Willem Elsschot
Käse
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Willem Elsschot
Käse
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Frans Laarmans ist bescheidener Büroangestellter auf einer Antwerpener Schiffswerft. Als er eines Tages zum Vertreter einer holländischen Käsehandelsgesellschaft ernannt wird, verantwortlich für die Gebiete Belgien und Großherzogtum Luxemburg, ist er überwältigt von seinem sozialen Aufstieg. Er lässt sich bei der Werft krankschreiben, richtet zu Hause ein Büro ein und bestellt zehntausend Edamer, vollfett. Doch das Leben als Geschäftsmann ist nicht so einfach, wie er es sich vorgestellt hat. Erst als die zwanzig Tonnen schwere Lieferung Käse im Lagerhaus liegt, Kiste über Kiste, dämmert es ihm. Und als sein Vorgesetzter, der brüske Herr Hornstra, seinen Besuch ankündigt, um die ersten Rechnungen zu begleichen, gerät Frans Laarmans in Panik. Der große Auftritt des Edamers in der Weltliteratur! Eine hinreißende Satire über Geschäft, Gier, Ehrgeiz und Käse. ISBN: 3-293-00331-1 Original: Kaas Aus dem Niederländischen von Agnes Kalmann-Matter und Gerd Busse Verlag: Unionsverlag 2. Auflage 2004
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Buch Frans Laarmans ist bescheidener Büroangestellter auf einer Antwerpener Schiffswerft. Als er eines Tages zum Vertreter einer holländischen Käsehandelsgesellschaft ernannt wird, verantwortlich für die Gebiete Belgien und Großherzogtum Luxemburg, ist er überwältigt von seinem sozialen Aufstieg. Er lässt sich bei der Werft krankschreiben, richtet zu Hause ein Büro ein und bestellt zehntausend Edamer, vollfett. Doch das Leben als Geschäftsmann ist nicht so einfach, wie er es sich vorgestellt hat. Erst als die zwanzig Tonnen schwere Lieferung Käse im Lagerhaus liegt, Kiste über Kiste, dämmert es ihm. Und als sein Vorgesetzter, der brüske Herr Hornstra, seinen Besuch ankündigt, um die ersten Rechnungen zu begleichen, gerät Frans Laarmans in Panik. »Elsschots Erzählfreude strotzt vor vergnügtem Sarkasmus, hinter dem eigentlich zuweilen die pure Verzweiflung ob der Jämmerlichkeit der Conditio humana durchschimmern müsste.« Dirk Schümer, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Autor
Willem Elsschot, 1882-1960, ist das Pseudonym von Alfons de Ridder. Er leitete eine Werbeagentur in Antwerpen und schrieb in seiner Freizeit höchst erfolgreiche Romane, ohne dass seine Familie etwas davon ahnte. Seine Romane sind Klassiker, die in den Niederlanden und in Belgien ungebrochene Popularität genießen und nichts von ihrer Frische und ihrem Humor eingebüßt haben.
Für Jan Greshoff
Ich lausche schweigend deinen Worten, die heiser sind, doch allerorten, die in Moll sind beim Verwünschen des Alltäglichen im Menschen. Ich folg’ den Linien deines Mundes, dieses übel zugewachs’nen Schlundes, der alles ausdrückt, wenn er lacht, was er so scharf in Worte fasst. Er hat Freunde, Frau und Kind, viele, die ihm teuer sind, die er liebt, von Groß bis Klein. Doch steht Jan Greshoff ganz allein. Er sucht und schaut, er hofft und wacht von Tag zu Tag, von Nacht zu Nacht. Da hört er was und hebt die Hände: In Brüssel wartet schon sein Ende. Jan lauf, geh, schwing deinen Riemen, verpass der ganzen Bande Striemen! Feg das Gelump aus deiner Bahn, solang’ dein Herz noch schlagen kann.
Handelnde Personen Frans Laarmans, Büroangestellter bei der General Marine and Shipbuilding Company, danach Kaufmann, anschließend wieder Büroangestellter Die Mutter von Laarmans (kindisch und sterbend) Doktor Laarmans, Bruder von Frans Mijnheer van Schoonbeke, Freund des Doktors und an allem schuld Hornstra, Käsehändler in Amsterdam Fine, Laarmans’ Frau Jan und Ida, ihre Kinder Madame Peeters, eine Nachbarin, die an der Galle leidet Anna van der Tak, Büroangestellte bei der General Marine Tuil, Büroangestellte bei der General Marine Erfurt, Büroangestellte bei der General Marine Bartherotte, Büroangestellte bei der General Marine Boorman, Ratgeber für Geschäftsleute Der alte Piet, Maschinist bei der General Marine Der junge van der Zijpen, der eine geschäftliche Verbindung sucht Freunde von van Schoonbeke
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Elemente Käse. Käsetraum. Käsefilm. Käseunternehmen. Käsetag. Käsekampagne. Käsemine. Käsewelt. Käseschiff. Käsehandel. Käsefach. Käseroman. Käseesser. Käsemensch. Käselaib. Käsehändler. Käsetrust. Käsedrache. Käseelend. Käsetestament. Käsefantasie. Käsemauer. Käsefrage. Käsewagen. Käseheimsuchung. Käseturm. Käsewunde. Gafpa General Antwerp Feeding Products Association Keller der Blauhüte-Lagergesellschaft Laarmans’ Büro mit Telefon, Diplomatenschreibtisch und Schreibmaschine Eine Tricktrack-Kassette Ein Bastkoffer Ein großer Käseladen Ein Friedhof
Käse 1 Endlich schreibe ich dir wieder, weil sich große Ereignisse ankündigen, die Herr van Schoonbeke ins Rollen gebracht hat. Du musst wissen, dass meine Mutter kürzlich gestorben ist. Eine unangenehme Geschichte natürlich, nicht nur für sie selbst, sondern auch für meine Schwestern, die sich an ihrem Bette fast zu Tode gewacht haben. Sie war alt, sehr alt. Ich weiß nicht einmal, wie alt sie genau war. Krank war sie eigentlich nicht, aber gründlich verbraucht. Meine älteste Schwester, bei der sie im Haus wohnte, war gut 7
zu ihr. Sie weichte ihr das Brot ein, sorgte für den Stuhlgang und ließ sie Kartoffeln schälen, um sie zu beschäftigen. Sie schälte und schälte, wie für ein ganzes Heer. Wir alle brachten unsere Kartoffeln zu meiner Schwester, und schließlich bekam sie auch noch die von Madame vom oberen Stock und von einigen Nachbarn, denn als sie einmal versucht hatten, sie einen Eimer bereits geschälter Kartoffeln noch einmal schälen zu lassen, aus Mangel an Vorrat, da hatte sie es gemerkt und wahrhaftig gesagt: »Die sind schon geschält.« Als sie nicht mehr schälen konnte, weil Hände und Augen nicht mehr so recht zusammenarbeiten wollten, da gab meine Schwester ihr Wolle und Kapok zum Zupfen, der vom langen Draufliegen Klümpchen bekommen hatte. Es machte viel Staub, und Mutter selbst war von Kopf bis Fuß voller Flocken. So ging es immer weiter, bei Nacht wie bei Tag: dämmern, zupfen, dämmern, zupfen. Und zwischendurch manchmal ein Lächeln, Gott mag wissen, für wen. Von meinem Vater, der erst fünf Jahre tot war, wusste sie nichts mehr. Der hatte nie existiert, obwohl sie neun Kinder miteinander gehabt hatten. Wenn ich sie besuchte, sprach ich manchmal über ihn, um zu versuchen, ob ich auf diese Weise ihre Lebensgeister wieder wecken könne. Dann fragte ich sie, ob sie denn Krist wirklich nicht mehr kenne, so hatte er nämlich geheißen. Sie mühte sich schrecklich ab, mir zu folgen. Sie schien zu begreifen, dass sie etwas begreifen sollte, beugte sich in ihrem Sessel nach vorn und starrte mich mit gespanntem Gesicht und schwellenden Schläfen an: eine verlöschende Lampe, die, wie zum Abschied, zu platzen droht. Nach kurzer Zeit erlosch der Funken wieder, und dann lächelte sie ihr Lächeln, das durch Mark und Bein ging. Wenn ich zu 8
lange in sie drang, bekam sie Angst. Nein, die Vergangenheit gab es für sie nicht mehr. Keinen Krist, keine Kinder, nur noch Kapok zupfen. Eine Sache spukte ihr noch im Kopf herum, nämlich dass eine letzte kleine Hypothek auf einem ihrer Häuser nicht abbezahlt war. Wollte sie dieses Sümmchen erst noch zusammenkratzen? Meine brave Schwester sprach über sie, auch wenn sie dabei war, wie über eine Abwesende: »Sie hat gut gegessen. Sie ist heute sehr schwierig gewesen.« Als sie nicht mehr zupfen konnte, saß sie noch eine Zeit lang da, die blauen Knöchelhände parallel auf dem Schoß oder stundenlang an ihrem Sessel herumfingernd, als ob das Zupfen noch nachwirkte. Sie unterschied das Gestern vom Morgen nicht mehr. Beides bedeutete nur noch »jetzt nicht«. War es, weil ihre Augen schlechter geworden waren oder weil sie immerzu von bösen Geistern gequält wurde? Jedenfalls wusste sie nicht mehr, ob es Tag oder Nacht war, stand auf zur Schlafenszeit und schlief, wenn sie hätte reden sollen. Wenn sie sich an Wänden und Möbeln festhielt, konnte sie noch ein wenig gehen. Nachts, wenn alle schliefen, stand sie auf, trottete zu ihrem Sessel und fing an, Kapok zu zupfen, den es nicht gab, oder suchte so lange, bis sie die Kaffeemühle zu fassen bekam, als wolle sie für den einen oder anderen Mitstreiter Kaffee machen. Und immer den schwarzen Hut auf dem grauen Schopf, auch nachts, wie zum Ausgehen bereit. Glaubst du an Hexerei? Endlich legte sie sich hin, und als sie sich gelassen den Hut abnehmen ließ, wusste ich, dass sie nicht mehr aufstehen würde.
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2 An jenem Abend hatte ich bis Mitternacht in den Drei Königen Karten gespielt und vier Pale Ales getrunken, sodass ich in der richtigen Verfassung war, um die ganze Nacht in einem Zuge durchzuschlafen. Ich versuchte, mich so leise wie möglich auszuziehen, denn meine Frau schlief schon lange, und ich mag das Gemecker nicht. Als ich mich jedoch auf ein Bein stellte, um den ersten Strumpf auszuziehen, fiel ich gegen den Nachttisch, und sie schreckte aus dem Schlaf hoch. »Schäm dich«, fing es an. Und darauf ertönte die Türklingel durch unser stilles Haus, sodass meine Frau sich aufrecht hinsetzte. In der Nacht hört sich so eine Klingel feierlich an. Wir warteten beide, bis das Schellen im Treppenhaus verhallt war, ich mit klopfendem Herzen und dem rechten Fuß in meinen Händen. »Was mag das sein?«, flüsterte sie. »Schau mal durchs Fenster, du bist doch erst halb ausgezogen.« Gewöhnlich kam ich nicht so gut davon, aber die Klingel hatte ihr den Atem abgeschnitten. »Wenn du jetzt nicht auf der Stelle nachschaust, gehe ich selbst«, drohte sie. Aber ich wusste, was es war. Was hätte es sonst sein können? Draußen sah ich vor unserer Tür einen Schatten stehen, der rief, dass er Oscar sei, und mich bat, zur Mutter mitzukommen. Oscar ist einer meiner Schwäger, ein Mann, der bei solchen Anlässen unentbehrlich ist. 10
Ich sagte meiner Frau, worum es sich handelte, zog mich an und öffnete die Tür. »Heute Nacht ist es so weit«, garantierte mein Schwager. »Der Todeskampf hat angefangen. Und binde dir einen Schal um, denn es ist kalt.« Ich gehorchte und ging mit ihm mit. Draußen war es still und hell, und wir schritten aus wie zwei, die zu irgendeiner nächtlichen Arbeit eilen. Beim Hause angelangt, streckte ich automatisch die Hand zur Klingel aus, doch Oscar hielt mich zurück, fragte, ob ich nicht ganz bei Trost sei, und ließ den Briefkasten leise klappern. Meine Nichte, Oscars Tochter, ließ uns ein. Geräuschlos schloss sie die Tür hinter uns und sagte, ich solle einfach hinaufgehen, was ich denn auch tat, hinter Oscar her. Meinen Hut hatte ich abgenommen, was im Hause meiner Mutter sonst nicht meine Gewohnheit war. Mein Bruder, meine drei Schwestern und Madame von oben saßen zusammen in der Küche, neben dem Zimmer, in dem sie wohl noch immer lag. Wo hätte sie sonst liegen sollen? Eine alte Nonne, eine Cousine von uns, glitt unhörbar vom Sterbezimmer zur Küche und wieder zurück. Alle schauten mich an, als ob sie mir etwas vorzuwerfen hätten, und einer von ihnen raunte mir einen Willkommensgruß zu. Sollte ich stehen bleiben oder mich setzen? Stehen bleiben würde so aussehen, als sei ich auf dem Sprung, um gleich wieder zu gehen. Und mich setzen, als ob ich mich mit dem ganzen Zustand abfände, auch mit dem von Mutter. Aber weil sie doch schon alle saßen, nahm auch ich einen Stuhl und setzte mich ein bisschen abseits, außerhalb des Scheins der Lampe. Es herrschte eine ungewöhnliche Spannung. Vielleicht, weil sie die Uhr angehalten hatten? 11
Es war verdammt warm in der Küche. Und dann diese Frauenzimmer mit den geschwollenen Augen, als hätten sie Zwiebeln geschält. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Fragen, wie es um Mutter stand, war nicht möglich, denn jeder wusste, dass es nun zu Ende ging. Weinen wäre das Beste gewesen, aber wie anfangen? Plötzlich aufschluchzen? Oder das Taschentuch nehmen und die Augen tupfen, ob nass oder nicht? Das verflixte Pale Ale fing erst jetzt an zu wirken, sicher durch die Hitze in der kleinen Küche, sodass mir der Schweiß ausbrach. Um etwas zu tun, stand ich auf. »Geh doch mal schauen«, sagte mein Bruder, der Arzt ist. Er redete ganz normal, nicht zu laut, aber doch so laut, dass ich nun völlig sicher war, dass mein nächtlicher Spaziergang seinen Zweck nicht verfehlen würde. Ich folgte seinem Rat, denn ich fürchtete, dass mir vom Bier, von der Hitze und der Stimmung in der Küche übel werden würde. Sie hätten es wahrscheinlich meiner Erregung zugeschrieben, aber stell dir vor, dass ich angefangen hätte, mich zu übergeben. Hier war es frischer und fast dunkel, was mich angenehm überraschte. Auf dem Nachttisch brannte eine einsame Kerze, die Mutter auf ihrem hohen Bett kaum beleuchtete, sodass ich von ihrem Todeskampf nicht gestört wurde. Unsere Cousine, die Nonne, war am Beten. Als ich eine Zeit lang dagestanden hatte, kam auch mein Bruder herein, nahm die Kerze, hielt sie in die Höhe wie bei einem Fackelzug und beleuchtete Mutter. Er musste etwas gesehen haben, denn er ging zur Küchentür und bat die ganze Gesellschaft anzutreten. 12
Ich hörte Stühle rücken, und da waren sie auch schon. Etwas später sagte meine älteste Schwester, dass es vorbei sei, aber die Nonne widersprach ihr und sagte, dass die zwei Tränen noch nicht gefallen seien. Sollten die etwa von Mutter kommen? Es hat dann sicher noch eine Stunde gedauert, ich immer noch mit dem Bier, doch dann wurde erklärt, dass sie tot sei. Und sie hatten Recht, denn so sehr ich ihr auch innerlich befahl, sich aufzurichten und die ganze Bande mit ihrem Furcht erregenden Lächeln auseinander zu jagen, es wollte nicht gelingen. Sie lag so still da, wie nur eine Tote liegen kann. Es war ziemlich schnell gegangen, doch es hätte wenig gefehlt, und ich wäre nicht dabei gewesen. Mir wurde ganz kalt, als der Weiberchor zu weinen begann und ich nicht mit einstimmen konnte. Wo nahmen sie nur all die Tränen her, denn dass dies nicht die ersten waren, konnte ich an ihren Gesichtern ablesen. Zum Glück weinte mein Bruder auch nicht. Aber er ist Doktor, und sie wissen, dass er dergleichen Szenen gewöhnt ist, sodass es für mich doch peinlich war. Ich versuchte alles gutzumachen, indem ich die Frauen umarmte und ihnen kräftig die Hand drückte. Unerhört fand ich es, dass sie soeben noch gelebt hatte und jetzt nicht mehr. Und auf einmal hörten meine Schwestern auf zu weinen, holten Wasser, Seife und Handtücher und begannen sie zu waschen. Die Wirkung des Bieres war nun völlig verschwunden, was doch beweist, dass ich mindestens ebenso viel Rührung empfand wie die anderen. Ich setzte mich wieder in die Küche, bis sie fertig aufgeputzt war, und dann wurden wir nochmals ans Bett gerufen. In dieser kurzen Zeit hatten sie viel ausgerichtet, und die teure Verblichene sah jetzt eigentlich besser aus als zu Lebzeiten, da 13
sie noch beim Schälen oder Kapok-Zupfen vor sich hingelächelt hatte. »Tante ist wirklich schön«, sagte unsere Cousine, die Nonne, mit einem Blick voller Genugtuung auf Bett und Mutter. Und die muss es wissen, denn sie gehört zu den Schwarznonnen in Lier, einer Sorte, die von ihrer Jugend an bis zu ihrem letzten Tag von einem zum andern Kranken geschickt wird, also fortwährend bei irgendwelchen Leichen sitzt. Danach machte meine Nichte Kaffee, den die Frauen auch wirklich verdient hatten, und Oscar erhielt die Erlaubnis, die Beerdigung einem seiner Freunde anzuvertrauen, der seiner Meinung nach mindestens ebenso gut und billig sei wie irgendjemand sonst. »Ist gut, Oscar«, sagte meine älteste Schwester mit einer müden Bewegung, als ob sie die Kostenfrage nicht im Geringsten interessiere. Ich sah, dass das Beisammensein seinem Ende entgegenging, wagte aber nicht, mit gutem Beispiel voranzugehen, da ich als Letzter gekommen war. Eine meiner Schwestern gähnte, während sie noch ein paar Tränen fallen ließ, dann setzte mein Bruder den Hut auf, drückte allen nochmals die Hand und ging. »Ich gehe am besten gleich mit Karel«, sagte ich nun. Das waren, glaube ich, die ersten Worte, die ich hervorbrachte. Sie konnten den Eindruck erwecken, dass ich Karels wegen mitging, denn sogar ein Arzt kann schließlich einen Beistand nötig haben. Und so gelangte ich ins Freie. Es war drei Uhr, als ich wieder mit dem Fuß in den Händen in unserem Schlafzimmer stand und den ersten Strumpf auszog. Ich fiel um vor Müdigkeit, und um nicht alles erzählen zu müssen, sagte ich einfach, dass der Zustand unverändert sei. Über die Beerdigung gibt es wenig zu sagen. Sie verlief normal, und ich hätte sie nicht erwähnt, ebenso wenig wie den 14
ganzen Todesfall, wäre ich dadurch nicht mit Mijnheer van Schoonbeke in Berührung gekommen. So wie es üblich war, standen mein Bruder, ich selbst, meine Schwäger und vier Cousins in einem Halbmond um den Sarg, bevor er abgeholt wurde. Weitläufige Verwandte, Freunde und Bekannte kamen nun herein und machten die Runde, indem sie jedem von uns, mit einem geflüsterten Wort der Anteilnahme oder mit einem starren Blick direkt in die Augen, die Hand drückten. Es kamen viele, eigentlich zu viele, wie ich fand, denn es zog sich hin. Meine Frau hatte mir ein Trauerband um den Arm gemacht, denn ich hatte mit meinem Bruder vereinbart, dass wir uns keinen Traueranzug machen lassen würden, weil man nach der Beerdigung so wenig davon hat. Und dieses elende Band war anscheinend zu breit, denn es rutschte fortwährend herab. Nach drei oder vier Händedrücken musste ich es jedes Mal wieder hochschieben. Und dann kam auch Mijnheer van Schoonbeke, ein Freund und zugleich ein Kunde meines Bruders. Er tat, was auch die andern getan hatten, aber eleganter und mit mehr Bescheidenheit. Ein Mann von Welt, das sah ich gleich. Er ging mit zur Kirche und zum Friedhof, und als alles in Ordnung war, stieg er mit meinem Bruder in eines der Fahrzeuge. Dort wurde ich ihm vorgestellt, und er lud mich ein, ihn einmal zu besuchen. Und das habe ich getan.
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3 Dieser Mijnheer van Schoonbeke gehört einer alten, reichen Familie an. Er ist Junggeselle und wohnt allein in einem großen Haus, in einer unserer schönsten Straßen. Geld hat er im Überfluss, und alle seine Freunde haben ebenfalls Geld. Es sind meist Richter, Anwälte, Kaufleute oder ehemalige Kaufleute. Jedes Mitglied dieser Gesellschaft besitzt mindestens ein Auto, außer Herrn van Schoonbeke selbst, meinem Bruder und mir. Doch Mijnheer van Schoonbeke könnte ein Auto haben, wenn er wollte, und niemand weiß das besser als seine Freunde. Sie finden es denn auch eigenartig und sagen dann schon mal: »Dieser Teufelskerl Albert.« Mit meinem Bruder und mir ist das etwas anderes. Als Doktor hat er für das Nichtbesitzen eines Autos keine einzige vernünftige Entschuldigung, umso mehr, als er Fahrrad fährt und so zu erkennen gibt, dass er gut eines brauchen könnte. Doch für uns Barbaren ist ein Doktor heilig und kommt gleich nach dem Priester. Schon durch seinen Arztberuf ist mein Bruder also mehr oder weniger präsentabel, auch ohne Auto. Denn in seinem Milieu hat Mijnheer van Schoonbeke eigentlich nicht das Recht, sich Freunde ohne Geld oder Titel zu halten. Wenn sie sein Haus betreten und ihn mit einem Unbekannten überraschen, stellt er den Neuling so vor, dass alle mindestens hundert Prozent mehr von dem Mann halten, als er es verdienen würde. Einen Abteilungsleiter nennt er Direktor, und einen Oberst in Zivil stellt er als General vor. Ich war jedoch ein schwieriger Fall. Wie du weißt, arbeite ich als Büroschreiber bei der General Marine and Shipbuilding Company, sodass er nichts hatte, 16
woran er sich festklammern konnte. Ein Büroangestellter hat nichts Heiliges an sich. Er steht splitternackt auf der Welt. Zwei Sekunden dachte er nach, nicht länger, und stellte mich dann als Herrn Laarmans von den Schiffswerften vor. Unseren englischen Firmennamen findet er zu lang, um ihn sich zu merken, und auch zu präzise, denn er weiß, dass es in der ganzen Stadt keine größere Firma gibt, in der nicht einer seiner Freunde jemanden von der Direktion kennt, der ihn auf der Stelle über meine soziale Bedeutungslosigkeit aufklären könnte. »Büroangestellter« wäre ihm nie in den Sinn gekommen, denn das hätte mein Todesurteil bedeutet. Und im Weiteren muss ich mich nun eben selbst aus der Affäre ziehen. Er hat mir diesen Brustpanzer gegeben, mehr kann er nicht tun. »Der Herr ist also Ingenieur«, fragte mich ein Mann mit Goldzähnen, der neben mir saß. »Inspektor«, sagte sofort mein Freund van Schoonbeke, der weiß, dass der Ingenieurstitel eine bestimmte Hochschule, ein Diplom und zu viel technisches Wissen voraussetzt, sodass ich schon bei der ersten Konversation in Schwierigkeiten geraten könnte. Ich selbst lachte, um sie glauben zu machen, dass dahinter auch noch ein Geheimnis stecke, das zu gegebener Zeit vielleicht enthüllt würde. Sie musterten verstohlen meinen Anzug, der zum Glück fast neu war und ganz passabel aussah, danach ließen sie mich links liegen. Sie redeten zuerst über Italien, wo ich nie gewesen bin, und ich bereiste mit ihnen das ganze Land Mignons: Venedig, Mailand, Florenz, Rom, Neapel, den Vesuv und Pompeji. Ich habe zwar schon darüber gelesen, doch für mich bleibt Italien lediglich ein Fleck auf der Landkarte, sodass ich schwieg. Über die Kunstschätze wurde nichts gesagt, doch die italienischen Frauen seien wunderschön und voller Leidenschaft. 17
Als sie davon genug hatten, besprachen sie die schwierige Lage der Hauseigentümer. Viele Häuser stünden leer, und alle erklärten, dass ihre Mieter unregelmäßig zahlten. Ich wollte protestieren, nicht im Namen meiner Mieter, denn die habe ich nicht, sondern weil ich bis jetzt immer pünktlich bezahlt habe, doch es ging bereits um ihre Autos: Vier- und Sechszylinder, Werkstatttarife, Benzin und Schmieröl, Dinge, über die ich natürlich nicht mitreden konnte. Und nun wurde eine Übersicht der Ereignisse gegeben, die sich in der letzten Woche in denjenigen Familien zugetragen hatten, die der Erwähnung wert sind. »Der Sohn von Gevers hat also die Tochter von Legrelle geheiratet«, sagte einer. Es wird nicht als Neuigkeit mitgeteilt, denn alle wissen es bereits – außer mir, der weder Braut noch Bräutigam kennt –, sondern eher als ein Punkt auf der Tagesordnung, über den abgestimmt werden muss. Sie zeigen ihre Zustimmung oder Ablehnung, je nachdem, ob beide Partner gleichwertige Vermögen mitgebracht haben oder nicht. Alle sind derselben Meinung, sodass keine Zeit an Diskussionen verschwendet wird. Jeder von ihnen spricht lediglich gemeinsame Gedanken aus. »Delafaille ist also als Präsident der Handelskammer zurückgetreten.« Ich habe nie von diesem Mann gehört, doch sie wissen nicht nur, dass er existiert und gekündigt hat, sondern meist kennen sie auch den wahren Grund: öffentlich in Ungnade gefallen wegen eines Bankrotts, irgendeine mysteriöse Krankheit, ein Skandal um Frau oder Tochter, oder auch schon mal, weil er einfach die Nase voll hatte. Dieses »Journal parlé« nimmt den größten Teil des Abends in Beschlag und ist für mich am peinlichsten, denn ich muss mich darauf beschränken, zu nicken, zu lachen oder die Augenbrauen 18
hochzuziehen. Ja, ich lebe dort in fortwährender Angst und muss mehr schwitzen als beim Sterben meiner Mutter. Du weißt ja, wie ich dabei gelitten habe, aber das war wenigstens in einer Nacht vorbei, während es bei van Schoonbeke jede Woche aufs Neue beginnt und das bereits Abgeschwitzte nicht von dem abgezogen wird, was mich noch erwartet. Da sie außer bei meinem Freund van Schoonbeke keinen Umgang mit mir pflegen, können sie sich meinen Namen nicht merken und gaben mir im Anfang allerlei Namen, die dem meinen nur ähnelten. Und da ich sie doch nicht ständig zurechtweisen konnte, indem ich jedes Mal wiederholte: »Pardon, Laarmans«, sind sie schließlich dazu übergegangen, zuerst van Schoonbeke anzusehen und – während ich dabeisitze – zu ihm zu sagen: »Ihr Freund behauptet, dass die Liberalen …« Und erst dann blicken sie in meine Richtung. Das Nennen meines Namens ist auf diese Weise überflüssig. Und »Ihr Freund« heißt dann zugleich, dass dieser van Schoonbeke anfängt, sich schöne Freunde zuzulegen. Eigentlich finden sie es sogar besser, wenn ich überhaupt schweige, denn wenn ich rede, ist es für einen von ihnen jedes Mal ein gehöriges Stück Arbeit. Aus Höflichkeit gegenüber dem Gastgeber ist er dann gezwungen, mir einen Überblick über Geburt, Kindheit, Studium, Heirat und Karriere irgendeiner lokalen Berühmtheit zu geben, obwohl sie an diesem Abend eigentlich nur deren Begräbnis besprechen wollten. Die Restaurants hängen mir auch zum Hals heraus. »Letzte Woche habe ich mit meiner Frau in den Trois Perdrix in Dijon eine Schnepfe gegessen.« Warum er sagt, dass seine Frau mitgegessen hat, verstehe ich nicht. »Also ein Seitensprung mit deiner gesetzlich angetrauten Gattin, du Teufelsbraten«, sagt ein anderer. 19
Und dann fangen sie an, um die Wette Restaurants aufzuzählen, nicht nur in Belgien, sondern bis weit ins Ausland hinein. Das erste Mal, als ich noch nicht so schüchtern war, betrachtete ich es als meine Pflicht, auch eines zu zitieren, und zwar in Dünkirchen. Ein Schulkamerad hatte mir vor Jahren erzählt, dass er dort auf seiner Hochzeitsreise diniert habe. Und ich hatte es mir gemerkt, weil es der Name eines bekannten Freibeuters ist. Ich hielt mein Restaurant bereit und wartete auf eine günstige Gelegenheit. Aber es ging diesmal um Saulieu, Dijon, Grenoble, Digne, Grasse, und man war also offenbar auf dem Weg nach Nizza und Monte Carlo, sodass ich jetzt schwerlich mein Dünkirchen anbringen konnte. Es hätte denselben Eindruck gemacht, wie wenn einer plötzlich mit Tilburg kommt, während die Restaurants der Riviera aufgezählt werden. »Ob dus nun glaubst oder nicht, aber letzte Woche habe ich in Rouen, im Vieille Horloge, für dreißig Franken Hors d’œuvres variés, Hummer, ein halbes Huhn mit Trüffeln und ein Dessert gegessen«, wurde plötzlich erklärt. »War dieser Hummer nicht vielleicht eingemachte japanische Krabbe, Alter?«, fragte jemand. »Und deine Trüffel gehackte Prostata?« Rouen liegt nicht weit von Dünkirchen, und das war eine einzigartige Gelegenheit, die nicht ungenutzt verstreichen durfte. Ich machte denn auch von der ersten Stille Gebrauch und sagte unvermittelt: »Der Jean-Bart in Dünkirchen ist auch ausgezeichnet.« Obwohl ich mich so gut darauf vorbereitet hatte, erschrak ich doch über meine eigene Stimme. Ich schlug die Augen nieder und wartete auf die Wirkung. Zum Glück hatte ich nicht erklärt, in den letzten Wochen 20
selbst dort gewesen zu sein, denn sofort sagte einer, dass es diesen Jean-Bart schon seit drei Jahren nicht mehr gebe und dass es jetzt ein Kino sei. Ja, je mehr ich sage, umso klarer wird es ihnen, dass ich nicht nur kein Auto habe, sondern auch nie eines haben werde. Schweigen ist also die Devise, denn sie fangen an, mich im Auge zu behalten, und fragen sich gewiss, wie van Schoonbeke dazu gekommen ist, mir seine Gastfreundschaft zu gewähren. Wäre es nicht wegen meines Bruders gewesen, der über van Schoonbeke manchmal Patienten bekommt, hätte ich die ganze Gesellschaft schon längst zum Teufel gejagt. Von Woche zu Woche wurde mir klarer, dass mein Freund in mir einen lästigen Protegé hat und dass das so nicht weitergehen kann, bis er mich letzten Mittwoch plötzlich fragte, ob ich nicht Lust hätte, Vertreter für eine große niederländische Firma in Belgien zu werden. Es seien sehr unternehmende Leute, für die er gerade erst einen großen Prozess gewonnen habe. Ich könne die Vertretung sofort bekommen. Es genüge, wenn er mich empfehlen würde, und dazu sei er gerne bereit. Geld sei keines nötig. »Denk mal drüber nach«, riet er. »Es ist viel damit zu verdienen, und du bist der geeignete Mann.« Das war schon ein bisschen frech von ihm, denn ich finde, dass mich niemand geeignet finden darf, bevor ich mich selbst geeignet finde. Aber es war doch nett, dass er mich ohne irgendeine Bedingung in die Gelegenheit versetzte, meinen einfachen Schreiberkittel bei der General Marine and Shipbuilding Company abzulegen und so ohne weiteres Kaufmann zu werden. Seine Freunde würden dann von selbst fünfzig Prozent ihres Hochmuts fahren lassen. Mit ihren paar Kröten! Ich fragte ihn dann auch, womit seine holländischen Freunde handelten. »Mit Käse«, sagte mein Freund. »Das geht immer, denn essen müssen die Leute ja doch.« 21
4 In der Straßenbahn, auf dem Nachhauseweg, fühlte ich mich schon wie ein ganz anderer Mensch. Du weißt, dass ich auf die fünfzig zugehe, und dreißig Jahre Dienstbeflissenheit haben mir natürlich ihren Stempel aufgedrückt. Büroschreiber sind bescheiden, viel bescheidener als Arbeiter, die sich durch Aufsässigkeit und ihre Einigkeit etwas Achtung ertrotzt haben. Man sagt sogar, dass sie in Russland die Herren geworden sind. Wenn es stimmt, haben sie es verdient, so finde ich. Sie scheinen es übrigens mit ihrem Blute erkauft zu haben. Doch Büroschreiber sind im Allgemeinen wenig spezialisiert und ähneln sich so sehr, dass sogar ein Mann mit langjähriger Erfahrung bei der erstbesten Gelegenheit einen Tritt in seinen fünfzigjährigen treuen Hintern kriegt und durch einen andern ersetzt wird, der genauso gut und billiger ist. Da ich das weiß und Kinder habe, vermeide ich es sorgfältig, mit Unbekannten in Streit zu geraten, denn es können Freunde meines Chefs sein. Ich lasse mich also in der Straßenbahn herumschubsen und reagiere nicht allzu heftig, wenn mir jemand auf die Zehen tritt. Aber an diesem Abend war mir alles egal. Der Käsetraum würde doch in Erfüllung gehen? Ich spürte, dass meine Augen bereits einen festeren Blick aussandten, und steckte die Hände mit einer Lässigkeit in die Hosentaschen, die mir eine halbe Stunde zuvor noch vollkommen fremd gewesen war. Zu Hause angekommen, setzte ich mich ganz normal an den Tisch, speiste, ohne ein Wort über die neuen Möglichkeiten, die sich mir eröffneten, zu verlieren, und musste innerlich lachen, 22
als ich sah, wie meine Frau mit ihrer gewohnten Sparsamkeit die Butter schmierte und das Brot schnitt. Nun ja, sie konnte nicht vermuten, dass sie morgen vielleicht die Frau eines Kaufmanns sein würde. Ich aß wie immer, nicht mehr und nicht weniger, nicht hastiger und nicht langsamer. Mit einem Wort, ich aß wie einer, der sich damit abfindet, dass sich seine jahrelange Knechtschaft bei der General Marine and Shipbuilding Company um eine unbestimmte Anzahl von Jahren verlängern würde. Und doch fragte meine Frau, was denn los sei. »Was sollte denn los sein?«, erwiderte ich. Und dann begann ich, die Hausaufgaben meiner Kinder nachzusehen. Ich entdeckte einen groben Fehler in einem Partizip Perfekt und verbesserte ihn so schwungvoll und freundlich, dass mein Sohn überrascht aufblickte. »Was schaust du so, Jan?«, fragte ich. »Ich weiß nicht«, lachte der Junge, mit einem einvernehmlichen Blick in Richtung meiner Frau. Er schien mir also auch schon etwas anzumerken. Dabei habe ich immer gedacht, dass ich meine Gefühle meisterhaft verbergen könne. Das muss ich versuchen zu lernen, denn im Handel ist es sicher von Nutzen. Und wenn mein Gesicht tatsächlich so ein offenes Buch ist, dann muss während des »Journal parlé« manchmal Mord und Totschlag darin zu lesen sein. Ich finde, dass das Ehebett der geeignetste Ort ist, um ernste Angelegenheiten zu besprechen. Dort ist man wenigstens allein mit seiner Frau. Die Decken dämpfen die Stimmen, die Dunkelheit befördert das Nachdenken, und weil man sich nicht sehen kann, wird keiner von beiden durch die Empfindung der Gegenpartei beeinflusst. Dort wird alles mitgeteilt, was man sich 23
mit offenem Visier nicht zu sagen getraut, und dort war es denn auch, wo ich, bequem auf der rechten Seite liegend, meiner Frau nach einem einleitenden Schweigen sagte, dass ich Kaufmann werden würde. Da sie seit Jahren nur unbedeutende Geheimnisse zu hören bekommen hat, ließ sie es mich wiederholen und wartete auf eine nähere Erläuterung, die ich ihr in ruhigen, klaren, man könnte schon sagen »geschäftlichen« Worten gab. In fünf Minuten bekam sie einen Überblick über van Schoonbekes Freundeskreis, dessen natürliche, ungewollte Herabwürdigungen und den Vorschlag, mit dem mich mein Freund so unerwartet nach Hause geschickt hatte. Meine Frau hörte aufmerksam zu, denn sie blieb so still liegen wie eine Maus, ohne sich zu räuspern oder umzudrehen. Und da ich schwieg, fragte sie, was ich zu tun beabsichtige und ob ich dann meine Stelle bei der General Marine and Shipbuilding Company aufgeben würde. »Ja«, sagte ich leichthin, »das werde ich wohl müssen. Irgendwo Büroschreiber sein und außerdem noch auf eigene Rechnung arbeiten, das geht schließlich nicht. Hier gilts, sich mannhaft zu entscheiden.« »Und abends?«, wurde gefragt, nach einer neuerlichen Stille. »Abends ist es dunkel«, sagte ich. Das hatte gesessen, denn das Bett knarrte, und meine Frau drehte sich um, als hätte sie beschlossen, mich an meinen kaufmännischen Plänen ersticken zu lassen. Ich musste mich also selbst aus der Affäre ziehen. »Was abends?«, schnauzte ich. »Abends die Geschäfte betreiben«, beharrte sie. »Was sind das für Geschäfte?« Nun musste ich wohl gestehen, dass es um Käse ging. Es ist merkwürdig, aber für mich hat dieser Artikel etwas Ekel 24
Erregendes und Lächerliches. Es wäre mir lieber gewesen, wenn ich mit etwas anderem hätte handeln dürfen, zum Beispiel mit Blumenzwiebeln oder Glühlampen, die doch auch typisch holländisch sind. Sogar Heringe, aber dann vorzugsweise trockene, hätte ich mit mehr Eifer verkauft als Käse. Aber die Firma jenseits des Moerdijks konnte um meinetwillen ihren Betrieb nicht umstellen, das war mir schon klar. »Ein komischer Artikel, findest du nicht?«, fragte ich. Aber meine Frau fand das überhaupt nicht. »Das geht immer«, meinte sie, genau wie auch van Schoonbeke gesagt hatte. Diese Ermunterung tat mir gut, und ich sagte, dass ich die General Marine and Shipbuilding Company schon morgen früh zum Teufel jagen würde. Ich wolle aber doch noch eben ins Büro, um Abschied von meinen Kollegen zu nehmen. »Aber frage doch zuerst einmal wegen dieser Vertretung an«, meinte meine Frau. »Dann kannst du immer noch sehen, was zu tun bleibt. Du scheinst ja wie besessen zu sein.« Dieses Letzte war sehr respektlos einem Geschäftsmann gegenüber, doch der Rat war gut. Übrigens, ich hatte es zwar gesagt, aber deshalb hätte ich es doch nicht getan, musst du wissen. Wenn man Frau und Kinder hat, muss man doppelt vorsichtig sein. Am nächsten Tag ging ich zu meinem Freund van Schoonbeke, um ihn um Namen und Adresse sowie um eine kurze Empfehlung zu bitten, und noch am selben Abend schrieb ich einen richtigen Geschäftsbrief nach Amsterdam, einen der besten Briefe, die ich je geschrieben habe. Ich brachte ihn selbst zur Post, denn so etwas darf man keinem Dritten anvertrauen, auch nicht den eigenen Kindern. Die Antwort blieb nicht aus. Sie kam so schnell, dass ich erschrak, und zwar in Form eines Telegramms: »Erwarten Sie morgen elf Uhr Hauptniederlassung Amsterdam. Werden 25
Reisekosten erstatten.« Ich musste mir nun etwas überlegen, um morgen nicht ins Büro gehen zu müssen, und meine Frau schlug eine Beerdigung vor. Aber das gefiel mir nicht, weil ich erst kürzlich, zum Begräbnis meiner Mutter, einen Tag zu Hause geblieben war. Doch für den erstbesten Cousin kann man doch schwerlich vom Büro wegbleiben, jedenfalls keinen ganzen Tag. »Dann erzähl doch, dass du krank bist«, sagte meine Frau, »du kannst es heute schon vorbereiten. Die Grippe geht um in der Stadt.« Ich habe dann im Büro mit dem Kopf in den Händen herumgesessen, und morgen gehe ich nach Amsterdam, um Bekanntschaft mit der Firma Hornstra zu machen.
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5 Der Käsefilm beginnt sich vor mir abzurollen. Hornstra hat mich als Generalvertreter für Belgien und das Großherzogtum Luxemburg angestellt. »Offizieller Vertreter«, sagt er, obwohl ich das nicht ganz verstehe. Das Großherzogtum hat er mir dazugegeben, als fehle noch etwas am Gewicht. Es ist zwar ein ganzes Stück von Antwerpen entfernt, aber dann bekomme ich dieses Bergland auch einmal zu Gesicht. Und bei nächster Gelegenheit werde ich den Kerlen bei van Schoonbeke einmal meinerseits ein paar Restaurants in Echternach, Diekirch und Vianden auftischen. Es war ein angenehmer Ausflug. Da Hornstra ohnehin die Spesen erstatten würde, bin ich zweiter Klasse gefahren statt in der dritten. Nachträglich stellte sich heraus, dass sie erster Klasse erwartet hatten. Auch ist mir zu spät eingefallen, dass ich dritter hätte nehmen und die Differenz in meine Tasche stecken können. Aber das wäre nicht korrekt gewesen, vor allem nicht bei der ersten Fühlungnahme. Ich war so aufgeregt, dass ich keine fünf Minuten auf meinem Platz sitzen bleiben konnte, und als mich der Zollbeamte fragte, ob ich nichts zu deklarieren hätte, sagte ich rundheraus: »Natürlich nicht!« Darauf sagte der Beamte, dass »Natürlich nicht!« keine Antwort sei und ich Ja oder Nein sagen müsse. Ich merkte also gleich, dass man mit diesen Holländern aufpassen muss. Und bei Hornstra bestätigte sich dies, denn der sagte kein Wort zu viel, und in einer halben Stunde war ich abgefertigt und ausbezahlt und stand mit meinem Vertrag in der Tasche auf der Straße. Der Brief von meinem Freund van Schoonbeke hatte den Ausschlag gegeben, denn was ich auch über meine angeborenen Qualitäten erzählte, Hornstra hörte nicht einmal zu, aber nachdem er den Brief verstaut hatte, fragte er mich, wie viel ich 27
glaube umsetzen zu können. Das war eine schwierige Frage. Wie viel holländischer Käse wird jährlich in Belgien verschlungen, und wie viel Prozent des Gesamtverbrauches könnte ich für mich einsacken? Ich hatte keine blasse Ahnung. Ginge dieses »Umsetzen«, wie er es nennt, flott von der Hand? Meine langjährige Tätigkeit bei der General Marine and Shipbuilding verhalf mir zu keiner Antwort. Und ich spürte, dass es nicht ratsam war, eine Zahl zu nennen. »Klein anfangen ist vorsichtig«, sagte Hornstra plötzlich, der sicher fand, dass ich lange genug nachgedacht hatte. »Ich schicke Ihnen nächste Woche zwanzig Tonnen vollfetten Edamer in unserer neuen Patentverpackung. Und je nach Absatz werde ich ihren Vorrat ergänzen.« Daraufhin legte er mir einen Vertrag zur Unterschrift vor, der Folgendes besagte: Ich bin sein Vertreter, gegen fünf Prozent vom Verkaufspreis, bekomme ein festes Gehalt von dreihundert Gulden und Reisespesen. Als ich unterzeichnet hatte, klingelte er, stand auf, drückte mir die Hand, und noch bevor ich sein Büro verlassen hatte, saß bereits ein anderer Besucher in meinem Sessel. Draußen war ich ganz aufgedreht und musste mich zwingen, um nicht wie Faust zu singen: »à moi les désirs, à moi les maîtresses«. Dreihundert Gulden im Monat, das war mehr als das Doppelte meines Gehalts bei der General Marine and Shipbuilding, und dort hatte ich seit langem mein Maximum erreicht, sodass ich schon seit ein paar Jahren mit meiner ersten Lohnkürzung rechnete. Denn auf unserer Werft geht man von null auf hundert und dann wieder zurück auf null. Und dann die Reisespesen. Ich hatte die Straße noch nicht verlassen, da war mir schon klar, dass unsere Urlaubsreise in Zukunft auf Rechnung Hornstras geht. In Dinant oder La Roche 28
gehe ich dann abends rasch noch in einen Käseladen. Von Amsterdam kann ich mich so gut wie an nichts mehr erinnern, denn das wenige, was ich gesehen habe, nahm ich wie in einem Rausch wahr. Später habe ich mir dann sagen lassen müssen, dass es dort so viele Fahrradfahrer gibt und so viele Zigarrengeschäfte und dass die Kalverstraat so lang und schmal und belebt ist. Ich gönnte mir kaum die Zeit, um an Ort und Stelle zu speisen, und nahm den erstbesten Zug nach Belgien, solche Eile hatte ich, Mijnheer van Schoonbeke und meine Frau an meinem Glück teilhaben zu lassen. Meine Heimreise schien kein Ende nehmen zu wollen. Unter meinen Mitreisenden waren offenbar auch einige Geschäftsleute, denn zwei von ihnen waren in ihre Akten vertieft. Einer machte sogar mit einem goldenen Füllfederhalter Notizen am Rand. So einen Füllfederhalter brauchte ich jetzt auch, schließlich kann ich bei den Kunden nicht jedes Mal Feder und Tinte verlangen, um ihre Bestellungen zu notieren, das geht doch nicht. Es war nicht ausgeschlossen, dass der eine Mann auch in Käse reiste. Ich warf einen Blick auf seinen Handkoffer oben im Netz, aber das half mir nichts. Es war ein fein gekleideter Herr, in gepflegtem Leinen, der Seidenstrümpfe und einen goldenen Zwicker trug. Käse oder kein Käse? Bis Antwerpen zu schweigen, war mir unmöglich. Ich wäre geplatzt. Reden musste ich, oder singen. Und weil Singen im Zuge nicht ging, nutzte ich den Halt in Rotterdam, um zu sagen, dass sich die wirtschaftliche Lage in Belgien doch etwas zu bessern scheine. Er sah mich starr an, als profitiere er von meinem Gesicht, um etwas darauf zu vervielfältigen, und stieß einen kurzen Ton in einer unbekannten Sprache aus. Nein, diese Geschäftsleute! Der Zufall wollte es, dass gerade Mittwoch war und ich 29
ungefähr um fünf Uhr ankam. Und da die wöchentliche Plauderrunde bei van Schoonbeke gegen halb sechs anfing, ging ich zu seinem Haus, um ihm die Gelegenheit zu geben, seine Freunde von meinem sozialen Aufstieg in Kenntnis zu setzen. Wie schade, dass meine Mutter nicht gewartet hatte, um das noch mitzuerleben. Für van Schoonbeke würde es jedenfalls eine Erleichterung sein, dass der Büroschreiber bei der General Marine and Shipbuilding der Vergangenheit angehörte. Unterwegs blieb ich vor einem Käseladen stehen und bewunderte das Schaufenster. Im hellen Licht eines ganzen Schwarms von Glühlampen lagen dort große und kleine Käse unterschiedlicher Form und Herkunft, neben- und aufeinander. Aus all unseren Nachbarländern waren sie hier zusammengeströmt. Gruyères, riesig wie Mühlsteine, dienten als Fundament, und darauf lagen Chesters, Goudas, Edamer und zahlreiche Käsesorten, die mir vollkommen unbekannt waren, ein paar der größten mit aufgerissenem Bauch und freiliegenden Eingeweiden. Die Roqueforts und Gorgonzolas prunkten liederlich mit ihrem grünen Schimmel, und eine Schwadron Camemberts ließ ihrem Eiter freien Lauf. Aus dem Geschäft drang ein Hauch von Fäulnis, der jedoch abnahm, als ich eine Zeit lang dagestanden hatte. Ich wollte vor dem Gestank nicht weichen und erst dann weggehen, wenn ich selbst fand, dass es an der Zeit sei. Ein Geschäftsmann muss abgehärtet sein wie ein Nordpolfahrer. »Stinkt nur!«, sagte ich herausfordernd. Hätte ich eine Peitsche gehabt, so wäre ich ihnen damit zu Leibe gerückt. »Ja, es ist nicht auszuhalten«, antwortete eine Dame, die neben mir stand und deren Nahen ich nicht bemerkt hatte. 30
Dieses laut Denken auf offener Straße muss ich mir abgewöhnen, denn ich habe schon öfters Leute erschreckt. Bei einem anonymen Büroschreiber ist es nicht so wichtig, aber bei einem Geschäftsmann ist das etwas anderes. Ich eilte nun zu meinem Freund van Schoonbeke, der mich zu meinem Erfolg beglückwünschte und mich seinen Freunden erneut vorstellte, als sähen sie mich zum ersten Mal. »Mijnheer Laarmans, Großhändler in Nahrungsmitteln.« Und dann füllte er die Gläser. Warum hatte er »Nahrungsmittel« statt Käse gesagt? Er schien also etwas gegen den Artikel zu haben, so wie ich selbst auch. Was mich betrifft, so müsste ich mich schleunigst darüber hinwegsetzen, denn ein Geschäftsmann soll mit seiner Ware vertraut und verwachsen sein. Er muss mit ihr leben. Er muss sich mit ihr abrackern. Er muss danach riechen. Letzteres wäre bei Käse nicht schwierig, aber ich meine es mehr im übertragenen Sinn. Wenn man es recht betrachtet, ist Käse, einmal abgesehen vom Geruch, ein edler Artikel, findest du nicht? Er wird seit Jahrhunderten fabriziert und ist für die Holländer, die doch unser Brudervolk sind, eine der wichtigsten Quellen des Reichtums. Er dient Groß und Klein, Jung und Alt als Nahrung. Was der Mensch isst, bekommt von selbst einen gewissen Glanz. Ich glaube, dass die Juden ihre Speisen segnen, und muss ein Christ nicht beten, bevor er Käse isst? Da hätten meine Kollegen in Düngemitteln schon mehr Grund zum Klagen. Und Fischabfälle, Eingeweide von Säugetieren, Aas und dergleichen. Das alles wird doch auch gehandelt, bis es dahin kommt, wo es der Menschheit seinen letzten Dienst erweist. Unter van Schoonbekes regelmäßigen Tischgästen waren mehrere Kaufleute, darunter zwei, die mit Korn handelten, denn 31
sie hatten schon darüber gesprochen. Warum sollte Käse schlechter sein als Korn? Ich werde ihnen dieses Vorurteil mal schleunigst austreiben. Wer am meisten verdient, hat schließlich das Sagen, die Zukunft steht mir offen, und ich bin fest entschlossen, meine ganze Seele in den Käse zu legen. »Hier ist ein gutes Plätzchen, Mijnheer Laarmans«, sagte der Besucher, dessen Haltung mir immer am meisten zuwider gewesen war. Nicht der mit den Zähnen, sondern ein eleganter glatzköpfiger Kerl, der gut reden konnte und oft witzig war, sogar während des »Journal parlé«, das mir so zum Halse heraushing. Und er machte sofort Platz, sodass ich nun, zum ersten Mal, wirklich in ihrem Kreise saß. Früher hatte ich immer an einer Ecke gesessen, am Ende des langen Tisches, sodass sie mich nicht anschauen konnten, ohne sich fast ganz umzudrehen, denn aus Höflichkeit saßen sie schräg, dem Gastgeber zugewandt. Zum ersten Mal auch steckte ich die Daumen in die Westentaschen und trommelte mit den Fingern eine Marschmelodie auf meinem Bauch, wie einer, der sich das Seine denkt. Van Schoonbeke hatte es gesehen und lachte wohlwollend in meine Richtung. Dass sie das Gespräch sogleich auf die Geschäfte brachten, bewies, dass sie anfingen, meiner Anwesenheit Rechnung zu tragen. Viel sagte ich nicht, aber doch etwas, unter anderem: »Nahrungsmittel gehen immer«, und alle gaben sie mir Recht. Mehrmals wurde ich auch angeschaut, als bäte mich einer um meine Zustimmung, die ich jedes Mal sofort mittels eines bekräftigenden Nickens erteilte. Man soll den Leuten gegenüber großzügig auftreten, vor allem wenn man Kaufmann ist. Um jedoch ihrem Geschwätz nicht jedes Mal beipflichten zu müssen, sagte ich dann hin und wieder: »Das kommt darauf an.« Worauf der betreffende Kerl, einer, der sonst keinen 32
Widerspruch duldete, sehr nachgiebig »Selbstverständlich« antwortete, froh, dass er so glimpflich davongekommen war. Als ich fand, dass ich für den einen Tag genug Erfolg eingeheimst hatte, sagte ich unvermittelt: »Und die Restaurants, meine Herren? Was hat man diese Woche Gutes gegessen?« Das war der Höhepunkt. Die ganze Gesellschaft schaute mich dankbar an, so froh waren sie, dass ich ihnen mit einer wahrhaft königlichen Geste den Weg zu ihrem Lieblingsthema gewiesen hatte. Bis jetzt war ich immer als Letzter gegangen, weil ich es nicht gewagt hatte, zuerst aufzustehen und dadurch die Harmonie dieser sitzenden Gesellschaft zu stören. Wenn sie alle weg waren, hatte ich außerdem die Gelegenheit, mein Herz auszuschütten und mich, unter vier Augen, bei van Schoonbeke sowohl für das wenige, was ich im Laufe des Abends getan oder gesagt hatte, als auch für all das, was zu sagen oder zu tun ich versäumt hatte, zu entschuldigen. Diesmal jedoch sah ich auf meine Uhr, sagte laut: »Donnerwetter, Viertel nach sieben. Adieu, meine Herren, und weiterhin viel Vergnügen«, tänzelte um den Tisch wie einer, der es eilig hat, gab jedem noch schnell die Hand und verließ die Runde. Van Schoonbeke geleitete mich hinaus, klopfte mir freundlich auf den Rücken und sagte, dass es prächtig gewesen sei. »Du hast großen Eindruck gemacht«, versicherte er. »Und viel Erfolg mit deinem Käse.« Jetzt, da wir allein im Flur standen, nannte er Käse einfach Käse. Oben waren es Nahrungsmittel. Nun ja, Käse ist Käse. Und wäre ich ein Ritter, so führte ich in meinem Wappen neben den gekreuzten Säbeln drei purpurne Käse.
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6 Meiner Frau habe ich die Neuigkeit nicht einfach so an Ort und Stelle aufgetischt, sondern sie musste sich gedulden, bis ich soupiert hatte. Von nun an esse ich nämlich nicht mehr, sondern ich déjeuniere, diniere oder soupiere. Ich habe ansonsten eine gute Frau, die überdies eine vorbildliche Mutter ist. Aber ich finde, dass sie in Angelegenheiten dieser Art nicht zuständig ist. Ich muss auch zugeben, dass ich ab und zu der Versuchung nicht widerstehen kann, sie zu reizen, bis ich Tränen sehe. Diese Tränen tun mir dann gut. Ich benutze sie, um meine Wut über meine soziale Minderwertigkeit an ihr auszuleben. Und ich nutzte die letzten Stunden meiner Knechtschaft bei der General Marine and Shipbuilding, um es ihr noch einmal richtig zu geben. Deshalb aß ich schweigend, bis sie endlich grob wurde, nicht zu mir, sondern zum Küchengeschirr. Und nach einer letzten Pause sah ich, dass Tränen ihre Augen verschleierten, worauf sie sich in die Küche zurückzog. Hin und wieder solch eine dramatische Stimmung im Haus finde ich etwas Herrliches. Ich spazierte nun auch in die Küche, wie ein Hahn hinter der Henne, und während ich meine Pantoffeln suchte, sagte ich plötzlich: »Weißt du, dass das mit dem Käse in Ordnung geht?« Ich finde nämlich, dass sie das wissen sollte. Sie antwortete nicht, sondern begann abzuwaschen, indem sie mit dem Geschirr und den Töpfen Musik machte, während ich beim Stopfen einer Pfeife endlich berichtete, was mir in Amsterdam widerfahren war. Ich stellte es noch schöner dar, als es gewesen war, und sagte, dass ich Hornstra mit dem Vertrag hereingelegt hätte. 34
»Lies nur, hier ist das Dokument«, schloss ich meine Erzählung. Und ich überreichte es ihr, denn ich wusste im Voraus, dass sie dieses Hochniederländisch nur zur Hälfte verstehen und all die Handelsausdrücke ihr vor den Augen tanzen würden. Sie trocknete die Hände ab, nahm das Papier in Empfang und setzte sich damit ins Wohnzimmer. Für mich, der ich bei der General Marine and Shipbuilding tausende von Briefen getippt habe, war das ganze Ding natürlich ein Kinderspiel. Doch ich machte mich absichtlich noch ein bisschen in der Küche zu schaffen, denn sie musste nun einmal am eigenen Leibe spüren, dass das Aufsetzen eines solchen Vertrags doch noch etwas ganz anderes ist als ein Großreinemachen. »Habe ich das nicht fein hingekriegt?«, fragte ich nach ein paar Minuten aus der Küche. Und als ich keine Antwort bekam, spähte ich ins Wohnzimmer, um zu sehen, ob sie vielleicht über meinem Vertrag eingeschlafen sei. Aber sie schlief nicht. Ich sah, wie sie angestrengt las, ihre Nase dicht am Papier und mit dem Zeigefinger den Worten folgend, um keine Zeile zu überspringen. Jetzt hielt sie irgendwo an. So merkwürdig war das Dokument doch nun auch wieder nicht, dass sie sich darin vertiefen musste wie in den Versailler Vertrag. Käse, fünf Prozent, dreihundert Gulden und damit Schluss. Ich ging zum Radio, drehte und stieß auf eine Brabançonne. Es war, als würde das Lied mir zu Ehren gespielt. »Stell das doch ab, sonst verstehe ich überhaupt nichts mehr«, sagte meine Frau. Und kurz darauf fragte sie mich, warum ich in den Vertrag 35
gesetzt hätte, dass sie mich jederzeit »an die Luft setzen könnten«. Das ist die Art meiner Frau. Sie nennt Käse wenigstens Käse. »Wieso an die Luft setzen?«, fragte ich gekränkt. Sie legte ihren Finger auf Paragraf 9, der der letzte war, und ich las: »Sollte die Tätigkeit Mijnheer Laarmans’ auf Rechnung Mijnheer Hornstras ein Ende nehmen, sei es auf Wunsch Mijnheer Laarmans’ selbst, sei es auf Initiative Mijnheer Hornstras, so hat Ersterer keinerlei Anspruch auf Vergütung noch auf weitere monatliche Leistungen, da Letztere nicht als Gehalt, sondern als Vorschuss auf den eventuellen Kommissionsgewinn, mit dem sie verrechnet werden, gedacht sind.« Verflucht, das war nicht so einfach. Und ich begriff nun, warum sie dabei so lange verweilt hatte. In Amsterdam und später im Zug hatte ich die Klausel zwar gelesen, doch in ihre eigentliche Bedeutung hatte ich mich in meiner Begeisterung nicht vertieft. »Was heißt ›auf Initiative Mijnheer Hornstras‹?«, fragte sie jetzt, immer noch mit dem Finger auf der Wunde. Initiative ist eines der Wörter, die meine Frau nicht versteht. Initiativ, konstruktiv und objektiv ist für sie ein und dasselbe. Und erkläre nun mal, was so ein Wort bedeutet. Ich sagte also nur: »Nun, Initiative bedeutet Initiative«, und inzwischen las ich den betreffenden Paragrafen noch einmal Wort für Wort durch, über ihre Schulter hinweg, und ich musste einsehen, dass sie Recht hatte. Hornstra hatte übrigens auch Recht, denn er konnte sich doch nicht bis ins Jahr 2000 binden, wenn ich den Käse in der Zwischenzeit nicht loswurde. Und doch stand ich beschämt da. »Initiative heißt, etwas anzufangen, Mama«, rief Jan, ohne von 36
seinen Schulbüchern aufzuschauen. Ist es nicht ärgerlich, dass so ein fünfzehnjähriger Rotzlöffel es wagt, ungefragt seinen Schnabel aufzumachen, wenn es um ernsthafte Dinge geht? »Dir ist doch wohl klar, dass ich nicht auf unbestimmte Zeit ein so hohes Gehalt annehmen konnte, ohne mich zu verpflichten, die konsignierten Waren innerhalb einer normalen Zeitspanne zu verkaufen«, erklärte ich. »Das wäre unmoralisch.« »Konsigniert« und »unmoralisch« versteht sie nicht, das weiß ich sicher. Ich werde sie verblüffen. »Übrigens«, sagte ich, »es ist nichts zu befürchten. Wenn der Verkauf läuft, wünscht sich Hornstra nichts mehr, als dass es bis in alle Ewigkeit so bleibt. Und Reziprozität, was das Rausschmeißen anbelangt, hat auch für mich eine gute Seite, denn man weiß nie, ob nicht einer von Hornstras Konkurrenten mit noch viel schöneren Bedingungen an die Tür klopft, sobald sie mich auf dem Markt zu bemerken beginnen. Und jetzt soll der Lausejunge mal erklären, was konsigniert, unmoralisch und Reziprozität bedeuten.« Meine Frau gab mir nun das Papier zurück. »Natürlich gibt es gar keinen Grund, weshalb der Käse nicht gehen sollte«, tröstete sie mich. »Du musst nur hart arbeiten. Aber dennoch wäre ich vorsichtig. Auf der Werft bist du sicher, mit einem festen Gehalt.« Das nenne ich eine Binsenwahrheit.
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7 Das Ergebnis unserer letzten Bettkonferenz war, das Käseprojekt in Angriff zu nehmen, ohne auf der Werft zu kündigen. Meine Frau meint, dass mein Bruder, der Arzt, das regeln kann. Der muss für ein Attest sorgen, mit dem ich drei Monate Urlaub bekomme, um mich auszuruhen und von der einen oder anderen Krankheit zu erholen, die mein Bruder schon finden wird. Das hat sie sich selbst ausgedacht. Ich persönlich bin der Ansicht, dass es eine halbe Sache ist und dass man in solchen Fällen entweder das eine oder das andere tun soll. Zum Teufel, man macht die Käsekampagne mit, oder man macht sie nicht mit. Und wenn man erst Stellungen errichtet, hinter die man sich zurückziehen kann, kommt man auch nicht voran. Drauflos, sag ich. Aber was soll ich tun? Sie hat die Kinder hinzugezogen, und die geben ihr Recht. Und zusätzlich zu all der Mühsal des Geschäftslebens, das mich erwartet, auch noch ständig Krieg im Hause zu führen – nein danke. Ich habe meinen Bruder daraufhin angesprochen. Er ist zwölf Jahre älter als ich und nimmt die Stelle von Vater und Mutter ein, seit diese tot sind. Diese zwölf Jahre sind nicht zu überbrücken. Als ich noch in den Flegeljahren war, war er schon ein Mann, und das Verhältnis jener Tage ist geblieben. Er beschützt mich, tadelt mich, ermutigt mich und gibt mir Ratschläge, als ob ich noch immer mit Murmeln auf der Straße spielte. Ich muss sagen, er ist ein fleißiger und stürmischer Bursche, voll Enthusiasmus und Pflichtbewusstsein und mit seinem Los zufrieden. Ob er wirklich vom Morgen bis zum Abend Kranke besucht, weiß ich 38
nicht. Jedenfalls saust er den ganzen Tag mit seinem Rad durch die Stadt und kommt jeden Mittag kurz bei mir zu Hause hereingestürmt. Mit dröhnenden Schritten marschiert er in die Küche, wo meine Frau am Kochen ist, hebt die Deckel hoch, um eben zu schauen und zu schnüffeln, begrüßt lärmend meine beiden Kinder, die verrückt nach ihm sind, erkundigt sich nach unserer Gesundheit, gibt uns Arzneimittelmuster für allerlei Beschwerden, trinkt sein Glas aus und stürmt wieder hinaus, alles in einem Atemzug. Es hat Mühe gekostet, ihm den ersten Teil der Käselegende zu erzählen, denn er ist ungeduldig, unterbricht fortwährend und will einzig und allein wissen, welchen Dienst er mir bei alledem erweisen kann. Als er hörte, dass meine Stelle bei der General Marine and Shipbuilding auf dem Spiel stehen könnte, bekam sein offenes Gesicht einen strengen Zug. »Das ist eine ernste Sache, alter Knabe, eine verteufelt ernste Sache.« Und plötzlich ließ er mich stehen und ging in die Küche. »Hat er eigentlich Talent für den Handel?«, hörte ich ihn fragen. »Ja«, sagte meine Frau, »das sollte er doch selbst wissen.« »Eine ernste Sache«, wiederholte er. »Das habe ich ihm auch gesagt.« Das hat sie auch gesagt. Sie! Sollte man sie nicht aus dem Fenster schmeißen? Und unterdessen stehe ich als eine große Null da. Ich hatte gerade genug Zeit, um, sozusagen aus Protest, das Radio anzustellen, da kam er schon wieder in die Veranda. »An deiner Stelle würde ich erst einmal gründlich nachdenken, alter Knabe.« Es gelingt mir endlich, ihm zu erzählen, dass ich gerade 39
versuchen will, einen Urlaub von drei Monaten zu bekommen, denn so weit hatte er mich mit meiner Geschichte nicht kommen lassen, obwohl ich es viermal versucht hatte. Er hat mich dann aus einer Reihe von Krankheiten etwas Passendes auswählen lassen. Er persönlich findet Nerven das Beste, weil ich damit ins Freie darf, ohne dass mein Chef etwas dagegen sagen kann. Und Nerven, das schreckt niemand ab, sagt er. Geht es um die Lunge und man geht nachher zurück auf die Werft, wird man gemieden wie die Pest. Er glaubt sicher, dass das Ausbeuten dieser Käsemine nur ein vorübergehender Spaß ist und dass ich später wirklich ins Büro zurückgehen werde. Und daraufhin hat er mir ein Attest ausgestellt. »Du musst es selber wissen, Bursche«, hat er noch einmal kopfschüttelnd gesagt. Was bin ich doch schon für ein anderer Mensch geworden! Auf der Werft fühle ich mich nicht mehr zu Hause, und beim Tippen meiner Briefe, in denen es um Maschinen und Schiffsbau geht, spuken mir die vollfetten Edamer im Kopf herum, die in einigen Tagen herabrollen und also bald hier sein werden. Ich habe Angst, dass ich in unseren Briefen Käse statt Schleifsteine und Eisenblech bestelle. Dennoch bin ich am ersten Tag nicht an Mijnheer Henri herangetreten, weil ich den Mut nicht fand, sodass ich mein Attest wieder mit nach Hause genommen habe. Aber es muss sein, denn der dräuende Käse hetzt mich wie einen Hund, der schwimmen muss, ob er will oder nicht. Heute Morgen habe ich bei Hamer angeklopft. Offiziell ist er unser Chefbuchhalter, in Wirklichkeit aber ein echter Tausendsassa, der das Vertrauen von Mijnheer Henri doppelt und dreifach verdient. Ehrlich gesagt, ein Mann, mit dem sich reden lässt. Er legt sich auf seinen Ellbogen, führt die Hand ans rechte Ohr, hört zu, ohne einen anzuschauen, und fängt dann an, mit dem Kopf zu wackeln. 40
Ich habe mein Attest gezeigt und ihn um Rat gefragt, denn ich weiß, dass er nichts lieber tut als Ratschläge zu erteilen. Jeden Tag hat er seine Sprechstunde, wie ein Arzt, und all diese Konsultationen empfindet er als eine Anerkennung seiner Überlegenheit, die niemand in Zweifel zieht. Er hat das Papier umgedreht, als ob je auf der Rückseite eines solchen Attestes etwas stehen würde, tief nachgedacht und dann gesagt, dass auf der Werft momentan nicht viel los sei, und das stimmt. Und wenn sie merkten, dass es drei Monate lang bei einem Mann weniger gut laufe, könnte es für mich gefährlich werden. Auch wird es einem schnell zuwider, jemandem Gehalt zu zahlen, der krank ist. Aber, sagte er, wenn du bereit bist, Erholungsurlaub ohne Lohn zu nehmen, brauchst du mit Mijnheer Henri nicht einmal darüber zu reden, denn der würde bestimmt sagen, dass die General Marine and Shipbuilding kein Krankenhaus und noch weniger eine Pensionskasse sei. Aber unbezahlt will Hamer es auf seine Kappe nehmen, ohne es drinnen zu erwähnen. »Drinnen«, das ist das private Büro von Mijnheer Henri, zu dem kein anderer als Hamer und der Oberingenieur Zutritt hat. Wenn ein gewöhnlicher Angestellter hereingerufen wird, kommt er mit rotem Kopf wieder heraus. Nach etwa drei Besuchen wird er normalerweise entlassen. »Wahrscheinlich merkt Mijnheer Henri nicht einmal, wenn Sie nicht mehr da sind«, sagte Hamer. Das ist gut möglich. Als Hamer nämlich letztes Jahr im Urlaub war, musste ich als ältester Korrespondent an seiner statt hinein, um die Briefe aufzunehmen. Und da habe ich gemerkt, dass Mijnheer Henri nicht wusste, wie ich hieß. Erst sprach er mich mit Hamer an, wohl aus Gewohnheit, und dann gar nicht mehr. Ich habe mit meiner Frau über Hamers Vorschlag nachgedacht, und wir sind der Meinung, dass es in jeder Hinsicht eine ideale Lösung ist. Und indem ich ihn annehme, 41
beweise ich wieder einmal, dass ich meine Hände nicht mit unverdientem Lohn schmutzig machen will. Hamer hat mein Attest an sich genommen, um sich rechtfertigen zu können, wenn es Mijnheer Henri doch zu Ohren kommen sollte, und so brauchte ich nicht einmal Abschied von meinen Kollegen zu nehmen, denn man erwartet mich ja zurück. Hamer glaubt wirklich, dass ich zurückkomme, zumindest wenn ich gesund werden sollte. Der gute Mann merkt nicht, dass er hereingefallen ist und tätigen Anteil am Aufbau meines Vermögens hat. Ich habe mir fest vorgenommen, es später mit einem schönen Geschenk wieder gutzumachen. Und nun steht mir die Käsewelt offen.
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8 Das Einrichten seines Büros ist für einen Geschäftsmann, was das Ausstaffieren der Wickelkommode für eine werdende junge Mutter ist. Ich kann mich noch gut an die Geburt meines ersten Kindes erinnern, und ich sehe jetzt noch meine Frau vor mir, wie sie damals, nach vollbrachtem Tagewerk, bis tief in die Nacht hinein bei der Lampe saß und nähte, sich hin und wieder ausruhend, bis der Schmerz im Rücken etwas nachließ. Sie hatte etwas Feierliches an sich, wie jemand, der allein auf der Welt steht und seinen eigenen Weg geht, ohne nach rechts oder links zu blicken. Dasselbe Gefühl überkam mich auch, als mein erster Käsetag anbrach. Ich war früh auf, so früh, dass meine Frau sagte, ich sei verrückt. »Neue Besen kehren gut«, sagt sie. Ich musste zuerst entscheiden, ob ich mein Büro zu Hause oder in der Stadt einrichten sollte. Meine Frau findet, zu Hause, weil es billiger ist. Ich habe dann keine zusätzliche Miete zu zahlen, und außerdem kann meine Familie das Telefon mitbenutzen. Wir haben das Haus inspiziert, und unsere Wahl ist auf ein kleines Zimmer über der Küche, neben dem Badezimmer, gefallen. Um ein Bad zu nehmen, muss man also durch mein Büro, manchmal sogar im Pyjama, aber das geschieht meist samstagnachmittags oder sonntags, und dann hat mein Büro seinen offiziellen Charakter verloren. Es ist dann neutrales Gebiet, und meinetwegen kann man dort sticken oder Karten spielen, unter der Voraussetzung natürlich, dass meine Akten nicht angerührt werden, denn das würde ich nicht dulden. 43
Das Zimmer ist mit Landschaften tapeziert, die Jagd- und Angelszenen darstellen, und ich hatte erst geplant, eine neue Tapete anbringen zu lassen. Einen strengen, eintönigen Hintergrund, ohne Blumen oder was auch immer, und dann nichts anderes aufhängen als einen Abreißkalender und zum Beispiel eine Landkarte des niederländischen Käsegebietes. Ich habe erst kürzlich eine merkwürdig eingefärbte Karte der Weinbauregion rund um Bordeaux gesehen. Vielleicht gibt es so etwas Ähnliches auch für die Käseproduktion. Aber meine Frau meinte, dass das Tapezieren noch warten könne, bis sich mein Geschäft entwickle. »Bis es läuft«, sagte sie eigentlich. Und so habe ich denn die alte Tapete vorläufig behalten. Doch ich täte besser daran, meinen Willen durchzusetzen, denn wer steht schließlich am Ruder des Käseschiffes, meine Frau oder ich? Später muss die Tapete doch weg, denn in meinem tiefsten Innern ist sie dem Tode geweiht. Und ein Geschäftsmann muss sich durchsetzen, auch wenn alles auf den Kopf gestellt werden müsste. Es muss für Briefpapier gesorgt werden, für einen Diplomatenschreibtisch, eine Schreibmaschine, eine Telegrammadresse, für Briefordner und einen Haufen anderer Dinge, sodass ich schrecklich viel zu tun habe. Denn alles muss schnell gehen angesichts der zwanzig Tonnen Edamer, die in etwa drei Tagen ihre Reise in den Süden antreten. Und bei ihrer Ankunft muss alles parat stehen. Das Telefon muss klingeln, die Schreibmaschine klappern, die Ordner müssen auf- und zuklappen. Und ich sitze mittendrin, denn ich bin das Gehirn. Über die Frage des Briefpapiers habe ich mir einen halben Tag den Kopf zerbrochen. Ich bin nämlich der Ansicht, dass ein moderner Firmenname draufstehen muss und nicht einfach nur Frans Laarmans. Es ist auch besser, wenn mein Käseunternehmen Mijnheer Henri nicht zu Ohren kommt, bevor ich sicher bin, dass ich keinen Fuß mehr in die General Marine 44
and Shipbuilding setzen werde, es sei denn, um der Kantine Käse zu liefern. Ich hätte nie vermutet, dass die Wahl eines Firmennamens so schwierig ist. Und doch haben Millionen von Menschen mit weniger Verstand als ich diese Schwierigkeit überwunden. Wenn ich den Namen einer schon bestehenden Firma sehe, kommt er mir immer ganz alltäglich, ich möchte fast sagen bekannt vor. Die Leute könnten gar nicht anders heißen, als sie heißen. Aber woher nimmt man einen neuen Namen? Ich stand vor all den Schwierigkeiten der Schöpfung, denn aus dem Nichts musste ich etwas zum Vorschein zaubern. Ich begann mit dem einfachen »Käsehandel«. Wenn aber mein Name nicht darunter steht, ist es zu unbestimmt. »Käsehandel, Verdussenstraat 170, Antwerpen« sieht verdächtig aus, als ob etwas vertuscht werden soll, als ob Würmer in dem Käse wären. Dann kam ich auf »Allgemeine Käsehandlung«. Das war schon besser. Aber ein Firmenname in unserer Muttersprache klingt so nackt, finde ich, so übertrieben deutlich, so schmucklos. Und wie gesagt, ich mag das Wort Käse nicht. Daraufhin versuchte ich »Commerce Général de Fromage«. Klingt besser, und »fromage« ist weniger käsig als »Käse«. »Commerce General de Fromage Hollandais« ist wieder ein weiterer Schritt nach vorn. Dadurch halte ich mir sicher einen Haufen Leute vom Leibe, die Gruyère oder Chester brauchen, während ich doch nur Edamer vertreibe. Aber ideal ist »Commerce« auch nicht. »Entreprise Generale de Fromage Hollandais«. Das klingt. Doch »Entreprise« bedeutet Unternehmen, und ich unternehme eigentlich nichts. Ich lagere einfach Käse ein und verkaufe ihn. Also »Entrepôts Généraux de Fromage Hollandais«. 45
Aber das Einlagern ist Nebensache. Das tue ich übrigens nicht einmal selbst, denn ich will diesen ganzen Käse nicht in meinem Haus haben. Die Nachbarn würden protestieren, und dazu sind die Lagerhäuser da. Der Verkauf ist die Hauptsache und kennzeichnend für meinen Betrieb. Der Umsatz, wie Hornstra sagt. Was die Engländer das Trading nennen. Das wäre auch noch ein Wort! Warum auch kein englischer Firmenname wie die General Marine and Shipbuilding Company seligen Angedenkens? England hat auf dem Gebiet des Handels verdientermaßen einen Weltruf. »General Cheese Trading Company«. Ich fange an Licht zu sehen. Ich fühle, dass ich mein Ziel erreichen werde. »Antwerp Cheese Trading Company«? Oder vielleicht »General Edam Cheese Trading Company«? Solange der Käse drin ist, wird es nicht gehen. Der muss durch etwas anderes ersetzt werden: Nahrungsmittel, Milchprodukte oder etwas in der Art. »General Antwerp Feeding Products Association«? Heureka! Die Anfangsbuchstaben bilden das Wort »Gafpa«, ein echtes Schlagwort. Kaufen Sie Ihren Käse lieber bei der Gafpa, mein Herr. Ich sehe, dass Sie den echten Gafpa-Käse nicht gewohnt sind, meine Dame. Gafpa-Käse ist kein Käse, sondern Honig, mein Herr. Beeilen Sie sich, denn unsere letzte Sendung Gafpa-Käse ist fast ausverkauft. Später wird das »Käse« von selbst wegfallen, denn Gafpa wird rasch ein Synonym für vollfetten Edamer. Ich habe zum Frühstück ein einziges Brötchen und ein Stück Gafpa gegessen. So weit muss ich es bringen. Und niemand weiß, dass Fransje Laarmans dahinter steckt, außer meiner Familie, meinem Bruder und meinem Freund van 46
Schoonbeke, dem ich meinen Firmennamen sofort telefonisch mitgeteilt habe, denn mein Telefon ist in Ordnung und ist natürlich ein Erfolg. Mein Sohn Jan ruft bei all seinen Schulkameraden an, einfach so zum Vergnügen, und ich muss warten, um an die Reihe zu kommen. Am ersten Tag drücke ich ein Auge zu, denn ich will nicht kleinlich sein. Aber van Schoonbeke verstand mich nicht. Er glaubte, dass ich Gaspard gesagt hätte, weil sein Freund mit den Goldzähnen so heißt. Na gut, ich werde es ihm Mittwoch schon erzählen. Ich habe dann gesagt, dass mein Telefon funktioniere, und ihm meine Nummer gegeben. Er hat mir gratuliert, denn das tut er immer, und gesagt, dass ich jetzt mal ein Muster meines Edamers mitbringen müsse. Natürlich bekommt er es. Und ein Geschenk dazu. Er und Hamer bekommen jeder ein schönes Geschenk, sobald ich Zeit habe. Ich finde es schade, dass Gafpa nicht zugleich meine Telegrammadresse sein kann. Aber Gafpa ist schon auf den Namen der Firma Gaffels und Parels eingetragen. Ich habe dann zwischen Käsemann, Käselaib, Käsetrader, Käsetrust, Laarmakäse und Käsefrans geschwankt, denn zehn Buchstaben ist das Maximum, doch nichts von alledem gefiel mir. Und schließlich habe ich Gafpa einfach umgedreht und Apfag genommen. Um ein Haar wäre auch das nicht gegangen, denn Apfa, ohne g, gibt es schon. Es gehört der Association Professionelle des Fabricants d’Automobiles, hat also nichts mit Käse zu tun. Jetzt kann mein Briefpapier gedruckt werden, und sobald es fertig ist, werde ich Hornstra einen Brief schreiben. Nicht etwa, damit er die Sendung beschleunige, denn ich bin noch lange nicht fertig mit dem Einrichten meines Büros, aber er soll mein Briefpapier sehen. Meine Frau betrachtet es mit Wohlwollen, dass ich so viel zu tun habe. Sie ist selbst auch immer an der Arbeit, denn sie kann Müßiggang nicht ausstehen. 47
Ich sehe, dass sie glücklich ist. Wenn ich in meinem Büro sitze, geht sie nie ohne ein Wort der Entschuldigung ins Badezimmer, denn dabei muss sie mein Revier durchkreuzen. Sie sagt zum Beispiel: »Die Seife ist schon wieder alle«, oder: »Ich muss schnell ein bisschen warmes Wasser holen, um einen Pullover zu waschen.« Ich lächle ihr wohlwollend zu und sage: »Bitte.« Aber ich muss sagen, dass ich ihre Küche ebenso respektiere wie sie mein Büro. Ich hätte manchmal Lust, sie schnell in die Waden zu zwicken, wenn sie vorbeikommt, aber mein Büro ist für mich ein Heiligtum. Sie telefoniert jetzt auch, mit dem Fleischer und so. Es hat Mühe gekostet, es ihr beizubringen, denn sie hatte es noch nie getan und konnte einfach nicht begreifen, dass es genügt, die Nummern sich drehen zu lassen, um mit dem Bäcker sprechen zu können. Aber sie ist hartnäckig, und jetzt telefoniert sie schon wie ein alter Hase. Sie gestikuliert bloß noch ein bisschen dabei, als ob der Fleischer sie sehen könnte. Wenn ich sie so an der Arbeit sehe, mal in der Küche, dann wieder oben oder im Keller, wie sie sich mit Wäsche und Eimern abschleppt, finde ich es unglaublich, dass so ein einfaches Menschenkind hinter die lästige Klausel in meinem Vertrag mit Hornstra gekommen ist. Und ich finde es jammerschade, dass meine gute Mutter dies alles nicht mehr hat miterleben dürfen. Die hätte ich einmal telefonieren sehen wollen.
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9 Ich habe ein Exemplar meines Briefpapiers zur Plauderrunde bei meinem Freund van Schoonbeke mitgenommen und es ihm unten im Flur gezeigt, denn er ist mir entgegengekommen. »Meine herzlichen Glückwünsche«, hat er nochmals gesagt und es in seine Tasche gesteckt. Ich bekam wie selbstverständlich den Platz vom letzten Mal wieder, und ich bin davon überzeugt, dass es nicht einer dieser Helden noch wagen würde, meinen Stuhl in Beschlag zu nehmen. Sie sprachen an diesem Abend über Russland. Im Grunde meines Herzens bewundere ich diese Hungerleider, die versuchen, aus einem Trümmerhaufen einen neuen Tempel aufzubauen. Und das muss noch etwas ganz anderes sein, als zwanzig Tonnen Käse umzusetzen. Aber als Gafpa-Mann kenne ich keine Gefühle und bin fest entschlossen, alles zu zertreten, was meinem Käse im Wege steht. Einer von ihnen behauptete, dass sie dort millionenfach vor Hunger umkämen, wie Fliegen in einem leer stehenden Haus. Und in dem Moment gab dieser nette van Schoonbeke mein Briefpapier seinem Tischnachbarn, der interessiert fragte, was es bedeute. »Das ist das Geschäftspapier der jüngsten Unternehmung unseres Freundes Laarmans«, erklärte er. »Haben Sie es noch nicht gesehen?« Der Feigling sagte, dass er es nicht gesehen, wohl aber davon gehört habe, und gab es seinerseits an seinen Nachbarn weiter. Und so machte es im Triumph die Runde. »Sehr interessant … es sieht fabelhaft aus … ja natürlich, es geht nichts über Nahrungsmittel«, tönte es um mich her. Die 49
Mumie von Tutenchamun hätte nicht mehr Interesse hervorrufen können. »Eine ordentliche Gafpa, das ist, was die Russen brauchen«, sagte van Schoonbeke. »Ich trinke auf das Wohl der Gafpa«, erklärte ein alter Advokat, der meiner Meinung nach weniger Geld hat, als er zu besitzen vorgibt. Er hält jetzt den letzten Platz in der ganzen Gesellschaft, seit ich meinen verdächtigen »Inspektorenposten bei den Schiffswerften« abgeschüttelt habe, und benutzt jede passende Gelegenheit, um sein Glas zu leeren. Es geht ihm, glaube ich, nur um den Wein. Ich selbst gab das Papier weiter, ohne ihm einen Blick zu gönnen, und so landete es wieder beim Gastherrn, der es vor sich auf den Tisch legte. »Frans Teufelskerl«, sagte van Schoonbeke, als ich mich verabschiedete. »Apropos«, vertraute er mir an, »Notar van der Zijpen hat mich gebeten, Ihnen seinen jüngsten Sohn als eventuellen Kompagnon zu empfehlen. Geld, viel Geld und dabei anständige Leute«, fügte er hinzu. Ich die Früchte meiner Arbeit mit dem Erstbesten teilen? Ich denke ja gar nicht daran. Den Jungen bei der General Marine empfehlen, dass er dort meinen Platz einnehmen kann, das ist eine andere Sache. »Der Käse ist angekommen, Papa«, rief mein Sohn Jan, der in der Tür stand, als ich nach Hause kam. Die Neuigkeit wurde von meinem Töchterchen bestätigt. Es hatte jemand angerufen, um zu fragen, was sie damit machen sollen. Doch Ida hatte den Namen nicht behalten oder vielleicht nicht verstanden. Warum hatte sie ihre Mutter dann nicht gerufen? Die war fortgewesen, um Besorgungen zu machen. 50
Ist es nicht unerhört, dass zwanzig Tonnen Käse für mich in der Stadt liegen und mir niemand sagen kann, wo sie sind? Verlass dich nur auf deine Kinder! War es eigentlich wirklich so? Könnte es nicht vielleicht ein Scherz von van Schoonbeke sein? Oder hatte sie es falsch verstanden? Aber Ida blieb standhaft und ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Wie ein Maulesel stand sie da. Sie hatten gesagt, es seien zwanzig Tonnen Käse für mich angekommen, und um Instruktionen gebeten. Auch hatten sie etwas von Hüten gesagt. Also ich bitte dich. Zuerst war es Käse, und jetzt sind es Hüte. Sollte man dem Mädchen nicht ein paar hinter die Ohren geben? Und so etwas sitzt im Gymnasium in der sechsten Klasse. Ich konnte vor Nervosität nicht essen und ging in mein Büro. Wenn jetzt meine Frau gekommen wäre, um Seife oder »schnell ein bisschen warmes Wasser« zu holen, hätte ich ihr Saures gegeben. »Jetzt nicht Klavier spielen«, hörte ich sie unten schimpfen. Das tat mir gut, denn es war ein Zeichen des Respekts. »Es sieht aus, als ob du es bereuen würdest«, sagte meine Frau bissig. »Du erwartest diesen Käse doch. Er muss kommen.« »Wie bereuen? Was bereuen?«, schnauzte ich sie an. »Hat man je so etwas gehört? ›Der verdunstete Edamer‹ oder ›der Käse, der in Hüten herumlief‹. Es ist wie im Kriminalfilm.« »Aber reg dich doch nicht so auf«, sagte meine Frau. »Ist der Käse nicht angekommen, ist es ein Missverständnis. Und ist er angekommen, umso besser. Der Käse wird ja wohl nicht nach Holland zurückgehen. Jetzt sind alle Büros geschlossen, aber ich wette, dass du morgen früh Bericht von der Eisenbahn kriegst. Oder kommt dieser Käse per Schiff?« Das wusste ich nicht. Woher sollte ich es wissen? Aber die Ziege, die am Telefon gewesen war, die hätte es wissen müssen. 51
»Komm, Frans, iss lieber und hab Geduld bis morgen früh, denn jetzt ist es doch zu spät.« So setzte ich mich denn hin, nachdem ich einen letzten giftigen Blick auf die besagte Ziege geworfen hatte, die mit Tränen in den Augen, aber einem entschlossenen Zug um den Mund dastand. Sie war noch dazu wütend, denn als ihr Jan, der ein Jahr älter ist, kurz danach seinen Hut auf den Teller legte, mit einem Messer daneben, versetzte sie der Kopfbedeckung einen solchen Schlag, dass diese in der Küche unter dem Herd landete. Ja, ja, der Käse ist angekommen. Ich spüre es.
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10 Am nächsten Morgen wurde ich kurz nach neun von der Lagergesellschaft Blauhüte angerufen, die fragte, wo sie den Käse lassen sollen. Jetzt ist mir die Geschichte mit den Hüten klar. Ich werde ihr eine Tafel Schokolade geben. Ich fragte meinerseits, was sie denn gewöhnlich mit Edamern machten. »Bei den Käufern abliefern, Mijnheer. Geben Sie uns nur eben die Adressen!« Ich sagte nun, dass diese zwanzig Tonnen noch nicht verkauft seien. »Dann können wir sie in unseren Patentkellern lagern«, bekam ich zur Antwort. Am Telefon lässt es sich schwer nachdenken, finde ich. Es geht mir zu schnell. Und meine Frau zu Rate ziehen wollte ich nicht. Dass ich ihr Verfügungsgewalt in Sachen Tapezieren oder Nichttapezieren meines Büros einräume, finde ich normal, doch wo es um das Schicksal des Käses selbst geht, da muss ich das Kommando führen. Bin nicht ich die Gafpa? »Das Beste ist vielleicht, Sie kommen kurz in unser Büro«, wurde mir nun geraten. Diese väterliche Einladung wirkte aufreizend auf mein Nervensystem, denn es war, als wollten sie mich, samt meinem Käse, unter ihre Fittiche nehmen. Und ich brauche keinen Beschützer, so wenig wie ich das Notarssöhnchen mit all seinem Geld brauche. Trotzdem nahm ich den Vorschlag an, nicht nur um dem Gespräch ein Ende zu machen, sondern auch weil ich finde, dass ich meinem Käse bei seiner Ankunft in Antwerpen 53
gewissermaßen entgegengehen muss. Diese erste Sendung ist die Vorhut einer ganzen Armee, deren persönliche Bekanntschaft ich machen will. Und ich möchte nicht, dass Hornstra später hören würde, seine Edamer hätten ihre erste Etappe völlig unbeachtet erreicht. Noch bevor ich bei den Blauhüten angekommen war, hatte ich das Urteil über meinen Käse bereits gefällt, denn ich werde von Tag zu Tag entschlossener. Er muss in den Keller. Was sollte ich sonst damit machen? Ich glaube, van Schoonbeke hat Hornstra gar nicht mitgeteilt, dass ich Büroschreiber bei der General Marine war und mich also nicht nur erst ins Käsefach einzuarbeiten habe, sondern dass ich auch noch mein Büro auf die Beine stellen muss. Mit dem eigentlichen Verkauf konnte ich mich jedenfalls noch nicht befassen. Ich habe nicht einmal einen Schreibtisch gefunden und auch keine Schreibmaschine. Das ist auch wieder die Schuld meiner Frau, die behauptet, dass ich für ein paar hundert Franken einen gebrauchten Schreibtisch kaufen könne. In den Büromöbelgeschäften kostet so ein Schreibtisch schnell seine zweitausend Franken, aber dafür hat man ihn nachmittags im Haus, und die Sache ist erledigt. Und ich finde, dass solch ein Kauf nicht mehr als eine halbe Stunde in Anspruch nehmen darf, denn die Zeit steht nicht still, und aus Tagen werden Wochen. Und das Umsetzen des Käses muss schließlich auch einmal passieren. Also in den Keller damit. Wenn diese Blauhüte-Leute denken, dass ihre Bezeichnung »Patentkeller« Eindruck auf mich gemacht hat, sind sie schief gewickelt. Kommen Sie! Darauf falle ich nicht herein, meine Herren! Ich will diese Keller mit eigenen Augen sehen. Ich will mich davon überzeugen, dass mein Käse dort sicher, frisch und ungestört ruhen kann, vor Regen und Ratten geschützt, wie in 54
einem Familiengrab. Ich habe ihre Keller inspiziert, und ich muss zugeben, dass sie in Ordnung sind. Sie sind gewölbt, der Boden ist trocken, und die Mauern klangen nicht hohl, als ich mit meinem Stock daran klopfte. Hier entwischt mein Käse nicht, da kann ich beruhigt sein. Und hier hat schon mehr Käse residiert, das rieche ich. Wenn Hornstra diese Keller zu Gesicht bekommt, wird er mich beglückwünschen. Meine zwanzig Tonnen standen in vier Frachtwagen auf ihrem Hof, denn sie hatten den Käse gestern noch schnell abgeladen, sonst hätte die Eisenbahn Standgeld in Rechnung gebracht. Und so konnte ich dabei sein, wie sie den Käse in seine Zelle brachten. Ich blieb mitten im Keller stehen, wie der Ausbilder einer Reitschule, und behielt alles im Auge, bis die letzte Kiste verstaut war. Hornstras Probesendung besteht aus zehntausend Käsen, jeder ungefähr zwei Kilo schwer, in dreihundertundsiebzig Patentkisten verpackt. »Meist wird Edamer lose verschickt«, sagte der Mann, »aber das ist ein fabelhafter vollfetter Käse, der das Verpacken wert ist.« Eine solche Verpackung erleichtert die Anlieferung, und ich werde also in Stückzahlen von jeweils siebenundzwanzig Käsen verkaufen, denn in jeder Kiste sind siebenundzwanzig Stück. Die letzte Kiste war aufgebrochen. »Vom Zoll«, sagte der Mann vom Lagerhaus. Und die hatten einen meiner Käse mitten durchgeschnitten. Die eine Hälfte fehlte, und ich fragte, wo sie geblieben sei. Daraufhin fragte der Mann seinerseits, ob ich früher schon einmal mit dem Hafen zu tun gehabt hätte. Er habe den Eindruck, dass ich ganz neu im Fach sei, sonst hätte ich doch gewusst, dass es beim Zoll eine Frage von Geben und Nehmen sei. »Wissen Sie denn nicht, Mijnheer, dass sie das Recht gehabt 55
hätten, die dreihundertsiebzig Kisten Stück für Stück aufzubrechen? Wir hätten uns den Wert des durchgeschnittenen Käses vom Zoll erstatten lassen können, Mijnheer, aber ich habe dem Beamten die eine Hälfte geschenkt und damit Hornstra tausend Gulden an Zollgebühren erspart, Mijnheer, denn der Käse war als halbfetter deklariert, obwohl es vollfetter ist, der höher verzollt wird. Verstehen Sie, Mijnheer?« Das Wiederholen des »Mijnheer« hatte etwas Drohendes. Dann fragte er mich, ob er eine Kiste bei mir zu Hause abliefern könne, denn ich hätte sicher ein Muster nötig. Ich merkte, dass es besser war, mit diesen Leuten von den Lagerhäusern keine Probleme zu bekommen, und stimmte der Lieferung der Kiste an meine Privatadresse zu, auch wenn ich so bald noch keine Muster brauchen werde. Zuerst muss in meinem Büro alles seine Ordnung haben. Und dann mache ich mich ans Verkaufen. Nachdem ich dem Mann die restliche Käsehälfte und ein großzügiges Trinkgeld gegeben hatte – ich sehe nämlich nichts lieber als ein strahlendes Gesicht –, empfahl ich meinen Käse noch einmal seiner Obhut, und dann wurde das Tor geschlossen, wie das Tor einer Ritterburg zur Zeit der Kreuzzüge. Ich kann beruhigt nach Hause gehen. Aus diesem Keller kommen meine Edamer nicht heraus, jedenfalls nicht mit Gewalt. Sie werden dort liegen bis zum Tage ihrer Auferstehung, wenn sie im Triumph herausgeholt werden, um in Schaufenstern zu prunken, die so prächtig sind wie die, vor denen ich bei meiner Rückkehr aus Amsterdam gestanden habe.
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11 Als ich nach Hause kam, stand die Kiste bereits in meinem Büro. Eine schwere Kiste mit sechsundzwanzig Käsen, jeder zwei Kilo schwer, ohne die Verpackung. Alles in allem sechzig Kilo. Warum hatte er den Käse nicht in den Keller gestellt? Hier stand er nur im Weg, und der Gestank drang schon durch alle Ritzen. Ich versuchte, ihn fortzubewegen, aber es ging nicht. Also musste ein Brecheisen her. Dann fing ich an zu hämmern, dass das Haus davon widerhallte und meine Frau die Treppe heraufkam, um zu schauen, ob sie mir helfen könne. Sie erzählte, dass Madame Peeters, die neben uns wohnt und an der Galle leidet, in der Tür gestanden und zugesehen habe, bis die Kiste im Haus und der Mann vom Lagerhaus mit seinem Wägelchen wieder um die Ecke gebogen war. Ich sagte, dass Madame Peeters von mir aus zum Teufel gehen könne, und nachdem ich mich ein bisschen ausgeruht hatte, gelang es mir, ein Brett zu lösen. Worin das Patent besteht, weiß ich nicht, aber es sind jedenfalls stabile Kisten. Der Rest war ein Kinderspiel, denn nach einem letzten Versuch kamen sie zum Vorschein. Käse für Käse, verpackt in Silberpapier, große Ostereier. Ich hatte sie ja schon im Lagerhaus gesehen, aber der Anblick ergriff mich von neuem. Der Käseroman war Wirklichkeit geworden. Ich erklärte beherzt, dass sie in den Keller gehörten, und darin gab mir meine Frau Recht, denn Käse trocknet aus. Sie rief Ida und Jan herbei, und zu viert stiegen wir die Treppe hinunter, jeder mit zwei Käsen im Arm, sodass die Übersiedlung in drei Touren vollbracht war. Die beiden letzten Laibe holten die Kinder. Die große leere Kiste wollte ich selbst nach unten 57
bringen, aber Jan, der sechzehn Jahre alt und sehr sportlich ist, nahm sie mir aus den Händen, stellte sie sich auf den Kopf und brachte sie so in den Keller. Unterwegs ließ er immer wieder die Hände los wie ein Seiltänzer. Unten legte meine Frau die sechsundzwanzig Edamer wieder in die Kiste, und ich deckte sie zu, indem ich die Bretter des Deckels lose darüber legte. »Und jetzt müsst ihr den Käse einmal probieren«, sagte ich, denn ich hatte endgültig die Leitung übernommen. Daraufhin packte Jan eine der silbernen Kugeln, warf sie in die Höhe, ließ sie von der Hand aus zum Kinn rollen und gab sie meiner Frau erst, als er meinen Blick bemerkte. Ida, die auch das Ihre beitragen wollte, wickelte sie vorsichtig aus ihrem silbernen Kleid, und nun kam tatsächlich einer jener roten Käse zum Vorschein, wie ich sie von Kindesbeinen an gekannt habe und man sie in der ganzen Stadt bekommen kann. Nachdem wir ihn eine Zeit lang angeschaut hatten, befahl ich mit eiserner Miene, ihn mitten durchzuschneiden. Zuerst versuchte es meine Frau, dann kam Ida mit dem Messer bis zur Hälfte, und Jan besorgte den Rest. Meine Frau roch zuerst daran, schnitt dann eine Scheibe ab, kostete und gab den Kindern ein Stück. Ich selbst verzichtete. »Willst du nicht probieren?«, fragte schließlich meine Frau, die schon ein paar Bissen intus hatte. »Er ist wirklich lecker.« Ich mag keinen Käse, aber was sollte ich machen? Muss ich nicht in Zukunft mit gutem Beispiel vorangehen? Muss ich in der Armee der Käseesser nicht an der Spitze marschieren? Ich würgte also einen Brocken hinunter, und da klingelte mein Bruder. Er stellte sein Rad in den Flur, so wie er es jeden Tag tut, und schon hallte sein munterer Schritt durch das Haus. »Stör ich?«, fragte er, als er schon in der Küche stand. 58
»Ist das nun dein Käse, alter Knabe?« Und ohne weitere Umstände schnitt er ein Stück ab und nahm einen ordentlichen Bissen. Ich versuchte, an seinen lebhaften Zügen die Wirkung abzulesen. Er hob zuerst die Augenbrauen, als ob er etwas Verdächtiges schmeckte, und blickte meine Frau an, die sich noch die Lippen ableckte. »Grandios!«, erklärte er nun plötzlich. »Noch nie in meinem Leben habe ich so einen herrlichen Käse gegessen.« Wenn es stimmt, kann ich beruhigt sein, denn er ist zweiundsechzig und hat sein Lebtag Käse gegessen. Wenn doch nur mein Büro in Ordnung wäre. »Und hast du schon viel verkauft?«, erkundigte er sich und schnitt noch ein Stück ab. Ich sagte, dass ich erst anfangen würde, wenn meine Organisation stehe. »Dann beeil dich mit der Organisation«, riet er. »Denn wenn diese zwanzig Tonnen als Probesendung gedacht sind, erwarten die Leute vielleicht, dass du jede Woche deine zehn Tonnen verkaufst. Vergiss nicht, dass du Vertreter für das ganze Land bist. Und dann hast du auch noch das Großherzogtum. Ich an deiner Stelle würde mir ein Herz fassen und gleich loslegen.« Und schon war er zur Tür hinaus und ließ mich allein mit meiner Frau, den Kindern und dem Käse. Am Abend ging ich zu van Schoonbeke, um bei ihm einen Brief an Hornstra zu tippen, auf dem Papier der Gafpa, denn ich habe noch immer keine Schreibmaschine und muss doch den ordnungsgemäßen Empfang seiner Lieferung bestätigen. Ich habe die Gelegenheit genutzt, um van Schoonbeke einen halben Edamer mitzubringen, denn er ist sehr empfänglich für Aufmerksamkeiten. Nachdem er ihn gekostet hatte, beglückwünschte er mich wieder einmal und sagte, dass er 59
meinen Käse aufheben werde, um ihn bei der nächsten Zusammenkunft seinen Freunden vorzusetzen. Wenn ich will, wird er dafür sorgen, dass ich bei den bevorstehenden Wahlen des Fachverbandes Belgischer Käsehändler als Präsident vorgeschlagen werde. Und jetzt an die Arbeit.
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12 Ich habe die ganze Woche eifrig nach einem gebrauchten Schreibtisch und einer ebensolchen Schreibmaschine gesucht. Und ich kann dir sagen, dass es kein Vergnügen ist, in der Altstadt von einem Trödlerladen zum andern zu laufen. Gewöhnlich sind sie so voll gepfropft, dass ich von der Straße aus unmöglich feststellen kann, ob sie vorrätig haben, was ich suche, und so bin ich gezwungen, hineinzugehen und zu fragen. Gegen diese kleine Mühe habe ich nichts einzuwenden, aber ich kann kein Geschäft verlassen, ohne etwas gekauft zu haben, und kein Café betreten, ohne etwas zu trinken. So habe ich dann am Anfang eine Karaffe, ein Taschenmesser und einen heiligen Josef aus Gips gekauft. Das Taschenmesser kann ich gut gebrauchen, obwohl ich es ein bisschen unappetitlich finde, und die Karaffe habe ich nach Hause mitgenommen, wo sie großes Aufsehen erregte. Den heiligen Josef habe ich ein paar Straßen weiter, als niemand zu sehen war, auf ein Fenstersims gestellt und mich aus dem Staub gemacht. Nach der Geschichte mit der Karaffe hatte ich mir nämlich geschworen, nichts mehr mit nach Hause zu bringen, und ich kann doch auch nicht ewig diese Gipsstatue mit mir herumschleppen. Jetzt bleibe ich in der Ladentür stehen und frage von dort aus, ob sie keinen Diplomatenschreibtisch oder eine Schreibmaschine zu verkaufen haben. Solange ich die Türklinke festhalte, stehe ich eigentlich noch nicht im Laden und habe also keine moralische Verpflichtung. Denn vom Kaufen habe ich die Nase voll. Wenn aber die Türe nicht geschlossen ist, bimmelt es in einem fort, und wenn das zu lange dauert, steht man da wie ein Dieb, der überlegt, ob er sein Ding drehen soll oder nicht. Hinzu kommt, dass ich nie vollkommen ruhig durch die Stadt 61
gehe. Hamer hat zwar mein Attest, aber wer ernsthaft krank ist, bleibt zu Hause und läuft nicht durch die Geschäfte. Ich habe immer Angst, Leute von der General Marine anzutreffen, denn ich weiß nicht, wie sich ein echter Nervenkranker benimmt. Wenn ich mich auf den Boden fallen lasse, gießen sie mir Wasser ins Gesicht, halten mir Salmiakgeist unter die Nase oder bringen mich zu einem Arzt oder Apotheker, der dann erklärt, dass ich Theater spiele. Nein, vielen Dank. Es ist besser, wenn man mich nicht sieht. Also sehe ich mich gut um und bin jederzeit darauf gefasst, rechtsum kehrt zu machen oder in eine Seitenstraße einzubiegen. Alles in allem ist es wünschenswert, dass meine ganze Abwesenheit ohne viel Gerede verläuft. Im Übrigen hätte ich gern einmal gewusst, wie es auf der Werft läuft. Es ist jetzt Viertel nach neun. Ich weiß genau, dass meine vier Kollegen in diesem Augenblick ihre Waden am Heizungsrohr wärmen, jeder hat seine Schreibmaschine vor sich, wie Kanoniere ihre Geschütze. Einer der vier erzählt einen Witz. Ja, diese erste halbe Stunde war gemütlich. Hamer hat sein Hauptbuch aufgeschlagen, ohne sich erst zu wärmen, und das Telefonfräulein streicht leicht über ihr blondes Haar. Erst kurz vor meinem Weggang hat sie sich Dauerwellen machen lassen. Das Rattern der Presslufthämmer dringt von der Werft bis in unser Büro, und draußen vor den Fenstern fährt unsere geschäftige Zwerglokomotive vorbei. Wir drehen unsere fünf Köpfe herum, und durch das Fenster grüßen wir den alten Piet mit seinem blauen Kittel und dem Taschentuch um den Hals, der sie so ruhig führt wie ein Droschkenkutscher seinen alten Gaul. Sozusagen als Gegengruß lässt er kurz seine Dampfpfeife ertönen. Und weiter drüben lässt unser hoher Schornstein seinen schwarzen Wimpel flattern. Da stehen sie nun, die armen Tröpfe, während ich dabei bin, mir einen Weg durch den Dschungel der Geschäftswelt zu bahnen. Wer suchet, der findet, das habe ich selbst eben erfahren. Denn 62
endlich habe ich einen geeigneten Schreibtisch entdeckt, mit nur ein paar kleinen Mottenlöchern im grünen Überzug. Er kostet dreihundert Franken, und auch wenn er nicht neu ist, wird er doch ebenso gute Dienste tun wie einer für zweitausend. Meine Frau hatte also Recht. Aber mit allem ist schon wieder eine Woche dahin, und mein Käse wartet mit Ungeduld, bis der Keller aufgeschlossen wird. Das Problem der Schreibmaschine konnte auch gelöst werden. Ich habe entdeckt, dass man welche mieten kann, und morgen steht eine bei mir zu Hause, mit der ich vertraut bin, nämlich eine Schwestermaschine der Underwood, auf der ich dreißig Jahre lang mein Brot verdient habe. Letzten Mittwoch hat der Verkauf begonnen, und zwar bei van Schoonbeke, der sich freut, dass es so gut läuft. Als alle seine Freunde auf ihren Plätzen saßen, öffnete er einen Schrank und stellte den Rest des halben Edamers auf den Tisch. Ich sah, dass er selbst schon ein ordentliches Stück davon genommen hatte. »Eine der Spezialitäten unseres Freundes Laarmans«, stellte er vor. »Pardon, der Gafpa«, sagte der alte Rechtsanwalt. »Ist es gestattet zu probieren?« Und schon schnitt er ein Stück davon ab und gab den Teller weiter. Ich finde es nett von diesem Mann, dass er der Gafpa gegenüber keine Unkorrektheit duldet. Wenn alles läuft, schenke ich ihm einen Edamer. Kurz darauf kaute das ganze Orchester, und ich glaube bestimmt, dass noch keiner Käsesorte mit so viel Begeisterung gehuldigt wurde wie diesem vollfetten Edamer. Von allen Seiten wurde »herrlich, toll, kolossal« gerufen, und der elegante Glatzkopf fragte van Schoonbeke, wo dieser Käse denn zu bekommen sei. 63
So groß war also mein Prestige schon, dass sie sich nicht einmal mehr getrauten, mich selbst zu fragen. »Mijnheer Laarmans hat das Wort«, erklärte mein Freund, während er sich noch einen Brocken in den Mund schob. »Natürlich«, sagte ein anderer, »nur Mijnheer Laarmans selbst kann uns Auskunft geben.« »Glauben Sie denn, dass sich Mijnheer Laarmans persönlich mit solchen Bagatellen aufhält«, sagte der alte Herr. »Was denken Sie denn? Wenn ich diesen Käse haben will, rufe ich bei der Gafpa an.« »Und dann sagst du, dass sie bei dir zu Hause fünfzig Gramm anliefern sollen«, ergänzte sein Nachbar. Ich erklärte nun leichthin, dass die Gafpa nur per zwölf Kisten à siebenundzwanzig Stück verkauft, dass ich aber trotzdem bereit sei, ihnen diesen Vollfetten einzeln zum Großhandelspreis zu liefern. »Ein dreifaches Hoch auf unseren Freund Laarmans«, rief der Alte und trank sein Glas schon wieder aus. Jetzt wissen sie, wer ich bin. Ich habe dann meinen neuen Füllfederhalter genommen und die Bestellungen notiert. Jeder bekommt einen Laib zu zwei Kilo. Der alte Herr fragte mich beim Weggehen, als wir die Mäntel anzogen, ob er nicht ausnahmsweise einen halben haben könne, denn er wohne allein mit seiner Schwester und einem Dienstmädchen. Und das habe ich ihm dann versprochen, weil er der Erste war, der an die Gafpa gedacht hat. Einer fragte, was die andern Spezialitäten der Gafpa seien. »Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass die Gafpa nichts anderes als Käse verkauft? Na, kommen Sie schon.« Ich gab zu, dass der Käse lediglich Nebensache sei, sagte aber, dass die anderen Artikel vorläufig nur an Geschäfte geliefert würden. 64
13 Dass Zeit Geld ist, beginne ich jetzt erst zu merken, denn mit dem Abliefern der siebeneinhalb Käselaibe ist ein ganzer Morgen verloren gegangen. Ich habe auf dem Dachboden einen Bastkoffer entdeckt, in dem drei Edamer Platz haben, und ich habe sie selbst ausgetragen, denn meine Kinder haben nach der Schule viel Hausarbeit zu erledigen, und der Junge hätte unterwegs mit meinem Käse Gymnastikübungen veranstaltet. Als mich meine Frau mit diesem Koffer in den Keller hinabsteigen sah, musste ich ihr wohl oder übel erzählen, was los war. Ich hätte lieber alles im Stillen erledigt, weil ich Angst hatte, dass sie es komisch finden würde. Das Herumgeschleppe mit diesem Käse ist ja wirklich keine Arbeit für den Leiter eines Geschäftes, das weiß ich schon, aber ich kann meine zehntausend Edamer doch nicht Stück für Stück von den Blauhüten abliefern lassen. Das machen diese Leute nicht. Aber meine Frau fand es ganz normal. »Das ist schon mal ein Anfang«, sagte sie. »Und so lernen sie unseren Käse wenigstens kennen.« Das »unseren« tat mir gut. Sie ist also mit dabei und nimmt ihren Teil der Verantwortung auf sich. Hoffentlich geben sie mir keine Nachbestellung auf, denn das Liefern war kein Vergnügen. Zuerst musste ich mit unbewegter Miene an Madame Peeters, unserer Nachbarin, vorbei, die immer in der Tür steht oder zum Fenster heraushängt. Dann in die Straßenbahn, wo der Koffer im Weg steht. Endlich ist man dann da. Man klingelt, ein Dienstmädchen öffnet, und dann steht man im Flur mit dem Korb, denn es ist eher ein Korb als ein Koffer. Man muss sagen, dass man den Käse bringt, worauf das 65
Mädchen weggeht, um es der Dame des Hauses auszurichten, die manchmal noch im Bett liegt. Bei zweien von den acht wusste man nichts von Käse, und ich hatte die größte Mühe, die schweren Kugeln loszuwerden, was nur gelang, weil ich sagte, dass nichts zu bezahlen sei. Ich würde das mit dem Herrn des Hauses schon regeln. Und jetzt sitze ich in meinem Büro, nach diesem ermüdenden Austragen und einem erneuten Besuch meines Bruders, der täglich nach der Statistik des verkauften und nicht verkauften Käses fragt. Als echter Arzt sticht er das Messer immer wieder in die Wunde. Ich habe ihm von dem Käse erzählt, der bei van Schoonbeke verkauft worden ist. Es freute ihn, dass er allen so gut schmeckte. Aber dann machte er eine kurze Berechnung und sagte: »Das sind siebeneinhalb von deinen zehntausend Käsen. Wenn du jede Woche ein solches Geschäft machst, wirst du in dreißig Jahren deinen letzten Käse verkaufen. Arbeiten, Mensch, arbeiten, sonst endet das schlimm.« Aber wie werde ich all diesen Käse los. Das ist die Frage. Ich hatte kurz die Idee, mit ein paar Edamern im Koffer alle Geschäfte der Stadt zu besuchen, in denen Käse verkauft wird. Aber bei diesem System würde mein Büro leer stehen und wäre überflüssig. Und ich selbst bin hier doch unentbehrlich für die Korrespondenz und die Buchhaltung, scheint mir. Auch kann ich es meiner Frau nicht überlassen, den Leuten, die vielleicht anrufen, Rede und Antwort zu stehen. Sie hat so schon genug zu tun. Nein, mein Käse muss durch einen Trupp wackerer Agenten an den Mann gebracht werden. Burschen, die bis zum kleinsten Laden vordringen, die gut reden können und jede Woche, oder sogar zweimal die Woche, ihre Bestellungen abliefern. Ja, zweimal die Woche ist besser, und ich werde den Montag und den Donnerstag festschreiben, dann ist auch meine eigene Arbeit 66
ein bisschen verteilt. Ich trage alles ordentlich ein, gebe dem Lagerhaus Anweisungen für die Lieferungen, mache die Rechnungen, sorge für das Kassieren, ziehe meine fünf Prozent ab und überweise Hornstra jede Woche den Saldo. Und selbst komme ich mit dem Käse gar nicht in Berührung. Ich habe also eine Anzeige aufgegeben: »Großimporteur von Edamer sucht in allen Städten des Landes und des Großherzogtums Luxemburg fähige Vertreter, gern mit Kundschaft unter Käsegeschäften. Schriftlich an Gafpa, Verdussenstraat 170, Antwerpen, unter Angabe von Referenzen sowie des vorherigen Wirkungsfeldes.« Der Erfolg blieb nicht aus. Zwei Tage später fand ich auf dem Kaffeetisch hundertvierundsechzig Briefe in allen Größen und Farben. Der Briefträger hatte klingeln müssen, weil er sie nicht in den Briefkasten bekommen konnte. Ich bin also auf dem richtigen Weg und werde wenigstens meine Schreibmaschine benutzen können. Zuerst gilt es, alle Briefe zu öffnen und sie nach Provinzen zu ordnen. Ich werde eine Landkarte von Belgien kaufen und auf jede Stadt, in der ich einen Agenten angestellt habe, ein Fähnchen stecken. Das gibt eine herrliche Übersicht. Und wer nicht genug verkauft, fliegt raus. Brüssel steht mit siebzig Briefen an der Spitze. Dann kommt Antwerpen mit zweiunddreißig, und der Rest ist über das ganze Land verteilt. Nur das Großherzogtum hat nicht geschrieben, aber das ist nebensächlich. Als alles geöffnet und zugeordnet war, kamen noch ungefähr fünfzig Briefe hinzu, die wahrscheinlich zu spät aufgegeben waren. Das geht prima. Mit Brüssel habe ich angefangen. Es sind Leute darunter, die ihre ganze Lebensgeschichte erzählen, von Kindesbeinen an. Viele beginnen damit, dass sie den Weltkrieg als Soldat mitgemacht haben und sieben 67
Ehrenzeichen tragen. Ich sehe nicht ein, was das mit dem Verkauf von Käse zu tun hat. Andere sprechen von ihrer großen Familie und dem Elend, das sie durchgemacht haben, und appellieren an mein mitleidiges Herz. Beim Lesen einiger Briefe sind mir Tränen in die Augen gestiegen. Die werde ich an einem speziellen Ort bewahren, denn ich will nicht, dass sie meinen Kindern unter die Augen kommen, sonst liegen sie mir in den Ohren, bis ich diesen Leuten den Zuschlag erteile. Und ich muss dann die Drecksarbeit machen. Wenn ich all diese Briefe beantworte, so tue ich es aus reiner Höflichkeit und auch, damit ich auf meiner Schreibmaschine hämmern kann, denn viele dieser Leute sind noch nie im Handel tätig gewesen, haben früher Zigaretten verkauft oder scheinen nur zum Vergnügen geschrieben zu haben. Diejenigen, die alle Anforderungen erfüllen, schreiben mit Entschlossenheit und erbitten nähere Auskunft, was die Kommission und den Festlohn betrifft. Sie scheinen noch einmal gut darüber nachdenken zu wollen, ob sie mir die Freude machen werden, eine meiner Agenturen zu übernehmen. Ich denke natürlich gar nicht daran, den Burschen einen festen Lohn zu geben. Wo kämen wir da hin? Sie kriegen drei Prozent und keinen Franken mehr. Mir bleiben zwei Prozent und meine dreihundert Gulden im Monat. Gerade als ich so schön vor meiner Underwood saß, klingelte es. Ich höre es bis hier, achte aber nicht darauf, denn ich öffne die Türe nie selbst, wenn ich im Büro bin. Doch kurz darauf kam meine Frau nach oben und sagte, dass drei Herren und eine Dame da seien, die mich sprechen wollten. Sie hätten ein Paket bei sich. »Bind dir den Kragen und die Krawatte um«, riet sie mir. Wer könnte das sein? Sicher Kandidaten, die lieber selbst kommen, anstatt einen Brief zu schreiben. Als sich die Tür zu unserem Salon öffnete, streckten sich mir 68
vier Hände entgegen. Es waren Tuil, Erfurt, Bartherotte und Fräulein van der Tak, meine vier Kollegen von der General Marine. Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich, und sie schienen mir etwas anzumerken, denn Anna van der Tak schob mir einen Stuhl hin und gebot mir, mich zu setzen. »Streng dich bloß nicht an, wir sind gleich wieder weg«, versicherte sie. Sie hatten beschlossen, mich mal zu besuchen, um selbst zu sehen, wie es mir gehe, denn im Büro erzähle man sich die verrücktesten Dinge. Tuil bat um Entschuldigung, dass sie in der Mittagszeit gekommen seien, aber ich wisse ja selbst, dass sie tagsüber keine Zeit hätten. Und am Abend einen Kranken besuchen, das gehe doch nicht. Sie sahen mich fortwährend an und wechselten einvernehmliche Blicke miteinander. Im Büro hatte sich in diesen paar Wochen allerhand geändert. Sie säßen nun mit dem Rücken zum Fenster statt umgekehrt, hätten allesamt einen neuen Löschroller bekommen, und Hamer trage jetzt eine Brille. »Stell dir Hamer einmal mit Brille vor«, sagte Erfurt, »es ist zum Totlachen.« Während sie redeten, hörte ich, dass mein Bruder hereinkam. Er stellte sein Fahrrad an die Wand und marschierte auf die Küche zu, so wie jeden Mittag. Sein martialischer Tritt dröhnte durch den Flur. Ich fürchtete schon, dass er von weitem fragen würde, wie es mit dem Käseverkauf laufe. Vor Begeisterung schreit er nämlich wie ein Schiffer. Doch meine Frau hatte ihm sicher bedeutet zu schweigen, denn kurz darauf hörte ich, dass er sich auf den Zehenspitzen davonmachte. 69
Tuil hielt dann im Namen der ganzen Belegschaft eine kurze Ansprache und drückte die Hoffnung aus, dass ich recht bald wieder, gesund wie ein Fisch, meinen alten Platz in ihrer Mitte einnehmen möge. Und Bartherotte holte plötzlich mit einer feierlichen Gebärde ein großes Paket hinter seinem Rücken hervor und drückte es mir in die Hand, indem er mich bat, es zu öffnen. Es war eine prächtig polierte Tricktrack-Kassette mit fünfzehn schwarzen und fünfzehn weißen Steinen, zwei Lederbechern und zwei Würfeln. An der Außenseite war eine silberne Plakette mit der folgenden Inschrift angebracht: Vom Personal der General Marine and Shipbuilding Company dem langjährigen Kollegen FRANS LAARMANS Antwerpen, den 15. Februar 1933 Sie hatten eine Kollekte veranstaltet, und sogar noch der alte Piet mit seiner Lokomotive hatte seinen Franken dazugegeben. Und nach einem letzten herzlichen Händedruck ließen sie mich allein. Ich soll also mit Frau und Kindern Tricktrack spielen, bis ich wieder gesund bin. Meine Frau hat nichts gefragt. Sie kocht mit einem bekümmerten Gesicht das Essen. Ich spüre, dass sie beim ersten unfreundlichen Wort in Tränen ausbrechen würde.
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14 Vor vierzehn Tagen habe ich, verteilt über das ganze Land, dreißig Agenten eingestellt. Sie bekommen kein Gehalt, dafür aber eine ordentliche Provision. Doch es kommen keine Bestellungen rein. Was treiben diese Burschen nur? Sie schreiben nicht einmal, und mein Bruder hört nicht auf, sich unbeirrbar nach den verkauften Mengen zu erkundigen. Die Agenten habe ich nach dem ersten Eindruck aussuchen müssen, so wie man Schlachtvieh auf dem Markt kauft. In Gruppen von zehn hatte ich sie in mein Büro bestellt, den einen etwas früher, den andern etwas später, um peinliche Begegnungen zwischen Konkurrenten zu vermeiden. Hungrige Hunde soll man nicht aus demselben Napf fressen lassen. Madame Peeters, meine Nachbarin, wird was zu tun gehabt haben. Es war vom Anfang bis zum Ende eine einzige große Überraschung. Verfasser prachtvoller Briefe entpuppten sich manchmal als richtige Wracks und umgekehrt. Es waren Große und Kleine dabei, Alte, Junge, mit oder ohne Kinder, elegant Gekleidete und in Lumpen Gehüllte, Flehende und Drohende. Sie redeten von reichen Familien und früheren Ministern, die sie kannten. Es war ein eigenartiges Gefühl, dazusitzen als der Mann, der mit einem einzigen Wort so einen frohlockenden Kerl in ein Nichts verwandeln konnte. Einer gestand offenherzig, dass er Hunger habe und mit einem Käse zufrieden wäre, auch ohne Agentur. Das berührte mich derart, dass ich ihm einen Edamer gab. Nachher erfuhr ich, dass er im Weggehen bei meiner Frau auch noch ein Paar von meinen alten Schuhen loseiste. 71
Manche wollten nicht mehr weg, weil es in meinem Büro so schön warm war. Und zwei erklärten, es gehe nicht an, jemanden nach Antwerpen kommen zu lassen, ohne ihm die Fahrtkosten zu erstatten. Ich habe sie dann wohl oder übel bezahlt. Ich notierte stets auf dem Brief: schlecht, zweifelhaft, gut, Glatze, trinkt, mit Spazierstock und Ähnliches, denn nach dem zehnten Besuch konnte ich mich an den ersten nicht mehr erinnern. Ich habe noch einmal ernsthaft darüber nachgedacht, ob ich Antwerpen nicht doch selbst bearbeiten sollte. Hier in der Stadt wäre Frans Laarmans also Agent der Gafpa. Aber der Gedanke an mein leer stehendes Büro lässt mir keine Ruhe. Was würde das Publikum von der Gafpa denken, wenn sie am Telefon nicht einmal Antwort gäbe? Und da kam mein jüngster Schwager, um zu fragen, ob er es nicht in Antwerpen versuchen dürfe. Er ist eigentlich Diamantschleifer, aber wegen der großen Flaute läuft er schon seit Monaten ohne Arbeit herum. »Fine hat gesagt, dass ich einmal mit dir darüber sprechen solle«, erklärte er mit der falschen Unterwürfigkeit eines Menschen, der weiß, dass er von höherer Stelle unterstützt wird. Ich habe »Fine« in ihrer Küche aufgesucht und mir dies bestätigen lassen. Sie sagte nur, dass er ihr jeden Tag mit diesem Käse in den Ohren liege. Jetzt führt sie nicht das große Wort, so wie damals, als es um das Tapezieren meines Büros ging. »Soll ich Gust Antwerpen anvertrauen, ja oder nein?«, habe ich nochmals in sachlichem Ton gefragt und sie dabei scharf angesehen. Darauf hat sie etwas gemurmelt, von dem ich kein Wort verstanden habe, und hat sich mit einer Waschwanne in der Hand in den Keller verzogen. Was blieb mir anderes übrig, als es mit ihm zu versuchen? Aber funktioniert es nicht, muss er gehen, Schwager hin oder 72
her. Natürlich kostet mich das mindestens einen ganzen Edamer, den ich nie wiedersehe. Ich habe Bestellzettel drucken lassen, die in folgende Spalten eingeteilt sind: Bestelldatum, Name und Adresse des Käufers, Anzahl Kisten à 27 Käselaibe zu circa 2 kg, Preis pro Kilo, Zahlungstermin. Auf jedem Zettel ist Platz für fünfzehn Bestellungen. Für den Anfang hat jeder Agent zehn Zettel bekommen, also genug für fünf Wochen. Alles ist so einfach und praktisch wie möglich. Jeden Montag und Donnerstag brauchen sie nur den Zettel auszufüllen und ihn mir mit der Post zuzuschicken. Der Rest ergibt sich dann von selbst. Da sich jedoch nichts tut, habe ich schließlich meine beiden Brüsseler Agenten, Noeninckx und Delaforge, aufgesucht, um zu erfahren, was los ist, und den Leuten notfalls mit Rat und Tat beizustehen. Ich hatte Brüssel nämlich in eine östliche und eine westliche Hälfte aufgeteilt, denn ich finde diese Stadt zu groß, als dass ein Mann allein sie gründlich bearbeiten könnte. Nach einer nicht enden wollenden Straßenbahnfahrt musste ich erfahren, dass Noeninckx an der angegebenen Adresse ganz und gar unbekannt ist. Aber wie konnten ihn dann meine Briefe erreichen? Die sind nämlich nicht zurückgekommen. Delaforge wohnt in einer ganz anderen Gegend, ich glaube, auf einem Dachboden, denn weiter ging die Treppe nicht. Im Treppenhaus hing Wäsche, und es roch nach gebratenem Hering. Ich habe geraume Zeit an seine Tür geklopft, bis er endlich in Hemdsärmeln öffnete, die Augen noch vom Schlaf verquollen. Er erkannte mich nicht einmal, und als ich sagte, wer ich sei, erklärte er, dass ihn die Käsegeschichte nicht interessiere. Und dann schlug er mir die Tür vor meiner Nase zu. Ich kapiere nichts mehr.
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15 Tief bekümmert, wie ich bin, habe ich lustlos van Schoonbeke und seinen Freunden den wöchentlichen Besuch abgestattet. Und ehe ich noch der Hälfte von ihnen die Hand gedrückt hatte, gratulierte er mir schon wieder. Ich sah ihn vorwurfsvoll an, denn diese fortwährenden unbegründeten Glückwünsche finde ich erniedrigend, und ich lasse mich nicht zum Narren halten. Doch mit ein paar Worten klärte er seine Gäste – und somit auch mich – auf. »Unser Freund Laarmans ist zum Präsidenten des Fachverbandes Belgischer Käsehändler gewählt worden. Ich trinke auf diesen großen Erfolg«, erklärte er. Alle leerten ihre Gläser, denn sie sind jederzeit bereit, mit van Schoonbekes Wein auf was auch immer anzustoßen. »Dieser junge Mann wird es weit bringen«, sagte der mit den Goldzähnen. Ich protestierte, denn es konnte nur ein schlechter Scherz unseres Gastgebers sein, aber der alte Anwalt mit seinem halben Edamer erklärte, dass ein Selfmademan wie ich die Bescheidenheit wie einen alten Mantel von sich abwerfen müsse. Die Käsefahne hochgehalten, Mijnheer! Beim Hinausgehen fragte ich van Schoonbeke, warum er sich diesen Scherz geleistet habe, aber er blieb dabei, dass es beschlossene Sache sei, und lachte mir freundlich zu, denn er meint es gut. »Präsident!«, betonte er bewundernd. Er findet natürlich, dass nicht nur ich an Prestige gewinne, sondern indirekt auch er und all seine Freunde. Ich sei der zweite Präsident, denn einer der Burschen ist Präsident des Verbands Antwerpener Getreideimporteure. Ich verstehe das nicht, denn ich habe um nichts gebeten und 74
kenne den Verband nicht einmal, auch wenn ich dort Mitglied bin. Die Aufklärung kam am nächsten Morgen mit der Post in Form eines Briefes von der Association Professionelle des Négociants en Fromage, worin mir mitgeteilt wurde, dass ich zum stellvertretenden Präsidenten gewählt worden sei. Sogar stellvertretend finde ich zu viel. Ich will keine Stelle vertreten. Ich will, dass mein Bruder den Mund hält, dass mein Büro läuft und meine Agenten verkaufen. Und dass man mich in Ruhe lässt. Auch der Grund wurde genannt. Vor drei Jahren war der Einfuhrzoll auf Käse von zehn auf zwanzig Prozent ad valorem angehoben worden, und sie hatten sich, unter der Leitung ihres früheren Präsidenten, all die Jahre vergeblich bemüht, die zehn Prozent wieder herunterzuhandeln. Nun würden sie Freitag, also morgen, nochmals zur Audienz im Handelsministerium empfangen werden, und sie bestanden darauf, dass ich ihre Delegation anführen solle. Der Brief beunruhigte mich in höchstem Maße, denn dass der Name des Präsidenten eines solchen Fachverbandes schnell in der Öffentlichkeit bekannt wird, so viel weiß sogar ich. Und ich will um keinen Preis riskieren, dass Hamer und die ganze Belegschaft der General Marine sich in den nächsten Tagen um eine Zeitung scharen, in der ich als belgischer Käsesprecher abgebildet bin. Das darf nicht geschehen. Das nehme ich nicht auf mich. Ich werde morgen wieder nach Brüssel fahren und den Herren sagen, dass es meine Gesundheit nicht zulässt. Und wenn sie nicht hören wollen, kündige ich die Mitgliedschaft, und dann kann sich von mir aus der ganze Verein zum Teufel scheren. Es tut mir Leid für van Schoonbeke, aber ich kann nicht anders. Ich traf im Hotel Palace vier Käseleute an, die sich mir vorstellten als Hellemans aus Brüssel, Dupierreux aus Lüttich, Bruaene aus Brügge und ein Vierter aus Gent, dessen Namen ich nicht verstand. Und da es Zeit wurde, mussten wir uns auf den 75
Weg machen. »Meine Herren«, sagte ich, »nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich kann es nicht annehmen. Suchen Sie sich einen anderen«, flehte ich, »ich wäre Ihnen sehr dankbar.« Aber sie gaben nicht nach, und wir konnten nicht zurück, denn der Ministerialdirektor, oder vielleicht der Minister selbst, erwartete uns um zehn Uhr, und wir fünf waren namentlich angemeldet. Sie hätten keinen Widerstand erwartet, im Gegenteil, denn dieser Rechtsanwalt aus Antwerpen habe gesagt, dass ich nichts lieber täte. Da sieht man es mal wieder. Das Werk meines schrecklichen Freundes, der mich gern oben sehen möchte. »Hören Sie«, sagte Dupierreux, der nervös wurde, »wenn Sie auch nicht Präsident bleiben wollen, so machen Sie mit uns wenigstens diese eine Demarche. In einer Stunde sind Sie Präsident a. D.« Unter dieser Bedingung habe ich schließlich zugestimmt und bin mitgegangen. Nachdem wir eine Zeit lang mit einer Delegation von Brauern in einem Wartezimmer gesessen hatten, erschien ein Kanzleidiener, der mit lauter Stimme die Association Professionelle des Négociants en Fromage aufrief und uns in das Kabinett eines Mijnheer de Lovendegem de Pottelsberghe, Ministerialdirektor des Ministeriums, geleitete, der uns, nach einer höflichen Begrüßung, fünf Stühle anwies, die vor seinem Schreibtisch standen. »Herr Präsident, wenn ich Sie bitten darf«, sagte Hellemans. Und als ich mich hingesetzt hatte, nahmen auch sie Platz. Der Ministerialdirektor rückte seine Brille zurecht und suchte aus einem Stapel eine bestimmte Akte heraus, die er flüchtig durchsah. Es ging schnell, was mich vermuten ließ, dass ihm das Wesentliche schon bekannt war. Er schüttelte verschiedentlich den Kopf und zuckte mit den Achseln, als wenn er vor einer 76
unlösbaren Aufgabe stünde. Endlich lehnte er sich weit in seinem Stuhl zurück und sah uns an, mich vor allem. »Meine Herren«, erklärte er, »es tut mir schrecklich Leid, aber dieses Jahr geht es nicht. Es würde im falschen Moment ein Loch in den laufenden Etat reißen, ganz abgesehen von einer gewaltigen Reaktion bei den inländischen Fabrikanten mit einer Pressekampagne und dem klassischen Einspruch im Parlament. Aber nächstes Jahr werden wir sehen.« Und dann klingelte sein Telefon. »Die Taubenzüchter sollen warten, bis ich mit den Käsehändlern fertig bin«, schnauzte er und hängte auf. »Aber«, fuhr er tröstend fort, »ich verspreche Ihnen, dass ich nicht zustimmen werde, falls unsere eigenen Fabrikanten auf eine erneute Erhöhung von zehn Prozent dringen sollten.« Und er warf einen Blick auf die Uhr. Meine vier Aufseher blickten in meine Richtung, und da ich nichts herausbrachte, erklärte Dupierreux, dass sie das schon lange wüssten, denn bei jedem Besuch werde ihnen dasselbe gesagt. Und darauf folgte eine verworrene Diskussion über einheimische und ausländische Käsesorten, mit Statistiken, von denen ich nichts verstand. Ihre vier Stimmen verschmolzen zu einem einzigen Summen, das sich immer weiter von mir zu entfernen schien. Und endlich hatte ich genügend Abstand, um auf diese vier Eiferer herabschauen zu können. Da saßen Hellemans, ein älterer Mann, in Käse ergraut, Bruaene, ein dickleibiger Bursche, strahlend vor Gesundheit und mit einer dicken Goldkette auf dem Bauch, Dupierreux, ein kleines nervöses Männchen, das sich kaum beherrschen konnte, und schließlich dieser Mann aus Gent, mit seinen warzigen Händen, vornübergebeugt, die Ellbogen auf den Knien, um keine Silbe zu verpassen. Alle vier angesehene Männer in der Käsewelt, Männer mit einer Vergangenheit, mit Käsetradition, Männer mit Autorität, Männer mit Geld. Und dazwischen dieser zerzauste Frans Laarmans, der nicht mehr von Käse wusste als von 77
Chemikalien. Was hatten sich diese widerlichen Käsewürmer mit mir armem Schwein erlaubt? Und plötzlich schob sich mein Stuhl wie von selbst zurück. Ich stand auf, und mit einem giftigen Blick auf die vier verkästen Lümmel erklärte ich mit lauter Stimme, dass ich die Nase voll hätte. Sie starrten mich fassungslos an, als wenn sie gerade Zeugen eines plötzlichen Ausbruches von Wahnsinn geworden wären. Ich sah de Lovendegem de Pottelsberghe erbleichen. Er stand auf, schwenkte um seinen Schreibtisch, kam hastig auf mich zu und legte vertraulich seine weiße Hand auf meinen Arm. »Kommen Sie, Mijnheer Laarmans«, besänftigte er mich, »so habe ich es nicht gemeint. Was halten Sie von fünf Prozent Abschlag und die anderen fünf nächstes Jahr? Kommen Sie uns auch ein bisschen entgegen, denn alles auf einmal wage ich doch nicht auf mich zu nehmen.« »Einverstanden«, sagte der Mann aus Gent. Und kurz darauf stand ich auf dem Bürgersteig, umringt von meinen vier Käsekumpeln, die mir alle vier gleichzeitig die Hand drückten. »Mijnheer Laarmans«, murmelte Dupierreux gerührt, »wir danken Ihnen. So etwas haben wir nicht zu hoffen gewagt. Es ist grandios.« »Und jetzt ist meine Präsidentschaft endgültig vorbei, nicht wahr, meine Herren?« »Natürlich«, beruhigte mich Bruaene, »wir haben Sie nicht mehr nötig.«
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16 Aus Amsterdam ist ein Brief gekommen, in dem mir Hornstra schreibt, dass er Dienstag nach Paris muss und die Gelegenheit nutzen will, auf der Durchreise durch Belgien die ersten zwanzig Tonnen mit mir abzurechnen. Er wird um elf Uhr hier sein. War es aus Scham oder aus Wut? Ich weiß es nicht. Aber als ich diesen Brief las, bekam ich einen knallroten Kopf, obwohl ich allein und unbeobachtet in meinem Büro saß, wo es jetzt an nichts mehr mangelt. Ich habe den Brief in meine Tasche gesteckt, denn ich will nicht, dass meine Frau es weiß, sonst erzählt sie es bestimmt meinem Bruder. Aber eins steht fest. Wenn die Edamer in fünf Tagen nicht verkauft sind, wird die Gafpa torpediert. Eigentlich habe ich nur noch vier Tage, denn für einen Geschäftsmann zählt der Sonntag nicht mit. Mit großer Bestürzung habe ich meinen Bastkoffer wieder vom Dachboden geholt und einen meiner Käse hineingetan. Meine Frau denkt sicher, dass meine Freunde nachbestellt haben. Los, Frans. Jetzt ist es aus mit all dem blöden Schreibtischgetue. Du musst selbst drauflos, deine einzigen Gehilfen sind deine Zunge und die Qualität des Vollfetten. Ich weiß genau, wo ich hinmuss. Wenn irgendwo Käse umgesetzt wird, dann dort. Aber was soll ich erzählen? Einfach fragen, ob sie vielleicht ein bisschen Käse kaufen wollen? Jetzt wird mir erst bewusst, dass es mir an Erfahrung mangelt, denn ich habe noch nie etwas verkauft. Und jetzt auf einmal Käse. Wären es wenigstens Mimosen. Und doch stehe ich nur 79
vor einem ganz alltäglichen Problem. Denn was tun die Millionen Geschäftsleute? Denen geht es doch genauso. Das Belegexemplar von Le Soir liegt noch immer auf meinem Diplomatenschreibtisch. Ich schlage es auf, um mein Inserat noch einmal zu betrachten. Es sieht so gut aus, dass ich Lust bekomme, selbst darauf zu antworten, um meine Dienste anzubieten. Und unwillkürlich fällt mein Blick auf eine kleine Anzeige direkt unter der meinigen. »Schriftliche und mündliche Ratschläge für Kaufleute und Agenten, die Schwierigkeiten beim Verkauf haben. Langjährige Erfahrung. Boorman, Villa des Roses, Brasschaet.« Das ist in der Nähe. Warum sollte ich diesen Mann eigentlich nicht um Rat fragen, bevor ich den entscheidenden Schritt wage? Das habe ich dann schließlich getan, wie ein Kranker, der hinter dem Rücken seines Arztes zum Quacksalber läuft. Ich musste warten, bis ich an die Reihe kam. Boorman ist ein rüstiger alter Herr mit einem großen Kopf und festem Blick, der mit dem Rücken zum Fenster sitzt und das helle Tageslicht auf seine Besucher scheinen lässt. Er hat meiner Gafpa-Geschichte zugehört, ohne mich zu unterbrechen, und dann gesagt, dass für mich zwei Dinge wichtig sind: wie ich zur Tür hereinkomme und was ich sage. Zuerst und vor allem, wie kommt man herein? Man kann eintreten wie einer, der etwas bringt, oder wie einer, der um etwas bittet, wie ein Geschäftsmann oder wie ein Bettler. Das Bettlerhafte, sagt Boorman, zeigt sich weniger an den Klamotten als an der Haltung und am Ton. Man tritt also lässig ein, vielleicht sogar mit einer Zigarre im Mund, stellt den Koffer schwungvoll ab, als ob Gott weiß was drin ist, bloß kein Käse, und fragt, ob man die Ehre habe. 80
Er sagt natürlich Ja. Und hat man einmal nicht die Ehre, dann hat man sie doch. Man setzt sich hin, notfalls unaufgefordert. Mijnheer, wir sind extra aus Amsterdam hierher gekommen, um Ihnen, nachdem wir Erkundigungen über Ihre Firma eingezogen haben, das Alleinvertriebsrecht für unseren vollfetten Gafpa-Käse in Antwerpen anzubieten. »Wir« bedeutet, dass eigentlich eine vollzählige offizielle Kommission gekommen ist, aber die andern sitzen noch im Hotel. Gestern Abend nach der Ankunft ein bisschen gebummelt. »Extra aus Amsterdam« soll an sein weiches Herz appellieren, sagt Boorman. Wenn er nämlich nicht kauft, bleibt der Kommission nichts anderes übrig, als in ihre Mutterstadt zurückzukehren, und dann war die ganze Reise umsonst. Überdies ist das Vertrauen in seine Firma dann erschüttert. In diesem Punkte sollte er empfindlich sein, denn »nachdem wir Erkundigungen über Ihre Firma eingezogen haben« schließt mit ein, dass ihr zuerst ganz Antwerpen durchkämmt habt und dass er als Einziger übrig geblieben ist. Und »unser« Vollfetter heißt, dass ihr die gesamte niederländische Käseindustrie im Rücken habt. Er war bereit, mir praktischen Unterricht zu geben, aber das geht nicht mehr, denn Hornstra ist im Anmarsch. Der Besuch bei Boorman war der letzte Aufschub. Von aller Welt verlassen, muss ich nun dem Käsedrachen selbst zu Leibe rücken. Ich bin unbemerkt mit meinem Koffer an Madame Peeters vorbeigekommen und habe die Straßenbahn genommen bis zu dem Käsegeschäft, in dem es so stinkt. Zuerst bin ich eine Weile vor dem Fenster stehen geblieben und habe unter all den Käsesorten einen Edamer gesucht. Ja, dort liegt einer, in der Mitte durchgeschnitten. Der reicht natürlich nicht an meinen Vollfetten heran, das sehe ich sofort. Aus dem Geschäft dringt noch derselbe Gestank wie an jenem 81
Abend. Es ist eigenartig, doch jetzt, wo ich schon eine ganze Weile im Fach bin, ertrage ich ihn weniger gut als bei meiner Rückkehr aus Amsterdam, Bin ich weicher geworden? Oder liegt es an meiner Stimmung? Der Laden läuft gut, das ist sicher. Drinnen stehen sechs Kunden, und die Verkäuferinnen haben alle Hände voll zu tun mit Schneiden, Einpacken und Abrechnen. Bis nach draußen höre ich sie fragen: »Und was wünschen Sie, Madame?« Ich kann doch nicht hineinstürmen, solange die Käufer dort stehen, und den ganzen Betrieb lahm legen, um einen Vortrag über meinen Vollfetten zu halten. Denn dass es eine Ansprache geben wird, ist klar. Wenn ich nicht sofort anfange, fragen sie vielleicht: »Und was wünschen Sie, Mijnheer?« Und dann werden die Rollen vertauscht. Der Andrang hat nun ein bisschen nachgelassen. Nur noch eine einzige Dame steht dort. Jetzt oder nie. Aber zwei der Verkäuferinnen, die nichts zu tun haben, sehen mich an, sagen etwas zueinander und fangen an zu lachen. Die ältere wirft einen Blick in den Spiegel und streicht ihre Schürze glatt. Denken sie vielleicht, dass ich hier stehe, um ihnen den Hof zu machen? Ich schaue auf meine Uhr, drehe ihnen den Rücken zu, und nachdem ich noch einen Moment gewartet habe, gehe ich ein Stückchen weiter bis zu der Bass Tavern. Ich betrete das Café, denn der Polizist hat mich auch schon ein paar Mal angesehen, und bestelle ein Pale Ale. Ich trinke das Bier in einem Zug aus und lasse mir das Glas noch einmal füllen. Nach Hause, ohne erst einen Versuch gewagt zu haben, das auf keinen Fall, denn ich will mir nichts vorzuwerfen haben. Ein 82
ruhiges Gewissen ist auch etwas wert. Und keiner soll denken, dass ich mich von den vier Weibern habe verjagen lassen. Mein zweites Glas ist leer. Ich werfe einen Blick auf meinen Bastkoffer, nehme ihn in die Hand und laufe in den Laden. Ein Sturmangriff. Während ich am Schaufenster vorbeikomme, schließe ich kurz die Augen, um nicht zu sehen, wie viele Kunden dort stehen. Ich werde hineingehen und warten, bis ich die Chance bekomme, zu sagen, was ich zu sagen habe, auch wenn dort hundert Leute stehen. Notfalls setze ich mich solange auf meinen Korb, denn Scham kenne ich nicht mehr. Der Laden war leer. Nur die vier weißen Mädchen hinter dem Ladentisch. Welche von den vieren soll ich ansprechen? Von der einen zur andern blicken ist nicht zu empfehlen. Denn wenn alle vier zugleich antworten, könnte ich aus dem Konzept geraten. Ich wende mich der Ältesten zu, die vorhin so kokettierte, und sage, dass ich extra aus Amsterdam gekommen sei, um Mijnheer Platen das Alleinvertriebsrecht für unseren vollfetten GafpaKäse in Antwerpen anzubieten, und zwar zu konkurrenzlos günstigen Preisen. Platen steht auf der Schaufensterscheibe. Das war mir nicht entgangen. Mit jedem Wort, das ich sage, sperrt sie den Mund weiter auf, und als ich am Ende meines Satzes angelangt bin, fragt sie: »Was sagen Sie, Mijnheer?« Es ist komisch, aber wenn man kommt, um etwas zu verkaufen, verstehen einen die Leute nie. Ich frage nun, ob sie vielleicht Mijnheer Platen rufen könnte, denn mit diesem Quartett komme ich nicht weiter. Es treten übrigens drei Kunden zugleich ein und kurz darauf noch zwei. Und schon geht es wieder los mit: »Was wünschen Sie, 83
Madame?« Sie lassen mich stehen, inmitten großer Klumpen Butter, von Körben voller Eier und Konservenstapeln. Ja, die Kunden gehen vor, daran ist nichts zu ändern. Unentwegt klingelt die Registrierkasse, und ich höre »Merci, Madame« blöken. Ich frage nun plötzlich, ob Mijnheer Platen zu Hause sei, woraufhin ich die Erlaubnis bekomme, selbst in seinem Büro, hinter dem Laden, nachzuschauen. Ich streife vorsichtig an der Butter vorbei und spähe durch die Glastüre. Wahrhaftig, dort sitzt jemand. Ich klopfe an, und Platen, er war es nämlich selbst, ruft: »Herein.« Sein Büro ist mit meinem nicht zu vergleichen. Es ist halb Büro, halb Wohnzimmer. Sogar ein Gasofen steht drin. Wie dieser Mann hier arbeiten kann, begreife ich nicht. Ist das etwa eine Umgebung für einen Geschäftsmann? Papiere aber liegen genug herum, und er scheint viel zu tun zu haben. Er telefoniert in Hemdsärmeln, ohne Kragen und Krawatte. Mit einem Blick fragt er, was ich wolle, ohne den Hörer aufzulegen. Ich gebe ihm ein Zeichen, dass er ruhig weiter telefonieren soll, und darauf fragt er nach dem Zweck meines Besuches, denn er muss in die Stadt und hat keine Zeit. Ich wiederhole, was ich im Laden gesagt habe, ruhig und mit etwas Gekünsteltem in Haltung und Ton. Ich habe meine Beine gekreuzt. Er schaut mich an und sagt: »Fünf Tonnen.« Ich war sprachlos und griff nach meinem Füllfederhalter, als er ins Telefon noch einmal wiederholte: »Fünf Tonnen können Sie für vierzehn Franken das Kilo bekommen.« Dann legte er auf, erhob sich und legte sich den Kragen um. »Auf wessen Rechnung arbeiten Sie?«, fragte Platen, worauf ich Hornstra nannte. 84
»Ich bin selbst Käsegroßhändler. Hornstra kenne ich gut. Ich war jahrelang sein Vertreter für Belgien und das Großherzogtum Luxemburg, aber er war mir schließlich zu teuer. Vergeuden Sie also nicht Ihre Zeit, Mijnheer.« Er hatte also auch das Großherzogtum dazugekriegt. »Kommen Sie mit?«, fragte er noch. »Wenn Sie in die Stadt müssen, können Sie in meinem Wagen mitfahren.« Und das habe ich getan, schon deshalb, weil es die beste Möglichkeit bot, um unter den Blicken der vier Mädchen aus dem Laden zu gelangen. Ich bin in seinem Wagen sitzen geblieben, bis er vor einem kleineren Käseladen anhielt und selber ausstieg. Wäre er nach Berlin gefahren, ich hätte ihn begleitet. Ich habe mich bedankt, meinen Bastkoffer gepackt und die Straßenbahn nach Hause genommen. Mein Akkumulator ist leer. Ich bin am Verbluten.
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17 Zu Hause wartete auf mich doch noch eine Überraschung, denn als Jan aus der Schule kam, rief er, dass er Käse verkauft habe. »Eine ganze Kiste«, behauptete er. Und als ich die Zeitung in die Hand nahm, als hätte ich nichts gehört, ging er ans Telefon, wählte eine Nummer und begann mit einem seiner Kameraden eine Konversation. Er machte zuerst allerlei Unsinn auf Englisch, und dann hörte ich, wie er seinen Freund bat, dessen Vater an den Apparat zu rufen. »Und ein bisschen dalli, sonst kriegst du morgen meine Linke zu spüren.« Und kurz darauf rief er »Papa, Papa!« Er hatte Recht. Ich kam mit einem freundlichen Unbekannten ins Gespräch, der sagte, dass es ihn freue, mit Jans Vater Bekanntschaft zu machen, und bestätigte, dass ich ihm eine Kiste zu siebenundzwanzig Stück liefern könne. »Ich habe eine Kiste verkauft, Onkel«, rief Jan, als mein Bruder hereinkam. »Bravo, mein Junge. Aber du solltest vor allen Dingen Griechisch und Latein büffeln. Für den Käse sorgt dein Vater schon.« Diese Kiste habe ich dann doch geliefert, um dem Vater von Jans Freund einen Gefallen zu tun. Ich habe sie selbst schnell mit einem Taxi gebracht. Am Abend hatten Jan und Ida Streit. Er lacht sie aus, weil sie noch nichts verkauft hat. Er singt: »Käse, Käse, Käse, Käse« in der aufsteigenden Tonfolge Do-remi-fa-so-la-ti, und als sie schließlich auf ihn losgeht, hält er sie 86
mit seinen langen Armen auf Abstand, um nicht getreten zu werden. Bis sie zum Schluss in Tränen ausbricht und gesteht, dass sie sich in der Schule nicht mehr über Käse zu sprechen traut, weil man angefangen hat, sie Käsehändlerin zu nennen. Sie hat es also auch versucht. Ich schicke Jan in den Garten und gebe ihr einen Kuss.
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18 Ich bin nicht im Stande zu arbeiten und lebe diese letzten Tage wie in einem Traum. Sollte ich nun wirklich krank werden? Soeben hat mir der Sohn von Notar van der Zijpen, von dem van Schoonbeke gesprochen hat, einen Besuch abgestattet. Er ist ein distinguierter junger Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren, der stark nach Zigaretten riecht und keine Minute stehen oder sitzen bleiben kann, ohne mit den Füßen den Takt einer Melodie zu klopfen. »Mijnheer Laarmans«, begann er, »ich weiß, dass Sie ein Freund Albert van Schoonbekes und folglich ein Gentleman sind. Ich rechne mit Ihrer Diskretion.« Was sollte ich darauf erwidern, vor allem in einer solchen Stimmung? Ich habe also nur genickt. »Mein Vater ist bereit, sich an Ihrem Gafpa-Unternehmen zu beteiligen. Ich denke, dass zweihunderttausend Mäuse aus ihm herauszuquetschen sind, vielleicht sogar mehr.« Er hielt inne, um mir eine Zigarette anzubieten, nahm selbst eine und blickte mich an, wie um festzustellen, welchen Eindruck seine Einleitung auf mich machte. »Und weiter, Mijnheer«, ersuchte ich kühl, denn die »Mäuse« und das »Herausquetschen« widerstrebten mir. »Ja, und weiter ist es ganz einfach«, sagte er frech. »Ich werde dann Ihr Kompagnon gegen einen festen monatlichen Betrag von viertausend Franken. Sie heben jeden Monat ebenfalls viertausend ab, das versteht sich von selbst. Aber ich habe absolut kein Talent für den Handel und denke ganz bestimmt nicht daran, hier meine Zeit zu verschwenden. Ich schlage Ihnen deshalb vor, dass Sie mir jeden Monat nur dreitausend geben, ich Ihnen aber Quittungen über viertausend unterschreibe, unter 88
der Bedingung, dass ich keinen Fuß über die Schwelle Ihres Büros setzen muss, auch nicht, um mein Geld abzuholen. Ich gebe Ihnen dann Bescheid, wohin Sie es mir bringen können. Mit diesen zweihunderttausend kommen wir auf alle Fälle zwei Jahre über die Runden, und wenn sie aufgebraucht sind, werden wir weitersehen. Dann beschließen wir vielleicht eine Kapitalerhöhung. Was meinen Anteil am Gewinn betrifft, den können Sie behalten. Ist das nicht ein fabelhafter Vorschlag?« Ich habe geantwortet, dass ich darüber nachdenken müsse und ihm über van Schoonbeke Bescheid geben würde. Als er weg war, habe ich meine festlich beflaggte Landkarte Belgiens, auf der um jedes Fähnchen herum das Käsegebiet des dort ansässigen Agenten eingezeichnet war, von der Wand genommen und weggelegt. Meine Agenten noch einmal anschreiben? Ach was, Schluss damit! Es wird Zeit, dass das Käseelend ein Ende nimmt. Ich hatte tausend Bogen Briefpapier mit Gafpa-Kopf. Den unbedruckten Teil habe ich abgeschnitten. Den können Jan und Ida gebrauchen. Und das andere Stück ist fürs Klo. Dann bin ich in den Keller gegangen. In der Kiste liegen noch fünfzehn und ein halber Edamer. Mal nachrechnen: Einer ist beim Zoll beziehungsweise beim Lagerhaus geblieben, einen zweiten haben van Schoonbeke und ich uns geteilt, siebeneinhalb Laibe sind an van Schoonbekes Freunde gegangen, einen habe ich dem Bettelagenten und einen meinem Schwager gegeben. Siebenundzwanzig minus elfeinhalb. Stimmt. Über meine Gewissenhaftigkeit wird sich Hornstra nicht beklagen können. Dieser halbe Käse ärgert mich. Warum musste der alte Knacker auch nur einen halben nehmen? Ich nehme das Stück in die Hand und stehe unentschlossen da. Ganze Käse kann ich zurückgeben, halbe nicht. Wegwerfen wäre eine Schande. Ich höre, dass meine Frau die Treppe hochgeht, sicher um die 89
Betten zu machen. Ich warte, bis sie oben ist, schleiche mich leise in die Küche und lege den roten Halbmond in den Schrank auf einen Teller, mit der Rundung nach oben wegen des Austrocknens. Dann gehe ich wieder in den Keller, zähle die Edamer noch einmal nach und nagle die Kiste zu. Ich hämmere so behutsam wie möglich, um meine Frau oben nicht zu erschrecken. Sie könnte sonst glauben, dass ich mich erhänge. So, das wäre in Ordnung. Auf ins Büro und telefonisch ein Taxi bestellt, das kurz darauf vor der Tür steht. Mit der Kiste zusammen wiegt dieser Rest von fünfzehn Edamern noch mehr als dreißig Kilo. Und doch hebe ich das Ungetüm auf, trage es die Kellertreppe hoch und dann durch den Flur bis zur Haustür. Ich öffne, und der Chauffeur nimmt mir die Kiste ab. Er hat die größte Mühe, sie vier Schritte weiter in seinen Wagen zu bekommen. Ich ziehe meinen Mantel an, nehme den Hut und geselle mich zu meiner Kiste. Madame Peeters, unsere Nachbarin, steht am Fenster und verfolgt die ganze Operation mit größtem Interesse. Oben am Fenster erscheint meine Frau. Ich habe die Kiste im Patentkeller deponiert und das Taxi weggeschickt. Mein Käsetestament ist gemacht. Warum es so ist, begreife ich nicht, aber meine Frau, die das Taxi wegfahren sah, hat nichts gefragt, und mein Bruder scheint absolut kein Interesse mehr für verkaufte und nicht verkaufte Mengen zu haben. Er redet über seine Kranken, über meine Kinder, über Politik. Sollte er sich mit meiner Frau beraten haben? Und morgen wird Hornstra also kommen. Das Geld für die Kiste von Jan und die elf Käselaibe liegt in meinem Büro in einem Briefumschlag bereit. Sollte ich meiner Frau nicht doch besser sagen, was uns morgen bevorsteht? Ach nein, sie hat so schon Kummer genug. 90
Sosehr es mir auch vor der Unterhaltung mit Hornstra graut, ich fange doch an, danach zu lechzen wie ein Märtyrer nach dem erlösenden Tod, denn ich bilde mir ein, dass mein Prestige als Mann und Vater jeden Tag weiter abnimmt. Aber das ist auch kein Zustand. Meine Frau steht da mit einem Mann, der offiziell Angestellter bei der General Marine ist, der jedoch, gedeckt durch ein ärztliches Attest, die Rolle eines GafpaDirektors spielt. Ein Nervenkranker, der in aller Stille und unbemerkt Käse verkaufen muss, als ob es ein Verbrechen wäre. Und dann die Kinder. Sie lassen sich nichts anmerken von dem, was in ihrem Gemüt umgeht, aber ich weiß genau, dass sie untereinander die unverschämte Käsefantasie wie einen pathologischen Fall besprechen. Ein Vater muss aus einem Guss sein. Ob er Bürgermeister ist, Buchmacher, Büroangestellter oder Gelegenheitsarbeiter, darauf kommt es weniger an. Wenn aber jemand zuerst jahrelang seine Pflicht tut, welcher Art diese Pflicht auch immer sei, und dann plötzlich und ungebeten anfängt, eine Operette aufzuführen, so wie ich mit dem Käse, ist das dann überhaupt noch ein Vater? Normal ist es bestimmt nicht. Ein Minister tritt in einem solchen Falle zurück und verschwindet aus dem Zirkus. Aber ein Ehemann und Vater kann nur abtreten, indem er sich das Leben nimmt. Und mein Bruder, der so plötzlich und augenscheinlich aufgehört hat, sich nach dem Stand des Verkaufs zu erkundigen? Der hat von Anfang an gewusst, wie es enden würde. Warum hat er sich dann nicht geweigert, mir das Attest zu geben? Das wäre vernünftiger gewesen, als jeden Tag Arzneimittelmuster mitzubringen, die keiner gebrauchen kann. Dieser elende Kerl. Es ist, als hörte ich ihn meine Frau diskret fragen, ob das Ende noch nicht da sei, so wie man sich nach dem Zustand eines Sterbenden erkundigt. Und sie antwortet, dass ich die Kiste jedenfalls schon aus dem Keller geholt habe. Ein beängstigendes Gefühl der Verlassenheit übermannt mich. Was kann ich von meiner Familie noch erwarten? Zwischen 91
ihnen und mir steht ja die Käsemauer. Wäre ich nicht so ein jämmerlicher Freidenker, würde ich ein Gebet zum Himmel schicken. Aber kann ich jetzt, mit fünfzig, auf einmal wegen einer Käsesache anfangen zu beten? Ich denke plötzlich an meine Mutter. Welch ein Glück, dass sie die Käsekatastrophe nicht mehr miterlebt. Seinerzeit, bevor sie Kapok zupfte, hätte sie die zweitausend Edamer bezahlt, um mir dieses Leiden zu ersparen. Und nun frage ich mich, ob ich das alles verdient habe. Warum habe ich mich eigentlich vor diesen Käsewagen gespannt? War es, weil ich von dem Verlangen getrieben wurde, das Los meiner Frau und der Kinder zu verbessern? Das wäre edel, aber so ein Jesus Christus bin ich nicht. War es, um bei den Plauderabenden mehr Eindruck zu machen? Genauso wenig, denn was ich an Eitelkeit besitze, konnte dort keine Befriedigung finden. Aber warum habe ich es denn sonst getan? Ich ekele mich vor Käse. Nie habe ich mich danach gesehnt, Käse zu verkaufen. Ich finde es schon schlimm genug, in einem Geschäft Käse zu kaufen. Aber mit einer Käsefracht herumzuirren und zu flehen, bis mir eine gute Seele die Last von den Schultern nimmt, das kann ich nicht. Dann schon lieber sterben. Warum habe ich es denn sonst getan? Denn es ist kein Albtraum, sondern bittere Wirklichkeit. Ich hatte gehofft, den Käse im Patentkeller für immer zu begraben, aber er ist ausgebrochen, spukt mir vor den Augen herum, drückt auf meine Seele und stinkt. Ich glaube, dass mir dies alles passiert ist, weil ich zu nachgiebig bin. Als mich van Schoonbeke fragte, ob ich es tun wolle, hatte ich den Mut nicht, ihn und seinen Käse von mir wegzustoßen, wie ich es hätte tun sollen. Und für diese Feigheit tue ich Buße. Ich habe die Käseheimsuchung verdient.
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19 Der letzte Tag ist angebrochen. Ich bin bis halb zehn im Bett geblieben, und indem ich sehr langsam meinen Kaffee trank, habe ich es bis halb elf geschafft. Die Zeitung lesen kann ich nicht. Ich trotte also in mein Büro, wie ein Hund, der nicht weiß, was er machen soll, in seine Hütte trottet. Und plötzlich habe ich eine Eingebung. Ist es überhaupt nötig, dass ich Hornstra empfange? Das bisschen Geld kann ich ihm genauso gut mit der Post überweisen, und der Käse liegt unversehrt im Keller. Warum meiner Frau die peinliche Szene nicht ersparen? Um zehn vor zwölf setze ich mich in unseren kleinen Salon neben der Haustür. Vielleicht kommt er gar nicht. Er kann gestorben sein. Er kann nach Paris weitergereist sein. Aber dann hätte man mich benachrichtigt, denn so leichtfertig sind die Holländer nicht. Er wird später kommen, aber er kommt. Leise wie ein Schatten gleitet plötzlich eine prächtige Limousine vor das Haus, und schon geht die Schelle. Ich verziehe das Gesicht, denn das Klingeln tut mir weh, und stehe auf. Ich höre, wie meine Frau in der Küche einen Eimer hinstellt und durch den Flur kommt, um die Tür zu öffnen. Wie sie die Salontüre erreicht hat, springe ich in den Flur und versperre ihr den Weg. Sie will vorbei, aber ich stoße sie zurück. So hätte ich den Käse zurückstoßen sollen. »Nicht aufmachen«, zische ich. Sie starrt mich wild an, wie jemand, der zusieht, wie ein Mord verübt wird. Sie hat Angst, zum ersten Mal in den dreißig 93
Jahren, die ich sie kenne. Ich sage nichts mehr. Ich brauche auch nichts mehr zu sagen, denn sie erbleicht und zieht sich in die Küche zurück. Ich stelle mich in eine Ecke des Salons, von wo aus ich die Straße deutlich sehen kann. Wer von außen hereinschaut, sieht nur Halbdunkel. Meine Nachbarin steht natürlich auch in ihrem Salon, ein paar Schritte von mir entfernt, das weiß ich. Die Klingel ertönt zum zweiten Mal. Ihre befehlende Stimme hallt durch mein stilles Haus. Nach einigem Warten sehe ich den Chauffeur auf das Auto zugehen. Er sagt etwas, öffnet die Tür, und Hornstra steigt aus. Er trägt einen karierten Reiseanzug mit kurzer Hose sowie eine englische Mütze und führt einen kleinen Hund an der Leine. Er blickt verwundert an meinem schweigsamen Giebel hoch, kommt bis an unser Fenster und versucht, drinnen etwas zu erkennen. Ich höre ihn etwas sagen, kann es jedoch nicht verstehen. Und plötzlich steht Madame Peeters da. Sie kommt, um ihre Dienste anzubieten, denn Hornstra hat nicht bei ihr geklingelt, sonst hätte ich es gehört. Nun ist es an ihr, die Nase an der Fensterscheibe platt zu drücken, als ob sie etwas entdecken könnte, wo Hornstra nichts gesehen hat. Sie widert mich an. Und doch verdient sie es nicht. Denn was soll die alte Schachtel sonst den lieben langen Tag tun? Sie geht nicht aus, und unsere Straße ist ihr Kino mit dem ewig gleichen Film. Jetzt klingelt Madame Peeters selbst. Und nach einigem weiteren Gestikulieren greift Hornstra nach seinem Portemonnaie und will ihr ein Trinkgeld geben, das sie vehement ablehnt. Sie hat ihre Seele nicht an Hornstra verkauft, sondern wollte auf eigene Kosten wissen, ob ich nun wirklich nicht zu Hause 94
sei. Bravo, Madame Peeters. Wenn der halbe Käse noch nicht aufgegessen ist, werde ich Ida hinschicken und ihn ihr schenken. Jetzt kriecht Hornstra wieder in seinen Wagen und zieht seinen Hund hinter sich her. Er schlägt die Tür zu, und das Auto gleitet ebenso geräuschlos davon, wie es gekommen ist. Ich bleibe noch einen Augenblick stehen, und große Ruhe erfüllt mein ganzes Wesen. Es ist, als wäre ich im Bett und eine liebevolle Hand würde mich zudecken. Doch ich muss in die Küche. Meine Frau steht da, ohne etwas zu tun, und blickt in unseren Garten hinaus. Ich gehe auf sie zu und schließe sie in die Arme. Und als meine ersten Tränen auf ihr verwittertes Gesicht fallen, sehe ich, dass sie mir entgegenweint. Und plötzlich ist die Küche nicht mehr da. Es ist Nacht, und wir sind wieder allein, ohne Kinder, an einem einsamen Ort, wie vor dreißig Jahren, als wir ein stilles Plätzchen aufsuchten, um in Ruhe und Frieden weinen zu können. Der Käseturm ist eingestürzt.
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20 Aus der tiefsten Tiefe steige ich an die Oberfläche, und mit einem Seufzer der Erleichterung habe ich mir die alte Kette wieder um den Knöchel geschmiedet. Ich bin heute zur General Marine zurückgekehrt. Nach einem solchen Treuebruch fühlt man sich schuldig, und um keine Sympathien einzubüßen, habe ich, so gut es ging, die Rolle eines Mannes gespielt, der zu früh wieder an die Arbeit gegangen ist. Aber es war überflüssig. Ich wurde buchstäblich bestürmt, und Fräulein van der Tak sagte, dass ich leichtsinnig sei und bis zum Ende des Monats hätte warten sollen. Sie weiß natürlich nicht, dass ich kein Gehalt bekomme. »Da sieht man wieder mal, dass für einen Nervenkranken nichts so gut ist wie ein Tricktrack«, sagte Tuil, mit einem vorsichtigen Stoß in den Rücken. Sie haben mich um meine Meinung gebeten, was das Sitzen mit dem Rücken zum Fenster betrifft, mir die neuen Löschroller gezeigt und mich Hamer bewundern lassen, weil der jetzt eine Brille trägt. Der alte Piet hat mir von seiner Lokomotive aus wie ein Besessener mit der Mütze zugewinkt. Ich bin kurz nach draußen gegangen und habe stürmisch seine schwarze Hand gedrückt, die immer voll Schmieröl ist. Er beugt sich aus seinem stählernen Ross, schüttelt meinen Arm, dass ich davon auf und ab springe, und schiebt leidenschaftlich seinen Priem von der einen Backe in die andere. »Und waren die Zigarren gut?« Er wusste nicht einmal, was sie mir geschenkt hatten. »Ausgezeichnet, Piet. Ich werde dir ein paar davon 96
mitbringen.« Er lässt die Dampfpfeife mir zu Ehren dreimal schrill ertönen und setzt wohlgemut seine fünfzigtausendste Fahrt um die Werft fort. Daraufhin habe ich meinen alten Platz wieder eingenommen und mich an die Arbeit gemacht. Meine Kollegen lassen mich nur unwichtige Bestellscheine schreiben und tippen selbst die langen Leistungsbeschreibungen, die von technischen Ausdrücken wimmeln und ziemlich ermüdend sind. Von Fräulein van der Tak bekomme ich ein Stückchen Schokolade, jedes Mal, wenn sie sich selbst eins nimmt. Es ist merkwürdig, in all diesen Jahren habe ich nicht gewusst, wie gesellig es im Büro sein kann. In dem Käse musste ich ersticken, während ich hier, zwischen zwei Briefen, kurz den inneren Stimmen lauschen kann.
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21 Noch am selben Abend habe ich Hornstra geschrieben, dass ich aus gesundheitlichen Gründen gezwungen bin, von der Vertretung für Belgien und das Großherzogtum Luxemburg abzusehen. Ich habe hinzugefügt, dass sein Käse in einem der Patentkeller der Blauhüte-Lagerhäuser liegt und dass ich ihm den Wert der fehlenden Käselaibe per Postscheck erstatten würde. Mit diesem Brief habe ich mir selbst den Rückweg abgeschnitten, denn man weiß nie, ob ich nicht doch noch einmal eine Käseanwandlung kriege. Drei Tage später bekam ich tatsächlich einen Bestellzettel von René Viaene, meinem Agenten in Brügge, der vierzehn Kunden insgesamt viertausendzweihundert Kilo verkauft hatte. Alles war perfekt ausgefüllt: Bestelldatum, Name und Adresse jedes Kunden und all die anderen Spalten auch. Ich konnte nicht umhin, seine Bewerbung noch eben in meinem Briefordner zu suchen. Sie lautete folgendermaßen: »Ich werde einmal versuchen, ein bisschen Käse zu verkaufen. Ihr ergebener Rene Viaene, Rozenhoedkaai 17, Brügge.« Es war nichts darauf notiert, denn ich hatte ihn nicht kommen lassen, weil er der einzige Brügger war, der mir seine Dienste angeboten hatte. In der Hoffnung, dass ich es nicht bereuen würde, habe ich ihm, wie den neunundzwanzig anderen auch, zehn Bestellscheine geschickt. Ich werde also nie erfahren, ob er alt oder jung, elegant oder schäbig, ob mit oder ohne Spazierstock ist. Seine Bestellung habe ich ohne jeden Kommentar an Hornstra weitergeleitet. Vielleicht bekomme ich meine fünf Prozent doch noch. Ja, das System mit den Bestellzetteln war gut, das wusste ich.
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22 Van Schoonbeke hat angerufen, denn das Telefon habe ich behalten, da es ja doch für ein Jahr bezahlt ist. Er fragt, warum ich nicht mehr komme. Hornstra hat ihm einen Besuch abgestattet und gesagt, dass es ihm Leid tue, dass er nicht weiter mit mir zusammenarbeiten könne. Er hat seiner Zufriedenheit Ausdruck gegeben, dass er den Käse in so ausgezeichnetem Zustand vorgefunden habe. Dachte er vielleicht, dass ich die zwanzig Tonnen auffressen würde? »Wir Antwerpener können wenigstens Käse aufbewahren«, sagte van Schoonbeke. »Und kommst du nun Mittwoch?« Ich bin dann also hingegangen, und er hat mich beglückwünscht. Da saßen sie wieder beisammen. Dasselbe Gequatsche, dieselben Gesichter, doch ohne den alten Rechtsanwalt mit seinem halben Käse, denn der ist tot. Auf seinem Platz sehe ich den jungen van der Zijpen sitzen, der noch immer nicht weiß, ob ich mich für das Herausquetschen der zweihunderttausend Mäuse zur Verfügung stellen werde. Van Schoonbeke hat natürlich von meinem Bruder gehört, dass ich wieder auf der Werft bin, aber er hat seinen Freunden nichts gesagt, und sie behandeln mich weiter als Direktor der Gafpa. Der Gastgeber stellt uns einander vor: »Herr van der Zijpen, Herr Laarmans.« Und wir sagen beide: »Angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Daraufhin setzt van der Zijpen das intime Gespräch mit seinem Nachbarn fort, der ständig vor Lachen prustet. 99
»Vergessen Sie nicht, mich zu benachrichtigen, sobald Sie Sardinen haben«, sagt der Mann mit den Zähnen. Van der Zijpen schaut mich grinsend an und fragt, ob er die Bestellung notieren solle.
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23 Ich habe heute das Grab meiner Mutter oder besser: das meiner Eltern besucht. Jedes Jahr gehe ich hin, doch diesmal habe ich meinen Besuch vorverlegt, um die Heilung meiner Käsewunde zu beschleunigen. Der Blumenkauf war genauso schwierig wie die Anschaffung des gebrauchten Schreibtisches, denn der Blumenhändler hatte drei Sorten Chrysanthemen: kleine, mittlere und sehr, sehr große, so groß wie Brote. Und obwohl ich mit den kleinen liebäugelte, hat er mir doch die großen verkauft, und zwar zwölf Stück. Er hat ein schneeweißes Papier darumgewickelt und mich dann mit dem Riesenballon, den man kilometerweit sieht, vor die Tür gesetzt. Mit dem Ding durch die Stadt, das geht nicht. Nein, ich kann es nicht, und mag ein Friedhofsbesuch auch eine noch so ehrwürdige Angelegenheit sein. Mit dieser übertriebenen Blumengarbe mache ich mich lächerlicher als mit dem heiligen Josef aus Gips. So einen Packen Blumen kauft kein Mensch, und man kann sehen, dass ich betrogen worden bin. Also ein Taxi. Der Friedhof ist eine unüberschaubare Angelegenheit, aufgeteilt in lange, gerade Alleen, die nur durch die Gräber voneinander zu unterscheiden sind, und auch dann nur für ein geübtes Auge. Hauptallee, dritte Seitenallee links, zweiter Gang rechts. Hier irgendwo muss es sein. Ich gehe langsamer, in Richtung einer schwarzen Säule, die ein Stück weiter vorn steht. Wo in Gottes Namen ist das Grab bloß hin? Es liegt auf der linken Seite, das weiß ich genau. Familie Jacobs-De Preter. Fräulein Johanna Maria Vandevelde. Unserem geliebten Töchterchen Gisèle. 101
Der Angstschweiß bricht mir aus. Was soll diese Person denken, denn nun sehe ich, dass die Säule eine betende Frau ist. Ich kann sie doch nicht fragen, ob sie weiß, wo meine Eltern liegen. Und was soll ich tun, wenn ich hier plötzlich eine meiner Schwestern treffe? Die merkt natürlich, dass ich auf der Suche nach unserem Grab bin, denn warum sonst sollte ich hier mit Blumen herumlaufen? Nun, wenn mir das passiert, lege ich sie auf den erstbesten Grabstein und mache mich aus dem Staub. Oder ich sage: »So, bist du auch mal gekommen?« Ich begleite sie sittsam und komme von selbst an den rechten Ort. Mit einem Sausen in den Ohren schleiche ich zur Hauptallee zurück und zähle aufs Neue. Dritte rechts, zweiter links. Ich stehe wieder im selben Gang. Dann also weiterlaufen, als müsste ich zum andern Ende des Friedhofs. Die Stiele meiner Chrysanthemen drücke ich fest an die Brust, sonst schleifen die Blumen am Boden entlang. Auf Zehenspitzen gehe ich hinter der Frau vorbei, und plötzlich sehe ich mein Grab. Es springt mir sozusagen entgegen. Da, dicht neben dieser betenden Person. Kristiaan Laarmans und Adela van Elst. Gott sei Dank! Meine Schwestern dürfen jetzt kommen. Es ist unglaublich still hier. Hin und wieder fällt ein Tropfen aus einem kahlen Baum. Hut ab. Eine Minute des Schweigens. Ich kann beruhigt sein. Die, die hier liegen, haben nichts von meiner Käsegeschichte gehört, sonst wäre Mutter in die Gafpa gekommen, um mich zu trösten und mir beizustehen. Ich lege behutsam meine Riesengarbe auf die Marmorplatte, werfe aus den Augenwinkeln einen Blick auf die schräge Gestalt neben mir, mache eine Art Verbeugung, setze meinen Hut wieder auf und ziehe mich zurück. Nach fünf Gräbern biege ich in eine Seitenallee ein und sehe mich noch einmal um. 102
Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Was macht dieses Weib an unserem Grab? Will sie meine Chrysanthemen klauen und auf ihr Grab legen? Das wäre ein starkes Stück. Ich sehe jetzt, dass sie die weiße Hülle entfernt und die braunrote Blumenpracht zum Vorschein bringt. Sie öffnet den Strauß und legt ihn vorn auf die Steinplatte, sodass die Namen von Vater und Mutter sichtbar bleiben. Nun macht sie das Kreuzzeichen und beginnt an meinem Grab zu beten. Ich bücke mich und schleiche unbeobachtet bis zur Hauptallee und zum Friedhof hinaus. Mein Taxi lasse ich an der Ecke zu unserer Straße halten, sonst muss ich meiner Frau Auskunft geben. Ich bin ja nun kein Kaufmann mehr. Und für diesen Friedhofsbesuch hätte es die Straßenbahn auch getan.
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24 Zu Hause wird nie mehr über Käse gesprochen. Sogar Jan hat mit keinem Wort mehr die Kiste erwähnt, die er so glänzend verkauft hat, und Ida ist stumm wie ein Fisch. Vielleicht wird die Ärmste im Gymnasium immer noch Käsehändlerin genannt. Was meine Frau betrifft, die sorgt dafür, dass kein Käse mehr auf den Tisch kommt. Erst nach Monaten hat sie mir einen Petit Suisse vorgesetzt, so einen weißen, platten Käse, der mit einem Edamer nicht mehr gemein hat als ein Schmetterling mit einer Schlange. Brave, gute Kinder. Liebe, liebe Frau. Antwerpen, 1933
Einleitung des Autors zur Originalausgabe Buffon hat gesagt, dass der Stil der Mensch selbst ist. Bündiger und richtiger kann man es nicht ausdrücken. Doch einem Gefühlsmenschen ist wenig mit diesem Schlagwort gedient, das dort steht wie ein Modell, um von einem Steinmetz verewigt zu werden. Kann man jedoch überhaupt in Worten darstellen, was Stil eigentlich ist? Aus der höchsten Stilspannung wird das Tragische geboren. In der Schicksalsbestimmung des Menschen selbst ist alles tragisch. Denken Sie an die Worte Hiobs: »Hier haben sich die Bösen des Wühlens enthalten, hier findet er, dessen Kraft erschöpft ist, Ruhe«, und Sie sehen zu Ihren Füßen die sich windende, paarende, essende und betende Menschheit und 104
daneben einen Müllplatz für diejenigen, deren letzter Krampf sich gelöst hat. Stil steht in engem Zusammenhang zur Musik, die aus der menschlichen Stimme hervorgegangen ist, mit der gejubelt und geklagt wurde, bevor es schwarz auf weiß existierte. Und das Tragische ist eine Frage der Intensität, von Maß und Harmonie, von Ruhepunkten, einem Gejubel im Wechsel mit Lenti und Gongschlägen, von Einfachheit und Aufrichtigkeit mit sardonischem Grinsen. Sie haben hier ein Meer und darüber einen Himmel. Erst ist der blaue Himmel eine einzige riesige Herrlichkeit. Wer seinen Ausgangspunkt von einem blauen Himmel nimmt, muss dazu im Stande sein, den Himmel so blau zu erschaffen, wie es niemals irgendein Himmel in Wirklichkeit gewesen ist. Der Zuschauer muss sofort von dem merkwürdigen Blau dieses Firmaments ergriffen sein, ohne dass ihm gesagt wird: »Dieser Himmel ist sehr sehr blau.« Er hat schließlich selbst eine Seele, die es ihm sagt, denn Stil ist nur für diejenigen zu fassen, die eine Seele haben. Der Himmel muss so lange blau und unberührt bleiben, bis das Blau ganz und gar in seine Seele eingedrungen ist. Aber nicht zu lange, denn sonst denkt er: »Ja, der Himmel ist blau, daran gibt es nichts zu deuteln, das weiß ich nun.« Und er dreht Ihrem Himmel den Rücken zu, um in Erwägungen zu verfallen, die sich auf seinem persönlichen Niveau bewegen. Und ist er Ihren Fängen erst einmal entkommen, bekommen Sie ihn kein zweites Mal auf den Platz, von dem aus er zusehen oder mitfühlen muss, zumindest nicht mit einem zweiten blauen Himmel. Je intensiver das Blau, umso besser, denn umso schneller ist er davon erfüllt. Und beginnen Sie mit einem schwarzen Himmel, muss das Schwarz sofort auf seine gesamte Haut abfärben. Wenn nun die blaue Herrlichkeit lange genug angedauert hat, erscheint ein erstes Wölkchen, an dem er merkt, dass er dort nicht steht, um bis ans Ende seiner Tage auf diesen blauen 105
Himmel zu stieren. Und allmählich schrumpft das Blau zu einem einzigen Chaos aus Wolkenungetümen. Ein Gongschlag kündigt die erste Wolke an, und ein neuer Schlag jedes Mal wieder eine Prozession neuer Ungeheuer. Der erste Gongschlag spielt eine führende Rolle, so wie die erste Geburt in einer Familie. Die Übrigen werden genauso geboren, doch man gewöhnt sich an alles, auch ans Gebären, und die Überraschung wird allmählich schwächer. Dieser erste Gongschlag muss kommen, wenn alles rein und blau, Liebe und Glück ist, wenn man alles Mögliche erwartet, nur keinen Gongschlag. Er muss warnen, er muss stören, darf aber nicht erschrecken. So etwas wie das »Bruder, du musst sterben« bei den Mönchen, an einem Sommernachmittag. Er muss ach so leise gegeben werden. Der Mann muss sich fragen, was das denn gerade war. War es auch Gejubel, dann war es eine merkwürdige Art zu jubeln. Er muss, nach diesem ersten Gongschlag, anfangen, dem blauen Himmel zu misstrauen, wie jemand, der beim Essen plötzlich etwas Sonderbares schmeckt oder im friedlichen Gras bei völliger Windstille etwas bewegen sieht. Er muss sich fragen, ob er nichts Verdächtiges gehört hat und ob das dort in der Ferne nicht eine Wolke ist. Es ist wünschenswert, dass er kurze Zeit später zu der Schlussfolgerung kommt, dass es kein Gongschlag war, sondern irgendetwas im Hals kratzte bei denen, die gerade am Jubeln sind. Das lässt sich nur erreichen, wenn der erste Schlag leise gegeben wird und nicht zu lange anhält. Man sitzt abends allein in einem verlassenen Haus und liest. Plötzlich kommt es einem so vor, als ob man etwas gehört haben könnte. Nein, die Stille hält an, und das eigene Herz fährt in seinem lustlosen Gang fort. Ist dieser erste Gongschlag zu laut, kann nichts mehr kommen, das noch Eindruck macht. Er denkt dann: »So, darum geht es also. Dann mal los.« Und sofort stopft er sich die Ohren zu. 106
Oder er bekämpft den Heidenlärm, den Sie machen, mit seiner eigener Willenskraft und sperrt die Ohren weit auf, in dem Wissen, dass er gleich nichts mehr hören wird. Denn ein anhaltend lautes Geräusch entspricht vollkommener Stille. Und der Mann, der so plötzlich all die Gongschläge gibt, scheint selbst wie besessen. Wenn nun der merkwürdige blaue Himmel noch eben angedauert hat, folgt ein zweiter Schlag. Ihr Mann sieht jetzt eine Wolke und denkt: »Ich hatte also doch richtig gehört. Es war kein Jubel.« Und um sicher zu gehen, denn das Blau liegt ihm noch im Magen, sucht er den ersten Gongschlag in dem, was bereits vorbei ist. Wenn er sich diese Mühe macht, findet er ihn auch und denkt: »Siehst du, der war mir nicht entgangen.« Er ist jedoch noch nicht ganz sicher, dass dieser erste mit Vorbedacht gegeben wurde, so schwach, wie er gewesen war, und so unerwartet. Der Mann in seinem verlassenen Haus steht auf und lauscht. Und dann beginnen sie sich zu nähern. Zuerst langsam, dann in einem immer schnelleren Tempo, wird das Blau verdrängt, und die Ungetüme türmen sich auf. Die Gongschläge folgen rascher aufeinander, und Ihr Mann sieht bereits die Schläge ankommen, bevor sie fallen. Er will selbst die Führung übernehmen, denn er glaubt, dass er am Ruder ist, und ist sich nicht bewusst, dass er gerudert wird. Wenn er dann sagt: »Jetzt kommt der Schlag, der den Turm zum Einsturz bringt, ich will es so«, dann gerade schweigt der Gong, und zwischen den Wolken wird ein Stückchen Blau sichtbar. Er denkt: »Ach, das geht ja noch. Es hätte schlimmer kommen können. Ich hätte die ganze Sache einstürzen lassen, dann wäre Schluss gewesen.« Er weiß nicht, dass dieser Schlag jetzt nicht kommen durfte, weil das Blau vergessen ist, weil der Eindruck des Blaus aus seiner Seele getilgt ist. Und dieser Schlag an sich ist nicht das Ziel. Das Ziel ist das Blau und der Schlag, das Blau, wenn der Schlag erwartet wird, und der Schlag, wenn man das 107
Blau erneut in sich aufzunehmen beginnt. Der Mann in dem leeren Haus setzt sich wieder hin. Und wenn der Zuschauer das Blau zum zehnten Mal gesehen hat, für eine stets kürzere Zeitspanne, und denkt: »Ja, jetzt weiß ich es, es geht um einen fortwährenden Wechsel zwischen Blau und Wolkenungetümen«, dann kommt der Schlag. Er dröhnt durch seinen ganzen Körper und verursacht ihm eine Gänsehaut. Der Mann in dem stillen Haus will aufstehen, aber kann nicht. Er hat keine Angst, sondern ist gelähmt von der Majestät dieses einen Gongschlages. Er denkt: »Das machst du nicht noch einmal mit mir«, und macht sich bereit, um dem folgenden Schlag die Stirn zu bieten, so wie man im Zirkus Pistolenschüsse erwartet, weil bereits einer gefallen ist. Er täuscht sich, es war der Schlag. Wenn man mit einem blauen Himmel enden möchte, dürfen noch einzelne Schläge kommen, doch bei ihnen handelt es sich nur um ein Verlöschen, einen Räumungsverkauf, die letzten Flügelschläge eines Vogels. Haben Sie jedoch selber genug von dem blauen Himmel, dann ist es vorbei, wie das Amen in der Kirche. Er sitzt noch da, als es nichts mehr gibt, keine Gongschläge und keine Wolkenungetüme. Nicht einmal mehr blauer Himmel. Er schließt Ihr Buch und geht, seinen Hut dabei vergessend. Unterwegs bleibt er kurz stehen und murmelt: »Das war mir ja eine Geschichte.« Er dreht sich noch einmal um, geht dann verträumt weiter und verschwindet am Horizont. Die Spannung des Tragischen hat seine Seele berührt. In der Natur liegt das Tragische im Geschehen selbst. In der Kunst liegt es mehr im Stil als in dem, was geschieht. Ein Hering kann tragisch gezeichnet werden, auch wenn einem solchen Tier an sich nichts Tragisches anhaftet. Dagegen reicht es nicht, zu sagen: »Mein armer Vater ist tot«, um einen tragischen Effekt zu erzielen. 108
In der Musik ist das Abstrakte des Tragischen noch deutlicher. Das Tragische in Schuberts »Erlkönig« wird durch Goethes Worte nicht vergrößert, auch wenn ein Kind darin gewürgt wird. Im Gegenteil: All das Gewürge lenkt die Aufmerksamkeit vom tragischen Rhythmus ab. So auch in der Literatur, wo man jedoch über keine Tonleitern verfügt und sich mit jämmerlichen Worten behelfen muss. Und da jedes Wort nun einmal ein Bild wachruft, wird durch die Aufeinanderfolge von Wörtern von selbst ein Skelett gebildet, auf das sich Stil schmieren lässt. Man kann nicht malen ohne Oberfläche. Aber das Skelett selbst ist Nebensache, denn die höchste Stilspannung kann beim kleinsten Ereignis erreicht werden. Der ganze Rodin steckt ebenso vollkommen in einer dieser Hände wie in dem Ensemble mit den sieben Bürgern von Calais, und es ist ein Wunder, dass er die Spannung sieben Bürger lang durchgehalten hat. Ein Glück, dass es nicht siebzig waren. Ein und dasselbe Standardskelett wird dann auch von unterschiedlichen Temperamenten so völlig anders beschmiert werden, dass niemand bei den untereinander völlig verschiedenen Produkten dasselbe Gerüst vermuten würde. Hauptsache ist, man bekommt etwas in die Hände, an dem man mit Selbstzufriedenheit seinen Stiltrieb ausleben kann. Darum muss man Schülern die Freiheit der Wahl des Themas lassen und diese siebenundfünfzig so unterschiedlichen Tröpfe nicht zwingen, an ein und demselben Nachmittag »den Frühling« oder »das Begräbnis der Mutter« zu beschreiben. Und würde dann einer einen Brief an seinen Lehrer schicken, in dem er sagte, warum er gar nicht daran denke, heute irgendeinen Aufsatz zu schreiben, egal worüber, dann hätte dieser Brief sein Aufsatz zu sein. Der Effekt, den man erreichen will, muss mit der jeweils eigenen Gemütsverfassung übereinstimmen. Wer selbst in einer aufrichtig fröhlichen Stimmung ist, sollte nicht versuchen, einen tragischen Eindruck zu erzeugen, sonst werden falsche Töne 109
geboren, die das Ganze verderben. Es sei denn, dass das Fröhliche gebraucht wird, um eine ernsthafte Spannung zu umrahmen. Doch dann muss die Spannung etwas Eigentümliches aufweisen, so wie das Blau dieses Himmels. Von Anfang an, denn ein Buch ist ein Lied, muss man den Blick auf den Schlussakkord richten, von dem etwas durch die ganze Geschichte gewoben werden muss, wie das Leitmotiv bei einer Symphonie. Der Leser muss allmählich ein Gefühl der Unruhe über sich kommen fühlen, sodass er seinen Kragen aufstellt und an einen Regenschirm denkt, während die Sonne noch in ihrer ganzen Pracht scheint. Wer den Schluss nicht aus den Augen verliert, wird von selbst alle Langatmigkeit vermeiden, weil er sich ständig fragt, ob all seine Details zum Erreichen seines Zieles beitragen. Und er kommt dann rasch zu der Entdeckung, dass jede Seite, jeder Satz, jedes Wort, jeder Punkt, jedes Komma das Ziel näher bringt oder es auf Distanz hält. Denn Neutralität gibt es nicht in der Kunst. Was nicht notwendig ist, muss abgewehrt werden, und wo eine einzige Figur ausreicht, ist eine Menge überflüssig. In der Kunst darf nicht probiert werden. Versuchen Sie nicht zu schimpfen, wenn Sie nicht zornig sind, nicht zu weinen, wenn Ihre Seele trocken liegt, nicht zu jubeln, solange Sie nicht von Freude erfüllt sind. Man kann versuchen, ein Brot zu backen, aber man versucht keine Schöpfung. Man versucht auch nicht, zu gebären. Wo es Schwangerschaft gibt, kommt das Gebären von selbst, wenn es an der Zeit ist.
Ein kleiner Mann mit großen Plänen. Käse von Willem Elsschot Nachwort von Gerd Busse
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Willem Elsschot (1882-1960) war kein Freund vieler – und schon gar nicht großer – Worte. Seine Romane zeichnen sich durch ihre Kürze und ihre nüchterne, ungekünstelte Sprache aus. Er war auch kein Vielschreiber, sodass seine Gesammelten Werke aus dem Jahre 1957 in einem einzigen, 750 Seiten starken Band Platz fanden und somit bequem in das kulturelle Gepäck eines jeden gebildeten Flamen oder Niederländers passten, aus dem sie seither auch regelmäßig hervorgeholt werden. Denn Willem Elsschot zählt zu den ganz Großen der niederländischsprachigen Literatur, dessen Romane viel gelesen und gern zitiert werden. »Kaum ein niederländischer Schriftsteller hat so wenig geschrieben wie Willem Elsschot, doch kein niederländischer Schriftsteller hat so viele Meisterwerke hervorgebracht wie er«, schrieb etwa der Journalist und Literaturkritiker Guus Luijters vor ein paar Jahren in der niederländischen Tageszeitung Het Parool. Elsschots Romane gehörten »zum Besten, was in unserer Sprache geschrieben worden ist« und seien darüber hinaus »keinerlei Verschleiß unterworfen«. Dies alles gilt auch, und vielleicht sogar in besonderem Maße, für den 1933 erschienenen Roman Käse (im Original: Kaas), den Elsschot – nach zehnjährigem Schweigen – innerhalb von nur zwei Wochen niedergeschrieben und später einmal als seine beste Arbeit bezeichnet hat. Käse erzählt die Geschichte eines kleinen Mannes mit großen Plänen. Frans Laarmans ist Büroangestellter auf einer Antwerpener Schiffswerft, der über den zufälligen Kontakt zu dem alten Advokaten van Schoonbeke Zugang zu den etwas halbseidenen Kreisen der örtlichen Geschäftswelt findet. Auf Vermittlung van Schoonbekes erhält Laarmans die Generalvertretung eines Amsterdamer Käsehändlers für Belgien und das Großherzogtum Luxemburg. Für den kleinen Büroangestellten geht damit ein Traum in Erfüllung: nie mehr buckeln vor dem Chef, stattdessen ein Leben in Freiheit und Unabhängigkeit, als erfolgreicher 111
Geschäftsmann, der sogar noch die Urlaubsreise auf dem Spesenkonto seines Auftraggebers antreten kann. Doch es gibt da noch ein paar kleinere Probleme. Da ist zunächst einmal das Produkt, das er vertreiben soll: vollfetter Edamer Käse. Nicht nur, dass Laarmans über keinerlei Erfahrung mit dem Verkauf dieses Milchprodukts verfügt (um ehrlich zu sein, hat er bisher überhaupt keine Erfahrung im Verkauf) – Käse in jedweder Form widert ihn an, wie er etwa beim Blick in das Schaufenster eines Käseladens feststellen muss: »Gruyères, riesig wie Mühlsteine, dienten als Fundament, und darauf lagen Chesters, Goudas, Edamer und zahlreiche Käsesorten, die mir vollkommen unbekannt waren, ein paar der größten mit aufgerissenem Bauch und freiliegenden Eingeweiden. Die Roqueforts und Gorgonzolas prunkten liederlich mit ihrem grünen Schimmel, und eine Schwadron Camemberts ließ ihrem Eiter freien Lauf.« Ein anderes Problem ist sein Büro. Ein echter Geschäftsmann muss schließlich ein Büro haben. »Es muss für Briefpapier gesorgt werden, für einen Diplomatenschreibtisch, eine Schreibmaschine, eine Telegrammadresse, für Briefordner und einen Haufen anderer Dinge, sodass ich schrecklich viel zu tun habe. [ … ] Das Telefon muss klingeln, die Schreibmaschine klappern, die Ordner müssen auf- und zuklappen. Und ich sitze mittendrin, denn ich bin das Gehirn.« Doch wer soll den Käse verkaufen, wenn er in der Schaltzentrale sitzen muss? Laarmans hat eine Idee: Sein Käse muss »durch einen Trupp wackerer Agenten an den Mann gebracht werden. Burschen, die bis zum kleinsten Laden vordringen, die gut reden können und jede Woche, oder sogar zweimal die Woche, ihre Bestellungen abliefern. [ … ] Und selbst komme ich mit dem Käse gar nicht in Berührung.« Also setzt er eine Anzeige in die Zeitung – und erlebt einen 112
wahren Ansturm von Bewerbern. Doch beim Anblick der Kandidaten kommen ihm Zweifel: »Verfasser prachtvoller Briefe entpuppten sich manchmal als richtige Wracks und umgekehrt. [ … ] Sie redeten von reichen Familien und früheren Ministern, die sie kannten. Es war ein eigenartiges Gefühl, dazusitzen als der Mann, der mit einem einzigen Wort so einen frohlockenden Kerl in ein nichts verwandeln konnte. Einer gestand offenherzig, dass er Hunger habe und mit einem Käse zufrieden wäre, auch ohne Agentur. Das berührte mich derart, dass ich ihm einen Edamer gab. Nachher erfuhr ich, dass er im Weggehen bei meiner Frau auch noch ein Paar von meinen alten Schuhen loseiste.« Man ahnt es: Seine »Agenten« lassen ihn samt und sonders sitzen, und dem gänzlich unerfahrenen Laarmans selbst will es ebenfalls nicht recht gelingen, seinen Käse an den Mann zu bringen. Schließlich muss er einsehen, dass er mit seinen hochfliegenden Plänen auf ganzer Linie gescheitert ist, und beschließt, den »Käsetraum« aufzugeben und in sein altes Leben als Büroschreiber zurückzukehren. Eine Last fällt ihm – und seiner Frau – von der Seele. »Ich gehe auf sie zu und schließe sie in die Arme. Und als meine ersten Tränen auf ihr verwittertes Gesicht fallen, sehe ich, dass sie mir entgegenweint.« Auch siebzig Jahre nach seinem Erscheinen hat Käse kaum etwas von seiner Frische und Aktualität eingebüßt – oder vielleicht sind es gerade die heutigen Zeiten, die den Roman wieder aktuell machen. Er spielt in den Jahren einer tiefen Wirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit, wie sich etwa in den Bewerbungsschreiben widerspiegelt, die Laarmans auf sein Stellenangebot für die Übernahme von Agenturen hin erhält: »Es sind Leute darunter, die ihre ganze Lebensgeschichte erzählen, von Kindesbeinen an. Viele beginnen damit, dass sie den Weltkrieg als Soldat mitgemacht haben und sieben 113
Ehrenzeichen tragen. [ … ] Andere sprechen von ihrer großen Familie und dem Elend, das sie durchgemacht haben, und appellieren an mein mitleidiges Herz. Beim Lesen einiger Briefe sind mir die Tränen in die Augen gestiegen. Die werde ich an einem speziellen Ort bewahren, denn ich will nicht, dass sie meinen Kindern unter die Augen kommen, sonst liegen sie mir in den Ohren, bis ich diesen Leuten den Zuschlag erteile.« Hinsichtlich seiner eigenen beruflichen Möglichkeiten als Büroangestellter in solchen Zeiten gibt sich Laarmans ebenfalls keinen Illusionen hin: »Büroschreiber sind im Allgemeinen wenig spezialisiert und ähneln sich so sehr, dass sogar ein Mann mit langjähriger Erfahrung bei der erstbesten Gelegenheit einen Tritt in seinen fünfzigjährigen treuen Hintern kriegt und durch einen andern ersetzt wird, der genauso gut und billiger ist. Da ich das weiß und Kinder habe, vermeide ich es sorgfältig, mit Unbekannten in Streit zu geraten, denn es können Freunde meines Chefs sein. Ich lasse mich also in der Straßenbahn herumschubsen und reagiere nicht allzu heftig, wenn mir jemand auf die Zehen tritt.« Das alles klingt irgendwie vertraut. Damals wie heute lautet das Zauberwort: berufliche Selbständigkeit. In dem aufmunternden »Käse geht immer«, das Frans Laarmans aus seiner Umgebung entgegenschallt, meint man, das unbeschwerte »Gründen Sie doch eine Ich-AG!« des modernen Arbeitsamtsberaters zu hören, und im grandiosen Scheitern des Laarmans’schen Traums vom großen Glück ahnt man, dass wohl auch den meisten der heutigen »Ich-AGs« ein ähnliches Schicksal beschieden sein wird. Der Dichter Jan Greshoff – der den Autor zum Schreiben von Käse animierte und dem dieser seinen Roman mit einem Eingangsgedicht gewidmet hat – bemerkte einmal über seinen Freund Elsschot, dass es ihm immer wieder gelinge, das Kleine »groß zu erfahren«. In der Tat spielen seine Romane oft im Milieu der »einfachen Leute«, Kleinbürger, die davon träumen, 114
sich ein kleines Stück vom großen Kuchen abzuschneiden. Die dilettantischen Versuche, mit denen sich Elsschots Helden nach oben stümpern, haben ob ihrer Skurrilität oft etwas ungemein Erheiterndes, doch der Autor versteht es zugleich, dass einem das Lachen im nächsten Augenblick im Halse stecken bleibt und man von der tiefen existenziellen Tragik seiner Figuren ergriffen wird. So auch im Showdown zu Käse: Nachdem ihm der missratene Sohn eines Mitglieds der Mittwochs-Gesellschaft von van Schoonbeke ein krummes Geschäft vorgeschlagen hat – der Sprössling möchte den eigenen Vater über eine Scheinbeteiligung an der Käsefirma um »Zweihunderttausend Mäuse« erleichtern –, beschließt Laarmans angewidert, dem »Käseelend« ein Ende zu bereiten. Er schleicht sich in den Keller, zählt die noch verbliebenen Edamer nach und nagelt die Kiste zu. »Ich hämmere so behutsam wie möglich, um meine Frau oben nicht zu erschrecken. Sie könnte sonst glauben, dass ich mich erhänge.« Willem Elsschot wird oft ein zynischer Stil bescheinigt. Zitate wie diese zeigen jedoch, dass sein Zynismus sich nicht auf eine Misanthropie gründet, die ihre Belustigung auf Kosten der, oft naiven und halbgebildeten, Protagonisten sucht. Vielmehr sind die Charakterschilderungen Elsschots trotz ihrer beißenden Kritik von einer tiefen Sympathie für seine Helden getragen, und vielleicht ist es gerade das, was beim Leser jenes Wechselbad der Gefühle auslöst. Elsschot hat in seinem Werk immer wieder autobiografische Erlebnisse verarbeitet – in Käse etwa seine Zeit als Angestellter auf einer Schiffswerft, aber auch die Erfahrungen, die er als Eigentümer einer Werbeagentur gemacht hatte. Paul Vincent, Übersetzer der englischen Ausgabe von Käse, erinnert in seinem Vorwort daran, dass der stinkende Käse, den Laarmans unters Volk zu bringen versucht, für Elsschot selbst sogar eine Metapher für das abscheuliche Reklamegeschäft gewesen sei, in dem er jahrelang tätig war.1 115
Willem Elsschot wurde am 7. Mai 1882 als Alfons de Ridder im belgischen Antwerpen geboren; sein Pseudonym entlehnte er dem gleichnamigen Landstrich nordöstlich von Brüssel. Er besuchte das Gymnasium in Antwerpen, wurde jedoch mit sechzehn Jahren wegen schlechter Führung von der Schule verwiesen und schlug sich danach ein paar Jahre als Laufbursche bei verschiedenen Handelsfirmen durch. Bereits während seiner Schulzeit hatte er sich für Literatur und für die nationalistische Vlaamse Beweging, die »Bewegung für Flandern«, zu interessieren begonnen. Zusammen mit einigen Freunden gründete er einen literarischen Zirkel. In der Zeitschrift Alvoorder, deren Redaktion er ab 1900 angehörte, debütierte Elsschot mit ersten Gedichten. Auf Druck seines Bruders schrieb er sich 1901 an der Antwerpener Handelshochschule ein und machte drei Jahre später seinen Abschluss in den »Handels-, Konsular- und Kolonialwissenschaften«. Er nahm aktiv am Studentenleben teil und komponierte verschiedene Studentenlieder. Nach seinem Studium war er in unterschiedlichen kaufmännischen Funktionen tätig, unter anderem bei der Société Coloniale Anversoise und der Banque de Crédit Commercial. 1906 zog er nach Paris, um als Sekretär bei einem argentinischen Geschäftsmann zu arbeiten, der für seine Regierung im Ausland tätig war. »Sein Chef erschien nur selten im Büro, der hatte etwa ein Dutzend Pariser Maitressen, die er zu betreuen hatte. Seine Angestellten ließ er äußerst komplizierte Rechnungen aufmachen, laut denen jener südamerikanischen Regierung außer pompösen Reise- und Spesenrechnungen die Gehälter von sieben Ingenieuren, drei Sekretärinnen und einem Heer von Typistinnen, die es allesamt selbstverständlich nur auf dem Papier gab, in Rechnung gestellt wurden« – so erinnerte sich ein Freund Willem Elsschots, der 116
ihn in Paris besucht hatte.2 Zwei Jahre später, 1908, ging er in die Niederlande, um als Angestellter auf mehreren Schiffswerften in und bei Rotterdam zu arbeiten. Im selben Jahr heiratete er die gleichaltrige Josephine Scheurwegen, die ihm bereits 1901 einen Sohn geschenkt hatte und mit der er noch fünf weitere Kinder haben sollte. In Paris und Rotterdam schrieb er Gedichte, die später in der Sammlung Verzen van vroeger (Verse von früher, 1934) erschienen. Im Jahre 1912 kehrte Elsschot nach Brüssel zurück und arbeitete zunächst als Buchhalter in einer Gelatinefabrik, danach als Mitbetreiber der Revue Continentale lllustrée, einer Zeitschrift, die lobhudelnde Artikel über Unternehmen und Institute enthielt und diesen anschließend in hohen Auflagen als eine Art »Werbegeschenk« für die Kundschaft verkauft wurde. Die Revue diente später als Vorlage für die »Allgemeine Weltzeitschrift für Finanzen, Handel, Gewerbe, Kunst und Wissenschaften«, die im Roman Lijmen (Anschmieren) aus dem Jahre 1924 eine fröhliche Wiederauferstehung feiert. Während des Ersten Weltkriegs lebte Elsschot in Antwerpen und arbeitete als Sekretär beim Provinzialen Kriegsbüro des Nationalen Komitees für Hilfe und Ernährung. Nach der Kapitulation war er einige Monate als Korrespondent für den Nieuwe Rotterdamsche Courant tätig, danach widmete er sich ausschließlich seinen kaufmännischen Aktivitäten. 1919 gründete er zusammen mit einem Partner eine Werbeagentur, die so erfolgreich war, dass bald eine zweite Niederlassung in Brüssel eröffnet werden musste. 1931 machte er sich mit einer eigenen Firma selbständig, mit der er ebenfalls sehr erfolgreich war. Der Almanach der kinderreichen Familien und Snoeck’s, ein damals sehr beliebter kommerzieller Almanach, gehörten zu seinen größten Auftraggebern. Für Snoeck’s Almanach schrieb Elsschot Werbetexte, u.a. für eine Senffirma. »Bei Letzteren 117
handelt es sich vor allem um naiv und holprig wirkende Gelegenheitsgedichte, die sich durch eine bestechende, schlitzohrige Harmlosigkeit auszeichnen«, so der ElsschotKenner Carel ter Haar, der fortfährt: »Diese gleiche ›Harmlosigkeit‹ spiegelte ebenfalls ein Projekt, das sich Das Goldene Euch des belgischen Widerstandes nannte. Die Anzeigenwerbung konzentrierte sich ausgerechnet auf Firmen, die im Geruch der Kollaboration standen …«3 Elsschot hat insgesamt elf Romane geschrieben. Der erste, Villa des Roses, entstand 1910 – nach Erinnerungen an die Zeit, die der Autor in Paris verbracht hatte – und wurde 1913 veröffentlicht (deutsch: 1993). Geschildert werden darin die skurrilen Ereignisse in einer drittklassigen Pariser Pension, in deren Verlauf sich etwa einer der Kostgänger das Leben nimmt, aus Platzgründen im Bett der steinalten und schon etwas dementen Madame Gendron »geparkt« wird oder das Lieblingsäffchen der Pensionswirtin im Zuge eines Racheakts eben derselben Madame Gendron in den brennenden Kamin befördert wird und dort sein Leben aushaucht. Obwohl Villa des Roses heute unbestritten als Meisterwerk gilt, wurde es bei seinem Erscheinen kaum beachtet. Erst 1921 veröffentlichte Elsschot wieder zwei Romane: Een ontgoocheling (Eine Enttäuschung), geschrieben 1914, beschreibt das doppelte Fiasko des Zigarrenfabrikanten De Keizer, dessen Sohn – wie Elsschot selbst – in der Schule versagt und der als Vorsitzender eines Kartenspielvereins durch den örtlichen Kohlenhändler beiseite geschoben wird. De verlossing (Die Erlösung) aus demselben Jahr handelt von dem schicksalhaften Aufeinandertreffen eines Dorfpfarrers mit einem atheistischen Ladenbesitzer, dessen bigotte Tochter für die Sünden ihres Vaters glaubt büßen zu müssen. Mit Lijmen (Anschmieren) aus dem Jahre 1924 beginnen die Ich-Romane, in denen, meist aus der Perspektive eines Ich118
Erzählers, die Figur des etwas naiven, doch kreuzbraven Kleinbürgers Frans Laarmans im Mittelpunkt steht. Laarmans, der stark autobiografische Parallelen zu Elsschot aufweist und in immer neuen Rollen auftritt, ist längst zu einer klassischen Figur der modernen niederländischen Literatur geworden. In Lijmen wird Laarmans zum Assistenten eines schlitzohrigen Geschäftsmanns namens Boorman (dem Elsschot auch in Käse noch einen kurzen Auftritt gönnt), der sich darauf verlegt hat, kleinen Gewerbetreibenden hohe Auflagen einer höchst dubiosen »Allgemeinen Weltzeitschrift für Finanzen, Handel, Gewerbe, Kunst und Wissenschaften« anzudrehen, in der sich lobende Artikel über das Unternehmen finden. Auch Lijmen war bei seinem Erscheinen kein großer Erfolg beschieden. Nach Käse aus dem Jahre 1933 folgte Tsjip (1934; deutsch: 1936), in welchem Buch Laarmans’ Tochter – wie übrigens auch die von Elsschot – nach vielem Hin und Her einen polnischen Jüngling heiratet. Laarmans kann sein Glück kaum fassen, als er seinen Enkel – den er »Tsjip« nennt – zum ersten Mal sieht. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Carel ter Haar berichtet, dass es bei der deutschen Übersetzung zu einer Diskussion zwischen Autor und Übersetzerin gekommen sei, »weil Letztere einen angeblich aufrührerischen Satz nicht übersetzt hatte, um ein Verbot des Buches zu vermeiden«.4 De leeuwentemmer (Der Löwenbändiger) aus dem Jahre 1940 ist eine Art Fortsetzung der Geschichte um Tsjip. Davor war jedoch noch der Roman Pensioen (Rente, 1937) erschienen, ebenfalls mit Laarmans, diesmal in der Rolle des Schwiegersohns. Der Roman ist eine Satire auf die Mutterliebe. Mutter Verstappen riskiert ihr Leben, um ihren Sohn an der Front mit Lebensmittelpaketen zu versorgen. Als er umkommt, erhält sie das Recht auf eine Rente und kassiert sie auch jahrelang – bis Alfred, der uneheliche Sohn des Soldaten, sie für sich einfordert. Bei Het been (Das Bein) aus dem Jahre 1938 handelt es sich 119
um eine Fortsetzung von Lijmen, die allerdings bei weitem nicht die Qualität des ersten Teils erreicht. In Het tankschip (Der Tanker, 1941) berichtet Laarmans über eine gigantische Steuerhinterziehung seines Schwagers, und in Het dwaallicht (Das Irrlicht) aus dem Jahre 1946 schließlich hilft Laarmans drei afghanischen Seeleuten bei der Suche nach einem Mädchen, das gar nicht existiert. Nach seinem Debüt mit Villa des Roses, sollte es mehr als zwanzig Jahre dauern, bis Elsschot die ihm gebührende Anerkennung fand. Dies hat er vor allem den Literaten um die belgisch-niederländische Zeitschrift Forum zu verdanken, die sich für sein Werk stark machten. Zum fehlenden Erfolg Elsschots hat der Amsterdamer Essayist und Bewunderer des flämischen Autors, Karel van het Reve, einmal eine interessante Vermutung geäußert: »Meine Theorie ist eigentlich diese: Wären in den Niederlanden jener Jahre mittelmäßige, ja schlechte Erzählungen publiziert worden, in denen ohne viel Aufhebens die Bewohner einer Pariser Pension beschrieben würden, hätten die Leser, gewöhnt an diese Art Geschichten, plötzlich in dem ihnen bekannten Genre etwas sehr Gutes entdeckt und womöglich begierig aufgegriffen. Doch diese Geschichten waren weit und breit Der bereits erwähnte Gedichtband Verzen van vroeger (Verse von früher) erschien 1934 und fand 1957, zusammen mit den Romanen, Eingang in das einbändige Verzameld werk (Gesammelte Werke), das seither in zahlreichen Neuauflagen erschienen ist und zu den großen Monumenten niederländischer Literatur gehört. Elsschot wurde zweimal mit dem Preis der flämischen Provinzen ausgezeichnet, 1934 für Käse und 1942 für Pensioen. Für Het dwaallicht erhielt er 1948 den Staatspreis für erzählende Prosa; für sein Gesamtwerk wurde ihm 1951 der Constantijn-Huygens-Preis verliehen. Willem Elsschot starb am 31. Mai 1960 in Antwerpen; seine 120
Frau folgte ihm einen Tag später. Beide wurden auf dem Friedhof Schoonselhof in Antwerpen begraben. Der Schriftsteller erhielt postum den Staatsprijs voor Litteratuur. Seine Romane sind in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und in jüngster Zeit gleich mehrfach verfilmt worden: im Jahre 2000 Käse (unter der Regie von Orlow Seunke) sowie der Doppelroman Lijmen/Het been (Regie: Robbe de Hert), 2002 Villa des Roses (Regie: Frank van Passei), das 1968 bereits, unter der Regie von Walter van der Kamp, als Fernsehserie ausgestrahlt worden war. Dortmund, im November 2003
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Willem Elsschot: Cheese. Übersetzt und mit einem Vorwort von Paul Vincent. London: Granta Books, 2002. 2
Carel ter Haar: »Chicos Ende«. Nachwort zu: Willem Elsschot: Villa des Roses. Frankfurt: Suhrkamp, 1993.
3
Carel ter Haar, a.a.O. In Snoeck’s Almanach aus dem Jahre 1952/53 wurde übrigens unlängst – von dem Elsschot-Experten Guido Lauwaert – ein Theaterstück entdeckt, das mit großer Wahrscheinlichkeit von Elsschot stammt und starke Ähnlichkeit mit der Thematik in seinem Roman Lijmen aufweist. Der Titel des Bühnenstücks lautet: De Landman van Chicago, of hoe men uitgever wordt van een landbouwblad (Der Landmann aus Chicago oder Wie man Verleger einer landwirtschaftlichen Zeitschrift wird). 4
Carel ter Haar, a.a.O. nicht in Sicht, und so machte Villa des Roses, dieses unsterbliche Meisterwerk, einen kahlen und 121
armseligen Eindruck.5 5
Karel van het Reve: »De miskenning van Elsschot«. In: Een dag uit het leven van de reuzenkoeskoes. Amsterdam: G.A. van Oorschot, 1991.
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