Janwillem van de Wetering
Kuh fängt Hase scanned 03/2008 corrected 07/2008
»Ein Hase hoppelte sorglos und unachtsam üb...
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Janwillem van de Wetering
Kuh fängt Hase scanned 03/2008 corrected 07/2008
»Ein Hase hoppelte sorglos und unachtsam über eine Weide. Er rannte gegen einen Zaunpfahl, stieß sich den Kopf und torkelte benommen durch die Gegend. Zufälligerweise stand auf dieser Weide auch noch eine Kuh. Der Hase stolperte zwischen ihre Beine und brach dort zusammen. ›Sieh an‹, sagte die Kuh, ›ich habe einen Hasen gefangen.‹ – Versteht ihr?« fragte der Detective Superintendent. Wir schlugen uns gegenseitig auf den Rücken und kringelten uns vor Lachen. Dann gingen wir alle nach Hause und vergaßen die Geschichte. Ich vermute, ich werde die Geschichte wohl nie völlig vergessen, denn als ich den Johnson-Fall löste, ging sie mir immer wieder durch den Kopf. ISBN: 3-499-430177 Verlag: Rowohlt Erscheinungsjahr: 1991 Umschlagfoto Thomas Henning
A Faint Cold Fear Thrills Through My Veins William Shakespare
Buch Kann der Traum vom American Way of Life in einer Ketchup-Fabrik beginnen, und warum endet er zwangsläufig wie tödlich auf der Terrasse einer Luxusvilla? Sind Tramper grundsätzlich gewalttätige Wegelagerer oder doch nur harmlose Hippies? Diese und andere Fragen beantwortet Janwillem van de Wetering in seinem dritten Storyband. Der in Maine, USA, lebende niederländische Autor hat eine ganz persönliche Einstellung zu dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten entwickelt. Die Mysterien des Alltags versorgen ihn mit immer neuen Stoffen, und so kann er vollends seine erzählerische Spannbreite entfalten: Von den Erfahrungen im psychedelischen Peyote-Rausch bis zur erotischen Ausstrahlung einer Harley-Davidson, immer gewinnt van de Wetering dem Gegenstand der Betrachtung überraschende Aspekte ab. Seine Erzählungen zeichnen sich meist durch einen hintersinnigen, bisweilen auch bizarren Humor aus. Diese literarischen Kabinettstückchen sind weniger aufregend oder spektakulär, sondern sie gleichen weitmehr doppelbödigen Parabeln.
Autor Janwillem van de Wetering, 1931 in Rotterdam geboren, reiste fünfzehn Jahre durch die Welt. – In der Reihe rororo thriller liegen vor: Outsider in Amsterdam (Nr. 1414), Eine Tote gibt Auskunft (Nr. 2442), Der Tote am Deich (Nr. 2451), Tod eines Straßenhändlers (Nr. 2464), Ticket nach Tokio (Nr. 2483), Der blonde Affe (Nr. 2495), Massaker in Maine (Nr. 2503), Ketchup, Karate und die Folgen (Nr. 2601), Der Commissaris fährt zur Kur (Nr. 2653), Der Schmetterlingsjäger (Nr. 2646), Die Katze von Brigadier de Gier (Nr. 2693), Rattenfang (Nr. 2744), Inspektor Saitos kleine Erleuchtung (Nr. 2766), Der Feind aus alten Tagen (Nr. 2797) und So etwas passiert doch nicht! (Nr. 2915). Außerdem hat Janwillem van de Wetering 1991 das rororo thrillerMagazin 6 »Schwarze Beute« (Nr. 3000) herausgegeben.
Janwillem van de Wetering
Kuh fängt Hase Stories
Rowohlt
rororo thriller Herausgegeben von Bernd Jost
Deutsche Erstausgabe Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, September 1991 Copyright © 1991 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Copyright© 1991 by Janwillem van de Wetering Übersetzernachweis siehe Seite 192 Redaktion Peter M. Hetzel Umschlagfoto Thomas Henning Umschlagtypographie Peter Wippermann/Britta Lembke Satz Sabon (Linotronic 500) Gesamtherstellung Clausen Sc Bosse, Leck Printed in Germany 880-ISBN 3 499 43017 7
Inhalt Mangrove-Mama....................................................................................7 Kuh fängt Hase.................................................................................... 28 Die Harley und die Nachbarin von oben ....................................... 40 Wie schön!............................................................................................. 51 Der Flötenspieler................................................................................59 Tod eines Waldmurmeltiers..............................................................77 Der Weihnachtswunsch ....................................................................88 Der Ketchupstrudel ...........................................................................101 Die Scheidenmaus..............................................................................116 Der Räuber..........................................................................................125 Ein anstrengender Strandspaziergang .......................................134 Der Daimler ........................................................................................143 Eine Frau von sieben Fuß ................................................................155 Der Herrenfabrikant.........................................................................166 Peyote .................................................................................................. 176 Und DREI …!.........................................................................................193 Übersetzernachweis .......................................................................222
Mangrove-Mama Jamy ist ein bißchen beschränkt, und ich glaubte nicht, daß er seine Freundin Mangrove-Mama umgebracht hatte. Doch er behauptete, es getan zu haben, während er mich mit den Augen eines Zwölfjährigen anstarrte. Jamy ist beinahe vierzig, aber geistig zurückgeblieben. Er habe Mangrove-Mama getötet, sagte er, indem er sie in ihren schwangeren Bauch getreten habe. Unabsichtlich natürlich. Er sei in dem Moment einfach völlig durcheinander gewesen, und außerdem habe er einen kleinen Kokainrausch gehabt. Die Umstände haben mich, ganz ohne mein Zutun, zum Hüter dieser Insel gemacht. Diese Insel ist Egret Key, Florida, ein provisorischer Himmel für die Reichen. Warum mich? Ich glaube, man brauchte einen Schutzengel, und ich sehe einfach so aus, als ob ich für dieses Amt geeignet wäre. Niemand, außer um Anhänger werbende Fernsehprediger und kämpfende Mullahs natürlich, hat jemals einen Engel gesehen, doch wenn Niemand mir begegnete, könnte Niemand diesen freundlichen und harmlosen alten Kauz mit der Inkarnation eines solch verehrungswürdigen Wesens verwechseln. Hallo! Jannie ist mein Name. Ich bin in der niederländischen Stadt Rotterdam geboren, zusammen mit meinen Eltern ausgewandert und als kleiner Immobilienmagnat in Boston zu Geld gekommen. Vor vielen Jahren habe ich mich hierher zurückgezogen, auf meinen viertausend Quadratmeter großen Besitz mit Blick auf Egret Cove
und, am Horizont, Eagle Island. Ich kam mit meiner lieben Frau hierher, die mich nie mochte, sich aber an mich gewöhnte, dann jedoch starb, und mit meinem lieben Papagei, der sich nie an mich gewöhnte, aber mit der Zeit lernte, mich zu mögen. In letzter Zeit kreischt der Papagei nicht mehr durchdringend, wenn wir uns begegnen, sondern macht es sich auf meiner Schulter bequem, nagt und knabbert an meinem Ohr und imitiert sanft, unendlich sanft, den bellenden Hund meines Nachbarn. »Arf, arf, arf«, macht der Papagei leise, keucht dann »Huh, huh, huh« und holt scharf Luft, und ich erstarre vor Angst, denn das Kreischen eines Papageis in solcher Nähe zerreißt einem leicht das Trommelfell, aber nein, sein Schlußrefrain ist wieder ein melodiöses »Arf, arf, arf«. Der Papagei war gerade bei seiner Hundenummer, als der betrunkene Jamy an jenem Abend erneut gestand, die wunderschöne Mangrove-Mama mit den langen Beinen und den hohen Brüsten, Mutter seines ungeborenen Kindes, getötet zu haben. »Das ist nicht gut, Jamy«, stimmte ich zu und schenkte Bourbon ein. Wir hatten bißfeste Steinkrebse und frisches französisches Weißbrot mit Butter gegessen, gefolgt von einer lockeren, schaumigen Zitronentorte und kubanischem Kaffee. Wir pafften dominikanische Zigarren. »Also, was ist passiert?« fragte ich. Jamy erklärte, und Bad George, sein Kapitän, und Sopwith, sein Diener, brachen in laute »Ooohs« und »Aaaahs« aus. Der Schauplatz? Eagle Island, wo Jamy in der genauen Nachbildung eines buddhistischen Tempels aus der Tang-Dynastie residiert, der zum Teil über einer Lagune erbaut ist. Delphine spielen, während Jamy zu Abend ißt. Ganz Eagle Island war, nachdem Jamy drei Jahre 8
zuvor alle wildlebenden Tiere und wildwachsenden Pflanzen ausgerottet hatte, von dem Zen-Architekten ›Goldy‹ Yamamoto für eine runde Million oder zwei gestaltet worden. Das Ergebnis ist ein haarsträubender, übertriebener Luxus, selbst gemessen an unseren märchenhaften Key-Maßstäben. Ich meide Eagle Island heute. Diese Art von Menschenhand geschaffener Perfektion stößt mich ab. Im Innern der Gebäude umgeben endlose Flächen pastellfarbener Wände schneetigerfellbezogene Möbel aus Elefantenzähnen. Jamy fährt ein Lincoln Kabriolett, Baujahr 1920, mit Holzspeichen, auf seiner wenige Meilen langen asphaltierten Privatstraße. Die Zufahrt zum Tempel säumen per Hubschrauber eingeflogene Mahagonibäume, deren Rinde sich eindrucksvoll schält, immer blühender Jasmin und eine sorgfältig angelegte Banjananpflanzung, deren Umfang sich jährlich verdoppelt. Jamys Yachthafen ist mit symmetrisch angeordneten Quellenbäumen verziert, deren fächerförmige Wedel einladend winken. Lebensgroße Pelikane, Reiher, Fischadler, ja sogar – der Teufel soll die Seele des lieben Jungen holen – Weißkopfseeadler, alle aus Plastik, sitzen auf geschwungenen Toren und gewölbten Dächern. Ein olympischer Swimmingpool ist von riesigen Spiegelwänden umgeben, der Neun-Loch-Golfplatz wird durch eine Berieselungsanlage mit Wasser zu einem Dollar die Gallone frisch gehalten. Diener Sopwith muß die Bäume im Kokospalmenwäldchen hinaufklettern, um Riesennüsse zu pflücken, die Jamys lieben Kopf zerschmettern könnten, wenn er in seiner Hängematte unter den Bäumen schaukelt und Gedichte verfaßt … eines Abends, beim Tanz auf dem Mallory Square traf ich meine
Lihiebe … Ledergebundene Ausgaben der fertigen Gedichte, auf Pergament9
seiten handgedruckt, werden ausgewählten Empfängern überreicht. Zu denen ich gehöre. Oh, Jamy ist schon ein lieber Junge, aber meistens ärgert er mich. Sie sollten einmal seine Yamamoto-Küche sehen, mit den rostfreien Stahltheken an den Wänden, dem Boden aus echtem italienischen Marmor und mit einer vollständigen Ausstattung an Küchenmaschinen (makellos saubergehalten von Sopwith), einschließlich eines Backofens, eines Pastetenofens … Und was ißt Jamy gewöhnlich zu Abend? Ein Fertiggericht vor dem Fernseher, das Bad George, der Fährmann, mit dem Schnellboot herbeikatapultiert. Kein Wunder, daß Jamy gern bei mir vorbeischaut, und wenn ich gerade einen frischen Schnapperfisch oder andere erlesene Meeresdelikatessen zubereite, mit denen mich Egret Cove bei meinen täglichen Ausfahrten mit dem Ruderboot versorgt, nun, dann mag Jamy, da er sich nun einmal als mein Freund betrachtet, ruhig Platz nehmen und kräftig zugreifen. Ich sitze hier in meinem alten Haus fest, das ich, lange bevor die Keys in Mode kamen, gekauft habe. Mir graut vor dem Aufheulen von Jamys Rennboot, das die Entfernung zwischen Eagle Island und meinem Ufer in wenigen Minuten zurücklegt. Ich habe nie Zeit, zu entwischen. Ich hasse Jamys endlos sich wiederholenden Monologe; sie verursachen mir Kopfschmerzen, die nur der Papagei mit »Arf, arf, huh-huh-huh, arf« besänftigen kann. Doch ich verzieh Jamy beinahe, als er mir von seinem Mord erzählte. Wie aufregend. Sollte er Mangrove-Mama tatsächlich in den Bauch getreten haben? Noch dazu in Gegenwart seines aufsässigen Sklaven Sopwith und seines eifersüchtigen alten Kumpels Bad George? Hm. Wenn meine Key-Mitbewohner mir schon göttliche Fähigkeiten zuschreiben, kann ich sie genausogut auch nutzen. Nebenbei bemerkt, es 10
macht mir Spaß, Menschen zu manipulieren, und während Jamy weinte und schluchzte, sah ich plötzlich eine Möglichkeit, die Dinge zum Besseren zu wenden. Worum geht es hier also? Ich werde Ihnen sagen, worum es hier geht: ein wunderbares Zusammentreffen von Umständen, die zu einer Verbesserung des Planeten führen können. Lassen Sie mich ein wenig die Vorgeschichte erläutern. Bevor unsere Florida Keys zu dieser verrückten, übervölkerten, Touristen anlockenden Bonanza wurden, war Eagle Island einer der vielen Mangrovensümpfe, wie sie Vögel anziehen. War es nicht ein großartiger Anblick, wie die silbergrauen Pelikane, die die Wildnis ernährte, grazil dahinschwebten, bevor sie geräuschvoll im Sturzflug ihren täglichen Fisch jagten? Es gab auch weiße Reiher und schieferfarbene Silberreiher und einige bunt schillernde Ibisse, eine Menge zierlicher kleiner Schnepfenvögel und natürlich den unaufhörlich kreisenden Truthahngeier, doch am meisten faszinierte mich ein Paar Weißkopfseeadler. Weißkopfseeadler sind aufsehenerregende Geschöpfe und selten, eine gefährdete Art. Jamy hat diese beiden Adler abgeknallt. Woher ich das weiß? Weil er es mir erzählt hat, nach einem anderen Abendessen, ebenfalls in Bourbon-Laune. Ich glaube, für diesen Adlermord gab es damals ein gutes Motiv. Harmlose freilebende Tiere zu töten ist genau das, was egozentrische liebe Jungen tun, besonders wenn sie reich sind und während der prägenden Jahre unter langer elterlicher Abwesenheit zu leiden hatten. Welches Motiv genau? Eitelkeit. Ursprünglich kaufte Jamy Eagle Island, um damit an11
zugeben. Es genügte ihm nicht, sich mit anderen glücklichen Leuten eine normale Insel zu teilen, nein, er brauchte eine Insel ganz für sich allein. Dann begegnet er ›Goldy‹ Yamamoto in einer Striptease-Bar auf Key West, und Yamamoto ist, wie sich herausstellt, Spezialist für antike chinesische Architektur. Ein Vertrag wird unterzeichnet. Doch bevor Bulldozer aus Landungsfahrzeugen ausschwärmen, um die Flora der Insel niederzuwalzen, inspizieren unsere Verschwörer das Gelände und entdecken nistende Adler. Nistende Adler sind ein Grund, Baugenehmigungen zu verweigern. Jamy, total vollgekokst, schultert sein Automatikgewehr Kaliber zwölf, besteigt sein Superschnellboot, braust nach Egret Cove und knallt zwei seltene Adler ab – bildschöne Exemplare mit einer Flugspannweite von zweieinhalb Metern und makellos weißen Köpfen und Schwänzen. Wie oft habe ich sie nicht morgens beobachtet und bewundert, wenn sie sich in ihrem hoch oben in den Mangroven versteckten Nest zum Ausruhen niedergelassen hatten.
Peng! Peng! Jamy schießt auch gleich noch die Ibisse und Pelikane mit ab. Zen-Architekt Yamamoto unterbreitet seine Pläne der Baubehörde von Egret Key, der ich angehöre. Ich war damals abwesend. Die anderen Mitglieder sahen keinen Grund, den Antrag abzulehnen. Sie überprüften die Insel, aber es gab dort keine gefährdeten Arten – nichts, nur uns und die immer noch zahlreich vorhandenen Enten und Kormorane. Sie fragen sich, wie ich Jamy noch zu meinen köstlichen Abendessen einladen konnte, nachdem er mir erzählt hatte, was er mit diesen prächtigen Vögeln gemacht hatte? Weise behalten einen kühlen Kopf. 12
Gestatten Sie mir noch ein paar Bemerkungen zur Vorgeschichte. Jamys Vater machte Millionen mit Öl, Häuten, Hochhäusern und anderen texanischen Dingen in jenen hochfliegenden Zeiten. Jamys Mutter ließ sich währenddessen von Macho-Männern bumsen. Jamy selbst schmückte seinen hübschen Kopf mit einer Kornblumengirlande, stieg aus allem aus und kam in unserer Hauptstadt, Key West, wieder zum Vorschein. Wie diese höchst unabhängige kleine Stadt schien dieses ungewollte Kind die elterliche Vernachlässigung zu begrüßen. Ich vermute, daß er hier glücklich war in diesen ungebundenen Jahren. Trotz all seiner schlechten Gewohnheiten ist Jamy immer noch attraktiv; in seiner Jugend muß er umwerfend ausgesehen haben. Er lernte Mangrove-Mama kennen, eine vollkommene Gefährtin mit unübertroffenem Lorelei-Sex-Appeal. Weitere Mitglieder der Bande waren: der schlaksige Bad George, der mit ›Stoff‹ handelte, und der vertrottelte Sopwith, der sich dazu hingezogen fühlte, deutsche Gentlemen zu bedienen. Es ist hier von Blumenkindern die Rede, späteren Hippies, die sich einen Dollar verdienten, wenn es sein mußte, und sich meistens an exotischen Orten herumtrieben, betrunken, bekifft, ohne Bedürfnis nach Sinn. … Eines Abends, beim Tanz auf dem Mallory Square … Jamy, damals Teilzeit-Küchenhilfe, betätigte sich ein wenig als Zuhälter für Mangrove-Mama, die Kellnerin spielte und sich nebenbei einsame Touristen angelte. Zweifellos amüsierten sich alle großartig. Ein weiterer Sonnenuntergang sieht unsere Bande zu den Gitarren kubanischer und haitianischer Flüchtlinge tanzen und New Yorker Poeten in einen Bongorausch verfallen. Eben dieser Sonnenuntergang sah eine kleine Weile davor Jamys 13
Vater in seinem 1958er Cadillac einen tödlichen Herzanfall erleiden. Das Auto gerät zwischen San Antonio und Austin wild ins Schlingern, kommt von der Straße ab und schießt durch eine Reihe von Musterhäusern hindurch. Verkäufer und ihre Kunden springen von Balkonen und verletzen sich. Jamy Senior war bei der Kollision bereits tot. Derselbe Sonnenuntergang, noch etwas früher, sah, wie Jamys Mutter, eine schmächtige Frau, hinter den Plastikrollos eines Motels in Montana von einem überenthusiastischen Lastwagenfahrer totgequetscht wurde. Waisenkind Jamy ist reich. Und was tut er nun? Eine Zeitlang begeistert sich Jamy für die Gemeinschaftsidee. Er teilt sein Vermögen mit den anderen. Mama fährt den Jaguar, den ihr Jamy als Zeichen der Verbundenheit gekauft hat, umgehend zu Schrott. Sopwith gerät bei dem Versuch, den frühen Marlon Brando zu imitieren, unter seine Vierzylinder-Honda. Bad George verliert in seiner Rolle als Popeye infolge böiger Winde und offener Luken vor den Bahamas eine teure Yacht. Alle zusammen ruinieren sie eine Villa, als sie in der Absicht, großzügigere Räumlichkeiten zu schaffen, tragende Wände niederreißen. Um zu sparen, kaufen Bad George und Sopwith aus der Gemeinschaftskasse einen gebrauchten Schulbus. Beim Restaurieren dieser Rostlaube werden zweihundert Liter alten Benzins in einen städtischen Kanal abgelassen. Besser, man verbrennt das Benzin. Ein Streichholz löst heftige Explosionen aus. Die Stadt präsentiert eine Rechnung für neuen Beton. In keinem der Fälle hatte es eine Versicherung gegeben. Während Jamy die Ersatzansprüche regelt, protestiert er, nicht so sehr wegen der entstandenen Verluste, sondern weil keiner Respekt vor ihm hat. Er löst die Kommune auf. 14
Da er noch immer nicht gelernt hat stillzusitzen, stürzt er sich in weitere Schwierigkeiten. Jamy kauft Grundstücke, um deren Verkäufer zu beeindrucken, die aber nur so lange beeindruckt sind, bis der Vertrag abgeschlossen ist. Auch die Frauen, mit denen er sich verabredet, lassen Jamy im Stich. Sie halten ihn für verrückt. Es sind überwiegend Barbekanntschaften. Er erzählt ihnen, welche Grundstücke er besitzt, kritzelt Gesamtbeträge von Staatsanleihen, Aktien, Optionsscheinen, Edelmetallbarren und Barreserven in ausländischen Währungen auf Servietten. Er lädt seine neuen Freundinnen zu Reisen auf der Queen Elizabeth und mit der Concorde ein. Sie tauchen nie an den verabredeten Orten auf. Er kann sich nicht vorstellen, warum. Auch Mangrove-Mama macht eine schwere Zeit durch. Sie befindet sich im Suchtstadium. Das Tauschgeschäft Sex gegen Drogen funktioniert bei ihr nicht. Sie wird in einem Lieferwagen vergewaltigt und an einem Strand ausgesetzt. Ein erregter Liebhaber wirft ihre Kleider aus dem Fenster einer billigen Absteige. Es passieren andere bizarre Dinge, an die sie sich nicht genau erinnert, aber ständig tauchen Polizisten auf, um ihr lästige Fragen zu stellen. Mama findet ein Kanu und paddelt, um unbegreiflichen Auseinandersetzungen zu entgehen, zwischen den äußeren Keys hin und her, wo ihr ein verlassenes Kokainschiff Zuflucht bietet. Sie lebt von Seetang und rohem Fisch. Bad George transportiert als Pilot eines Flugzeugs mexikanisches Marihuana. Die alte Kiste stürzt in die Everglades. Er wird mit der Ambulanz ins Gefängnis gebracht. Sopwith fährt wieder mit einsamen Deutschen auf blauen Mietfahrrädern, doch keiner der Touristen möchte ihn behalten. Er versucht es mit Gartenarbeit und füttert schwere Palmwedel in lärmende 15
Reißwölfe. Er mogelt bei den Stunden und wird ständig entlassen. Also, sind wir nicht einer Meinung, daß diese Kinder die Hilfe eines Schutzengels brauchen? Außer Mangrove-Mama, der blonden Loreleisirene, die ein Leben in der Wildnis führt und bei Egret Cove herumpaddelt, bin ich noch keinem dieser Kinder begegnet. Mama und ich verstehen uns gut. Gelegentlich bringe ich ihr Feinschmeckermahlzeiten ans Schiff. Und nun beginnt das Treiben auf Eagle Island. Ich entdecke zu meinem Kummer und Zorn, daß die Adler verschwunden sind. Die Insel wird ihrer Mangroven beraubt, Yamamoto baut seine gräßliche Tempelvilla, Jamy zieht ein. Jamy und ich lernen uns in der Bucht von Egret Cove kennen, als ich ihn anbrülle, weil er mit dem Kielwasser seines Rennboots mein Beiboot beinahe zum Kentern bringt. Die ausgiebigen Entschuldigungen des lieben Jungen sind der Anfang meiner fürstlichen Bewirtungen dieses Halunken. Der meist arbeitslose Sopwith und der bedingt haftentlassene Bad George erledigen zu jener Zeit Gartenarbeiten für mich, und Jamy trifft die beiden auf meinem Grundstück. Er stellt sie als Butler beziehungsweise Kapitän ein, versichert seinen ehemaligen Kumpels jedoch, daß es keinen Mr. Freundlich mehr gibt. Sopwith besucht mich gelegentlich, um sich über seinen Herrn zu beklagen, der ihn und Bad George auf Distanz hält. Ich erfahre, daß auch Mangrove-Mama ihre frühere Beziehung zu Jamy wiederherzustellen versucht, aber lediglich ab und zu eine Nacht bei ihm verbringen darf. So viel zur Geschichte. Ich hoffe, ich habe die wesentlichen Linien von Ursache und Wirkung deutlich machen können. Jetzt wollen wir 16
sehen, wo sie sich kreuzen. Vielleicht ergibt ihr Schnittpunkt ein erfreulicheres Bild als Mangrove-Mamas blutende Leiche. Ich schenkte aus der Flasche nach und verteilte mehr Zigarren. Die Zitronentorte ruhte leicht auf den Steinkrabben. Ich konnte spüren, wie sich die kleinen trockenen Füße des Papageis auf meiner Schulter bewegten. »Arf, arf«, murmelte der Vogel schläfrig. Ein weiterer lieblicher Abend unter Palmen, genossen im Kreise von Freunden. »Mangrove-Mama totgetreten, wie?« fragte ich. »Erzähl’s mir noch einmal, Jamy. Und laß nichts aus.« Jamy erhob sich, setzte sich in Positur und gestikulierte. Da stand er wieder auf dem Schauplatz des Verbrechens, am Rande seiner Lagune, und dort zerrte Mama bettelnd mit spitzen Fingern an seinem Ärmel. Sie wollte über Nacht bleiben. Er wollte nicht, daß sie über Nacht blieb. Er wollte New Wave-CDs auf dem neuen Klangsystem hören, das Bad George installiert und Sopwith erklärt hatte. »Arf, arf, huh-huh-huh …« Lieber Papagei. »Und dann hast du Mama getreten?« fragte ich. Jamy sagte, er erinnere sich, ihr einen Schubs gegeben, sie fallen und eine Menge Blut auf dem Fußboden gesehen zu haben. »Aber hast du sie getreten?« Jamy konnte sich nicht erinnern. Bad George behauptete, Jamy habe sie getreten, und Sopwith bestätigte es, also hatte Jamy sie wohl getreten. Hier waren zwei nüchterne Zeugen, und Jamy, der Täter, war voll mit Kokain. »Du warst benebelt, mein Lieber?« Jamy gab zu, ein bißchen geschnupft zu haben, um sich auf den 17
New Age Jazz auf seinen neuen CDs richtig einzustimmen. »Kannst du dich erinnern, sie geschubst zu haben?« Das konnte er. »Du kannst dich nicht erinnern, sie getreten zu haben?« Das konnte er nicht. Bestimmt? Bestimmt. Er erinnerte sich jedoch an das Blut, viel Blut, das unter Mama hervorkam, die ihr Baby verlor, weil Jamy sie getreten hatte. Jamys Baby. So sagten Sopwith und Bad George später. »Hatte Mama dir erzählt, daß sie schwanger war?« Das hatte sie nicht. »Wie konnte sie dann das Baby verlieren? Dein Baby? Wieso dein Baby?« Jamy gestand, er habe hin und wieder mit Mama geschlafen. Ich sagte zu Jamy, daß Mama jetzt über vierzig sei. Vierzigjährige Frauen werden zwar manchmal schwanger, doch was war mit Mamas genügsamem Lebensstil, ihrer Kanufahrerei jeden Tag, ihren Mahlzeiten aus rohem Fisch und Meeresalgen … »Hast du jemals eine Frau geschwängert?« fragte ich. Er antwortete, äh, jetzt, wo ich davon spräche, äh, nein … »Nun stirbt Mama«, sagte ich. »Sie liegt auf deinen Marmorfliesen im Zen-Salon dicht bei der Lagune, und sie stirbt.« Nein, nein, das hätte ich mißverstanden, meinte Jamy. Da lebte Mama noch, aber sie sei sehr krank gewesen und blutete, und er sei high gewesen und außerstande, mit der Situation fertig zu werden. Bad George und Sopwith jedoch seien nüchtern gewesen, deshalb habe er sie gebeten, Mama ins Key West Hospital zu bringen und sie behandeln zu lassen. Bad George sagte, Krankenhäuser nähmen keine alleinstehenden Frauen auf, die bluteten, nicht ohne Geld. Jamy spuck18
te Geld aus. »Wieviel?« Tausend Dollar, sagte Jamy. Während er das Geld holte, wickelten Bad George und Sopwith Mama in eine Decke und trugen sie ins Schnellboot – die Rettungsmannschaft schießt in die dunkle Nacht davon. Das Boot gleitet über die flachen Wellen von Egret Cove, das Gebrüll der beiden Außenbordmotoren verliert sich im schwarzen Raum. »Du bist zu Hause geblieben, Jamy?« Ja, sagte er. Jamy haßt Blut, und er haßt leidende Frauen. Und da waren noch die neuen CDs. Während Mangrove-Mama von der modernen Medizin wieder zusammengeflickt wurde, wollte Jamy sich beim Klang der sanften, sphärischen New-Age-Musik entspannen und seine geistige Energie konzentrieren, um sie auf telepathischem Wege Mama zu übermitteln, damit sie umgehend wieder gesund würde. Sie wurde nicht umgehend wieder gesund. Sie starb, bevor sie die KrankenhausKüste erreichte. Bad George und Sopwith brachten die Leiche zurück, die immer noch in die blutige Decke gewickelt war. An der einen Seite hingen Mamas lange blonde Haare heraus und an der anderen ihre toten Füße. Ein unerträglicher Anblick, der Jamy dazu brachte, seine Musikanlage auszuschalten. »Wo ist die Leiche, Jamy?« fragte ich, aber ich mußte eine Pause einlegen. Jamy, im Alkoholrausch, schlurfte um meinen Stuhl herum, fuchtelte wild mit den Armen und stimmte sein Klagelied an. Wie sehr er Mangrove-Mama geliebt habe, jammerte er, wie sehr er sich wünschte, den Schaden, den er ihr, allen und allem zugefügt habe, wiedergutzumachen. Die Welt gehe zugrunde, und er habe mit seinen Millionen gespielt, zur zerstörerischen Verschwendung und Ver19
schmutzung beigetragen, das Ozonloch vergrößert, während er ein weiterer heiliger Jean-Jacques Cousteau hätte sein können oder Kapitän eines Greenpeace-Schiffes mit Mama als Maat; oder er hätte japanische Walfangschiffe torpedieren können oder ein solargetriebenes Flugzeug fliegen, um über russischen Atommüllagern zu patrouillieren, die die Versorgung mit Pfifferlingen beeinträchtigten, mit denen New Yorker Bettlerinnen ernährt werden konnten. »Ja«, sagte ich, »ja.« Während ich dem Papagei, der ebenfalls genug hatte, in seinen Käfig half – der müde kleine Kerl fiel mir fast von der Hand –, ging ich zur Analyse über. War es der französische Romancier Stendhal, der einmal gesagt hat, daß erfolgreiche Geschäftsleute gute Philosophen abgeben, weil sie den Mut haben, die Dinge klar zu sehen? Großverdiener sehen, was vor sich geht, anstatt das zu sehen, was sie möchten, daß es vor sich geht, und ziehen Gewinn aus dem Akzeptieren unangenehmer Wahrheiten. Was würde ich gern sehen? Gerechtigkeit natürlich. Jamy in Handschellen und unkrautjätend am Straßenrand, während ein Kaugummi kauender sadistischer Südstaatenwachposten mit dem Gewehr vor seiner Nase herumfuchtelt. Und dann würde ein anderer reicher Dummkopf auf Eagle Island herumlümmeln. Sieh ihn dir doch an, diesen nichtsnutzigen Trottel, diesen elenden Schwachkopf Jamy, wie er daherplappert … Egret Keys Schutzengel zwingt sich, ruhig, wohlwollend, freundlich distanziert zu bleiben und härter an sich zu arbeiten. Ja, selbst Engel geraten in Versuchung, aber ich hatte nicht die Absicht, Luzifer zu folgen. Es sei denn, der Schritt gefiele mir. 20
»Hast du die Leiche ins Meer geworfen?« fragte ich. Meine Atmung wurde ein wenig unregelmäßig. Dies war die entscheidende Frage, von der meine Lösung abhing. »Habe Mama begraben«, schluchzte Jamy. »Wo, mein lieber Junge?« »An Bad Georges Pißfelsen«, schluchzte Jamy. Besser, viel besser. Dieser Steinhaufen, überwuchert mit giftigen Florida-Stechpalmen und von Säure tropfenden Pappeln, befindet sich auf halbem Wege zwischen Eagle Island und meinem Haus. Wir haben ihn so genannt, nachdem Bad George anfing, ihn auf seinen Fährtouren über die Bucht als Pissoir zu benutzen. »Laß uns hinfahren und einen Blick darauf werfen«, sagte ich. Jamy, erschöpft von der Selbstanklage, war auf meinem Walnußfußboden eingeschlafen. Ich goß mehrere Gießkannen über ihm aus. Jamy begann zu wimmern, erhob sich jedoch. Der Papagei wachte auf. »Arf?« »Nein, du bleibst hier, kleiner Freund.« Ich fand einen Spaten, schleppte Jamy zu meinem Anlegeplatz und ließ ihn ins Ruderboot fallen. Jamy umklammerte meine Knie. »Bitte, Jannie, laß MangroveMama in Frieden.« Er blieb im Boot, vornübergesunken, den Kopf in den Händen, während ich grub. Bad George und Sopwith hatten gute Arbeit geleistet, die Leiche lag zwei Meter unter Steinen und Geröll, aber es war nicht Mangrove-Mama. Ich glaubte, das alte Mädchen zu erkennen. Auf der anderen Seite von Egret Cove gibt es eine ganze Flottille von Schiffswracks, auf denen ständig wechselnde Bootsbesetzer leben. Diese Frau hatte mir einmal mit erhobener Flasche zugewinkt, als ich vorbeiruderte, und eine sexuelle Begegnung vorgeschlagen. Ich entwi21
ckelte eine Theorie, die mit allen Fakten übereinstimmte. Wieder einmal betrunken, war diese Frau ins Wasser gefallen und ertrunken. Ihr Körper trieb in jener verhängnisvollen Nacht in der Bucht und kollidierte mit dem Boot von Bad George, Sopwith und Mangrove-Mama. Das Licht meiner Taschenlampe erfaßte Mangrove-Mamas blonde Locken, die geschickt in das verfilzte Haar der toten Frau geflochten waren. Wer hatte sich diese schauerliche Mühe gemacht? Mama war angeblich krank. Der zimperliche Sopwith? Während Bad George ihn mit drohend erhobener Faust dazu zwang? Ich mußte lächeln, als ich mir die Szene vorstellte: das Plätschern der Wellen, die Schreie der Eulen, das Flattern von Fledermausflügeln, unheimliche Laute, die Sopwiths schwachen Protest begleiteten. Sein Quieksen klingt wie Stan Laurels dünnes Greinen, und Bad George, der stolz einen Bowler trägt und dicker geworden ist, verkörpert an der Seite des bemitleidenswerten Introvertierten den unerbittlichen Oliver Hardy. Mangrove-Mama glänzt darin als die schöne Frau, die Komikerpaare als Kontrast brauchen. Ich verneigte mich vor dem Leichnam, schaufelte das Geröll zurück, stampfte das Grab wieder fest und stieg in mein Boot. »Wie geht es Mama?« fragte Jamy. »Ausgezeichnet«, antwortete ich. Wir ruderten schweigend zu meinem Haus. Ich brachte Jamy im Gästezimmer unter. Am nächsten Morgen schlug Jamy, während er mir beim Frühstücken zusah und sich in eine Wolke aus Zigarettenrauch hüllte, vor, ich solle ihm die Hand halten, wenn er sich dem Sheriff auslieferte. »Nicht nötig«, sagte ich. »Ich kann dich retten, mein lieber Junge, unter bestimmten Bedingungen.« Voller Ehrfurcht flüstert Jamy: »Du kannst Mangrove-Mama wie22
der zum Leben erwecken?« »Warum nicht?« entgegnete der Weise von Egret Key seinem unerleuchteten Schüler. Ein Hoffnungsschimmer glomm in Jamys Augen auf. Wie schon gesagt, schreiben mir meine Nachbarn gewisse Kräfte zu. Das hängt mit diesem teuflischen New Age zusammen. Es gibt hier alle möglichen reichen selbsternannten Spiritualisten, und der allgemeine Trend geht dahin, das Wachstum der Seele voranzutreiben. Die meisten Suchenden an dieser Küste streben nach dem Buddhawesen, und um etwas Abwechslung in die allgemeine Suche zu bringen, gestehe ich, daß ich es mit dem Tao halte. Taoisten, abgesehen davon, daß sie den namenlosen Weg namens Tao gehen, vollführen Tricks. Die hiesige Legende verweist auf meinen »magischen Swimmingpool«, der »den Geist reflektiert«, auf meinen betagten Hibiskusbaum, »einen Startpunkt für den astralen Sprung in den Raum«, auf mein Barbecue-Gestell, »ein alchimistisches Instrument zur Herstellung unsichtbar machender Zaubertränke«. Mein Alter wird auf hundert Jahre und mehr geschätzt. Da ich in Europa geboren bin, traut man mir zu, daß ich mich an den 1. Weltkrieg und den belgischen Freiheitskampf erinnern kann. Wenn ich dazu gedrängt werde, bestätige ich, daß ich bei dem zaristischen Spion Gurdjieff im Kum-Bum-Kloster in Tibet tantrischen Lamaismus studiert habe. Auf einer von der Smithsonian Institution finanzierten Reise nach Neuguinea, die ich kürzlich unternommen habe, erwarb ich eine Schädeltrommel, die bei Vollmond meine indianischen Penobscot-Tänze begleitet. Ich singe häufig Kinderlieder und kann in W.-C.-Fields-Manier mit Telefonbüchern jonglieren. Kein Wunder, daß Jamy mir glauben wollte. 23
»Jamy«, sagte ich, »du hast in gemeiner, egoistischer und ignoranter Weise, was drei Seiten derselben Medaille sind, ein Paar herrlicher Adler, wenigstens vier Pelikane einer bedrohten Art und eine Gruppe seltener Ibisse getötet, um dir ihre Insel anzueignen. Du bist ein übergeschnappter Tyrann. Ich kann dir Mangrove-Mama wiedergeben, aber ich muß dafür auf deiner prompten Besserung bestehen.« Jamy murmelte salbungsvolle Versprechen. »Okay?« »Okay«, flüsterte Jamy. »Also gut«, sagte der Hüter der Insel, während er sich über den weißen Schnurrbart strich und seine stahlblauen Augen aufblitzen ließ, »du wirst Mama zurückbekommen, um sie zu lieben und für sie zu sorgen. Du und deine karmischen Brüder Sopwith und Bad George, plus die von mir wiederzubelebende Muse, werdet eure wahre Bestimmung erfüllen und den heiligen Jean-Jacques Cousteau unterstützen. Nachdem …« »Arf?« fragte der Papagei aus seinem Käfig. »Ja?« fragte Jamy aus seiner Hölle. »… du die Behörden aufgesucht und ihnen mitgeteilt hast«, sagte ich von meiner Wolke herab, »daß du ein Vogelschutzgebiet für bedrohte Arten einrichten willst und die Genehmigung brauchst, dein häßliches Haus abzureißen. Überwache persönlich das Abbrennen des Gebäudes sowie die Sprengung deiner Privatstraße und deines Jachthafens. Übertrage den Besitz von Eagle Island auf die Egret Key Wetlands Conserving Society, und ermächtige mich, ihren Präsidenten, die Insel für alle Zeiten in ein offiziell anerkanntes Naturschutzgebiet umzuwandeln.« Ich wies auf die Tür. »Tu es jetzt, lieber Junge!« Jamy faltete seine Hände. »Und du wirst mir Mama zurückge24
ben?« Ich sagte, daß ich diese Kleinigkeit erledigen würde. Ich befreite den Papagei. Gemeinsam beobachteten wir, wie Jamy am Anfang eines geschäftigen Tages wiedergeboren wurde. Wenn Jamy eine Sache erst einmal begriffen hat, weiß er, wie er sie anpacken muß. Ich ruderte hinaus, um Mama ausfindig zu machen. Sie versteckte sich zuerst, aber ich hatte ein Mittagessen mitgebracht, und der gute Duft lockte ihr Kanu aus den Mangroven hervor. »Unser kleiner Plan funktioniert also nicht«, meinte sie, nachdem sie sich bis zum Grund meines Freßkorbs vorgearbeitet hatte. »Er funktioniert sehr gut«, sagte ich. »Was macht die Blutung, Mama?« Sie errötete unter ihrer Inselbräune. »Ein Frauenleiden, Jannie. Ich bin jetzt in einem gewissen Alter, und dieses karge Leben bringt die Dinge nicht ins Gleichgewicht. Entweder alles oder nichts.« Ich errötete ebenfalls. »Keine verunglückte Schwangerschaft?« »Nein«, sagte sie. »Es ist alles einfach so passiert?« fragte ich. »Ihr habt nicht zuerst die Leiche der alten Frau gefunden, sie irgendwo an die Leine gelegt und dann im richtigen Augenblick hervorgeholt, um deinen Liebhaber in ein Erpressungskomplott zu verstricken?« »Es ist alles einfach wieder passiert«, schluchzte MangroveMama, »so wie immer alles einfach passiert ist.« Zuerst sei sie blutend zusammengebrochen, dann sei das Boot gegen die Leiche der betrunkenen Frau gestoßen, und dann seien sie auf den dummen Erpressungsplan verfallen. »Alles ist in Ordnung«, sagte ich. »Jamy liebt dich.« 25
Ich sang: »Eines Abends, beim Tanz auf dem Mallory Square …« Ich deutete auf ihr kurzes Haar. »Sieht hübsch aus.« Mama schluchzte weiter. »Das brauchst du nicht«, sagte ich. »Warte hier noch ein wenig. Die Aussichten sind gut.« An jenem Abend sahen ich, Bad George und Sopwith von meiner Kaimauer aus dem Feuerwerk auf Eagle Island zu. »Ich würde Jamy ja gern dabei helfen«, sagte Bad George, »aber ich glaube, er ist wütend auf mich.« »Bad George«, murmelte ich. »Mit der Leiche der alten Frau herumzupfuschen und für Geld Lügen zu erzählen, ist nicht ganz das, was dein Pfadfinderführer im Sinn hatte.« Bad George senkte seinen dicken Kopf, und Sopwith gab wieder das Stan-Laurel-Quieksen von sich. Sie wollten wissen, wann der Sheriff sie abholen würde. »Engel verpfeifen keine Kumpel«, sagte ich, »aber es wird sich einiges ändern müssen.« Mangroven haben wieder Besitz von der Insel ergriffen. Jamy kam kürzlich von der Entziehungskur zurück. Die Ärzte haben gute Arbeit geleistet. Der Patient hat sogar das Rauchen aufgegeben. Mangrove-Mama hilft ihm, einen alten Schoner zu restaurieren. Bad George und Sopwith sind mit von der Partie, und die Bande nimmt an einem Navigationskurs der Küstenwache teil. Wer als erster die Prüfung besteht, wird Kapitän der Saint Cousteau und darf das Schiff auf Patrouille steuern, Umweltsünder verfolgen, Wale aus frei herumtreibenden Netzen befreien. Jamy sagt, ich dürfe mitkommen und zusehen. Während ich geduldig warte, bewundere ich einen Adler, der hoch 26
über der Bucht schwebt und dann und wann hinabgleitet, um seinen prüfenden Blick über die Insel schweifen zu lassen. In der Nähe des Ortes, wo einst ›Goldy‹ Yamamotos Zen-Tempel sein Dach erhob, habe ich auf einem Pfosten ein Holzrad installiert. Es hat noch nicht den Beifall des Vogels gefunden.
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Kuh fängt Hase Am Ende der Rede aus Anlaß seiner Pensionierung konstatierte ein Detective Superintendent einmal, wobei er sicher war, daß die meisten von uns nicht mehr nüchtern waren, daß Polizeibeamte nicht für ihre Intelligenz bekannt sind. Was schon in Ordnung wäre, fuhr er fort. Kein Grund zur Beunruhigung. Wir müssen nicht intelligent sein, solange wir nur immer präsent sind. Der Schauplatz des Verbrechens umgibt uns überall, und dort nisten die Kriminellen. Wenn wir dem Kriminellen nur immer dicht auf den Fersen bleiben, wird er zwangsläufig in uns hineinstolpern, und wenn er das tut, müssen wir ihn nun mal schnappen. Das Publikum tobte und applaudierte. Wir alle hielten den alten Chief für einen brillanten Kopf. Dieser Eindruck wurde weiter bestärkt durch eine kleine Geschichte, die er uns zur Erläuterung seiner Hypothese erzählte. »Ein Hase hoppelte sorglos und unachtsam über eine Weide. Er rannte gegen einen Zaunpfahl, stieß sich den Kopf und torkelte benommen durch die Gegend. Zufälligerweise stand auf dieser Weide auch noch eine Kuh. Der Hase stolperte zwischen ihre Beine und brach dort zusammen. ›Sieh an‹, sagte die Kuh, ›ich habe einen Hasen gefangen.‹ Versteht ihr?« fragte der Detective Superintendent. Wir schlugen uns gegenseitig auf den Rücken und kringelten uns vor Lachen. Dann gingen wir alle nach Hause und vergaßen die Ge28
schichte. Ich vermute, ich werde die Geschichte wohl nie völlig vergessen, denn als ich den Johnson-Fall löste, ging sie mir immer wieder durch den Kopf. Und das kam so: Eines Nachmittags betrat ein gewisser Mr. Johnson mein Büro im Präsidium. Er wollte das Verschwinden seiner Frau Geraldine melden, die nicht zu Hause war, als er am voraufgegangenen Tag von der Arbeit kam, und die seitdem auch nicht nach Hause gekommen war. In der Annahme, daß der Bürger beruhigt werden wollte, gab ich mir Mühe, genau das zu tun. Ich erwähnte, daß eine Menge Frauen für kurze Zeit verschwinden. Normalerweise besuchen sie ihre Mütter, und es besteht keinerlei Veranlassung zu übertriebener Beunruhigung, da sie nahezu immer bei bester Gesundheit zurückkehren. Mr. Johnson sagte, er wäre nicht beunruhigt. Er wäre sicher, daß es seiner Frau schon gutginge, an irgendeinem ihm unbekannten Ort. Sie hätte ihn aus freien Stücken verlassen und würde sich jetzt sicher von ihm scheiden lassen wollen. Er rechnete mit einem entsprechenden Schreiben ihres Anwaltes. Die Polizei würde er nur deshalb informieren, weil Geraldine auf eine etwas unübliche Weise gegangen wäre. »Unüblich?« fragte ich. War sie vielleicht fortgeflogen? Nein, war sie nicht. Aber sie hatte keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Ich war immer noch nicht besonders beeindruckt. Und sie hätte alles mitgenommen, was sich in ihrer gemeinsamen Wohnung befand, fügte Trevor Johnson hinzu, hätte absolut nichts dagelassen. Als er nach Hause kam, stand er vor einer leeren Wohnung ohne ein einziges Möbelstück. In der Küche waren keine Töpfe und keine Pfannen mehr. Noch nicht einmal Toilettenpapier im Bad. Sie hatte alles mitgenommen, was sie besaßen, ihr persönliches Eigentum 29
und auch seines. Ihm fehlten seine Bücher, Kleider und Toilettenartikel. Nicht, daß er seine Frau des Diebstahls bezichtigen wollte. Er unterrichtete uns nur, weil vielleicht auch noch andere kommen könnten, Nachbarn vielleicht, oder Verwandte oder Freunde. Es wäre besser, wenn er, der Ehemann, als erster käme. Daraufhin begleitete ich Mr. Johnson nach Hause, in erster Linie allerdings, um ihm seinen Willen zu lassen. Meine Haltung änderte sich, als sich herausstellte, daß sein Bericht den Tatsachen entsprach. Die Wohnung bestand aus fünf Zimmern in der obersten Etage eines luxuriösen Gebäudes mit Blick auf den Willow Park, und das war, da alle Zimmer leer waren, dann auch schon alles, was die Wohnung zu bieten hatte. Wir lauschten auf unsere eigenen hohl klingenden Schritte und beobachteten das Licht, das sich auf dem Parkett spiegelte. Das Beweismaterial – oder besser gesagt, das völlige Fehlen von allem, das Beweismaterial ausmachte – überzeugte mich. Ich leitete eine offizielle Ermittlung ein. Die Routinefahndung nach einer vermißten Person, basierend auf Abzügen eines Fotos, das Mr. Johnson in seiner Brieftasche hatte, verlief ergebnislos. Das Foto war eine scharfe Porträtaufnahme, und es wurde von allen Lokalzeitungen auf der ersten Seite gebracht. Außerdem war eine Belohnung ausgesetzt. Doch wir erhielten keinerlei Reaktion. Da war die Entfernung des gesamten Mobiliars, und ich machte mich von dieser Seite an den Fall. Ich fand einen Zeugen, eine alte Dame, die in der Wohnung neben dem Apartment der Johnsons wohnte. Bedauerlicherweise war sie recht senil und erinnerte sich nicht an besonders viel. Sie hatte mehrere Männer und einen großen Lastwagen gesehen. Die Männer räumten die Wohnung leer und luden den 30
Lastwagen voll. Sie konnte sich nicht erinnern, ob der Lastwagen eine Aufschrift besessen hatte. Allerdings erinnerte sie sich, daß die Männer ohne Beaufsichtigung von Mrs. oder Mr. Johnson gearbeitet hatten. Ich setzte mich mit allen Umzugsfirmen und Speditionen der Stadt in Verbindung. Und wieder – nichts. Ich versuchte es von einer anderen Seite und sammelte Informationen von Mr. Johnson, benutzte ihn und einige Verwandte und Freunde des Ehepaares als Quellen. Schon bald erfuhr ich folgendes: Trevor Johnson war achtundvierzig Jahre alt, seine Frau zehn Jahre jünger, und sie waren fünfzehn Jahre verheiratet gewesen. Keine Kinder. Finanziell ging es ihnen recht gut. Mr. Johnson lehrte Geschichte am College der Stadt, Mrs. Johnson führte den Haushalt. Beide hatten Geld geerbt, daher bestand keine Notwendigkeit, daß sie arbeiten ging. Der die Vermißtenanzeige stellende Bürger war gutaussehend: groß, breitschultrig, ein markantes Gesicht, und er war auch noch im Besitz all seiner Haare. Er war nicht direkt kontaktfreudig, eher das Gegenteil davon. Es schien, als würde er gern allein sein. Er war ein Einsiedler, der sich gern seinen Studien und langen Spaziergängen mit seinem Hund im Park widmete. Als ich von dem Hund erfuhr, hakte ich sofort nach. In der Wohnung war kein Hund, was also war aus ihm geworden? Mr. Johnson sagte mir, daß er etwa eine Woche vor dem Verschwinden seiner Frau verschwunden war. Noch ein Verschwinden. Durch puren Zufall fand ich die Leiche des Hundes. Ich sprach gerade mit der alten Nachbarin, und sie beschwerte sich über die Möwen und Krähen und deren heisere Schreie, die ihre Nachmittagsschläfchen doch erheblich störten. Vor ein paar Tagen wären die Vögel ganz besonders laut gewesen, fügte sie hinzu, wären auf dem Dach herum31
getrampelt und hätten offensichtlich heftig untereinander gekämpft. Ich erinnerte mich, daß sowohl Möwen als auch Krähen aasfressende Vögel sind, und suchte das Dach ab. Der Kadaver des Hundes war ein Sack aus Haut, gefüllt mit Knochen. Das Polizeilabor warf einen Blick darauf und kam zu dem überraschenden Ergebnis, daß er mit einem Hammer umgebracht worden war. Ihm war der Schädel eingeschlagen worden. Ermutigt machte ich weiter. Ich fand heraus, daß auch wenn Mr. Johnson die Einsamkeit liebte, dies keinesfalls für Mrs. Johnson zutraf. Geraldines gesellschaftliches Leben wurde natürlich durch die eigenbrötlerischen Gewohnheiten ihres Mannes stark gehandikapt. Auch das Fehlen eines fahrbaren Untersatzes war nicht gerade hilfreich. Mr. Johnson hatte sich nie die Mühe gemacht, Autofahren zu lernen, und Geraldine fiel immer wieder bei den Fahrprüfungen durch. Es gefiel ihr nicht, auf Freunde angewiesen sein zu müssen, um auf Parties, ins Kino und so weiter zu kommen. Man sagte ihr nach, daß sie viel nörgelte und klagte und an psychosomatischen Krankheiten litt – Juckreiz, Kopfschmerzen, Krämpfe und so weiter. Es gelang mir nicht, Anhaltspunkte auf mögliche Liebhaber zu finden. Immer wenn ich Mr. Johnson aufsuchte, traf ich ihn in ausgeglichener und guter Laune an. Er ließ sich bei der Beantwortung einer Frage immer einige Zeit. Und er lächelte oft, meistens in Situationen, in denen ich auch nicht den geringsten Grund für Belustigung erkennen konnte. Ich bat ihn, mir doch seine übertriebene Ruhe und seine extrem langsamen Reaktionen zu erklären und erhielt zur Antwort, daß er ein Herzleiden hätte. Seine Ärzte ermahnten ihn eindringlich zu Vorsicht und Vermeidung jedes emotionalen Stresses. Vor einigen Jahren wäre er beinahe an einem Herzinfarkt gestorben; ein weiterer 32
Herzinfarkt würde ihn ganz sicher umbringen. Da er sich seiner fast unheilbaren Lage bewußt war, disziplinierte er sich ständig, bis sein distanziertes Verhalten schließlich zur Gewohnheit geworden war. Einmal bat ich ihn, mir seine offensichtliche Zufriedenheit zu erklären. Er sagte mir, daß er sich erleichtert fühle. Er hatte immer gedacht, er wäre von seiner Frau abhängig, von seinem Zuhause, von der kontinuierlichen Beziehung zu seiner Frau in seinem Zuhause. Doch die Erfahrung der jüngsten Zeit hatte überwältigend bewiesen, daß er weder Frau noch Zuhause brauchte. Durch diese Entdeckung fühlte er sich, als wären ihm plötzlich schwere Ketten abgenommen worden. Ein sehr leichtfüßiges Gefühl, sozusagen. Daher das Lächeln. Auch ich lächelte, um meine Gedanken zu verbergen. Mr. Johnson wußte nicht, daß ich an diesem Tag seine unverheiratete Schwester aufgesucht hatte. Sie hatte mir eine merkwürdige Geschichte erzählt. Wie es schien, war Trevor Johnson als Kind ein recht seltsamer Bursche gewesen. Ich leitete diese Tatsache aus mehreren Beispielen ab, die mir die unverheiratete Schwester erzählte, doch hauptsächlich wurde diese Vermutung durch die bemerkenswerte Nummer mit dem vergrabenen Spielzeug bestätigt. Der kleine Trevor hatte sich (»um unsere armen Eltern zu bestrafen«, wie die unverheiratete Schwester sich ausdrückte) in einer kalten und finsteren Nacht aus dem Haus geschlichen und ein Grab für sein Spielzeug gegraben. Das Grab wurde entdeckt und geöffnet. »Und er hatte nicht nur einfach all seine wunderbaren Sachen vergraben«, verriet mir meine Informantin, »er hatte sie auch noch kaputtgeschlagen. Und er hatte den Kopf von seinem Teddybären abgeschnitten.« Ich verließ meinen Verdächtigen und kehrte an meinen Schreibtisch zurück, um dort zu träumen. Das war Poe in Reinform. Zu schade, daß Geraldine Johnson aus einer 33
modernen Wohnung hatte verschwinden müssen. Ich malte mir den richtigen Rahmen aus: ein prächtiges viktorianisches Herrenhaus vor einem dunklen Kiefernwald. Trevor Johnson, der Squire, erhält Besuch vom Chief Constable der Grafschaft. Ich suche ihn auf, um Nachforschungen über das mysteriöse Verschwinden seiner Frau anzustellen. Der Butler führt mich in einen riesigen Raum, in dem mein Gastgeber auf und ab stapft, ein Bein stark geschwollen von der Gicht. Wir nehmen Platz vor den knisternden Holzscheiten in einem gigantischen, aus Ziegeln gemauerten Kamin. Wein schimmert rubinrot in kristallenen Gläsern. Der Rauch exquisiter Zigarren schraubt sich zur hohen Decke hinauf. Der Squire sagt mir, daß sich seine Frau vermutlich in London aufhält, sich dort einer Tändelei hingibt. Er versichert mir, daß es ihm nichts ausmacht, solange sie nur glücklich sei. Dann erzählt er mir eine amüsante Geschichte und lacht ausgelassen. Und dann, nachdem sein »Hoho!« allmählich verklungen ist, ein grauenerregender Schrei, der sich aus der dicken Mauer hinter uns löst. Ich springe auf, rufe nach dem Butler. Wir finden Brecheisen und Spitzhacken. Wir reißen die Wand auf. Und stehen vor der Leiche der Frau des Squires, die uns mit verfaulenden Lippen anlächelt. Eine Vogelscheuche von einer Katze steht auf ihrem verwesenden Kopf und schreit noch einmal, bevor sie herunterspringt und fortläuft. Ich seufzte. Diesmal keine Katze, sondern ein Hund. Den Hund hatte ich schon gefunden. Aber wo war Geraldines Leiche? Ganz sicher nicht in den dünnen Wänden einer modernen Wohnung. Wo hatte er sie versteckt? Ein Auto besaß er nicht, also konnte er sie nicht weit fortgeschafft haben. Und er würde sie bestimmt auch nicht in der Wohnung zurückgelassen haben, wo die Arbeiter der Spedition sie finden konnten. Die Leiche mußte ganz in der Nähe der Wohnung sein. 34
Höchstwahrscheinlich würde ich sie im Park finden. Ich stellte mir die Szene ihres Todes vor. Ich glaubte nicht, daß das Verbrechen vorsätzlich geplant war. Es war ein Abend wie viele andere gewesen, an dem Trevor versuchte, in seinem Geschichtsbuch zu lesen, Geraldine ihm aber keine Ruhe ließ. Sie jammerte und quengelte, wollte ausgeführt werden, ins Kino oder auf eine Party. Die Nörgelei wurde lauter und vielleicht auch boshafter. Man hatte mir gesagt, daß Trevor Johnson als Kind nicht gern spielte. Als Erwachsener würde er auch nicht gern spielen wollen. Als Kind hatte er sein Spielzeug umgebracht, als Erwachsener tötete er seinen Hund und seine Frau. Alle Morde waren aus dem gleichen Grund und ganz spontan geschehen. Da er seine Frau in einem Anfall der Wut ermordet hatte, konnte er nicht vorsichtig gewesen sein. Blut war auf die Möbel und die Teppiche gespritzt. Er wußte Bescheid über die Tests der Polizei, wußte, daß selbst der kleinste Blutfleck gefunden und identifiziert werden kann. Also würde er sowohl die Möbel als auch die Leiche verschwinden lassen müssen. Die Idee, gleich das ganze Mobiliar zu entfernen, war ein guter und bizarrer Einfall, der die Polizei wahrscheinlich verwirren würde. Ich stöhnte. Beweise, ich brauchte Beweise. Ich studierte eine Karte. Der Willow Park ist mehrere Morgen groß. Ich konnte Bagger und Bulldozer kommen lassen und hundert Constables mit Schaufeln ausrüsten. Es wäre das Ende des Parks gewesen, und auch mein eigenes, selbst wenn wir die Leiche fanden. Dann dachte ich mir einen bescheideneren Plan aus. Ich würde mich verkleiden und mich an den Verdächtigen hängen, wie eine Klette an seinen Kleidern. Er würde mich zu seinem Verhängnis führen, entweder zum Grab oder Aufbewahrungsort. 35
Mein letzter Versuch begann an diesem Nachmittag. Es zog sich ziemlich in die Länge, und ich nannte es die Willow Park-Totenwache. Ich beschattete meinen Verdächtigen aus einiger Entfernung, folgte ihm zum College und zurück in den Park, beobachtete dann, wie er nach Hause zurückkehrte. Er hatte mir gesagt, daß er in der Wohnung kampierte, auf einer Luftmatratze schlief, auf einem kleinen Herd kochte, Bücher las, die er sich in der Bibliothek des Colleges auslieh. Ein glücklicher Mann. Jeden Tag verbrachte er etwa eine Stunde im Park und genoß umherschlendernd das Frühlingswetter. Er freute sich an den kleinen Vögeln, die in den Teichen planschten. Er blickte zu den Insekten auf, die über blühenden Sträuchern summten. Er sah sich alles an, nur nicht die anderen Besucher des Parks. Er sah nicht die Damen, die wehmütige Blicke auf seine elegante, eins fünfundneunzig große und von goldblonden Locken gekrönte Gestalt warfen … auch nicht die Schwulen, die das gleiche taten. Nachdem mich die Vögel und die Bienen allmählich langweilten, fing ich an, die Ladies und die Schwulen zu beobachten, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf meinen Verdächtigen richteten. Nach einer Weile konzentrierte ich mich auf eine Lady und einen Schwulen. Die Dame, die ich mir aussuchte, war schon ziemlich atemberaubend, strahlte eine gepflegte Reife aus, die noch verstärkt wurde von ihrem Tweedkostüm und einer Seidenbluse, die nicht richtig geknöpft war. Auf den ersten Blick wirkte die Kleidung ein wenig spröde, war es aber durchaus nicht. Genausowenig wie ihr Mund. Ihre vollen, leicht geschwungenen Lippen waren lasziv. Ihre langen Wimpern klimperten frech. Bei dem winzigsten Wackeln ihrer schmalen Hüften traf mich die volle und schreckliche Wucht der Jahreszeit. Den Schwulen musterte ich mit erheblich weniger Enthusiasmus. Er war schlank, sah recht gut aus, war gut gekleidet mit seinem drei36
teiligen leichten Leinenanzug und dem Filzhut mit einer breiten Krempe. Die Krempe des Hutes verbarg seine Augen, doch ich spürte, durch die Richtung und Anspannung seines Körpers, daß er sich völlig und ständig auf Mr. Johnson konzentrierte. Als Mr. Johnson auch weiterhin die Dame einfach nicht registrierte, wurde sie ungeduldig. Er beobachtete die Gänschen, sie stand direkt neben ihm. Sie baute sich so hinter ihm auf, daß er zwangsläufig gegen sie rennen würde, wenn er sich vom Teich umdrehte. Was er auch tat. Sie schwankte, reagierte übertrieben, stolperte über einen Kieselstein und stürzte. Sie verletzte sich sogar und zeigte sehr viel Bein. Mr. Johnsons Reaktion folgte exakt dem von der Lady vorbestimmten Muster. Er entschuldigte sich, veranstaltete einen Riesenwirbel, half ihr wieder auf, tupfte mit seinem Taschentuch an der Schramme auf ihrem Knie herum. Sie lächelte und stützte sich auf seinem Arm ab. Er begleitete sie nach Hause. Ich folgte ihnen. Ich bemerkte, wie der Schwule die beiden aus einiger Entfernung beobachtete. Irgendwie tat er mir leid. Die Lady wohnte ganz in der Nähe. Sie bat Mr. Johnson nicht herein; vielleicht war sie verheiratet. Sie hielten Händchen und tuschelten miteinander, und ich war überzeugt, daß sie sich schon bald wiedersehen würden. Ich mußte bis Sonnenuntergang warten. Ich sah Mr. Johnson aus seinem Haus kommen und zum Park gehen. Es waren immer noch eine ganze Reihe Leute im Park, denn es war ein lauer Abend. Sofort entdeckte ich den Schwulen, der neben einer Azalee stand. Mr. Johnson wartete am Teich, exakt an der gleichen Stelle, wo die Lady einige Zeit zuvor gestürzt war. Ein paar Minuten später war sie 37
bei ihm, wobei das winzige Wackeln ihrer Hüften jetzt deutlicher war. Zusammen schlenderten sie zu den Azaleen hinüber. Dann blieb sie stehen und hob ihren reizenden Mund. Der Schwule drehte sich zu ihnen um und hielt eine Kanone in der Hand. Ich hob drohend meine Hand, ließ sie dann jedoch wieder fallen und stürzte mich auf Johnson. Er ging sofort zu Boden. Der Schuß ging daneben. Ich löste mich aus dem menschlichen Knäuel, brüllte und packte die Kanone. Johnson war ebenfalls wieder auf den Beinen. Der Hut des Schwulen war heruntergefallen. Johnson starrte in sein Gesicht. »Geraldine!« Ich verhaftete Geraldine Johnson wegen des versuchten Mordes an ihrem Mann. Ich sagte keine Silbe. Niemand erfuhr jemals, daß ich eine erhebliche Anzahl Stunden im Park verbracht hatte, weil ich erwartete, daß mich ein Mörder zu einem Grab führte. In meinem Bericht findet sich nicht einmal der Ansatz einer Erklärung, warum ich überhaupt dort war. Die Verhaftung wird allerdings erwähnt. Geraldine gab ein umfassendes Geständnis ab. Ich nahm nur den letzten Teil auf, in dem sie gestand, daß sie auf ihren Mann geschossen hätte, weil er drauf und dran war, eine andere Frau zu umarmen. Die früheren Versuche, beides Mordversuche, blieben im Bericht völlig unbeachtet. Ich glaube nicht, daß sie vor Gericht standgehalten hätten. Unser Staatsanwalt ist ohnehin schon verwirrt genug, es besteht keinerlei Notwendigkeit, sein Leiden noch zu vergrößern. Geraldine, die in ihrer Zelle weinte, unterbrach sich von Zeit zu Zeit, um mir von ihrem Leiden zu erzählen. Trevor hatte sie nie beachtet, niemals. Und er würde auch nicht aufhören zu arbeiten. Sie hatten 38
genug Geld, um sich ein schönes Haus mit einem großen Garten zu kaufen. Sie hätten Parties, alle möglichen Arten von Parties, geben können. Sie liebte Parties. Sie liebte das Leben, aber es rann ihr durch die Finger, und sie war beinahe schon vierzig. Also war sie in Verzweiflung geraten. Wenn er ihr nicht zuhörte, wenn er fortfuhr, sie weiterhin bis in alle Ewigkeit zu ignorieren, würde sie einen hilflosen Invaliden aus ihm machen. Die Ärzte warnten eindringlich davor, daß er auf keinen Fall emotional erschüttert werden durfte. Schön und gut. Also brachte sie den Hund um, seinen Liebling, und sorgte dafür, daß er verschwand. Sie weinte wieder. Ich wartete. »Und dann, als er keinerlei Reaktion zeigte, nachdem ich Chérie beseitigt hatte, da beseitigte ich mich selbst und alles andere noch dazu. Er hat immer gesagt, er würde mich lieben, würde die Wohnung lieben, so wie ich sie eingerichtet hatte. Er mochte die Antiquitäten, die wir gesammelt hatten, die Orientteppiche. Und er liebte mich so sehr, das hat er immer gesagt.« Ich wartete wieder, aber viel mehr kam nicht. Nur noch, daß sie sich, vor lauter Verzweiflung, die Waffe gekauft hatte, dann aber nicht die Courage aufbringen konnte, sie auch zu benutzen, daß sie beabsichtigt hätte, zu ihm zurückzukehren, und dann war da diese schreckliche Frau gewesen, und Trevor, drauf und dran, diese schreckliche Frau zu küssen. »Und dann waren Sie auch noch da, ein Polizeibeamter.« Sehr richtig. Und ich erwischte sie. Ich war in der Nähe, genau wie die Kuh auf der Weide war, und der Hase kam und brach genau zwischen ihren Beinen zusammen. »Sieh an«, sagte die Kuh, »ich habe einen Hasen gefangen.« Und die anderen Kühe waren tief beeindruckt. 39
Die Harley und die Nachbarin von oben Die Nachbarin über mir – sie hat die Wohnung direkt über der unseren – hat lange Beine und schlanke Fesseln. Das war mir als erstes an ihr aufgefallen. Sie wird jetzt so um die Dreißig sein, aber ich kenne sie schon zehn Jahre, von dem Augenblick an, als das Hochhaus zum erstenmal bezogen wurde. Sie war damals ganz frisch verheiratet. Ihr Mann ist ein kleiner Kerl mit einem Eichhörnchengesicht. Er ist Chefkoch, abends nie zu Hause und schläft morgens aus. Samstags und sonntags geht er mit den Kindern im Park gegenüber spazieren, und solange mein Sohn noch klein war, ging ich mit ihm auch dorthin, und dann grüßten wir uns: »Guten Tag.« Und ein paar Worte über das Wetter und die Kinder. Während jener ersten Tage, an denen wir alle mit dem Umzug beschäftigt waren, bat mich seine Frau, bei einer Anrichte mit anzufassen. Ich trug sie zu ihr hinein und stellte mich vor. Ich nannte nur meinen Nachnamen, also siezten wir uns. Sie hat große, schrägliegende Augen und hellblondes Haar, das sie manchmal zu einem Knoten aufsteckt oder offen trägt. Sie hat dichtes, glänzendes Haar, und ich hätte es gerne gestreichelt, damals, als wir schwitzend neben der Anrichte standen. Ich habe es natürlich nicht getan. Ich bin ziemlich schüchtern und sehe die Möglichkeiten erst, wenn sie längst vorüber sind. Zehn Jahre hindurch sind wir uns fast täglich begegnet, im Fahrstuhl und auf der Straße. Sie wohnt im vierten Stock und ich im drit40
ten. Der Fahrstuhl ist recht schnell und braucht nur acht Sekunden. In acht Sekunden kann ich kaum einen ganzen Satz sagen, also habe ich meistens geschwiegen. Ich richtete es allerdings immer so ein, daß ich ihr die Tür aufhielt, und dann lächelte sie; manchmal hielt ich zwei Türen auf, die Eingangstür und die Fahrstuhltür. Dann lächelte sie zweimal. Auch bei dem zusammenklappbaren Kinderwagen und den Einkaufstaschen habe ich gelegentlich mit angefaßt. Sie weiß, daß ich Vertreter bin, sie weiß sogar, was ich verkaufe. Ich arbeite für eine Wollfabrik und habe immer eine Tasche mit Farbkarten bei mir; die Farbkarten sind etwas größer als die Tasche und schauen deshalb heraus. Jede Karte zeigt eine Kollektion säuberlich nebeneinander geklebter Wollfäden. Diese Farbkarten macht meine Frau, zu Hause. Meistens helfe ich ihr; ich finde das eine schöne Arbeit, darüber hinaus ist sie gut bezahlt; auch wenn wir nicht darauf angewiesen sind, ich bekomme ein gutes Gehalt. Neulich habe ich ausgerechnet, daß ich schon einundzwanzig Jahre lang mithelfe, die Wollmarke berühmt zu machen. Jeden Werktag starte ich meinen Fiat Kombi und mache mich auf in meinen Bezirk, Nord-Holland und Friesland. Ich bin ein guter Verkäufer, ein Hundertprozentiger, sagt man bei uns: jemand, der immer seinen Umsatz erreicht, sogar wenn die Geschäfte schlecht gehen. Es ist eintönige Arbeit, aber das finde ich nicht schlimm. Obwohl es mich manchmal schon irritiert, wenn ich lange an der Ladentheke warten muß. Ich besuche vorwiegend Handarbeitsgeschäfte, die von älteren Damen geführt werden, und wenn ein Kunde hereinkommt, muß der Vertreter warten. Der Vertreter bin ich. Wenn ein Vertreter wartet, lächelt er. Manchmal vergesse ich, das Grinsen abzulegen, wenn ich den Laden verlassen habe, und dann fahre ich viele Kilometer 41
mit einem faden Lächeln, das in den Mundwinkeln schmerzt. Die Autobahnen und Schnellstraßen hierzulande sind auch nicht sehr abwechslungsreich. Ich kenne jede Handbreit Asphalt und bin froh, wenn es eine Umleitung gibt. Dann sehe ich wieder einmal etwas anderes, ein paar Schilfrispen oder eine Windmühle, oder Kühe mit schwarzen Leibern und weißen Gesichtern. Vor ein paar Monaten ist meine Mutter gestorben. Ihr Abschied hat mir keinen Kummer bereitet. Sie war in den letzten Jahren nicht mehr ganz richtig im Kopf, und ich glaube nicht, daß sie glücklich war zwischen den Betonplatten ihrer Altenwohnung. Der Notar erzählte mir, ich hätte dreißigtausend geerbt, die Spargroschen meines Vaters, die meine Mutter nie hat ausgeben wollen. Meine Frau und ich haben auch immer gespart, und ich wußte nicht, was ich mit dieser plötzlichen Erbschaft anfangen sollte. Wir hätten vielleicht ein eigenes Haus kaufen sollen, doch die Wohnung gefällt uns gut. Meine Frau mag keine Veränderungen. Jedes Jahr fahren wir in denselben Ferienort. Einmal habe ich gesagt, wir sollten doch ins Ausland fahren, ein paar Wochen auf die Kanarischen Inseln hatte ich gedacht, doch meine Frau bekam auf dem Rücken ein Ekzem, und der Arzt bestellte mich zu sich. Er meinte, es sei Nervosität. Als ich meiner Frau erzählte, wir sollten besser doch nicht zu den Kanarischen Inseln fliegen, klang das Ekzem wieder ab. Unser Besitz ist schon seit Jahren vollständig, wir haben alles, die Wohnung steht voller Elektrogeräte, das Mobiliar ist recht neu, den Teppichboden und die Gardinen haben wir im vorigen Jahr ersetzt. Mein Sohn verdient schon und zieht demnächst nach Deutschland, wo er eine gute Stellung bekommt. Ich habe noch daran gedacht, etwas zu sammeln, Antiquitäten zum 42
Beispiel, oder Briefmarken oder Porzellan. Als Sammler wird man sein Geld immer los, und man hat den Eindruck, daß es gut angelegt ist. Es kostet auch Zeit, und Zeit habe ich ja, ich habe an allen Abenden und an den Wochenenden frei. Doch der Gedanke ans Sammeln verschwand, als ich sah, wie der Nachbarsjunge seine neue BMW aufpolierte. Als ich ihm erzählte, daß ich einen Motorradführerschein habe, ließ er mich einmal um den Block fahren. Ganz zu Anfang hatte ich selbst ein Motorrad, auf Geschäftskosten: Hilfsvertreter bekamen damals noch kein Auto. Ich hatte eine leichte BSA mit einer Holzkiste hinten, für die Farbkarten und Muster. Ich bin noch am gleichen Tag in die Stadt gefahren, um mich umzusehen. Es gab genug Motorräder zu kaufen, allerlei BMW-Modelle, eine einzige englische Marke und viele japanische. Die Verkäufer taten ihr Bestes, doch es kam nichts dabei heraus. Ich glaubte schon, die Anwandlung sei vorüber, als ich beim Zahnarzt auf eine Zeitschrift stieß, die nur von Motorrädern handelte. Darin stand eine kleine Anzeige, jemand bot eine alte Harley Davidson zum Verkauf, »guter Zustand«. Ich sah sie mir an, doch die Maschine war ein Wrack. Ich legte einen Tausender auf den Tisch, die Hälfte des geforderten Preises, und der Mann sagte, ich könne sie mitnehmen. Als ich sie starten wollte, fiel sie um, und der Mann mußte mir helfen, ich bekam sie nicht von der Straße, sie blieb ruhig auf dem Sturzbügel stehen. Das Anfahren war auch nicht so einfach, Harleys haben eine sonderbare Kupplung. An jeder Ampel ging der Motor aus, und ich hatte jedesmal die größte Mühe, den Kickstarter anzutreten. Trotzdem war ich seltsam glücklich. Ich war schweißgebadet, als ich das Garagentor aufzog. 43
An diesem Abend ging ich bestimmt viermal nach unten, um sie zu betrachten. Ich fand es eigentlich nicht merkwürdig, daß mich die Maschine aufregte. Bagger und Bulldozer machen mich auch kribbelig; wenn ich sie in Aktion sehe, stelle ich das Auto am Straßenrand ab und schaue zu. Manchmal eine ganze Stunde. An einem solchen Tag verkaufe ich dann etwas weniger. – Der Lenker einer Harley erinnert an die Hörner eines spanischen Stiers, nur daß die zur anderen Seite hin gebogen sind. Das hintere Schutzblech läßt mich an eine weibliche Gesäßhälfte denken. An ein Negerinnengesäß. Nicht eines, das man auf der Straße sieht, sondern ein richtiges, aus dem Urwald, mit TamtamMusik im Hintergrund. Der Tank hat eine fließende Linie, wie die einer plötzlich entblößten Brust einer Stripteasetänzerin, und die zwei Scheinwerfer gleichen ebenfalls Brüsten, aufgerichteten Brüsten, die geradewegs nach vorne zeigen. Ich habe einmal jemanden sagen hören, man müsse »eine Frau bespielen wie eine Geige«, aber ich fand das ein ekelhaftes Bild: die Frau ausstrecken, ihren Kopf unter dem Kinn und ihre Zehen in der Hand und dann mit einem Geigenbogen über ihren Bauch … Nein. Aber bei einer Harley wäre ich schon zu bildlichen Vergleichen fähig. Wenn man zum Beispiel mit der linken Hand die Zündung regelt, oder das Gas aufdreht mit der rechten; und dann der bemerkenswerte Choke-Hebel, mit vier Stellungen. Und die Art, wie man im Sattel sitzt. Der Sattel übrigens ist etwas Besonderes, der Mann, der mir das Motorrad verkaufte, hatte etwas darüber gesagt. Er hat eine kleine Rückenstütze und ist groß genug für zwei Personen, gerade eben groß genug. Wer hinten aufsitzt, wird gegen den Fahrer gepreßt. Am nächsten Morgen fuhr sie überhaupt nicht mehr, und ich habe sie mit einem gemieteten Kleinlaster zu einem Mechaniker gebracht. 44
Ich mußte drei Jungs aus der Nachbarschaft bitten, mir schieben zu helfen, und trotz all der Hilfe ging es schwer. Ich verzerrte mir einen Rückenmuskel, meine Frau hat mich eine Woche lang mit einer Salbe einreiben müssen. Der Mechaniker war skeptisch und wollte im voraus bezahlt werden. Als er merkte, daß ich Geld genug hatte, wurde er etwas entgegenkommender. Er hat schließlich einen ganzen Monat daran gearbeitet, und danach war die Harley wieder wie neu. Ich habe sie auch neu lackieren lassen, in einem stumpfen, fahlgrünen Feldgrau. Erst sollte sie ja beige werden, aber in der Nacht träumte ich von einer Militärkolonne, die durch eine leere Ebene fuhr. Ich fuhr mit einer roten, flachen Mütze auf dem Kopf voran, und ich hatte eine Maschinenpistole in einer Waffentasche am Lenker. Ich glaube, ich habe im Krieg so einen Motorradfahrer gesehen, und das Bild ist irgendwie hängengeblieben. Meine Frau hat nie über die Harley reden wollen. Ihre Augen wurden rund, als sie sie zum erstenmal sah, und noch runder, als ich ihr erzählte, was sie gekostet hatte. Als sie sah, daß ich auch weiterhin Geld ausgab, wollte sie Kleider haben und einen neuen Mantel und ein Dampfbügeleisen und einen größeren Kühlschrank. Ich habe ihr alles gekauft. Mein Sohn wollte einen kleinen Sportwagen, den habe ich auch gekauft. Er geht ja doch aus dem Haus, und er ist ein ruhiger, netter Kerl, wir sind immer gut miteinander ausgekommen. Die Harley steht neben dem Fiat in der Garage. Die Garagenmiete zahlt das Geschäft. Viel Unkosten habe ich nicht durch sie, der Mechaniker hat seine Sache gut gemacht, er war auch sehr stolz, als er sie ablieferte. Er selbst hatte früher eine Harley gefahren und zeigte mir noch ein Album mit Fotos, aber er war aus der Kurve geflogen und hinkt jetzt, und seine Frau läßt ihn nicht mehr. Trotzdem riet er mir, 45
nicht allzu vorsichtig zu sein; auf einem Motorrad müsse man ab und zu etwas riskieren. Wochenlang bin ich jeden Abend ein kurzes Stück gefahren, erst auf Parkplätzen in der Nachbarschaft, um mich ein wenig einzugewöhnen, und später ganz normal durch die Stadt und über schmale Deiche, und auch einmal quer durch einen Wald, mitten in der Nacht und bei Mondschein. Das werde ich nicht mehr tun, denn ich habe nur mit Müh und Not einem Liebespärchen ausweichen können. Es muß recht unangenehm sein, wenn man gerade sein Äußerstes gibt, und dann rasen einige Zentner brüllenden Eisens haarscharf an einem vorbei. Die Nachbarin oben hatte die Harley schon am ersten Abend gesehen. Am nächsten Tag machte sie im Fahrstuhl eine Bemerkung. Sie trug eine lange, dunkelblaue Hose, die etwas durchsichtig war. Ich sah es, als wir auf den Fahrstuhl warteten. Sie hatte sich ans Fenster gestellt und hatte die untergehende Sonne im Rücken. Als ich abends zu üben anfing, sah ich sie am Fenster stehen. Meine Frau stand ein Stockwerk tiefer am Fenster. Ich wagte nicht zu winken, denn dann hätte ich den Lenker loslassen müssen. Tags darauf traf ich sie wieder im Fahrstuhl, und sie fragte, ob es schön gewesen sei. Ich sagte ja, und sie meinte, es sei ein schönes Motorrad. Tags darauf sagte sie, sie habe mich nach Hause kommen hören. Ich fragte, ob der Lärm sie störe. »Nein, sie gurgelt so schön.« Sie hat eine tiefe Stimme, aber sie spricht sehr leise. Ich muß mich ein wenig zu ihr hinüberbeugen, um sie zu verstehen. Letzte Woche hatte ich das Motorrad draußen stehenlassen. Ich hatte etwas vergessen, und als ich wiederkam, stand sie daneben. Sie hatte ihre Hand auf den Tank gelegt. Ich grüßte höflich und wartete, bis sie ihre Hand zurücknähme, 46
doch sie blieb stehen. »Warum fährst du nicht mal mit«, fragte ich, »hintendrauf?« Ich hatte »du« gesagt. Als der Satz ausgesprochen war und zwischen uns hing, wollte ich noch etwas sagen, hatte jedoch keinen Atem mehr. Ich hatte das Gefühl, sie bei den Schultern gegriffen, sie an mich gedrückt und mitten auf den Mund geküßt zu haben. »Ja, in Ordnung. Aber ich habe keinen Helm.« »Den kaufe ich.« Sie nahm ihre Hand zurück, drehte sich um und lief ins Haus. Den Helm habe ich am nächsten Morgen gekauft, einen weißen, genau wie meiner. Danach habe ich sie drei Tage lang nicht gesehen. Der Helm hing in der Garage, über dem Fahrrad meiner Frau. Meine Frau fragte mich während des Frühstücks, was ich mit zwei Helmen wolle. Ich habe irgend etwas gebrummt, während des Frühstücks reden wir nie. Ich habe das Essen stehenlassen und bin aus dem Haus gegangen und habe meine Mustertasche vergessen. Mein ganzer Tag war durcheinander. Ich glaube, sie ist mir diese drei Tage lang ausgewichen. Sie weiß natürlich genau, wann sie mich am Fahrstuhl erwarten kann, denn ich lebe nach einem genau berechneten Zeitplan. Oder vielleicht war es Zufall, der gleiche Zufall, der bei meiner Frau den Entschluß reifen ließ, zwei Tage bei ihrer Schwester zu verbringen, und meinen Sohn dazu bewog, eine Woche Urlaub zu nehmen, um zu segeln. Ich traf sie im Supermarkt, kurz vor Ladenschluß. »Ich habe deinen Helm gekauft.« Sie stand da mit einem Glas Chilimus in der Hand, das sie gerade aus dem Regal genommen hatte, und sah mich unverwandt an. »Heute abend?« 47
»Ja«, sagte sie. »Um acht Uhr.« Wir hätten auch früher losfahren können, aber ich wollte erst noch unter die Dusche. Außerdem mußte ich mich umziehen. Ich habe keinen richtigen Motorradanzug, sondern ziehe meistens eine Jeans an und meine Lederjacke. Ich bin ziemlich groß und breit, und die Jacke steht mir gut, ich würde sie gerne auch tagsüber tragen, aber das Geschäft schreibt vor, daß Vertreter einen Anzug und Krawatte tragen. Im Anzug fühle ich mich wie ein Bauer, der sich für eine Hochzeit verkleidet hat. In den letzten Jahren habe ich mir Maßanzüge gekauft, aber das Gefühl ist noch dasselbe. Um acht Uhr stand ich mit den Helmen unten. Ich kickte das Motorrad an, doch sie kam nicht. Ich sah nach oben, und sie schaute hinter dem geschlossenen Fenster hervor zurück. Wir haben so vielleicht eine halbe Minute gestanden, und dann habe ich den Helm wieder über das Fahrrad meiner Frau gehängt und bin allein losgefahren. Am nächsten Tag stand sie wieder am Fahrstuhl. »Ich hatte nicht den Mut.« »Heute abend?« »Ja«, sagte sie, »aber wenn ich wieder nicht den Mut habe, darfst du nicht böse sein.« »Hast du Angst vor dem Motorrad?« »Nein.« Als ich das Motorrad aus der Garage schob, stand sie wartend bei der Tür. Sie hatte auch eine Jeans an, und eine Lederjacke in fast der gleichen Farbe wie die meine. Ich kickte das Motorrad an, und sie glitt hinter mich. Ich dachte, sie würde Schwierigkeiten haben, denn der Sattel ist recht hoch, aber sie machte es in einer einzigen Bewegung. 48
Als sie hinter mir saß, verstand ich, was der vorherige Besitzer gemeint hatte, als er mir von dem Sattel erzählte. Sie saß so an mich gedrückt, daß ich sie ganz genau spüren konnte, vor allem ihren Unterleib. Ich habe mir die kleine Rückenstütze später noch einmal genau angesehen, und sie hat einen Knick. Dieser Knick schiebt die Vagina hoch, genau gegen die Gesäßspalte des Fahrers. Ich würde niemals einen Mann hintendrauf haben wollen. Ich fuhr langsam an. Zum Losrasen bin ich zu alt. Mit meiner kleinen BSA war ich auch vorsichtig beim Anfahren. Imposantes Anfahren ist eher etwas für die ohnmächtige Mopedjugend. Bei einer Harley weiß jeder, daß du schnell fahren kannst. Ich habe die schönste Route ausgesucht an diesem Abend, über einen Deich den Fluß entlang und später auf der anderen Seite zurück. Sie hatte die Arme erst um meine Taille gelegt, doch später ließ sie mich los; wieder später hielt sie meine Schenkel fest, aber unnachdrücklich und ohne den Druck ihrer Hände zu verändern. Als wir unter einer Laterne herfuhren, schaute ich mich kurz um. Sie lächelte. Sie hatte einen breiten Mund und volle Lippen. Das Lächeln war verträumt, und ich hatte den Eindruck, daß sie tief atmete. In einer Kneipe haben wir Bier getrunken, am Tresen. Jeder zwei große Gläser. Nach dem zweiten Glas hielt sie kurz meine Hand, und ich habe ihr Haar gestreichelt. »Hattest du auch etwas davon?« fragte sie. Aber bei einem Mann ist es anders, denke ich. Ich hatte keine Lust zu versuchen, es ihr zu erklären, statt dessen habe ich mich über sie gebeugt und ihre Wange geküßt.
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Meine Frau ist jetzt wieder zu Hause. Es sieht ganz so aus, als sei sie bei ihrer Schwester noch dicker geworden. Ich habe ihr heute abend bei der Bettwäsche geholfen.
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Wie schön! Jean-François war immer der Vernünftigste gewesen, deshalb ging er ja auch fort. Es war nicht zum Aushalten, dachte er, diese Leute sind verrückt, das wird nie etwas. Die Gruppe, angeführt vom verrückten Harmpje, war auch verrückt. Jean-François wußte zum Beispiel nicht, wer sein Vater war. Er mußte in einer der Hütten zur Welt gekommen sein, eine Hütte auf einem Hügel im Sumpf an der Nationalstraße 197, ganz in der Nähe der Küste des Staates Maine, im Nordosten der Vereinigten Staaten, an der kanadischen Grenze. Die Gruppe, die diese Hütten bevölkerte, war hervorgegangen aus dem verrückten Harmpje, einem niederländischen Schiffszimmermann, der lange vor dem Krieg, wie er sagte, in der Wildnis angespült worden war und sich gleich dort niedergelassen hatte. Dann hatte er eine dahergelaufene französischsprachige Kanadierin, Emalie, zu sich hereingeholt und prompt geschwängert. Damit fing es an. Hubèrt kam zufällig daher und ging nie mehr fort. Hubèrt war nicht normal, bei Vollmond lief er über die Sumpfwege und sang; wenn kein Vollmond war, holte er sich seine Stütze bei der Armenfürsorge im Dorf und trank Bier. Hubèrt arbeitete nie, doch auch er schwängerte dahergelaufene Frauen, und der verrückte Harmpje zimmerte Hütten für sie. Ein guter Zimmermann war Harmpje nicht, daher war er in der grauen, unerforschlichen Vergangenheit von seinem Kapitän über Bord geworfen worden. Seine Hütten hatten alle möglichen Formen 51
und bestanden aus irgendwo zusammengelesenem und herbeigeschlepptem Wrackholz. Harmpjes Söhne, oder die Söhne von Hubèrt, lernten ebenfalls nur schlecht zimmern. Zuletzt standen an die zwölf Hütten, und dann gab es noch kleine Verschläge, in denen die Notdurft verrichtet oder irgendwelches Zeug aufbewahrt wurde. Es fehlte dem Stamm nie an irgendwelchem Zeug. Es gab einen Gemeinschaftsbesitz von mindestens sechs Autos, von denen meistens auch eines funktionierte; dann waren noch Boote da, mit denen man heimlich Krabben und Krebse fing; weiterhin gab es Schneemobile, Motorräder und Trecker. Ein schlechter Mechaniker war Harmpje auch. Er konnte Motoren für eine kurze Zeit wieder in Gang bringen. Auch hatte er ein bißchen Ahnung von Kühlschränken, elektrischen Haushaltsgeräten und trickreichen Fallen, mit denen er Kaninchen und Stachelschweine fing, die er von der nächstbesten vorüberschlurfenden Frau schlachten und braten ließ. Essen gab es genug, man betrieb sogar Landwirtschaft. In den Unkrautfeldern um die Hütten herum wuchs alles mögliche, Chinakohl zum Beispiel, und Mais und schmackhafte Kräuter. »Gut geht’s«, sagte Harmpje, wenn er spät aufstand und sich einen Weg durch die leeren Bierdosen freikickte. Er sagte das dann zu jemandem, dessen Namen er nicht wußte, der jedoch unzweifelhaft mit ihm verwandt war. Manchmal wohnten an die fünfzig Erwachsene in der Ansiedlung, ohne die überall herumkrabbelnden Kinder. Die größten von ihnen wurden morgens mit dem Auftrag in den Schulbus getrieben, sich das kostenlose Mittagessen gut schmecken zu lassen und bloß nicht zu früh zurückzukommen. Jean-François war, Jahre hindurch, eines dieser Kinder und fiel auf durch sein abweichendes Verhalten. Jean-François war neugierig. 52
Mit einiger Mühe stellte er fest, daß Nathalie, eine Nichte von Emalie, wahrscheinlich seine Mutter war und daß einer von Harmpjes oder Hubèrts Söhnen wohl sein Vater sei. Er entdeckte auch, daß die anderen Kinder zuviel Krach machten, und stahl ein Zelt, von Campingreisenden, so daß er alleine wohnen konnte; noch später baute er seine eigene Hütte, die sich von den anderen abhob, weil er nur eine Sorte Holz verwendet und die Wände rechtwinklig zueinander gezimmert hatte. In dieser Hütte lernte Jean-François, und er wohnte darin, bis er den mittleren Schulabschluß bestand. Sein Kontakt mit den anderen dauerte fort, er aß aus dem großen Topf, in dem immerzu Suppe dampfte, und nagte an den Knochen von Hirschen, die meistens außerhalb der Saison geschossen worden waren. Ganz allmählich wurde Jean-François zum Idealisten. Er betrachtete das Verhalten seiner Gruppengenossen als unzulänglich, als schlecht sogar, und dachte vage über Verbesserungen nach. Weil jeder glücklich zu sein schien, mußte er seine Theorien immer wieder abändern, aber eine gewisse Leitlinie ließ sich aufrechterhalten. Er sah, wie die Bevölkerung der Umgegend lebte, in ordentlichen kleinen Häusern, aus weißen, verfugten Brettern gezimmert. Er sah auch, wie die Ansiedlung inmitten der allgemeinen Ordnung weiterwucherte, wie ein Geschwür, abgeschirmt durch die im Sumpf wachsenden Erlenwälder. Manchmal hatte er, zur Verzweiflung gebracht, Visionen von Bulldozern, die das Gerümpel zu einem Haufen zusammenschöben und ein Loch grüben und allen Abfall, die Menschen und alles Zeug, in die gähnende Öffnung schöben und mit frischer Erde bedeckten. Diese Lösung von amerikanischer Einfachheit freute ihn. Er selbst würde nicht im Loch landen, er bliebe seitlich, gekleidet in eine neue Jeans und knö53
chelhohe, geputzte Stiefel und eine karierte Jacke. Mit dem Begraben seiner unbegreiflichen und dreckigen Herkunft würde sein neues Leben beginnen, bis in die Einzelheiten geregelt und ohne Unsinn. Jean-François wurde Matrose auf einem Küstenschiff, das Kartoffeln transportierte, von einem kanadischen zu einem amerikanischen Hafen. Einmal in vierzehn Tagen kam er nach Hause, Bücher unter dem Arm, denn er lernte Steuermann. Eines Tages geriet er mitten in ein Fest. Eines der Mädchen, Zazie, heiratete einen Herrn von außerhalb. Der Herr paßte gut in seine neue Umgebung. Er war klein von Statur und hinkte. Er konnte weder lesen noch schreiben. Er war immer gut gelaunt und erhielt eine Beihilfe von der Fürsorge. Sein Wortschatz beschränkte sich auf »ja«, »nein« und »hahaha« ; sehr selten sagte er »nichts« und schaute dann noch entzückter drein. Zazie war dreimal so dick wie er und überragte ihn um einen ganzen Kopf. Für das Fest war viel Bier eingekauft worden, und in der Suppe trieben Teile von abnorm großen Krebsen. Es war Vollmond, und Hubèrt, begleitet von einigen seiner Söhne, irrte in ungeordneten und sich jedesmal anders wiederholenden Mustern zwischen den Ansammlungen von Objekten umher, mit denen sich die Gemeinschaft in letzter Zeit bereichert hatte. Ein Baby saß in einem mechanischen Schaukelstuhl, der auf seine Höchstgeschwindigkeit eingestellt war, unter einem vom Fabrikanten fürsorglich angebrachten Schild, auf das in deutlicher Blockschrift die Worte BABY NIE ALLEIN SCHAUKELN LASSEN gepinselt waren. Niemand kümmerte sich um das wüst hin und her schlingernde, grinsende Kind. Zwei Jugendliche schlugen sich mit Brettern, in welche Nägel gehauen waren, wurden jedoch, als sie zu 54
bluten anfingen, mittels einfacher, gutgezielter Flaschenschläge von Emalie – oder Nathalie – ruhiggestellt. Jean-François, in einiger Entfernung, trank Bier. Zwei Plattenspieler spielten Rockmusik, nach welcher sich Kleinkinder eckig bewegten, ihren Takt ändernd, wenn sie in den Bereich eines anderen Lautsprechers gerieten. Ein Baby, das in die Toilette gefallen war, wurde in ein Faß getaucht und saubergewaschen. Hubèrt kam erneut vorbei, zahnlos vor sich hin murmelnd, und hielt seine zerrissene Mütze in den Händen. Zazie, einen Augenblick von ihrem Ehemann allein gelassen, verkroch sich mit einem Cousin oder Bruder, um kräftig mit ihm zu rammeln, wobei sie sich durch ihren hochschwangeren Zustand nicht hindern ließ. Jean-François besah sich das Geschehen und hörte Harmpje zu, der in der Stammessprache – einer um englische Schlüsselbegriffe gebogenen Mischung aus Niederländisch und Französisch – seine Gedanken vor sich her sprach. »Ich werde zu alt, und ich bin krank«, sagte Harmpje, »obwohl es in Ordnung ist, denn so ist es eben.« Der Lärm schwoll weiter an, und man schlug sich erneut; die Verlierer wurden mit Schwämmen gesäubert, und die Gewinner vergriffen sich an Brüsten und Hinterteilen, ehe sie ihre kichernde Beute ins dunkle Dickicht schleppten. Jean-François faßte seinen Entschluß. Er würde sie retten. Er fühlte sich etwas besser. Das Küstenschiff transportierte außer Kartoffeln auch Haschisch und Marihuana. Während der darauffolgenden Reisen warf JeanFrançois in Plastik verpackte Ballen über Bord; manchmal einen, manchmal mehr. Er kannte die Strömungen und wußte, wo sie angespült werden würden, und der Kapitän verdächtigte einen anderen. Er 55
barg die Beute in einer verlassenen Scheune und konnte über die Gangster, mit denen sein Kapitän handelte, ein gutes Geschäft machen. Von dem so erworbenen Kapital kaufte er ein Haus auf Harmpjes Namen. Er nahm den Mann, der sein Großvater, sein Vater, sein Onkel oder sein Großonkel war, mit zu dem Haus. »Für dich.« »Für mich?« Harmpje war entzückt. Harmpje faßte ebenfalls einen Entschluß. Er war zu alt jetzt und zu krank. Allein mit Emalie und Nathalie, würde er sich zur Ruhe setzen in diesem schönen Haus, solide gebaut, mit einem Garten nach vorne und hinten hinaus. »Nicht mit den anderen«, sagte Jean-François. »Welche anderen?« fragte Harmpje. Er hatte sie schon vergessen. Und so geschah es. In das beste Auto wurden die besten Sachen getragen. Beim Abschiedsfest wurde jeder Protest mittels Flaschenschlägen unverzüglich und ausreichend unterdrückt. Hubèrt sang ein Lied, zu dem der Stamm einen murrenden Refrain brummte. Ein neues Baby schlug in der mechanischen Schaukel hin und her. Das Fürsorgebier floß schäumend durch zu dicke oder zu dünne Leiber. Die Plattenspieler waren kaputt, doch blecherne Radios pumpten den gleichen Rock durch die Sumpfnacht. Vom Sheriff vorübergehend freigelassene Jugendliche befruchteten einander auf moosbedeckten Steinen. Bei Morgengrauen führte Jean-François seinen Stammvater zum wartenden Automobil; danach suchte und fand er Emalie und Nathalie und schob ihre wabbeligen Fleischmassen auf die Rückbank. Er brachte sie zum Haus, wo gemachte Betten auf sie warteten. Danach ging er ins Dachzimmer und ordnete auf einem rechtwinkligen und stabilen Arbeitstisch seine Lehrbücher. Ruhig schlief er ein. Schnuppernd erwachte Jean-François. Er rannte nach unten. 56
Harmpje heizte den Küchenofen. Der Ofen war groß, und das Feuer loderte hoch auf. »Ha!« sagte Harmpje. »Zeit fürs Frühstück. Eier mit Speck. Ein Kaninchen dazu. Salat. Ein neues Leben.« Jean-François schnupperte noch immer. Er ging wieder nach oben. Das Haus hatte leergestanden, jahrelang. Das durchgerostete Ofenrohr glühte hinter der Täfelung und am Rand des Daches. Flammen leckten sich frei, während er zusah. Er ging wieder nach unten. »Das Haus brennt, Harmpje.« Jean-François erinnerte sich, daß er das Haus noch nicht versichert hatte. Das hatte er heute vorgehabt. Der Morgen war gerade erst angebrochen, da brannte schon das Haus. Er schleppte Emalie nach draußen, sie schlief noch, auch auf dem Gartenstuhl. Eine Minute später schlief Nathalie neben ihr. Das Haus brannte jetzt mit lodernden Flammen. Harmpje ging durch den Garten. Er versuchte, sich den Brand von allen Seiten gleichzeitig anzusehen, aber das funktionierte nicht, nicht einmal, wenn er rannte. Harmpje lief um das Haus herum, die Arme schwenkend, und krähte vor lauter Freude. Jean-François war nicht glücklich. »Wie schrecklich. Jetzt mußt du wieder zurück.« »Was? Was?« rief Harmpje. Jean-François brüllte es dem Erzeuger ins Ohr, über das Knacken und Lodern der Flammen hinweg. »Nein, nein!« rief Harmpje zurück und schaute weiter den Flammen zu, die über das Dach hinleckten und sich tanzend begrüßten. »Alles ist umsonst gewesen«, sagte Jean-François. »Ich kann euch nicht retten. Ich kann mich selbst nicht retten. Es ist genau wie 57
das eine Mal, als wir alle eine Schiffsreise machten und das Schiff sank, und Konstantin ertrank. Es ist genau wie das eine Mal, als Rudolf, der Grips hatte und in der Schule Preise gewann, zwischen den Schneemobilen plattgewalzt wurde. Es ist genau wie Vietnam. Es ist genau wie General Stroessner in Paraguay. Der Kreislauf ist immer vollständig, und der Mensch dreht sich mit. Gott ist verrückt. Außerdem ist er nicht da. Er ist nie dagewesen. Es hat keinen Sinn, die Lage zu verändern, denn die neue Lage ist genauso. Das Baby schaukelt mechanisch, bis das Rädchen bricht und es gegen die Zimmerdecke geschleudert wird. Ich werde alt werden und krank, genau wie du, du Gauner, der du, obwohl du alles falsch gemacht hast, den Kreislauf auch nicht hast unterbrechen können. Du hast keine Schuld, denn es kommt, wie es kommen muß, und das Weltall wird sich letztendlich in einem vernichtenden Seufzer vernichten. Das Ende des Elends ist erneut dessen Anfang. Alles ist falsch, und wenn du den Fehler falsch interpretierst, ist es immer noch falsch. Daß ich mein Bestes tue, ist dumm, aber es ist nicht dümmer, wenn ich nicht mein Bestes tue.« Jean-François weinte. Der verrückte Harmpje lachte. Die Flammen hatten keine eigene Gestalt mehr, sondern verschlangen das Haus in einem zischenden, knisternden, blendenden Meer. Harmpje stand in dem hohen Gras, vor seinen schlafenden Frauen, und legte seine Hand auf den Arm seines weinenden Nachfahren. Er schaute zum Feuer. »Wie schön, Jean-François«, flüsterte Harmpje. »Wie schön!«
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Der Flötenspieler Ich sehe lieber nicht in den Spiegel, wenn ich mich rasiere. Normalerweise hänge ich ein Handtuch über das Glas, aber diese Woche, auf dem Nachhauseweg, ging es nicht anders. Ich mußte an einer Ampel warten und sah mich in einem Schaufenster. Was ich sah, war häßlich und betrüblich zugleich. Wer vergeudet gern Zeit und Mühe mit der Beobachtung eines farblosen, glatzköpfigen Männchens in einem altmodischen Anzug (ich habe ihn schon seit Jahren, Kammgarn verschleißt nicht), der auf einem durchgerosteten Fahrrad sitzt? Ein Männchen in den Fünfzigern, mit einer heruntergerutschten Brille auf der Nase, leicht schwitzend, denn das Fahrradfahren kostet mich Anstrengung. Eigentlich müßte ich im Stedelijk-Museum stehen, ausgestopft auf einem schief angebrachten Podest, als ein Beispiel moderner Nichtssagendheit. Ich war übrigens ganz in der Nähe des Museums, doch das hatte um die Uhrzeit schon geschlossen. Ich mußte den Rest des Willemsparkwegs hinunter und durch die Sträßchen um das Museum herum, danach wieder einmal mein Leben auf dem Leidseplein riskieren und schließlich in die lange Marnixstraat hinein, wo Susanne und ich unsere Wohnung im Obergeschoß haben, seit gut dreißig Jahren. Susi ist, genau wie ich, ebenfalls farblos, gekleidet in ein zehn Jahre altes Sonderangebot. Abends sitzen wir vor einem Schwarzweißfernseher und essen holländische Kost. Voller Durchhaltevermögen erleben wir immer dasselbe und tun es unseren guten Eltern damit gleich. Daß es so mit mir gehen mußte, dachte ich, einen 59
geflickten Schuh auf dem Bürgersteig, und immer noch geht, und weitergeht, für immer und ewig, denn der Gedanke an den Tod war noch nicht in mir aufgekommen. Ein Ende würde erlösend sein, aber der Begriff war unsichtbar weit weg. Alles immer wieder, tagein, tagaus, wie viele Tage gab es noch? Wieviel millionenmal würde die Sonne, hinter Wolken versteckt, mich noch umkreisen? Daß ich, ein zappliges Kind, erfüllt von wechselnden und gar nicht einmal so vagen Vorstellungen, ein Konfektionsprodukt werden würde, ist ein grausames Wunder, aber ich kann mich sehr gut erinnern, wie mein Leben diese Wendung nahm. Susi wurde schwanger, und ich, in eine von Messern und Nägeln verkratzte Schulbank gequetscht, sah ein, daß ich arbeiten mußte, geradlinig, pflichtgetreu. Susis Zustand in der damaligen Zeit, das war schon ungewöhnlich, denn sie war sechzehn und ich auch. Sie bekam einen dicken Bauch, die arme Suse, von mir, weil wir heftig herumgefummelt hatten, während einer Fahrt entlang der Amstel. Wir lagen unter- und übereinander, schlampig neben unseren hingeworfenen Fahrrädern, und ich besaß sie, vergoß meinen Samen, der ihr Ei schwellen ließ. Wir heirateten – sie verließ die Schule –, und die Eltern bezahlten ein Zimmer, und Pietje kam und wurde Piet, und inzwischen rackerte ich mich mit meinem Abitur ab (alles Zweien) und den Kursen, als ich der jüngste Bedienstete bei der Bank wurde. Bediensteter bin ich noch immer, bei derselben Bank, und Piet bezieht wieder Sozialhilfe in Rotterdam – ich glaube nicht, daß er, alles zusammengenommen, mehr als ein Jahr gearbeitet hat –, und Susi poliert die Möbel vorne im dritten Stock, mit Aussicht auf die Straßenbahnstangen, die die Leitung in der Marnix-Rinne entlangknirschen. So geht es mir, anderen ergeht es anders. Sie ist nichts Besonderes, Susi, genausowenig wie ich. Wir haben 60
einander noch nie etwas zu erzählen gehabt; so bekommt man auch keinen Streit. Man muß die positiven Seiten sehen, das habe ich irgendwo gelesen, und ich habe meine Schallplatten. Auf allen Platten ist Flötenmusik. Ich selbst spiele nicht Flöte, ich habe es oft genug probiert, aber ich kann keine Note rund bekommen. Zuhören kann ich allerdings schon, durch einen Kopfhörer inzwischen, denn Susi mag keine Musik. Ich drehe den Regler voll auf, und die Musik füllt meinen Schädel und alles ringsum. Ich will nicht sagen, daß ich dann glücklich bin, Glück ist ein großes Wort für jemanden von meiner beschränkten Art, aber unglücklich bin ich bestimmt nicht, wenn ich der Musik anderer zuhöre. »Was ist Existenz?« fragte der Pastor in der Sonntagsschule, und ich sagte, daß es die Musik im allgemeinen sei und Musizieren auf einer Querflöte insbesondere; die Noten flimmern und erklingen lassen, steigen und fallen, ineinander überspringen oder mitunter auch weiterlaufen lassen, oder plötzlich abbrechen, um auch die Stille wirken zu lassen, und auch die Stille wieder mit neuen Trillern zu umrahmen. Das verstand dieser Mann nicht, er wollte etwas von Christus hören und den Lämmchen Gottes und der Nächstenliebe und dem ganzen Quatsch. Er war so ein schöner Mann, mit einer Hakennase und einer flachen Haarlocke und einer so tiefen berauschenden Stimme, und ich piepste da irgend etwas von Flötenmusik. Ich wollte nicht mehr zur Sonntagsschule danach, und mein Vater fand das nicht gut. Mein Vater machte sich Sorgen um mich, weil ich ziellos umherirrte und alles wissen wollte und nichts zu Ende brachte und auf der Schule Vieren bekam. Erst nach dem Entstehen des embryonalen Pietje kam eine klare Linie in mein Leben – »Das Unglück ist ein Segen Gottes«, sagte mein Vater, und meine Mutter sprach von Schaden und 61
Klugwerden – so landete ich auf dem Fahrrad und in meinem Anzug aus Kammgarn, komplett mit Krawatte, die ich nicht einmal in meiner Freizeit lockerte. So wurde ich zu diesem Trottel, den ich selbst nicht verstehe und mit dem ich lieber nichts zu tun haben will, aber wir sind aneinandergekettet, und jeden Morgen weckt er mich, und dann wasche und rasiere ich ihn, ziehe ich ihn an, setze ihn auf sein Fahrrad, und dann beginnt wieder so ein Tag. Andere werden entlassen oder treten in vorzeitigen Ruhestand. Jeder bekommt Zuwendungen, hat es den Anschein, aber ich muß weiterarbeiten, um die Eintönigkeit zu wiederholen, die Klare Linie im Leben heißt. Verfolge deinen Weg in Zufriedenheit und Demut, so der oben erwähnte Pastor, der in die Blusen der älteren Mädchen starrte, und ich befolgte seinen Rat, ohne selbst in Blusen zu starren, aus Mangel an Gelegenheit. Ich wußte nicht, wie es weitergehen sollte, denn die Träume aus meiner Kinderzeit waren zerrissen und verweht. Ich träumte GraueMännchen-Erzählungen, mit einer einzigen Ausnahme, wie vor ein paar Nächten. Diese guten Träume vergaß ich meistens, denn was ich nach dem Wachwerden herbeizerren konnte, waren solch zarte Fetzen, daß sie nicht mehr zueinander paßten. Nur der von neulich war anders, und die Einzelheiten sind mir im Gedächtnis haftengeblieben, so daß ich mir das Erlebte noch einmal erzählen konnte wie einen Film, den man noch einmal ablaufen läßt, während man Papiere in Mappen ordnet. Mein Traum war (jetzt sitze ich vor dem Fenster, die vorüberrumpelnden Straßenbahndächer betrachtend, denn Susi ist etwas in Verzug mit dem Eintopf) – ich war im Himmel, und ich spielte Flöte. Das klingt einfach genug, aber der Traum war voller Bilder, die ich 62
nicht so einfach beschreiben kann. Der Himmel ist ein erfreulicher Ort, aber wir wollen immer vergleichen, und gerade die wichtigsten Aspekte des Himmels liegen außerhalb akzeptabler Definitionen. Es gab weder Zeit noch Raum in meinem Himmel, die Vergangenheit war die Gegenwart und ging nicht in die Zukunft über. Es gab auch kein Hier und Dort, und man war immer dort, wo man sich über seine Existenz bewußt wurde; soll einer jemals versuchen, dies alles in Worte zu fassen. Wie dem auch sei, der Himmel existierte, und ich war da und spielte Flöte. Das Instrument war aus Bambus geschnitten, und ich kam vorzüglich damit zurecht. Ein Bambusstengel hat innen Härchen, und es hatte den Anschein, als könne ich jedes Härchen einzeln wehen lassen, berühren mit meinem Atem, um noch präzisere Klangeffekte zu erzielen. Ich spielte rein oder heiser, wie es mir gefiel, und auch die heiseren Töne klangen wirklich rein. Was ich spielte, war, was ich sah: Vögel und Blumen, die schwingende Oberfläche eines Teichs, die Bewegungen der Goldfische zwischen den Wasserpflanzen. Ich flötete die sich bewegenden Schwanzflossen und ihre glänzenden Leiber. Es gab auch Schmetterlinge (was gab es nicht?), deren zarte und doch straffe Flügel in meinem Geflöte widerhallten. Ich erzähle mir selbst diese Erinnerungen, aber auch diese begrenzte Zuhörerschaft habe ich zu respektieren. Ich darf mir nicht weismachen, daß ich dort, am jenseitigen Ufer der menschlichen Beschränkung, das auch deren Kehrseite ist, nichts anderes tat, als zufrieden zu tirilieren in einem imaginären, aber deshalb nicht unwirklichen Paradies. Ich wurde auch von anderen Flötisten unterrichtet, die mich mit ihnen mit und durch sie hindurch blasen ließen, und wenn es Frauen waren, umschlossen sie mich in ihrer Umarmung, und ich 63
wurde fertig (das ist nicht das richtige Wort, denn an »fertig« hängt ein Ende), während ich weiterflötete und die Emotion mein Lied wurde. Es war dort göttlich schön, womit ich meine, daß das Schöne unbeschränkt war und sehr einfach in unendlicher Kompliziertheit. Alles, was ich wollte, erwies sich stets als möglich, und mein Glück war groß, bis ich gegen eine Mauer stieß, die mir den Weg versperrte. Die aufgestapelten Felssteine waren von Zierpflanzen und Moosen überwuchert, und die Absperrung störte mich nicht, bis ich die Flöte hörte, deren Klang durch die Mauer auf mich zukam. Was ich hörte, war meine eigene Musik, aber um ein Haar empfindsamer und einen Hauch vollkommener. Ich versuchte mitzuspielen, doch nahm mein Instrument erschrocken vom Mund. Was ich blies, war falsch. Nun bin ich keine allzu intelligente Seele, doch hat mich eine lange Routine als graues Männchen Bescheidenheit gelehrt. Wenn derjenige, der hinter Weinlaub und Steinmoosen verborgen, schöner spielte als ich, dann wünschte ich ihm Glück mit seiner Kunst und zog mich in den Bereich der Möglichkeiten meines eigenen Talents zurück. Ich beschloß, denn Beschlüsse waren offenbar selbst im Himmel möglich, die Mauer Mauer sein zu lassen und zum Teich zurückzukehren, um nach Herzenslust durch meine Flöte atmen zu können, in Harmonie mit der vorrätigen Natur und unterstützt durch Gleichempfindende, die ich immer um mich sah, wenn ich ihre Gesellschaft wünschte. Ich streunte zufrieden umher, bis ich, während eines Augenblicks der stillen Ruhe, wieder von weitem die Flöte hörte. Es gibt keine alten und jungen Leute im Himmel, aber ich fand dennoch jemanden, eine Frau, von der ich annehmen konnte, daß sie über einige Erfahrung im Himmelsgenießen verfügte, und fragte sie, nachdem wir musizierenderweise die Liebe betrieben, was das mit der 64
Mauer und den geheimnisvollen, lieblichen Klängen auf sich hatte, die durch die Blätter der Blütensträucher rauschten und die grünglänzenden Moose entlangglitten. »Ach, das«, sagte sie und küßte meine Wange, »das ist die andere Seite, dorthin darfst du noch nicht.« Ihre Antwort beruhigte mich einigermaßen, aber ich blieb neugierig und fragte mich, ob ich nicht über die Mauer klettern könnte, notfalls heimlich, und dann rasch wieder zurück. »Das tut weh«, sagte sie, denn sie hatte meine unausgesprochene Frage gehört, »aber ich kenne jemanden, der den Schmerz beseitigen kann.« Sie verflüchtigte sich aus meinem Arm, und eine neue Form nahm ihre Stelle ein. Ich ließ sie los, denn ich schmuse nicht mit Männern. »Ja?« fragte der Mann. Ich erzählte ihm von der Mauer. »Heimlich geht es nicht, dieser Begriff hat hier keine Bedeutung, aber ich will dich wohl dorthin bringen, halte nur meine Hand.« Gesagt, getan, wie es immer im Himmel geht, und Hand in Hand schwebten wir über die Mauer, auf die Musik zu, die ich noch immer hörte. »Siehst du, wer da spielt?« fragte mein Führer. Ich war es selbst, und jener andere, der ich selbst war, schenkte mir keine Aufmerksamkeit, sondern spielte ruhig weiter, und ich verstand, was ich hörte. Ich ließ die Hand meines Führers los. »Au!« »Du darfst mich nicht loslassen«, sagte mein Führer. Ich griff nach seinem Arm, und sobald meine Fingerspitzen ihn berührten, hörte der Schmerz auf. Ich weiß, was Schmerz ist – ich habe einmal einen entzündeten Blinddarm gehabt, der in meinem Bauch 65
platzte. Die reißenden Stiche glühten und brannten in meinem Körper, und ich kroch über den Boden, bis ich ohnmächtig wurde und im Krankenhaus aufwachte. Der Schmerz, den ich jenseits der Mauer fühlte, war schlimmer. »Weshalb hatte ich Schmerzen?« fragte ich den Führer. »Weil du nicht hierhergehörst. Komm lieber wieder mit mir zurück. Es hat keinen Sinn, das noch nicht Verdiente haben zu wollen.« »Und was ist mit dir?« »Ich bin von hier«, sagte der Führer, »aber ab und zu schaue ich bei euch vorbei, um zu helfen.« Ich wurde fast böse. Er hatte mir zu diesen Schmerzen verholfen und zu dem Erleben einer Schönheit, der ich besser fernblieb. »Hierher komme ich nicht mehr«, knurrte ich, »vielen Dank!« Ich war wieder in meinem eigenen Himmel zurück und flötete, daß es eine Lust war, und liebte und ließ lieben, aber ab und zu hörte ich doch wieder diese schreckliche Musik, die ich um Haaresbreite nicht nachspielen konnte. Ich begann, an den Führer zu denken, der schließlich auch kam. »Ja?« »Was jetzt?« fragte ich. Er zuckte die Schultern. »Du bist doch glücklich?« Das war schon so. Die Schmetterlinge und die Goldfische und die freundlichen Vögelein, die sich auf meine Hand setzten, wenn ich sie zu mir herbeidachte, und die schönen und vor allem lieben Frauen, es gab sie ebenso wie meine wundersame Bambusflöte, aber die andere Flöte gab es auch. »Es gibt ein Büro«, sagte mein Führer, »ich werde dich hinbringen. Es ist von hier, du mußt mich also nicht festhalten.« 66
Meine Bankvergangenheit verursachte mir ein Grausen vor allen Büros, und das kleine Gebäude, das der Führer mir zeigte, hätte gut in eine Amsterdamer Seitenstraße gepaßt. Es war eine quadratische Konstruktion, aus verwittertem Backstein hochgezogen, die Fenster waren nicht geputzt, und die Tür hing schief in den Angeln. »Das ist aber häßlich, dein Büro«, sagte ich, und der Führer lächelte. »Geh hinein.« Innen war ein Flur und ein Schalter. Ich spähte in einen kleinen Saal und sah einen alten Mann, der auf mich zuschlurfte. Mit seinem runden Glatzkopf und seinem verschlissenen Hemd glich er meiner eigenen irdischen Form. Ich erkannte sogar die Krawatte, die ich jeden Morgen anders knoten mußte, um die glattgewetzten Stellen zu verbergen. »Bitte, was möchten Sie?« Er blies auf die Brille, die ich träumend zurückgelassen hatte, in dem Zimmer im Halbgeschoß, wo Susi und ich unser Ehebett stehen haben, und putzte die Gläser sauber. Ich schwieg. »Mijnheer?« fragte der Gehilfe, genauso wie ich das sage, wenn mich in der Bank ein Kunde irritiert und ich in meiner Funktion als Dienstleistungssklave dennoch höflich bleiben muß. »Bin ich denn noch im Himmel?« fragte ich, denn seine schmuddlige Persönlichkeit stellte ihn außerhalb der Gesellschaft der Himmlischen, an die ich inzwischen gewöhnt war. Er nickte mir gelangweilt zu. »Doch, aber dies ist ein Durchgang, wissen Sie, von hier gelangen Sie anderswohin, falls Sie das jedenfalls möchten.« Ich erzählte ihm von der Mauer und dem Flötenspieler an der anderen Seite. »Augenblick«, sagte der Gehilfe und schob mir ein Formular zu. Es 67
war genauso ein lumpiges Papierchen wie die, mit denen ich auf der Bank umgehe, komplett mit Lochung, damit man es in einer Mappe ablegen kann. Todestraum stand obenauf, mit einem Schrägstrich, und danach Geburt. »Mußt du noch unterschreiben«, sagte der Bedienstete. »Und dann?« Er rieb sich die Lippen, ich dachte, er wolle gähnen, aber das war nicht so. »Dann darfst du es noch einmal versuchen«, sagte der Gehilfe. Ich starrte ihn an, und er zog den Schalter, der sich als halbe Tür entpuppte, zu sich hin und winkte mich in den kleinen Saal. Ich mußte Platz nehmen, und er schaltete das Licht aus, und ich hörte einen Apparat summen. Auf der Wand erschienen Bilder und sich bewegende Figuren in verschwommenen Sepiatönen. »Weißt du noch?« fragte der Bedienstete. Ich wußte noch, aber es war lange her. Ich sah einen schludrig gekleideten jungen Mann, der in einer Kneipe Flöte spielte. Es wurde getanzt und gestampft, und Bier wurde in große Zinnkrüge ausgeschenkt. Der junge Mann war ich, und ich trank kräftig mit, und jedermann feierte. Die Inszenierung wechselte, ich sah mich in einem Gefängnis, in einem primitiven Krankenhaus. Ich hatte einen Lappen auf meinem Kopf und schien nur schwer Luft zu bekommen. Der Gehilfe schaltete den Apparat aus und machte das Licht wieder an. »Das ist von früher«, sagte ich, »und außerdem vorbei.« »Du starbst. Du konntest gut spielen, aber du hieltest nie durch. Dann kamst du hierher, nicht genau in diesen Himmel. An der anderen Seite ist auch eine Mauer, weißt du, und dahinter wiederum ein Park, 68
etwas weniger schön als das, was du hier um dich herum siehst, denn da halten sich die Geringeren auf.« Der Bedienstete lehnte sich gegen einen Tisch, die Hände in den Hosentaschen, genau wie ich selbst das tue in der Bank, wenn ich ein vertrauliches Gespräch führe. »Hör zu, damals spieltest du gut, aber du warst ein Versager, und du lagst in der Gosse. Talent allein bringt dich nicht in die höchsten Höhen. Es war damals genauso wie jetzt, du hörtest dich selbst spielen auf der anderen Seite der Mauer, und ich gab dir denselben Rat, den ich dir jetzt gebe. Geh zurück und lerne etwas.« »Wieder zurück ins irdische Leben? Zum ÜberdrüssigGewöhnlichen?« »Wenn du es so nennen willst«, sagte der Gehilfe, »denn gewöhnlich ist es sicherlich nicht, und Lernen macht immer Spaß.« Ich fluchte. Spaß. Mit Susi fünfunddreißig Jahre lang in demselben Ehebett zu schlafen? Eintopf essen, der wie Kotze aussieht und nur wenig besser schmeckt? Quietschend auf einem klapprigen Fahrrad über den Willemsparkweg, jeden Tag wieder, sogar zweimal, und immer gegen Regen und Wind ankämpfend? Musikkonserven hören durch einen kneifenden Kopfhörer, der dir die Ohren jucken läßt? Es stimmte nicht. Ich hatte das Formular gesehen. Der Todestraum, aber ich war noch nicht tot, ich träumte nur. Es war zu früh. »Jaja«, sagte der Bedienstete. »Aber wie verhält es sich dann?« »Du kannst dir die Mühe dieses Himmels ersparen«, sagte der Bedienstete. »Du bist beinahe fertig damit, das graue Männchen zu spielen. Der Traum ist ein kleiner Vorgeschmack auf das, was dich erwartet, von dem jenseitigen Frieden, der in Unfrieden übergehen wird. Ich 69
rate dir, dir diesen Himmel zu ersparen. Demnächst stirbst du auf Erden, weshalb gehst du nicht gleich wieder dorthin zurück?« Durch das offene Fenster konnte ich den himmlischen Garten sehen: Zweige mit frischem Laub, das sich im sachten, lauen Wind bewegte. Ein buntgefiederter Vogel ließ sich auf der Fensterbank nieder und sah mich mit seinen klaren Knopfaugen an. »Hier ist es gut«, sagte ich. Der Bedienstete schüttelte ein Stäubchen von seinem abgetragenen Ärmel. »Dann bleib noch etwas, aber du kommst ja doch wieder zu mir zurück.« »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben?« fragte ich. Er lächelte, und ich sah, daß schwarze Rillen seinen Zähnen Streifen verliehen, genau wie ich sie jetzt habe, jetzt wo ich nicht träume, sondern lebe. Er nickte mir ermutigend zu. »Alles wird stattfinden, das weißt du doch auch? Du wirst den Flötenspieler wieder hören, unzufrieden sein, selbst in dieser Vollkommenheit oder was du dafür hältst.« Ich bin etwas langsam von Begriff, aber die Wahrheit wurde mir doch allmählich bewußt. »Ist es denn so, daß ich immer weiter muß? Als ich in diesem antiken Film, den du gerade gezeigt hast, noch ein reisender mittelalterlicher Musikant war, hatte ich wohl genügend Inspiration, aber nicht die Kraft, durchzuhalten. Durchhalten habe ich jetzt gelernt, mit Susi und dieser Tretmühle von einer Bank. Was muß ich jetzt noch lernen?« Er machte vage Gebärden. »Weißt du es nicht?« »Doch«, sagte er leise. »So viel noch. Talent und Ausdauer hast du verdient, aber es ist nicht genug. Lerne vor allem, zu kombinieren und 70
zuzuhören. Die himmlische Musik hörst du auch als stofflicher Mensch.« Er sah mich auf einmal böse an, so böse, daß der Vogel im Fenster davonflatterte. »Das hier ist alles Unsinn, ein Ferienlager, brauchst du das wirklich? Möchtest du nicht lieber an dir arbeiten?« »Erzähl mir, wo und wie«, sagte ich, plötzlich entschlossen. Der Apparat summte wieder, und ich sah neue Bilder: ein Pornofilmchen – ein Herr entkleidete eine Dame, küßte sie, streichelte ihren Körper, es gab eine Großaufnahme von einem Penis, der pumpend eine Vagina füllte. Ich wollte protestieren, denn ich fand es überflüssig, schweinische Szenen zu sehen, aber die Bilder wurden schneller, und ich sah einen kleinen Jungen in einem Strampelanzug auf einem Rasen herumtollen. Der Bedienstete erklärte, das Kerlchen sei ich, aber ich wischte seine Erklärung beiseite. Wenn man seine Vergangenheit erkennt, kann man auch seine Zukunft vorhersehen, und auf der Leinwand war ich ein glückliches Kind mit perfekten Eltern, den Eigentümern der stattlichen Villa im Bildhintergrund. Ich sah mich aufwachsen, zur Schule gehen, Musik studieren, die Soloflöte auf einer großen Bühne spielen, ich hörte den donnernden Applaus. »Gefällt Mijnheer die Vorstellung?« fragte der Bedienstete. »Zu guter Letzt erreichst auch du den wohlverdienten Erfolg. Einen roten Teppich zur nächsten Geburt.« Ich sah, daß er einen Ballen Stoff unter seinem Arm hielt. »Halt«, sagte ich. Er sah mich schlau an. »Wieso halt?« »Die Musik klang nicht gut«, sagte ich beschämt. »Ich spiele jetzt schon besser als das, was war das für ein kommerzielles Getriller?« »Aber du spieltest doch für den Applaus? Du hast dich gut in dein Publikum hineinversetzt. Genau das war es, was sie hören wollten.« 71
»Ich möchte spielen, was ich selbst hören will, was ich jetzt von der anderen Seite der Mauer her höre.« »Sieh dir das einmal an«, sagte der Gehilfe. Der nächste Film gefiel mir weniger. »Aber der Mann ist blind«, sagte ich, als er die Apparatur wieder ausschaltete. »Ja.« »Und nicht nur blind, er ist außerdem auch noch arm. Dann bin ich wieder ein Penner und kann nicht einmal sehen, was man mir in den Hut wirft. Ich werde übers Ohr gehauen, auch wenn ich noch so gut spiele.« Er zuckte die Schultern. »Du hörtest doch, wie du spieltest?« Seine Stimme klang ungeduldig, und er ging auf mich zu, als wollte er mich aus seinem baufälligen Gemäuer hinausschieben. »Warte«, sagte ich. »Muß das wirklich so sein? Was du mir vorspiegelst, ist nichts als Elend, und ich war schon mit so viel Betrüblichem beschäftigt. Das letzte Mal, als ich noch ein Trunkenbold und Nichtsnutz war, ging es auch nicht gut, da starb ich bei der Heilsarmee.« »Die gab es damals noch nicht.« Jetzt war ich dabei, ungeduldig zu werden. »Mag es zu der Zeit geheißen haben, wie es will: die Nönnchen vom guten Herzen, die Zeugen Wodans. Wohin du mich jetzt haben willst, ist wieder das Armenhaus.« Er beugte sich zu mir hin. »Aber deine Einsicht nimmt doch zu, wurde die Musik nicht schöner?« »Sei vernünftig«, sagte ich bissig. »Das ist eine Litanei, die nie aufhört. Leben auf Leben, Überdruß auf Überdruß, Schmerz auf Schmerz. Du gleichst mir, du weißt, wie es ist, mit Susi zusammenzu72
wohnen und in einer Bank zu arbeiten, die lieber Menschen zu Federfuchsern macht, als daß sie sich einen vernünftigen Computer anschafft. Jedes Leben bringt seinen eigenen Schmerz mit sich. Erst war ich dem Alkohol verfallen, dann dem Alltagstrott, und jetzt willst du mich zum Behinderten machen. Muß ich mich wirklich blind durch eine ganze Existenz tasten, nur um noch subtiler auf einer Querflöte zu musizieren?« »Jeder hat seine eigene Spielart«, rechtfertigte er sich. »Bei dir ist es die Musik, ein anderer versucht, etwas zu erfinden, wieder ein anderer schafft sich eine noch größere Not: Es gibt fromme Seelen, die behaupten, sie wollten Gottes Angesicht sehen. Letztendlich läuft es auf dasselbe hinaus.« »Entwicklung ist mir scheißegal.« Er lachte. »Gott bist du auch scheißegal.« Ich seufzte. »Ich bin nicht gläubig.« Er seufzte auch. »Gib dem Kind meinetwegen einen anderen Namen. Du suchst den endgültigen Akkord, den Klang, an dem nichts mehr auszusetzen ist. Du willst die letzte Note durch die Grenzen des Weltalls hindurchblasen.« »Vielleicht will ich überhaupt nichts«, sagte ich, »vielleicht will ich einfach aufhören. Du bist so etwas wie eine Autorität, du stehst hinter einem Schalter und teilst Formulare aus. Kannst du das nicht für mich regeln?« »Aber gewiß«, sagte er herzlich und gab mir wiederum ein Papier. Ich las, was obenan gedruckt war, in demselben hinterwäldlerischen Buchstaben, der für das Todestraumformular Verwendung gefunden hatte. Durchbrechung des Zirkels – Vollständige Vernichtung. Er gab mir auch einen Plastikkugelschreiber. »Einfach unterschreiben«, sagte er aufgeweckt, 73
»und dann werde ich dich abführen lassen.« »Und dann?« »Dann bist du weg.« Er schien immer mehr Vergnügen am Verlauf unseres Gesprächs zu bekommen. »Und du nicht allein, sondern ich auch. Ich würde sehr gerne aufhören. Du meckerst jetzt zwar, aber für was hältst du meine Arbeit? Jede Stunde wieder ein neuer Jammerlappen, und dann muß ich zusehen, daß ich genauso aussehe wie er, bevor er hier landete, und mich einleben in seine nichtige kleine Existenz, und immer wieder dumme Filme vorführen und dämliche Fragen beantworten. Ich bin auch lieber weg als hier.« »Und der Flötenspieler an der anderen Seite der Mauer?« Er nickte froh. »Der verschwindet sofort mit. Alles hört auf. Was du wünschst, trifft ein. Wünsche nichts, und nichts passiert. Kein grauer Mann, der über sein graues Männerdasein lamentiert. Nur noch Leere und niemand, der die Leere erfaßt; ein großer Gedanke, los, deinen Wilhelm darunter.« »Hör nicht hin«, sagte er beschwörend, aber ich konnte mir nicht helfen. Die glockenhellen Töne des Flötenspielers perlten in den Saal hinein. Ich zerknüllte das Formular und warf es auf den Boden. Ich streckte meine Hand aus. »Also doch das andere?« fragte er höflich. »Ja, bitte«, sagte ich und unterschrieb schwungvoll. »Du mußt auch deine Wahl angeben«, sagte er pingelig, »einfach mit einem Häkchen. Was soll’s sein, reicher Leute Wunderkind oder der blinde Findling?« Ich kreuzte den Findling an, denn der spielte schöner. Und jetzt sitze ich immer noch hier, am offenen Fenster mit Blick auf die Marnixstraat; Straßenbahnen knirschen und klingeln, und hin74
ter mir dampft der Eintopf. Ich habe mir freigenommen heute, denn ich mußte zum Spezialisten. Ich habe es Susi noch nicht erzählt, aber ich habe einen Tumor im Kopf. Weil ich so ruhig blieb, erzählte mir der Arzt die Wahrheit. Ich kann behandelt werden, und dann lebe ich vielleicht noch ein Jahr, allerdings wird mir dann fortwährend schlecht sein, ich werde mein Gedächtnis verlieren und an Schwindel leiden. Wenn ich die Behandlung sausenlasse, bekomme ich schmerzstillende Mittel und bin in ein paar Wochen alle Sorgen los. Zur Bank gehe ich nicht mehr, ich kann einfach vor dem Fenster sitzen bleiben und den Verkehr betrachten. Meine Platten werde ich bestimmt nicht mehr hören, denn ich erinnere mich der Musik des Flötenspielers auf der anderen Seite der Mauer. Vor mich hin dösend, werde ich mir meine Variationen bewußt werden lassen und dann selbst spielen, wenn ich blind geboren werde. Das Merkwürdige ist, daß ich mich so zufrieden fühle. »Ja, Susi, ich komme schon.« Sie schöpft den Eintopf auf, ich greife mutig zu Messer und Gabel. Ich betrachte sie, während sie meinen Teller vollschöpft. Wie lange haben wir nicht miteinander gelebt, haben wir einander ertragen? In meinem himmlischen Traum habe ich sie nicht gesehen; vielleicht weil ich sie schnarchend zurückließ in unserem durchgelegenen Ehebett? Weshalb hatte sie wohl diesmal so lange in ihrer Trübsal gelebt, mich immerzu ansehend, auf mich wartend, für mich sorgend? Das einzige, was ihr Vergnügen bereitete, ist Sticken, aber sie denkt sich nie selbst einen Entwurf aus, ihre Nadel folgt dem vorgedruckten Stramin, den sie auf dem Markt kauft. Ich hörte vorgefertigte Musik, sie gab bereits vorgezeichneten Figuren süßliche Farben mit ihrem eifrig durchgezogenen Faden. Zusammen haben wir uns durch die graue Zeit gepreßt, und in Kürze ist 75
sie allein. Zusammen haben wir Ausdauer gelernt, um sie ein nächstes Mal zu benutzen. Würde sie große Wandteppiche entwerfen, auf denen ein goldenes Pferd durch einen Sonnenuntergang trabt? »Er ist lecker«, sage ich, »dein Eintopf.« Susi fängt an zu weinen. Ich schaue sie bestürzt an. »Du hast etwas Liebes gesagt«, sagt Susi. Habe ich fünfunddreißig Jahre lang nie etwas Liebes gesagt? Und jetzt sterbe ich auch noch. Eine schöne Bescherung.
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Tod eines Waldmurmeltiers Die ländliche Gegend Amerikas wird von vielerlei Menschen bevölkert, die wiederum in allerlei Arten unterteilt werden können. Doch weshalb sollte ich das versuchen: Es gibt die Art, die hier geboren ist, und es gibt die Art, die zugezogen ist. Die hier Geborenen wissen alles und hüten ihre Geheimnisse. Wenn sie ihre zerbeulten Kleinlaster in schneegefüllte Straßengräben fahren, sind sie im Handumdrehen wieder auf der Fahrbahn. Sie können Kürbisse auf dem Maisfeld anbauen, Flußfische mit der Hand fangen, Bier auf Kredit kaufen, und ihnen zerbricht nie der Stiel einer Axt. Es sind so richtig handfeste Menschen, und ich bewundere sie. Ich bin hierhergezogen und lebe hier noch nicht so lange, ungefähr fünf Jahre jetzt, doch das zählt nicht. Fünf Jahre lang habe ich die Winter und Sommer erlitten und dazwischen jeden Frühling und jeden Herbst erlebt. Ich habe die Farne aus dem Boden schießen sehen, wie aufgerollte Bischofsstäbe, und Ahornblätter in den unmöglichsten Farben. Seehunde sind hinter meinem Boot hergeschwommen, und manchmal kreist ein Adler über meinem Auto. Einmal, in der Eiseskälte des Aprils, drückte eine Böe mein Segelboot unter Wasser, und ich trieb in meiner Schwimmweste umher, bis ein alter Knacker in einem Ruderboot sich die Zeit nahm, mich zu retten. Auf dem Weg nach Hause begegnete er einem Freund und begann ein Gespräch, das er nach einer Viertelstunde unterbrach, weil mein Zähneklappern ihn störte. Ich bin zu mitternächtlicher Stunde, mitten im Januar, während eines 77
Schneesturms ohne Benzin liegengeblieben und fand mit meinem Tastsinn ein kleines Haus. Ein anderer alter Knacker betrachtete mich durch den Türspalt. »Kein Benzin, wie?« »Nein.« »Dann mußt du halt erfrieren.« Der Spalt schlug zu, und ich stand da und lauschte dem Sturm, der durch mein städtisches Hütchen pfiff. Die Tür öffnete sich wieder, der Knacker lachte lauthals. Er ging im Nachthemd, auf zerrissenen Pantoffeln hinter mir her und füllte meinen Tank aus einem Faß auf Rädern, in das er eine Milchflasche aus Plastik tauchte. Sie lassen einen nicht vor ihren Augen sterben, aber sie müssen doch lachen, wenn man versucht, am Leben zu bleiben. Und wenn man nur lange genug durchhält und sie nicht allzu offensichtlich bedrängt, erklären sie einem mitunter das ein oder andere. Es scheinen ja doch nette Leute zu sein, und wenn ich hier noch fünfzig Jahre wohne, werde ich ihnen gleichen, obwohl ich nie zu ihnen gehören darf. Nicht, daß das wichtig wäre. Nichts ist sehr wichtig hier. Außer ein paar Dingen. Die Sonne ist wichtig, wenn sie aufgeht, muß man aufstehen. Holzhacken ist wichtig, sogar wenn man Öl und ein Bankkonto hat. Man muß hacken, auch wenn das Holz noch so knotig ist und man zwei Keile, einen Vorschlaghammer, eine schwere und eine leichte Axt benötigt; auch wenn man eine ganze Stunde zugange ist und kaum mehr etwas sieht, weil der Schweiß einem in die Augen läuft. Dann gibt es noch das Geschnatter der plötzlich auftauchenden See-Enten in der Bucht und das Gekrächze der Raben, die einem im Schwebeflug die Küken vom Rasen jagen. Es gibt die einsame, namenlose Pflanze, die in einer einzigen Nacht aus dem Kies vor der Garage hervorschießt, und 78
es gibt das Waldmurmeltier auf dem Holzstapel, das sich den dicken rot behaarten Hintern in den ersten Sonnenstrahlen wärmt, auf die es die ganze Nacht gewartet hat. Zwei Jahre lang war dieses Waldmurmeltier mein Freund. Die anderen Bewohner in Haus und Garten ignorierte es. Es weigerte sich, die Existenz meiner Katzen, die ihm aus dem Weg gingen, weil es ebenso groß war wie sie und über große Zähne verfügte, anzuerkennen. Mit meiner Frau pflegte es ebenfalls keinen Kontakt. Meine Frau behauptete steif und fest, Waldmurmeltiere gehörten zur Familie der Bären, obwohl ich ihr immer wieder sagte, es würde nur dann unangenehm werden, wenn sie darauf träte. Damals hatte sie noch nicht so viel Interesse für die Natur, sie beschäftigte sich innerhalb des Hauses und betrachtete das Geschehen außerhalb durch doppelte Fensterscheiben oder Fliegenfenster, der Jahreszeit entsprechend. Wir waren eine Woche lang bei einem Ehepaar zu Besuch, und die Dame des Hauses hatte einen Kräutergarten. Meine Frau roch an den Pflanzen und pflückte hier und da ein Blättchen. Wieder zu Hause, bestellte sie Sämereien und kaufte eine große und eine kleine Schaufel. Danach, unvermittelt, fing sie an. Sie zerrte an dem neben dem Rasen wuchernden Unkraut und grub den Waldboden um. Sie wuchtete Steine hoch und schob einen Schubkarren. Ihr Beet bestand aus drei Teilen von unterschiedlicher Höhe, die sich zu einer Felskante hochzogen. Kaum gesät, wuchs dort alles, wobei ich Thymian und Schnittlauch, Salbei und Dill zu unterscheiden lernte. Ein Zwerg in kariertem Anzug kontrollierte, ob sie auch alles richtig machte, und verkaufte ihr noch mehr Sämereien, das Körnchen zu einem Dollar, und der Garten wurde immer schöner. Das Waldmurmeltier steckte einmal seine Nase hinein, mußte jedoch niesen und lief wieder weg. 79
Es ging gut, das dachte ich zumindest. Das Murmeltier verbrachte den Winter in seiner Höhle und kam im Frühjahr wieder zum Vorschein. Ich mähte den Rasen und trank auf dem Balkon Kaffee. Das Murmeltier aß meine ostindische Kirsche auf, aber es ließ einige Pflänzchen stehen, und ich grub sie aus und hing sie in Töpfen an den Holzschober. Das Murmeltier ließ seinen Bauch in der Sonne braten. Meine Frau arbeitete im Kräutergarten und kam regelmäßig vorbei, gebückt hinter dem Schubkarren hergehend. Ihr Wortschatz vergrößerte sich, sie sprach jetzt viel über Gemüse. Ich half ihr umgraben und bezahlte eine Ladung Erde. Ich wollte nicht glauben, daß Erde so teuer sein kann, aber die Rechnung war säuberlich getippt und der Endbetrag richtig addiert. Das Murmeltier war von dem Gemüsegarten sehr angetan. Es kam frühmorgens und spätabends, und ich hörte es reißen und nagen. Es machte einen aufgeweckten Eindruck, und ich war froh, daß es froh war, und hockte hinter dem Balkongeländer, um zuzusehen, wie es sich durch die Kohlköpfe hindurchfraß und die Möhrchen ausgrub. Ich ergötzte mich an seiner Freßsucht, und das Murmeltier freute sich über mein Interesse, und ab und zu sah es mich an, mit vollem Mund. Es hatte fröhliche kleine Augen, schwarz und glänzend. Meine Frau sagte, ich müsse mit Steinen nach ihm werfen. Sie stand in der Küche, und ich ging in den Garten. Ich hob einen Stein auf und warf ihn irgendwohin. »Ist es weg?« fragte sie, als ich wieder hereinkam. »Ja.« Aber es hatte nur seinen Standort ein wenig verlegt und aß jetzt Salat. Meine Frau blieb beharrlich. Sie holte meinen Revolver und eine 80
Schachtel Patronen. »Schieß es tot, es läßt nichts übrig. Wenn das so weitergeht, haben wir mit Murmeltierpfötchen verzierte Erde. Jetzt sofort, bitte.« Das Murmeltier war auf dem Weg zu seiner Höhle, ich sah es durch das hohe Gras waten. Ich zielte auf einen Baum und schoß. Die Kugel flog hoch über seinen Kopf hinweg. Es setzte sich einen Augenblick, um zu sehen, was das für ein Pfeifen war, danach pfiff es selbst. Kurze Zeit später war es wieder da, um Rübchen zu essen. »Du kannst schießen«, sagte meine Frau, »früher hast du Preise gewonnen. Schieß das Tier tot.« Dieses Mal zielte ich, das Murmeltier bewegte sich, und die Kugel schlug einen Erdklumpen los. Ich wurde böse und ging ins Haus. Am nächsten Tag war es wieder da, aber sein Verhalten war anders. Es war vorsichtig geworden und lief nicht einfach so durch das Gras: Es verbarg sich hinter Sträuchern und Steinen und rannte, wenn es keine Deckung gab. Es bewegte sich in Schlangenlinien. Ich sah es nicht mehr auf dem Holzstapel. Jeden Morgen jagte ich das Murmeltier, die Schüsse donnerten durch die Landschaft, ich verbrauchte in einer Woche eine ganze Schachtel Patronen. Mein Nachbar kam zu Besuch. Mein Nachbar ist hier geboren und sein Urgroßvater auch. Ich schenkte Whisky ein, und wir saßen auf dem Geländer des Balkons und sprachen über den Regen, der wohl in Kürze kommen würde; oder nicht, natürlich, das war auch möglich. Mein Nachbar hat einen Bart wie Stahlwolle und tiefliegende, glänzende Augen. Er erzählte, er habe, das sei auch schon wieder ein Weilchen her, einen Elch angefahren. Sein Auto fuhr danach nicht mehr, aber der Elch sei sehr schmackhaft gewesen. Er erzählte mir auch 81
noch von einem Bären, den er geschossen hatte. Der Bär habe Honig aus den Bienenkörben seiner Frau gestohlen, das liege auch schon ein Weilchen zurück, seine Frau sei schon lange tot, sie sei achtzig Jahre alt geworden. »Ich höre, du hast ein Waldmurmeltier im Garten.« Ich sagte, das sei richtig. Er ging fort, aber sein Glas war noch halb voll, also wußte ich, er würde zurückkommen. Er kam mit einem Gewehr zurück. »Damit kannst du nicht danebenschießen. Den Abzug langsam spannen, auf seinen Kopf zielen. Es ist geladen, es ist nicht gesichert, und ich habe den Patronenstreifen gefüllt. Zwölf Patronen, aber ich denke, eine ist genug. Du brauchst es nicht zu reinigen. Bring es einfach zurück, wenn es dir paßt.« Er trank sein Glas aus und ging fort. Das Murmeltier lief eine Stunde später im Zickzack durch das Gras. Ich hielt das Gewehr locker in der Hand. Es versteckte sich hinter einem großen Kohl und fing an zu essen. Ich sah, wie der Kohl sich bewegte. Ich drückte den Kolben gegen meine Schulter, zielte auf die Mitte des Kohls und schoß. Das Murmeltier schrie und sprang einen Fuß hoch. Ich schoß weiter, bis der Hahn klickte. Meine Frau stand neben mir. »Gut so. Aber es hat den Kohl schon angefressen, meinst du, das wird wieder nachwachsen?« »Es ist tot«, sagte ich. »Ich habe das Murmeltier erschossen.« »Mit einem Gewehr kommst du besser zurecht als mit einem Revolver.« »Ich habe das Murmeltier totgeschossen.« »Ja. Geh und hole es, da kann es nicht liegenbleiben.« 82
Ich ging zum Gemüsegarten und hob es auf. Die Katzen begleiteten mich, aber ich scheuchte sie fluchend weg, und sie rannten in den Wald, um Vögel zu ermorden. Ich betrachtete den Schwanz des Murmeltiers, es war ein witziger Schwanz, kurz und haarig. Ich drehte es auf den Rücken, es hatte schmale, weiche Fußsohlen und niedliche Zehen. Seine Äuglein sahen mich rund und dumm an. Ich verstand, daß es tot war, und daß ich allein übrigblieb in einer kalten, grauen Welt, gefüllt mit drohenden Schatten. Meine Frau redete mit mir, aber ich hörte nicht, was sie sagte. Ich holte einen Plastikbeutel und ließ das Murmeltier hineingleiten und nahm mir eine Schaufel aus der Garage. »Wo gehst du hin?« »Das weiß ich noch nicht.« Ich fuhr zu einem Hügel auf der anderen Seite der Bucht, da sitze ich mitunter und schaue aufs Wasser. Ich grub ein Loch, ließ den Beutel in die einladende Höhlung hinab und füllte sie mit Steinen auf. Ich suchte so lange Steine und stapelte sie, bis eine vollständige Pyramide entstand, anderthalb Meter hoch über dem Grab. Danach fuhr ich nach Hause. »Es tut mir leid«, sagte meine Frau, »aber das konnte so nicht weitergehen. Ich bin froh, daß du es getötet hast. Ich habe dem Nachbarn das Gewehr schon zurückgegeben. Er war auch froh, daß es vorüber ist. Er meinte, man sollte hier nicht zuviel herumschießen, die Kugeln könnten gegen einen Stein prallen, und dann wüßte man nicht, wo sie hinfliegen. Man kann ein Kind treffen.« »Das wäre schrecklich«, sagte ich. Sie gab mir einen Kuß. »Jetzt sei lieb, es ist vorüber. Wir leben jetzt so, wie es sich eigentlich gehört. Die Frau versorgt das, was wächst, 83
und der Mann jagt die wilden Tiere. Tiere jagen einander auch, und wenn sie sich gegenseitig ins Gehege kommen, bleibt das stärkste und schlaueste übrig. Zum Leben gehört der Tod, so ist das nun einmal.« Wir aßen Salat an diesem Abend. Die Mayonnaise kam aus einer Flasche und hatte eine ekelhafte rosa Farbe. »Weshalb hältst du eigentlich keine Hühner?« fragte meine Frau. »Dann haben wir frische Eier, und dann kann ich selbst Mayonnaise machen. Hühner sind nützlich. Ich weiß, wo es Küken zu kaufen gibt, bau schon einmal einen schönen Stall.« »Dann kommen die Waschbären und die Wiesel und die Marder und die Lynxe und die Füchse, und die fressen die Hühner auf.« »Dann schießt du sie alle tot«, sagte meine Frau. Ich baute einen Hühnerstall, aber ich hatte keine Spanplatten für das Dach. Ich erinnerte mich, daß hinter dem Haus meines Nachbarn ein Berg alter Spanplatten lag. Ich fand den Nachbarn zwischen seiner Scheune und seinem Haus. Er hielt einen toten Waschbären am Schwanz fest. »Der wollte meine jungen Truthühner holen, aber ich war schneller als er.« Ich wollte etwas sagen, doch mir fiel nichts ein. Er schüttelte den Waschbären vor meiner Nase. »Siehst du, genau wie dein Murmeltier neulich. Hast du es schon vergessen?« »Nein.« »Du mußt nicht deiner Frau die Schuld geben.« »Weshalb nicht?« »Weil sie keine Schuld hat.« Ich wurde wieder wütend. »Doch. Weshalb mußte das arme Tier sterben? Wir haben genug Gemüse. Ich mag überhaupt keinen Kohl.« Er grinste. »Unsinn. Du hast die Sache schlecht erledigt, du hast 84
Schande über dich gebracht, und auch über mich, deinen Nachbarn.« Ich sagte nichts. Mit den Leuten, die hier geboren sind, darf man nicht argumentieren; das bißchen, das sie zu wissen glauben, geben sie ja doch nicht auf. Wieder hielt er mir den toten Waschbären vors Gesicht. »Den Tod, erträgst du den Tod nicht?« »Du denn?« Er ließ die Leiche auf einen Ballen Stroh fallen. »Sicher. Es gibt überhaupt keinen Tod, es gibt nur Leben.« Ich fühlte, wie mein Gesicht rot anlief. »Was meinst du damit?« schrie ich. »Wir kommen und wir gehen, oder vielleicht nicht? Wir treten an, weil an dem Strick gezogen wird, und beim nächsten Ruck treten wir wieder ab. Oder ist es etwa nicht so?« Er schrie auch. Seine Augen waren direkt vor meinen. Sein harter Zeigefinger drückte gegen meine Brust. »Nein! Dein Murmeltier ist fort. Das war ein Ende, davon gibt es so viele, es ist nicht das Ende.« »Das Ende«, schrie ich zurück, »das gibt es auch.« Er schüttelte den Kopf. Ich hörte auf zu schreien. Ich fragte, ob ich seine Spanplatten kaufen könne. Ich durfte sie so mitnehmen, denn er brauchte an diesem Tag kein Geld. Ich bedankte mich, und auch das war nicht nötig. Er hatte an diesem Tag auch schon genug gesagt. Und ich hatte zuviel, das sagte er noch ein paarmal, während er mir beim Einladen der Spanplatten half. Ich fuhr nicht nach Hause, sondern zum Murmeltierhügel. Sein Körper würde jetzt wohl schon verfault sein. Die Bucht lag still unter mir, die Sonne versank orange in einem Übermaß an Blau. Ich kam nach Hause, und meine Frau lief mir entgegen. »Der 85
Nachbar ist da.« »Das alte Arschloch«, sagte ich. »Aber nein, er ist sehr nett, er hat eine Nachricht für dich hinterlassen.« »Interessiert mich nicht.« »Doch. Er sagte, er habe heute nachmittag etwas zu dir gesagt, und du solltest darüber nachdenken. Er sagte nicht, was es war … Was hat er zu dir gesagt?« »Nur Blödsinn. Hilf mir lieber mit den Spanplatten.« Der Nachbar ist jetzt auch von uns gegangen. Ich sah ihn von seinem Traktor fallen, letzte Woche. Es war ein warmer Tag, und der Traktor wütete auf und ab, bis der Nachbar herunterfiel und der Traktor weiterfuhr und an einem Baum hängenblieb. Ich rannte zu ihm hin, doch er war nicht mehr. Er lag da genau wie das Murmeltier, auf der Seite, mit seinen entgeisterten Augen. Die Hühner sind schon groß und gackern im Stall. Es ist Winter gewesen, und Frühling; die Kräuter wachsen, und das Gemüse steht in ordentlichen Reihen. Noch ungefähr ein Monat, und alles stirbt ab, dann kann ich wieder einen Weg durch den Schnee graben, und die Eichelhäher und Meisen werden mir um die Ohren fliegen und klagen, daß ich keine Sonnenblumenkerne in ihr Häuschen gestreut habe. Ausgetrocknete Stengel werfen dann Schatten in den Schnee, und Birkenscheite knistern im Kamin. Danach wieder der Frühling: die Farne, die wilden Lilien am Waldesrand, das Keckern und Lärmen der Eichhörnchen. Es wird wohl auch wieder Murmeltiere geben. Das ganze Getue ist äußerst geheim86
nisvoll und unmöglich zu erfassen. Ein Nachbar grinst und schreit mich an, und ein Murmeltier liegt auf dem Holzstapel und sonnt sich.
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Der Weihnachtswunsch Früher glich er einem Lamm, danach wuchs er, gefühlsmäßig jedenfalls, zu einem Vollschaf heran. Sein Haar rollt sich ein, und auch auf der Brust kringeln sich so seltsame Locken von ausgeblichenem, beinahe weißem Blond. Er hat große, hellgrüne Augen, fast gelb, und schiefstehend. Sogar seine Körperformen sind etwas schafartig, vielleicht wegen der knochigen Beine, aber weil er jeden Tag frühmorgens eine Stunde lang den Fluß stromaufwärts rudert, ist seine Brust einigermaßen breit gewölbt. In der Schule wurde er gehänselt; seine Klassenkameraden brachten ihm Gras mit, und einer ging sogar so weit, daß er jedesmal, wenn er unseren Helden ankommen sah, nicht nur meckerte, sondern auch klapperte. Erst verstand der Gehänselte nicht, was damit gemeint war, aber als er einmal Schafe auf der Wiese laufen sah, wurde es ihm klar. Wenn Schafe ein dickes Winterfell haben, bleibt mitunter der Kot hängen und trocknet – wenn das Tier dann läuft, klappert es hinten. Er war auf einer christlichen Schule, und der Pastor, der den Lehrern zur Seite stand, war ein Sarkast. Dieser durch den HERRN Gesalbte schikanierte ihn noch gemeiner als seine sadistischen Kameraden, denn der Prediger bezeichnete ihn als ›Lamm Gottes‹. Deshalb wahrscheinlich weigerte er sich, gläubig heranzuwachsen. Schon im zartesten Alter bewies ihm seine Umgebung, daß dieses All nicht durch einen gütigen HERRN geschaffen sein kann. Die wunderbare Natur, ein Begriff, den sein Vater oft gebrauchte, war genauso grau88
sam wie seine Schulklasse. So auf den ersten Blick sah alles ganz nett aus, aber wenn er unter die Blümelein blickte im Garten hinter dem Haus, sah er die Insekten einander töten und auffressen. Das niedliche Eichhörnchen im Garten stahl die Eier der Amseln, die lieben Amseln rissen Würmer in Stücke, und der Hund des Hauses, ein fleißiger Kläffer, biß das Kätzchen der Nachbarn tot. Die Natur, so stellte er fest, war nicht viel besser oder sogar gleich dem blutigen Elend, das aus seinen Geschichtsbüchern troff und offenbar noch immer andauerte. Wie die Tageszeitung bewies, die von seinem Pfeife rauchenden Vater jeden Abend brummend durchgesehen wurde, ehe Papa dem HERRN gebot, Speis und Trank einmal mehr zu segnen, amen. Daß er sich dennoch nicht ganz und gar verschloß, lag an seiner Mutter. Seine Mutter, eine liebe, fürsorgliche Frau, bekämpfte die Vorstellung, die sich allmählich in ihm zu bilden drohte. In seiner Vorstellung war der HERR schlecht, denn die höchste Macht schuf ein Weltall, in dem ein jämmerliches, selbstquälerisches Kügelchen von anderen gefühllosen und toten, sich sinnlos weiterdrehenden Kugeln umkreist wurde und in dem nicht nur alles sinnlos, sondern auch deutlich bösartig war. Derselbe HERR schuf jedoch auch diese Mutter und offenbarte sich durch sie, aber nicht lange, denn seine Mutter starb schon früh. Beunruhigt erinnerte er sich an sie, und ihr Bild mit einer sanft gebogenen Nase (sie war Halbjüdin) und dem Mund von Marilyn Monroe besänftigte seinen Protest. Er erinnerte sich auch, daß er, als Kleinkind, manchmal zu seinen Eltern ins Bett durfte. In dieser Zeit las man ihm mitunter vor, und durch die Erzählungen angeregt, kletterte er auf seines Vaters Bauch, ritt darauf herum und wurde zum Weißen Ritter. Seine Mutter war die Jungfrau auf dem Söller eines Schloßturms. Er 89
ritt durch wilde Landschaften, um in ihrem Namen Gutes zu tun. Er rettete Gefangene aus Höhlen und tötete Drachen, nachdem er lange mit ihnen gekämpft hatte. Die Gefangenen waren immer Frauen. Er diente, in seiner Mutter Namen, allen Frauen. Aber er war auch sehr schüchtern. Diese Schüchternheit lag an seinem schafartigen Äußeren und hinderte ihn, Frauen Gutes zu tun. Er traute sich nicht. Er hatte Angst, sie würden, wenn er ihre Taschen tragen oder ihnen in die Mäntel helfen wollte, ihn anmeckern oder gar klappern. Er beschränkte sich auf das Bewundern des Weiblichen; der Mädchen in der Schule und der Fräulein, die ihn unterrichteten. Das Schlechte, das er auch weiterhin überall um sich herum entdeckte, verband er immer mit dem Mann, ebenso das Häßliche. Verträumt den sanften Formen des Weiblichen in seiner Umgebung nachhängend, vergaß er das Verabscheuenswerte der vierschrötigen und immer in die falsche Richtung zielenden Tatkraft des Mannes. Wenn Mädchen sich schlecht benahmen, machte er dafür ihre hartherzige, vom Vater auferlegte Erziehung verantwortlich. Die ihm benachbarten Mädchen etwa, zwei liebliche Elfen, verehrte er, auch als er sah, wie die älteste die jüngste umwarf und mit dem Gesichtchen in die Erde drückte, und auch als die jüngste, nachdem sie sich wieder aufgerappelt, ein abscheuliches Geheul anstimmte. Er sammelte Bilder von Frauen und klebte ein Album nach dem anderen voll mit Ansichtskarten von Filmstars (auch den weniger attraktiven Charakterdarstellerinnen), Tänzerinnen, Sängerinnen (darunter sehr dicke), Mädchen aus dem Volke in ihrer Regionaltracht und Schnappschüssen der Mädchen in der Schule. Nacktdarstellungen verabscheute er, und auch heute noch geht er mit abgewandtem Gesicht an ausgestellten Pornomagazinen vorbei. ›Es ist beschämend‹, 90
denkt er dann, ›daß eine korrupte, männerbestimmte Gesellschaft die irdischen Engel zwingt, sich für phallusförmige, niedrige Lust zu enthüllen. Was ist es‹, fragt er sich dann, ›das eine Frau in einem Pornomagazin enthüllen soll?‹ Das Geheimnis. Das Geheimnis der Schöpfung offenbart sich schließlich in der Frau, denn die Frau ist die gute Seite des HERRN. Nur diese Seite begehrte er. So wie er Toosje begehrte. Toosje, das Mädchen, das in der Schule vor ihm saß. Toosje war schlank und zart und hatte eine fein gebogene Nase. Sechs Jahre lang saß er hinter ihr, und sechs Jahre lang sprach er sie niemals an. Er war so schrecklich in Toosje verliebt, daß er fast buchstäblich daran zugrunde ging. Was an jenem Tag in ihn gefahren war, war ihm kaum klar. Sie ging vor ihm her zur Haltestelle und stieg ein. Die Straßenbahn fuhr unverzüglich davon. Er fühlte, daß er bei ihr sein mußte, er fuhr immer in derselben Straßenbahn mit und sah ihr schmachtend hinterher, wenn sie eine Haltestelle vor ihm ausstieg. Die Bahn gewann schnell an Geschwindigkeit, und er rannte dem klingelnden Gefährt hinterher. Gerade noch konnte er die Stange der hinteren Plattform ergreifen, aber die Bahn fuhr in diesem Augenblick noch schneller, und er stolperte, baumelte noch eine Weile horizontal an der Stange und fiel. Er brach sich beide Arme und den Schädel. Toosje besuchte ihn zweimal im Krankenhaus, doch er konnte kein Wort herausbringen. Er hoffte, sie würde denken, er sei so schwer verletzt, daß er nicht sprechen konnte. Es war wieder das Schafsyndrom, und er wollte nicht riskieren, daß sie ihm, während einer Verabredung, ein Büschel Gras anbot. Toosje habe nicht genug Verstand, hieß es, sie kam deshalb auf eine Sonderschule für Mädchen. Er machte für diesen Entschluß die 91
selbstsüchtige Dummheit ihres Vaters verantwortlich. Er selbst besuchte das Gymnasium, studierte später Jura und bekam ein Praktikum bei der Verwaltung staatlicher Gebäude, das sich allmählich zu einer Festanstellung auswuchs. Heute sitzt er in einem Büro mit Mahagonitäfelung und studiert gewichtige Schriftstücke, in denen Millionenprojekte abgehandelt werden. Seine Angst und Schüchternheit hatten doch einige Nützlichkeit bewiesen. Er dachte, daß er durch einen Mangel an Gewicht nach oben getrieben worden sei, und er hatte Schuldgefühle wegen des Besitzes seiner Luxuswohnung und der Edelkarosse. Die eifrigen Freunde, mit denen er studiert hatte, wurden rechts und links von ihm entlassen, weil sie durch ihre geschickten Aktivitäten auffielen und leicht erreichbar waren für das Rezessionsbeil, das ihnen gnadenlos die Köpfe abschlug. Er jedoch blieb ruhig auf seinem Posten und betrachtete die Beine seiner Sekretärin und auch den Rest ihres Körpers, und wenn es irgend möglich war, nahm er auch ihren Geist wahr; wenn er wußte, daß sie nicht wußte, daß er sie beobachtete. Sie war nicht schön, doch das machte nichts, er war dennoch in sie verliebt, wie in alle Frauen. Sie liebte auch ihn ein wenig, dachte aber, er gehe so in sich selbst auf, daß er ihre Existenz kaum wahrnähme. Nichts war jedoch weniger wahr. Er hätte alles für sie tun wollen, sie vor allem Unheil behüten, sie auf Händen durchs Leben tragen, aber er wagte es nicht einmal, sie anzulächeln. Zu Hause wohnte er alleine, mit einem Glas Goldfische und einem Meerschweinchen, einem Weibchen. Dieses Meerschweinchen – sie ist kürzlich an Altersschwäche gestorben – hatte die Gewohnheit, sich ab und zu in die hochflorige Auslegeware zu drücken und sich dann pfeifend im Kreis zu drehen. Er hatte Grippe; der Arzt kam, und er fragte, was mit dem Tierchen los sei, wenn es so zugange sei. Der Arzt, ein 92
älterer Mann mit einem Lorgnon und einem Porträt Freuds über seinem Schreibtisch, betrachtete sich das Tier einige Zeit und wandte sich danach wieder seinem Patienten zu. »Ihr Meerschweinchen, mein Herr«, knarzte er gemessen, »masturbiert.« Das bereitete ihm Kummer, aber konnte seiner winzigen Freundin nicht helfen, wie er auch sich nicht helfen konnte. Das Meerschweinchen starb unbefriedigt, aber er hatte immer gut für sie gesorgt, und das wußte sie auch, denn sie sah in gütig an, nachdem sie, von der Überraschung des nahenden Todes erholt, ihr Köpfchen in seine Hand legte und ihren letzten Pfeifton hören ließ. Das geschah im Oktober. Im November begegnete er Marion. Sein Wagen wurde repariert, und er nahm den Bus nach Hause, stieg beim Park aus und spazierte den Teich entlang, der die offene Stelle zwischen den Bäumen vor seinem Wohnhaus füllt. Marion ging vor ihm her. Es dämmerte, und ihre voranschreitende Gestalt war in ein geheimnisvoll gefiltertes Licht gehüllt. Seine Verliebtheit in das Weibliche steigerte sich zu nie gekannter Stärke. Er schnappte nach Luft, ihm schwindelte, und er ließ seine Tasche auf den Kies fallen. Er stöhnte, als er auf den scharfkantigen Steinchen kniete, um seine Tasche aufzuheben und um sie zu verehren. Sie hörte ihn und sah sich um und wartete, bis er wieder aufstand und weiterwankte. Sie blieb am Teich stehen, holte Brot aus ihrer Tasche und fütterte die Enten. Er wußte, daß er sich neben sie stellen und ein Gespräch anfangen mußte. Umherschwimmende Enten ergaben genug Gesprächsstoff, und außerdem gab es noch Bläßhühner und Schwäne, Reiher und Möwen im Park. Er hätte wissen müssen, daß Marion kein Schaf an sich vorüberspazieren sah, sondern einen Mann, einen gepflegten Mann sogar, 93
aufmerksam, korrekt gekleidet. Er machte einen guten Eindruck auf sie, und sie bewunderte seinen inzwischen wieder ins Gleichgewicht geratenen und federnden Gang. Die Herbstfarben im Park sorgten für eine romantische Atmosphäre. Die Dämmerung sank tiefer herab und war von einem schwülorangen Farbton durchzogen, der die Konturen ihrer Gestalten erglühen ließ. Ein Gespräch, eine Begegnung hätte sich doch sehr gut herstellen lassen. Er ging weiter. Marion ist, obwohl sie nie auf das Titelblatt einer Zeitschrift gelangen wird, eine auffallende Erscheinung. Sie kleidet sich in solide, aber enggeschnittene Kostüme und trägt ihr Haar altmodisch, wie antike Königinnen auf alten, zierlichen Briefmarken. Ihre Nase ist gebogen, und sie hat den Mund von Marilyn Monroe. Als er sie zum erstenmal sah, war sie gerade geschieden von einem Halunken, der mit illegalen Dienstleistungen handelte, regelmäßig in Konkurs ging und immer reicher wurde. Verglichen mit diesem Rohling mußte er einfach gut abschneiden. Marion stand am Teich und sah ihm nach, vage hoffend, er käme zurück oder würde wenigstens seine Tasche wieder fallen lassen; zu Hause erwartete sie nichts als ein Abendessen aus Dosen und eine vorhersagbare Fernsehfolge. Er hatte das nicht wissen können, aber zumindest einen Versuch, wie ungeschickt auch immer unternommen, hätte er wagen können, um Kontakt zu knüpfen. Er ging weiter. Er tat aber doch etwas. Er versteckte sich hinter einem geparkten Lieferwagen, wartete geduldig, bis sie aus dem Park kam, und ging hinter ihr her, in sicherer Entfernung. Inzwischen phantasierte er heftig drauflos. Er würde Rosen kaufen und bei ihr klingeln und ihr erklären, daß er sich plötzlich in sie ver94
liebt habe. Er würde hinzufügen, daß er es nicht ändern könne, und sich schon zuvor umständlich entschuldigen. Sie würde vielleicht, auch wenn sie ihn für ein Schaf hielt, die Rosen doch annehmen und ihm erlauben, die Stiele anzuschneiden und die Kristalle aus dem angeklebten Beutelchen ins Wasser zu schütten. Er würde sie einladen, mit ihm zu speisen, in dem Restaurant mit dem Michelin-Stern am Fluß, an diesem Abend oder an einem anderen, und feierlich versprechen, sie in gar keiner Weise zu belästigen oder sonstwie ihre feineren Gefühle zu verletzen. Er sah, in welchem Gebäude sie wohnte, und ging zu seiner Wohnung zurück. Das Gefühl, das ihn durchströmte, durchgurgelte, durchbrauste, war anders als sonst. Bis dahin war er in alle Frauen verliebt gewesen, aber was jetzt in ihm geschah, erinnerte ihn an Toosje und den tödlichen Fall, den er auf das Kopfsteinpflaster neben den Straßenbahnschienen gemacht hatte. Was war jetzt zu tun? Hinter ihrem Bus herrennen und erneut verunglücken? Oder nur in seinem nutzlosdoppeltbreiten Bett von ihr träumen, in aller Ehrenhaftigkeit und Tugend? Unter den Platanen seines Boulevards herspazierend, stieg in ihm die ganze schmerzliche Erinnerung seiner frühen Jugend wieder hoch. Er fing wahrhaftig wieder an, über den HERRN zu grübeln und wozu letztlich alles gut sei, dieses fade Leben auf Erden, das langsam durch ihn hindurchfuhr, in Verständnislosigkeit angefangen hatte und in Verzweiflung andauerte. Er änderte seine Richtung und ging wieder in den Park. Er betrachtete die schläfrig schnatternden und umhertreibenden Enten, die nicht einmal nach den sich in ihr Gebiet wagenden Bläßhühnern schnappten, und teilte eine Weile ihre Ruhe, einen zeitlich begrenz95
ten, jedoch reinen Frieden, der gerade durch nichts gestört wurde. Einige Minuten lang verharrte er in der Harmonie, die die Schöpfung manchmal bietet und die seiner festen Überzeugung zufolge weiblich sein mußte. Im Wasser hatte er Marion gesehen, die Widerspiegelung ihrer göttlichen Gestalt, während sie die Tiere des Feldes, nun ja, die Vögel auf dem Wasser fütterte. Vielleicht steckte doch noch etwas von dem Glauben in ihm, den er von Anfang an zurückgewiesen hatte. Vielleicht hatte er ihn einfach nicht richtig verstanden. Dieser zarte Gedanke wurde ihm doch zuviel, und der Protest stieg wieder in ihm auf. Kein Pastor oder Priester würde ihn übertölpeln dürfen, er entzog sich dem Christusbild, das die Hände segnend über einem Konzentrationslager ausstreckt. Das Ganze blieb sinnlos, und er würde sein Dasein in diesem Wissen fortführen, einsam in seiner Wohnung mit den Goldfischen und im Büro mit dem Anblick der Beine seiner Sekretärin. Beine, Marions Beine, die mußte er wiedersehen. Er fuhr auch weiterhin mit dem Bus zum Büro. Marion hatte dieselben Arbeitszeiten wie er. Er saß hinter ihr und schaute über den Rand seiner Zeitung hinweg. Seine Zeitung war Le Monde, die er seit kurzem abonniert hatte, weil er schlecht Französisch sprach und es ihn vergnügte, das Tagesgeschehen so zu erfahren, wobei durch seine mangelnden Sprachkenntnisse Massenmorde zu einem hochtrabenden Epos wurden, welches der Wirklichkeit kaum mehr nahekam. Aber Marion saß direkt vor ihm und existierte durchaus. So ging das weiter, den ganzen Novembermonat hindurch, und einen Teil des Dezembers. Die Weihnachtsstimmung erreichte die Stadt, und mit Silberpulver besprühte Tannenzweige hingen in den Schaufenstern, zwischen beweglichem Plastikspielzeug. Mechanisch herumkurbelnde Orgeln verbreiteten Gottesfurcht, und Heilsarmeeleute 96
zogen rote Anzüge an und brummten »danke« hinter ihren Wattebärten, wenn man Geld in ihre kupfernen Dosen fallen ließ. Das Herannahen des Weihnachtsvergnügens freute ihn nicht, seine gewohnte Ruhe würde unterbrochen sein. Heiligabend stand er auf seinem Balkon mit Aussicht auf den Park; es war spät, und das Festgetöse in den Wohnungen um ihn herum begann schon nachzulassen. Gerade wollte er sich umdrehen, um hinein und ins Bett zu gehen, als er die Sternschnuppe sah. Ein Meteor wird es gewesen sein. Die Bahn, die der brennende Himmelskörper durch den stillen, blauschwarzen Himmel zog, flammte breit auf. Er erinnerte sich, daß man sich etwas wünschen darf, wenn man eine Sternschnuppe fallen sieht, und daß man niemandem seinen Wunsch erzählen darf. Ob er es sich selbst erzählen durfte? Dieser törichte Gedanke beschäftigte ihn eine Weile, aber da war der Wunsch schon unterwegs. Er hatte mit ganzer Kraft gewünscht, eigentlich mit viel mehr Kraft, als ihm zur Verfügung stand. Der grell aufleuchtende Streifen über den düsteren schwarzen Gebäuden gegenüber und die kahlgewehten Pappeln und Trauerweiden, die dastanden wie ein Staketenzaun, hatten seine Seele berührt – das unermeßliche Loch, das sich unter seinem Wesen versteckt und dessen vage Projektion seine Persönlichkeit war; jener schafartige kleine Herr, der die Staatsgebäude mitverwaltet und sich mit Rudersport und französischer Literatur beschäftigt, der Bilder von Mädchen in Volendamer Tracht neben Tänzerinnen aus Indien klebt, dieser Meckerer und Klapperer. So durchdrang ihn diese Erfahrung, und er dachte an Moses, der auch einmal dem HERRN genau gegenüber gestanden haben soll, auf diesem Berg, wo ihm die Zehn Gebote ausgehändigt wurden, aber daran glaubte er nicht im geringsten. 97
Was er, auf dem kleinen Balkon über dem leeren Park, verstand, war nicht zu verstehen. Er wollte auch nichts verstehen. Er hatte um eine Chance gebeten. Er war die Begrenzung leid und trat aus sich heraus, mit der Hilfe des Weihnachtssterns, der wohl ein Meteor gewesen sein wird und nichts mit der Christusgeburt zu schaffen hatte, höchstens etwas mit Einsteinscher Mathematik. Daß sein Wunsch erfüllt werden würde, war gleichwohl über jeden Zweifel erhaben. Grinsend ging er hinein und fragte sich dabei, wie der HERR es sich vorstellte, diesen Wunsch zu erfüllen. Es würde auf eine alberne Art und Weise geschehen müssen, denn wie sonst übersetzt man Göttlichkeit in die Schablone von Raum und Zeit? Die weihnachtliche Verwirrung ging vorüber, und das Leben nahm wieder seinen gewohnten Verlauf. Es wurde Samstag, und er mußte Einkäufe erledigen. Er hatte seine Einkaufstaschen in den Wagen gestellt und wollte gerade wegfahren, als Marion aus dem Supermarkt kam. Sie trug zwei bis obenhin gefüllte Papiertüten auf den Armen und stolperte über einen hochstehenden Ziegel. Sie lag zwischen den zerbrochenen Flaschen und geplatzten Kartons, und Blut sprudelte aus ihrem Schenkel, der, durch den hochgerutschten engen Rock ihres Kostüms, unschamhaft zu sehen war. Er saß wie gelähmt in seinem Wagen und wartete auf das Auftauchen irgendeines Schurken, der ihre Hilflosigkeit mißbrauchen würde. Sie sah ihn an, und das Flehen in ihren schreckgeweiteten Augen befreite ihn aus seiner Erstarrung. Er stieg aus und wieder ein, um einen Verband aus seinem Handschuhfach zu holen. Er kniete bei ihr nieder und umwickelte behutsam ihren Schenkel. Ihr Gesicht verkrampfte sich, als er ihr auf die Beine half. Er schlug einen Arm um sie, und sie lehnte sich an ihn. 98
»Ich kann nicht gehen.« »Ich werde Sie zum Krankenhaus bringen.« Er hatte wahrhaftig zu einer unbekannten Frau gesprochen. Geräuschlos jauchzend trug er sie zum Wagen, in Stille singend ließ er den Motor an. »Ich mache Ihren Wagen schmutzig, der Verband ist schon durchgeblutet.« »Das macht nichts.« »Ich glaube, ich falle gleich in Ohnmacht«, sagte sie, als er den Wagen in den Verkehr der Hauptstraße lenkte. »Dann bin ich nur noch eine größere Last für alle. Es ist besser, du redest mit mir, dann bleibe ich wach.« Sie duzte ihn. Sie hatte ihm auch einen Auftrag erteilt. Er sprach pflichtschuldig, dankbar und ausladend. Sie lächelte wegen seiner gekünstelten Ausdrücke, in seiner Aufregung den literarischen Betrachtungen von Le Monde entnommen und schlecht übersetzt. Er bekannte ihr offenherzig seine Liebe und unterbrach sich nicht, auch nicht, als sie wirklich in Ohnmacht gefallen war. Immer noch weiterredend, trug er sie in die Klinik. Nachdem er sie auf den Arzttisch gelegt hatte, sah er mit Genugtuung, wie seine Rüstung, die Tweedjacke und die Kammgarnhose, in denen er sich gegen das Dasein verteidigte, von ihrem Blut befleckt waren. Einen Moment lang sorgte er sich, dieser federleichte Körper werde erschlaffen, die göttliche Form werde ins Unwägbare zerfließen, wohin auch seine Mutter und das Meerschweinchen sich verflüchtigt hatten. Er machte sich keine allzu großen Sorgen, denn er wußte, daß sein Wunsch erfüllt werden mußte, daß die ungreifbare Antwort, die ihm während des Herabsinkens des Weihnachtssterns auf seinem Betonbalkon gegeben war, durch nichts 99
aufgehalten werden konnte. Der Arzt nähte die Wunde und gebot einige Tage vollkommener Ruhe. »Sie werden gut für sie sorgen müssen.« Auch der Arzt wußte, daß Marion und er zusammengehörten. Sie verkaufte ihre Wohnung und zog bei ihm ein, aber sie will noch nicht heiraten. Er findet das völlig in Ordnung, denn Heiraten schafft Verpflichtungen, und er möchte nicht den Eindruck erwecken, daß er ihr aus Pflicht Gesellschaft leistet. Die wahre Liebe bedarf keines zusätzlichen äußeren Bandes. Er tut alles, was sie will, aber sie will nicht viel. Sie kochen zusammen, und sie macht das Bett, während er abwäscht. Sie hat ihre Arbeit beibehalten und beendet in ihrer Freizeit ihr Studium, das sie abbrach, als sie den Halunken heiratete. Sie studiert Jura, so daß er ihr helfen kann ab und zu. Das Glück ist durchgebrochen, er hat lange auf es gewartet und weiß jetzt nicht so recht, was er damit soll, obwohl er es genießt. Es ist schon wieder Frühling, und er steht manchmal auf seinem Balkon, ungläubig wie ehedem, in Abwehr verharrend, aber trotzdem erstaunt. Also doch, denkt er dann, den Menschen ein Wohlgefallen. Und in der Weihnachtszeit verursacht, das gibt zu denken. Obwohl ich vorläufig kein Bedürfnis nach Denken habe. Vielleicht ist eine gewisse Dankbarkeit doch angebracht. Der HERR zeigte mir ihre andere Seite. Aber wie viele Seiten hat der HERR?
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Der Ketchupstrudel Während eines Kongresses in Miami ›zur Bekämpfung der Kriminalität‹ (weshalb ich dazu eingeladen wurde, ist mir noch immer nicht klar) hörte ich kürzlich, wie einige Polizeifunktionäre einen merkwürdigen Todesfall diskutierten. Ein Millionär wurde gegen die Mittagsstunde von seiner Frau gefunden. Der Mann lag in einer Blutlache auf den Marmorfliesen seiner Terrasse. Eine offizielle Untersuchung bewies, daß ein Verbrechen nicht vorlag. Neben dem Sessel, auf dem der Millionär gesessen hatte, wurde ein kleines Tonbandgerät aufgefunden. Die Frau erzählte, ihr Mann sei mit einer Art Eigenuntersuchung beschäftigt gewesen, einer Analyse, bei der er ab und zu ein Tonband besprach und wieder abspielte. Ich wurde neugierig und erhielt die Erlaubnis, die Stücke, die sich auf den Fall bezogen, zu studieren. Miami ist eine gewalttätige Stadt mit der mit Ausnahme von Kalkutta höchsten Mordziffer der Welt. Daß dauernd überarbeitete Polizeioffiziere diesen Fall doch die Mühe einer Diskussion für wert befanden, geht aus dem Inhalt des Tonbandes hervor, das die letzten Gedanken des Opfers wiedergibt und das ich hier in seiner Gesamtheit dokumentiere. Also, so wie ich hier sitze, mit meinen Füßen auf dem Geländer meiner Superterrasse, mit Aussicht auf meine Bucht, in der meine Yacht – man muß bloß einmal sehen, wie dieses Wunder an Technik und Komfort dort vor sich hin schaukelt – treibt, mit Aussicht auch auf meine Autos (aber da müßte ich mich umdrehen, und dazu habe ich jetzt keine Lust), die ordentlich aufgereiht auf dem ausgebauten Parkplatz stehen und glänzen, im Besitz all dessen, sogar einer jungen Frau, die 101
soeben noch als Topmannequin für Badeanzüge brillierte, und des unverschämt großen Haufens an Aktien und Obligationen, die die Bank für mich verwaltet, so wie ich hier sitze, müßte doch alles in bester Ordnung sein. Ich bin noch nicht einmal fünfzig Jahre alt, und ich brauche nie mehr etwas zuwege zu bringen; kann einfach alles so belassen, wie es ist, das kostet doch keine Mühe, sollte man meinen. Gut, ich esse und trinke zuviel und bin deshalb zu dick. Ich muß sehr zufrieden sein. Gleichwohl, das bin ich nicht. Ich stecke fest. Ich habe mich, sozusagen, festgedacht. Genau wie Frank damals. Auf einem anderen Niveau zwar, das gebe ich gerne zu, denn mein Niveau ist besser, höher, das darf ich wohl behaupten. Frank fand sein Ende in einem Gäßchen, unter bedürftigen Umständen. Bedürftig, ja. Das bin ich nicht; was hier in diesem Liegestuhl in der Sonne brät, ist nicht bedürftig. Ich habe nichts zu tun, nichts zu wollen, brauche nichts, außer einem Glas Cola mit Eis, und wenn meine Frau nicht bald aus der Stadt zurückkommt, gehe ich und hole es mir selbst aus dem Kühlschrank. Mit den Dingen, die mich in Bewegung versetzen, ist es nicht weit her, ebensowenig mit dem, der jetzt hier liegt und seine Bucht und das übrige betrachtet. Fast alles, was ich sehen kann, gehört mir, bis auf den Horizont, und den brauche ich nicht zu besitzen. Trotzdem bin ich unzufrieden und fühle, daß ich mich weit weg denken muß. Wohin? Ich weiß es nicht. Als ich anfing, vor dreißig Jahren, wußte ich es auch nicht. Ich stand in jenem Augenblick an genau dem gleichen Punkt, ich war unzufrieden und wußte nur, daß ich mich weit weg denken mußte. Es muß eine Wiederholung sein, aber auf einer viel höheren Ebene, denn damals besaß ich nichts. Belassen wir es vorläufig dabei. Und gehen wir solange zurück zum eigentlichen Thema, denn es 102
geschah damals etwas, etwas Wunderbares, das mich letztendlich dorthin brachte, wo ich jetzt bin. Es gab offenbar die Möglichkeit, sich zu verbessern, weshalb sollte es die jetzt nicht wieder geben? Wie alt war ich gewesen? Zwanzig? Ja, zwanzig. Ich arbeitete in einer Tomatenketchupfabrik und verrichtete eine stumpfsinnige Arbeit. Sie brachte auch nicht viel ein. Alles an mir war falsch, so falsch wie im Moment, auf einem anderen Niveau zwar, aber das habe ich schon gesagt, glaube ich. Ich wohnte in einem Zimmer auf halber Treppe mit zerrissenen und dreckigen Blümchentapeten, meine Zimmerwirtin hatte einen Schnurrbart und Totengräberklauen. Ich aß aus Dosen und sah mir Nacktzeitschriften an. Ich war versessen auf Filme über Stars und hing in der Gegend herum. Manchmal ging ich auf Feten, in der Pension wohnte ein Künstler, irgend so ein Farbkleckser, der nahm mich ab und zu mit. Auf diesen Feten machte ich auch nichts Besonderes, ich lehnte ein bißchen an der Wand und trank Wein. Weil ich kein Farbkleckser war, zählte ich nicht, wenigstens dachte ich das. Ich dachte überhaupt falsch. Frank erklärte mir alles, denn Frank kam auch auf diese Feten. Frank war ein seltsamer Vogel. Er hatte große, schiefe Augen, ein paar übriggebliebene Löckchen auf seinem glänzenden Schädel und nur zwei Zähne, einen oben und einen unten. Es war witzig, ihm zuzusehen, wenn er eine Erdnuß aß, die mußte er dann zwischen die beiden Zähne festklemmen, und weil der eine Zahn rechts saß und der andere links, verzog er das Gesicht. Er trug Lumpen. Frank war ein Bildhauer, das heißt, er bastelte Strukturen aus Plunder, den er auf der Straße fand, und verkaufte seine Leistungen sehr selten für das, was irgendein Verrückter dafür hergab. Er wohnte in einer Bruchbude, durch die 103
das Unkraut wuchs. Ich hielt ihn nicht für einen bewundernswerten Mann, hörte ihm aber zu, ich hatte ja nichts anderes zu tun. Wenn er betrunken war, konnte er klug reden, über östliche Philosophie und den Tod von Sokrates. Es klang gut, aber weil ich selbst auch betrunken war, wenn ich ihm zuhörte, konnte ich mich später nie genau erinnern, was er gesagt hatte. Der allgemeine Tenor seiner Geschichten ist mir allerdings einigermaßen im Gedächtnis geblieben, es ging darum, daß es keine Stabilität gibt, daß alles sich fortwährend verändert, diese Art Geschwätz. So ging das weiter, ein Jahr lang vielleicht. In der Fabrik hatte ich alles mögliche zu tun. Ich kehrte den Boden, leerte Fässer in den großen Ketchuptank und stellte den mechanischen Rührer ein. Der Tank faßte an die fünftausend Liter, wenn wir fertig waren, aber ich war nie fertig, denn dann mußte es noch in Flaschen gefüllt und in die Supermärkte gebracht werden. Wenn nichts anderes zu tun war, half ich in der Buchhaltung, wo der Ketchup zu Geld geworden war, zu Geld vom Boss. Der Boss war ein dicker Dummkopf, der seine Sachen hübsch auf der Reihe hatte. Er machte gutes Zeug und bekam gutes Geld dafür. Das Zeug mußte natürlich gut sein, wegen seines guten Namens als Markenartikel, das erklärte er mir immer wieder. Ich machte auch die Kontrolle. Das war chemische Arbeit, mit Reagenzgläsern und Bunsenbrennern und Tröpfchen von diesem und jenem, aus einer Pipette. Man konnte dann, indem man alles kontrollierte und miteinander verglich, bestimmen, ob dieser Ketchup wirklich Ketchup war. Es war immer Ketchup. Bis auf das eine Mal. Ich machte meine Proben und zählte und schaute, aber es taugte alles nichts. Ich holte den Boss. Ach, war der Mann böse. Die Tomaten waren nicht in Ordnung gewesen. Der Ket104
chup war zu sauer. Wir fingen an, das Gemisch zu retten, mehr Zucker dazu, eindicken, sehr kräftig rühren, aber es wurde trotzdem kein Ketchup. Es wurde ein blutrotes, klumpiges Gelee, das eklig schmeckte. »Dann halt weg damit«, sagte der Boss. Er heulte beinahe vor Verzweiflung. Ich mußte ein Rohr an den Hahn unten am Tank schrauben und das Ganze aufdrehen. Das Rohr führte zu einem Abflußloch im Zementfußboden. Das Rohr platzte, und das Gelee strudelte über den Boden, schmatzend und brodelnd. Ehe wir wußten, wie uns geschah, standen wir bis zu den Knöcheln in weichem Glibber. Aber es war ein wunderbarer Anblick, das schon. Vor allem das Blubbern fand ich schön, erst war ein kleines Bläschen zu sehen, das wuchs zusehends, spritzte auseinander, und die dicken Tropfen klatschten zurück in den Brei. Das Geräusch war dementsprechend, als ob die Masse lebte und sich selbst wegschlürfte. Meinem Kumpel wurde schlecht, und er lief weg, und mein Boss fühlte sich auch nicht gut, aber mir gefiel es immer besser, und ich sah zu, wie die dickflüssige Flut meine Socken erreichte und durchnäßte und auf meiner Haut zu Krusten erstarrte. Es war ein Schauspiel, das ich nie vergessen habe und in dem sich mein ganzer langweiliger Trott auflöste. Als ich an diesem Tag, nach den Überstunden – der Boden mußte wieder saubergemacht werden und der Tank sterilisiert und neu gefüllt – nach Hause ging, hatte sich die Welt verändert. Ich sah überall Licht, und die Straßen waren überzogen von einer mächtigen Glut. Obwohl ich ganz normal ging, hatte ich den Eindruck, daß ich tanzte. Am gleichen Abend gab es wieder so eine Fete, und ich spürte dieses schöne Gefühl noch ein bißchen. Ich versuchte, mit einem Mädchen zu flirten, aber sie zeigte kein Interesse. Es war eine geile Braut 105
mit gierigen Lippen und Wackelbrüsten und langen Beinen. Frank war auch da. Er war wieder betrunken und redete drauflos, über die Weisen im Osten, nicht die, die bei Christus an der Wiege standen, sondern andere, von heutzutage, tiefschürfende Denker und Nabelbeschauer, die alles verstanden haben. Die Stimmung war bestens, und niemand hatte das Bedürfnis, belehrt zu werden. Frank hatte aufgehört zu reden. Er stellte sich zu mir und fragte, weshalb ich nicht mit den anderen mitmachte. »Die wollen mich nicht«, sagte ich. »Wer will dich nicht?« »Die Braut da.« »Und?« fragte Frank. »Was, und?« sagte ich gereizt. »Sie sieht mich nicht an, sie nimmt mich nicht wahr.« »Hör zu«, sagte Frank und zog mich zu einer ruhigen Stelle und entfaltete seine Theorie, zumindest dachte ich, es wäre Theorie. Es war Praxis. Es ging darum, erklärte mir Frank, daß, wenn man etwas will, man sich das, was man will, ausdenken muß, vorstellen muß. Man muß sich im einzelnen vorstellen, wie es sich anfühlt, was man tut und was man haben will. »Zum Beispiel diese Braut, was hast du mit ihr vor?« Er nickte, als ich ihm erklärte, was ich mit ihr erleben wollte. »Sehr gut. Dann stell dir das jetzt vor. Du tust es, genau so wie du es dir wünschst, alle Besonderheiten inbegriffen, und vor allem nicht die geringste Scheu zeigen, nie zurückschrecken. Klar?« »Und dann?« »Dann wirst du schon sehen.« Er ging sein Glas nachfüllen und 106
mischte sich in ein Gespräch ein. Ich saß da. Ich tat, was er mir gesagt hatte. Ich strengte mich wirklich an. Es ist schwierig, sich zu konzentrieren, aber wenn man ernsthaft will, dann geht es. Trotzdem verlor ich immer wieder den Faden und fing an, über Lappalien zu sinnieren. Das ärgerte mich wiederum. Ich krümmte den Rücken, ballte die Fäuste, schwitzte vor Anstrengung. Man könnte sagen, daß ich dasaß und betete, zu Frank, zu den Weisen aus dem Osten, zu allem, was mir helfen konnte. Nach dem Beten ging es besser, ich fühlte eine enorme Kraft in mir, eine brodelnde Kraft. Ich sah den Ketchupstrudel wieder, den sich heftig bewegenden Brei, und verlor mich in der tiefroten Farbe, in der orange Streifen aufblitzten, ich dachte mir das Geräusch dazu, das Gluckern der anschwellenden Blasen, das Spritzen, wenn sie aufplatzten. Es war besser als ein Film, denn ich stellte mir alles dreidimensional vor, und ich stand selbst mitten im Geschehen, gewissermaßen mit dem Ketchup in meinen Socken. Gleichzeitig dachte ich an das Mädchen und ließ mich durch meine eigene Lust in sie hineinstoßen. Ich schämte mich wegen solch aufschäumenden und tierischen Verlangens, aber Frank hatte gesagt, daß man nicht zurückschrecken darf, wenn man einmal angefangen hat, und ich machte weiter, genau wie dieser Glibber, der zum Abflußloch strömte, ohne Zögern. Ich umarmte das Mädchen in Gedanken, aber es war viel mehr als einfach nur das Umschlingen eines Körpers, es war ein Einkapseln mit ungezählten, blutroten, lebenden, greifenden Schleimfäden. Plötzlich saß sie auf meinem Schoß. Ich hatte nicht gemerkt, daß sie auf mich zugekommen war. Trotzdem war sie da, mit ihren Armen um meinen Hals. Die Fete war zu einem wirren Spektakel geworden, jeder lallte und produzierte sich, Trommelgedröhne und Trompetenge107
schmetter donnerten durch das Appartement, die letzten Schranken waren gefallen sozusagen, die Atmosphäre tat das Ihre dazu, aber ich war schon öfter auf versoffenen Parties gewesen und doch immer allein geblieben. Jetzt nicht. Ich konnte alles mit der Braut tun, was ich wollte, und sie kam sogar noch mit auf mein Zimmer. Es wurde ein richtiges Fest der Sinnenfreuden, das bis in den Morgen weiterging, und zwischendurch sah ich immer noch den Ketchup über den Zement strömen, ich hörte das feuchte Blubbern und das Schlürfen in der Abflußöffnung. Meine Wirtin verbot Damenbesuch, und ich mietete ein anderes Zimmer. Die Braut besuchte mich oft. Sie wohnte noch bei ihren Eltern, doch die kümmerten sich nicht sonderlich um sie. Sie kam mit dem Bus, und morgens früh brachte ich sie wieder mit dem Bus zurück. Alles verlief mehr oder weniger nach Wunsch, aber sie bedrängte mich immer mehr, ich solle ein Auto kaufen. Ich hatte nie ein Auto gehabt, obwohl ich fahren konnte. Sie begann noch eindringlicher zu quengeln, und ich war ganz ihrer Meinung, aber ich verdiente zu wenig, um einen nennenswerten Betrag zusammensparen zu können, denn ich wollte auch nicht in einem Wrack fahren. Ich traf Frank auf der Straße, er schlurfte an mir vorbei auf seinen kaputten Sandalen und aß dabei Erdnüsse. Er wollte Bier trinken, und ich nahm ihn mit in eine Kneipe. »Du siehst unglücklich aus«, sagte Frank, »was hast du denn jetzt wieder?« Ich erzählte ihm von dem Auto, das ich nicht besaß, und er sah mich spöttisch an, mit seinen großen, glänzenden Augen. Je mehr er trank, desto schöner glänzten seine Augen, ich mußte an Seewasser denken, das zwischen Felsen auf dem Strand Pfützen gebildet hat. 108
»Dummkopf«, sagte Frank, »ich dachte, ich hätte es dir erklärt. Du bist dumm, was?« Ich verstand ihn nicht, er mußte wieder von vorne anfangen und erklärte mir, andauernd Bier in sich hineinschüttend, umständlich, daß man sich, wenn man etwas will, es sich vorstellen muß. Er wollte weitertrinken, aber ich hatte eine Verabredung mit der Braut und ging fort. Sie konnte an diesem Abend nicht kommen, sie rief an, irgend etwas war mit ihren Eltern, und ich fing an, an das Auto zu denken, so zielgerichtet, wie ich konnte. Ich tat so unheimlich mein Bestes, daß der Ketchupstrudel wieder hervorbrach. Ich sah mich in einem stattlichen schwarzen Wagen mit Lederbezügen und einem Armaturenbrett aus teurem Holz. Der Wagen hatte breite Trittbretter, große, verchromte Scheinwerfer und eine kultivierte, aber doch auffällige Motorhaube. Es war ein englisches Modell. Ich fuhr ab und an in diesem Schlitten. Ich war so angestrengt bei der Sache, daß die Muskeln in meinen Schultern und im Nacken sich verkrampften, und meine Hände wurden klatschnaß. Am nächsten Tag dachte ich weiter daran, während der Arbeit, auf dem Weg zu meinem Zimmer, überall wo ich war. Ich träumte von diesem Wagen, meine Phantasie ging einfach immer weiter, und immer wieder brodelte der Ketchupstrudel um mich herum und durch mich hindurch. Das ist auch schon wieder lange her, fast dreißig Jahre liegt das zurück. Die Marke existiert überhaupt nicht mehr. Es war ein Humber Super Snipe, und ich ging zufällig an der Villa vorüber, wo er versteigert wurde. Ein reicher alter Mann, alleinstehend, war gestorben, und seine Neffen ließen seine ganzen Sachen meistbietend verkaufen. Die Versteigerung war schon fast vorüber, als ich vorbeiging, sie hatten 109
den Wagen bis zuletzt aufgehoben, und der Auktionator fing gerade an zu schreien, als ich den Rasen hinaufkam. Ich hatte nicht die Absicht, den Wagen zu kaufen, ich kam aus purer Neugierde dazu, aber als ich den Humber einmal sah, erkannte ich ihn sofort. Alles an dem Wagen war genauso, wie ich es mir erträumt hatte, Trittbretter, Scheinwerfer, Armaturenbrett, Bezüge, Linienführung und so weiter. Der Preis war niedrig, vielleicht hatten alle Käufer ihre Moneten schon angelegt. Ich hielt die Hand hoch, und schwups! ging der Hammer, noch einmal, noch einmal. »Für den Herrn dort.« Ob ich einen Moment mit ins Haus kommen wolle. Die Versteigerung war vorüber, alle gingen fort. Ob ich nur kurz zahlen wolle. So viel besaß ich überhaupt nicht. Der Auktionator wurde böse. Er sagte, es sei gesetzlich untersagt zu bieten, wenn man nicht genug Geld habe. Aber es war nun einmal so, ich hatte trotzdem geboten, und er saß da mit seinem Wagen. Ich schrieb einen Scheck aus über das, was ich besaß, und wir einigten uns über eine kulante Ratenzahlung. Ich durfte den Humber gleich mitnehmen. Die Braut geriet in allerhöchste Verzückung, was ich auch erwartet hatte. Es war Wochenende, und wir unternahmen sofort einiges: Tee trinken, Liebe machen, Essen in einem Ausflugslokal. Dann war mein Geld alle. Meine Geduld auch, denn die Braut wurde lästig. Ich wußte schon eine Zeitlang, daß sie lästig war. Sie war nach wie vor schön, aber sie war mir zu anstrengend. Sie trieb Sport und wollte frühmorgens schwimmen. Jetzt, wo ich den Wagen hatte, mußte ich sie hinbringen und abholen. Sexuell war sie unersättlich, wenn ich schon längst und doppelt und dreifach befriedigt war, fing sie schon wieder an zu fummeln. Eine Katastrophe war die Braut, und das Auto war auch eine Katastrophe. Man konnte unaufhörlich Benzin einfüllen, 110
und jedes Schräubchen kostete einen Tageslohn. Frank mußte über mich lachen, als ich wieder Bier für ihn bestellte. Er war Jude und benutzte jüdische Wörter. Er sagte, ich sei »nebbich« und kleinkariert. »Du befriedigst nur deine augenblicklichen Bedürfnisse«, sagte er, »und du denkst nie an den Hintergrund. Um so eine Braut und so ein Auto zu finanzieren, mußt du ein richtiges As sein. Wenn du bleibst, wo du bist, gelangst du nicht dahin, wo du scheinbar sein willst.« Ich glaubte ihm, und ich hatte es jetzt auch ein klein wenig verstanden. Wenn man sich in etwas hineindenken kann, dann kann man sich auch wieder hinausdenken. Ich fing erst einmal damit an, die Braut wegzudenken. Eine ganze Nacht lang war ich zugange. Keine Braut mehr, einfach allein sein für eine Weile, allein im Bett, allein essen, alles hübsch in Ruhe. Sie blieb weg. Das Auto dache ich um in ein kleineres Modell, das ging dann auch sehr schnell. Ein Bekannter wollte meinen Schlitten eintauschen gegen seinen Sportflitzer. Als das geregelt war, begann ich erst richtig. Wieder brauchte ich nur zu denken, alles kam einfach so auf mich zu. Bewerbungen kamen nicht in Frage, ich las nicht einmal die Stellenanzeigen. Ich wurde einfach so Verkäufer und verdiente unerhört große Provisionen am Handel in Maschinerien. Später habe ich die Bücher über ›Positives Denken‹ gelesen, aber darin stand nichts Neues, das ich nicht schon tat. Ich ging über Leichen, das allerdings. Man muß knallhart sein und darf nie zögern. Wenn man einmal weiß, was man will, darf man nicht einen Schritt zurückgehen, was nicht weicht, wird plattgemacht. Es ging nicht um die Maschinerien, es ging um Geld. Ich stellte mir einfach stapelweise Geld vor, Banknoten, knisterndes Papier, mit so 111
einem schönen weißen Bändchen darum. Ganze Packen. Das Geld kam, und ich kaufte Aktien, ehe ich sie kaufte, dachte ich stundenlang ›reich werden, reich werden‹, nichts anderes. Alles in allem ging es ziemlich langsam, nicht so schnell wie mit der Braut und dem Humber, aber es ging mir doch immer besser. Ich fuhr ein funkelnagelneues Lincoln Cabriolet, und bei einer Ampel stieg Fred ein. Er sah mehr als schrecklich aus, eingefallene Wangen, eingesunkene Augen, dreckig und auch krank. »Was ist mit dir?« fragte ich. Er sagte, er komme gerade aus dem Gefängnis, er sei betrunken gewesen und habe sich mit Polizisten geschlagen. Ich wollte mit ihm essen gehen, aber der Geschäftsführer ließ ihn nicht hinein, also kaufte ich Brötchen, und wir aßen im Auto. »Wie soll ich das verstehen?« fragte ich. »Du hast mir beigebracht, wie es geht, und dann sieh dir an, was du selbst davon zustande bringst. Dein Rezept funktioniert prima, das habe ich bewiesen. Weshalb wendest du deine eigene Formel nicht an? Wie ist es möglich, daß du ein Penner bist, ein Stadtstreicher, der auf der Straße schläft und betteln muß, um Alkohol kaufen zu können?« Frank sah mich an, seine Augen glänzten wieder so eigenartig. »Na?« fragte ich. »Ich will nicht reich sein«, sagte er leise. »Ich will genau der sein, der ich bin.« »Findest du es schön, so leben zu müssen?« fragte ich. »Von der Hand in den Mund? Sieh mich an. Ich brauche mir um nichts Sorgen zu machen.« Ich erzählte ihm ein amüsantes Erlebnis, das mir widerfahren war. Ich war in einer Kneipe gewesen, und als ich herauskam, hatte ich vergessen, wo ich mein Auto abgestellt hatte. Zufällig gab es 112
dort einen Autosalon, der noch geöffnet hatte, und ich hatte ein anderes Auto gekauft. Das erste kam nach einer Weile wieder zum Vorschein, die Polizei fand es für mich. Frank mußte nicht lachen. »Jeder lebt, wie es ihm am besten paßt.« »Nach seinen Wünschen«, sagte ich. »Und den Konsequenzen, die diese Wünsche mit sich bringen«, sagte Frank. Er aß seine Brötchen auf und hielt seine flache Hand vor mein Gesicht. Ich fragte ihn, was er wolle. »Geld«, sagte Frank. Aber das gab ich ihm nicht. Ich bin hart geworden. Die Leute müssen für sich selbst sorgen, finde ich. Außerdem kann man ja doch nie jemandem helfen. Wenn ich Frank Geld gegeben hätte, hätte er sich wieder betrunken, sich wieder mit Polizisten geschlagen und immer so weiter. Weshalb sollte ich ihm dabei helfen? Nicht lange danach hörte ich, daß seine Leiche in einer Gasse gefunden worden war, er war halb verhungert, halb zusammengeschlagen. Das ist nicht so schön, aber ich nehme an, daß es das war, was er wollte. Ganz wie er selbst sagte. Jeder mußte seinen Wünschen gemäß leben und die Konsequenzen akzeptieren, die diese Wünsche, einmal erfüllt, mit sich bringen. Ich persönlich finde, daß man Profit machen muß, sich in jeder Situation verbessern, nicht so sehr in Geld, Geld besitze ich schon, sondern allgemein. In der Zeit hatte ich übrigens noch viel damit zu tun, mehr Geld zu verdienen, ich war hier Direktor und dort im Aufsichtsrat, es hörte nicht auf, ich mußte zu Versammlungen, Briefe diktieren, endlos telefonieren, ich bekam Magenschmerzen davon, Krämpfe, die immer schlimmer wurden, und so einen sauren Geschmack im Mund. Ich arbeitete zuviel. Deshalb habe ich mich hierhergedacht, auf diese 113
Marmorterrasse mit Aussicht auf meine Besitztümer, inklusive meiner Frau. Ich finde es nett, wenn sie hier vor mir liegt, in ihrer Hängematte, ich betrachte mir gerne ihren Körper. Sie ist jetzt nicht da, aber demnächst kommt sie zurück. Ja, ich habe mich hierhergedacht. Richtig erfolgreich zu sein war auch nicht das Wahre. Besser, man führt ein stilles Leben. Das habe ich mir gedacht, auf die bekannte Art und Weise, sitzend, Fäuste geballt, Rücken gekrümmt, andauernd wiederholend, laut: »Stilles Leben, stilles Leben.« Hunderttausend Male. Ein stilles Leben in Luxus selbstverständlich, nicht in einer Hütte auf dem Acker. Die Villa, die Yacht, den ganzen Krempel hier habe ich mir dazugedacht. Ich habe alles bekommen. Verdammt, da ist der Krampf wieder. In meinem Magen. Das spüre ich doch jedesmal, wenn etwas nicht gutgeht. Aber bis jetzt wußte ich immer, was da nicht gutging. Zuerst hatte ich noch nicht genug Geld, war ich noch nicht hoch genug geklettert, später war es, daß ich zuviel arbeitete. Was kann denn jetzt bloß falsch sein? Manchmal denke ich ja, der gesamte Klimbim, der an mir hängt, ist zu schwer, ich muß ihn loswerden. Aber Unsinn. Dieser Klimbim ist meine Stabilität. Ich möchte doch kein armer Schlucker werden wie Frank und in einer trüben Gasse von irgendwelchem Gesindel zusammengeschlagen werden. Was kann es sein? Was will ich jetzt?
Beim Abspielen des Tonbands hören wir jetzt irgendein Klicken, vielleicht wurden Abschnitte aufgenommen und später wieder gelöscht. Ja, ich werde es versuchen müssen. Ich muß wieder denken, mit meiner ganzen Kraft. Ich tue es jetzt. Ich muß hier herauskommen, die 114
Krämpfe werden schlimmer. Ich habe schon Cola getrunken, das ist gut gegen Blähungen, wie mir scheint, aber die Schmerzen sind noch da. Ich werde alles tun, was ich kann, ich sitze hier, Rücken krumm, gespannt, ich konzentriere mich, da fängt es an, ich denke gerade an Frank und höre ihn, wie er, Gott ist das lange her, in der Vorzeit möchte man meinen, wieder sein Geschwätz von ›östlicher Weisheit‹ an den Mann bringt. »Alles verändert sich«, sagte er damals, »es gibt keine Stabilität.« Vielleicht ist das mein Problem, zu viel Stabilität. Au, der Krampf. Los, ich will mich hinausdenken, aus dem, worin ich jetzt feststecke. Es fängt wieder an. Der Ketchupstrudel, gut so, merkwürdig, wie leibhaftig so eine Vision sein kann, so eine Erinnerung. Der Strudel treibt hoch, aber nicht auf dem zementenen Boden der Fabrik, sondern in mir drin, in mir selbst, der Krampf hat damit zu tun. Was für ein wunderbares Gefühl, es nimmt alles in mir mit, allen Ärger, es wäscht mich rein, es kommt immer höher. Es tut jetzt nicht mehr weh. Blutrote, flüssige Schübe sind es. Höher, laß sie höher kommen, nein! Nein, doch nicht. Bitte -.
Das Tonband endete hier. Der Obduktion zufolge war der Mann an einer akuten Magenblutung gestorben.
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Die Scheidenmaus Peter Haanstra hat einen Buckel. Das ist unangenehm, aber wahr. Er kam damit zur Welt, durch die Schuld seiner Mutter. Als Kind, und auch noch seine Pubertät hindurch, nahm er ihr ihre Unvorsichtigkeit übel. Sein Gebrechen wurde durch einen bizarren Vorfall verursacht. Sein Onkel Piet, Zwillingsbruder seiner Mutter, lief aus mit dem Torpedobootjäger Tromp; das war noch vor dem Krieg. Onkel Piet, stramm in Leutnant-zur-See-Uniform, winkte vom Schiff aus zum Abschied. Seine Schwester rannte mit auf den Kai. Sie war hochschwanger. Sie gab nicht acht und fiel. Danach wurde sie von einem Auto angefahren, in dem andere Winkende ebenfalls nicht achtgaben. Man erwartete, daß sie ihr Kind verlieren würde, aber Embryo Peter blieb ruhig an Ort und Stelle, mit einem mißgebildeten Rückgrat. Später versuchte er, sich selbst zu beruhigen. Er war ja ohnehin ein häßliches Kind, mit einem zu großen Kopf, dünnem Haar und Storchbeinen. Da machte der Buckel auch nichts mehr. Das Gebrechen blieb natürlich störend. Er mußte maßgeschneiderte Jacken tragen und hinkte ein bißchen. Weil er nicht mit den anderen Kindern spielen konnte und weil sie grausame Scherze mit ihm anstellten, fand er etwas, womit er sich beschäftigen konnte. Mit seinen anormal großen Ohren schien er viel Musik aufzufangen, und seine langen, gelenkigen Finger fühlten perfekt die Klänge, die er aus dem Instrument hervorrief, dessen Form so wundersam in seinen Arm paßte. Für das Schulorchester war er so116
fort zu gut; er spielte Kammermusik mit zwei alten Herren und einer spindeldürren Jungfer, samstags nachmittags und sonntags. Wochentags übte er allein. Sein Vater, ein Geschäftsmann, der seinen mißgebildeten Sohn mit dem Leben zugleich in Kauf nahm, verschaffte Peter alle Musikbücher, Phonogeräte und Platten, die der Junge zu benötigen angab, und kümmerte sich weiter nicht um ihn. Wenn seine Mutter nicht in Krankenhäusern oder Erholungsheimen weilte, wo sie von zumeist eingebildeten Leiden genas, half Peter ihr beim Kochen. Nach dem Abitur – seine Noten waren hauptsächlich Zweien und Einsen – starb sein Vater, und seine Mutter verschwand frühzeitig in ein Altersheim. Das Elternhaus wurde verkauft, und Peter legte sein reichliches Erbteil in wertbeständigen Papieren an. Von dem Ertrag konnte er bequem leben, in einer Fünfzimmerwohnung mit Aussicht auf zwei Parks. Er ließ das Appartement schalldicht isolieren, so daß er genau so viel harmonischen Krach machen konnte, wie er wollte. Er hielt sich eine Katze und einen Papagei und verwendete viel Aufmerksamkeit auf die Zubereitung seines Essens. Weil er Geld besaß, brauchte er sein Talent nicht weltweit zu verbreiten. Leidenschaftliche versuchten ihn berühmt zu machen, aber er war zufrieden mit seinem Platz im Concertgebouw-Orchester. Er fand auch eine Hure, im dritten Stockwerk in der Beethovenstraße, die ihm gegen einen vereinbarten Stundenlohn und ohne lästiges Quengeln um sonstige Dreingaben einmal in vierzehn Tagen (den Frühling hindurch einmal pro Woche) genüßlich zur Befriedigung brachte. Er hatte keine Freunde, nahm niemanden mit nach Hause, spielte nur in den Häusern von Bekannten – nach dem Musizieren ging er meistens sofort nach Hause – und las viel, aber nie Zeitungen und Zeit117
schriften. Er besaß auch keinen Fernseher. Die Welt drehte sich sowohl um die eigene Achse als auch um die Sonne, ohne daß es Peter störte. Trotz seiner geregelten Existenz, seiner Kochkunst, seiner entspannten Beschäftigungen, sogar trotz seiner Musik war Peter weder zufrieden noch glücklich. Er war auch nicht unzufrieden oder unglücklich. Er nahm sein Dasein hin, so wie es war, und hoffte, es würde nicht zu lange dauern. Der Buckel plagte ihn noch immer, eine unregelmäßige, harte Schwellung, eine runde Ecke, die seine An- und Aussicht verunstaltete. Seine Katze lief fort und kam nicht mehr wieder. Plötzlich war eine Maus da. Er begegnete der Maus in seiner Küche. Eines Morgens, als er zur Anrichte schlurfte, um Kaffee zu kochen, saß die Maus in einer Tasse, die abzuwaschen er vergessen hatte. Aus der Tasse lugte ein Schwänzchen, rechtwinklig abgeknickt, zitternd. Die Maus fraß nassen Zucker und wollte nicht gestört werden. Peter schaute in die Tasse, die Maus schaute kurz zurück und fraß weiter. Schmutzige fiese Dreckmaus, dachte Peter. Krankheitsüberträger. Untier. Was hast du in meiner blitzblanken, reinlichen Küche zu suchen? Ich werde dich mit einem Hammer plattschlagen. Die Maus fraß weiter. Nein, dachte Peter, ich werde dich behalten. Ich möchte nicht allein mit einem Papagei leben. Ein kleines, warmblütiges, nervöses Tier ist genau das, was ich brauche. Er wußte, daß die Maus nervös war, denn das Schwänzchen, noch immer rechtwinklig abgeknickt – es war gewiß einmal gebrochen gewesen und kantig verheilt –, zitterte immer noch. Die Maus lebte bestimmt ein Jahr. Sie wurde dick, aber sie blieb 118
nervös. Sie war gut im Finden von Verstecken und darin, plötzlich zum Vorschein zu kommen. Sie war ein Überraschungselement ohnegleichen. Dennoch hatte sie einige feste Gewohnheiten. Wenn Peter sich rasierte, wollte sie auf dem Rand des Bades sitzen und zusehen. Weil das Bad glatt und hoch war, mußte Peter sie dann aufheben und hinsetzen und später wieder auf den Boden zurücksetzen. Abends, wenn Peter schlafen ging und eine halbe Stunde lang dahindämmerte, ehe er davontreiben konnte auf den Wogen des Vergessens, krabbelte die Maus über seine Beine, wobei das Tierchen auch Peters Geschlechtsteile berührte. Dieser intime Kontakt erregte Peter ein wenig. Die Maus erfüllt eine Funktion, dachte er auf einmal, und von diesem Augenblick an nannte er seinen Freund »Scheidenmaus«. Ganz logisch war dieser Name nicht, denn die Maus war ein Männchen, und Peters Geschlechtsteil war nicht mehr als ein sportliches Hindernis, über das es springen oder hinabgleiten konnte. Eine Maus braucht eine Höhle, dachte Peter. Er kaufte ein paar Kilo Ton und modellierte eine komplizierte Wohnung, zupfte hier und glättete da mit seinen auf dem Cello trainierten Fingern. Als er schließlich mehr oder weniger zufrieden war mit den ineinander verschlungenen Gängen und säuberlich glattgestrichenen und gerundeten Öffnungen, brannte er die Höhle im Ofen seiner töpfernden Nachbarin, deren Fahrrad er einmal repariert hatte und die er um einen Gefallen bitten konnte. Die Maus war interessiert, tat aber nicht, was Peter erwartet hatte. Sie kletterte über die Höhle und schien die Löcher und Gänge nicht zu würdigen. Sie lief immer um sie herum oder sprang über das Loch ihrer vorläufigen Wahl. Die Maus weigerte sich, das Innere der Höhle zu betreten und hatte statt dessen einen Heidenspaß an der Außensei119
te. Peter sah zu, während die Maus spielte. Das minuziöse Getue des Tierchens fesselte ihn. Geht sie jetzt? Ja, ja, ja? Nein, doch nicht. Verrückte Maus. Die Maus starb, aus Altersgründen oder an zu vielem Essen. Peter fand sie in einer Ecke des Schlafzimmers, auf dem Rücken, Pfötchen in die Luft, Schwanz still, aber immer noch rechtwinklig. Er ließ die kleine Leiche in den Mülleimer fallen und nahm sich vor, ein Meerschweinchen zu kaufen, das Caviar heißen sollte, aber er hatte es nicht eilig. Es war wieder Frühling, und er besuchte seine Hure. Die Hure erzählte ihm, sie werde heiraten und umziehen. Die Mitteilung bestürzte ihn. Was jetzt? Eines Sonntagabends spielte er im Concertgebouw. Als er nach draußen kam, regnete es, und es gab keine Taxis. Ein paar Schritte weiter wartete eine Frau. Er kannte sie vom Sehen, sie spielte Geige, eine der vielen Geigen, die vor ihm, wenn er sich mit seinem Cello beschäftigte, einen Teil der anschwellenden und himmlischen Chöre bildete. Er meinte, sich zu erinnern, daß sie Helene, Helena oder vielleicht sogar Lene hieß. Er grüßte sie, liebenswert und kollegial, und sie stellte sich neben ihn. Sie war viel größer als er. Er definierte ihre Schönheit als würdevoll. Sie sagte nichts und versuchte, ihren Regenschirm aufzuschütteln. Der Schirm wollte sich nur an einer Seite öffnen. Er hielt seine Hand auf, sie gab ihm den Schirm, er fummelte am Innenmechanismus, und der Regenschirm entfaltete sich langsam und regelmäßig. »Danke schön.« »Gern geschehen.« Es kam kein Taxi. 120
Es regnete stärker. Was für eine schöne Frau, dachte Peter. Sie ist größer als ich, aber was macht das? Ich habe einen Buckel, aber was macht das? Er betrachtete sie, nicht verstohlen, sondern in aller Ruhe. Der lange, zerknitterte Regenmantel bedeckte einen gutgebauten Körper. Sie hatte volle Lippen und ruhige Augen. Er fühlte, daß sie sowohl verlegen als auch allein war. Er fand, daß es heftig goß, die Bäume auf dem Platz schlürften das Wasser auf, so daß ihre zarten, wohlgeformten Blättchen wachsen konnten. Eine in einer Dachrinne, unter Dachziegelrändern stehende Drossel begann mit einer Kantate, doch sie überlegte es sich anders. Mach schon weiter, dachte Peter. Die Drossel gehorchte augenblicklich. Die Frau lächelte. Ein Taxi hielt. »Nach Ihnen«, sagte Peter. »Ich wohne in der Südstadt, wollen Sie nicht mitfahren? Oder wohnen Sie nicht dort?« Er nannte den Namen seiner Straße. »Daran kommen wir vorbei, teilen wir uns das Taxi.« In dem starken Verkehr mußte das Taxi oft anhalten. Die Frau streichelte ihr Bein. Wie es kam, wußte Peter nicht, aber seine Hand lag auf der ihren. Sie zog ihre Hand weg, so daß die seine auf ihrem Knie ruhte. Er dachte, daß er etwas tun mußte. »Kennst du die Geschichte von der Scheidenmaus?« fragte Peter. »Nein?« Ihre Stimme klang genauso fest wie die seine. Sie war eine einsame Frau und schüchtern. Er hatte einen Buckel, und er war häßlich. Sie zögerten jedoch beide nicht. Sie hatten alle beide schöne Stimmen, zusammen sangen sie, in fließender, ausgewogener Prosa. 121
»Die Scheidenmaus«, sagte Peter, »war auf der Suche.« Seine Hand kroch hinauf, den Rand ihres Rockes hochschiebend. Seine Fingerspitzen kitzelten über ihren Schenkel, höher und höher. Sie öffnete ihre Schenkel ein wenig. Die Maus, mutig, verfolgte unverdrossen ihren Weg. Sie sprang behende, voll nervöser Energie, weiter über den raschelnden Stoff ihrer Strümpfe, hin und her. Peters kleiner Finger stand hoch, das oberste Glied rechtwinklig abgeknickt. Der Schwanz-Finger zitterte. Der Stoff raschelte jetzt anders, denn seine drei Finger und der Daumen hatten ihr Höschen erreicht. »Die Scheidenmaus«, sagte Peter, »kommt immer näher.« »Ja?« Ihre Stimme war schwül, abwartend, kaum ermutigend, gewiß nicht entmutigend. Die Maus sprang, mit hüpfenden, flitzenden kleinen Bewegungen. »Sie kann es doch nicht finden«, sagte Peter, »und sie ist dick und faul.« Er gab etwas mehr Druck auf seine Fingerspitzen. »Fühlst du? Wenn sie es nicht finden kann, geht sie einfach wieder nach Hause. So, Schritt für Schritt.« Die Maus spazierte zurück, über den Schenkel, zum Knie. »Aus!« sagte Peter. »Sie ist jetzt zu Hause. Sie geht schlafen. Es ist ihr zu kompliziert.« »Soso«, sagte sie. »Hier wohnst du. Wie heißt du?« »Peter Haanstra.« »Ich heiße Helena.« Er gab ihr Geld. »Mein Anteil, bitte, danke, daß ich mitfahren durfte. Und tschüs!« Er stieg aus, sich langsam drehend, um seinem Buckel Platz zu machen. Sie grüßte ihn nicht zurück, aber er sah, wie ihre Lippen sich wölbten in einem sanften, verstehenden Lächeln. 122
»Tschüs«, sagte er noch einmal. Sie rief eine halbe Stunde später an. »Du sprichst mit Helena.« »Tag, Helena.« »Du hast mich neugierig gemacht. Deine Geschichte ist nicht gut ausgegangen. Du hast ein bißchen gelogen, wie? Die Maus ist doch nicht wirklich so müde und faul? Sie erschien mir ziemlich eifrig zu Anfang. Hat die Geschichte keinen zweiten Teil, den du mir vorenthalten hast?« Sie versucht, witzig zu sein, dachte Peter, aber es steckt ein tiefes Zittern in ihrer Stimme. Ein festes Zittern, ich kann das auch, auf dem Cello, aber ich kann es nicht immer. »Ja«, sagte er. »Ich habe die Geschichte nicht zu Ende gebracht.« »Möchtest du mir den Rest erzählen?« »Ja. Aber nicht am Telefon.« Sie mußte wirklich lachen. »Ich verstehe, das möchte ich auch nicht.« »Soll ich zu dir kommen?« fragte Peter. »Besser nicht«, sagte Helena. »Ich wohne zur Untermiete. Vorübergehend. Ich suche ein besseres Zimmer, aber das habe ich noch nicht gefunden.« »Kannst du zu mir kommen?« fragte Peter. »Ja. Aber dann mußt du Geduld haben. Es regnet nicht mehr, ich komme zu Fuß.« Er ging unter die Dusche und kochte Kaffee. Er betrachtete seinen Alkoholvorrat und schwankte zwischen Cognac und Calvados. Er stellte beide Flaschen hin und wählte zwei Gläser, ein langes Glas für sie 123
und ein antikes, schiefes Glas für sich selbst. Er zündete eine Kerze an, die er schon lange im Haus hatte, aber deren Nutzen er bisher nicht eingesehen hatte. Sie kam, als er alles vorbereitet hatte. Sie saß auf seinem Sofa, er saß neben ihr. Die Maus, gut ausgeschlafen und endlich von ihrer Neurose genesen, kam zum Vorschein und tat ihre einleitende Arbeit, bis das nicht mehr nötig war und aufhörte, weil sie vergessen war. »Peter Haanstra«, sagte Helena ein paar Stunden später, als sie wach wurde und ihn aufmerksam betrachtete, »du schnarchst, und du bist nicht, was ich mir vorgestellt hatte. Und ich habe Angst vor Mäusen. Und Scheide war für mich schon immer ein schmutziges und seltsames Wort.« Sie hielt seine Lippen aneinander. Er schmatzte und drehte sich langsam auf die Seite, ihr zu. Sie streichelte ihn, erst seinen großen und kahl werdenden Kopf, und danach, ganz sanft, seinen Buckel. »Du bist lieb«, flüsterte sie, »ich denke, ich bleibe bei dir, aber gleich gehe ich heimlich weg. Wenn du wach wirst, bist du allein. – Dann darfst du mich erobern. Mich anrufen und draußen auf mich warten. Manchmal gehe ich dann mit dir mit und manchmal nicht. Und du darfst mir noch mehr schöne Geschichten erzählen.« Sie ließ sich aus dem Bett gleiten und zog sich an.
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Der Räuber In den Niederlanden war ich bisweilen von den Schnellstraßen beeindruckt, besonders im Süden. Die langen, eintönigen Streifen glänzenden Asphalts, am Rand tadelloses Grün und ab und zu ein ordentliches Schild, auf dem der Name eines Dorfes steht, in das man nie im Leben kommen wird. Eintönigkeit kann schön sein, pflegte ich dann zu denken, und sah nach dem Geschwindigkeitszeiger, der die ganze Zeit bei hundert stehenblieb. Aber als ich in Amerika auf Schnellstraßen fuhr, begriff ich, daß Eintönigkeit nicht nur schön sein kann, sondern auch Größe hat, denn hier hören die Straßen überhaupt nie mehr auf. Ich verstehe nicht, daß die Leute auf Amerika schimpfen. Alles ist hier viel besser, und wer das nicht einsehen will, ist ein Dummkopf und noch eifersüchtig obendrein. Und wenn etwas danebengeht, geht es auch richtig daneben. Man kann hier in großem Stil vor die Hunde gehen. Wenigstens in den nördlichen Staaten, im Rest des Landes kenne ich mich noch nicht aus. Der Mindestlohn beträgt 7,20 Dollar pro Stunde, und wenn der Chef auf jemanden keine Lust hat, packt er einen beim Ohr, nimmt ihn mit zur Tür und bezahlt ihm genau das, was ihm noch zusteht, aus seiner Westentasche und exakt auf die Minute. Und wenn man bei der Sozialfürsorge landet, schaut ein mutiger Kerl einen aus beschlagenen Brillenaugen an und fragt, warum man nicht einfach arbeiten geht und wo der Vater wohnt, und er ruft den guten Mann an, während man 125
danebensteht, und macht ihn zur Schnecke. Und erst wenn Papa nicht zahlen will, bekommt man ein paar Dollar zugeschoben und ein Blatt aus einem Abreißkalender mit einigen Adressen. Da darf man dann arbeiten gehen. Mülleimer schleppen, Gräben ausheben, schwere Dinge wuchten. Arbeit zur Genüge. Und nicht mehr wiederkommen, wir haben schließlich Besseres zu tun. Und der Brillenkerl nimmt sich noch einen leckeren frischen Kaffee aus einer blitzblank gewienerten, vollautomatischen Kanne. Ein schönes Land, schöne Straßen. Hügel mit beachtlichen Bäumen obenauf, grellgelb. Die hat man hier im Herbst. Und Nadelbäume, die sich verfärben und im Winter ihre kahlen Zweige zeigen. Die Indianer nennen sie hekmeteks. Wunderbare Bäume. Und auf einem Schild steht, daß MacDonald’s Kaffee ausschenkt und Hamburger verteilt, aber dafür muß man noch zwanzig Meilen weiterfahren. Ich versuche, mir einen Berg vorzustellen, der aus siebzehn Milliarden Hamburgern aufgebaut ist. Einen Mount Everest aus verbranntem Hackfleisch und dazu einen Mont Blanc von Salatblättern, denn ein Salatblatt gibt es auch dazu, hat man da noch Töne. Sieh da, ein Tramper. Das ist hier verboten, aber Amerikaner machen alles. Die Polizei macht auch alles. Die schleifen so jemanden an den Haaren zu ihrem nagelneuen Oldsmobile und schließen ihn mit Handschellen an ein Chromgestänge. Wenn er pinkeln muß, darf er. In die Hose. Die Autos werden jeden Abend mit Dampf saubergespritzt, und der hintere Teil ist durch eine Scheibe aus kugelsicherem Glas vom Fahrer- und Beifahrersitz getrennt. Hinten darf man so sehr stinken, wie man will. Ich halte an. Bremskraftverstärker. Der Wagen rauscht an den Straßenrand und bleibt seufzend stehen. Der Anhalter steigt ein und 126
murmelt einen Gruß. Guten Tag. Einen sehr guten Tag. Ich frage ihn nicht, wohin er will, denn es ist mir egal. Er wird es mir schon sagen – und dann trete ich wieder aufs Gaspedal. Ich betrachte ihn kurz, gegen den Hintergrund der gelben hekmeteks, die mit sechzig Meilen pro Stunden vorübergleiten. Ein Bartaffe. Zwischen dem Haar eine runde Brille mit einem verbogenen Gestell. Gescheite, verschmitzte Augen. Er trägt eine alte Armeeuniform, und auf seiner Blumenkohltolle thront eine Kampfmütze mit hochgeklapptem Schirm. Er ist einigermaßen sauber, nur aus seiner offenstehenden Jacke dringt ein leiser Haschischdunst. Seine Hände sind ebenfalls sauber, die Nägel viereckig geschnitten. Er hat eine Schultertasche mit einem Reißverschluß, den er aufzieht. Ich denke, er will mir eine Zigarette anbieten, aber aus der Tasche kommt ein Revolver, und der Lauf zielt auf meine Augen. Ein Räuber. Sieh mal an. Man liest immer von armen Autofahrern, die von Anhaltern beraubt werden, aber mir ist das noch nie passiert, und jetzt, zum Teufel, ist es soweit. Er deutet auf den Straßenrand. Aber gewiß. Mein Fuß drückt schon auf die Bremse. Einen Augenblick lang denke ich noch, daß ich genau jetzt Gas geben müßte, denn dann kann er nicht schießen, dann fahren wir gemeinsam zur Hölle. Und ich könnte auch lebhaft zu reden anfangen und seine Aufmerksamkeit ablenken und dann den Revolver wegdrücken und ihm die Brille in die Augen schlagen. Es gibt allerlei Möglichkeiten, doch ich steuere brav auf den Straßenrand zu. Mir ist alles wunderbar egal. Er darf den Wagen haben, ich werde in aller Ruhe weitertrampen. Der Wagen ist versichert. Und das Geld, das ich bei mir habe, darf er auch haben, es ist nicht viel. Und die Kreditkarte auch, warum nicht? 127
Ich weiß die Nummer, ich brauche nur kurz anzurufen und bin nicht mehr verantwortlich für die Auszahlungen. Das ist alles tadellos geregelt in Amerika. »Money«, sagt der Räuber. Er hätte natürlich »Money or your life« sagen müssen, aber vielleicht war er etwas nervös. »Sure.« Ich gebe ihm meine Brieftasche, so einen kleinen, praktischen Geldbeutel, der in die Gesäßtasche paßt und dessen Verschluß ein verkupfertes Dollarzeichen ist. Er tastet in meine Innentasche und holt meinen Paß heraus. Erstaunt blättert er darin. Jawohl, ich bin ein Niederländer. Er gibt ihn mir wieder zurück. Er klopft meine Jacke ab, aber ich bin nicht bewaffnet. Zwar habe ich ein Stilett in der Seitentasche, aber das findet er nicht. Ich habe seinerzeit mit einem solchen Messer zu kämpfen gelernt, und er murkst so ungeschickt herum, daß ich schon die Möglichkeit sehe, das Messer zu ziehen und ihm in den Hals zu stechen, aber ich tue es nicht. Vielleicht hätte ich es getan, wenn er wirklich etwas verbrochen hätte, aber so war es nicht. Der Wagen ist ein Fehlgriff gewesen, ein ziemlicher Heuler. Ich habe sowieso schon vor, ihn gegen etwas Richtiges einzutauschen, einen Jeep, hatte ich gedacht. Und jetzt kann ich den Jeep von den Versicherungsdollars kaufen, bar auf die Hand, kein Gefeilsche um den Eintausch. Ein Glücksfall eigentlich. Aber etwas will ich doch noch. »Hör zu«, sage ich, während ich vom Steuer wegrücke. Er schaut fragend. »Ja?« »Die Benzinuhr taugt nichts. Sie zeigt voll an, siehst du? Der Tank ist aber nur zu einem Viertel voll. Du mußt demnächst tanken, sonst bleibst du mitten im Nichts stehen, und dann kriegt Smokey dich.« 128
Smokey ist die Polizei. »Thanks.« Ich sehe, wie der Wagen wegfährt, und gehe erst einmal pinkeln. Es ist ein klarer Tag, etwas sommerliche Wärme hängt noch in der Luft. Und ich rauche eine Zigarette, und dann kann ich immer noch den Anhalter spielen. Ich habe keine Eile. Aber der erste Wagen, der vorbeikommt, nachdem ich zu Ende gepinkelt und geraucht habe, unter einem enormen Tannenbaum, ist meine eigene, knallrote Schrottkiste. Und der Räuber sitzt am Steuer. Er fährt auf den Seitenstreifen und steigt aus und kommt auf mich zu. Seine Schultertasche liegt noch auf dem Beifahrersitz. »Hello.« Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Er deutet auf den Wagen und gibt mir den Schlüssel. Wir steigen gleichzeitig ein, und schon fahren wir wieder. »You are a friend«, sagt er, und ich verstehe, was er meint. Das ist Hippiesprache, von der ich annahm, daß sie nicht mehr existiert. Ich bin dieser Sprache in modernen Reiseromanen begegnet. Als die Hippies gerade erst anfingen und noch frei und froh waren, war jeder mit langen Haaren ein friend. Man konnte einander vertrauen. Ich habe kein langes Haar, auch kein kurzes Haar, das kommt einfach daher, daß ich schon seit mehreren Wochen immer wieder vergesse, zum Frisör zu gehen. Wir halten bei MacDonald’s. Mein Geld habe ich wieder, er hat mir die Brieftasche auf die Knie gelegt. Wir bestellen die teuersten Hamburger und die größten Becher Kaffee. Und wir fahren weiter. Stundenlang. Ich habe ihn noch immer nicht gefragt, wohin er will, aber wenn wir so weitermachen, sind wir in einer Stunde aus Amerika 129
heraus und in Kanada. Ich bin übrigens fast zu Hause. Es ist, wie ich dachte. Er fährt nirgendwohin, er ist unterwegs. Und inzwischen habe ich noch eine junge Dame aufgelesen, nicht hübsch, nicht häßlich, aber mit einem freundlichen, braungebrannten Gesicht und ausgebleichtem blondem Haar. Sie trägt einen abgetragenen Jeansanzug und einen Rucksack. Unterwegs nach Kanada. Sie möchte eine Zeitlang in einer Kommune wohnen und erzählt, wie schön das ist. Kein Privatbesitz mehr, alles miteinander füreinander. Mir kommt das schrecklich vor, aber ich bin zu höflich, ihr zu widersprechen, und zu müde auch, und ich muß von der Autobahn hinunter und träume von meinem Häuschen am Ufer. Es ist ein schönes Haus, mit einem vorstehenden Obergeschoß. Ein Garnisonshaus heißt das hier. Sie stammen aus der Indianerzeit, als die Rothäute noch den Mut besaßen, die braven Weißen zu überfallen. Dann konnte man ihnen vom Obergeschoß aus ins Genick schießen, denn zu dieser Zeit gewannen die Indianer noch häufig. Heute gewinnen sie nicht mehr; sie haben endgültig verloren. Sie hocken in Reservaten und trinken Bier. Ich sehe sie mitunter vorbeikommen, immer sturzbetrunken. Es sind immer noch schöne Menschen. »Ich muß hier nach links«, sage ich und halte, doch der Räuber und das Mädchen bleiben sitzen. Ich warte, und sie fangen an, sich zu bewegen. Der Räuber dankt mir und streckt mir seine Hand hin, und ich denke an die Bibel. Wenn du einen Mantel hast und der andere hat nichts, dann mußt du den entzweischneiden. Er braucht keinen Mantel, aber er wird doch Hunger haben. Und die Braut womöglich auch. »Ihr könnt bei mir übernachten, heute.« Die Wagentüren schlagen zu, und wir fahren weiter. 130
Es ist dunkel, als wir nach Hause kommen. Mein Haus ist immer noch nicht möbliert, obwohl ich hier schon seit Jahren wohne. Ich habe nur die Perserteppiche ausgelegt, die ich aus Amsterdam mitgenommen habe, um sie hier gewinnträchtig zu verkaufen, aber daraus ist nichts geworden. Und ich habe ein Bett natürlich, und einen Kühlschrank, und eine Tiefkühltruhe und einen Fernseher, und eine Motorsäge, und ein Boot mit Außenbordmotor, und einen Rasenmäher, und einen Stapel Reservereifen und alles, was der Vorbesitzer loswerden wollte. War im Preis des Hauses inbegriffen. Und ich habe genug zu essen, und eine Korbflasche Whisky, von der nur der obere Rand weggepichelt ist. Ich trinke nie allein, und falls doch, nur ein kleines bißchen. Sie duschen, während die Steaks auftauen, und ich dusche, während sie das Kaminfeuer anzünden. Wir trinken Whisky, während die Tannenscheite knacken und feurige Späne gegen den Schirm aus geflochtenem Draht prasseln. Ich habe eine Öllampe angezündet, auch vom vorherigen Besitzer. Jedesmal, wenn es stürmt, fällt der Strom für einige Stunden aus, und dann ist so eine Lampe praktisch, aber ich benutze sie fast jeden Abend. Das Licht ist weich und matt. Wir essen Steaks mit Radieschen und gedünstete Birnen mit Schlagsahne zum Nachtisch und gehen danach wieder zum Whisky über. Der Räuber erzählt von New York. Er hat im Gefängnis gesessen und wäre fast schon wieder dort gelandet. Ladendiebstähle, etwas Haschischhandel, Autos geklaut. Wahrscheinlich stimmt das nicht, vielleicht hat er mit Heroin herumgemacht oder alte Damen ermordet. Das Mädchen kommt auch aus New York, sie hat Soziologie studiert. Es ist noch unklar, mit wem sie heute nacht ins Bett gehen wird. Der Räuber sieht frisch aus, und sein Haar glänzt von meinem Shampoo. Sie erzählen noch immer von New York, von den 131
ewig brennenden Feuern in Mülltonnen, an denen alte Männer sich die Hände wärmen, von der Polizei, die jeden sofort zusammenschlägt, von der U-Bahn, in welche die Straßenjugend mit Spraydosen schmutzige Wörter schreibt. »It’s hell«, sagt das Mädchen. Gut, New York ist die Hölle. Ich lege eine Platte auf, und ein Neger fängt an, auf einer Trompete zu blasen. Ich bin betrunken genug, um die Trompetenstöße sehen zu können, lange, silberne Streifen, die durchs Zimmer ziehen. Der Räuber ist auch betrunken, er stolpert über den Teppich, als er zur Toilette will. Das Mädchen sitzt immer noch allein da, aber er zwinkert mir von der Tür aus zu und zeigt auf sie und macht mit der flachen Hand eine allumfassende Gebärde. Dann zeigt er noch einmal auf sich, um es ganz klar zu machen. Richtig. Ich habe es verstanden. Ich werde es kurz versuchen, und wenn sie nicht will, lege ich mich allein schlafen; das tue ich meistens, und es gefällt mir ziemlich gut. Ich strecke eine Hand aus, und die Hand fällt und landet auf ihrer Schulter. Sie rutscht näher. Der Räuber kommt nicht mehr zurück, ich höre, wie er oben herumläuft, während ich neue Scheite aufs Feuer lege. Ich hole Decken und Kissen und mache ein Bett vor dem Kamin. In dieser Nacht bin ich noch einmal aufgewacht. Der Räuber stellt den Plattenspieler ab. Ich hatte das Schaben der Nadel nicht gehört, aber es schien ihn durch die Zimmerdecke hindurch wachgehalten zu haben. Das Feuer ist beinahe verlöscht, und das Mädchen rückt näher zu mir heran. Die Tür schnappt zu, und ich höre den Räuber die Treppe hinaufstolpern. Am nächsten Morgen bringe ich sie zur Autobahn. Der Räuber gibt mir die Hand und die Soziologin einen Kuß, einen freundschaftlichen 132
Kuß auf die Wange. Ich fahre unbeholfen los und gerate mit dem Vorder- und Hinterrad auf den Seitenstreifen. Ich bin ein bißchen gerührt. Oder vielleicht noch immer nicht an diese großen Autos gewöhnt.
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Ein anstrengender Strandspaziergang Die Ostküste der Vereinigten Staaten wird, angefangen bei New York, immer langweiliger, je weiter man nach Norden kommt. Außer organischem Landbau, Vergnügungsfahrten in den vielen Buchten, dem Suchen von Muscheln und der Beobachtung von Möwen, das alles lediglich in der kurzen Sommerjahreszeit, gibt es immer weniger zu tun, und es wird auch frischer und kälter im Winter. Das Seewasser hat einen eisigen Unterton, und nur sportliche Asse strampeln länger als fünf Minuten darin herum. Die Menschen werden, ebenfalls je weiter man nach Norden kommt, bedächtiger und mürrischer, das liegt an ihrem Charakter. Der Mensch hat allerdings auch ein Innenleben, und bisweilen wird behauptet, die Ostküste biete einen reichen Nährboden für allerlei künstlerisches Talent; vielleicht ist das der Grund, weshalb man manchmal einem Schriftsteller begegnet oder aus einer Scheune klassische Musik hört. Es wohnen auch Maler und Bildhauer dort, einsame Leute, die fleißig auf Speichern arbeiten. Die einheimische Bevölkerung setzt ihr Dasein schweigend fort, und es kann Jahre dauern, ehe man jemanden ein wenig kennenlernt. Menschen sind gleichwohl soziale Wesen, und während man höflich seinen Geschäften nachgeht, kann man selbst hier Freundschaften schließen, beständig in der dahinströmenden Zeit. Michael ist mein Freund geworden. Er stammt aus der Gegend, und seine Vorväter rodeten den steinigen Boden, fingen Fisch und rührten sich, bis auf ein einziges schwarzes Schaf, kaum von der Stelle. Sein 134
Vater ist der Richter des Dorfes, und Michael hat eine Arbeit bei der Gemeinde, er leitet die örtliche Einrichtung, die das Abwasser reinigt. Aus einer Glaskabine schaut Michael, acht Stunden am Tag, fünf Tage in der Woche, auf ein Gefüge von Röhren und Trommeln, in denen Exkremente gluckern. Wenn bestimmte Lämpchen zu leuchten anfangen, ist irgend etwas nicht in Ordnung. Dann steht er auf und unternimmt etwas. Wenn die erforderliche Korrektur eine bestimmte, zuvor festgelegte und einfache Formel übersteigt, ruft Michael jemanden an. Er verrichtet diese Arbeit schon seit Jahren und fühlte sich wohl dabei, bis vor kurzem. Die durch Arbeit und Haus bedingte Eintönigkeit schien ihm immer zu gefallen. Sein Haus, eine langgezogene Holzkonstruktion unter einem steifen, dreieckigen Dach, von Garten umgeben, beherbergt seine nicht allzu schöne Frau, die pro Jahr einen Hektar gestreiften Stoff webt und in Vorleger und Kissenbezüge zerschneidet, und seine Kinder, die sich meines Wissens anständig benehmen. Michael ist ein langer, schlanker Mann, der seine Schultern breit und seine Hüften schmal hält, indem er täglich ein Stündchen die Straße entlangläuft, in seinem Garten gräbt, Holz hackt und einen Abend pro Woche mit Bällen wirft. Seine großen, blauen Augen schauen unschuldig auf eine stille Welt. Er hat blondes, lockiges Haar und kleidet sich in die Tracht der Gegend: Jacke mit großen Karos, eine Jeans oder eine Cordhose und halbhohe Stiefel. Wir begegnen einander, wenn ich ins Dorf gehe, und trinken Kaffee in der alkoholfreien Gaststätte. Obwohl die Zeit hier unbemerkt vorübergleitet und jeder sich zu beschäftigen weiß, gibt es zumindest einen gefährlichen Monat; der Sheriff stellt dann zusätzliches Personal ein. Der Frühling will sich nicht so recht einstellen, es regnet, der Boden wird zu Schlamm, die 135
Bäume stehen kahl und grimmig in der Landschaft, und die Sträucher rascheln dürr. Die Menschen werden dann unangenehm. Es gibt Zusammenstöße und Schlägereien, Nachbarinnen keifen, die Post wird schleppend ausgeliefert, Telefonleitungen reißen und werden nicht sofort wieder instandgesetzt. Sogar Michael lief, als das allgemeine Tief wieder einsetzte, griesgrämig umher. »Du mußt einmal für eine Weile heraus aus deinen vier Wänden«, sagte ich, und er erzählte mir von seinem Bruder an der Westküste, in Los Angeles, Kalifornien. Ein Taugenichts, dachte ich, aber es war nur halb so schlimm: Der Bruder war als Verstoßener fortgegangen, hatte sich im fernen Westen jedoch wieder bekehrt. Er sei Buchhalter bei einer Filmgesellschaft, hieß es. Michael hatte seinen Bruder besucht. Jetzt war er wieder zurück, und ich bestellte Kaffee und fragte ihn, wie es ihm gehe. Wenn man das hier fragt, sagt der Angesprochene, daß es ihm gutgeht. Danach spricht man dann über das Wetter, oder über die Natur. Jemand hat einen Bären die Straße überqueren sehen, oder es schwimmt anormal viel Makrele in der Bucht, oder die Apfelbäume stehen in Blüte, es ist immer irgend etwas los. Michael sah mich ratlos an. »Na?« »Gott im Himmel«, sagte Michael, »komm mir noch einmal mit so etwas. ›Du mußt einmal heraus aus deinen vier Wänden‹, sagtest du, weißt du noch? Tja, das habe ich getan. Gott im Himmel.« »War es nicht schön?« »Nein«, sagte Michael, »oder eben doch. Anders war’s. Furchtbar. Ich bin nie fort gewesen, ich gehe auch nie mehr fort. Gott im Himmel.« 136
»Erzähl mal.« Er holte tief Atem. »Anders war’s. Bis Boston war alles noch in Ordnung. Normale Leute im Flugzeug, aber wenn du umsteigst, fängt es an. Männer in Glanzanzügen und mit geblümten Krawatten. Frauen mit wenig an. Da auf der anderen Seite ist es warm, und sie ziehen sich schon einmal dementsprechend an. Eine einzige Sauferei. Nicht ein Drink vor dem Essen, sondern in einem fort. Die Leute, neben denen du sitzt, laden dich ein, und dann mußt du sie auch einladen, und die Stewardessen traben hin und her. Ich mußte auf die Toilette, aber der Mann neben mir war zu dick, ich wartete, bis er aufstehen würde, aber das tat er nicht. Ich mußte immer nötiger. Es ist ein langer Flug. Als wir landeten, mußte ich wirklich dringend. Auf dem Flughafen quasselt jeder nur dummes Zeug, ich wollte wissen, wo die Toilette war, aber niemand hatte Zeit, mir zuzuhören. Ich fand sie selbst, aber die Tür war zu. Man muß Geld ins Schloß stecken, und ich hatte das passende Kleingeld nicht. Wenn ich zur Toilette muß, dann muß ich. Es ist unanständig, mich dann zurückzuhalten. Ich wurde böse, das werde ich nie, aber da ist es anders. Die Tür war zu, und ich mußte hindurch. Ich habe sie eingetreten.« »Was?« Er nickte beschämt, sah aber auch stolz aus. »Ja. Sie ging nach innen auf. Jemand, der dahinter stand, fiel um. Die Scharniere sprangen ab. Es war mir egal. Ich rannte weiter. Ich tat, was ich tun mußte, und fühlte mich besser, wieder ruhig, so wie hier. Ich ging hinaus, durch die kaputte Tür. Gegenüber der Toilette saßen Mädchen, die Autos vermieteten, in Kabinen. Schöne Mädchen. Sie lächelten mich an. Die Schönste, sehr zierlich, mit langem schwarzem Haar und einem schmalen Gesicht, 137
winkte mich zu sich her. Sie hatte eine Bluse an, durch die man hindurchsehen kann. Sie fragte, ob ich ein Auto brauchte, aber mein Bruder kam schon angelaufen, und der hat ein Auto. Sie fragte auch, zu welchem Sternzeichen ich gehöre.« »Du bist bestimmt ein Widder«, sagte ich. »Nein, das dachte sie auch. Das bin ich nicht, ich bin ein Fisch, Fische treten keine Türen ein, ich tue das normalerweise auch nie. Das Mädchen gab mir ihre Karte, ihr Name und ihre Telefonnummer waren zwischen den bedruckten Teil geschrieben, falls ich vielleicht doch noch ein Auto bräuchte.« »Jaja.« Michael zupfte an seinen Locken, die sich in der Mitte zu einem Zipfel formten. »Ja. Ich bin mit meinem Bruder mitgefahren. Er sah gut aus. Er hat eine schöne Wohnung und eine Frau, die außergewöhnliches Essen kocht. Tauben im Ragoutrand und Froschschenkel, das esse ich hier nie.« »Hat es dir geschmeckt?« »Nein. Sie haben auch Kinder, schon etwas älter, die spielen Schallplatten mit Rockmusik und bringen andere Kinder mit. Die Wohnung ist nicht besonders groß.« »Magst du Rockmusik?« »Nein. Aber sie waren sehr nett. Morgens brachte ich meinen Bruder zur Arbeit, und dann hatte ich das Auto. Ich fuhr etwas herum. Los Angeles ist eine große Stadt. Ich blickte nicht richtig durch bei dem Verkehr, und die Polizei hielt mich ein paarmal an, aber weil ich von hier bin, bekam ich keinen Strafzettel. Nach einer Weile ging es besser.« »Das Mädchen«, sagte ich, »mit der durchsichtigen Bluse und 138
dem langen schwarzen Haar.« »Ja. Ich rief sie an. Sie fragte mich, ob ich vorbeikäme. Ich wollte mit ihr essen gehen und ins Kino, aber das war nicht nötig. Es war alles in Ordnung, ich war noch keine zehn Minuten in ihrer Wohnung, und es war alles in Ordnung. Danach sind wir doch noch essen gegangen. Sie war geschieden, sagte sie. Ich dachte, es ginge nur auf zwei oder drei Arten, aber sie kannte viel mehr. Sie hatte auch Alkohol im Haus, den gleichen Whisky, den ich hier auch manchmal trinke. Über ihrem Bett hing ein Bild, das aus blauen Flächen bestand, man konnte ganz tief hineinsehen. Das war amüsant, so zwischendurch. Sie war eine ziemlich anstrengende Frau, sie redete auch anders, mit Worten, die ich nicht sofort verstand. Ich versuchte, ihr zu erzählen, wie es hier ist, aber das verstand sie nicht.« »Hast du dich in sie verliebt?« »Nein. Ja, vielleicht doch. Nein, ich denke nicht.« Er modellierte weiter an dem Zipfel auf seinem Kopf. »Gott im Himmel. Nein, ich bin nicht verliebt, glaube ich, aber ich denke schon an sie, und an dieses Bild. Sie hatte weniger Möbel in ihrer Wohnung als die Leute hier. Ich brachte ihr Blumen mit, zu viele, sie wollte nur eine einzige Blumen in einer Vase haben und gab den Rest ihrer Nachbarin. Die traf ich auch, im Fahrstuhl, eine Schwarze, auch jung, auch mit wenig an. Sie sagte, sie hätte gehört, daß ich so gut sei.« »Warst du das?« »Nicht so sehr, aber ich konnte es lange aushalten, vielleicht ist das gut.« »Und was hast du der Nachbarin geantwortet?« »Na ja, daß ich es schön fände, wenn ich so gut wäre, daß es gut ist, einen guten Ruf zu haben, man muß doch etwas erwidern. Sie 139
lachte mich an. Sie wohne auch allein, sagte sie, und arbeite meistens am Abend. Ich könnte doch einmal tagsüber vorbeikommen, wenn die andere, die Weiße, Loretta heißt sie, arbeiten müßte.« »Hast du das getan?« Er zerrte an seinem Zipfel und drehte ihn zu einer noch schärferen Spitze. »Nein. Aber eines Abends fragte Loretta, die Weiße, ob ich nicht die Nacht über bleiben wolle, und ich habe meinen Bruder angerufen, der fand es in Ordnung, er würde mit dem Bus zur Arbeit fahren. Beim Frühstück fragte Loretta, was für Phantasien ich hätte.« »Phantasien?« »Ja, Perversionen. Was du gerne würdest, dich aber nicht traust. Sie erklärte es. Was du heimlich gerne möchtest.« »So.« »Gott im Himmel.« »Jeder hat Phantasien«, sagte ich. »Ja? Du auch?« »Gewiß.« Er seufzte. »Gut. Ich habe sie auch. Alle möglichen Schweinereien, aber darüber spricht man nicht. Sie wollte es trotzdem wissen, und da sagte ich schließlich, ich mußte doch etwas sagen, daß ich es gerne einmal mit zwei Frauen gleichzeitig treiben würde. Das geht natürlich nicht, aber der Reihe nach geht es schon, während die andere dabei ist. Und dann die andere wieder. Verstehst du?« »Ja.« Er redete etwas schneller. »Und ich sagte, sie könnte vielleicht die Nachbarin anrufen. Das tat sie, aber die Nachbarin war nicht da, war einkaufen gegangen. Ich wollte zwar warten, aber Loretta sagte, es wäre ihre Phantasie, die Phantasien von Männern auf der Stelle zu 140
befriedigen, und daß wir nicht weit vom Strand wären und daß Frauen in Kalifornien ganz unkompliziert sind, wir bräuchten nicht auf die Nachbarin zu warten, das ginge später immer noch.« Ich seufzte. »Ja. Innerhalb von fünf Minuten waren wir am Strand. Frauen lagen da genug. Loretta fragte, ob ich eine bestimmte nett fand, und ich zeigte auf eine, und sie ging auf das Mädchen zu. Ich blieb stehen. Loretta zeigte auf mich, aber ich konnte nicht hören, was sie sagte. Das Mädchen wollte nicht. Loretta ging weiter zu einer anderen. Wieder zeigte sie auf mich, als ob ich ein Sklave wäre, oder ein Stier, oder ein fettes Schwein. Ich blieb immer zehn Schritte hinter ihr. Manche Mädchen kicherten, und andere wollten zwar ihre Telefonnummer geben, konnten aber nicht sofort. Loretta ging sogar auf ein Pärchen zu, der Kerl hätte schon gewollt, aber sie sagte, daß meine Phantasie nur mit zwei Frauen funktionierte, nicht mit noch einem Kerl dabei.« »Gott im Himmel«, sagte ich. »Genau. So ging es weiter, den ganzen Strand auf und ab. Manchmal mußte ich dazukommen, und dann sah so ein Mädchen mich aus der Nähe an, bis in meine Badehose.« »Haben sie dich befingert?« »Nein, so nah kam ich nicht. Es war schlimm genug.« »Und?« »Es ging nicht. Sie wollten zwar, einige zumindest, aber es war noch früh, und sie mußten in die Stadt zur Arbeit. Manche Büros machen erst um zehn Uhr auf, dann gehen die Mädchen vorher noch schwimmen. Ob es nicht später ginge, fragten sie, abends, aber das wollte Loretta nicht.« »Nein, nein, nein«, sagte ich. 141
»In der Tat. Ich wollte nach Hause. Loretta wurde böse auf mich. Sie wollte noch weiter den Strand entlang. Sie fand es schön, mit den Mädchen zu reden und auf mich zu zeigen.« »Bist du nach Hause gegangen?« »Ja.« »Und später hast du Loretta wieder aufgesucht?« »Nein. Ich bin mit einem Bus nach Mexiko gefahren, für ein paar Tage, mit anderen Leute, meistens älteren, manche kamen von hier.« »Wann bist du zurückgekommen?« »Gestern.« »Und wie geht es dir jetzt?« Er kämmte seinen Zipfel weg. »Es geht mir schlecht. Ich bin schon beim Arzt gewesen, ich habe Valium bekommen.« »Willst du noch einmal zurück?« »Nein. Oder vielleicht doch. Nein, ich denke nicht. Ich bleibe hier. Der Frühling kommt jetzt ja doch so langsam, ich muß in meinem Garten arbeiten, ich werde Bohnen pflanzen dieses Jahr, das habe ich noch nie gemacht, und Tomaten vielleicht.« Er ging fort und vergaß seinen Kaffee zu bezahlen. Als ich ihm nachsah, bemerkte ich, daß in seinem Gang etwas Sprunghaftes lag. Das war mir vorher noch nie aufgefallen.
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Der Daimler Ob es sich wirklich so zugetragen hat, weiß ich nicht mit Bestimmtheit zu sagen, aber die Ereignisse, an die ich mich zu erinnern glaube, geben mir in meinem gegenwärtigen Dasein Halt. Ich bin, am heutigen Tag, Töpfeschrubber in einem schmuddeligen Restaurant in einem Elendsviertel dieser Miststadt. Ich meine auf dem rechten Weg zu sein, habe aber manchmal das Bedürfnis, diese Feststellung auf ihren Ursprung zurückzuführen, und wenn ich das versuche, lande ich immer wieder bei dem Daimler. Der Daimler hat mich hierhergebracht, zwischen die Kakerlaken, neben den fetten Koch, der mich mit seinen Ellenbogen stößt, wenn ich nicht schnell genug zur Seite springe. Der Daimler ist wie der Kahn, der die griechische Seele zum Hades bringt. Ich versuchte damals, mein Studium abzuschließen, und schrieb eine Doktorarbeit über die Pragmatik des Nihilismus, angefangen bei Hume, um dann über Nietzsche bei Sartre zu landen. Es gelang mir nicht recht, und ich ärgerte meinen Vater, weil ich über sein Landgut schlenderte, nächtelang im Salon vor mich hin starrte und erst nach dem Lunch aufstand. Ich ärgerte ihn immer, aber er vergab mir meine verluderte Kleidung und mein verwahrlostes Äußeres, weil die Professoren mich zum Genie ernannt hatten. Daß ich mit fünfundzwanzig Jahren Doktor der Philosophie sein würde, schien ausgemacht. Wenn die Promotion gelänge, würde ich in die Fußstapfen seines Erfolgs treten. Er war Präsident von Sternlicht Motoren, und ich würde auch irgend etwas sein. Ich tat jedoch mit einemmal nichts mehr und störte 143
seine Feiern durch meine unangebrachte Anwesenheit. Ich wurde deshalb verbannt, in das Sommerhaus an der Nordküste, das er vor Jahren gekauft hatte und das wir nicht mehr besuchten, seit das Landgut Wirklichkeit geworden war. Ohne Doktorarbeit durfte ich nicht zurückkommen. Mein Vater gab mir viel Geld mit und brachte mich zum Flugplatz. »Kauf ein Auto«, sagte er, »und sieh zu, daß du anständig zu essen bekommst.« Danach küßte er mich und schob mich durch die Absperrung. Ich wollte kein Auto, aber im Sommerhaus zeigte sich rasch, daß diese Einstellung nichts wert war. Es gibt nur ein einziges Taxi im Dorf, und wenn der Fahrer keine Lust hat, hebt er das Telefon nicht ab. Das Einkaufszentrum war weit weg. Ich ging leere Straßen entlang und sah ein Schild, das schief an einem Ast ging: AUTOS. Ich folgte dem Pfad, den das Schild anwies. Der Pfad war schmal und schien nicht aufhören zu wollen. An lichten Stellen des sich zu beiden Seiten erstreckenden Waldes lagen Autowracks und Ersatzteile. Schließlich erreichte ich eine Scheune, umringt von noch mehr Überbleibseln, und drückte eine altersschwache Tür auf. Innen war es ziemlich dunkel, aber in einem Schaukelstuhl saß eine Frau, ich sah sie, weil der Stuhl wippte. Sie war groß, dick und schwarz. Der Stuhl hörte zu wippen auf und fing wieder an. »Ja?« »Verkaufen Sie Autos?« »Nicht an dich.« Ich starrte sie an. Sie sah über mich hinweg. »Ich habe Geld.« 144
»Zeig her.« Ich hielt meine Brieftasche hoch. »Jaja.« Sie sagte es nicht unfreundlich und sah mich diesmal an. Ich sah merkwürdig aus. Auf dem Landgut macht das nichts, denn jeder weiß, daß ich meines Vaters Sohn bin. Sie wußte das nicht. Meine Mitstudenten behaupten, ich gleiche einem polnischen Dorfrabbiner, einem jämmerlichen polnischen Dorfrabbiner. Das war hübsch gesagt, aber mit meiner Jämmerlichkeit ist es gar nicht so schlimm, und ich bin kein Rabbiner. Ich bin nicht gläubig, ich vertiefe mich in das Sinnlose. Alle Rabbiner, die ich kenne, sind positiv und somit dumm. Ich wünsche ihnen viel Glück, so bin ich auch wieder nicht. »Ich möchte dennoch ein Auto kaufen.« »Du solltest jetzt besser gehen.« Sie hatte eine schöne Stimme, tief und von reinem Klang; mir lief ein Schauer über den Rücken. Ich ging auf sie zu und hielt meine Brieftasche auf. »Aha.« Sie stand auf und knipste ein Licht an. »Wenn du Geld hast, darfst du es dort in den Automaten werfen. Es ist Kaffeezeit.« Der Automat war eine zerbeulte Blechdose, seitlich befand sich ein Schlitz. Es roch nach Kaffee in der Scheune, frisch gebrüht. »Was muß man einwerfen?« »Fünfzig Cents.« Ich ließ die Münzen fallen. Sie öffnete die Schachtel, brachte eine Glaskanne zum Vorschein und goß zwei Pappbecher voll. Sie kramte auch eine Zuckerschale und ein Sahnekännchen hervor, beide aus schwerem Silber. Dann nahm sie wieder auf ihrem Stuhl Platz und deutete auf eine Kiste. Ich nahm ebenfalls Platz, ich bot ihr eine Zigarette an und gab ihr Feuer. 145
»So, und was für ein Auto hätten der Herr denn gerne gehabt?« »Ein gutes.« »Darf es auch etwas kosten?« »Ja.« Hinten in der Scheune stand ein Wagen, aber ich konnte nur die Unterseite der Reifen sehen, das übrige verbarg sich unter einer Zeltplane. Sie zog die Plane weg. Ich betrachtete das Enthüllte. Ich mag vielleicht weltfremd sein, aber ich habe doch ein Auge für schöne Proportionen. Manche der Freundinnen meines Vaters finde ich auch schön, vor allem, wenn er sie auf den Flügel setzt und bittet, sich auszuziehen. Es sind jedesmal andere Frauen, vielleicht lädt er ab und zu einmal dieselbe ein, aber ich erkenne sie nicht wieder. Das Merkwürdige war, daß ich dieses Auto dagegen wiedererkannte. Als ich einmal wußte, daß ich ein Auto brauchte, mußte ich mir dieses vorgestellt haben, einen niedrigen, schwarzen Wagen mit offenem Dach, hellbraunen Lederbezügen und einem schmalen, in ein silbernes Fensterchen auslaufenden Bug. »Dies ist ein Daimler«, sagte die Frau. »Das ist eine teure englische Marke, ein seltenes Modell in diesem Land. Auf dem Rücksitz wachsen Pilze, aber das macht nichts, ich habe sie stehenlassen, weil sich ihr Rot so schön gegen die Sitzbank abhebt. Der Motor ist gut, die Federung und so weiter ist auch prima. Was hältst du davon?« Ich zögerte kurz, ehe ich nickte. Selbst ich konnte sehen, daß der Daimler sehr alt sein mußte, und Motoren scheinen mit zunehmendem Alter nicht besser zu werden. Ich fragte, was er kostete. Die Frau nahm zwei lange Schraubenschlüssel und ließ die Griffe über eine Reihe ölgefüllter Flaschen gleiten. Das dadurch entstehende Geräusch war wundersam, und wieder lief mir ein Schauer über den 146
Rücken, dazu fing ich an mit den Zähnen zu klappern und fühlte, wie eine Träne durch meinen Stoppelbart rann. Die Frau sang, in unverständlichen Wortlauten, erst langsam, aber sie ließ ihr Lied immer schneller werden; die Tonhöhe ihres Gesangs wurde allmählich dünner, und die Klänge flossen ineinander über, bis sie abbrachen, als würde sie sie mit einem scharfen Messer abhacken. Sie war einen Augenblick still und fing dann abermals an, doch diesmal konnte ich verstehen, was sie sagte. Sie sang den Betrag, die Zahl immerzu wiederholend. Dabei tanzte sie beherrscht und machte weitschweifige, einladende Gebärden. Das tiefe Geklingel der Flaschen trug den Verkaufspreis und untermalte die Eröffnungen ihres Vortrags. Sie tanzte seitwärts, blieb vor einem großen Faß stehen und trommelte einige Takte, danach rutschten die Schraubenschlüssel über die Beschläge des Fasses. Noch einmal schwebte der Betrag durch die Scheune. »Nun?« Ich war zu perplex, um schnell zu reagieren. »Ist der Preis erschwinglich?« »Ja.« Ich gab ihr das Geld, und sie schrieb die Quittung, mit langsamen, gezackten Krähenfüßen. »Kannst du fahren?« Ich sagte, ich könne es, ich sagte nicht, daß ich es nicht gut konnte und daß ich es ein wenig von dem Chauffeur auf dem Landgut gelernt hatte, schon vor längerer Zeit. Wir stiegen ein, und ich schaltete vorsichtig. Der Wagen schien tatsächlich gut zu funktionieren, der Motor war kaum zu hören, und die Pedale bewegten sich leicht. »Nach rechts«, sagte sie am Ende des Pfads. »Wir werden die 147
Küstenstraße ausprobieren, die hat schöne Kurven, und in den Kurven darfst du nicht bremsen, verstanden, das wäre ein Frevel.« Ich gab mehr Gas. Links unten lag die See, so weit unter mir, daß die Wellen aussahen wie glitzernde Risse in einem Spiegel. Eine Kurve folgte der anderen; ich nahm Gas zurück, ehe wir unsere Richtung änderten, und trat danach tüchtig durch, aber es war nie genug. »Schneller«, sagte die Frau. »Hab keine Angst, es gibt doch nur nichts.« So war es, und ich dachte an die Doktorarbeit. Wenn es nichts gibt, braucht man auch nicht so viel aufzuschreiben. Hume hatte das Nicht-Sein ausführlich aufgezeigt und das Sinnlose des Daseins erschöpfend dargelegt. Seine geistigen Nachfahren dünnten die Argumentationen noch weiter aus, jetzt war es an mir, die Leere in Worte zu fassen; aber ich hatte Schwierigkeiten damit. Schneller und schneller glitt der Daimler durch die scharfen Kurven. »Jetzt!« sagte die Frau leise in mein Ohr. Wir fuhren aufwärts, und ich kurbelte in der Haarnadelkurve am Steuer; aus den Augenwinkeln sah ich, wie winzige, grellweiße Wellen heftig über scharfe Felsen schwappten. Ich trat das Gaspedal weiter durch. »Nein, das war gar nichts, du mußt erst noch richtig üben.« Ich brachte sie zurück zur Scheune. Sie klopfte mir auf den Arm. »Mach so weiter, Junge. Der Anfang ist gemacht, sei mutig und fromm.« Fromm? Ich, fromm? … Ich sagte, daß ich das nicht sei. »Sei dann einfach nur mutig, und werde von selbst fromm.« »Ja.« Vor mich hin murmelnd, fuhr ich fort. »Dicke Zauberhexe!« 148
Ich fuhr zum Dorf, kaufte Essen und eine Axt und ließ den Wagen nach Hause sausen. Ich hackte meine Wut weg, unter meinen bitterbösen Schlägen splitterte das Holz, und ich schleppte die Scheite ins Haus. Es war schon spät im Herbst und kühl. An diesem Abend arbeitete ich vor dem knisternden Kamin. Ich schrieb einige Seiten, inspiriert von einer Notiz über die Äußerungen eines östlichen Weisen, der behauptete, das Diesseits sei »eine durchsichtige Wand, auf der wir selbst unsere Bilder anbringen«. Während der darauffolgenden Tage bildete sich eine Gewohnheit heraus: Ich arbeitete morgens und abends und fuhr tagsüber im Daimler. Je besser ich den Wagen kennenlernte, desto mehr drängte sich mir der Gedanke an Das Weibliche auf. Der Daimler hatte etwas Verführerisches, die langen, sinnlichen Proportionen, genährt durch die Kraft des stillen Motors, erregten mich, die fleischigen Rundungen der auf der Rückbank wachsenden Pilze ebenfalls. Mit dem Wagen konnte ich jedoch nichts anfangen, meine Begierde würde von einem Trugbild anderer Art gestillt werden müssen. Ich hatte das Auto erdacht, jetzt konnte ich auch die Frau erdenken. Ich tat es sofort und begegnete ihr innerhalb der nächsten Stunde. Es ist so simpel, hinterher lacht man darüber, aber ich staunte trotzdem nicht schlecht, als ich das Mädchen vor mir herlaufen sah. Ich hielt an. Sie wollte ins Dorf. Sie fragte, ob ich auch ins Dorf müßte; das mußte ich nicht. Weshalb ich dann trotzdem dorthin wolle? Weil ich bei ihr sein wollte. Das fand sie lieb von mir. Sie wollte etwas zum Anziehen kaufen, sie besah mich kurz und meinte, ich bräuchte dringend etwas Neues zum Anziehen. Sie suchte mir einen Sportanzug aus, mit Zubehör; ich zog ihn über. Wir verließen das Geschäft. Sie zeigte 149
auf mein Haar. »Es gibt einen Frisör im Dorf, soll ich dich begleiten?« Der Frisör wusch mein Haar, schnitt es kurz und rasierte mich. »Du bist sehr hübsch«, sagte das Mädchen. »Du hast eine gute Figur und ein sensibles, intelligentes Gesicht, du bist die Erfüllung meines Wunschbildes, so hatte ich dich mir vorgestellt.« Darüber mußte ich grinsen. Sie hatte mich auf ihre durchsichtige Wand gemalt, so wie ich sie auf die meine. Wir erzählten einander, wo wir wohnten und was wir taten. Sie rückte an mich heran. »Ich bin ein Au-pair-Mädchen, aber die Leute, bei denen ich wohne, sind letztes Wochenende verreist und kommen einfach nicht zurück, sie rufen ab und zu an und verschieben ihre Ankunft. Ich bin ganz allein in dem großen Haus. Soll ich heute abend zu dir kommen?« Sie kochte für mich und verführte mich nach dem Essen. Daß ich überhaupt nichts wußte und mir jahrelang mit infantilen Vorstellungen beholfen hatte, ließ sie in schallendes Lachen ausbrechen, aber sie lachte mich nicht aus. Ich tauchte tief in all ihre Geheimnisse, und sie begleitete mich während meiner Entdeckungsreise. Auf einer anderen Ebene erlebte ich erneut die Begegnung mit dem Daimler. Es gab manche Parallelen. Das vorsichtige Befühlen bestimmter Punkte führte zu unerwarteten und sogar erdrückenden Reaktionen. Nachdem ich in ihren Arm geschluchzt hatte, fragte sie, ob ich jetzt in sie verliebt sei. Vielleicht war ich das. Ich fühlte eine an Glück grenzende Zufriedenheit. Ich war auch dankbar, wußte aber nicht, wem ich meine Erkenntlichkeit zeigen sollte. Ihr? … Aber hatte ich sie nicht selbst erdacht? … Oder mußte ich mich bei mir selbst bedanken? Durchlebte ich diese Erfahrung, weil ich mutig zu phantasieren wagte? War das 150
der Mut, den die schwarze Frau angedeutet hatte? Es stimmte, daß ich das von mir Begehrte, den Wagen und die Frau, ohne jegliches Zögern und bis ins einzelne vor mir gesehen und damit auch erhalten hatte. Es stimmte auch, daß ich mich selbst einen Philosophen nannte, daß ich behauptete, die Weisheit zu begehren, und als Beweis dieses Dranges eine Arbeit schrieb, die mir den Doktortitel einbringen sollte. Was, fragte ich mich, ist so weise an einem Daimler und einem schönen, blonden Mädchen, das Elly heißt, und was bedeuten Buchstaben vor deinem Namen? Elly wohnte bei mir, und ich liebte sie mit zärtlicher Leidenschaft. Täglich fuhren wir die Küstenstraße entlang. Es wurde kälter, der Kamin brannte Tag und Nacht, wir schliefen vor den Flammen, auf einem dicken Teppich, mit Decken über uns, und wurden wach, wenn das Feuer erlosch, und warfen neue Scheite aufs Feuer und hatten einander lieb und schliefen wieder. Sie besorgte den Haushalt, während ich Blatt um Blatt mit schönen Worten füllte, geordnet in logische Sätze. »Das ist das Glück«, sagte sie. »Das suchte ich. Du bist vollkommen. Du bist ein hübscher und sanfter Liebhaber. Du fesselst mich. Du hast alles, was ich mir unter einem Mann vorstelle. Du bist eine Art Gott, weißt du das?« »Na, na, na«, sagte ich. »Du bist ein Philosoph, ich habe in deine Doktorarbeit geschaut. Was du sagst, ist gut, ich kann ihm leicht folgen, weil du einfach und aufrichtig schreibst. Was ich nicht verstehe, empfinde ich nach. Ich will immer bei dir bleiben.« 151
Wie schön du auf deine Wand zeichnen kannst, dachte ich, und streichelte ihr Haar. Es wurde Winter, die Doktorarbeit war fertig, und mein Vater rief an, um mir zu sagen, die Universität wolle, daß ich sie ablieferte. Der erste Schnee war bereits gefallen. Wir würden zum letztenmal die Küstenstraße entlangfahren. Sie mußte auch abreisen, die Leute, bei denen sie arbeitete, waren schon unterwegs. Die Hemmung, die mich bis dahin zurückgehalten hatte, fiel weg, ich fuhr schneller als jemals zuvor. Als ich die Haarnadelkurve näher kommen sah, gab ich Vollgas. Es lag Eis auf der Straße, ich riß das Steuer herum, aber die Räder griffen nicht. Der Daimler fuhr geradeaus und flog. In der Luft fielen Elly und ich ins Freie, wir schwebten in einer immer steiler werdenden Bahn. Das Auto streifte einen Felsen, brach auseinander, und losgeschlagene Metallstücke klatschten über das Wasser. Von Elly sah ich nichts mehr. Ich tauchte, schwamm verwirrt umher und tauchte erneut. Die kurz aufeinanderfolgenden Wellen zwangen mich immer näher zum Strand. Ich blieb erschöpft liegen und wartete, aber sie kam nicht. Es dauerte Stunden, bis ich die Bergwand erklettert hatte und ein Haus fand. Ich rief die Polizei an. Die Beamten, die nach einiger Zeit ankamen, erzählten, die See sei dort zum Tauchen zu tief. Die darauffolgende Untersuchung unter der Leitung eines Inspektors erbrachte nichts als Verneinungen. Von einer schwarzen Frau, die angeblich Autos verkaufte, hatte niemand gehört. Das schiefhängende Namensschild und die Scheune erwiesen sich als unauffindbar, die Quittung, die sie mir gegeben hatte, ebenfalls. Ein Mädchen namens Elly war 152
unbekannt; daß ich einen Daimler besessen hätte, zog man in Zweifel. »Sie sind überarbeitet«, sagte der Inspektor. »Sie haben zuviel und zu tiefschürfend studiert.« Ich flog zurück und reichte meine Doktorarbeit ein. Ich promovierte, und mein Vater gab ein Fest, bei dem ich mich zu seiner Genugtuung an einigen der von ihm eingeladenen Damen vergriff und anschließend sturzbetrunken zu Bett getragen wurde. Beim Frühstück fragte er mich, was ich in Zukunft zu tun gedenke. Ich sagte, ich würde das Landgut verlassen, kein Geld mitnehmen und hätte vor, durch die Lande zu streifen. »Was glaubst du, dann zu finden?« »Die Leere.« »Und was bringt die ein?« »Verständnis des Sinnlosen.« »Du bist verrückt«, sagte er. »Ich hätte dich etwas anderes studieren lassen sollen, aber das wolltest du nicht.« Ich glaube jetzt auch manchmal, daß ich verrückt bin, aber ich weigere mich noch immer, mir etwas anderes als nichts vorzustellen. Es muß doch möglich sein, sollte man denken. Wenn man die durchsichtige Wand ganz sauberwischen kann, wie die Töpfe, die ich immer noch in dieser schrecklichen Küche schrubbe, dann muß man doch Durchblick erhalten? »Sei mutig und fromm«, hatte die schwarze Frau gesagt. An Mut fehlt es mir mitunter, und ich zweifle regelmäßig, aber die Glückseligkeit, die mich bisweilen durchströmt, könnte womöglich etwas mit Frömmigkeit zu tun haben. Schade eigentlich; meine Gottlosigkeit war immer meine einzige 153
Sicherheit.
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Eine Frau von sieben Fuß »Los jetzt«, hatten die Herren von der Direktion gesagt. Ich hatte noch alles mögliche fragen wollen, ein Umzug in eine Republik in Mittelamerika ist keine Kleinigkeit. Ein gewaltiger Schritt. Ist es wohl schön dort? Wie ist das Klima? Verdiene ich auch genug? Werden Sie nett zu mir sein und meine Briefe beantworten? Bekomme ich ein Auto? Und einen Tropenanzug? Und Klimaanlage in mein Appartement? Aber es war in den fünfziger Jahren, und der Kapitalismus stand in voller Blüte, und ich sollte nicht so ein Gewese machen. Ich sollte zum Flughafen Schiphol und los. Die Herren von der Direktion hatten in jener Bananenrepublik eine Niederlassung, und die lief nicht. Der Direktor war davongelaufen, nachdem er alle Schubladen geleert hatte. Jetzt durfte ich es einmal versuchen. Ein Dreijahresvertrag, hier unterzeichnen und hier auch noch unterzeichnen, sehr gut, rechts unten. Gehalt soviel, Umsatzprovision soviel. Guten Tag, der Herr. Guten Tag, die Herren. Und so kam ich dort an, in Santa Barbara Bendita, eine Woche später. Bendita bedeutet »gesegnet«, aber es war ein fürchterlicher Sauhaufen, mit schiefhängenden Holzgebäuden und Geiern überall, kleinen, schwarzen Geiern, die einen zwischen ihren Schulterblättern hindurch ansahen, von jedem Dach herunter, manchmal auch einfach von der Bordsteinkante aus. Stirbst du schon? Ich wurde krank. Im Flugzeug hatte ich mich erkältet, und jetzt schüttelte mich das Fieber. 155
Als ich einen toten Esel sah, der sich bewegte, verstand ich, daß ich jetzt sehr krank war. Der Arzt war ein Zwerg, ein buckliger Mann mit einem fusseligen Bart, so als ob er vornüber in nasse Watte gefallen wäre. Er sprach Englisch mit deutschem Akzent, alle th wurden zu s. Statt »the« sagte er »sieh«. Aber ich vergab ihm, weil er einen Buckel hatte, und wunderbare blaue Augen, und ich außerdem krank war. »Was haben Sie?« »Visionen.« »Was für Visionen?« Ich erzählte von dem Esel. »Woher wissen Sie, daß er tot ist?« Der Esel lag auf der Seite, hatte Löcher anstelle von Augen, der Mund war in einer Todesgrimasse verzerrt. »Und er bewegte sich?« Ja, die Leiche hatte sich ruckhaft bewegt. Er setzte seinen Hut auf und nahm mich bei der Hand. Der Esel lag ein Stück weiter, am Ende der Hauptstraße. Und zum Glück war alles so, wie ich es gerade beschrieben hatte. Er war tot und bewegte sich. Der Arzt fing an zu lachen, hörte damit wieder auf, rannte auf die Leiche zu und versetzte ihr einen Tritt in den Bauch. Zu meinem Entsetzen hörte das Rucken nicht auf, sondern verlagerte sich weiter nach hinten, dabei richtete sich der Schwanz auf, ein Adler hüpfte aus dem aufgesperrten Anus und flatterte davon. »Fressen sich von hinten hinein«, sagte der Arzt. »Ich hatte es mir schon gedacht, aber du hättest mir nicht geglaubt, also ist es besser, du siehst es einmal selbst. Klar?« »Ja, Doktor.« 156
»Ein Gläschen Rum, komm mit, hier ist eine gute Bar, mit Ventilatoren, wenn ich nicht zu Hause bin, kannst du mich meistens dort finden.« Außer Ventilatoren sah ich auch noch Frauen in der Bar, die ich betrachtete, in aller Ruhe und ohne rot zu werden, denn es waren natürlich Huren, und die darf man betrachten, mehr oder weniger. Ich blieb aber höflich und schaute durch meine Wimpern. Sie schauten zurück. Zwei waren schwarz und schön, eine war braun und schön, und die Weiße war auch schön. »Findest du sie schön?« »Ja, Doktor.« Er bewegte einen seiner Wurstfinger, hin und her. »Finger weg. Sie sind krank. Allesamt. Wenn sie nur so krank sind, kann ich dich vielleicht wieder hinbekommen (der Finger zeigte auf meinen Hosenschlitz), aber wenn sie die Syph’ haben, mußt du nach New York. Das kostet viel Geld.« »Aber sie sind doch nicht allesamt krank?« Er nickte düster. »Gewiß. Allesamt. Nur eine von zehn ist gesund. Jeder denkt, daß er die zehnte mit nach Hause nimmt, aber so ist es nicht. Sie sind verrottet. Klar?« »Ja, Doktor.« Der Rum war kalt und mit Ananassaft vermischt. Der Barkeeper hatte einen großen Schnurrbart und freundliche braune Augen. Die Ventilatoren knirschten entspannt über meinem Kopf. Ich warf einen Blick nach draußen. Auf der Straße gingen schöne Frauen. Zwei. Dezent gekleidet, aber mit leicht schrägliegenden Augen und feuchten Mündern. »Findest du die schön?« 157
»Ja, Doktor.« »Sind sie auch. Die sind nicht krank. Aber wenn du an ihnen herumfummelst, mußt du sie heiraten.« Ich zog die Schultern hoch. Der Wurstfinger bewegte sich wieder vor meinen Augen. »Heiraten, und zwar augenblicklich. Tust du es nicht, wirst du erschossen, vom Vater oder dem Bruder, dem Onkel, dem Vetter, dem Großvater, dem Großonkel. Egal, von wem. Das ist gesetzlich erlaubt. Die einzige Art, dem zu entkommen, ist die, all deine Freunde um dich zu versammeln und dann als Gruppe das Flugzeug zu besteigen. Und nie mehr wiederzukommen.« Ich trank mehr Rum, viel mehr blieb mir nicht übrig. Rum. An den anständigen Frauen stirbt man, und von den unanständigen wird man krank. Es kam noch eine Frau vorüber. Sie hatte rotes Haar, kurz und strähnig. Vorstehendes Gebiß. Brille. Ein gelbes Schlabberkleid. Ziemlich dick. »Wie findest du die?« Ich schüttelte den Kopf. Ich hörte ihn hinter seinem Fusselbart kichern, aber die klaren blauen Augen schauten ernst. »Schön ist die nicht, aber du brauchst sie nicht zu heiraten, und sie wird dich auch nicht krank machen. Das ist ein amerikanisches Mädchen. Ich kann dich vorstellen.« Ich ließ mich von meinem Hocker gleiten. Ich hatte Geld auf den Tresen gelegt. Der Arzt hielt mich zurück. »Du bist ziemlich groß.« Allmählich fing er an, mich zu ärgern. Ich wollte in mein Büro, arbeiten, alles war besser als das hier. Ich hatte kein Fieber mehr, der Rum hatte mich geheilt. An die Arbeit also, Geld verdienen für die 158
vaterländischen Aktionäre. Aber der Arzt hielt mich fest. »Ja, du bist ziemlich groß. Mehr als sechs Fuß. Und sie ist weniger als sieben Fuß. Ein Unterschied von einem Fuß.« »Was sagen Sie, Doktor?« Er sah mich nachdenklich an. »Ja. Heute abend gibt der General im Palais ein Fest. Der Generalpräsident. Den mußt du kennenlernen, denn wenn du seinen Namen erwähnen kannst, erweiterst du dein Geschäft; das möchtest du doch?« »Ja, Doktor.« Dieses ständige Ja, Doktor steckte mir langsam quer im Hals. »Dann kommst du mit mir mit. Und vielleicht können wir dann das andere Problemchen auch regeln. Hol mich hier ab, heute abend gegen neun. Zieh deinen besten Anzug an.« »Ja, Doktor.« Und so begegnete ich ihr, am gleichen Abend, auf dem Rasen des Palais, vor einem Hintergrund von tropischen Sträuchern, unter einer Palme, mit einem Riesenvollmond in einem blauschwarzen Himmel, einem Kristallkelch voller Champagner in der einen und einer Zigarre in meiner anderen Hand. Brigitte hieß sie. Sie war schön. Deutsch schön. Blond das Haar, rosig die Haut. Straff der Körper, mit vollen Rundungen, diese Rundungen auch sehr straff gehalten. Hohe, dünne Knöchel. Ein voller, sinnlicher Mund. Wunderbar proportioniert, aber in großem Maßstab. Sieben Fuß hoch, das sind zwei Meter zehn. Ich bin nur eins neunzig. Dazwischen liegt viel. Verzweifelt suchte ich nach etwas, worauf ich mich stellen konnte. Eine Kiste. Es gab keine Kiste. Ich konnte auch nirgendwo hinauf159
klettern. Wir standen auf einem Rasen. Die Palme stand hinter ihr. Ich konnte schwerlich um sie herumgehen und auf den Baum springen. Ich hatte übrigens keine Hand frei. Palmen haben auch keine Äste. Der Arzt stellte uns einander vor und verschwand. Nur sie war da, und ich. Sie fing ein Gespräch an, ich stotterte meinen Kommentar dazwischen. Wir gingen gemeinsam ins Haus. Ein Kellner brachte uns wieder Champagner, und der General gab uns die Hand. Der Kellner und der General glichen einander aufs Haar. Ich sagte, vielleicht seien sie Brüder, und Brigitte lachte über den Scherz. Als sie ausgelacht hatte, sagte ich, ich sei gleich wieder da, und ging nach Hause. Sie war mir zu groß. Dann lieber gar nichts, abwechselnd mit vielen Gläsern Rum. Ich hatte ein Restaurant gefunden, in dem man gut essen konnte. Und ein Geschäft voller Schallplatten. Es würde schon gehen. Aber es ging ganz und gar nicht, denn das Restaurant gehörte Brigittes Tante, und das Schallplattengeschäft Brigitte selbst. So begegnete ich ihr immer wieder, und wenn ich ihr nicht begegnete, brachte sie der Arzt mit. Der Arzt war andauernd dabei, sie zu verkaufen, mit derselben schlauen Weitschweifigkeit, mit der ein Araber sich eines Kamels entledigt. Der Arzt beschrieb ihre Brüste, plastisch, in der Luft herumtastend. Diese Brüste standen aufrecht, ganz von allein. Er wußte das, weil Brigitte erkältet gewesen war oder ein Knötchen gehabt hatte, oder vielleicht war es auch nur warm gewesen. Wie auch immer, der Arzt hatte ihren Busen gesehen und gefühlt, und ach,
ach war das schön gewesen. Hübsch. Aber ich wollte trotzdem nicht. Sie war mir immer noch zu groß. 160
Der Mensch denkt, der Doktor lenkt. Er organisierte eine Expedition an der Küste entlang. Unterwegs würden wir zelten und angeln und jagen. Wir fuhren mit Lastwagen. Ich lag hinten zwischen dem hochstehenden Brett am Ende und, wie konnte es anders sein, Brigitte. Wir hätten auch einfach so zusammen im Bett liegen können. Ich hatte schon fast die Absicht vorzuschlagen, wir sollten etwas ausziehen, als wir anhielten. Beim Aussteigen sah ich erneut, wie groß sie war. Der Arzt gab mir ein Schlauchboot und eine Angel, und Brigitte wollte mit, aber ich bat sie, etwas aus dem Wagen zu holen, und war schon weit auf See, als sie zurückkam. Mit einer Riesin in einem Schlauchboot, nie im Leben. Ich fing Fische, und beim Lagerfeuer, als die Fische geröstet wurden, ging ich Brigitte aus dem Weg. In der Nacht schlief ich in dem Zweipersonenzelt des Arztes, mit dem Arzt. Brigitte schlief in einem anderen Zweipersonenzelt. Ich begann mich zu schämen. Was war ich doch für ein Trottel, ein Ekel, ein Schlappschwanz. Genau so wollte der Arzt es haben. Er intrigierte und manipulierte weiter. Ein Konzert fand statt, und ich saß neben Brigitte. Ich hielt ihre Hand und schämte mich weniger, denn ihre Hand war größer als die meine, und trotzdem hielt ich sie, einfach so. Auch in mir fand sich offenbar der kühne Mut wieder, der den Holländern so sehr eigen ist. Allerlei vaterländische Erinnerungen fielen mir ein: der Seeheld Piet Hein, der die spanische Silberflotte eroberte. Im schlichten, karierten Blauhemd hatte er das Steuerrad seines Schiffes gedreht – und am großen Rad der Geschichte. Und darum war es schade, daß Brigitte eine Deutsche war. Der Krieg war damals zwar schon vorbei, aber noch nicht so lange. Ich erinnerte mich noch gut an so manches. Und obwohl Brigitte immer Englisch mit mir sprach, mit dem gleichen 161
Akzent wie der Arzt, verglich ich sie doch mit Walhalla und dem brennenden Rotterdam. Nach dem Händefesthalten lud ich sie zu einem Souper ins Restaurant ihrer Tante ein. Hierüber dachte sie nach. Ob ich nicht lieber mit ihr nach Hause gehen wolle? Sie hatte ein Appartement mit Ausblick auf die See. Und einen kühlen Balkon. Wir könnten eine Bratwurst auf Toast essen und dazu ein Glas Liebfraumilch zu uns nehmen. Ja. Danach stand sie auf und blieb stehen. Meine Ängste kehrten zurück, aber jetzt war es soweit. Ich bot ihr eine Fahrt in meinem gerade gekauften Landrover an, aber sie hatte ihren eigenen Wagen dabei, einen Morris Mini. Ich begleitete sie. Der Wagen war eingeklemmt und konnte nur im Rückwärtsgang ausgeparkt werden, aber der funktionierte nicht. Brigitte riß den Kleinwagen zu sich heran, gegen die Steigung und mit einer Hand, während sie sich weiter mit mir unterhielt. An diesem Abend wurde es nichts. Wir küßten uns, aber als sie mir das Schlafzimmer zeigen wollte, bekam ich einen Krampf in meinem Nacken und noch andere Schmerzen. Ich mußte dringend nach Hause. Beim darauffolgenden Mal ging es ungefähr genauso. Aber der Arzt hielt weiter seine Verkaufsgespräche, und ich traf Brigitte auch weiterhin. Es kam zum dritten Mal. Jetzt oder nie. Ich hatte mir lange zugeredet. Ich war gut vorbereitet. Ich drang, nach dem Küssen und dem Wein auf dem Balkon, in ihr Schlafzimmer ein wie ein russischer Panzer in ein ostdeutsches Dorf, im Mai 1945. Das hier würde eine mechanische Vergewaltigung werden, begleitet von Wagner persönlich. Posaunen würden erschallen und Pauken geschlagen werden. Mit zitternden Fingern öffnete ich ihren Reißverschluß. Sie sank 162
hernieder, ich war bereit zum Sprung. Wer sah mich da an? Ein Ölporträt in schwerem Goldrahmen. Hohes Tier mit Totenkopf und gekreuzten Knochen. Darunter dieselben Augen wie die seiner Tochter. »Mein Vater«, sagte Brigitte. »Er ist nicht zurückgekehrt.« Ich hatte meine Hose schon wieder an. Innerhalb von einer Minute saß ich in meinem Landrover und fuhr den Hügel hinter ihrem Appartementhaus hoch. Oben angekommen, wendete ich den Wagen und zündete mir eine Zigarette an. Ich hatte eine schöne Aussicht. Kurz darauf kam Brigitte nach draußen, in einem blauen Bademantel. Ich sah, wie sie den kleinen Morris Mini aus der Garage zog. Sie stieg ein und fuhr los, mit kreischenden Reifen. Sie war böse. Verständlich, sehr verständlich. Es war noch zu früh, um nach Hause zu fahren. In der Stadt würde ich womöglich dem Arzt begegnen. Ich entschloß mich, zum Strand zu fahren, sogar auf den Strand hinauf. Der Landrover hielt so etwas aus. Ich ließ den Wagen mit den rechten Reifen durch die Ausläufer der Brandung fahren und machte eine Bugwelle. Ich fuhr weiter, bis die Lichter der Stadt hinter mir lagen. Ich sprang aus dem fahrenden Wagen, nachdem ich das Lenkrad in seine äußerste Position gedreht hatte, und ließ den Landrover allein Runden drehen, während ich nackt herumrannte, in die See und wieder hinaus. Der Landrover tuckerte weiter, im ersten Gang, träge brummend. Ich setzte mich auf einen Felsen und betrachtete die anrollenden Wellen. Ich versank ins Träumen, vielleicht schlief ich auch eine Weile. Sie saß neben mir, starr vor sich hin sehend. Ich glaube, ihre Wut hatte mich geweckt; irgend etwas zitterte in meinem Rückgrat, als ich sie neben mir spürte. 163
Dann wurde ich auch böse, noch böser als sie. Im Krieg war ich ein kleiner Junge gewesen, und kleine Jungs konnten nichts tun. Aber jetzt war ich ein Mann. Neben mir saß das Dritte Reich, im Bademantel. Ich sprang auf, keuchend vor Raserei. Sie sprang auch auf und rannte zum Meer. Ich sprintete hinter ihr her und riß ihr den Bademantel von den Schultern. Darunter war ein Bikini; zwei reißende Griffe, und er war verschwunden. Ich trat gegen ihren Fußknöchel, und sie fiel. Ich schleifte sie zurück. Sie wehrte sich und wollte sich befreien, aber ich war jetzt auch stark, und grob. Als sie zuviel strampelte, schlug ich sie einfach. Sie zeigte zum Strand und fing an zu schreien. Später erzählte sie mir, sie habe den Morris Mini so geparkt, daß mein herumkreisender Landrover ihn nicht erreichen konnte, aber mein Wagen mußte aus seiner Bahn geraten sein, vielleicht wegen wegspritzender Steinchen oder einer anderen unerforschlichen Ursache. Jedenfalls fuhr der Landrover geradewegs auf den geparkten Mini zu. Aber was interessierte mich das? Ich trat erneut, und Brigitte fiel. Ich ließ mich auch fallen. Vor uns besprang der Landrover den Mini. Vom Mini blieb nicht viel übrig, aber Brigitte sah hinterher noch völlig intakt aus. »Gott im Himmel«, sagte sie, als wir uns Hand in Hand das MiniWrack ansahen. Der Landrover stand auf ihm, mit abgewürgtem Motor. Das Opfer war bis über beide Achsen in den Sand gedrückt. Brigitte blutete. Ich fing an, mich zu entschuldigen. Ich versprach, für den Wagen zu zahlen. Ich erzählte, daß ich nicht wüßte, was in mich gefahren sei. Aber es war schon in Ordnung. Ich fuhr mit ihr nach Hause und meldete mich am nächsten Tag beim Arzt. 164
Ich mußte alles haarklein erzählen, manche Einzelheiten mehrmals. Er bestellte immer wieder Rum. Wir hoben die Gläser. Er schüttelte den Kopf. »So mußte es kommen, ja, so mußte es kommen. Es ging nicht anders.« »Ja, Doktor.« Wieder hörte ich, wie er hinter seinem Fusselbart kicherte, aber diesmal lachten seine Augen auch. »Ich bin schon ziemlich drauflosgegangen«, sagte ich. Er antwortete in demselben Ton. »Was soll’s?« »Eine Frau von sieben Fuß.« Zweistimmig. Danach waren wir betrunken und kicherten.
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Der Herrenfabrikant Als ich klein war, wohnte ich in einer langen Allee mit vier Gehwegen und vielen Bäumen. Die Häuser waren hoch und verfügten über geräumige Souterrains. In diesen Kellerräumen waren oft Werkstätten untergebracht, und wenn ich draußen spielen durfte, sah ich mich manchmal dort um. Dort wurden Fässer gemacht, Fahrräder repariert, es gab eine kleine Druckerei, und in einem Keller saß ein Mann und starrte durch ein Vergrößerungsglas, das um seine Stirn befestigt war; er reparierte Uhren. Die Handwerker, die die Kleinbetriebe besaßen oder beherrschten, waren freundlich zu mir, ich durfte zusehen, und wenn ich etwas fragte, bekam ich Antwort. Von dieser goldenen Regel gab es nur eine einzige Ausnahme. Auf der Ecke gegenüber unserem Haus, unter dem Frisör, war eine Fabrik, die ich nicht betreten durfte. Der Chef dort war ein übelgelaunter Kerl, der jeden Morgen um genau fünf vor neun an unserem Haus entlangradelte, auf einem Dreirad, an dem ein großer Sonnenschirm befestigt war. Wenn ich ihn grüßte, sah er mich wütend an, und als ich an einem freien Mittwochnachmittag höflich bei ihm anklopfte, sah er mich durch einen Spalt seiner Tür an und erzählte mir, ich solle »abzwitschern«. Das war eine Sprache, die ich sogar auf dem Spielplatz nicht zu benutzen wagte. Ich war so von der groben Behandlung beeindruckt, daß ich in derselben Nacht, und noch oft danach, von ihm träumte. Der Mann stimmte nicht mit meinem erst vor kurzem geschaffenen Weltbild 166
überein. Ich veränderte das Bild immer dann, wenn ich hin und wieder zufällig etwas von dem verstand, was um mich herum geschah; aber wie sehr ich meinen Bezugsrahmen auch verschob, der Typ-unterdem-Frisör entglitt mir auch weiterhin. Schon sein Fortbewegungsmittel überstieg mein Begriffsvermögen: Wer fuhr denn schon auf einem Dreirad und unter einem Sonnenschirm? Ich hatte Lust, ihm hinterherzujohlen, wenn er vorüberradelte, traute mich aber nicht, und meine Freunde, die ich so geschickt wie möglich manipulierte und denen ich zu guter Letzt sogar mein Taschengeld anbot, trauten es sich auch nicht. Trotzdem hatte der Mann nichts Beängstigendes. Er war klein, krumm und mager. Sein dünnes, graues Haar war kurzgeschnitten und um die Ohren und hoch im Nacken wegrasiert. Er trug meistens einen Anzug aus Cord, Modell Gemeindearbeiter, und hohe Stiefel, so alt, daß das Leder Risse aufwies. Vielleicht hatten wir Angst vor seinen stechenden Augen, die hochmütig über uns hinwegsahen, oder vielleicht verstanden wir nicht, wie es möglich war, daß er ein so schweres Fahrrad so mühelos fuhr. Er radelte immer sehr schnell und machte sich nichts aus Verkehrsschildern, und auch nicht aus Polizisten, das brauchte er auch nicht, denn Polizisten standen stramm, wenn er vorbeikam, und ignorierten seine Übertretungen. Er grüßte dann zurück, indem er einen Finger hob, ohne den Griff seines Lenkers loszulassen. Von schmerzender Neugierde getrieben, schaute ich einmal durch das Fenster neben seiner Tür, flach auf dem Gehweg liegend, nachdem ich vorsichtig nähergekrochen war. Das Fenster war dreckig. Mit viel Geduld und Mühe konnte ich trotzdem etwas sehen, aber es dauerte eine Weile, ehe mir klar wurde, was ich da sah. Verstehen konnte ich es übrigens nicht. 167
Ich sah eine Anzahl von Herren, älteren, sehr ordentlich gekleideten Herren langsam auf und ab gehen. Zwischen ihnen machte sich der Mann in seinem Gemeindeanzug zu schaffen. Er hatte eine alberne Mütze auf, deren Schirm hochstand. Er war emsig bei der Sache, was er genau tat, konnte ich nicht erkennen. Vielleicht sprach er mit den älteren Herren. Er sprang so unruhig hin und her, daß ich glaubte, er könne jeden Augenblick nach draußen kommen. Logisch war dieser Gedanke nicht, doch Angst hat ihre eigenen Formeln. Ich kroch rückwärts und rannte nach Hause. Kurz darauf zogen wir in ein Vorstadtgebiet, und ich bekam keine Gelegenheit mehr, das Theater in der Werkstatt zu beobachten. Zwar sah ich noch, daß regelmäßig Schachteln abgeliefert wurden, und den Namen nach zu urteilen, die auf die Lieferwagen gemalt waren, handelte es sich um Lieferungen von Herrenmode, Uhren, Lederwaren und Unterwäsche. Wegen der Aufregung über unseren Umzug achtete ich auf diese Einzelheiten allerdings wenig; außerdem sah ich ein, daß die angelieferten Sachen wohl für die älteren Herren bestimmt waren und daß das neue Faktum den tiefen Grund des Mysteriums unberührt ließ. Ich ging zur mittleren und zur höheren Handelsschule und bekam Arbeit bei meinem Vater, der eine Tanksäulenfabrik besaß. Ich lernte zunächst, wie die Apparatur zusammengesetzt wurde, und durfte danach einem Verkäufer assistieren. Zuletzt wurde ich Verkaufsleiter. Ich verkaufte an die Ölgesellschaften. Meine Arbeit war reine Routine: Ich sprach zunächst mit einigen rangniedrigen Angestellten, machte erst ein mündliches und danach ein schriftliches Angebot und wurde schließlich zu einem Herrn mittleren Alters vorgelassen, der mir den Auftrag unter dem Vorbehalt erteilte, »daß die Herren einverstanden sein werden«. Danach wartete ich einige Wochen. Manchmal wurde ich 168
angerufen, manchmal rief ich selbst an und bekam dann zu hören, daß »alles in Ordnung« sei, aber daß »einer der Herren noch unterzeichnen« müsse. Dem folgte die Bestellung, auf einem Formular, links unten signiert. Um diese Unterschrift ging es, denn die war von einem der Herren. Den Herren selbst begegnete ich nie. Ich stellte mir beim Befolgen dieser Prozedur nie irgendwelche Fragen. Es gehörte sich so, das wußte ich. Ein Schock brachte mich jedoch aus dem Gleichgewicht: Mein Vater beging Selbstmord, und unsere Fabrik wurde von einer Ölgesellschaft übernommen. Ich untersuchte verschiedene Zusammenhänge und sah meine Vermutung schon rasch bestätigt: Die Ölgesellschaft hatte meinen Vater gezwungen, seine Fabrik gegen einen zu niedrigen Preis zu verkaufen, und mein Vater hatte in seiner Ohnmacht Gift genommen. Da ich meinen Vater sehr liebte – er behandelte mich mit Respekt und spielte Klavier für mich, vor allem als ich noch klein und oft krank war –, beschloß ich, mich zu rächen. Ich erfuhr, daß es üblich ist, daß die Ölgesellschaften ihre Zuliefererbetriebe übernehmen, sobald ein bestimmter Jahresumsatz erreicht wird. Die Methode, die sie dabei anwenden, ist immer dieselbe. Der Zuliefererbetrieb bekommt eine außergewöhnlich große Bestellung, die etwas später, wenn die Firma sich in Unkosten gestürzt hat, um die große Menge an Waren innerhalb des gesetzten Termins zu fertigen, annulliert wird. Während der darauffolgenden Instabilität muß das Übernahmeangebot der Gesellschaft zwangsläufig akzeptiert werden. Es existieren einige Varianten zu diesem Thema, aber im wesentlichen läuft es immer auf das gleiche hinaus: Der Große schluckt den Kleinen. 169
Ich sah zwar ein, daß es so laufen mußte, aber ich hatte meinen Vater geliebt, und mein Gefühl siegte über meinen Verstand. Der Herr, der den Übernahmevertrag im Namen der Ölgesellschaft unterzeichnet hatte, hieß X, und ich beschloß, ihn zu ermorden. Gerade zu dieser Zeit lief ein Film, der sich mit der Energiefrage beschäftigte und unter anderem zeigte, wie die Direktion der Ölgesellschaft zu einer Versammlung zusammentrat. In einem Saal war ein langer Tisch aufgebaut; der Tisch mit den Stühlen, die auf der Platte liegenden Schreibblöcke und gespitzten Bleistifte, die Aschenbecher und Kaffeetassen erinnerten mich an eine mathematische Zeichnung. Ich sah genau zu. Die von der Kamera verfolgten Herren, die einer nach dem anderen eintraten, der Generaldirektor vorneweg, gefolgt vom stellvertretenden Generaldirektor, danach die Direktoren, paßten genau in das geometrische Schema. Eine sonore Stimme stellte die Herren den Kinobesuchern vor: »Herr X.« Das Gewehr hatte ich schon im Haus, eine Präzisionswaffe, auf die ein Teleskop geschraubt war. Ich hatte auch eine Schachtel mit schönen, langen Patronen. Ich wußte jetzt, wen ich mir vornehmen mußte. Die Nummer von X stand nicht im Telefonbuch, aber ich kenne eine Frau, die bei der Post arbeitet, und sie gab mir die Adresse. X wohnte in einer Appartementwohnung im Westen der Stadt. Ich schoß ihn hinter einem Baum versteckt nieder, gerade als er in sein Auto steigen wollte. Er fiel jählings um, mechanisch, ich sah die einfache Bewegung durch mein Teleskop. Er trug die gleiche Art von Anzug wie im Film, perlgrau. Ich ließ das Gewehr, nachdem ich es von Fingerabdrücken gereinigt hatte, hinter dem Baum stehen und gesellte mich zu der Menge, die die Leiche betrachtete. Der von mir getötete Herr war eine unpersönliche Schöpfung, fast eine Einheitsfigur. Er sah 170
aus, als ob er gemacht sei, nicht geboren. Nein! dachte ich – aber so war es doch. Einige Gedankenfragmente bekamen jetzt einen erhellenden Sinn. Am nächsten Morgen fuhr ich zu der Allee, in der ich als Kind gewohnt hatte. Die Werkstatt unter dem Frisörladen existierte nicht mehr. Statt der altmodischen Häuser stand dort jetzt ein Bürogebäude aus Beton. Verzweifelt irrte ich umher, bis ich auf der gegenüberliegenden Seite der Allee noch eine Reihe übriggebliebener Häuser entdeckte. In einem der Keller fand ich den Uhrmacher, der sich tatsächlich noch an mich erinnerte. Ich fragte ihn, wo der Kerl auf dem Dreirad mit dem Sonnenschirm geblieben sei. Es dauerte eine Weile, ehe seine Bereitwilligkeit sein verkalktes Hirn aktivierte. »Ja«, knarzte er, »der ist fort, aufs Industriegelände.« Er wußte auch den Namen des Betriebs, aber den nenne ich hier besser nicht. Auf dem Industriegelände zeigte man mir ein niedriges Gebäude. Ich klopfte. Der Kerl öffnete zögernd und wollte dann die Tür zudrücken, mir direkt ins Gesicht. Ich wandte Gewalt an. Er fiel um, als ich die Tür grob aufstieß, und sah mich wütend an, während er sich wieder aufrappelte. Er hatte sich überhaupt nicht verändert. Das Fahrrad stand auch noch da, komplett mit Sonnenschirm. Ich ging an ihm vorbei. Weitere Türen versperrten den Weg. Ich trat sie auf. Der Kerl kam zeternd hinter mir her und verbot mir immer wieder, noch einen Schritt weiter zu gehen. Ich brüllte ihn an, ich hätte am Abend zuvor schon einen Mord begangen und hätte vor nichts mehr Angst. Schließlich kamen wir in einen Raum, in dem einige ältere Herren auf und ab spazierten. Manche grüßten mich, andere sahen mich mit 171
glasigen Augen an. Ich hielt einen von ihnen fest und studierte das Exemplar sorgfältig. Alle Einzelheiten stimmten mit dem Filmbild überein und mit dem, was mir von Herrn X in Erinnerung war. Die Anzüge waren ein wenig unterschiedlich, aber ausnahmslos von gehobener Qualität. Ich sah die schneeweißen Oberhemden, die goldenen Uhren und Federhalter, die seidenen, gepunkteten Krawatten, das sorgfältig ausgesuchte Schuhwerk, die Ordensbänder auf den Aufschlägen. Der Kerl musterte mich grimmig. »Was hast du hier zu suchen?« knirschte er. »Ich kann keine Topfgucker gebrauchen.« Erst da fiel mein Auge auf den großen Topf, hinten im Saal. Ich kletterte auf die bereitstehende Trittleiter und sah in die köchelnde Flüssigkeit. Die hohe Temperatur schien den träge umherschwimmenden Herren nichts auszumachen. Ich zählte sechs. Viel Platz hatten sie nicht; immer wieder berührten sie einander, und wenn das geschah, hörte ich ihre bedächtigen Entschuldigungen: »Verzeihen Sie.« – »Entschuldigen Sie bitte.« Ich beugte mich in den Dampf, der aus dem Topf aufstieg, um besser zuhören zu können. Ihre Sprechweise war äußerst kultiviert, aber trotzdem konnte ich einige Unterschiede hören; man würde meinen, daß sie nicht alle aus derselben Stadt stammten. Zwischen den schwimmenden Herren sah ich jetzt auch noch andere, weniger deutlich geformte Wesen. Hinter mir stand der Kerl und kicherte. Ich drehte mich um. »Wer sind Sie?« Er sagte: »Gott«, vielleicht hatte er sich auch nur geräuspert. Ich stolperte die Trittleiter hinunter. Ich packte ihn an seinen schmalen Schultern. »Was sagten Sie da? Daß Sie Gott sind?!« Er riß sich los. »Nein, nicht der Gott. Ich sagte, daß ich ein Gott 172
bin, das ist etwas ganz anderes.« Ich seufzte erleichtert, obwohl mein Erstaunen noch immer im gleichen Maß nachzitterte. »Und Sie fabrizieren diese Herren?« »Ja. Aus der Ursuppe. In dem Topf ist Ursuppe. Es ist nicht so schwer. Ich gebe natürlich Programme hinein, dadurch wird es etwas komplizierter … aber ich mache das schon so lange.« Ich ließ mich auf die Trittleiter fallen. Hinter mir gluckerte die Ursuppe; vor mir gingen die Herren langsam auf und ab. »Sie funktionieren gut, was?« sagte der Kerl, von meiner Erschütterung begeistert. »Du kommst im richtigen Augenblick.« Er schien es jetzt überhaupt nicht mehr schlimm zu finden, daß ich sein Geheimnis entdeckt hatte. Er sah vielmehr stolz aus. »Weil ich sie alt abliefern muß, halten sie nicht allzu lange, und wenn sie sterben, muß ich sie ersetzen. Ich mache immer ein paar zugleich.« »Ölgesellschaftsdirektoren«, sagte ich. »Stellen Sie auch andere Typen her?« Er schüttelte den Kopf. »Weshalb sollte ich? Das sind doch die einzigen, die hier das Sagen haben. Alle übrigen dürfen ganz normal entstehen, damit gibt der Chef sich nicht ab.« »Ihr Chef?« »Der Gott.« »Kennen Sie Ihn?« Er zuckte die Schultern. »Ein bißchen, so aus der Ferne, nicht wahr. Als ich bestraft wurde, kam Er etwas näher, aber da war ich so durcheinander, daß ich Ihn nicht anzusehen wagte.« »Strafe?« »Ja. Hab mich im Himmel danebenbenommen. Zuviel Nektar gesoffen, und dann habe ich an den Huris der Mohammedaner herumge173
fummelt. Das ist verboten. Und wenn du gestraft wirst, wirst du irgendwohin geschickt, um zu arbeiten.« »Gibt es noch mehr von Ihrer Art auf Erden?« Er leckte vorsichtig über die Zigarette, die er gedreht hatte. »Was dachtest du? Wir sind überall, aber ich mache sie nur für die Beneluxländer.« »Ölgesellschaftsdirektoren«, wiederholte ich. Die Selbstgedrehte flammte auf. »Manchmal machen wir auch andere Typen. Einer meiner Kollegen macht Diktatoren für Afrika, und im Fernen Osten gibt es wieder andere Modelle, Beamte zumeist. Im Ostblock auch, Parteibonzen, verstehst du, für die freien Wahlen, mhihi mhihi.« Sein gackerndes Lachen ärgerte mich. Ich ging fort, weinend vor Entsetzen. Ich gab nicht acht und rannte gegen einen herumspazierenden Herren. »Entschuldigung, Entschuldigung«, sagte der Automat und lächelte mir zu. Der Kerl lief neben mir her. »Wir müssen die Sache noch ein bißchen im Auge behalten. Wenn wir die Spitze festlegen, wissen wir, was unten geschieht.« »Schuft!« rief ich. »Aber nein.« Ich blieb stehen und schüttelte ihn. »Schuft! Halunke!« Danach ließ ich ihn los. Und plötzlich sah ich, daß er große, blaue Augen hatte, aus denen ein tiefes, mich umringendes und wärmendes Licht schien. »Du siehst nicht mehr, als du sehen kannst«, sagte der Kerl, »und deshalb siehst du nicht, daß es gut ist. Es gibt nicht gut oder böse, es gibt nur Gutes. Deine Wut ist auch gut. Du mußt noch böser werden, 174
dann kannst du dich befreien.« Mit dieser Ermunterung laufe ich schon eine ganze Weile herum. Ich weiß nicht genau, was ich damit anfangen soll, aber manchmal, meistens wenn ich im Garten arbeite, oder wenn ich mit dem Hund im Park spazierengehe, denke ich, daß ich einen kleinen Schritt weitergekommen bin.
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Peyote Er hatte ein gutes Geschäft gemacht und fuhr danach in Urlaub, so einfach lagen die Dinge. Den üppigen Betrag, den er plötzlich und eigentlich recht unerwartet verdient hatte, konnte er ruhig ausgeben, obwohl das Durchbringen und Nicht-Investieren des Gewinnpostens nicht Teil seines Erfolgsrezepts war. Es war Herbert Huiskens nicht immer gutgegangen, seit er, vor sechs Jahren nunmehr, nach Amerika emigrierte, im Gegenteil. Fehlschlag war auf Fehlschlag gefolgt. Entlassen als Buchhalter, als Gehilfe davongejagt, verheiratet und schmachvoll geschieden (seine Frau verließ ihn nicht wegen eines anderen, sondern aus Abneigung), Armenfürsorge beziehend oder Gelegenheitsarbeiten ausführend, schleppte er sich einige Jahre durchs Leben. Die Wandlung vollzog sich in einem Hotelzimmer, wo er zwischen verschossenen Blümchentapeten erwachte, weil er ins Bett gemacht hatte. Fluchend stand er auf. »Jetzt reicht’s aber«, sagte Herbert zu dem eingefallenen Gesicht, das ihn über dem Waschbecken aus anormal großen Augen anschaute. »Es reicht!« Er duschte, zog eine saubere Unterhose an, rasierte sich sorgfältig und rauchte eine Zigarette. Er zog das nasse Laken vom Bett und drehte die Matratze um. Behaglich gegen das Kopfkissen gelehnt, dachte er zunächst über eine vorübergehende und dann über eine dauerhafte Lösung nach. Auch stellte er fest, was er nun eigentlich wollte. Danach rief er einen Freund an. Der Freund war ein Versiche176
rungsagent, der in Los Angeles wohnte, auch ein Niederländer. »Johan«, sagte Herbert, »mir reicht’s. Es geht mir nicht gut. Ich wohne in einem Hotel in einem Vorort von Chicago, und ich arbeite als Tankstellenbediensteter. Mit Chicago ist alles in Ordnung, aber es ist etwas mit mir nicht in Ordnung. Ich habe beschlossen, daß ich von jetzt an Erfolg haben werde.« »Das ist ein guter Entschluß«, meinte Johan schläfrig. »Ich weiß«, sagte Herbert. »Bei dir ist es viel früher, ich habe dich aus dem Bett geholt, tut mir leid. Kannst du mir etwas Geld leihen? Ich werde es dir in fünf Monatsraten zurückzahlen.« »Ja.« »Noch etwas«, sagte Herbert. »Mit welcher Tätigkeit wird ein Mensch am schnellsten reich?« »Mit dem Immobilienhandel. Aber dafür mußt du etwas von Wahrscheinlichkeitsrechnung verstehen. Bist du intelligent?« »Das weiß ich nicht. Glaubst du, ich bin intelligent? In der Schule konnte ich kaum mitkommen, aber ich habe auch nie viel getan.« Es war klar, daß Johan jetzt richtig wach war, seine Stimme klang fest. »Intelligente Leute sind nie besonders gut in der Schule. Ich zum Beispiel, ich bekam Einsen und Zweien, aus Dummheit und Fleiß. Fleißig bin ich noch immer, deshalb verkaufe ich die ganzen Policen, ich halte durch, aber das hat nichts mit Intelligenz zu tun.« »Richtig«, sagte Herbert. »Kannst du das Geld telegrafisch überweisen?« Das Geld kam, Herbert kaufte einen teuren Anzug und bewarb sich bei einem Maklerbüro. Weil er jetzt wußte, was er wollte, kostete es ihn keine Mühe, sein Bestes zu geben. Er wurde Verkäufer. Manchmal verkaufte er vereinzelte Flächen, übriggebliebene Grundstücke in 177
bereits bebauten Stadtteilen, die sein Chef nach langem Gefeilsche von Privatpersonen aufkaufte und dann geschickt inserierte. Danach wurde er zum »Außenmanager« befördert und leitete den Verkauf eines gerade erst verkabelten Gebietes außerhalb der Stadtgrenze. Außer einem anständigen Gehalt und einer großzügigen Aufwandsentschädigung strich er noch Provisionen ein und sogar Prämien, wenn er mehr als eine bestimmte Zahl von Parzellen im Monat umsetzte. Sein Chef erklärte ihm, teils weil er ihn ausbilden wollte, teils aus purer Angeberei, die Kniffe des Fachs. Er erzählte sogar, daß er in Kürze neue Grundstücke anbieten werde – die er derzeit noch nicht besaß. Herbert besah sich das ausgewiesene Land und fand dort einen älter werdenden und kinderlosen Bauern, der einige Hektar zu einem niedrigen Preis veräußern wollte, auf Ratenzahlung, aber gegen hohe Zinsen. Herbert kündigte und kaufte das Land. Er ließ eine Straße, Wasser und Strom anlegen und fing an zu verkaufen. Der Verkauf verlief rasch, und er nahm eine Option auf den Rest des Landes, das der Bauer ihm zum Kauf anbot. Alles verlief nach Wunsch, das Geld, das er verdiente, investierte er wieder. Und jetzt, plötzlich, verdiente er noch ein Vermögen dazu, an einem Haus, das er, einem Impuls folgend, gekauft und nach einigen Wochen wieder abgestoßen hatte. An diesem Tag schaute er lange in den Spiegel. Er sah, daß er seinem früheren Chef glich. Sein Gesicht war nicht länger eingefallen, sondern rundlich. Sein Bauch war auch rundlich. Die nachlässig zwischen die Zähne geklemmte Zigarre deutete beschuldigend auf ihn. »Ja«, sagte Herbert, »so ist das. Erfolg bedeutet natürlich nicht nur Geld und Luxus.« Er dachte an die Zeit, als er in der Tankstelle pflichtbewußt Dosen aufgerissen hatte. Damals waren ihm Gedanken durch 178
den Kopf geblitzt, die er um ein Haar nicht berühren konnte. Er hatte diese Gedanken damals zu definieren versucht, indem er sie mißbilligend, aber auch ermutigend nannte. Die Gedanken hatten ihm auch einiges in Aussicht gestellt. Aber was? Darum ging es jetzt. Es war klar, daß sie ihm diese geräumige Wohnung mit den ledernen Sitzmöbeln, den großen Wagen, das Essen in teuren Restaurants versprochen hatten. Aber war da nicht noch etwas anderes gewesen? »Ich muß einmal für eine Weile fort«, sagte Herbert. Er begab sich zum Büro, instruierte sein Personal und ließ sich mit einem Taxi zum Flugplatz fahren. Innerhalb von einer Stunde war er auf dem Weg nach Los Angeles; sein erster Urlaub seit Jahren. Was er sich von der Westküste erwartete, war noch nicht klar, aber er vermutete stark, daß ihn dort etwas erwartete. Während er Whisky trank, nahm er sich vor, seinen Gewohnheiten einmal nicht zu folgen und bei der Ankunft deshalb keinen Wagen zu mieten. Er ging zu Fuß, einige Stunden lang, bis er zu einem Gebrauchtwagenhändler gelangte. Zwischen den üblichen Modellen glänzte ein langer, niedriger Sportwagen englischer Machart. »Fünfzehn Jahre alt, mein Herr«, sagte der Verkäufer. »Wir haben ihn aus dem Erbe eines Liebhabers übernommen.« Er öffnete die Motorhaube. »Sorgsam gepflegt, sehen Sie? Ein Prunkstück, eben eine Antiquität. Sie sollten nicht allzu schnell damit fahren.« »Preis?« »Wir verkaufen ihn nur ungern, er lockt recht viele Käufer an.« »Wieviel?« Herbert kaufte den Wagen. Nach einigem Suchen und Fragen fand er das Haus von Johan und wurde von dessen Frau herzlich empfangen. »Bleibst du ein paar Tage? Johan kommt gleich nach Hause, er hat heute frei, und den Rest 179
der Woche auch. Das trifft sich gut, dann könnt ihr zusammen etwas unternehmen.« Sie sprach noch Niederländisch, aber mit amerikanischem Einschlag. Er wurde den Kindern vorgestellt, einem Jungen, der die Reste einer Plastikeisenbahn durch den Sandkasten zu schieben versuchte, und einem Mädchen, das sich mit Mühe vom Fernseher losriß. »Das ist das Gästezimmer, mach es dir gemütlich, ich muß wieder in die Küche, ich backe nämlich gerade Kekse.« Kurz darauf kam Johan herein. Nach der Begrüßung wollte er wissen, ob der schöne Sportwagen Herbert gehöre. »Es geht dir gut, wie? Ich habe deine Briefe voll Spannung gelesen. Bist du schon Millionär?« »Fast.« »Und das in fünf Jahren! … Ich hatte es mir, ehrlich gesagt, gleich gedacht. Deine Stimme klang so energisch, damals als du anriefst. Du hast den amerikanischen Traum aufgegriffen. Dieser Traum existiert tatsächlich, auch wenn ich selbst die größten Schwierigkeiten damit habe.« »Du hast es doch auch geschafft?« fragte Herbert. »Haus, gutaussehende Frau, nette Kinder, gute Stellung.« »Ja, ja.« »Oder möchtest du etwas anderes?« »Nein, ich glaube nicht … Komm mit nach hinten, wir wollen im Garten etwas trinken. Ein Weilchen reden … Du bist in einem bemerkenswerten Augenblick hereingeschneit. Ich habe eine Woche frei und hatte mir einen kleinen Plan gemacht. Ich bin zufällig auf etwas gestoßen. Ich wollte kurz nach Mexiko, vielleicht möchtest du ja mit.« Sie saßen einander auf kunststoffbespannten, verchromten Gartenstühlen gegenüber und tranken den von Johans Frau herbeige180
brachten dünnen Whisky. Johan holte Nüsse; Herbert kaute und hörte zu. »Verrückter Plan, paß auf. Alles Zufälle. Ich gehe ab und zu in eine Bar, in der sich zwielichtige Gestalten herumtreiben, ich weiß nicht genau, weshalb, aber ich gehe schon seit Jahren dorthin. Ich kenne die Leute inzwischen ein bißchen. Einer macht in Marihuana, er holt es aus Oregon, dem Staat hier über uns, und verkauft es an die Straßendealer weiter. Er erzählte mir, daß er in der letzten Zeit eine Nachfrage nach Peyote verzeichnet. Weißt du, was das ist?« »Ja doch«, sagte Herbert, »das ist ein Kaktus. Dem wachsen Knospen, und wenn man die ißt, fängt man an zu halluzinieren. Das Zeug macht nicht süchtig und fällt in die gleiche Kategorie wie Marihuana, ich las kürzlich einen Artikel darüber.« »So in etwa, aber es geht tiefer.« »Ja?« fragte Herbert. »Ja, was immer das auch bedeuten mag. Es interessiert mich nicht so sehr. Schon daß es nicht süchtig macht, man tut niemandem etwas Böses damit. Mein Bekannter will es kaufen, weil seine Kundschaft wieder einmal etwas anderes möchte. Und dann ausgerechnet –« Johan hielt einen Zeigefinger in die Luft –, »und dann ausgerechnet stolpere ich über einen entfernten Freund, einen Archäologen, der gerade aus Mexiko zurück ist und dort ein ganzes Feld voller Peyote entdeckt hat. Direkt hinter der Grenze, in einer verlassenen Gegend, einem Stück Niemandsland, einer unwirtlichen Wüste, in die kein vernünftiger Mensch einen Fuß setzt. Ich weiß genau, wo es ist, er hat es mir aufgezeichnet … Hier.« Johan entfaltete eine Karte, Herbert besah sich die Kreuze, die mit Kugelschreiber darauf eingezeichnet waren. 181
»Wir brauchen nur die Nationalstraße 66 hinunterzufahren. Eine Stunde pflücken und wieder zurück. Wenn das Zeug gut ist, hole ich später mehr, ich wollte jetzt nur einmal nachsehen. Das könnte ein ganz netter Nebenverdienst für mich werden, vielleicht fällt ein neues Auto für mich dabei ab; das, das ich jetzt habe, kostet mich zuviel an Reparaturen … Hättest du Lust, mitzukommen?« »Ja«, sagte Herbert, »ja, das möchte ich schon.« »Auf meine Kosten, und wenn die Proben Geld abwerfen, bekommst du die Hälfte.« »Nein, ich brauche kein Geld.« Herbert stand auf und ging durch den ordentlich gepflegten Garten. Der Junge hatte seine Eisenbahn noch mehr kaputtgemacht; hinter dem offenen Fenster saß das Mädchen und sah Fernsehreklame. Er empfand eine gewisse Erregung, die vagen Gedanken brodelten wieder hoch und schienen klarer, obwohl er nichts festhalten konnte. »Wann fahren wir?« »Morgen früh.« »Dein Wagen taugt nichts, sagst du?« »Er läuft zwar noch«, sagte Johan, »aber die Gangschaltung funktioniert nicht optimal, und ich muß immer wieder Öl nachgießen.« »Wir können meinen Wagen nehmen.« »Gern.« Am nächsten Morgen fuhren sie los, Johan am Steuer, Herbert vor sich hin schlummernd. Er schlief nicht tief und wurde ab und zu wach. Die Landschaft erschien ihm unwirklich schön mit ihrer kargen tropischen Vegetation am Straßenrand und den Sandhügeln, die die Gegend mehr und mehr beherrschten. Er träumte andauernd und versuchte, die wirren Bilder zu umarmen, so daß er sie mitbringen konnte, wenn er wach wurde, aber jedesmal sah er nur das aufgeweckte Gesicht 182
Johans, dem es sichtlich Spaß machte, den Sportwagen zu steuern, oder die Pappteller mit Hamburgern und Pommes frites, die ihm in den Raststätten zugeschoben wurden. Herbert glitt immer wieder weg, obwohl er sein Bestes tat, das Abenteuer, die Fahrt durch eine fremde Umgebung, mitzuerleben. Aber sogar als sie in Mexiko angelangt waren, schlief er noch. Johan stieß ihn bisweilen an, um auf schwerbeladene Esel zu zeigen, hinter denen alte Männer barfuß durch den Staub liefen. Er las die spanischen Texte auf schmuddeligen Ladenscheiben und schaute auf die abbröckelnden Wände, hinter denen eine karge Ernte in der siedenden Hitze schmachtete. »Ja, schön.« Dann schlief er wieder. »Hier.« Zu beiden Seiten des kaum durch eine Karrenspur angedeuteten Pfades wuchs Peyote, mannshohe Kakteen, aus denen die Knospen stachen. »Nicht viel«, sagte Johan. »Enttäuschend, was? Vielleicht gibt es ein Stück weiter mehr.« Sie ließen den Wagen stehen und irrten durch die dürre, zu allen Seiten von niedrigen Hügeln eingeschlossene Ebene. Außerhalb des Peyotefeldes wuchsen andere Kaktussorten und hier und da etwas hochgeschossenes, dünnes Gras. Johan holte eine Einkaufstasche aus Kunststoff aus dem Wagen. »Tja, schade. Der Kerl hat wohl doch etwas übertrieben.« Herbert zwang sich, energisch zu handeln. »Pflücken, Johan. Ich werde dir helfen.« Der Nachmittag war schon fortgeschritten, als sie sich auf den Rückweg machten. Herbert fuhr. »Werden wir nachher an der Grenze 183
keine Schwierigkeiten bekommen?« »Nein, es ist zu voll dort, sie lassen jeden durch. Wir sehen aus wie Touristen, und das sind wir auch: mal kurz in Mexiko gewesen.« Etwas später gab Johan allerdings zu, daß die Sache doch nicht ohne Risiko war. »Es kommt so gut wie nie vor, aber es wäre nicht gut, wenn sie uns kontrollierten. Peyote steht ganz oben auf der Liste, und mit so einer Tasche voll können sie uns für ungefähr acht Jahre einsperren. Wenn du möchtest, werfe ich das Zeug weg, es hat ja doch keinen Sinn zurückzukommen, wegen der paar armseligen Pflanzen.« »Laß nur«, sagte Herbert, »ich habe keine Angst.« Eine Stunde später, wieder auf der Nationalstraße 66, drückte ihm die Angst die Kehle zu. Beim Grenzübergang waren sie langsam durchgefahren und, ihre Pässe hochhaltend, von gelangweilten Beamten mit Pfadfinderhüten auf dem Kopf durchgewunken worden. Herbert, jetzt hellwach, erlebte die Landschaft als bedrohlich. Die Sandhügel, die ihn auf dem Hinweg durch ihre einfach verlaufenden Konturen getröstet hatten, waren zu nachlässig hingekippten Abfallhaufen geworden, fahlgrau; beklemmende Hindernisse, die von allen Seiten auf ihn zukamen. Die pulvrige Ebene, in der nichts lebte und die sich bis zu den Hügeln erstreckte, erschien wie eine Hölle schweigenden Elends. Johan neben ihm, still in sich zusammengesunken, die Tasche mit Peyote auf dem Schoß, war nicht mehr als eine dumpfe Anwesenheit, eine Puppe, die er lediglich transportierte. Die düsteren Gedankenverbindungen verkrampften seinen Magen, und hinzu kam jetzt noch die Beklemmung in seinem Hals: eine Angst, die aber von etwas Realem verursacht wurde. Denn im Rückspiegel sah er schon minutenlang einen Polizeiwagen, ein nagelneues, hellblaues Fahrzeug, in dem zwei von der Klimaanlage frisch gehaltene, breitschultrige Robo184
ter mit strengen Augen vor sich hin starrten. »Johan!« »Ja?« »Hinter uns.« Außer dem Sportwagen und dem nachfolgenden Polizeifahrzeug bewegte sich auf diesem Teil der Nationalstraße 66 nichts. »Nein! Fährt der schon lange hinter uns?« »Eine ganze Weile.« Johan fluchte bedrückt. »Was können wir tun? Wenn ich die Tasche wegwerfe, sehen sie es.« »Ja … es sieht so aus, als ob sie uns verfolgen.« Johan sah sich noch einmal um. Das Blaulicht auf dem Streifenwagen blitzte. »Wir sollen anhalten. Das geht nicht, verstehst du?« Sein Fuß trat auf den von Herbert. Der Sportwagen schoß nach vorne, und der Tachometer verließ das sichere Feld zwischen fünfzig und sechzig Meilen und arbeitete sich hoch zur verbotenen rechten Seite: siebzig … achtzig. Aber die Entfernung zwischen den beiden Autos nahm nicht zu. Johans Fuß drückte weiter bis auf hundert Meilen. Johan aß, in die Einkaufstasche langend. »Hier! Iß! Eine Geschwindigkeitsüberschreitung ist bezahlbar, aber ich habe keine Lust, im Knast zu landen. Du auch nicht. Die sind knallhart hier. Der Richter verwarnt niemanden, du bekommst sofort die volle Ladung. Friß, Herbert.« Herbert aß auch. Die Kaktusknospen schmeckten bitter. »Nicht kauen! Schlucken!« Herbert würgte die trockene, schmerzhaft kratzende Masse hinunter und stopfte sich erneut den Mund voll. Der Zeiger stand auf einhundertzwanzig, und unter der niedrigen Haube vor ihnen brummte 185
der Motor. Der Streifenwagen hielt mühelos Schritt, schien aber, vielleicht wegen der immer wieder auftauchenden Kurven, nicht überholen zu wollen. »Friß, Junge, friß!« Schweiß brannte in Herberts Augen. Er schluchzte vor Ekel und Angst, sein Magen würgte den unwillkommenen, faserigen Brei wieder hoch, aber er schluckte weiter. Das Rennen dauerte bestimmt schon fünf Minuten. Der Streifenwagen füllte immer noch unerbittlich den Rückspiegel. Er sah die Gesichter der Polizisten, deren Ausdruck unverändert blieb. Sie hatten nichts zu verlieren: Demnächst, auf gerader Strecke, würden sie mühelos mit ihm gleichziehen und ihn unerbittlich von der Straße drängen. Die Tasche war fast leer. Herbert erinnerte sich, gelesen zu haben, daß ungefähr zehn Knospen genug seien. Wieviel hatte er schon gegessen? Hundert, oder mehr? Die Alkaloide, die zur Halluzination führten, waren giftig. Er würde entweder sterben oder ernsthaft krank werden. Nicht zuviel kauen, dachte er noch, dann scheiße ich es vielleicht aus, aber er mußte kauen, denn die Knospen, die in seinem Mund aneinanderklebten, blieben an seinem Gaumenzäpfchen hängen. Einen Moment lang grinste Herbert. Es überraschte ihn, daß er noch einen praktischen Gedanken zustande brachte. Und während er grinste, zischte das Polizeifahrzeug vorüber. »Bremsen!« brüllte Johan. Der Sportwagen schleuderte über die Straße. Das Polizeifahrzeug fuhr schon weit vor ihnen her. Die Beamten hatten ihre Lichter an, und er sah, wie die roten Flecken in der herabsinkenden Dämmerung kleiner wurden. 186
»Was?!« rief Herbert bestürzt. »Sie fahren weiter!« »Verdammt!« Johan lachte hysterisch. »Sie hatten es überhaupt nicht auf uns abgesehen. Herrgott noch mal. Sie sind hinter etwas anderem her. Sie wurden per Funk gerufen. Vielleicht ein Unfall … Und wir haben den ganzen Mist aufgefressen!« Er zog seinen Fuß zurück, der zusammen mit dem von Herbert das Bremspedal getreten hatte. Herbert parkte den Wagen auf der Standspur. Sie stiegen aus, Johan hielt noch immer die Kunststofftasche umklammert. Herbert stolperte in den lockeren Sand. Er erbrach sich, obwohl ihm nicht schlecht war. Ein kontinuierlicher, weich fließender Strom erfüllte die Wüste um ihn, angefangen bei seinen Fußknöcheln und sich immer weiter fortsetzend, in einer trägen, von Orange durchblitzten dunkelroten Welle. Erst war er sich Johans unbeholfener Gegenwart noch bewußt, aber schon bald war er allein, und das war auch besser so. Die Bilder seiner Träume, die vor langer Zeit in der Tankstelle angefangen hatten, in der er für den Mindeststundenlohn so hart hatte arbeiten müssen, und die ihm quälend ausgewichen waren, sobald er sie zu erreichen trachtete, nahmen verständliche Formen an. Nein, nicht nur verständliche, das hier ging viel weiter. Die Bilder schienen sich zu einer menschlichen Figur zusammenzuziehen. Lachend ließ er sich von der Frau lieben, es mußte ja eine Frau sein, wenigstens in erster Linie; das war viel natürlicher; aber weshalb sollte er versuchen, es zu verstehen? Er wußte, doch noch in der Anstrengung zu formulieren, daß ihr Zusammensein sexuell war und daß das, was er erfuhr, unten in seinem Rückgrat zustande kam; aber da war soviel mehr, das sich über ihn ergoß, soviel Unverständnis, das jetzt wegfiel. Jeder Versuch einer Wiedergabe war nun sinnlos. Bestimmte Erfahrungen hingen mit 187
seiner Geburt zusammen und verschmolzen mit dem Tod, den er als ein zeitloses Moment vor sich und in sich sah. Er erkannte auch seine Eltern, die die Fetzen seiner Identität durchströmten und ihn danach noch weiter auseinanderzogen. Alle Dinge, die er um sich her erblickte, sogar die Sandhügel und die Ebene, die jetzt leuchtete, in einem grauen Licht, das seine Erfahrungen nährte, wurden durchsichtig. Jede Einzelheit der Vision war vollkommen hell und klar und verbunden mit dem, was er der Einfachheit halber auch weiterhin als die Frau bezeichnete. Er wußte auch, daß er sich, während er glückselig in sich zusammensank, an dies alles in irgendeiner Weise erinnern würde und daß sich ein großartiger Durchblick bildete, der alle zukünftigen Zweifel schon im vorhinein vernichtete. Durst. Das war das erste, was er empfand, als er aufwachte. Der Gestank, der von seinem Körper ausging, störte ihn kaum. Johan war schon aufgestanden und wankte zum Wagen. Herbert kroch hinter ihm her. »Durst, Johan.« Johan zeigte auf seinen Hals. »Ich auch. Der Wagen ist hinüber. Springt nicht mehr an. Stinkt. Ausgebrannt, denke ich. Zu schnell gefahren.« »Wasser, Johan.« Die Folter dauerte an, bis endlich ein Lastwagen hielt. Im nächsten Motel nahmen sie getrennte Zimmer und lagen stundenlang in der Badewanne, Coca-Cola-Dosen leerend. Sie kauften noch mehr Dosen und legten sich schlafen. Endlich aufgewacht, bestellten sie immer wieder Frühstück, zum Erstaunen des Dienstmädchens, das einen Teller nach dem anderen 188
herbeischaffte und die Kaffeetassen nicht mehr nachfüllen wollte, es sei denn, sie versprachen zuzuzahlen. »Möchtest du den Wagen noch abholen?« »Nein«, sagte Herbert, »der ist nicht mehr zu reparieren.« »Die Versicherung bezahlt solche Schäden nicht.« »Nein.« »Ich kann es dir nicht wiedergeben, und es ist meine Schuld. Vielleicht auf lange Sicht, du wirst Geduld haben müssen. Wieviel hat dich der Wagen wohl gekostet?« »Das ist egal.« Herbert streckte sich. »Es war die Mühe wert. Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe.« »Was?« Herbert versuchte, es zu erklären, während sie in einem Mietwagen nach Los Angeles zurückfuhren. »Du bist verrückt«, sagte Johan. »Das Zeug ist gefährlicher, als ich dachte … Das kann nicht dein Ernst sein. Vielleicht brauchst du Ruhe, dann geht es vorbei.« »Nein. Ich fahre zurück nach Chicago und verkaufe mein Geschäft, und dann gehe ich fort.« Johan schüttelte energisch den Kopf. »Nichts da. Dein Geschäft läuft gut. Das tust du nicht. Wirklich, du brauchst Ruhe, und vielleicht einen Psychiater. Die wissen heutzutage viel von Halluzinationen, die befreien dich schon wieder davon. Was sagtest du noch, gesehen zu haben? Eine Frau?« »Ja.« »Eine Farbige, wie?« Johan sprach langsam und freundlich. Herbert lachte. »Du brauchst mich nicht wie einen Wahnsinnigen zu behandeln. Ja, eine Farbige. Und ich weiß sogar, woher sie kommt. 189
Aus Neuguinea. Ich erinnere mich an die Bilder aus dem Erdkundebuch, auf dem Wirtschaftsgymnasium war das, in Heemstede. Du mußt das gleiche Buch gehabt haben, du bist damals auch zur Schule gegangen.« »Aber ja doch. Wir haben das gleiche Alter.« Herbert lachte wieder. »Red doch nicht so albern, ich bin wirklich nicht verrückt geworden. Die Frau muß etwas mit Neuguinea zu tun haben, mit einer der Inseln dort. Das sagte sie mir, oder na ja, das teilte sie mir mit. Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll.« »Und du machst dich auf dorthin? Zu dieser Insel?« »Ja.« »Wann?« »So bald wie möglich, wenn ich mein Geschäft verkauft habe. Mein früherer Chef wird wohl Interesse haben, das kann er leicht aufbringen.« »Insel! … Jetzt hör aber auf, Herbert. Wie willst du denn dorthin kommen?« Herbert grinste. »Was hättest du gedacht? Mit einem Flugzeug oder mit einem Schiff. Das wird doch wohl nicht so schwierig sein. Ich fahre einfach hin.« »Du weißt nicht einmal, welche Insel. Vielleicht gibt es dort Hunderte oder Tausende, du kannst sie doch nicht alle abklappern! … Was willst du eigentlich von der Frau?« Herbert schwieg. »Sie bestimmt heiraten. Seltsame Kinder kriegen, mit Knochen durch die Nase. Was kannst du da schon tun, auf so einer Insel? Kokosnüsse pflücken? Kopra machen? Das ist das einzige, an das ich mich aus der Schule erinnere. Kopra. Ein dreckiges 190
Stinkzeug ist das. Es wimmelt nur so von Ratten auf diesen Plantagen. – Aber du wirst es nicht tun. Du bist einfach vorübergehend verrückt; morgen geht es dir schon wieder besser.« Herbert fuhr auf den Parkplatz einer Raststätte und stellte den Motor ab. »Aber hast du denn nichts gesehen auf der 66? Du hast doch auch die ganze Zeit gekotzt und dich umhergewälzt?« »Ja«, sagte Johan. »Was hast du denn gesehen?« »Nichts. Das geht dich nichts an. Es geht mich auch nichts an. Einen Haufen Unsinn. Ich habe mir davon die Hosen vollgemacht. Blödsinn war es.« »Von Blödsinn macht man sich nicht die Hosen voll.« Johan schwitzte. Er schrie: »Unsinn, sage ich! Ein gelbes Männchen, das mir etwas einreden wollte. Ein gemeines gelbes Kerlchen mit einem Wasserkopf. Auf solche Wesen höre ich nicht. Ich verkaufe Versicherungspolicen, ich habe Frau und Kinder. Es kommt von der Bar, in die ich früher ging, von den ganzen Schweinereien, von den dreckigen Nutten. Ich habe da ja auch nichts verloren. Ich gehe nie wieder hin. Ich bin ein anständiger Kerl, verstehst du?« »Jaja, ich verstehe.« »Nie mache ich das! Ich will nichts mehr davon wissen! Mit gelben Männchen, die aus Blasen kommen, habe ich nichts zu schaffen. Nichts!« Johan weinte. Herbert gab ihm sein Taschentuch. Er streckte seinen Arm aus, und Johan ließ sich gegen ihn fallen. Er schluchzte und fluchte, murmelnd, mit seinem Kopf an Herberts Brust. »Ist ja gut, ist ja schon gut.« »Ich tu’s nicht, Herbert.« 191
»Du brauchst es auch nicht zu tun.« »Nein?« »Nein.« Johan setzte sich auf. Er schniefte noch nach. »Gehen wir essen?« »Willst du wirklich auf diese Insel?« fragte Johan nach dem Essen. »Ja.« »Wäre das nicht dumm? Du kannst krank werden. Pest, Cholera, das gibt es da noch. Und Dysenterie. Das bekommt jeder in den Tropen. Auf so einer Insel gibt es kein Krankenhaus. Du verfaulst irgendwo in einer Hütte.« Herbert nickte. »Das ist dir wohl egal, wie? Hauptsache, du findest die Frau.« Herbert nickte noch einmal. »Die Frau ist nur eine Art Form, etwas, das dazugehört. Ich kann es dir nicht erklären, wenn du mich verstehen willst, mußt du dich selbst zurückbegeben in das, was du erlebt hast.« »Das will ich nicht«, sagte Johan. »Ich wage es auch nicht. Du schon. Du hast recht. Weißt du, daß du recht hast?« »Ja.« Ein vages Lächeln zog über Johans Gesicht. »Weißt du, ich müßte dir eigentlich die Hand geben jetzt und dir sagen, daß ich dich verstehe.« Herbert zahlte. »Der Gedanke ist genug. Komm, wir gehen. Ich bringe dich nach Hause.«
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Und DREI …! Der gutaussehende, erfolgreiche Frank Nullish und sein nagelneuer, phantastischer Volvo Automatik hatten die Wahl an diesem schicksalsschweren Tag. Sie konnten links abbiegen, nachdem sie aus der Klinik kamen, in der Franks Frau Betty-Baby nicht geheilt wurde, und nach Hause fahren. Zu Hause, das war Franks geräumige Eigentumswohnung auf der obersten Etage eines vierstöckigen Hauses im vornehmen Amsterdamer Vorort Amstelveen. Die Wohnung bot einen Ausblick auf einen gepflegten, von großen Pappeln gesäumten Park, dessen stets gemähte Rasenflächen einen klaren Teich mit strahlendweißen Pekingenten darauf umfaßten. Links abzubiegen war die nette Alternative – der Volvo würde auf seinem Einstellplatz in der Tiefgarage stehen, und Frank, die alte Meerschaumpfeife zwischen die Zähne geklemmt, würde vom Balkon aus die Enten beobachten, während Cat, die Katze, schlaff auf seinen Armen lag. Frank rauchte. Cat schnurrte. Weit weg quakten die Enten. Rechts abzubiegen bot keine ganz so nette Alternative, bedeutete, in ein Gewirr kleiner, schmaler Einbahnstraßen, halbmondförmiger Gassen und steiler Brücken hineinzugeraten, das in die Innenstadt Amsterdams mit ihren einstmals stolzen und prächtigen Giebelhäusern aus dem siebzehnten Jahrhundert hineinführte, an der dann aber die Gefräßigkeit der Geschäftemacher Raubbau getrieben hatte und die erst in letzter Zeit wieder als ein malerisches, altes und sehr weltliches Zentrum auf Vordermann gebracht worden war. Von Inte193
resse für Touristen und vergnügungssüchtige Einheimische – eine Gegend des lärmenden Vergnügens, kleiner Mauscheleien und aller möglichen anderen Dinge. Er hatte die Wahl: links oder rechts. Der Volvo bog nach rechts ab. Frank lächelte, glücklich für einen Augenblick, dann für erheblich längere Augenblicke beunruhigt. Frank verstand sich gern als einen distanzierten und introvertierten Menschen, als jemanden, der gerne zu Hause war und blieb, der es im Leben zu etwas gebracht hatte, ein einsamer Beobachter der Enten. Seine Frau Betty-Baby sah einsam fern, aber das war jetzt auch schon eine ganze Weile her, damals, bevor sie krankhaft zu fett geworden und in eine Privatklinik eingewiesen worden war. Ein kurzer, täglicher Besuch nach der Arbeit bei seiner kränkelnden Frau war fester Bestandteil seines distanzierten, introvertierten Einzelgänger-Lebens, und es war ganz und gar kein allzu schlechtes Leben. Wie lange war Betty-Baby jetzt schon fort? Frank rechnete nach, griff nach Zahlen und Daten, hinausgehende Zahlungen für Arztrechnungen, hereinkommende Zahlungen von der Versicherung. Während Frank rechnete, wartete der Volvo hinter einem Lastwagen, der faulig stinkenden Rauch ausstieß. Frank kurbelte das Schiebedach zu. Natürlich störte es ihn kaum, daß die keuchend ausgehusteten Auspuffgase schmutzige, ölige Luft in die Ventilation des Volvos spuckten. Sinnlos, sich den Kopf über unvermeidbare Ärgernisse zu zerbrechen, wenn sonst alles wunderbar lief. Frank lächelte die riesigen Hecktüren des Lasters an, die ihm sowohl die Weiterfahrt als auch den Blick versperrten. Der Lastwagen setzte sich wieder in Bewegung, der Volvo bislang noch nicht, und als er es dann tat, nickte Frank in seinem Rückspiegel der wütenden Fah194
rerin hinter ihm zu. Sie füllte einen kleinen Wagen ganz aus. Der Wagen hupte, der Laster ruckelte. Frank lachte laut. Es könnte trotzdem alles kaum besser sein. Machte er nicht ein Vermögen mit dem, was Betty-Babys Dad einmal »unsere bescheidene, aber profitable Produktpalette« genannt hatte? Die Produktpalette bestand aus speziellen Haken und Nadeln, wie sie in der Kunststickerei benötigt wurden – von reichen Ladies mit dem Bedürfnis, Kissenbezüge zu besticken und Wandteppiche mit aufgedruckten Motiven, Klingelzüge, um Dienstmädchen zu rufen, die gegangen waren, und Schutzdeckchen für Tastaturen von Klavieren, auf denen niemand mehr spielte. Es mußte eine ganze Menge von diesen Ladies geben, dachte Frank: vornübergebeugte Großmütterchen und alte Tanten mit rutschenden Perücken und Schultertüchern, die die merkwürdig geformten Haken und Nadeln kauften, die von seiner Firma so fleißig produziert wurden. Sämtliche Produkte waren streng patentiert. Die Maschinen, die zu ihrer Herstellung benötigt wurden, waren schon seit Jahren abbezahlt. Die Stückzahlen waren nicht groß genug, daß die Großen der Branche auch nur in Erwägung zogen, sich damit abzugeben. Ein einfaches, kleines Produkt, eine hohe Gewinnspanne, keine Konkurrenz, ein stetiger und reichlicher Bargeldstrom in die Kassen von Franks Firma. Seine Firma? Nun, die Firma von Betty-Babys Dad, aber der alte Herr vergaß heute immer wieder seinen eigenen Namen. Das war schon in Ordnung, als Wuffo, der Hund, noch lebte, denn Wuffo brachte sein taperiges Herrchen nach Spaziergängen immer sicher nach Hause, aber dann wurde Wuffo selbst alt und vergeßlich, starb schließlich sogar, also ging der alte Herr in ein nettes Heim zu den netten Krankenschwestern, die seine netten Bedürfnisse befriedigten. Frank unterzeichnete mit Vergnügen die netten Schecks. Nachdem die 195
Handlungsvollmacht dem Schwiegersohn Frank und dem einzigen Kind, der kränkelnden Betty-Baby, übertragen worden war – wem gehörte da was? Aber im Augenblick war da noch eine weitere Frage, die ihm allerdings entglitten war. Erinnere dich an die Frage, Frank. Wie lange war Betty-Baby schon krank? Drei Monate vielleicht? Wird sie vermißt? Sie wird nicht vermißt. Die meistens unsichtbare Haushälterin Mrs. Bakker führt den Haushalt gut. Auf daß das gute Leben niemals aufhört. Also, wieso war der Volvo dann falsch abgebogen? Woher auf einmal diese beinahe nicht zu bändigende Wut? Woher dieses glühende Verlangen, aufs Gas zu treten und den stinkenden großen Laster zu rammen, dann zurückzuschalten, rückwärts in das kleine hupende Auto zu donnern? He, ein Parkplatz zwischen den Weiden am Rande der Gracht. Park dort ein. Kümmer dich nicht um irgendwelche Zeichen. Den drohenden Finger der Frau in diesem kleinen Wagen einfach ignorieren. Und wo du gerade schon mal dabei bist, beachte auch nicht weiter das »Arschloch«, das sich auf den Lippen der Frau formte. Sicher in die Parklücke eingeparkt. So. So ist’s gut. Frank erkannte seine Umgebung wieder, als er aus seinem nur wenige Zentimeter von der Mauer der Gracht parkenden Wagen stieg. Früher hatte sich hier der Firmensitz befunden, bevor die Innenstadt schmutzige Betriebe gegen glitzerndes Vergnügen austauschte. Heute befanden sich in den renovierten prächtigen Handelshäusern, Lagerhäusern und Werkstätten hinter ihren schmucken Giebeln gemütliche Bars, Touristenhotels und Kunstgalerien. Frank warf einen Blick auf seine Uhr – die Galerien würden etwa jetzt schließen, die Bars schon bald öffnen. Was jetzt? Ein Bierchen zischen? 196
Frank hatte seit Jahren keinen Zug mehr durch die Gemeinde gemacht. Dazu gehörten Kumpel, gute alte Freunde, die einen lautstark begrüßten und freundschaftlich knufften, bevor sie ihren Kreis öffneten und man in ihrer Mitte aufgenommen wurde. Frank erinnerte sich an eine Zeit, in der er »Tarzan« geheißen hatte, erinnerte sich, wie er sein tulpenförmiges Glas mit Wacholder gehoben hatte, um dem schnurrbärtigen »Pirat« mit seinem Ohrring, dem gedrungenen, militärisch gekleideten »Stinkie« und einem Barkeeper zuzuprosten, der unter dem Namen »Fats« bekannt gewesen war. Damals vor zwanzig Jahren waren das wichtige Menschen auf Franks Bühne gewesen. Die Bühne brach zusammen, die Schauspieler zerstreuten sich in alle Himmelsrichtungen, allerdings auch wieder nicht ganz, denn Frank erinnerte sich, erst kürzlich wieder dem Piraten über den Weg gelaufen zu sein, und sein neues Image, Glatze und kein Ohrring mehr, hatte vergnügt eine Frau und drei Kinder erwähnt. »Wir fünf, Tarzan, frühstücken jeden Tag zusammen.« »Wir drei, Pirat«, hätte Frank sagen können. Frank, den englischen Trenchcoat eng um sich gezogen, mit seinen gefönten Haaren, in die die Brise fuhr, sagte das nicht. Es entsprach sowieso nicht der Wahrheit. Betty-Baby und Cat frühstückten nicht, sondern schliefen immer aus, schnarchten leise, Hand in Pfote, während Frank im Wohnzimmer die vorbereitete Mahlzeit verschlang und dazu Instant-Kaffee schlürfte, dabei immer mit einem Auge die Zeitung überflog, um zu sehen, wie sich die Aktien machten. Nicht daß sie sich jemals wirklich machten. Langweiliges holländisches Bier und langweilige Banken, Elektro- und Ölkonzerne. Genauso beständig und sicher wie das niederländische Königshaus von Oranien. Wenn die Kurse fallen, warte nur fünf Minuten. Und schon springen 197
sie wieder nach oben. »Trinkst du immer noch Bier, Pirat?« »Nein. Kein Bier.« Der Mann verschwand schon wieder in der Menge, unterwegs, um mit einem Lächeln mehr Frühstücke für seine Sippe zu verdienen. Frank, der zwischen dem Volvo und einer von Hundedreck eingerahmten Ulme stand, drehte sich zu einem Filmplakat um, auf dem sich eine nackte Frau einem warzigen Alligator näherte. Frank bemerkte die geschürzten Lippen der Frau, die sich der Brutalität der Bestie ergaben. Den Film ansehen? Aber sollte er nicht zuerst etwas zu Abend essen? Irgendwo in der Nähe einen strahlenverseuchten Happen nehmen? Warum nicht einfach nach Hause fahren und sich mit Cat eines von Frau Bakkers Filet Mignon teilen? Gebratene Pfifferlinge als Beilage? Käse und Crackers für das geruhsame Danach? Echte Schlagsahne auf frischen Früchten? Java-Kaffee? Kubanische Zigarre? Blick auf den Park? Ein weiterer gemütlicher Abend, verbracht beim Beobachten der Enten? Was machte er überhaupt hier in diesem Höllenloch? General Frank befahl sich kurzerhand, wieder in den Volvo zu steigen. Die Mannschaften erhoben Einwände, sagten: »Nee«, hatten ungewaschene Ohren. General und Mannschaften überquerten die Mauer der Gracht. Er fragte sich, ob er vielleicht eine Frau brauchte. Es müßten eigentlich eine ganze Menge nacktschultrige, nacktbeinige, ja sogar barbusige Frauen in den Gassen dieses Viertels warten, eingerahmt von Neonröhren, erotisch beleuchtet von rosa und dunkelrot getönten Scheinwerfern, die unter Fensterbänken versteckt waren; eine buntschillernde Auswahl. 198
»Komm, sieh uns zu, wie wir mit Alligatoren ausflippen«, flüsterte die buntschillernde Auswahl. Frank brummte abwiegelnd vor sich hin. »Du bist heute nicht ganz bei Verstand. Willst du dir was holen?« Er versuchte es mit einem Kompromiß. Einen Pornofilm ausleihen und zu Hause in den Videorecorder schieben? Aber die Heiligen marschierten weiter, auf engen Bürgersteigen hinter phallischen Metallpfosten, von der Stadtverwaltung in Abständen von einem halben Meter aufgestellt, um friedliche Fußgänger vor dem üblen Verkehr zu schützen. Er berührte leicht die glatten Oberflächen der Pfosten, die darum baten, ihr Verlangen zu befriedigen. Er ging vorbei an Bars, die sich mit fröhlichen jungen Leuten füllten. Stand er mit seinen vierzig Jahren vielleicht schon jenseits der Grenze? Würde er mit seiner Kleidung nicht sofort auffallen? Vor einem kleinen Geschäft blieb er stehen, setzte seine randlose Brille mit goldenen Stegen auf und begutachtete sein Spiegelbild zwischen hochhackigen Schuhen, Umhängetaschen und anderen Lederartikeln für schwule Touristen in der Schaufensterauslage. Sein hellgrauer Dreiteiler? Schien in Ordnung zu sein. Die kastanienbraune Seidenkrawatte? Nett. Das konservative, rosafarbene Hemd aus reiner Baumwolle? Nett. Haare? Sicher, sie lichteten sich langsam, aber noch war nirgendwo eine kahle Stelle. Frank runzelte seine Stirn. Was kümmerte es ihn, ob er von kleinen Menschen akzeptiert wurde? War er denn nicht der Monopolist des Landes für profitbringende Spezialhaken und Nadeln für die Handarbeit? Frank schnaubte verächtlich, ging weiter, stieß sich seine Zehen am Kopfsteinpflaster, humpelte ein bißchen. Er erkannte den Giebel des Hauses wieder, gegen das er sich jetzt lehnte. Er schützte das Patrizierhaus, in dem er vor zwanzig 199
Jahren, frisch von der Wirtschaftsfachschule, für Betty-Babys Vater zu arbeiten begonnen hatte. Kurze Zeit später war das Gebäude verkauft worden und die Firma in ein modernes Gewerbegebiet am Stadtrand umgezogen, wo er sie heute kommandierte, aber hier hatte Franks Karriere begonnen. Frank lachte viel zu laut, zog dann wütend seine Stirn kraus. Wieso verlor er jetzt schon seine Beherrschung, wo er doch noch gar nicht zu trinken angefangen hatte? Deutlich hörte er die einleitenden Takte einer traurigen Jazz-Melodie. Kam die Musik aus Lautsprechern im Inneren des Gebäudes, oder drehte der gute alte Frankie langsam durch? Er schüttelte seinen Kopf, um eine deprimierende, wenn auch faszinierende Ballade loszuwerden, die zu einem von großen Männern mit tiefliegenden Augen auf Kontrabässen gezupften Muster gespielt wurde. Um sich von diesen Musikern in ihren Gehröcken zu befreien, appellierte Frank an die Wand, gegen die er lehnte, tastete sie liebevoll mit seinen Fingerspitzen ab. Er hatte dieses Gebäude als eine Ruine in Erinnerung, doch jetzt war seine Oberfläche geglättet und verputzt, seine Türen neu gestrichen und seine verrotteten Fenster ersetzt worden. Der imposante Eingang des großen Patrizierhauses wies sieben Messingklingeln auf, mit elegant beschrifteten Namensschildchen, eines für jede Etage. Dann befanden sich dort heute also Wohnungen statt des schmuddeligen Büros von Betty-Babys Vater, statt der anderen Büros und des Lagers für die Fertigprodukte. Der Keller, wo früher einmal Maschinen gestampft und gehämmert hatten, war heute eine Bar geworden. Frank erinnerte sich wieder an den neunzehn Jahre alten, aufgeweckten jungen Burschen, der er einmal gewesen war, der hier sein Tor zum Erfolg gefunden hatte. Der durch dieses Tor gegangen war. 200
Direkt eingetreten war. Und gleichzeitig in die Ehe. Damals wußte er noch nichts von Betty-Baby, nichts von dem Alleinerbe. Zu jener Zeit lernte Betty-Baby auf einem Schweizer Internat noch Manieren und gute Umgangsformen, stand jedoch kurz davor, zurückzukehren und ebenfalls einzutreten. Eintreten. »Bist du angekommen?« fragte Frank Frank. »Wie gefällt dir die andere Seite?« »Ich bin. Und sie gefällt mir«, sagte Frank zu Frank. Jetzt war er reich, und Betty-Baby war verrückt. Während Frank darauf wartete, daß das Kribbeln in seinen Zehen endlich abklang und die bedrückenden Baßspieler ihre Melodie beendeten, sah er das Gesicht von Betty-Babys Arzt. »Rein körperlich gesehen«, sagte das Gesicht, »ist Ihre Frau vollkommen gesund.« Das Gesicht lächelte. »In diesem Punkt sind meine Kollegen mit mir natürlich einer Meinung.« Und was war dann mit Betty-Babys Juckreiz, ihren Bauchkrämpfen, ihrem schlurfenden Bein, den Gewichtsproblemen, den Atemschwierigkeiten? »Ich würde Ihnen gerne einen Psychiater empfehlen, Herr Nullish.« Frank drückte sich von der Wand ab, stieß sich wieder seine Zehen, taumelte zurück in einen Passanten, drehte sich um, entschuldigte sich. »Gehen Sie zu den Anonymen Alkoholikern«, sagte der Passant. »Das ist zwar ein langweiliger Haufen stinkender Angeber, aber manchmal können sie einem wirklich helfen.« »Ja«, sagte Frank. »Mir haben sie ganz bestimmt geholfen«, sagte der Passant und 201
deutete auf den nahen Eingang der Bar. Frank bemerkte den Geruch von Wacholder, der aus der Bar und aus dem Mund des Passanten kam. »Heute kann ich der Versuchung widerstehen«, sagte der Passant, hob dabei sein stoppeliges Kinn. »Ich muß nicht mehr in die üblen Kaschemmen. Ich kann einfach nach Hause gehen.« Seine geröteten Augen blinzelten. »Okay?« »Ja«, sagte Frank. Ganz sicher war Betty-Baby verrückt, genau wie sein Bruder Pete und dessen Frau Suzie. Eine andere Erfolgsgeschichte. Pete kam, durch Suzie, in eine Firma, die den Alleinvertrieb für japanische Maschinen zur Reparatur von Deichen besaß. Nachdem Suzie es müde geworden war, in Einkaufszentren ausgiebig von ihrer Kreditkarte Gebrauch zu machen, begann sie zu einem Klapsdoktor zu gehen. Auch Pete wurde eingeladen, dorthin zu kommen. Pete kam zu Frank. Da war Pete, in Franks Büro, zeichnete sich als Silhouette vor der Vitrine voller Nadelhaken und gebogener Nadeln ab. Angstschweiß glänzte auf Petes Gesicht. »Der Klapsdoktor will mich auch noch verrückt machen, Frankie. Am Ende werde ich noch genau wie Suzie und träume von Froschgesicht mit Peniszähnen. Aber nicht mit mir, Bruder, nicht mit mir«, plapperte es über Petes feiste Lippen. »Suzie kann von mir aus Froschgesicht haben. Für mich die Freiheit.« Also kaufte Pete sich einen Plastiknachbau eines 1931er Duesenberg-Kabrios und lachte sich in der Innenstadt kleine Mädchen an, mit denen er auf seinem PlastikMinischoner segeln ging. »Keine Lust, mal mitzukommen, Frankie? In der Kajüte ein Mäuschen auf der Tischkante vernaschen, während all das Wasser um den Rumpf plätschert? Hast du so was noch nie gemacht?« Frank hatte so was noch nie gemacht, obwohl er absolut nichts gegen plätschernde Tischkanten hatte. Aber nicht, wenn der 202
schweißige Bruder Pete dabei zuschaute. Sie alle waren verrückt geworden. Wir sind alle verrückt geworden, dachte Frank. Wenn er jemals hätte wissen können, daß er eines Tages seinen Lebensunterhalt damit verdiente, Handarbeitsnadeln zu verkaufen … Alten Damen zum achtfachen Selbstkostenpreis nützlich zu sein. Es war schon gut, daß er nicht an himmlische Gerechtigkeit glaubte. Solange er nicht daran glaubte, würde er auch Petrus nicht amüsieren müssen. Petrus: »Mit was haben Sie sich dort unten beschäftigt, mein Herr?« Frank: »Äh … mit Geldverdienen?« Petrus: »Ach ja, ist das so? Etwas genauer bitte?« Frank: »Äh, ja. Nun, also, irgendwie hab ich den Markt für gebogene Handarbeitsnadeln monopolisiert, solche Nadeln, die alten Damen immer was zu tun geben. Die mit diesen kleinen verchromten Häkchen am Ende, wissen Sie? Und mit Mahagoni-Handgriffen?« Petrus: »Was haben Sie sonst noch gemacht, Sir?« Frank: »Äh, nichts.« Petrus, der einen Flammenschwerter schwingenden Engelschor dirigierte: »Hahahahaha.« Wahrscheinlich würden sie sich nicht mal die Mühe machen, ihn in die Hölle zu stoßen, sondern ihn statt dessen einfach nur auf grausame Art ignorieren, ihn ziellos herumirren lassen, so wie er auch jetzt umherwanderte. Frank wanderte in die Bar. Der Barkeeper erinnerte ihn an Fats, doch dieser hier war jünger, wenn auch noch wabbeliger, hatte einen noch dickeren Bauch über seiner Hose hängen. Die Bar war auf alt 203
getrimmt: Unter durchhängenden, verräucherten Balken, die eine nur teilweise getünchte Decke trugen, befanden sich Barhocker und Theke mit gelblichbraunen Flecken und voller von Schrotflinten hineingeschossenen Wurmlöchern. Dazu eine Teakholztäfelung, die dem Ganzen etwas Eleganz verleihen sollte. Eine kupferne Stütze über die gesamte Länge der Theke, auf der unsichere Füße Halt finden konnten. Spucknäpfe in allen Ecken. »Bier?« sagte Fats II und schob den Krug unter den Zapfhahn. Frank hob abwehrend eine Hand. Bier ist für die Grachten, kommt raus, genau wie es reingeht, ist nicht mal höflich genug, seine Farbe zu wechseln. »Stopp, Fats. Whisky. Amerikanischer. Eis. Kein Wasser.« »Sir«, sagte Fats. »Der Name ist Edmond.« Er griff nicht mehr nach dem Zapfhahn, genaugenommen griff er nach gar nichts mehr. »Edmond«, sagte Frank, wobei er sich behutsam vorschob, um zwischen zwei Langhaarigen, die sich abknutschten, und einem Dekolleté in einer Spitzenbluse, in das ein Mann mit wackligen Zähnen glotzte, einen Barhocker zu erreichen, »es tut mir leid, Edmond.« Edmonds Speckrollen wabbelten. »Sie wollten doch sicher noch etwas sagen?« »Ist schon okay«, sagten die Langhaarigen, Dekolleté und Wackelzahn. »Nein«, sagte Frank. »Es tut Ihnen nicht leid?« fragte Edmond. »Doch, es tut mir leid.« Edmond füllte ein Glas aus einer quadratischen, schwarzen Flasche, rührte Eis mit einem silbernen Rührlöffel. Frank lächelte. Er hatte eine ganze Weile nicht mehr getrunken. Oder geraucht. Jetzt würde er auch rauchen. Er musterte die Tabakauslage hinter der 204
Theke und zeigte auf Black Belgians. Edmond öffnete ein Päckchen, klopfte eine Zigarette heraus, schob eine Kerze herüber. Frank hustete, wedelte mit der locker gestopften Zigarette den dichten Rauch fort, hustete wieder. »Bist du böse?« fragte Dekolleté, ignorierte Wackelzahns Proteste, die er durch sein verkehrt herum sitzendes Gebiß nuschelte. »Sir?« fragte Edmond, starrte dabei Wackelzahn an und schloß angeekelt und ungläubig halb seine Augen. »Sir? Könnten Sie Ihr Gebiß vielleicht wieder in Ordnung bringen?« »Was soll das denn?« fragte die weibliche Langhaarige, während sie beobachtete, wie Wackelzahns belegte Zunge fieberhaft versuchte, den Sitz des lockeren Gebisses zu korrigieren. »Fellini«, sagte der männliche Langhaarige. Frank, der fortschaute, trank weiter. Dekolleté führte ihren mit dem Gebiß knirschenden Begleiter stolpernd zur Tür. Der männliche Langhaarige fragte, ob er einen Deckel machen könnte, um weitere Biere zu bestellen. »Morgen«, sagte Edmond. Der männliche Langhaarige packte seine Frau bei den Haaren, zwang sie, Frank anzusehen. Der männliche Langhaarige zwinkerte. »Hast du ein bißchen Cash? Hast du draußen ein Auto? Wie wär’s mit einem Quickie?« Die Langhaarige kämpfte sich los und verpaßte ihrem Ausbeuter eine wütende Ohrfeige. Edmond walzte das brüllende und spuckende Pärchen mit seinem massigen Leib hinaus. »So«, sagte Edmond, als er sich wieder hinter die Theke schob. »Noch einen auf Kosten des Hauses?« Frank lächelte. Der starke Bourbon, geklärt durch das Nikotin, be205
wirkte ein plötzliches tiefes Verständnis. Frank begann zu wissen, daß er, nun schon eine ganze Weile, so ziemlich alles falsch gemacht hatte und daß er jetzt beginnen konnte, so ziemlich alles richtig zu machen. Bei dem dritten Bourbon und der fünften Black Belgian schwamm Frank in schierer Freude. Eine weitere blitzartige Eingebung versprach, daß er exakt zu jenem Augenblick zurückkehren konnte, der den Punkt kennzeichnete, von dem ab er in die falsche Richtung gegangen war. Diesen Schritt mußte er lediglich in der Zeit verfolgen, denn sein augenblicklicher Aufenthaltsort war richtig. Der exakte Augenblick fand genau hier statt, hier vor zwanzig Jahren. Bis dahin war alles in bester Ordnung. An welche herrlichen Zeiten Frank sich nun wieder erinnerte. Damals gab es nichts, um das man sich kümmern mußte: Der junge Tarzan treibt sich im fröhlichen Dschungel herum, fährt auf seiner glänzenden Harley Davidson über die magischen Straßen Amsterdams, wohnt in einer Mansarde und hört Dizzy Gillespie-LPs. Er trägt Cordhosen, eine Lederjacke und keine Krawatte. Er steht auf Jane. »Ich Frank, du Ravena.« »Hah!« brüllte Frank, schlug mit beiden Händen auf die Theke. »Hah!« »Ja bitte?« fragte Edmond. »Edmond«, flüsterte Frank. »Edmond, ich danke Ihnen. Dieser magische dritte Drink, der Drink auf Kosten des Hauses, er läßt mich das Wesen der Dinge erkennen. Vielen Dank, Edmond. Kommen Sie, ich gebe einen aus.« Er hob sein Glas. »Und eins.« Er hob es höher. »Und zwei.« Er legte es an seine Lippen. »Und drei.« Und sofort durchzuckte ihn ein weiterer tiefer Einblick. Finde Ravena. Nach Ravena war alles schiefgelaufen, also würde er sich wieder mit Ravena in Verbin206
dung setzen müssen, um ganz von vorne anfangen zu können. Wie einfach. Ihre magische Präsenz in sein Leben bringen. Ganz neu anfangen. Eine Kehrtwendung um hundertachtzig Grad in zwei einfachen Schritten. »Edmond? Haben Sie ein Telefonbuch?« Ravena stand nicht drin. Frank legte seine Hand auf die Seite des Telefonbuches. Damals ging es ihm gut, damals, bevor er rechts statt links abgebogen war. Erwartungsgemäß, tollkühn wie er war, trat der junge Frank BettyBabys Dad in dessen düsterem Büro gegenüber. Der alte Mann hielt eine Predigt, über Einstellungen, über das knatternde, alles überragende amerikanische Harley Davidson-Motorrad mit seinem extra breiten Lenker des jungen Frank. Betty-Babys Dad erklärte, daß ein Angestellter, der für das Management des Geschäftes ausgebildet wurde, nicht Marlon Brando imitieren sollte. Betty-Babys Dad in seinem Nadelstreifenanzug ließ gewichtige Worte träge fließen. Paßte der junge Frank Nullish auch richtig auf? Nein, er paßte nicht. Sein Blick lag auf den langen, hellbraunen Beinen mit den straff geformten Waden der neuen Sekretärin von Betty-Babys Dad, auf ihrem geschmeidigen Körper in kurzem Rock und enger Bluse, auf den eleganten Händen, die über den Tasten der Remington schwebten, auf ihren dunklen Augen und dem rabenschwarzen Haar. Frank war Ravena an diesem Tag auf dem Flur begegnet. Sie schüttelten sich kurz die Hand. Heimlich las er in der Buchhaltung ihr Bewerbungsschreiben. Geboren auf Borneo? Frank sah Palmwedel, hörte Papageien kreischen und das träge Schlagen von Fledermausflügeln, ein übertriebener Sonnenuntergang in blutroten und sanften Orangetönen, die allmählich silbernen Farbnuancen wichen, als der Vollmond langsam auf den Himmel glitt. Ravena tritt vor, nackt bis auf 207
einen Batik-Lendenschurz. Fußringe aus Muscheln klappern leise. Betty-Babys Dad hatte gesprochen, und Frank wird fortgeschickt, um das Motorrad zu verkaufen, sich einen anständigen Anzug zu besorgen, sich zu benehmen, an seine Zukunft zu denken. Aber nicht jetzt. Frank trat für einen Augenblick aus der Vergangenheit, um weitere glasklare Bourbon-Erkenntnisse zu genießen. »Edmond?« Aus der quadratischen, schwarzen amerikanischen Flasche ergoß sich mehr von dem klärenden Trank. Frank inhalierte Erkenntnis schenkenden schwarzen Rauch, tauchte wieder ein in die Vergangenheit. Betty-Babys Dad ging auf Geschäftsreise. Frank kaufte sechs gelbe Tulpen und ließ sie von einem Bürolehrling in die Räume des Chefs bringen. Gegen ein kleines Entgelt versprach der Bote, nicht zu sagen, daß Frank die Tulpen gekauft hatte. Zu wahrer Liebe gehört das Geheimnis. Der nächste Schritt. Begegnung auf dem Korridor. »Würden Sie mit mir in einem chinesischen Restaurant Ihrer Wahl zu Abend essen gehen?« fragte der zukünftige leitende Angestellte Tarzan die Sekretärin Jane. »Nein.« Sie schob sich an ihm vorbei. Ihre rauchig belegte, volltönende Stimme ließ ihn Paradiesvögel sehen, die ihre brokatenen Flügel ausbreiteten, ein Känguruh über eine Lichtung hüpfen, riesige OrangUtans Bananenschalen werfen, einen Tiger, halb verborgen in Bambusschatten. Natürlich. Diese Dayak-Prinzessin (er erinnerte sich aus einer Erdkundestunde an die Kopfjäger Borneos) war zu exotisch, um schnell nachzugeben. Seine eigene schamlose Hast widerte ihn selbst 208
an. Wie konnte er auch nur wagen, so viel so schnell zu erwarten? Am nächsten Tag sechs weitere Tulpen. Wartete auf der Straße auf sie. Bot ihr an, sie auf dem Sattel seiner Harley nach Hause zu fahren, der maximalen Körperkontakt garantierte. Sie zog ein öffentliches Verkehrsmittel vor. Ein Tag verging. Weitere anonyme Tulpen wurden angenommen, doch jeder direkte Annäherungsversuch wurde durch kurz angebundene Zurückweisungen abgeblockt. Vielleicht meinte sie, er wäre noch zu jung? Und wieder schaute Frank in Ravenas Bewerbung nach. Ravena war dreiundzwanzig, im Vergleich zu seinen neunzehn Jahren. Aber zum Teufel auch. Die reife Prinzessin und der leidenschaftliche junge Prinz. Die Möglichkeiten waren immer noch endlos. Auf der Bewerbung stand auch eine Anschrift. Er fuhr mit seiner Harley hin. Sie hatte eine eigene kleine Wohnung, mit einer eigenen Haustür und einem eigenen Treppenhaus. Sie war nicht zu Hause. Die Angestellten im Büro waren ordinäre Menschen, gefangen in stumpfsinniger Plackerei, kritzelten den ganzen Tag vor sich hin, bevor sie sich schließlich auf rostigen Fahrrädern nach Hause schleppten. Frank weigerte sich einfach, über ihre primitiven Witze zu lachen. Er ging auch nicht mit ihnen in den Kaffeepausen irgendwohin, las statt dessen Avantgarde-Literatur an seinem Schreibtisch. Daraus resultierende Feindseligkeit explodierte in einem widerlichen Scherz. Ein Angestellter schlich sich an ihn heran. »Sag mal, Frank, bist du schon mal auf dem Dach gewesen?« »Nein.« »Dann komm mit, die Aussicht solltest du wirklich mal sehen.« »Okay.« 209
Eine schmale Stufenleiter führte zu einem Oberlicht, das der Angestellte liebenswürdigerweise für ihn öffnete. »Du gehst vor, Freund.« Kaum stand Frank auf dem Dach, da schlug auch schon die Falltür hinter ihm zu. Von unten hörte er Gemurmel und Lachen. »Netter Ausblick, häh?« fragten die Stimmen der Angestellten. Der Ausblick war nicht nett. Frank konnte andere Dächer und Bäume sehen, die traurig heraufreichten. Zerlumpte Wäsche trocknete auf schlaffen Leinen. In einem Hinterhofgarten lag Müll zwischen schmierigem braunen Laub und toten Ästen. Der Blick vom Dach auf die Straße zeigte grollenden Verkehr, dem von einer Ampel wieder freie Fahrt gegeben wurde. Frank wartete fünf Minuten. Das Oberlicht blieb geschlossen. Kalter Nieselregen setzte ein. Er hockte sich hin, damit er besser hören konnte, und vernahm Ravenas leises Lachen. Sie also auch. Wütend, er war wütend. Aber Wut allein würde ihn nicht aus dieser Falle befreien. Er trat von der Falltür fort, ging bis an den Rand des Daches, wo Höhenangst ihn schließlich stehenbleiben ließ. Die lachenden Stimmen unter dem Oberlicht stachelten ihn an. Frank sprang zum nächsten Dach hinüber, über eine schmale, aber gähnende Tiefe. Seine glatten Ledersohlen ließen ihn ausrutschen, und beinahe wäre er nach hinten gefallen, schaffte es dann aber doch noch, indem er mit seinen Armen hektisch in der Luft ruderte, aufrecht stehenzubleiben. Er zwang seine zitternden Beine Zentimeter um Zentimeter weiter zum nächsten Dach. Und wieder, sieben Stockwerke nach unten, ein Hinterhofgarten übersät mit Gerümpel, der gegen einen durchhängenden Zaun drückte. Wenn er jetzt … Aber nein, er konnte die Herausforderung nicht annehmen. Angenommen, er würde sich von der vorstehenden Dachrinne schwingen, vor, zurück, einmal, zweimal vielleicht, 210
würde versuchen, Schwung zu bekommen, seinen unwilligen Körper in das Fenster zu werfen – was, wenn die Rinne brach, ihn in modrige Kisten und verrostete Fahrradgestelle dreißig Meter unter ihm fallen ließ? Also, zurück zum Oberlicht – hinknien und klopfen, die Kleingeister um Gnade bitten? Niemals. Grelle, leuchtend orangefarbene Wut durchzuckte Franks Gehirn und verbrannte den größten Teil seiner Angst. Er hing an der Dachrinne, nachdem er sich vorsichtig hingehockt hatte, was ihn allerdings – weil er wieder zu rutschen begann – schneller an die Kante brachte, als ihm lieb war. So weit, so gut. Seine Finger glitten durch den matschigen Inhalt der Rinne, bevor sie richtig Halt fanden. Rußig schwarze Blätter, vermischt mit Vogeldreck. So weit, um so besser. Und jetzt zum besten Teil von allem, der Schwung à la Tarzan. Die Anspannung ließ ihn grinsen. Zu schade, daß er den Kriegsschrei des Affenmenschen vergessen hatte. Er konnte sich seinen eigenen ausdenken. Juuu-aajuucheeeh? Los geht’s. Und EINS! Und ZWEI! Bei und DREI ließen seine Finger die Rinne los, sein Körper schoß durch das Fenster, und seine Füße zielten auf und trafen den Boden des Zimmers. Der Raum enthielt ein Bett, eine Kommode, ein Waschbecken. Keine Spur von einem Bewohner. Das Zimmer einer Pension, das auf den nächsten Gast wartete? Frank rutschte auf dem abgewetzten Linoleum, verlangsamte sein Tempo zu einem lässigen Gang, die linke Hand in der Hosentasche, öffnete eine Tür, folgte einem Korridor, stieg ein schmales Treppenhaus hinunter. Er wohnte hier und wollte einen kleinen Spaziergang machen. Wenn er jemandem begegnete, würde er einfach Hallo, wie geht’s? sagen. Unverbindlich, aber 211
freundlich. Und bis dahin, einfach weitergehen. Er begegnete niemandem, ließ eine Etage nach der anderen hinter sich. Die Haustür des Gebäudes öffnete sich problemlos. Er erreichte die Straße. Zurück ins Büro. Die Vordertür war nicht abgeschlossen. Die Treppen hinauflaufen. Sie waren dort, alle Männer des Königs, und auch die Frauen, warteten schadenfroh auf Frankies Bitten von oben, doch endlich das Oberlicht zu öffnen, warteten auf Frankies Kapitulation. Die letzten Stufen schlich Frank auf Zehenspitzen hinauf, gesellte sich zu der kichernden Menge, manövrierte sich neben Ravena, hielt ihre schmale Hand. Sie schaute zu ihm auf, wobei ihre tiefen, dunklen Augen funkelten. »Sie? Wo kommen Sie denn her?« »Ich bin geflogen.« Das war alles, was er je über sein Kunststück erzählte, selbst der Dayak-Prinzessin Ravena vertraute er nicht mehr an, nicht einmal der Jane seines privaten Dschungels. Oft fragte sie ihn nach dem Wunder, wenn er neben ihr in dem großen Bett ihrer Wohnung lag, die ihm nach der Niederlage der Angestellten offenstand. Er blieb bei ihr, bis Betty-Babys Dad ihn für eine Weile zu Geschäftsfreunden nach Paris schickte, wo er die letzten Tricks seines Jobs lernen sollte. Während Frank fort war, verkaufte Betty-Babys Dad das Haus und zog mit der Firma in ein modernes Gebäude um. Außerdem entledigte er sich Ravenas. Sie schrieb Frank nach Paris, erwähnte beiläufig einen neuen Geliebten, einen Mann mit einem Segelboot, der sie vielleicht weit fort mitnehmen würde, es sei denn, Frank kehrte sofort zurück, um mit ihr noch weiter fortzugehen. Er ging nicht sofort zurück, und als er schließlich zurückkehrte, machte Betty-Babys Dad Frank zum Kronprinzen und Schwiegersohn. Das Gerücht kam ihm zu Ohren, daß Ravena irgendwo von dem Se212
gelboot wieder an Land abgesetzt worden war und nach Amsterdam zurückkehrte, aber er sah sie nie wieder. Statt dessen sah Frank Betty-Baby mit ihren rosa Grübchen, die ihm eine Eigentumswohnung kaufte – die Jahre glitten vorbei, es gab keinen Grund, in den Gassen seiner Vergangenheit herumzukramen. Bis heute. Frank musterte konzentriert die Seite des Telefonbuches. Ravena Simons? Sam Simons? Ob das wohl Ravenas Bruder war? Er wählte. »Frank hier«, sagte Frank. »Erinnerst du dich noch an mich, Sam? Ich war früher mal mit deiner Schwester zusammen.« »Klar«, sagte Sam. »Heute bist du reich, Frank, was?« Frank nickte. »Was?« fragte Sam. »Ja«, sagte Frank. »Ich bin arm«, sagte Sam. Er gab ihm die Nummer. Ravenas Stimme war tief und volltönend. »Frank Nullish am Apparat, Ravena.« Das Schweigen war tief und volltönend. »Erinnerst du dich noch an mich, Ravena?« »Ich erinnere mich an dich, Frank.« »Und, wie geht’s dir so?« »Tja …« sagte sie. »Ganz okay.« »Freut mich zu hören«, sagte Frank. »Hast du Lust, dich mit mir zu treffen? Jetzt? Hier?« Er nannte ihr die Adresse der Bar. Sie sagte, sie würde eine halbe Stunde brauchen. Frank rauchte die zehnte Black Belgian in den fünften Bourbon. Ravena kam herein. Sie trug ein orangerotes Seidenkostüm, und ihre herabhängenden Haare verbargen den größten Teil ihres Gesichts. 213
Was er von ihrer Haut sah, war faltig geworden. Sie mußte jetzt dreiundvierzig sein. Die Hand, die seine umklammerte, war wie eine Klaue, die Klaue des Paradiesvogels. Und? Na und? Die alte Ravena. Ich der alte Tarzan. Du die alte Jane. Eine reizende Dame. Eine gereifte Exotin. Sie würden noch mal von vorne anfangen, ein Baumhäuschen in einem Feigenbaum errichten, das Licht herunterdrehen, Parfum zerstäuben. Einen Affen halten. Edmonds Kinn bebte. »Was darf ich der reizenden Dame zu trinken bringen?« Ravena bestellte sich einen Whisky. Edmonds Wurstfinger hantierten leicht und hingebungsvoll mit der schwarzen, eckigen Flasche. »Schön, daß du angerufen hast«, sagte Ravena. Sie benötigte mehr Whisky, um mehr zu sagen. Sie erzählte Frank, daß sie eine Tochter hatte, die ausgezogen war und der es nicht besonders gut ging, und daß sie keinen Mann hatte, abgesehen von Onkel Joe. Sie wohnte hier ganz in der Nähe. Sie hoffte nur, daß Onkel Joe ihr nicht heimlich gefolgt war. »Ist da draußen ein alter Mann, der reinglotzt?« fragte Frank Edmond. Edmond sagte, ja, da wäre einer. »Sein Kopf wackelt.« »Parkinsonsche Krankheit«, sagte Ravena. »Sehr alt«, sagte Edmond. »Achtzig«, sagte Ravena. »Wenn ich nicht da bin, wird er immer ganz nervös.« »In Hemdsärmeln«, sagte Edmond. »Er sollte aber eigentlich eine Jacke tragen.« Ravena entschuldigte sich. Frank drehte sich um, sah, wie sie den schäbigen alten Mann ermahnte, mit ihm fortging. Onkel Joes Glatze schimmerte wie ein 214
zögernder Mond, seine Arme pendelten locker an seinen Seiten. Eine Viertelstunde später war sie zurück. »Er ist ungezogen. Ich habe ihn ins Bett gebracht. Wenn er wieder aufsteht, wird er morgen kein Frühstück bekommen.« Sie blickte auf ihr leeres Glas. Es wurde wieder gefüllt. Die Paradiesvogelkralle berührte wieder Franks Arm. »Und was ist mit dir, hast du Kinder?« »Ich habe Betty-Baby geheiratet«, sagte Frank. »Keine Kinder. Es klappt einfach nicht. Sie ist immer nur krank. Ich mag nur die Katze.« »Die Firma gehört ihr?« »Sie läuft auf ihren Namen«, sagte Frank. Ravena nickte. »Dann gehört also alles Betty-Baby.« Er nickte auch. »In gewisser Hinsicht, in gewisser Hinsicht, aber ich fange wieder ganz von vorne an.« Er berührte Ravenas Schulter bedeutungsvoll. »Habe dich angerufen, weißt du. Können wir irgendwo hingehen?« »Onkel Joe wird unruhig sein«, sagte Ravena. »Besser morgen früh. Er schläft lange. Wir haben eine große Wohnung.« »Onkel Joes Wohnung?« fragte Frank. Sie nickte. »In gewisser Hinsicht, in gewisser Hinsicht.« Sie schaute auf. »Hier ganz in der Nähe gibt es ein Hotel. Aber morgen wäre besser.« Frank bezahlte Edmond viel zuviel für seine Rechnung. Draußen stießen sie sich beide auf dem Weg zu dem Volvo ihre Zehen am Kopfsteinpflaster. Vorsichtig fuhr Frank an, war sich bewußt, daß möglicherweise Polizei oder Onkel Joe in seinem Rückspiegel auftauchen konnten. »Wo liegt das Hotel?« 215
»Die andere Richtung.« Sie schaute über ihre Schulter zurück. »Ach du meine Güte, er ist schon wieder unterwegs. Halt an!« Onkel Joe preßte sein Gesicht gegen Ravenas Seitenscheibe, wobei sich sein Mund wie der eines Fisches bewegte, der auf dem Boden eines Bootes lag und bald sterben würde. »Ravena, wo willst du hin?« »Ich muß mit Onkel Joe gehen«, sagte Ravena zu Frank. »Ruf mich morgen an, dann werden wir uns was überlegen.« »Nein?« fragte Edmond, als Frank sich wieder setzte. »Ein letztes Glas? Ich mache bald zu.« Die schwarze Flasche tat ihre Arbeit. »Sind Sie sicher, daß Sie diese Dame mögen?« fragte Edmond. »Ich habe sie früher schon hier gesehen. Habe sie sozusagen schon kennengelernt.« »Es mal mit ihr versucht?« fragte Frank. »Morgens? Als Onkel Joe noch friedlich schnarchte?« Edmond zwinkerte. »Na, na, Sir, na, na.« Frank stand neben dem Volvo. Ein Streifenwagen hielt an. »Sie wollen doch wohl nicht fahren?« flüsterte der Lautsprecher des Streifenwagens. Frank überquerte wieder die Straße, drückte zögernd gegen die Tür des Hauses, die zu den Wohnungen führte. Natürlich würde die Tür verschlossen sein, aber sie war nicht. Er stieg alle sieben Treppenabsätze hinauf, erreichte das Oberlicht, zog die Klappleiter herunter, kletterte die wenigen Stufen hinauf, drückte, erreichte das Dach. Das Dach war immer noch alt, Teerpappe löste sich an mehreren Stellen, ließ zerfallendes Zinnblech und morsche Dachrinnen sichtbar werden. Frank war glücklich. Er war zurück, er war wieder am Ausgangspunkt angelangt, er würde auf das benachbarte Dach springen, her216
umrutschen, sich hinhocken, wieder ein Held sein. Er würde seine Finger in den fauligen Inhalt der morschen alten Dachrinne vergraben, sich langsam herunterlassen, seinen verjüngten Körper in das frisch gemachte Bett des Pensionszimmers weiter unten schwingen, in Ravenas Bett, und dann würden sie auf Paradiesvogelschwingen davonfliegen, fort von dem Schlachtfeld, wo die Leichen von Büroangestellten erbärmlich stanken. Und EINS … und ZWEI … Die Dachrinne brach. »Juuu-aajuucheeeh!« »Können wir ihn jetzt abtransportieren, Adjutant?« fragte Sanitäter I den beleibten Kriminalbeamten. »Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.« »Warte«, sagte der jüngere Beamte mit dem breiten Schnurrbart. »Warte, Grijpstra. Erklär mir das jetzt noch mal. Warum wir Leiche und Fundstelle nicht weiter untersuchen sollten. Ich weiß, daß du mir vorhin schon mal alles erklärt hast, aber du hast gleichzeitig diesen Hamburger gegessen. Bitte ganz langsam.« Der jüngere Beamte funkelte die Sanitäter wütend an. »Und ihr wartet. Alles klar?« »Brigadier de Gier«, sagte Adjutant Grijpstra. »Du bist doch selbst oben gewesen. Auf dem Dach befinden sich Spuren, und zwar ausschließlich die Spuren des Opfers. Der Tote ist ganz von allein da runtergesprungen. Ein Unfall? Unfälle sind schon okay. Selbstmord? Selbstmorde sind auch okay.« »Die Spurensicherung sagt, der Tote hätte mit seinen Händen an der Dachrinne gehangen«, sagte Brigadier de Gier. »Ich würde sagen, der Tote hat versucht, sich von dort in das weiter unten liegende 217
Zimmer zu schwingen. Mit seinen Schuhspitzen hat er noch die Fensterscheibe eingeschlagen. Vielleicht war er ein Einbrecher oder Vergewaltiger, vielleicht haben wir ihn ja in unserer Kartei, und vielleicht können wir ihn jetzt von unserer Liste streichen.« »Du hast doch die Brieftasche des Toten überprüft«, sagte Adjutant Grijpstra. »Kreditkarten, Bargeld, gültiger Führerschein, Fahrzeugpapiere, die zu dem Volvo gehören, der draußen an der Gracht steht. Eine goldene Boucheron-Armbanduhr. Ein Anzug von Leyden House. Auf der Visitenkarte des Toten steht, daß er geschäftsführender Direktor einer Firma ist, die Handarbeitsnadeln herstellt. Der Name dieser Firma ist mir bekannt. Meine eigene Mutter und meine eigene Exfrau haben diese Nadeln benutzt. Es sind gute Nadeln. Und du sagst immer noch, der Tote könnte vielleicht ein Verdächtiger sein?« »Eine Frau befand sich in der Wohnung, in die der Tote nicht hineingekommen ist, weil die Dachrinne, an der er baumelte, unter seinem Gewicht nachgegeben hat und abgerissen ist«, sagte de Gier. »Der Tote versuchte in das Zimmer der Frau einzudringen, führte er dabei vielleicht etwas Böses im Schilde? Hat sie gesehen, wie er hereingeschwungen kam, hat sie ihn da vielleicht wieder zurückgestoßen?« »Notwehr ist auch irgendwie in Ordnung«, sagte Grijpstra. »Aber es war keine Notwehr. Wieso nicht? Weil die Frau das so sagt. Sie hat in einem anderen Zimmer geschlafen, hörte dann, wie die Scheibe zerbrach, hörte jemanden ›aajuucheeeh‹ brüllen, machte das Fenster auf, schaute nach unten, sah den reglosen Körper, rief dann uns an. Wir haben sie einen Blick auf die Leiche werfen lassen. Die Frau sagt aus, sie hätte den Toten noch nie zuvor gesehen.« »Hat sie gelogen?« fragte de Gier. 218
»Häßliche Frauen haben keinen Grund zu lügen«, sagte Sanitäter II. »Wieso hat sich der Tote dann in einen tödlichen Unfall hineinmanövriert, ein gutaussehender, gutgekleideter, immer noch relativ junger, seriöser, eine Firma zur Herstellung von Handarbeitsnadeln besitzender Toter?« fragte de Gier. »Wen interessiert’s?« sagte Grijpstra. »Tödliche Unfälle sind schon okay.« De Giers empfindsame braune Augen glänzten flehend. Sein Schnurrbart verzog sich in leisem Protest. »Mich«, sagte Brigadier de Gier. »Bitte«, sagte Adjutant Grijpstra. »Der Tote ist irgendwas um die Vierzig. Es geht ihm gut. Er hat seit Jahren Handarbeitsnadeln hergestellt und verkauft. Seine Zukunft verspricht ihm, für noch mehr Jahre noch mehr Handarbeitsnadeln zu verkaufen. Aber wozu das alles? Er hat doch schon einen Volvo und eine Boucheron-Uhr. Er beginnt sich über seine Mühen, die Richtung, die er in seinem Leben eingeschlagen hat, ja vielleicht sogar über sein Schicksal Gedanken zu machen. Eines Tages geht er nach Hause, tut es aber dann doch nicht. Er kommt hierher. Er trinkt, um sich aufzumuntern. Doch genau das Gegenteil tritt ein. Die Ereignisse schwingen ihn an seinen Armen. Wir werden morgen den Barkeeper aus dieser Bar da fragen. Morgen. Nicht, daß was auch immer er uns zu sagen haben wird, eine besonders große Rolle spielt.« »Barkeeper Edmond«, sagte Sanitäter II. »Fats Edmond, aber nennen Sie ihn bloß nicht Fats, denn dann schlägt er zu. Wir haben hier schon Leute abgeholt, die übel zusammengeschlagen worden sind.« »Was auch immer wird Barkeeper Nenn-ihn-nicht-Fats denn wohl 219
sagen, das keine große Rolle mehr spielen wird?« fragte de Gier. Grijpstra zuckte mit den Achseln. »Daß der Tote sich vielleicht betrunken hat, vielleicht eine Frau kennengelernt hat, daß es vielleicht nicht wie geplant gelaufen ist, daß der Tote dann vielleicht mehr getrunken hat, vielleicht war er früher mal ein sportlicher Typ, vielleicht wollte er sich selbst beweisen, daß er auch heute noch ein sportlicher Typ war?« »Dieses ›aajuucheeeh‹, das die häßliche Frau gehört hat, könnte Tarzans Abschiedsschrei gewesen sein«, sagte der Sanitäter. »Ich wollte früher auch immer Tarzan sein. Vielleicht sogar heute noch.« »Laß das Trinken«, sagte Grijpstra. »Andernfalls reißt noch die Liane, an der du baumelst.« »Ich trinke nur Bier«, sagte der Sanitäter. »Welche Marke?« fragte de Gier. Der Sanitäter lächelte. »Jedes Bier ist gutes Bier.« »Und?« fragte de Gier Grijpstra. »Und«, sagte Grijpstra, »Frank Nullish, verheiratet mit der faden Blondine, deren Foto in seiner Brieftasche steckte, hat sich in eine Lage manövriert, die ihn daran erinnerte, daß er früher mal Tarzan war, der glücklich und vergnügt im Amsterdamer Dschungel von einer Liane zur anderen schwang. Und genau das macht er wieder, Brigadier. Paß auf.« Grijpstra griff nach oben in einen leeren und gleichgültigen Himmel, hob ein gewaltiges Bein. »Und eins …« Sanitäter I nickte Sanitäter II zu. Jeder packte sein Ende der Bahre. Grijpstra griff höher in den leeren und gleichgültigen Himmel, hob ein gewaltiges Bein noch höher. »Und zwei …« Die Sanitäter hoben die Bahre. Es folgte ein Augenblick ehrfürchti220
ger Stille, dann glitt die Bahre in den Krankenwagen, während Adjutant, Brigadier, Sanitäter I und Sanitäter II traurig riefen: »Und DREI …!«
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Übersetzernachweis Die Harley und die Nachbarin von oben (De Harley Davidson en de bovenbuurvrouw)/Wie schön! (Wat mooi!)/Der Flötenspieler (De fluitspeler) / Tod eines Waldmurmeltiers (Dood van een bosmarmot)/Der Weihnachtswunsch (De kerstwens)/Der Ketchupstrudel (De ketchup-kolk)/Die Scheidenmaus (De vagijnmuis)/ Der Räuber (De rover)/Ein anstrengender Strandspaziergang (Een vermoeiende strandwandeling)/Der Daimler (De Daimler)/Eine Frau von sieben Fuß (Een vrouw van zeven voet)/Der Herrenfabrikant (De herenfabrikant) /Peyote Aus dem Niederländischen übersetzt von Rolf Erdorf Mangrove-Mama Aus dem Amerikanischen übersetzt von Klaus Schomburg Die Story erschien bereits in Dolly Dolittle’s Crime Club • Band 7. Schreckliche Geschichten und Cartoons. © 1990 by Diogenes Verlag AG Zürich Kuh fängt Hase (The Cow and the Jackrabbit) Und DREI …! (Hupthree) Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jürgen Bürger
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