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C.H.GUENTER
Kurier
vom anderen
Stern
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Ein Frachtflugzeug der Lufthansa, das jede Nacht Post von Frankfurt nach Hamburg beförderte, befand sich gegen 22.45 Uhr über dem Raum Göttingen-Goslar. Der Navigator rechnete aus, daß sie sich binnen sechzehn Minuten im Anflug auf Fuhlsbüttel befinden würden. Alles verlief planmäßig in dieser klaren Sommer nacht. Kein Nebel, kein Dunst, nirgendwo eine Regen- oder Gewitterfront. Selbst die Politik schien August-Trägheit erfaßt zu haben. Es gab keine Spannungen, Drohungen oder Gipfelgespräche, und die stets aktiven Terro risten schienen sich an südlichen Stranden zu sonnen. Der Copilot der Boeing 737 starrte in die tief blaue Dunkelheit hinaus und murmelte: „Das muß am Vollmond liegen." „Was?" fragte der Käptn. „So was von Stille Nacht, fünf Monate vor Weihnachten." Weiter kam der Copilot nicht mit seiner schwär merischen Betrachtung. Unterhalb des Mondes war plötzlich eine blaue Laterne angesteckt worden. Die beiden Piloten erkannten es fast gleichzeitig. „Was'n das?" Die Lampe, vielmehr der blaue Punkt, schien hinter dem tiefstehenden Mond hervorzukommen und wurde dabei zusehends heller. 5
„Der hat ja Überschall drauf sagte der Naviga tor, nahm sein Fernglas und versuchte, das Ding ins Objektiv zu kriegen. Doch es mißlang ihm. Es bewegte sich zu schnell. „Fliegt mit Kurs Südwest," „Und unter uns durch", ergänzte der Copilot, auf dessen Seite sich der Mond und das Ding befanden, „Ein neuer Supernachtjäger?" „Nichts gemeldet", stellte der Navigator fest. „Auch nicht auf Militärfrequenz." „Keine NATO-Maschine strahlt so blau." Der Copilot, den die Nacht in eine beinah romantische Stimmung versetzt hatte, meinte: „Vielleicht eine fliegende Untertasse." Der Kapitän, ein absoluter Realist, antwortete: „Es gibt laut Feststellung der Weltluftfahrtbe hörde keine Ufos." Der Copilot nickte grinsend. „Dann kann es auch kein Ufo gewesen sein. Aber was war es dann, bitte?" Der Kapitän nahm das Mikro und meldete die Beobachtung an den Tower in Hamburg, mit dem sie schon in Funk-Kontakt standen. „Hier LH . . .", gab er Flugnummer und Kennzei chen durch. „Hatten soeben Begegnung mit nicht gemeldetem Luftfahrzeug. Position Hildesheim. Kurs des beobachteten Objekts: Südwest, zwozwo-null Grad. Höhe zehntausend Fuß. Geschwin digkeit Mach zwo. Besonderes Merkmal: Objekt leuchtet stark mit azurblauem Licht." „Roger!" gab Hamburg zurück. „Verstanden! Wir geben das weiter." Unmittelbar nach der Landung hatte die Luft hansacrew den Zwischenfall bereits vergessen. Begegnungen dieser Art kamen in der Zivilluft 6
fahrt immer wieder vor. Meist fanden sich techni sche Erklärungen. Vom Heliumballon für meteoro logische Messungen über abgeirrte Testflugkörper bis zu Kugelblitzen gab es tausend Möglichkeiten. Man maß solchen Erscheinungen kaum noch Bedeutung bei.
Die NATO-Frühwarnstation im Harz hatte es als erste auf den Bildschirmen. Mit ihren fußballfeldgroßen Radarantennen ent deckten sie das unbekannte Objekt schon über der Ostsee, noch vor dem Eindringen in bundesdeut schen Luftraum. Fast gleichzeitig war die Meldung der Luftpostmaschine erfolgt. Daraufhin hatten weitere Stationen das Objekt erfaßt. Unter Umgehung des Befehlsweges über NORAD - Brüssel löste der für Luftsicherheit zu ständige Offizier Alarm aus. Je eine Rotte Nachtjäger der Bundesluftwaffe und der US-Air-Force nahmen Blitzstarts vor. Während in Bremgarten in der Pfalz drei für Nachteinsatz ausgerüstete Tornados über die Piste rasten, wurden in Oberramstein zwei F-16 Falcon in den Himmel geschickt. Zu diesem Zeitpunkt, ab 22.45 Uhr Zulu-Zeit, verloren sämtliche Radarstationen, bis hinein nach Frankreich, das Objekt wieder aus den elektroni schen Augen. Deshalb wurde der zuletzt gemessene Kurs des Objekts verlängert und mit einer Geschwindigkeit von etwa elfhundert Knoten zu einer Position hochgerechnet. Die Jägerrotten hingen auf einer gemeinsamen 7
Leitfrequenz und wurden in den Luftraum Schwarzwald-Oberes Rheintal beordert. Da die Abfangjäger über ein eigenes Zielradar verfügten, hatten sie quasi freie Jagd. - Allerdings mit der Einschränkung, das Objekt zu definieren und dann zur Landung zu zwingen. Mit einer Geschwindigkeit von 250 Metern pro Sekunde rasten die Jäger über den Nachthimmel und fächerten sich weit auf. Die Amerikaner übernahmen den Raum Straßburg-Vogesen, die deutschen Tornado-Piloten den Sektor Kehl-Frei burg. Als erster wurde ein Amerikaner fündig. Captain James Fuller, Führer der US-Alarm rotte, hatte plötzlich ein Signal im Zielsuchradar. Das Objekt kam rasch näher. Fuller meldete Kon takt. Er hielt auf das Objekt zu, passierte es mit hohem Überschußtempo, drosselte und wendete in einem kilometerweiten Kreis. Durch Sichtkontakt stellte er fest, daß es sich um einen einsamen Motorsegler handelte, der gemächlich auf Höhe viertausend Richtung Alpen marschierte. „Negativ", meldete Captain Fuller. „Kontakt negativ." „Roger." „Steige auf zwölftausend." Neue taktische Anweisungen der Rottenführer erfolgten. Da die Amerikaner ohne Zusatztanks gestartet waren, sammelten sie zum Rückflug. Die deutschen Tornado-Besatzungen verfügten über größere Reichweiten, operierten näher am eigenen Fliegerhorst und hatten daher noch Sprit für fünfundzwanzig Minuten. Durch das Rauschen auf der Einsatzfrequenz ertönte plötzlich eine Durchsage: 8
„Ich gehe auf Nachbrenner." Das bedeutete, daß einer der Tornados seine Maximalgeschwindigkeit ausnutzte, die weit im Überschallbereich lag. Später erst kam die Erklä rung. „Kontakt in eins-sieben-neun. Abstand siebzig hundert." Es war Major Hausmann. Er mußte verdammt dicht an dem unbekannten Objekt hängen. Doch vor der Schweizer Grenze würde er es nicht einholen. Für solche Fälle gab es besondere Vereinbarun gen und telefonische Standleitungen zwischen den jeweiligen grenznahen Luftbereichen. - Der deut sche Einsatzleiter, ein Oberst, brauchte nur das gelbe Telefon abzuheben und hatte seinen Schwei zer Kollegen am Draht. Die Schweizer hatten den ganzen Luftzirkus verfolgt und zeigten sofort klar, ,,Bleiben Sie dran, bis unsere Interceptor aufge stiegen sind", sagte der Brigadier zu seinem deut schen Kollegen. ,,Bis zur Linie Vadtiz-Biel." „Siebenundvierzig Nord", bestätigte die deut sche Flugleitzentrale. Inzwischen hing Major Hausmann in fünftau send Meter Höhe tatsächlich an einem Objekt, das auf Radarkontakt hin keine Kennung abstrahlte. Der Anblick auf dem Bildschirm war ungewöhn lich. Kein blitzender Punkt, eher eine auseinander wachsende blasse Wolke. Das Objekt war entweder radarabweisend, oder es bestand aus nicht reflek tierendem Material, Der Tornado hatte jetzt mit enggestellten Flä chen Mach-2, seine absolute Maximalgeschwindig keit, erreicht. Der Pilot gab noch das letzte, was man Kampf- oder Notleistung nannte, hinzu. Es 9
schien ihm, als hole er auf, als nähere er sich dem mit den Augen nicht erkennbaren Objekt. ,,Distanz vierzig hundert." Das bedeutete, daß er jetzt das blaue Licht sehen mußte. Die Lufthansaboeing hatte es auch auf vier Kilometer gesichtet. Mit einemmal vernahm man statt des gepfleg ten Militärpiloten-Englisch einen deutschen Fluch. „Verdammte Scheiße, er läßt mich stehen." Offenbar hatte das verfolgte Objekt einen Gas stoß gegeben und so rasant beschleunigt, daß es der Tornado-Crew vorgekommen war, als hätte sie am Himmel geparkt. „Er entfernt sich. Schätze, mit Mach drei bis vier." „Dranbleiben!" kam es von unten. ,,Keine Chance." „Haben Sie alles auf Recorder?" „Was immer zu hören oder zu sehen war ist auf Magnetband." „Treten Sie Rückflug an." „Verstanden", bestätigte der letzte Tornado am unbekannten Objekt.
Noch vor Mitternacht waren alle Abfangjäger auf ihren Basen gelandet. Die elektronischen Aufzeichnungen kamen sofort in die Auswertung. Leider hatten die Schweizer das unbekannte Objekt auch nicht mehr erwischt. Vermutlich hatte es seinen Kurs nochmals geändert. „Oder es war doch nur ein Ufo", meinte einer in der Operationszentrale. „Und laut Untersuchungen 10
der Weltluftfahrtbehörde, der US Air Force und des Pentagon kann es fliegende Untertassen über haupt und gar nicht geben."
Noch in derselben Nacht zirpten im Münchener Stadtteil Schwabing mehrere Telefone. Wenige Minuten vor Mitternacht gaben die drei Apparate im Penthouse des BND-Agenten Nr. 18, Robert Urban, ihr zärtliches Signal von ach. Dieses neue Vogelzwitschern, mit dem die Bun despost gegen eine monatliche Luxusgebühr von DM 6,- ihre Geräte ausrüstete, war brutaler als die Alarmsirene auf einem Unterseeboot Urban riß es schier das Bourbonglas aus den Fingern. Er hob ab und meldete sich mit einem geknurrten Ja bitte. Das Hauptquartier in Person seines Operations chefs Sebastian - der nicht nur mit Vornamen Wolf hieß, sondern auch wie einer heulen konnte, allerdings wie einer mit Zahnprothese - war am anderen Ende. „Schon gehört?" fragte Sebastian. „Falsch verbunden. Hier ist die Taubstummen anstalt." „Die Lage war noch nie so ernst wie heute nacht." „Dann wollen wir es überschlafen, Großmeister. Auch große Dinge verlieren ihre Schatten, wenn man das Licht löscht." Urban fragte sich oft, warum der Alte diesen To n hinnahm. Es lag wohl daran, daß auf dem freien Markt das Angebot an Chirurgen, die gleichzeitig Konzertpianisten waren und auch Begabung als 11
Seiltänzer hatten, größer war als das an einigerma ßen brauchbaren Aktivagenten. „Können Sie nicht mal in Ostberlin anrufen?" mutete der Alte ihm zu. „Von all meinen Freunden sind das die am allerwenigsten gutgeheißenen", wandte B.U. ein. „Für diesmal heißen wir sie gut", entschied der Oberst. Urban fragte, um was es denn ginge. Vielleicht um die Preise von Karo einfach, belegt mit Dau men und Zeigefinger, am Kiosk Friedrichstraße. „Um den Einflug eines unbekannten Objekts", erwiderte der Operationschef. „Da kann es sich nur um die Friedenstaube mit Dreifachsprengkopf gehandelt haben." Der Alte wuchs geduldsmäßig über sich hinaus. Die Sache sei peinlich genug. Das Objekt habe sich von der Ostsee her dem Bundesgebiet genähert, sei von einer LH-Besatzung gesichtet und von allen nur möglichen Frühwarnstationen erfaßt worden. Man hatte Interzeptorstaffeln hochgejagt, aber das Ufo habe ihnen nur den Auspuff gezeigt. „Laut Weltluftfahrtbehörde gibt es keine Ufos", erklärte Urban, überzeugt, daß diese Behauptung in dieser Nacht schon des öfteren aufgestellt wor den sei. Die Amerikaner waren sogar so weit gegangen, daß sie innerhalb der US-Luftwaffe die Erwäh nung von Ufos verboten hatten - wegen offen sichtlicher Schwachsinnigkeit. Und worüber man nicht reden durfte, das gab es auch nicht. „Wie groß", fragte der Oberst, „Ist der Geltungs breich der WLB?" „Alle Staaten tragen diese Behörde." „Auch der Ostblock?" 12
„Sogar die Eskimos und die Menschenfresser in Neuguinea." Der Alte dachte kurz nach und präzisierte nun seinen Wunsch: „Rufen Sie trotzdem in Berlin an. Ob man dort das Ufo ebenfalls gesichtet hat. Die reagieren doch auf Verletzung ihrer Lufträume wie Katzen auf Baldrian." „Ich würde sagen, wie Baldrian auf Katzen", bemerkte Urban. „Sie hören von mir." Trotz der späten Stunde - eigentlich war Mitter nacht längst vorbei, die Stunde also äußerst früh tippte er drei lange Nummern in seinen Selbst wählapparat. Zwei in Ostberlin, General Jo Hart manns Anschluß im Ministerium für Staatssicher heit und seinen privaten. Die dritte Nummer war die der Datscha von General Ignor Krischnin von der KGB-Zentrale Moskau. Der Apparat tat nun das seine. Er wählte die Nummern immer wieder an, bis er Freizeichen hatte und abgehoben wurde. Dann sagte er mit Computerstimme: Bitte warten! und gab bei Urban grünes Blinklicht. Es dauerte ewig. Urban legte sich solange in sein riesiges Bauernbett.
Den KGB-General Igor Krischnin bekam Urban als ersten. Er war eben von einer Kreml-Nachtsit zung in seine Datscha in den Leninbergen zurück gekehrt, als ihm ein Adjutant den Telefonapparat an den Swimming-pool brachte. „Mach's kurz, Urbanski", sagte Igor. „Das Was ser ist kalt, und beim Telefonieren kann ich nicht 13
schwimmen. Wenn ich nicht schwimme, dann friere ich. Der Durchlauferhitzer ist irgendwie im Arsch. Ein amerikanisches Modell. Hätte mir wohl besser eine altrömische Thermenheizung besorgt." Urban tat ihm den Gefallen. „Ist dir etwas von einem nicht identifizierbaren Flugkörper bekannt? Er kam aus Richtung Nord pol, flog immer Kurs Südwest." „Das führt ihn spiralförmig um den Globus." „Flughöhe unter zehntausend Meter, Geschwin digkeit Mach drei, blaustrahlend. Radarecho ver blasen bis wolkig." „Moment mal", bat Krischnin. „Ich steige aus dem Becken." „Es entkam unseren Abfangjägern Richtung Schweiz/Südfrankreich", fügte Urban hinzu. Der Russe stellte einige Fragen und sagte dann: „Bis zur Stunde - bei uns ist es jetzt halb drei Uhr morgens - dürfte weder im Kreml noch im Verteidigungsministerium etwas davon bekannt sein. Ich gebe es an den Kommandierenden der Frühwarnkette Nord weiter. Du hörst von mir, wenn positiv. Falls negativ, dann nicht. Danke und sei gegrüßt, alter Bourbonschlucker." Kaum war das Gespräch mit Moskau beendet, hatte der Wählcomputer - ein neues Siemens Versuchsmodell - die Verbindung mit Ostberlin geschaltet. Jo Hartmann gähnte schläfrig herum. Als Urban glaubte, ihn mit der Nachricht elektrisiert zu haben, sagte der Stasi-General: „Alter Hut. Wegen so was weckt man doch einen alten Mann nicht auf." Er war nur unwesentlich älter als Urban und 14
spielte die Sache deutlich herunter. Also wußte er etwas, wenn nicht noch mehr. Die DDR hatte die Ostseeküste mit Ketten von Radaranlagen bespickt. Sie erfaßten jeden Mük kenschwarm, der sich von den nordschwedischen Wäldern in wärmere Gebiete aufmachte. „Höchstens vier Stunden alt", sagte Urban, „ist dieser Hut." „Bei solchen Hüten bedeutet das schon Mode wechsel." „Ihr seid also nicht beunruhigt?" erkundigte Urban sich. „Ihr etwa?" „Besonders sind es die Amerikaner. Was die nicht auf einfache Art erklären können, sind immer gleich Ereignisse der Dritten Art." Hartmann lachte mit rauher Kehle. „Schönen Gruß. Es war nur ein etwas ausge flippter Nordlichteffekt. Derselben Meinung sind übrigens auch die Schweden. Hatte vorhin einen Anruf von Simmerson." Simmerson war der stellvertretende Verteidi gungsminister Schwedens. Seit den ungeklärten Zwischenfällen in den Schären vor Stockholm, wo angeblich sowjetische U-Boote Unterwasserrake ten am Meeresgrund stationiert hatten, war ein heißer Draht mit den Führungen der Warschauer Pakt-Mächte geschaltet. „Ein wildgewordenes Nordlicht", betonte Hart mann, „oder was weiß ich. Wir haben nichts damit zu tun. Vielleicht auch ein Ufo. Aber Ufos gibt es laut Sprachregelung der Weltluftfahrtbehörde ja nicht. Sonst noch etwas? Wenn ja, dann sag es. Wenn nein, dann gute Nacht, Alter." „Gute Nacht", wünschte Urban. 15
Das alles machte ihn nachdenklicher und miß trauischer, als nach Sachlage eigentlich angemes sen war. 2. An einem regnerischen Mittwochvormittag um 10.30 Uhr wurde Gigan auf dem Pariser Friedhof von St.-Germain-des-Prés begraben. Der kleine, kaum hundert Zentimeter messende Mann wäre gern am Montmartre bestattet worden. Aber dort durften Künstler und Geistesgrößen nur dann der Erde übergeben werden, wenn es sich um Franzo sen handelte. Geburtsort und Herkunft von Gigan standen jedoch ebensowenig fest wie die Stunde, zu der er das Licht der Welt erblickt hatte. Es mußte irgendwann in den Fünfzigern in Osteuropa gewesen sein. Die zweite Bedingung allerdings, daß nur Genies am Montmartre-Friedhof liegen durften, hätte Gigan mühelos erfüllt. Der kleine Mann mit dem gigantischen Kopf daher der Artistenname Gigan - galt in Zirkusund Varietekreisen als einer der größten Hellseher aller Zeiten. Es war stets sensationell, wie er Tausende von kritischen und anspruchsvollen Besuchern jeden Abend im Olympia faszinierte. Dabei begnügte er sich nicht damit, daß sein Manager und seine Assistentin im Publikum belie bige Personen aussuchten, Gegenstände aus dem Besitz dieser Leute hochhielten und er sie mit verbundenen Augen und mit dem Rücken zum Publikum stehend genau beschrieb. Das waren 16
Anfängertricks. Gigan ging weiter. Er stieß vor in die Bereiche des Übersinnlichen. Er sagte nicht nur, daß es ein Kollier sei, sondern nannte Zahl und Karat der Brillanten und Smaragde, was der Schmuck gekostet hatte und welcher Juwelier ihn wo hergestellt hatte. Er nannte den Inhalt einer Brieftasche, die Gravierung einer Uhr, welches Parfüm eine Frau verwendete, sogar ob sie Strümpfe mit Strapsen trug und welche Farbe ihre Unterwäsche hatte. Bei erotischen Details hielt Gigan sich mit besonderer Vorliebe auf. Er wäre in der Lage gewesen, Mann oder Frau eine Menge über ihr Intimleben zu sagen. Doch es unterblieb mit Rücksicht auf die Öffentlichkeit. Gigan war überhaupt ein Frauenfreund. Die Damen, die je mit ihm zu tun gehabt hatten, schwiegen entweder oder gaben unumschränkt zu, daß er ein toller Hecht gewesen war. Zwar der kleinste, aber auch der beste Liebhaber, den sie je gehabt hatten, mit enormer Manneskraft und erschreckend gewaltiger Ausbildung des dazu nöti gen Gliedmaßes. Wie alle Künstler, so brauchte auch Gigan nach der Vorstellung Ablenkung und Entspan nung. Die meisten pflegten hinterher zu dinieren, zu trinken und zu diskutieren. Für Gigan hinge gen mußte, wenn er nach zwei Stunden die Bühne verlassen hatte, eine Frau bereitgehalten werden. Am besten gleich in der Garderobe. In diesem Punkt war er ziemlich wählerisch. Sein Manager und seine Assistentin hatten Mühe, die sen Bedarf zu decken. Vor vier Tagen hatte Gigan sich eine Schwarze gewünscht, mit mindestens zwei Zentnern Gewicht. Er hatte den Beschaffern die gewünschte 17
Größe der Brüste, der Schenkel und des Hinterteils beschrieben. Das war dann seine letzte Vorstellung geworden. Auf der Varietebühne wie im Bett seines Hotels. Das Hetz war der physischen Belastung auf Dauer wohl nicht gewachsen gewesen. Er starb in den Armen einer Mulattin aus Jamaica Sie weinte, als sie den toten Zwerg von ihrem Körper lösten, in den er sich sterbend verkrampft hatte. Drei Tage später wurde Gigan in Paris beige setzt
Auf dem Friedhof bei St.-Germain-des-Prés hatten sich mehr als tausend Menschen eingefunden, was als eine unübersehbare Menschenmenge bezeichnet werden konnte. Die Trauernden standen bis zum Tor. Unter ihnen ein Bursche, der Gigan zum Ver wechseln ähnlich sah. Zunächst hielt man ihn für einen Zirkus-Lilipu taner. Unter ihnen hatte Gigan viele Freunde gehabt. Erst als Gigans Assistentin die enorme Ähnlichkeit auffiel, machte sie sich an den kleinen Mann heran und fragte ihn, wer er sei. Er blickte sie von unten herauf an, aus schmalen Augen in einem Wasserkopf mit stark vergröberten Zügen, reckte sich auf die Zehen und sagte mit einer ebenso fisteligen Stimme wie Gigan: „Ich bin sein Bruder." Die Assistentin, eine blonde Wienerin, schluckte vor Staunen. „Sie gleichen einander sehr." 18
„Eben wie Zwillinge, Madame." „Wie eineiige?" ergänzte sie fragend. Der kleine Mann lächelte jetzt. „Ich bin der Jüngere, ich kam vier Minuten nach ihm zur Welt." „Davon hat er nie etwas gesagt." „Er wußte nichts von meiner Existenz. Wir wurden schon im Kindbett getrennt. Man hielt uns für Mißgeburten." Nach Beendigung der Trauerfeier nahm die Wie nerin Gigans Bruder in ihrem Mercedes mit zum Hotel, wo ein Imbiß für die besten Freunde des Verstorbenen vorbereitet war. Der Manager machte sich an Gigan den Jüngeren heran. „Besitzen Sie", fragte er, »als sein Zwilling etwa auch seine Fähigkeiten?" „Welche?" fragte der Zwerg. „Nun, alles was ihn berühmt machte. Sein Gedächtnis, seine blitzschnelle Auffassungsgabe, seine Fähigkeit zu kombinieren, sein Gehör, seine Sensibilität und auch gewisse hellseherische Fä higkeiten," Die Füße des Kleinen reichten nicht bis zum Boden, aber er saß da wie ein großer Herr. „Ich besitze", sagte er, „nichts davon in der Form, wie mein Bruder es hatte. Aber ich würde sagen, bei mir sind alle diese Eigenschaften und Fähigkeiten vervielfacht vorhanden. Mit einer Ausnahme vielleicht, ich bin nicht so animalisch veranlagt, was Frauen betrifft." „Die Fähigkeiten Gigans vervielfacht entwik kelt", wiederholte der Manager. „Wie darf ich das verstehen?" „Gar nicht", erwiderte Gigans Bruder, „denn ich 19
verstehe es selbst kaum. Ich würde es so formulie ren: Der Umfang meines Wissens ist dem meines Bruders gegenüber wie eine Milliarde zu Null. Wenn er Analphabet war, dann bin ich ein vier hundertbändiges Lexikon. Und wenn er ein Gra nitblock an Sensibilität war, dann bin ich ein Schmetterling, der bei der Geburt schon weiß, wann er sterben wird." „Dürfen wir das überprüfen?" fragte der Mana ger verblüfft. Doch da winkte der kleine Mann, der sich Gigan der Jüngere nannte, ab. „Sie dürfen mich an der Rue de Richelieu aussteigen lassen", sagte er.
Sie suchten Gigans Bruder und fanden ihn. Angeb lich ging es darum, die Erbfolge bezüglich des umfangreichen Vermögens des Verstorbenen zu klären. In Wirklichkeit wollten sie Gigans Bruder testen und ihn für sich als Gigan II gewinnen. Als er hörte, daß sein Bruder vielfacher Dollar millionär gewesen war, staunte er. „Soviel Geld ist in diesem Gewerbe zu verdie nen? Wie bringen Sie das an der Steuer vorbei?" „Wenn Sie so gut sind, wie Sie behaupten", sagte die blonde Wienerin, „dann verdienen Sie dreimal soviel wie Ihr Bruder." Er wolle darüber nachdenken, sagte Gigan d.J. Als ein Notar ihm erklärte, er könne Gigans Erbe nur antreten, sofern er in der Lage sei, den Beweis einer Verwandtschaft ersten Grades zu erbringen, was wiederum am ehesten möglich wäre, wenn er 20
seine Nachfolge im Variete antrete, war der Zwerg fast schon umgestimmt. Die blonde Wienerin - sie nannte sich Mariette von Grinzing - ging bei ihm auf Tuchfühlung und erklärte: „Durch Gigans bedauerlichen Tod sind allein in Frankreich und England elf ausverkaufte Vorstel lungen geplatzt. Das ist zwar versicherungsmäßig abgedeckt, aber was wird aus der Amerika-Tour nee?« „Laß uns erst feststellen, ob er Gigans Stelle überhaupt einnehmen kann. Zu behaupten, man sei besser als das Original und es wirklich zu sein, das sind zweierlei Dinge." Vielleicht war es Taktlosigkeit von Seiten des Managers, oder Absicht, jedenfalls war Gigans Bruder bereit, sich in die Grundzüge des Geschäfts einweihen zu lassen. Im Hotel mußte er sich erst einmal stundenlang Filme ansehen. Videoaufzeichnungen, die bei Gigans Auftritten mitgeschnitten worden waren. Gigan d.J. erfaßte das System, auf dem alles beruhte, sofort. Trotzdem erklärte Cantani, der Manager, es ihm noch einmal in groben Zügen: „Mariette und ich steigen runter ins Publikum und verteilen uns. Du stehst allein auf der Bühne, mitten im Scheinwerferkegel. Deine Augen sind verbunden. Du kannst praktisch nichts sehen. Wir bitten nun das Publikum um Gegenstände. Sie geben uns dies und das. Du kannst dir kaum vorstellen, was man uns alles in die Hand drückt. Ringe, Uhren, Broschen, Schuhe, Strapse, Perük ken, Schlüssel, Haarklammern, Kämme, Bonbons, 21
Visitenkarten, Präservative - das hält man im Kopf nicht aus.« Mariette erzählte, was sie in Genf erlebt hatte. „Kürzlich drückte mir ein Arzt ein Glied in die Hand, den abgeschnittenen Finger eines Men schen.« „Sie bringen die ausgefallensten Dinge mit, nur um dich reinzulegen. Sogar tote Mäuse.« Der Manager versuchte zu erklären, auf welche Weise sie zur Bühne meldeten, was sie gerade in der Hand hielten. Gewöhnliche Gegenstände wurden mit dem Anfangsbuchstaben oder mit zwei Buchstaben signalisiert. Taschentuch mit T, Kugelschreiber mit Ku, Kamm mit Ka. So ließen sich schon mühelos fünfzig Begriffe verschlüsseln. Ihre Fragesätze begannen entweder am Anfang oder beim Haupt wort mit den entsprechenden Buchstaben. Der Manager gab ihm ein Beispiel: „Rate, was ich habe? - Antwort: Ring. Der Satz fängt mit R an. Oder: Schön nachdenken, Gigan, was ist es jetzt? - Ein Schuh. Der Satz fängt mit Seh an. Oder: Finde heraus, Gigan, was ich jetzt meine. - Ein Feuerzeug. Der Satz fängt mit F an." Sie übergaben ihm ein Buch, in dem auf diese Art rund dreihundert Gegenstände und die ent sprechend formulierten Fragen aufgezeichnet waren. Gigan d.J. überflog die Seiten. Eigentlich warf er nur einen Blick darauf. „Das mußt du auswendig lernen." „Hab ich schon", versicherte er. „Wie, wann?" „Ich sehe mir eine Liste an und behalte sie so lange im Kopf, bis ich sie lösche", erläuterte er. 22
Sie machten die Probe, und er irrte sich nur ein einziges Mal, als es beim Buchstaben Q um die Begriffe Qualität und Quantität ging. In der Liste stand für Qualität Menge. Er behauptete, das sei falsch. Richtig sei es umgekehrt: Menge bedeute Quantität. »Das war das kleine Einmaleins", erklärte jetzt die Wienerin. „Nun zu den Details. Die Briefta schen haben Farben, die Taschentücher oft Mono gramme, die Kugelschreiber sind aus Gold, Silber oder Plastik, die Feuerzeuge funktionieren mit Gas oder Benzin. Die Fotos sind bunt oder schwarz weiß, und darauf sind mehrere Personen, Frauen, Männer, Kinder. Oder Autos. Allein in Europa gibt es Hunderte von Typen. Das alles versuchen wir dir zu übermitteln, sei es durch die Form der Frage, durch die Anzahl der Worte, mitunter auch durch einen absichtlichen Versprecher." Sie erklärten es ihm. Es war immer nur einmal nötig, und schon hatte er begriffen. Danach mach ten sie Tests, und er konnte es mindestens ebenso gut wie Gigan, wahrscheinlich sogar besser. Sie waren mehr als verblüfft. Doch als er fragte: Wo, bitte, bleibt dabei das Übersinnliche? blickten sie sich nur an. „Es gibt nichts Übersinnliches", äußerte Can tani. „Alles ist nur Trick." „Und wenn er erraten mußte, was ein Mann auf ein zusammengefaltetes Blatt gemalt hatte?« „Dann hatten wir es entweder vorher gesehen, oder wir konnten die Konturen der Schrift abta sten und es durchsignalisieren." ,, Angenommen, ich wüßte es ohne Trick." „Dann bist du das Genie des Jahrhunderts", gestand Cantani. 23
„Angenommen, ich wäre es." „Dann gibt es für mich nur eine Erklärung, daß du nicht von dieser Welt stammst." „Und wenn es so ist?" Die Wienerin erfaßte es blitzschnell. „Dann bist du nicht Gigans Bruder, Und warum, zum Teufel, hast du bis heute nichts mit deinen Fähigkeiten anzufangen gewußt?" „Weil ich nicht wollte", antwortete der kleine Mann. „Und plötzlich willst du?" „Laßt mir", sagte er, „auch ein paar Geheim nisse."
Der Kontrakt für die Amerika-Tournee wurde bestätigt. Nur die Eröffnungsvorstellung am 24. August in New York wurde um eine Woche ver schoben. Sie glaubten, daß diese Zeit nötig sei, um Gigans Bruder für seinen ersten Auftritt zu trainieren. „Ein Theater, voll mit zweitausend Menschen", warnte Cantani, „die alle nur darauf warten, daß du abstürzt, daß dich einer reinlegt, daß du dir eine Blöße gibst und daß sie hinter deine Tricks kom men, so ein Abend ist die Hölle. Schon eine Minute auf der Bühne ist die Hölle. Du stehst aber zwei Stunden dort, nur mit einer kurzen Pause." „Probiert mich aus", schlug er vor. Der Flug mit der Concorde von Paris nach New York wurde auf eine Fahrt mit der Queen Elisa beth ab Portsmouth umgebucht. In den Tagen auf See wollten sie an Bord zwei Vorstellungen geben. Die Passagiere auf solchen Luxuslinern waren 24
meist verwöhnte und arrogante Leute. Gigan d.J. würde also den richtigen Vorgeschmack be kommen. Aber schon der erste Auftritt ging reibungslos über die Bühne. Dabei zeigte der Zwerg noch eine neue Seite seines fantastischen Könnens. Daß er perfekt Englisch, Französisch, Deutsch und Italie nisch sprach, das wußten sie. Mariette aus Öster reich und Cantani aus Italien hatten es staunend zur Kenntnis genommen. Aber wie er sich auf dem Schiff mit Arabern arabisch, mit einem indischen Maharadscha indisch und mit Japanern fließend japanisch unterhielt, das versetzte sie nahezu in Ekstase. „Welche Sprache beherrschst du eigentlich nicht?" fragte Cantani abends in der großen Signal deck-Suite. „Einige", räumte Gigan II ein. „Welche?" „Vermutlich hast du noch nie von ihnen gehört." „Sag es mir trotzdem." Der kleine Mann lächelte selten. Wenn es um ihn selbst ging, wirkte er eher bedrückt. Er sagte: „Was ich nicht sehr gut kann, ist ein bestimmter Inuit-Dialekt." „Was bedeutet Inuit?" „Eskimo", erklärte der Zwerg. „Oben an der Baffin-Bay sprechen sie einen anderen Dialekt als in der grönländischen Arktis. Was Inuit-Dialekte betrifft, bin ich wirklich nicht voll auf der Höhe. Aber es liegt wohl daran, daß darüber kaum Aufzeichnungen existieren. Und das meiste von dem, was ich weiß, habe ich aus Büchern gelernt." „Aus zehntausend Büchern, he", bemerkte Can tani spöttisch. 25
„Aus allen Büchern dieser Welt", erwiderte Gigan d.J. bescheiden. Cantani, ein weltoffener und vielseitig interes sierter Manager, begann dem erstaunlichen Bur schen auf den Zahn zu fühlen. Er hatte seinen Bruder gut gekannt, sie waren so etwas wie Freunde gewesen. Nach zwölfjähriger Zusammen arbeit glaubte Cantani, die Wissens- und Bildungs grenze von Gigan I ausgelotet zu haben. Wenn der Verstorbene das Wissen eines Mannes gehabt hatte, der nach dem Abitur mal dies, mal das ein paar Semester lang studiert hatte und vieles von dem, was er aufschnappte, in seinem vorzüglichen Gedächtnis speicherte, dann waren das nicht ein mal zehn Prozent von dem, was Gigan II im Kopf hatte und worüber er kompetent zu diskutieren verstand. Der Bursche aus dem Nichts wurde immer rätselhafter für Cantani. Er hielt ihn für ein Genie und fragte sich immer wieder, warum er bis zu jenem Tag auf dem Friedhof von St-Germain-desPrés nicht in Erscheinung getreten war. „Diese Liliputaner", versuchte die Wienerin zu erklären, „entziehen sich in vielen Dingen unserem Verständnis. Vielleicht war es der Tod seines Bruders, der ihn aktiv werden ließ." „Aber wie erfuhr er davon?" „Und wo kommt er her?" „Wie hat er sich diese enormen Kenntnisse angeeignet?" „Wovon lebte er?" „Vielleicht tiefgekühlt in einem Gefrierschrank", höhnte Cantani. „Wie ein Winterschläfer, den der erste Sonnenstrahl aufweckt." 26
Die Queen Elisabeth kam pünktlich in New York an. Zwei Tage später gab Gigan d.J. seine erste Vorstellung in der Carnegie Hall. Sie wurde zu einem sensationellen Erfolg. Am nächsten Tag stand es in allen Zeitungen, und er konnte sich vor Reportern kaum retten.
Gigan hatte darauf bestanden, daß man ihn in Amerika nicht Gigan II nannte. Er legte Wert darauf, als sein Bruder zu gelten. Cantani und die Wienerin fragten ihn mehrmals nach den Gründen, aber er gab stets ausweichende Antworten. Am dritten Tag in New York erklärte er, das Modem-Art-Museum besuchen zu wollen, und ver ließ nach dem Frühstück das Hotel Majestic. Mit dem Taxi fuhr er zur Fifth Avenue und betrat dort die New Yorker Niederlassung der Bank of America. Abgesehen davon, daß ein Mann von knapp 99 cm Körpergröße jedem auffiel, war Gigan d.J. auch telefonisch angemeldet. In der Abteilung für Vermögensverwaltung, die Gigans Konten führte und auch seine Wertpapiere verwaltete, kannten die Manager ihn. Der Ordnung halber wies er sich mit dem Paß seines toten Bruders aus. Dann traf er Verfügungen über sein Bargutha ben. Die insgesamt drei Millionen Dollar überwies er, bis auf einen Rest von tausend Dollar, auf ein Konto bei der Banque de Suisse in Genf. Seine Gulf-Oil-Aktien und die der Fernsehstation CTS 27
bot er zum Verkauf. Wegen des steigenden Kurses war dies binnen einer halben Stunde erledigt. Der Erlös sollte auf ein anderes Konto beim Züricher Bankenverein überwiesen werden. „Bitte telegraphisch", bat er. „Trauen Sie etwa der Bonität unseres Hauses nicht, Sir?" fragte der Manager. „Nur der Bonität des Dollar nicht", erklärte Gigan d.J. und unterzeichnete alle Anweisungen mit dem Namenszug seines Bruders. Er hatte ihn geübt, um ihn perfekt bis zum letzten Haken und Schlenker zu beherrschen. „Nun zu meinem Schließfach", erklärte er. Ein Angestellter begleitete ihn in den Keller. Gigan verfügte über den Zweitschlüssel seines Bruders. Auch das Kennwort bedeutete kein Pro blem für ihn. Ohne weiteres war er in der Lage, den geheimen Code zu nennen, den nur sein Bruder allein gekannt hatte. Welchen Sinn hätte sonst das Kunstwort Xyquicoz auf einem Zettel in der Scheckhefthülle ergeben. Man ließ ihn mit der Blechkassette aus dem Safe allein. Sie enthielt Gold in Barren und Münzen, ein Ledersäckchen mit feingeschliffenen Brillanten und eines mit Smaragden, Rubinen und Saphiren. Das Gold - es handelte sich um etwa acht Kilogramm - ließ er im Depot. Die Steine nahm er an sich und sandte sie per Wertpaket und Luftpost an seine Bank in Genf, mit der Anweisung, sie in seinem Schließfach zu deponieren. Gegen Mittag war er wieder im Hotel. Er legte sich auf das viel zu große Bett, von dem er knapp die halbe Länge beanspruchte. Gegen 12.00 Uhr wollte ihn Mariette von Grin zing zum Essen abholen. 28
„Du warst auf der Bank, Gigan?" fragte sie neugierig. „Ich habe ein Konto eröffnet", log er, „für meine hübschen Gagen." „Boston, Philadelphia und Chicago sind schon restlos ausverkauft." „Na, wunderbar", sagte er. „Wir werden ordentlich absahnen." Immerhin kassierten Cantani und die Wienerin von den Nettoeinnahmen je zwanzig Prozent. Was er für zuviel hielt. Man würde darüber reden müssen. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht Womöglich erübrigte sich das alles schon sehr bald. „Ein Brief aus Paris ist eingetroffen", erwähnte die Wienerin, die auch die Büroarbeiten des DreiMann-Unternehmens erledigte. „Von Maitre Duvallier, dem Notar." „Was schreibt er?" „Du hast ja gar kein echtes Interesse daran", äußerte sie. „Was schreibt er?" „Es gibt Probleme. Bei Gericht wird deine Lei stung als Artist vermutlich nicht als Beweis für Blutsverwandschaft gewertet." „Was wollen sie noch?" „Geburtsurkunden, Zeugenaussagen, möglicher weise einen Gewebetest, wie das üblich ist." „Dann müßten sie meinen Bruder ja exhu mieren." „Nun, es geht um eine Menge Geld." „Primär um den Erbschein", bemerkte er. „Ohne den geht in dieser merkwürdigen Welt ja wohl nichts." Eigentlich war ihm zum Lachen zumute. Er 29
brauchte den Erbschein nicht. Die finanziellen Angelegenheiten waren längst erledigt. „Ich sehe aus wie Gigan", sagte er, „ich bin Gigan. Der Maitre möge veranlassen, was nötig ist, und tun, was in seinen Kräften steht. Geboren wurde ich übrigens in YX-344 Delta. Das ist ein Dorf auf dem Mars. Der Maitre soll mal hinschrei ben. Wir wollen doch hoffen, daß dort Geburtenre gister geführt werden." „Du bist mir ein Rätsel", gestand die Wienerin, „und wirst mit jedem Tag ein größeres." Sie faßte nach seiner Hand - ihre Hand war immer warm und seine immer kalt — und setzte sich neben ihn auf das Bett. „Möchtest du", fragte sie, „daß ich mich aus ziehe, daß ich mich neben dich lege, dich wärme, dir zeige wie eine Frau von der Erde mit einem Mann vom Mars Liebe macht?" „Bestell mir ein Sandwich mit Tatar, Champa gner Roederer-82-Exquisit, schön gekühlt." Sie telefonierte nach dem Zimmerservice.
Bei jeder Vorstellung in New York, Boston und Chicago schien Gigan d.J. sich noch zu steigern. Privat hingegen änderte er sich. Er wirkte ner vös, so als warte er auf etwas, das nicht eintraf. Nach den Auftritten nahm er kaum Nahrung zu sich und ging meist früh schlafen. In Chicago hatte er darauf bestanden, eine eigene Suite ohne Ver bindungstür zu den Apartments von Cantani und Mariette zu beziehen. In Paris und New York hatten sie abends noch 30
gemeinsam ein Glas getrunken. Seit Boston hatte das aufgehört, Gigan isolierte sich immer mehr. Cantani fand dies höchst merkwürdig und sprach mit der Wienerin darüber. Sie beschlossen, Gigans Verhalten schärfer zu beobachten. Einmal, an einem freien Tag zwischen zwei Vorstellungen, weckte Mariette den Italiener spät nachts. „Ich glaube, Gigan hat das Hotel verlassen." „Ruf den Portier an. Er bekam fünfzig Dollar von mir. Gigan kommt nicht an ihm vorbei und durch die Drehtür, ohne daß er es bemerkt." „Er ist aus dem Fenster geklettert", sagte die Österreicherin. „Hat er deshalb darauf bestanden, ein Zimmer in der ersten Etage zu beziehen?" Cantani war schon aus dem Bett und zog sich an. Eilig verließ er das Hotel, um Gigan zu folgen. In den nächtlich leeren Straßen war es leicht, einen Mann zu finden, der kaum größer war als ein siebenjähriger Knabe. In seinem typischen Entengang marschierte der Zwerg die Bubbard Street hinunter, vom Shera ton-Hotel in Richtung Downtown. Nach zwei Blocks bog er nach rechts in die Wabash Avenue ab. Dort blieb er unentschlossen vor einem Schnellimbiß stehen. Es sah so aus, als überlegte er, ob er Hamburger oder Hot dogs kaufen sollte. Eine Schar Jugendlicher wurde auf den Zwerg aufmerksam und schien ihn anzupöbeln. Sie gin gen auf ihn zu, umringten ihn, bewarfen ihn mit leeren Coladosen und Pommes-Frites-Tüten. Doch Gigan zeigte sich der Situation durchaus gewachsen. Er fing die Dosen und Pappkartons auf 31
und begann damit zu jonglieren, was die Angriffs lust der Rowdies stoppte und in Beifall verwan delte. Sie warfen ihm immer mehr Dosen zu. Am Ende arbeitete er wie ein professioneller Jongleur, indem er sie hochwarf und auffing und wieder hochwarf. Mit acht Dosen schien er keinesfalls überfordert zu sein. Lautlos rollte von Süden ein schwarzer Lincoln, eine Sechsmeterlimousine, heran. Gigan schien den Wagen im Augenwinkel zu sehen. Als er am Bordstein hielt und eine der Türen aufschwang, ließ Gigan in derselben Sekunde die Coladosen der Reihe nach aufs Pflaster knallen, machte eine Kehrtwendung und verschwand blitz schnell im Fond des Luxusautomobils. Der Lincoln zog sofort scharf an. Die Rowdies warfen noch Dosen hinter ihm her, ohne ihn zu treffen. Das alles hatte Cantani aus einer Entfernung von ungefähr sechzig Yards beobachtet. Er hatte auch gesehen, daß links im Lincoln, auf der Straßen seite, ein Mann gesessen hatte, und zwar ein ziemlich großer. Gigan war also verabredet gewesen. Cantani kehrte ins Hotel zurück und machte sich eine Menge Gedanken. Er diskutierte lange mit der Wienerin. Sie hörten Gigan nicht zurückkommen. Doch am Morgen trafen sie sich alle drei im Speisesaal und frühstückten, als ob nichts gewesen wäre.
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3.
In Frankreich fiel die schöne Touristin zum ersten Mal auf. Als sie an die Riviera weiterreiste, lief bei der Interpol-Zentrale längst der Computer. Er war mit einem Erkennungsprogramm gespei chert. Die Abfrage enthielt Details über die Rei sende mit dem britischen Paß, den man für eine Fälschung hielt, wenn auch für eine nahezu per fekte. Die Lady war einsfünfundsiebzig groß, trug einen engen Lederrock, der ihre Figur zur Geltung brachte, und dazu elegante rote Stiefel aus Juch tenleder. Das schwarze Haar war kurz geschnitten, Die dunklen Katzenaugen und das flächige Gesicht gaben ihr etwas Slawisches. Ihr Mund war flei schig und sehr rot, der Teint zartbraun, die Zähne Schneeweiß. Sie fuhr einen älteren Jaguar. In der Täterkartei von Interpol lag nichts gegen sie vor. Routinemäßig fragte Interpol beim Yard in London nach. Von dort kam Tage später die Mitteilung, daß kein Paß für eine britische Staats bürgerin mit Namen Joan Welles, auf welche die Beschreibung passe, ausgestellt worden war. Auch ein dunkelblauer Jaguar, Typ Mark II mit Kennzei chen MTW-273 M, sei dort nicht zugelassen. Diese Information reichte Interpol an den Anfra ger, die Sûreté, weiter. Bei der französischen Kriminalpolizei hatte man die Sache fast schon vergessen. „Woher kommt die Meldung?" erkundigte sich der Sachbearbeiter bei seinem Kollegen. „Vom Grenzübergang Annemasse." 33
„Dann reiste die Dame aus der Schweiz ein." „Irgendeinem scharfen, jungen Spund an der Grenze fiel etwas an ihr auf." „Was fiel ihm auf? Dann müßte es den Schwei zern doch auch aufgefallen sein." „Die kontrollieren bei der Ausreise überhaupt nicht." „Aber irgendwo muß sie Schweizer Boden doch betreten haben." Der Sachbearbeiter, der zu entscheiden hatte, ob die Angelegenheit weiterverfolgt wurde oder nicht, rief in Annemasse an. Zufällig hatte der meldende Beamte gerade Wachdienst. „Betrifft Ihre Anfrage von Anfang der Woche", sagte der Inspektor in Paris. „Was veranlaßte Sie dazu?" Der junge Beamte stotterte ein wenig. Nicht jeden Tag kam es vor, daß die Sûreté Paris mit einem Grenzposten in der Provinz sprach. „Monsieur, es fiel mir erst auf, als sie schon durch war." „Was fiel Ihnen auf?" „Erstens, daß es ein recht alter Paß war, der in der Sonne eine etwas hellere Farbe annahm als die anderen britischen Pässe." „Ist das alles?" „Nein, Monsieur. Die Lady, ihr Auto und alles andere machten einen ungeheuer, wie soll ich sagen, gepflegten Eindruck. Und dann der Paß mit den zerfledderten Seiten, den umgebogenen Ecken, Kaffeeflecken und schmutzigen Fingerabdrücken. Das ging nicht zusammen." „Kann Zufall sein." „Oui, aber der Jaguar. Er kam aus England, 34
wurde von einer Engländerin gefahren und war linksgesteuert, wie die Autos vom Kontinent." Der Beamte in Paris pfiff über die Zähne. „Wenn die Beschreibung stimmt, müssen Sie sich die Lady gut angesehen haben." „Eine schöne Frau", erklärte der Grenzbeamte. „Nicht hübsch, aber schön und so gar nicht britisch." „Wie dann, wenn nicht britisch?" „Eher polnisch, Monsieur." „Wie kommen Sie auf so was?" Der Grenzer erinnerte sich von Frage zu Frage besser. Er hatte die Touristin darauf aufmerksam gemacht, daß es ratsam sei, den Paß gelegentlich zu erneuern, woraufhin sie ihm geantwortet hatte, solange das Bild erkennbar und die Personendaten lesbar seien, denke sie nicht daran. Dann war sie abgerauscht. „Und das ärgerte Sie", versuchte der Inspektor dem Motiv des Grenzbeamten näherzukommen. Vielleicht lag mehr Verärgerung vor als ein echter Verdacht. „Oui. Aber ihr Akzent", sagte der junge Beamte. „Nun, Engländer sprechen anders französisch als Holländer." „Das dachte ich mir auch, Monsieur", äußerte der Grenzbeamte. „Aber sie hatte diesen komi schen Holzhackerakzent drauf." Er gab eine Probe davon: „Solange Bild erkennbare ist, denke ich nix daran. - So reden sie doch in Polen, oder?" „Merci", sagte der Inspektor von der Sûreté Paris. Die Akte wurde nicht geschlossen. Aber inzwi schen war die Touristin mit dem Jaguar wohl über alle Berge. 35
Joan Welles, wie sie sich derzeit nannte, hatte ihre dunkelblaue Jaguar-Limousine in einer Tiefgarage in Monte Carlo abgestellt. Nach kurzem Aufenthalt in einer kleinen Pen sion, wo man Pässe nicht unter die Lupe nahm, fuhr sie mit dem Bus über die Grenze nach Italien und von Ventimiglia aus mit dem Rapido nach Turin. Der Schnellzug brachte sie bis Mittag in die piemontische Autostadt. Dort angekommen ließ sie sich mit dem Taxi zu einem Wagenverleiher brin gen und mietete einen Fiat-Campagnolo-Gelände wagen. Vorerst für eine Woche. In einem Spezialgeschäft für Camping- und Freizeitausrüstung kaufte sie, was man brauchte, um die eine oder andere Nacht im Freien zu verbringen. Außerdem erstand sie ein Metall-Such gerät. Hier war das Angebot groß, die Auswahl schwierig. „Zu welchem Zweck, Signora", fragte der Ver käufer, „wollen Sie es benutzen? Um am Strand nach Münzen im Sand zu suchen oder im Garten nach den vergrabenen Goldlire des Herrn Urgroß vaters?" „Nach einer wertvollen Patek-Philippe-Uhr, die ich vor einem Jahr am Lagerfeuer im Aostatal verlor." „Nun, wenn Sie die Stelle ungefähr wissen", meinte der Verkäufer, „ist dieses Gerät hier wohl am besten geeignet. Es mißt garantiert bis in vierzig Zentimeter Tiefe, auch bei dichten und feuchten Bodenverhältnissen. Das Signal erfolgt akustisch über Kopfhörer und durch Blinklicht. 36
Die Batterien werden in einer Gürteltasche mitge führt, dadurch ist das Gerät leichter zu hand haben." „Kann man damit auch im Wasser suchen?" Der Verkäufer nahm einen Plastiksack aus dem Regal. „Er wird einfach über den Sondenteller gestülpt und oben zugeschnürt. Allerdings müssen Sie das Ende gut mit Klebeband abdichten. Kostet zwan zigtausend Lire extra." „Was? Für diese Supermarkttüte?" protestierte sie. „Für das Spezialklebeband", erklärte der Ver käufer. „Es ist wasserfest, Signora." Sie erwarb das Gerät, Die Gebrauchsanweisung war in Italienisch abgefaßt, aber sie beherrschte die Sprache einiger maßen. Schlechter zwar als Englisch, aber besser als Französisch und Deutsch. Sie tankte den Campagnolo auf, besorgte noch Mineralwasser, Wein, Salami, Käse und Brot. Es ging schon auf zwanzig Uhr, als sie die Autobahn nach Norden unter die Räder nahm. Bis zum Wochenende hatte sie einen Geländestrei fen von ungefähr dreihundert Metern Breite und mehreren Kilometern Länge abgesucht. Er folgte einer Linie, auf der man im Westen den Grand Combin im Rücken und vor sich den 4600 Meter hohen Monte Rosa hatte. An manchen Tagen begegnete Joan Welles keiner Menschenseele. Dann kam es wieder vor, daß sie mit Jägern oder Militärpatrouillen zusammentraf. Hoch oben in der Bergeinsamkeit pflegte man 37
sich guten Tag zu wünschen und ein paar Worte zu wechseln. Vor einem Jeep der Grenzpolizei konnte sie sich nicht mehr rechtzeitig in Deckung bringen. Also hielt sie den Fiat an und fragte die Beamten, ob es oben am See einen Schilfgürtel gebe. „Nur Steine", sagte der Sergente. „Buon giorno, Signora. Was suchen Sie? Den blauen Enzian?" „Hier sollen noch seltene Vögel und Amphibien nisten." „Was, bitte?" fragte der zweite Grenzsoldat grinsend. „Bussarde und Schwarzmilane, der Kleiber, das Sommergoldhähnchen und sogar die Mönchsgras mücke." „Nie etwas davon gehört, Signora." „Von Bussarden schon, aber nicht von den anderen", ergänzte der Sergente. „Im Schilfröhricht entstehen meist Paradiese für Wasservögel." „Das Seeufer hat nur Steine und ist ziemlich steil. Im Wasser gibt es kalte Quellen. Sie verursa chen Wadenkrämpfe." „Und Strudel, die den Schwimmer hinabziehen. Deshalb ist Baden verboten, Signora." „Und wegen der Pisse", fügte der Grenzer am Lenkrad hinzu. „Von hier versorgt sich nämlich Turin mit Trinkwasser. Was interessiert Sie an dieser Tierwelt, Signora?" „Ich bin Ornithologin." „Sie betreibt Vogelkunde", erklärte der Sergente seinem Kameraden das Fremdwort. Dann lachten beide, als wäre es ein riesiger Witz. „Sie sind aber nicht von hier, Signora." „Aus London." 38
„Naja, die Engländer sind Spinner, waren es immer und werden es immer bleiben." „Wollen Sie meinen Ausweis sehen, Gentlemen?" „Wozu, Hier geht es nicht über die Grenze. Kein Paß, kein Weg, kein Steg. Aber weiter oben am See, wo der Zaun verläuft und der Fels beginnt, ist militärisches Sperrgebiet. Lassen Sie sich auf der Suche nach Ihren Sommermücken dort nicht erwi schen. Vom Bunker aus beobachten wir jeden, der sich nicht an das Verbot hält. Und wir buchten jeden ein, der die Sperre auch nur einen Meter überschreitet. Außerdem ist das Gelände vermint." „Und wenn Sie Feuer machen", sagte der andere, „für eine Pasta oder Kaffee, löschen Sie es hinter her. Ist schon ziemlich dürr alles. Hat lange nicht geregnet." Sie machten noch ein paar Scherze, dann fuhren sie weiter. „Verdammt! " fluchte Joan Welles. Ausgerechnet den See hatte sie sich, angesichts der mageren Ausbeute, noch vornehmen wollen. Mehr als ein paar Metallstücke hatte ihr Gerät bis zur Stunde nicht angezeigt. Aber diese Stücke bildeten eine deutliche Spur. Vorsichtshalber begnügte sie sich mit dem, was sie hatte, und verschob die nächsten Schritte auf eine zweite Exkursion in diesem Teil der Alpen.
So, wie sie Monte Carlo verlassen hatte, nur mit einer Reisetasche, kam sie nach sechs Tagen wieder dort an. Sie beschloß, in einer anderen Pension zu über 39
nachten. Doch vorher wollte sie essen gehen und nach ihrem Auto sehen. Der Jaguar stand im Untergeschoß des Parkhau ses neben dem Sun-Tower. Es sah so aus, als hätte sich niemand um das Fahrzeug gekümmert. Joan Welles öffnete den Kofferraumdeckel, um ein zigarettenschachtelkleines Päckchen im Fach hinter dem Ersatzrad zu verstecken. Als sie den Kofferdeckel wieder schließen wollte, glaubte sie, matte Punkte im Lack zu entdecken. Sie hatte den Jaguar vor dem Parken noch durch die Waschanlage gefahren. Jetzt lag etwas Staub auf der Karosserie. Aber diese vier ovalen, etwa bonbongroßen Punkte machten sie nachdenklich. Sie sperrte links auf, holte die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und leuchtete die Türgriffe und deren Umgebung ab. Auf dem Chrom schim merte der Staubbelag graphitgrau. Zwar hatte man ihn mit feinem Pinsel weggewischt, aber kein Zweifel, von diesem Fahrzeug hatte jemand Fin gerabdrücke genommen. - Wahrscheinlich ohne Ergebnis, denn sie hatte den Wagen stets mit Handschuhen bewegt. Auch die Abdrücke hinten stammten von Polizistenhänden. Angenommen, sie hatten doch etwas gefunden? - Die Tatsache, daß man während ihrer Abwesen heit den Jaguar untersucht hatte, beunruhigte Joan Welles einigermaßen. Sie schlenderte zum Postamt und telefonierte mit Paris, Sie gab einen kurzen Zwischenbericht und erwähnte auch, daß der Jaguar aufgefallen sein könnte. „Rufen Sie in zwei Stunden wieder an", sagte der Kontaktoffizier in Paris. „Ich spreche erst mit Moskau." 40
In einem Bistro am Hafen nahm sie ein Sand wich und ein Glas Weißwein ohne rechten Appetit zu ach. Daß nicht immer alles klar gehen konnte, lag an der Besonderheit ihres Jobs. Aber Unwetter kün digten sich auf bestimmte Weise an. Mit einemmal blies einem der Wind stärker ins Gesicht, dann ein ferner Blitz, ein Donnerrollen. Die Anweisung aus Paris lautete eindeutig. „Sofortige Rückreise", hieß es. „Zunächst nach Ostberlin." „Welche Route?" „Wenn sie den Jaguar überprüft haben, muß das von der Schweiz oder von Frankreich veranlaßt worden sein. Rückkehr also über Italien-Öster reich-Bundesrepublik." „Und da bin ich sicher?" „Gegen Sie liegt nichts vor, Lara Redrova. Und der Jaguar ist sauber, hoffe ich." „Garantiert." „Dann sehe ich keinen Grund, dieses schöne Automobil stehen zu lassen und anderen zu schenken." Sie hatte die Europakarte nicht genau im Kopf. „Welcher Grenzübergang ist der günstigste?" Paris hatte alles vorgeplant. „Einreise nach Italien über Menton. Versuchen Sie, zwischen achtzehn und neunzehn Uhr rüber zukommen, da herrscht starker Verkehr. Sie fahren weiter über Genua, Mailand in Richtung Brenner paß. Lassen Sie sich Zeit, schlafen Sie unterwegs ein paar Stunden im Wagen. Die Brennergrenze überschreitet man in den Sommermonaten am besten gegen elf Uhr vormittags in der Warte 41
schlange. Dann weiter über Innsbruck und Mün chen. Melden Sie sich von dort aus." „Wo komme ich unter?" „In einem Vorort. Ich gebe Ihnen zwei Telefon nummern von Sympathisanten. Seriöse Leute und Hausbesitzer. Den Wagen sofort weg von der Straße. Notfalls können Sie sich tagelang dort verstecken, was wir angesichts der Sachlage aber nicht für nötig halten. Trotzdem ist ein Privatquar tier einem Hotel vorzuziehen. In der Bundesrepu blik besteht Meldepflicht." Sie bekam die Nummern, hängte auf und trat hinaus in die Sonne. Sie stand tief und blendete. Joan Welles setzte die dunkle Brille auf und schaute sich um, wie sie es gelernt hatte. Niemand, der als Beschatter in Frage kam, war zu sehen. Andererseits wußte sie, daß es Verfolger gab, die man prinzipiell nicht erkannte. Doch auf so perfekte Tarnungen verstanden sich nur Spit zenleute, und daß man die erste Garnitur auf sie ansetzte, dafür war sie wohl eine Nummer zu klein. Sie schlenderte durch die City, kaufte in einem Warenhaus einen preiswerten hellen Trenchcoat. In Verbindung mit einem Kopftuch veränderte er ihr Aussehen stark. Zwanzig Minuten später war sie unterwegs zur italienischen Grenze. Zwischen einem Kühltransporter für Fisch und einem Bus aus Norwegen kam sie glatt durch. Der Beamte winkte sie einfach weiter. Für die sechshundert Kilometer bis zum Grenz übergang Brenner ließ sie sich Zeit. Sie erreichte die Paßhöhe kurz vor Mittag, hängte sich an die dreihundert Meter lange Warteschlange an und 42
rückte mit etwas Herzklopfen näher. Prompt wurde sie herausgefischt. Die Beamten prüften erst den Paß, dann wollten sie den Inhalt des Kofferraums sehen. Sie verhiel ten sich wie bei jeder Routinekontrolle. Joan Welles durfte nach zehn Minuten die Wei terfahrt antreten, bewertete dies aber als ein weiteres Warnsignal. Die Reise durch Österreich verlief normal, ebenso die Einreise nach Westdeutschland. Von einer Telefonzelle in Garmisch rief sie die Nummern an, die ihr Paris genannt hatte. Die erste gab keine Antwort. Die zweite war auf Anrufbeantworter geschaltet. An der nächsten Autobahnraststelle versuchte sie es noch einmal. Nun bekam sie sofort Verbindung. Sie nannte ein Codewort. Der Mann am Apparat sagte: „Wir erwarten Sie, Genossin." „Und Ihre Adresse?" „Haben Sie die nicht?!" Sie bekam die Straße und die Hausnummer in dem Münchner Vorort. Der Mann erklärte ihr, wie sie am besten fuhr. „Aber es ist schwer zu finden", fügte er hinzu. Sie überlegte und raffte dann ihr ganzes Deutsch zusammen. „Können Sie mich lotsen?" „Schön, dann erwarte ich Sie an der Autobahn ausfahrt Starnberg", entschied der Sympathisant nach einigem Zögern. „Notieren Sie Starnberg." „Was für ein Fahrzeug?" „Ein Coupe", erklärte der Sympathisant. „BMW, stahlblau. Und Ihr Wagen?" „Jaguar Mark II, Dunkelblau." 43
„Den werde ich erkennen. Den erkenne ich unter Tausenden. Dann bis in einer Stunde, Genossin. So lange werden Sie etwa brauchen." Sie hängte auf. Die Münzen fielen in den Schacht. Sie fuhr weiter. Es war heiß - ein Tag mit grellem Licht, ohne Wolke am Himmel.
Lara Redrova, mit dem Decknamen Joan Welles, verließ bei dem blauweißen Schild Starnberg die Bundesautobahn. Ein Stück weiter oben in der Kurve stand der BMW. Sie bremste und rückte dicht an die hintere Stoßstange des Coupe auf. Kaum hatte sie den Jaguarmotor abgestellt, schwang vorn die Tür auf, und ein Mann, wie sie ihn nicht, erwartet hatte, stieg aus. Erfahrungsgemäß waren Sympathisanten meist unauffällige Durchschnittsbürger. Dieser Bursche jedoch hatte Persönlichkeit und fast zuviel Aus strahlung. Er mochte ungefähr fünfdreiviertel Fuß lang sein, also über einsfünfundachtzig, wirkte schlank und trotzdem athletisch. Aber wie immer, war es der Kopf eines Mannes, auf den es ankam. Und was für ein Schädel war das! Kühn geschnittenes Profil, gerade Nase, Energie im Kinn. Die Augen hellgrau wie die eines Seeadlers, der die Weite des Meeres im Blick hatte. Die Haut war sommerge bräunt, um den Mund spielte ein Lächeln, und die Haare ließen sich mit einem Kamm allein wohl kaum bändigen. Dazu brauchte man noch eine Bürste extra. Der Mann kam auf sie zu. Gekleidet war er eher 44
konservativ. Hellblaues Hemd, schmaler Schlips, Glenchecksakko, dunkle Hose, schwarze Slipper, in jener soliden Machart, wie sie nur von Bally oder Lloyd hergestellt wurden. Die Zigarette in seinem Mund war zu einem Drittel abgeraucht. Bevor er ein Wort sagte, nahm er sie aus den Lippen. Sie hatte ein Goldmund stück. Die haben einen verdammt flotten Typen als Sympathisanten ausgesucht, dachte Lara Redrova. „Miß Welles?" fragte der Mann. „Woher kennen Sie meinen Namen?" „Er steht in Ihrem Paß. Oder klingt Lara Redrova angenehmer in Ihren Ohren." Ihr Herz schlug heftiger. Hier läuft etwas schief, dachte sie. Aber wegzukommen war nicht möglich. Dicht hinter dem Jaguar war eine große Limousine aufgefahren. Zweifarbig in Weiß und Grün. Teufel, dachte sie, Polizei auch noch. Der Mann, der sie in Empfang nahm, kam herum und setzte sich neben sie. „Willkommen in München«, sagte er auf eng lisch. „Wer sind Sie?" stieß sie heraus. „Das ist", antwortete er, „nur in zweiter Linie aktuell. Reden wir zuerst über Sie, Lara Redrova." Sie hatte stets eine Waffe bei sich. Aber es war wohl sinnlos und vermessen, an ihre Benutzung auch nur zu denken. „Wie . . .?" setzte sie an. Immer noch lächelnd sagte der gutaussehende Frauenkiller: „Ganz einfach. Sie sind KGB-Agentin. Das wit tern wir kilometerwe it gegen jeden Sturm." „Irrtum, ich bin eine britische Touristin auf der 45
Rückreise aus dem Süden. Ich möchte mir Mün chen ansehen und dann in Brügge die Fähre nach England nehmen." „Ist es nicht zufällig die Fähre nach Ostberlin?" scherzte der Goldmundstückraucher. „Ich fürchte, Sie irren sich, Sir." Der Sir atmete tief ein und nickte bedächtig. „Dann hätten wir uns wohl alle geirrt. Interpol, Sûreté, der Yard, der italienische Geheimdienst und unsere technischen Experten, die die Anschlüsse Ihrer Anlaufadresse anzapften." Sie verstand. Soviel hatte sie auf der Agenten schule in Kiew gelernt, daß sie wußte, was für eine Falle man ihr gebaut hatte. Angefangen hatte es wohl in Monte Carlo. Sie hatten ihr Gespräch mit der russischen Botschaft in Paris belauscht und die Nummern nach Mün chen weitergegeben. Dort hatte man die zwei Adressen schon längst als verdächtig eingestuft. Und der Mann, mit dem sie beim zweiten Anruf gesprochen hatte, war dieser Bursche gewesen. „Gute Arbeit", räumte sie ein. „Aber Sie haben nichts in der Hand, Sir." „Nur die falschen Papiere." „Für Sie kein verfolgbares Delikt." „Mal sehen, was Ihr schöner alter Jaguar her gibt, Lady." Sie begehrte auf und protestierte. „Sie werden sich hüten, eine ..." „Was?" fragte der Mann aus dem BMW-633-CSi „Sie glauben, wir werden uns hüten, eine mit gefälschtem Paß und falschen Kennzeichen in unser Land einreisende sowjetische Geheimagentin anzufassen. Irrtum, Gnädigste, wir hüten uns ganz und gar nicht davor." 46
„Wer, zum Teufel, sind Sie überhaupt?" „Robert Urban, BND", stellte er sich vor. Irgendwie und irgendwo hatte sie diesen Namen aufgeschnappt. Er klang heftig in ihrem Ohr. Gleichzeitig öffnete sich eine Art Bühnenvorhang und gab den Blick auf die Szene frei. „Mister Dynamit", fiel ihr ein. „So nennen mich nur die anderen." „Dann stecke ich wohl in der Klemme." „Sie haben Anlaß, dies anzunehmen, Gnädigste." Sie gab auf, streckte ihm beide Hände hin und kreuzte die Gelenke. „Tun Sie, was Sie nicht lassen können, Colonel Urban." Der BND-Agent winkte ab. „Nicht ich, Gnädigste", sagte er. „Dafür sind andere zuständig. Aber wir werden noch ein paar Takte miteinander reden müssen." Sie befürchtete, daß eine ganze Sinfonie daraus würde. Der Mann, der die Goldmundstückzigaretten rauchte, stieg aus und winkte einem der Polizeibe amten. Lara Redrova wurde festgenommen. Sie mußte in den Polizei-Mercedes umsteigen. Einer der Uni formierten übernahm ihren Jaguar. Die kleine Kolonne setzte die Fahrt fort. Bis zu einem See, an dessen Ufer eine große Villa stand, die wie ein Sanatorium aussah, aber wohl ein exklusives Gefängnis war.
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4.
In den meisten geschlossenen Räumen Washing tons summten die Klimaanlagen. Die Hitze konnte im Sommer unerträgliche Formen annehmen. Selbst in den Nächten kühlte es kaum ab. Dann brach vom Potomac her ein warmfeuchter Wind auf und gab den Menschen den Rest. Trotzdem war die Vorstellung des Großen Gigan in der Albert-Hall bis auf den letzten Sessel ausverkauft. Am Schluß spendete das Publikum stehend App laus, so als würde es ahnen, daß es sich um den letzten Auftritt des kleinen Mannes handelte. Gewöhnlich waren Show-Größen nach solchen Solodarbietungen nebst den entsprechenden Zuga ben völlig kaputt und bis aufs Hemd durchge schwitzt. Gigan hatte keinen einzigen Schweiß tropfen vergossen, so als wäre der Kontakt mit 1800 kritischen Zuschauern für ihn ein Spru delbad. Er saß in seiner Garderobe, gelassen und ent spannt wie immer, und trank Champagner. Wenn ihn die Kellner fragten, ob er lieber eine kleine oder eine große Flasche hätte, sagte er stets: „Eine halbe bitte, ich bin auch nur eine halbe Portion." Später, nachdem sie geduscht und sich umgezo gen hatten, kamen Cantani und die Wienerin zu ihm. „Was ist die Steigerung von sensationell", fragte der Italiener. „Fantastisch", rief Mariette begeistert. „Beschissen", sagte Gigan. „Was hast du? Bist du krank?" „Im Gegenteil, ich fühle mich glücklich wie 48
einer, dem man gesagt hat: Du bist ein Genie. Aber eigentlich bin ich nur ein dressierter Affe." Cantani zog einen Hocker heran. „Eben kam der Boß der Tourneedirektion zu mir. Sie möchten in Washington verlängern. Drei Abende. Sie legen zehntausend Dollar drauf." „Mir egal." „Von der Westküste telegraphieren und telexen sie wie die Verrückten. Aus Los Angeles, San Franzisko, San Diego, von überall hagelt es Ange bote. Wir kriegen an Gage, was wir fordern, Junge." „Macht, was ihr wollt", sagte der Zwerg. „Nein, was du willst, Gigan." Sie rechneten mit seiner Zustimmung, denn Cantani hatte längst abgeschlossen. Dafür nahmen sie alles in Kauf. Gigans neue Starallüren, sein geheimnisvolles Treiben in den Nächten und daß er kaum noch mit ihnen redete. Hauptsache, er war voll da, wenn sich der Vorhang hob. Auf der Bühne wurde der Kieme immer besser, sofern eine Steigerung überhaupt möglich war. Wußte der Teufel, wo er das alles hernahm, diese Kraft, dieses Konzentrationsvermögen, diese Kom binationsgabe und seine nahezu übersinnlichen Fähigkeiten. „Gehen wir essen?" fragte Mariette. „Ohne mich", antwortete Gigan. „Dann bis später." „Bis zum Frühstück", sagte Cantani. Gigan saß vor dem großen Garderobenspiegel und schminkte sich ab. Da er sie im Spiegel sah, sprach er mit ihnen, ohne sich umzudrehen. Als sie gingen, blickte er ihnen noch einmal nach. „Aber wartet nicht auf mich." 49
Er fügte dies hinzu, weil er jetzt schon wußte, daß er nicht mit ihnen frühstücken würde, daß er es nie mehr tun würde, ja, daß sie ihn nie wieder, auch nicht für eine Sekunde, zu Gesicht bekämen. - Es war soweit. Die blonde Wienerin und Cantani waren nur Figuren einer kurzen Episode in seinem Leben. Sie bedeuteten nichts für ihn. Diese wenigen Wochen mit ihnen waren nur Mittel für seine Zwecke gewesen. Und was ging ihn die Welt dieser weißen Riesen schon an. Es war nicht die seine. Gigan leerte das Glas, steckte sich eine filterlose Zigarette an und ließ sich vom Garderobier in Mantel und Hut helfen. „Ist eine verdammt heiße Nacht, Mister Gigan", bemerkte der Schwarze. „Kleine Leute sind wie kleine Vögel", antwortete der Zwerg. „Sie frieren rasch und verhungern schnell." Er verließ den weiträumigen Theaterkomplex durch einen der Hinterausgänge. In seinem wat schelnden Entenschritt eilte er bis zur nahen Telefonkabine und drückte dort eine neunstellige Nummer in die Tastatur. Wie immer hatte er Probleme damit. Um den Hörer zu kriegen, mußte er sich strecken, und beim Wählen mußte er sich gar auf die Zehenspitzen stellen. Aber dann war die Verbindung da. „Ich bin bereit, Gentlemen", sagte er. „Ich schicke den Wagen", versprach der Mann am anderen Ende des Drahtes.
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In einem der Chefbüros im obersten Stockwerk des Pentagon wurde aufgelegt. Der Viersterne-General im linken Sessel hob das Kinn. „Nun?“ „Ich wußte, daß er sich heute meldet, Sir." „Und?" „Absprang diese Nacht." Ein anderer Offizier erhob sich vom Clubsofa und begann, über das Haustelefon eine Reihe von Anweisungen herunterzuschnarren. Es handelte sich um stabsmäßig vorbereitete Pläne mit Code nummern und die Stichworte für deren sofortige Ausführung. Es war wie beim Beginn einer Großoffensive. Die Aufklärer und Spähtrupps waren zurückgekehrt, die Feindlage war bekannt. Nun erhielt die Artille rie Befehl zum Feuern. Die Bomber rollten zum Start, die Panzer ließen die Motoren an, die Infanterie machte sich fertig zum Sturm. Nachdem der Oberst aufgelegt hatte, meldete er: „Es läuft, Sir." Der verantwortliche Pentagonchef, General Joe L. Pastor, der nichts so sehr schätzte wie Präzision, fragte: „Was läuft alles?" „Der gepanzerte Wagen ist unterwegs, um ihn aufzunehmen. Das Haus in Illinois, vielmehr unsere Festung Fort-X ist bereit zur Aufnahme. Die Experten aller Fachrichtungen werden noch in dieser Stunde alarmiert. Sie warten auf das Signal Durchführung und begeben sich aus allen Landes teilen nach Fort-X." „Was für Wissenschaftler?"
„Zunächst Mediziner und Psychologen. Ihnen
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folgen die Geisteswissenschaftler, Philosophen, Religionswissenschaftler, diesen wiederum die sprachkundigen Philologen. Abgelöst werden sie vom Gros der Physiker, Mathematiker und Chemi ker, der Geologen, Biologen, der Techniker aus den Bereichen Elektronik, Elektrotechnik und Maschi nenbau bis hin zu den Metallurgen. Koordiniert wird alles von einem unserer erfahrensten Verhör fachleute, Professor Silberman." „Von der CIA." „Er kommt aus Langley, Sir." „Mußten wir den Geheimdienst einweihen?" „Er war nicht zu umgehen, Sir. Auch einige Leute beim FBI mußten unterrichtet werden. Und zwar wegen Stufe römisch zwei von Plan Null vier." „Stufe zwei, Plan Null-vier", stellte sich der General ahnungslos. „Gigan", fuhr ein anderer - der einzige Zivilist im Raum - fort, „muß ja verschwinden, Sir." „Mit seinem Einverständnis hoffentlich." „Auf seinen Wunsch hin, General." „Und wie dachte man sich das?" „Da sich kein Mensch in Luft auflösen kann", wurde erläutert, „wurde bereits die Leiche eines chinesischen Zirkusliliputaners besorgt, der letzte Woche in Mexiko von einem Löwen angefallen und getötet wurde. Man hat gewisse Manipulationen an dem Körper vorgenommen, die dafür sorgen, daß man ihn für den Gigan hält. - Um das lückenlos durchziehen zu können, war die Mitwirkung von FBI und einiger Staatsanwälte, die die Leiche sofort zur Bestattung - in diesem Falle zur Feuer bestattung - freigeben, unabdingbar." Der General nahm eine dicke Zigarre, eine grüne 52
Havanna, aus einer Sandelholzkiste. Er biß sie oben ab und ließ sich Feuer geben. Dann musterte er die Runde. „Ist garantiert, Gentlemen, daß die CIA keinen Anspruch auf alleinige Behandlung dieser top secret-Sache erheben wird?" „Das wurde abgesprochen. Wir lassen dem Geheimdienst allerdings relevante Erkenntnisse zufließen. Daß er sie erhält, ist durch den ober sten Verhörleiter, Professor Silberman, gewähr leistet." Der General produzierte blaue Schwaden, Ihm war zu verdanken, daß im Pentagon auch jetzt noch, wo alle Raucher mit hexenjagdähnlicher Hysterie verfolgt wurden, ungehindert gequalmt werden durfte. „Dann ist ja wohl alles in Butter", äußerte er, „wie mir scheint. Vorletzte Frage: Wie nahm das Bürschchen Kontakt auf?" Der zweite Mann im Pentagon brauchte einen Schluck Kaffee. Zwar hatte er dem General schon einmal alles dargelegt, aber schließlich hatte Pastor noch andere Sachen im Kopf. „Er besaß meine Nummer." „Wurde er einfach durchgestellt?" „Meine Privatnummer, Sir. Die für meine Ranch in Ohio." „Und Sie dachten nicht an einen üblen Scherz?" „Zunächst schon. Aber bei seinem dritten Anruf nicht mehr. Er erzählte mir ein paar Dinge, sowohl politischer wie rüstungstechnischer Art, die nicht einmal ich wußte. Dann arrangierten wir einen Vortreff in Chicago. Gigan wurde von uns abge checkt. Der Check verlief positiv super luxus. 53
Schließlich kam es zu der Vereinbarung, derentwe gen wir hier sitzen." „Was verspricht man sich von dem Burschen?" bohrte General Pastor. „Soviel", meinte der Zivilist, „wie bei einem Menschen von einem anderen Stern." „Ist das nicht ein bißchen übertrieben? Ich bin Soldat, Gentlemen, und Soldaten sind Realisten." „Lassen wir uns überraschen, Sir." Der General tat sich schwer, die Aktion Gigan mit seinem militärischen Denken in Einklang zu bringen. Aber er gab sich Mühe. „Amerikaner ist er nicht." „Ein Artist mit dunkler Herkunft, Sir." „Welche Sprachen spricht er?" „American English ohne Akzent." Der General deutete seine Zustimmung durch Kopfnicken an, dann verließ er ladestockgerade das Office seines Stellvertreters. Schon im Gehen sagte er noch: „Sehen Sie zu, daß der Bursche unbeschädigt in unsere Hände gelangt. Daß noch andere Interes senten hinter ihm her sind, ist anzunehmen. Wenn nicht, dann wäre er nichts wert. Und noch etwas: Ich möchte mir das Wunderkind ansehen, und zwar durch eine innenverspiegelte Scheibe mit fünf Zentimeter Panzerglas." Joe L. Pastor war kein furchtsamer Mann, aber daß irgendwelche Kräfte von diesem Zwerg aus gingen, war nicht von der Hand zu weisen. Und einer mußte ja klaren Kopf behalten.
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Während die Medien mit Nachrichten und Vermu tungen über Gigans Verschwinden voll waren, schwärmten Kohorten von Polizisten, Reportern und Privatdetektiven aus, um ihn zu suchen. Als es der FBI-Spezialabteilung für geraten schien, dem Treiben ein Ende zu machen, sorgte sie dafür, daß in der Nähe von Indianapolis, im Staat Indiana, die Leiche eines menschlichen Zwerges gefunden wurde. Der Mann war bis zur Unkenntlichkeit verstüm melt. Er trug aber Gigans Maßkleidung, von den Schuhen bis zum Hemd, seine goldene Mond phasenuhr und seinen Ring. Einen lupenreinen Zweikaräter, in Platin gefaßt. Ein Geschenk der internationalen Magierloge. Endlich wurde es still um Gigan. Die Stories über ihn verschwanden aus den Zeitungen und Magazinen, was den Leuten in Fort-X nur recht sein konnte.
In den ersten Tagen seines Aufenthaltes dort war Gigan wie ein Gast behandelt worden. Er las alles über sein vermeintliches Ende, verfolgte die Nach richten der Radio- und Fernsehstationen und ver hielt sich im übrigen äußerst kooperativ. Eines Tages fragte er Professor Silberman beim abendlichen Kamingespräch: „Wann fangen wir an, Professor?" Der untersetzte Wissenschaftler mit der alles beherrschenden Hornbrille auf dem blassen All tagsgesicht antwortete: „Sobald Sie bereit sind." Gigan trank sein Glas Champagner und rauchte seine filterlose Zigarette. 55
„Genaugenommen hat es längst schon angefan gen Richtig?" Silberman, der Mittfünfziger, weißhaarig schon und gütig wirkend, nickte. „Wir kamen überein, stets offen und loyal mit einander umzugehen." „Möglichst", schränkte Gigan ein, was Silberman gern als Ausdruck von Ehrlichkeit wertete. „In den letzten Tagen konnte ich mir ein gewis ses Bild über Sie machen, Gigan." „Und wie sieht es aus, bitte?" „Wie ein grobgerastertes Mosaik. Ich habe Ihre erste Schicht noch kaum berührt, geschweige denn durchstoßen. Und ich vermute darunter noch Tau sende von Schichten," „Sie überschätzen mich, Sir." Silberman winkte ab. „Überschätzen bedeutet in Ihrer Sprache, in Ihrer Art zu untertreiben, genau das Gegenteil, nämlich, daß ich Sie eher unterschätze." In dieser Nacht diktierte Silberman auf sein Magnetbandprotokoll, das täglich allen Verant wortlichen zuging: „Gigan ist ein hochqualifizierter Spezialist des geistigen Nahkampfes." Mit Gigans Einverständnis begann nun die medi zinische Untersuchung. Er ließ alles klaglos über sich ergehen, auch die unangenehmen, oft schmerzhaften Maßnahmen, die damit verbunden waren. Er wurde vermessen und geröntgt. Sein Kno chengerüst wich in den Proportionen von dem eines Durchschnittsamerikaners stark ab. Aber es enthielt nahezu alle Bestandteile eines solchen, wenn auch weitgehend deformiert oder minimiert. 56
Seine Atem- und Pulsfrequenz wurde ermittelt, ebenso Lungenvolumen, Herzvolumen, Puls in Ruhelage und unter Belastung. Sein Verdauungs- und entwasserndes Kanalsy stem wurde durchgespiegelt, Nieren- und Leber werte, Gallenfunktion, Zusammensetzung der Magensäure und der Darmflora getestet. Die Blut- wie die Gewebeanalyse nahmen meh rere Tage in Anspruch, sie erfolgten jedoch parallel zu anderen Maßnahmen. Sie entnahmen ihm Knochenmark und Gehirn flüssigkeit, maßen Gehirnströme, nahmen alle nur denkbaren Diagramme von Strömen jeder Art. Sie machten Angiographien, um sein Adersystem sichtbar zu machen, und täglich mehrmals Herz diagramme. Sie prüften sein Gehör, seine Sehkraft, den Augeninnendruck, die Zeichnung der Iris. Sie spiegelten die Netzhaut ab, fertigten Hunderte von Fotos und Millionen von Computerdaten an. Irgendwann kam der Moment, wo sie ihn besser zu kennen glaubten, als irgendeinen Menschen auf dieser Erde. Aber nur, was seine Physis betraf, seinen Organismus, seinen Körper. „Eines wäre noch zu prüfen", referierte der leitende Mediziner. „Aber das geht nicht ohne große Operation." „Er würde gewiß einverstanden sein." „Wir wissen aber nicht, wie unsere herkömmli chen Narkoseverfahren bei ihm einschlagen." „Bisher zeigte er nicht einmal bei der Entnahme von Rückenmarkflüssigkeit Schmerzreaktionen." ,Ja, das ist in der Tat äußerst seltsam. Er verfügt über ein Nervensystem wie wir, aber offenbar ohne Schmerzsignale. Ob er die Fähigkeit besitzt, Schmerzen einfach abzuschalten?" 57
„Das ist eher ein psychisches Problem. Die Neurologen und Psychologen sind morgen dran." „Okay", schlug der Chefmediziner vor. „Stellen wir die Sache mit der Operation zurück, setzt sie aber als Diskussionspunkt Nummer eins beim nächsten Round-table-Gespräch an. Wann findet es statt?" „Montag." Der Chefmediziner sprach, ehe er seine Erkennt nisse zum Diktat gab, alles auf Band, und zwar in konzentrierter Form. Die Verantwortlichen lasen nicht gerne hundert Seiten. Sie hatten es am liebsten auf einem einzigen Blatt. Zusammengefaßt lautete seine Meinung über Gigan: - Ein Wesen mit weitgehend irdischem Organis mus, abgesehen von einigen noch nicht erklärbaren Komponenten. Im Pentagon wurden diese Erkenntnisse mit außerordentlichem Interesse verfolgt. Die tägliche Meldung aus Fort-X wurde bald höher gewertet als etwa das ärztliche Bulletin über einen schwerkran ken Staatschef. Der Verteidigungsminister befaßte sich persön lich damit Meist spät in der Nacht rief er den Pentagonchef an. „Neuigkeiten von Gigan dem Schrecklichen?" „Morgen beginnen die psychologischen Tests." „Was ist zu erwarten, General?" „Ein Lebewesen, wie wir es wohl noch nie auf Erden eingefangen haben, Exzellenz." „Was heißt eingefangen haben? Dachte, er wäre von selbst zu uns gekommen." „Und das, Sir", gestand General Joe L. Pastor, 58
„ist eines der großen Rätsel, die es noch zu lösen gibt. Warum ging er ausgerechnet zu uns und nicht in den Moskauer Kreml." Der Minister lachte. „Weil wir eben doch die Qualifizierteren sind, General. Gute Nacht, mein Lieber."
5. Beim japanischen Geheimdienst Kempetai in Tokio wurden gewisse Vorgänge mit Aufmerksamkeit, aber auch mit Sorge beobachtet. Japaner waren immer dann besorgt, wenn sie fürchteten, sie könnten auf irgendeinem techni schen Gebiet überrundet werden. Diesmal glaub ten sie, Anlaß dafür zu haben. Aber noch waren die gemeldeten Vorgänge zu vieldeutig, zu ungenau die sich daraus ergebenden Schlüsse. Spät abends noch suchte General Kogyo das Labor seines Chefanalytikers auf. Die Wände des Raumes bestanden zu neunzig Prozent ihrer Fläche aus Geräten für elektronische Datenverarbeitung, was auch immer man an Ter minals, Bildschinnen, Rechnern und Druckern darunter verstand. Doch keine der Maschinen war in Betrieb. An einer schmalen Arbeitsplatte, erhellt von einer gewöhnlichen Bürolampe, saß ein Mann im weißen Mantel und zeichnete. Was er zu Papier brachte, ähnelte einer Kreuzworträtselfigur, einem unregelmäßigen Gebilde aus kleinen Vierecken. Die Vierecke waren zum Teil bunt, zum Teil schraffiert, und manche davon beschriftet. Aber viele von ihnen waren einfach weiß und leer. 59
„Noch an der Arbeit, Doktor Nasaki." Der Angesprochene schien so in seine Arbeit vertieft, daß er zusammenzuckte. Höflich lüftete er sein Hinterteil vom Stuhl, deutete eine Verbeugung an und setzte sich wieder. Er war älter als der General. Der tief ve rrunzelten Haut nach zu urtei len, weit über sechzig. Trotz der dicken Brille benutzte er für seine Arbeit noch ein Vergrößerungsglas. Handteller groß, wurde es von einem biegsamen Metallarm in Position gehalten. „Die Computer schaffen es nicht", klagte der Wissenschaftler. „Wie sieht es aus, Doktor?" „Computer haben keine Fantasie", fuhr Dr. Nasaki fort. „Sie können in Mikrosekunden Millio nen von Rechenvorgängen bewältigen, aber immer nur Vorgekautes fressen. Vielleicht gibt es eines Tages Geräte mit menschlicher Intelligenz. Aber bis dahin lebe ich nicht mehr. Und weil es so ist, muß ich mein Gehirn in Tätigkeit setzen, wenn eine außergewöhnliche Aufgabe anfällt." „Wie sieht es aus, Doktor", wiederholte der General. Kogyo hatte sich gesetzt und war im Begriff, sich einen seiner dünnen langen Zigarillos anzustecken. Er hatte schon das Streichholz an die Reibfläche gesetzt, als ihn der vorwurfsvolle Blick seines Chefanalytikers traf. „Pardon, Sie mögen das ja nicht, Doktor." „Ich mag es schon", gestand der kahlköpfige Experte. „Ich mag es so sehr, daß ich in meinem Leben ungefähr siebenhundertfünfzigtausend Glimmstengel in Rauch aufgehen ließ. Nur ver trage ich es jetzt nicht mehr. Meine Bronchien sind 60
übersensibilisiert. Oder anders ausgedrückt, die Ärzte nehmen an, daß ich Lungenkrebs habe. Ist aber nicht ansteckend, General Kogyo, höchstens tödlich." Der General kannte seinen obersten Eierkopf. Er beliebte manchmal zu scherzen. Als Scherz wertete er auch, was Nasaki jetzt von sich gab. „Zweifelsfrei ein Ufo." „Eine fliegende Untertasse, meinen Sie?" „Ich meine nur nach, was die anderen vormei nen. Oder anders, wenn militärische Lagebeurtei lungen der NATO dahingehend lauten, daß es sich bei dem unbekannten Flugobjekt, das Europa von Norden her überquerte, nicht um einen Meteor, nicht um ein Flugzeug und nicht um ein meteorolo gisches Phänomen handelt, dann kann es sich nur noch um ein Gebilde der Fantasie handeln, oder um ein Ufo." „Radarstationen messen keine Fata Morgana oder?" „Was bleibt also übrig, General?" „Ein Ufo." „Und. die gibt es laut Feststellung der Weltluft fahrtbehörde nicht. Deshalb kollabierte auch der Computer, und deshalb sitzt hier ein menschliches Gehirn und bastelt an seiner Stelle weiter." Der General lutschte an dem kalten Zigarillo herum. „Und was denkt das Gehirn?" „Zunächst verfolgt es die Bahn des Objekts, wie sie aus den verschiedenen Meldungen zu rekon struieren ist." „Wo kam es her, wo flog es hin?" „Nun, es bewegte sich spiralförmig vom Pol her 61
über die Nordhalbkugel. Es wurde zuerst in Schweden oder Finnland registriert, dann über sowjetischem Küstengebiet, der Ostsee, der DDR, der Bundesrepublik Deutschland und in der Schweiz. Dort bog es dann, einen scharfen Haken schlagend, nach Osten, Richtung Italien, ab und wurde nie mehr gesehen." Sie diskutierten den Vorfall durch und kamen automatisch zu jenem Punkt, der diese Himmelser scheinung für sie wichtig machte: Was waren die auslösenden Momente und wie lautete die Schluß folgerung daraus? „Fast zur gleichen Zeit", fuhr Dr. Nasaki fort und deutete dabei auf verschiedene Quadrate sei ner künstlichen Denkfigur, „tauchte ein anderes Phänomen auf." Der General war einigermaßen im Bilde, zumin dest über das Gröbste. „Dieser Gigan." Dabei rollte Kogyo den Zigarillo so aufgeregt zwischen den Lippen, daß Dr. Nasaki sagte: „Entweder essen Sie das Ding endlich auf, oder Sie stecken es an." Das tat der General erleichtert und folgte weiter den Darlegungen seines Oberdenkers. „Also wieder zu Gigan. Dieser knapp einen Meter kleine Liliputaner, der sich Zwerg nennt, fing etwa 1975 als Jahrmarktzauberer, als Illusio nist, an. Bald wurde er zu einem der berühmtesten Bühnenwahrsager. Er errät Gegenstände, Farben, Formen, alles mit verbundenen Augen. Unterstützt von zwei Assistenten verblüffte er durch Aufzählen von Details in Handtaschen, in verschlossenen Umschlägen und machte mitunter erstaunliche Vorhersagen. Natürlich alles nur Tricks. Seine 62
Vorhersagen sind aufgebaut auf Recherchen unter Benutzung der Gesetze der Wahrscheinlichkeit. Gigan starb, wie man hört, an seinem ungeheuren Geschlechtstrieb. Aber nahezu übergangslos war ein neuer Gigan zur Stelle. Im Aussehen wie der alte, in den Fähigkeiten um eine Zehnerpotenz besser. Man munkelt, Gigan sei gar nicht bei einer Nutte gestorben, alles sei nur Public Relations. Nun, über Geschmack läßt sich nicht streiten, aber daß so schnell ein Gigan Nummer zwei auftauchte, ist schon recht sonderbar. Die einen behaupten, er sei der Original-Gigan, andere, er sei Gigans Bruder. Nun, es gibt eine Menge Gerüchte." „Und die Wahrheit?" fragte der leicht beleibte General, Seine Gesichtsfarbe war ein wenig gelber als bei Japanern üblich. Denn auch Japaner hatten unter schiedliche Hauttönungen, besonders dann, wenn sie an Galleproblemen litten. Dann pflegte man in Japan zu sagen: Er ist gelb wie ein Chinese. Der Wissenschaftler atmete den würzigen Duft von Kogyos Zigarillo tief ein und fuhr fort: „Die Wahrheit ist leider ein Konglomerat aus vielen Zutaten, und deshalb nicht als solche zu bezeichnen. Leider haben wir aber keine andere." „Lassen Sie hören, Doktor!" „Es ist mehr eine Story, - Dieser neue Gigan also heimste sofort Riesenerfolge ein. Er trat mit seinen Assistenten eine Amerika-Tournee an, gab in New York, Boston und Chicago eine Reihe sensationeller Gastspiele und verschwand eines Abends spurlos." Der General holte einen langen Zug aus dem Zigarillo, der gar nicht mehr aufhörte zu glühen. 63
„Das ist nicht das Ende der Story. Wenn es das Ende wäre, würde es uns nicht so nervös machen." „Man fand seine Leiche." „Ist er es auch?" „Wenn amerikanische Behörden eine Leiche prä parieren, kann man sich darauf verlassen, daß sie professionell rangehen." „Warum sollten sie das tun?" „Um den kleinen Mann allein für sich zu haben." „Wer? Das Federal Bureau of Investigation oder die Central Intelligence Agency?" „Das Verteidigungsministerium, das Pentagon", ergänzte der Wissenschaftler. Von seiner Stellung als Kempetai-Chef her war der General dazu verpflichtet, daß er stets Zweifel anmeldete. „Ist das nicht alles fürchterlich weit hergeholt? Ich meine, aus hundert Ecken zusammengekratzt." Der Wissenschaftler deutete mit der Spitze sei nes Bleistiftes auf eines der Kästchen seiner Denk hilfefigur. „In derselben Woche, nur einige Tage vorher, starb in einem chinesischen Wanderzirkus in Mexiko ein Liliputaner. Er war Gehilfe des Löwenbändigers. Der Löwe war wohl hungrig und dachte, der kleine Bursche sei eine willkommene Mahlzeit. Er richtete ihn so fürchterlich zu, daß er starb. Der Zirkus verkaufte seine Leiche an irgendeine medizinische Universität." „ . . . die es gar nicht gibt", kombinierte Kogyo. „Der sowjetische Geheimdienst KGB, der die Sache angeblich auch verfolgt, fragte bei allen medizinischen Fakultäten Mexikos und deren pathologischen Abteilungen nach. Die Leiche des toten Liliputaners blieb unauffindbar. Aber der 64
Tote war neunundneunzig Zentimeter lang. So lang wie Gigan." Der General drückte fluchend seinen Zigarillo aus. „Also lebt Gigan." „Vermutlich ja. Das Pentagon lieferte eine Lei che. Die Leiche wurde verbrannt. Ergebnis: Keine unangenehmen Nachforschungen mehr. Das Penta gon kann den Burschen in aller Ruhe ausquetschen und auseinandernehmen." „Aber wozu?" fragte Kogyo. „Was kann er wissen?" Dr. Nasaki deutete auf einige seiner Kästchen, die nur mit den Ecken aneinanderhingen. Die Figur wirkte an dieser Stelle sehr instabil. „Gigan stirbt", murmelte er. „Ein neuer Gigan taucht auf. Er ist zur Stelle, als ein Ufo - oder nennen wir es Raumschiff - von einer anderen Galaxie die Erde überquert, und zwar im Tiefflug. Ist das Ufo gelandet? Hat es Gigan II ausgespuckt? Hat er die Stelle seines plötzlich verstorbenen Bruders eingenommen, um auf diese Weise in die USA zu gelangen, und dort ins Pentagon?" „Warum flog ihn das Raumschiff nicht direkt auf den Pentagon-Parkplatz?" wandte der General ein. „Sollte Gigan sich womöglich erst assimilieren, sich auf irdische Bedingungen einstellen? Wer weiß. Nicht einmal der Teufel weiß es, General." „Vielleicht nicht einmal Buddha, der Allwi s sende", befürchtete Kogyo. „Und die Konsequenz daraus, Doktor?" Man muß immer den extrem ungünstigsten Fall annehmen." „Eine so vertrackte Lage spielten wir nicht 65
einmal auf der Kriegsakademie durch", bemerkte der General. „Angenommen, er käme aus dem Weltraum. Dann besitzen die Leute, die ihn auf unsere Erde sandten, die notwendige Technik dazu. Eine Tech nik, die der unseren um Jahrhunderte voraus ist. Das bedeutet, wer diesen Burschen hat, erfährt von ihm Dinge, die ihn mit einem riesigen Sprung nach vorn bringen." „Und uns zurückwerfen." „Bis ins technische Mittelalter. - Aber warum wählte er die USA als Partner?" fragte der Wissen schaftler ratlos. General Kogyo erhob sich ächzend. Er brauchte dringend ein heißes Bad mit Massage. Er klopfte Dr. Nasaki auf die Schulter. „Gut gedacht bis hierher", lobte er. „Man wird einiges tun müssen. Und zwar blitzschnell."
Das weltweite Informationssystem des Kempetai wurde aktiviert. Dies erfolgte nahezu auf Knopf druck. General Kogyo badete am Morgen gemeinsam mit dem Chef des Miti, dem Minister für Wissen schaft und Forschung. Nachdem flinke Mädchen die Einseif- und Mas sageprozedur beendet hatten und von anderen ihre Glieder mit Reisigbündeln weich geklopft worden waren, saßen sie bis zum Hals im Warmwasserbek ken. Der Miti-Chef jammerte wie stets. „Wir sind ein Land ohne Ressourcen, ohne Bodenschätze, ohne ausreichende Basis, um uns zu ernähren. Wir müssen exportieren, oder wir gehen 66
unter. Bisher konnten wir billiger produzieren. Doch darin unterbieten uns jetzt die Koreaner. Also müssen wir besser sein, moderne Produkte anbieten. Dafür haben wir Denkfabriken. Aber wir halten den Vorsprung nicht, wenn den Amerika nern möglicherweise alles geschenkt wird, woran wir noch hundert Jahre knobeln müssen. Es ist zwar kaum vorstellbar, was ich höre, aber ..." „Möglicherweise ist es sogar die Wahrheit", bedauerte der General. „Wie bemessen Sie unseren Vorsprung in der Mikroelektronik?" „Nun, wir bauen gerade den 16-Megabit-Chip, während die Deutschen mit großem Getöse in zwei Jahren mit dem Vierer anfangen wollen. In der Entwicklung ist der neue mehrstöckige Chip für vierundsechzig Megabit. Unser Vorsprung beträgt weltweit noch eine Faktor-vier-Generation oder fünf Jahre, würde ich sagen." „Und im Schiff- und Automobilbau, bei der Lust-Elektronik?" „Kein Vorsprung mehr." „In der Computertechnologie?" erkundigte sich der General. „Mit dem System, dem man menschliche Denk fähigkeiten anerziehen möchte, geht es nur müh sam vorwärts." Kogyo hatte eine andere Frage: „Wieviel schneller als die Amerikaner und Euro päer entwickeln wir?" „Etwa um dreiunddreißig Prozent schneller", schätzte der Minister. „Zwei Jahre, wofür die anderen drei brauchen. Dazu müssen wir aber genau wissen, woran die anderen werkeln." „Und was dieser Bursche vom Saturn, Mars 67
oder wer weiß woher - den Pentagon-Leuten alles erzählt." „Wenn man es wüßte, würden wir unsere besten Köpfe in einem Crashprogramm einsetzen", versi cherte der Minister. „Wir verfügen über die Kapa zitäten. Aber man muß die Ziel vorgaben kennen." „Seit drei Tagen kann ich nicht mehr schlafen", gestand der General, „Es wird immer wahrschein licher, daß es sich um etwas in dieser für uns gefährlichen Richtung handelt. Auch andere Geheimdienste entwickeln hektische Aktivitäten. Die Russen, der MI-six, die Deutschen." „Und was tun wir?" erkundigte sich der Mini ster. „Zero zero", stieß der General den alten japani schen Schlachtruf von 1942, als es gegen Pearl Harbor ging, aus. „Unsere Außenstellen sind verständigt?" „Sämtliche Niederlassungen unserer großen Unternehmen weltweit." „Sie wissen, um was es geht?" „In jeder Firma sitzt ein von uns für nachrich tendienstliche Zwecke besonders ausgebildeter Manager. Er ist dazu verpflichtet, alle wichtigen und irgendwie erreichbaren Informationen an die Zentrale in Tokio weiterzuleiten." „Kommt schon etwas? Will sagen, fing sich schon etwas in dem Netz?" „Die Aktion läuft erst seit wenigen Stunden." „Solche Dinge steigern sich meist rasch. Dann geht es um leben oder sterben." „Unsere Leute an der Wirtschaftsfront in Europa und den USA sind harte Burschen. Sie erleben täglich, was es bedeutet, unsere Produkte auf Teufel komm raus verkaufen zu müssen. Sie wer 68
den Augen und Ohren aufsperren und uns unter stützen. Ich bin sicher." „Aber nicht zuversichtlich", wandte der MitiChefein. „Nicht, wenn die Amerikaner eine Weltraumin telligenz eingefangen haben, die uns um Genera tionen voraus ist." „Klingt reichlich utopisch, meinen Sie nicht auch, Kogyo?" „Manchmal werden auch Utopien wahr." „Wie erfuhren Sie von der Sache, General?" „Es gibt da gewisse Berührungen zwischen unse ren Fühlern und den Fühlern der anderen Dienste. Kontakte, Freundschaften, Liebesverhältnisse, geschäftliche Verbindungen. Auf diesem Weg kam etwas herüber. Natürlich auch durch die Auswer tung der Medien." Sie wechselten vom wannen Wasser ins Kalt wasserbecken. Der Schock regte zwar ihren Kreis lauf an, aber er sorgte nicht dafür, daß es ihnen besser ging. Als verantwortliche Männer der drittgrößten Wirtschaftsmacht dieser Erde gingen sie schweren Zeiten entgegen.
6. Nicht, daß sie den Jaguar Mark II, Baujahr um 1960, von Joan Welles alias Lara Redrova bis auf die letzte Schraube zerlegt hätten, aber es gab keinen Kubikzentimeter Material oder Hohlraum, den die Techniker des BND nicht überprüften. Da sie nichts fanden, fragten sie immer drin gender: 69
„Um was geht es eigentlich?" Der Agent Robert Urban, Codenummer 18, der die Arbeiten koordinierte und höchstens auf einen Mokka in Richtung Casino verschwand, wußte es auch nicht genau. Die Italiener hatten die Russin beobachtet, als sie im Aosta-Gebiet auf der Suche nach irgendwel chem Getier unterwegs war. Daß sie Ornithologin sei, war ebenso gelogen wie eine Menge anderer Behauptungen. Um was also war es ihr im Gebirge gegangen Urban gab folgende Parole aus: „Bringt mir alles, was nichts mit einem Automo bil, mit den Reiseutensilien einer Dame und mit Vögeln zu tun hat." Sie waren Männer und konnten sich die Frage nicht verkneifen, wie ein bestimmtes Wort geschrieben würde: mit großem oder mit Meinem V. „Mit scharfem K wie Gustav, Ihr Schweineprie ster", sagte Urban und eilte in sein Büro, um zu telefonieren. Dort sprach er mit dem Leiter des BND-Sanato riums am Staffelsee. „Wie verhält sie sich heute, Doktor?" „Unverändert." „Störrisch, widerspenstig?" „Sagen wir, wie sich ein Starmannequin Män nern gegenüber verhält, die sie für Baumaffen hält." „Was ergab das Gespräch?" „Sie war als Touristin unterwegs und machte Urlaub. Sie arbeitet für verschiedene sowjetische Handelsmissionen als PR-Dame." 70
„Den Zahn werde ich ihr ziehen", versprach Urban. „Aber wann." „Erst muß ich etwas in der Hand haben, einen Haken, an dem ich sie aufhängen kann." „In welcher Form?" „Keine Ahnung. Wir suchen noch danach. Aber sie muß in Italien etwas gefunden haben, sonst hätte sie nicht die Rückreise angetreten." „Vielleicht lag eine Order vor." „Oder die Neugier der italienischen Grenzschüt zer hat sie vertrieben. Daran dachte ich auch schon. Aber zweifellos ist sie hochqualifiziert. Der KGB setzt nicht irgendeine Pißnelke Uschi auf diesen Job an. Behaltet sie im Auge. Wir machen hier weiter." Als Urban wieder in die Garage kam, wo der Jaguar allmählich in seine Bestandteile zerfiel, konnte er am Gesichtsausdruck des Werkmeisters ablesen, daß es nichts zu berichten gab. Urban schaute sich den kümmerlichen Rest des edlen Automobils an, dann seine Einzelteile. Die Türen, Verkleidungen, Sitze, Räder, Radkappen, die Hinterachse, die Batterie, den Zylinderkopf, die Nebenaggregate. Auf einem Tisch lagen säuberlich geordnet Ver teiler, Vergaser, Anlasser, Lichtmaschine, Benzin pumpe, Leitungen, Kabelstränge, das Radio, die Instrumente. „Alles serienmäßig", lautete die Auskunft des Werkmeisters. „Wir gehen streng nach Werkstatt handbuch und Ersatzteilkatalog vor." Urbans Blick fiel auf einen schmutzigen weißen Lappen. Er faßte ihn an und fühlte darunter ein Stück Metall. 71
„Und was ist das?" „Das stammt von der Motoraufhängung, glaube ich. Nichts Lebenswichtiges." „Warum wickelt sie es dann ein und nimmt es mit?" „Wer kennt schon die Frauen." „Niemand", befürchtete Urban. „Wir glauben . . .", setzte der Kraftfahrzeugex perte an. „Glauben heißt, nichts wissen." Urban untersuchte das Stück Material. „Das ist doch kein Aluguß, oder?" „Nein, es ist Stahl." „Paßt es irgendwohin?" „Konnten wir nicht feststellen." „Warum wird mir das nicht sofort gemeldet?" Der Meister wand sich. Sie hatten es tief im Kofferraum gefunden, eben erst. Der Wagen sei fünfundzwanzig Jahre alt, hatte gewiß eine Masse Vorbesitzer. Als er gebaut wurde, dürfte die jetzige Besitzerin gerade erst geboren worden sein. - Was blieb nicht alles in so einem Schlitten zurück. Das Material hatte einen merkwürdig bläulich silbrigen Schimmer. Ohne Kommentar eilte Urban damit zur BND-Technik, zu Professor Stralman. Der weißhaarige Herr mit dem Zwicker, Typ Oberstudienrat, kam aufgeregt den gefliesten Kor ridor der TW-Abteilung herunter auf Urban zu. „Schon gehört?" „Natürlich." Das Neonlicht warf kaum Schatten. Da man rosastrahlende Lampen gewählt hatte, vermittelten sie jedem eine übertrieben gesunde Hautfarbe. „Was, natürlich?" 72
„Kölnisch Wasser soll gar nicht in Köln, sondern in Düsseldorf erfunden worden sein." Der Professor legte seinen Arm väterlich um Urbans Schultern. „Die Amerikaner sollen sich einen Mann einge fangen haben, der nicht von der Erde, sondern aus dem Weltraum stammt." „Genau das meinte ich ja." „Gelandet mit einem Ufo." „Gibt gibt es doch laut Feststellung der interna tionalen Luftfahrtbehörde nicht." Der Professor ging mit Urban in sein Büro und schloß die Tür. „Du bist zu Scherzen aufgelegt, mein Junge." Wortlos legte Urban das Stück Material aus dem Jaguar vor Stralman auf den Schreibtisch. Der Professor - vermutlich waren die Gläser seiner Brille schon wieder zu schwach - beugte sich vor. Er betrachtete das Ding von allen Seiten, betastete es und wog es in der Rechten. „Leichter als Aluminium." „Leichter als Magnesium", ergänzte Urban. Stralman, der erfahrene Praktiker, nahm seinen Brieföffner aus poliertem Klingenstahl und ver suchte, das scherbenähnliche Materialstück zu rit zen. Die Spitze hinterließ keine Spuren. „Härter als Stahl", stellte er erstaunt fest. „Was ist so leicht und doch härter als Stahl? - Eigent lich nur Titan. Aber Titan fühlt sich anders an." Stralman machte eine weitere Probe. Mit dem Brillanten seines Ringes kratzte er über das Mate rial, um es zu ritzen. Dann nahm er die Lupe. „Nicht einmal der Diamant hinterläßt Spuren. Sehr beachtlich. Kaum zu glauben." 73
„Oder der Diamant ist keiner." „Dieser Freundschaftsring des Scheik von Bah rain", erwiderte Stralman, „den er mir schenkte, als ich ihm versicherte, seine Ölquellen würden noch sprudeln, wenn die letzte seiner Sechsund sechzig Frauen im Harem längst gestorben sei, ist bestimmt keine Imitation." Stralman lehnte sich im Sessel zurück, die Materialscherbe immer noch in der Hand, und schien nachzudenken. Dabei wanderten seine Augen langsam zu dem Chiemseer Bauernschrank, wo seine Tankstelle für anregende Getränke unter gebracht war. Hauptsächlich eigene Obstbrände, in der Feinheit des Geschmacks durch kein anderes Produkt zu unterbieten. Allerdings wurden sie in ihrer brutalen Härte auch durch kein anderes Produkt übertroffen. „Schnaps hilft beim Denken." Urban wußte, daß er schon beim Anblick der Flasche alles tun mußte, um ein Zittern des Kör pers zu vermeiden. Und er war gewiß ein Ausge pichter. Also lenkte er ab. „Wir fanden das Material bei einer KGBAgentin." „Trug sie es in unserem Land einfach so spa zieren?" „Wir nehmen an, sie suchte und fand es." „Wo?" „Möglicherweise in Oberitalien." „Dann hatte sie gewiß eine Spur." „Der man besser folgen kann, wenn man weiß, um was es sich handelt." Stralman schlug vor, den Scherben durch das Labor laufen zu lassen. „Wir nehmen die übliche Materialanalyse daran 74
vor. Prüfung von Atomgewicht, spezifisches Gewicht, von Härte, Hitze- und Kälteverhalten, von Magnet- und Leiteempfindlichkeit, vom Schmelzpunkt und Molekularstrukturen unter dem elektronischen Rastermikroskop." „Und wie lange dauert das?" wollte Urban wissen. „Bis morgen, wenn wir sofort drangehen." „Ich müßte das Stück aber bis zum Nachmittag wiederhaben." Wenn Urban dies behauptete, dann war es unumgänglich. Stralman fragte nicht nach den Gründen. „Uns genügt schon ein Quadratzentimeter." Er verschwand in einem der Labors, die das zweitausend Quadratmeter große Basement zu einer kleinen, aber hochwirksamen Forschungs und Entwicklungsanstalt machten. Urban steckte sich eine MC an. Er drückte sie gerade aus, als Stralman wieder auftauchte. Er reichte Urban das Metallstück. „Siehst du etwas?" „Nein." „Das hat uns auf die Schnelle zwei superteure Diamantbohrer, eine Diamantschleifscheibe, einen Diamantfräskopf und mehrere Sägeblätter aus Widia-Stahl gekostet. Sind alle hin. Und das Ergebnis ist Null. Die benutzten Werkzeuge wären durch jedes auf Erden bekannte Material wie durch Butter gegangen." „Haut doch mal mit dem Hammer drauf, scherzte Urban. „Wir hatten es in der Biege- und Zerreißma 75
schine, und ich bin sicher, daß es bei der Beschuß probe nicht im geringsten reagiert." „Wie verhält es sich unter Schweißbrenner und Laserkanone?" „Es kommt nicht einmal zum Glühen." Urban sah ein, daß die Prozedur, um hinter das Geheimnis dieses Materials zu kommen, wohl etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen dürfte. Aber er brauchte das Ding. „Haben Sie etwas ähnlich Aussehendes herum liegen, Professor?" fragte er. Sie suchten und fanden ein Stück Titanstahl, mit dem sich eine Täuschung vornehmen ließ. Voraus gesetzt, man stellte es geschickt an. Damit fuhr Urban hinaus zum Staffelsee.
Kaum hatte Urban den Ortskern von Wolfratshau sen hinter sich, als das Autotelefon summte. Er hob ab. und fuhr langsamer. Der Kollege vom Münchner Ableger des Verfas sungsschutzes war am Apparat. „Die Teilnehmer, die zu den zwei Rufnummern gehören, sind überprüft." „Ergebnis?" „Kleine Fische. Zwei Polenauswanderer, mit Münchnerinnen verheiratet. Sie haben wohl noch Angehörige in Warschau und wurden so ein wenig unter Druck gesetzt." „Für Spionage? „Dazu sind die zu dämlich. Was sollten sie auch spionieren. Der eine ist Betonierer, der andere Baggerführer. Sie haben das zu leisten, was wir im 76
Fachjargon die niederen Handreichungen von Sympathisanten nennen." „Also Spann- und Fuhrdienste." „Sie bringen mal einen durchreisenden Agenten nachts an die Zonengrenze, bieten ihm für Tage Unterschlupf, versorgen einen, der in Schwierig keiten ist, mit ärztlicher Hilfe et cetera." „Sonst aber sind sie völlig harmlos." „Nachdem, was wir täglich erleben, ziemliche Softies." „Zur Festnahme besteht also kein Grund." „Kaum. Man hat sie, wenn sie erst enttarnt sind, besser unter Kontrolle. Und was willst du mit ihnen machen, sie einsperren? Was das bloß kostet! Oder anklagen und einen Prozeß führen? Das zieht sich ewig hin und bringt nichts. Sie nehmen sich einen Anwalt und nennen ihre Dienste humanitäre Hilfeleistung. Wir haben das tausendmal durchex erziert. Natürlich könnte man sie ausweisen. Aber für zwei, die man rauswirft, kommen zwanzig andere herein. Das ist nun einmal so bei unserer Gesetzeslage." Urban hatte noch eine Frage: „Durchreisende Sowjettouristen beherbergen sie wohl nicht." „Nein, es dürfte sich im Regelfall um Agenten handeln." „Und im Ausnahmefall?" „Um noch größere Kaliber als Agenten." Urban bedankte sich. Zwanzig Minuten später öffnete man ihm das schmiedeeiserne Tor in der zwei Meter hohen Mauer, die das Sanatorium umgab. Dies allerdings nur hufeisenförmig. Die Seeuferseite war allein durch Stacheldraht geschützt. 77
Auf dem Weg zu Lara Redrovas Appartement, das sicher war wie eine Gefängniszelle, sagte der Arzt: „Sie wird wieder Kopfschmerzen vorschützen." „Dann nehme ich ihr den Wind aus den Segeln und habe auch Kopfschmerzen." „Zwei Einäugige, ich verstehe." Der Arzt reichte Urban eine schmale Folienpak kung. „Tabletten haben wir ihr bis heute nicht verab reicht." Urban las den Aufdruck und steckte den Streifen Lara Redrovas Gefängnis bestand aus drei Räu men: Salon, Schlafzimmer und Bad. Es hatte sogar einen Fernseher und nicht einmal Gitter. Aber die Fenster bestanden aus eisernen Rahmen mit Pan zerglas. Die Russin lag apathisch auf dem Bett. Sie schien Urbans Kommen nicht zu registrieren. Die Augen hatte sie fest geschlossen. Er ließ ihr Zeit. „Das ist Beugehaft", sagte sie endlich. „Man übt Terror aus, indem man mir Medikamente verwei gert. Und das Essen ist auch miserabel." „Ich weiß, KGB-Agenten pflegen nur im Ritz zu speisen", höhnte Urban. „Hier ist eine Tablette." Er drückte eine heraus. Sie buchstabierte erst einmal: „Thomapyrin. - Ich kenne euch doch, ihr Teufel. Das ist irgendein Aussagegift." Urban nahm die Tablette, schluckte sie trocken und gab ihr eine andere. - Zehn Minuten später ging es ihr besser.
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„Wenn wir Sie mit Scopolamin gesprächig machen wollten, dann spritzen wir das," Sie lachte abfällig. „Doch nicht die alten Tollkirschenpräparate", sagte sie, „um Hemmungen zu beseitigen. Da sind wir in Rußland schon viel weiter. Dachte, die Deutschen hielten die Weltspitze in der Phar mazie." Er stand da, schaute sie an und sagte: „Danke!" „Wofür?" „Sie haben damit schon alle wesentlichen Fragen beantwortet, Lara Redrova. Sie kennen Aussage gifte, kennen Scopolamin und waren im Besitz der Telefonnummern von zwei Exilpolen, die Agenten zur Flucht verhelfen. Sie sind KGB-Agentin." „Ich bin Angestellte einer sowjetischen Handels gesellschaft. Sie halten mich ohne Berechtigung fest. Ich protestiere. Ich möchte meinen Botschaf ter sprechen." Urban nickte nur. Es sah weniger zustimmend als nachdenklich aus. „Und wir haben Ihre Fingerabdrücke im Compu ter. Die Prints und ein paar andere Merkmale. Der Computer verglich sie mit den auf Band gespei cherten Merkmalen aller uns bekannten KGBOffiziere im Aktiveinsatz. Er blinkte aufgeregt rotes Licht, als er sie gefunden hatte." „Ich protestiere trotzdem", beharrte sie. „Immer diese verdammten Deutschen. Die Engländer lie ßen mich ungeschoren, die Franzosen, die Schwei zer, die Italiener und Österreicher. Aber ihr wißt es wieder einmal besser. Ist doch idiotisch, immer die Besten, die Klügsten, die Eifrigsten sein zu müssen." „Man hat Sie an uns weitergereicht, Lara 79
Redrova, und wir kamen überein, daß wir das Netz aufstellen für den hübschen bunten Schmetter ling." „Ich bin eine Hornisse. Sie werden meine Stiche noch zu spüren kriegen, Sie Klugscheißer. Nennt man Sie nicht Mister Dynamit? Mister Dynamit sprengt alles, he. Aber nicht Lara Redrova." „Ein neues Steinchen für unsere Beweisfüh rung", bemerkte Urban. „Meinen Kampfnamen kennt man wirklich nur im Freundeskreis." „Habe ihn hier im Hause aufgeschnappt." „Sie nannten ihn schon bei unserer ersten Begeg nung." Er fragte, ob sie Kaffee wünsche, einen Drink, irgend etwas. „Ich möchte abends meine Suppe", erwiderte sie. „Für eine Russin besteht die Hauptmahlzeit aus Suppe und einem Stück Brot." „Dann muß ich leider Vorspeise, Braten und Pudding streichen, Gnädigste." „Und nach Ihrem sprudelnden Mineralwasser kann ich nicht schlafen." „Wird durch Gebirgsquellwasser, geschöpft in zweitausendfünfhundert Meter Höhe, ersetzt. Daß es aber auch frei von einigen aparten Tschernobyl eben ist, kann ich nicht garantieren." Sie wirkte verärgert und schnappte eher noch mehr zu, als Urban die Metallscherbe, eingewickelt in ein Tempo-Taschentuch, herausholte. „Was ist das?" tat sie erstaunt. „Ein Stück von einem silbernen Luftballon?" Mit seinen grob gezackten Rändern sah es wirk lich aus wie der Fetzen eines silbernen Gummi balles. „Sie müssen es kennen, Lara Redrova." 80
„Sie meinen dieses Stück..." „Metall." Ihm war daran gelegen, daß sie es nicht in die Hand nahm, womöglich hätte sie die Täuschung bemerkt. „Es stammt aus Ihrem Ja guar." „Haben Sie ihn zersägt?" „Es lag im Kofferraum." „Ich kümmere mich nicht um die hintersten Ecken von Fahrzeugen, die ich schnell mal kaufe, um eine Reise zu machen." „Wie lange haben Sie den Jaguar?" ,,Das steht in den Papieren, oder?" Er war vor etwa einem Monat umgeschrieben worden. Urban erinnerte sich und bluffte weiter: „An der Scherbe haftete Humus. Waldhumus. Erde eines Gehölzes, wie es auf Höhen über tausendfünfhundert Meter vorkommt. Im Humus hing eine Latschennadel." „Eine was?" „Die Erde war fast feucht. Die Scherbe lag noch vor einer Woche im Boden. Demnach müssen Sie sie ausgebuddelt und im Jaguar versteckt haben." „Unsinn", tat sie es ab. Er formulierte im Kopf eine neue Frage. Sie lautete: Waren Sie, Lara Redrova, im Auftrag Ihrer Moskauer Zentrale unterwegs auf der Spur dieses geheimnisvollen Flugobjekts? Er setzte an. Da wurde geklopft. Jemand rief: „Oberst Urban ans Telefon, bitte." Im Büro nahm er den Anruf entgegen. Es war Professor Stralman. „Sind wir nicht von der schnellen Truppe?" ,,Kommt auf das Ergebnis an." „Es ist Macron", sagte der Professor. „Kommt Macron vielleicht von Makrokosmos?" 81
„Richtig. Macron gibt es eigentlich gar nicht. Es ist ein von Physikern und Metallurgen erdachtes Traummaterial, wie man es nur im Weltraum herstellen könnte. Das heißt, unter minimalen Gravitationsbedingungen, wo sich die Moleküle beim Guß ganz anders ordnen als unter Erden schwere. Dadurch entsteht ein unvorstellbar dich tes Gefüge mit dem Ergebnis von bisher unerreich ter Härte und Elastizität. Selbst wenn man super leichte Ausgangsstoffe verwendet. Sogar Watte würde, im Weltraum hergestellt, zu etwas ganz anderem werden. Vielleicht wäre sie dann hieb-, stich- und schließfest." „Macron", murmelte Urban. „Der Traumstahl aus der Galaxis. - Läßt sich das als Beweis werten?" „Für das Ufo meinst du." „Daß es womöglich ein Stück davon verlor, ein Maschinenteil. Die Bedingungen in Erdnähe sind eben doch anders, als sich das Raumlebewesen vorzustellen vermögen." „Du pflegst wieder zu scherzen", bemerkte Stralman. „Heute schon zum wiederholten Male, mein Junge. Sagtest du nicht, daß es laut Weltluft fahrtbehörde keine Ufos gibt?" „Mithin auch keinen Weltraumzwerg in Ame rika." „Schätze, die wollen uns auf die Schippe nehmen." „Oder in die Pfanne hauen", fügte Urban hinzu. Er bedankte sich für den schnellen Service und ging zu der Gefangenen zurück. Wenige Meter vor ihrem Appartement kam ihm blitzartig der Einfall. Wie immer er sie in die Mangel nehmen würde, sie hatte gelernt zu schweigen. Sie war geschult, immer neue glaubwürdige Ausreden zu erfinden. 82
Auf konventionelle Weise kam man bei dieser Frau nicht weiter. Kein Zweifel, sie war nicht eine von den kleinen Nummern, sondern hatte Format. Also machte Urban kehrt und bat den Sanato riumsleiter zu einem Vieraugengespräch. „Sie ist ein harter Brocken", begann er. „Wir haben natürlich noch gewisse Möglich keiten." „Die greifen nicht bei dieser Frau." „Was schlagen Sie vor, Oberst Urban?" Urban zögerte noch, dann sprach er es aus. „Laßt sie entkommen." Für Augenblicke war der Sanatoriumschef sprachlos. Er war nicht nur Arzt, sondern auch eine Art Gefängnisdirektor und zeigte für solche Vorschläge wenig Verständnis. „Entkommen", vergewisserte er sich, „in Form von ermöglichter Flucht?" „Genau so meine ich das. Aber es muß wie zufällig aussehen, wie eine zufällige Nachlässigkeit in der Bewachung und nicht wie die Faust aufs Auge." „Und Sie verantworten das, Urban?" „Hundertprozentig." „Darf man fragen, wozu das Ganze gut sein soll?" „Nein", bedauerte Urban. Da er aber wußte, daß Anordnungen sorgfältiger erledigt wurden, wenn man ihre Notwendigkeit erläuterte, fügte er hinzu: „Ich will wissen, was sie in Europa sucht. Sie wird es uns niemals sagen. Aber wenn sie auf freien Fuß gelangt, wird sie wie eine Marionette ihren Job erledigen. Wir werden sie keine Sekunde aus den Augen lassen." 83
Der Sanatoriumschef kannte Urban seit langem. Er wußte von seinen Erfolgen, daß sein Wort galt und daß seine Wünsche immer Hand und Fuß hatten. Trotzdem zog er einen Vordruck aus seiner Schreibtischschublade, die Entlassung einer ihm anvertrauten Person betreffend, und füllte ihn nebst Begründung aus. „Würden Sie das bitte unterschreiben, Oberst." Urban signierte. „Am besten", sagte Urban, „Das Wachpersonal laßt am Abend, wenn durchgelüftet wird, eines der Fenster unverriegelt." „Vielleicht fällt uns noch etwas Besseres ein", meinte der Direktor. Urban verließ sich auf ihn und organisierte die Beschattung von Lara Redrova. 7. Während in Fort-X die Intelligenz- und psycholo gischen Tests an Gigan weiterliefen, wurde dem Pentagonchef der erste Teilabschlußbericht vorge legt Da es dem General unmöglich war, vierhundert Seiten Medizinerchinesisch durchzulesen, hatte sein Mitarbeiter einen Auszug angefertigt. Dem entnahm General Pastor etwas Faszinierendes. Sofort rief er Professor Silberman an. „Gigan trägt Fremdkörper in sich. Wie darf ich das verstehen?" „Nun", begann der Projektleiter die Beantwor tung der Frage. „Wir stellten eine künstliche Schädeldecke und eine Art Bypass fest, beide aus Metall." 84
„Was ist so Besonderes daran?" „Das Material", äußerte Silberman. „Ist es Silber, Gold, Edelstahl?" „Ganz präzise läßt sich das nur durch Entnahme von Proben feststellen. Dazu wäre eine Operation erforderlich." „Und eine nicht ganz präzise Feststellung", wollte der General wissen, „wie lautet die?" „Wir haben es mit Röntgenstrahlen, mit Ultra schall und mit allem, was uns an Testmethoden zur Verfügung steht, versucht." „Zu welchem Ergebnis kamen Sie?" Silberman zögerte kurz. „Das Zeug ist extrem leicht und extrem hart und mit nichts von dem, was wir kennen, auch nicht in den Forschungslabors, vergleichbar. Wir tippen auf einen Stoff, wie er nur unter Schwerelosigkeit hergestellt werden kann. Es gibt da ein Traumma terial, sein Name ist Macron." „Weitermachen!" befahl der Pentagonchef. „Und strengste Geheimhaltung." Dann konzentrierte er sich auf seinen Vortrag beim Präsidenten. Noch war die Ausbeute mager, aber wie es aussah, würden bei dem kleinen Burschen noch Überraschungen zu erwarten sein. Sein Stabschef kam herein und hielt Fernschrei ben in der Hand. „Ich muß ins Weiße Haus", sagte der General. „Haben Sie noch etwas für mein Referat beim Präsidenten?" „Die Japaner bekamen Wind von der Sache und werden aktiv." „Die gönnen uns die Butter auf dem Brot nicht, geschweige denn die Wurst." 85
„Möglicherweise wurde vom Bundesnachrich tendienst Deutschland ein Weltraummaterial ent deckt, das dem Macron nahekommt. Man fand es bei einer KGB-Agentin. Die Spur wird verfolgt." „Da verdichtet sich etwas", befürchtete General Pastor. „Wie Dunst, der zu Nebel wird." „Hauptsache, der Nebel über Fort-X ist so dicht, Sir, daß keiner durchblickt." „Dafür werden wir sorgen", versicherte Joe L. Pastor. Dann wurde gemeldet, daß sein Wagen vorgefah ren war.
In Fort-X lief Teststufe zwei auf vollen Touren. Zunächst wurde Gigan vor einen Computerbild schirm gesetzt. Er mußte vorgespeicherte Fragen beantworten, wie sie Studenten bei Abschlußprü fungen an Elite-Universitäten gestellt wurden. Man ließ alle verfügbaren Programme im Bereich der Geisteswissenschaften, der Naturwissenschaf ten und der Technik durchlaufen. Tagelang saß Gigan ohne Ermüdungserscheinun gen am Terminal und beantwortete die schwierig sten Fragen in Rekordzeit bei einer Positivquote von 98 Prozent. Die Auswerter lasen nur noch kopfschüttelnd die Kontrollstreifen. „Ein Genie", stellten sie bewundernd fest. „Ein Weltgenie." „So etwas kam noch nie vor." „Der Bursche beantwortet jede, aber auch jede der Fragen präzise, kurz und vor allem richtig." Bald sah man nur noch eine Chance, dieses 86
beachtliche Gehirn auszuloten, indem man Fragen stellte, für die es auf Erden nur unzureichende oder noch gar keine Antworten gab. Es handelte sich um Fragen auf dem Gebiet der Astrophysik, der Nuklearforschung, der Grenzgebiete zwischen Biologie, Chemie und Physik. Gigans Antworten blieben dem Testteam teil weise unverständlich. Es war, als würde man ihnen Schriften in der veränderten Schreib- und Sprech weise des Jahres 3000 vorlegen. Das Testteam wurde zunehmend ratloser. So ein Probant, dessen Wissen das ihre Himalaja - hoch überragte, war ihnen noch nie vorgekommen. Was sollten sie noch mit ihm anstellen. „Es ist, als würde ein Neandertaler versuchen, mit einem Nobelpreisträger unserer Tage zu kom munizieren", faßte es einer der Experten zu sammen. Ein anderer kam auf die Idee, das Programm 44/ 33 vorzuziehen, nämlich jenes Gebiet, das allge mein mit dem Kürzel PSI umschrieben wurde. „Was bedeutet eigentlich Gigan", fragte Profes sor Silberman eines Tages vor Beginn der neuen Testreihe. „Schauen Sie mich an", antwortete der Zwerg. „Es kommt von Gigant, von riesig, mächtig, gigan tisch." „Ist Gigan eine balkanische Version dieses Wortes?" „Schon möglich." „Wo sind Sie geboren, Gigan?" Diese Frage, sie kam zum hundertsten Mal, war eine der wenigen, die er nicht beantworten konnte oder wollte. „Die Erinnerung, an welchem Ort der Galaxis 87
dies geschah, die genaue kosmische Länge, Breite und Höhe, gemessen von der Erde aus, wurde leider in mir gelöscht." „Sie haben es nicht vergessen", setzte Silberman nach. „Man ließ Sie es, vielmehr man machte Sie es vergessen." Gigan bestätigte es durch Kopfnicken. „Woher haben Sie das lexikalische Wissen auf allen Gebieten? fuhr Silberman fort. „Wie brachte man es Ihnen bei? Gibt es neue, uns unbekannte Lernmethoden? Ist es etwa möglich, sich Wissen durch Ganglientransplantation oder medikamentös anzueignen?" Gigan zuckte, fast entschuldigend, mit den Schultern. „Bei uns weiß man das eben. Es ist nichts Besonderes. Jeder Durchschnittsintellektuelle hat das. So, wie es zu der Grundausstattung eines Erdenbürgers gehört, daß er vieles in sich trägt, eis aber erst durch Sprechen oder Schreiben zu for mulieren versteht." „Kommuniziert man dort, wo Sie herkommen, auf irdische Weise?" „Auf ähnliche", erklärte Gigan. „Höher entwik kelte Wesen bedürfen allerdings der Sprache nicht mehr. Es genügt, sich in die Augen zu blicken oder sich zu berühren." „Wir konnten kein dazu geeignetes Organ in Ihnen entdecken, Gigan", stellte Silberman fest. „Gewiß sind Ihre Untersuchungsmethoden zu grob, Professor." Über diesen Punkt sprach Silberman nicht gern. Schießlich konnte man einen Mann, der lebte und den man lebend verwerten wollte, nicht obdu zieren. 88
Silberman wechselte also das Thema, „Wie alt sind Sie, Gigan?" „Ergab das nicht die Untersuchung meiner Hirn anhangdrüse, von Ihren Ärzten Hypophyse genannt? Sie entnahmen ihr Gewebeproben. Ebenso meinem Rückenmark, meinen Drüsen, mei nen Hoden und so weiter." „Demnach wären Sie in der besten Mannes kraft", äußerte Silberman. „Und deshalb meine dezente Frage, Gigan. - Würden Sie Wert darauf legen ..." Er zögerte. Offenbar war es ihm pein lich. „Wünschen Sie, daß wir eine Frau für Sie besorgen?" Es schien, als würde Gigan versteinern, dann wieder aus der Versteinerung erwachen. „Warum nicht", antwortete er. „Aber schön muß sie sein, klug, und wenn es geht, ein wenig kleiner als ich. Dunkelhaarig mit kleinen Brüsten und geraden Beinen. Nicht so deformiert und den Idealen des goldenen Schnitts widersprechend wie die meisten Liliputaner. Denn wohlgemerkt, ich bin kein Liliputaner." „Wir bemühen uns", versprach Silberman. Er hatte bei Gigan Momente der Müdigkeit, ja der Interesselosigkeit beobachtet. Wenn Champag ner nicht mehr half, vielleicht half ein Mädchen . . .
„Sie wissen, was Telepathie ist", bemerkte einer der Fachleute, „Telekinese, Präkognition und so weiter. Mister Gigan, wir möchten Sie diesbezüg lich untersuchen." „Fangen Sie an", bat der Zwerg. „Wenn ich 89
richtig informiert bin, bedeutet Telepathie Fern fühlen. Erfassen seelischer Vorgänge eines anderen ohne Vermittlung durch Sinnesorgane." „Gedankenlesen kann man es auch nennen." „Ein Spezialgebiet von mir", erklärte Gigan. Die Experimente dauerten einen ganzen Tag und verliefen für die Tester so aufregend, daß sie sie bis tief in die Nacht hinein fortsetzten. Gigan war in einem erstaunlichen Maße fähig, bereits eingetretene, ihm aber unbekannte Ereig nisse anzusagen, sei es mit Würfeln, Spielkarten oder Farben. Sie warfen drei Würfel in einen Becher, schüttel ten sie und kippten den Würfelbecher auf eine Filzunterlage, ohne ihn abzuheben, wußte Gigan, wie viele Augen jeder Würfel zeigte. Dabei unter liefen ihm Fehler, aber seine Trefferquote war höher als bei irgendeinem Medium, das je unter vergleichbaren Bedingungen getestet worden war. Seine Quote lag etwa dreimal darüber. Er kam unter 70:30. Bei Spielkarten, die gemischt und gezogen wurden, allerdings im Nebenraum, und die er nennen müßte, lag die Quote noch besser. Fast hundert Prozent erreichte er bei willkürlich von einer Maschine ausgesuchten Farbkugeln, Die Maschine arbeitete zwei Stockwerke unter dem Raum, in dem Gigan sich aufhielt. Er war in der Lage, Ziffern zu nennen, die ein anderer aufgeschrieben hatte, und ungefähr die Texte, die Sekretärinnen im Nebenhaus in eine Maschinen tippten. Nach diesen Versuchen war er erschöpft. Sie gönnten ihm einen Tag Urlaub. Gigan schwamm, lag in der Sonne, las Zeitungen oder hörte Radio. Beim abendlichen Champagner, 90
als Silberman ihm ein Foto zeigte, glänzten seine Augen. „Wer ist das?" fragte Gigan. „Stasy Keatch", sagte der Professor. „Sieht ein bißchen asiatisch aus." „Ja, eine kleine, fast winzige Japanerin, fün fundneunzig Zentimeter kurz. Die Eltern kommen aus Hawaii." „Warum ist mir das Gesicht so bekannt, Sir?" „Ein Hollywoodstar", klärte Silberman ihn auf. „Wann und in welchem Spiel- oder Fernsehfilm auch immer eine zierliche Japanerin gebraucht wird, engagiert man sie. Sie ist ungeheuer beliebt." „Und wohl auch geliebt", ergänzte der Zwerg. „Das ist Stasys Problem. All die tollen Burschen in Hollywood sind zu groß für sie. Und die kleinen kommen nicht in Frage. Sie ist sehr wählerisch." Der Zwerg legte das Foto auf den Tisch. „Sie glauben . . . Sie wollen ausdrücken, Profes sor, ich dürfte so vermessen sein, daß diese Stasy Keatch und ich ..." „Lassen Sie mich nur machen", deutete Silberman an. Er hoffte, Gigan dadurch wieder so aufgebaut zu haben, daß er die bevorstehenden Telekinese- und Präkognitionstests freudig anging. Gigan enttäuschte sie nicht. Auch auf dem Gebiet der Telekinese, dem Ein fluß auf Materie allein durch Geisteskräfte, zeigte er ungeahnte Fähigkeiten. Es gelang ihm, getrennt durch Panzerglas und auf einem luftgefederten Stuhl sitzend, der keine Vibrationen übertragen konnte, eine mechanische Uhr anzuhalten. Er war in der Lage, einen PingPong-Ball in einem luftleeren Glasbehälter zum 91
Schweben zu bringen, Tiere in Käfigen zum Still sitzen, zum Gehen, Vögel zum Fliegen und Sper linge, die man freiließ, zur Rückkehr in das Bauer zu veranlassen. Er brachte Klaviersaiten zum Schwingen, und - was sie alle aufs äußerste beeindruckte - er brachte die Glut eines Brockens Holzkohle zum Verlöschen. Daß die glühende Kohle nicht wegen Sauerstoffmangels verlöschte, dafür war gesorgt worden. Alles lief unter wissen schaftlich kontrollierten Bedingungen ab. „So etwas kann man trainieren", meinte einer der Skeptiker. „In der UdSSR soll es sogar Schulen dafür geben." Doch auch der letzte Zweifler verstummte zur Ratlosigkeit, als man dem Zwerg ein Stück Pappe mit Eisenstaub vorlegte und Gigan diesen Eisen staub ohne die Hilfe eines Magneten zu geordneten magnetischen Bahnen polarisierte.
„Morgen, Gigan", verkündete Silberman, „kom men wir zum schwierigsten aller Gebiete, zur Präkognition, zur Vorhersage von Ereignissen, die noch nicht eingetreten sind." „Warum erst morgen?" fragte der Zwerg. „Was möchten Sie heute schon wissen, Professor?" „Erzählen Sie mir ein bißchen davon, was sich in der nächsten Woche in den USA ereignen wird." Gigan glaubte nicht recht zu hören. „Hier in Amerika? Aber ich bitte Sie, Professor!" Seine Fistelstimme wurde vor Enttäuschung um eine Oktave tiefer. „Was sich hier ereignet, davon werden wir ohne Zeitverzögerung informiert. Das ist doch wirklich nicht aktuell." 92
„Was würden Sie denn aktuell nennen, Gigan?" „Nun, Ereignisse der nächsten Tage oder Wochen in Südamerika etwa." Sofort hakte Silberman, einem klaren PentagonAuftrag folgend, nach: „Oder vielleicht in der UdSSR." „Auch Rußland, Moskau und der Kreml sind wichtiger, denke ich, als die Frage, ob die schlei chende Krankheit, an der Ihr Präsident leidet, neu ausbrechen wird, ob sie die Ärzte noch einmal in den Griff kriegen und wer sein Nachfolger sein wird." „Das könnten Sie vorhersagen, Gigan?" „Wenn ich mich anstrenge, Sir", antwortete Gigan, aber er meinte es wohl nicht ernst. Um so mehr erschrak Silberman, als Gigan äußerte: „Lassen Sie ruhig Ihr Tonbandgerät mitlaufen, damit hinterher keine Zweifel entstehen. - Also, wie sieht es in Rußland aus: Ich glaube, morgen schon wird der Generalsekretär der KPdSU, der sowjetische Staatschef, nach Süden in die georgi schen Republiken reisen, weil es dort Ärger gibt. Und er wird sich dort möglicherweise die Grippe holen. Von Baikonur startet am Montag eine Raumrakete zur Versorgung der Raumstation Sojus, und die Russen lassen ein U-Boot, so groß wie ein Ozeanriese und fast fünfzigtausend Ton nen schwer, vom Stapel. Der Stapellauf verzögert sich aber wegen einiger unvorhergesehener Pannen." Im Plauderton gab Gigan Dinge von sich, die er eigentlich gar nicht wissen durfte. Internas aus dem Kreml, aus Prag, aus Ungarn, aus der DDR. 93
Dinge, die sich noch gar nicht ereignet hatten. Aber sie trafen ein. So pünktlich wie der Sonnen aufgang. Anfang der Woche fuhr Professor Silberman nach Washington und referierte vor dem General. „Ich glaube", sagte er, „wir können beginnen, Gigan auszuwerten." „Ja, er ist reif für die Westküste." „Wir verlegen Fort-X in verkleinerter Form ins kalifornische Forschungszentrum der drei Teil streitkräfte. Wir sagen ihm, was wir an neuen Waffen planen, entwickeln, bauen und holen seine Meinung dazu ein. Wir machen ihn mit den neue sten technischen Ideen bekannt, fragen ihn, was er davon hält und bitten um richtungsweisende Kor rekturen. Er wird uns sagen können, wo sich Sackgassen auftun, wo wir weiterkommen, wo wir Milliarden sinnlos verpulvern und wo wir sie sinnvoll ausgeben können. Vor allem was die neuen Programme in der Raumfahrt und in der Raumrü stung betrifft. Dieser Mann ist uns mindestens um ein Jahrhundert voraus, wenn nicht sogar mehr. Man muß ihn mit Problemen konfrontieren, um ihn wie eine Auster zu öffnen. Austern geben ihre Perlen ja auch nicht freiwillig her." Der Fall wurde durchdiskutiert. Schließlich kam von ganz oben, vom Weißen Haus, die Zustimmung. „Wird er mitmachen?" fragte General Pastor, als er Silberman verabschiedete. „Ich werde ihn stimulieren, Sir." „Und die Sicherheit?" „Er ist besser geschützt als der Präsident, Sir." Am nächsten Morgen beim Frühstück mit Gigan in Fort-X eröffnete Silberman ihm: 94
„Es geht nach Kalifornien." „Das war mir von vorneherein klar, Sir." „Auch der Grund dafür?" „Irgendwie muß ich Ihnen ja nützlich sein, nach all dem Aufwand. - Aber wie wird es weitergehen? Kann mir die USA all das zurückzahlen, und kann sie mein Leben, meine Sicherheit, bis zum Ende garantieren?" „Wissen Sie das nicht? Sie wissen doch alles, Gigan." „Leider liegt noch ein Schleier über meiner Zukunft." „Ein Schleier von welcher Farbe?" „Dunkelgrau bis schwarz", beschrieb Gigan ihn. „Was sehen Sie sonst noch?" „Einen rosa Schleier", erwiderte der Zwerg. „Und er löst sich auf. Er schwebt über einer Stadt namens Hollywood, nicht weit entfernt vom For schungszentrum der Armee, Luftwaffe und Marine, zu dem Sie mich bringen werden." Silberman sah den Augenblick gekommen, um Gigan eine Freude zu bereiten. „Wir haben mit Stasy Keatch gesprochen." „Ich weiß." „Wissen Sie auch, was sie uns antwortete?" „Natürlich nicht", gestand der Zwerg. „Aber der rosa Schleier lichtet sich, und ich sehe, daß Stasy Keatch, diese wunderschöne kleine Prinzessin aus Honolulu, in meinen Armen liegen wird." Kopfschüttelnd gabelte Silberman seine Ham and-eggs. Dabei suchte er nach einem Wort, das mehr ausdrückte als der Begriff Genie. Aber er fand es nicht.
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8.
In Palos Verdes, einem südlichen Vorort von Los Angeles, der an seinen Randzonen zu verslumen begann, wohnte Toto Moro und pflegte seinen winzigen Garten. Vor zwanzig Jahren, als er noch den Job bei Boeing ausgeübt hatte, als seine Frau noch gelebt hatte und seine Tochter geboren worden war, hatte er alles zusammengekratzt und dieses Häuschen gekauft. Damals hatten die ersten Farbigen in dem Vier tel Einzug gehalten. Später waren Schwarze dazu gestoßen und Mexikaner. Nun kam es herunter. Die Gärten verunkrauteten, die Häuser verfielen, die Straßen verschmutzten, überall standen rostige Autowracks. Es gab viele Arbeitslose und deshalb schon morgens Streitereien, Raufereien und Be trunkene. Nein, das Leben hier war nicht mehr wie früher. Toto Moro pflegte trotzdem seinen Garten. Er pflanzte Blumen, beschnitt die Rosen, mähte den Rasen und sorgte dafür, daß in dem winzigen Teich immer frisches, klares Wasser stand. Aber er machte sich nichts vor. Er war so fertig wie das ganze Viertel. Seine Frau war aus Kummer über das Kind gestorben. Es war jahrelang krank gewesen. Die Bemühungen, es zu heilen, hatte Tausende von Dollars verschlungen. Bis die Ärzte endlich festgestellt hatten, .daß es nichts zu heilen gab, weil einfach ein Geburtsfehler vorlag. Aber dann hatte ihm seine Tochter doch noch Freude gemacht. Sie lebte jetzt in Beverly Hills in einer Villa und unterstützte ihn. 96
Manchmal, wenn sie Zeit hatte, schaute sie auch vorbei, was leider selten der Fall war. Toto Moro stach gerade Löwenzahn aus, dieses Unkraut, das über Nacht wucherte, als sein Telefon ging. Er eilte ins Haus und dachte, es sei seine Tochter. Aber ein Mann wollte ihn sprechen. „Mein Name tut nichts zur Sache", sagte der Fremde. „Dann sollten wir die Unterhaltung gar nicht erst beginnen", entgegnete der alte Moro. „Sie verlieren fünfzigtausend Dollar, Mister Moro", lockte der Anrufer. Toto Moro dachte, irgendeiner wolle ihm irgend etwas verkaufen, das mit einer Lotterie verbunden war. Telefonverkäufe kamen groß in Mode. Aber mit einemmal sprach der Fremde japa nisch. Toto Moro verstand ihn zur Not, aber nicht besonders gut. „Bitte sprechen Sie englisch." ,Japanisch ist doch Ihre Muttersprache." „Das ist lange her, Sir." „Es ist erst dreißig Jahre her, daß Sie aus Hawaii nach Kalifornien herüberkamen," Das versetzte den Alten in Neugier. „Was wünschen Sie vo n mir, Sir?" „Sie sprechen, Moro." „Um was geht es?" „Um die fünfzig Mille." Toto Moro lachte nur amüsiert. „Okay, dann kommen Sie vorbei." Auch wenn es Gangster waren, was wollten sie einem alten Mann wie ihm schon anhaben. 97
Was immer daraus wurde, es konnte nur unter haltsam sein. Seine Tage liefen öde dahin, und vom Fernsehen hielt er auch nicht viel.
Sie kamen in einem Chrysler Le Baron und sahen aus wie Japaner, die seit langem in den USA lebten. Sie trugen amerikanische Konfektionsan züge, bunte Krawatten und dicksohlige Schuhe. Auch die japanische Sitte, sich durch mehrma lige Beugungen des Oberkörpers zu begrüßen, hatten sie abgelegt. Sie kauten Gummis, reichten dem alten Togo Moro nicht einmal die Hand, sondern drängten ins Haus, wo sie zwar Schatten, aber keine Klimaanlage vorfanden. „Air-condition kann ich mir nicht leisten", erklärte der Alte. „Kostet zuviel Strom." „Das wird sich ändern", behaupteten sie. „Der Steinzeit-Chevi draußen, ist das deiner?" „Er ist nur achtzehn Jahre alt, Sir." „Nun, fünfzigtausend Bucks können manches ändern, Moro." Er bot ihnen eisgekühlten Tee an. Jeder nahm ein Glas voll. „Und was verlangen Sie dafür, Gentlemen?" erkundigte sich der Alte. Sie nahmen auf dem verschlissenen Sofa Platz. „Es geht um Stasy", rückten sie heraus. „Wer ist Stasy?" „Stasy Keatch, deine Tochter." „Das muß ich besser wissen. Für mich heißt sie Michi Moro." „Was soll's, Alter, wir wissen, wen wir meinen, und du weißt es jetzt auch. Stasy ist ein Star, und 98
ihr wurde von der Regierung in Washington eine wichtige Aufgabe übertragen." „Was für eine Ehre." Sie grinsten unverschämt. „Ja, welche Ehre, Prostitution im Interesse des Staates." Dem Alten stieg die Schamröte in den Kopf, worauf sie ihm ungefähr sagten, um was es ging. Nun war er tief erschüttert. Aber so sah es eben aus, das Leben eines Filmstars. „Man legt ihr einen Burschen ins Bett, der so zwergenhaft ist, wie deine kleine Minimaus. Man will etwas von ihm. Um es zu kriegen, ist Stasy der Köder, der nötige Leckerbissen." Dem Alten stand Zorn in den Augen. Aber er war Japaner, und er beherrschte sich. „Dann ist sie nicht mehr meine Tochter", keuchte er. Sie beruhigten ihn. „Das ändert nichts daran", befürchteten sie, „daß sie Stasy zur Hure machen. Wir wollen nur, daß du ihr ins Gewissen redest und einen gewissen Einfluß ausübst. Du bist ihr Vater, sie liebt dich. Nimm deinen Einfluß wahr, zu ändern ist sowieso nichts. Zu verhindern wäre aber, daß sie sich sträuben wird. Denn wenn sie sich weigert, wird man ihr Gesicht entstellen." „Mit einer Rasierklinge oder mit Säure", deutete der zweite Mann an. Weil er seine Tochter liebte, wie nichts sonst, und einsah, daß es besser sei, zu tun, was sie verlangten, gab Toto Moro klein bei. „Fünfzigtausend Dollar", boten sie, „dafür, daß du ihr klarmachst, daß sie von Rasse und Blut her immer noch Japanerin ist und ihrem Volk dienen 99
muß. Ja, daß es keine schönere und ehrenvollere Aufgabe für sie geben kann. Vielleicht hängt von dem, was sie für uns tut, die Wohlfahrt der ganzen Japanischen Nation ab." Sie gingen in Einzelheiten, soweit sie der Alte begreifen konnte, aber nicht allzutief, denn über alles wußten auch sie nicht Bescheid. Sie hatten konkrete Anweisungen und handelten nach der Order des Kempetai. Dann legten sie eine Anzahlung von fünfund zwanzigtausend Dollar auf den Bambustisch. Als sie gingen, sagten sie: „Du hältst uns auf dem laufenden. Wir sorgen dafür, daß Stasy dich morgen besucht. Und denke daran: absolutes Stillschweigen! Reden wäre dein Ende ... und ihres. Okay, Moro, und so long!" Sie traten hinaus in die brutale Sommerhitze und fuhren davon. Der Besuch hatte nur zwanzig Minuten gedauert, aber er ließ den alten Mann in einer Verfassung zwischen Trauer, heller Verzweiflung und Wut zurück. Am Abend rief Stasy an. Am nächsten Tag würde sie - wie vorhergesagt - bei ihm vorbei kommen. Wie stets, ließ er sie erzählen. Er unterbrach sie nicht, obwohl er wußte, daß sie ihn belog, daß sie ihm nur sagte, was er hören wollte und was ihn auf sie stolz machen sollte. Doch dann nahm er sie ins Gebet.
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In der Kempetaizentrale zu Tokio wurden alle Nachrichten, wie sie aus dem Netz hereinkamen, ausgewertet. Sie hatten extra einen Sonderstab gebildet, als gelte es, einen Krieg um Sein oder Nichtsein vorzubereiten. Erstaunlicherweise waren die sowjetischen Quel len äußerst ergiebig. Von dort kamen bessere Informationen als aus den Auslandsniederlassun gen japanischer Firmen. Der Kempetai-General Kogyo und der MitiMinister trafen in diesen Tagen wiederholt zu sammen. „Die UdSSR", sagte der Geheimdienstgeneral, „sind in ähnlicher Sorge wie wir." „Kein Wunder", meinte der Minister. „Für sie bedeutet es, von den USA endgültig abgehängt zu werden. Bis jetzt lagen sie bei Forschung und Technik nur zehn Jahre zurück. Wenn die Ameri kaner erst diesen Mann ausbeuten, dann werden es fünfzig oder mehr Jahre." „Auch für unsere Absatzmärkte kann es zu Bückschlägen in Milliardenhöhe kommen." „Was", fragte der Minister, „können wir noch tun, Kogyo, um die Katastrophe zu vermeiden?" „Sie verlegen Gigan von Fort-X-I nach Fort-X-II in Kalifornien." „Jetzt geht es also um Waffen, Rüstung und Zukunftsstrategien." „Sie haben ihn verdammt schnell aktiviert." „Gibt es Leute von uns in Kalifornien?" „Nicht einen. Sie besetzen die Labors nur mit Amerikanern, die bereits in der Wolle gefärbt und zehnmal durchleuchtet wurden." „Ist keiner der wichtigen Leute zu ködern?" 101
„Sie passen auf wie selten zuvor." Der Miti-Minister verstand sich auf Physiogno mien. Er glaubte, aus den Gesichtszügen des Kem petai-Chefs eine Spur von Hoffnung herauszu lesen. „Trotzdem führen Sie etwas im Sinn, Kogyo." „Natürlich haben wir an die eine und andere Ecke Feuer gelegt." Der General gab Einzelheiten preis. Zusammengefaßt lauteten sie: „Gigan begehrt eine Partnerin. Sie muß zu ihm passen. Es gibt nur eine geeignete Frau für ihn, Stasy Keatch. Eine zierliche Japanerin. Wir haben sie über ihren Vater voll im Griff." „Was heißt im Griff, bitte?" „Wir bekamen Informationen zugesagt und erwarten sie stündlich." „Hat das Liebesspiel der beiden schon be gonnen?" „Offenbar." „Und wie lautet", wollte der Minister wissen, „die letzte Konsequenz?" General Kogyo beugte sich vor und faßte es in ein geflüstertes Wort. „Kidnapping." „Entführung?" fragte der Minister staunend. „Die Amerikaner haben ihn mehr oder weniger auch entführt. Das räumt uns das gleiche Recht ein, Gigan ist ein Exterritorialer. Er gehört nie mandem." „Allen oder keinem", ergänzte der Miti-Chef. „Und wie soll das vor sich gehen? Der Zwerg wird doch behütet wie in der Sternzeit das erste Feuer." Der General bestätigte dies nur mit Vorbehalt. „Wir sind dabei, einen fantastischen Coup vor zubereiten." 102
„Wenn er gelingt", fürchtete der Minister, „müs sen wir uns aber warm anziehen. Denn dann hagelt es schärfste Proteste und Ultimate vo n allen Sei ten. Auch von Seiten der Russen. Und sie haben Atomraketen, Atom-U-Boote und Atombomber. Wir haben nichts dergleichen." General Kogyo tippte an seine hohe Stirn. „Wir haben hier oben einiges", stellte er fest. „Grips ist zwar weicher als Stahl", bemerkte der Minister, „aber er vermag ihn zu durchdringen." Dann tranken sie ruhig ihren Tee. 9. Der BND-Agent Robert Urban hatte vier Männer um das Sanatorium am Staffelsee postiert. Einer überwachte das Seeufer, zwei die hohen Mauern an Ost- und Westseite und einer die Straße nach Uffing. Urban hatte sein BMW-Coupe auf einen Hügel gefahren, der ihm guten Überblick einschließlich der Halbinsel bot. Neben ihm lag ein Funksprechgerät und eine Infrarot-Nachtsichtoptik mit Restlichtverstärkung. Bis 23.00 Uhr ereignete sich nichts. Ungefähr fünfzehn Minuten später meldete der Posten auf der Westmauer Bewegung am Haus. Es war ein Mädchen vom Personal, das sich dort mit dem Kochgehilfen traf. Sie verschwanden bald im Keller. Dann dauerte es bis 1.00 Uhr, ehe wieder Bewegung registriert wurde. „Das ist sie", meldete der Posten per Funk. „Sie steigt aus dem Fenster und schleicht in Richtung Wasser." 103
Urban hätte sich gewundert, wenn Lara Redrova als ausgebildete Agentin nicht die Stunde der Diebe, die Zeit, in der alles im Tiefschlaf lag, genutzt hätte. Daß sie es auf der Wasserseite versuchte, war ebenfalls logisch. Sie hoffte, sich einen schwimmenden Untersatz zu beschaffen. Wasser hinterließ keine Spuren. Daß sie nichts fand, dafür hatte Urban gesorgt. Das Motorboot war weggebracht worden. Er wollte sie auf einen bestimmten Fluchtweg zwingen und sie nahm ihn auch. Lara Redrova watete durchs Schilf und umging dadurch die Mauer. Bei solchen Sanatorien bestand immer die Gefahr, daß Mauern und Zäune an die Alarmanlage angeschlossen waren. Bald erreichte sie die Straße nach Seehausen. Im Tempo eines trainierten Joggers trabte sie nach Süden. Sobald ein Wagen in Sicht kam, sprang sie seitlich in Deckung. In Seehausen, das sie nach ungefähr zwanzig Minuten erreichte, beobachtete sie den Parkplatz eines Gasthofes, in dem noch Betrieb herrschte. Dann handelte sie professionell. In Lara Redrovas Lage gab es nur eines, nämlich in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Kilometer zwischen sich und ihr Gefängnis zu bringen. Binnen einer Minute hatte sie ein Fahrzeug aufgebrochen, die Lenkradsperre abgerissen, die Zündung kurzgeschlossen und gestartet. Zunächst noch ohne Licht rollte sie vom Park platz. Erst auf der Straße nach Murnau schaltete sie die Scheinwerfer ein. Sie hatte sich einen älteren Golf mit Tölzer Kennzeichen besorgt. Farbe weiß. Keine schlechte Wahl 104
Da sie über keinen Pfennig Geld und keinerlei Papiere verfügte, mußte sie sich damit versorgen. Urban wußte, was er an ihrer Stelle getan hätte. Es gab nur wenige Variationsmöglichkeiten des Vorgehens.
Wo die Straße aus dem Wald führte und bei leichtem Gefalle eine Kurve beschrieb, etwa zwei Kilometer vor der Stadt, lagen rechts auf grünen Hügeln kleine Villen. Bei den meisten handelte es sich um Landhäuser Münchner Bürger. Sie wurden nur an Wochenenden benutzt. Dort, wo die Fensterläden geschlossen waren und kein Automobil vor der Garage stand, konnte man sichergehen, daß das Haus unbewohnt war. Mit dem hochentwickelten Instinkt einer talen tierten Geheimagentin suchte sich Lara Redrova so ein alleinstehendes Haus aus. Sie parkte etwa fünfzig Meter davon entfernt. Urban verlor sie außer Sicht und folgte ihr zu Fuß. Das Gartentor war noch versperrt. Also war sie darübergeklettert. Oben lehnte die Haustür nur an. Er sah gedämpftes Licht und hörte sie telefonieren. - Wer kein Kleingeld hatte, der mußte ein leeres Haus als Telefonzelle benutzen. Lara Redrova sprach russisch. Urban beherrschte fünfhundert russische Worte, bekam aber nicht genau mit, um was es ging. Allerdings konnte er sich einiges zusammenreimen. Kaum hatte die Agentin aufgelegt, fing sie mit der Suche an. Sie zog Schübe auf, öffnete 105
Schränke und stieg dann nach oben. Im Abstand von kaum zwei Metern schlich sie an Urban vorbei. Im Obergeschoß hielt sie sich nur kurz auf. Gewiß hatte sie gefunden, was sie suchte. Die Operation Einbruch hatte kaum eine Zigaretten länge gedauert. Sorgsam löschte sie die Lichter, zog die Haustür ins Schloß und saß wenig später wieder im Golf. In Garmisch bediente sie sich an einem Tankstel lenautomaten mit Benzin. Sie mußte also zu Geld gekommen sein. Ehe sie weiterfuhr, studierte sie bei eingeschalte ter Innenbeleuchtung eine Straßenkarte. Die hatte sie wohl in der Seitentasche gefunden. Um 3.45 Uhr, zwei Stunden nachdem Lara Redrova das Sanatorium verlassen hatte, näherte sich der Golf dem Grenzübergang Scharnitz. Urban sah keinen Grund, einzugreifen. Er hatte die Russin, wie er glaubte, fest am langen Draht. Sie rollte langsam an den Grenzposten heran, kurbelte die Scheibe herunter und hielt etwas Grünes, das aussah wie ein Bundesdeutscher Rei sepaß, in der Hand. Der Grenzer winkte sie durch.
Telefonisch bestellte Urban, als er zu wissen glaubte, wohin Lara Redrova fuhr, ein anderes Auto nach Innsbruck. Dort stieg er auf einen weniger auffälligen grauen Mercedes um, „In Bozen stellen sie dir, falls nötig, einen Turbo-Polo an die Autobahn." „Danke", sagte Urban. „Gute Arbeit." Er übergab seinem Mitarbeiter Schlüssel und Papiere des 633 CSi. 106
„Wo ist sie jetzt?" Der Kollege flüsterte, als könnte man ihn hören. „Drüben im Park neben der Kirche." „Ein Treff?" „Wohl kaum", vermutete Urban. „Aber sie muß etwas arrangiert haben." „Mit einem ihrer Agenten in Österreich?" „Mit wem sonst?" „Oder mit einem toten Briefkasten." „Ich würde eher meinen", äußerte Urban vor sichtig, „der tote Briefkasten besteht aus einem wohlpräparierten Fahrzeug, versehen mit allem, was eine Topagentin braucht, um ihren Auftrag durchzuziehen," Urban behielt recht mit seiner Vermutung. Ein Motor wurde angelassen, Scheinwerfer flammten auf, ein Wagen wurde gewendet und fuhr an ihnen vorbei in Richtung Berg Isel Brenner-Autobahn. „Das war sie." „Fiat Croma", stellte Urbans Mitarbeiter fest. „Nicht einer von der langsamen Truppe." Urban hoffte, sein Mercedes 300 E würde eini germaßen mithalten können. „Deutsches Kennzeichen", fügte sein Kollege hinzu. „Nein, italienisches." „Es war weiß. Schwarze Ziffern auf weißem Grund. Die Italiener führen Weiß auf Schwarz mit roten Anfangsbuchstaben." „Früher mal", korrigierte ihn Urban. „Die neuen Schilder haben EG-Norm. Schwarz in Weiß." „Dann auf sie mit Gebrüll!" „Ich werde noch nie so leise gebrüllt haben wie diesmal", versicherte Urban. 107
,,Du wirst sie kriegen." „Ich will sie ja gar nicht", erklärte er. „Egal wie. Du machst selbst aus Schnee noch ein Feuer." Das war es, was Urban immer zu schaffen machte. Sie glaubten, er sei der große Zauberer. Dabei war er nur der große Bluffer - wenn es hochkam.
In den nächsten Stunden verhielt sich die KGBDame weiterhin nach dem Lehrbuch für Agenten mit höherer Qualifikation. Sie reiste problemlos nach Italien ein, fuhr zügig das Eisacktal hinunter bis Bozen, als allmählich die Dämmerung anbrach. Urban glaubte, ihr Ziel zu kennen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wollte sie dorthin, wo sie sich bei der italienischen Gebirgsgendarmerie als Orni thologin ausgegeben hatte. Gewiß stammte von dort auch das Weltraummaterial, diese MacronScherbe. Doch mit einemmal änderte sie ihre Richtung. Bei Trient verließ sie die Autostrada, fuhr durch die Stadt und auf das Brentatal zu in Richtung Venedig. Sie benutzte aber nicht die neue Schnell straße, sondern blieb auf der alten und bog bei der Ortschaft Vogolo ab. Dort führte eine Nebenroute in einsame, wild zerklüftete Hochtäler. Bald überragte der 2300 Meter hohe Cima Dodici alles. Eine kurvige Straße wand sich bis an die Grenze, wo noch Laubbäume wuchsen. In einem Berggasthof hielt sie an und nahm einen Espresso. Danach hatte Urban den 108
Eindruck, als unternähme sie einen Spaziergang. Mehr als eine große Umhängetasche führte sie nicht mit. Für Urban wurde die Observation jetzt schwie rig. Er folgte ihr mit Sicherheitsabstand unter Anwendung aller nur denkbaren Indianertricks. Trotzdem verlor er sie aus den Augen. Sie muß auf diesem Weg zurückkommen, über legte er. Es gibt keinen anderen. Es sei denn, sie klettert durch den Fels. Mit hohen Absätzen nicht ratsam. Urban wartete. Gegen 11.00 Uhr tauchte sie wieder auf, aber sie verließ den Pfad bei einem Tümpel und erledigte dort irgend etwas. Urban hatte kein Fernglas dabei und wagte sich bis auf zwanzig Meter heran. Nicht zu glauben, sie reinigte einen stark ver schmutzten Patentspaten, ein Vielzweckgerät, das man ebenso als Baumsäge wie als Astschneider benutzen konnte. Zweifellos schnitt die Zange auch Draht und Gitterstangen. Als Lara Redrova das Gerät zusammengeklappt und in ihrer Tragetasche verstaut hatte, versuchte sie, diese zu schultern. Die Tasche war wohl zu schwer. Also nahm sie sie wie einen Koffer, in dem sich mindestens eine Maschinenpistole befand, und trug sie zum Parkplatz. Zweifellos hatte sie aus einem Versteck im Wald etwas geholt. . Was lagerte gewöhnlich in Agentendepots in der Wildnis? Ersatzpapiere und Banknoten. Aber die waren nicht so schwer wie Funkgeräte, Waffen, Sprengstoffe oder andere Sabotagemittel. Urban ließ sich Zeit. Auf der Serpentinenstraße entkam sie ihm nicht. Er wartete, bis sie talwärts 109
fuhr, stärkte sich im Albergo mit Espresso und folgte ihr dann. Bis Trient hatte er sie wieder eingeholt. An der Autobahneinfahrt Richtung Verona zog sie ein Ticket.
Wann, so fragte Urban sich, als es Abend wurde, klappt diese Frau endlich zusammen? Lara Redrova war jetzt zwanzig Stunden unter wegs und hatte vor ihrem Ausbruch gewiß nicht geschlafen. Seit Murnau hatte sie sechshundert Kilometer zurückgelegt. Nach dem Autodiebstahl, dem Ein bruch in die Villa, dem Wagentausch in Innsbruck und der Versorgung aus dem Depot in den Brenta dolomiten mußte sie bald am Ende ihrer Kräfte sein. Doch sie arbeitete wie ein Motor mit unerschöpf lichen Energievorräten. Wenn sie den Croma auf tankte, begnügte sie sich meist mit Tramezzini und einem Glas Wein. In Turin ließ sie den Croma zurück und wech selte zu einen geländegängigen Fiat Campagnolo über. Urban, der über einige Reserven verfügte, ver suchte, sie nicht zu verlieren. Durch das nächtliche Turin, auf der Fahrt ins Aostatal und auf der schmalen Straße an der Marmora entlang war es ihm immer gelungen, an ihr zu bleiben. Bis Cervi nia konnte er den Kontakt halten. Doch jetzt ging es hinauf in die Berge. Hinter Cervinia war sie plötzlich weg. Seitlich von der Straße führte ein schmaler Pfad 110
steil in die Höhe. Um auf ihn zu gelangen, mußte man einen Graben überwinden, an dessen Böschung der Mercedes hoffnungslos aufgesessen hätte. Ende der Fahnenstange, dachte Urban. Er machte kehrt, suchte sich ein Hotel und begann, weiteres telefonisch zu organisieren. Er sprach mit München und mit Sismi in Rom. Dann wartete er bei einem Aperitive auf deren Rückruf. „Vor morgen früh kann die Ausrüstung nicht zur Stelle sein", bedauerten sie. Urban stand am Fenster und hörte den Regen prasseln. „Bei dem Wetter ist ohnehin wenig zu machen", antwortete er. Er speiste spät und gut zu Abend, verzichtete aber auf das Angebot feiner Pastete aus Singvögel zungen. Nicht aus Tierschutzgründen, sondern weil er sie einfach nicht mochte. Dafür waren die Fornerini um so knuspriger, die getrüffelten Makkaroni eine Offenbarung, der For maggio misto und der Bianco vom Val Sesia ein Gedicht
Die schrägstehende Frühsonne machte die Spuren besonders deutlich sichtbar. Es waren die Reifen abdrücke des Geländewagens, ein markantes Stol lenprofil für Schlamm und Matsch. Als es auch für den Allrader nicht weitergegan gen war, hatte Lara Redrova ihn zurückgelassen getarnt natürlich. Noch zwei Kilometer weit ließen sich Bergstiefelkonturen erkennen, dann hätte Urban Komantsche sein müssen, zumindest ein 111
Trapper, um ihr durch Wand und Fels zu folgen. Es gab aber Geröllpassagen, mit Erde durchsetzt, wo er die Spuren wiederfand. Außerdem ahnte er, wohin Lara Redrova wollte. Nach mühsamer Kletterei erreichte er einen Punkt, der ihm den Blick auf die Gletscher des Monte Rosa, aber auch auf einen Bergsee freigab. Er schimmerte blau wie Aquamarin. Mit dem Fernglas, das sie ihm in den 4x4 mitgeliefert hatten, suchte er die Ufer ab. Von Lara Redrova keine Spur. Also stieg er ab. Dann sah er etwas in dem Kies, der den Bergsee wie ein Tellerrand umgab. - Kein Tier hinterließ Stiefelabdrücke. Und was gab es hier oben schon an Wild. Vielleicht Bergziegen oder Gemsen. Nachdenklich blickte Urban über die rundum zwischen Felswänden eingebettete Wasserfläche des Sees. Er prüfte die Wassertemperatur. Besten falls zwölf bis vierzehn Grad, schätzte er. Wenn Lara Redrova hier gewesen war, dann hatte sie Gründe dafür. Der See verbarg mögli cherweise etwas. Man hatte sie gewarnt, darin zu baden. Es gab Strömungen und Strudel. Schon mancher Unbe lehrbare war darin umgekommen. Außerdem schätzte man Wasserleichen in Stauseen, die der Trinkwasserversorgung dienten, nicht sonderlich. Trotzdem entkleidete Urban sich und ging hin ein. Er tauchte mehrmals in drei Richtungen ab, ohne etwas auszumachen. Weder kalte Strömungen noch Strudel erfaßten ihn. Wenn hier etwas lag, dann verbarg es sich nicht. Das Wasser war klar bis auf den Grund, und die Sonne hellte es auf bis in die Tiefe. 112
Eilig schwamm Urban wieder ans Ufer, wärmte sich auf und brachte seinen tiefgekühlten Kreislauf in Ordnung. Dann - mit der ihm eigenen Verbiestertheit, ohne die in seinem Job kein Erfolg möglich war, mit Sturheit und auch mit Neugier, die sich hier logisch begründen ließ - tauchte er dreihundert Meter weiter oben und am südlichen Rand des Sees noch einmal. Die Redrova war hier, sagte er sich, also hat sie etwas gesucht. Jetzt ist sie nicht mehr hier - hat sie etwa schon gefunden, was sie suchte? Wenn die Russin im See etwas gefunden hatte, dann verbarg es sich auch vor ihm nicht. Gern hätte er gewußt, ob ihr Campagnolo noch unter dem Tannengrün stand. Darüber nachzuden ken war jedoch müßig. Er machte sich fertig und tauchte nochmals in das Staubecken voll eisigem Gletscherwasser. Schon wenige Meter vom Ufer entfernt fiel der Boden steil ab wie der Hang eines Riffs. Er arbeitete sich hinunter. Zwei Minuten Tauchzeit schaffte er. Mit einemmal sah er etwas. Den Schimmer eines bizarren Gegenstandes. In Stauseen lag oft altes Gerumpel. Manchmal versanken in ihnen ganze Ortschaften. Aber hier oben hatte es nie Häuser oder eine Kirche gegeben, geschweige denn Flugzeuge. Aber das Ding da unten sah aus wie ein Flugge rät. Allerdings wie ein recht utopisches. So, wie es Konstrukteure vielleicht auf ihren Zeichenbrettern träumten oder wie es auf Bildern in Science fiction-Romanen vorkamen. Das Ding glich einem riesigen Rochen, war flach, fast rund. Die Größe ließ sich bei dieser Tiefe 113
schwer abschätzen. Urban glaubte jedoch, daß die Flunder gut zwanzig Meter Durchmesser hatte. An den Bändern messerscharf, nahm das Ding auf die Mitte hin in eine Dicke bis zu drei Metern ein. Urban tauchte herum, entdeckte oben eine Art Kanzel und mußte auftauchen, um Luft zu schöpfen. Das mußte es sein, verdammt. - Eine Menge Gedanken kreisten noch ungeordnet durch seinen Kopf. Die Sache mit dem Ufo fiel ihm ein, dann das Macron. - Hatte dieses Flugobjekt etwa Teile seines Triebwerks verloren? - Mußte es deshalb notlanden? - Hatte der Pilot es in diesen Stausee gesetzt, damit man es nicht fand? Urban atmete tief. Er reicherte sein Blut mit Sauerstoff an und tauchte nochmals in die kalte Tiefe.
Diesmal tauchte er direkt auf das Cockpit zu. Die Glaskuppel stand offen. Die Maschine war ein Zweisitzer. Vorne auf dem Sessel des Piloten kauerte eine Gestalt, mit einem Raumanzug bekleidet, festge halten von den Gurten. Hinten auf dem Platz des Kampfbeobachters fehlte der Schleudersitz. Der zweite Mann war also ausgestiegen. Und noch etwas konnte Urban erkennen. Links aus der Einlaßöffnung des Triebwerkes ragte ein eckiger schwarzer Kasten. Er tauchte hinüber und nahm ihn in Augen schein. Zweifellos handelte es sich um eine Sprengladung. Urban wußte, wie diese Dinger gebaut waren.
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Oben lag die Einstellung für die Zünder und die Zeitvorwahl. Der Schalter für die Schärfung war meist rot ausgeführt. Ob das Ding tickte oder nicht, war nicht festzustellen. Er versuchte, es anzuheben. Es war wie festgeschweißt Wahr scheinlich hatte es Magnethaftung. Also mußte er den roten Schalthebel auf Nullstellung bringen. Er hielt die Sprengladung für geschärft, hätte sie aber trotzdem gerne beseitigt. Da sah er den Schatten hinten schräg über sich. Etwas schwamm auf ihn zu und stieß herab, silbrig und schmal wie ein angreifender Haifisch. Aber es war ein menschliches Wesen. Es verfügte über Atemgerät und ein Messer. Urban hingegen hatte nichts als seine nackten Hände. Außerdem setzte bei ihm schon Luftmangel ein. Noch wenige Sekunden und er brauchte fri schen Sauerstoff. Sein Herz tobte, seine Lungen gebärdeten sich, als seien sie nicht bereit, diese Strapaze noch länger mitzumachen. Er ließ Luft ab, ein bewährtes Mittel, um den Kollaps hinauszuzögern. Dabei versuchte er, dem Angreifer zu entkommen, ihn an Land zu locken. Doch der andere war jetzt über ihm. Er hob die Hand mit dem Messer. Im Neoprenanzug mit Kopfhaube und Atemmaske war er nicht zu erken nen. Offenbar zögerte er zuzustoßen, Urban fing das Handgelenk ab und verdrehte ihm den Arm. Das Messer entglitt ihm und tänzelte in die Tiefe. Urban spürte einen stechenden Schmerz und kon terte. Aber Handkantenschläge unter Wasser hatten bestenfalls die Wirkung von Streicheln. Das Was ser bremste die Wucht. 115
Er versuchte, den Gegner zu fassen, doch der entkam ihm, glitschig wie ein Fisch. Inzwischen hatte Urban die Grenze seiner Fähigkeit, unter Wasser zu bleiben, überschritten. Er stieß sich vom Rumpf des Ufos ab und schoß aufwärts. Es dauerte endlos lange, bis er oben durchstieß. Eine Fallbö kräuselte die Wasserfläche. Von dem Gegner war nichts zu sehen. Langsam schwamm Urban uferwärts, warf sich in den warmen Kies und schnappte nach Luft. Bevor er noch überlegen konnte, was er als nächstes tun würde, vernahm er ein dumpfes Grollen aus der Tiefe. Es war, als detoniere eine schwere Wasserbombe. Der friedlich blaue Spiegel des Sees wölbte sich und schien sich für den Bruchteil vo n Sekunden berstend zu öffnen. Dann schoß eine Gischtfontäne aus dem Wasser wie eine mächtige Stichflamme. Die Erde zitterte. Die Fon täne stand da, wuchs höher und färbte sich schwarz, ehe sie zusammenbrach. Bald beruhigte die Erde sich wieder. Nur der Donner der Explo sion brach sich mit vielfachem Echo an den Felswänden, und tote Fische trieben an die Ober fläche. Es ist keine Liebe mehr unter den Menschen, dachte Urban.
10. Als die letzten Nachrichten bei der KGB-Zentrale in der Moskauer Dzerzhinskystraße eingingen, war der verantwortliche Projektleiter gefordert. „Genossen, jetzt machen wir ein wenig warmen Südwind." 116
„Die Redrova hat leider total versagt." „Sie hat alles hundertprozentig falsch gemacht, dann hatte sie noch fünfzig Prozent Pech. Macht zusammen hundertfünfzig Prozent Mst." „Ich erwarte, daß Sie Glück haben', sagte Napo leon schon zu seinen Offizieren. Stimmt's?" „Wo ist Lara jetzt?" „Irgendwo in den Alpen. Erst war sie auf der Flucht vor den Italienern, dann vor den Deutschen und jetzt wieder vor etwas anderem." „Aber der Auftrag, ist er durchgeführt?" „Sie hat versagt." „Wann meldet sie ach?" „Sobald sie kann." „Ich rufe sie zurück", entschied der Projektleiter und bat seine Kollegen vom Bereich Europa/West und Übersee um Stellungnahme. Sie nickten der Reihe nach. „Wer macht es ihr Mär?" „Befehle werden übermittelt", bemerkte einer der jungen Obristen, „und nicht klargemacht." Die Runde ging auseinander. Wenige Stunden später kam der Anruf von irgendwo aus Mitteleu ropa. Die Verbindung war miserabel, was aber in erster Linie an der russischen Telefontechnik lag. Daß Lara Redrova außerdem kaum zu verstehen war, lag an ihr. Sie mußte leise sprechen. Jch kann in diesem Hotel nicht russisch losbrül len", erklärte sie und gab eine Lageübersicht. Arid Girov, Führungsoffizier in Moskau, hörte geduldig zu und sagte dann: „Ich fürchte, um uns das zu erklären und alles zu begründen, müssen Sie sich schon nach Hause bemühen, Genossin Major." 117
„Ich sitze hier wie in einem Mauseloch, und draußen marschieren die Katzen vorbei." „Egal, wir erwarten Sie. Ihre Aufgabe ist mehr oder weniger erledigt. Sie nehmen das nächste Flugzeug nach Ostberlin. Sobald Sie dort eintref fen, schicken wir einen Kurierjet." Sie erhob Einwände. Doch es war wie immer. Wenn sie in der Zentrale Entscheidungen gefällt hatten, war nichts mehr zu ändern. „Sie haben", äußerte der Mann in Moskau, „vierundzwanzig Stunden Zeit. Bis dahin schafft es ein blinder Tourist auf einem Bein. Dann bis bald, Genossin." Girov war sicher, daß sie morgen vor ihm auf diesem Teppich stehen würde. Wenn sie endlich etwas mehr Glück hatte, dann würde die Karriere dieser eleganten und schönen Frau nur in einer entlegenen Garnison am Rande der sibirischen Arktis enden - und nicht in einem Straflager.
Kaum hatte Arid Girov in Moskau aufgelegt, ließ er sich eine Verbindung mit Ostberlin herstellen. „Ministerium für Staatssicherheit", verlangte er. „General Jo Hartmann." Er schätzte diesen Hartmann nicht sonderlich, vor allem mißfiel ihm dessen dandyhaftes Auftre ten und seine zweifelhaften Westkontakte. Aber an Hartmanns Erfolgen kam man einfach nicht vorbei. Gegen Hartmann war schon mit Stalinorgeln quergeschossen worden. Es war wie bei einem begnadeten Chirurgen. Menschlich mochte er das 118
größte Schwein sein, doch wenn er am Operations tisch Sensationelles leistete, gab es nichts, was ihn aus dem Sattel warf. - Also mußte er mit General Hartmann zusammenarbeiten. Als Hartmann noch Oberst war, konnte er ihm diesen oder jenen Befehl erteilen. Nun hatte die DDR Hartmann zum General befördert, damit er nicht nach allen Moskauer Flöten zu tanzen brauchte. Hartmanns Büro meldete sich. Der General jedoch ließ sich Zeit. Das brachte Arid Girov in Rage. Aber er unterdrückte sie. „Hallo, General!" rief er auf russisch. Hartmann sprach es perfekt, benutzte es aber selten. Er vertrat den Standpunkt, daß in der internationalen Geheimdienstszene nur eine Spra che aktuell sei, nämlich Englisch. Das brachte Arid Girov noch mehr in Rage, doch schluckte er es abermals hinunter. „Wir brauchen Sie, Genösse Hartmann", sagte er. „Peinliche Geschichte. Näheres darüber ein andermal. Es geht um eine unserer Agentinnen." Hartmann schockierte den Russen erst einmal. „Um Lara Redrova," „Sie wissen davon?" „Habe etwas läuten gehört. Aus westlichen Quel len. Hängt es mit der rätselhaften Ufo-Erscheinung und mit diesem Schrumpfgiganten in den USA zusammen?" „Nur mit einem Rückruf", wich der Russe aus. Hartmann wußte, was man in Moskau darunter verstand. Ein Agentenrückruf bedeutete, daß der Mann oder die Frau aus dem Verkehr gezogen wurden, weil die Gefahr bestand, daß ihr Versagen sie zu Kurzschlußreaktionen trieb. Dabei war stets 119
die Geheimhaltung gefährdet. Sie erlebten das immer wieder, daß gute Leute, die Pech gehabt hatten, lieber zur NATO überliefen, als sich in Sibirien kaltstellen zu lassen. „Was können wir für euch tun, Girov?" „Sie ist bis morgen abend in Ostberlin zu erwarten. Sobald sie da ist, Behandlung nach Stufe vier." „Rohes Ei, also." „Hartes Ei", bat der Mann in Moskau. „Stufe vier sieht höchste Sicherheitsverwahrung vor, sofortige Festnahme, Isolierzelle. Nehmen Sie ihr alles weg, womit sie Selbstmord begehen könnte. Ich fliege selbst nach Berlin, um sie abzuholen." „Wird erledigt", versprach Hartmann. Arid Girov wußte, daß er sich auf die Genossen in Berlin verlassen konnte. Nicht in allem zwar sie entwickelten in letzter Zeit so manchen eigenen Gedanken -, aber dort, wo man sich einig war, funktionierten sie wie Pendeluhren aus dem Erzge birge.
Die letzte Maschine, mit der Lara Redrova eintref fen konnte, war die Swiss-Air-Verbindung Zü rich-Berlin. General Hartmann hatte als Empfangskomitee seine besten Leute delegiert und ihnen folgende Ermahnung mit auf den Weg gegeben: „Diese Redrova ist ein echter Fuchs. Wenn ihr etwas danebenging, muß es eine große Sache gewesen sein, die ein Genie auch nicht gelöst hätte. Also denkt daran, und laßt euch nicht blicken, ehe sie die Gangway verlassen hat. Leider kommt sie 120
mit der Swiss-Air. Angenommen, sie merkt etwas, dann zieht sie sich zurück, bleibt an Bord, und wir können nichts machen. Die Schweizer sind streng neutral und fliegen sie auf Wunsch wieder nach Genf zurück. Vorausgesetzt, sie kann die Passage bezahlen." „Verstanden", bestätigte der Hauptmann in Zivil. „Wir warten im Wagen, wo die Zubringer busse halten. Der Bus ist DDR-Territorium, denke ich." „Viel Glück" Auch am Gepäcktransportband waren besondere Maßnahmen ergriffen worden. Der Koffer, oder was immer die Russin bei sich hatte, sollte sofort aussortiert und in den Sicherungsraum gebracht werden. Doch sämtliche Anordnungen erwiesen sich als überflüssig. Die KGB-Agentin Lara Redrova kam weder mit der letzten Maschine aus der Schweiz, noch mit der ersten aus London. Sie kam nicht mit der Aeroflot und nicht mit der Alitalia oder Air France. Sie kam überhaupt nicht. Als keine Hoffnung mehr bestand, daß sie dem Rückruf gefolgt war, sprach Moskau erneut mit Ost-Berlin. „Helfen Sie uns noch einmal, Genösse General", verlangte Girov. „Wir müssen dieses Weib kriegen, koste es, was es wolle. Sie weiß zuviel. Ungeheure Dinge hängen davon ab. Aktivieren Sie Ihren ganzen Apparat im NATO-Bereich." „Das ist eine Form der Selbstdarstellung, die wir gar nicht schätzen", äußerte der erfahrene StasiGeneral. „Wir werden Ihnen das nie, niemals vergessen, Hartmann." 121
„Wo sollen wir ansetzen?" Der Russe atmete tief durch. „Wenn Sie das nicht wissen, Sie, ein Mann, bei dem zwischen Elbe und Böhmerwald kein Blatt vom Baume fällt, ohne daß er es umgehend erfährt; wenn Sie das nicht wissen, Hartmann, wer dann?" „Vielleicht", deutete General Hartmann an, „kenne ich einen." Er legte auf und dachte nach. Jetzt wurde die Sache schwierig, fast schon subtil. 11. Im AMN-Forschungszentrum in Kalifornien, das vom Verteidigungsministerium gemeinsam mit der Rüstungsindustrie betrieben wurde, bestand Anweisung, Gigan alles zu zeigen. Alles, ohne Ausnahme. Selbst was sich im ersten Laborsta dium auf Reißbrettern oder auch nur in den Köpfen der Wissenschaftler befand, sollte nicht vor ihm verborgen werden. Dies aus gutem Grund. Man wollte Gigan den Stand der Dinge vorführen, um von ihm zu erfah ren, was machbar war und was nicht, wo man Irrwege einschlug und wo man in Sackgassen geriet. Man erhoffte von ihm entscheidende For schungshilfen. Insbesondere an Stellen, wo man nicht weiterkam. Gigan nahm alles ohne Zeichen von Emotion zur Kenntnis. Er hielt sich in der Chemielaser-For schung auf, bei der Entwicklung der neuesten Drei-Etagen-256-Megabitchips, bei den Genfor schern, die dabei waren, Riesenschweine, intelli 122
gente Affen und den Übermenschen zu züchten, und bei den Konstrukteuren von Plasma-Reakto ren. Ihm wurde gezeigt, wie weit man auf dem Gebiet der drahtlosen Energieübertragung war und bei der Erforschung der Schwerkraft, Man zeigte ihm die neuesten Raumwaffen und machte ihn mit den letzten Angriffs- und Abwehrstrate gien bekannt. Er bekam top-geheime Materialien auf Metall- und Kunststoffbasis zu sehen, man machte ihn mit Dingen bekannt, die aus der Phantasie von Autoren für Zukunftsromane stam men konnten. „Gehen wir da", gab General Pastor in einem Gespräch mit Silberman zu bedenken, „nicht ein wenig zu weit, Professor?" „Gigan weiß mehr als wir", sagte der Wissen schaftler. „Im Grunde belächelt er alles nur. Durch die radikale Offenlegung wollen wir ihm zeigen, wie erbärmlich rückständig wir sind, und damit an zwei Dinge appellieren, an sein Mitleid und an sein überlegenes Wissen. Heute wird er alles gesehen haben, morgen zapfen wir ihn an." „Falls er sich das gefallen läßt." „Ich habe seine Zustimmung. Doch vorher will er erfahren, wie weit wir unsere Wissensgrenze in das Territorium des Unerforschten hinausgescho ben haben. Er braucht einen Fixpunkt, wo er ansetzen muß." „Morgen fängt die Quelle also an zu sprudeln." „Er ist in Spenderlaune", versicherte Silberman. „Worauf führen Sie das zurück, Professor?" ,Auf eine Frau." „Funktioniert es?" „Mit einer Puppe wie Stasy Keatch immer, Sir. 123
Sie hat ihr Handwerk gelernt und spielt perfekt die Verliebte." „Angenommen", wandte der General ein, „sie ist es wirklich. Kann das nicht zu Komplikationen führen?" „Vielleicht bei ihr. Nicht bei Gigan. Der ist kalt wie eine Polarhundeschnauze." Später traf sich Silberman mit Gigan zum Drink. Einmal täglich sahen sie sich immer. Sei es beim Frühstück, beim Abendessen oder auf ein Glas Champagner. Gigan wirkte aufgekratzt. „Haben Sie schon ein umfassendes Bild", fragte Silberman, „über das Niveau unseres irdischen Wissens?" „Ich bin dabei, es mir zu machen, Sir." „Was fehlt noch zur Abrundung des Bildes?" Gigan nahm einen Schluck von dem perlenden Wein. „Ihr Computerchef unterschlägt mir gewisse Informationen", erwähnte Gigan. „Inwiefern", tat Silberman bestürzt, „Man brachte Magnetbänder auf die Seite. Ich fragte danach, aber es hieß, das wäre Ausschuß, fehlerhafte Aufzeichnungen. Ich bin aber sicher, daß man mir etwas zu sehen verweigerte. Nun, ich weiß auch so Bescheid, daß es sich um die neueste Theorie über die Strategie für den Fall einer bewaffneten Auseinandersetzung im Weltraum handelt." „Unerhört ist das", entrüstete sich Silberman, „daß man Sie belog." „Mich belügt niemand", erwiderte der Zwerg. „Ich weiß, warum ich hier bin und warum man mir all diese Dinge zeigte, nämlich um von meiner 124
Erfahrung zu profitieren. Die Lebewesen, mit denen ich bisher umging, sind anderer Natur. Für uns gilt nicht: geben und nehmen. Aber auf Erden ist dies nun einmal so, und ich habe damit gerechnet. Ich bin darauf programmiert worden." „Von wem?" „Auch ich, Sir", gestand Gigan, „werde geben und nehmen, selbst wenn es von anderer Art ist, als Sie sich vorzustellen vermögen." „Es wird dafür gesorgt, daß man Ihnen alles, aber auch alles zeigt. Die Leute, die das verhin dern, werden hart bestraft." „Lob und Tadel ist Ihre Sache, Sir", bemerkte Gigan und schaute auf die Uhr. „Sie entschuldigen mich." „Wohin so eilig?" erkundigte sich Silberman. „Eine Verabredung", tat der Zwerg geheimnis voll. „Glauben Sie, daß es durchsetzbar wäre, daß ich mit Miß Keatch in den Golf hinaussegle, mit diesem Gerät fahre, das Sie Automobil nennen oder daß man mir sogar ein Flugzeug zur Verfü gung stellt?" Damit fühlte sich der Professor überfordert. Einerseits wollte er Gigan jeden Wunsch erfüllen, andererseits galt es, seine Sicherheit zu wahren. „Eines Tages", erklärte er, „wird das alles gewiß zu realisieren sein. Doch vorerst sind Sie uns zu kostbar. Was glauben Sie, wer alles hinter Ihnen her ist. Japaner, Europäer, Russen. Die Liste ist kürzer, wenn ich aufzähle, wer nicht hinter Ihnen her ist." „Die Papua und die Eskimos", scherzte Gigan und verabschiedete sich. Er zog sich in seine Suite in Fort-X-II zurück. 125
Wenig später rollte der Lincoln vor, der Stasy Keatch aus den Hollywood-Studios abgeholt hatte.
„Liebst du mich?" fragte Stasy. Zwar lag sie in Gigans Armen, aber doch weit weg von ihm, wie sie glaubte. „Liebe, was ist das?" fragte er zurück. „Ich fürchte, dieses Gefühl muß ich erst erlernen." „Du kannst alles, du weißt soviel." „Und doch so wenig", antwortete er, „von euch." Sie war Zwergin, keine Liliputanerin mit unpro portionierten Gliedmaßen, wie es Mißwuchs mit sich brachte. Sie war eine Frau, nur von verklei nertem Maßstab. Aber alles stimmte zueinander. Die Länge der Beine, die Höhe und Form der niedlichen Brüste, der Hals, der Kopf, ihr Gesicht, Selbst ihr Haar wirkte dünner und feiner, wenn es in dunklen Wellen über ihre Schultern floß. Auch ihre Genitalien waren im Maßstab 1:2 verkleinert. Die Lust hingegen, die sie beim Liebesspiel emp fand, schien im Maßstab l:5 vergrößert. Vielleicht gibt es dafür eine Steigerung nach der Quadratformel, überlegte Gigan, als ihn ihre näch ste Frage erreichte. „Hast du darüber nachgedacht?" fragte sie. „Bitte sprich leiser." „Werden wir abgehört?" „Schon möglich." Sie fragte noch einmal, ob er schon darüber nachgedacht habe. „Natürlich, Darling." „Kamst du zu einem Ergebnis?" 126
Er nickte. „Das Ergebnis ist kein Ergebnis. Unser Problem besteht darin, wegzutauchen und unterzuschlüp fen. Aber wohin? Die Erde ist ein kleiner Planet und höllisch präzise durchorganisiert. Wohin wir uns auch begeben, man wird uns finden. Wir fallen mehr auf als Riesen. Wir müssen atmen, leben, uns bewegen, essen, trinken, einkaufen, tausend Dinge erledigen. Wir können uns nicht total isolieren, unsichtbar machen, einfach nicht mehr vorhanden sein." „Es gibt treue Diener, Liebster." „Nein, es gibt keine treuen Diener, weil es keine treuen Menschen gibt. Wir wären niemals glück lich." Das versetzte sie in Erstaunen. „Du sprichst von Glück? Du weißt also, was Glück ist. Ein erster Schritt zum Begreifen von Liebe und Zuneigung." „Zuneigung ist mir bereits ein Begriff, gestand er. „Ich neige dir zu, Stasy." Sie redeten lange in dieser Nacht. Gegen Mor gen, als sie glaubte, sie habe ihn dort, wo sie ihn brauchte, versetzte sie ihm den entscheidenden Stoß. „Sie quetschen dich aus, wie eine Zitrusfrucht", warnte sie. „Nur, soweit ich es zulasse." „Und dann werden sie dich aufschneiden." „Wie meinst du das?" „Sie werden dich operieren, sezieren, obduzie ren. Dein Gehirn entfernen, es messen und studie ren. Das geheimnisvolle Material, das deine Schä deldecke schützt und einige Arterien überbrückt, werden sie herausnehmen und analysieren." 127
Er hütete sich zu behaupten, daß sie es niemals tun würden. Er fürchtete, sie würden es tun, und er konnte nichts dagegen unternehmen. Sie verfügten über Narkosemittel, denen selbst seine Energie nicht gewachsen war. Irgendwann würde er ihnen ausgeliefert sein. Das war unabänderlich. Der Gedanke daran begann seine Entscheidung zu beeinflussen. „Vielleicht", deutete er an, „gibt es doch einen Weg." „Nicht vielleicht", drängte Stasy, „sondern ganz sicher. Ein Kerl wie du ..." „Ihr habt ja alle keine Ahnung von mir", seufzte er. „Man muß sein Schicksal in die Hände nehmen, Gigan." Da fühlte er zum ersten Mal Angst in sich aufsteigen, das innere Vibrieren als Vorbote. Und als folge er schon den Gesetzen der menschlichen Psyche, begann er zu scherzen, was auch ein Symptom von Angst war. Plötzlich mißtraute er allen. Silberman ebenso wie diesem wunderschönen Geschöpf neben sich im Bett. „Über uns kreisen Raubvögel", flüsterte er. „Dann entscheide dich, Gigan." „Auch du bist einer davon, Stasy." „Vielleicht", räumte sie ein. „Dann stoße auf mich herunter", bat er. „Nimm mich in deine Fänge und trage mich davo n. Ich bin nicht schwer, nur ein netter kleiner Bursche." „Gemacht", sagte sie.
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Wie es Gigan gelungen war, Fort-X-II zu verlassen, blieb allen ein Rätsel. „Vielleicht hat er sich auch in seine eigene Aura aufgelöst", meinte einer. Silberman liebte derartige Scherze nicht. „Wie kam er durch die dreifache Sperre, der Knilch?" ,Dieses Hollywoodweib war bei ihm." „Die Keatch ist auch weg." „Sie hatte freien Zugang." „Aber man sah sie nicht wegfahren. Es wurde nichts registriert." „Ich will verdammt sein" fluchte der Sicher heitsoffizier. „Gigan muß sie huckepack genom men haben und trug sie, bekleidet mit einem Wachmantel durch die Sperre." Silberman bezweifelte es. „Zweimal ein Meter ergibt zwei Meter. So lange Leute haben wir hier nicht." Doch dann rechneten sie nach. Wenn ein Mann von einem Meter Größe eine Frau von ebenfalls einem Meter Größe auf die Schulter setzte, konnte man eine Beinlänge abziehen. Das ergab eine Höhe von einssechzig. „Oder einssiebzig. Normalgröße also." Es konnte nie genau ermittelt werden, wie es die beiden geschafft hatten, den Sicherheitsbereich zu verlassen. Aber eines stand fest, die Fahndung nach ihnen wurde zur intensivsten und umfassend sten, die jemals in den USA nach zwei Personen durchgeführt wurde. Was immer aufgeboten we r den konnte, nahm daran teil. CIA, FBI, die Army, die City- und County-Police, die Air force und draußen auf See Navy und Küstenschutz. Ohne Ergebnis. 129
Silberman fürchtete, daß die Fahndung zu kei nem Erfolg führen würde. „Ich hatte Zeit", sagte er, „Gigan kennenzuler nen. Er steckt uns zehnmal in die Tasche. Wenn er etwas unternimmt, ist es durchdacht und funktio niert auch. Den kriegen wir niemals wieder." „Mein Gott", stöhnte der General im Pentagon. „Wenn ich nur daran denke, was der Bursche alles mitnahm, was wir vertrauensvoll vor ihm ausbrei teten, unsere letzten Rüstungs- und Forschungsge heimnisse, dann ..." „Dann", ergänzte Silberman verzweifelt, „kön nen wir uns eigentlich nur noch erschießen, Sir."
12. Damit sich das Hotelzimmer in Stresa nicht zur Nachrichtenzentrale entwickelte, beschloß Urban, vom Postamt aus zu telefonieren. Also verließ er seine Suite im Principe, schlen derte am Ufer des Lago Maggiore entlang und schied in Gedanken die Spreu vom Weizen. Den Weizen lieferte er von der Telefonzelle aus seinem Hauptquartier in München-Pullach. „Ich lasse mich vierteilen", erklärte er, „Aber es war ein MiG-45." „Dieses supergeheime Russenflugzeug hat nicht mal sein eigener Konstrukteur zu Gesicht be kommen. " „Offenbar war ein Vorserienmodell davon fertig." In Pullach zweifelten sie schon seit Urbans erstem Hinweis daran. „Wie kommst du auf MiG-45?" 130
„Das Flugzeug ist aus der Foxhound weiterent wickelt. Oder wenn du den amerikanischen F-16 Falcon nimmst, seine Konstruktion von 1974 und rechnest sie zehn Jahre hoch, dann kommst du zu dem, was in diesem Hochgebirgsteich lag. Schei benförmig und flach wie eine Flunder, im Zentrum eine Glaskuppel, die Öffnungen für die Triebwerke kiemenartig in die Scheibe integriert." „Wie sich Klein Erna eben eine fliegende Unter tasse vorstellt." „Möglicherweise wird das Ding schon mit Was serstofftriebwerken fortbewegt. Daher der selt same Lichtschein." Der Kollege in Pullach schloß jetzt kurz. „Moment mal, das würde bedeuten, daß es sich um das verflixte Ufo damals im August handelt." Urban hörte den Kollegen blättern. Wie in jedem Geheimdienst, so auch beim BND, gab es Zeich nungen über Zukunftswaffen des Gegners wie Panzer, Flugzeuge und Schiffe des Jahres zweitau send. Der Mann in Pullach verursachte ein Geräusch, als wäre seine Nase verstopft. „Das sowjetische Projekt Gigan", sagte er. „Wie, bitte, war der Name?" „Gigan." Urban schluckte ein paarmal und faßte zu sammen: „Vermutlich wird diese MiG-45 mit exotischen Materialien gebaut und ist noch nicht perfekt durchentwickelt. Deshalb begann sie auf der Flucht vor unseren Abfangjägern abzumontieren. Sie verlor wichtige Einzelteile. Der Pilot setzte einen Notruf ab und warf seinen Vogel in einen Stausee in den italienischen Alpen." „Daher also das Macron-Stück." 131
„Eine Agentin ging los, um die Metallteile einzu sammeln und die MiG-45 zu sprengen." „Gelang es ihr?" fragte der Mann in Pullach. „Nun, das Macronteil fand sie. Wir haben es aus ihrem Jaguar." „Das Macron können sie nur auf ihren SojusStationen unter Weltraumbedingungen hergestellt haben. Es weist Molekularstrukturen auf, wie sie sich nur bei reduzierter Gravitation, bei Schwere losigkeit also, ordnen." „Langsam klärt sich alles", bemerkte Urban. „Kommt eins und eins zusammen." „Gelang ihr auch das andere?" fragte der techni sche Experte in München. „Leider", bedauerte Urban. „Ich konnte es nicht verhindern. Aber eins konnte ich. Nämlich die Italiener alarmieren. Sie haben den See hermetisch abgeriegelt, Ihre Taucher suchen bereits den Grund ab. Selbst kleinste Trümmer werden recht aufschlußreich sein." Urban ließ sich mit einer anderen Abteilung verbinden. Sein Boß, der Operationschef, kam an den Apparat. „Die Maschine war mit Sicherheit ein Zweisit zer?" wollte er bestätigt haben. „Der zweite Schleudersitz fehlte." „Dann ist der Kampfbeobachter rechtzeitig aus gestiegen." „Oder wer immer auf diesem Sitz saß", ergänzte Urban. „Wie ich höre", erwähnte Sebastian, „führt die ses sowjetische Zukunftsprojekt den Namen Gigan." „Dazu könnte uns doch etwas einfallen", meinte Urban, „oder nicht?" 132
„Wie fühlen Sie sich?" „Wie die Maus in der Milchkanne", gestand Urban, „die so lange rudert, bis die Milch zu Butter wird und sie von der Butterkugel ins Freie hüpfen kann. Die Butterkugel beginnt sich unter meinen Füßen zu formen." „Wir rufen Sie im Hotel an, sobald weitere Erkenntnisse vorliegen. Wann sind Sie in Mün chen, Nummer achtzehn?" „Langsam komme ich wieder in Form. Meine Ohren nehmen auch wieder Geräusche wahr. Ich fürchtete schon, die Detonation hätte mich taub gemacht. Ich möchte nur noch wissen, was die Italiener so alles aus dem Alagna-Stausee fischen." „Lara Redrova könnte uns das sicher genauer sagen." „Haben Sie eine Spur von ihr?" fragte Urban. „Sie hat sich wohl blitzartig Richtung Osten abgesetzt." „Und was hört man aus US-Quellen in Bezug auf Gigan?" „Schweigen im Walde", übermittelte der Alte. „Nur soviel ist klar: Auch die Japaner würden eine Milliarde Dollar für ihn ausgeben." Urban spazierte am Seeufer zum Hotel zurück. Die Isola Bella lag im letzten Abendsonnenschein. Es war windstill. Nur im Westen, in den Bergen, braute sich etwas zusammen. Dort wurde jetzt jeder Quadratmeter des See grundes abgesucht. Urban wünschte ihnen von Herzen Erfolg.
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„Kein Anruf für Sie", rief die Sekretärin von der Rezeption des Principe. Urban bekam den Schlüssel und ging zum Lift. „Soll ich für Sie einen Tisch im Restaurant reservieren, Signore?" „Ich lasse mir ein Wurstbrot aufs Zimmer brin gen", erklärte er. Dann fuhr er hinauf und ging auf dem dicken blauen Teppich um die Ecke. Hinter dem Marmor sockel mit Kübelpalme lag seine Suite, bestehend aus Vorraum, großem Salon und Bad, wie in alten Grand Hotels üblich. Er sperrte auf und machte im Entree Licht. Im Salon stieß er nur die Fensterläden auf. Ohne sich umzudrehen, fragte er: „Wie kommst du hier rein?" Ein dunkles Lachen war die Antwort. Das Hotel hatte immerhin einen hinteren Aufgang und antike Schlösser, in die jeder bessere Haken griff. Absolut kein Problem für einen Profi. Am Bett ging die Nachttischlampe an. Lara Redrova lag auf der Tagesdecke. Sie hatte nur noch BH und Slip an. Alles andere war malerisch auf dem Rokokosessel verteilt. Ihr Haar glänzte wie eine schwere Lederkappe. „Es war heiß", endschuldigte sie ihre Verfassung. „Es ist noch heiß", bestätigte er. Sie war also nicht jenseits des eisernen Vor hangs. Demnach mußte es Gründe dafür geben. Gründe, die so massiv waren, daß sie die Gefahr eines Kontaktes mit ihm in Kauf nahm. „Was", setzte er an, „wird die Dzerzhinskystraße dazu sagen, wenn du nicht zurückkehrst." „Ein Insasse weniger in einem sibirischen Straf lager." 134
„Aber gerade auf dich kommt es an." „Es kommt darauf an", entgegnete sie, „wie ich mir den Rest meines Lebens vorstelle. Daß man wegen ein, zwei Pannen abserviert wird, ist guter KGB-Brauch." Sie war hier, weil sie das Ende ihrer Laufbahn, wie es in der Zentrale geplant war, nicht akzep tierte. Sie hatte schlichtweg Angst und suchte Schutz bei ihm. Zumindest für die nächste Zeit. Sie hoffte, er könne ihr weiterhelfen. „Es ist immer ein Risiko", sagte er und setzte sich auf die Bettkante. „Das weiß ich", erwiderte sie, „auch hier. Aber ich habe einiges zu bieten." Wenn er sie betrachtete, dann war das sogar eine ganze Menge. Er fühlte ihre Hand in der seinen. „Sind wir Verbündete, Bob?" „Wir könnten welche werden." „Was kannst du mir garantieren?" „Gar nichts", erklärte er. „Und wenn ich dir eine Sensation liefere?" „Laß hören." Sie wußte, daß es anders nicht ging. In ihrer Lage war immer Vorkasse Bedingung. „Ich muß erst duschen." Offenbar brauchte sie eine Denkpause. „Erst dusche ich", entschied er, „denn ich habe gearbeitet, während du geruht hast." „Ich wartete auf dich", sagte sie. „Das war alles andere als Entspannung." Er ging ins Bad, zog sich aus, brauste sich kalt ab, schlüpfte in den Bademantel, kehrte in den Salon zurück und steckte sich eine MC an. Frauen brachten es doch immer wieder fertig, 135
daß ein Mann in Erstaunen geriet. Lara lag da wie vorhin, allerdings völlig nackt. „Bist du kühl?" flüsterte sie. „Innen und außen." „Laß fühlen." Sie berührte seinen Oberschenkel. Ihre Hand war wie ein Bügeleisen auf seiner Haut. Sie richtete sich auf. Die Spitzen ihrer Brüste nahmen eine nicht alltägliche Form von Härte ein, wie zugespitzte Kegel aus Rosenholz. Spontan umarmte sie ihn und zog ihn auf sich. Dabei riß sie ihm den Bademantel mit hastigen Griffen vom Körper. „Sei mein Frigidaire", stöhnte sie, „Lösche mich, ehe ich in Flammen aufgehe." Das war KGB-Schule pur und in Reinkultur. Sie mußte ein Angebot machen. Aber sie bot erst das weniger Wertvolle, ihren Körper. Urban nahm das Angebot an. Wenn man zusammen schlief, ergab sich daraus mitunter eine gewisse Intimität. Mit Freunden ließ sich besser verhandeln als mit Feinden. Tief drinnen blieb ihre Seele gewiß so cool wie ihr Körper, auch wenn sie sich wie Milch vor dem Überkochen gebärdete. Sie kochte auch über. Doch was blieb, war der Geruch von Angebranntem.
„Das war nicht toll, wie?" übte sie, zur Decke rauchend, Selbstkritik. Urban hatte Wein und einen Imbiß bringen lassen. „Es hält sich die Waage", kommentierte er. 136
„Dafür ist der Job, der uns zusammenführte, ein außergewöhnlicher." „Normalerweise bin ich besser." „Du warst verklemmt", sagte er., „Du dachtest, es muß sein, und an die Bedingungen." „Und wie werden sie lauten?" Damit er seinen Verhandlungsspielraum nicht überschritt, war nötig, daß er erst einmal ihre Preisvorstellungen drückte. „Wir wissen schon eine ganze Menge", übertrieb er. „Der Ufo-Zauber im August, der Triebwerk schaden, wobei Macronteile verlorengingen, die Notlandung, die MiG-45 im Alagna-See. Es war gedacht als Riesenshow, um die Ankunft eines Wesens aus dem Weltraum vorzutäuschen, ging aber im letzten Akt daneben." „Verdammt", fluchte sie. Mit jedem Wort, das er von sich gab, wurde ihr Wert für den BND geringer. Unverdrossen machte Urban weiter mit der Demontage der Lara Redrova. „Seit mindestens dreißig Jahren schon beobach ten kluge Männer in Moskau eine offensive Kom ponente in der amerikanischen Strategie. Ihre Nachfolger behaupten, die Bestätigung dafür im SDI-Programm zu finden. Es enthält alle Ele mente, das sowjetische Territorium zu gefährden. Zu einem weiteren zentralen Punkt amerikanischer Bedrohung zählt man in Moskau auch die USKiller-Satelliten, die Entwicklung des neuen AntiSatellitensystems, den Weltraumlaser und so wei ter. Heute glaubt man in Moskau, die alten Exper ten von damals hätten mit ihrer Warnung recht behalten. - Die amerikanische Militärdoktrin und 137
Strategie ziele auf Überlegenheit gegenüber jeder anderen Macht und Allianz hin." „Ist es etwa nicht so?" fragte Lara. „Auch die Kommunisten wollen immer noch die Weltherrschaft. Nur versäumten die Amerikaner rechtzeitig, etwas dagegen zu tun. Im Gegensatz zu ein paar ganz ausgekochten Burschen in der sowje tischen Führung, die sich damals vor dreißig Jahren etwas einfallen ließen." Er spürte, wie sich ihr Körper verspannte. Sie ahnte wohl, daß er ihr jetzt den Joker nahm. „Und was dachten sie sich aus, die ausgekochten Burschen im Kreml?" Urban steckte sich erst eine Zigarette an. „Gigan", sagte er. „Projekt Gigan." Lara Redrova atmete kaum noch. Sie beherrschte sich jedoch. Nur Tränen der Wut und Enttäuschung tropften aus ihren Augen auf seine Schulter. „Den Code Gigan bekam das Projekt erst viel später." „Schon damals", wollte er fortfahren, „Sprich nicht weiter", bat sie. „Okay, den Rest überlasse ich dir. Wenn er etwas taugt, werden wir großzügig sein." Damit hatte er sie. Jetzt lag er da und wartete. Langsam fing sie an zu erzählen. „Ein Mann . . . ein Mann aus dem Politbüro mit Phantasie, setzte sich mit einem Mann, den die Angst um die Zukunft der UdSSR beherrschte, und einem dritten, der über Organisationstalente ver fügte, zusammen. Das Projekt Spaceman wurde geboren. Mit folgendem Grundgedanken: „Ein Lebewesen von ungewöhnlichem, ein wenig erden fremden Aussehen sollte den USA als Marsmensch 138
verkauft werden. Nahezu allwissend und mit faszi nierenden parapsychologischen Fähigkeiten ausge stattet, würde er sie so beeindrucken, daß sie ihn in alle Geheimnisse einweihten. Dann sollte der Spion zurückkehren." „Nicht auf den Mars", ergänzte Urban, „sondern zu seiner Trainingsstätte in der UdSSR und zu seiner Leitperson, zu Lara Redrova." Sie räumte ein, daß es im wesentlichen so gedacht war. „In den fünfziger Jahren lief ein panrussisches Programm an. Er erfaßte alle Mißgeburten mit hohen Intelligenzquotienten. Unter Mißgeburten verstand man extreme Kleinwüchsigkeit, die auch hormonell nicht zu beheben war, verbunden mit Superintelligenz. Wir haben in der SU ein Verfah ren entwickelt, das uns in die Lage versetzt, schon bei Säuglingen bestimmte Begabungen herauszute sten. Bei einem Zweihundertfünfzigmillionenvolk fallen genügend Mißgeburten ab. Aber nur ein Promille kam in Betracht, und davon wiederum nur ein Promille, was den IQ betrifft. Schließlich gelang es, unter etwa hunderttausend Säuglingen ein Prachtexemplar auszusondern - unseren Spa ceman. - Er wurde sofort isoliert und unter Bedingungen hochgezüchtet, wie sie für Spitzen produkte einfach unerläßlich sind. Der Drill war unvorstellbar. Mit drei Jahren konnte er lesen und schreiben, mit fünf beherrschte er schon die wich tigsten Fremdsprachen. Mit sieben war er soweit wie normalerweise ein Note-eins-Abiturient. Doch nun ging es erst richtig los. Er bekam die fähigsten Lehrer. Man trichterte ihm enzyklopä disches Wissen ein. Er studierte Medizin, Chemie, Mathematik, Physik, Geschichte, Musik, natürlich 139
auch Ingenieurwissenschaften sowie alle Randge biete. Vo n Biologie, Botanik, Geologie gar nicht zu reden. Spaceman entwickelte sich zu einer Art Schwamm, der alles aufnahm und wieder abgeben konnte. Man hatte den richtigen Burschen ausge wählt. Soweit es ging, wurde er auch körperlich trainiert. Aber man kann nicht alles machen. Zu einem Rambo-Einzelkämpfer wurde er nicht. Die Ausbildung dauerte über zwanzig Jahre. Inzwischen begann eine KGB-Sonderkommission die Wege des Einschleusens, des Infiltrierens und seines Aufbaus im Westen zu erforschen und vorzubereiten." „Dabei stießen sie auf Gigan I, den Hellseher aus dem Zirkuszelt." „Man beschloß, ihn zu benutzen. Unser Mann bekam sein Aussehen und auch seinen Namen Gigan -, als Gigan I starb." „Wobei die Abteilung Nummer sechzehn des KGB gewiß ein wenig nachhalf." „Als Gigan I starb, trat Spaceman als sein Bruder an dessen Stelle. Ich war es, die ihn nach seinem Absprang nach Paris brachte. Mit der UfoErscheinung im Hintergrund nahmen ihm die Amerikaner sein Märchen ab. Man soll es nicht glauben, aber diese eiskalten Realisten fielen auf eine Manipulation herein." „Alles war verdammt perfekt gemacht", mußte Urban zugeben. „Nur die MiG-45 fiel ins Wasser, ehe sie sich hinter dem Eisernen Vorhang verstek ken konnte." „Aber dieser kleine Mann ist am Ball." Urban hatte verstanden und zog die Schlußfolge rung. 140
„Eines Tages wird er auf seinen Mars zurückge bracht werden, so wie er ausgesetzt wurde." „Das ist unsere Absicht." „Falls ihn die Japaner nicht vorher schnappen." „Dafür werden die Amerikaner in Fort-X schon sorgen." „Wie soll das jemals zu schaffen sein?" „Er hat Zeit", erklärte Lara. „Und es gibt Möglichkeiten der Fernkommunikation. Wir sind schon dabei, alle Daten aus seinem Kopf abzu rufen." „Wie? Über Funk?" Nun gab Lara Redrova auch noch dieses Geheimnis preis. „Gigan ging bei Dr. Wassiliew zur Schule. Was siliew ist Präsident der sowjetischen Akademie für Medizin, Ordinarius für Parapsychologie an der Universität Leningrad und Träger des Leninor dens." Urban hatte von ihm gehört. Dieser Wassiliew behauptete, PSI-Kräfte beweisen zu können, und stellte den Lehrsatz auf, daß, wenn ein Mensch mentale Fähigkeiten habe, auch andere diese Fähigkeiten entwickeln könnten. Für Parapsycho logen galt er als der Herr der Welt des Übersinnli chen. „PSI-Kräfte können den Kosmos beherrschen", erklärte Lara. „In der Sowjetunion werden derar tige Forschungen von der Regierung finanziert, von den Partei- und militärischen Organisationen unterstützt und auch durchgeführt. Angeregt durch das geheimnisvolle amerikanische NautilusProjekt." „Die Sache mit der Katzenmutter", erinnerte sich Urban, „deren Wurf man in einem Atom-U 141
Boot Tausende von Meilen entfernt tief unter dem Polareis tötete. Dabei beobachtete man im Labor in Kalifornien, wie die Katzenmutter es zur selben Sekunde spürte und entsprechend reagierte." „Im Vergleich zu dem, was wir inzwischen erforschten, ist das ein alter Hut. Jedenfalls wurde Spaceman Gigan auf Telekinese und Prakognition trainiert. Zur Vervollständigung entwickelten wir aber noch ein Programm. Gigan sollte Voraussa gungen von Ereignissen machen, die wir mit ihm abgesprochen hatten und dann eintreten ließen. Daß es ihm leicht fällt, mit unserer Zentrale Kontakt aufzunehmen, dürfte mithin klar sein." „Solange sie ihn für ein überirdisches Wesen halten", äußerte Urban, „mag das funktionieren. Aber wenn sie ihn durchschauen, werden sie ihn auslöschen." „Mag sein", sagte Lara Redrova. „Aber ich weiß noch mehr. Was bin ich euch wert?" „Zunächst geht es um deine Sicherheit", erklärte Urban. Das Telefon summte. Er nahm ab. Er brauchte fast nichts zu sagen. Er erfuhr von einer Sache, die in sein Konzept paßte wie die Axt in eine Baumschule. Betroffen legte er auf und brauchte dringend einen Schluck aus der Bourbonflasche.
„Was ist geschehen?" fragte Lara feinfühlig. Urban verstärkte sein angeborenes Lächeln durch ein Kopfschütteln. Es sah aus, als könne er es nicht fassen. „Er ist fort." 142
„Wer?" „Gigan. Er muß den Amerikanern entwischt sein. Irgendwie. Jetzt läuft die größte Such- und Fahndungsaktion seit Bestehen der Vereinigten Staaten. Sie sind so besorgt um ihn, daß sie sogar die Geheimhaltung aufhoben und die NATO-Ver bündeten um Mithilfe ersucht haben. Angeblich wurden mehrere Gruppen geortet, die ebenfalls hinter eurem Spaceman her sind." „Vielleicht nur ein Trick? - Sie ließen ihn schon einmal sterben." Trotz der Hitze schien Lara zu frösteln. Viel leicht lag es auch daran, daß sie ihre Felle langsam davonschwimmen sah. „Wo kann er bloß stecken?" Urban schien nachzudenken. „So wie er gestylt ist, kommt er ohne KGBUnterstützung niemals aus den USA heraus", befürchtete Lara. „Er hat eine Helferin", erwähnte Urban. „Diese Stasy Keatch. Man hat sie ihm ins Bett gelegt, um seine Stimmung zu heben. Eine kleine Japanerin, ein Filmstar." „Dann helfen ihm womöglich die Japaner." Urban winkte ab. „Bei den Japanern kommt er vom Regen in die Traufe." Er zögerte, es auszusprechen. „Ich an seiner Stelle und mit dem Wissen, das er sich bei den Amerikanern erschlich, würde versuchen zu pokern. Um Geld und, Konditionen." „Ein Mann von einem Meter Körpergröße. Was hat der für Karten. Ziemlich miese." „Er bringt sich schon in die richtige Position", vermutete Urban. „In welche Position und wohin?" 143
„Ich fürchte", äußerte Urban, „ich weiß es. Aber lange kann er dort nicht bleiben. Wenn er überle ben will, muß er vorher sterben." „Wie meinst du das?" Er sagte es ihr. Er erklärte ihr, wie er die Situation sah und wie er handeln würde, wenn er für Gigan verantwortlich wäre. Aber er sagte nicht, wo Gigan sich seiner Meinung nach aufhielt, wo er sein Buon retiro gefunden haben könnte. In diesem Augenblick wurde an die Tür geklopft. Gewiß war es nicht der Etagenkellner. Das Klopfen verstärkte sich zu einem Hämmern. Jemand trat von außen gegen die Tür. Wie es aussah, würde sie der Gewaltanwendung nicht lange widerstehen. Der linke Flügel federte bei jedem Tritt stark nach innen. Was waren das für Leute, die sich in einem FünfSterne-Hotel nicht zu benehmen wußten. Lara Redrova sprang, nackt wie sie war, aus dem Bett. „Ich verschwinde." Sie nahm ihre Sachen und ihr Weinglas mit und rannte ins Badezimmer. Es hatte ein Fenster in den Lichthof. Sie war Agentin und würde notfalls entkommen. Urban riß die Mauser vom Magnethalfter, lud durch, ließ die erste Kugel der 7,65er vom Magazin in den Lauf springen und nahm sich vor, nicht zimperlich zu sein. Die Tür krachte auf. Sie standen da. Drei Mann. Zwei Japaner und ein weißer Europäer. Sie waren überbewaffnet. Sie hatten Maschinenpistolen, eine Luger mit Schalldämpfer und Eierhandgranaten. „Ja, er ist es", rief der Europäer. 144
„War ein langer Weg", sagte der Japaner rechts von ihm. „Er wußte von Anfang an mehr als wir. Er wußte alles. Und der Teufel soll mich holen, wenn er nicht weiß, wo Gigan steckt." „Was kann ich für Sie tun, Gentlemen?' fragte Urban noch höflich. „Uns zu Gigan führen", antworteten sie, „oder sterben." 13. Wenn es um die wirtschaftlichen Interessen Japans ging, riskierten sein Geheimdienst Kempetai und das Forschungsministerium Miti auch ein zweites Pearl Harbor. Kaum war in der Spionageszene durchgesickert, daß Gigan den Amerikanern in Kalifornien ent schlüpft sei, begannen auch die Japaner, ihn zu jagen. General Kogyo rief den Gigan-Stab zusammen und hörte sich die Kommentare der Experten an. Dann wandte er sich an Professor Nasaki vom Computerzentrum. „Und wie lautet Ihre Meinung?" „Die unserer Maschinen", nahm Professor Nasaki eine vorsichtige Korrektur vor. „Nun, sie stellen ihren Denkprozeß als eine Zickzacklinie dar, die sich aber spiralenförmig einem Punkt nähert." „Können Sie uns das einfacher beschreiben, Professor?" „Das ist nicht schwer", erklärte der Experte und las von einem langen Papierstreifen so flüssig ab, 145
als handelte es sich nicht um Zahlenausdrucke, sondern um Klartext. „In Europa wurde vor eini ger Zeit - im August, als alles begann - ein Ufo gesichtet. Man verlor es aber aus den Augen. Später kamen aus Europa Meldungen über dieses Weltraummaterial Macron, das auch Gigan in sich tragen soll, sowohl als künstliche Schädeldecke wie als Coronar-Bypass. Schließlich fand man in Europa über eine KGB-Agentin das Versteck eines abgestürzten Flugzeugs. Nun trafen wahrhaft brandheiße Informationen aus unserem italieni schen Netz ein. Bei diesem Flugzeug soll es sich um eine MiG-45 handeln, die es noch gar nicht gibt. Es liegt nahe, folgende Komponenten zusammenzu führen: Die MiG-45 ist jenes Flugobjekt, das man für ein Ufo hielt. Das Macron wurde in der Nähe gefunden. Ein Teil der defektgewordenen MiG-45 also. Verstärkt wird die Annahme, daß es sich um eine russische MiG handelt, durch die Tatsache, daß eine KGB-Agentin, die das Macron im Wagen hatte, dem Bundesnachrichtendienst in die Falle ging. Dort ließ man sie möglicherweise entkom men, in der Absicht, mehr dadurch zu erfahren. Federführend in der ganzen Sache ist der Agent Nummer achtzehn, als Mister Dynamit bekannt." General Kogyo unterbrach. „Was hat das alles mit Gigan zu tun? Gigan ist aus Fort-X-II entkommen und unauffindbar, obwohl seine Komplizin Stasy Keatch in unseren Diensten steht." Schon kam der Computerexperte zu seiner näch sten Schlußfolgerung: „Die Russen setzten möglicherweise durch ein vorgetäuschtes Ufo diesen Gigan wie eine Laus in den Pelz der Amerikaner. Das ändert nichts daran, 146
daß er inzwischen ungeheure Dinge weiß und in unsere Hand zu bringen ist. Auf welchem Wege, werden Sie mich nun fragen." „Erraten", äußerte der General mißmutig. „Zählen wir erst einmal zusammen, was wir haben: Gigan, das künstliche Monstrum und eine KGB Agentin. Sie bearbeitet den Fall in Europa, vielmehr sie kehrt die Reste zusammen. Sie muß die nötigen Informationen besitzen. Also kennt sie auch Gigan, seine Möglichkeiten und seine Absich ten. Der BND-Agent Mister Dynamit jagt diese Frau. Sucht Urban, und ihr habt den Schlüssel." Es gab noch andere Theorien. Aber am Ende wurde ein Team auf den BND-Agenten Urban angesetzt. Mit seinen weltweiten Verbindungen und Kon takten gelang es dem Kempetai, binnen weniger Stunden den derzeitigen Aufenthalt von Robert Urban zu ermitteln. Es war der Chef einer Import firma für Unterhaltungselektronik in Mailand, der Marketing-Direktor eines japanischen Automobil herstellers im Rheinland und schließlich ein Exge neral der Bundeswehr, der für sie als Personalchef arbeitete, von denen die entscheidenden Tips kamen. Kogyo setzte seine brillantesten Leute in Europa ein, dazu einen Ex-Geheimdienstler, der perfekt italienisch sprach. Sie delegierten das Kommando nach Stresa an den Lago Maggiore. Im Hotel Principe gab sich der dritte Mann als Angehöriger des italienischen Geheimdienstes mit Sondermis sion aus.
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Nun standen sie vor Urban in dessen Suite. „Er schießt nicht", sagte der Europäer. „Er schießt nie. Und keine Kugel reißt auch keine Löcher." Zu dritt stürzten sie sich auf ihn. Urban wehrte sich erst so gut es ging und dann sogar verzweifelt. Einen der Japaner brachte er zu Boden. Dem anderen verpaßte er ein Ding, daß er taumelte. Aber dann kam der erste wieder auf die Beine. Seine Handkante schlug durch. Sie war hart und genau plaziert. Für einen Moment ging bei Urban das Licht aus. Als es wieder flackerte, lehnte er gefesselt an der Wand. Sie fragten ihn wieder und wieder. Da Urban nichts sagte, schlugen sie erneut zu. Diesmal an die Stelle, wo es einen Mann langsam aber sicher kaputtmacht. „Er redet sogar Stuß", erklärte der Europäer, „wenn er schweigt. Dafür ist er berühmt. Aber nicht mit uns." „Lassen Sie mich, Signore", bat der Japaner. „Ich werde ihn schon mürbe kriegen." Nachdem sie ihn lange genug bearbeitet hatten, dachte Urban, daß es an der Zeit sei, endlich auszupacken. Aber noch wartete er, wenn auch unter Schmerzen. „Er redet nicht", stellte der Europäer fest. „Es muß schon seit frühester Jugend gewußt haben, was er heute nicht will, nämlich auspacken. Aber dagegen gibt es ein Mittel." So wie sie es vorbereiteten, fürchtete Urban, daß es zu irreparablen Schäden führen würde. „Ein Handtuch", sagte der Japaner, „ein nasses." „Ich wickle die Handgranate hinein." Der andere ging ins Badezimmer und kam mit 148
dem Tuch wieder. Er hatte Lara Redrova nicht bemerkt. Entweder sie war fort, oder sie stand hinter der Tür. Verdammt, dachte Urban, der zweite Teller ist noch da. - Er mußte sie ablenken. Wurde allmäh lich Zeit, daß er die Sache einfädelte. Als sie noch einmal fragten, wo Gigan sei, keuchte er es heraus. „Er kommt morgen früh an." „Wann?" „Noch bei Dunkelheit." „Wo?" „In Mailand, Linate, Aeroporto." „Da landen so früh keine Flugzeuge." „Er nimmt eine Chartermaschine aus Madeira." „Bis Madeira kam er also schon, dieses ober schlaue Stinktier. Okay, wer nimmt ihn in Emp fang?" „Ich", sagte Urban. Es war alles pure Phantasie, und er wußte nicht, wie es weiterging, aber es bedeutete Zeit gewinn. „Wer noch?" „Sicherheitskräfte." „Dann geht es in Linate nicht", entschied der Ex-Agent. „Wo bringt ihr ihn hin?" Sie mußten wieder grob werden, ehe er damit herausrückte. „Zu einem Haus hier oben am Lago Maggiore . . . auf der Schweizer Seite bei Ascona." Sie berieten sich und kamen zu einem Entschluß. Urban sollte Gigan in Empfang nehmen und erst einmal aus Linate wegbringen. Natürlich nicht ohne Manndeckung. Der Ex-Agent wollte dies 149
übernehmen, während die Japaner jederzeit ein greifbereit blieben. „Dann los", drängten sie. „Die Nacht dauert nur noch wenige Stunden."
Urban fuhr noch den Mercedes 300 E aus Innsbruck. Neben ihm saß der Europäer, Ex-Agent irgendeines Dienstes, vermutlich rausgeflogen wegen übler Machenschaften oder privater Geschäfte. So schätzte Urban ihn ein. In diesem Job, mit dem Wissen, an das man herankam, waren Millio nen zu scheffeln. Der Bursche stank nach Korrup tion, nach Bestechlichkeit und nach teurem Par füm. Fehlte nur noch, daß er eine versilberte Waffe mit Perlmuttkolben besaß. Urban fuhr zügig. „Mehr piano, wenn ich bitten darf", wünschte der andere. „Die Japse können sonst nicht folgen." Der rote Lancia war einmal dicht hinter ihnen, dann fiel er wieder zurück. Urban schaffte die Strecke bis Mailand in sieb zig Minuten, hatte also Zeit, sich zu überlegen, wie es weiterging. Wenn er Glück hatte, klappte es. Wenn er Pech hatte, mußte er eben dafür sorgen, daß es trotzdem klappte. Der andere unterstrich seine Worte stets damit, daß er den Druck mit der Kanone verstärkte. „Sie haben zuviel Durchblick, Dynamit. Tut mir leid." „Durchblick haben ist oft schädlich." „Halben Durchblick erträgt man gerade noch", spottete der Ex-Agent. „Angenehm ist nur der Nebel", erklärte Urban. 150
Da er sich in Linate auskannte, bog er in die riesige Tiefgarage unter der Hauptabfertigung. Der Lancia folgte ihm nicht. Die Japaner hielten es für geraten, oben an der Rampe zu warten. Der Ex-Agent, oder wer er war, nahm es mißbil ligend zur Kenntnis und achtete weiter auf Kon takt seiner Waffe mit Urbans Hüfte. „Los, aussteigen und keinen Schritt vom Weg, Mann. Ich habe einen nervösen Zeigefinger. Und heute ist er besonders nervös." Er folgte Urban in den Lift und erteilte Anord nungen, wie er sich zu verhalten habe, wenn Gigan erst durch den Zoll sei. „Ich gehöre ebenfalls zum Empfangskomitee", zischte er. „Und die Japaner lassen kein Auge von uns, wenn Gigan erst im Wagen sitzt." Urban zeigte, daß er verstanden habe. Sie verließen den Lift, eilten quer durch die Halle und suchten den Gate für Charterankünfte. Es war noch ruhig in Linate. Leer, wie ein Strand im Winter. Plötzlich tauchte hinter ihnen ein Beamter auf. Nein, es war eine weibliche Polizistin. Sie rührte einen Hund an der Leine. - Wußte der Teufel, wie Lara Redrova zu der Uniform und dem scharfen Dobermann gekommen war. „Paßkontrolle, Signori!" „Wir reisen nicht ab", sagte Urban. „Trotzdem. Wir machen Stichproben." „Suchen Sie Terroristen?" „Keine Diskussionen, Signori. I passaporti, per favore!" Der Ex-Agent zögerte. In der Manteltasche hatte er seine entsicherte Waffe. Urban zog den Paß und blätterte ihn auf. 151
„Danke", sagte Lara Redrova. „Von Ihnen bitte, auch, Signore." Der Ex-Agent protestierte und weigerte sich. Der Hund knurrte ihn an. Lara hatte Mühe, ihn zurückzuhalten. Urban warf einen Blick in die Runde. Ein Pärchen schmuste, und ein Neger lehnte an einer Säule und kiffte. Blitzschnell schlug Urban zu. Der Ex-Agent wehrte sich mit Fausthieben, aber es war nicht mehr als eine automatische Abreaktion. Zwei Zivilisten wurden auf sie aufmerksam. Sie kamen herüber. Urban fluchte. „Das auch noch." Doch Lara Redrova behielt die Ruhe. Sie wandte sich an die Zivilbeamten: „Rufen Sie die Mailänder Kripo an. Büro für Staatssicherheit, Capitano Cigi. Der Mann ist fest zunehmen und der Abwehr zu überstellen. Danke." Urban übergab ihnen den stark benommenen Ex-Agenten, und Lara verschwand. Urban sah sie noch einmal, als er am Kiosk einen riesigen Teddybären kaufte. Er wechselte ein paar hastige Worte mit ihr. „Auf der Straße nach Cannobio zwischen den Tunnels." „Verstanden." „Kannst du das Nötige beschaffen?" „Ich habe es bereits." „Dann beeil dich bitte." „Viel Glück", wünschte sie und war weg. Urban kaufte für den Teddy noch einen Kinder anorak, damit er nicht fror, und zwei Strohhüte. Einen hellen und einen braunen. Der des Ex 152
Agenten war grau gewesen. Aber jetzt, bei der Dunkelheit, würde es auch ein brauner tun. Er eilte in die Tiefgarage und brauchte einige Minuten, um alles zu arrangieren. Den Teddy mit dem Anorak und dem Hut, ein knapp metergroßes Gebilde aus Stoff und Säge späne, setzte er neben sich und schnallte ihn fest. Den dunklen Hut stülpte er über eine Kopfstütze der Rücksitzbank. Dann fuhr er los und wußte, daß er nicht nur einen Schutzengel, sondern mindestens zwei brauchte.
Vor Verbania verließ er die Autostrada. Der rote Lancia hing eisern hinter ihm. Bevor er gestartet war, hatte Urban seine Deko ration überprüft. Bei zehn Meter Abstand sah es aus, als befände er sich in Gesellschaft von zwei Männern, einem großen und einem sehr kleinen. Aber der Lancia durfte nicht näher als auf zehn Meter heran. Wenn sie überholten, war alles für die Katz gewesen. In Verbania fuhr Urban über einige Kreuzungen in der letzten Sekunde oder sogar bei Rotlicht. Das war nötig, um sie nicht aufrücken zu lassen. Andererseits durfte er nicht zu schnell sein. Lara brauchte Vorsprung. Aber sie war ja eine flotte Chauffeuse. Hinter der Stadt nahm Urban die Uferstraße. Bald setzte die Morgendämmerung ein. Schlecht für ihn, daß es sich um die Straße an der Westseite des Sees handelte. Im Osten, im Schatten der Berge, blieb es länger Nacht. 153
Aber die Berge waren hoch, und über ihren Gipfeln stand erst ein schmaler Silberstreifen. Jetzt, auf den letzten zwanzig Kilometern, zog Urban das Tempo an und registrierte genau, wo der Lancia aufholte oder wo er zurückfiel. Der Lancia lag so satt wie der Mercedes und war sogar noch stärker motorisiert. Jeder Durch schnittsfahrer hatte mühelos die Distanz gehalten. Aber der Japaner war kein Niki Lauda und kam mit dem Automobil nicht so gut zurecht. Urban stach voll in die Tunnels. Der Japaner ging sie eher vorsichtig an. Im Kurvengeschlängel - links den Fels, rechts die steil abfallende Böschung zum See - hatte Urban es in der Hand, das Gummiband zwischen ihnen zu dehnen oder zu verkürzen. „Bald", sagte er zu seinem stummen Beifahrer, „wirst du dich verdammt festhalten müssen, klei ner Mann." Und dem Aufpasser hinter ihm, der nur aus einem Hut bestand, riet er: „Ich hoffe, Sie vertragen etwas Hitze, Herr Kollege." Die Benzinanzeige pendelte zwischen dreiviertel und voll. Er hatte den Wagen gestern in Stresa aufgetankt. Das bedeutete noch mindestens fünfzig Liter Super. Einige hunderttausend Kilokalorien also. Das durfte reichen. Urban fuhr noch einen Zahn schneller. Die Japaner fielen weiter zurück. Urban legte Tempo zu, weil er wußte, daß es hinter dem letzten Tunnel vor Cannero soweit war, daß er bremsen mußte, um nicht selbst mit in die Hölle zu fahren. Er glaubte, etwas zu sehen. Nein, kein Zeichen. Irrtum. Also weiter. 154
Ein Strich lief quer über die Straße, aber schon ziemlich verwittert. Er konnte nicht von Lara Redrova stammen. Nächste Kurve. - Bevor er in den Tunnel schoß, sah er ihren Fiat Croma geparkt. Im Tunnel war nichts. Aber dort, wo die Röhre endete, stand Lara gegen den Fels gepreßt Urban fuhr noch zwanzig Meter weiter und bremste dicht am Straßenrand vor Ginsterbüschen, wo es senkrecht hinunterging. Er stieg aus. Lara kam mit zwei Handgranaten angerannt, links und rechts je eine. Urban riß den Kofferraumdeckel auf. „Sechs Sekunden Vorlauf', rief sie. „Muß reichen." Sie plazierte die Eierhandgranaten im Koffer raum, riß sie ab und schlug den Deckel zu. Urban warf sich in den Mercedes, würgte den ersten Gang hinein und stopfte den Teddybären zwischen Lenkrad und Gaspedal. Der Motor heulte auf. Urban ließ die Kupplung kommen und hechtete aus dem Wagen. Der 300 E zog ab, rammte einen Kilometerstein, durchbrach den Ginster und blieb hängen. Urban half nach, bis er kippte. Dann sprang er in Deckung. Noch während des Fluges zum See hinunter erfolgte die Explosion. „Schwere Handgranaten", keuchte Lara. „Neues Sprengmaterial. Detonax. Wirkt wie eine Panzer mine." Die Explosion zerfetzte den Mercedes. Gleichzei tig blowte der Tankinhalt hoch. Flammen, Rauch, brennender Lack, brennende Reifen, brennender Kunststoff der Innenverkleidung. 155
Der Lancia schoß aus dem Tunnel, fuhr vorbei. Seine Bremsen pfiffen. Er stieß zurück. Die Japaner sprangen heraus. Sie standen da, sahen was geschehen war, sprachlos und ratlos. Sie ruderten verzweifelt mit den Armen, schrien laut in ihrer unverständlichen Sprache. Einer wollte hinabklettern, um zu retten, was zu retten war. Der andere hielt ihn zurück. Sein Kollege riß sich los, doch eine weitere Explosion belehrte ihn eines besseren. Ein Lastwagen rollte vorbei und hielt an. Der Fahrer versuchte, mit den Japanern zu reden. Bald gab er auf. „Er wird die Polizei rufen", keuchte Lara neben Urban in Deckung. „Und ich werde mit Rom telefonieren, damit wenigstens SISMI weiß, was hier vorfiel." „Vorgetäuscht wurde", verbesserte Lara Re drova. Urban schüttelte den Kopf. „Werde mich hüten, ihnen zu erzählen, was wirklich passierte. Wozu sonst hätten wir Gigan sterben lassen." „Weil wir Menschenfreunde sind." „Professionelle", ergänzte er. „Kaum einer ist es wert." „Wenige nur", sagte Urban, „und ein paar Zwerge." Sie gingen durch den Tunnel, wendeten Laras Croma und fuhren nach Stresa in ihr Hotel zurück.
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Sie flogen nach Griechenland, wo man noch Inseln kaufen konnte. Auf einer dieser Inseln, so hatte der BND ermittelt, stand ein Haus. Es hatte erst vor kurzem den Eigentümer gewechselt. Mit einem Schnellboot fuhren sie von Mykonos aus hinüber, gingen an Land und näherten sich der Villa, obwohl überall Schilder mit Totenköpfen und der Aufschrift Achtung Selbstschüsse oder Privatgebiet - Betreten verboten angebracht waren. In der glühenden Mittagshitze marschierten sie hügelan. Neben den Pinien und Zypressen würden sie schon keine Tellerminen verbuddelt haben. „Wie gehen wir vor?" fragte Lara. „Ganz natürlich und locker." „Und wie ist das, bitte?" „Wir sagen die Wahrheit." Noch ehe sie das Haus erreichten, stand mit einemmal ein Mann da und legte eine Schrotflinte auf sie an. „Verschwinden Sie! " rief er. „Blitzschnell sogar, Signor Cantani", rief Urban zurück, „sobald wir Mariette von Grinzing - so war doch ihr Künstlername - gesprochen haben." „Was wollen Sie von mir?" erklang die Stimme einer resoluten Blondine aus dem Maulbeerge büsch. Urban wechselte jetzt ins Deutsche. „Die Erlaubnis, mit Gigan zu reden." „Gigan, wer ist Gigan?" Jetzt mußte Urban wirklich lachen. „Ich habe sein Leben gerettet", erklärte er. „Sie?" 157
„Indem ich ihn endgültig sterben ließ", ergänzte Urban. Er ging auf das Haus zu, ohne auf die tödliche Waffe von Gigans Manager zu achten. Lara Redrova folgte ihm. Oben im Schatten der Akazienbäume spielten zwei Kinder fröhlich Federball. ENDE
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