sondern eher graduelle Abstufungen des Verstehens. Das intuitive Verstehen selbst unserer Freunde sei unvollkommen, während man am unteren Ende der Skala des Verstehens selbst einzelligen Organismen Ziele und Absichten zuschreiben könne. Poppers Ausführungen erinnern an Dennetts Theorie intentionaler Systeme (vgl. Dennett 1987), denn sicherlich mag es zur Beschreibung und zum ‚Verständnis’ von menschlichem Handeln, tierischem Verhalten oder sogar dem Funktionieren technischer Apparate zweckmäßig sein, Absichten und ähnliche intentionale Zustände zu unterstellen. Der Unterschied zwischen derar29 In früheren Arbeiten vertrat Popper noch einen dezidierten Begriff von „Einheit der Methode“ als der „Aufstellung deduktiver Kausalerklärungen und [...] ihrer Überprüfung (mit Hilfe von Prognosen). Man nennt dieses Vorgehen manchmal die hypothetischdeduktive Methode“ (1944/45: 103). 30 Vgl. demgegenüber beispielsweise Føllesdals Aufsatz „Hermeneutik und die hypothetisch-deduktive Methode“, in dem ausführlich und anhand eines Fallbeispiels dargelegt wird, daß auch geisteswissenschaftliche Interpretationen von der hypothetisch-deduktiven Methode Gebrauch machen (vgl. Føllesdal 2003).
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tigen „intentionalen Systemen“ liegt allerdings darin, daß man gewöhnlich annimmt, Menschen verfügten tatsächlich über solche Dispositionen, während die Zuweisung von Zielen und Absichten an einzellige Organismen nur metaphorisch oder zum Zwecke einer abkürzenden Sprechweise statthaft ist und es sich bei einer ernstgemeinten ontologischen Zuschreibung solcher mentalen Entitäten um einen Anthropomorphismus handeln würde. Eine zweite Übereinstimmung zwischen geisteswissenschaftlichem und naturwissenschaftlichem Verstehen sei die „Rationalität oder verstehbare Notwendigkeit“ von Naturgesetzen in Analogie zur Rationalität der Gedanken und Handlungen von Menschen. Wir können, so Popper, das eine wie das andere aufgrund dieser vorhandenen Rationalität verstehen (vgl. 1968: 190). – Diese vermeintliche Analogie scheint jedoch lediglich auf der Mehrdeutigkeit des Rationalitätsbegriffs zu beruhen, der sich im Falle menschlicher Rationalität in der Regel auf zweckrationales Handeln bezieht, während Popper mit der Rationalität von Naturgesetzen anscheinend v.a. so etwas wie „kosmische Symmetrie“ meint, also eine möglichst einfache Form der Naturgesetze, die es dem Forscher ermöglicht, sie leichter zu ‚verstehen‘. Die dritte Analogie zum geisteswissenschaftlichen Verstehen soll darin bestehen, daß ein bedeutender Naturwissenschaftler, wie Einstein, die Natur als ein Kunstwerk begreift, als eine Schöpfung Gottes, und sie als solche zu verstehen trachtet. – Dieses Argument erinnert sehr an Thomas Reids Analogie von human testimony und testimony of nature, wobei das Zeugnis der Natur auf einen göttlichen Autor verweise, mit der Konsequenz, daß man natürliche Zeugnisse auf ähnliche Art verstehen könne wie menschliche Zeugnisse.31 Daß bedeutende Naturwissenschaftler von derlei metaphysischen Annahmen inspiriert worden sind, muß man nicht in Abrede stellen, doch die theologischen Voraussetzungen dieser Analogie dürften heutzutage nur noch von einer Minderheit der Naturwie der Geisteswissenschaftler geteilt werden; im übrigen auch von dem Agnostiker Karl Popper nicht. Als vierte und letzte Analogie verweist Popper auf das sowohl in den Geisteswissenschaften als auch in den Naturwissenschaften verbreitete „Bewußtsein eines letztlichen Versagens all unserer Versuche zu verstehen“ (vgl. ebd.). Da er jedoch nicht expliziert, worin die Übereinstimmung des jeweils scheiternden Verstehens liegen soll, besteht die Analogie höchstens darin, daß in den Naturwissenschaften ebenso wie in den Geisteswissenschaften hochgespannte Erkenntnisansprüche scheitern. Eine Identität dieser Erkenntnisansprüche ist damit noch nicht begründet. Insgesamt möchte Popper mit seinem Argument von der Analogie zwischen naturwissenschaftlichem und geisteswissenschaftlichem ‚Verstehen‘ ein „szientistisches Vorurteil“ gegenüber den Naturwissenschaften aus dem Weg räumen, und zwar das Vorurteil, die Tätigkeit des Naturforschers sei ein mechanisches 31
Vermutlich aber war Popper von Bacons interpretatio naturae beeinflußt, was er mit „Lesen im Buch der Natur“ übersetzt (vgl. 1963/1994: 17).
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Sammeln von Beobachtungen und Konstruieren von Theorien, ohne den schöpferischen Impuls, etwas ‚verstehen’ zu wollen. Leider versucht er, dieses Vorurteil aus dem Weg zu räumen, indem er durchaus problematische ontologische Voraussetzungen des Verstehens, die in der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik mitunter postuliert werden, auf den Bereich der naturwissenschaftlichen Erkenntnis ausweitet. Daß wir die Natur aufgrund unseres Natur-Seins verstehen können, ebenso wie wir andere Menschen aufgrund unseres Mensch-Seins verstehen, erscheint als ontologische These ohne empirischen Gehalt. Es ist schlechterdings kein Erkenntnissubjekt vorstellbar, das nicht in irgendeinem Sinn „Natur“ wäre, denn auch ein Computer besteht ja aus „natürlichen“ Materialien. Insofern hat Poppers ontologische These keinen empirischen Gehalt.32 Wenn seine ontologische Behauptung lediglich als notwendige Bedingung der Naturerkenntnis gemeint ist, hat sie auch keinerlei methodologische Konsequenzen; es folgen weder methodologische Regeln aus ihr noch werden bestimmte wissenschaftliche Vorgehensweisen durch sie verboten, nicht einmal der Versuch einer induktiven Theoriebildung. Sie hat nur dann methodologische Konsequenzen, sofern Popper allen Ernstes behaupten will, daß unser NaturSein nicht bloß eine notwendige, sondern zugleich eine hinreichende Bedingung der Naturerkenntnis ist. In diesem Fall verstehen wir die Natur intuitiv und aus keinem weiteren Grund als unserem eigenen Natur-Sein. Damit wäre Popper zum Natur-Mystiker geworden. Beide Alternativen, die methodologische Trivialität wie der Mystizismus, sind für Poppers wissenschaftstheoretische Position natürlich inakzeptabel. Offenbar sind Popper – in dem Bestreben, Geisteswissenschaftlern den Wert der Naturforschung nahezubringen – die Konsequenzen seiner behaupteten Analogie zwischen Naturerkenntnis und der von ihm ansonsten stets bekämpften subjektiven Nachvollzugs-Hermeneutik nicht bewußt geworden. Das Grundproblem in Poppers Argumentation besteht aber schon darin, die geisteswissenschaftliche Methode des Verstehens mit dem subjektiven Einfühlen und Nachvollziehen zu identifizieren und die Möglichkeit dieses Nachvollzugs ontologisch auf das gemeinsame Mensch-Sein zurückzuführen. Eine solche Verstehens-Konzeption trifft zum Teil auf die Hermeneutik Diltheyscher Provenienz zu, berührt aber viele moderne (und auch ältere) Konzeptionen von Hermeneutik nicht. Wilhelm Dilthey hatte in seiner Schrift „Die Entstehung der Hermeneutik“ (1900) die Möglichkeit allgemeingültiger Interpretationen auf die Gemeinsamkeit der „allgemeinen Menschennatur“ des Autors mit der seines Auslegers zurückgeführt. Der Interpret müsse „seine eigne Lebendigkeit gleichsam probierend in ein historisches Milieu“ versetzen, um dadurch „eine Nachbildung fremden Lebens in sich herbeizuführen“ (Dilthey 1900/1957: 329 f.). Wer einen Text
32
Ich setze hier Poppers eigene Gleichsetzung von „empirischem Gehalt“ und Widerlegbarkeit voraus.
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adäquat verstehen wolle, müsse die Seelentätigkeit des Autors quasi in der eigenen Psyche reproduzieren, sich in den Autor ‚hineinversetzen‘ und einfühlen.33 Eine solche „Einfühlungs-Hermeneutik“ ist es, die Popper als Psychologismus brandmarkt und die ihn zur Entwicklung einer genau entgegengesetzten Theorie des Verstehens veranlaßt: Im Zeitraum mehrerer Jahrzehnte nimmt er verschiedene Anläufe, eine anti-psychologische Verstehenstheorie zu entwikkeln, in der psychologische Erklärungsfaktoren schließlich vollständig eliminiert werden. Sein Anspruch, die Hermeneutik damit überflüssig zu machen, setzt dabei eine Festlegung dieses Begriffs auf eine Einfühlungs-Hermeneutik Diltheyscher Provenienz voraus.34 Als weiteren Gewährsmann dieser VerstehensKonzeption nennt Popper lediglich den Philosophen und Historiker R.G. Collingwood, der die Aufgabe des (historischen) Verstehens darin gesehen habe, „vergangene Erlebnisse nachzuvollziehen“ (1968: 194). Angesichts zahlreicher Hermeneutik-Konzeptionen, die keineswegs auf Einfühlung beruhen, mutet Poppers anti-psychologischer Feldzug in seinem Spätwerk mitunter etwas sonderbar an.35
2.3
Die Entwicklung der Situationslogik im Überblick
Popper hat seine Überlegungen zur Situationslogik als einer objektivverstehenden Methode an verschiedenen verstreuten Stellen seines Werkes veröffentlicht. Die ersten Ausführungen finden sich in „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (1945) sowie in „Das Elend des Historizismus“ (1944/45)36. Bekannt wurden Poppers Thesen zur „Logik der Sozialwissenschaften“ anläßlich seines Eröffnungsvortrages auf der Tagung der Gesellschaft für Deutsche Soziologie in Tübingen, veröffentlicht in dem Band zum „Positivismusstreit in der deutschen Soziologie“ (1962). Thematisch eng damit verbunden ist der Vortrag an der Universität Harvard über „The status of the rationality principle in the social sciences“ (1963)37. 33
Popper gesteht Dilthey allerdings auch zu, daß dieser „von der Subjektivität loskommen wollte, weil er Willkür fürchtete“ (vgl. 1968: 193). 34 Vgl. die Bestimmung des Verstehensbegriffs in seinem Aufsatz „Zur Theorie des objektiven Geistes“ (1968: 189). 35 So mag man die „philosophische Hermeneutik“ Hans-Georg Gadamers, die seit den 60er Jahren zu den einflußreichsten Hermeneutik-Konzeptionen gehört, durchaus kritisch beurteilen, auf ‚Einfühlung‘ beruht sie jedoch nicht. Popper versäumt auch die Auseinandersetzung mit den Verstehensprinzipien innerhalb der klassischen Hermeneutik des 17. und 18. Jahrhunderts sowie der analytischen Philosophie („principle of charity“). 36 Die erste englische Buchausgabe erschien 1957, Teile des Manuskripts waren aber bereits 1944 und 1945 in der Zeitschrift „Economica“ veröffentlicht worden. 37 Auszüge aus dem Vortragsmanuskript wurden 1967 in französischer Sprache veröffentlicht. Erst 1994 erschien der Text als 8. Kapitel des Buches „The myth of the framework“. Um die Entstehungszeit und die Zugehörigkeit zur zweiten Entwicklungsphase
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In seinem Spätwerk hat Popper dann versucht, die Überlegungen zur Situationslogik mit seiner Ontologie der drei Welten zu verknüpfen, vor allem in dem bereits zitierten Aufsatz „Zur Theorie des objektiven Geistes“ (1968). Ein ausführliches Anwendungsbeispiel der Situationslogik wird diskutiert in „Eine objektive Theorie des historischen Verstehens“ (1970). Obwohl Karl Popper eine Kontinuität seiner Auffassungen zur Situationslogik unterstellt (vgl. 1968: 184, FN 26), fallen doch diverse Widersprüche ins Auge. Vor allem zwischen den Ausführungen in der „offenen Gesellschaft“ und der „Logik der Sozialwissenschaften“ existieren grundlegende Unterschiede, die es erforderlich machen, von zumindest zwei miteinander unvereinbaren Konzeptionen der Situationslogik zu sprechen. Durch die Verknüpfung mit der DreiWelten-Ontologie werden ab Ende der 60er Jahre wiederum neue Akzente gesetzt und erhebliche Modifikationen vorgenommen – besonders hinsichtlich der Zielsetzung einer objektiv-verstehenden Methode –, so daß hiermit eine dritte Konzeption von Situationslogik vorliegt. Poppers Vorstellungen zur Situationslogik haben sich also im Laufe der Zeit geändert, und zwar so erheblich, daß man von drei verschiedenen Konzeptionen sprechen muß. Ich möchte im folgenden die Entwicklung der Popperschen Situationslogik anhand der genannten Texte untersuchen. Damit ist kein Anspruch auf Vollständigkeit verbunden; vielmehr sollen durch die Interpretation exemplarischer Textstellen bislang kaum thematisierte Brüche in Poppers Ausführungen zur Situationslogik aufgezeigt werden. Weiterhin besteht durchgängig die Fragestellung, ob Poppers methodologische Vorschläge für eine sozial- und geisteswissenschaftliche Verstehenslehre tauglich sind.
2.4 2.4.1
Die erste Konzeption der Situationslogik Die Autonomie der Soziologie und die Situationsanalyse
Der Ausgangspunkt der Überlegungen Poppers zu einer ‚Logik‘ der Situation steht im Zusammenhang einer Verteidigung der Autonomie der Soziologie sowie einer Kritik des psychologischen Reduktionismus. Sein zentrales Argument gegen die Reduktion der Soziologie auf die Psychologie bilden die unbeabsichtigten Folgen menschlicher Handlungen. Die erste ausführliche Erörterung der Situationslogik findet im vierten Kapitel des zweiten Bandes der „offenen Gesellschaft“ statt. Diese Diskussion steht im Kontext der Frage nach der Autonomie der Soziologie. Zu den wenigen Punkten, die Popper an dem im zweiten Band der „offenen Gesellschaft“ vornehmlich kritisierten Karl Marx bewundert, gehört dessen Anti-Psychologismus: der Situationslogik zu verdeutlichen, zitiere ich hier gemäß dem Datum des Vortrags, nicht der Buchveröffentlichung.
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seine Weigerung, die Soziologie auf Psychologie zu reduzieren. Die Kritik des Psychologismus, der soziale Gesetzmäßigkeiten auf die menschliche Natur zurückführen wolle, wird bei Popper zum Ausgangspunkt der Suche nach einer objektiven Handlungstheorie, welche die unbeabsichtigten Folgen des menschlichen Handelns einbezieht. Diese unbeabsichtigten Nebenfolgen sind zugleich Poppers zentrales Argument gegen den psychologischen Reduktionismus. Als Beispiel nennt er eine Marktsituation, in der die Käufer einer Ware durch verstärkte Nachfrage den Preis erhöhen: „Das soziale Leben ist [...] Handeln in einem [...] Rahmen von Institutionen und Traditionen, und es führt [...] zu vielen unvorhergesehenen Rückwirkungen innerhalb dieses Rahmens [...]. Die Hauptaufgabe der Sozialwissenschaften besteht nun, wie ich glaube, in dem Versuch, diese Rückwirkungen zu analysieren und sie soweit wie möglich vorherzusehen. Es ist ihre Aufgabe, die unbeabsichtigten sozialen Rückwirkungen absichtlicher menschlicher Handlungen zu analysieren – also jene Rückwirkungen, deren Bedeutung sowohl von der Verschwörungstheorie als auch [...] vom Psychologismus vernachlässigt wird. [...] Wenn jemand ein Haus kaufen möchte, dann kann man mit Sicherheit annehmen, daß er nicht wünscht, den Marktpreis des Hauses zu erhöhen. Aber gerade der Umstand, daß er als ein Käufer auf dem Markt erscheint, wird die Tendenz haben, die Marktpreise zu erhöhen. [...] Wir sehen hier, daß nicht alle Folgen unserer Handlungen beabsichtigte Folgen sind.“ (1945: 120 f.)
Der Psychologist könnte nun als Gegenargument „darauf verweisen, daß das Wissen der Verkäufer um die Anwesenheit eines Käufers am Markt sowie ihre Hoffnung, einen höheren Preis zu erzielen, also psychologische Faktoren, die beschriebenen Rückwirkungen erklären“ (1945: 121 f.). Demgegenüber behauptet Popper, daß dieses Wissen und diese Hoffnung nur „auf Grund der sozialen Situation – der Marktsituation – erklärt werden können“ (ebd., H.i.O.). Soziale Situationen jedoch ließen sich nicht auf subjektive Beweggründe zurückführen, sie müßten daher von einer autonomen Sozialwissenschaft erforscht werden (vgl. 1945: 122). Die „Logik der Situation“ trete neben psychologische Erklärungen, ohne diese aber völlig ersetzen zu können. Als relevante Ergänzung zu psychologischen Erklärungsfaktoren müsse die Analyse der Situation hinzukommen, in der eine Handlung stattfindet: Popper stellt in der „offenen Gesellschaft“ fest, „daß sich unsere Handlungen in weitem Ausmaße aus der Situation erklären lassen, in der sie stattfinden“ (1945: 122). Allerdings macht er zugleich eine wichtige Einschränkung: Eine Erklärung aus der Situation allein sei natürlich nie möglich, man müsse vielmehr Bezug nehmen auf die psychischen Beweggründe des Handelnden. Diese seien zwar – verglichen mit der Bedeutung der Situationsanalyse – für die Handlungserklärung weniger relevant, dennoch aber unver-
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zichtbar (vgl. 1945: 122 f.). Als Referenzmodell für die Anwendung der Situationslogik nennt Popper die „ökonomische Analyse“ (1945: 123).38 Während Popper in der späteren Konzeption seiner Situationslogik eben dies versucht, was er hier noch selbstverständlich ausschließt: das Handeln aus der ‚Situation‘ allein zu erklären, möchte er in der „offenen Gesellschaft“ noch auf psychische Faktoren, auf die Beweggründe des handelnden Subjekts, Bezug nehmen. Was ist damit gemeint, daß die ‚Logik‘ der Situation relevanter für die Erklärung (respektive: das Verstehen) einer Handlung sei als die subjektiven Dispositionen des Handelnden? In welchem Sinn spricht Popper überhaupt von Situationslogik?
2.4.2
Situationslogik als Metapher für instrumentelle Notwendigkeiten
Im „Elend des Historizismus“ finden sich in den Abschnitten 31 und 32 kurze Ausführungen zu historischen Interpretationen sowie zur Situationslogik. Leider wird auch hier nur indirekt deutlich, mit welchen Intentionen Popper den Begriff der Situationslogik verwendet: So weitet er in den genannten Passagen seine Kritik des psychologischen Reduktionismus auf entsprechende Vorstellungen einer psychologisierenden Historiographie aus. Entschieden wendet sich Popper gegen eine Geschichtsschreibung nach dem Führerprinzip, die historische Entwicklungen auf die Entscheidungen ‚großer Männer‘, einzelner Feldherren oder Politiker, zurückführt (vgl. 1944/45: 116). Dieser „Geschichte als Geschichte großer Männer“ setzt er die ‚Logik‘ historischer Situationen entgegen, welche offenbar gegenüber den bewußten Entscheidungen der Individuen vorrangig sei. Popper verweist in diesem Zusammenhang auf eine Äußerung Tolstois, wonach in einer historischen Kriegssituation etwa der Rückzug einer Armee eine Situationsnotwendigkeit sein könne: „Es gibt hier Möglichkeiten für eine mehr ins einzelne gehende Analyse der Logik von Situationen. Die besten Historiker haben diesen Begriff oft – mehr oder weniger unbewußt – verwendet: Tolstoi beispielsweise, wenn er beschreibt, wie nicht eine bewußte Entscheidung, sondern die ‚Notwendigkeit’ die russische Armee dazu brachte, Moskau kampflos aufzugeben und sich in Gegenden zurückzuziehen, wo sie Lebensmittel finden konnte.“ (1944/45: 116 f., H.i.O.).
38
In seinem Harvard-Vortrag wird er konkreter und nennt F.A. von Hayeks „Economics and Knowledge“ (1936) als Inspirationsquelle (1963: 181). Im Zusammenhang der Beschreibung des der Situationslogik verwandten Konzeptes der Nullmethode verweist Popper, neben Hayek, auf J. Marschak, C. Menger und P. Sargant Florence (vgl. 1944/45: 110 f.).
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Einer Situation kann also etwas objektiv Zwingendes anhaften, eine ‚eherne Logik‘, die wenig Spielraum für subjektive Entscheidungen läßt und Unterschiede in der Persönlichkeit der jeweils Handelnden ihrer Bedeutung beraubt. Poppers Begriff der Situationslogik scheint somit ursprünglich als Metapher für das gemeint zu sein, was man heute als Sachzwang bezeichnen würde: Die Unterschiede in den subjektiven Dispositionen der Handelnden treten zurück gegenüber der instrumentellen Notwendigkeit, in einer bestimmten Situation sich auf die einzig mögliche Weise adäquat zu verhalten. (Hierbei werden bestimmte naheliegende Zwecke, in der Kriegssituation etwa der militärische Sieg oder das Überleben, als selbstverständlich unterstellt.) Man wird Popper einräumen, daß derartige Situationsnotwendigkeiten im gesellschaftlichen Leben tatsächlich vielfach für die Erklärung von Handlungen vorrangig sind gegenüber psychologischen Analysen, die auf Unterschieden der handelnden Persönlichkeiten beruhen. Wer etwa das Handeln eines deutschen Finanzministers verstehen und erklären will, der unter den Bedingungen der politischen und ökonomischen Situation des Jahres 2002 Entscheidungen trifft, wird hierbei wohl kaum auf Besonderheiten des Charakters Hans Eichels rekurrieren. Statt dessen muß sich jede adäquate Erklärung seines Handelns auf Bedingungen der objektiven Situation, etwa auf die Staatsverschuldung Deutschlands, die Einbindung in europäische Verträge, die eine Höchstgrenze der Neuverschuldung festlegen, etc. beziehen. Halten wir fest: Situationslogik ist ursprünglich für Popper eine Metapher, die anschaulich zum Ausdruck bringt, daß vielfach nicht subjektive Beweggründe, sondern objektive Situationsmerkmale (bzw. Sachzwänge) das menschliche Handeln bestimmen. Diese Betonung der Situation gegenüber psychologischen Erklärungsfaktoren steht im Kontext seiner Kritik des Psychologismus.
2.4.3
Die Nullmethode der Konstruktion von Modellen rationalen Handelns
Daß Popper mit der Verwendung des Wortes Situationslogik offenbar auch ursprünglich weitere Absichten verbindet als die metaphorische Umschreibung von Sachzwängen, geht aus einer mit der Situationsanalyse verwandten Idee hervor, die er zur gleichen Zeit propagiert: der sogenannten Nullmethode der Konstruktion von Modellen rationalen Handelns. Ausführungen zur Nullmethode finden sich in den Kapiteln 29 und 32 des „Elend des Historizismus“. Obwohl die Ähnlichkeit der Situationslogik mit der Nullmethode augenfällig ist, und Popper auch bei der Beschreibung der letzteren von einer ‚Logik‘ spricht, unterläßt er es, das Verhältnis beider Begriffe zu klären. Möglicherweise hält er die Nullmethode für einen Spezialfall der Situationslogik, vielleicht aber auch für eine Ergänzung (vgl. Keuth 2000: 237). Eine dritte Deutungsmöglichkeit liegt darin, beide Begriffe als synonym zu betrachten. Dafür spricht, daß Popper
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den Begriff Situationslogik in der „offenen Gesellschaft“ sowie im „Elend des Historizismus“ – wie bereits beschrieben – zunächst kaum inhaltlich konkretisiert und nur sehr vage benutzt als Hinweis auf die Relevanz von Situationen bei Handlungserklärungen sowie als Metapher für Sachzwänge, während er in seinen späteren Schriften unter Situationslogik in etwa das versteht, was bereits im „Elend des Historizismus“ als „Nullmethode“ beschrieben wird. Der Begriff Nullmethode spielt in diesen späteren Schriften keine Rolle mehr, so daß man annehmen kann, die Idee der Nullmethode sei vollständig in die spätere Konzeption der Situationslogik eingegangen.39 Dies ist mehr als ein Kuriosum der Popper-Exegese, denn aufgrund der Beziehung beider Begriffe zueinander kann man etwas Aufhellung für die doch sehr nebulöse Konzeption der Situationslogik erwarten, indem man den etwas besser explizierten Begriff der Nullmethode untersucht. Vor allem läßt sich anhand der Textstellen zur Nullmethode erkennen, daß Popper in dieser Modellbildung rationalen Handelns von bestimmten wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten angeregt war und daß er in der Möglichkeit der Anwendung solcher Modelle einen Unterschied zur Methode der Naturwissenschaften sieht. Selbst wenn man es ablehnt, Situationslogik und Nullmethode als Synonyme aufzufassen, wird man die Nullmethode als wichtiges Bindeglied zwischen der ersten, eher metaphorischen, Konzeption von Situationslogik und der späteren Konzeption ansehen können. Poppers Ausführungen zur Nullmethode beginnen damit, die Komplexität sozialwissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Erkenntnisgegenstände zu vergleichen. Im Gegensatz zu denjenigen, die die Sozialwissenschaften und ihren Gegenstandsbereich für „komplizierter“ halten als die Naturwissenschaften und ihren Erkenntnisgegenstand, behauptet Popper: „In Wirklichkeit gibt es aber gute Gründe, nicht nur anzunehmen, daß die Sozialwissenschaft weniger kompliziert ist als die Physik, sondern auch, daß die konkreten sozialen Situationen im allgemeinen weniger kompliziert sind als die konkreten Situationen in der Natur. Denn in den meisten, wenn nicht in allen sozialen Situationen gibt es ein rationales Element. Zugegeben, die Menschen handeln kaum je vollkommen rational (d.h. so wie sie handeln würden, wenn sie zur Erreichung ihrer jeweiligen Ziele alle erreichbaren Informationen optimal ausnützen könnten), sie handeln aber trotzdem mehr oder weniger rational, und daraus ergibt sich die Möglichkeit, relativ einfache Modelle ihrer Aktionen und Interaktionen zu konstruieren und als Annäherungen zu verwenden.“ (1944/45: 110)
39
In seinem Harvard-Vortrag spricht Popper im Zusammenhang der Erörterung des für die Situationslogik relevanten Rationalitätsprinzips von einem „zero-principle“, das an die „Nullkoordinate“ erinnert, die in der Nullmethode eine Rolle spielt – ein Indiz dafür, daß die Nullmethode in die spätere Konzeption der Situationslogik eingegangen ist (vgl. 1963: 169 f.).
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Obwohl Menschen nicht vollkommen rational handelten, existiere „ein rationales Element“ in sozialen Situationen, das es ermögliche, soziales Handeln mit Hilfe einfacher Modelle zu beschreiben. Aufgrund dieser Möglichkeit von Modellen rationalen Handelns sei die Sozialwissenschaft weniger kompliziert als die Naturwissenschaft, worin eine zentrale methodologische Differenz liege: „Hier scheint mir nun tatsächlich ein beträchtlicher Unterschied zwischen den Naturund den Sozialwissenschaften zu liegen – vielleicht der wichtigste methodische Unterschied, da es sich bei den anderen wichtigen Unterschieden, nämlich bei den spezifischen Schwierigkeiten des Experimentierens [...] und bei der Anwendung quantitativer Methoden [...] um graduelle, nicht um essentielle Differenzen handelt.“ (ebd.)
Die darauf folgende Textstelle ist entscheidend für das Verständnis der Nullmethode: „Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Möglichkeit, in den Sozialwissenschaften ein Verfahren zu verwenden, das man die Methode der logischen oder rationalen Konstruktion oder vielleicht die ‚Nullmethode’ nennen kann. Ich meine damit folgendes Verfahren: man konstruiert ein Modell auf Grund der Annahme, daß alle beteiligten Individuen sich vollkommen rational verhalten (und vielleicht auch, daß sie im Besitze des vollständigen Informationsmaterials sind), und dann schätzt man die Abweichung des tatsächlichen Verhaltens dieser Individuen vom Modellverhalten, wobei dieses als eine Art Nullkoordinate dient. Ein Beispiel für diese Methode ist der Vergleich zwischen dem tatsächlichen Verhalten (etwa unter dem Einfluß traditioneller Vorurteile usw.) und dem Modellverhalten, das auf Grund der ‚reinen Logik der Wahl’ zu erwarten wäre und seinen Ausdruck in den Gleichungen der Wirtschaftswissenschaft findet“ (1944/45: 110 f.).
Auffallend ist, daß Popper bei der Beschreibung der Nullmethode das Wichtigste außer acht läßt: Er geht mit keinem Wort darauf ein, welchen Zielen diese Modellkonstruktion dienen soll. Zu welchem Zweck wird denn, auf der Grundlage idealisierender Rationalitätsunterstellungen, ein solches Modell rationalen Handelns geschaffen und dann mit dem tatsächlichen Verhalten verglichen? – Herbert Keuth vermutet, die Nullmethode diene der Erklärung und Prognose: „Demnach erklären und prognostizieren wir menschliches Verhalten mit Hilfe unserer Vorstellung davon, was zu tun in einer Situation rational wäre.“ (Keuth 2000: 238) Aber liegt hier tatsächlich eine Erklärung (bzw. Prognose) vor, wie sie Popper in der Logik der Forschung beschreibt (vgl. 1934: 31 f.)? Zunächst einmal: Das Explanandum kann auch in diesem Fall nichts anderes sein als das empirisch gegebene, beobachtbare menschliche Verhalten, das von der idealen Rationalitätsnorm abweicht. Warum sollte nun ein Modell, das von der kontrafaktischen Voraussetzung idealer Rationalität ausgeht, das tatsächliche menschliche Verhalten erklären und prognostizieren? Offenbar deshalb, weil Menschen – wie Popper zuvor erwähnte – „trotzdem mehr oder weniger rational“ handelten, was es erlaube, das Modell rationalen Handelns als Annäherung an das tatsächliche Handeln zu verstehen. Das
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sächliche Handeln zu verstehen. Das Explanans besteht somit in der Unterstellung idealer (Zweck-Mittel)-Rationalität, wobei anscheinend das Rationalitätsprinzip die Rolle der Gesetzesannahme übernehmen soll, während die Annahme bestimmter Ziele des Handelnden sowie seine Kenntnisse der relevanten Handlungsumstände die Randbedingungen darstellen. Welchen erkenntnistheoretischen Status die bei der Erklärung zu verwendende Rationalitätsunterstellung besitzt, diskutiert Popper ebenfalls nicht. Prinzipiell sind folgende Alternativen denkbar: Sie könnte eine empirische (bzw. empirisch zu prüfende) Hypothese sein oder eine apriorische Festlegung. Beide Alternativen führen zu Schwierigkeiten, die im Abschnitt 2.5, in dem es um das Rationalitätsprinzip im Rahmen der späteren Konzeption der Situationslogik geht, noch eingehender erörtert werden. Betrachtet man die Unterstellung idealer Rationalität als eine empirische (bzw. empirisch prüfbare) Hypothese, dann wird sie gleich durch die ersten Beobachtungen widerlegt, denn sie ist offenkundig falsch. Soll sie hingegen als apriorisches Prinzip eingeführt werden, stellt sich die Frage, ob es analytisch ist oder synthetisch-apriorische Geltung beansprucht. Im Zusammenhang mit der Darstellung der Nullmethode geht Popper auf das Problem des erkenntnistheoretischen Status’ seiner Rationalitätsunterstellung nicht ausführlicher ein, sondern schließt lediglich aus, daß eine psychologische Methode gemeint ist: „Nebenbei möchte ich erwähnen, daß weder das Prinzip des methodologischen Individualismus noch das der Nullmethode der Konstruktion rationaler Modelle uns zur Annahme einer psychologischen Methode verpflichtet. Im Gegenteil, meiner Ansicht nach lassen sich diese Prinzipien mit der Auffassung vereinen, daß die Sozialwissenschaften von psychologischen Annahmen relativ unabhängig sind [...]“ (1944/1945: 111).
Daß die Nullmethode und damit das in ihr enthaltene Rationalitätsprinzip von „psychologischen Annahmen relativ unabhängig“ sei, deutet darauf hin, daß es sich bei der Rationalitätsunterstellung nicht um eine empirische Hypothese handeln soll. Tatsächlich verneint Popper einen empirisch-wissenschaftlichen Charakter der Nullmethode, indem er erklärt: „Die ‚Nullmethode‘ der Konstruktion rationaler Modelle ist keine psychologische, sondern eine logische Methode“ (1944/1945: 123). Eine entsprechende These werden wir später auch im Hinblick auf die Situationslogik finden – sie sei keine psychologische, sondern eine logische Methode. Daß mit dieser Auskunft, wenn sie denn ernst gemeint ist und das Wort „Logik“ nicht in einem metaphorischen Sinn gebraucht wird, ein Bekenntnis zum analytischen Charakter der mit dieser ‚Methode‘ hervorgebrachten Aussagen enthalten ist, erwähnt Popper nicht.
68 2.4.4
Zweiter Teil Beurteilung
Möchte man zu einer Einschätzung der frühen Ausführungen zur Situationslogik kommen, läßt sich zunächst feststellen, daß Popper in der „offenen Gesellschaft“ sowie dem „Elend des Historizismus“ keine Methodenlehre der Situationsanalyse vorgelegt hat, sondern lediglich einige verstreute Bemerkungen und Hinweise. Diese ersten Bemerkungen zur Situationslogik sind zwar methodologisch unproblematisch, aber nicht hinreichend ausgearbeitet, um die Erkenntnispraxis in den Sozial- und Geisteswissenschaften anleiten zu können: Daß die situativen Rahmenbedingungen des Handelns vielfach wichtiger sind als Persönlichkeitsunterschiede des Handelnden, dürfte unbestritten sein. Bedauerlicherweise geht Poppers erste Fassung seiner Situationslogik über diese einfache Feststellung kaum hinaus. Zwar mag er in seinem Kampf gegen den Psychologismus an gewisse psychoanalytische Schulen gedacht haben, die in der Tat bisweilen sehr einseitig den Charakter des Handelnden für sein Handeln verantwortlich machen und die Situation hierbei nicht berücksichtigen.40 Doch er bezieht sich in seiner Kritik des Psychologismus in der „offenen Gesellschaft“ ausschließlich auf J.S. Mill „und seine psychologistisch eingestellte soziologische Schule (der sich später viele Psychoanalytiker anschlossen)“ (1945: 112). Angesichts der heute ganz selbstverständlichen Berücksichtigung sozialer Situationen in der Soziologie – und wohl schon zur Zeit der „offenen Gesellschaft“41 – muß die diesbezügliche Forderung Poppers als eine Trivialität gelten. Mit seiner ersten Fassung der Situationslogik hat Popper daher wohl etwas durchaus Richtiges gefordert, ohne damit allerdings den Sozialwissenschaften einen besonderen methodologischen Erkenntniszuwachs bereitet zu haben. Ebensowenig weiterführend erscheint der Gebrauch des Ausdrucks „Logik der Situation“ als metaphorische Umschreibung von Sachzwängen. Demgegenüber bleibt fraglich, inwiefern die Betonung der unbeabsichtigten Folgen menschlichen Handelns sowie der Hinweis auf die Bedeutung sozialer Situationen als gültiges Argument für eine autonome Soziologie und gegen den psychologischen Reduktionismus aufgefaßt werden kann (vgl. Keuth 2000: 236). Größere Ähnlichkeit mit der späteren Konzeption der Situationslogik hat in Poppers frühen Arbeiten das, was er als „Nullmethode der Konstruktion rationaler Modelle“ beschreibt. Hierbei sollen einfache Modelle menschlichen Han40
Daß sich diese Problematik auch heute noch auf tiefenhermeneutische Methoden der Sozialforschung auswirken kann, läßt sich etwa anhand der psychoanalytischen Studie „Die Charaktermauer – Zur Psychoanalyse des Gesellschafts-Charakters in Ost- und Westdeutschland“ verfolgen (vgl. Funk u.a. 1995). Vgl. hierzu die kritische Rezension Böhm/Hoock 1998: S. 62-95. 41 Auch in den 40er Jahren war es in der Soziologie – unabhängig von Poppers Arbeiten – durchaus selbstverständlich, die Bedeutung sozialer Situationen herauszustellen. Vgl. etwa das Buch „Situational Analysis. An Observational Approach to Introductory Sociology“ von Lowell Juilliard Carr aus dem Jahr 1948.
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delns konstruiert werden, die von dem Prinzip idealer Rationalität ausgehen und anscheinend der Erklärung und Prognose des jeweiligen Verhaltens dienen, obwohl es aufgrund der de facto nur unvollkommenen menschlichen Rationalität zu Abweichungen zwischen dem theoretisch abgeleiteten und dem tatsächlichen Verhalten kommen kann. Der erkenntnistheoretische Status des verwendeten Rationalitätsprinzips bleibt jedoch unklar. Popper schließt lediglich aus, daß es sich hierbei um eine psychologische Annahme handelt. Der Hinweis auf den „logischen“ Charakter der Nullmethode deutet darauf hin, daß Popper das Rationalitätsprinzip für analytisch hält. Wie aber ein analytisches Prinzip als Grundlage der Erklärung tatsächlichen menschlichen Verhaltens dienen soll, bleibt schleierhaft. Diese Problematik tritt in ganz ähnlicher Weise im Zusammenhang mit der späteren Konzeption der Situationslogik auf. – Obwohl Popper die These einer methodologischen Einheit von Natur- und Sozialwissenschaften vertritt und anfangs noch die „hypothetisch-deduktive Methode“ der „Aufstellung deduktiver Kausalerklärungen“ (1944/45: 103), später eher vage die „Methode des Problemlösens“ (1968: 192) als Kern der methodologischen Einheit benennt, wendet er sich mit seiner Nullmethode zugleich von dieser Einheit ab. Mit Hilfe der Rationalitätsunterstellung könne man auf empirisch-psychologische Gesetzeshypothesen bei der Erklärung menschlichen Verhaltens verzichten.
2.5 2.5.1
Die zweite Konzeption der Situationslogik Der Begriff der Situation
Die Situationslogik in Poppers späteren Arbeiten unterscheidet sich grundlegend von der ursprünglichen Begriffsverwendung in der „offenen Gesellschaft“: In der späteren Fassung sollen sämtliche psychologische Faktoren eliminiert bzw. in Elemente der ‚objektiven Situation‘ transformiert werden. Während man Poppers erste Fassung der Situationslogik als methodologisch unstrittig, jedoch weitgehend trivial bezeichnen kann, trifft auf seine spätere Version von Situationslogik das Gegenteil zu: Durch einen veränderten Situationsbegriff sollen psychische Faktoren bei der Erklärung nun völlig eliminiert werden. Die resultierende situationslogische Methode ist nicht leicht zu verstehen, also alles andere als trivial – dafür jedoch ist sie gerade vor dem Hintergrund kritisch-rationaler Wissenschaftstheorie kaum akzeptabel. Besonders deutlich wird dies angesichts der wichtigsten Referenzstellen, die sich in Poppers Vortrag „Die Logik der Sozialwissenschaften“ (1962) finden. In der 25. These seines Vortrags erfahren wir, „daß es eine rein objektive Methode in den Sozialwissenschaften gibt, die man wohl als die objektiv-verstehende Methode oder als Situationslogik bezeichnen kann. Eine objektiv-verstehende Sozialwissenschaft kann unabhängig von allen subjektiven oder psychologischen
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Zweiter Teil
Ideen entwickelt werden. Sie besteht darin, daß sie die Situation des handelnden Menschen hinreichend analysiert, um die Handlung aus der Situation heraus ohne weitere psychologische Hilfe zu erklären“ (1962: 120, H.i.O.). Während in der ersten Konzeption aus den 40er Jahren die Analyse der Situation neben psychologische Handlungserklärungen tritt, sollen nun „die psychologischen Momente prinzipiell aus[ge]schaltet und durch objektive Situationselemente ersetzt“ (1962: 121) werden. Popper erläutert dies wie folgt: „Das objektive ‚Verstehen‘ besteht darin, daß wir sehen, daß die Handlung objektiv situationsgerecht war. Mit anderen Worten, die Situation ist so weitgehend analysiert, daß die zunächst anscheinend psychologischen Momente, zum Beispiel Wünsche, Motive, Erinnerungen und Assoziationen, in Situationsmomente verwandelt wurden. Aus dem Mann mit diesen oder jenen Wünschen wird dann ein Mann, zu dessen Situation es gehört, daß er diese oder jene objektiven Ziele verfolgt“ (1962: 120, H.i.O.). Es mutet zunächst wie eine rein verbale ‚Lösung‘ – eine schlichte Umbenennung – an, wenn Popper die Transformation von psychischen Dispositionen in Situationselemente fordert. Jedoch beruht diese zweite Fassung der Situationslogik nicht darauf, daß die tatsächlichen Motive der handelnden Person zunächst empirisch ermittelt und anschließend in einem nicht-psychologischen Vokabular als Elemente der objektiven Situation präsentiert werden. Poppers Ansatz ist viel radikaler: Er leugnet die Möglichkeit einer Prüfung von Hypothesen über psychische Dispositionen des Handelnden (vgl. 1962: 121). Vielmehr ergebe sich die Kenntnis der Handlungsziele aus der Analyse der Situation sowie der Annahme eines Rationalitätsprinzips – darauf soll später noch ausführlich eingegangen werden. Wie wird nun aber „aus dem Mann mit diesen oder jenen Wünschen [...] ein Mann, zu dessen Situation es gehört, daß er diese oder jene objektiven Ziele verfolgt“? Mit anderen Worten: Wie gelingt Popper die wundersame Verwandlung von psychischen Dispositionen in Elemente einer ‚objektiven Situation‘? – Die Antwort liegt einfach darin, daß Popper seinen Situationsbegriff ändert, ohne dies jedoch explizit zu machen. In seinem Vortrag „Die Logik der Sozialwissenschaften“ gibt Popper ein Beispiel dafür, wie man einen Handelnden ‚objektiv‘ versteht. Das ‚objektive‘ Verstehen sei dann gegeben, wenn man sagen könne: „Zwar habe ich andere Ziele und andere Theorien (als zum Beispiel Karl der Große); aber wäre ich in seiner so-und-so analysierten Situation gewesen – wobei die Situation Ziele und Wissen einschließt –, dann hätte ich, und wohl auch Du, ebenso gehandelt“ (1962: 120). Während Popper etwa in der „offenen Gesellschaft“ unter „Situation“ die sozialen und institutionellen Rahmenbedingungen für Handlungen versteht, umfaßt der Situationsbegriff in der späteren Konzeption der Situationslogik sämtliche handlungsrelevante Faktoren, einschließlich der Dispositionen des Handeln-
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den. Und er bezieht dies ausdrücklich auf alle Dispositionen, soweit sie für das Verständnis respektive die Erklärung des Handelns in Betracht kommen.42 So gehören auch die Überzeugungen und Ziele eines Wahnsinnigen zur ‚Situation‘, die man verstehen müsse, wenn man seine Handlungen verstehen will (vgl. 1963: 179). Popper bleibt jedoch auch innerhalb seiner zweiten Konzeption von Situationslogik nicht konsistent bei dem erweiterten Situationsbegriff. Wenn er etwa belegen will, daß es auch Handlungen gibt, die nicht ‚situationsgerecht‘ sind, verwendet er (implizit!) erneut den engeren Situationsbegriff (vgl. 1963: 172). Wir müssen also im folgenden jeweils deutlich unterscheiden zwischen: S1: S2:
„Situation“ als Gesamtheit sozialer/institutioneller Rahmenbedingungen des Handelns „Situation“ als Gesamtheit aller handlungsrelevanten Faktoren (einschließlich der Dispositionen des Handelnden sowie einschließlich S1)
Was ist aber dadurch gewonnen, den Situationsbegriff entgegen dem üblichen Sprachgebrauch auf Dispositionen des Handelnden – seine Motive/Ziele, seine Überzeugungen/sein Wissen etc. – auszudehnen? Offenbar kommt es doch durch diese Transformation psychischer Handlungsdispositionen, die empirisch zu ermitteln wären, in Elemente der ‚objektiven Situation‘ keineswegs zu einer Zunahme der Prüfbarkeit von Aussagen, die mit Hilfe der situationslogischen Methode hervorgebracht werden, sondern im Gegenteil zur Abnahme ihres Informationsgehaltes, bis hin zur Analytizität. Dies wird gerade anhand des oben zitierten kurzen Beispiels deutlich, das Popper zur Erläuterung des objektiven Verstehens vorbringt. Ein Satz der Form: „Wäre ich in der Situation Karls des Großen gewesen, dann hätte ich wie Karl der Große gehandelt“, ist entweder gehaltvoll, aber (wahrscheinlich) falsch – oder aber analytisch wahr; je nachdem, welchen der beiden von Popper verwendeten Situationsbegriffe man zugrunde legt. Ist „Situation“ im Sinne von S1 gemeint, dürfte kaum anzunehmen sein, daß auch Menschen mit entgegengesetzten Motiven/Zielen ebenso wie Karl der Große handelten, selbst wenn sie unter denselben Rahmenbedingungen handeln müßten.43 Popper möchte jedoch sagen: „Wäre ich in der Situation (S2) Karls des Großen gewesen, dann hätte ich wie Karl der Große gehandelt.“ Da nun aber S2 zugleich alle handlungsrelevan42
An einer Stelle bringt Popper seinen neuen Situationsbegriff auf den Punkt: „We must remember, of course, that the situation, as I use this term, already contains all the relevant aims and all the available relevant knowledge, especially of the various possible means for realizing these aims“ (1963: 169). 43 Strenggenommen handelt es sich hierbei um metaphysische Aussagen bzw. um Gedankenexperimente, da exakt dieselben Rahmenbedingungen niemals reproduzierbar sind. Da es jedoch lediglich auf bestimmte typische soziale Situationen ankommt – z.B. den Umgang mit Macht –, erscheint mir eine Überführung in empirisch prüfbare Aussagen prinzipiell möglich.
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Zweiter Teil
ten Dispositionen (Motive/Ziele, Überzeugungen/Wissen etc.) einschließt, ist die Aussage gleichbedeutend mit: „Wäre ich in jeder handlungsrelevanten Hinsicht identisch mit Karl dem Großen (inklusive Handlungsdispositionen und Rahmenbedingungen), dann würde ich wie Karl der Große handeln“. Diese Aussage ist zwar (auf triviale Weise) wahr, hat aber keinen Informationsgehalt; das Personalpronomen „Ich“ bezieht sich hier gar nicht mehr auf eine personale Identität jenseits von Karl dem Großen, sondern wird mit diesem weitestgehend gleichgesetzt. Daß nun Karl der Große handeln würde wie Karl der Große, mag man Popper einräumen, ohne darin einen Triumph seiner situationslogischen Methode zu erblicken. Sollte es tatsächlich das Ziel der Situationslogik als einer Methode objektiven Verstehens sein, Handlungen dergestalt als situationsgerecht zu rekonstruieren, daß man sagen kann: „Ich hätte in derselben Situation (S2) ebenso gehandelt“, werden damit offenbar keine gehaltvollen Aussagen produziert, die über die Wirklichkeit informieren könnten. Vielmehr tritt bereits der apologetische Zweck der Situationslogik, der sich in späteren Schriften Poppers noch stärker ausprägt, zum Vorschein: Ziel des Verfahrens ist die Rechtfertigung von Handlungen. Unter anderem aus diesem Grund darf man die Situationslogik nicht verwechseln mit dem alltagspraktischen Sich-Hineinversetzen in andere Personen. Wenn A zu B sagt „An deiner Stelle würde ich soundso handeln“, bedeutet dies eben nicht „In deiner Situation (S2) würde ich ebenso handeln wie du“. Vielmehr soll in der Regel dem Handelnden eine Handlungsalternative offeriert werden. A macht sich nur partiell Ziele von B zu eigen und gibt B aufgrund eines anderen Wissensstandes oder aufgrund zusätzlicher Zielpräferenzen einen Ratschlag; er liefert üblicherweise keine Ex-postRechtfertigung der Handlung A’s. In Poppers zweiter Konzeption von Situationslogik, so kann man zusammenfassen, wird der Begriff der Situation äquivok verwendet. Die Einbeziehung sämtlicher erklärungsrelevanter Faktoren in den Situationsbegriff führt hierbei zu einer Immunisierung situationslogischer Analysen mit apologetischer Tendenz, d.h. zu einer Rechtfertigung von Handlungen.
2.5.2
Das Rationalitätsprinzip
Die rationalen Rekonstruktionen der Situationslogik, so gesteht Popper selbst ein, seien „über-vereinfacht und über-schematisiert und daher im allgemeinen falsch. Dennoch können sie einen großen Wahrheitsgehalt haben, und sie können im streng logischen Sinn gute Annäherungen an die Wahrheit sein“ (1962: 121, H.i.O.). Wie könnte dies gemeint sein? – Orientiert man sich an der bei Popper üblichen Verwendung des Wahrheitsbegriffs im Sinne einer realistisch verstandenen Korrespondenztheorie, müßte man davon ausgehen, daß die Beschreibung der
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tatsächlichen Motive/Ziele und Überzeugungen/Kenntnisse der Handelnden der Zweck des Verfahrens ist.44 Zugleich aber lehnt es Popper ab, diese Handlungsdispositionen, etwa mit Hilfe sozialpsychologischer Methoden, empirisch zu ermitteln. Doch auch die Analyse der Situation nach Maßgabe des erweiterten Situationsbegriffes (S2) erfordert die Annahme bestimmter Handlungsziele. Wie nun, so fragt man sich, möchte Popper gewährleisten, daß die im Rahmen der Situationslogik angenommenen Handlungsziele etwas mit den tatsächlichen Motiven der handelnden Personen zu tun haben? Und selbst wenn er dies nicht als relevantes Problem erachtet: Wie gelangt man durch situationslogische Analyse überhaupt zu irgendwelchen Handlungszielen? An dieser Stelle tritt ein von Popper vielfach beschworenes, jedoch nicht hinreichend expliziertes Rationalitätsprinzip auf den Plan; ein Prinzip, das im Rahmen situationslogischer Analysen die Anwendung (empirisch-psychologischer) Gesetzeshypothesen bei der Erklärung menschlichen Handelns ersetzen soll und mit dem man anscheinend – um eine Polemik des Autors der „open society“ gegen Hegels Dialektik aufzugreifen – „wirkliche, physische Kaninchen aus rein metaphysischen Zylindern“ (1945: 36) hervorzaubern kann. Ein Zaubertrick scheint darin zu bestehen, daß Popper wiederum – vermutlich ohne bewußte Absicht – Begriffe mehrdeutig verwendet und einer Äquivokation erliegt: Neben dem Situationsbegriff benutzt er auch den Begriff des Rationalitätsprinzips uneinheitlich. Zunächst hält er dieses Prinzip für ein „almost empty principle“. Der zentrale Punkt der Situationslogik sei „that we need [...] no more than the assumption that the various persons or agents involved act adequately, or appropriately – that is to say, in accordance with the situation“ (1963: 169). Diese Annahme der Situationsadäquatheit des Handelns ist die erste Fassung, die uns Popper als Rationalitätsprinzip präsentiert. (Nennen wir sie R1.) Dieses Rationalitätsprinzip habe nichts gemein mit der empirischen oder psychologischen Behauptung, der Mensch verhalte sich stets oder überwiegend rational (vgl. 1963: 169). Vielmehr sei dieses Prinzip, das Popper auch als „zero-principle“ bezeichnet, lediglich „a consequence of the methodological postulate that we should pack or cram our whole theoretical effort, our whole explanatory theory, into an analysis of the situation“ (ebd., H.i.O.). R1 wird damit eingeführt als Nebenprodukt („by-product“) der methodologischen Entscheidung, Handlungen mit Hilfe der Situation (S2) zu erklären. Als bloßes Nebenprodukt eines methodologischen Postulates komme ihm nicht die Rolle einer prüfbaren Hypothese zu (vgl. ebd.). 45 44 Manche Äußerungen Poppers scheinen demgegenüber darauf hinzudeuten, daß er den tatsächlichen Motiven des Handelnden keinerlei Relevanz einräumt und es sogar in Abrede stellt, daß empirisch-psychologische Motivationsforschung situationslogische Handlungserklärungen widerlegen kann (vgl. 1963: S. 182). 45 Dies kontert Michael Schmid mit der provokanten aber berechtigten Frage, ob Popper nunmehr „den Grundsätzen seines Methodologischen Kritizismus abgeschworen hat, die
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Zweiter Teil
Was ist nun von R1 zu halten? – Popper hat zweifellos recht, wenn er R1 als „almost empty principle“ bezeichnet. Mehr noch: R1 hat keinerlei erkennbaren argumentativen Nutzen. Die entscheidende Schwierigkeit der Popperschen Situationslogik besteht doch darin, ohne Zuhilfenahme empirisch-psychologischer Forschung die Ziele des Handelnden zu bestimmen. Um hier Abhilfe zu schaffen, hätte es eines Rationalitätsprinzips bedurft, das den Begriff der Situationsadäquatheit inhaltlich ausfüllt, indem es a priori festlegt, an welchen Zielen sich menschliches Handeln orientiert.46 Da sich Popper auf ein leeres Rationalitätsprinzip (R1) festlegt, löst er sein Problem nicht und argumentiert darüber hinaus zirkulär: Das einzige, was die Poppersche Situationsanalyse an Zusatzannahmen benötige, sei ein Rationalitätsprinzip. Doch dieses Rationalitätsprinzip verweist wiederum nur darauf, daß man die Situation analysieren müsse, um zu erkennen, daß die Handlung situationsadäquat sei. Wie man mittels der situationslogischen Methode Handlungsziele eruieren kann, bleibt also weiterhin schleierhaft, und auch der Hinweis auf die Situationsadäquatheit des Handelns erweist sich als Leerformel. Karl Popper steigert jedoch noch die Verwirrung des Lesers, indem er sich gegen den möglichen Vorwurf, sein Rationalitätsprinzip gelte a priori, mit dem überraschenden Argument verteidigt, das Prinzip sei „clearly false – even in its weakest zero formulation“ (1963: 172). Und ein falsches Prinzip könne eben nicht a priori gültig sein.47 – Wie kann, so fragt sich der frappierte Leser, ein inhaltsleeres Prinzip wie R1 falsch sein? Auch Michael Schmid notiert verwundert: „Natürlich ist fraglich, wie man zugleich die Falschheit und die Leerheit einer Aussage behaupten kann“ (Schmid 1996: 127, FN 52). Aus Poppers Beispielen geht jedoch hervor, daß es eigentlich gar nicht R1 ist, das er im Blick hat, wenn er von der Falschheit des Rationalitätsprinzips spricht. Das einzige, was Popper durch Beispiele belegt, ist, daß Menschen in bestimmten Situationen (S1) nicht ‚rational‘ handeln. (Er nennt etwa die genervten Reaktionen von Autofahrern unter den Bedingungen eines Verkehrsstaus.) Dieser Situationsbegriff seiner Philosophie einen solch nachhaltigen Erfolg gebracht haben“ (Schmid 1996: 126). Schmid ist jedoch „grundsätzlich nicht bereit, die konventionalistische Wende der Popperschen Sozialphilosophie zu unterstützen“, denn dadurch würde „nicht nur jede einzelne situationslogische Erklärung vor einer Widerlegung bewahrt und damit gegen Kritik immunisiert, sondern [...] die Suche nach einer denkbaren Alternative zum situationslogischen Erklärungsmodell wird per conventionem unmöglich“ (Schmid 1996: 132). Viktor Vanberg scheint übrigens der erste Sozialwissenschaftler gewesen zu sein, der Poppers Situationslogik kritisiert hat (vgl. Vanberg 1975: 109 ff.). 46 Selbstverständlich teile ich Poppers Ablehnung eines Prinzips, das eine Geltung a priori beansprucht. Da er jedoch den Weg der empirischen Feststellung von Handlungszielen ausschlägt, hätte er konsequenterweise eine Apriori-Position einnehmen müssen. 47 Popper zieht daraus übrigens die Folgerung, daß auch alle situationslogischen Erklärungen falsch sein müssen, da sie ja mit dem Rationalitätsprinzip verknüpft sind, das falsch sei. Er meint, dieses Problem lösen zu können, indem er behauptet, situationslogische Erklärungen seien zwar falsch, aber gute Annäherungen an die Wahrheit.
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S1 hat aber nichts mit der Konzeption von Situationslogik zu tun, um das es hier geht: Da zur Situation (S2) auch sämtliche handlungsrelevante Dispositionen gehören – wir erinnern uns: Popper schließt sogar die „aims“ und „convictions“ eines Psychopathen („madman“) in S2 ein –, können problemlos selbst die Streßreaktionen gereizter Autofahrer als ‚situationsadäquat‘ im Sinne von S2 gedeutet werden!48 Wenn er dennoch aus seinen Beispielen ableitet, „that we do not always act in accordance with the rationality principle“, geht er nicht allein von einem anderen Situationsbegriff, sondern auch von einem anderen Begriff von Rationalitätsprinzip aus, und zwar versteht er Rationalität nun doch in dem gehaltvolleren Sinn, in dem üblicherweise von rationalen oder irrationalen Reaktionen, Handlungen, Überzeugungen etc. die Rede ist. Popper widerlegt mit seinen Beispielen lediglich ein Rationalitätsprinzip (R2), das er ohnehin nicht als Grundlage der Situationslogik akzeptiert hat: „the [...] psychological assertion that man always, or in the main, or in most cases, acts rationally“ (1963: 169), eine Annahme, die er seit den ersten Ausführungen zum Thema (in der „offenen Gesellschaft“) als einen Teil jenes Psychologismus perhorresziert, der das Handeln auf Bedingungen der menschlichen Natur zurückführe. Es bleibt festzuhalten: Das der Situationslogik zugrunde gelegte Rationalitätsprinzip (R1) ist keineswegs falsch, wie Popper glaubte, wohl aber inhaltsleer. Deshalb kann es nicht dazu dienen, näher zu bestimmen, welche Handlungen situationsadäquat sind49 bzw. welche Ziele ein Handelnder verfolgt. Das Verhältnis zwischen den im Rahmen der Situationslogik unterstellten Handlungszielen und den faktischen Motiven des Handelnden ist völlig ungeklärt.50 Warum gerade Popper, der Begründer des deduktiv-nomologischen Modells der kausalen Erklärung (vgl. Popper 1934: 31 f.), eine hermeneutische Konzeption vertritt, in der empirisch gehaltvolle Gesetzeshypothesen beim Verstehen und Erklären menschlicher Handlungen keine Rolle spielen, kann schwer nachvollzogen werden.51 Wer an der Wissenschaftstheorie des kritischen Rationalismus festhalten möchte, wird ihm hierin nicht folgen können. 48 Hierbei handelt es sich natürlich wieder um analytische Aussagen, die zwar notwendig wahr sind, aber keinen Informationsgehalt besitzen. 49 Genauer gesagt: Es schließt aus der Menge aller möglichen Handlungen keine Handlung als situationsinadäquat aus. 50 Popper führt zwar eine Unterscheidung ein zwischen „(1) The situation as it actually was“, „(2) The situation as the agent actually saw it“ und „(3) The situation as the agent could (within the objective situation) have seen it, and perhaps ought to have seen it.“ (1963: 183). Das entscheidende Problem, wie die jeweiligen ‚Situationen‘ nebst den zugehörigen Handlungszielen im Rahmen der Situationslogik zu ermitteln sind, wird allerdings nicht einmal ansatzweise gelöst. 51 Michael Schmid hat auf diesen merkwürdigen Umstand bereits 1979 hingewiesen (vgl. Schmid 1979: 7) und in diesem Zusammenhang für nomologische Handlungserklärungen und gegen Poppers Rationalitätsprinzip Stellung bezogen (vgl. Schmid 1979: 16 ff.). Auch Hans Albert hat sich in einer neueren Arbeit von Poppers Situationslogik und dem in ihr enthaltenen Rationalitätsprinzip ausdrücklich distanziert: „Im Übrigen ist die Zu-
76 2.6
Zweiter Teil Die ‚Drei-Welten‘-Ontologie und das objektive Verstehen – die dritte Konzeption der Situationslogik
In seinem Spätwerk verknüpft Karl Popper die zweite Konzeption der Situationslogik mit der Ontologie der drei Welten. Durch die Einführung einer dritten Welt objektiver Gedankeninhalte („objektiver Geist“) sollen der Gegenstand und sogar der Akt des Verstehens weiter ‚objektiviert‘ werden. Im Zuge dieses verschärften Kampfes gegen Psychologismus und Subjektivismus modifiziert Popper seine Situationslogik erneut erheblich, so daß man von einer dritten Konzeption sprechen muß. Erkenntnisgegenstand des ‚objektiven Verstehens‘ sind nicht mehr einzelne Handlungen, sondern „Welt-3-Problemsituationen“. Und sogar der Akt des Verstehens habe mehr mit der Welt 3 des „objektiven Geistes“ als mit der Welt 2 subjektiver Bewußtseinszustände zu tun. In seinem Aufsatz „Zur Theorie des objektiven Geistes“ (1968) hat Popper die Situationslogik als objektiv-verstehende Methode ausdrücklich mit seiner Drei-Welten-Ontologie in Verbindung gebracht. Die Einfühlungs- bzw. Nacherlebens-Hermeneutik, welche nun als „Welt-2-Methode“ bezeichnet wird, liefert das Gegenmodell, vor dem sich die nunmehr „Welt-3-Methode“ genannte Situationslogik vorteilhaft abheben soll: „[Ich versuche,] die Überlegenheit der Welt3-Methode der kritischen Rekonstruktion von Problemsituationen über die Welt2-Methode des intuitiven Nachvollziehens persönlicher Erfahrungen zu zeigen [...]“ (1968: 176). Bereits bekannte Thesen über die Eigenart des objektiven Verstehens erscheinen nun in ontologischem Gewand: Gegenstände und Resultate des Verstehens bzw. Interpretierens seien nicht Welt-2-Zustände (Bewußtseinszustände) sondern Welt-3-Objekte (vgl. 1968: 167 f.). Und selbst der Akt des Verstehens respektive Interpretierens habe mehr mit Welt 3 zu tun als mit Welt 2, denn es gehe dabei stets um Welt-3-Objekte, etwa kritische Argumente: „Aber auch der subjektive Akt oder Dispositionszustand des ‚Verstehens‘ selbst kann nur durch eine Verbindung mit Gegenständen der Welt 3 verstanden werden. Ich behaupte nämlich folgende drei Thesen für den subjektiven Akt des Verstehens: 1. Jeder subjektive Verstehensakt ist weitgehend in der Welt 3 verankert. 2. Fast alles Wesentliche, was über einen derartigen Akt zu sagen ist, betrifft seine Beziehungen zu Gegenständen der Welt 3. 3.Ein solcher Akt besteht im wesentlichen aus Operationen mit Gegenständen der Welt 3: Wir gehen mit ihnen fast wie mit materiellen Gegenständen um“ (1968: 169).
rückweisung der Verwertung psychologischer Annahmen in sozialwissenschaftlichen Erklärungen, die Popper mit seiner Verwendung dieses Prinzips verbindet, meines Erachtens kaum mit seiner allgemeinen methodologischen Auffassung vereinbar“ (Albert 2003: 34).
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Die ‚Gegenstände‘ der Welt 3 sind Elemente von Problemsituationen, dazu gehören ein oder mehrere Probleme, Theorien sowie Hintergrundwissen (vgl. 1968: 178). Diese Welt-3-Problemsituationen bilden nunmehr den zentralen Erkenntnisgegenstand des objektiven Verstehens; Ziel des Verfahrens ist ihre rationale Rekonstruktion. Bislang war das Erklären und Verstehen von menschlichen Handlungen das Ziel der situationslogischen Methode. Mit der Festlegung auf Welt-3-Problemsituationen liegt nun eine dritte Verstehenskonzeption vor. Allerdings geht Popper davon aus, die „idealisierte Rekonstruktion der Problemsituation [...], in der sich der Handelnde befand“, trage dazu bei, „die Handlung ‚verstehbar‘ (oder ‚rational verstehbar‘) zu machen“ (1968: 185, H.i.O.). Popper benutzt im Rahmen seiner dritten Verstehenskonzeption einen erweiterten Objektivitätsbegriff, indem er unter „Objektivität“ die Eliminierung sämtlicher psychologischer Faktoren sowie die Konzentration auf „Welt-3Gegenstände“ versteht. Popper verwendet also in seinen Ausführungen zur Verstehensproblematik implizit einen Objektivitätsbegriff, der Objektivität gleichsetzt mit der Ausschaltung des ‚Subjektiven‘ in jeglicher Form. Nur so ist zu verstehen, daß er die Verbindung der Situationslogik mit seiner Theorie des objektiven Geistes (Welt 3) überhaupt als methodologischen Fortschritt verbuchen kann: Wenn selbst der Gegenstand sowie der Akt des Verstehens als etwas Nicht-Subjektives begriffen werden können, so sei ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Wege der ‚Objektivierung‘ gelungen. Allerdings hat diese Gleichsetzung von Objektivität mit Nicht-Subjektivität nichts zu tun mit dem für die kritisch-rationale Wissenschaftstheorie zentralen Objektivitätsbegriff: der intersubjektiven Nachprüfbarkeit von Hypothesen und Theorien (vgl. Popper 1934: 18). Sofern diese Prüfbarkeit gegeben ist, besteht keinerlei Veranlassung, psychologische Hypothesen, die Aussagen über subjektive Dispositionen des Handelnden – seine Intentionen, Motive, Überzeugungen etc. – machen, als nicht-objektivitätsfähig zu diskreditieren.52 Popper hätte vielmehr zeigen müssen, warum seiner Ansicht nach Hypothesen dieser Art nicht prüfbar sind. Weiterhin hätte er eine Alternative anbieten müssen, wie die realen Handlungsziele der Akteure zu ermitteln wären. Beides geschieht jedoch nicht. Die Situationslogik führt auch im Rahmen der Drei-Welten-Ontologie zu keiner Verbesserung der Prüfbarkeit interpretativer Hypothesen. Statt dessen belastet Popper seine Methode der rationalen Rekonstruktion zusätzlich mit fragwürdigen metaphysischen Annahmen über die Autonomie einer Welt des objektiven Geistes.53 52 Meines Erachtens bestehen hier keine grundsätzlichen Schwierigkeiten: Sobald ein gesetzmäßiger Zusammenhang zwischen beobachtbaren Phänomenen (Verhalten und verbale Äußerungen bestimmter Art) und psychischen Dispositionen angenommen wird, sind psychologische Hypothesen einer empirischen Prüfung zugänglich. 53 Zur Kritik der Drei-Welten-Ontologie vgl. etwa Keuth 1978: 174 ff. sowie Keuth 2000: 358 ff.
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Zweiter Teil
Die situationslogische Methode soll psychologische Handlungserklärungen durch logische Analyse ersetzen. Dies bedeutet aber die Preisgabe des empirischen Charakters einer auf die Situationslogik verpflichteten Sozialwissenschaft. Während Poppers Begriff der Situationslogik zunächst als Metapher für eine empirische Methode der Geistes- und Sozialwissenschaften verstanden werden konnte, soll es sich hierbei nun ausdrücklich um eine logische Analyse der Beziehungen von Welt-3-Objekten handeln: „Anstelle von psychologischen Erklärungsprinzipien benutzen wir Welt-3Betrachtungen, die hauptsächlich logischen Charakter haben; und meine These ist, daß das historische Verstehen durch solche Analysen gefördert wird“ (1968: 184, H. v. J.M.B.).
Auch an anderer Stelle (vgl. 1970: 189) behauptet Popper, seine Methode der Situationsanalyse ersetze psychologisierende Erklärungen durch die Untersuchung „logischer Beziehungen“. Bekanntlich besteht die formale Logik nun aber aus tautologischen Umformungen. Poppers Erklärung, die Situationslogik sei hauptsächlich logische Analyse (im wörtlichen Sinne), bedeutet somit das Eingeständnis, daß die Situationslogik keine empirische Methode darstellt. Allerdings geht das, was Popper unter einer Analyse von Welt-3-Problemsituationen versteht, über die Anwendung formal-logischer Operationen weit hinaus. Der epistemologische Status der Popperschen Situationsanalyse wird durch die Einbeziehung der Drei-Welten-Ontologie keineswegs klarer.
2.7 2.7.1
Die Anwendung der Situationslogik und Poppers Interpretationspraxis Das Fallbeispiel: Galileis Theorie der Gezeiten
Das einzige ausführliche Fallbeispiel für Poppers praktische Anwendung seiner situationslogischen Methode bezieht sich interessanterweise auf das problemlösende Handeln54 eines Wissenschaftlers: auf die Problemsituation Galileis im Zusammenhang mit der Entwicklung seiner Theorie der Gezeiten. Dieses Fallbeispiel findet sich bereits innerhalb der „Theorie des objektiven Geistes“ (vgl. 1968: 176 ff.), wird aber in einem eigenen Beitrag „Eine objektive Theorie des historischen Verstehens“ (1970) noch einmal ausgeführt. Die Behandlung des Fallbeispiels macht offenkundig, daß das Ziel der Popperschen Rekonstruktionsmethode hauptsächlich darin besteht, das Handeln Galileis als ‚situationsadäquat‘ zu rechtfertigen. Hierin zeigt sich eine apologetische und immunisierende Tendenz, die in der Konsequenz der Anwendung ei54
Diese Tatsache macht deutlich, wie stark Poppers Handlungstheorie auf problemlösendes Verhalten, besonders auf wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung, fixiert ist.
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nes (inhaltsleeren) Rationalitätsprinzips liegt, mit dessen Hilfe sich beliebige Handlungen als ‚situationsgerecht‘ deuten lassen. Ausgangspunkt von Poppers Verteidigung Galileis ist die Feststellung, verschiedene Historiker hätten Galilei ein dogmatisches Festhalten an theoretischen Positionen vorgeworfen, von denen er habe wissen können, daß sie falsch sind (vgl. 1970: 185, 188). Popper hält solche psychologischen Annahmen, die Galileis Verhalten durch andere als rein wissenschaftliche Beweggründe erklären, für unangemessen. Statt nun aber der Frage nachzugehen, welche Motive Galilei tatsächlich hatte, rekonstruiert er eine Problemsituation, die Galileis Verhalten als ‚rational‘ gerechtfertigt erscheinen lassen soll: „Was ich die Problemsituation nenne, stellt sich daher als ein Komplex heraus: Die Problemsituation enthält das Gezeitenproblem, aber in der spezifischen Rolle eines Prüfsteines der kopernikanischen Theorie. Aber auch das genügt noch nicht zum Verständnis von Galileis Problemsituation“ (1970: 187).
Was muß also noch hinzukommen, um das Festhalten des „echten Kosmologen und Theoretikers“ (ebd.) Galilei an einer Theorie zu rechtfertigen, von der er offenbar hätte wissen können, daß sie falsch ist? – Der entscheidende Rechtfertigungsgrund für Galileis Verhalten scheint die von Popper angeführte methodologische Regel zu sein, an Theorien möglichst lange festzuhalten, um festzustellen, was sie zu leisten in der Lage sind. (In diesem Kontext wiederholt er auffallend häufig Wendungen wie „er war methodisch völlig im Recht“, „und er war darin gerechtfertigt“, „Galilei war völlig im Recht“, „Galilei ging völlig richtig vor“ (1970: 187 f.). Das ist umso erstaunlicher, da doch Popper sich selbst das Verdienst zuspricht, das bislang in Philosophie und Wissenschaft vorherrschende Begründungs- und Rechtfertigungsdenken durch die Methode der kritischen Prüfung abgelöst zu haben (vgl. etwa 1976: 60). Hat Popper nun mit Hilfe seiner Rekonstruktion der Galileischen Problemsituation dessen Festhalten an bestimmten (falschen) Annahmen erfolgreich legitimiert? – Der diesbezügliche Erfolg seiner Methode muß bezweifelt werden, denn zum einen bleibt das Verhältnis der ‚rekonstruierten‘ zu der von Galilei selbst wahrgenommenen Problemsituation ungeklärt. Popper macht, getreu seinen situationslogischen Grundsätzen, nicht einmal den Versuch, anhand historischer Quellen die tatsächlichen Intentionen Galileis herauszufinden. So spielt es für Popper auch keine Rolle, ob die methodologische Regel, die zur Rechtfertigung des Festhaltens an zweifelhaften Theorien angeführt wird, von Galilei überhaupt akzeptiert wurde, geschweige denn: ob sie dessen Verhalten motivierte. Zum anderen kann mittels solcher ‚Rekonstruktionen‘ ohne weiteres jedes beliebige Festhalten an zweifelhaften Theorien gerechtfertigt werden.55 Man 55 Man könnte ohne Schwierigkeiten etwa Sigmund Freuds ‚Problemsituation‘ so rekonstruieren, daß sein Festhalten an der fragwürdigen Libidotheorie gerechtfertigt wird. Daß Freud, im Gegensatz zu Galilei, nicht die Gnade situationslogischer Rechtfertigung
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Zweiter Teil
muß lediglich Poppers Vorgehen folgen, die Problemsituation so darzustellen, daß das inkriminierte Verhalten als situationsadäquat erscheint – ohne sich weiter um die faktischen Beweggründe der handelnden Personen zu kümmern und ohne die reale historische Problemsituation in langwieriger empirischer Forschungsarbeit zu rekonstruieren! Poppers Fallbeispiel für die Anwendung der Situationslogik, die Analyse von Galileis Theorie der Gezeiten, macht somit die apologetische Tendenz der situationslogischen Methode deutlich: Jede Handlung kann prinzipiell mit Hilfe derartiger „idealisierter Rekonstruktionen“ als ‚situationsgerecht‘ gedeutet werden.
2.7.2
Situationslogik und Nachvollzugs-Hermeneutik im Vergleich
Bei der Untersuchung der zweiten und dritten Konzeption der Situationslogik sind wir auf die Problematik des Rationalitätsprinzips (R1) gestoßen. Statt die realen Dispositionen des Handelnden empirisch zu ermitteln, wendet Popper weitreichende Rationalitätsunterstellungen an. Es stellt sich die Frage, ob er auf diese Weise den mit der Situationslogik verbundenen Erkenntnisanspruch erfüllen kann. Sind im Vergleich mit der Einfühlungs-Hermeneutik, deren Ablösung Popper vor allem intendierte, Vorteile der situationslogischen Methode erkennbar? – Erinnern wir uns an den mit der Situationslogik verknüpften Erkenntnisanspruch: „Die These, die ich hier unterbreiten wollte, möchte ich abschließend folgendermaßen zusammenfassen: Die Theorie des Verstehens muß ihre psychologisierende Methode aufgeben und auf einer Theorie der Welt 3 aufgebaut werden. [Fußnote:] Damit wird die sogenannte ‚Hermeneutik‘ überflüssig, beziehungsweise radikal vereinfacht“ (1970: 189). Es hat sich indes gezeigt, daß Popper für die angestrebte Eliminierung sämtlicher psychologischen Bezüge einen hohen Preis zahlen mußte: den Preis einer weitgehenden Analytizität seiner situationslogischen Methode, welche jedes beliebige Verhalten als situationsadäquat rechtfertigen kann. Poppers Anspruch, die Hermeneutik durch ein objektiv-verstehendes Verfahren abgelöst zu haben, muß vor diesem Hintergrund als unangemessen zurückgewiesen werden. – Doch wenn er schon nicht die Hermeneutik generell überflüssig gemacht hat, so könnte ja immerhin ein Vorzug seiner situationslogischen Methode beim direkten Vergleich mit der von ihm primär bekämpften Einfühlungs-Hermeneutik erkennbar sein. Neben Dilthey, der nur kurz angesprochen wird, erwähnt Popper als wichtigsten Gewährsmann der Hermeneutik den Historiker und Philosophen R.G. zuteil wird, sondern Popper der Psychoanalyse pauschal Dogmatismus unterstellt, scheint auf persönliche Sympathien und Antipathien zurückzuführen zu sein.
Karl Poppers Theorie objektiven Verstehens
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Collingwood und diskutiert dessen „These, das historische Verstehen des Historikers bestehe in seinem Nachvollzug vergangener Erlebnisse“ (1968: 193). Popper selbst nennt einen konkreten Vorteil, welcher der Situationslogik gegenüber der Methode der Einfühlung zukomme: Der Historiker, der die Methode des subjektiv-nachvollziehenden Verstehens anwende, müsse in bestimmten Fällen kapitulieren, die jedoch mit Hilfe der Situationslogik problemlos behandelt werden könnten. Man könne nicht „von dem Historiker verlangen, daß er die Fähigkeiten von Caesar, Cicero, Catull und Theodosius in sich vereinigt. Kein Kunsthistoriker kann ein Rembrandt sein; und nur wenige würden ein großes Meisterwerk auch nur kopieren können“ (1968: 195). Diesem Argument könnte ein Vertreter der Nachvollzugs-Hermeneutik entgegnen, daß es auf der Seite des Interpreten nicht darauf ankomme, die entsprechenden Fähigkeiten, Gefühle und Charaktereigenschaften in genau demselben Maße zu besitzen wie die Person, deren Handeln es zu deuten gilt. Vielmehr reiche es aus, über solche psychischen Dispositionen zumindest ansatzweise zu verfügen, wenn auch nicht in derselben Quantität. Als Beispiel verweist Popper auf Akte ungeheurer Grausamkeit, in die man sich nicht einfühlen könne (vgl. ebd.). Ein Verfechter der Nachvollzugs-Hermeneutik könnte dem problemlos entgegenhalten, daß jemand, der solche Akte ungeheurer Grausamkeit verstehen wolle, zwar nicht selbst ebenso grausam sein, aber immerhin eine begrenzte Fähigkeit besitzen müsse, derartige Gefühlsregungen nachzuvollziehen – und dies sei aufgrund der Universalität der menschlichen Natur ohne weiteres für jeden gegeben.56 Worin soll nun aber in solchen Fällen, in denen vermeintlich oder tatsächlich eine Unmöglichkeit subjektiven Nachvollzugs besteht, ein Vorzug der Popperschen Situationslogik liegen? Popper meint, man könne sich in Fälle ungeheurer Grausamkeit zwar nicht einfühlen, aber sie dennoch durch das objektive Verstehen als situationsgerechte Handlungen rekonstruieren (vgl. ebd.). Es verwundert in der Tat nicht, wenn die Anwendung der Situationslogik zu dem Ergebnis kommt, auch Akte ungeheurer Grausamkeit als situationsangemessen herauszustellen. Wie sollte sie auch nicht? Schließlich führt die Anwendung des inhaltsleeren Rationalitätsprinzips (R1) in Verbindung mit dem erweiterten Situationsbegriff (S2) mit Notwendigkeit zur Verleihung des Prädikats „situationsgerecht“ an beliebige Handlungen: So gehört es zweifellos zur Situation (S2) des römischen Kaisers Caligula, bestimmte Ziele zu verfolgen, zu deren Realisierung Akte ungeheurer Grausamkeit adäquat sind – mag es sich hierbei auch lediglich um das Ziel abwechslungsreicher Unterhaltung und vergnüglichen Zeitvertreibs handeln.
56
Die häufig wiederholte Behauptung, bestimmte moralisch verwerfliche Handlungen seien völlig ‚unverständlich‘, beruht bekanntlich in der Regel nicht auf kognitiven Restriktionen oder einer prinzipiellen Begrenzung des psychologischen Nachvollzugs, sondern auf normativen Einschränkungen. Das Nicht-Verstehen-Können soll in diesen Fällen einfach nur Mißbilligung ausdrücken.
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Zweiter Teil
Daß sich die situationslogische Methode auf beliebige Handlungen anwenden läßt und stets zu dem Ergebnis kommt, daß sie situationsangemessen sind, zeichnet die Situationslogik allerdings nicht positiv gegenüber der Nachvollzugs-Hermeneutik aus. Ganz im Gegenteil: Der von Popper zitierte Collingwood berücksichtigt die Notwendigkeit einer Rekonstruktion von Entscheidungssituationen ebenso. Während aber die Situationslogik von einem unzweckmäßigen Situations-Begriff ausgeht, legt Collingwood sinnvollerweise Wert darauf, die Situation so zu rekonstruieren, wie sie sich aus der Perspektive des Handelnden ausnahm; der Historiker müsse „die Situation betrachten, mit der der Kaiser fertigzuwerden versuchte, und zwar so, wie sie dem Kaiser erschien“ (zitiert nach Popper 1968: 194). Zu rekonstruieren, wie die Entscheidungssituation aus der Perspektive des Handelnden aussah, setzt nun aber empirisch-psychologische Hypothesen beispielsweise über die Ziele/Absichten und das tatsächlich verfügbare Wissen des Handelnden voraus.
2.7.3
Karl Poppers Interpretationspraxis
Gegenstand der Darstellung und Kritik waren bislang Poppers theoretische Ausführungen zum objektiven Verstehen sowie sein einziges diesbezügliches Fallbeispiel. In diesem Abschnitt möchte ich nachweisen, daß Popper in seiner Praxis des Interpretierens eine ganz andere Methode benutzt als die propagierte, und zwar die Methode der Aufstellung von empirisch-psychologischen Hypothesen über Absichten und Motive von Autoren bzw. Handelnden. Damit soll nicht gesagt werden, daß Popper insgeheim ein Anhänger der von ihm bekämpften Nachvollzugs-Hermeneutik gewesen ist. Wie Popper zu den psychologischen Hypothesen über Absichten und Motive gelangte, durch subjektiven Nachvollzug bzw. Einfühlung oder durch einen anderen Vorgang, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Viel wichtiger ist es, daß er in seiner Interpretationspraxis solche Annahmen über Absichten und Motive als psychologische Hypothesen vorbringt und mit ihrer Hilfe hypothetisch-deduktive Erklärungen von Handlungen und sogar von philosophischen Ideen sowie Traditionen vornimmt, ganz ohne Situationslogik und das mit ihr verbundene analytische Rationalitätsprinzip. Bereits bei einem von Popper als weiteres Exempel für die Anwendung der Situationslogik gedachten Übersetzungs- und Interpretationsbeispiel, das in einer Fußnote abgehandelt wird, ist von einer Situationslogik nichts mehr zu erkennen. Popper leitet die Fußnote ein mit den Worten: „Neben der oben diskutierten Gezeitentheorie Galileis und seiner Beziehung zu Kepler mag hier noch ein anderes Beispiel für eine Interpretation erwähnenswert sein.“ (1968: 195) Was er im Anschluß daran präsentiert, ist jedoch nichts anderes als eine Kritik einer Übersetzung aus dem Lateinischen aufgrund einer Vermutung, was der Autor tatsächlich sagen wollte. Popper ersetzt eine etwas blumige und ungenaue
Karl Poppers Theorie objektiven Verstehens
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Übersetzung eines Satzes von Francis Bacon durch eine Übersetzung, die dem entspricht, was Bacon meinte und zieht danach die Schlußfolgerung: „Wie man aus Rankes falscher Übersetzung des einfachen lateinischen Textes von Bacon ersieht, ist die Interpretation (Hermeneutik) von Texten, die ja zur Geschichtsschreibung gehört, fast so risikoreich wie die Interpretation der Natur. Es ist ein Gebiet, auf dem wir mit Vermutungen und Widerlegungen arbeiten müssen: das heißt, wir müssen versuchen, unsere Vermutungen zu widerlegen, bis sie ganz in den Kontext der Problemsituation hineinpassen, das Willkürliche abgestreift haben und so etwas wie ein Maximum an Erklärungskraft für das erreichen, was der Verfasser sagen wollte“ (1968: 197, H.i.O.).
Die Übersetzung eines Wortes gemäß der vom Verfasser intendierten Bedeutung hat nun aber gar nichts mehr mit der ‚Logik‘ von Situationen zu tun. Vielmehr bildet der Übersetzer bzw. Interpret aufgrund aller relevanten Textstellen eine Hypothese darüber, was der Autor jeweils sagen wollte, und diese Autorintention ist zweifellos zunächst einmal ein psychischer Zustand (ein Gegenstand der „Welt 2“ in Poppers Terminologie). Entsprechend ist die Hypothese über die Absicht des Autors eine psychologische Hypothese, und zwar eine Annahme, die man prüfen und die sich als falsch herausstellen kann, wie Popper selbst demonstriert, indem er eine Übersetzung vorschlägt, die der Absicht des Autors besser entspricht. An dem Sachverhalt, daß wir eine Hypothese über die tatsächlichen Absichten des Autors bilden, ändert sich nichts dadurch, daß wir nicht mehr von Absichten sprechen, sondern statt dessen von „Zielen“ und „Problemsituationen“, denn die Kenntnis solcher „Welt-3-Gegenstände“ – sofern man Poppers ontologische These einer Welt objektiver Gedankeninhalte überhaupt akzeptiert – läßt sich nur ableiten aus unserer Kenntnis der realen Absichten und Motive. Daß Popper in der Praxis des Interpretierens psychologische (und sogar tiefenpsychologische) Hypothesen verwendet, geht aus zentralen Passagen der „offenen Gesellschaft“ hervor. Popper unternimmt in der „offenen Gesellschaft“ nichts Geringeres als eine sozialpsychologische Erklärung der Ideengeschichte von Heraklit und Platon über Hegel bis hin zu den totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Am Beispiel Heraklits läßt sich Poppers sozialpsychologische Erklärung und die damit zusammenhängende Methode der Interpretation philosophischer Werke prägnant aufzeigen. Heraklit sei der Philosoph gewesen, der die Idee der Veränderung entdeckt habe, er habe die Auffassung eingeführt, daß es keine stabile Weltordnung gebe und damit einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der Philosophie ausgeübt: „Man kann die philosophischen Systeme des Parmenides, Demokrit, Platon und Aristoteles allesamt sehr angemessen als Versuche bezeichnen, die Probleme dieser wechselnden Welt, die Heraklit entdeckt hatte, zu lösen. Die Größe dieser Entdekkung läßt sich schwerlich überschätzen. Sie wurde erschreckend genannt, und ihre
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Zweiter Teil Wirkung wurde mit der eines ‚Erdbebens’ verglichen, in dem ‚alles ... zu wanken scheint’. Und für mich besteht kein Zweifel, daß sich diese Entdeckung Heraklit durch erschütternde persönliche Erfahrungen enthüllte, unter denen er infolge der sozialen und politischen Wirren seiner Tage litt. Heraklit, der erste Philosoph, der sich nicht nur mit der ‚Natur’, sondern in weit größerem Maße mit ethisch-politischen Problemen beschäftigte, lebte in einem Zeitalter sozialer Revolutionen. In seiner Zeit begannen die griechischen Stammesaristokratien der neuen Kraft der Demokratie zu weichen“ (1945: 36).
Heraklits Idee der Veränderung wird schon hier auf „erschütternde persönliche Erfahrungen“ zurückgeführt, die offenbar mit der Auflösung der griechischen Stammesaristokratie zu tun haben, in der bislang „das soziale Leben [...] durch soziale und religiöse Tabus bestimmt [wird]; jedermann hat seinen vorbestimmten Platz innerhalb des Ganzen der sozialen Struktur; jedermann fühlt, daß sein Platz der richtige, der natürliche Platz ist“ (ebd.). Doch Popper erkennt noch einen spezifischeren Zusammenhang zwischen Heraklits Philosophie und dem Zerfall der überkommenen Sozialordnung. Heraklit sei als führender Aristokrat von den politischen Veränderungen besonders betroffen gewesen und habe sie als einen Niedergang erlebt, was sich in seiner politischen Philosophie widerspiegele: „Der Tradition gemäß war Heraklits eigener Platz der des Hauptes der königlichen Familie der Priesterkönige von Ephesos; er verzichtete aber zugunsten seines Bruders auf seine Ansprüche. Trotz seiner stolzen Weigerung, am politischen Leben seiner Stadt teilzunehmen, unterstützte er die Sache der Aristokraten, die sich vergeblich der steigenden Flut der neuen revolutionären Kräfte entgegenzustemmen versuchten. Diese Erfahrungen im sozialen und politischen Bereich spiegeln sich in den erhaltenen Fragmenten seines Werkes“ (1945: 36).
Hierbei handelt es sich ganz offensichtlich um eine sozialpsychologische Erklärung bestimmter Aspekte der Philosophie Heraklits, wobei sowohl dessen soziale Herkunft, gesellschaftliche Veränderungen als auch emotionale Reaktionen auf diese Veränderungen als Bestandteile des Explanans angesehen werden. Popper beschreibt aber noch genauer, wie sich Heraklits soziale Herkunft auf seine politische Philosophie ausgewirkt hat. Er führt verschiedene Beispiele für Heraklits „konservative[.] und antidemokratische[.] Gesinnung“ (1945: 37) an, etwa schriftliche Äußerungen als Reaktion auf konkrete Ereignisse, beispielsweise anläßlich der Verbannung eines seiner aristokratischen Freunde. Daneben ließen sich auch grundsätzliche politisch-anthropologische Aussagen auf seine soziale Herkunft zurückführen, beispielsweise generelle Vorurteile gegenüber dem einfachen Volk. Der (letztlich erfolglose) Einsatz für die überkommene Ordnung habe jedoch nicht allein Heraklits politische Ansichten geprägt, sondern auch seine Theorie der Veränderung:
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„Aber der Kampf, den Heraklit für die alten Gesetze seiner Stadt führte, war vergeblich, und die Vergänglichkeit aller Dinge machte einen tiefen Eindruck auf ihn. Dieses Gefühl spiegelt sich in seiner Theorie der Veränderung: ‚Alles fließt’, so sagt er, und ‚man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen.’ Enttäuscht argumentiert er gegen den Glauben, daß die bestehende soziale Ordnung ewig währen werde: ‚Wir dürfen nicht handeln und reden wie die Kinder, die nach dem beschränkten Grundsatz großgezogen wurden: Wie es uns überliefert ward’“ (1945: 37).
Neben der Tatsache der Veränderung entdeckt Heraklit aber auch eine Konstanz innerhalb der Prozesse, „ein Gesetz, ein Maß, eine Vernunft, eine Weisheit; und nachdem er den Kosmos als Gebäude zerstört und ihn einen Misthaufen genannt hat, führt er ihn als die vorausbestimmte Ordnung der Ereignisse im Weltprozeß wieder ein. Jeder Prozeß in der Welt, insbesondere das Feuer selbst, entwickelt sich nach einem wohlbestimmten Gesetz, seinem ‚Maß‘. Dieses Gesetz ist unerbittlich und unwiderstehlich“ (1945: 38 f.). Dieses Gesetz nennt Popper das „historizistische Schicksalsgesetz“, und er fragt sich, wie es kommt, daß Historizisten, d.h. Anhänger des Glaubens an unerbittliche Gesetze der Geschichte, die Idee der Veränderung mit der Vorstellung eines Schicksalsgesetzes verknüpfen. Auch hier ergibt sich die Notwendigkeit einer Erklärung. Diesmal wählt Popper eine tiefenpsychologische Erklärung: „Dieser Glaube [an die Veränderung, verbunden mit einem Schicksalsgesetz] ist ein Ausdruck für eine Haltung, die für die meisten, wenn nicht für alle Historizisten charakteristisch ist. Auf den ersten Blick scheint diese Haltung dem Nachdruck zu widersprechen, mit dem die Historizisten die Bedeutung der Veränderung hervorheben. Aber dies läßt sich vielleicht erklären, wenn wir annehmen, daß alle Historizisten der Idee der Veränderung einen unbewußten Widerstand entgegensetzen; ihre übermäßige Betonung der Veränderung wäre dann ein Symptom der Anstrengung, die sie aufzuwenden haben, um diesen Widerstand zu überwinden. So wäre auch die emotionale Spannung erklärt, aus der heraus viele Historizisten (auch heute noch) sich gebärden, als hätten sie etwas ganz Neues und nie vorher Bemerktes entdeckt. Dies legt den Gedanken nahe, daß diese Historizisten die Veränderung fürchten und daß sie die Idee der Veränderung nicht ohne schwere innere Kämpfe akzeptieren können. Oft scheint es, als versuchten sie sich über den Verlust einer stabilen Welt zu trösten, indem sie an der Annahme eines unveränderlichen Gesetzes festhalten, das die Veränderung beherrscht. (Bei Parmenides und Platon stoßen wir sogar auf die Lehre, daß die wechselnde Welt, in der wir leben, eine bloße Täuschung ist und daß eine in höherem Grade wirkliche Welt existiert, in der sich nichts verändert.)“ (1945: 38, Hervorhebung v. J.M.B.)
Popper bedient sich hier sogar psychoanalytischer Begriffe als Elemente der Erklärung und Deutung philosophischer Theorien und ideengeschichtlicher Traditionen. Ohne Frage handelt es sich auch hierbei um eine psychologische Methode der Interpretation, allerdings unter Verwendung von erklärenden Hypothesen, die zwar plausibel sind, deren Nachprüfbarkeit indes zweifelhaft erscheint.
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Zweiter Teil
Es wirkt zudem übertrieben, daß Popper auch Hegel und den neueren Historizismus mit Heraklit, Platon und dem Zerfall der antiken Sozialordnung in engen Zusammenhang bringt (vgl. 1945: 33 f. sowie 271). Nun gleich die gesamte Geschichte des Historizismus von der Antike über Hegel bis zum Totalitarismus des 20. Jahrhunderts auf Heraklit und Platon und damit auf die Gefühle beim Zusammenbruch der griechischen Stammesaristokratien zurückführen zu wollen, erscheint doch etwas gewagt. Es ist vor allem zweifelhaft, ob philosophische Werke, selbst wenn sie eine verbreitete Zeitstimmung aufgreifen, entscheidenden Einfluß auf soziale Bewegungen ausüben. Viel plausibler ist demgegenüber die folgende, ebenfalls psychologische, Erklärung des Entstehens und der Verbreitung historizistischer Ideen, in welcher revolutionäre Veränderungen in der Moderne als Voraussetzung des späteren Historizismus in Betracht gezogen werden: „Es ist überraschend, daß man in diesen frühen Fragmenten [...] so viele Lehren findet, die auch die modernen historizistischen und antidemokratischen Tendenzen charakterisieren. Aber abgesehen davon, daß Heraklit ein Denker von unübertroffener Kraft und Originalität war und daß viele seiner Ideen in Folge davon (durch die Vermittlung Platons) Teil des Bestandes der philosophischen Tradition geworden sind, läßt sich die Ähnlichkeit der Lehren in gewissem Ausmaß durch die Ähnlichkeit der sozialen Bedingungen in den entsprechenden Perioden erklären. Historizistische Ideen scheinen in Zeiten großer sozialer Veränderungen leicht in den Vordergrund zu treten. Sie erschienen, als das griechische Stammesleben in Trümmer fiel und ebenso, als das Stammesleben der Juden durch die Auswirkungen der babylonischen Eroberung erschüttert wurde. Es kann meiner Ansicht nach kaum einen Zweifel darüber geben, daß Heraklits Philosophie der Ausdruck eines Gefühls des Dahintreibens ist, eines Gefühls, das eine typische Reaktion auf die Auflösung der alten Stammesformen, des sozialen Lebens sein dürfte. Im modernen Europa wurden historizistische Ideen während der industriellen Revolution, besonders aber unter dem Einfluß der politischen Revolutionen in Amerika und Frankreich neu belebt. Es ist wohl mehr als ein bloß zufälliges Zusammentreffen, daß Hegel, der so viel von den Gedanken Heraklits aufnahm und an alle modernen historizistischen Bewegungen weitergab, ein Wortführer der Reaktion gegen die Französische Revolution war“ (1945: 42).
Popper scheint sich nicht ganz schlüssig zu sein, ob die historizistischen Tendenzen der neueren Zeit aufgrund der von Heraklit und Platon begründeten ideengeschichtlichen Tradition entstanden oder durch ähnliche historische Umstände neu geschaffen werden oder sowohl durch ideengeschichtliche Vorläufer als auch durch aktuelle Zeitumstände zu erklären sind. Bestimmte Formulierungen im obigen Zitat, z.B. der Ausdruck „neu belebt“ deuten darauf hin, daß er von einer Kombination beider Erklärungsfaktoren ausgeht. Es ist überraschend, daß Poppers Praxis der Interpretation philosophischer Werke und Traditionen sich grundlegend von der situationslogischen Methode unterscheidet. Genauer gesagt: Seine Interpretationspraxis stellt das Gegenteil seiner methodologischen Postulate dar, wie wir sie aus den Beiträgen zur Nullmethode und dem objektiven Verstehen gemäß der Situationslogik kennen.
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Popper macht ausdrücklich von psychologischen Hypothesen Gebrauch, um die realen Absichten des Autors herauszufinden. Diese psychologische Methode der Interpretation wendet er mit aufklärerisch-kritischen Intentionen an, während die Situationslogik demgegenüber apologetischen Zwecken dient.57
2.8
Poppers Situationslogik im Vergleich mit der objektiven Hermeneutik Ulrich Oevermanns
Auch in der interpretativen Sozialforschung gibt es ein Verfahren, das beträchtliche Ähnlichkeiten mit Poppers Situationslogik aufweist. Die sogenannte Objektive Hermeneutik Ulrich Oevermanns befindet sich, ebenso wie Poppers Ansatz, in „schärfste[m] Gegensatz zu jeglicher Spielart von Nachvollzugshermeneutik“ (Oevermann 1996b: 14). Die Polemik Oevermanns gegen jedwedes „Nachfühlen“ oder subjektive Verstehen im Sinne eines Sich-Hineinversetzens in die Lage anderer stimmt völlig überein mit Poppers anti-psychologischer Grundhaltung. Entsprechend ist es auch nicht das Ziel der Objektiven Hermeneutik, die persönlichen Motive und Intentionen der Handelnden (bzw. im Interview Befragten) zu ermitteln. Statt dessen werden „objektive Bedeutungsmöglichkeiten als real eingeführt, unabhängig davon, ob sie von den an der Interaktion beteiligten Subjekten intentional realisiert wurden oder nicht. Mit der objektiven Hermeneutik soll dasjenige Interpretationsverfahren bestimmt sein, das zur Aufschlüsselung dieser Realität benötigt wird. Wir nennen es [...] vorläufig ‚objektive Hermeneutik‘, weil wir damit verdeutlichen wollen, daß es ausschließlich um die sorgfältige, extensive Auslegung der objektiven Bedeutung von Interaktionstexten, des latenten Sinns von Interaktionen geht, und dieses Verfahren des rekonstruierenden Textverstehens mit einem verstehenden Nachvollzug innerpsychischer Prozesse [...] nichts zu tun hat“ (Oevermann et al. 1979: 381). Die Parallelen zwischen Situationslogik und Objektiver Hermeneutik gehen noch erheblich weiter: Sowohl Popper als auch Oevermann vertreten die ontologische These, daß es „objektive Bedeutungsstrukturen“ gebe, die real existierten, und es sei die Aufgabe der Situationslogik respektive der objektiven Hermeneutik, diese objektiven Bedeutungsstrukturen zu erfassen. Während Popper diese Strukturen als Welt 3 der objektiven Gedankeninhalte bezeichnet, spricht Oevermann von „latenten Sinnstrukturen“: „Latente Sinnstrukturen und objektive Bedeutungsstrukturen sind jene abstrakten, d.h. sinnlich nicht wahrnehmbaren Gebilde, die wir alle mehr oder weniger gut und genau ‚verstehen’, wenn wir uns verständigen [...], und die durch bedeutungsgenerie57
Auffallend ist, daß Popper die Werke seiner philosophischen Gegner psychologischkritisch analysiert, während seine geistesgeschichtlichen Vorbilder von solcher Entlarvung verschont bleiben oder sogar – im Falle Galileis – in den Genuß situationslogischer Rechtfertigung kommen.
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Zweiter Teil rende Regeln erzeugt werden und unabhängig von unserer je subjektiven Interpretation objektiv gelten. Die objektive Hermeneutik ist ein Verfahren, diese objektiv geltenden Sinnstrukturen intersubjektiv nachprüfbar je konkret an der les-, hör- und sichtbaren Ausdrucksgestalt zu entziffern“ (Oevermann 1996a: 1).
Genau wie Popper unterstellt, man könne objektive Elemente der „Situation“ im Sinne des Situationsbegriffs S2, d.h. auch die Ziele des Handelnden, ohne Hilfe empirisch-psychologischer Hypothesen über dessen (subjektive) Absichten und Motive erfassen, glaubt auch Oevermann, daß die „objektiven Sinnstrukturen“ den psychischen Dispositionen der Handelnden gegenüber vorrangig sind: „Die Methodologie der objektiven Hermeneutik operiert bekanntlich mit einem für sie spezifischen Begriff der Realität von objektiven bzw. latenten Bedeutungs- und Sinnstrukturen, die durch Texte und deren Generierungsregeln konstituiert sind. Bevor in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften die Frage behandelt werden kann, was jemand, eine Person, eine Gruppe, eine Organisation oder eine Institution mit einer Handlung beabsichtigte und bezweckte bzw. welche Funktion diese erfüllte oder was sich an Dispositionen der handelnden Subjektivität aus ihr herauslesen läßt, muß, so zeigt die objektive Hermeneutik, beantwortet worden sein, was diese Handlung objektiv, nach geltenden Regeln der Bedeutungserzeugung, bedeutet“ (Oevermann 1993: 112 f., H.i.O.).
Aber was bedeutet eine Handlung „objektiv“? – Der Begriff „objektive Bedeutung“ wird von Oevermann in einer verwirrenden Vieldeutigkeit benutzt (vgl. Hoock 1999: 84 ff.). Völlig unterschiedliche Erkenntnisgegenstände können „objektive Bedeutungen“ besitzen, so zum Beispiel Äußerungen, Interaktionen, Biographien und sogar die Geschichte ganzer Gesellschaften (vgl. Oevermann et al. 1980: 27). Erzeugt werde die ‚objektive Bedeutung‘ durch bedeutungsgenerierende Regeln: „Latente Sinnstrukturen sind objektiv gegebene Realitäten genau insofern, als sie von objektiv geltenden Regeln im Sinne von Algorithmen generiert werden und als solche mit Anspruch auf objektive Gültigkeit durch Inanspruchnahme genau jener Regeln im Interpretationsakt rekonstruiert werden können, die schon bei der Erzeugung der zu interpretierenden protokollierten Wirklichkeit operierten.“ (Oevermann 1993: 115)
Was mit diesen ebenfalls objektiv geltenden Regeln, welche die objektive Bedeutung im Sinne von Algorithmen erschaffen, genau gemeint ist, läßt sich nur schwer feststellen. Oevermann offeriert so unterschiedliche Sachverhalte wie „universale Regeln der Sprachfähigkeit und Sprachverwendung, historisch gebundene soziale Normen, universale Strukturen der Erkenntnis etc., kurz die idealisierten Ausstattungen des sozialisierten Subjekts in einer spezifischen, historisch gebundenen sozio-kulturellen Lebenswelt“ (Oevermann et al. 1980: 23). An anderer Stelle sind es „die universellen und einzelsprachlichen Regeln der
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sprachlichen Kompetenz auf den Ebenen der Syntax und Phonologie, die Regeln einer kommunikativen oder illokutiven Kompetenz [...], die universellen Regeln einer kognitiven und moralischen Kompetenz und die das sozio-historisch spezifische Bewußtsein des sozialisierten Subjekts konstituierenden institutionalisierten Normen, lebensweltspezifischen Typisierungen und Deutungsmuster“ (Oevermann et al. 1979: 387). Man kann sich offenbar kaum eine Regel vorstellen, die nicht irgendwie der Erzeugung der ‚objektiven Bedeutung‘ dient. Es kann in diesem Abschnitt, der sich mit den Parallelen der Situationslogik zur Objektiven Hermeneutik beschäftigt, keine vollständige Kritik des Oevermannschen Ansatzes durchgeführt werden. Erwähnen möchte ich nur noch, daß sich in der Interpretationspraxis bei Oevermann, ebenso wie bei Popper, letztlich doch ein Rekurs auf psychische Dispositionen der Handelnden, auf ihre Absichten und Motive, feststellen läßt. Zwar fordert Oevermann eine Interpretationstechnik der extensiven Auflistung möglicher Bedeutungen einer Äußerung bzw. Handlung und unterstellt, daß es sich bei dem herauszufindenden „latenten Sinn“ um mehr handle als um unbewußte Absichten und Motive, doch was als Ergebnis von objektiv-hermeneutischen Fallstudien präsentiert wird, sind häufig nichts anderes als tiefenpsychologische Hypothesen über solche subjektiven psychischen Dispositionen. Dies wird besonders deutlich, wenn Oevermann explizit psychoanalytisches Vokabular bei der Interpretation benutzt, etwa bei der Deutung eines Mutter-Sohn-Dialogs, den Oevermann als „Beispiel für eine gelungene ödipale Interaktion“ (Oevermann et al. 1976: 381) bezeichnet. Die ‚objektive Bedeutung‘ der Handlung eines viereinhalb Jahre alten Jungen, der den in der Wohnung mit einem Schlagbohrer arbeitenden Vater nachahmt, indem er so tut, als bohre er mit seiner Spielzeugpistole Löcher in die Wand, ist für Oevermann der gelungene Umgang des Kindes mit seiner „möglicherweise letztlich triebdynamisch bedingte[n] Angst“ (Oevermann et al. 1976: 382) vor der Übermacht des Vaters. Die Mutter sei sich nur des manifesten Gehaltes der Szene bewußt, indem sie glaubt, der Junge habe einfach Angst vor dem Bohrlärm. Der objektive Sinngehalt, dessen sich keines der interagierenden Subjekte bewußt sei, liege in dem latenten ödipalen Konflikt und dessen Bewältigung.
2.9
Grenzen und Möglichkeiten der Anwendung von Rationalitätsunterstellungen
Die Zurückweisung der Situationslogik bedeutet nicht den generellen Verzicht auf ein Rationalitätsprinzip zum Zwecke des Verstehens. Das leere Rationalitätsprinzip (R1) muß jedoch ersetzt werden durch die Verwendung (fehlbarer) Rationalitätspräsumtionen. Diese spielen bereits beim Verstehen alltagssprachlicher Äußerungen eine entscheidende Rolle. Sie sind für das Verstehen (instrumentell) notwendig, müssen aber gegebenenfalls anhand der faktischen Handlungsdispositionen empirisch überprüft und korrigiert werden.
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Zweiter Teil
Die situationslogische Methode und das in ihr enthaltene Rationalitätsprinzip finden ihre Parallelen in der Hermeneutik des 18. Jahrhunderts als „Prinzip der hermeneutischen Billigkeit“ (besonders bei Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier) sowie in der analytischen Philosophie seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als „principle of charity“, etwa bei Quine und Davidson. Jedoch sind nicht alle Verstehenskonzeptionen, die Rationalitätsunterstellungen involvieren, gleichermaßen mit Problemen behaftet wie Karl Poppers Situationslogik. Wer diese zurückweist, muß damit nicht auf Rationalitätsannahmen zum Zwecke des Verstehens und Interpretierens verzichten, sondern lediglich das leere Rationalitätsprinzip (R1), welches als AllzweckRechtfertigung für beliebige Handlungen dienen kann, durch ein gehaltvolles ersetzen. In seinem Buch „Verstehen und Rationalität“ hat Oliver R. Scholz den epistemologischen Status der allgemeinen Grundsätze des Verstehens und Interpretierens in einer Weise rekonstruiert, die besonders dem vom kritischen Rationalismus vertretenen Fallibilismus – der Einsicht in die Fehlbarkeit jeglichen Wissens – entgegenkommt, zugleich jedoch der Tatsache Rechnung trägt, daß allgemeine Verstehensprinzipien in einem ganz bestimmten Sinne a priori sind. Scholz untersucht zunächst die Verwendung von Präsumtionen in der Jurisprudenz (vgl. Scholz 1999: 148 f.). An Beispielen, wie der Unschuldsvermutung im Prozeßrecht, zeigt sich, daß die Verwendung von Unterstellungen, deren Wahrheit ungeklärt ist oder sogar als unwahrscheinlich erscheint, in vielen Fällen wichtige Funktionen erfüllt. Während es im Recht allerdings auch unwiderlegliche Präsumtionen gibt, die man als juristische Fiktionen bezeichnen kann, lassen sich die allgemeinen Verstehens- und Interpretationsprinzipien als „Präsumtionsregeln mit widerleglichen Präsumtionen“ (ebd.) auffassen. Im Anschluß an H.P. Grices Theorie rationaler Dialoge (vgl. Grice 1989 sowie Levinson 1994: 103 ff.) weist Scholz nach, daß hermeneutische Präsumtionsregeln bereits für das Verstehen alltagssprachlicher Äußerungen instrumentell notwendig sind (vgl. Scholz 1999: 166 ff.). Die hier zur Anwendung kommende Rationalitätspräsumtion ist natürlich insofern a priori58, als nicht bekannt ist, ob es sich tatsächlich um einen rationalen Dialogpartner handelt. Dennoch ist es notwendig, dies zunächst zu unterstellen.59 Gibt es im Verlauf der Kommunikation Gründe für die Annahme des Gegenteils, wird die zunächst starke Rationalitätsannahme 58
Gemeint ist natürlich „genetisch a priori“, d.h. zeitlich vor jeder Wahrnehmung, nicht aber „a priori gültig“ (vgl. Popper 1987: 127). 59 Präsumtionen werden üblicherweise in Entscheidungssituationen verwendet, in denen u.a. zeitliche Restriktionen bestehen; die handelnden Personen müssen unter Zeitdruck eine rationale Entscheidung treffen. Präsumtionen besitzen in diesen Situationen eine entlastende Funktion (vgl. Scholz 1999: 154 ff.). Im Falle der hermeneutischen Präsumtionen kommt hinzu, daß ein Verstehen (etwa ironischer oder metaphorischer Äußerungen) vielfach gar nicht möglich wäre, würde man dem Sprecher nicht unterstellen, er wolle einen zweckmäßigen (informativen, wahren und relevanten) Gesprächsbeitrag leisten.
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„nach unten“ korrigiert. Rationalitätspräsumtionen sind also offen für empirische Widerlegung: Bei gegebenem Anlaß muß die Rationalitätsvermutung anhand der faktischen Handlungsdispositionen überprüft werden. Diese Ergebnisse machen deutlich, daß die Verwendung eines Rationalitätsprinzips, das dem Verstehen von Handlungen oder dem Interpretieren von Texten vorgängig ist, durchaus mit einem konsequenten Fallibilismus sowie mit dem Kriterium intersubjektiver Nachprüfbarkeit vereinbar sein kann. Kontrovers bleibt allerdings die Frage, ob Prinzipien des Verstehens noch in einem anderen Sinn „a priori“ und „notwendig“ sind als in dem soeben skizzierten. Scholz stellt entsprechende Thesen auf und nennt die Interpretationsprinzipien „konstitutive Bedingungen“ (Scholz 1999: 190) des Verstehens. In dem dritten Teil der Arbeit möchte ich daher im folgenden den epistemologischen Status der Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen beim Verstehen und Interpretieren näher untersuchen und mich hierbei insbesondere der Frage zuwenden, ob die Unterstellung von Rationalität und Wahrheit noch in einem anderen als rein instrumentellen Sinn „notwendig“ ist, und ob diesen Präsumtionen erfahrungsunabhängige Geltung zukommt.
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3. TEIL: ÜBER DIE ‚NOTWENDIGKEIT’ VON RATIONALITÄTS- UND WAHRHEITSPRÄSUMTIONEN BEIM VERSTEHEN 3.1
Einleitung
In dem ersten Teil dieser Arbeit wurde der epistemologische Status des Zeugnisses anderer besprochen. Die Frage der Wahrheitspräsumtionen spielte hierbei bereits eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit der Diskussion, ob die meisten Zeugnisse vor jeder Prüfung als verläßlich eingeschätzt werden können oder sogar müssen. Nunmehr ist zu fragen: In welcher Hinsicht sind solche Unterstellungen beim Verstehen und Interpretieren notwendig? In seinem radikalen Versuch, eine Nachvollzugs-Hermeneutik überflüssig zu machen, verwendete auch Popper ein Rationalitätsprinzip, das zumindest die Zweckrationalität von Handlungen voraussetzt. Sowohl in der Sozialen Erkenntnistheorie als auch in Poppers Situationslogik wird das ‚Prinzip der wohlwollenden Interpretation’ im Sinne weitreichender Präsumtionen angewendet. In dem dritten Teil meiner Arbeit möchte ich die Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung von Präsumtionen beim Verstehen und Interpretieren systematisch untersuchen. Eine einführende Übersicht über die Geschichte des Prinzips wohlwollender Interpretation soll zeigen, daß seit der Antike und insbesondere seit der frühen Neuzeit immer wieder Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen einen wesentlichen Bestandteil der jeweiligen Verstehens-Theorien ausmachten. Dennoch verlief die historische Entwicklung der Hermeneutik nicht kontinuierlich, sondern ist gekennzeichnet durch immer neue Brüche sowie sachlich unbegründete Abgrenzungen späterer Autoren von ihren Vorgängern. Im Anschluß an den historischen Überblick wird die von Oliver Scholz unternommene Rekonstruktion der Verstehensprinzipien in Form einer Theorie der Präsumtionen dargestellt und diskutiert. Die entscheidende These der ‚Notwendigkeit’ von Wahrheits- und Rationalitätspräsumtionen beim Verstehen und Interpretieren wird in Auseinandersetzung mit den Argumenten Scholzens in ihre unterschiedlichen möglichen Bedeutungen ausdifferenziert und kritisch besprochen. Daran anschließend spielt – ausgehend von den Arbeiten David Hendersons und Axel Bühlers über die Grenzen des Prinzips der wohlwollenden Interpretation – die Frage eine Rolle, ob auch Falschheits- und Irrationalitätspräsumtionen in der Praxis des Verstehens und Interpretierens zur Anwendung kommen, und welche Bedeutung empirische Theorien sowie durch vergangene Erfahrung geprägte Erwartungen im Prozeß des Verstehens und Interpretierens besitzen. Zuletzt skizziere ich im Anschluß an Hans Albert die Grundzüge einer naturalistischen Hermeneutik.
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Dritter Teil
3.2
Zur Geschichte der „wohlwollenden Interpretation“
3.2.1
Antike und Mittelalter
Das Problem des „richtigen“ Verstehens und Auslegens existiert, seitdem es überhaupt eine systematische Beschäftigung mit menschlichen Zeugnissen, insbesondere mit Texten, gibt. Dementsprechend lassen sich Prinzipien der Interpretation bereits im Altertum aufweisen. Gegenstand der Auslegungskunst waren poetische und philosophische Texte, Mythen, Gesetze, Orakel, religiöse Schriften und künstlerische Darstellungen (vgl. Pépin 1988: 722). Für den Geschichtsschreiber kam das Problem des Verstehens von Handlungen sowie von Personen hinzu, weit verbreitet war auch die Deutung natürlicher Phänomene (Wetter, Vogelflug, Träume etc.) als Zeichen für Übernatürliches oder zukünftige Ereignisse. Als wesentlicher Ausgangspunkt antiker Auslegungskunst kann, neben der Klärung partieller Unklarheiten, „die Verteidigung bestimmter Autoren und Texte“ angesehen werden (vgl. Gatzemeier 1984: 274). Vielfach galt es, Texte, deren autoritativer Anspruch in Frage gestellt wurde, durch die Anwendung bestimmter Interpretationsprinzipien als kanonische Texte zu „retten“. Durch eine affirmative Deutung von als maßgeblich empfundenen Überlieferungen wurde versucht, eine Form von weltanschaulicher und moralischer Übereinkunft zu schaffen. Eine solche Form wohlwollender Interpretation findet sich bereits in der Poetik des Aristoteles, in der maßgebliche Werke der Dichtkunst, aber auch die Malerei, gegen Kritik verteidigt werden. Die Vorwürfe, gegen die Aristoteles Stellung bezieht, „lassen sich auf fünf Kategorien zurückführen: daß etwas unmöglich sei oder ungereimt oder sittlich schlecht oder widersinnig oder den Erfordernissen einer Disziplin entgegengesetzt“ (Aristoteles 1996: 95). Stellt der Dichter etwas scheinbar oder tatsächlich Unmögliches dar, so müsse man dies auf eine der folgenden Weisen rechtfertigen: „Aufs Ganze gesehen muß man das Unmögliche rechtfertigen, indem man entweder auf die Erfordernisse der Dichtung oder auf die Absicht, das Bessere darzustellen, oder auf die allgemeine Meinung zurückgreift. [...] Und wenn es unmöglich sein mag, daß es solche Menschen gibt, wie sie Zeuxis gemalt hat, dann hat er sie eben zum Besseren hin gemalt; das Beispielhafte muß ja die Wirklichkeit übertreffen“ (Aristoteles 1996: 93).
Was das scheinbar oder tatsächlich Ungereimte angeht, so könne man „zeigen, daß das Ungereimte bisweilen nicht ungereimt ist; es ist ja wahrscheinlich, daß sich manches auch gegen die Wahrscheinlichkeit abspielt“ (ebd.). Bei den Textstellen, die „Widersinniges auszudrücken scheinen“, müsse man genau prüfen, „ob sich eine Aussage auf denselben Gegenstand bezieht und ob sie im selben Sinne gilt“ (ebd.). Die wohlwollende Interpretation scheint bei Aristoteles
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aber auch Grenzen zu besitzen, zumindest zieht er in Erwägung, daß Kritik an Dichtern und ihren Werken berechtigt sein kann. Beispielsweise sei „der Vorwurf der Ungereimtheit und Schlechtigkeit [...] berechtigt, wenn ein Dichter ohne zwingenden Grund davon Gebrauch macht“ (Aristoteles 1996: 93). Eine ausgeprägte Spielart des Prinzips der wohlwollenden Interpretation begegnet uns in Form allegorischer Deutungen von Werken der Überlieferung. Dabei handelte es sich um die noch immer beliebte Praxis, bestimmte Texte gegen Kritik zu immunisieren, letztlich also um eine Interpretation „aus apologetischen Motiven“ (König u. Koppe 1980: 86; vgl. auch Scholz 1999: 17). Als „allegorisch“ bzw. „Allegorese“ läßt sich diese Methode deshalb bezeichnen, weil bei ihr „ein Text nicht im ‚buchstäblichen’, sondern in einem übertragenen Sinn [...] verstanden wird. Dabei geht es allerdings nicht um die Erschließung allegorischer Texte, sondern um Unterlegung eines allegorischen Sinns für ursprünglich gerade nicht allegorisch verfaßte und nicht allegorisch rezipierte Schriften“ (König u. Koppe: 86). Textstellen, deren wörtlicher Sinn („sensus litteralis“) als sachlich irrtümlich oder moralisch bedenklich eingestuft wurde, konnte durch das Verfahren der Allegorese ein neuer „Hintersinn“ unterlegt werden, die umstrittene Stelle wurde gerechtfertigt durch einen hinzugefügten, konsensfähigen Gehalt in Form des übertragenen Sinns („sensus allegoricus“). So erschienen etwa dem Interpreten Theagenes von Rhegion und seinen Nachfolgern Homers und Hesiods Erzählungen von anthropomorphen Göttern, die als leidenschaftlich und gegeneinander kämpfend dargestellt werden, als inakzeptabel. Eine allegorische Interpretation erlaubte es, die Götter in einem übertragenen Sinn als widerstreitende Prinzipien zu deuten und damit den in Frage gestellten Geltungsanspruch der Mythen aufrechtzuerhalten. Der Grundsatz der wohlwollenden Interpretation wurde in Antike und Mittelalter somit häufig zum Zwecke der Verteidigung des Wahrheits- und Geltungsanspruchs jener zum Kanon gerechneten Texte verwendet. Dieses Prinzip affirmativer Interpretation könnte man wie folgt formulieren: ‚Maßgebliche Texte der Überlieferung sind erst dann richtig verstanden, wenn der Interpret die mit ihnen verbundenen Geltungsansprüche hinsichtlich sachlicher Wahrheit und normativer Richtigkeit übernommen und vermeintliche Widersprüche zwischen Aussagen der Überlieferung und dem jeweiligen Weltbild des Interpreten als nicht-existent nachgewiesen hat’ (vgl. Scholz 1999: 18).60 Im Christentum gewinnt die allegorisch-apologetische Interpretationsmethode ebenfalls maßgeblichen Einfluß. Unter anderen Augustinus und Thomas von Aquin vertreten jene „Interpretationsmethode, die eine historica interpretatio und eine intelligentia spiritualis (mit den Teilen allegoria, anagoge und tropologia) 60
Ein Nebeneffekt der affirmativen Interpretation ist ein Relativismus bei der Interpretation von Texten. Da sich Weltanschauungen im Zuge naturwissenschaftlichen Fortschritts oder politischer Umwälzungen verändern, der Kanon maßgeblicher Texte üblicherweise jedoch kaum variiert, erfordert das Prinzip der affirmativen Interpretation eine dauernde Umdeutung der Überlieferung im Sinne des jeweils aktuellen Weltbildes.
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Dritter Teil
unterscheidet: Die historische Interpretation erarbeitet den unmittelbaren Wortsinn, die allegoria den Glaubensinhalt, die tropologia den moralischen Gehalt und die anagoge den himmlischen, eschatologischen Schriftsinn“ (Gatzemeier 1984: 274). Dabei sind Glaube und die Liebe zu Gott und dem Nächsten sowohl Schriftsinn als auch Verstehensbedingung und Verstehenskriterium: Caritas gilt als Voraussetzung einer sinnvollen Bibelauslegung61, und verstanden hat die heilige Schrift nach Augustinus nur derjenige, der durch das Schriftstudium caritas aufbaut: „Wer also die ganzen heiligen Schriften oder wenigstens irgendeinen Teil davon verstanden zu haben glaubt, dabei aber doch durch dieses Verständnis jene Doppelliebe zu Gott und zum Mitmenschen nicht auferbaut, der hat sie noch nicht verstanden“ (Augustinus 1925: 43).
Mit Scholz kann demnach in der caritas des Augustinus ein „theologisch und moralisch begründete[s] Prinzip der wohlwollenden Interpretation“ (Scholz 1999: 31) bei der Deutung von Bibelstellen gesehen werden, das wiederum den Wahrheits- und Geltungsanspruch der zu deutenden Schrift und des in ihr verkündeten Glaubens dogmatisch voraussetzt. Das Prinzip der wohlwollenden Interpretation verliert erst allmählich seinen dogmatischen Hintergrund. Während es auch bei Abälard noch in Form der caritas erscheint, „die alles glaubt, alles hofft, alles erträgt und nicht schnell Fehler bei denen vermutet, die sie liebend umschließt“ (Scholz 1999: 33), kann mit Beginn der Neuzeit von einer hermeneutischen Wende gesprochen werden, insofern nunmehr die Historisierung der Bibel einsetzt und nicht mehr der Glaube, sondern „die Vernunft als einzige Auslegungsnorm fungiert“ (Veraart u. Wimmer 1984: 87). Bereits die frühe protestantische Bibelauslegung ist dadurch gekennzeichnet, daß sie die Theorie des vierfachen Schriftsinns kritisiert und den wörtlichen Schriftsinn rehabilitiert. So bedient sich etwa Luther nur noch gelegentlich der allegorischen Interpretation und erkennt den Wortsinn als ausschlaggebend an (vgl. Loewenich 1954: 16).
3.2.2
Wohlwollende Interpretation im 17. und 18. Jahrhundert
Konnte das Prinzip des Wohlwollens in Antike und Mittelalter als Unterstellung der Richtigkeit eines autoritativen Geltungsanspruchs aufgefaßt werden, der im Falle von Kritik durch allegorisierende Deutungen aufrechterhalten werden mußte, so beinhaltet das Prinzip wohlwollender Interpretation im 17. Jahrhundert zwar auch eine Vollkommenheitsunterstellung gegenüber dem Autor, aller61 „So sollen auch wir in der Liebe gewurzelt und begründet sein, um mit allen Heiligen begreifen zu können, welches da sei die Breite und Länge und Höhe und Tiefe: das ist das Kreuz Christi“ (Augustinus 1925: 106).
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dings eine, die sich auf dessen vernünftigen und klugen Gebrauch von Zeichen stützt und den wörtlichen Sinn als gemeinten Sinn ernst nimmt. „Der Sinn einer von einem weisen und guten Autor vorgebrachten Rede“, so der Straßburger Theologe und Philosoph J.C. Dannhauer, der als einer der ersten die Wichtigkeit einer allgemeinen Hermeneutik hervorgehoben hat (vgl. Bühler/Cataldi Madonna 1996: XXIV), könne nur „ein wahrer und vom Autor beabsichtigter“ Sinn sein (vgl. ebd.). Wohlwollen bzw. Billigkeit gegenüber einem Autor bedeutet hier, diesem Autor intellektuelle Kompetenz und seiner Rede einen von ihm beabsichtigten und wahren Sinn zu unterstellen. Innerhalb einer solchen Konzeption ist es nur schlüssig, daß Dannhauer dem wörtlichen, vom Autor intendierten Sinn die zentrale Rolle zuerkennt (vgl. Bühler/Cataldi Madonna 1996: XXV). Entgegen der früher vorherrschenden, von Schleiermacher, Dilthey und später von Gadamer propagierten Lehrmeinung bemühte sich bereits eine Vielzahl von Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts darum, eine allgemeine Hermeneutik (hermeneutica generalis) zu begründen.62 Als epochemachendes Werk gilt in der Wissenschaftshistoriographie Dannhauers Schrift „Idea Boni Interpretis“ von 1630. Im Anschluß an Dannhauer und von diesem geprägt unternahm Johann Clauberg in seiner 1654 erschienenen „Logica Vetus et Nova“ den Versuch einer Grundlegung der Hermeneutik. Bemerkenswert ist – sowohl bei Dannhauer als auch bei Clauberg – die Zuordnung der Hermeneutik zur Logik im Sinne einer allgemeinen Methodologie, zu der dann auch die Kunstlehre des Verstehens zu rechnen sei. Wichtiger als die Frage nach Fächergrenzen und Zuordnungen erscheint die Ausgestaltung der Hermeneutik als Wissenschaft: ihre Zielsetzung und die Begründung ihrer Regeln. Hier zeigt sich nun bei den maßgeblichen Vertretern der klassischen Hermeneutik, Dannhauer und Clauberg, eine ebenso einfache wie wegweisende Konzeption des Verstehens, die explizit Bezug nimmt auf Kausalerklärungen sowie auf die Analyse von Zweck-MittelRelationen. Als Ziel der Hermeneutik wird „die Rekonstruktion der vom Autor einer Rede intendierten Bedeutung“ (Alexander 1993: 66 f.) angesehen, die hermeneutischen Regeln gelten als Mittel, die zu dem vorgegebenen Ziel führen. Dannhauer leitet die Regeln aus der Analyse der Ursachen von Verständnisschwierigkeiten her und teilt seine Hermeneutik, nach dem Vorbild der Medizin, in drei Teile: die Prinzipien gelungenen Verstehens (Physiologie), die Ursachen des Mißverstehens (Pathologie) und schließlich, darauf aufbauend, die Regeln zur Beseitigung dieser Ursachen (Therapie) (vgl. Alexander 1993: 63). Clauberg bemüht sich, die hermeneutischen Regeln direkt aus dem kausalen Verhältnis der Mittel des Verstehens zu ihrem Zweck herzuleiten – ohne den Umweg über eine „Pathologie“ des Verstehens (vgl. Alexander 1993: 67). Beiden Begründern der klassischen Hermeneutik ist die Erkenntnis gemein, daß rekonstruktives Verstehen als eine Form kausalen Erklärens aufgefaßt werden muß und sich die 62 Im folgenden sollen diese Versuche der Begründung einer allgemeinen Hermeneutik im 17. und 18. Jahrhundert unter dem Begriff „klassische Hermeneutik“ zusammengefaßt werden.
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hermeneutischen Regeln allein dadurch rechtfertigen lassen, wirksame Mittel für den gegebenen Erkenntniszweck, die Ermittlung der Autorenintention, zu sein. Christian Thomasius, der „wohl als erster die Thematik einer allgemeinen Hermeneutik in der deutschen Sprache behandelt“ (Bühler/Cataldi Madonna 1996: XXVII), unternahm 1691 in seinem Werk „Ausübung der Vernunftlehre“ den Versuch, die Vielfalt hermeneutischer Regeln auf einige zentrale zu reduzieren. Er stellte fünf Regeln der Interpretation auf, die bereits ein implizites Billigkeitsprinzip enthalten. Ein Interpret solle sich erstens mit den persönlichen Umständen eines Autors vertraut machen und zweitens bei der Interpretation Absichten des Autors berücksichtigen, „drittens sei zu berücksichtigen, was ein Autor zuvor, hernach und an anderer Stelle geschrieben habe [...]. Viertens sei immer die vernünftige der unvernünftigen Auslegung vorzuziehen. Und fünftens sei diejenige Interpretation zu wählen, die das Handeln des Autors begründet erscheinen lasse“ (Bühler/Cataldi Madonna 1996: XXVIII f.). So schreibt Thomasius in dem Kapitel „Von der Geschicklichkeit, andere zu verstehen“: „Betrachte das vorhergehende und nachfolgende/oder was ein Autor anderswo geschrieben hat mit Fleiß/so wirstu seine Meinung desto besser verstehen. Denn man muthmasset nicht unbillig/daß ein Autor dasjenige/von dem er einmahl zu reden angefangen/allezeit in seinen folgenden Reden für Augen habe [...]. So muthmasset man auch nicht leichte/daß ein Autor seiner vorigen Meinung werde widersprechen und sich contradicieren“ (Thomasius 1691/1998: 184 f.).
Die angeführten Regeln der Interpretation enthalten insofern bereits ein implizites Billigkeitsprinzip, als sie einem Autor Einheitlichkeit, Widerspruchsfreiheit und Zweckrationalität beim Einsatz der zum Erreichen seines Vorhabens dienenden Mittel unterstellen. Explizit wird die wohlwollende Interpretation von Georg Friedrich Meier in dessen „Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst“ zum zentralen Prinzip der Hermeneutik erklärt sowie ausführlich dargelegt und begründet. Meier unterscheidet die hermeneutische Billigkeit gegenüber Gott bei der Deutung natürlicher Zeichen und die Billigkeit bei der Auslegung willkürlicher, vom Menschen gesetzter Zeichen. Billigkeit bei der Auslegung der Zeichen menschlicher Autoren bestehe darin, „diejenige Bedeutung für hermeneutisch richtig [zu] halten, welche mit den Vollkommenheiten des Urhebers derselben am besten übereinstimmt, bis das Gegenteil erhellet“ (Meier 1756/1996: 37). Zu den unterstellten Vollkommenheiten des Autors rechnet Meier „die Fruchtbarkeit seines Kopfes“, die „Größe seines Gemüts“, die „Wahrhaftigkeit“, die „Verständlichkeit“, die „Gründlichkeit“, die Auswahl von Zeichen, die „praktisch“ sind und die Orientierung des Autors am allgemeinen „Bezeichnungsgebrauch“ (Meier 1756/1996: 38). Nach Meier entspricht es also hermeneutischer Billigkeit, jene Bedeutungen für wahr zu halten, die sich mit der Annahme am besten vereinen lassen, der Autor sei verständlich und bediene sich des allgemeinen Bezeichnungsgebrauchs.
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Der Passus „bis das Gegenteil erhellet“ zeigt an, daß Meier nicht dogmatisch die Wahrheit der Autorenrede voraussetzt. Vielmehr können Indizien darauf hindeuten, daß im Einzelfall die allgemeinen Billigkeitsannahmen eingeschränkt werden müssen. Allerdings wäre es nach Meier unbillig, Vollkommenheitsannahmen ohne hinreichende Indizien einzuschränken und darauf eine Interpretation aufzubauen: „Die Unbilligkeit eines Auslegers (iniquitas interpretis) ist die Neigung desselben, diejenige Bedeutung für hermeneutisch wahr zu halten, welche mit den Vollkommenheiten des Urhebers schlecht übereinstimmt, obgleich ihre Unrichtigkeit erwiesen werden kann. Ein unbilliger Ausleger irrt nicht nur auf eine hermeneutische Art, sondern handelt auch aus Haß gegen den Urheber der Zeichen, weil er ohne überwiegende Beweisgründe eine Bedeutung für hermeneutisch wahr hält, welche ein Beweis der Unvollkommenheiten des Urhebers der Zeichen ist. [...] Alle unbillige Auslegung ist falsch und den Regeln der Sittenlehre zuwider“ (Meier 1756/1996: 36).
Billigkeit erscheint hier als ethisches Postulat: Es gelte, dem Autor und seiner Rede positiv gegenüberzutreten, „Haß gegen den Urheber der Zeichen“ führe nicht nur zu einer falschen Deutung, sondern sei geradezu unsittlich. Billig ist es nach Meier, daß ein Interpret die Zeichen, die er interpretiert, als klug ausgewählt erachtet. Ein Ausleger versuche es noch nicht einmal, „willkürliche Zeichen auszulegen, die töricht erwählt sind – es müßte denn erst durch die versuchte Auslegung erhellen, daß sie töricht erwählt sind“ (Meier 1756/1996: 34). „Klüglich erwählte Zeichen“ sind nach Meier dadurch gekennzeichnet, daß sie sich zur beabsichtigten Bedeutung als „geschickte Mittel“ erweisen (Meier 1756/1996: 33). Unterstellt der Interpret dem Autor also Klugheit als ein wesentliches Moment seiner Vollkommenheit, so unterstellt er ihm Geschicktheit in der Wahl der Zeichen, die auf „Einsicht des Zusammenhangs der Zwecke und Mittel“ (Meier 1756/1996: 15) beruht, was nichts anderes bedeutet, als daß dem Autor Rationalität in der Wahl seiner Mittel unterstellt wird. Eine in diesem Sinne verstandene Zweckrationalität ist also ein wesentliches Moment des Meierschen Billigkeitsprinzips. Billigkeit gegenüber einem Autor bedeutet bei Meier zum einen, diesem Autor kognitive Kompetenzen (Zweckrationalität, Klarheit, Gründlichkeit etc.) zuzuschreiben. Darüber hinaus sei es billig, dem Autor Tugendhaftigkeit in einem moralischen Sinne zu unterstellen, „bis das Gegenteil erhellet“: „Ein Ausleger willkürlicher Zeichen muß bei der Auslegung solcher Zeichen diejenigen Bedeutungen für wahr halten, welche mit den Vollkommenheiten der Erkenntnisund Begehrungskräfte des Urhebers der Zeichen am besten übereinstimmen, bis das Gegenteil erhellet. Folglich zieht er bei der Auslegung willkürlicher Zeichen die Bedeutungen, welche logisch und metaphysisch wahr und gewiß sind, denjenigen vor, welche logisch und metaphysisch falsch und ungewiß sind, die klaren den dunklen, die lebhaften und deutlichen den trockenen und verworrenen, die tugendhaften den lasterhaften, die gottseligen den gottlosen, die ehrbaren den unehrbaren, die gerechten
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Dritter Teil
den ungerechten, die billigen den unbilligen, die keuschen den unkeuschen u.s.w., bis das Gegenteil erhellet“ (Meier 1756/1996: 41).
Bei Meier beinhaltet das interpretatorische Prinzip des Wohlwollens moralische und kognitive Vollkommenheitsunterstellungen, und es ist in einen theologischen Kontext eingebettet. Die Diskussion um interpretatorische Billigkeit in der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts begreift Verstehen ebenfalls als vernunftgeleiteten, rationalen Prozeß, verzichtet allerdings auf zusätzliche moralische und theologische Kontextualisierung.63
3.2.3
Allgemeine Hermeneutik im 19. und 20. Jahrhundert
Bei der klassischen Hermeneutik des 17. und 18. Jahrhunderts handelte es sich um eine Hilfswissenschaft64 für all jene Disziplinen, die auf die Auslegung von Texten angewiesen sind; ursprünglich neben der Theologie vor allem die Philologie und die Jurisprudenz. Auch die Zielsetzung der klassischen Hermeneutik war vergleichsweise bescheiden: Das Erkenntnisziel bestand vor allem darin, den vom Autor intendierten Sinn des Textes zu ermitteln.65 Hierzu bediente man sich der Hermeneutik als einer Kunstlehre des Verstehens. Analog zu einer handwerklichen Kunst geht es hierbei um ein mehr oder weniger systematisiertes Regelwerk, welches das Handeln im Hinblick auf einen gegebenen Zweck anleitet. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, daß die Regeln einer derartigen Kunstlehre auf die Erkenntnis von Zweck-Mittel-Relationen und damit auf nomologisches Wissen angewiesen sind, so daß es sachlich gerechtfertigt ist, ebenso von einer „Technologie“ oder einer „Methode“ des Verstehens zu sprechen. Dies meint aber keinesfalls, daß ein regelgeleitetes Verstehen „mechanistisch“ oder „automatenhaft“ verläuft, die produktive Anwendung einer wissenschaftlichen Methode bedarf stets der schöpferischen Phantasie des Forschenden. Der klassischen Hermeneutik war es eine Selbstverständlichkeit, daß ein „bonus interpres“ sowohl Erfindungsgabe (ingenium) als auch Urteilsvermögen (iudicium) besitzen müsse; ersteres, um eine Vielfalt von Deutungshypothesen zu ersinnen, letzteres, um diese „Muthmassungen“ kritisch zu prüfen und die „wahrscheinlichste“ zu wählen (vgl. Scholz 1994: 15). Es hat sich jedoch seit 63
Vgl. ausführlicher hierzu Bühler 1995. Diese Bezeichnung soll die Relevanz der klassischen Hermeneutik nicht schmälern, als Hilfswissenschaft war sie für eine Reihe von Fächern unverzichtbar. Außerdem meint die Rede von einer Hilfswissenschaft keineswegs, daß es sich hier allein um belanglose Spezialhermeneutiken handelt. Wie im letzten Abschnitt beschrieben, hatte bereits die klassische Hermeneutik das Ziel, universelle Auslegungsregeln zu formulieren, die für die Interpretation jeglicher Schriftgattung geeignet sind (vgl. Alexander 1993). 65 Dies gilt selbstverständlich nicht für die juristische Interpretation, bei der die Anwendung von gegebenem Recht im Vordergrund steht. 64
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Schleiermacher und Dilthey eingebürgert, ein Zerrbild der „Regelhermeneutik“ zu entwerfen, die einen bloßen Formalismus darstelle, in dem die Auslegung zur mechanischen Tätigkeit innerhalb einer Spezialdisziplin verkomme (vgl. Alexander 1993: 6). Was die Behauptung Schleiermachers angeht, die Hermeneutik vor ihm sei lediglich eine recht belanglose Spezialhermeneutik und ein unbegründetes „Aggregat von Observationen“ (Schleiermacher 1993: 92), so muß dieses einflußreiche Urteil wohl auf eine verblüffende Unkenntnis Schleiermachers zurückgeführt werden; eine Ignoranz, die heutige Wissenschaftshistoriker in Erstaunen setzt. Angesichts der weiten Verbreitung allgemeiner Auslegungslehren im 17. und 18. Jahrhundert spricht etwa Oliver Scholz (im Anschluß an Wolfgang Hübener) von einer durch Schleiermacher inszenierten „‚Erstmaligkeits-Emphase’, über die man sich rückblickend nur wundern kann“ (Scholz 1994: 7). Nach der Durchsicht bekannter zeitgenössischer Nachschlagewerke zieht Scholz folgendes Fazit: „Für unsere abschließenden Bemerkungen können wir auf die eingangs gestellte Frage zurückkommen, wie schwer es für einen hermeneutisch oder hermeneutikgeschichtlich Interessierten gewesen wäre, sich über die Hermeneutik des 17. und 18. Jahrhunderts ins Bild zu setzen. Die Antwort kann auch nach den wenigen stichprobenartigen Ermittlungen nicht mehr zweifelhaft sein: Es wäre kinderleicht gewesen! Schon mit bescheidenstem Aufwand und mit den spärlichsten Vorkenntnissen hätte man in einer mittelmäßig ausgestatteten Bibliothek an einem Nachmittag bequem das Erste und Nötigste über die allgemeine Hermeneutik des 17. und 18. Jahrhunderts in Erfahrung bringen können. [...] Warum versäumten Gelehrte wie Schleiermacher, Dilthey, Wach, Ebeling und viele andere es, so etwas zu unternehmen? Oder vermuten wir falsch und sie unterzogen sich dieser kleinen Mühe? Dies einmal angenommen – wie erklären sich dann Urteile wie der berühmte Auftakt der Schleiermacherschen Hermeneutik, demzufolge es ‚nur mehrere spezielle Hermeneutiken’ gebe, oder das Diltheys, erst durch die glückliche Mischung der Anlagen und Talente Schleichermachers (sic!) sei ‚die allgemeine Wissenschaft und Kunstlehre der Auslegung’ entstanden, ja sie habe nur so und erst dann entstehen können“ (Scholz: S. 24 f.).
Der Hermeneutikhistoriographie, so Scholz weiter, verbleiben allein die beiden gleichermaßen unbequemen Optionen, „entweder von erstaunlicher Unkenntnis oder von einem mangelhaften Urteilsvermögen auszugehen“ (ebd.). Mag dies für Schleiermacher und manche anderen Autoren tatsächlich gelten, so sollte man nicht verkennen, daß die Geringschätzung der klassischen Hermeneutik womöglich auch auf anderen Gründen beruht als bloßer Unkenntnis oder fehlender Urteilskraft: auf einer allmählichen Abwendung vom Modell der Hermeneutik als Kunstlehre regelgeleiteten Verstehens. Gadamer deutet dies an, wenn er schreibt: „Die Ausbildung einer Wissenschaft der Hermeneutik, wie sie von Schleiermacher in der Auseinandersetzung mit den Philologen F.A. Wolf und F. Ast und in Fortbildung der theologischen Hermeneutik Ernestis geleistet wurde, ist also nicht einfach nur ein
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Dritter Teil
weiterer Schritt in der Geschichte der Kunst des Verstehens selbst. An sich ist die Geschichte des Verstehens schon seit den Tagen der antiken Philologie von theoretischer Reflexion begleitet. Aber diese Reflexionen haben den Charakter einer ‚Kunstlehre’, d.h. sie wollen der Kunst des Verstehens dienen, wie etwa Rhetorik der Redekunst, die Poetik der Dichtkunst und ihrer Beurteilung dienen wollen. In diesem Sinne war auch die theologische Hermeneutik der Patristik und die der Reformation eine Kunstlehre. Jetzt aber wird das Verstehen als solches zum Problem gemacht. Die Allgemeinheit dieses Problems bezeugt, daß das Verstehen in einem neuen Sinne zur Aufgabe geworden ist, und damit erhält auch die theologische Reflexion einen neuen Sinn. Sie ist nicht mehr eine Kunstlehre, die der Praxis des Philologen oder der Praxis des Theologen dient. Schleiermacher nennt seine Hermeneutik zwar schließlich auch ‚Kunstlehre’, aber in einem ganz anderen systematischen Sinn. Er sucht die theoretische Begründung des den Theologen und Philologen gemeinsamen Verfahrens zu gewinnen, indem er hinter beider Anliegen auf ein ursprünglicheres Verhältnis des Verstehens von Gedanken zurückgeht“ (Gadamer 1960/1986).
Was sich für Gadamer bei Schleiermacher abzeichnet, ist die beginnende Zurückdrängung des ursprünglichen Gedankens einer Methode des Verstehens und dessen Überlagerung und schließliche Substitution durch eine rein philosophische Hermeneutik, als deren Höhe- und Schlußpunkt Heidegger und Gadamer selbst im hellen Licht erstrahlen. Ob diese Entwicklung nun einen Erkenntnisfortschritt darstellt, das ist allerdings die Frage – und man kann sie mit guten Gründen verneinen (vgl. Bühler 1998)66. Außerdem bleibt es zweifelhaft, in welchem Ausmaß bei Schleiermacher und Dilthey tatsächlich, über die „Erstmaligkeits-Emphase“ hinaus, ein grundlegender Bruch mit der früheren Tradition erfolgte. Immerhin plädieren beide Autoren für eine Kunstlehre regelgeleiteten Verstehens. In einer neueren Arbeit stellt Scholz die These auf, der „Schleiermacher-Legende“, die diesen Autor als fälschlich als Begründer der allgemeinen Hermeneutik auszeichnet, entsprächen diverse Spiegelbild-Legenden über die Hermeneutik vor Schleiermacher (Scholz 2001: 168). Unter anderem sind damit die Behauptungen gemeint, vor Schleiermacher habe es nur Spezialhermeneutiken gegeben, Schleiermacher habe die Hermeneutik „aus ihrer Unterordnung unter die einzelnen Fakultäten gelöst“, und die Hermeneutiken vor Schleiermacher seien „Stellenhermeneutiken“ gewesen, d.h. Verstehenslehren, denen es nur um die Interpretation schwerverständlicher Textstellen gegangen sei (ebd.). Im Gegensatz zu diesen Legenden hat sich Schleiermachers methodologische Innovation offenbar vor allem darauf bezogen, das Ziel der Hermeneutik neu bestimmt zu haben67: „Die hermeneutischen Regeln müssen mehr Methode sein, 66
Bühler setzt sich in seinem anregenden Aufsatz kritisch mit Annahmen auseinander, die in der gegenwärtigen Hermeneutik-Diskussion weit verbreitet sind; darunter auch der Behauptung, Heideggers und Gadamers Verstehensanalysen seien ein wichtiger Beitrag zur Hermeneutik (vgl. Bühler 1998: 88 ff.). 67 Da Schleiermacher kein ausgearbeitetes Hermeneutik-Lehrbuch hinterlassen hat, seine Konzeption der Hermeneutik somit erst aufgrund verschiedener Entwürfe und Vorlesungsnotizen rekonstruiert werden muß, und außerdem die Hermeneutikkonzeptionen des
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wie Schwierigkeiten zuvorzukommen, als Observationen, um solche aufzulösen“ (Schleiermacher 1993: 84). Mit dieser Auffassung hebt er sich ab von der Zielsetzung der klassischen Hermeneutik, die sich im allgemeinen auf die Aufhellung „dunkler Rede“, d.h. auf die Lösung von Problemen des Verstehens, beschränkte. Dies nun bezeichnet Schleiermacher als die „laxere Praxis in der Kunst“. Die „laxere Praxis“ gehe davon aus „daß sich das Verstehen von selbst ergibt und drückt das Ziel negativ aus: Mißverstand soll vermieden werden“ (Schleiermacher 1993: 92). Demgegenüber behauptet die „strengere Praxis“ Schleiermachers, „daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden“ (ebd.). Eine Abkehr von der Konzeption der Hermeneutik als Methode regelgeleiteten Verstehens bedeutet Schleiermachers Neuerung nicht – ein fundamentaler methodologischer Fortschritt in der Kunstlehre des Verstehens und Interpretierens läßt sich nicht erkennen. Da für Schleiermacher nur das sprachlich Produzierte als Erkenntnisgegenstand der Hermeneutik in Betracht kommt und dadurch beispielsweise die bildenden Künste ausgeschlossen werden, ist die Hermeneutik Schleiermachers in dieser Hinsicht sogar weniger allgemein als die von solchen Restriktionen des Erkenntnisgegenstands nicht betroffene klassische Hermeneutik, etwa bei G.F. Meier (vgl. Scholz 1999: 70). Auch Dilthey bekennt sich zu der Auffassung von Hermeneutik als Kunstlehre des Verstehens: „Diese Kunst der Interpretation hat sich nun ganz so allmählich, gesetzmäßig und langsam entwickelt, als etwa die der Befragung der Natur im Experiment. Sie entstand und erhält sich in der persönlichen genialen Virtuosität des Philologen. [...] Zugleich aber verfährt jede Kunst nach Regeln. Diese lehren Schwierigkeiten überwinden. Sie überliefern den Ertrag persönlicher Kunst. Daher bildete sich früh aus der Kunst der Auslegung die Darstellung ihrer Regeln. Und aus dem Widerstreit dieser Regeln, aus dem Kampf verschiedener Richtungen über die Auslegung lebenswichtiger Werke und dem so bedingten Bedürfnis, die Regeln zu begründen, entstand die hermeneutische Wissenschaft. Sie ist die Kunstlehre der Auslegung von Schriftdenkmalen“ (Dilthey 1900/1957: 320).68
Worin liegt dann aber für Dilthey die Differenz der neueren Hermeneutik seit Schleiermacher gegenüber der älteren Tradition? Dilthey gibt uns darüber eine klare Auskunft; die eigentliche Neuerung Schleiermachers sei die Begründung der Hermeneutik durch eine Analyse des Verstehens: „Die Hermeneutik war bis dahin im besten Falle ein Gebäude von Regeln gewesen, dessen Teile, die einzelnen Regeln, durch den Zweck einer allgemeingültigen Inter17. und 18. Jahrhunderts noch nicht genügend erforscht sind, scheint ein abschließende Würdigung der Eigenart der Hermeneutik Schleiermachers noch nicht möglich zu sein (vgl. Scholz 2001: 275). 68 Hervorhebungen im Original.
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pretation zusammengehalten wurden. Sie hatte die Funktionen, welche in diesem Vorgang der Interpretation zusammenwirken, als grammatische, historische, ästhetisch-rhetorische und sachliche Auslegung gesondert. Und sie hatte aus der philologischen Virtuosität vieler Jahrhunderte die Regeln zum Bewußtsein gebracht, nach welchen diese Funktionen wirken müssen. Hinter diese Regeln ging nun Schleiermacher zurück auf die Analysis des Verstehens, also auf die Erkenntnis dieser Zweckhandlung selber, und aus dieser Erkenntnis leitete er die Möglichkeit allgemeingültiger Auslegung, deren Hilfsmittel, Grenzen und Regeln ab“ (Dilthey 1900/1957: 327).
Erst durch die Verbindung von philologischer Virtuosität und philosophischer Genialität in Schleiermachers Geiste, so die überschwengliche Laudatio Diltheys, seien die Voraussetzungen für die Grundlegung der Hermeneutik als allgemeiner Wissenschaft und Kunstlehre der Auslegung geschaffen worden (vgl. Dilthey 1900/1957: 329). In eigentümlichem Kontrast zur ‚ErstmaligkeitsEmphase’ und dem Begründungspathos steht die traditionelle humanistische Verstehens-Theorie, die Dilthey im Anschluß an Schleiermacher vorbringt: „Die Möglichkeit der allgemeingültigen Interpretation kann aus der Natur des Verstehens abgeleitet werden. In diesem stehen sich die Individualität des Auslegers und die seines Autors nicht als zwei unvergleichbare Tatsachen gegenüber: auf der Grundlage der allgemeinen Menschennatur haben sich beide gebildet, und hierdurch wird die Gemeinschaftlichkeit der Menschen untereinander für Rede und Verständnis ermöglicht. Hier können die formelhaften Ausdrücke Schleiermachers psychologisch weiter aufgeklärt werden. Alle individuellen Unterschiede sind letztlich nicht durch qualitative Verschiedenheiten der Personen voneinander, sondern nur durch Gradunterschiede ihrer Seelenvorgänge bedingt. Indem nun aber der Ausleger seine eigne Lebendigkeit gleichsam probierend in ein historisches Milieu versetzt, vermag er von hier aus momentan die einen Seelenvorgänge zu betonen und zu verstärken, die anderen zurücktreten zu lassen und so eine Nachbildung fremden Lebens in sich herbeizuführen“ (Dilthey 1900/1957: 329 f.).
Diese Form von verstehendem Nachvollzug hatte Karl Popper vor Augen, als er sich radikal von jeglicher subjektiver Hermeneutik distanzierte. In der Tat lassen sich gegen Diltheys Versuch einer Grundlegung der Hermeneutik als Wissenschaft verschiedene Argumente anführen: Zum einen handelt es sich bei dem Verstehen aufgrund der „allgemeinen Menschennatur“ allenfalls um heuristische Voraussetzungen des regelgeleiteten Verstehens, nicht aber um eine „Begründung“ des Regelwerks. Nehmen wir mit Dilthey an, daß der Autor und sein Interpret bis zu einem gewissen Grad ähnliche psychische Dispositionen besitzen, so kann dies für den Ausleger bei der Bildung von Deutungshypothesen tatsächlich hilfreich sein – es liefert aber weder eine Legitimation der Deutung noch einen Ersatz für ein textbezogenes Prüfungsverfahren und natürlich auch keine „Begründung“ eines solchen Verfahrens. In welchem Maße das Seelenleben des Interpreten übereinstimmt mit dem des Autors mag relevant sein für die zeitliche Dauer, die es erfordert, um durch eine kritische Prüfung und Korrektur der vorgebrachten Deutungen allmählich zu einer adäquaten Textaus-
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legung zu kommen – ein eigenständiges Kriterium für die Qualität einer Interpretation liegt darin indes nicht. Dem einen Ausleger wird es leichter fallen als dem anderen, sich „in den Autor hineinzuversetzen“, doch das ist methodologisch irrelevant. Zweitens führen uns die Metaphern des „Hineinversetzens“ und „Nachvollziehens“ ein wenig in die Irre. Interpretation bedeutet eben nicht: ein subjektives Nachbilden und Nacherleben fremder Seelentätigkeit. Dasselbe zu fühlen, was der Autor empfand und dessen Lebensbedingungen gleichsam in der eigenen Psyche zu reproduzieren, ist ein unerreichbares Ziel und der dies fordernde Grundsatz daher substanzlos. Allenfalls kann das subjektive Nachvollziehen dazu führen, daß wir uns die Situation des Autors vergegenwärtigen und dadurch (vielleicht) Ähnliches empfinden wie er selbst. Doch ob der vom sich „hineinversetzenden“ Interpreten empfundene Gemütszustand tatsächlich den Gefühlen des Autors ähnelt – und wenn ja: in welchem Grade –, können wir nicht wissen. Es gibt keine zuverlässige Methode, dies herauszufinden. Glücklicherweise müssen wir aber gar nicht erst zu dem anderen Menschen werden, um ihn verstehen zu können. Weiterhin sind wir in der Lage, auch uns fremdartig erscheinende Äußerungen und Handlungen zu verstehen, sofern wir fähig sind, ihre ursächlichen Bedingungen zu rekonstruieren. Wer von sich sagt, er könne ein ihn befremdendes Verhalten nicht verstehen, möchte damit im allgemeinen nur seine emotionale Distanz oder moralischen Abscheu bekunden und keineswegs Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit behaupten. Das rekonstruierende Verstehen bleibt möglich, denn Verstehen heißt nicht Einverständnis. Drittens ist die humanistische Idee einer allgemeinen Menschennatur, welche die Voraussetzung für gegenseitiges Verstehen sei, alles andere als eine neue und originelle Schöpfung der Hermeneutik Schleiermachers und Diltheys. Sie findet sich gerade in der klassischen Hermeneutik, so daß der Anspruch, mit Hilfe dieser Idee die Voraussetzungen des Verstehens ermittelt und damit die Hermeneutik als Wissenschaft im Gegensatz zu dem früheren „Aggregat von Observationen“ begründet zu haben, geradezu grotesk erscheint. Insgesamt bleibt festzuhalten, daß die Hermeneutik Schleiermachers und Diltheys noch weitgehend in der klassischen Tradition einer Kunstlehre des Verstehens verbleibt. Erst Martin Heidegger unternimmt in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts eine grundsätzliche Neubestimmung der Hermeneutik, die er als „fundamentalontologische Wende“ verstanden wissen will. Diese Wende vollzieht er bereits im Sommersemester 1923 mit seiner Vorlesung „Ontologie (Hermeneutik der Faktizität)“, die seinen damaligen Studenten Hans-Georg Gadamer maßgeblich beeinflußte. Heidegger distanziert sich ausdrücklich von einer Kunstlehre des Verstehens und grenzt sich dabei auch von Schleiermachers „formaler Methodo-
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Dritter Teil
logie“ ab.69 Seine „fundamentalontologische Wende“, die er bereits durch den Titel der Vorlesung zum Ausdruck bringt, kennzeichnet er wie folgt: „Im Titel der folgenden Untersuchung ist Hermeneutik nicht in der modernen Bedeutung und überhaupt nicht als noch so weit gefaßte Lehre von der Auslegung gebraucht. Der Terminus besagt vielmehr im Anschluß an seine ursprüngliche Bedeutung: eine bestimmte Einheit des Vollzugs des hermeneuein (des Mitteilens), d.h. des zu Begegnung, Sicht, Griff und Begriff bringenden Auslegens der Faktizität. [...] Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein“ (Heidegger 1923/1988: 14 f.).
Hermeneutik soll also keine Auslegung von Rede und Text mehr sein, sondern ein „Sich-Selbstverstehen“ (oder auch: eine „existenziale Analytik des Daseins“), das jeder Beschäftigung mit den Wissenschaften vorangehe und in einem transzendentalphilosophischen Sinne „vorrangig“ sei. Wie man auch immer diese Fundamentalontologie Heideggerscher Provenienz beurteilen mag, muß – durchaus im Einklang mit Heideggers eigenem Erkenntnisanspruch – festgestellt werden, daß sie nichts beitragen kann und nichts beitragen will zu einer Hermeneutik als Methode des Verstehens und Interpretierens. In Heideggers Nachfolge lehnt auch Hans-Georg Gadamer die Hermeneutik als Kunstlehre bzw. Methode des Verstehens und Interpretierens ab. Trotz seiner Opposition gegenüber dem Methodendenken moderner Wissenschaft formuliert er ein allgemeines Verstehensprinzip: den „Vorgriff der Vollkommenheit“: „Der Sinn dieses Zirkels, der allem Verstehen zugrunde liegt, hat aber eine weitere hermeneutische Konsequenz, die ich den ‚Vorgriff der Vollkommenheit’ nennen möchte. Auch das ist offenbar eine formale Voraussetzung, die alles Verstehen leitet. Sie besagt, daß nur das verständlich ist, was wirklich eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt. So machen wir denn diese Voraussetzung der Vollkommenheit immer, wenn wir einen Text lesen, und erst wenn diese Voraussetzung sich als unzureichend erweist, d.h. der Text nicht verständlich wird, zweifeln wir an der Überlieferung und suchen zu erraten, wie sie zu heilen ist“ (Gadamer 1960: 299)
Neben dieser Forderung, das zu Verstehende als „vollkommene Einheit von Sinn“ zu behandeln, soll auch die Wahrheit des Textes unterstellt werden: „Das Vorurteil der Vollkommenheit enthält also nicht nur dies Formale, daß ein Text seine Meinung vollkommen aussprechen soll, sondern auch, daß das, was er sagt, die vollkommene Wahrheit ist“ (ebd.). Dieser Vorgriff der Vollkommenheit, der hier von Gadamer auch als „Vorurteil“ bezeichnet wird, scheint eine 69 „Schleiermacher hat dann die umfassend und lebendig gesehene Idee der Hermeneutik (vgl. Augustin!) eingeschränkt auf eine ‚Kunst (Kunstlehre) des Verstehens’ der Rede eines anderen“ (Heidegger 1923/1988: 13).
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starke Wahrheits- und Rationalitätspräsumtion darzustellen, ein Prinzip wohlwollender Interpretation, allerdings ohne Bezug auf die ältere Tradition oder auf die gleichzeitige Diskussion innerhalb der analytischen Philosophie und in einer Form, die aufgrund ihrer Vagheit keinen Fortschritt gegenüber früheren Formulierungen darstellt.70 Als Abschluß der kurzen Geschichte wohlwollender Interpretation möchte ich noch auf die Wiederentdeckung hermeneutischer „Caritas“ in der analytischen Philosophie eingehen. Es soll und kann an dieser Stelle kein vollständiger philosophiehistorischer Überblick über das principle of charity gegeben, sondern lediglich aufgezeigt werden, daß die vielfältigen Formen von CharityPrinzipien, die sich in der analytischen Philosophie finden, in der klassischhermeneutischen Tradition wohlwollender Interpretation stehen. Eingeführt wurde der Ausdruck „principle of charity“ in dem Aufsatz „Substances without Substrata“ von Neil L. Wilson aus dem Jahre 195971. Diese Einführung von charity bei der Interpretation kann man aufgrund der bereits skizzierten hermeneutischen Tradition als eine Wiedereinführung bezeichnen, obwohl Wilson sich dieser Tradition allem Anschein nach nicht bewußt war (vgl. Scholz 1999: 89). Handelt es sich bei dem Ausdruck „charity“ aber womöglich nur um eine terminologische Ähnlichkeit mit dem Prinzip wohlwollender Interpretation? – Tatsächlich muß man bei Wilsons Konzeption des Charity-Prinzips bemerken, daß es sich um kein allgemeines Verstehensprinzip handelt, sondern um ein Prinzip der Wahrheitsmaximierung bei der Interpretation singulärer Termini (vgl. Scholz 1999: 88 ff). In dem Aufsatz untersucht Wilson „the nature of individuals“ (Wilson 1959: 521), genauer gesagt, er beschäftigt sich mit dem Problem, wie man herausfinden kann, welche Bedeutung ein Sprecher den Eigennamen gibt, die er in den von ihm gesprochenen Sätzen verwendet. Seine Lösung besteht – kurz zusammengefaßt – darin, daß dem Sprecher diejenige Bedeutung des Eigennamens unterstellt werden sollte, bei der die größtmögliche Menge von Sätzen, die der Sprecher unter Verwendung des besagten Eigennamens formuliert, wahr ist. Indem wir so handeln, wenden wir ein Prinzip wohlwollender Interpretation an: „And so we act on what might be called the Principle of Charity“ (Wilson 1959: 532). Es handelt sich demnach um eine Art Wahrheitspräsumtion, wenngleich im Rahmen der Behandlung eines sprachphilosophischen Spezialproblems. Quine und Davidson gehen in ihren Formulierungen von Charity-Prinzipien bekanntlich weit darüber hinaus. Im Rahmen seiner Konzeption der Erstübersetzung und im Zusammenhang mit der Zurückweisung von Lévy-Bruhls These
70
Zur Kritik an der Hermeneutikkonzeption Gadamers vgl. Holweg 1999. Der Aufsatz basiert auf einem bereits im Jahre 1958 bei einem Treffen der „Eastern Division of the American Philosophical Association“ gehaltenen Vortrag (vgl. Wilson 1959: 521).
71
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der „prälogischen Mentalität“ bestimmter Eingeborenen-Kulturen72 formulierte Quine das Prinzip, fremde Sprachen so zu übersetzen, daß offenkundige logische Widersprüche in den übersetzten Äußerungen vermieden werden. In der Übersetzung müsse unterstellt werden, daß für die fremde Sprache dieselben logischen Gesetze gelten wie in unserer eigenen Sprache. Weiterhin müsse man den Sprechern dieser Sprache möglichst wenige offensichtlich falsche oder widersprüchliche Meinungen zuschreiben. Quine verweist in „Wort und Gegenstand“ mit einer Fußnote auf Wilsons Prinzip der Nachsichtigkeit, geht aber weit über Wilson hinaus, indem er das Prinzip wie folgt ausführt: „Die Übersetzungsmaxime, die all dem zugrunde liegt, ist, daß Behauptungen, die oberflächlich auffällig falsch sind, auf verborgenen Unterschieden der Sprache beruhen. [...] Die durchaus vernünftige Annahme, die hinter dieser Maxime steckt, ist, daß die Dummheit des Gesprächspartners über einen bestimmten Punkt hinaus weniger wahrscheinlich ist als eine schlechte Übersetzung oder – im einzelsprachlichen Fall – abweichendes Sprachverhalten“ (Quine 1960/1987: 114 f.).
Man kann das Charity-Prinzip bei Quine durchaus als eine allgemeine Wahrheits- und Rationalitätspräsumtion anzusehen, allerdings sollen diese Präsumtionen offenbar empirisch prüfbare Hypothesen darstellen, die mit einer gewissen „Wahrscheinlichkeit“ gelten. Auch bei Donald Davidson ist das Charity-Prinzip im wesentlichen eine allgemeine Wahrheits- sowie Rationalitätspräsumtion. Im Zusammenhang mit seiner Theorie der Erstinterpretation und seiner Suche nach einer Wahrheitstheorie für die zu interpretierende Sprache stellt er verschiedene Prinzipien auf, in denen einerseits den Sprechern einer Sprache die Wahrheit der von ihnen für wahr gehaltenen Sätze zugebilligt (vgl. Davidson 1984/1985: 152)73 und andererseits die Konsistenz der Äußerungen der Sprechern unterstellt wird (vgl. Davidson 1984/1985: 27): „Charity in interpreting the words and thoughts of others is unavoidable [...]: just as we must maximize agreement, or risk not making sense of what the alien is talking about, so we must maximize the self-consistency we attribute to him, on pain of not understanding him“ (ebd.). In einem späteren Aufsatz („Three Varieties of Knowledge“, 1991b) unterscheidet Davidson zwei Arten von Charity-Prinzipien: das Prinzip der Kohärenz sowie das Prinzip der Korrespondenz (vgl. Scholz 1999: 119): „The Principle of Coherence prompts the interpreter to discover a degree of logical consistency in the thought of the speaker; the Principle of Correspondence prompts 72 „Je absurder oder exotischer die Überzeugungen, die man einem Volk unterstellt, desto eher sind wir berechtigt, der Übersetzung mit Argwohn zu begegnen; der Mythos von den prälogischen Völkern markiert nur den Extremfall“ (Quine 1960/1987: 131). 73 „I propose that we take the fact that speakers of a language hold a sentence to be true (under observed circumstances) as prima-facie evidence that the sentence is true under those circumstances“ (Davidson 1984/1985: 152).
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the interpreter to take the speaker to be responding to the same features of the world that he (the interpreter) would be responding to under similar circumstances. Both principles can be (and have been) called principles of charity: one principle endows the speaker with a modicum of logical truth, the other endows him with a degree of true belief about the world. Successful interpretation necessarily invests the person interpreted with basic rationality” (Davidson 1991b: 158).
So wird deutlich, daß das principle of charity tatsächlich – in der Tradition der klassischen Hermeneutik – auch bei seinen Hauptvertretern Quine und Davidson als allgemeine Unterstellung der Rationalität von Sprechern sowie der Wahrheit des Gesagten angesehen werden muß. Allerdings werden diese Präsumtionen bei Quine und Davidson im Kontext der Theorien der Erstübersetzung bzw. Erstinterpretation entwickelt, während es den früheren Vertretern wohlwollender Interpretation üblicherweise um das Verstehen und Interpretieren normalsprachlicher Zeugnisse ging.
3.3 3.3.1
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen als notwendige Bedingungen des Verstehens und Interpretierens Verstehens- und Interpretationsprinzipien als Präsumtionen
Scholzens Theorie der Präsumtionen stellt einen wichtigen Versuch dar, den erkenntnistheoretischen Status der Verstehens- und Interpretationsprinzipien zu klären. Gemeint sind hierbei diejenigen Verstehens- und Interpretationsprinzipien, die in einem doppelten Sinn allgemein sind: zum einen im Sinne besonders grundlegender Prinzipien bzw. „Metaprinzipien“, von denen spezielle Regeln abhängen, zum anderen im Sinne von Prinzipien mit einem besonders weiten Anwendungsbereich, der sich auf beliebige Texte oder sogar nicht-sprachliche Zeichen bezieht (vgl. Scholz 1999: 147). Bevor man den Status der Prinzipien des Verstehens klären könne, müsse man zunächst eine „Theorie der Präsumtionen und Präsumtionsregeln“ entwikkeln. Scholz beginnt mit einer Darstellung der Präsumtionen in der Rechtswissenschaft, in der Präsumtionen von jeher eine Rolle spielen. Als bekanntes Beispiel kann die sogenannte Unschuldsvermutung dienen: Die Justiz muß bis zum Nachweis des Gegenteils von der Unschuld des Angeklagten ausgehen. Ein anderes Beispiel ist die sogenannte Todesvermutung: Wer eine gewisse Zeit lang verschollen ist, wird für tot erklärt (vgl. Scholz 1999: 149).74 Die hermeneutischen Präsumtionen dienen dazu, das Verstehen und Interpretieren menschlicher Zeugnisse anzuleiten. Die relevanten Präsumtionen sind für Scholz hierbei die Wahrheit und Konsistenz des Gesagten bzw. die 74
Es gibt aber auch Präsumtionen im Bereich von Moral und Politik, Scholz nennt als Beispiel die Präsumtion der Gleichheit.
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Rationalität des Sprechers. Wozu benötigen wir überhaupt Präsumtionen? – Zunächst benötigen wir sie natürlich deshalb, weil wir das, worüber wir entscheiden müssen, nicht wissen. Es besteht die Notwendigkeit, eine praktische Entscheidung zu treffen, ohne über die relevanten Informationen zu verfügen, entweder weil sie nicht erhältlich oder mit einem zu hohen Beschaffungsaufwand verbunden sind. In derartigen Situationen unter Handlungsdruck existieren also unter anderem zeitliche Restriktionen. Im Vergleich mit Willkürentscheidungen erlauben Präsumtionen aber auch in solchen Entscheidungssituationen ein gewisses Maß an Rationalität. Es gibt jedoch noch ein zweites Motiv für die Verwendung von Präsumtionen: Präsumtionen sind häufig nicht nur Mittel zur erleichterten Entscheidungsfindung, sondern auch echte Normen, die die Praxis regulieren sollen, und zwar nicht nur für Erkenntnisziele, sondern auch im Rahmen bestimmter Wertvorstellungen. Deutlich wird dies v.a. bei den juristischen Präsumtionen. Die Unschuldsvermutung dient nicht nur dem Zweck, die Wahrheitsfindung vor Gericht zu fördern, sondern auch dem Schutz des Angeklagten. Hermeneutische Präsumtionen besitzen gegenüber den Präsumtionen im Recht gewisse Besonderheiten: Manche juristischen Präsumtionen sind unwiderleglich („praesumtio absoluta“), man könnte hier genauer von Fiktionen des Rechts sprechen, etwa der Festsetzung, daß Kinder keine kriminellen Absichten haben und deshalb nicht im üblichen Sinne schuldfähig sind (Scholz 1999: 152). Demgegenüber gibt es Präsumtionen, die sich prinzipiell widerlegen lassen („praesumtio conditionalis“). Scholz zählt die hermeneutischen Präsumtionen zu den fehlbaren, seine zentrale These lautet: „Allgemeine Verstehens- und Interpretationsprinzipien sind Präsumtionsregeln. Genauer gesagt: sie sind Präsumtionsregeln mit widerleglichen Präsumtionen“ (Scholz 1999: 148). Ob auch die Präsumtionsregeln selbst, die ja das Verstehen und Interpretieren anleiten sollen, fallibel sind und verbessert werden können, beantwortet Scholz zunächst nicht. Ein konsequenter Fallibilismus würde sich ebenso auf die Verstehens- und Interpretationsprinzipien – d.h. auf die Präsumtionsregeln – beziehen und sie als fehlbare und verbesserungsfähige Mittel des Verstehens und Interpretierens auffassen, statt die bestehenden Problemlösungen transzendentalphilosophisch zu rechtfertigen. Bei den hermeneutischen Präsumtionen kann man ebenfalls noch die doppelte Motivierung entdecken: Einerseits sollen Wahrheits- und Rationalitätspräsumtion die Erkenntnispraxis anleiten. Andererseits besteht auch das Motiv, einen moralisch angemessenen Umgang des Interpreten mit dem Autor und seinem Werk zu befördern. Scholz spricht in diesem Zusammenhang von einer „minimalen Ethik der Interpretation“ (Scholz 1999: 158). Diese sei auch heute nicht obsolet. Anhand von historischen Untersuchungen weist er nach, daß in der Geschichte der Hermeneutik das Prinzip wohlwollender Interpretation häufig in dieser doppelten Bedeutung gesehen wurde: einerseits als Mittel zur „richtigen“ Interpretation im technologischen Sinn, andererseits auch als Anweisung
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zum „richtigen“ Umgang mit dem Autor und seinem Werk im moralischen Sinn. Hinsichtlich der Form von Präsumtionen kann man nach Scholz „Präsumtionen“, „Präsumtionsformeln“ und „Präsumtionsregeln“ unterscheiden. Das Schema für eine Präsumtion (Pr) lautet: „(Pr) Es gibt eine Präsumtion, daß Q“ oder auch „Es gibt eine Präsumtion zugunsten Q“ (Scholz 1999: 150). Die allgemeine Form einer Präsumtionsformel (Pr-F) lautet: „(Pr-F) Aufgrund von P wird Q präsumiert“ (Scholz 1999: 151). Andere Formulierungen lauten „Aufgrund von P gibt es eine Präsumtion, daß Q“ sowie „P erzeugt die Präsumtion, daß Q“ (ebd). Bei dieser Präsumtionsformel erscheint vor allem relevant, daß es einer präsumtionserzeugenden Tatsache (P) bedarf, bevor man gerechtfertigterweise präsumieren kann, daß Q. Eine Präsumtionsregel (Pr-R) hat die allgemeine Form: „(Pr-R) Gegeben p ist der Fall, verfahre so, als sei q der Fall, bis Du zureichende Gründe hast, zu glauben, daß q nicht der Fall ist“ (ebd.).
Wie sieht die Anwendung der Präsumtionstheorie beim Umgang mit natürlichen Zeugnissen nun genau aus? Am Beispiel der Wahrheitspräsumtion für natürliche Zeugnisse gibt Scholz eine genaue Formulierung: „(Test-Präs-F) Es gibt eine Präsumtion, das Zeugnis anderer solange als wahr zu akzeptieren, bis man Gründe zu der Annahme hat, daß besondere Umstände vorliegen, die die Präsumtion annullieren.“ (Scholz 2002, unveröffentlicht) „(Test-Präs-R) Gegeben, dass ein Sprecher S (bei der Gelegenheit O) eine verständliche assertorische Äußerung U (über das Thema T) vollzogen hat, mit der er sich auf die Wahrheit von p festlegt, gehe solange davon aus, daß p wahr ist, bis Du Gründe zu der Annahme hast, daß eine Annullierungsbedingung erfüllt ist. (Es gibt i.w. zwei Annullierungsbedingungen: (i) Anhaltspunkte dafür, daß der Sprecher (bei der Gelegenheit O) nicht aufrichtig gewesen ist, und (ii) Anhaltspunkte dafür, daß der Sprecher (in bezug auf das fragliche Thema T) nicht kompetent ist.)“ (ebd.).
Wir sehen: Die Wahrheitsunterstellung wird formuliert als Präsumtionsregel mit widerleglichen Präsumtionen. Zunächst ist davon auszugehen, daß ein Sprecher die Wahrheit sagt. Erst wenn bestimmte Annullierungsbedingungen vorliegen, darf man von dieser Annahme abrücken.75 Eine ähnliche Erkenntnissituation, bei der der Erkennende zunächst auf die Wahrheit seiner Erkenntnis vertraut, aber unter bestimmten Annullierungsbedingungen von dieser Meinung abweicht, findet sich in der Wahrnehmung. Üblicherweise nehmen wir an, daß un75
Scholz unterscheidet nicht ausdrücklich zwischen hermeneutischen Präsumtionen im engeren Sinn, die Mittel zum Zwecke des Verstehens von Zeugnissen darstellen und anderen Präsumtionen, die dazu dienen, Zeugnisse als glaubwürdig oder unglaubwürdig zu beurteilen.
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Dritter Teil
sere sinnlichen Wahrnehmungen korrekt sind; nur wenn bestimmte Bedingungen (Annullierungsbedingungen) vorliegen, die beispielsweise zu Wahrnehmungsstörungen führen, sind wir bereit, die Korrektheit unserer Wahrnehmungen in Frage zu stellen. Die allgemeine Präsumtionsregel beim Umgang mit Zeugnissen anderer ist also unserer Beurteilung von Sinneswahrnehmungen nachgebildet. Dies verweist auf den Glauben, daß das Zeugnis anderer als Erkenntnisquelle mit der sinnlichen Wahrnehmung vergleichbar ist, eine Analogie, die – wie im ersten Teil der Arbeit bereits ausgeführt wurde – in der Sozialen Erkenntnistheorie eine Rolle spielt und auf Thomas Reid zurückgeht. Es wird zu klären sein, ob die Praxis des Verstehens und Interpretierens tatsächlich den von Scholz vorgeschlagenen Präsumtionsregeln folgt. Unterstellen wir immer erst die Wahrheit des Gesagten und die Rationalität des Sprechers, wenn wir etwas interpretieren? Lassen sich hermeneutische Präsumtionen als notwendige Bedingungen des Verstehens und Interpretierens rechtfertigen, und in welchem Sinne könnten sie notwendig sein?
3.3.2
Präsumtionen als „instrumentell notwendige“ Bedingungen
Als schwächste Notwendigkeitsbehauptung kann man die These auffassen, Rationalitäts- und Wahrheitsunterstellungen seien „unentbehrliche Mittel“ für das „Verständnis sprachlicher Äußerungen“ (vgl. Scholz 1999: 165). Scholz belegt diese These vor allem anhand der Interpretation ironischer sowie metaphorischer Äußerungen76 und stützt sich hierbei auf P. Grices Theorie rationaler Dialoge (vgl. Grice 1989 sowie Levinson 1994: 103 ff.), indem er die von Grice formulierten Konversationsmaximen als hermeneutische Präsumtionsregeln rekonstruiert. Mit „Rekonstruktion“ ist hierbei gemeint, daß es ein Entsprechungsverhältnis zwischen den Griceschen Konversationsmaximen (sowie seinem grundlegenden Kooperativitätsprinzip) einerseits und den hermeneutischen Präsumtionsregeln andererseits gebe. Dem Kooperativitätsprinzip, welches besagt, daß ein Sprecher seine Äußerungen als angemessene Beiträge im Hinblick auf den wechselseitig akzeptierten Zweck des Gespräches vorbringen soll, „entspreche“ 76
Scholz zeigt aber auch, daß Präsumtionen beim Verstehen wörtlicher Rede eine Rolle spielen: „Ein Kind ist gestürzt und hat sich wehgetan. Da es gar nicht mehr aufhören will zu jammern, sagt die Mutter schließlich: ‚Du wirst schon nicht sterben.’ Buchstäblich genommen bedeutet der Satz, daß der Adressat nicht sterben wird, mit anderen Worten: unsterblich ist. Aber natürlich ist die Äußerung des Satzes anders zu verstehen, nämlich etwa folgendermaßen: ‚Du wirst an diesem Kratzer schon nicht sterben.’ Wir unterstellen der Mutter, daß sie etwas Wahres sagen möchte, daß sie etwas für diesen Gesprächszusammenhang Relevantes beitragen möchte, daß sie selbstverständlich weiß, daß Menschen nicht unsterblich sind etc. Diese Präsumtionen können nur aufrechterhalten werden, wenn man der Äußerung einen Inhalt zuschreibt, der spezifischer ist als der, den der geäußerte Satz buchstäblich ausdrückt“ (Scholz 1999: 179).
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beispielsweise eine hermeneutische Präsumtionsregel, konkrete Äußerungen eines Gesprächspartners als tatsächlich angemessene Beiträge im Hinblick auf den wechselseitig akzeptierten Zweck des Gespräches zu interpretieren, solange man keine zureichenden Gründe für die gegenteilige Annahme hat (vgl. Scholz 1999: 167). Es handelt sich hier um eine Annahme der Zweckrationalität des Sprechers. Doch genau genommen folgt die Rationalitätsunterstellung nicht logisch aus den gegebenen Prämissen: Wenn erstens sowohl der Sprecher als auch der Zuhörer über einen wechselseitig akzeptierten Zweck des Gespräches verfügen und zweitens der Sprecher die Absicht hat, mit seinem Redebeitrag diesem Zweck zu dienen, ergibt sich nicht die tatsächliche Zweckrationalität des Sprechers, d.h. seine Fähigkeit, die adäquaten sprachlichen Mittel zur Realisierung des gegebenen Gesprächs-Zwecks zu wählen. Letzteres zu unterstellen, mag dennoch richtig sein, ist aber keine Konsequenz aus dem Griceschen Kooperativitätsprinzip. Insofern bleibt fraglich, was es heißen soll, wenn Scholz von einer „Entsprechung“ zwischen Prinzip und Maximen der Konversation und hermeneutischen Präsumtionsregeln spricht. Noch problematischer erscheint Scholzens Rekonstruktion der Maxime der Qualität als (Wahrheits-)Präsumtionsregel: „Nehmen wir die Maxime der Qualität, und zwar die übergeordnete Maxime: Versuche deinen Beitrag so zu machen, daß er wahr ist. Die entsprechende hermeneutische Präsumtionsregel würde etwa folgendermaßen lauten: (QUAL-Pr-R): Wenn dein Gesprächspartner eine Äußerung u in einem gemeinsamen Gespräch getan hat, dann interpretiere u als wahre Äußerung, solange bis du zureichende Gründe für die gegenteilige Annahme hast“ (Scholz 1999: 168).
Was Scholz unter „Entsprechung“ zwischen der Konversationsmaxime und der damit in Verbindung gebrachten Präsumtionsregel versteht, bleibt weiterhin unklar. Die Absicht, die Wahrheits- und Rationalitätspräsumtionen mit Hilfe der Theorie rationaler Konversationen als instrumentell notwendig zu rechtfertigen, wäre ja nur dann erreicht, wenn eine logische Beziehung zwischen der jeweiligen Konversationsmaxime und der „entsprechenden“ Präsumtionsregel vorläge. Ganz offensichtlich läßt sich aber aus der auf den Sprecher bezogenen Maxime „Versuche deinen Beitrag so zu machen, daß er wahr ist“ keineswegs die für den Zuhörer geltende Präsumtionsregel (QUAL-Pr-R) logisch ableiten. Unter der Annahme, daß der Sprecher der Maxime der Qualität folgt, kann man allenfalls folgende Präsumtionsregel ableiten: „Wenn dein Gesprächspartner G eine Äußerung u in einem gemeinsamen Gespräch getan hat, dann interpretiere u als Äußerung, von der G glaubt, daß sie wahr ist.“ Die Annahme, daß ein Sprecher kooperativ ist und deshalb im allgemeinen die Wahrheit sagen möchte, rechtfertigt nicht die Präsumtion, daß das, was er sagt, tatsächlich die Wahrheit ist. Der naheliegende Einwand, die Wahrheitsunterstellung beziehe sich nur auf Äußerungen von Sprechern, die im Hinblick auf das Gesagte hinlänglich kompetent sind, führt gleichfalls nicht zum Ziel. Denn auch aus der Konjunktion der
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Dritter Teil
Kompetenzannahme und der Maxime der Qualität folgt nicht, daß der Sprecher die Wahrheit sagt – es sei denn, man definiert einen „kompetenten Sprecher“ als einen solchen, der im Besitz der Wahrheit ist. In diesem Fall könnte jedoch niemand wissen, welcher Sprecher (wenn überhaupt einer) „kompetent“ ist. Üblicherweise bedeutet „Kompetenz“ lediglich Sachkenntnis, und auch ein Sachkundiger kann sich irren.77 Aus den sprecherorientierten Konversationsmaximen bei Grice ergeben sich also nicht ohne weiteres die rezipientenorientierten hermeneutischen Präsumtionsregeln; vor allem lassen sich letztere nicht durch den Verweis auf faktisch vorhandene Kooperativität bzw. ein Verfolgen der Konversationsmaximen durch den Sprecher rechtfertigen. Dennoch zeigt Scholz, daß Grice im Rahmen seiner Lehre von den konversationalen Implikaturen78 zumindest von der grundlegenden Rationalitätspräsumtion Gebrauch macht. Sowohl bei ironischen als auch bei metaphorischen Äußerungen tritt der Fall ein, daß ein Sprecher eklatant gegen eine der Konversationsmaximen zu verstoßen scheint. In solchen Fällen wird jedoch üblicherweise nicht angenommen, daß ein wirklicher Verstoß vorliegt und der Sprecher nicht mehr kooperiert. Scholz verwendet folgendes Beispiel: „Person B, die bis vor kurzem mit Person A befreundet war, äußert sich öffentlich äußerst abfällig über A. A und der Adressat der folgenden Äußerung, nennen wir ihn: C, wissen dies beide. A äußert nun gegenüber C: ‚B ist ein feiner Freund’“ (Scholz 1999: 171). Da diese Äußerung, wörtlich verstanden, falsch ist und der Sprecher dies auch weiß, gibt es nun mehrere Möglichkeiten, sie zu interpretieren: „(i) A ist nicht rational (bzw. der Austausch ist kein rationales Gespräch); die Rationalitätspräsumtion könnte dann nicht aufrechterhalten werden. (ii) A kooperiert nicht oder jedenfalls nicht mehr; die Kooperativitätspräsumtion müßte aufgegeben werden. (iii) A hat gegen die erste Maxime der Qualität verstoßen (die entsprechende Präsumtion kann nicht bewahrt werden), verhält sich aber grundsätzlich weiterhin kooperativ. (iv) A hat nur auf der Ebene des wörtlich Gesagten gegen die erste Maxime der Qualität verstoßen. Er beutet diese Maxime und die entsprechende hermeneutische Präsumtion aus, um mittelbar etwas anderes zu verstehen zu geben als das, was er wörtlich gesagt hat. Durch die hierarchische Ordnung der Präsumtionen nach ihrer Stärke ist zunächst die vierte Möglichkeit vorzuziehen; für die Aufgabe der in (iii), (ii) und (i) genannten Präsumtionen wären immer stärkere Gründe vonnöten. Die Beweislast wächst von Schritt zu Schritt in der Richtung von (iv) nach (i)“ (Scholz 1999: 171).
77 Diese Möglichkeit des Irrtums ist keineswegs eine zu vernachlässigende Randerscheinung. Wer die Geschichte der Wissenschaften ernst nimmt, wird nicht leugnen können, daß das Sich-Irren von Sachkundigen nicht eine seltene Ausnahme, sondern eher den Regelfall darstellt. 78 Unter einer konversationalen Implikatur versteht Grice all das, was ein Sprecher über die wörtliche Bedeutung einer Aussage hinaus zu verstehen gibt.
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Nun trifft es zwar bei dem vorliegenden Beispiel zu, daß wir beim Verstehen der (ironischen) Äußerung die Präsumtionen in der oben angegebenen hierarchischen Ordnung verwenden. Eine allgemein verbindliche hierarchische Ordnung von Präsumtionen gibt es jedoch nicht. Insbesondere gibt es keinen Grund, die Rationalitäts- und Kooperativitätspräsumtionen stets als die grundlegenden Präsumtionen aufzufassen, deren Preisgabe nur als allerletzte Möglichkeit in Frage käme. Welche Präsumtionen wir verwenden sowie wann und wie schnell wir sie aufgeben, richtet sich nach unseren Erwartungen, die aufgrund bisheriger Erfahrungen entstanden sind und als rudimentäre psychologische Theorien angesehen werden können, die dem Verstehen und Interpretieren implizit zugrunde liegen. Dies läßt sich an einem Beispiel aus der Praxis des Verstehens zeigen. Um das Beispiel einfach zu halten und den Einfluß nonverbalen Kommunikationsverhaltens beim Verstehen und Interpretieren auszuschließen, nehmen wir an, eine männliche Person A schreibt einer weiblichen Person B, die A kürzlich kennengelernt hat, eine SMS. In dieser SMS stellt A die Frage: „Hast Du auch eine eMail-Adresse?“ Auf diese Frage erhält A nach einiger Zeit eine SMS mit dem Inhalt „Ja“. Obwohl diese Antwort vermutlich zutreffend ist, wird sie A unter Umständen dazu bewegen, die Kooperativitätspräsumtion aufzugeben, denn für jeden kompetenten Sprecher ist es offensichtlich, daß B mit ihrer Antwort nicht auf das Implikat der Frage von A eingegangen ist. Gemeint war mit der Frage natürlich die Bitte um die eMail-Adresse, sofern eine solche Adresse vorhanden ist. Auf solche Implikate nicht zu antworten, gilt im allgemeinen als Ausdruck grober Unhöflichkeit. Da auch A und B als kompetente Sprecher dies wissen sowie voneinander wissen, daß der jeweils andere es weiß, besteht eine naheliegende Hypothese darin, die Kooperativitätspräsumtion aufzugeben und anzunehmen, daß B A provoziert und ‚hinhält’, ohne mit ihm einen weiteren Kontakt eingehen zu wollen. Ebenso kann es aber sein, daß B mit ihrer Antwort A lediglich ‚necken’ möchte und diese Antwort als Ausdruck von Flirtverhalten zu deuten wäre. Welche der beiden konkurrierenden Deutungshypothesen zutrifft, kann A anhand der isolierten Antwort B’s nicht wissen. In realen Kommunikationssituationen gibt es natürlich in der Regel weitere Indizien, die fehlende Kooperation anzeigen, ebenso wie es üblicherweise vielfältige Anzeichen für vorhandene Kooperationsbereitschaft gibt, so daß in den meisten Kommunikationssituationen eine ausreichende Erfahrungsbasis für adäquate interpretative Hypothesen vorliegt. Präsumtionen sind aber gerade dann von Bedeutung, wenn eine Entscheidung für eine bestimmte Deutungshypothese ohne hinreichende und eindeutige Indizien getroffen werden muß. Wäre die Wahl zwischen den konkurrierenden Deutungshypothesen problemlos empirisch zu bestimmen, gäbe es keine Notwendigkeit, beim Verstehen und Interpretieren überhaupt mit Präsumtionen zu arbeiten. Ob A die Antwort von B als Kooperationsverweigerung oder als Ausdruck von Flirtverhalten deuten wird, hängt – abgesehen von weiteren Indizien in der Gesprächssituation, die wir in unserem Beispiel bewußt ausklammern – ab von A’s bisherigen Erfahrungen mit ähnlichen Gesprächssi-
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tuationen sowie von seinen diesbezüglichen psychologischen Theorien, etwa über weibliches Flirtverhalten. Es wäre also ein Irrtum anzunehmen, es gebe fundamentale Präsumtionen beim Verstehen, die so grundlegend sind, daß man sie nur dann aufgibt, wenn gar keine alternativen Deutungsmöglichkeiten existieren. Im übrigen bedeutet die Preisgabe der Kooperativitätspräsumtion nicht notwendig den Abbruch des Gespräches. A kann zwar der Meinung sein, daß B nicht (oder nicht mehr) kooperiert, aber er kann dies nicht sicher wissen und alternative Deutungsmöglichkeiten in Betracht ziehen. Obwohl er den Eindruck hat, daß B nicht kooperiert, wird er vermutlich so tun, als ob er noch an eine gemeinsame Basis des Gesprächs glaubt, sofern sein Interesse an einem Aufrechterhalten des Kontaktes groß genug ist. Es könnte ja sein, daß B nur vorübergehend die Kooperation verweigert oder mit einer partiellen Kooperationsverweigerung bestimmte Reaktionen bei A provozieren möchte. Auch die völlige Aufgabe der als grundlegend angesehenen Präsumtionen führt nicht zwangsläufig zu einer Abkehr von dem Verhalten, das gemeinhin mit diesen Präsumtionen in Zusammenhang gebracht wird: Es kann sinnvoll sein, trotz der faktischen Aufgabe der Rationalitäts- oder der Kooperativitätspräsumtion den Betreffenden so zu behandeln, als wäre er rational bzw. kooperativ. Wenn davon gesprochen wird, bestimmte Annahmen – etwa die Rationalität des Sprechers – seien für das Verstehen ‚konstitutiv’, könnte dies von der Tatsache herrühren, daß wir in der Kommunikationspraxis üblicherweise auch dann noch so tun, als wären diese Annahmen berechtigt, selbst wenn wir sie de facto längst aufgegeben haben. Wir können als vorläufiges Ergebnis festhalten, daß es in bestimmten Kommunikationssituationen bei der Bildung von interpretativen Hypothesen „instrumentell notwendig“ ist, von Präsumtionen auszugehen. Welche Präsumtionsregeln und Präsumtionen wir aber in der Verstehenspraxis anwenden, hängt nicht ab von einer vermeintlich vorgegebenen hierarchischen Ordnung von Präsumtionen, sondern von unseren Erwartungen. Da wir in vielen Kommunikationssituationen die Erfahrung machen, daß menschliche Zeugnisse häufiger ‚vertrauenswürdig’ sind als unzuverlässig sowie ihre Urheber weitgehend rational in der Wahl ihrer sprachlichen Mittel relativ zu dem gegebenen Zweck der Kommunikation, sind wir auch in späteren, als ähnlich wahrgenommenen Situationen, geneigt, die Präsumtionen der Rationalität und Wahrheit anzuwenden.79 Psychisch äußert sich diese Bereitschaft als Erwartung. Diese Erwartungen, die mit bisherigen Erfahrungen in ähnlichen (bzw. als ähnlich wahrgenommenen) Kommunikationssituationen zusammenhängen, leiten als rudimentäre und im-
79
Wie im ersten Teil der Arbeit bereits dargestellt wurde, halte ich die Annahme von durch Erfahrung begründeten und sich in Erwartungen äußernden Präsumtionen für die eigentliche Position Humes (Hume 1748/1993: 131), nicht aber den angeblichen empiristischen „Reduktionismus“, der jedes einzelne Zeugnis durch Erfahrung rechtfertigen will und gegen den sich Coadys Argumente hauptsächlich richten.
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen
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plizite Theorien über die relevanten Aspekte der Kommunikationssituation die Bildung von interpretativen Hypothesen an. Zugleich ist die Rationalität des Sprechers und die Wahrheit des Gesagten in vielen Fällen aufgrund der beim Verstehen zugrunde gelegten alltagspsychologischen Theorie erklärbar. Ebenso gibt es viele Fälle, in denen die Irrationalität des Sprechers, die Unwahrheit des Gesagten oder eine fehlende Kooperation erklärbar ist. In solchen Fällen gehen wir beim Verstehen konkreter Äußerungen dieses Sprechers von den Präsumtionen der Irrationalität, der Unwahrheit oder der Nicht-Kooperation aus, es sei denn, wir erhalten starke entgegengesetzte Indizien. Es trifft im allgemeinen zu, daß wir beim Verstehen und Interpretieren häufiger von der Rationalität und Kooperationsbereitschaft des Sprechers sowie von der Wahrheit des Gesagten ausgehen als vom Gegenteil. Dies hängt vor allem damit zusammen, daß wir in der Vergangenheit entsprechende Erfahrungen gemacht und diesbezügliche Erwartungen gebildet haben. Sollten wir eines Tages entgegengesetzte Erfahrungen machen, werden wir im Rahmen veränderter alltagspsychologischer Theorien und Erwartungen häufiger mit Irrationalitäts-, Unwahrheits- und Nichtkooperationspräsumtionen arbeiten als bisher. Eine solche veränderte Verstehenspraxis setzt lediglich voraus, daß das entsprechende irrationale, unwahrhafte und unkooperative Kommunikationsverhalten erklärbar – und nicht völlig willkürlich und unvorhersehbar – ist.
3.3.3
Präsumtionen als „evolutionär“ bzw. „naturgesetzlich“ notwendige Bedingungen
Neben der ersten Bedeutung von „notwendig“ im Sinne der Unentbehrlichkeit von Mitteln für das Verständnis sprachlicher Äußerungen können Präsumtionen auch als „evolutionär“ zustande gekommene bzw. „naturgesetzlich notwendige“ Bedingungen des Verstehens aufgefaßt werden. Was heißt das? „Die Grundidee läßt sich folgendermaßen angeben: Die biologische Evolution stellt sicher, daß wir rational sind. Oder schon etwas ausführlicher: Die biologische Evolution stellt sicher, daß die meisten unserer Schlußstrategien und übrigen Meinungsbildungsstrategien rational sind, und daß die meisten unserer Meinungen rational oder sogar wahr sind“ (Scholz: 181).
Obwohl es sich bei der These von der evolutionären Notwendigkeit um eine stärkere Notwendigkeitsbehauptung als bei der These einer ‚lediglich’ instrumentellen Notwendigkeit handelt, und ihr prima facie eine gewisse Plausibilität zukommt, steht ihr auch Scholz skeptisch gegenüber. So schreibt er selbst, daß eine evolutionsbiologische Begründung der Wahrheit der meisten unserer Überzeugungen nicht stichhaltig ist: Im Hinblick auf „Meinungen über Dinge wie die eigene Nahrung und über die großen Gefahren, z.B. die natürlichen Feinde“ be-
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sitze die „Idee der Überlebenszuträglichkeit wahrer Meinungen“ noch relativ große Plausibilität (Scholz 1999: 188). Hingegen sei „in zahllosen anderen Bereichen die Wahrheit oder Falschheit unserer Überzeugungen ohne jeden Einfluß auf den Bestand der Spezies“ (Scholz 1999: 189). Stich hat die zunächst überraschende These aufgestellt, daß ein Meinungsbildungssystem, aus dem weniger wahre und mehr falsche Meinungen abgeleitet werden kann als aus einem alternativen System, dennoch von der natürlichen Selektion begünstigt werden könnte: „What I propose to argue is this. Let us suppose that there is a pair of genetically coded inferential systems, G1 and G2, in some species – either human or nonhuman. Let us further suppose that in the natural environment of this species, G1 is more reliable; it leads to true beliefs more often, and to false beliefs less often, than does G2. I contend that it is nonetheless possible that G2, the less reliable system, will exceed G1 both in internal fitness and in external fitness. If this is right [...], then natural selection will prefer G2 to G1 despite G1’s greater reliability in generating truths and avoiding falsehoods“ (Stich 1990: 61).
Wahrheitsmaximierung scheint nicht notwendig ein Selektionsvorteil zu sein. Eine evolutionstheoretische Erklärung dafür, daß die praktische Nützlichkeit eines Meinungssystems unabhängig sein kann von der Wahrheit der Meinungen, könnte darin bestehen, daß übervorsichtige Lebewesen bessere Überlebenschancen haben als ihre weniger vorsichtigen Artgenossen, selbst dann, „wenn sie mehr falsche als wahre Meinungen [bilden], auch wenn viele der Meinungen auf irrationale Weise gebildet werden“ (Scholz: 189 f.). Die natürliche Selektion begünstigt also unter Umständen Meinungssysteme mit einem vergleichsweise geringeren Wahrheitsgehalt. Die Wahrheit der meisten unserer Überzeugungen ist daher evolutionstheoretisch nicht begründbar. Statt dessen machen evolutionstheoretische Überlegungen verständlich, warum viele unserer Überzeugungen nützlich sein können, ohne wahr zu sein. Auch Scholz hält es für „nicht zwingend, daß der Besitz einer großen Anzahl von falschen Meinungen die Überlebenschancen mindert. Ferner leisten auf vielen Gebieten mehr oder weniger gute Annäherungen an die Wahrheit mindestens so gute Dienste wie die wahre Meinung. Und der Versuch herauszufinden, was strenggenommen wahr ist, kann häufig gerade eine gefährliche Vergeudung wertvoller Zeit und Energie bedeuten“ (Scholz 1999: 189). Warum also sollte man a priori davon ausgehen, daß die meisten unserer Meinungen wahr sind?80 80
Auch Elliott Sober stellt in Frage, daß evolutionsbiologische Hypothesen über den Ursprung unserer kognitiven Ausstattung deren Rationalität begründen können: „It is entirely conceivable that drift or mutation is responsible for the fact that we possess the supposedly optimal equipment we do. And it is even more conceivable that our mental equipment emerged in a selection process in which many possible alternative endowments were simply not represented and therefore never had a chance to demonstrate their selective advantage. If the true evolutionary story corresponds to either of these possible sce-
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Scholz liefert sogar ein evolutionstheoretisches Argument dafür, daß „die meisten“ unserer Überzeugungen falsch sein könnten: „Meinungsbildungsstrategien, die im Hinblick auf die Erzeugung wahrer und Vermeidung falscher Meinungen gut abschneiden, können in puncto interner Fitness miserabel sein. Es ist daher gut vorstellbar, daß die natürliche Auslese ein weniger verläßliches Meinungsbildungssystem einem verläßlicheren vorzieht, weil es wesentlich ökonomischer ist“ (Scholz 1999: 189). Es ist nachvollziehbar, daß einfache Modelle der realen Welt, die lediglich eine grobe „Annäherung an die Wahrheit“ darstellen, für den Überlebenskampf wertvoller sein können als komplizierte Theorien, die zwar möglicherweise wahr sind, aber schwer verständlich und in der Praxis weniger leicht anwendbar. Vor diesem Hintergrund verkehrt sich das ursprünglich als Rechtfertigung unserer Meinungen gedachte evolutionsbiologische Argument in ein skeptisches: Wenn der Evolutionsprozeß nicht die Bildung wahrer Meinungen, sondern die Bildung von Meinungen begünstigt, die für den Lebenskampf brauchbar wenngleich übermäßig vereinfacht und daher falsch sind, kann die Evolutionstheorie nicht die These eines Vorhandenseins überwiegend wahrer Meinungen begründen. Möglicherweise bietet die Evolutionstheorie also nur eine Erklärung für das Vorhandensein überwiegend falscher Meinungen, die aber für das Alltagshandeln dennoch brauchbar sind.
3.3.4
Präsumtionen als „konstitutive Bedingungen“
3.3.4.1
Präsumtionen als „praxiskonstitutive“ Bedingungen
Was bedeutet es, Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen als „praxiskonstitutive Bedingungen“ des Verstehens und Interpretierens zu bezeichnen? Mit der „Praxis“, die „konstituiert“ werden soll, sind die sprachliche Verständigung sowie das alltagspsychologische Personenverstehen gemeint (vgl. Scholz 1999: 191). Folgt die These von den Präsumtionen als praxiskonstitutiven Bedingungen aus der These der instrumentellen Notwendigkeit? Scholz scheint das zu glauben: „Erfolgreiche Kommunikation ist ohne die erwähnten gegenseitigen Präsumtionen kaum oder gar nicht denkbar. Besonders grundlegend ist dabei eine allgemeine Rationalitätspräsumtion. Das gilt für alle Arten der Verständigung, die alltägliche ebenso wie die wissenschaftliche oder philosophische. Daß eine Verständigung in spezifischen Bereichen nicht möglich wäre, zeigten bereits die Argumentationen für die Thesen, daß es sich um unentbehrliche Mittel für das Verstehen ironischer und metanarios, what would become of our hope to demonstrate the rationality of our information processing equipment by appeal to a hypothesis about its genesis?“ (Sober 1981: 110f.).
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phorischer Rede und allgemeiner: für das Verstehen von Implikaturen handelt. Entsprechendes konnte dann sogar für wörtliche Äußerungen plausibel gemacht werden. Da somit niemand mehr behaupten kann, es drehe sich dabei um unwichtige oder isolierte Randbereiche der Sprachpraxis, führt von diesen Betrachtungen bereits ein direkter Weg zu der These, daß die allgemeinen Prinzipien konstitutiv für die Praxis der sprachlichen Kommunikation, so wie wir sie kennen, sind“ (Scholz 1999: 191).
Dies klingt zunächst plausibel. Wenn die genannten Präsumtionen instrumentell notwendig sind für die Praxis des Verstehens, dann scheint man wohl auch sagen zu können, daß sie diese Praxis ‚konstituieren‘. Es kommt aber darauf an, was genau man darunter versteht. Man kann den Ausdruck „praxiskonstitutiv“ in zwei unterschiedlichen Bedeutungen verwenden. Legen wir die erste zu Grunde, dann ist die These von den Präsumtionen als konstitutive Bedingungen gleichbedeutend mit der These von der instrumentellen Notwendigkeit, d.h. sie hat keinen darüber hinausgehenden Gehalt. Legen wir die zweite zu Grunde, dann erhalten wir ein ‚transzendentales‘ Argument für die Notwendigkeit von Präsumtionen, das zwar über die These von der instrumentellen Notwendigkeit hinausgeht, aber auch nicht von der Plausibilität dieser These profitieren kann. „Praxiskonstitutiv“ kann erstens heißen: notwendig für unsere Praxis des Verstehens und Interpretierens (bzw. der Kommunikation), d.h. für die Praxis, so wie sie faktisch existiert. Dies geht nicht über die These von der instrumentellen Notwendigkeit hinaus. „Praxiskonstitutiv“ kann zweitens heißen: Bedingung der Möglichkeit von Verstehen und Interpretieren schlechthin, d.h. nicht nur als Voraussetzung der Kommunikationspraxis, wie wir sie faktisch vorfinden, sondern bezogen auf beliebige Praxen. Damit werden die hermeneutischen Präsumtionen zur Bedingung der Möglichkeit auch solcher Kommunikationsformen erklärt, die es noch gar nicht gibt, die entweder eine bloße theoretische Möglichkeit darstellen oder erst in Zukunft erdacht und praktiziert werden. Diese Behauptung der Präsumtionen als Bedingung der Möglichkeit beliebiger Praxen des Verstehens und Interpretierens ist daher eine transzendentale These, die über die Behauptung einer instrumentellen Notwendigkeit hinausgeht und auch nicht aus ihr folgt. Welche Auffassung vertritt nun Scholz? In dem zitierten Absatz sprach er von der „Praxis der sprachlichen Kommunikation, so wie wir sie kennen“, was nahelegt, daß er die faktisch existierende Praxis meint. In diesem Fall läßt sich, wie gesagt, nur ableiten, daß die instrumentell notwendigen Präsumtionen die faktisch existierende Praxis „konstituieren“, d.h. möglich machen, was analytisch wahr ist, nicht aber, daß die instrumentell notwendigen Präsumtionen für jede denkbare Kommunikationspraxis „konstitutiv“ sind. Dieser durchaus relevante Unterschied wird von Scholz übersehen, wenn er abschließend, wie folgt, argumentiert: „Vorerst können wir das folgende Zwischenergebnis festhalten: Daß die allgemeinen Interpretationsprinzipien für die Praxis der Verständigung mit Sprache (und wohl auch die mit anderen Zeichen) konstitutiv ist, scheint unbestreitbar. Wenn Rationali-
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tätsunterstellungen und verwandte Präsumtionen unentbehrliche Mittel für das Verstehen nicht-wörtlicher sowie vieler wörtlicher Äußerungen sind, und zugestanden wird, daß dies wiederum konstitutiv für die Praxis der sprachlichen Verständigung ist, ergibt sich diese Schlußfolgerung unmittelbar“ (Scholz: 195).
Der Schluß, den Scholz in seinem letzten Satz zieht, ist zwar logisch korrekt, aber aufgrund der fehlenden Unterscheidung zwischen der faktisch existierenden Kommunikationspraxis und jeder beliebigen Kommunikationspraxis irrelevant. Scholz hat jedoch völlig recht, wenn er es für unbestreitbar hält, „daß unsere alltagspsychologische Praxis eine andere wäre, wenn man sich die Rationalitätsunterstellungen aus ihr wegdenken würde“ (ebd.). Diese Annahme ist aber bereits in der These von der instrumentellen Notwendigkeit der betreffenden Präsumtionen enthalten. Nun könnte jemand einwenden, die begriffliche Unterscheidung zwischen der real existierenden Kommunikationspraxis und denkbaren anderen Kommunikationspraxen sei eine bloße sprachanalytische Pedanterie ohne sachliche Bedeutung. Ich möchte dies bestreiten: Es ist ohne weiteres möglich, daß sich die bestehende Praxis der Kommunikation verbessern läßt, wohingegen die These einer praxiskonstitutiven Notwendigkeit von Rationalitäts- und Wahrheitsunterstellungen diese bestehende Praxis des Verstehens und Interpretierens gegen jegliche Kritik immunisiert und damit mögliche Alternativen verhindert. Das läßt sich am Beispiel eines gemäßigt futuristischen Gedankenexperimentes leicht zeigen: Gesetzt den Fall, es sei gelungen, eine leicht und vor allem ohne Zeitverzögerung anwendbare Technik der empirischen Ermittlung psychischer Dispositionen zu finden.81 Durch die Anwendung dieser Technik wüßten wir mit großer Wahrscheinlichkeit, inwieweit ein Sprecher kooperationsbereit, rational und aufrichtig ist. Unter solchen Umständen wäre es unzweckmäßig, dennoch mit der Methode der Präsumtionen vorzugehen. Es wäre effizienter, sogleich die empirisch geprüften Annahmen über Dispositionen des Sprechers beim Verstehen und Interpretieren zu verwenden. Selbstverständlich möchte ich mit diesem Beispiel nicht zugleich die Prognose verbinden, daß ein solches „Gedankenlesen“ unsere bisherige Praxis des Verstehens und Interpretierens ablösen wird. Das Beispiel sollte lediglich zeigen, daß eine alternative Praxis des Verstehens denkbar ist, die ohne die einschlägigen Präsumtionen auskommt. Da wir nicht wissen, wie sich die Praxis des Verstehens in Zukunft entwickeln wird, 81
Wer ein anschauliches Beispiel vorzieht, kann sich hierbei einen weiterentwickelten Lügendetektor vorstellen, etwa die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT), die tatsächlich bereits eingesetzt wird, um emotionale Reaktionen anhand von Gehirnaktivitäten zu messen. Ein wichtiges Anwendungsgebiet ist inzwischen die Erforschung der Effizienz von Werbung („Neuromarketing“). Einige Forscher sind der Meinung, diese Methode zu einem wirksamen Lügendetektor weiterentwickeln und damit auch andere psychische Dispositionen messen zu können. Vgl. Vasek, Thomas: Marktforschung mit dem Hirnscanner. In: Spiegel online, http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/ 0,1518,322093,00.html.
122
Dritter Teil
läßt sich über die Realisierbarkeit einer solchen alternativen Methode nichts sagen. Und aus demselben Grund erscheint die stärkere These von der Praxiskonstitutivität hermeneutischer Präsumtionen unhaltbar.
3.3.4.2
Präsumtionen als „begriffskonstitutive“ Bedingungen
Die sich nun anschließende kritische Prüfung derjenigen Argumente, welche die Wahrheits- und Rationalitätspräsumtionen als „begriffskonstitutive“ Bedingungen des Verstehens und Interpretierens begründen, bildet den Schwerpunkt des dritten Teils der vorliegenden Arbeit. Die wesentlichen apriorischen Argumente zugunsten des principle of charity sind hier versammelt. Dabei ist es zunächst nicht einmal ohne weiteres zu verstehen, was überhaupt mit „begriffskonstitutiven“ Bedingungen gemeint sein soll. Scholz erläutert diesen Ausdruck folgendermaßen: „Nunmehr ist die Frage zu untersuchen, ob und inwieweit derartige Prinzipien darüber hinaus konstitutiv für die gerechtfertigte Anwendbarkeit der Begriffe sind, die beim Verstehen gemeinhin zugeschrieben werden. Soweit sich dies einsichtig machen lassen sollte, hätte man damit auch gezeigt, daß sie konstitutive Bedingungen für das Vorliegen von Verstehenskandidaten sind. Zu den wichtigsten Prädikaten, die beim Verstehen und Interpretieren zugesprochen werden, zählen: die Begriffe für propositionale Einstellungen (wie „Meinung“, „Wunsch“, „Erwartung“ etc.), das semantische Vokabular („Bedeutung“, „Inhalt“, „Referenz“ etc.), der Begriff der Handlung und schließlich der Begriff der Person.“ (Scholz 1999: 196)
Diese Aufzählung läßt bereits vermuten, daß die Begründung der Präsumtionen als begriffskonstitutive Bedingungen aus einer Vielfalt von Thesen besteht, die einzeln dargestellt und besprochen werden müssen. Scholzens besondere Leistung liegt darin, die im Rahmen der umfangreichen Diskussion über die Theorie der radikalen Interpretation insbesondere von Donald Davidson sporadisch geäußerten Hinweise zur These der Begriffskonstitutivität hermeneutischer Präsumtionen identifiziert, systematisiert und auch argumentativ präzisiert zu haben. Durch eine solche argumentative Ausarbeitung vager Hinweise setzt sich Scholz natürlich der Gefahr der Widerlegung aus, wie er selbst bemerkt: „Da solche Artikuliertheit mit größerer Angreifbarkeit und somit mit der Gefahr der Widerlegung einhergeht, handelt es sich um eine riskante Unternehmung. Aber dazu gibt es keine sinnvolle Alternative. Diese Arbeit zu scheuen, hieße, die in diesem Bereich aufgestellten Thesen durch Unklarheit zu immunisieren, was die Behauptungen zwar künstlich weiterleben ließe, aber nur um den Preis, daß sie unverbindlich und folgenlos, mit einem Wort: leer, blieben. Zu dem genannten risikoreichen, aber in jedem Fall lohnenden, Unterfangen möchte ich im folgenden einen Beitrag leisten“ (Scholz 1999: 196).
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Diese kritisch-rationale Haltung, sich durch Klarheit und Präzisierung der Thesen und Argumente der Gefahr der Widerlegung auszusetzen, dürfte unstreitig der beste Weg sein, die wissenschaftliche Diskussion voranzubringen – mein argumentativer Beitrag im dritten Teil der Arbeit soll darin bestehen, dieses Angebot zur Kritik aufzugreifen.82
3.3.4.2.1
Begründungen aus der methodologischen Notwendigkeit
Inwiefern ist die Behauptung der methodologischen Notwendigkeit hermeneutischer Präsumtionen eine Konstitutivitätsthese? Es hat zunächst den Anschein, als ob die Behauptung methodologischer Notwendigkeit nicht über die relativ schwache These von den Präsumtionen als unentbehrliche Mittel des Verstehens hinausgeht bzw. sogar mit ihr identisch ist. Worin also besteht der zusätzliche Gehalt der Behauptung von der methodologischen Notwendigkeit hermeneutischer Präsumtionen? „Eine erste Begründungsstrategie, die die methodologische Notwendigkeit akzentuiert (sich unter Umständen aber sogar zu einer Konstitutivitätsargumentation entwikkeln läßt), kann man aus den Überlegungen Quines zur Übersetzung der aussagenlogischen Konstanten und zur Kritik an der These von der prälogischen Mentalität gewinnen. Bei diesem Philosophen ein solches Argument zu entdecken, entbehrt freilich nicht einer gewissen Ironie, da der Empirist und Naturalist Quine bekanntlich kein Freund aprioristischer Begründungen ist. Und tatsächlich redet Quine selbst häufig so, als stünden vor allem induktiv-probabilistische Erwägungen hinter seiner Argumentation [...]. Ginge es allein um Wahrscheinlichkeiten, dann stünde Quines Zurückweisung der These von der prälogischen Mentalität allerdings auf tönernen Füßen. Ethnologen, die eine solche Auffassung vertreten, könnten Quine ungerührt fragen, worauf sich denn seine Annahme stützen soll, daß absurde Meinungen und abwegige Schlüsse unwahrscheinlich seien. Wie will Quine dies auf induktivem Wege herausgefunden haben? Gestehen wir Quine vorerst zu, er verfüge über ausreichende induktive Belege dafür, daß offenkundig falsche Meinungen in seinem kulturellen Umfeld, also etwa unter seinen Landsleuten und unter Angehörigen verwandter Kulturen, eher selten sind. Solche Belege brauchten jemanden, der behauptet, in fremden Kulturen hege man widersprüchliche oder in anderer Weise flagrant falsche Überzeugungen, natürlich nicht zu beeindrucken. Ein Verfechter der These von der prälogischen Mentalität bestreitet ja gerade die relevante Ähnlichkeitsbasis, die einzig und allein einen inferentiellen Übergang von einer Annahme bezüglich der Meinungssysteme und Schlußstrategien in unserer Kultur zu einer entsprechenden Annahme in bezug auf die fremde Kultur ermöglichen könnte“ (Scholz 1999: 198). 82
Doch nicht nur derjenige, der neue Thesen erfindet respektive bestehende in eine kritisierbare Form bringt, geht ein Risiko ein. Auch die Aufgabe des Kritikers ist nicht ohne Risiko, setzt er sich doch nicht allein der Gefahr einer Gegenkritik aus, sondern auch dem häufig anzutreffenden Unverständnis der Bedeutung von Widerlegungsversuchen für den Erkenntnisfortschritt.
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Dritter Teil
Das Argument soll nun offenbar darin bestehen, daß es nicht möglich ist, auf empirisch-induktivem Wege von den Meinungssystemen der eigenen Kultur auf diejenigen fremder Kulturen zu schließen; wenn aber die Annahmen über Meinungssysteme der fremden Kulturen nicht in dieser Form empirisch-induktiv gewonnen werden können, so scheinen sie doch in irgendeiner Form erfahrungsunabhängig zu sein. Sicherlich ist auch aus kritisch-rationaler Sicht zuzustimmen, daß Hypothesen, die über den Bereich des bislang Beobachteten hinausgehen, nicht durch bisherige Beobachtungen gerechtfertigt werden können. Was jedoch für Rechfertigungsfragen gilt, kann nicht ohne weiteres auf die Genese von Überzeugungen übertragen werden. Wir sagten – im Anschluß an Hume – daß wir aufgrund unserer Erfahrungen Erwartungen ausbilden, die dann als rudimentäre Theorien den Verstehens- und Interpretationsprozeß anleiten. Wenn wir nun die Erfahrung machen, daß alle Menschen, die wir bislang kennengelernt haben, keine offensichtlich absurden Meinungen vertreten, erwarten wir dies auch von jedem Menschen, den wir in Zukunft kennenlernen werden. Daß wir allein aufgrund unserer bisherigen Erfahrungen nicht epistemisch berechtigt sind, raum-zeitlich uneingeschränkte Hypothesen zu vertreten, ist seit Hume eine erkenntnistheoretische Binsenweisheit. (Daß wir dennoch in der Praxis so vorgehen und darin auch pragmatisch gerechtfertigt sein können, ist die andere – allerdings weniger unumstrittene – Erkenntnis Humes.83) Scholz möchte offenbar nicht die grundsätzliche These vertreten, der Empirismus sei aufgrund des Induktionsproblems gescheitert in dem Sinne, daß es keine empirisch prüfbaren Hypothesen gebe. Wenn es also möglich sein soll, empirische Hypothesen über unterschiedliche Erkenntnisobjekte zu bilden – warum dann nicht auch über „Meinungssysteme und Schlußstrategien“ realer Menschen? Wenn wir aufgrund unserer bisherigen Erfahrungen in einem RaumZeit-Bereich über naturwissenschaftliche Erkenntnisgegenstände allgemeine Hypothesen bilden, gibt es keinen erkennbaren Grund, warum wir nicht auf demselben Wege zu empirischen Hypothesen über menschliche Dispositionen gelangen sollten. Eine Hypothese über das Verhalten von australischen Ureinwohnern auf Basis von Erfahrungen mit Menschen im europäischen Kulturkreis ist – methodologisch gesehen – nicht prinzipiell verschieden von der Hypothese eines Naturforschers über das Verhalten von Tieren einer bestimmten Art in Australien auf Basis von Beobachtungen an Tieren dieser Art in Europa. Sowohl die naturwissenschaftliche als auch die humanwissenschaftliche Hypothese beruht auf einer raum-zeitlichen Verallgemeinerung, die kein logischer Schluß sein 83
Popper hat bekanntlich bestritten, daß es überhaupt eine solche empirischpsychologische Induktion gibt (vgl. etwa 1934: 374). Ich kann ihm in diesem Punkt jedoch nicht folgen. Recht hat Popper allerdings mit dem Hinweis, daß in vielen Fällen die Wiederholung nicht ausschlaggebend ist bei einem „Lernen aus Erfahrung“. Ein Kind muß nicht wiederholt eine heiße Herdplatte anfassen, um zu erkennen, daß es sich daran verbrennen kann. In Poppers Lerntheorie bleibt es jedoch mysteriös, wie wir überhaupt zu unseren Erwartungen und Theorien kommen.
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen
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kann, weil sie gehaltserweiternd ist, die aber dennoch ein legitimes Mittel der Theoriebildung sein kann. Das von Scholz gegen Quines Auffassung, seine Zurückweisung der These von der prälogischen Mentalität sei empirisch und nicht apriorisch, angeführte Argument ist also höchst zweifelhaft, denn dieses Argument ließe sich gegen jegliche empirische Theoriebildung einwenden. Da Scholz die Möglichkeit empirischer Theoriebildung nicht grundsätzlich bestreitet, beruht sein Argument auf einer Prämisse, die er selbst nicht teilt. Es ist daher hinfällig. Doch Scholz sieht sogar „in bezug auf Angehörige unserer eigenen Kultur“ für einen Interpreten eine Schwierigkeit, auf der Basis seiner Erfahrungen zu dem Urteil zu gelangen, daß absurde Meinungen die Ausnahme bilden: „Denn natürlich müssen wir im allgemeinen interpretieren, was eine Person sagt, um entscheiden zu können, ob sie abwegige Meinungen hat. Und dazu müssen wir eine Art Übersetzungshandbuch oder etwas Vergleichbares erstellen. Bei der Entwicklung eines solchen Manuals sollen wir, wie Quine ja selbst betont, nachsichtig verfahren, d.h., die Zuschreibung abwegiger Meinungen nach Möglichkeit gerade vermeiden. Um also auf induktivem Wege Anhaltspunkte für das Charity-Prinzip zu sammeln, müßten wir bereits voraussetzen, daß es korrekt ist. Demnach würde der Versuch, das Prinzip induktiv zu rechtfertigen, in einer petitio principii landen“ (Scholz 1999: 199). Setzt also derjenige, der meint, bestimmte menschliche Dispositionen, etwa kommunikative Rationalität, empirisch ermitteln zu können, das bereits voraus, was er erst durch Erfahrung feststellen möchte? Und wenn ja: Ist das ein Problem für die empirische Hypothesenbildung? Bezogen auf Angehörige unseres eigenen Kulturkreises liegt hier offenkundig das von Scholz behauptete methodologische Problem gar nicht vor: Erstens müssen wir kein „Übersetzungshandbuch“ erstellen, um eine Person unseres eigenen Kulturkreises zu verstehen. Zweitens können wir bei Personen unseres Kulturkreises, die wir im allgemeinen auch ohne Übersetzungshandbuch verstehen, in stärkerem Ausmaß auch Falschheitspräsumtionen und Irrationalitätsunterstellungen verwenden, als dies – aus den im Rahmen der Diskussion über Erstübersetzung bekannten methodologischen Gründen – beim Verstehen von Personen möglich ist, deren Sprache wir nicht kennen. Drittens: Selbst dann, wenn wir gezwungen sind, das CharityPrinzip zu verwenden, um eine Person zu verstehen, müssen wir damit nicht voraussetzen, daß das Prinzip „korrekt ist“, genauer gesagt: daß wir berechtigt sind, das Prinzip auf den gegebenen Fall anzuwenden. Ob wir dazu berechtigt waren, klärt sich – eventuell – im nachhinein. Dies ist aber für einen nichtnaiven Empiristen (bzw. kritischen Rationalisten), der lediglich beansprucht, daß Hypothesen empirisch prüfbar sein sollen, nicht aber, daß sie vor ihrer Verwendung auch tatsächlich empirisch geprüft worden sind, kein methodologisches Problem. Denn in solchen Fällen handelt es sich lediglich um Annahmen, die genetisch a priori sind (vgl. Popper 1987: 127) – also um für die Praxis des Verstehens unentbehrliche Vorannahmen im Sinne von Abschnitt 3.3.2 – nicht
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aber um „konstitutive Bedingungen“, wie sie in diesem Kapitel besprochen werden. Wie aus dem Argument, daß sich Ethnologen, die scheinbar widersprüchliche oder absurde Äußerungen des Sprechers einer fremden Sprache als tatsächliche Widersprüche oder Absurditäten interpretieren und dabei – wie etwa der Ethnologe Lévy-Bruhl – eine prälogische Mentalität des Sprechers unterstellen, methodologisch absurd verhalten, eine Konstitutivitätsthese hergeleitet werden soll, möchte Scholz im folgenden begründen: Er referiert ausführlich das bekannte Beispiel des Ethnologen, der die Lautfolge „p kei uh p“ eines Eingeborenen als „p und nicht-p“ übersetzt und dann behauptet, diese Eingeborenen besäßen eine prälogische Mentalität. „Was könnte aber ein stärkerer Grund gegen die Richtigkeit der genannten Übersetzungshypothesen sein als der, daß sie dazu führen, ernsthafte Aussagen als Kontradiktionen zu übersetzen und damit die fremden Sprecher als Leute hinzustellen, die inkonsistente Überzeugungen haben?“ (Scholz 1999: 200).
Erneut müssen wir uns fragen, worin denn eigentlich die Konstitutivitätsthese bestehen soll. Wenn die Konstitutivitätsthese in der Forderung besteht, zunächst einmal von der Rationalität des Sprechers auszugehen, bis sich das Gegenteil erweist, handelt es sich um nichts anderes als um die These von den Präsumtionen als unentbehrliche Mittel des Verstehens (instrumentelle Notwendigkeit) und damit um ein lediglich zeitliches Apriori. Wenn die Konstitutivitätsthese aber darin besteht, jegliche Unterstellung von Irrationalität zu verbieten und die Präsumtion der Rationalität für unumstößlich zu erklären, dann unterscheidet sie sich wirklich von der These bloßer instrumenteller Notwendigkeit. Sie hätte dann zwar einen starken apriorischen Anspruch, wäre aber zugleich auch falsch, da es bekanntlich Fälle offenkundiger Irrationalität de facto gibt; sogar logische Widersprüche im Meinungssystem von Sprechern kommen gelegentlich vor – übrigens nicht nur bei Eingeborenen, sondern durchaus auch bei Angehörigen unseres Kulturkreises, mitunter sogar bei solchen, die sich als Philosophen beruflich auf die Bildung konsistenter Meinungssysteme spezialisiert haben. Um das Zwischenergebnis kurz festzuhalten, kann man sagen, daß die Berufung auf Quines Ausführungen über die Übersetzung logischer Konstanten bei der Erstübersetzung keine Konstitutivitätsthese begründet, die über die lediglich instrumentelle Notwendigkeit hermeneutischer Präsumtionen hinausgeht. Da die Verwendung von Präsumtionen als unentbehrliche Mittel des Verstehens, wie wir gesehen haben, zum einen nicht völlig losgelöst ist von Erwartungen, die aufgrund bisheriger Erfahrung gebildet wurden, und zum anderen allenfalls zeitlich der empirischen Prüfung vorangeht, ohne apriorische Geltung beanspruchen zu können, läßt sich der „Empirist und Naturalist Quine“, der „bekanntlich kein Freund aprioristischer Begründungen ist“, auch nicht vor den Karren einer aprioristischen Begründung hermeneutischer Präsumtionen spannen. Wer den-
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noch versucht, letzteres zu tun, sollte bedenken, daß er damit Quine ein inkonsistentes Meinungssystem zuschreibt und damit gegen eben jene hermeneutische Präsumtion verstößt, deren apriorische Geltung er nachzuweisen sucht. Der nächste Versuch, die Konstitutivitätsthese methodologisch zu begründen, bezieht sich auf Donald Davidson: „So hat Davidson in selbstbewußteren Momenten behauptet, die einzig gangbare Methode zur Entwicklung von Interpretationstheorien sei das von ihm skizzierte Verfahren der radikalen Interpretation. [...] Man sieht wohl schon, wie diese Ansicht als Ausgangspunkt einer Rechtfertigung des „principle of charity“ verwendet werden kann: Die Methode der radikalen Interpretation ist die einzig gangbare Methode zur Entwicklung von Interpretationstheorien. Dieses Verfahren schreibt notwendig eine durchgängige Anwendung des Nachsichtsprinzips vor, d.h.: ohne Anwendung des Prinzips gelangen wir nicht zu einer brauchbaren Interpretationstheorie. Was die einzig gangbare Methode vorschreibt, ist methodologisch notwendig. Also ist die Anwendung des „principle of charity“ methodologisch notwendig. Was methodologisch notwendig ist, ist offenbar gerechtfertigt. Mithin ist das Nachsichtsprinzip gerechtfertigt“ (Scholz 1999: 203).
Abgesehen davon, daß diese Argumentation nur scheinbar schlüssig ist, da nicht alles, was methodologisch notwendig ist, dadurch auch epistemisch gerechtfertigt sein muß, steht natürlich die erste Prämisse in Frage. Warum sollte die Methode der radikalen Interpretation die einzig gangbare Methode sein? Entsprechend gesteht auch Scholz zu: „daß die Methode der radikalen Interpretation den ausgezeichneten Status hat, den ihr Davidson in der obenzitierten Stelle zuschreibt, ist alles andere als evident. Eine Reihe von Autoren haben Interpretationsmethoden beschrieben, die von Davidsons Vorgehensweise mehr oder weniger stark abweichen, aber deshalb nicht klarerweise untauglich sein müssen. Wieder andere Philosophen haben sogar in Frage gestellt, ob radikale Interpretation, wie Davidson sie beschreibt, überhaupt möglich ist“ (ebd.). Da die erste Prämisse der oben angeführten Argumentation Scholz nicht überzeugt, versucht er, eine verbesserte und überzeugendere Begründung vorzuschlagen: „Ein Versuch, eine solche artikuliertere und dadurch überzeugendere Begründung zu liefern, sähe folgendermaßen aus: Die Methode der radikalen Interpretation ist die einzig gangbare Methode zur Entwicklung von Interpretationstheorien. Im Rahmen der Methode der radikalen Interpretation muß in jedem Falle von Sätzen über Bedingungen des Fürwahrhaltens zu Sätzen über Wahrheitsbedingungen übergegangen werden. Nur ein Nachsichtsprinzip (in der Form einer Wahrheitspräsumtion) ermöglicht diesen Übergang. Also ist das alethische Nachsichtsprinzip methodologisch notwendig. Was methodologisch notwendig ist, ist gerechtfertigt. Mithin ist das alethische Nachsichtsprinzip gerechtfertigt“ (Scholz 1999: 204).
Diese Argumentation ist insofern präziser, als sie angibt, an welcher Stelle im Rahmen der Methode der radikalen Interpretation das Nachsichtsprinzip me-
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thodologisch notwendig sein soll, und zwar beim Übergang von Sätzen über Bedingungen des Fürwahrhaltens zu Sätzen über Wahrheitsbedingungen. Doch sie beseitigt nicht den zentralen, auch von Scholz eingestandenen Mangel, in der ersten Prämisse etwas höchst Zweifelhaftes vorauszusetzen: daß die Methode der radikalen Interpretation die einzig gangbare Methode sei. Zudem bleibt das bereits erwähnte Problem bestehen, daß aus der methodologischen Notwendigkeit keine epistemische Rechtfertigung folgt. Selbst wenn wir zugeben, die radikale Interpretation sei die einzig gangbare Methode, und sie erfordere die Anwendung des Nachsichtsprinzips, so ist damit keine einzige Anwendung des Nachsichtsprinzips epistemisch gerechtfertigt. In jedem einzelnen Fall können wir uns bei der Wahrheitsunterstellung irren. Das einzige, was man sagen kann – die Wahrheit der Prämissen der obigen Argumentation vorausgesetzt –, ist, daß wir keine andere Wahl hatten, sofern wir denn überhaupt verstehen wollten. Aus dieser (hypothetisch angenommenen) Alternativlosigkeit einer Praxis des Verstehens eine epistemische Rechtfertigung derselben abzuleiten, erscheint höchst abenteuerlich. Ist aber mit „Rechtfertigung“ keine epistemische Berechtigung gemeint, sondern eine pragmatische, löst sich das angestrebte Argument für die Konstitutivitätsthese wiederum in Luft auf.
3.3.4.2.2
Begründungen aus dem Holismus der Interpretation
Auch Scholz scheint die bislang angeführten Begründungen der Konstitutivitätsthese nicht für ausreichend zu halten, so daß er in einem zweiten Anlauf Begründungen aus dem Holismus der Interpretation anführt und hierbei erneut als erstes auf Quine Bezug nimmt. Quines Holismus der Überprüfung empirischer Theorien, der insbesondere durch seinen Aufsatz über die beiden Dogmen des Empirismus populär wurde, besagt bekanntlich, daß durch einen Widerstreit unserer Theorie(n) mit der Erfahrung nicht festgelegt wird, welche Sätze innerhalb der Theorie – respektive: welche Theorien innerhalb unseres gesamten Systems von Theorien – widerlegt worden sind und revidiert werden müssen (vgl. Quine 1953). Davidson habe Quines Holismus der Theorieprüfung auf den Bereich der bei einem Sprecher zu identifizierenden und zu interpretierenden Überzeugungen übertragen und die „These von der Unentwirrbarkeit von Bedeutungen und Überzeugungen, oder allgemeiner: propositionalen Einstellungen“ aufgestellt, mit dem „Ziel einer [...] Bedeutungstheorie für eine gesamte Sprache“, die „untrennbar verbunden [sei] mit einer Theorie über die Meinungen der Sprecher dieser Sprache“ (Scholz 1999: 207 f.). Scholz sieht in diesem Holismus der Interpretation eine mögliche Begründung der Konstitutivitätsthese: „Vor diesem Hintergrund können wir jetzt eine Begründung aus dem Holismus der Interpretation skizzieren: Jede Theorie der Interpretation muß den Äußerungen Bedeutungen zuweisen und den Sprechern propositionale Einstellungen, insbesondere Meinungen und Wünsche, zuschreiben. Die Bedeutungszuweisungen und die Einstel-
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lungszuschreibungen sind wechselseitig voneinander abhängig. Jede Theorie der Interpretation muß das Problem dieser wechselseitigen Abhängigkeit lösen. Das Nachsichtsprinzip liefert nun gerade die Lösung: Die Spielräume für Meinungszuschreibungen werden eingeschränkt, während festgelegt wird, wie die Äußerungen zu interpretieren sind. Da das Charity-Prinzip die Lösung für ein Problem liefert, mit dem jede Interpretationstheorie fertigwerden muß, ist seine Anwendung gerechtfertigt, ja sogar notwendig“ (Scholz 1999: 209).
Nun wäre es erneut angebracht zu klären, in welchem Sinn hier von „notwendig“ und „gerechtfertigt“ die Rede ist, und ob daraus überhaupt etwas für die Konstitutivitätsthese folgt, die ja eine apriorische Geltung der hermeneutischen Präsumtionen behauptet. Der erste und naheliegendste Einwand gegen die von Scholz skizzierte Begründung aus dem Holismus der Interpretation besteht jedoch darin, daß jedes beliebige Verstehensprinzip die Aufgabe erfüllt, „Spielräume für Meinungszuschreibungen“ einzuschränken und festzulegen, „wie die Äußerungen zu interpretieren sind“. Scholz selbst zitiert Colin McGinn, der pointiert darauf hingewiesen hat, daß ein „‚principle of uncharity’ eine ebensogute Lösung des Problems der wechselseitigen Abhängigkeit von Bedeutungszuweisungen und Einstellungszuschreibungen ermöglicht“ (Scholz 1999: 210). Natürlich ging es McGinn nicht darum, ein solches Prinzip übelwollender Interpretation tatsächlich aufzustellen oder das principle of charity für unbrauchbar zu erklären.84 Vielmehr beschäftigt er sich mit der Frage „what status such a principle enjoys“ (McGinn 1977: 521), und er kritisiert den Anspruch, durch ein transzendentales Argument zu begründen „that most of what others say and believe is going to be true“ (McGinn 1977: 522). Daß Falschheitspräsumtionen tatsächlich ebensogut wie Wahrheitspräsumtionen dazu geeignet sind, Spielräume für Meinungszuschreibungen einzuschränken, scheint Scholz jedoch zu bezweifeln: „Nun genügt die pauschale und unspezifische Annahme, die Überzeugungen des Sprechers seien falsch, sicher nicht. Es gibt einfach viel zu viele Möglichkeiten, wie die Überzeugungen falsch sein könnten. Wissen wir, daß jemand wahre Meinungen über eine bestimmte Sache hat, dann können wir gut eingrenzen, welche Meinungen dies sind, soweit wir selbst im Besitz der Wahrheit sind. Wissen wir dagegen, daß jemand falsche Meinungen über etwas hat, dann haben wir noch nicht die geringste Ahnung, welche Meinungen dies sein könnten“ (Scholz 1999: 210, meine Hervorhebung).
Es ist ganz richtig, daß wir wüßten, welche Meinungen jemand hat, wenn feststünde, daß die Meinungen, die er hat, wahr sind, und wir zugleich „im Besitz der Wahrheit“ wären. Bedauerlich ist nur, daß wir weder im Besitz der 84 Obwohl McGinn nicht die Absicht hatte, ernsthaft ein „principle of uncharity“ einzuführen, sollte man die Möglichkeit der Verwendung allgemeiner Falschheitspräsumtionen beim Verstehen und Interpretieren nicht vorschnell negieren.
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Wahrheit sind noch wissen, daß die Meinungen, die jemand hat, wahr sind. (Letzteres unterstellen wir bloß, wenn wir uns einer Wahrheitspräsumtion bedienen.) Und da wir dies nicht wissen, ist für die Praxis des Verstehens und Interpretierens ein unspezifisches Charity-Prinzip ebenso fragwürdig wie ein unspezifisches Uncharity-Prinzip. Wie in einem späteren Abschnitt näher ausgeführt werden soll, verwenden wir beim Verstehen und Interpretieren sowohl Wahrheits- als auch Falschheitsunterstellungen, die insofern allgemein sind, als daß sie sich auf ganze Arten von Meinungen bzw. Zeugnissen beziehen können, aber zugleich stets spezifisch sind, insofern sie nicht beliebige wahre oder falsche Meinungen unterstellen, sondern nur erklärbar falsche und erklärbar wahre Meinungen. Ein Beispiel für die von Henderson vorgeschlagene Unterordnung der hermeneutischen Präsumtionen unter das Prinzip der Erklärbarkeit (vgl. Henderson 1993 u. Henderson 2003) mag bereits in diesem Diskussionszusammenhang hilfreich sein: Nehmen wir an, wir wüßten von einem Menschen nichts anderes, als daß er ein Angehöriger eines bestimmten (fremden) Volkes ist, von dem bekannt ist, daß es sich gegen Fremdeinflüsse abschottet. Wir gehen also davon aus, daß ein Angehöriger dieses Volkes über unsere eigene Kultur, einschließlich unserer Technik, den Wissenschaften, Künsten und Lebensgewohnheiten, entweder keine oder aber falsche Vorstellungen hat. Dagegen werden wir erwarten, daß dieser Mensch über Phänomene seiner eigenen Lebenswelt gut unterrichtet ist. Wir arbeiten also zugleich mit allgemeinen Wahrheits- als auch mit Falschheitspräsumtionen gegenüber Zeugnissen bestimmter Art. Diese Präsumtionen sind insofern spezifisch, als sie sich ausschließlich auf erklärbar wahre und erklärbar falsche Meinungen beziehen: Daß sich der Angehörige der fremden Kultur in bezug auf bestimmte Erkenntnisgegenstände systematisch irrt und in bezug auf andere nicht, ergibt sich aus unserem Hintergrundwissen und unseren theoretischen Vorannahmen, welche jedoch fallibel sind. Sollten wir jemals mit einem Angehörigen dieser Kultur zusammentreffen, werden wir derartige Wahrheits- und Falschheitspräsumtionen beim Verstehen und Interpretieren seiner Äußerungen verwenden, möglicherweise aber auch feststellen, daß sie weiter präzisiert und modifiziert werden müssen oder sogar einfach falsch waren.
3.3.4.2.3
Begründungen unter Berufung auf einen Wahrheitshintergrund
Der im weiteren Verlauf von Scholz ausgearbeitete Grundgedanke der sogenannten „Begründungen unter Berufung auf einen Wahrheitshintergrund“ lautet, daß nur derjenige überhaupt eine Meinung haben kann, der eine Vielzahl wahrer Meinungen besitzt. Die Grobstruktur des Argumentes läßt sich folgendermaßen angeben:
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„Meinungen sind durch ihre Inhalte gekennzeichnet. D.h.: Etwas ist nur dann eine Meinung, wenn es einen festgelegten Inhalt hat. Der Inhalt einer Meinung wird durch ihren Platz in einem weitläufigen Muster von mit ihr zusammenhängenden wahren Meinungen festgelegt. Also kann nur, wer eine große Menge wahrer Meinungen hat, überhaupt eine Meinung haben. – Dies gilt natürlich insbesondere auch für falsche Meinungen: Nur wer eine große Menge wahrer Meinungen hat, kann demnach eine falsche Meinung haben“ (Scholz 1999: 211).
Es überrascht nun doch, daß Scholz ein solches Argument gegen die Möglichkeit überwiegend falscher Meinungen innerhalb eines Meinungssystems anführt, obwohl er gegen Dennetts These von der evolutionären Notwendigkeit bereits scharfsinnige Argumente ins Feld geführt hat, die auch das nun vorgebrachte Argument obsolet erscheinen lassen: Wenn es in weiten Bereichen unseres Meinungsspektrums (für unser Überleben) ausreichen soll, daß wir „passende“ Meinungen besitzen, die häufig jedoch nicht „stimmen“, d.h. falsch sind, läßt sich auch die Möglichkeit überwiegend falscher Meinungen in Betracht ziehen. Und solange die innerhalb eines Meinungssystems verwendeten Begriffe sich auf eindeutig zuzuordnende Gegenstände beziehen, scheint zunächst auch kein Problem darin zu bestehen, Personen falsche Meinungen zuzuschreiben, auch wenn es überwiegend falsche sein sollten.85 Die bei Scholz vorliegende Fassung der These geht zurück auf Aufsätze Donald Davidsons aus den 80er Jahren, insbesondere auf „Thought and Talk“: Es könne, so Davidson, zwar nicht angenommen werden „that speakers never have false beliefs“ (Davidson 1984/1985: 168), aber die meisten Meinungen müßten als wahr gelten: „We can, however, take it as given that most beliefs are correct. The reason for this is that a belief is identified by its location in a pattern of beliefs; it is this pattern that determines the subject matter of the belief, what the belief is about. Before some object in, or aspect of, the world can become part of the subject matter of a belief (true of false) there must be endless true beliefs about the subject matter. False beliefs tend to undermine the identification of the subject matter; to undermine, therefore, the valid85
Die Probleme, die sich aus der Vagheit der postulierten These von der Wahrheit „der meisten“ unserer Überzeugungen ergeben, habe ich in der Auseinandersetzung mit Quinton („Most testimony must be reliable“) bereits ausgeführt. Trotz der großen Ähnlichkeit der transzendentalen These Quintons (und Coadys) und der hier diskutierten, gibt es einen beträchtlichen Unterschied, der damit zusammenhängt, daß es sich um unterschiedliche Erkenntnisgegenstände handelt, deren überwiegende Wahrheit jeweils behauptet wird: im einen Fall um Zeugnisse, im anderen um Meinungen. Dies macht durchaus einen relevanten Unterschied, der bei der Kritik an der jeweiligen transzendentalen These wichtig sein kann. Im Zusammenhang der These von der Wahrheit der meisten Meinungen (beliefs) wird unter „Meinung“ etwas verstanden, was völlig unbewußt und implizit bleiben kann und von dem noch nicht einmal gesprochen werden muß. Ein Zeugnis (testimony) im Sinne einer assertorischen Sprechhandlung muß hingegen zumindest sprachlich artikuliert werden.
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ity of a description of the belief as being about that subject. And so, in turn, false beliefs undermine the claim that a connected belief is false” (Davidson 1984/1985: 168).
Wie ist es nun gemeint, daß wir einen Erkenntnisgegenstand nicht (oder jedenfalls schlechter) identifizieren können, wenn wir falsche Meinungen über ihn besitzen? – Davidson selbst verdeutlicht dies, indem er fragt, woher wir wissen, daß einige unserer Vorfahren die Erde für eine Scheibe gehalten haben und damit wirklich diese unsere Erde gemeint haben. Er gibt darauf die Antwort: „Well, this earth of ours is part of the solar system, a system partly identified by the fact that it is a gaggle of large, cool, solid bodies circling around a very large, hot star. If someone believes none of this about the earth, is it certain that it is the earth that he is thinking about?” (ebd.).
In der von Davidson präsentierten Form ist das transzendentale Argument zugunsten der Wahrheit der meisten Meinungen offenkundig unhaltbar: Die Bezugnahme auf eine bestimmte kosmologische Theorie, die mit der neuzeitlichen Physik übereinstimmt, kann nicht das Kriterium dafür sein, daß jemand von dieser unserer Erde spricht. McGinn hat – wie Scholz referiert – den naheliegenden Einwand geäußert, daß auch eine von der neuzeitlichen Kosmologie völlig abweichende Meinung über Sterne als eine (falsche) Meinung über Sterne verstanden werden könne. Von Davidson ausgehend, aber unter Berücksichtigung der Kritik McGinns, formuliert Scholz nun ein verbessertes Argument, das die Wahrheit der meisten unserer Meinungen als Bedingung der Möglichkeit herausstellen soll, überhaupt (wahre oder falsche) Meinungen zu besitzen: „Wir müssen McGinn natürlich darin recht geben, daß Menschen irrige Meinungen über Sterne hatten und etliche vergleichbare irrige Meinungen zu allen Zeiten gehegt haben und noch hegen. Ein Verzeichnis menschlicher Irrtümer und Narrheiten müßte zweifellos einen beträchtlichen Umfang haben. Man kann Menschen somit oft mit Recht falsche, sogar eklatant falsche, Meinungen zuschreiben. Bevor wir voreilige Schlüsse aus dieser Betrachtung ziehen, sollten wir uns aber fragen, aus welchem Grund wir so zuversichtlich sind, daß die Alten beispielsweise die genannte irrige Auffassung von den Sternen hatten, d.h., daß sich ihre Meinung auf die Sterne bezog. Aus welchem Grunde glauben wir in dem von McGinn geschilderten Fall, daß die Meinungen der Alten und unsere Meinungen sich auf dasselbe beziehen, daß wir somit divergierende Ansichten über dieselbe Sache haben? Nun, ich denke, weil wir in zahlreichen grundlegenden Punkten, auch was die Sterne angeht, mit den Alten übereinstimmen. Dazu gehören so unspektakuläre Meinungen wie die, daß Sterne leuchten, daß sie am Nachthimmel zu sehen sind, daß sie manchmal von Wolken verdeckt werden, daß es sehr viele von ihnen gibt, daß sie weit von uns entfernt sind, daß einige von ihnen heller sind als andere, und manches weitere von dieser Art“ (Scholz: 214 f.).
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Diese Argumentation86 beruht auf der realistischen Prämisse, daß unsere Theorien abhängig sind von einer Fülle an Hintergrundwissen, das in der Regel implizit bleibt. Durch diese realistische Prämisse kommt der modifizierten transzendentalen Argumentation eine gewisse Anfangsplausibilität zu. In der Tat kann man annehmen, daß der heutige Physiker mit dem mittelalterlichen Bauern in vielen Alltagswahrnehmungen des Sternenhimmels übereinstimmt, die sich als Bestandteil des Hintergrundwissens deuten lassen, und diese selbstverständliche Übereinstimmung in den Sinneswahrnehmungen unterstellen wir üblicherweise, wenn wir über einen intersubjektiv wahrnehmbaren Gegenstand der realen Welt sprechen. Aber es ist bereits fraglich, ob es sich bei den von Scholz exemplarisch angeführten Sinneswahrnehmungen überhaupt um Meinungen handelt. Sind wir bereit, den Begriff der Meinung auch auf völlig unreflektierte und unbewußte Wahrnehmungen (bzw. Erinnerungen an Wahrnehmungen) anzuwenden? Eine solche Begriffsverwendung stimmt zumindest nicht überein mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, nach dem jemand etwas nur dann „meint“, wenn er auch weiß, daß er es meint. Neben der notwendigen Bedingung der Bewußtheit wird üblicherweise als weitere notwendige Bedingung angenommen, daß etwas zumindest in irgendeiner Form verbalisiert sein muß, um eine „Meinung“ zu sein, was auf die von Scholz erwähnten Sinneseindrücke üblicherweise nicht zutrifft. Aber auch in diesem Fall würde man bloße Beschreibungen von Sinneseindrücken noch nicht als „Meinungen“ bezeichnen. Doch selbst dann, wenn wir die angeführten Sinneswahrnehmungen als „Meinungen“ bezeichneten, können wir gar nicht wissen, ob diese „Meinungen“ über alle Zeiten hinweg geteilt werden. Wir gehen einfach davon aus, daß sich Menschen aller Zeiten auf Sterne beziehen, wenn sie von „Sternen“ sprechen, ohne eigens zu prüfen (und in der Regel ohne prüfen zu können), ob sie ähnliche Sinneswahrnehmungen beim Betrachten dieser Gegenstände der realen Welt hatten. Abgesehen davon ist es vielleicht ratsam, einmal mehr darauf hinzuweisen, daß die Übereinstimmung von „Meinungen“, selbst wenn diese auf direkter Sinneswahrnehmung beruhen, kein Wahrheitskriterium darstellt. – Wir können also nicht wissen, ob die Menschen aller Zeiten in den meisten „grundlegenden Punkten“87 wahre Meinungen hatten. 86
Am Rande sei erwähnt, daß diese im Kontext der analytischen Philosophie angesiedelte transzendentale Argumentation nahezu identisch ist mit der These Gadamers, das Verstehen sei immer auch ein Einverständnis, da selbst ein Divergieren von Meinungen über einen Gegenstand getragen sei von einem grundlegenderen Konsens über diesen Gegenstand. Auch Autoren sprachanalytischer Provenienz haben diese These aufgegriffen. So könnten wir, wie Künne ausführt, zwar über Sokrates (begrenzt) anderer Meinung sein, aber um diese historische Person überhaupt als Sokrates zu identifizieren, müßten wir in den wesentlichen Punkten übereinstimmen (vgl. Künne 2003: 64). 87 Daß es sich bei den wahrnehmungsbezogenen und impliziten „Meinungen“ tatsächlich um „grundlegende Punkte“ handelt, ist natürlich ebenfalls fraglich, da üblicherweise vor allem der theoretischen Interpretation der Sinneswahrnehmungen, die von dem Akt der Wahrnehmung nicht völlig zu trennen ist, grundlegende Bedeutung zugeschrieben wird.
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Dritter Teil
Müssen wir dies, was wir nicht wissen, nun aber unterstellen, um anderen Menschen überhaupt Meinungen zuzuschreiben? – Die Beantwortung dieser Frage hängt wiederum ganz von der Verwendung des Modalverbs „müssen“ ab und führt uns zurück zu der Ausgangsfrage, ob es sich bei den hermeneutischen Präsumtionen lediglich um instrumentell notwendige Mittel des Verstehens oder um apriorisch notwendige Bedingungen handelt. Die Berufung auf einen „Hintergrund überwiegend wahrer Meinungen“ als Bedingung der Möglichkeit der Identifikation von (wahren oder falschen) Meinungen konnte bislang kein unabhängiges Argument für die apriorische Auffassung der hermeneutischen Präsumtionen beibringen. Vor allem gibt es keinerlei Argument dafür, daß die wahrnehmungsbezogenen Alltagsmeinungen, die hier den „Hintergrund“ abgeben, tatsächlich von allen geteilt werden, ebensowenig, daß sie wahr sind. Falls es also „notwendig“ ist, das ausnahmslose Vorhandensein und die Wahrheit solcher Hintergrundannahmen zu unterstellen, dann geht es hierbei lediglich um ein instrumentell notwendiges Mittel des Verstehens. Scholz erweckt im folgenden den Eindruck, es komme Davidson (und ihm) hauptsächlich „auf Tendenzaussagen der folgenden Art an: Je größer der Hintergrund wahrer Meinungen ist, desto konturierter treten die Irrtümer einer Person hervor; je kleiner er wird, desto unsicherer und unklarer werden unsere Zuschreibungen“ (Scholz: 216). Diese These ist deutlich schwächer als die zuvor besprochene transzendentale Behauptung, die Wahrheit der meisten Meinungen innerhalb eines Meinungssystems sei eine Bedingung der Möglichkeit, überhaupt eine (wahre oder falsche) Meinung zu identifizieren. In der abgeschwächten These wird nur noch behauptet, daß ein möglichst hoher Anteil wahrer Meinungen die Zuschreibung von Meinungen begünstigt (bzw. sicherer und klarer macht). Während für die starke transzendentale These, die ja eigentlich in diesem Abschnitt als besonders gewichtige konstitutive Bedingung des Verstehens dargestellt werden sollte, bislang stichhaltige Argumente fehlten, reicht die abgeschwächte These nicht aus, um mit ihr einen transzendentalen Anspruch zu verbinden. Im folgenden beruft sich Scholz auf den Aufsatz „General Beliefs and the Principle of Charity“ (1982) von Bruce Vermazen mit dem Ziel, doch noch ein sprachphilosophisches Argument für die Auffassung von hermeneutischen Präsumtionen als begriffskonstitutive Bedingungen des Verstehens unter Berufung auf einen Wahrheitshintergrund von Meinungen zu erhalten. Vermazen möchte gegen McGinn die These verteidigen, daß Charity notwendig ist: „In this paper I propose and defend the thesis that charity is necessary for interpretation“ (Vermazen 1982: 111 f.). Hierbei spielt zum einen die Unterscheidung zwischen relationalen und notionalen Meinungen eine Rolle, zum anderen eine an Putnam angelehnte Konzeption der Bedeutung von Begriffen, beides im Kontext der „radikalen Interpretation“ Donald Davidsons. In dem Gesamtprojekt der radikalen Interpretation, so Vermazen und Scholz, „kommen nicht nur die auf Wahrnehmungskontakt beruhenden relationalen Meinungen vor, auf die sich McGinn kapriziert. Grundlegend für die Interpretation der Ausdrücke der fremden Spra-
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che ist vielmehr auch die Zuschreibung allgemeiner Meinungen“ (Scholz 1999: 217). Und diese allgemeinen notionalen Meinungen, „soweit an ihnen beharrlich festgehalten wird, betrachten wir als die Meinungen, die maßgeblich zu der Festlegung der Bedeutung der Ausdrücke beitragen, die in ihnen vorkommen“ (ebd.). In einem Exkurs über Bedeutungstheorien hebt Scholz unter Berufung auf Wittgenstein und Putnam hervor, daß sich in der Regel weder – wie von der traditionellen Bedeutungstheorie postuliert – „die analytisch notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Zugehörigkeit zu der Klasse der unter den Begriff fallenden Gegenstände angeben“ (ebd.) lassen, noch die Bedeutung von Wörtern identisch ist mit den Geisteszuständen von Sprechern (vgl. Scholz 1999: 218). „Allgemeine Meinungen kommen an mehreren Stellen ins Spiel. Zunächst und vor allem sind die Meinungen zu nennen, welche die mit den jeweiligen Begriffswörtern verknüpften Stereotypen bilden. Wer beispielsweise das Wort ‚Tiger’ gelernt hat und infolgedessen jetzt beherrscht, der hat eine ganze Reihe von Fähigkeiten erworben. Er kann etwa syntaktisch wohlgeformte Sätze bilden, in denen das Wort ‚Tiger’ vorkommt. [...] Darüber hinaus hat er aber eine Reihe von Meinungen über Tiger erworben. Er glaubt etwa, daß Tiger gestreifte Raubkatzen sind, daß ausgewachsene Exemplare deutlich größer und deutlich gefährlicher als Hauskatzen sind und ähnliches mehr. Mit anderen Worten: Der Schüler hat eine minimale Laientheorie über Tiger erworben. Solche Laientheorien nennt Putnam ‚Stereotypen’. Ein Stereotyp bildet nach Putnam eine Komponente der Bedeutung eines generellen Terminus“ (Scholz 1999: 218 f.).
Stereotypen können zwar auch falsch sein, „dennoch [müssen] die meisten unserer Stereotypen und in der Regel auch die meisten der das jeweilige Stereotyp konstituierenden Meinungen korrekt sein [...], wenn uns die Beherrschung der entsprechenden Begriffe zugeschrieben werden soll und genuine Verständigung über Dinge in der Welt möglich sein soll“ (Scholz 1999: 219). Man muß also, laut Putnam, schon eine Menge über Tiger wissen, um das Wort „Tiger“ korrekt zu gebrauchen: „In this view someone who knows what ‚tiger’ means [...] is required to know that stereotypical tigers are striped. More precisely, there is one stereotype of tigers (he may have others) which is required by the linguistic community as such; he is required to have this stereotype, and to know (implicitly) that it is obligatory. This stereotype must include the feature of stripes if his acquisition is to count as successful“ (Putam 1975: 250).
Die Meinungen wiederum, welche die Stereotypen ausmachen, müssen „allgemeine Meinungen sein, da sie die Charakteristika von Arten oder von typischen oder idealisierten Mitgliedern von Arten betreffen. Es sind Meinungen wie ‚Tiger sind gestreifte Großkatzen’, ‚Zitronen sind Früchte mit gelber Schale, die sehr sauer schmecken’ und ähnliche. Solche allgemeine Meinungen sind no-
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tionale Meinungen; sie werden nicht auf der Grundlage eines beobachteten epistemischen Kontaktes mit ‚allgemeinen Dingen’ zugeschrieben. Vielmehr handelt es sich um notionale allgemeine Überzeugungen“ (Scholz 220). Weiterhin gebe es so etwas wie „sprachliche Arbeitsteilung“, in deren Rahmen allgemeine notionale Meinungen gebildet werden, welche Art von Autoritäten in „unklaren oder strittigen Fällen die Extension der Termini bestimmen“ (ebd.). Beispielsweise weisen wir ganz allgemein Chemikern, Juwelieren und ähnlichen Expertengruppen die Zuständigkeit zu, die Extension des Begriffes „Gold“ zu bestimmen, ohne hierbei an einzelne Personen zu denken. Wir besitzen also, so Scholz, auch allgemeine notionale Meinungen im Hinblick auf Autoritäten, welche die Extension von Begriffen verbindlich festlegen. „Fassen wir zusammen: Um überhaupt Meinungen über etwas zu haben, müssen wir über einen Hintergrund wahrer Meinungen verfügen, nämlich mindestens (a) über die allgemeinen notionalen Meinungen, welche die mit den Begriffswörtern verknüpften Stereotype verkörpern, und des weiteren (b) über die notionalen Meinungen, die anzeigen, welche Gruppe von Sprechern im Rahmen der sprachlichen Arbeitsteilung die Extension des Ausdrucks bestimmt“ (Scholz: 220).
Liegt hiermit ein gültiges Argument für die hermeneutische Wahrheitspräsumtion vor? Dieses Argument, sofern eines vorliegt, wäre natürlich äußerst voraussetzungsvoll: Es wurde entwickelt im Rahmen der Bedeutungstheorie Putnams und Donald Davidsons Konzeption der radikalen Interpretation und hängt dementsprechend unter anderem von der Akzeptanz dieser theoretischen Ansätze ab. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den genannten Theorien würde zu weit führen, ich möchte daher nur auf die Aspekte eingehen, die für die Frage der Rechtfertigung des Charity-Prinzips eine Rolle spielen. Der ganze immense Argumentationsaufwand wurde mit dem Ziel unternommen, die mit dem principle of charity verbundene Wahrheitspräsumtion unter Berufung auf einen Wahrheitshintergrund zu rechtfertigen. Doch selbst wenn wir uns die durchaus anfechtbare Auffassung zu eigen machen, daß ein Sprecher – um überhaupt Meinungen zu haben – über einen immensen Hintergrund wahrer Meinungen verfügen muß, ist damit für die Wahrheitspräsumtion des CharityPrinzips nichts gewonnen. Weder folgt die Wahrheitspräsumtion des CharityPrinzips logisch aus den genannten Überlegungen noch können diese als Argument für die wohlwollende Interpretation dienen. Dies wird schnell deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, welche Art von Meinungen es ist, deren Wahrheit – bis auf den Nachweis des Gegenteils – zu unterstellen das Prinzip der wohlwollenden Interpretation fordert: Es geht üblicherweise um die Wahrheit von Meinungen, die ein Sprecher oder der Autor eines Textes explizit äußert – und dies sind in der Regel keine „notionalen Meinungen“.88 Bei manchen Ver88
Manchmal bedeutet Interpretieren zwar auch, die nicht explizit geäußerten Gedanken zu erschließen. Die sogenannte Tiefenhermeneutik beispielsweise beschäftigt sich haupt-
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tretern des Prinzips der wohlwollenden Interpretation finden sich zwar Formulierungen des Charity-Prinzips, die sich auf die Bedeutung von Begriffen beziehen, etwa bei Meier, der fordert, bei der Interpretation eines Textes von jenen Begriffsbedeutungen auszugehen, die mit der Annahme der Vollkommenheit des Autors am besten übereinstimmen. Insofern bedeutet wohlwollende Interpretation zweifellos auch die Unterstellung semantischer Kompetenz. Doch sofern nicht bloß ganz unspezifisch von hermeneutischer Billigkeit, Wohlwollen oder Charity die Rede ist, sondern von der Wahrheitspräsumtion im engeren Sinne, handelt es sich üblicherweise um die Unterstellung der Wahrheit explizit geäußerter Meinungen. Dies gilt im besonderen für die Formulierungen des Nachsichtsprinzips bei Donald Davidson und für Scholzens eigene Theorie der hermeneutischen Präsumtionen89, die die Diskussionsgrundlage dieses Kapitels bildet. Es gilt weiterhin für die Wahrheitspräsumtion gegenüber dem Zeugnis anderer als eigenständiger Erkenntnisquelle, so wie es im Zusammenhang der Sozialen Erkenntnistheorie aufgefaßt wird.90 Und es gilt ebenso für Wahrheitsunterstellungen im Kontext der alltäglichen Verstehens- und Interpretationspraxis. In allen diesen Bereichen des Verstehens und Interpretierens bezieht sich die Wahrheitspräsumtion auf das tatsächlich Geäußerte und nicht auf das begriffliche „Hintergrundwissen“. Wenn wir in der Zeitung von einem behaupteten politischen Ereignis lesen, etwa von einem angeblichen Rücktritt des Bundeskanzlers, dann stellen wir uns nicht die Frage, ob der Autor des Artikels das Wort „Bundeskanzler“ richtig gebraucht und allerhand wahre notionale Meinungen mit dem Wort „Bundeskanzler“ verknüpft, beispielsweise, daß ein Bundeskanzler ein Mensch ist (und alles, was dies impliziert), weiterhin ein Politiker (und ebenfalls alles, was dies impliziert), ein Bürger der Bundesrepublik Deutschland mit aktivem und passivem Wahlrecht und schließlich sogar die relevante „notionale Meinung“91, daß der „Bundeskanzler“ der mit Richtliniensächlich mit nicht-explizit geäußerten Inhalten. Hierbei geht es allerdings um bewußte oder unbewußte Motive, Absichten u.ä., nicht darum, ob „notionale Meinungen“ wahr sind. 89 Scholz bietet keine eigene Formulierung der Wahrheitspräsumtion, sondern orientiert sich an Davidson: „In zwei der häufigsten Fassungen fordert dieses Prinzip vom Interpreten, zu unterstellen, daß die Umstände, unter denen die zu verstehende Person Sätze für wahr hält, im großen und ganzen Umstände sind, unter denen diese Sätze tatsächlich wahr sind (Unterstellung von Wahrheit im großen und ganzen), sowie insbesondere zu unterstellen, daß die Sätze, die jemand für wahr hält, im allgemeinen in sich und untereinander konsistent sind (Konsistenzunterstellung)“ (Scholz 1999: 160). 90 Es kann zwar auch Zeugnisse über „notionale Meinungen“ anderer Menschen geben, beispielsweise in Form eines Berichtes eines vergleichenden Sprachforschers, doch ein solches Zeugnis wäre selbst natürlich keine „notionale Meinung“, sondern wäre eine Beschreibung. 91 Nach der traditionellen Auffassung von Begriffsdefinitionen, die Scholz im Anschluß an Putnam für überwunden erachtet, sind „notionale Meinungen“ natürlich keine Meinungen, sondern entweder Bestandteile der Definition (und damit analytisch) oder Ele-
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kompetenz ausgestattete Regierungschef der BRD ist. Dies alles interessiert uns nicht, wenn wir den Artikel lesen, obwohl es wahr ist, und wir als wohlwollende Interpreten tatsächlich auch unterstellen, daß der Autor des Artikels es weiß. Die mit dem principle of charity verbundene hermeneutische Wahrheitspräsumtion bezieht sich üblicherweise eben nicht auf die Wahrheit der „notionalen Meinungen“, sondern auf die Wahrheit der von einem Sprecher oder Autor explizit vorgebrachten Behauptungen. Daß der Sprecher neben den potentiell wahren Sätzen, die er tatsächlich äußert, möglicherweise noch eine unendliche Vielfalt von – allerdings nicht geäußerten – wahren Meinungen besitzt, die mit den von ihm korrekt verwendeten Begriffen zusammenhängen, kümmert denjenigen nicht, der sich mit der Wahrheit der geäußerten Sätze beschäftigt. Deshalb ist der Hinweis auf einen Hintergrund wahrer notionaler Meinungen nicht geeignet, die mit dem Charity-Prinzip verbundene Wahrheitspräsumtion zu begründen. Neben dieser zentralen Kritik gibt es noch weitere wichtige Kritikpunkte an der oben dargelegten Argumentation: Allgemeine notionale Meinungen, in der Form, in der sie von Scholz in die Diskussion eingebracht werden, sind eine sprachphilosophische Fiktion. Sie sind weder allgemein verbreitet noch im eigentlichen Sinn „Meinungen“. Von einer allgemeinen notionalen Meinung wird erwartet, daß alle oder zumindest die meisten Mitglieder einer Sprachgemeinschaft sie teilen. Sollte dies nicht der Fall sein, so sei Kommunikation unmöglich, denn die Sprachbenutzer, denen die erwarteten notionalen Meinungen fehlen, verfügten nicht über die erforderliche „semantische Kompetenz“. Wer einen bestimmten Begriff korrekt gelernt habe, besitze hingegen zwangsläufig ein Stereotyp dieses Begriffes, das diejenigen notionalen Meinungen enthalte, die den Begriff ausmachen. – Diese sprachphilosophische Auffassung ist jedoch illusionär; bei dem „kompetenten Sprecher“, der im Hinblick auf die von ihm verwendeten Begriffe auch nur über die Mehrzahl der relevanten „notionalen Meinungen“ verfügt, dürfte es sich um eine seltene Ausnahme handeln. In welchem Ausmaß „notionale Meinungen“ in einer Sprachgemeinschaft de facto verbreitet sind, ist eine Frage, die mit Hilfe von empirischen Untersuchungen zu klären ist. Es spricht vieles dafür, daß sprachliche Verständigung mit einem weit geringeren Ausmaß an individueller semantischer Kompetenz sowie an interpersonellen Übereinstimmungen in den „notionalen Meinungen“ funktioniert. Niemand trägt, wenn er spricht und dabei syntaktisch und semantisch korrekte Sätze bildet, ein Lexikon von „notionalen Meinungen“ mit sich herum, in dem auch nur eine Mehrzahl der relevanten mente, die für die Bestimmung des Begriffes nicht relevant und daher in diesem Zusammenhang zu vernachlässigen sind. Wenn die relevanten „notionalen Meinungen“ jedoch analytische Urteile sind, ist ihre Wahrheit trivial und keine Aussage über die Welt; das gesamte „Argument unter Berufung auf den Wahrheitshintergrund“ erweist sich dann schon vom Ansatz her als völlig haltlos. Die Redeweise von „notionalen Meinungen“ ist überhaupt erst sinnvoll, wenn man die Unmöglichkeit der Abgrenzung von analytischen und synthetischen Urteilen behauptet (vgl. Quine 1953 sowie Scholz 1999: 223).
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„Meinungen“ enthalten sind, die die Bedeutung des Begriffs ausmachen. Umgekehrt ist es sogar so, daß sprachliche Kommunikation auch dann noch funktioniert, wenn die Beteiligten über unzureichende oder sogar zum Teil falsche „notionale Meinungen“ verfügen. Wenn jemand einen Satz äußert, in dem von dem gegenwärtigen „Bundeskanzler“ die Rede ist, wird dieser Satz von den Zuhörern auch dann noch verstanden, wenn weder der Sprecher noch die Zuhörer wirklich wissen, was der Begriff „Bundeskanzler“ bedeutet: Sie können allesamt der irrigen Meinung sein, ein „Bundeskanzler“ sei das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland. Dennoch werden sie problemlos verstehen, daß mit der Äußerung über den gegenwärtigen Bundeskanzler (im Jahr 2004) Gerhard Schröder gemeint ist. Man muß also keineswegs als Bedingung der Möglichkeit sprachlicher Verständigung von kompetenten Sprechern ausgehen, die über die meisten relevanten „notionalen Meinungen“ verfügen. Daß Sprecher diese für relevant erachteten „notionalen Meinungen“ nicht besitzen, kann nun aber zweierlei bedeuten: (1.) Das in „notionalen Meinungen“ enthaltene Wissen ist bei den jeweiligen Sprechern schlicht nicht vorhanden. (2.) Die dem kompetenten Sprecher unterstellten „notionalen Meinungen“ sind nicht in einer Form mental repräsentiert, die als „Meinung“ bezeichnet werden kann, beispielsweise dann, wenn dem Sprecher ein Wissen zugeschrieben wird, das ihm nicht bewußt ist oder das er nicht sprachlich reproduzieren kann (implizites Wissen). Es dürfte die Regel sein, daß Sprecher, die sprachliche Ausdrücke verwenden, lediglich über vage Vorstellungen (in Form von Assoziationen oder visuellen Eindrücken) von der Bedeutung der verwendeten Wörter verfügen, ohne daß man sie deshalb als „semantisch inkompetent“ bezeichnen könnte. Notionale Meinungen in der von Scholz exemplarisch erwähnten quasi-lexikalischen Form („Tiger sind gestreifte Raubkatzen“) sind bei vielen Sprechern zumindest in keiner als „Meinung“ zu bezeichnenden Form mental repräsentiert, unter Umständen sogar gar nicht vorhanden. So kennen viele Sprachbenutzer nicht den Unterschied zwischen Tigern, Löwen, Leoparden, Pumas, Geparden usw. und sind dennoch in der Lage, diese Wörter in vielen sprachlichen Kontexten korrekt zu verwenden. Dies liegt daran, daß es bei der Verwendung der sprachlichen Ausdrücke vielfach nicht darauf ankommt, den zoologischen Unterschied zwischen den unterschiedlichen Raubkatzenarten zu kennen. Für das Verständnis vieler Verwendungsweisen dieser Wörter ist es unter Umständen eine ausreichende semantische Kompetenz, wenn man weiß, daß es sich um ein gefährliches Tier handeln soll. Ein Großwildjäger benötigt dagegen zweifellos eine detailliertere Theorie darüber, was ein Tiger ist. Es ist anzunehmen, daß er ausgeprägtere und andere notionale Meinungen über Tiger hat als ein Schriftsteller, der das Wort „Tiger“ in einem Gedicht metaphorisch verwendet, oder ein philosophischer Autor, dem eine Lexikon-Definition von „Tiger“ ausreicht, um eine „gestreifte Raubkatze“ als Beispiel für „notionale Meinungen“ zu verwenden. Selbstverständlich muß es in irgendeiner Form ein gemeinsames Wissen um die
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Dritter Teil
Bedeutung eines Wortes geben, sonst könnte wechselseitige Verständigung nicht stattfinden. Doch in welchem Ausmaß und in welcher Form ein solches Wissen bei den realen Sprechern einer Sprachgemeinschaft mental repräsentiert ist, ist eine Frage, die durch empirische Untersuchungen zu klären wäre. Hierbei könnte sich allerdings herausstellen, daß die Übereinstimmung in den mentalen Repräsentationen von Begriffen viel geringer ist als erwartet und darüber hinaus in einer Form vorliegt, die schwerlich als „Meinung“ bezeichnet werden kann.92 Die soeben vorgelegte Kritik an den Begründungen des Charity-Prinzips unter Berufung auf einen „Wahrheitshintergrund“ betrifft ebenso eine weitere Argumentation Donald Davidsons anhand eines Beispiels, das Scholz für aufschlußreich hält (vgl. Scholz 1999: 223 f.): Wenn jemand glaubt, eine Maus hinter einem Sessel verschwinden zu sehen, könne sich dieser Mensch zwar in dieser singulären Meinung irren, andererseits könne man in diesem Fall nur dann von einer falschen Meinung sprechen, wenn der Sprecher zugleich einen „background of true beliefs“ (Davidson 1991a: 193) besitze. Bei diesen wahren Meinungen handelt es sich erneut um die bereits erwähnten Stereotypen, also um „allgemeine Meinungen, die im großen und ganzen wahr sind“. Wer dies bestreite, wolle bestreiten, „daß ich wüßte, was Mäuse, Sessel und Ereignisse des Verschwindens sind“ (Scholz 1999: 224). Und wer einem Sprecher letzteres abstreiten wolle, habe keine Grundlage mehr, bei ihm überhaupt eine (falsche) Meinung über eine hinter dem Sessel verschwundene Maus festzustellen. Deshalb könnten nicht alle unsere Meinungen über die Welt falsch sein: „Because of the holistic character of empirical belief, then, it is impossible that all our beliefs about the world are false“ (Davidson 1991a: 194). Als erstes muß hierzu erneut gesagt werden, daß diese Argumentation, auch wenn sie gültig wäre, nicht die Wahrheitspräsumtion des Charity-Prinzips stützt, da sich diese vorrangig auf die explizit geäußerten Sätze und nicht auf das begriffliche Hintergrundwissen bezieht. Wahrheitsunterstellung bedeutet in dem erwähnten Beispiel, daß der Interpret bzw. Zuhörer dem Sprecher – bis auf den Nachweis des Gegenteils – glaubt, daß dieser eine Maus hinter dem Sessel hat verschwinden sehen. Sofern es keinen Grund für die Annahme einer Sinnestäuschung gibt, wird der wohlwollende Interpret bzw. Zuhörer außerdem vermuten, daß tatsächlich eine Maus hinter dem Sessel verschwunden ist, d.h. daß der aufrichtigen Schilderung einer Wahrnehmung ein reales Ereignis zugrunde lag. Die 92
Es ist natürlich zu erwarten, daß ein Verfechter der oben dargestellten Sprachtheorie wenig beeindruckt sein wird von empirischen Ergebnissen, die die allgemeine Verbreitung „notionaler Meinungen“ im realen Kommunikationsprozeß in Frage stellen – etwa weil er seine Theorie als eine „rationale Rekonstruktion“ des Sprachprozesses verstanden wissen will und nicht als Beschreibung tatsächlicher mentaler Abläufe oder Zustände. In diesem Fall hätte der Begriff der „notionalen Meinung“ keinerlei Bezug auf die tatsächlichen Meinungen der Sprecher einer Sprachgemeinschaft und damit auch keine Relevanz für eine Beschreibung oder Erklärung des realen Kommunikationsprozesses. Er hätte sich somit als sprachphilosophische Fiktion herausgestellt.
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen
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Wahrheitspräsumtion innerhalb der wohlwollenden Interpretation bezieht sich nicht darauf, daß der Sprecher in etwa weiß, was Mäuse und Sessel sind und was unter dem Verschwinden eines Gegenstandes zu verstehen ist. Sicherlich wird der wohlwollende Interpret ebenfalls so wohlwollend sein, dem Sprecher zumindest dieses Minimum an semantischer Kompetenz zuzuschreiben, doch dies ist mit der Wahrheitsunterstellung beim Verstehen und Interpretieren nicht gemeint. Sollte jedoch ein Verfechter des Argumentes vom Wahrheitshintergrund als Reaktion auf diese Kritik erklären, er meine mit der Wahrheitspräsumtion des Charity-Prinzips eben doch auch die „notionalen Meinungen“ des Sprechers, würde dies zu einer Trivialisierung des Prinzips der wohlwollenden Interpretation führen, da sich dadurch der Blick von der wichtigen Frage der Wahrheit von Aussagen auf die vergleichsweise triviale Annahme verschiebt, ein Sprecher wisse, was Mäuse und Tiger sind. Diese Trivialisierung der Wahrheitsunterstellung wäre an sich belanglos, wenn nicht die Tendenz bestünde, aus der Tatsache vorhandener (minimaler) semantischer Kompetenz ein Argument für die Wahrheit der tatsächlich geäußerten Meinungen machen zu wollen. – Neben diesem zentralen kritischen Argument gilt auch für das Donald Davidsonsche ‚Beispiel mit der Maus’ die angeführte Kritik an der sprachphilosophischen Fiktion allgemeiner notionaler Meinungen.
3.3.4.2.4
Begründungen unter Berufung auf einen Rationalitätshintergrund: die Begriffe der Meinung, der Handlung und der Person
Nach seiner Rekonstruktion der Argumente, die sich auf den Wahrheitshintergrund bezogen, wendet sich Scholz nun der „Familie von Argumentationsskizzen [zu], in denen der Begriff der Rationalität im Mittelpunkt steht“ (Scholz 1999: 227). Auch hierbei liefert Davidson die Grundidee, daß die Annahme der Rationalität eines Sprechers – im Sinne der Konsistenz und Kohärenz seiner Meinungen – notwendig ist, um ihm überhaupt „Meinungen“, „Wünsche“, „Intentionen“ oder „Handlungen“ zuzuschreiben (vgl. Davidson 1980: 237). Repräsentativ für eine Vielzahl von propositionalen Einstellungen können wir uns der Argumentation widmen, die für den Begriff der „Meinung“ angeboten wird: „Meinungen sind durch ihre Inhalte gekennzeichnet. Etwas ist nur dann eine Meinung, wenn es einen bestimmten Inhalt hat. Falsche Meinungen sind natürlich auch Meinungen. (Etwas ist also auch nur dann eine falsche Meinung, wenn es einen bestimmten Inhalt hat.) Der Inhalt einer Meinung ist durch ihren Platz in einem weitläufigen Muster von Meinungen und anderen Einstellungen und deren Inhalten festgelegt. Propositionale Einstellungen einschließlich ihrer Inhalte bilden derlei Muster aufgrund von logischen und anderen Begründungsbeziehungen, die zwischen ihnen bestehen. Nur ein Wesen, das im großen und ganzen rational ist, bildet die erforderli-
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Dritter Teil
chen Begründungsbeziehungen aus. Folglich kann nur ein Wesen, das im großen und ganzen rational ist, überhaupt eine falsche Meinung haben“ (Scholz 1999: 227 f.).
Da dies „nur noch selten bestritten“ werde, geht Scholz sogleich dazu über, die Frage zu diskutieren, „wieviel Rationalität vorausgesetzt bzw. unterstellt werden muß“ (Scholz 1999: 228). – Es besteht jedoch nicht die geringste Notwendigkeit, sich überhaupt auf ein apriorisches Argument zugunsten der Rationalität von Sprechern einzulassen. Ich möchte daher versuchen, obige Argumentation durch ein Gegenbeispiel zu widerlegen, das den Vorzug aufweist, nicht einmal ein Gedankenexperiment zu sein, sondern auf empirisch nachprüfbaren Tatsachenbehauptungen zu beruhen: Die Fähigkeit, die Konsistenz und Kohärenz von Meinungen zu überprüfen, indem man Beziehungen zwischen den Meinungen feststellt – also das, was in der zitierten Argumentation bei Davidson und Scholz als „Rationalität“ bezeichnet wird –, hat bestimmte neurophysiologische Voraussetzungen, beispielsweise hängt sie ab von einem mehr oder weniger funktionstüchtigen Kurzzeitgedächtnis. Dies hat begreiflicherweise damit zu tun, daß jeder Gedanke im Bewußtsein, dem eine Meinung entspricht, erinnert werden muß, will man ihn später mit einem anderen Gedanken in Beziehung setzen. Nun gibt es bestimmte Krankheiten, durch die das Kurzzeitgedächtnis so stark organisch geschädigt wird, daß ein solches In-Beziehung-Setzen von Gedanken unmöglich gemacht wird, jedoch ohne daß die Person ihre übrigen kognitiven Fähigkeiten verlieren muß. Beispielsweise kann sie weiterhin lesen, jedoch gelangt sie bei der Lektüre unter Umständen nicht über den ersten Satz hinaus, weil sie sofort vergißt, was sie gelesen hat und wieder von vorn beginnt. Da sie jedoch auch vergessen hat, daß sie den Satz beim letzten Mal vergessen hat, wird sie sich der Vergeblichkeit ihrer Anstrengungen nicht bewußt, und daher kann sich diese Prozedur in einer Endlosschleife über längere Zeit wiederholen.93 Wenn man das Argument unter Berufung auf einen Rationalitätshintergrund zugrunde legt, mit dem die Rationalitätspräsumtion des Charity-Prinzips apriorisch begründet werden soll, stellen sich vor allem drei Fragen: Hat eine solche Person mit schwerwiegenden Störungen des Kurzzeitgedächtnisses Meinungen? Kann eine solche Person handeln? Ist eine solche Person überhaupt eine Person? Gemäß der zitierten Argumentation kann diese Person keine Meinungen besitzen, denn sie verfügt nicht über die Fähigkeit, die Konsistenz oder Kohärenz von Meinungen zu prüfen, da sie aufgrund der Gedächtnisstörung keine Meinungen miteinander in Beziehung setzen kann. – Diese Schlußfolgerung ist natürlich absurd, da eine solche Person zwar nicht mehr zusammenhängend argumentieren kann, jedoch auf Fragen ihre Meinungen äußert. Da das Langzeitge-
93 Das mag für jemand unglaubwürdig klingen, der einen solchen Vorgang noch nicht erlebt hat. Ich wurde allerdings vor Jahren Zeuge solcher Vorkommnisse und habe die Patientin, von der ich schreibe, gut gekannt.
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen
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dächtnis im Falle der Person in unserem Beispiel weitgehend intakt geblieben ist, besitzt sie nach wie vor alle Meinungen, die sie auch bisher gehabt hat. Kann eine solche Person handeln? – Nach Scholz „überträgt sich“ die Argumentation im Hinblick auf propositionale Einstellungen, wie Meinungen, „auf alle Begriffe, in die der Begriff der propositionalen Einstellung eingeht. Dazu gehören insbesondere die Begriffe der Handlung, der bedeutungsvollen Äußerung und der Person“ (Scholz 1999: 234). Er kommt zu dem Schluß, „nur ein Verhalten eines Wesens, welches im großen und ganzen rational [sei], kann eine Handlung sein“ (Scholz 1999: 234 f.). Wenn man jedoch unter „Rationalität“ wiederum die Fähigkeit versteht, Meinungen im Hinblick auf ihre Konsistenz und Kohärenz in Beziehung zu setzen, ergibt sich die Konklusion, daß die Person unseres Beispiels nicht handeln kann – auch dies eine absurde Schlußfolgerung, da das absichtsvolle Verhalten dieser Person sich nicht wesentlich von dem absichtsvollen Verhalten anderer Personen unterscheidet. Die Tatsache, daß der erkrankten Person keine bewußte Kontrolle von Meinungen hinsichtlich ihrer Konsistenz und Kohärenz möglich ist, scheint das Verhalten nicht notwendig zu beeinflussen: Die erkrankte Person „handelt“ unter vergleichbaren Umständen ähnlich oder genau so, wie sie vor ihrer Erkrankung gehandelt hat, und es gibt keinen vernünftigen Grund, dieses Verhalten nun nicht mehr als Handeln zu bezeichnen. Ist eine solche Person überhaupt eine Person? – Wie zu erwarten war, soll es auch hier darum gehen, die Rationalitätspräsumtion als „konstitutiv für die Anwendung des Personbegriffs“ (Scholz: 236) nachzuweisen. Doch da mit der Zuschreibung des Personen-Status’ „rechtliche und moralische Erwägungen im Spiel“ sind, sei der „Interpret in besonders starkem Maße verpflichtet, rationale Muster in den Handlungen und Einstellungen seines Gegenüber zu finden“ (Scholz 1999: 238). Dieses Zugeständnis nützt allerdings der Person in unserem Beispiel nichts: Da ihr bereits der Besitz von Meinungen und die Fähigkeit zu handeln abgesprochen worden sind, können ihre Verhaltensweisen so kohärent sein wie auch immer – den Personen-Status wird sie in der absurden Konsequenz der transzendentalen Argumentation zugunsten der Rationalitätspräsumtion des Charity-Prinzips doch verlieren. Der Verfechter dieser Argumentation wird womöglich diese dreifache absurde Konsequenz scheuen und sein Argument ad hoc modifizieren, etwa indem er behauptet, der betreffende Mensch müsse irgendwann einmal Rationalität im Sinne von Konsistenz- und Kohärenzprüfungsfähigkeit besessen haben, um Meinungen und die Befähigung zum Handeln erworben zu haben und deshalb als Person bezeichnet werden zu können. Dadurch daß ein Mensch im späteren Leben vorübergehend oder dauerhaft seine „Rationalität“ verliere, sei nicht notwendig ein Verlust der Meinungen, der Fähigkeit zum Handeln und des PersonSeins verbunden. Vielleicht wählt der Anhänger transzendentaler Argumente auch eine andere Strategie und paßt seine Definition von „Rationalität“ so an, daß er der Widerlegung durch Gegenbeispiele vorläufig entgeht. Auf die Vielzahl möglicher ad-hoc-Modifikationen der Argumentation kann und will ich
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Dritter Teil
hier nicht eingehen. Mein Beispiel sollte lediglich zeigen, daß transzendentale Argumente trotz ihrer teilweise erheblichen Plausibilität äußerst zweifelhaft bleiben. Das einzige, was ein Philosoph sagen kann, der Rationalität als Bedingung der Möglichkeit von Meinungen, Handlungen und des Person-Seins letztbegründen will, ist, daß irgendeine Form von Rationalität auf irgendeine Art und Weise eine Voraussetzung darstellt. Das von mir angeführte Beispiel sollte zeigen, wie schnell man sich irren kann, wenn man mehr als diese inhaltsleere These a priori behaupten möchte. Deshalb wäre es ratsam, auf solche transzendentalen Argumentationsversuche ganz zu verzichten und die Klärung der Voraussetzungen bestimmter menschlicher Fähigkeiten (etwa der Fähigkeit, Meinungen hervorzubringen und zu handeln) oder Dispositionen (etwa der Dispositionen, von denen angenommen wird, daß sie das Person-Sein ausmachen) als Aufgabe der empirischen Wissenschaften zu betrachten.
3.3.5
Besitzen hermeneutische Präsumtionen apriorische Geltung?
Wenn nun abschließend und zusammenfassend noch einmal die Frage aufgegriffen wird, ob hermeneutischen Präsumtionen apriorische Geltung zukommt, müssen wir zunächst betonen, daß mit dieser Frage kein sogenanntes „genetisches“ bzw. zeitliches a priori (vgl. Popper 1987: 127) gemeint ist. Daß die Anwendung von Präsumtionen beim Verstehen und Interpretieren im zeitlichen Sinn jeglicher empirischen Beurteilung der Interpretationsergebnisse vorangeht und daß weiterhin die Interpretationsprinzipien selbst keine empirischen Hypothesen sind (wenngleich sie mit empirischen Gesetzesannahmen zusammenhängen), hatten wir am Anfang der Diskussion bereits eingeräumt. Bestritten werden sollte lediglich die apriorische Geltung der hermeneutischen Präsumtionen. Bei der These der Notwendigkeit von Präsumtionen beim Verstehen und Interpretieren mußten wir mehrere Bedeutungen von „Notwendigkeit“ unterscheiden: Es ist zwar in vielen Fällen der Verstehens- und Interpretationspraxis (instrumentell) notwendig, Wahrheit und Rationalität zu unterstellen. Eine stärkere Notwendigkeitsbehauptung erwies sich als unbegründet. In einem eigenen Abschnitt nimmt Scholz abschließend zu verschiedenen Streitfragen Stellung. Insbesondere die Streitfrage „empirisch oder a priori?“, welche „den empirischen Charakter der allgemeinen Interpretationsprinzipien“ betreffe, ist in unserem Zusammenhang relevant: „Eine erste Frage betrifft den empirischen Charakter der allgemeinen Interpretationsprinzipien und der mit ihnen verknüpften Methodologie. Läuft die Unterstellung von Vollkommenheiten wie Rationalität, Konsistenz etc. nicht auf einen sonderbaren Apriori-Optimismus hinaus? Darauf ist folgendes zu antworten: Die Präsumtionsmethodologie insgesamt ist, wie wir sahen, konstitutiv für die Praxis des Verstehens und der Verständigung sowie für die gesamte intentionale Einstellung. Die Unterstel-
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lung von Rationalität ist sogar konstitutiv für die Anwendung von für diese Praxis zentralen Begriffen wie „Meinung“, „Wunsch“, „Handlung“ und „Person“. Gleichwohl handelt es sich, wie wir ebenfalls sehen konnten, keineswegs um eine empirieresistente Methodologie“ (Scholz 1999: 239).
Der Erfahrungsbezug von Theorien sei aber eine „vertracktere Angelegenheit [...], als frühere Wissenschaftsphilosophen [...] angenommen hatten“ (ebd.). „Entscheidend für den empirischen Charakter ist und bleibt, daß die vorgeschlagenen Interpretationen an der Erfahrung scheitern können. Auch jede einzelne Präsumtion bleibt offen für eine Korrektur oder sogar Widerlegung durch empirische Erkenntnisse; es kann sich in jedem Einzelfall herausstellen, daß der präsumierte Sachverhalt nicht besteht. Die allgemeinen Interpretationsprinzipien sind, wie wir immer wieder betont haben, Präsumtionsregeln mit widerleglichen Präsumtionen“ (ebd.). In der Tat vertritt Scholz nicht die Position, daß durch die Anwendung der als notwendig angesehenen Verstehensprinzipien apriorisch gültige Interpretationsergebnisse entstehen. Wie er aber selbst eingangs erwähnt, betrifft die relevante Streitfrage den „empirischen Charakter der allgemeinen Interpretationsprinzipien“. Inwiefern ist die Geltung dieser methodologischen Prinzipien selbst empirisch begründet oder a priori? Dies bezieht sich nicht auf die Frage des Erfahrungsbezuges von Theorien, die Scholz statt dessen aufgreift, doch es muß natürlich zugestanden werden, daß das Problem des Erfahrungsbezuges von methodologischen Prinzipien ebenfalls eine „komplizierte Angelegenheit“ ist – ja sogar möglicherweise eine noch kompliziertere als die des Erfahrungsbezuges von Theorien. Methodologische Regeln selbst sind zwar offenkundig nicht direkt empirisch prüfbar, doch sie beruhen vielfach auf empirisch prüfbaren Gesetzesannahmen. Gerade wer in der Tradition der klassischen Hermeneutik eine Kunstlehre des Verstehens und Interpretierens anstrebt, geht davon aus, daß die Verstehensprinzipien mehr oder weniger geeignete Mittel sind, um den Zweck des richtigen Verstehens zu erreichen. Ob und inwieweit sie dazu geeignete Mittel sind, bedarf des Prüfsteins der Erfahrung und läßt sich nicht a priori festsetzen. Daß sich aufgrund vergangener Erfahrung Erwartungen etwa im Hinblick auf die Wahrhaftigkeit und Rationalität anderer Menschen ausbilden, die als alltagspsychologische Theorien das Verstehen und Interpretieren, das Beurteilen und Handeln bestimmen, hatten wir in Anlehnung an Hume bereits festgestellt – ebenso, daß die jeweiligen Verstehensprinzipien dadurch noch nicht empirisch gerechtfertigt sind. Prinzipien, die zunächst sakrosankt erscheinen, können sich bei kritischer Prüfung als problematisch erweisen. Eine Immunisierung solcher Prinzipien unter Verweis auf ihre Notwendigkeit (im stärkeren Sinn) würde eine mögliche Verbesserung der bestehenden Praxis des Verstehens und Interpretierens verhindern. Ein konsequenter Fallibilismus bezieht sich daher nicht allein auf die von Scholz zugestandene Fehlbarkeit der Interpretationsergebnisse und der jeweiligen Präsumtionen, sondern ebenso auf die Fehlbarkeit der Interpretations-
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Dritter Teil
prinzipien bzw. der grundlegenden Präsumtionsregeln. Es ist zwar kein logischer Widerspruch, zugleich die apriorische Geltung der Interpretationsprinzipien und die Fehlbarkeit der Interpretationsergebnisse und der einzelnen Präsumtionen zu behaupten. Doch warum für die Interpretationsprinzipien mit Hilfe der Konstitutivitäts-Thesen überhaupt ein gesonderter Status angestrebt wird, der sie der Kritik und der Weiterentwicklung entzieht, bleibt unklar.
3.4 3.4.1
Die Grenzen von Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen Falschheits- und Irrationalitätsannahmen beim Umgang mit Zeugnissen sowie die Möglichkeit der Urteilsenthaltung
Allgemeine Falschheitsannahmen, das heißt: die generelle Unterstellung der Unglaubwürdigkeit gegenüber einer bestimmten Art von Zeugnissen, sind in der von Scholz vorgestellten Theorie hermeneutischer Präsumtionen nicht vorgesehen. Zu einer Falschheits- oder Irrationalitätsannahme gelangt man nach Scholz immer erst dann, wenn man mit der grundlegenden Wahrheits- und Rationalitätsunterstellung nicht mehr weiter kommt. Es könne also im eigentlichen Sinn keine Falschheits- und Irrationalitätspräsumtion geben, weil die Annahme der Falschheit des Gesagten bzw. der Irrationalität des Autors allenfalls das Ergebnis einer (nicht erfolgreichen) Anwendung der Wahrheits- und Rationalitätspräsumtion sei. Versuchen wir tatsächlich beim Verstehen und Interpretieren so lange daran festzuhalten, daß der Autor bzw. Sprecher rational ist und die Wahrheit sagt, bis wir damit widerlegt sind und nicht mehr anders können, als diese Präsumtionen aufzugeben? Für eine Falschheits- und Irrationalitätspräsumtion als eigenständige methodologische Prinzipien bliebe demnach kein Platz. Demgegenüber möchte ich folgende Thesen aufstellen: (1.) Bei der Beurteilung von Zeugnissen und Zeugen machen wir häufigen Gebrauch von allgemeinen Falschheitsannahmen gegenüber bestimmten Arten von Zeugnissen sowie Irrationalitätsannahmen gegenüber bestimmten Arten von Zeugen. (2.) Beim Verstehen von Zeugnissen und Zeugen verwenden wir unter bestimmten Umständen auch Falschheits- und Irrationalitätspräsumtionen. Eine ausschließliche Verwendung von Wahrheits- und Rationalitätspräsumtionen beim Umgang mit Zeugnissen entspricht weder der gängigen Praxis des Verstehens noch ist sie rational zu rechtfertigen. (3.) In vielen Fällen benutzt ein Interpret weder Wahrheits- und Rationalitäts- noch Falschheits- und Irrationalitätsunterstellungen als Mittel des Verstehens: Entweder hält er sich mit seinem Urteil zurück oder die verwendeten Präsumtionen tragen nichts zum Verstehen bei, sind also keine hermeneutischen Präsumtionen.
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 3.4.1.1
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Falschheits- und Irrationalitätsannahmen bei der Beurteilung
Daß bei der Beurteilung von Zeugnissen und Zeugen häufig allgemeine Falschheits- und Irrationalitätsannahmen eine wichtige Rolle spielen, wird sogleich deutlich, wenn wir uns nur die eigene alltägliche Praxis des rationalen Umgangs mit Zeugnissen vergegenwärtigen. Ein gutes Beispiel für die Ausbildung allgemeiner Falschheitsannahmen gegenüber bestimmten Arten von Zeugnissen ist der Umgang mit sogenannten hoaxes. Ein hoax ist eine Falschmeldung, die über eMail verbreitet wird und den Empfänger unter Vortäuschung falscher Tatsachen zu einer Handlung motivieren soll.94 Arglistigerweise beruht die Wirksamkeit dieser hoaxes darin, die Leichtgläubigkeit vieler Menschen auszunutzen, oftmals aber auch deren Ängste oder sogar ihre Hilfsbereitschaft. Es gibt hoaxes, die vor angeblichen Viren warnen und zur Vorsicht raten, aber selbst einen Virus in Dateianhängen enthalten. Manche fordern den Computerbenutzer dazu auf, im Betriebssystem seines Rechners nach einer vermeintlich schädlichen Datei zu suchen und sie zu löschen. Wer so gutgläubig ist, dieser Aufforderung zu folgen, macht damit allerdings sein Betriebssystem unbrauchbar. Perfide sind auch fingierte Hilfeappelle, beispielsweise die Suche nach einem Knochenmarkspender für ein angeblich todkrankes Kind. Üblicherweise enthält der hoax die Bitte, diese eMail an möglichst viele Bekannte weiterzuversenden. Solche hoaxes finden dann als Kettenbriefe weite Verbreitung. – Woher kann man nun im konkreten Fall wissen, ob eine eMail ein hoax ist oder ein ernsthafter Hilfeappell bzw. eine Warnung? Da der Aufwand für eine Recherche in jedem einzelnen Fall viel zu groß wäre, bleibt dem Computernutzer nichts anderes übrig, als bei der Beurteilung dieser eMails Präsumtionen zu verwenden. Doch welche Präsumtionen sollten dies vernünftigerweise sein? – Sicherlich gibt es viele leichtgläubige Menschen, die bei jedem neuen hoax immer wieder mit einer Wahrheitsunterstellung reagieren, dementsprechend handeln und damit sich selbst und anderen Verdruß bereiten. Andere wiederum tendieren zu generellem Mißtrauen und löschen undifferenziert jede eMail, die ihnen irgendwie verdächtig erscheint, ohne beurteilen zu können, ob es ein hoax ist oder nicht. Viele sind aber in der Lage, nach einmaliger Bekanntschaft mit einem hoax eine Falschheitspräsumtion auszubilden, die sich auf diese Klasse von Zeugnissen bezieht. Diese Praxis des Umgangs mit Zeugnissen scheint mir rational zu sein. Der entscheidende Aspekt hierbei besteht darin, daß sich der Urteilende aktiv-hypothesenbildend verhält und aufgrund seiner einmaligen Erfahrung mit einem hoax eine Regel entwickelt, die sich auf ähnliche Fälle bezieht, die zusammen eine Art von Zeugnissen bilden. Vergleichen wir diese Ausbildung einer allgemeinen
94
Vgl. beispielsweise den Hoax-Info Service der TU Berlin, unter der Internet-Adresse: http://www.tu-berlin.de/www/software/hoax.shtml.
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Dritter Teil
Falschheitspräsumtion gegenüber hoaxes mit Scholzens Präsumtionsregel (TestPräs-R), die lautete: „(Test-Präs-R) Gegeben, dass ein Sprecher S (bei der Gelegenheit O) eine verständliche assertorische Äußerung U (über das Thema T) vollzogen hat, mit der er sich auf die Wahrheit von p festlegt, gehe solange davon aus, daß p wahr ist, bis Du Gründe zu der Annahme hast, daß eine Annullierungsbedingung erfüllt ist. (Es gibt i.w. zwei Annullierungsbedingungen: (i) Anhaltspunkte dafür, daß der Sprecher (bei der Gelegenheit O) nicht aufrichtig gewesen ist, und (ii) Anhaltspunkte dafür, daß der Sprecher (in bezug auf das fragliche Thema T) nicht kompetent ist.)“ (Scholz 2002, unveröffentlicht).
Der rationale Umgang mit hoaxes besteht offenbar gerade nicht darin, immer von neuem Wahrheit zu unterstellen, bis sich dann in jedem einzelnen Fall ausreichende Gründe für das Vorliegen der Annullierungsbedingungen ergeben haben. Ein solches Vorgehen wäre offensichtlich unpraktikabel. Bei jeder neuen eMail müßten wir nach Anhaltspunkten suchen, ob der Absender aufrichtig und kompetent war, doch dies ist aufwendig und häufig aussichtslos, da wir über den Absender nichts wissen. Statt dessen vermuten wir aufgrund bestimmter Eigenarten, daß auch die neue eMail zur Klasse der hoaxes gehört und schließen deduktiv, daß diese eMail unglaubwürdig ist, da dies für alle hoaxes gilt. Es wird bei der Beurteilung dieses Zeugnisses also nicht mit einer Wahrheitsunterstellung begonnen, die man nach Kenntnis von Annullierungsbedingungen korrigiert, sondern sogleich von einer Falschheitspräsumtion ausgegangen. Darauf könnte man einwenden, daß in solchen Fällen die Annullierungsbedingungen für die Wahrheitspräsumtion nichts anderes sind als diese Eigenarten des Zeugnisses, die den kritischen Computernutzer veranlassen, die eMail als hoax zu identifizieren. Doch dies wäre nur ein verbaler Trick, die Wahrheitspräsumtionsregel für Zeugnisse (Test-Präs-R) gegen Kritik zu immunisieren, denn die erwähnten Besonderheiten des Zeugnisses, die es als hoax ausweisen, sind – isoliert betrachtet – häufig nicht ausreichend, um das einzelne Zeugnis unglaubwürdig zu machen. Niemand würde ein Zeugnis allein deshalb für unglaubwürdig halten, weil es einen Hilfeaufruf für ein krankes Kind enthält. Da der kritische Computernutzer allerdings aufgrund vorgängiger Erfahrung die Theorie gebildet hat, daß solche Elemente (Hilfeaufruf, Kettenbrief, Bitte um Weiterverbreitung etc.) auf einen hoax schließen lassen, wird er direkt mit einer Falschheitspräsumtion gegenüber einer solchen eMail reagieren und von dieser Meinung erst abrücken, wenn es gegenteilige Indizien gibt. Ohne eine solche (rudimentäre) Theorie über hoaxes wären die genannten Elemente für die Beurteilung der Wahrheit des Zeugnisses irrelevant. Es werden also beim Umgang mit Zeugnissen – neben der Verwendung von Wahrheitsunterstellungen – ebenso Falschheitspräsumtionen angewendet, und zwar aus demselben pragmatischen Grund, der auch für den Gebrauch von Wahrheitspräsumtionen spricht: Es ist einfacher, zeitsparender oder sogar auf-
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grund von Restriktionen in einer Entscheidungssituation unverzichtbar, bestimmte Arten von Zeugnissen einheitlich als zuverlässig oder eben als unzuverlässig zu beurteilen, statt die betreffenden Zeugnisse in jedem einzelnen Fall zu überprüfen. Wenn wir ein Zeugnis beurteilen müssen, gehen wir keineswegs immer so vor, daß wir es zunächst für wahr halten und nur unter bestimmten Annullierungsbedingungen von dieser Wahrheitspräsumtion abrücken. Statt dessen ist der Interpretationsprozeß von Anfang an bereits insofern theoriegeleitet, als man jedes Zeugnis als Fall einer Klasse von Zeugnissen auffaßt. Der Interpret kann nicht umhin, jedes neue Zeugnis mit bereits bekannten Zeugnissen zu vergleichen, die ihm in relevanter Hinsicht ähnlich sind. Haben sich die bereits bekannten Zeugnisse dieser Art aber als unzuverlässig herausgestellt, wird man auch dem in relevanter Hinsicht ähnlichen neuen Zeugnis nicht vertrauen.95 Vor diesem Hintergrund ließe sich allenfalls eine abgeschwächte These der „Vorrangigkeit“ von Wahrheitspräsumtionen behaupten, die entweder auf einen lediglich zeitlichen Primat abhebt oder eine größere Häufigkeit der Anwendung von Wahrheitspräsumtionen beim Umgang mit Zeugnissen postuliert. „Zeitlicher Vorrang“ könnte heißen, daß Menschen dazu neigen, beim ersten Kontakt mit Zeugnissen neuer Art mit einer Wahrheitspräsumtion zu reagieren. Auch der kritische Umgang mit hoaxes entstehe erst, nachdem das anfängliche Vertrauen in ein Zeugnis dieser Art enttäuscht worden sei. Eine größere Häufigkeit der Anwendung von Wahrheitspräsumtionen im Vergleich mit Falschheitspräsumtionen würde bedeuten, daß wir bei den meisten Arten von Zeugnissen zur Unterstellung von Wahrheit tendierten. – Bei beiden Vorrangigkeitsbehauptungen handelt es sich um Hypothesen, die so konkretisiert werden sollten, daß sie empirischer Prüfung zugänglich sind. Da sie mit der von mir vertretenen These der Möglichkeit und Nützlichkeit von Falschheitspräsumtionen ohne weiteres vereinbar sind, möchte ich an dieser Stelle nicht weiter auf sie eingehen.
3.4.1.2
Falschheits- und Irrationalitätspräsumtionen beim Verstehen
Bislang hatte ich versucht, die These zu belegen, daß Falschheitsunterstellungen bei der Beurteilung von bestimmten Arten von Zeugnissen angebracht sind. Im folgenden möchte ich darüber hinausgehen und die Möglichkeit von Falschheitspräsumtionen beim Verstehen von Zeugnissen und Irrationalitätspräsumtio95
Ebenso wie es Falschheitsunterstellungen für bestimmte Arten von Zeugnisse gibt, existieren auch Irrationalitätsunterstellungen für bestimmte Arten von Zeugen (vgl. Hume 1748/1993: 137). Allerdings gibt es keine einfache Entsprechung zwischen Falschheit von Zeugnissen und Irrationalität von Zeugen. Ein falsches Zeugnis stammt nicht notwendig von einem irrationalen Zeugen. Es gibt auch Fälle, bei denen jemand ein falsches Zeugnis ablegt, um damit bestimmte Ziele zu verwirklichen. Solche Falschaussagen wären dann ein zweckrationales Handeln.
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Dritter Teil
nen beim Verstehen von Zeugen behaupten. Diese neue These bezieht sich darauf, daß Falschheits- und Irrationalitätsannahmen auch hermeneutische Präsumtionen im strengen Sinn sein können, d.h. Mittel des Verstehens von Zeugnissen und Zeugen. Diese Unterscheidung zwischen Präsumtionen als Mittel zum Zwecke der Beurteilung und hermeneutischen Präsumtionen im engeren Sinn als Mittel zum Zwecke des Verstehens von Zeugnissen fehlt in Scholzens Theorie der Präsumtionen. Die Unterscheidung ist aber höchst relevant, da wir vielfach Zeugnisse verstehen können (im Sinne der Feststellung, was mit ihnen gemeint ist), ohne ihre Wahrheit bzw. Falschheit zu unterstellen, aber unter Umständen dennoch Präsumtionen verwenden, um diese Zeugnisse als glaubwürdig oder unglaubwürdig zu beurteilen. Ein mögliches Mißverständnis gilt es hierbei zu vermeiden: Es ist nicht meine Absicht, das principle of charity durch ein principle of uncharity zu ersetzen. Niemand möchte das Prinzip einer generell wohlwollenden Interpretation durch ein Prinzip durchgängig böswilliger Interpretation – eine Hermeneutik des Vertrauens durch eine Hermeneutik des Mißtrauens – ablösen. Allerdings ist die Frage, ob es überhaupt ein principle of uncharity geben könnte, zumindest von einigem theoretischem Interesse. In dem Abschnitt 3.3.4.2.2 hatten wir bereits das Problem der Unbestimmtheit von Falschheitsunterstellungen diskutiert: Falls ein principle of uncharity dazu dienen soll, Aussagen eines Sprechers überhaupt erst zu verstehen, ergibt sich das Problem der Unbestimmtheit unspezifischer Falschheitsunterstellungen: Eine Falschheitsunterstellung legt die Meinung des Autors/Sprechers noch nicht fest, denn es gibt unendlich viele falsche Meinungen. Wenn wir also annehmen, der Autor vertrete eine falsche Meinung, wissen wir noch nicht, welche das ist. Wir können daher allein mit Hilfe eines unspezifischen principle of uncharity die Meinung eines Sprechers nicht identifizieren. Die Frage ist aber, ob ein unspezifisches principle of charity eine bessere Alternative ist. Natürlich erscheint aus logischen Gründen die Meinungszuweisung eindeutiger: Wenn wir annehmen, der Autor vertrete eine wahre Meinung, wissen wir theoretisch, welche das ist, und zwar unter der Bedingung, daß wir selbst wissen, welche Meinung wahr ist. Für den Vertreter einer kritischen Erkenntnistheorie, die nicht davon ausgeht, daß das Erkenntnissubjekt im Besitz der Wahrheit ist, führt diese Auskunft nicht wirklich weiter. Unspezifische Wahrheits- und Falschheitsunterstellungen scheinen also gleichermaßen unbrauchbar zu sein. In Kombination mit weiteren Annahmen und Theorien könnte sogar ein principle of uncharity, das in reiner Form niemand vertritt, das Verstehen und Interpretieren anleiten. Das ist nicht ganz so absurd, wie es zunächst klingt. Es gibt de facto Beispiele für eine Verstehens- und Interpretationspraxis, die dem principle of uncharity zumindest nahe kommt, und zwar bei manchen Vertretern der Psychoanalyse. Eine wichtige Kritik an der psychoanalytischen Theorie und Praxis besteht darin, daß sie im Endeffekt dazu führe, den Analysanden zu pa-
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen
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thologisieren.96 Der Analysand mag sagen, was er will: Alles kann ihm ausgelegt werden als Ausdruck einer unproduktiven psychischen Orientierung. Dies impliziert eine starke Irrationalitätsunterstellung bestimmter Art. Zugleich wird das, was der Analysand beispielsweise über seine Motive aussagt, üblicherweise als unglaubwürdig und interpretationsbedürftig aufgefaßt. Darin kann man eine starke Falschheitspräsumtion sehen.97 Durch die von Freud in seiner Arbeit über Traumdeutung eingeführte Unterscheidung zwischen manifesten und latenten Inhalten (vgl. Freud 1900/1999: 140; 169) wurde ein ‚tiefenhermeneutisches’ Erkenntnisprogramm ins Leben gerufen, das es letztlich erlaubt, jede menschliche Lebensäußerung auf unbewußte (irrationale) Triebregungen zurückzuführen. War es anfangs vor allem der manifeste Trauminhalt – die bildhaften und sprachlichen Elemente des realen Traumes –, der interpretatorisch entschlüsselt werden sollte, um den verdrängten Ursprung zu enthüllen, entdeckte die Psychoanalyse bald weitere Tätigkeitsfelder. Inzwischen sind es menschliche Zeugnisse beliebiger Art, die tiefenpsychologisch dechiffriert werden, wobei der Erkenntnisanspruch darin besteht, durch diese Methode ein richtiges bzw. ‚tieferes’ Verstehen dieser Lebensäußerungen herbeizuführen. Das psychoanalytische Verständnis der Lebensäußerungen – zumal wenn es sich um mündliche oder schriftliche Äußerungen handelt – unterscheidet sich üblicherweise erheblich von dem Selbstverständnis des Urhebers dieser Texte. Es wird unterstellt, daß er den latenten Sinn seiner Äußerungen, der allein durch das psychoanalytische Interpretationsverfahren ermittelt werden kann, gar nicht kennt; ferner, daß der latente Sinn, auf den es beim Verstehen ankomme, mit einer unbewußten Triebregung zu tun habe. Damit liegt eine zweifache Unterstellung von Irrationalität vor: zum einen das völlige Unvermögen der Menschen, den ‚eigentlichen’ Sinn ihrer Rede (und ihres Handelns) selbsttätig zu entschlüsseln, zum anderen der Rekurs auf irrationale Strebungen des jeweiligen Urhebers von Rede und Text bei der Ermittlung des latenten Sinngehaltes.98 Das Selbstverständnis des Redenden und Handelnden wird hierbei stets als ein falsches oder zumindest defizitäres aufgefaßt, ebenso jede Form von Fremdverstehen, das sich nicht der psychoanalytischen Methode bedient. Insofern das Selbstverständnis des Redenden und Handelnden sowie das nicht-psychoanalytische Fremdverstehen für die Psychoanalyse ein falsches Verständnis ist, kann gesagt werden, daß sie mit einer universellen 96
Vgl. beispielsweise den Aufsatz von Wolf-Dieter Herbert, in dem ausführliche Beispiele psychoanalytischen Pathologisierens gegeben und kritisch untersucht werden (Herbert 1996). 97 Der Psychoanalytiker selbst dürfte die Formulierung vorziehen, daß der latente Sinngehalt hinter dem manifesten Sinngehalt aufgedeckt werden soll. 98 Selbstverständlich vertreten nicht alle Tiefenpsychologen die Irrationalitätsunterstellung so radikal wie die orthodoxe Psychoanalyse. In verschiedenen tiefenpsychologischen Schulen, etwa bei C.G. Jung, gilt das Unbewußte eher als eine Art höhere Vernunft, die es zu entdecken gilt.
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Dritter Teil
Falschheitspräsumtion operiert, die prinzipiell jede noch so geringfügige Handlung oder Äußerung unter den Verdacht stellt, etwas ganz anderes zu bedeuten, als sie zu bedeuten scheint.99 Es scheint also nicht unmöglich zu sein, ein principle of uncharity beim Verstehen und Interpretieren zu verwenden, allerdings nur in Verbindung mit weiteren Theorien (z.B. der psychoanalytischen Charaktertheorie), die es erlauben, eine bestimmte Meinung bzw. psychische Disposition beim Analysanden zu identifizieren.100 Da ich, wie gesagt, nicht die Absicht habe, ein Prinzip übelwollender Interpretation aufzustellen, möchte ich mich nicht weiter mit der Frage beschäftigen, ob ein principle of uncharity theoretisch möglich ist oder nicht. Mir geht es vielmehr um die Grenzen des Charity-Prinzips und um die Frage, ob es neben den Wahrheits- und Rationalitätspräsumtionen auch Falschheits- und Irrationalitätspräsumtionen als Mittel des Verstehens geben kann. Diese Falschheits- und Irrationalitätspräsumtionen, die in der Alltagspraxis des Verstehens eine Rolle spielen, sollen die wohlwollende Interpretation nicht ersetzen, sondern ergänzen. Während bei der psychoanalytischen Interpretationsmethode oftmals umfassende Irrationalitätsunterstellungen beim Verstehen des Sprechers sowie weitgehende Falschheitspräsumtionen beim Verstehen des Gesagten zur Anwendung kommen, werden in der Alltagspraxis rationaler Interpretation Falschheits- und Irrationalitätspräsumtionen immer nur unter ganz bestimmten Bedingungen eingesetzt.101 Das Beispiel der Psychoanalyse gibt eine gewisse Anfangs-Plausibilität, daß Irrationalitäts- und Falschheitsunterstellungen unter Umständen hermeneutische Präsumtionen im engeren Sinne, d.h. Mittel des Verstehens, sein können. Um dies jedoch genauer nachweisen zu können, muß das Wort „Verstehen“ untersucht und in seine unterschiedlichen Bedeutungen ausdifferenziert werden. Der Ausdruck „Verstehen“ – ebenso wie das Wort „Interpretieren“ (vgl. Bühler 1999) – ist durch eine ausgeprägte Mehrdeutigkeit gekennzeichnet (vgl. Strube 2003), die den Sprachgebrauch so uneinheitlich macht, daß man Zweifel daran 99
Im alltäglichen Sprachgebrauch verankert ist bereits der sogenannte Freudsche Versprecher. Wenn jemand auf die Frage, was er von Frauenemanzipation hält, antwortet: „Ich bin sehr für Emanzipation und den ganzen ... Mist wäre jetzt das falsche Wort“, dann legt der Widerspruch zwischen dem zustimmenden Inhalt der Äußerung und der abwertenden Wortassoziation den Schluß nahe, daß der bewußt geäußerte Inhalt nicht ernstzunehmen ist (vgl. Böhm/Hoock 1998: 79). 100 Weiterhin muß man einschränken, daß selbst die gewagtesten psychoanalytischen Deutungen nicht systematisch die Wahrheit einfacher Beobachtungsaussagen negieren. Wenn der Analysand über banale Alltagshandlungen berichtet, mag sich daran die Phantasie des Analytikers entzünden. Die Wahrheit der Beobachtungssätze wird er aber nicht durchweg leugnen. 101 Es wird beim alltäglichen Verstehen und Interpretieren auch nicht angenommen, daß den Zeugnissen ein geheimer Sinn innewohnt, der erkannt werden muß, damit das Zeugnis ‚richtig’ verstanden wird.
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen
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haben kann, ob ein gemeinsamer Bedeutungskern angesichts dieser unterschiedlichen Verwendungsweisen überhaupt identifiziert werden kann. Strube unterscheidet die sieben folgenden Bedeutungen: „einen Satz verstehen“ (Strube 2003: 82), „den Satz in seinem Zusammenhang verstehen“ (Strube 2003: 83), „den in einer bestimmten Situation geäußerten Satz verstehen“ (Strube 2003: 84), „die Äußerung als diesen oder jenen Akt eines bestimmten Sprechers verstehen“ (Strube 2003: 85), „die Äußerung verstehen als Ausdruck eines bestimmten psychischen Zustands“ (Strube 2003: 86), „den tieferen Sinn eines Satzes verstehen“ (Strube 2003: 87) und „sich in der Sache mit jemandem verstehen“ (Strube 2003: 88). Im Zusammenhang mit unserer Fragestellung, ob Falschheits- und Irrationalitätsunterstellungen, deren Gebrauch beim alltäglichen Umgang mit Zeugnissen bereits nachgewiesen wurde, auch hermeneutische Präsumtionen im engeren Sinn sein können, scheint in erster Linie der Unterschied zwischen dem semantischen Verstehen dessen, was mit einer Äußerung gemeint ist und dem Personenverstehen, bei dem psychische Zustände, etwa Beweggründe und Motive des Sprechens und Handelns eine Rolle spielen, relevant zu sein. Werden also Falschheits- und Irrationalitätspräsumtionen verwendet, um eine Äußerung semantisch zu verstehen? Solche Fälle, wenn es sie gibt, scheinen einen Verstoß gegen Grices Lehre von den konversationalen Implikaturen darzustellen. Erinnern wir uns an die Diskussion im Abschnitt 3.3.2: Dort habe ich anhand eines Beispiels die scheinbare Unhintergehbarkeit der Kooperativitätspräsumtion kritisiert und zu zeigen versucht, daß unter bestimmten Umständen beim Verstehen dessen, was mit einer Äußerung gemeint ist, von der entgegengesetzten Präsumtion der Nicht-Kooperation des Sprechers ausgegangen wird. Ebenso scheint es Fälle zu geben, in denen der Verstehende von vornherein davon ausgeht, daß es sich bei der Gesprächssituation um keinen „rationalen Dialog“ bzw. beim Sprecher um keinen „rationalen Dialogpartner“ handelt. Die Unterstellung, daß der Sprecher in bestimmter Hinsicht irrational ist oder aus anderen Gründen falsch informiert, geht offenbar üblicherweise einher mit der Präsumtion der NichtKooperativität. In Streitgesprächen, seien sie nun wissenschaftlicher oder privater Natur, kommt es häufiger zu Nicht-Kooperativitätspräsumtionen, d.h. zu der Hypothese, daß der Meinungsgegner nicht kooperiert und nicht an gemeinsamer Wahrheitsfindung interessiert ist. In solchen Fällen geschieht es leicht, daß sich die Streitenden wechselseitig Irrationalität (in bestimmter Hinsicht) unterstellen und davon ausgehen, daß der jeweils andere in den zur Diskussion stehenden Fragen falsch informiert. Solche partiellen Irrationalitäts- und Falschheitspräsumtionen werden dann bereits beim Verstehen dessen angewendet, was mit einer Äußerung gemeint ist. Eine andere Frage ist, ob solche Irrationalitäts- und Falschheitspräsumtionen beim semantischen Verstehen tatsächlich geeignete Mittel des Verstehens sind. Bekanntermaßen scheint es in solchen Fällen, die wohl jeder aus eigener Erfahrung kennt, zu gehäuften Mißverständnissen zu kommen – zumindest fühlt sich jeder mißverstanden, dessen Äußerungen mit Falschheitspräsumtionen und dessen Person mit (partiellen) Irrationalitätsprä-
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Dritter Teil
sumtionen konfrontiert werden. Insofern erhalten die Präsumtionen der Kooperativität, Rationalität und Wahrheit einen bevorzugten Status in pragmatischer Hinsicht: Wer an einer Fortsetzung eines Dialoges interessiert ist, tut in der Regel gut daran, dem Gesprächspartner Kooperativität, Rationalität und zumindest ein Interesse an der Wahrheitssuche zu unterstellen, selbst wenn er insgeheim anderer Meinung ist. Diese So-tun-als-ob-Unterstellungen sind aber strenggenommen keine hermeneutischen Präsumtionen mehr, sondern sprachpragmatische Fiktionen. Obwohl also für das Aufrechterhalten von Dialogen und damit für die Praxis der Kommunikation die Unterstellung von Kooperativität, Rationalität und eines gemeinsamen Interesses an Wahrheit in gewisser Hinsicht tatsächlich grundlegend ist, wird damit die Berechtigung von Nicht-Kooperativitätsannahmen, Irrationalitäts- und Falschheitspräsumtionen beim Verstehen von Äußerungen in bestimmten Fällen nicht ausgeschlossen. Die Fiktion der Kooperativität und Rationalität kann einhergehen mit einer hermeneutischen Präsumtion der Nicht-Kooperativität und Irrationalität: Dies scheint ein gar nicht seltener Fall zu sein, wenn man etwa an Gesprächsrunden denkt, in denen einzelne Teilnehmer, die notorisch Unsinniges von sich geben und deren Gesprächsbeiträge man von vornherein entsprechend auffaßt, dennoch so behandelt werden, als ob sie kooperative und rationale Gesprächspartner wären, die etwas Relevantes zum Thema beitrügen. Verbreiteter als auf der Ebene des semantischen Verstehens scheinen Falschheits- und Irrationalitätsunterstellungen als Mittel des Personenverstehens zu sein. Dies hängt zum einen damit zusammen, daß psychoanalytische Denkfiguren inzwischen weit in die sozialwissenschaftliche, aber auch in die alltägliche Praxis des Personenverstehens vorgedrungen sind – unabhängig davon, wie man dies bewerten mag. Zum anderen sind „tiefenhermeneutische“ Interpretationen von Äußerungen und Handlungen, in denen zwischen dem Selbstbild einer Person – ihren vorgeblichen Intentionen, Motiven, Charaktereigenschaften etc. – und ihren tatsächlichen Eigenschaften unterschieden wird, viel älter als die Psychoanalyse und offenbar von jeher mit dem alltagspsychologischen Verstehen von Personen verbunden. Da das Phänomen der Täuschung und Selbsttäuschung gerade im Hinblick auf Motive und Persönlichkeitsmerkmale weit verbreitet ist, wäre es auch überraschend, wenn sich nicht auch im alltäglichen Umgang Strategien herausgebildet hätten, solche Täuschungen aufzudecken. Bekannt ist beispielsweise die Tatsache, daß man Personen, die auffallend häufig beteuern, etwas getan (oder nicht getan) zu haben oder eine bestimmte Eigenschaft zu besitzen (oder nicht zu besitzen) in der Regel nicht glaubt – anscheinend deshalb, weil die besondere Betonung des angeblichen Sachverhalts eine Unsicherheit des Sprechers in eben diesem Punkt offenbart. In diesem Fall kommt eine hermeneutische Falschheitspräsumtion beim Verstehen der betreffenden Person zur Anwendung. Das Phänomen der Selbsttäuschung macht die Anwendung von Irrationalitätspräsumtionen nötig, will man die sich selbst täuschende Person richtig verstehen. Da solche Selbsttäuschungen auch nicht erst seit Freuds „Entdeckung“ des Unbewußten bekannt sind und man auch früher bereits wußte, daß
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Menschen, die besonders ehrenwerte Motive zu verfolgen wähnen, damit häufig eigennützige Strebungen vor sich selbst und anderen rechtfertigen, kann man eine lange Tradition der Anwendung von Irrationalitätspräsumtionen beim alltäglichen Personenverstehen annehmen. Eine Praxis des Personenverstehens, in der die weite Verbreitung von Täuschung und Selbsttäuschung im Hinblick auf Motive des Handelns nicht berücksichtigt würde, wäre ausgesprochen ineffizient und ungeeignet. Natürlich sind auch Irrationalitäts- und Falschheitspräsumtionen fallibel. Wenn jemand, um beim oben erwähnten Beispiel zu bleiben, in auffallender Weise beteuert, etwas getan (oder nicht getan) zu haben, stellt dies zunächst eine präsumtionserzeugende Tatsache dar, die üblicherweise zu einer Falschheitsunterstellung führt. Implizit wird damit ein kausaler Zusammenhang angenommen zwischen dem merkwürdigen Verhalten des Betreffenden und einer Täuschungsabsicht. Da es aber auch andere Gründe für das außergewöhnliche Verhalten des Betreffenden geben kann, die mit einer Täuschungsabsicht nichts zu tun haben, ist die Falschheitspräsumtion eine fehlbare Hypothese. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der Versuch, die Praxis des Verstehens und Interpretierens in einer Weise zu beschreiben, in der Falschheits- und Irrationalitätsunterstellungen nicht vorkommen, dieser Praxis nicht gerecht wird. Falschheits- und Irrationalitätspräsumtionen sind nicht nur bei der Beurteilung von Zeugnissen und Zeugen relevant, sondern spielen in vielen Fällen auch beim Verstehen eine Rolle. Die Anwendung der Rationalitäts-, Wahrheits- und Kooperativitätspräsumtion hingegen ist nur scheinbar unhintergehbar, da wir in vielen Fällen an ihnen als sozial nützlichen Fiktionen festhalten, obwohl wir faktisch von anderen Annahmen ausgehen.
3.4.1.3
Über Urteilsenthaltung und das Verstehen von Äußerungen ohne Präsumtionen
In der bisherigen Diskussion wurden Wahrheits- und Rationalitätspräsumtionen einerseits sowie Falschheits- und Irrationalitätspräsumtionen andererseits einander antithetisch gegenübergestellt und damit womöglich der Eindruck vermittelt, man habe beim Umgang mit Zeugnissen keine andere Wahl als zwischen diesen beiden radikalen Alternativen. Entweder, so schien es, müsse man sich für die Unterstellung von Wahrheit und Rationalität entscheiden oder für das Gegenteil. Offenbar jedoch gibt es beim Umgang mit Zeugnissen noch eine dritte Möglichkeit: die Urteilsenthaltung. Dies betrifft zunächst einmal die Frage der Notwendigkeit eines bewertenden Umgangs mit einem Zeugnis, unter der Voraussetzung, daß wir es verstanden haben. Es besteht nicht der geringste Grund, ein Zeugnis, das wir verstanden haben, überhaupt als wahr oder falsch zu beurteilen. Dasselbe gilt für die Glaubwürdigkeit und Rationalität des Zeugen; auch bei dieser Frage können wir uns des Urteils enthalten oder uns noch nicht einmal diese
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Dritter Teil
Frage stellen, etwa weil die Frage nach der Wahrheit des Zeugnisses und der Rationalität des Zeugen für uns schlicht irrelevant ist. Dies kann beliebige Zeugnisse betreffen: Wer sich beispielsweise für wissenschaftliche und weltanschauliche Fragen nicht interessiert, kann der Auseinandersetzung zwischen Evolutionstheoretikern und Kreationisten gleichgültig gegenüberstehen. Dieselbe Person, die sich für Wissenschaft nicht interessiert, wird aber zu einem fundierten Urteil über die Qualität medizinischer Therapien kommen wollen, wenn sie selbst oder ein Familienangehöriger erkrankt ist. Gibt es diese Möglichkeit der Urteilsenthaltung auch beim Verstehen von Zeugnissen? – Scholz hatte, ausgehend von Grices Theorie rationaler Dialoge, überzeugend dafür argumentiert, daß die Wahrheits- und Rationalitätspräsumtion bei bestimmten metaphorischen, ironischen, aber auch wörtlichen Äußerungen instrumentell notwendig ist für ein richtiges Verstehen dieser Äußerungen. Die sich daran anschließenden stärkeren „Konstitutivitätsthesen“ habe ich ausführlich kritisiert und außerdem nachzuweisen versucht, daß in bestimmten Fällen Falschheits- und Irrationalitätsunterstellungen hermeneutische Präsumtionen sind. Jedoch ist bislang nicht genügend berücksichtigt worden, daß in vielen Fällen keine Präsumtionen dieser Art verwendet werden müssen, um die betreffende Äußerung zu verstehen. Inwieweit wir faktisch Präsumtionen beim Umgang mit Zeugnissen verwenden, ist ein Problem empirisch-psychologischer Forschung, doch die (instrumentelle) Notwendigkeit der Anwendung von Präsumtionen als Mittel des Verstehens betrifft nicht alle Arten von Äußerungen. Wenn jemand in einem naturwissenschaftlichen Lexikon den Satz liest: „Die Lichtgeschwindigkeit ist unabhängig vom Bewegungszustand des als Bezugssystem benutzten Inertialsystems immer gleich groß“ (Paturi 1997: 370), wird er diesen Satz nur dann verstehen, wenn er über genügend Hintergrundwissen verfügt, d.h. mit der Relativitätstheorie vertraut ist und weiß, was mit einem „Inertialsystem“ gemeint ist. Ob er diesen Satz versteht, hängt von diesem Hintergrundwissen ab, nicht aber davon, ob er den Satz für wahr oder den Autor des Satzes für rational hält, oder ob er an die Relativitätstheorie glaubt. Er könnte sich ohne weiteres des Urteils enthalten. Häufig dürfte derjenige, der einen solchen Satz versteht, durchaus eine feste Meinung darüber besitzen, ob dieser Satz wahr ist. Doch auch wenn er die Wahrheit des Satzes und die Rationalität des Autors annehmen sollte, handelt es sich hierbei offenkundig um keine hermeneutischen Präsumtionen, da diese Annahmen nichts zum Verständnis des Satzes beitragen. Neben dem Vorhandensein von hermeneutischen Falschheits- und Irrationalitätspräsumtionen schränken demnach noch zwei weitere Faktoren den Geltungsbereich von Wahrheits- und Rationalitätspräsumtionen ein: die Möglichkeit der Urteilsenthaltung sowie die Möglichkeit, bestimmte Arten von Äußerungen ohne Zuhilfenahme von Präsumtionen zu verstehen.
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 3.4.2
Grenzen wohlwollender Interpretation und das Prinzip der Erklärbarkeit
3.4.2.1
Bühler über Grenzen der Charity-Prinzipien
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Axel Bühler hat bereits 1988 in dem Aufsatz „On limitations of principles of charity“ die These vertreten, daß „Charity“ im Sinn von Wahrheits- und Konsistenzunterstellung in bestimmten Anwendungsbereichen erfolgreich ist, in anderen aber nicht. Demgemäß gelte es, diese Anwendungsbereiche zu identifizieren: „Areas are specified where these principles might be successfull and demarcated against those where we should expect the principles to give wrong results“ (Bühler 1988: 1). Uneingeschränkte Charity-Prinzipien, die nicht nach erfolgversprechenden und weniger erfolgversprechenden Anwendungsbereichen differenzieren, müßten demgegenüber zurückgewiesen werden. Da die durchgängige Unterstellung der Wahrheit und Konsistenz von Meinungssystemen in der Praxis nicht durchführbar ist, sei es notwendig, die Anwendung von Wahrheits- und Konsistenzannahmen auf bestimmte Bereiche einzuschränken. Weiterhin müsse geklärt werden, in welchen Bereichen falsche oder inkonsistente Meinungen unterstellt werden können: „In which cases are we allowed to attribute false belief? When should we assume that people have inconsistent opinions?” (Bühler 1988: 7). Die Reichweite von Charity-Prinzipien sei geringer als von vielen Autoren bisher angenommen wurde. Insbesondere müßten die Kontexte spezifiziert werden, in denen Charity-Prinzipien angewandt und jene, in denen sie nicht angewandt werden können (vgl. Bühler 1988: 9). Bühler geht in seiner Arbeit zu den Grenzen wohlwollender Interpretation also über die triviale Feststellung faktisch vorhandener falscher und inkonsistenter Meinungen hinaus. Seine Forderung besteht darin, das Vorhandensein von wahren und konsistenten Meinungen in bestimmten Bereichen und falschen sowie inkonsistenten Meinungen in anderen Bereichen zu erklären. Eine solche Erklärung könnte beispielsweise folgendermaßen aussehen (vgl. Bühler 1988: 10 f.): 1. Menschen neigen dazu, Inkonsistenzen in ihren Meinungssystemen zu minimieren, wenn sie kognitive Dissonanz empfinden. 2. Menschen empfinden nur dann kognitive Dissonanz, wenn sie die Widersprüche in ihrem Meinungssystem überhaupt wahrnehmen. 3. In Gesellschaften ohne Schriftkultur werden Widersprüche weniger häufig wahrgenommen als in Gesellschaften mit Schriftkultur. 4. Daher können wir erwarten, daß Inkonsistenzen in Meinungssystemen in Gesellschaften ohne Schriftkultur häufiger verbreitet sind, als in Gesellschaften mit Schriftkultur. Bühler operiert also sowohl mit Wahrheits- und Konsistenzpräsumtionen als auch mit Falschheits- und Inkonsistenzunterstellungen. Insgesamt sollten wir
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Dritter Teil
wahre und konsistente Meinungen in solchen Bereichen annehmen, in denen ihr Vorhandensein erklärt werden kann. Er formuliert auch einige spezifische Präsumtionsregeln, etwa die Wahrheitspräsumtionsregel „Ascribe true beliefs to others when the belief content concerns the everyday physical environment!“ (Bühler 1988: 16) sowie die Konsistenzpräsumtionsregel „Describe the thinking of others as consistent when there is reason to suppose that contradictions are likely to be perceived!“ (ebd.). Besonders interessant ist in unserem Diskussionszusammenhang aber die Tatsache, daß bereits bei Bühler ausdrücklich eine Falschheitspräsumtionsregel erwähnt wird: „Assume that others have wrong beliefs when (a) the belief content concerns parts of reality beyond everyday physical and social environment and (b) the beliefs have not come about in a competitive process!” (Bühler 1988: 16)
Zugleich formuliert er die folgende Inkonsistenzpräsumtionsregel: „Ascribe inconsistencies to others when the perception of eventual contradictions is unlikely!“ (ebd.)
Ein dergestalt auf bestimmte Anwendungsbereiche eingeschränktes CharityPrinzip komme Hendersons Prinzip der Erklärbarkeit nahe, jedoch sei das Prinzip der Erklärbarkeit von größerer Allgemeinheit (vgl. Bühler 1988: 18). Explizit begreift Bühler seine Arbeit über die Grenzen wohlwollender Interpretation als eine Anwendung des Prinzips der Erklärbarkeit: “this paper can be considered an application of this principle“ (ebd.).
3.4.2.2
Hendersons Prinzip der Erklärbarkeit
Bühlers Arbeit über die Grenzen wohlwollender Interpretation steht in Zusammenhang mit David K. Hendersons Arbeiten über das „Prinzip der Erklärbarkeit“. Henderson hat sein „Prinzip der Erklärbarkeit“ sowohl in dem Aufsatz „Das Prinzip des Wohlwollens und das Problem der Irrationalität“ (vgl. Henderson 2003) als auch in dem Buch „Interpretation and Explanation in the Human Sciences“ (vgl. Henderson 1993) dargestellt. Sein Erkenntnisgegenstand ist das sich aus dem Prinzip des Wohlwollens ergebende Problem der Irrationalität: Das Prinzip des Wohlwollens scheint die Unterstellung von Irrationalität methodologisch auszuschließen, obwohl diese empirisch häufig vorkommt: „So aufgefaßt, schließt das Prinzip des Wohlwollens die Möglichkeit irrationaler Überzeugungen und Verhaltensweisen aus (oder zieht alle solche Zuschreibungen in Zweifel), und dies trotz reichlicher Belege für ihr ziemlich häufiges Vorkommen. Besonders beunruhigend ist dabei, daß Irrationalität nicht so sehr aus empirischen, son-
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen
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dern aus rein methodologischen Gründen ausgeschlossen wird (oder gegen sie gesprochen wird)“ (Henderson 2003: 234).
Das Problem der Irrationalität entstehe deswegen, weil die Grenzen und Einschränkungen des Wohlwollens-Prinzips nicht richtig eingeschätzt würden (vgl. Henderson 2003: 236).102 Bezogen auf das vielfach diskutierte Beispiel der Erstellung von Handbüchern zur Übersetzung einer fremden Sprache, müsse zwischen vorläufigen Übersetzungshandbücher zur ersten Annäherung an eine fremde Alltagssprache und verbesserten Übersetzungshandbücher unterschieden werden (vgl. ebd.). Henderson kritisiert die herkömmliche Ansicht, wonach das Prinzip des Wohlwollens den Übersetzer „in allen Phasen einer Arbeit einschränkt“ (Henderson 2003: 237) und behauptet statt dessen, das Prinzip des Wohlwollens schränke den Übersetzer in der frühen Phase ein, insofern den Sprechern der Quellsprache in der frühen Übersetzungsphase keine offensichtlichen Widersprüche zugeschrieben werden, allerdings sei das Wohlwollensprinzip in den späteren Phasen nicht mehr in vergleichbarem Maße anwendbar: „Bei der Erstellung von verbesserten Übersetzungshandbüchern schreibt uns das Wohlwollensprinzip nicht vor, Zuschreibungen offensichtlicher Widersprüche zu Sprechern der Quellsprache zu vermeiden. Bei der verbesserten Übersetzung hingegen kontrolliert das bei sozialwissenschaftlichen Untersuchungen maßgebliche Interesse an der Zuschreibung erklärbarer Überzeugungen und Handlungen unsere Erklärungsversuche, die Zuschreibungen offensichtlicher Widersprüche einschließen, und leitet solche Erklärungsversuche an“ (Henderson 2003: 238).
Dem Wohlwollensprinzip komme also eine vorbereitende Funktion bei der Erstellung von Übersetzungshandbüchern zu, es spiele „a largely preparatory role“ (Henderson 1993: 51). Hendersons Argumentationsziel besteht also nicht darin, Prinzipien des Wohlwollens generell zurückzuweisen, sondern bisher vorgeschlagene Formulierungen zu verbessern und auf die Grenzen wohlwollender Interpretation hinzuweisen. Darüber hinaus möchte er zeigen, daß das Prinzip des Wohlwollens „unter ein grundlegenderes Prinzip subsumiert werden kann“, unter das „Prinzip der Erklärbarkeit“. Dieses Prinzip der Erklärbarkeit erlaube es uns, unter bestimmten Umständen Personen Irrationalität zuzuschreiben. Wie lautet das Prinzip der Erklärbarkeit? Henderson gibt folgende Formulierung des Prinzips: „Übersetze so, daß Du die Erklärbarkeit der Überzeugungen und Handlungen, die Personen zugeschrieben werden, maximierst!“ (Henderson 2003: 236) 102
Auch David Papineau kommt in seinem Buch „Reality and Representation“ zu einer ähnlichen Einschätzung: „The principle of charity seems to commit us to the conclusion that every human utterance is true. But surely people do sometimes say false things. There must be something wrong with an approach to interpretation which rules out this perfectly normal possibility a priori” (Papineau 1987: 33).
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Dritter Teil
Das Prinzip des Wohlwollens könne als ein Sonderfall des Prinzips der Erklärbarkeit aufgefaßt werden (vgl. Henderson 2003: 248 u. Henderson 1993: 56). Allerdings führt Henderson nur das „gewichtete Wohlwollensprinzip“103 auf das Prinzip der Erklärbarkeit zurück: „Das Wohlwollensprinzip sollte in den Fällen das größte Gewicht haben, wenn wir damit rechnen können, daß die Sprecher der Quellsprache zumeist recht haben. Zuschreibungen von Irrtümern sprechen dann am stärksten gegen ein Übersetzungshandbuch, wenn es sich um eine Art von unwahrscheinlichen Irrtümern handelt. Andererseits sollte das Wohlwollensprinzip in den Fällen das geringste Gewicht haben, in denen Irrtümer zu erwarten sind“ (Henderson 2003: 249). Es sollte möglich sein, die zugeschriebenen Irrtümer unter Rückgriff auf empirisches Wissen zu erklären (vgl. ebd.). Wie ist es zu verstehen, daß das Prinzip des Wohlwollens auf das Prinzip der Erklärbarkeit zurückgeführt werden kann? Henderson begründet dies damit, daß sich wohlwollende Interpretation in der Anfangsphase der Erstellung eines Übersetzungshandbuchs aus der Absicht ergibt, zu Erklärungen zu kommen: „Das Prinzip der Erklärbarkeit erfordert in den frühen Stadien der Erstellung eines Übersetzungshandbuchs die Anwendung des Wohlwollensprinzips. In dieser Situation fehlt dem Forscher oft Information, die für die Erklärung von Urteilen, seien sie nun zutreffend oder irrtümlich, ausreicht. Dementsprechend leitet das Erklärbarkeitsprinzip den Forscher an, in solchen Kontexten so zu übersetzen, daß sich die beste Aussicht ergibt, zu Erklärungen zu kommen. Um dies zu tun beginnt der Forscher mit bestimmten Arten von Sätzen, wie etwa Beobachtungssätzen, von denen wir mit guten Gründen annehmen können, daß sie, wenn Quellsprachler sie äußern, zutreffend sind. In solchen elementaren Fällen, in denen Irrtümer sich nur sehr schwer, zutreffende Urteile aber ganz leicht erklären lassen, wird der Forscher sich bemühen, den Sprechern zutreffende Überzeugungen zuzuschreiben. Er wird auch Irrtumszuschreibungen auf solche Arten von Äußerung und solche Arten von Situation konzentrieren, bei denen wir Irrtümer am leichtesten erklären konnten und bei denen wir die meisten Irrtümer erwarten. Das gewichtete Wohlwollensprinzip ist also eine Version des Prinzips der Erklärbarkeit“ (Henderson 2003: 251 f.).
Fassen wir zusammen: David Henderson will zeigen, daß das Prinzip des Wohlwollens „unter ein grundlegenderes Prinzip subsumiert werden kann“, unter das „Prinzip der Erklärbarkeit“. Seine Formulierung des Prinzips der Erklärbarkeit nimmt Bezug auf die Erstellung eines Übersetzungshandbuchs. Sie fordert vom Übersetzer, so zu übersetzen, daß er die Erklärbarkeit der Überzeu103
Folgt ein Übersetzer dem sog. gewichteten Wohlwollensprinzip, „dann wird er die Sprecher der Quellsprache so deuten, daß sie in den Fällen normalerweise richtig liegen, in denen aus empirischen Gründen richtiges Urteilen und Schlußfolgern am wahrscheinlichsten ist. Insgesamt werden auch Irrtumszuschreibungen auf Fälle beschränkt sein, in denen richtiges Urteilen unwahrscheinlich ist, in denen wir wenig Grund haben, mit richtigem Urteilen und Schlußfolgern zu rechnen, eher guten Grund haben, Irrtümer zu erwarten“ (Henderson 2003: 248).
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen
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gungen und Handlungen, die Personen zugeschrieben werden, maximiert. Dieses Prinzip der Erklärbarkeit erlaube es uns in bestimmten Situationen, Personen Irrationalität zuzuschreiben. Es erscheint also möglich, das Wohlwollensprinzip auf das Prinzip der Erklärbarkeit zu reduzieren. Das Wohlwollensprinzip wird demnach zu einem Spezialfall des Prinzips der Erklärbarkeit: „The principle of charity is a derivative principle, not a fundamental methodological constraint“ (Henderson 1993: 60). Um das Wohlwollensprinzip auf das Prinzip der Erklärbarkeit zurückzuführen, muß es allerdings durch unser Wissen über die Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins wahrer und konsistenter oder falscher bzw. inkonsistenter Meinungen gewichtet werden. Hat nun der Umgang mit Zeugnissen, der dem „principle of explicability“ entspricht, noch etwas mit der Theorie der Präsumtionen zu tun? – Die Frage läßt sich bejahen, denn es ist möglich, eine entsprechende Präsumtionsformel sowie eine Präsumtionsregel zu formulieren, die sich auf das „principle of explicability“ beziehen. Die Präsumtionsformel könnte lauten: (Präs-F): Es gibt eine Präsumtion, ein bestimmtes Zeugnis für wahr (bzw. falsch) zu halten, wenn die Wahrheit (oder Falschheit) dieses Zeugnisses erklärbar ist, zumindest aber besser erklärbar als die Annahme des entgegengesetzten Wahrheitswertes. Dieser Präsumtionsformel könnte die folgende Präsumtionsregel entsprechen: (Präs-R): Gehe von der Wahrheit des Zeugnisses aus, wenn das Vorhandensein einer wahren Meinung besser erklärbar ist als das Vorhandensein einer falschen Meinung (vice versa). Unbestritten gibt es viele Fälle, in denen wir unterstellen müssen, daß ein Sprecher uns relevante und aufrichtige Auskünfte geben möchte, wenn wir ihn überhaupt verstehen wollen. In anderen Fällen ist jedoch auch die Anwendung von Falschheitspräsumtionen sinnvoll: bei bestimmten Arten von natürlichen Zeugnissen bzw. bei bestimmten Zeugen werden wir die Falschheitsvermutung anwenden, einfach deshalb, weil die Falschheit des Zeugnisses oder die Unaufrichtigkeit des Zeugen besser erklärbar ist. Wir werden z.B. geneigt sein, eine starke Falschheitspräsumtion gegenüber Wunderberichten anzuwenden, da die Falschheit dieser Berichte leichter erklärt werden kann. Der umgekehrte Fall, also die Wahrheit der Wunderberichte, wäre dagegen mit den bestehenden Gesetzmäßigkeiten der realen Welt nicht zu vereinbaren, also unerklärlich. David Hume hat bekanntlich in seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand eine einfache psychologische Erklärung von Wunderberichten gegeben, die eine Falschheitspräsumtion nahelegt: „Wird nämlich etwas völlig Widersinniges und Wunderbares aufgestellt, so nimmt [der menschliche Geist] eine solche Tatsache gerade wegen des Umstands um so williger an, der ihr alles Gewicht entziehen sollte. Die Affekte der Überraschung und des Staunens, die ein Wunder hervorruft, sind eine angenehme Erregung, und dies be-
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Dritter Teil
wirkt eine fühlbare Hinneigung zum Glauben an jene Ereignisse, von denen sie stammen. [...] Verbindet sich aber noch der religiöse Geist mit der Wunderliebe, dann hat aller gesunde Verstand ein Ende und menschliches Zeugnis verliert unter diesen Umständen jeden Anspruch auf Gültigkeit“ (Hume 1748/1993: 137).
Wir lernen also von Hume, daß wir bei bestimmten Arten von Zeugnissen oder bestimmten Arten von Zeugen Falschheit und Irrationalität unterstellen können und zweitens, daß wir dies nur dann tun dürfen, wenn die Falschheit des Zeugnisses bzw. die Irrationalität des Zeugen besser erklärt werden kann als die Annahme des Gegenteils.
3.4.3
Grundzüge einer naturalistischen Hermeneutik
In den kritischen Auseinandersetzungen der vorangegangenen Kapitel dieser Arbeit sind bereits bestimmte allgemeine methodologische Annahmen über Hermeneutik implizit zum Tragen gekommen. Diese allgemeinen methodologischen Grundsätze sollen in dem vorliegenden Abschnitt systematisch zusammengefaßt werden. In Anlehnung an Hans Albert möchte ich diesen methodologischen Ansatz als „naturalistische Hermeneutik“ bezeichnen. Es ist vor allem das Verdienst Hans Alberts, in kritischer Auseinandersetzung mit der philosophischen Hermeneutik Martin Heideggers und Hans-Georg Gadamers, eine naturalistische Behandlung der Verstehensproblematik gefordert zu haben (vgl. Albert 1994 u. Albert 1998: 5). Eine solche Hermeneutik, die sich als Teil des naturalistischen Erkenntnisprogramms begreift und insbesondere der kritischrationalen Wissenschaftstheorie verpflichtet ist, kann an die Tradition der klassischen Hermeneutik des 17. und 18. Jahrhunderts (vgl. Scholz 1999: 35 ff.) anknüpfen. Sie teilt insbesondere das Selbstverständnis der klassischen Hermeneutik, die sich als eine Kunstlehre regelgeleiteten Verstehens begriff (vgl. Böhm, Holweg, Hoock 1999). Das Verstehen selbst wird hierbei nicht als eine – im Vergleich mit naturwissenschaftlichen Methoden und Erkenntnisweisen – ganz andere Art der Erkenntnis aufgefaßt. Vielmehr kann es, ebenso wie naturwissenschaftliche Phänomene, mit Hilfe empirisch prüfbarer Gesetzeshypothesen erklärt werden (vgl. Albert 1994: 100 ff.). Neben der Erklärung des Verstehens kommt es auf die Ermittlung von Regeln an, die das Verstehen selbst adäquat anleiten und zu einer „Technologie der Deutung“ (vgl. Albert 1994: 95 ff.) beitragen. Eine naturalistische Hermeneutik104 beinhaltet folgende Thesen: 104
Albert faßt den Naturalismus, über die hier erwähnten Thesen hinaus, auch ontologisch auf als eine metaphysische Position, die beispielsweise religiöse Wirklichkeitsauffassungen ausschließt (vgl. Albert 1998: 4). Es erscheint mir allerdings nicht ratsam, die naturalistische Metaphysik und die hier behandelten methodologischen Grundsätze einer naturalistischen Verstehenslehre begrifflich zu konfundieren. Man kann ohne weiteres die
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(1) Das „Verstehen“ ist ein Prozeß, der – ebenso wie Phänomene aus dem Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften – mit Hilfe allgemeiner Gesetzesannahmen erklärt werden kann. Allerdings handelt es sich keineswegs um einen einheitlichen Erkenntnisgegenstand. Hinter den schillernden Begriffen des Verstehens und Interpretierens verbergen sich eine Anzahl unterschiedlicher Erkenntnisleistungen (vgl. Bühler 1999 sowie Stegmüller 1996). Es besteht indes keine Veranlassung, die mit dem Wort „Verstehen“ gemeinten verschiedenen Vorgänge von der Möglichkeit nomologischer Erklärungen auszuschließen. Vielmehr kann in dieser Hinsicht eine grundlegende Einheit der wissenschaftlichen Methode postuliert werden (vgl. Bühler 1987). (2) Sowohl die Interpretationsergebnisse als auch die Prinzipien des Verstehens und Interpretierens sind fehlbar. Der Anspruch einer apriorischen Geltung der Prinzipien des Verstehens und Interpretierens ist ebensowenig mit einem konsequenten Fallibilismus zu vereinbaren wie die Suche nach letztbegründeten und sicheren Interpretationsergebnissen. Die Fehlbarkeit des Verstehens und Interpretierens ist aber nicht zu verwechseln mit Beliebigkeit: Sowohl die Prinzipien des Verstehens und Interpretierens als auch die Interpretationsergebnisse können überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden. Methodologische Prinzipien lassen sich überprüfen, indem kontrolliert wird, ob sie tatsächlich geeignete Mittel für den jeweiligen Erkenntniszweck sind. Vor allem ist die Möglichkeit einer Verbesserung der bestehenden Prinzipien des Verstehens und Interpretierens nicht a priori auszuschließen. Interpretationsergebnisse sind als Hypothesen aufzufassen, die anhand bestimmter Regeln gebildet und überprüft werden. (3) „Principles of charity“ sind nicht die einzigen methodologischen Regeln, die beim Verstehen und Interpretieren von Bedeutung sind. Der Anwendungsbereich von Charity-Prinzipien ist begrenzt. Auch Falschheits-, Inkonsistenz- und Irrationalitätspräsumtionen spielen beim Verstehen und Interpretieren eine Rolle. Hinzu kommen spezifische Regeln für die Bildung und Prüfung interpretativer Hypothesen, die jeweils von konkreten Anwendungsbereichen abhängen und in den jeweiligen interpretativen Einzelwissenschaften ihren Platz haben.105 Das Regelwerk, welches das Verstehen anleitet, kann als eine Technologie der Deutung (vgl. Albert 1994: 95 ff.) aufgefaßt werden. Mit einer Technologie der Deutung ist nun aber kein automatisiertes Verfahren der Hypothesenbildung und -prüfung gemeint, das dem Interpreten gleichsam einen Algorithmus an die Hand gibt. Vielmehr bedarf auch die Kunstlehre regelgeleiteten Verstehens, wie es die klassische Hermeneutik des 17. und 18. Jahrhunderts bereits erkannte, sowohl der schöpferischen Phantasie (ingenium) als auch der kritischen Urteilsmethodologischen Regeln annehmen, ohne sich damit auf eine ontologische Position zu verpflichten. 105 Eine allgemeine Hermeneutik als philosophische Disziplin kann diese einzelwissenschaftlichen Regeln des Verstehens und Interpretierens weder formulieren noch im Detail überprüfen, wohl aber bestimmte methodologische Kriterien offerieren, anhand derer diese Regeln von Vertretern der jeweiligen Fächer gebildet und geprüft werden können.
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Dritter Teil
kraft (iudicium) des Interpreten bzw. der Gemeinschaft von Interpreten (vgl. Gadenne 1984: 10 ff.). Die methodologischen Regeln, die beim Verstehen und Interpretieren zur Anwendung kommen, sind ihrerseits fallibel. Sie beruhen auf empirisch prüfbaren Gesetzesannahmen, die allerdings in der Praxis des Verstehens und Interpretierens meistens implizit bleiben und somit zum nomologischen Hintergrundwissen gehören. (4) Interpretative Hypothesen besitzen gegenüber naturwissenschaftlichen Hypothesen keinen epistemologischen Sonderstatus: Sie unterliegen ebenso dem Objektivitätskriterium der intersubjektiven Nachprüfbarkeit. Die Prüfung etwa von ‚tiefenhermeneutischen’ Deutungen orientiert sich an geeigneten Interpretationsregeln, die auf einen gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen beobachtbaren Indizien (Verhalten und sprachlichen Äußerungen) und den zugrunde liegenden Meinungen, Einstellungen und Motiven des Sprechers verweisen (vgl. Böhm/Hoock 1998: 72 ff. sowie Böhm 2001: 123 f.). (5) Bei der Ermittlung von Regeln des Verstehens und Interpretierens kann auf die kommunikative Alltagspraxis zurückgegriffen werden. Auch die Lernund Entwicklungspsychologie ist von Belang. Neuere Studien machen deutlich: Spracherwerb und Sprachverstehen verlaufen als Prozeß des kritischen Hypothesentestens. Die zwischenmenschliche Praxis der Kommunikation und des Verstehens von Handlungen erscheint im Verhältnis zu den bislang entstandenen Interpretationsmethodologien der Geistes- und Sozialwissenschaften als weit entwickelt und leistungsfähig. Statt nun – wie neben Popper im Rahmen seiner „Situationslogik“ auch diverse Vertreter der behavioristischen sowie der kognitiven Psychologie gefordert haben – (alltags)psychologische Handlungserklärungen zu eliminieren, wäre es ratsam, den umgekehrten Weg einzuschlagen und sich daran zu orientieren, wie gelungenes Verstehen faktisch stattfindet. Dies schließt die Verwendung alltagspsychologischer Begriffe beim Personenverstehen ein.106 Diese Ausrichtung an realen Verstehensprozessen kommt einer naturalistischen Hermeneutik sehr entgegen: Sie kann von einer Beschreibung realer Verstehensprozesse ausgehen, ohne jedoch dem Fehlschluß anheimzufallen, aus dem faktischen Verhalten methodologische Regeln rechtfertigen zu wollen. Auch die Regeln, nach denen gelungenes Verstehen stattfindet, sind nicht sakrosankt und können unter Umständen weiterentwickelt werden. Dennoch erlaubt die Analyse erfolgreichen Verstehens wichtige Hinweise auf die zu entwickelnde Technologie der Deutung. Besonders interessant sind vor diesem Hintergrund neuere Ergebnisse der Lern- und Entwicklungspsychologie. Wie erfolgt der Spracherwerb und das Sprachverstehen im Kindesalter? – Bislang schien es sich hierbei um einen Vorgang (passiver) Nachahmung, um ein bloßes Assoziieren von Wörtern mit Gegenständen und um eine Art induktiven Lernens durch Wiederholung und Generalisierung zu handeln. In ihrem Buch „The scientist in the crib“ brechen A. Gopnik, A. N. Meltzoff und P. K. Kuhl mit diesen überkommenen Vorstellun106
Zur Frage der Unverzichtbarkeit der Alltagspsychologie vgl. Scholz 1999b: 80 ff..
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gen: „While philosophers, psychologists, and parents were so sure they knew how babies started to speak, no one consulted the babies themselves until around the 1970s” (Gopnik u.a. 1999: 112). Was ergibt sich nun „by looking in the crib“? – Kinder erweisen sich, so die zentrale Aussage der Autoren, als kritische und aktive Hypothesentester und Wahrheitssucher, die hierbei über „powerful programs for interpreting the world“ verfügen, diese Programme aber selbsttätig verbessern können (vgl. Gopnik u.a. 1999: 171 f.). Spracherwerb und gelungenes Verstehen haben weitgehende Ähnlichkeit mit dem, was schon Popper als Grundprinzip des wissenschaftlichen Lernens und Forschens im Gegensatz zur induktivistischen Lerntheorie („Lernen durch Wiederholung“) herausgestellt hat (vgl. Popper/Lorenz 1988: 23 f.): das Wagnis riskanter Hypothesen und die Fehlerkorrektur nach dem Grundsatz von „Versuch und Irrtum“. Sind Kinder also kritische Rationalisten? – Man mag das annehmen, ohne daran allzu große Erwartungen zu knüpfen: Kinder sind zwar kritische Hypothesentester, doch das entsprechende biologische Programm scheint sich im Erwachsenenalter allmählich zu erschöpfen. Diese bedauerliche Tatsache bietet jedoch zugleich den wichtigsten Daseinsgrund des kritischen Rationalismus, der eben jene kritische Haltung fordert und der Tendenz zum Dogmatismus entgegenwirkt.
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ZUSAMMENFASSENDE SCHLUßBEMERKUNG In dieser Arbeit wurden bestimmte erkenntnistheoretische Probleme aus dem Umfeld der Sozialen Erkenntnistheorie und Hermeneutik untersucht und anschließend aus den Ergebnissen der kritischen Diskussion dieser Problemstellungen methodologische Konsequenzen gezogen. Das erkenntnistheoretische Interesse richtete sich zunächst auf Objekte des Verstehens, die in der Sozialen Erkenntnistheorie als „Zeugnisse anderer“ bezeichnet werden: Ist die Überlieferung in Form mündlicher Rede und Text eine eigenständige Quelle der Erkenntnis – vergleichbar mit der menschlichen Wahrnehmung? Die Frage nach der Eigenständigkeit bzw. Nicht-Reduzierbarkeit von Zeugnissen als Erkenntnisquelle mußte aufgeteilt werden in die Tatsachenfragen, ob das faktisch vorhandene Wissen der Erkenntnissubjekte zu einem Teil auf Zeugnisse anderer zurückgeht, und ob dies unter Umständen beim Erwerb von Wissen sogar unvermeidlich ist, sowie das Rechtfertigungsproblem, ob die Herkunft einer Meinung aus der Quelle der Überlieferung bereits als epistemische Rechtfertigung dieser Meinung gelten kann. Im Verlauf der kritischen Untersuchung wurden die Tatsachenfragen bejaht: Das Zeugnis anderer ist eine eigenständige und unersetzbare Erkenntnisquelle im Hinblick auf den alltagspraktischen Erwerb von Wissen. Keine andere Erkenntnisquelle kann die Überlieferung in ihrem praktischen Nutzen für den Wissenserwerb ablösen. Doch die Herkunft unseres Wissens sagt nicht ohne weiteres etwas aus über seine Rechtfertigung, und damit stellt sich das Problem, inwiefern mit dem Ursprung einer Meinung aus der Quelle der Überlieferung ein Urteil über ihre Zuverlässigkeit bzw. Wahrheit verbunden ist. Bei der Untersuchung dieses Problems wurden unterschiedliche Argumente sozialer Erkenntnistheoretiker, die nahelegen, daß die Herkunft einer Meinung aus der Quelle der Überlieferung bereits eine epistemische Rechtfertigung dieser Meinung darstellt, kritisiert und zurückgewiesen. Demgegenüber erscheint eine pragmatische Rechtfertigung des Fürwahrhaltens von Zeugnissen – d.h. eine Wahrheitspräsumtion beim praktischen Umgang mit Zeugnissen – zumindest als plausibel. Aus der Perspektive kritisch-rationaler Erkenntnistheorie, insbesondere ausgehend von Veröffentlichungen Karl Poppers über die Quellen des Wissens, ergab sich eine neue Sicht auf die epistemische Rechtfertigung von Zeugnissen. Aufgrund der generellen Rechtfertigungs-Skepsis Poppers kam es zu einer Veränderung der Problemsituation: Zeugnisse lassen sich ebensowenig epistemisch rechtfertigen wie andere vermeintlich sichere Quellen des Wissens. Sie wären demnach anderen Erkenntnisquellen gleichberechtigt, ohne dadurch jedoch als gerechtfertigte wahre Meinungen ausgezeichnet zu sein. Diese skeptisch anmutende Lösung beruht auf Poppers Konzeption des sogenannten Vermutungswissens und seinem damit verknüpften Anspruch, das Induktionsproblem gelöst zu haben, doch dies wird in der gegenwärtigen Diskussion auch von kritischen Rationalisten kontrovers diskutiert. Während bei dem Erwerb von Wissen durchaus alle Erkenntnisquellen zunächst als gleichberechtigt auftreten können, erscheint es bei der Prüfung von Tatsachenbehaup-
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tungen angebracht, einen methodologischen Primat der Erfahrung anzunehmen. Darunter ist jedoch nicht eine Form von Reduktionismus im Sinne der Sozialen Erkenntnistheorie zu verstehen, sondern „Erfahrung“ im Sinne der erfahrungswissenschaftlichen Methode, zu der neben den Sinneserfahrungen der an Prüfungen beteiligten Personen institutionelle Regelungen sowie formal-logische Aspekte gehören. Erforderlich ist die prinzipielle Prüfbarkeit bei Aussagen, die einen Anspruch erheben, über die Wirklichkeit zu informieren. Sofern es sich beim Prüfungsgegenstand um eine Aussage über die Erfahrungswelt handelt, müssen auch die Prüfsätze Aussagen über beobachtbare Sachverhalte sein. Da die kritisch-rationale Erkenntnistheorie von vornherein nicht von isolierten Individuen als Erkenntnissubjekten ausgeht, sondern von der scientific community, ihren Institutionen und ihrer „Verfassung“, läuft eine Kritik, wie sie von dem sozialen Erkenntnistheoretiker Coady gegen die „individualistische Erkenntnistheorie“ und den „empiristischen Reduktionismus“ geübt wurde, ins Leere. Es zeigt sich, daß der kritische Rationalismus bei der Frage nach dem Zeugnis anderer als Erkenntnisquelle eine eigenständige und beachtenswerte Position vertritt. Diese Position kann im Zusammenhang mit der Debatte über das Zeugnis anderer als „nicht-reduktiver Empirismus“ bezeichnet werden. Dieser methodologisch orientierte Empirismus wurde zwar zunächst als wissenschaftstheoretische Position vorgebracht, bezieht sich aber ebenso auf alltägliche Zeugnisse, sofern sie Behauptungen über reale Sachverhalte sind. Im zweiten Teil der Arbeit wurde die Frage verfolgt, welchen Beitrag Karl Popper zur Theorie des Verstehens geleistet hat. Die von ihm im Verlauf mehrerer Jahrzehnte – von den 40er bis zu den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts – konzipierte „Situationslogik“ soll die Hermeneutik, von Popper verstanden im Sinne subjektiven Nachvollzugs und Nachempfindens, durch ein Verfahren ersetzen, das die „Situation“ des Handelnden objektiv rekonstruiert. Poppers Erkenntnisanspruch bestand darin, mit dieser Situationslogik eine Konzeption des „objektiven Verstehens“ für die Sozial- und Geisteswissenschaften entwickelt zu haben. Der chronologische Überblick über Poppers Arbeiten zur Situationslogik macht deutlich, daß es in Wirklichkeit drei verschiedene und zum Teil widersprüchliche Konzeptionen sind, die Popper als „Situationslogik“ bezeichnet. In der ersten Konzeption aus den Jahren 1944 und 1945 wird die Kritik des Psychologismus, der soziale Gesetzmäßigkeiten auf die menschliche Natur zurückführen wolle, für Popper zum Ausgangspunkt der Suche nach einer objektiven Handlungstheorie, welche die unbeabsichtigten Folgen des menschlichen Handelns einbezieht. Einer „Logik der Situation“, d.h. der Möglichkeit, Handlungen aufgrund der äußeren Situation des Handelnden zu erklären, kommt hierbei eine wichtige Bedeutung zu, ohne aber psychologische Erklärungen völlig ersetzen zu können. Poppers Beispiele verweisen auf äußere Rahmenbedingungen des Handelnden, die wenig Spielraum für subjektive Entscheidungen lassen, so daß das jeweilige Handeln weniger durch persönliche Motive und psychische Dispositionen des Handelnden erklärt werden kann, als vielmehr durch die äußeren Umstände. „Situationslogik“ ist also in dieser ersten Konzeption Poppers eine
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metaphorische Umschreibung für sogenannte Sachzwänge. Ein solcher Verweis auf die Bedeutung von situativen Rahmenbedingungen für die Erklärung menschlichen Handelns erscheint unproblematisch, begründet jedoch nicht Poppers Erkenntnisanspruch, mit der „Situationslogik“ die Hermeneutik ersetzt zu haben. Man kann jedoch anhand der zur selben Zeit (1944/45) entstandenen Ausführungen zur sogenannten „Nullmethode der Konstruktion von Modellen rationalen Handelns“ erkennen, daß es Popper von Anfang an um mehr ging, als lediglich die Relevanz situativer Faktoren bei der Erklärung des Handelns zu betonen. Inspiriert von Modellen der Wirtschaftswissenschaft soll auch bei sozialwissenschaftlichen Erklärungen menschlichen Handelns vollkommene Rationalität des Handelnden unterstellt und anschließend die Abweichungen des tatsächlichen Verhaltens vom Modellverhalten gemessen werden. Hierbei bleibt aber offen, welchen Zielen eine solche Modellkonstruktion dienen soll. Eine Erklärung und Prognose in der Form, wie sie Popper in seiner Logik der Forschung beschrieben hat, kann mit Hilfe der „Nullmethode“ nicht erreicht werden. Auch der erkenntnistheoretische Status der Rationalitätsunterstellung im Rahmen der „Nullmethode“ bleibt ungeklärt. In späteren Arbeiten Poppers aus den 60er Jahren wird die Unterstellung idealer Rationalität in eine veränderte Konzeption der Situationslogik integriert; psychische Faktoren sollen beim Verstehen und Erklären des Handelns nun völlig eliminiert werden. Die Situation des Handelnden müsse soweit analysiert werden, daß die Handlung allein aus der Situation heraus erklärbar werde. Dies soll dadurch gelingen, daß auch psychische Dispositionen, wie Wünsche und Motive, als Elemente der Situation behandelt werden, indem man sie als „objektive Ziele“ auffaßt. Das Problem, daß die tatsächlichen Ziele eines Menschen nur durch den Rückgriff auf dessen reale Motive ermittelt werden können, möchte Popper durch die Anwendung eines Rationalitätsprinzips lösen. Da seiner Meinung nach Hypothesen über psychische Dispositionen des Handelnden nicht geprüft werden können, soll beim Verstehen und Erklären des Handelns ganz auf sie verzichtet werden; statt dessen ergebe sich die Kenntnis der Handlungsziele durch die Analyse der Situation und der Unterstellung idealer Rationalität des Handelnden. Hierbei verwendet Popper einen gegenüber der ersten Konzeption der Situationslogik veränderten und erheblich erweiterten Situations-Begriff, der sämtliche handlungsrelevante Faktoren als Elemente der „Situation“ einbezieht. Dies hat zur Folge, daß situationslogische Aussagen, in denen ein bestimmtes Verhalten als „situationsgerecht“ bezeichnet wird, niemals an der Erfahrung scheitern können, da stets bestimmte Ziele unterstellt werden können, die eine Handlung als zweckrational erscheinen lassen. Der Verzicht Poppers auf jede empirische Ermittlung der realen Handlungsmotive führt in der Konsequenz zu einer Immunisierung situationslogischer Analysen gegen Kritik sowie zu Aussagen ohne Informationsgehalt, die keine prüfbaren Hypothesen darstellen und auch nicht zur Erklärung und zum Verstehen menschlichen Handelns verwendet werden können.
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Das im Zusammenhang mit der zweiten Konzeption der Situationslogik verwendete Rationalitätsprinzip wird von Popper nur unzureichend und höchst widersprüchlich analysiert. Er bezeichnet es als ein nahezu leeres Prinzip, das zugleich falsch, aber dennoch für das Verstehen und Erklären von Handlungen unverzichtbar sei. Eine nähere Untersuchung der von Popper verwendeten Beispiele macht deutlich, daß sein eigener Eindruck von der Falschheit des Rationalitätsprinzips auf der Mehrdeutigkeit des Situationsbegriffs beruht und ein Mißverständnis ist. Demgegenüber erweist sich das von Popper verwendete Rationalitätsprinzip, in Verbindung mit der zweiten Konzeption der Situationslogik, tatsächlich als inhaltsleer und als ungeeignet zur Erklärung des Handelns. In der dritten Konzeption der Situationslogik ergänzt Popper in seinem Spätwerk seine Theorie objektiven Verstehens durch zusätzliche ontologische Thesen. Gegenstände des Verstehens sollen keine Bewußtseinszustände (Welt2-Zustände) sein, sondern Elemente von „Welt-3-Problemsituationen“. Durch diese Erweiterung der Situationslogik mit seiner Ontologie der drei Welten erreicht Popper allerdings keine Verbesserung der Prüfbarkeit und des Informationsgehalts situationslogischer Analysen, sondern belastet die situationslogische Methode zusätzlich mit fragwürdigen metaphysischen Annahmen über eine Welt objektiven Geistes. Insgesamt muß Poppers Erkenntnisanspruch, die Hermeneutik durch eine Situationslogik abgelöst zu haben, aus den genannten Gründen zurückgewiesen werden. Entgegen dem propagierten Ziel, jegliche psychologische Erforschung von handlungsleitenden Motiven überflüssig zu machen, kann man jedoch in Poppers eigener Interpretationspraxis feststellen, daß er sich vielfach der herkömmlichen Methode bedient, empirischpsychologische Hypothesen über Absichten und Motive von Handelnden aufzustellen und ihr Handeln mit Hilfe dieser Hypothesen zu erklären und zu verstehen. In dem dritten Teil der Arbeit wurden Fragestellungen der beiden ersten Teile neu aufgegriffen und systematisch untersucht: Inwiefern sind Rationalitätsund Wahrheitspräsumtionen notwendig für das Verstehen und Interpretieren von Zeugnissen? Ein kurzer historischer Überblick über das Prinzip wohlwollender Interpretation zeigte eine lange Tradition der Anwendung von Rationalitäts- und Wahrheitsunterstellungen als Prinzipien des Verstehens und Interpretierens. Im Anschluß daran bestand der argumentative Schwerpunkt des dritten Teils in der Darstellung und kritischen Prüfung der von Oliver Scholz entwickelten Theorie der Präsumtionen, die einen wichtigen Versuch darstellt, den epistemologischen Status der Prinzipien des Verstehens zu klären. Hierbei stand die Frage im Mittelpunkt, ob und in welchem Sinne Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen beim Umgang mit Zeugnissen im allgemeinen und beim Verstehen von Zeugnissen im besonderen „notwendig“ sind. Im Anschluß an die detaillierte Gliederung dieser Problemstellung bei Scholz wurden die einzelnen Notwendigkeitsbehauptungen erläutert und kritisch untersucht. Als zentrales Resultat der Untersuchung kann man festhalten, daß Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen in der Tat unter bestimmten Bedingungen ein unentbehrliches Mittel des Verste-
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hens darstellen. Allerdings ist auch diese schwächste aller Notwendigkeitsbehauptungen (instrumentelle Notwendigkeit) wiederum einzuschränken, da in manchen Kommunikationssituationen oder bei Zeugnissen besonderer Art auch von entgegengesetzten Präsumtionen ausgegangen werden kann. Eine von vornherein festgelegte Hierarchie von Verstehensprinzipien, bei denen die Unterstellungen der Rationalität und Kooperativität des Sprechers und der Wahrheit des Gesagten ohne Bezugnahme auf die Gesprächssituation sowie auf die Art der in Frage stehenden Zeugnisse an oberster Stelle stehen, scheint nicht zu existieren. Statt dessen richtet sich der Gebrauch von Präsumtionen bei der Beurteilung sowie beim Verstehen von Zeugnissen nach den Erwartungen des Verstehenden. Diese Erwartungen entstehen aufgrund von bisherigen Erfahrungen in ähnlichen Kommunikationssituationen und leiten als rudimentäre und implizite Theorien die Bildung von interpretativen Hypothesen an. Insofern kann es bestimmte Kommunikationssituationen sowie Arten von Zeugnissen geben, bei denen der Verstehende Gebrauch macht von Irrationalitäts- und Falschheitspräsumtionen. Es zeigen sich somit Grenzen wohlwollender Interpretation. Es wurde versucht, diese Grenzen unter Bezugnahme auf Arbeiten Bühlers und Hendersons genauer zu bestimmen. Die Untersuchung, ob Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen noch in einem stärkeren Sinne notwendig sind denn als unentbehrliche Mittel für das Verstehen bestimmter Arten von Zeugnissen unter bestimmten Kommunikationssituationen, kam zu einem negativen Befund: Die behandelten Thesen, die den genannten Prinzipien eine apriorische Geltung zuweisen oder sie als „konstitutive Bedingungen“ des Verstehens auffassen, erscheinen als unbegründet. Nicht nur die Interpretationsergebnisse, sondern ebenfalls die Prinzipien des Verstehens und Interpretieren sind fehlbar und gegebenenfalls durch bessere Problemlösungen zu ersetzen. Die geforderte Bereitschaft, auch Prinzipien des Verstehens dahingehend zu prüfen, ob sie geeignete Mittel für den jeweiligen Erkenntniszweck darstellen und sie gegebenenfalls durch geeignetere Prinzipien zu ersetzen, stellt eine zentrale methodologische Konsequenz der erkenntnistheoretischen Untersuchung dar. Im Anschluß an Hans Albert wurden zuletzt Grundzüge einer naturalistischen Hermeneutik skizziert. Abgesehen von dem konsequenten Fallibilismus, der sich auch auf die Prinzipien des Verstehens erstreckt, erscheint die Hermeneutik im Rahmen des naturalistischen Erkenntnisprogramms als eine technologische Disziplin mit Regeln, die auf empirisch prüfbaren Gesetzesannahmen beruhen.
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PERSONENREGISTER
Abälard, P. 96 Albert, H. 2, 43, 45, 48, 75 f., 93, 162 f., 171 Albert, M. 5, 48 f. Alexander, W. 97, 100 f. Aristoteles 37, 83, 94 f. Ast, F. 101 Augustinus, A. 95 f., 106 Austin, J.L. 17 Bacon, F. 37 f., 58, 83 Bartley, W.W. 43 Baumgarten, A.G. 90 Bernheim, E. 7 Böhm, J.M. 68, 152, 162, 164 Bühler, A. 53, 93, 97 f., 100, 102, 152, 157 f., 163, 171 Caesar, G.I. 81 Caligula (G.I.C. Germanicus) 81 Carr, L.J. 68 Cataldi Madonna, L. 97 f. Catull, G.V. 81 Chakrabarti, A. 20, 35 Cicero, M.T. 81 Clauberg, J. 97 Coady, C.A.J. 1, 6-8, 13-21, 2325, 27 f., 33-35, 38, 116, 131, 168 Collingwood, R.G. 60, 81 f. Cusanus, N. 38 Dannhauer, J.C. 97 Davidson, D. 6, 27, 90, 107-109, 122, 127 f., 131 f., 134, 136 f., 140-142 Demokrit 38, 83 Dennett, D. 57, 131 Descartes, R. 37 Dilthey, W. 59 f., 80, 97, 101-105
Ebeling, G. 101 Eichel, H. 64 Einstein, A. 58 Erasmus v. Rotterdam 38 Ernesti, J.A. 101 Esser, H. 55 Feyerabend, P.K. 48 f. FØllesdal, D. 57 Freud, S. 79, 151 f., 154 Fricker, E. 23-26, 31 Fuller, S. 1 Funk, R. 68 Gadamer, H.-G. 6, 60, 97, 101 f., 105-107, 133, 162 Galilei, G. 78-80, 82, 87 Gadenne, V. 43 f., 51, 164 Gatzemeier, M. 94, 96 Goldman, A.I. 1 Gopnik, A. 164 f. Grice, H.P. 90, 112-114, 153, 156 Grundmann, Th. 41 f., 44 Hayek, F.A. v. 63 Hegel, G.W.F. 73, 83, 86 Heidegger, M. 102, 105 f., 162 Henderson, D.K. 93, 130, 158161, 171 Heraklit 37, 83-86 Herbert, W.-D. 151 Hesiod 95 Holweg, H. 107, 162 Homer 95 Hoock, C. 68, 88, 152, 162, 164 Hübener, W. 101 Hume, D. 7-11, 13-16, 19 f., 23, 25, 31, 33, 43 f., 53, 116, 124, 145, 149, 161 f.
186
Personenregister
Insole, Ch.J. 22 f., 26, 41, 52 Jung, C.G. 151 Karl I. „d. Große“ 70-72 Kepler, J. 82 Keuth, H. 64, 66, 68, 77 Kitcher, P. 1 König, E. 95 Koppe, F. 95 Kuhl, P.K. 164 Künne, W. 133 Levinson, S.C. 90, 112 Lévy-Bruhl, L. 107, 126 Locke, J. 2, 38 Loewenich, W 96. Lorenz, K. 165 Luther, M. 96 Mackie, J.L. 8 Marschak, J. 63 Marx, K. 61 McGinn, C. 129, 132, 134 Meier, G.F. 50, 90, 98-100, 103, 137 Meltzoff, A.N. 164 Menger, C. 63 Mill, J.S. 38, 68 Miller, D. 43 Montaigne, M. de 38 Musgrave, A. 43 f., 50-52 Oevermann, U. 87-89 Papineau, D. 159 Parmenides 37, 83, 85 Paturi, F.R. 156 Pépin, J. 94 Platon 83, 85 f. Popper, K.R. 2 f., 7, 36-45, 47 f., 50 f., 55-91, 93, 104, 124 f., 144, 164-170 Putnam, H. 134-137
Quine, W.V.O. 90, 107-109, 123, 125-128, 138 Quinton, A. 6, 27 f., 30, 131 Ranke, L. v. 83 Reid, Th. 7 f., 11-13, 32, 58, 112 Russell, B. 38 Sober, E. 118 f. Sokrates 38, 133 Spohn, W. 44-47 Schleiermacher, F. 97, 101-106 Schmid, M. 73-75 Scholz, O.R. 1-3, 6, 21, 25-27, 90 f., 93, 95 f., 100-103, 107-114, 117-146, 148, 150, 156, 162, 164, 170 Schröder, G. 139 Schurz, G. 44 Schuster, Th. 18 Sargant Florence, P. 63 Stegmüller, W. 163 Stich, S.P. 118 Strube, W. 152 f. Thomas von Aquin 95 Thomasius, C. 98 Tolstoi, L. 63 Vanberg, V. 74 Vasek, Th. 121 Veraart, A. 96 Vermazen, B. 134 Voltaire (F.M. Arouet) 38 Wach, J. 101 Wilson, N.L. 107 f. Wimmer, R. 96 Wolf, F.A. 101 Wittgenstein, L. 135 Xenophanes 38
SACHREGISTER
Allegorese 95 Allegorie (allegorisch) 95 f. Apriorismus (a priori) 1-3, 6, 14, 31, 50, 55, 67, 74, 90 f., 118, 122 f., 125-127, 129, 134, 142, 144146, 159, 163, 171 Augenzeugenschaft (Augenzeuge) 9, 18-20 Bedingung - konstitutiv 27, 30, 91, 119 f., 122, 126, 134, 171 - begriffskonstitutiv 122, 134 - praxiskonstitutiv 119-122, 144 Begründung (s. Rechtfertigung) Begründungstrilemma (Münchhausentr.) 45 Beobachtung (beobachtbar) 9, 1416, 18 f., 28, 30-35, 37-40, 51, 59, 66 f., 77, 124, 136, 152, 160, 164, 168 Bestätigung 9, 14, 16, 23, 42-44 Bevorzugung (v. Hypothesen, Theorien usw.) 42 f., 45 Bewährung 42-45, 52 Bewährungsproblematik 43 Bezeugen 17-19, 34 Charity (principle of charity) 3, 6, 14, 17, 60, 90, 107-109, 122, 125, 127, 129 f., 134, 136-138, 140143, 150, 152, 157-159, 161, 163 Common-Sense (gesunder Menschenverstand) 8, 11, 13, 22, 24 f., 33, 44, 52 f. Common-Sense-Philosophie 8, 11, 13 Deduktion (deduktiv) 2, 44-47, 51, 57, 69, 75, 82, 148
Deutung 13 f., 29, 64, 85, 89, 9496, 98-100, 104, 115 f., 151 f., 162-164 - Technologie d. 162-164 Disposition (d. menschl. Natur) 9 f., 12, 14, 16, 23, 25, 29, 44, 7073, 77, 81, 88 f., 104, 121, 124 f., 144, 152, 168 f. Dogmatismus 45, 79 f., 96, 165 empirisch 9 f., 12, 14-16, 21, 2326, 31 f., 42, 49 f., 52, 57, 59, 66 f., 69-71, 73-75, 77 f., 80, 82, 88 f., 91, 93, 108, 115, 121, 124-126, 128, 138, 140, 142, 144 f., 149, 156, 158, 160, 162, 164, 169-171 Empirismus 1, 5, 26, 37, 51-53, 124, 128, 168 - methodologischer 52 - nicht-reduktiver 51-53, 168 epistemisch (s.a. Rechtfertigung) 5, 7, 18, 20, 26, 31-33, 35 f., 41 f., 44-47, 50, 52 f., 124, 127 f., 136, 167 Epistemologie (s.a. Status) 2 Erfahrung (s. Sinneserfahrung) - als Methode 51 - gemeinschaftliche (common experience) 14 f. - individuelle 14, 53 - Primat d. 8, 51, 53, 168 Erfahrungswissenschaft 26, 168 Erkenntnis (s. Wissen) Erkenntnisanspruch 40, 53, 55, 80, 106, 151, 168-170 Erkenntnisfortschritt 26, 44, 46, 53, 102, 123 Erkenntnisgrund (s. Grund) Erkenntnispraxis 8-10, 36, 50, 53, 68, 110
188
Sachregister
Erkenntnisquelle (s. Quelle) Erkenntnistheorie (erkenntnistheoretisch) 1-3, 5-8, 11, 20 f., 24 f., 28, 32 f., 35-42, 44-48, 50-53, 67, 69, 93, 109, 112, 124, 137, 150, 167-169, 171 - kritisch-rationale 1-3, 7, 48, 55, 69, 77, 167 f. - Soziale 1 f., 5-8, 21, 24-28, 33, 36 f., 39, 41 f., 44, 46-53, 93, 112, 137, 167 f. Erkenntnisziel 21, 32, 53, 100, 110 Erklärbarkeit (Prinzip d.) 130, 157-161 Erklären 57, 62-64, 66, 70, 73, 75, 77, 79, 85 f., 97, 157, 160, 168170 Erklärung 2, 53, 57, 60, 62-67, 6976, 78, 82-86, 97, 118 f., 140, 157, 159-164, 168-170 Evolutionstheorie (evolutionstheoretisch) 118 f., 156 Fallibilismus (s.a. Fehlbarkeit) 2, 41 f., 44, 90 f., 110, 130, 145, 155, 163 f., 171 Falschheit 33, 74, 118, 146, 149 f., 161 f., 170 Falschheitspräsumtion 11, 16, 25, 53, 93, 117, 125, 129 f., 146-158, 161, 163, 171 Falsifizierbarkeit (Falsifikation) 2, 42, 45, 48 f. Fehlbarkeit (fehlbar) 2, 9, 15, 38, 42, 89 f., 110, 145 f., 155, 163, 171 Forschung 2, 47, 49, 51, 59, 66, 68, 73 f., 80, 87, 121, 156, 169 f. Forschungsprogramm 49 Fürwahrhalten 6, 18, 32, 43, 50, 53, 127 f., 167 Gedächtnis 6, 9, 142
Gehalt (e. Satzes) 59, 71 f., 89 f., 95, 118, 120, 123, 125, 151, 169 f. Gehaltserweiterung (gehaltserweiternd) 125 Geltung 1, 3, 5, 9, 13, 16, 23, 26, 50, 52, 67, 74, 91, 95 f., 126 f., 129, 144-146, 156, 163, 171 Gesellschaft 47, 55, 60-65, 68-70, 75, 83 f., 88, 157 Gesetz (Gesetzmäßigkeit, Gesetzeshypothese, gesetzmäßig) 10, 30, 50, 58, 62, 67, 69, 73, 75, 77, 85, 103, 108, 117, 144, 161-164, 168, 171 Gewißheit 41, 99 Glaube 6, 8 f., 13, 16, 19 f., 24, 3032, 35, 37, 39 f., 43, 46, 51-53, 85, 96, 111 f., 162 Glaubwürdigkeit 8, 10, 13 f., 16, 19, 23, 111, 146, 148, 150 f., 155 Grenzen (d. wohlwollenden Interpretation) 157-162 Grund - Erkenntnisgrund 9, 18, 20, 33 - Realgrund (s.a. Motiv) 9, 33 Grundproblem (s. Problem) Handeln 33, 49, 55, 57 f., 62-82, 85, 87-90, 98, 100, 107, 119, 142145, 147, 149, 151, 153, 155, 168170 Handlung 1, 5, 17, 21, 28, 43, 48, 55-58, 61-65, 67, 70-82, 88-94, 104 f., 110, 122, 131, 141, 143145, 147, 152, 154, 159, 161, 164, 168-170 Hermeneutik 1-3, 6 f., 53-56, 59 f., 76, 80-83, 87-90, 93, 97 f., 100107, 109 f., 136, 145, 150, 162171 - Einfühlungs- 60, 76, 80-82
Sachregister - naturalistische 3, 93, 162, 164, 171 - objektive (s.a. objektives Verstehen) 87 f. Hintergrundwissen 77, 130, 133, 137, 140, 156, 164 Holismus 128 f., 140 Hörensagen 18 f. Induktion (induktiv) 27, 30, 42-45, 59, 123-125, 164 f., 167 Institution (institutionell) 5, 24, 36, 47-52, 62, 70 f., 88 f., 168 Interpretation 3, 6 f., 14, 25, 33, 38, 48, 50, 55-59, 61, 63, 78, 82 f., 85-112, 120, 122, 124, 127-129, 133 f., 136 f., 141, 144-146, 149152, 154, 157-160, 163 f., 170 f. Interpretationsmethodologie 7, 95, 127, 152, 164 Interpretationspraxis 78, 82, 86, 89, 137, 144, 150, 170 Interpretationsprinzipien (Prinzipien d. Interpretation) 1-3, 33, 60, 89-100, 106-110, 120, 122, 125, 127-130, 136-138, 140-146, 150, 152, 157-161, 163, 170 f. Irrationalität 117, 126, 146, 158 f., 161 f. Irrationalitätspräsumtion (annahme, -unterstellung) 93, 125 f., 146 f., 149 f., 151-156, 162 f., 171 Kritischer Rationalismus (kritischrational) 1-3, 7, 47 f., 51, 53, 55, 69, 77, 123 f., 167 f. Kunstlehre (d. Verstehens) 1, 97, 100-106, 145, 162 f. Logik (s.a. Situationslogik) 2 f., 47, 51, 60, 64, 66 f., 69 f., 78, 97
189
Meinung - notionale 134-140 Metaphysik (metaphysisch) 58, 71, 73, 77, 99, 162, 170 Methode 1 f., 48, 51, 53, 56 f., 5961, 63-69, 71-74, 76-87, 90, 95, 100, 102 f., 105 f., 121 f., 127 f., 151 f., 162 f., 168-170 Methodologie 7, 47-49, 53, 88, 97, 144 f., 164 - methodologische Regel 5, 47-52, 59, 79, 145, 163 f. Motiv 9, 33, 70-73, 75, 77, 79, 82 f., 87, 95, 110, 137, 147, 151, 153155, 164, 168-170 Nachvollzug 59, 80-82, 87, 93, 104, 168 Naturalismus (naturalistisch) 3, 8, 31, 53, 93, 123, 126, 162, 164, 171 Notwendigkeit (notwendig) 2 f., 9, 23, 30-33, 43, 53, 58 f., 63 f., 75, 81 f., 89-91, 93, 109 f., 112 f., 115-121, 123, 126-129, 131, 134 f., 141, 144 f., 155-157, 170 f. - instrumentell 30, 32 f., 53, 63 f., 89-91, 112 f., 116 f., 119-121, 126, 134, 144, 156, 171 - methodologisch 123, 127 f. - naturgesetzlich/evolutionär 117 f., 131 Nullmethode 63-69, 86, 169 Objektivität (objektiv) 32, 38, 44, 46-48, 55, 60-65, 69-72, 76-78, 80-83, 86-91, 164, 168-170 Ontologie 57-59, 61, 76-78, 83, 87, 105 f., 162 f., 170 - d. drei Welten (s.a. Welt) 61, 7678, 170
190
Sachregister
Person (Personenverstehen) 119, 122, 125, 141-145, 153-156, 164 pragmatisch (s.a. Rechtfertigung) 9, 32 f., 46, 50, 53, 124, 128, 148, 154, 167 presumptive right 7, 20, 22 Prinzip der wohlwollenden Interpretation (principle of charity) 3, 6, 14, 17, 60, 90, 94, 96, 98, 107109, 122, 125, 127, 129 f., 134, 136 f., 140-143, 150, 152, 157161, 163 Problem - Grundprobleme d. Sozialen Erkenntnistheorie 5, 33, 36, 41 f., 44 - d. Rechtfertigung 5, 24, 43, 167 - Tatsachenproblem 5 Problemsituation 7, 76-80, 83, 167, 170 Prognose 57, 66, 69, 121, 169 Prüfbarkeit 26, 32, 42, 50, 71, 77, 85, 91, 164, 168, 170 Prüfsatz 51, 168 Prüfung (Hypothesenprüfung) 2, 7, 9, 12, 21, 26, 31-33, 36, 40, 42 f., 50-53, 57, 70, 77, 79, 93, 104, 122, 126, 128, 143, 145, 149, 163 f., 167 f., 170 Quelle (d. Erkenntnis, d. Wissens) 1 f., 5-7, 13, 15 f., 19-22, 28, 3541, 45, 50-53, 55, 112, 137, 167 f. Rationalismus 1 f., 5, 7, 36-39, 41, 43, 45, 47-53, 75, 90, 165, 168 Rationalität (rational) 2 f., 33, 42 f., 55, 58, 65-67, 69 f., 72-75, 7982, 89-91, 93, 98 f., 107-119, 121 f., 125 f., 141-147, 149-156, 158 f., 161-163, 169-171
- Zweckrationalität (zweckrational) 58, 93, 98 f., 113, 149, 169 Rationalitätspräsumtion (-annahme, -unterstellung) 3, 66 f., 69, 80, 89-91, 93, 107 f., 110, 113 f., 119, 121 f., 142 f., 146, 152, 155 f., 169 Rationalitätsprinzip 2 f., 33, 46, 52, 55, 65, 67, 69 f., 72-75, 79-82, 89-93, 169 f. Realgrund (s. Grund) Recht, präsumtives 7, 31, 35 Rechtfertigung 2, 5-7, 10, 13-16, 18, 20, 22, 24 f., 31-33, 36, 40-47, 50, 52 f., 55, 72, 79, 87, 90, 119, 127 f., 136, 167 Rechtfertigungsgrund 13 f., 18, 79 Rechtfertigungszirkel 15 f. Reduktion 7 f., 13-18, 22-24, 26, 39, 52, 61 Reduktionismus 7, 13-16, 21, 23 f., 26, 38, 41, 51-53, 61-63, 68, 116, 168 Reduktionismusthese 7, 13, 38 Sinneserfahrung (Wahrnehmung) 6, 8 f., 11-13, 15, 38, 51 f., 90, 111 f., 133 f., 140, 167 f. Situation 15, 17, 27-29, 34 f., 39, 43, 60-83, 88, 90, 105, 110, 116, 153, 160 f., 168-171 Situationsbegriff 69-75, 81, 88, 170 Situationslogik 2 f., 55, 57, 60 f., 63-65, 67-78, 80-82, 86 f., 89 f., 93, 164, 168-170 Skepsis (Skeptizismus, skeptisch) 2, 7, 13, 21, 36, 41-44, 52, 119, 167 Soziale Erkenntnistheorie 5, 21, 33, 36, 47 Soziologie 1, 47 f., 60-62, 68
Sachregister - Autonomie d. 61 Sprache 11 f., 19 f., 23, 27, 31, 34, 108, 120, 125 f., 128, 159 f., 164 f. Sprachphilosophie 107, 134, 138, 140 f. sprachpragmatisch 29 f., 154 Sprechakt 18 Sprechakttheorie 17 Sprechhandlung - assertorische 1, 17, 21, 28, 131 Status - epistemologischer 1 f., 7 f., 12, 21, 50, 78, 90 f., 93, 164, 170 Tatsache 5, 9, 15, 19 f., 25, 32, 34 f., 40 f., 47, 53, 78, 85, 90, 104, 111, 116, 141-143, 147, 154 f., 158, 161, 165 f. Tatsachenproblem (s. Problem) Technologie - d. Deutung (s.a. Deutung) 162164 - d. Prüfung v. Zeugnissen 10 - d. Verstehens 100 Testimony (s. Zeugnis anderer) Transzendental 6, 22, 27, 30 f., 33, 35, 41, 106, 110, 120, 129, 131134, 143 f. Transzendenz der Darstellung 51 Unzuverlässigkeit 10 f., 28, 31, 34, 36, 53, 116, 149 Urteilsenthaltung 36, 146, 155 f. Vermutungswissen (s. Wissen als Vermutungswissen) Vernunft (vernünftig) 6, 9, 40, 43 f., 51 f., 85, 96-98, 100, 108, 143, 147, 151 Verstehen 1-3, 6 f., 11, 16, 23, 27, 30, 34, 51, 55-61, 63 f., 66 f., 6972, 75-82, 86 f., 89-94, 96-98, 100-107, 109-112, 114-117, 119-
191
126, 128-130, 133 f., 137, 144146, 149-156, 160-170 - objektives 55, 60, 69 f., 72, 76 f., 80-82, 86, 168, 170 Verstehenskonzeption 2, 56 f., 60, 77, 90 Verstehensprinzipien (s. Interpretationsprinzipien) Vertrauen 6, 9 f., 14 f., 23-25, 27, 31-34, 44, 49 f., 53, 56, 116, 149 f. Wahrhaftigkeit 9, 14, 16, 33, 98, 145 Wahrheit 2 f., 6, 9 f., 14, 16 f., 20 f., 25, 27, 29-33, 37 f., 40 f., 44, 46 f., 53, 55, 72, 74, 90 f., 93, 95 f., 99, 106-114, 116-119, 121 f., 127-134, 136-138, 140 f., 144, 146-150, 152-158, 161, 165 f., 170 f. Wahrheitshintergrund 130, 134, 136, 138, 140 f. Wahrheitspräsumtion (-annahme, -unterstellung) 2 f., 6, 14, 16, 25, 27, 33, 41, 50, 53, 91, 93, 95, 106113, 119, 121 f., 127-130, 136138, 140 f., 146-150, 152, 155158, 161-167, 170 f. Wahrheitspräsumtionsregel 148, 158 Wahrnehmung (s. Sinneserfahrung) Welt 34, 51, 61, 76-78, 80, 83, 85, 87 f., 119, 133, 138, 140, 161, 168, 170 - Drei-Welten-Theorie 61, 76-78, 80, 83, 87, 170 Wissen - als gerechtfertigte wahre Meinung 24, 41, 52 - als Vermutungswissen 7, 41 f., 44, 50, 167 Wissensbegriff 6, 23 f., 41 f., 52
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Sachregister
Wissenschaft - Geistes- 1, 55-59, 61, 68, 78, 88, 164, 168 - Natur- 55-59, 65 f., 69, 95, 124, 156, 162-164 - Sozial- 55, 60-62, 65-70, 74, 76, 78, 88, 154, 159, 164, 168 f. - Verfassung d. 5, 47-49, 168 Wissenschaftstheorie (s.a. Erkenntnistheorie, Epistemologie) 1 f., 7 f., 32, 39 f., 47 f., 50, 53, 55, 59, 69, 75, 77, 162, 168
Wissenssoziologie 1, 47 Wunder 8-11, 161 f. Zeugnis (Zeugnis anderer, Testimony) 1-3, 5-41, 44, 46 f., 50-53, 55, 58, 93 f., 109, 111 f., 116, 130 f., 137, 146-153, 155 f., 161 f., 167 f., 170 f - formales 17 f. - natürliches 18-20, 58, 111, 161 Zeugnis-Nihilismus (ZeugnisSkeptizismus) 52 Zuverlässigkeit 6, 9-12, 27 f., 31, 33, 45 f., 167