Terra Astra 82
Kurs ins Verderben von Klaus Fischer
1. Der Krieg gegen die Yu war, kaum begonnen, schon wieder beende...
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Terra Astra 82
Kurs ins Verderben von Klaus Fischer
1. Der Krieg gegen die Yu war, kaum begonnen, schon wieder beendet. Die ser Krieg, so dachte Markus Dicksen, war eine kuriose Angelegenheit ge wesen. Irgendwo, im leeren Raum zwischen den beiden Sternenkonzentra tionen der Milchstraße, die man Orion- und Perseusarm nannte, hatten sich gewaltige Mengen von Kampfschiffen massiert, mehr als fünftausend auf jeder Seite. Die Schutzschirme waren aktiviert worden, und dann hatte man taktische Manöver geflogen und sich gegenseitig ein wenig beschossen. Nicht übermäßig. Die Belastungsmesser der Feldschirme blieben im grünen Feld, also unterhalb der 33-Prozent-Schwelle. Man hatte sich offensichtlich nicht weh tun wollen. Und je länger die seltsame Konfrontation angehalten hatte, um so unklarer wurde es den Be teiligten, welchem Zweck das Ganze diente. Dann war an einem Schiff der Yu just in jenem Moment der Schutz schirm ausgefallen, als es gerade in einem waghalsigen Manöver einen terranischen Verband durchstie ß. Mit einer einzigen Salve hätten die zunächst befindlichen terranischen Kreuzer den schutzlosen Gegner in eine Energiewolke verwandeln können. Allein der entscheidende Feuerbefehl war ausgeblieben. Das Yu-Schiff hatte sich unbehelligt in Sicherheit bringen können. Ein paar Augenblicke lang hatte das Impulsfeuer aus den Geschützen der beiden feindlichen Flotten geschwiegen. Es war, als hielten auf beiden Sei ten Tausende von intelligenten Lebewesen den Atem an. Dann war das gigantische Farben- und Energiespiel vor der Schwärze des Weltalls weitergegangen. Atomsonnen waren im Raum entstanden, harte Gammastrahlen hatten, auf Schutzschirme prallend, schrecklich-grandiose Farbfontänen entstehen und sie wieder im Nichts vergehen lassen. Schließlich, nach zwei Tagen, schienen beide Seiten des schaurig schönen Spiels müde geworden zu sein. Wie auf ein geheimes Abkommen hin hatten sich die beiden Flotten neu formiert und waren in entgegenge setzter Richtung im galaktischen Raum verschwunden. "Was hältst du von der Geschichte, Eddy?" -1
Edwin Kramer, Oberleutnant und Erster Pilot des Raumkreuzers GEORG HOFMEISTER, nahm die Augen nicht von den Kontrollen. Er war daran gewöhnt, daß sein Kommandant häufig Gedankensprünge unternahm, die höchste Ansprüche an das Kombinationsvermögen seiner Untergebenen stellten. Darum antwortete er nur sarkastisch: "Ich bin begeistert." Der Ton, in dem diese Worte gesprochen wurden, strafte ihren Inhalt freilich Lügen, und Markus Dicksen, genannt "Moby", merkte, daß er wie der einmal Unmögliches von seinem Gesprächspartner verlangt hatte. Nichtsdestoweniger sagte er: "Ich meine natürlich den Krieg gegen die Yu." "Natürlich! Wir sprachen ja auch noch vor vierundzwanzig Stunden dar über. Und inzwischen..." "O, Gott!" seufzte Markus. "Warum nur mußtest du mich mit solchen Versagern umgeben? Ein bißchen Astronavigation, und schon sind alle anderen geistigen Funktionen blockiert. Laß mich bitte mal in den Piloten sessel. Dann vermagst du dich vielleicht zu einer Antwort auf meine Frage aufzuraffen." Edwin Kramer grinste. Dann wurde er übergangslos ernst, als er antwor tete: "Meiner Ansicht nach läßt sich die Angelegenheit nur von der psycholo gischen Warte her erklären. Beide Rassen, die menschliche wie die der Yu, waren seit mehr als zweihundert Jahren in keine kriegerischen Auseinan dersetzungen mehr verwickelt. Beide Rassen haben aber auch von den pla netologischen Voraussetzungen her eine ähnliche Entwicklung durchge macht. Ich meine, um sich im Überlebenskampf gegenüber der feindlichen Umwelt behaupten und durchsetzen zu können, haben sich bei jeder der beiden Intelligenzformen starke Aggressionskräfte entwickelt. Mit der durch die interstellare Raumfahrt bedingten Bildung eines kosmi schen Bewußtseins ging eine starke Pazifizierung beider Völker einher, die den natürlichen Aggressionstrieben entgegenstand. Dieser Drei-Tage-Krieg ist nichts weiter als der Ausdruck dieses kolle k tiven psychischen Konflikts, der sich ein Ventil suchte." Der Kommandant nickte. "Es fragt sich nur", gab er dann aber zu beden ken, "ob das kosmische Sandkastenspiel und das ziellose Herumballern tatsächlich eine echte Ventilation der Konfliktkräfte gewesen ist." "Die Zukunft wird's zeigen", meinte der Pilot lakonisch und wandte sich wieder seinen Instrumenten zu. Im nächsten Augenblick hatte er die kurze - 2
Unterhaltung vergessen. Am oberen Rand des Orterschirms erschienen nacheinander sechs kleine verwaschene Echos. In der gleichen Sekunde schrillten die Alarmsirenen durch das Schiff. Captain Markus Dicksen war mit einer für seinen massigen Körper au ßergewöhnlichen Behendigkeit an den Kontrollen. Er berührte einen Schal ter und sprach scharf in eine Membrane: "Alarmstufe rot, alle Mann volle Gefechtsbereitschaft! Vollzugsmeldun gen!" Während die Klarmeldungen der Sektionschefs hereinkamen und die Blicke der beiden Männer in der Zentrale die Kontrollanzeigen überflogen, stieß der Pilot hervor: "Also doch! Jetzt fängt der Krieg erst richtig an." Der Captain, die Anzeigen der Fernortung studierend, schüttelte den Kopf. "Das sind nicht die Yu", stellte er fest. "Sieh dir mal die Werte an!" Moby hatte recht, erkannte der Pilot: Die Daten der Super-Fernortung besagten, daß die Reflexe auf dem Orterschirm von Körpern herrührten, die langgestreckte, vermutlich zylinderartige Formen besaßen. Die Yu verwen deten, genau wie auch die Terraner, ausschließlich Kugelform. Außerdem - und auch das war den Instrumenten zu entnehmen - waren Struktur und Wellenlängen ihrer Emissionen von denjenigen der Yu we sentlich verschieden. Kramer sah seinen Chef an. "Was machen wir?" Der Kommandant beobachtete, die sechs Punkte sich unendlich langsam am oberen Rand des Schirms entlangbewegten. "Wir sehen uns das Zeug mal aus der Nähe an", sagte er. "Das ‚Zeug' sind sechs Raumflugkörper einer unbekannten Rasse." Ed win Kramers Stimme hatte einen warnenden Unterton. "Die Yu benutzen Kugel- und die Ejjoeenis Pyramidenform. Ich würde verdammt vorsichtig sein." Markus überlegte. Die GEORG HOFMEISTER befand sich, wie alle 5.080 Einheiten, auf Heimatkurs. Zusammen mit fünfzig weiteren Kreuzern bildete sie die Nachhut des riesigen Verbandes, der sich, weit auseinander gezogen, auf dem Rückflug zum Solsystem befand. Die GEORG HOFMEISTER hatte die Aufgabe, die linke Flanke nach "hinten" zu sichern. Sie stand in Funkverbindung mit der HERNANDO CORTEZ, dem Flaggschiff des Nachhutverbandes. "Wir werden den Admiral in Kenntnis setzen", sagte er seufzend und rief die Funkzentrale. - 3
Der Erste Pilot grinste. Diese Entscheidung war Moby bestimmt nicht leichtgefallen. Admiral van Deusen war nicht gerade das, was man ent schlußfreudig nannte. Damit sank die Hoffnung, einen selbständigem Re kognoszierungsflug zu den fremden Raumschiffen unternehmen zu können, auf den Nullpunkt. Wider Erwarten gab der Verbandschef jedoch seine Zustimmung. Vie l leicht geschah dies in der Gewißheit, daß fünftausend terranische Kampf schiffe durch das All rasten und binnen relativ kurzer Zeit in dem fragli chen Raumsektor zum Einsatz gebracht werden konnten. "Lassen Sie äußerste Vorsicht walten, Dicksen!" mahnte der Admiral. "Halten Sie ständige Funkverbindung. Und - Sie wissen ja - keinen Einsatz der Waffen, solange Sie nicht selbst bedroht sind. Ende!" Die Männer in der Zentrale der GEORG HOFMEISTER - inzwischen waren noch David Kle und Ettore Mancinelli hinzugekommen - sahen sich an. "Teufel", rief Mancinelli, "der Alte ist aber mutig!" Markus Dicksen sah den leitenden Ingenieur streng an. "Ich bitte mir eine etwas respektvollere Sprache aus, wenn es Sich um Vorgesetzte handelt, Leutnant Mancinelli. Andernfalls muß ich Sie dem Alten melden!" Ein wieherndes Gelächter brandete durch den Raum, verstummte aber sogleich, als der Kommandant den Arm hob. "Herrschaften, es geht los! Ed, wir brauchen eine Flugbahn, die uns auf Parallelkurs zu den Fremden bringt, etwa 20 Millionen Kilometer von ih nen entfernt." Der Chefpilot ging zur Elektronik und begann zu tasten. "David", damit wandte sich der Captain an den blutjungen Feuerleitoffi zier, "Schalte den Schirm ein, mache die Impulskanonen klar und pro grammiere die JL-Waffen auf Automatik bei D höher als 90 Prozent!" "Klar, Chef." Kle setzte sich an die Waffenelektronik und schaltete. "Manci, prüfe die ÜL-Systeme durch. Wieviel beträgt die Übergangs zeit?" Der Leitende Ingenieur warf einen Blick auf seine Instrumente. "Bei gleichbleibender Geschwindigkeit 12,5 Sekunden." "Gut. Ed, erhöhe unsere Geschwindigkeit, so daß wir in acht Sekunden in der ÜL-Phase sein können. Vielleicht müssen wir die Mücke machen. Und dann muß es schnell gehen!" "Geschwindigkeit 99,978 Prozent Licht", meldete kurze Zeit darauf der Chefpilot. - 4
"Übergangsphase 7,985 Sekunden", kam es wie aus der Pistole geschos sen aus Mancinellis Mund. "Kurs steht", sagte Edwin Kramer. Der Kommandant nickte befriedigt. "Ab die Post!" Der Erste drückte eine Taste. Die vier Männer sahen, wie die Reflexe auf dem Orterschirm ihre Ric h tung änderten; sie wanderten in einer allmählich flacher werdenden Parabel auf die Schirmmitte zu. Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Dann sagte Edwin Kramer: "Geschwindigkeitswerte der Fremden kommen ‚rein - jetzt auch Bahn werte..." "Ja?" "Sie fliegen mit 94,4 Prozent Licht. Richtung 2,00 Grad Nord, 00,8 Grad West bezogen auf Sol..." "Was?" Captain Dicksen fuhr herum. Der Chefpilot nickte ungerührt. "Ja. Sie passieren Arcturus in..." Er stockte, tastete, las ab, "ich muß mich korrigieren: Kurs zielt genau auf Arcturus." "Arcturus", murmelte Markus Dicksen. "Was mögen sie dort wollen?" Die rote Riesensonne lag zwar als solnaher Stern innerhalb des terrani schen Hoheitsgebietes. Jedoch gehörte sie nicht der terrano-galaktischen Föderation an, sondern war das Zentralgestirn des Reiches der Aukassin, einem humanoiden Volk, das über das Stadium der interplanetaren Raum fahrt noch nicht hinausgelangt war. Arcturus wurde von 42 Planeten um kreist, die sich in zwei verschiedenen Bahnebenen um die Muttersonne bewegten. Die Zentralwelt der Aukassin war der sechste Planet des größe ren der beiden Systeme. "Vielleicht besitzen ihre Schiffe die Möglichkeit, den Kurs zu ändern", sagte Edwin Kramer. Captain Dicksen, an den zuweilen ätzenden Spott seines Astronauten gewöhnt, antwortete nicht gleich. Dafür meinte Mancinelli: "Jedenfalls sieht es so aus, als ob sie uns einen Besuch abstatten wollen." "Uns oder diesen Cornflakes", sagte Kle. "Darum werden wir sie fragen, was sie hier wollen!" Der Kommandant berührte einen Sensor und sprach in eine Membrane: "Dagmar, setze folgenden Spruch ab: Hier terranisches Schiff GEORG HOFMEISTER. Sie befinden sich innerhalb des terranischen Hoheitsbe-
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reichs. Geben Sie bitte Ziel und Zweck Ihres Besuches an. Captain Dic k sen..." "Glaubst du, sie verstehen terranisch?" erkundigte sich Kramer. Er fing einen verweisenden Blick des Kommandanten auf und murmelte eine Ent schuldigung. "Anschließend sendest du den NMDS. Das Ganze im Zweiminutenwech sel. Ende!" Die Funkerin bestätigte. Eine halbe Stunde später war es offensichtlich, daß die Fremden nicht antworten wollten oder - nicht konnten. Letzteres war unwahrscheinlich, da es sich um sechs Schiffe handelte. Es erschien so gut wie ausgeschlossen, daß auf allen sechs Schiffen die Funkanlagen aus gefallen waren. "Vielleicht können sie mit dem NMDS nichts anfangen", meinte Kle. Auch das war unwahrscheinlich, überlegte der Kommandant. Das nuklear-mathematische Dekodiersystem war ein Übersetzungssystem, das, wie schon der Name verriet, auf atomaren, chemischen und mathemati schen Zusammenhängen und Gesetzen aufbaute, die im gesamten Univer sum ihre unverrückbare Gültigkeit besaßen. Die Fähigkeit, interstellare Raumfahrt zu betreiben, setzte die Kenntnis solcher mathematisch physikalischen Gesetze voraus. Aus diesem Grunde hatte bei interstellaren Begegnungen diese Verständigungsmöglichkeit bislang noch nie versagt. Markus blickte auf die Instrumente. "Wir gehen, wie geplant, auf 20 Mil lionen Kilometer heran. Dann...", er schwieg. "Einen Warnschuß?" schlug Kle vor. "Vielleicht." Markus zögerte. "Auf jeden Fall beginnen wir mit den Mes sungen." Zwanzig Minuten später war es soweit. Die sechs Echos verharrten dicht neben dem Fadenkreuz. Die verschiedenen Ortungssysteme der GEORG HOFMEISTER wurden in Aktion gesetzt. Zeiger auf Skalen begannen zu wandern. Oszillographen pulsierten, Masse- und Formtaster, Emissionalanalysatoren und Telekameras arbeite ten. Die Bordelektronik fing an, die Ergebnisse auszudrucken. "Hm", machte Kle, als er die Werte las, "prächtige Kähne, alle sechs über tausend Meter lang, hundertzwanzig Meter dick..." "Wir können selber lesen", versetzte Mancinelli.
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"Oh, Entschuldigung, Herr Leutnant!" Kle spielte den Beleidigten. "Ich möchte nur daran erinnern, daß die GEORG HOFMEISTER 192,50 Meter mißt von Bug bis Heck, und..." "Und von Heck bis Bug 195 Meter", ergänzte Kramer. "Jawohl, Astronaut", sagte der junge Feuerleitoffizier in das allgemeine Gelächter hinein, "wenn Sie den Kopf ‚rausstecken!" Auf dem einen Monitor erschienen die Bilder, die die Telepolaroid aus gewertet hatten. "Na, so was!" entfuhr es Kramer. Auch die anderen waren erstaunt. Den Größen- und Massenangaben nach hatten sie mit langgestreckten, torpedoartigen Flugkörpern gerechnet. Dies traf nicht zu. Die Schiffe sahen eher aus wie gigantische Hanteln, deren Achsen verdickt waren. "Die Werte der Superfernortung waren also falsch", sagte der Leitende. "Wie ist es mit dem Warnschuß?" fragte Kle. Der Captain zögerte. Da sagte Kramer mit seltsamer Stimme: "Darauf würde ich vielleicht doch lieber verzichten!" Seine Augen waren auf den großen. Orterschirm geheftet. Die anderen, seinem Blick folgend, erstarrten. Am oberen Rand erschienen plötzlich Echos. Erst zwei, dann fünf, zehn, zwanzig... Und dann wurden auch am rechten Rand Reflexe sichtbar. "Uff", rief Mancinelli, "das ist ‚ne ganze Flotte!" "486 Stück", las Kramer an der automatischen Echozählung ab. Er blic kte den Kommandanten an. Ein bißchen viel für uns, würde ich sagen." Markus Dicksen nickte. Da erhellte sich ein Bildschirm. Das pausbäckige Gesicht Dagmar Ulle r sens formte sich. "Captain", sagte die Funkerin, "Spruch von Admiral Deusen, warum Sie sich noch immer nicht gemeldet hätten. Was los wäre." "Verdammt", schimpfte Markus. "Den habe ich vollkommen vergessen. Aber jetzt müssen wir erst hier weg. Manci, fahre das T-Triebwerk hoch! Ed, Kurs 90 Grad backbord. Dann Zielkoordinaten: 7. Flottille! Dagmar, laß dir mal was einfallen, was wir dem Alten erzählen können, warum wir..." "Ich, immer ich!" protestierte die Funkerin. Aber Markus schaltete den Schirm aus.
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Von "unten" begann es zu dröhnen, als das Tachyonentriebwerk anlief. Der Chefpilot sah auf die Kontrollen. "ÜL-Phase in x minus 6 Sekunden! - fünf, vier, drei, zwei, eins..." Urplötzlich wurde der Orterschirm schwarz. Auf der Kontrollwand, die vor dem Kommandanten und seinem Piloten in die Höhe ragte, flammten rote Skalen auf, Zeiger begannen von rechts nach links zu wandern, Digi talanzeigen liefen rückwärts. Markus lehnte sich zurück. 486 Einheiten, überlegte er. Vielleicht waren es noch mehr. Sie hätten eine Sonde zurücklassen sollen. Nun ja, die Flotte würde sich der Sache annehmen, sowieso... 2. Admiral Jochen Flanders besaß das, was man als Charakterkopf bezeichne te. Über einem tief gebräunten, kantigen Gesicht wellte sich ein dichter, grünweißer Haarschopf, der in der Mitte sorgsam gescheitelt war. Buschi ge, ebenfalls grünweiße Brauen wölbten sich über hellen, ausdrucksvollen Augen, die von zahllosen Lachfältchen umgeben waren. "Haben Sie Ihre Entscheidung getroffen, Admiral?" Während sie dies fragte, betrachtete Oberst Sola Toulandi den sensiblen Mund des Flottenchefs. Sie fühlte dabei die nie versiegende Bewunderung, die sie von dem Tage an, als sie ihrem Chef zum erstenmal begegnet war, empfunden hatte. Dieser Mann, dachte sie, war wie ein lebendiger Schutz schirm, ein Schutzschirm, der zwölfeinhalb Milliarden Menschen umspannt hielt. Der Drei-Tage-Krieg gegen die Yu hatte es wieder bewiesen, daß die Menschheit sich nicht ohne Grund diesem Manne bedingungslos anvertraut hatte. Seiner Umsicht, seinem Weitblick und seiner unerschütterlichen Konsequenz war es zu verdanken, daß aus dem Weltraummanöver, wie man das groteske Kampfgeschehen genannt hatte, nicht ein kosmischer Vernichtungskrieg geworden war. Als jenes Raumschiff der Yu ohne Schutzschirm mitten durch den terra nischen Kreuzverband geflogen war, hatte der Admiral blitzschnell gehan delt. Sein striktes Feuerverbot an die gesamte Flotte hatte seinen Eindruck auf den gegnerischen Befehlshaber nicht verfehlt und vermutlich auch die
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Voraussetzungen dafür geschaffen, daß ein Tag danach die Streitkräfte beider Parteien den kosmischen Schauplatz verließen. Jochen Flanders blickte auf. "Wie würden Sie sich entscheiden, Sola?" fragte er. Sola Toulandi lächelte. Das war typisch für diesen Mann. Die Frage war keineswegs Ausdruck einer etwaigen Unentschlossenheit. Sie kennzeichne te vielmehr den Willen des Admirals, seinen Untergebenen stets Werter lebnisse zu vermitteln, sie fühlen zu lassen, daß ihre Anwesenheit, ihre Meinung, ihr Urteil vonnöten waren. "Ich würde mit einem Teil der Flotte zum Arcturus-Sektor fliegen. So dann Vizeadmiral Deusen den Auftrag geben, mit einem Spezialverband diese geheimnisvollen Fremden einmal richtig unter die Lupe zu nehmen. Natürlich müßte Terra durch einen Funkspruch entsprechend in Kenntnis gesetzt werden." Der Admiral nickte. "Genauso werden wir vorgehen. Lediglich den Funkspruch werden wir durch ein Kurierschiff ersetzen. Ich möchte die Angelegenheit vorläufig geheimhalten. Man weiß nicht, was sich daraus noch entwickelt." "Es handelt sich nur um 486 Schiffe, Admiral!" Verwunderung malte sich auf Sola Toulandis Zügen. Der Oberkommandierende der terranischen Raumstreitkräfte sah sie ernst an. "486 Schiffe waren es, als der Kommandant des Kreuzers sich zurück zog. Vielleicht sind inzwischen noch welche hinzugekommen." "Oder werden noch hinzukommen", beeilte sich Sola, ihren Fehler wie dergutzumachen. Der Admiral ging hinüber zum großen Kartentank und betrachtete nach denklich die dreidimensionale Projektion des Orionarms. "Wir stehen hier. Arcturus...", Flanders demonstrierte mit einem Leucht pfeil, "befindet sich hier. Die Fremden bewegen sich - noch - mit Unter lichtgeschwindigkeit auf dieser Bahn in Richtung Arcturus. Wir werden mit der dritten, fünften und sechsten Flotte zum Arcturus-Sektor fliegen und dort eine Warteposition beziehen. Inzwischen wird Admiral Deusen, ver stärkt durch einige Einheiten des Spezialverbandes und geschützt durch die erste Flotte, den Fremden entgegenfliegen und Kontakt auf nehmen." "Die Fremden reagieren nicht auf Funksprüche." "Ich weiß. - Ich denke aber, unsere Spezialisten werden sich schon etwas einfallen lassen. Wenn nicht auf Funksprüche, so werden sie vielleicht auf etwas anderes reagieren." - 9
"Sie denken an Impulsfeuer", fragte Oberst Toulandi. Der Admiral wölbte die Augenbrauen. "Wir wollen", sagte er dann be tont, "alles vermeiden, was nach aggressiven Absichten aussieht. Und ich möchte, daß Sie dies in einem entsprechenden Tagesbefehl Offizieren und Mannschaften absolut deutlich machen, Sola." "Ja, Sir! Was geschieht mit dem Gros der Flotte?" "Das Gros der Flotte schicken wir nach Hause - das heißt..." Er blickte eine Weile abwesend in den Kartentank, schüttelte dann den Kopf wie über sich selbst und fuhr fort: "Wir schicken es zurück ins Solsystem unter fol gender Auflage: Alarmstufe gelb bleibt bestehen!" "Das bedeutet Urlaubssperre, Admiral." "Ja - ich habe so ein Gefühl, als ob wir noch einmal jedes Schiff und je den Mann brauchen werden." An diese letzten Worte dachte Sola, als sie wenig später daranging, die Anordnungen des Flottenchefs in präzise Befehle umzuwandeln. Warum war Flanders so überaus vorsichtig? Warum machte er aus dem Auftauchen von ein paar hundert unbekannten Raumschiffen ein solches Problem? Gewiß, es mochten inzwischen mehr geworden sein. Aber, selbst wenn es tausend, zweitausend oder fünftausend waren, die terranische Flot te war sowohl in punkto kosmonavigatorischer, waffen- oder triebwerk technischer Ausstattung als auch in bezug auf Ausbildung, Fähigkeiten und Einsatzwillen der Besatzungen von einer Qualität, die - so dachte Sola Tou landi - schlechthin unüberbietbar war. Auf der anderen Seite: Admiral Flanders war alles andere als ein Feig ling. Es mußte also einen Grund haben, da der Flottenchef das Auftauchen der Unbekannten so überaus ernst nahm. War es sein sechster Sinn, der ihn zu solch großer Vorsicht trieb? * Der Servoroboter servierte schnell und geräuschlos. Er plazierte die be stellten Speisen auf die Wärmer, füllte die Getränkebecher und den Servie t tenhalter. Dann berührte er einen Knopf am Tisch. Die Paneele glitten in ihre Füllung und gaben die Besteckmulden frei. Markus Dicksen hatte die Arme vor der Brust verschränkt und beobachte te, wie sich sein Gegenüber ein gegrilltes Filetstück auf den Teller lud. Grit von Aspern war eine attraktive Frau. Verdammt attraktiv! Langes blondes Haar umrahmte in Wellen ein Gesicht, dessen eigenartige Unre- 10
gelmäßigkeit eher anziehend als unharmonisch wirkte. Die Augen waren orangegelb und wiesen somit ihre Besitzerin als Venusgeborene aus. Sie blickten kühl, selbstsicher und ungewöhnlich klug in die Welt. Entgegen manchen Männern, die es heute noch, im 23. Jahrhundert, aus dem Gleichgewicht brachte, wenn eine Frau ihre Selbstsicherheit offen zur Schau trug, störte sich Markus nicht im geringsten daran. Er betrachtete den Kampf der Geschlechter um die Hegemonie, der in den letzten Jahrhunder ten auf der Erde ausgebrochen war und noch immer anhielt, als einen Ein fall der Natur - und zwar nicht den schlechtesten -, den versiegenden spezi fisch artfördernden Kräften des Homo sapiens neue Impulse zu verleihen. Diese Frau gefiel ihm. Diesmal - und er wußte, daß die anderen Offiziere seine Meinung teilten - hatte der alte Deusen, entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten, endlich einmal eine vernünftige Entscheidung getroffen, als er die Besatzung der GEORGE HOFMEISTER durch zwei weibliche Wissenschaftler verstärken ließ. Denn auch Fia Albrecht - er streifte die Terranerin, die, grauhaarig, klein und zierlich, neben Ed saß, mit einem raschen Blick - konnte sich durchaus sehen lassen... "Hatten Sie schon mit Extraterrestriern zu tun, Captain?" Die Frage der Kosmobiologin unterbrach seinen Gedankenstrom. "Ja, gewiß, Frau Wissenschaftlerin", antwortete Markus. Amüsiert be merkte er, wie Grit errötete. "Auf Kelp II zum Beispiel." "Wenn Sie es mit dem Skipper nicht verderben wollen, nennen Sie ihn lieber nicht bei seinem Dienstgrad", mischte sich Mancinelli ein, der, seit dem die beiden Frauen da waren, sich offensichtlich bemüht zeigte, diesen zu demonstrieren, daß er eine wichtige Rolle an Bord spielte. "Er heißt..." "Markus...", ergänzte der Kommandant. Kramer legte Messer und Gabel hin, und auch Kle hörte auf zu essen. Markus, der den scharfen Spott seines Piloten fürchtete, sagte hastig: "Na ja, Sie können Moby zu mir sagen." "Na also", knurrte Edwin Kramer befriedigt. Die beiden Frauen wechsel ten einen Blick. Dann sagte die Kosmobiologin und lächelte dabei: "Wann werden wir im Zielgebiet sein, Markus?" Kle unterbrach von neuem seine Kaubewegungen. Kramer grinste, und nur Mancinelli schien wütend. "In zwei Stunden und einundzwanzig Minuten", sagte Captain Dicksen und biß zufrieden in sein Steak. Eine halbe Stunde später saß er mit David Klee zusammen in den Kon tursesseln der Zentrale und beobachtete die Kontrollen. - 11
Während der einen Stunde Abwesenheit hatte sich nichts Neues ergeben. Die Automatik, die alle Steuer- und Kontrolleinheiten überwachte, hätte andernfalls auch sofort Alarm gegeben. Der Kommandant warf einen Blick auf den Orterschirm. An den Rändern schimmerten die unbeweglichen Echos der mit der GEORG HOFMEI STER im Verband fliegenden Nachbarschiffe. Der Flottenchef hatte den durch Spezialeinheiten verstärkten Nachhut verband zu dem Raumsektor beordert, in dem sich die Fremden auf ihrer Bahn in Richtung Arcturus bewegten. Einige Lichtstunden von diesen ent fernt, würde der Verband, der von Vizeadmiral Deusen befehligt wurde, auf die 353 Einheiten der ersten Flotte stoßen, die den Schutz über das Spezia l kommando übernehmen sollten. Auf dem Pult vor dem Kommandanten leuchtete eine blaue Lampe auf. Das bedeutete, daß die GEORG HOFMEISTER angerufen wurde. Dagmar Ullersen hatte den Ruf in die Zentrale gegeben. Rechts oben erhellte sich ein Bildschirm. Der Kopf eines Mannes mit den Rangabzeichen eines Majors formte sich, und als er die Lippen bewegte, tönte es aus dem Lautsprecher: "Flaggschiff HERNANDO CORTES, Vizeadmiral Deusen. Rundspruch an alle Einheiten der Ersten Flotte. Der Chef dieser Flotte, Konteradmiral W. F. Fritzen, wurde meinem Kommando unterstellt. Damit tritt das Unter nehmen in Phase B. gezeichnet: Deusen, Vizeadmiral, Ende!" Unter Phase B wurde die Annäherung an den fremden Raumschiffsver band verstanden, also die Vorbereitung auf Phase C: Kontaktaufnahme und Erkundung über Absicht und Ziel der Fremden. Der Tagesbefehl des Kommandeurs der Raumstreitkräfte hatte keinen Zweifel daran gelassen, daß man in diesen beiden Punkten eine Klärung erwartete. Erstaunlicherweise schien der alte Deusen diesen Optimismus zu, teilen. Vielleicht tat er auch nur so. Allerdings hatten die Spezialschiffe ein paar Dinge mitgebracht, die einen gewissen Optimismus begreiflich erscheinen ließen. Da waren einmal die neuen Neutrino-Sonden. Das waren semimaterielle Tester, die aufgrund ihrer Masselosigkeit jede Materie durchdrangen. Dabei nahmen sie Informationen über diese Materie auf, die ihnen beim Austritt durch ein kompliziertes Feldspiegelsystem wieder abgezapft und in einem Empfänger gespeichert und ausgewertet wurden.
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Die GEORG HOFMEISTER war mit einer solchen Sonde ausgestattet worden. Außerdem hatte man noch einen der neuentwickelten teleelektronischen Speichertaster (TEST) übernommen. Mit einem derartigen Gerät konnte man die Magnetspeicher jeder Elektronik auf eine Entfernung bis zu 2,5 Millionen Kilometer anzapfen und auf die Speicher der Schiffsele ktronik überspielen. Ja, dachte Markus, sie waren nicht mit leeren Händen gekommen. Die Frage war nur: Was hielten die Fremden in ihren Händen? Wobei der Be griff "Hände" natürlich nur symbolischen Wert besaß. Über die äußere Gestalt der Fremden waren vorerst nicht einmal Spekulationen möglich. Das sollte sich jedoch bald ändern. So jedenfalls hoffte Markus Dicksen und mit ihm alle, die an diesem Unternehmen teilnahmen... Zwölf Minuten später trat der Verband geschlossen in die nächste ÜL Phase. Es war die letzte, und sie würde die terranischen Schiffe bis kurz vor ihr Ziel bringen. Es sei denn - und bei diesem Gedanken wurde Markus unbehaglich -, die Fremden hätten ihrerseits die Lichtgeschwindigkeit über schritten. Aber diese Befürchtung erwies sich als grundlos. Als der Tachyonenan trieb verstummte und durch das Panzerglas der Zentrale wieder der ster nenbesäte Weltraum flimmerte, standen am oberen Rand des Orterschirms sechs schwache Reflexe. Die Vorhut der Fremden. Der Ortungsalarm schrillte durch das Schiff. Der Kommandant aktivierte die Bordsprechanlage und sprach in die Membrane: "Alarmstufe rot! Sektionen gefechtsklar. Offiziere und wissenschaftliche Mitarbeiter in die Zentrale. Leutnant Ullersen bleibt in der Funkzentrale. Ende!" Ähnliche Befehle würden auf allen übrigen Schiffen des gemischten Ver bandes ausgegeben werden. Alles andere verlief von nun an nach dem vor her festgelegten Programm. Die Flotte würde sich den Fremden weiter nä hern. Bei Ortungskontakt mit dem Hauptpulk würden sich die 415 Einhei ten aufspalten und einen Kurs einschlagen, der auf drei Seiten parallel zur Bahn der Fremden verlief. Das gesamte Manöver war aufgrund der Messungen, die die Orter der GEORG HOFMEISTER bei ihrem ersten Kontakt mit den Fremden vorge nommen hatte, berechnet und programmiert worden. Inwieweit dieses Pro gramm eventuell modifiziert werden mußte, hing davon ab, ob und in wel- 13
cher Weise sich Richtung, Geschwindigkeit und Formation der fremden Flotte geändert hatten. Da waren sie! Während die sechs zuerst aufgefangenen Echos durch das obere Drittel des Orterschirms wanderten, wurde dessen linker oberer Rand plötzlich heller, und es erschien eine Flut neuer Reflexe, die den alten langsam folg ten. Der Ortungszähler begann zu ticken. "Dieselbe Formation", sagte David Kle, der, wie auch die anderen Män ner und Frauen, die der Kommandant in die Zentrale gebeten hatte, inzwi schen seinen Platz im Kommandoraum eingenommen hatte. Eine seltsame Formation, dachte der Captain. Der dreidimensionale Or terschirm zeigte, daß die Fremden eine Ordnung flogen, die einen exakten Quader darstellte. Die Kantenlänge dieses Quaders betrug in Flugrichtung fast zwei Millionen Kilometer. Markus blickte auf den Ortungszähler: 486 Einheiten. Er atmete auf. Es waren also keine weiteren Schiffe hinzugekommen. Und auch Kurs und Geschwindigkeit hatten sich nicht geändert, wie er seinen Instrumenten entnahm. Er tastete einen Befehl in den Bordcomputer. Einen Augenblick später druckte dieser auf einem Monitor aus: "Neu ermittelte Kurs- und Geschwindigkeitswerte sind mit den gespei cherten Werten identisch." Edwin Kramer sah seinen Chef an. "Dann kann es ja losgehen!" Markus nickte. Er berührte einen Sensor und sagte: "Dagmar, stelle eine Verbindung zum Flaggschiff her." Die Funkerin bestätigte. Kurze Zeit später erhellte sich ein Schirm. Ein Ausschnitt einer Schiffs zentrale wurde sichtbar. In der Mitte der breite Oberkörper eines blauuni formierten Mannes mit den Rangabzeichen eines Vizeadmirals. Markus grüßte lässig und sagte: "Raumkreuzer GEORG HOFMEISTER, Captain Dicksen. Sir, die neuen Meßdaten stimmen mit den gespeicherten überein." Admiral Deusen legte die Hand an den schwarzglänzenden Schirm seiner Mütze. "Danke, Captain!"
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Markus sah, wie der Kommandeur eine Taste drückte und dann weiter sprach: "Rundspruch an alle: Vorprogrammiertes Manöver ohne Modifikation! Programmabruf um 13:05 Uhr Bordzeit. Ende!" Der Schirm erlosch. Markus drehte sich, sah die Männer und Frauen in der Zentrale an. "Herrschaften es ist soweit!" Fünfzehn Minuten später begann das Kursangleichungsmanöver. Es dau erte drei Stunden. Während dieser Zeit arbeiteten bereits die Analysatoren. Sie lieferten die ersten groben Meßwerte, die im Laufe der Annäherung mehr und mehr verfeinert und vervollkommnet wurden. Hierbei stellte sich heraus, daß nicht alle Schiffe die gleiche hantelartige Form besaßen, wie sie die Besatzung bei ihrem ersten Kontakt mit den Fremden festgestellt hatte. Etwa fünf Prozent waren von walzenartiger Form. Es waren gigantische Raumflugkörper gut zwölfhundert Meter lang und an die zweihundert Me ter dick. Ein noch geringerer Prozentsatz hatte schlanke Zylinderform. Die GEORG HOFMEISTER flog in der zweiten Reihe des Verbandes, dem sie zugeteilt worden war. Die "innere" Reihe, das heißt diejenigen Schiffe, die sich nach Abschluß des Manövers der fremden Flotte am näch sten befinden würden, waren Einheiten der Ersten Flotte. Admiral Deusen war kein Risiko eingegangen. Da niemand wußte, wie die Fremden auf den Anflug von über 400 Raumschiffen reagieren würden, hatte er die waffen technisch am besten ausgerüsteten Einheiten vorausgeschickt. In ihrem Schutz sollten die Spezialschiffe, ihren Auftrag durchführen: Erforschung der biologischen Struktur der fremden Intelligenzen, ihrer Technologie, ihres Waffenpotentials und - last not least - Kontakt mit den fremden Le bewesen, um Ziel und Zweck ihrer Expedition festzustellen. In der Zentrale der GEORG HOFMEISTER war es totenstill. Die Augen der Frauen und Männer hingen wie gebannt an den Schirmen und Anzei gen. Wie würden die Fremden die Annäherung der Terraner aufnehmen? Eine Reaktion würde erfolgen. Diese Tatsache schien außer Frage. Es fragte sich nur, welche. Träge wanderten die Echos auf dem Orterschirm der Zentrumszone zu. Es knackte. Aus einem Sprecher klang die Stimme der Funkerin: "Leutnant Ullersen an Chef: Flaggschiff setzt Spruch an die Fremden ab..." - 15
"Laß hören, was der Alte zu sagen hat!" "Ja, Chef." Auf dem Schirm formte sich ein Symbol: zwei silberne Kometen. "Schöner Zug von ihm, daß er die Fremden nicht zu sehr verschrecken will mit seinem Konterfei", bemerkte Edwin Kramer. Die beiden Frauen schienen am stärksten von der Spannung befallen ge wesen zu sein, dachte Markus. Ihr Lachen brach aus ihrem Mund wie der Dampf aus einem Hochdruckventil. Mancinelli gluckste, und David grinste. Der junge Waffenoffizier schien gelassen... "Hier spricht Vizeadmiral Paulus Deusen, Kommandeur eines terrani schen Raumschiffsverbandes. Sie befinden sich innerhalb des terranischen Hoheitsgebietes. Verringern Sie Geschwindigkeit auf 10 Prozent der Licht geschwindigkeit, und geben Sie Zweck und Ziel Ihres Unternehmens ah!" Das Rangabzeichen auf dem Schirm verschwand. Dann begann der Funkoffizier im Flaggschiff die Symbole des NMDS-Kodes zu senden. Funkspruch und Kodesendung wurden zweimal wiederholt. Inzwischen hatte, wie auf dem Orterschirm zu erkennen war, die schwe ren Kampfschiffe des Verbandes ihre Position parallel zum Kurs der frem den Flotte bezogen. Auf drei Seiten von den temtnischen Schiffen begleitet, raste diese weiterhin unbeeindruckt durch das Weltall auf die Sonne Arcu turus zu, die, rotgelb flammend und riesengroß mit ihrem gigantischen Zweiundvierzigplanetensystem, nur noch Lichtwochen entfernt, im Raum stand. "Das gibt's nicht!" murmelte Mancinelli. Markus wußte, was der Leitende Ingenieur meinte: Es erschien ihm un verständlich, daß sich eine Raumschiffsflotte von einem fremden Verband einkreisen ließ, ohne auch nur die geringste Reaktion zu zeigen. Funk kommunikation, Geschwindigkeits- oder Kursänderung, Beschuß oder Einsatz sonstiger Waffen, dies alles wäre normal, wäre zu erwarten gewe sen. Das Schweigen der Fremden, ihre absolute Ignorierung der Präsenz der Terraner, das war es, was dem Geschehen einen mysteriösen, ja unheimli chen Anstric h gab. "Sie fliegen ohne Schutzschirme!" sagte Kramer. Ja, dachte der Captain, ein Faktum, das das Rätsel noch erhöhte. Mußten die Fremden nicht damit rechnen, jederzeit von den sie begle i tenden Schiffen beschossen zu werden? Es gab kein Material im Univer sum, das einem Beschuß mit Gammastrahlen standhielt. Kannten die Fremden keine Gammastrahlgeschütze? - 16
Markus schüttelte den Kopf. Das war undenkbar. Ein Volk, das die inter stellare Raumfahrt beherrschte, wußte über das Strahlenspektrum Bescheid, wer wollte das in Zweifel ziehen? Oder kannten sie keine Gewaltanwendung, keinen Kampf, keinen Krieg? Unvorstellbar! Die Beherrschung der interstellaren Raumfahrt setzte einen technologischen Grad voraus, zu dessen Erlangung es großer Anstrengun gen über einen längeren Zeitraum hinweg bedurfte. Und die Energien, die für diese Anstrengungen verbraucht wurden, entstammten eben jenen Kräf ten, die auch die Wurzeln aller gewaltsamen Auseinandersetzungen waren: den Aggressionskräften. Nein, die Phänomene der Gewalt konnten den fremden Raumfahrern nicht unbekannt sein. Warum also reagierten sie nicht? Vom Flaggschiff aus setzten sie den zweiten Funkspruch ebenfalls mit nachfolgender NMDS-Kodesendung ab. "Terranischer Verband an fremde Raumschiffe: Verlassen Sie umgehend terranisches Hoheitsgebiet, andernfalls sehen wir uns gezwungen, von un seren Bordwaffen Gebrauch zu machen! Ende!" "Jetzt nennt er nicht mal mehr seinen Namen. Diese Flucht in die An onymität ist ein Zeichen von Unsicherheit!" Kramer drehte sich um und sah Grit von Aspern zustimmungsheischend an. "Möchten Sie in der Haut des Admirals stecken?" fragte die Kosmobio login zurück. Der Pilot zuckte die Achseln. "Was geschieht", fragte Fia Albrecht, "wenn die Fremden der Aufforde rung nicht Folge leisten?" "Vermutlich bekommen sie ein paar Warnschüsse in die Flugbahn ge setzt", antwortete der Kommandant. "Und dann?" Markus kratzte sich am Kopf. Das eben war das Problem! Deusen hatte sich seiner Meinung nach in eine taktisch ungünstige Position begeben. Einerseits besaß der Vizeadmiral keine Feuererlaubnis (Warnschüsse fielen allerdings nicht unter diese Rubrik). Der Einsatz von Offensivwaffen war nur gestattet, falls die Terraner selbst angegriffen wurden. In diesem Punkt war der Befehl des Oberkommandierenden eindeutig gewesen. Wenn die Fremden die Aufforderung zum Abdrehen und auch die fol genden Warnschüsse ignorierten - und ihr bisheriges Verhalten sprach da für -, sah sich der Alte in die Alternative gedrängt, entweder sich über den
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Befehl seines Vorgesetzten hinwegzusetzen, oder aber seine Drohung von den Fremden als harmlosen Bluff entlarvt zu sehen. Markus hielt es für ausgeschlossen, daß ausgerechnet Vizeadmiral Deu sen, der sich bisher als das Muster eines gehorsamen Soldaten präsentiert hatte, einen Befehl ignorieren würde. Der direkte Beschuß der Fremden würde also nicht erfolgen. Diese würden zu der Erkenntnis gelangen, daß der terranische Befehlshaber nicht wußte, wie er sich verhalten spllte, daß er unsicher, vielleicht gar ängstlich war, und sie würden diese Erkenntnis unwillkürlich auf die Terraner als Volk übertragen. Alle diese Überlegungen hatten als Basis die Voraussetzung, daß die Fremden die Anrufe der Terraner empfingen und auch verstanden. Und das gerade war der Punkt, an dem Markus mehr und mehr in Zweifel geriet. Zwar besaßen die fremden Raumschiffe Sende- und Empfangsanlagen für Funkverkehr. Auf den Tele -Aufnahmen waren Gebilde zu sehen, die An tennenanlagen sein mußten. Und wenn sie Antennen besaßen, hatten sie auch die Funksprüche empfangen. Funksprüche und NMDS-Kode. Waren sie vielleicht nicht in der Lage, den Kode zu verstehen und anzu wenden? Bislang hatte der NMDS noch nie versagt. Er basierte, wie erwähnt, auf allgemeingültigen Gesetzen, nach denen die kosmische Raumfahrt funktio nierte. Daher war es nur natürlich, daß intelligente Wesen, die eine solche Raumfahrt betrieben, diesen Schlüssel auch verstanden. War es möglich, daß es Wesen gab, intelligente Wesen, deren Mentalität so unbeschreiblich fremdartig war, daß sie keinen Zugang zum Übersetzer kode hatten? Vielleicht... "Und dann?" Markus schrak aus seinen Gedanken. Er hatte die Frage der Kosmolingui stin total vergessen. "Und dann... dann werden wir weitersehen", sagte er, und als er den be fremdeten Blick des Mädchens bemerkte, fügte er hinzu: "Auf jeden Fall werden die Messungen und Forschungen durchgeführt. Die Qualität unserer Geräte bürgt dafür, daß wir einiges erfahren werden - so oder so." "Sichtkontakt!" rief Edwin Kramer. "Zwölf Grad backbord voraus!" Die Männer und Frauen starrten durch das Panzerglas der Zentrale. Die scharfen Augen des Ersten Piloten hatten sich nicht getäuscht: Mit einiger Mühe konnte man sechs leuchtende Punkte entdecken, die vor dem
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Sternengeflimmer des Weltraums in majestätischer Gelassenheit - wie es schien - dahinzogen. Der Kommandant drückte eine Schaltplatte. Die Teleskopeinrichtung der GEORG HOFMEISTER erfaßte den entsprechenden Ausschnitt des Welt raums. Das Bild wurde auf einen Spezialschirm übertragen. Es war die Vorhut der Fremden. Die Hantelform war jetzt deutlich zu erkennen. An dem zylinderförmigen Mittelteil schienen sich Ausbuchtun gen und Wülste zu befinden. Plötzlich flimmerte das Bild. Markus schaltete die Anlage aus. "Übertragungsstörungen", sagte er, als er Grits fragenden Blick bemerkte. Möglicherweise durch unsere eigenen Triebwerksemissionen verursacht. Manci, sobald du kannst, kümmere dich mal darum!" "Ja", brummte der LI. Sie blickten wieder durch die Kanzelscheiben. Da entstanden vor den sechs Leuchtpunkten plötzlic h sechs Miniatursonnen, die sich schnell auf blähten und dann wieder auflösten. Die sechs Punkte flogen unbeirrt hin durch. "Was war das?" fragte Fia Albrecht. "Die Warnschüsse", sagte Markus lakonisch. "Jetzt wird's spannend", behauptete Manicelli. Und in der Tat, dachte der Kommandant, jetzt mußte es sich zeigen, ob die Fremden willens waren, weiterhin in ihrer Anonymität zu verharren, oder ob sie endlich das Schweigen brechen, womöglich gar ihrerseits Gewaltmittel einsetzen wür den. Unwillkürlich blickte Markus auf die Feldschirmanzeigen. Eine Kontroll leuchte brannte rot. Das bedeutete, daß der Schirm eingeschaltet war. Der Zeiger stand auf Null: keine Belastung! Im Fenster des Bordchronometers spulten sich die Sekunden ab. Die Mi nutenziffern klickten träge dahin. Nur in der Stundenanzeige standen un beweglich die beiden Ziffern 15. Die Spannung im Kommandoraum schien fast greifbar. Und so wie hier an Bord der GEORG HOFMEISTER, würde es - so wußte Markus - auf allen Schiffen des terranischen Verbandes sein. Jeder würde durch die Pan zerglaswände hindurch in den Weltraum hinausstarren und auf die Antwort der Fremden warten. In der Zentrale des Flaggschiffs würde ein einsamer Mann - auch das glaubte Markus zu wissen - sein Hirn zermartern, um aus dem Dilemma herauszugelangen, in das er sich selbst hineinmanövriert hatte durch jenen - 19
unseligen Funkspruch, mit dem er den Fremden Gewalt angedroht hatte für den Fall, daß sie ihren Kurs beibehalten würden. Man sagt, ein Schachspiel kann bereits durch einen falschen Zug in der Eröffnung verlorengehen. Dieses kosmische Spiel hatte der Admiral ohne Zweifel mit einem falschen Zug eröffnet. Wie würde es weitergehen? Wür de der alte Kommandeur die Züge finden, die die Terraner wieder in eine bessere Position bringen würden? Eine Signallampe leuchtete auf. Sie bedeutete Rundspruch des Komman deurs. Diesmal zeigte sich der Admiral selbst. In seinen Augen lag ein resignie render Ausdruck. Die Linien, die von den Mundwinkeln bis zum Kinn lie fen, hatten sich vertieft. Der schmallippige Mund öffnete sich: "Unternehmen tritt in Phase C. Ich erwarte die Ergebnisse in Kürze ver schlüsselt nach Flottenkode 17/06 Ende!" "Er trägt's schwer, aber er trägt's". Manicelli konnte sich eines Kommen tars nicht enthalten. Markus lehnte sich in seinem Sessel zurück. Für die Männer und Frauen der GEORG HOFMEISTER bedeutete Phase C vorläufig noch: weiter war ten! Zunächst würden die sogenannten Grobmessungen vonstatten gehen. Das hieß quantitative und qualitative Analysen chemischer, chemo physikalischer, elektronischer und atomphysikalischer Art. Diese Analysen wurden von den verschiedenen Spezialschiffen mittels Sonden, Strahlen, Kameras und anderer telemetrischen Einrichtungen durchgeführt. Dann wurden sie ausgewertet und die Ergebnisse verschlüsselt dem Flaggschiff übermittelt. Dort befand sich eine Gruppe von Gelehrten, wissenschaftliche Koordinatoren genannt, die alle Ergebnisse miteinander vergleichen und zur Weiteranalyse in den entsprechend zu programmierenden Computer füttern würden. Erst in dem Augenblick, in dem die letzten Daten auf dem Flaggschiff eintrafen, würde die Arbeit für die Besatzung der GEORG HOFMEISTER beginnen. Und zwar aus folgendem Grund: Um das TEST-Gerät und die Neutrino-Sonde einsetzen zu können, mußte der Spezialkreuzer bis auf 2,5 Millionen Kilometer an die fremden Schiffe herangebracht werden. Es war immerhin denkbar, daß die Fremden eine - astronavigatorsich gesehen - so starke Annäherung des terranischen Raumschiffes nicht unwidersprochen hinnehmen würden. Das mindeste, was man in einem solchen Fall erwarte te, war, daß die Fremden sich in einen Schutzschirm hüllen würden. Dieser würde zwar von der Neutrino-Sonde durchdrungen werden. Die konventio- 20
nellen Meßmethoden wären jedoch von da an ausgeschaltet. Aus diesem Grunde hatte man sich dazu entschlossen, die Fernanalysen zuerst vorzu nehmen. Was man einmal an Informationen besaß, konnte einem niemand mehr nehmen... Markus blickte durch die Kanzel-Scheiben hindurch in den Weltraum. Die kleinen Leuchtpunkte hatten sich vermehrt. Inzwischen waren es schon mehr als vierzig, die man mit dem bloßen Augien ausmachen konnte. Unbeirrt von dem Geschehen um sie herum zog die fremde Flotte ihres Weges. Und noch immer zielte ihr Kurs auf die Sonne Arcturus... 3. Steuerbord querab flog das Hantelschiff. Aus der Entfernung von nunmehr nur noch 2,5 Millionen Kilometer machte es einen imposanten Eindruck. 1084 m lang, im Mittelteil 122, an Bug und Heck 205 Meter dick. "Kanzeln, Fenster oder dergleichen scheint das Ding nicht zu besitzen", meinte Fia Albrecht. "Das kann man nicht wissen", widersprach Edwin Kramer. "Erstens kön nen die Fremden Einwegfenster verwenden. Zweitens können sie Blenden benutzen, die sie geschlossen halten." "Aus welchen Gründen sollten sie denn ihre Fenster verdecken", wollte die Linguistin wissen. Der Kommandant, der aufmerksam die Kontrollen beobachtete, sagte: "Über solcherlei Details müssen wir uns später unterhalten. In 10 Sekun den sind wir auf Enddistanz. Mancinelli, ist die N-Sonde klar?" "Klar, Chef, alle Kontrollen zeigen Grünwerte. Zielerfassung ist justiert." "Gut. Ed...?" "Errechneter Kurs erreicht. Entfernung zum nächsten Hantelschiff 2,492 Kilometer", antwortete der Pilot. "David...?" "Keine besonderen Vorkommnisse. Feldschirm weiterhin ohne Bela stung. JL-Waffen einsatzbereit." Der Kommandant warf noch einen letzten prüfenden Blick auf die Navi gationsinstrumente. "Ettore", sagte er ruhig. "N-Sonde los!" Der LI, der vor einem seltsam geformten Gerät saß, das an die Schiffs elektronik angeschlossen war, drückte eine rote Schaltplatte ein. - 21
Sekunden später begann der Computer bereits die ersten Ergebnisse aus zudrucken. Markus und die beiden Frauen begaben sich ins Schiffslabor und machten sich, unterstützt von einem Stab technischer Assistenten, an die Arbeit. Als der Datenfluß, den die N-Sonde an die Bordelektronik übermittelte, stoppte, aktivierte Mancinelli das TEST-Gerät. Dies hatte nicht früher ge schehen können, weil die Spezialemission des Tasters die Arbeit der Neutrino-Sonde beeinflußt hätte. "Ed!" Etwas in der Stimme des Ingenieurs alarmierte den Piloten. Er schwenkte mit seinem Sessel herum und blickte zu dem anderen hinüber. "Ja?" Mancinelli starrte auf seine Instrumente. "Verdammt!" stieß er hervor. "Was ist los? Mann, so rede doch!" "Das TEST-Gerät..." "Was ist mit dem Gerät?" Kramer hatte seinen Platz verlassen. Er stand neben dem LI. Mancinelli zeigte mit dem Finger auf eine Kontrollplatte. "Es hat sich ausgeschaltet. Sieh hier! Alle Anzeigen sind auf Null!" "Dann schalte es wieder ein!" Der Ingenieur drückte eine Taste. Es gab einen peitschenden Knall. Aus dem Schaltpult des Gerätes schoß eine Stichflamme. Kontrolleuchten flackerten und erloschen dann. Instinktiv sah der Chefpilot auf die Anzeigen der Hauptkontrolle . Die Tele-Emissionsanzeigen hatten sich verändert. Der Zeiger der Energietaster war um 26 Einheiten gestiegen. Edwin Kramer blickte durch die Kanzelscheibe. Und dann sah er, was geschehen war: Die fremden Schiffe hatten sich mit einem blaß-violett schimmernden Schutzschirm umgeben. Der Erste Pilot drückte die Alarmtaste. Noch während der Alarm schrillte, fragte der Kommandant über den Bordkommunikator, was geschehen wäre. Ed Kramer erklärte es ihm. "Informiere den Alten", sagte Markus. "Ich komme." Wenig später betrat der Kommandant die Zentrale. Während er ans Kan zelfenster eilte, berichtete der Pilot, daß der Funkspruch an das Flaggschiff abgegangen wäre. - 22
Markus nickte. Gedankenvoll betrachtete er den fast unmerklich flim mernden Schirm um das Hantelschiff. "Es besteht für mich kein Zweifel", sagte Mancinelli, "daß zwischen der Blockierung des TEST-Geräts und der Aktivierung des Schutzschirms ein ursächlicher Zusammenhang besteht." "Sehr wahrscheinlich!" Wieder nickte der Captain. Er drehte sich um, kam zu Mancinelli herüber. "Hat das Ding noch gearbeitet?" Der Ingenieur schüttelte den Kopf. "Nichts", sagte er. "Die Anzeigen gingen hoch - und fielen im nächsten Moment auf Null. Dann krachten die Sicherungen durch, und..." Aus dem Bordsprecher tönte die Stimme Dagmar Ullersens: "Funkspruch vom Flaggschiff. Dringlichkeitsstufe I. Ich schalte durch." Sie mußten es sehr eilig haben, dachte Markus, als er feststellte, daß der Tele-Schirrn dunkel blieb. Aus dem Lautsprecher tönte eine Stimme, der man anmerkte, daß der Sprecher erregt war: "Achtung, an alle Schiffsführer: Gesamter Verband Kursänderung 15° Steuerbord. Bei Entfernung 120 Millionen Kilometer zu fremdem Schiffs verband erneut auf Parallelkurs gehen. Sofortige Vollzugsmeldungen! Wei tere Informationen über Flottenkode 16/2c. Ende!" Die Männer sahen sich an. "Ich wußte schon immer, daß der Alte ein Hasenfuß ist", begann Manci nelli, "aber jetzt..." Er vollendete seinen Satz nicht. "Ich weiß nicht", bemerkte Kle, "ich habe so ein Gefühl, als ob er die smal guten Grund hat, sich abzusetzen." Dagmar rief von der Funkzentrale: "Spruch von Flaggschiff, verschlüsselt. Ich gebe ihn in den Dekodierer!" Der Kommandant, "der dabei war", den neuen Kurs zu programmieren, drückte die Sprechtaste. "Text auf Monitor!" Kurz darauf erschien der Klartext auf einem Bildschirm. Die Männer in der- Zentrale wurden bleich. Einheiten der Nachhut der Ersten Flotte hatten den Anflug einer riesigen Flotte fremder Raumschiffe gemeldet. Bis jetzt hatte man bereits über 50.000 Einheiten gezählt. Und es kamen immer noch neue hinzu. "Ich glaube", sagte Mancinelli tonlos, "ich muß dem Alten einiges abbit ten."
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Zweiunddreißig Lichtjahre vom der Erde entfernt zog die Sonne Arcturus mit ihren 42 Planeten und über 200 Monden ihre Bahn. Der rotgelbe Riesenstern war das Zentralgestirn eines komplizierten Pla netensystems. Eigentlich waren es zwei Systeme, die sich auf: zwei ver schiedenen Rotationsebenen, die in einem Winkel von 38° gegeneinander standen, um die Muttersonne bewegten. Weit außerhalb der beiden Systeme und mehr als eine Lichtwoche vom Zentralgestirn entfernt, wurde das Ganze noch von zwei Einzelgängern umkreist, die nichts weiter waren als kosmische Gesteinsbrocken, die vor undenklichen Zeiten einmal in den Bannkreis der Riesensonne geraten wa ren. 18.500 Kilometer vorn äußeren der beiden Einzelgänger entfernt, befan den sich mehr als tausend Raumschiffe im Orbit um den Kern des Ödplane ten, den die Aukassin Tommi nannten, was soviel wie Einsiedler, Eremit, bedeutete. Es waren dies die Einheiten der Dritten, Fünften und Sechsten Flotte, mit denen Admiral Flanders aufgebrochen war, um hier die Ankunft der Frem den abzuwarten. In der Zentrale seines Flaggschiffs KREUZ DES SÜDENS stand der Oberkommandierende der terranischen Raumstreitkräfte mit dem Rücken gegen den Mittelträger gelehnt und starrte auf den großen Monitor, auf dem soeben der Text der letzten Meldung Admiral Deusens verblaßte. Die Verbindungstür zur Orterzentrale öffnete sich, und Oberst Malnikow, der Exekutivoffizier, trat ein. "Wieviel sind es, Admiral?" fragte der schmächtige Offizier mit den gro ßen, etwas hervorquellenden Augen. "Bis jetzt 78.600", antwortete Jochen Flanders, "und es kommen immer noch welche hinzu. - Wenn ich nur wüßte, was sie wollen!" "Eine Invasionsflotte", behauptete Malnikow. "Ich weiß nicht". Oberst Sola Toulandi wiegte den Kopf. "Dem wider spricht, daß die Fremden in keiner Weise auf den Anflug unserer Schiffe reagiert haben. Nicht einmal dann, als Admiral Deusen ihnen Warnschüsse vor den Bug setzte." "Denkfehler Ihrerseits, Toulandi", versetzte der Exek und lächelte mali ziös. "Mit 80.000 Schiffen im Rücken konnten sie es sich leisten, die 400 Terraner zu ignorieren. Admiral, die Fremden sind nicht mehr weit von - 24
Arcturus entfernt, und von hier bis zur Erde ist es, kosmisch gesehen, nur noch ein Katzensprung. Setzen Sie alle verfügbaren Einheiten in Marsch, und geben Sie Feuer frei. Nur so läßt sich das Unheil noch abwenden." "Nun darf ich Ihnen Ihr Kompliment zurückgeben, Melnikow", sagte Sola. "Was wollen Sie mit 5.000 gegen 80.000?" Das Gesicht des Obersts rötete sich. "Die Qualität der Waffen ist entscheidend, Madame, allein die Qualität der Waffen. Und Sie werden nicht abstreiten, daß die terranischen Raum schiffe über ungeheuer wirksame Waffen verfügen!" "Wissen Sie, über welche Waffen die Fremden verfügen?" fragte Sola. "Im übrigen, sind Sie sich so sicher, daß es sich tatsächlich um eine Invasi on handelt?" "Haben Sie eine andere Erklärung, Oberst Toulandi?" "Noch nicht", erwiderte Sola ruhig. "Das beweist nicht, daß es nicht eine andere Erklärung gibt." "Wir tragen die Verantwortung für zwölfeinhalb Milliarden Menschen." Melnikows Stimme bekam einen theatralischen Unterton. Der kleine Mann reckte sich auf die Zehenspitzen. "Angesichts einer Flotte von 80.000 fremden Raumschiffe, die sozusagen vor unserer Haustür stehen, können wir uns keinen falschen Optimismus leisten. Wir dürfen nur unsere Aufga be sehen, und die kann nur heißen: Vertreibung der feindlichen Raumschif fe!" "Na, na", der Admiral, der sich den Disput seiner Offiziere angehört hat te, nahm plötzlich das Wort. "Sie vergessen, mein lieber Valerij, daß die Fremden mit Unterlichtgeschwindigkeit fliegen. Da ist es doch wohl ver fehlt, davon zu sprechen, daß jene vor unserer Haustür stehen. Oder sehen Sie die 32 Lichtjahre von Terra bis Arcturus sozusagen als Vorgarten zum Solsystem an?" Einige der Offiziere, die in der Zentrale mit verschiedenen Arbeiten be schäftigt, aber dennoch der Diskussion gefolgt waren, lachten glucksend. Oberst Malnikows Gesicht wurde dunkelrot. "Admiral", sagte er, und seine Stimme zitterte vor unterdrücktem Zorn, "es liegt kein Beweis dafür vor, daß die Fremden über keinen ÜL-Antrieb verfügen. Sollten sie ihn einschalten, schrumpfte die Entfernung Arcturus Erde zu einem Nichts zusammen!" Jochen Flanders schwieg. Und Sola mußte sich eingestehen, daß der Exe kutivoffizier in diesem Punkte recht hatte. Trotzdem wandte sie ein:
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"Es gibt zwar keinen Beweis dafür, daß die Fremden den ÜL-Antrieb nicht besitzen. Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, daß es so ist. Warum sollten sie ihn sonst nicht schon längst eingeschaltet haben?" Der Admiral widersprach: "Die Mentalität einer fremden Intelligenz sollte nie mit menschlichen Maßstäben gemessen werden, Sola..." "Sir!" Der Anruf eines Offiziers unterbrach ihn. "Was gibt's?" "Rot-rot-Signal von Alpha II, Admiral." Rot-rot-Signal war die Ankündigung eines ÜL-Spruchs, Alpha II war die Kodebezeichnung für Admiral Deusens Verband. Interessiert blickten die Offiziere auf den großen Tele -Kommunikationsschirm, auf dem sich in den nächsten Sekunden der Anrufer zeigen würde. Der Schirm erhellte sich, flackerte, zeigte rote bis violette Störlinien und muster und erlosch dann wieder. "Aus!" sagte jemand. Im gleichen Augenblick tönte es aus dem Lautsprecher: "Hier spricht Alpha II. Die endgültige Quote der von unseren Aufklärern entdeckten fremden Großflotte beträgt 98.400 Einheiten. Erbitte Anwei sungen. Ende!" Einige Sekunden vergingen, ohne daß jemand sprach. Jedermann stand unter dem Eindruck dessen, was sich hinter der lakonischen Meldung verbarg. 98.000, fast hunderttausend Raumschiffe! Demgegenüber nahmen sich die 6.000 Schiffe, die Terra notfalls auf die Beine bringen konnte, geradezu kläglich aus. Dies mochte selbst Oberst Malnikow empfinden. Seine Stimme klang belegt, als er sagte: "Ein Verhältnis also von hundert zu sechs. Einer solchen Übermacht standen nicht einmal die alten Griechen gegenüber, als sie sich im Überle benskampf gegen die Perser befanden." "Meine Damen und Herren", nahm der Admiral das Wort, "noch ist nicht entschieden, ob wir überhaupt kämpfen müssen." "Wollen Sie den Arcturus-Sektor freiwillig aufgeben, Admiral?" fragte Oberstleutnant Schmidt, der Elektronen-Offizier des Flottenflaggschiffs. "Das würde bedeuten..."
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"Wer sagt, daß wir irgend etwas aufgeben müssen", stellte der Admiral die Gegenfrage. "Wenn ich sagte, daß noch nicht entschieden ist, ob wir kämpfen müssen, meinte ich damit, daß noch niemand weiß, warum die Fremden überhaupt hier sind. Die Gründe müssen nicht unbedingt in terri torialen Ansprüchen zu suchen sein." "Worin sonst?" wollte Oberst Melnikow wissen. Admiral Flanders schwieg einen Augenblick. "Darüber zu sprechen", antwortete er schließlich, "halte ich erst für ange bracht, wenn die Ergebnisse der Untersuchungen vorliegen, die Admiral Deusens Spezialschiffe vorgenommen haben." Er hob den Kopf, "Oberst Melnikow, wir fliegen Admiral Deusen entgegen. Setzen Sie die Flotten kommandeure in Kenntnis! Major Nishiyoto, wo befindet sich das Gros unserer Streitkräfte?" Der taktische Verbindungsoffizier warf einen Blick auf ein Diagramm. "Vier Stunden westlich von Pluto, Sir." "Oberst Toulandi", fuhr der Admiral fort, "beordern Sie die Streitkräfte in den Arcturus-Sektor. Die genauen Koordinaten bekommen Sie noch. Meine Damen und Herren, Sie finden mich in meiner Kabine." 4. "In welchem Winkel wird die Flotte ins Arcturus-System einfliegen?" Vizeadmiral Paulus Deusen hatte diese Frage gestellt. Sie galt den an der Konferenz teilnehmenden Astronomen. Malte Iversen, der Chefastronom des Verbandes, sah in seine Unterlagen. "In einem Winkel von 89° auf die Ekliptik des Hauptsystems, von 51° auf die des Nebensystems bezogen." Markus Dickens saß, die Beine von sich gestreckt, in seinem Sessel und verfolgte schläfrig den Verlauf der Konferenz. Bisher war noch nicht viel dabei herausgekommen. Die Wissenschaftler hatten ihre Berichte vorgetragen und die Zuhörer mit einer Flut von Daten überfallen. Den endlosen Angaben über die Abmessungen der fremden Raumschiffe, über ihre Länge, Dicke und Breite an den verschiedensten Stellen, waren solche über die Struktur der verwendeten Energiearten, über die Austritts geschwindigkeit der Photonen aus den Heckdüsen, über deren Querschnitt
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und sodann über die Metallegierungen gefolgt, die die Fremden für ihre Schiffe verwendeten. So war das weitergegangen. Und Markus hatte sich gefragt, wozu man ein Gremium von Koordinatoren gebildet hatte, wenn jeder frustrierte Fachidiot hier seinen Datenfimmel austoben konnte. Noch standen das Referat Grit von Aperns und sein eigenes aus, und wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, Markus Dicksen hätte wahrschein lich diese Sitzung längst verlassen, ohne Rücksicht auf die Rüge, die er sich für diese respektlose Handlung mit Sicherheit eingehandelt hätte. "Captain Dicksen", hörte er den Admiral, der den Vorsitz führte, sagen, "ich bitte um Ihren Bericht!" Markus warf noch einen schnellen Blick in seine Unterlagen und begann: "Meine Damen und Herren, im Gegensatz zu manchem meiner Vorredner möchte ich Sie nicht mit allzu detaillierten Einzelheiten aufhalten..." Grit von Aspern trommelte spontanen Beifall auf die Tischplatte. Zö gernd fielen ein paar der Konferenzteilnehmer ein. "Die Auswertung der Daten, die die Neutrino-Sonde geliefert hat, läßt sich etwa in folgendes Resümee kleiden: Die Sonde orientierte sich bei ihrer Arbeit an drei Schwerpunkten: 1. Innere räumliche Gliederung des sondierten Raumschiffs, eventuell Funk tionen der verschiedenen Räume. Verwendete Energieformen. Material und Energieanalyse. 2. Materiale und funktionale Analyse der maschinellen Einrichtungen. 3. Chemische, biochemische, biopsychologische und ele k trophysiologische Untersuchung der fremden Lebewesen. Zu Punkt eins wurden folgende Informationen übermittelt: Der Mittelteil des fremden Raumschiffs ist in Stockwerke, Gänge und Räume gegliedert, deren Aufbau einem auffallend regelmäßigen, zum Teil sogar symmetri schen Schema folgt. Da keine Gravitation festzustellen ist, hat der Compu ter aus Gründen der Zweckmäßigkeit das fragliche Raumschiff als ein ver tikales System aufgefaßt. So gesehen baut sich das Schiffsinnere in zwölf Stockwerken auf, die durch ein System von Schächten miteinander verbun den sind. In je dem Stockwerk befindet sich eine für irdische Verhältnisse gigantische achteckige Halle, die von einer großen Anzahl kleinerer Räume oder Kammern umgeben sind. Diese Kammern und übrigens auch die Verbindungsschächte besitzen sechseckigen Querschnitt. Über die Funktion der verschiedenen Räumlichkeiten liegen keine Infor mationen vor. - 28
Bug- und Heckteil, also die ,Gewichte' der Hantel sind zweifellos Träger der verschiedenen Triebwerke. Ob sich auch Kommandoräume, Funkzen tralen oder dergleichen in ihnen befinden, ist unbekannt. Punkt zwei meiner Ausführungen. Zwar stellte die Sonde elektronische Aktivitäten fest. Jedoch konnte sich der Computer aufgrund der übermittelten Daten nicht entschließen, die steuernden Organe oder Einrichtungen des Raumschiffs als Elektroniken zu bezeichnen. Er weist darauf hin, daß, da keinerlei elektronische Speicher elemente festzustellen waren, möglicherweise organische Speicher verwen det werden. Ebenso wurden elektrische Wellen als Träger von Kommunikationsimpulsen in einem so erstaunlich geringen Maße angemessen, daß die auswertende Elektronik behauptet, das Hauptkommunikationssystem des Raumschiffs basiere auf einem nichtelektrischen, möglicherweise auf einem organischen System..." "Telepathie", warf jemand ein. "Möglich", antwortete Markus knapp. "Zu den beiden letzten Punkten wird uns die Kosmobiologin, Dr. von Aspern, noch einiges zu sagen haben. Abschließend bleibt für mich noch festzustellen, daß die Sonde keinerlei überlichtschnelle Teilchen und auch keine entsprechenden Projektoren entdecken konnte. Es werden zwei Antriebssysteme verwendet. Ein Photo nentriebwerk und ein Plasmatriebwerk. Und jetzt würde ich vorschlagen, Dr. von Aspern zu Wort kommen zu lassen." Admiral Deusen machte eine entsprechende Handbewegung, und die Kosmobiologin fing an zu sprechen: "Wie Ihnen allen bekannt sein dürfte, basiert alles Leben auf der Erde auf Kohlenstoff. Das hat seinen Grund darin, daß dieses Element sich zu langen Molekülketten zusammenschließen kann, zu sogenannten Biopolymeren, die die Voraussetzung sind für die ungeheure Kompliziertheit, die zur Bin dung von Leben und zu seiner Weiterentwicklung notwendig ist. Wie Sie ebenfalls wissen werden, beruht auch alles sonstige Leben - sei es intelligenter, sei es unintelligenter Art -, dem der Mensch jemals auf seinen interstellaren Reisen begegnet ist, auf Kohlenstoff. Aus dem obenangeführten und auch noch anderen Gründen nahmen unse re Wissenschaftler bis jetzt an, daß es überhaupt keinen anderen Grundstoff gibt außer Kohlenstoff. Die Auswertung der Daten, die uns die Neutrino-Sonde übermittelte, lassen keinen Zweifel daran, daß die Wissenschaftler sich geirrt haben. Die Biopolymere, die die Grundlage der lebenden Substanz bilden, die sich an - 29
Bord des Hantelschiffs befinden, sind Molekülketten, in denen sich Silic i um- und Sauerstoffatome abwechseln. Man nennt solche Verbindungen Silikone. Die sich beim irdischen Leben an die Kohlenstoffketten seitlich anrei henden Amino- und Nukleinsäuresequenzen werden hier durch eine soge nannte ‚einpolymerische' Verbindung ersetzt... Nun ja...", die Sprecherin unterbrach sich. Sie schien zu bemerken, daß sie drauf und dran war, in denselben Fehler zu verfallen wie die meisten vorhergehenden Referenten, nämlich, die Zuhörer mit wissenschaftlichen Details zu überfüttern. Markus hörte ohnehin kaum zu, einesteils, weil er Grits Referat bereits kannte, hauptsächlich aber wohl deshalb, weil die Kosmobiologin einen Reiz auf ihn ausübte, der weniger wissenschaftlicher Natur war. Seine Augen hingen an dem wohlgeformten Mund, der Sensibilität und Handlungsvermögen seiner Besitzerin zugleich verriet. Ja, diese Frau wuß te, was sie wollte, sie würde ihren Weg gehen, jedoch, ohne sich den Ein flüsterungen ihres Herzens zu verschließen. Das Menschliche - soviel glaubte Markus in der kurzen Zeit ihrer Anwesenheit an Bord der GEORG HOFMEISTER erkannt zu haben - hatte bei ihr Vorrang... "... ergibt sich aus all dem, daß wir es hier mit einer Lebensform zu tun haben, die der menschlichen gegenüber von einer ungeheuren Fremdheit ist. Dabei ist weniger das Äußere, das Gestalthafte gemeint. Vielmehr muß sich die Mentalität dieser Wesen zu etwas entwickelt haben, das mit allem bisher Bekannten keinen Vergleich zuläßt." Grit machte eine Pause, die einer der Anwesenden zu dem Einwand be nutzte: "Warum? Jedermann weiß, daß, wo und wann auch immer Leben ent steht, die Urbausteine dieses Lebens, die sogenannten Protobionten, einen harten Überlebenskampf gegenüber der lebensfeindlichen Umwelt zu be stehen haben. Dieser Überlebenskampf ist es, der allem Leben im Univer sum eine gemeinsame Prägung verleiht. Dies ist eine universale Gemein samkeit, die so gravierend ist, liebe Kollegin, daß sie auch bei der Evoluti on dieser Wesen eine gewichtige Rolle gespielt haben muß." "Gewiß." Grit blickte zu dem kleinen, schwarzhaarigen Planetologen hinüber. "Was den Existenzkampf und die daraus entwickelten Aggressi onskräfte betrifft, so haben Sie recht, Kollege Nasreddin. Doch bilden die aggressiven Elemente, wie Sie mir zugeben werden, nur ein kleines Stein chen in dem großen Mosaik der geistig-seelischen Struktur eines intelligen ten Wesens. Die Entwicklung all der anderen Steinchen dieses Mosaiks - 30
hängt von vielerlei Dingen ab, die zu kompliziert sind, als daß ich im Rah men dieses Berichts darauf eingehen kann. Nur soviel möchte ich dazu noch sagen: Die Verwendung einer Silicium-Oxygen - anstelle einer Koh lenstoffbasis bedingt eine Vielfalt von Konsequenzen, die alle mehr oder minder vom ‚normalen' Leben abweichen. Nur ein Beispiel: Biomoleküle müssen sich frei bewegen, um miteinander reagieren zu können. Dafür benötigen sie ein gewisses Medium, ein soge nanntes Biosolvens. Das Biosolvens auf der Erde ist Wasser. Welches Bio solvens den Mineralwesen - wenn es solche sind! - zur Verfügung steht, wissen wir nicht. Möglicherweise Quecksilber. In diesem Fall würde die Reaktionsgeschwindigkeit der Siliciummoleküle gegenüber unseren irdi schen Kohlenstoffmolekülen etwa um den Faktor 30-106 verlangsamt ab laufen. Wissen Sie, was das bedeutete?" Da niemand antwortete, fuhr die Kosmobiologin fort: "Eine Bewegung, die in unserem Dasein etwa eine halbe Sekunde in An spruch nimmt, wie beispielsweise das Hochheben eines Armes, würde in jenem Dasein ein halbes Jahr brauchen." Bewegung kam in die Gruppe der Zuhörenden. Selbst der Vizeadmiral war beeindruckt. Grit hatte sich gut vorbereitet, fand Markus. Er sagte: "Dr. von Aspern, als wir an der Auswertung arbeiteten, machten Sie die Bemerkung, Sie wären sich nicht darüber im klaren, ob es bei der fremden Lebens-Substanz überhaupt zu einer Individualisierung gekommen sei. Würden Sie das bitte näher erläutern?" Grit von Aspern warf Markus einen schnellen Blick zu. Dann sagte sie; "Die Daten, die die Sonde übermittelte, veranlaßten den Computer zu folgender Bemerkung: ‚Das fast völlige Fehlen irgendwelcher Hirnströme im Zusammenhang mit der Nichtfeststellbarkeit mobilen Geschehens sowie dem Mangel an kommunikativen Äußerungen wirft die Frage auf, ob es sich bei der fremden Lebensform überhaupt um individuelles, abgegrenztes Leben handelt.' Es besteht also die Möglichkeit, daß wir hier eine Art Gemeinschaftsbe wußtsein oder Gemeinschaftsintelligenz vor uns haben." Eine Weile herrschte Schweigen. Dann nahm einer der Koordinatoren das Wort. Es war der greise Perieme, Professor für vergleichende Kosmopsy chologie am Institut für interstellare Raumfahrtwissenschaft in Luna City.
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"Captain Dickens erwähnte, daß Sie uns in bezug auf das Fehlen elektro nischer Speichereinrichtungen etwas zu sagen hätten. Wie verhält es sich damit, Kollegin von Aspern?" Die Biologin räusperte sich. "Nun ja, der Computer behauptete, elektronische Steuereinrichtungen im gängigen Sinne wären auf dem fremden Schiff nicht vorhanden. Die Steu ermechanismen müßten demnach durch organische Systeme geregelt wer den..." "Und welche Vorstellungen hat der Computer von solchen... organischen Systemen?" "Keine", antwortete Grit, "die Auswertung läuft noch." Admiral Deusen, der der Diskussion mit kaum erkennbarer Anteilnahme gefolgt war, ergriff unvermittelt das Wort: "Wie Sie wissen, ist es unsere Aufgabe, mit den Fremden Kontakt aufzu nehmen, um zu erfahren, was sie hier wollen. Diese Aufgabe ist durch das Erscheinen der 98.000 Schiffe noch aktueller denn je geworden. Ich gebe zu, daß wir, wenn es hart auf hart gehen sollte, mit unseren 415 Schiffen gegen diese gigantische Flotte nicht viel ausrichten können. Ich habe Admi ral Flanders um neue Anweisungen gebeten. Bis diese eintreffen, bleiben wir auf unserem jetzigen Kurs. Wir werden die Zeit nutzen. Ich bitte die Koordinatoren um eine schriftliche Stellungnahme zu den Berichten der Fachgruppen bezogen auf die Frage, in welcher Form die neugewonnenen Erkenntnisse für weitere Versuche der Kontaktaufnahme zu verwenden sind. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen !" Auf die GEORG HOFMEISTER zurückgekehrt, überlegte Markus, wie man überhaupt aus den Ergebnissen der Analysen praktischen Nutzen zie hen konnte. Je mehr er darüber nachdachte, um so überzeugter wurde er, daß der alte Deusen sich nicht darüber im klaren war, daß er mit seinem Auftrag die Koordinatoren überfordert hatte. Wenn man es sich genau überlegte, schien die Hoffnung, mit den Frem den in Kommunikation treten zu können, sogar noch gesunken zu sein. Die bisherigen Erfolge bei der Anwendung des NMDS waren zwar zwischen Lebewesen der verschiedensten Arten zustande gekommen. Jedoch hatte es sich noch immer um "Kohlenstoffleben" gehandelt. Diesmal wurde man zum erstenmal mit einer Lebensform konfrontiert, die eine völlig andersar tige molekulare Grundsubstanz aufwies.
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Zwar behielten auch in einer "Silicium-Welt" die Naturgesetze und damit auch der auf diesen Gesetzen aufbauende Kode ihre Gültigkeit. Doch war es recht zweifelhaft, ob das fremde Leben überhaupt die Einrichtungen dafür besaß, hochfrequente, also elektrische Signale zu empfangen. Für welche Art von Signalen waren sie dann empfänglich? Es wurde Zeit, die Antwort zu finden; die gigantische Flotte der Fremden und ihre terranische Begleitung näherten sich Arcturus. * Zweiundvierzig Planeten bewegten sich im Schwerefeld des rotgelben Rie sensterns. Sie umliefen das Zentralgestirn auf zwei im Winkel von 38° zueinander geneigten Ebenen. Diese Ekliptiken nannten die Aukassin, die intelligenten Wesen, die das Arcturus-System besiedelt hatten, entspre chend ihrer Ausdehnung Massandra und Masseü, die "große" und die "kleine Scheibe". Am 8. September 2205 befand sich Krous, der äußerste Planet der kleinen Scheibe, etwa 22 Milliarden Kilometer von Arcturus entfernt, als das auf dem Himmelskörper montierte Radioteleskop folgendes Bild aufnahm und zur zentralen astronomischen Station auf dem 6. Planeten des großen Sy stems funkte: Sechs winzige Punkte näherten sich "Masseü", aus dem Tiefenraum kommend. Sie würden - wie die übermittelten Daten besagten - Krous in einem Abstand von 42 Millionen Kilometer passieren. Ihre Bahn endete haargenau in der Korona des Zentralgestirns. Als die aukassinischen Astronomen die Meldung empfingen, war es 16:13 Uhr galaktischer Ortszeit. Zu diesem Zeitpunkt zweifelte kein Arcturer mehr daran, daß eine Inva sion bevorstand. Hatte man bis dahin noch immer die allerdings kaum be gründete Hoffnung gehegt, das 32 Lichtjahre entfernte Solsystem würde das Ziel der fremden Raumflotte sein, so verschwand diese Hoffnung end gültig, als die sechs Schiffe der Vorhut in das Schwerefeld der Sonne ein flogen. Nur ein Punkt bildete ein großes Rätsel. Warum zielte der Kurs der Fremden nach wie vor mitten ins Herz der großen Sonne? Die sechs Raumschiffe flogen in einem solchen Winkel in das System ein, daß sie mit den Bahnebenen der Planeten überhaupt nicht in Berührung kommen konnten. Masseü befand sich näher zu ihnen als Massandra. - 33
Trotzdem hätten die Fremden jetzt bereits eine Kursschwenkung um 95 Grad vornehmen müssen, um einen der besiedelten Planeten zu erreichen. Und mit jeder Minute, die verstrich, wurde dieser Winkel noch steiler. Allmählich begannen sich diejenigen, die im Arcturus-System den Kurs der sechs Schiffe verfolgten, zu fragen, ob nicht tatsächlich die Riesenson ne das Ziel der Fremden war. Doch was - bei allen Planeten der Galaxis! - wollten sie dort? Diese Frage stellten sich zur selben Zeit zehntausende von terranischen Frauen und Männern, die vor den Orterschirmen der Schiffszentralen oder vor den Übertragungsschirmen in Unterkünften, Messen oder sonstigen Räumen saßen. Admiral Flanders hatte das Gros der terranischen Flotte in einer halb kreisförmigen Auffangsposition innerhalb des Arcturus-Systems formiert. Admiral Deusens Verband mit der ersten Flotte begleitete nach wie vor den Hauptpulk der Fremden, der noch mehr als acht Lichtstunden von den äu ßeren Planeten des Systems entfernt war. Jochen Flanders war sich darüber im klaren, daß der Begriff "Auf fangsposition" unter den gegebenen Umständen ziemlich hochstaplerisch war. Terra hatte knapp sechstausend Einheiten aufgebracht. Verglich man diese mit den 98.000 Schiffen der Fremden, die den terranischen überdies an Größe weit überlegen waren, so konnte nur ein Verrückter auf die Idee kommen, die Terraner hätten im Ernstfall gegenüber dieser Armada auch nur die Spur einer Chance. Der Admiral und seine Offiziere saßen in der Zentrale des Flottenflagg schiffs, starrten auf den großen Orterschirm und verfolgten den Kurs der sechs fremden Raumschiffe. Es war 18:24 Uhr. Die Fremden befanden sich noch 55 Lichtminuten von der Korona der Sonne entfernt. "Vielleicht", sinnierte Sola Toulandi, "hat die Annäherung an die Sonne technische Gründe..." "Technische Gründe?" fiel der ewig streitlustige Melnikow ein. "Was stellen Sie sich darunter vor, Toulandi?" Sola zuckte die Schultern. "War nur so eine Idee." Major Kipchoge Boston, der Chefingenieur des Flaggschiffs, mischte sich ein: "Oberst Toulandis Ansicht scheint mir gar nicht so weit hergeholt. Erin nern Sie sich an den Krieg mit den Wolng, Admiral?" - 34
Natürlich erinnerte sich Jochen Flanders an diese kuriose Affäre. Sie war im Grunde genommen nicht weniger seltsam gewesen als der Drei-TageKrieg gegen die Yu. Zur gewaltsamen Auseinandersetzung war es damals nur durch ein Mißverständnis gekommen. Die Wolng ein Volk, das im westlichen Randsektor des Orionarms zu Hause war, hatten eine Technolo gie entwickelt, bei der der Schwerpunkt der Energiegewinnung in der Nutzbarmachung von Sternenenergie lag. Als ein Schiffsverband der Wolng im Zuge eines Unternehmens, das reinen Foschungscharakter trug, in ein Sonnensystem eindrang, das inner halb des terranischen Hoheitsbereichs lag, war dies von der dortigen Ro botkontrolle als aggressiver Akt eingestuft und ein imperiumsweiter Alarm ausgelöst worden. Ein terranischer Kampfverband war erschienen und hatte sich mit den Schiffen der Wolng ein Gefecht geliefert, ehe es sich herausgestellt hatte, daß die Fremden nichts weiter gewollt hatten, als den Kernumwandlungs prozeß des Sterneninnern zur Aufladung ihrer Antriebsenergie zu nutzen. "Der Fall liegt hier anders, Kipchoge. Die Wolng waren damals mit sie b zehn Schiffen ins Al-Amassy-System eingeflogen. Hinter diesen sechs hier kommen 98.000. Nein, hier muß es einen anderen Grund geben für das seltsame Verhalten der Fremden..." "Admiral!" die Stimme des Ortungsoffiziers klang erregt. "Die Ge schwindigkeit der Fremden erhöht sich! Sie beträgt jetzt 94,5 Prozent Licht." Die Männer und Frauen in der Zentrale starrten auf die Anzeigen in dem Sichtfenster unter dem Orterschirm. Die letzte Ziffer der digitalen Anzeige hatte von 4 auf 5 gewechselt. Niemand wandte den Blick von der Anzeige. Vier Minuten später sprang sie auf. "Was bedeutet das?" rief Melnikow. "Vielleicht beschleunigen sie, um in die Überlichtphase einzutreten", schlug jemand vor. Aber Major Boston verwarf die Idee: "So tief innerhalb des Schwerefelds einer Sonne ist ein Phasenwechsel auf ÜL unmöglich. Nein, da muß etwas anderes dahinterstecken. Was mei nen Sie, Admiral?" Jochen Flanders antwortete nicht. Ein furchtbarer Gedanke begann sich bei ihm einzunisten. Ein Gedanke, der um so bestürzender war, als er, sollte er sich bewahrheiten, eine Lawine des Grauens nach sich ziehen würde.
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Der Admiral starrte auf das schmale Fenster, in dem die Räder schneller und schneller von Ziffer zu Ziffer sprangen, aufwärts, der unerreichbaren "100" entgegen... * Auf allen terranischen Schiffen, die sich nahe genug am Schauplatz befan den, so daß das unheimliche Geschehen verfolgt werden konnte, starrten die Menschen auf Schirm und Anzeigen, und je mehr sich die sechs frem den Schiffe der Riesensonne näherten, je mehr sich gleichzeitig ihre Ge schwindigkeit erhöhte, um so schneller breitete sich unter den Menschen der gleiche Gedanke aus, der auch den Admiral quälte. Ein Gedanke, der eigentlich eine Frage war, eine Frage, die niemand beabsichtigt hatte zu stellen, ja, die vor kurzem noch niemandem auch nur in den Sinn gekom men wäre... Um 19:04 Uhr galaktischer Ortszeit wurde die Frage beantwortet. Die sechs fremden Raumschiffe stürzten in die Sonne Arcturus und ver dampften...
5. Grit von Aspern drehte sich um. Sie war leichenblaß. "Was nun?" Markus Dicksen riß seinen Blick vom Orterschirm, durch den er Zeuge des grauenhaften Geschehens geworden war. Grits Frage hallte in ihm nach. Und sie schloß, dachte er müde, weitere Fragen in sich ein, deren Lösung ihre ganze Kraft in Anspruch nehmen würde. Die 486 Schiffe der eigentlichen Vorhut folgten den sechs unglücklichen "Vorreitern" in einem Abstand von 220 Lichtminuten, also in gut dreiein halb Lichtstunden. Berücksichtigte man die gewaltige Anziehungskraft des Riesensterns (der immerhin 42 Planeten an sich band), die letztlich für die plötzliche Ge schwindigkeitserhöhung verantwortlich war, so blieben nicht einmal mehr drei Stunden, um die Besatzungen der 486 Schiffe vor ihrem grauenhaften Tod zu retten.
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Drei Stunden, das war eine verdammt kurze Zeit, vor allem, wenn es sich um Wesen handelte, die der irdischen Mentalität so ungeheuer fremd wa ren, daß möglicherweise keine Basis für eine Kommunikation gegeben war. Aber irgend etwas Gemeinschaftliches mußte es doch zwischen beiden Lebensformen geben. Allein, daß sie beide intelligent waren, war eine Ge meinsamkeit. Vielleicht konnte man darauf aufbauen. Aber - und dieser Gedanke erfüllte ihn erneut mit Hoffnungslosigkeit wenn es wirklich gelang, eine Kommunikationsmöglichkeit mit den Frem den zu finden, was würde eine solche noch nützen? Was veranlaßte die Fremden, sich mit ihren Raumschiffen in die Sonne zu stürzen? Oder, an ders formuliert: Warum fanden die Fremden kein Mittel, ihren verhängnis vollen Kurs zu ändern? "Warum...?" fragte die Kosmobiologin, "warum, in Gottes Namen, müs sen die Fremden ihren verderbenbringenden Kurs einhalten?" Grits Überlegungen waren also in dasselbe Problem gemündet. Markus sah sie an. "Erst wenn wir das wissen, Grit", entgegnete er, "können wir uns Hoff nung machen, etwas für sie zu tun." "Jedenfalls steht fest", mischte sich David Kle ein, "daß die Fremden es nicht freiwillig tun..." "Ach!" machte Mancinelli, "dein Schluß ist fast so zwingend wie von einem Elektronengehirn." "Jemand oder etwas", fuhr der junge Offizier ungerührt fort, "muß sie also dazu gezwungen haben." "Mit ‚etwas' meinen Sie gewiß ein Ereignis, eine - Situation?" Fia Al brechts Frage war mehr eine Feststellung. "Der Versuch, unsere Kardinal frage zu beantworten, sollte also von der Frage ausgehen: Was kann in den Raumschiffen passiert sein, daß die Besatzungen den Kurs nicht ändern können?" "Wobei zu beachten ist", ergänzte Markus, "daß auch dieses hypotheti sche Ereignis auf allen Schiffen gleichzeitig eingetreten sein muß." "Das ist noch nicht hundertprozentig sicher", widersprach Mancinelli. "Vorläufig sind es nur sechs von hunderttausend, die von der Sonne ver schlungen wurden. Vielleicht ändern die anderen Schiffe doch noch ihren Kurs." "Wir werden es bald wissen", sagte Kramer und zeigte auf den Orter schirm, an dessen linkem Rand sich die ersten Echos der 486 Schiffe der eigentlichen Vorhut der fremden Riesenflotte zeigten. - 37
Schweigend beobachteten sie, wie die Reflexe zahlreicher wurden und wie sie sich langsam am Schirmrand entlang bewegten. Der Chefpilot blickte auf seine Instrumente. "Kurs und Geschwindigkeit unverändert", las er ab. "Die fliegen geradewegs in die Sonne. Ich glaube an keine Kursänderung mehr!" "Sie können ihn nicht ändern", murmelte Marcus. "Bei allen Göttern der Galaxis, warum nicht?" Grit stand plötzlich neben ihm. "Haben Sie die Stellungnahme der Koordinatoren im Kopf, Markus?" Der Kommandant sah sie an. "In etwa, ja. Warum?" "Dort heißt es an einer Stelle dem Sinn nach: Die vom Computer ausge werteten Daten der N-Sonde würden - wie ich selbst festgestellt hätte - in bezug auf das Verhältnis zwischen molekularer Grundsubstanz des fremden Lebens und der an Bord des Raumschiffes herrschenden Bedingungen rechnerische Unstimmigkeiten aufweisen, die nicht klärbar seien." "Ja!" Markus erinnerte sich. "Die entsprechenden Gleichungen wären überprüft und ihre Analyse für richtig befunden worden." "Weiterhin hieß es: ‚Den koordinierenden Wissenschaftlern erscheint diese Diskrepanz bemerkenswert. Es wird Miß von Aspern vorgeschlagen, die Angelegenheit weiter zu verfolgen und, sobald die Möglichkeit dazu besteht, einen Simulationstest durchzuführen.' " Grit machte eine Pause. Dann sagte sie:
"Ich habe vorhin den Test durchgeführt."
Markus blickte sie scharf an.
"Und?"
Die Biologin zögerte einen Augenblick.
"Abschließendes kann ich noch nicht sagen. Im Moment nur so viel, daß
ich die mathematische Unstimmigkeit zu einer chemischen reduzieren und sie lokalisieren konnte." "Lokalisieren?" "Ja, die Diskrepanz betrifft mit einer Wahrscheinlichkeit von 85 Prozent das Verhältnis zwischen der Atmosphäre, die im Raumschiff herrschte, und dem biochemischen Aufbau der an Bord befindlichen Lebewesen." "Können Sie das näher erklären, Grit?" "Dazu brauche ich das Demonstrationsmaterial im Labor." "Dann kommen Sie, rasch!"
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Als sie das Labor betraten, fiel der Blick des Captains auf ein tankartiges Gebilde, das neben dem Arbeitstisch stand und durch Kabel mit verschie denen Apparaten verbunden war. Auch der Laborcomputer war angeschlos sen. "Was ist das!" "Ein Atmosphärensimulator", gab Grit Auskunft. "Mit so einem Ding, allerdings in einer weit primitiveren Ausführung, war es einem gewissen Miller schon vor mehr als zweihundert Jahren gelungen, organische Rie senmoleküle, zum Beispiel Aminosäuren, künstlich herzustellen." "Und mit diesem Apparat stellen Sie eine Atmosphäre her, wie sie an Bord des Hantelschiffs herrschte?" Grit schüttelte den blonden Kopf. "Das ist eben das Problem. Die Informationen - um einmal diesen Begriff zu gebrauchen - der Sonde waren in diesem Punkt unklar. Der Computer ‚weiß' nicht, was für eine Atmosphäre in dem Raumschiff herrschte, ob überhaupt eine herrschte. Na, ja...", sie lachte verlegen, als sie Markus ver blüfften Gesichtsausdruck sah. "Der chemische Aufbau des fremden Le bens steht eben im Widerspruch zu den Bedingungen, die an Bord herr schen." "Können Sie mir das etwas näher veranschaulichen?" Die Biologin überlegte einen Augenblick. Dann sagte sie: "Es ist so, als ob Menschen an Bord eines Raumschiffes leben, in dem eine Methanatmo sphäre herrscht." "Ich verstehe." Der Captain wurde nachdenklich. "Und Sie probieren nun aus, wie verschiedene Atmosphären sich auf dieses... dieses... Siliciumleben auswirken?" Grit lächelte. "Siliciumleben kann ich nicht herstellen. Wir können noch immer nicht einmal unsere eigene Lebensform, also Kohlenstoffleben, schaffen, viel weniger erst fremdes. Nein, ich habe jedoch in diesem Tank verschiedene Siliciumverbindungen, zum Beispiel Quarz. Und nun teste ich deren Reaktion in verschiedenen Atmosphären, unter gleichzeitigem Be schuß durch verschiedene Arten von Strahlung." Markus kratzte sich am Kinn. "Ich mag etwas begriffsstutzig sein, Grit. Aber ich verstehe immer noch nicht, wieso der Computer die Frage, ob an Bord des Hantelschiffs eine Atmosphäre herrschte oder nicht, nicht eindeutig beantworten kann." "Weil", erklärte die Biologin geduldig, "zwar verschiedene Gase wie Schwefelkohlenstoff, Stickstoff und CH 4, also Methan, festgestellt wur- 39
den, aber in so geringen Mengen, daß der Computer nicht ‚weiß', ob diese Moleküle nun Bestandteile einer äußerst dünnen Atmosphäre - man könnte diese dann fast als ein Vakuum bezeichnen - sind, oder nur Teile irgend welcher organischen Verbindungen. Aber das ist nicht einmal das größte Problem." Sie machte eine kleine Pause. Markus sah sie abwartend an. "Den größten Kummer - und ich meine, hier könnte der Schlüssel zu der ganzen Angelegenheit liegen - macht mir ein weiterer Widerspruch. Sie erinnern sich sicher, daß ich in meinem Referat von einem sogenann ten Biosolvens sprach. Es ist jetzt nicht die Zeit, den Begriff und die Funk tion eines Biosolvens zu erklären. Unser Biosolvens ist Wasser, ein anderes ist Methan, flüssiges Methan, ein Biosolvens muß immer flüssig sein. Ich habe nun durch Re-Analysen herausgefunden, daß das Biosolvens des fremden Lebens Schwefel ist. Und hier liegt nun der Hase im Pfeffer!" Noch immer sagte Markus nichts. Er blickte die Biologin nur gespannt an. "Sehen Sie, Captain, Schwefel wird bei 119 Grad Celsius flüssig. Die Temperatur jedoch, die auf dem Hantelschiff herrschte, betrug nur 62 Grad!" "In anderen Worten", sagte Markus, "der Schwefel an Bord des Hantel schiffs befand sich im Zustand der festen Form." "Und zwar ausschließlich", ergänzte die Biologin. "Und Sie sind ganz sicher, daß Schwefel das Biosolvens des fremden Lebens ist?" "Ganz sicher! In diesem Punkt existieren keine Zweifel." "Der Schwefel ist also gewissermaßen gefroren..." Markus brach plötz lich ab. Ein Gedanke war ihm gekommen. "Markus...!" Die Biologin starrte ihn an. War auch sie in diesem Moment auf den gle i chen Gedanken gekommen? Als Markus den Mund öffnete, um ihn auszusprechen, schrillte der Alarm durch das Schiff. "Später!" rief Markus, "schnell, zur Zentrale!" Sie rannten aus dem Raum und sprangen auf das Transportband, das sie zum Kommandoraum brachte. Als sie die Zentrale betraten, drehte sich Ed Kramer, der vor dem Steuer pult saß, um.
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"Sie sind soeben in das System eingeflogen", sagte er und deutete auf die Panzerglasscheiben der Kanzel. "Man kann sie optisch ausmachen." Der Kommandant blickte in das schwarze Weltall hinaus. Rechts stand eine gleißende Scheibe: Arcturus. Und von links erschienen winzige LichtPünktchen. Unbeirrbar flogen sie auf ihrem Kurs dahin, der sie in das si chere Verderben führen mußte. Bald würden sich die vordersten Schiffe jenem Punkt nähern, an dem bei den ersten sechs die Erhöhung der Geschwindigkeit eingesetzt hatte. Fieberhaft suchten die Menschen nach einem Ausweg, nach einem Ret tungsmittel in letzter Sekunde. Plötzlich sprang David Kle auf. "Ich hab's", rief er Markus zu. "Wir müssen auf sie schießen! Ja...!" fuhr er fort, als die andern ihn verständnislos anstarrten. "Wir müssen so schie ßen, daß sie vom Kurs abgedrängt werden! Mein Gott, daß wir darauf nicht früher gekommen sind!" Der Kommandant stand schon vor der Sendeanlage. Da leuchtete ein rotes Signal auf: Rundspruch vom Flottenflaggschiff! Ein Schirm erhellte sich. Das scharfe Gesicht Oberst Melnikows, des Exekutivoffiziers der Flotte, formte sich. "Achtung! An alle Einheiten der Dritten Flotte: Sie werden versuchen, durch Störfeuer die Vorhut der Fremden von ihrem Kurs abzudrängen. Dazu ist es notwendig, auf kurze Schußdistanz heranzugehen. Die Fremden fliegen in Quaderformation. Dieser Umstand stellt an die Navigationskunst der Astronauten und an die Fähigkeiten der Feuerleitoffiziere höchste An sprüche. Außerdem kommt es darauf an, daß die Anflugmanöver der ein zelnen Verbände so vonstatten gehen, daß die Schiffe sich nicht gegenseitig behindern. Wir senden im Anschluß ein Anflugdiagramm, das den Ver bandskommandeuren als Hilfe dienen soll. Auf ihm sind Koordinaten und Startzeiten der einzelnen Staffeln angegeben. Ende!" "Auf deine Idee ist also schon ein anderer gekommen", sagte Mancinelli schadenfroh. "Na und?" David Kle blickte den Leitenden Ingenieur kriegerisch an. "Du warst es jedenfalls nicht!" Auf dem Bildschirm erschien das Aufmarschdiagramm. "Eins muß man den Leuten vom Stab lassen", meinte Kramer. "Sie haben ganze Arbeit geleistet!" "Hoffentlich nutzt es", sagte Fia Albrecht.
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"Und selbst, wenn es nutzt", gab Mancinelli zu bedenken, "hinterher kommen 98.000!" "Kommt Zeit, kommt Rat!" tröstete Klee. * Von vielen tausend menschlichen Augen, teils auf dem Orterschirm, teils durch die Panoramascheiben der Schiffskanzeln verfolgt, entfaltete sich ein grandioses kosmisches Schauspiel. Die Dritte Flotte, die für dieses Unternehmen ausgewählt worden war, weil sie den Fremden am nächsten stand, flog in den Einsatz. Die Kommandeure hielten sich genau an die Anweisungen des Auf marschdiagramms, und ihre Astronauten führten ihre Flugmanöver mit bewundernswürdiger Genauigkeit aus. Diese Manöver erforderten höchstes navigatorisches Können. Die Fremden flogen in Quaderformation. Diese Formation war nicht übermäßig dicht. Theoretisch wäre es den terranischen Schiffen möglich gewesen, in den Verband einzudringen, sich genau zwischen die fremden Raumflugkörper zu schieben und dann das Impulsfeuer zu eröffnen. Da jedoch die Auswirkungen auf den Kurs des einzelnen Raumschiffs sich nicht genau berechnen ließen und der Kurs der fremden Flotte dann nicht mehr synchron verlief, wäre ein heilloses Durch einander die Folge gewesen, bei dem es wahrscheinlich zu Kollisionen gekommen wäre. Außerdem wußte man nicht, wie die Fremden auf ein solches Manöver reagiert hätten. Die Verbände der Dritten Flotte bezogen daher eine Position längsseits der vier "Flächen" der Quaderformation der fremden Flotte. Dann war es die Aufgabe der zuvorderst fliegenden Schiffe, alle in der ersten Reihe fliegenden Fremden von ihrem Kurs abzudrängen und den so Abgedrängten auf ihrem neuen Kurs zu folgen, um ihn gegebenenfalls noch einmal zu korrigieren. Dann erst würden die nachfolgenden terranischen Schiffe das Störfeuer auf die nächste Schicht der Fremden eröffnen, um sie ebenfalls von ihrem verderbenbringenden Kurs abzudrängen. Und so sollte es weitergehen, bis alle 483 Schiffe außer Gefahr waren. Alles schien nach Plan zu verlaufen. 45 Minuten, nachdem die Dritte Flotte ihren Einsatz begonnen hatte, hatten alle terranischen Schiffe ihre vorbestimmte Position eingenommen.
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Die vorderste Schicht der fremden Flugkörper befand sich bereits in gefähr licher Nähe des kritischen Punktes. Aus dem terranischen Verband lösten sich neun Schiffe. Sie flogen in die Spitze der fremden Flotte ein und bezogen eine genau berechnete Position, bei der jede terranische Einheit schräg hinter "ihrem" Zielobjekt herflog. Dann kam der entscheidende Augenblick. Haarscharf neben dem Bug der neun zuvorderst fliegenden fremden Raumschiffe entstanden neun nukleare Explosionen. Der Schutzschirm der Fremden glühte blaßrot auf, als diese durch die Energiewolken hindurch stießen. Auf den terranischen Schiffen beugten sich die Orteroffiziere über die Kursanzeigen. Sie lasen die Werte ab. Diese ergaben eine Kursänderung von 2,87 im Mittelwert, wobei der äußerste Wert mit 2,99, der geringste mit 2,75 gemessen wurde. Das war eine Streuung von 0,24, womit eine Genauigkeit erzielt worden war, die alle Erwartungen übertroffen hatte. Es hatte geklappt! Die erzielte Kursabweichung reichte aus, um die fraglichen Schiffe aus dem System herauszubringen. Eine Welle der Erleichterung durchflutete die Menschen auf den Schif fen. Gleichzeitig jedoch drängte sich erneut die Frage in den Vordergrund: Was war wirklich auf den Schiffen der Fremden geschehen, das sie so voll kommen jeglicher Steuermöglichkeit beraubt hatte? Als die neuen Kurswerte bekannt waren und die Aktion ein Erfolg zu werden versprach, drehte sich Markus Dicksen zu Grit von Aspern um. Er sagte nur ein Wort: "Hibernation..." Die blonde Biologin nickte. "Ja, mir kam im selben Moment auch der Gedanke, als Sie davon spra chen, daß der Schwefel gefroren sei." Die anderen in der Zentrale folgten verständnislos dem Dialog. Da fuhr Grit fort: "Das ist des Rätsels Lösung: Das Siliciumleben an Bord der fremden Schiffe wurde eingefroren. Das Biosolvens dieser Lebensform ist Schwefel, flüssiger Schwefel natürlich. Die Temperatur an Bord beträgt jedoch 62 Grad. Das bedeutet, daß der Schwefel sich in fester Form befindet. Genau wie der Organismus des Menschen durch Tiefkühlung, das heißt, durch Vereisung seines Biosolvens, in Hibernation überführt, also abgeschaltet - 43
wird, so wurde das Siliciumleben durch die Erstarrung des Schwefels in Tiefschlaf versetzt." "Das würde dann mit einem Schlage die Steuerungsunfähigkeit der Fremden erklären", sagte Ed Kramer. "Jedenfalls bis zu einem gewissen Grade", schränkte Markus ein. "Aus der Lösung der einen erwachsen jetzt nämlich neue Fragen: Wohin wollten die Fremden ursprünglich, und was hat sie auf den augenscheinlich fal schen Kurs gebracht? Oder hat etwa nur eine Automatik versagt, die sich bei Annäherung an ein fremdes Sonnensystem hätte einschalten sollen?" "Das größte Rätsel ist für mich, weshalb die automatischen Einrichtungen - über die eine Flotte mit in den Tiefschla f versenkten Besatzungen unbe dingt verfügen muß - auf allen Schiffen zugleich ausgefallen sind", meinte David Kle. "Wenn die Besatzungen aller 98.000 Schiffe sich im Tiefschlaf befinden und das dürfen wir mit Bestimmtheit annehmen, sonst hätten sie längst auf unsere Manöver reagiert -, dann dürfte es sich also um eine Emigrations flotte handeln", mischte sich Kramer ein. "Eine Flotte, die eine ganze Rasse in einen neuen Lebensraum bringen soll. Frage: Wo liegt dieser neue Le bensraum?" "Vielleicht", mutmaßte Fia Albrecht, "ist es tatsächlich das ArcturusSystem, und es hat nur am Versagen automatischer Warneinrichtungen gelegen, daß der Kurs nicht rechtzeitig geändert wurde. Grit, dieses Silic i umleben - welche planetaren Lebensbedingungen benötigt es?" Die Biologin wiegte den Kopf. "Das ist noch nicht ganz geklärt, und zwar deshalb nicht, weil, wie ich schon dem Kommandanten erklärt habe, an Bord des fremden Schiffes so gut wie keine Atmosphäre nachgewiesen werden konnte. Wir wissen jetzt natürlich auch warum: Wenn das fremde Leben überhaupt eine Atmosphäre benötigt - das ist nämlich noch gar nicht sicher -, dann wird diese vermut lich erst dann erzeugt, wenn sie gebraucht wird, also wenn diese Wesen wieder erweckt werden." Markus stand vor der Panoramascheibe. Da die GEORGE HOFMEI STER relativ nahe zum Schauplatz des Geschehens stand, war das, was dort jenseits der Ekliptik des "kleinen" Planetensystems sich vollzog, gut zu beobachten. Es ging jetzt Schlag auf Schlag.
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Salve auf Salve verließ die Buggeschütze der terranischen Schiffe. Ex plosion auf Explosion erfolgte, und der Druck der ungeheuren Energieent wicklung riß die fremden Raumflugkörper aus ihren Bahnen. Zuweilen mußten die Terraner, die ihren Zielobjekten folgten, noch ein mal feuern, damit die fremden Schiffe nicht allzusehr in ihrem neuen Kurs voneinander abwichen. Es war sowieso eine Frage, die sich allmählich in den Hirnen der verantwortlichen Personen nach vorn drängen würde: Was sollte mit den fremden Schiffen weiter geschehen? Vielleicht, überlegte Markus, war es möglich, sie durch präzise Feuer schließlich in den Orbit um einen Planeten zu zwingen. Dann konnte man sich in Ruhe des Problems weiter annehmen. Nun, das war nicht seine Sache. Für ihn galt es erst einmal, einen ent sprechenden Funkspruch an den Oberkommandierenden abzustrahlen. Markus drückte eine Taste und begann zu sprechen... Während der Kommandant der GEORG HOFMEISTER dabei war, sei nem Vorgesetzten seine und Grits Entdeckung mitzuteilen, begann sich ein Geschehnis anzubahnen, dessen fatale Folgen sich zu diesem Zeitpunkt noch kein denkendes Hirn auszumalen vermochte. Es fing damit an, daß an einem der fremden Raumschiffe, das zu denen gehörte, die als nächste aus ihrem Kurs gedrängt werden sollten, aus unbe kannten Gründen der Schutzschirm ausfiel. Der Kommandant des terranischen Kreuzers, der diesem Schiff zugeteilt worden war, bemerkte dies zwar, aber es war bereits zu spät. Die elektroni sche Zielerfassung war erfolgt. Die Daten auf den Computer übermittelt. Der gespeicherte Feuerbefehl wurde abberufen. Im nächsten Augenblick explodierte die Fusionsbombe neben dem Bug des schutzlosen Fremden. Sie riß ein riesiges Loch in die Schiffswand. Entladungsblitze zuckten aus dem Innern und leiteten eine Kette weiterer, kleinerer Detonationen ein. Das fremde Schiff wurde mit großer Gewalt aus seiner Bahn geschle u dert. Sein Kurs wurde instabil. Seine Geschwindigkeit verlangsamte sich. Der Kommandant des terranischen Kreuzers - es war die ELGHOR - war im Begriff, ein Beiboot klarzumachen, um etwaige Schiffbrüchige der Fremden zu retten. Da flammte drüben an dem getroffenen Schiff der Schutzschirm wieder auf. Der Kurs stabilisierte sich, und die Geschwindig keit des torpedoförmigen Schiffes erhöhte sich abrupt. Und dann geschah etwas Unheimliches. Die terranischen Schiffe, die an der Aktion zur Rettung beteiligt waren, also alle Einheiten der Dritten Flot- 45
te, flogen noch immer mit eingeschalteten Feldschirmen. Dies war eine Vorsichtsmaßregel des Oberkommandierenden der Raumstreitkräfte, die keinerlei Risiko einzugehen bereit war. Die nächsten Sekunden ließen jedoch jeden, der das, was geschah, beo bachtete, daran zweifeln, ob der Befehl des Admirals einen Sinn gehabt hatte. Der Kommandant der ELGHOR und seine Offiziere bemerkten plötzlich mit Entsetzen, daß der Schutzschirm ihres Schiffes in sich zusammenfiel. Sekunden später wälzten sie sich schreiend am Boden der Zentrale. Und so wie ihnen erging es sämtlichen Mitgliedern der Besatzung. Den Män nern und Frauen war es, als ob sie von innen heraus verbrannten. Die Räu me, Gänge und Korridore des Schiffes hallten wider von den gräßlichen Schreien der Unglücklichen. Dann wurde es still. Die Bewegungen der Menschen am Boden erstarr ten. Steuerlos, mit einer toten Besatzung an Bord, raste die ELGHOR durch den Weltraum. Ihre Antennen strahlten den automatischen Notruf aus. 6. Das EINE erwachte. Genaugenommen war es nur ein winziger Teil von ihm. Und außerdem war das EINE auch nicht sein wirklicher Name. Es redete mit niemandem, und es wurde von niemand angeredet; also brauchte es auch keinen Namen. Doch bei einer seiner ungezählten Begegnungen in seinem langen Leben sein Alter konnte sich durchaus mit dem eines Planeten messen - war ihm von den Individuen einer inzwischen längst verschollenen Intelligenzform dieser durchaus nicht unzutreffende Name verliehen worden. Und aus Gründen der Orientierung soll er hier beibehalten werden. Ein winziger Teil, gewissermaßen eine Facette dieses gewaltigen kosmi schen Bewußtseins, war also aus seinem Tie fschlaf erwacht. Die aufgehobene Individuation bestand allerdings nur nach innen hin. Äußerlich war das erwachte Teilbewußtsein individuell begrenzt. Es hatte etwa die Form eines Kristalls. Seine Körpersubstanz war mit der chemi schen Formel Sich, also Quarz, umschrieben. Mit anderen Worten: Das EINE war ein Mineralwesen. - 46
Als es erwachte, wurde es sogleich von einer Welle von Informationen überflutet. Die erste Reaktion der Befriedigung, daß das Ziel erreicht war und die Periode der Aktivität wieder begann, wich im nächsten Augenblick heftiger Bestürzung (solche Reaktionen, wie überhaupt alle Lebensäußerungen des seltsamen Wesens, geschahen durch Verschiebungen oder Umgruppierun gen innerhalb ganz bestimmter Molekülverbindungen der mineralischen Substanz). Die Signale, die eingingen, ließen binnen. Sekundenbruchteilen erkennen, daß etwas Unvorhergesehenes eingetreten war. Etwas Schreckli ches, etwas, das die Existenz allen an Bord befindlichen Lebens unmittel bar bedrohte. Jene kristalline Teilstruktur, die ni ihrer Funktionsweise dem menschli chen Gehirn entsprach, verarbeitete alle einlaufenden Signale im Zeitraum einer Nanosekunde, wobei die unbrauchbaren Informationen ausgefiltert wurden. Danach ergab sich folgendes Bild: Aus unerklärlichen Gründen befand sich die Rettungsflotte nicht mehr auf dem richtigen Kurs. Vor ihr waberte das Flammenmeer eines Riesen sterns. Die sechs Kursweiser waren verschwunden. Vermutlich waren sie in die Sonne gestürzt. Das eigene Schiff war von den nuklearen Vernic h tungswaffen einer fremden Lebensform schwer beschädigt worden. Die Fremden griffen die Schiffe der Pioniere und der Wächter an und versuchten, sie zu vernichten, was bisher nur daran gescheitert war, daß alle Schiffe das Schirmfeld eingeschaltet hatten. Das Mineralle ben veränderte seine molekulare Struktur und erzeugte ein starkes Kraftfeld. Dann führte es mehrere Handlungen aus, die man, da sie im Abstand einer Picosekunde aufeinander folgten, getrost als gleichzeitig betrachten konnte. Einmal strahlte es ein Wecksignal ab, das von den Spezialantennen alle 98.490 Flugkörper der Rettungsflotte aufgenommen wurde. Ein zweites Signal setzte die automatischen Rettungs- und Instandsetzungseinrichtun gen in Gang, ein drittes aktivierte das Verteidigungssystem. Die Folgen ließen nicht auf sich warten. Ein Schottensystem riegelte die bedrohten Lebensräume ab. Nottriebwerke und Notaggregate übernahmen die Funktionen der zerstörten maschinellen Einrichtungen. Reparatureinhei ten begannen mit der Wiederinstandsetzung der ausgefallenen Anlagen. Der Kurs des angeschlagenen Schiffes stabilisierte sich, die Geschwindig keit erlangte wieder den programmierten Wert.
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Dann erfaßte die Zieleinrichtung das gegnerische Schiff, und, nachdem der Schutzschirm neutralisiert worden war, schalteten die Paralysewaffen seine Besatzung aus. Von allen Maßnahmen war jedoch die Ausstrahlung des ersten Signals die wichtigste. Sie führte dazu, daß auf allen Schiffen der Rettungsflotte das EINE er wachte, zumindest ein so großer Teil davon, wie benötigt wurde, um fest zustellen, was geschehen und was zu tun war, um die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen. Jener Teil des EINEN, der aus der Leblosigkeit wieder in Aktivität über gegangen war, führte eine vorläufige Analyse durch, um den quantitativen und qualitativen Grad des anliegenden Problemkomplexes zu erfassen, und strahlte Impulse ab, um weitere Teile des EINEN zur Aktivität anzuregen. Als die Masse des reaktivierten Bewußtseins groß genug war, führte die ses eine umfassende Analyse der Situation durch und leitete die zu ihrer Bewältigung notwendigen Maßnahmen ein. Dies alles vollzog sich wiederum in einer für terranische Verhältnisse unglaublich kurzen Zeit, wobei das EINE den Gesamtvorgang nach folgen den Gliederungspunkten vollzog: Erinnerung - Was hatte zu der jetzigen Lage geführt? Was war vorher gewesen? Erkenntnis und Beurteilung - was geschah und welche Probleme ergaben sich daraus? Plan und Entscheidung - welche Maßnahmen mußten ergriffen werden? Das EINE erinnerte sich. Vor unvorstellbar la nger Zeit hatte es die Welt seiner Geburt verlassen. Diese hatte sich auf dem einzigen Planeten eines sterbenden Sterns befun den. Dieser, ein dunkelroter Zwerg, hatte nicht mehr allzulange die erfor derliche Wärmestrahlung abzugeben. Das EINE, das das allmähliche Erlöschen der Sonne erkannte, hatte nach Wegen gesucht, um aus der tödlichen Sackgasse hinauszukommen. Da es immobil war, hatte es selbst keine Möglichkeit, die dem Untergang geweih te Welt zu verlassen. Aber, als eines Tages Individuen einer raumfahrenden Lebensform auf dem Planeten landeten, sah es seine Stunde gekommen. Der geballten Kraft seines Gemeinschaftsbewußtseins hatten die Fremden nichts Gleichwerti ges entgegenzusetzen. Das EINE zwang sie durch die Gewalt seiner ener getischen Felder unter seine Herrschaft. Die Fremden mußten für das Ge- 48
meinschaftswesen Automaten bauen und zwar solche, die selbst wieder Automaten bauten. Als auf dem Planeten eine unabhängige und leistungsfähige Robotindu strie entstanden war, entließ das EINE die fremden Individuen aus seiner Gewalt. Dann gab es den Automaten den Befehl, die Rettungsflotte zu bau en. Als diese fertig war, mußten die Automaten die Gemeinschaftsintelli genz, die in Billionen Gliedern den Planeten bedeckte, in die 98.490 Raum schiffe verladen. Dann verließ die Flotte das sterbende System. Die hochqualifizierten navigatorischen Einrichtungen sollten sie zu einer lebensfreundlichen Welt bringen, einer Welt, die Jahrmilliarden friedvoller, ungestörter Entwicklung verbürgte. Als eine solche Welt würde sich nur einer der überaus seltenen Planeten eignen, die über eine Schwefeldioxyd-Atmosphäre verfügten. Um sie zu finden, waren die sechs Führerschiffe, die Wegweiser, mit Spezialdetektoren versehen, die die Entdeckung eines Schwefeldioxydpla neten meldeten, die sodann das Landemanöver einleiten würden. Da nicht bekannt war, wann und wo ein Schwefeldioxydplanet gefunden werden würde, war nicht vorauszusagen, wie lange die Reise durch das Weltall dauern würde. Ohne die lebensspendende Wärme einer Sonne ver mochte das EINE eine längere Zeit nicht zu überstehen. Aus diesem Grund überließ es die Kontrolle den Automaten und ließ sich für die Dauer des Fluges einfrieren. Etwas war jedoch schiefgegangen. Die Überprüfung der organischen Speicher der Automaten ergab, daß der Durchgang der Flotte durch den Einflußbereich eines Neutronsterns dafür verantwortlich war. Die ungeheuren energetischen Kräfte der Ex-Supernova hatten das or ganelektronische Leitsystem der sechs Führerschiffe gestört. Zwar hatte das spezielle Kopplungssystem dafür gesorgt, daß nach dem Durchgang der Kurs aller Schiffe der Rettungsflotte wieder vereinheitlicht wurde. Jedoch hatten sich in das Steuerungs- und Warnsystem gewisse Fehler eingeschli chen. Einmal waren die Schwefeldioxyd-Detektoren ausgefallen. Zum an deren hatten auch die Masse-Temperatur-Analysatoren versagt. Da die Hauptflotte steuertechnisch mit den sechs Führereinheiten gekoppelt war, hätte dies unmittelbar zu katastrophalen Folgen geführt. Glücklicherweise waren nur die sechs Wegweiser Opfer dieses Mißgeschicks geworden.
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Ungeklärt blieb, was zur Einschaltung der Schutzschirme geführt hatte. Auf jeden Fall war hierfür ein Signal verantwortlich gewesen, das eines der verlorengegangenen Führerschiffe - aus welchem Grund auch immer - ab gestrahlt haben mußte. Das EINE erkannte. Die Rettungsflotte bewegte sich auf die Korona einer Riesensonne zu. Die vorausfliegenden Schiffe waren dieser bereits zum Opfer gefallen. Die 486 Einheiten der Wächter und der Pioniere, an deren Bord sich spezielle Automaten zur Erkundung und Vorbereitung des neuen Lebensraumes befanden, waren im Begriff, das Schicksal der Wegweiserzuteilen. Individuen einer unbekannten Lebensform versuchten mit nuklearen Ver nichtungswaffen, die Schiffe des Gemeinschaftswesens zu desintegrieren. Das EINE entschied. Die das Leben der Gemeinschaftsintelligenz bedrohenden Fremden muß ten vernichtet werden. Dazu mußten jene Schiffe eingesetzt werden, die über die zur Verteidigung des Gemeinschaftslebens konstruierten Waffen verfügten. Der eine Fall, bei dem dies bereits geschehen war, hatte gezeigt, daß der Feind gegen diese Waffe keine Abwehrmittel besaß. Somit waren in diesem Punkte keine Schwierigkeiten zu erwarten. Gleichzeitig mußten einige Schiffe mit Schwefeldioxyd-Detektoren ver sehen und losgeschickt werden, um eine Welt zu finden, die günstige Le bensbedingungen für das Mineralleben besaß. Die Hauptsubstanz des EINEN aus seiner Erstarrung zu wecken, wurde für nicht notwendig und auch für gefährlich erachtet. Es war mit unüber brückbaren Schwierigkeiten verbunden, eine riesige Masse, wie das Ge samtleben des EINEN sie darstellte, mit der notwendigen Wärmestrahlung zu versehen. Das EINE hatte seine Entscheidung getroffen, es ging daran, sie in die Tat umzusetzen... * Die Menschen in der Zentrale der GEORG HOFMEISTER hatten mit auf gerissenen Augen verfolgt, was mit der ELGHOR geschehen war. Zwar hatten sie keine Ahnung von dem, was sich tatsächlich an Bord des Kreu zers abgespielt hatte. Jedoch der unmotivierte Kurswechsel des Schiffes, der, wie eine schnelle Berechnung ergab, genau in das Herz der Riesenson ne führte, sowie die Tatsache, daß die Besatzung auf keinen Funkanruf - 50
mehr reagierte, nicht zuletzt aber auch das Verhalten des fremden Raum schiffs, das, obwohl schwer beschädigt, seinen Kurs wieder stabilisiert und die Geschwindigkeit wieder normalisiert hatte - das alles ließ keinen Zwei fel daran, daß Unheimliches geschehen war. Zumindest schwebte die Be satzung der ELGHOR in Lebensgefahr. An Schlimmeres mochte an Bord der GEORG HOFMEISTER niemand denken. Captain Markus Dicksein brauchte nur Sekunden, um eine Entscheidung zu treffen. "Ed", sagte er mit ruhiger Stimme, "Blitzspruch an den Chef! Wir fangen die ELGHOR ab!" Die drei Männer blickten ihren Kommandanten an. Jeder von ihnen wuß te was dieses Vorhaben bedeutete. Die ELGHOR war im Unterlichtflug nicht mehr zu erreichen. Die GE ORG HOFMEISTER mußte also das ÜL-Triebwerk einsetzen. Überlicht flug innerhalb eines Sonnensystems war je doch ein Unterfangen, das hart an Selbstmord grenzte. Erstens stellten die unvorstellbaren Energiemengen, die das Tachyonentriebwerk entfachte, immense Anforderungen an Mensch, Material und Elektronik. Abweichungen oder Meßfehler die nur ein Milliardstel überschritten, mochten beispielsweise dazu führen, daß das betreffende Schiff und; seine Besatzung sich im Zentrum des Riesensterns wiederfanden. Doch nun zeigte sich, daß Markus; Dicksen und seine Offiziere ein ein gespieltes Team waren, das gewohnt war, sich blindlings aufeinander zu verlassen. Ohne auch nur ein Wort über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Unternehmens zu verschwenden, geschweige denn, einen Protest anzumel den, machte sich jeder an die ihm zufallende Arbeit. Der Mechanismus der technischen und navigatorischen Operationen, der Berechnungen und Aus wertungen, der Vermessungen, Kontrollen und Justierungen lief ab wie ein gutgeöltes Uhrwerk. Dann aktivierte die Elektronik das Tachyonentriebwerk. Die GEORG HOFMEISTER wechselte in die ÜL-Phase. Als sie wieder "unterlicht" war, schrillten die Alarmglocken. Vor die Kanzelscheiben schoben sich dichte Blendfilter. An Steuerbord stand eine Feuerwand: Arcturus. Protuberanzen zuckten Tausende von Kilometern durch den Raum, ließen die Feldschirmanzeigen hochschnellen.
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Die Männer starrten auf die Instrumente. Die nächsten Sekunden würden darüber entscheiden, ob die Berechnungen richtig gewesen, die Programme fehlerfrei ausgeführt worden waren, oder ob die GEORG HOFMEISTER den titanischen Kräften, die von der Riesensonne aus nach ihr griffen, un terliegen würde. Langsam wanderten die Zeiger aus den roten Zonen hinüber in die grü nen. Die drei Astronauten atmeten auf. "Teil zwo!" sagte Mancinelli. Wie auf ein Kommando hin wandten sich die Augen der Männer nach links hinüber, blickten suchend durch das Panzerglas. Schräg unter ihnen bewegte sich ein winziger Lichtpunkt. Er kam genau auf die GEORG HOFMEISTER zu. "Das muß sie sein!" behauptete Kramer. "Manci!" Die Finger des Kommandanten huschten bereits über die Tasta tur der Elektronik. "Traktorstrahlprojektoren hochfahren! Beiboot klar zum Ausschleusen! Besatzung in den Hangar: sechs Mann mit Kameras, Prüfge räten, Robotbahren und Medicdepot!" Der LI bestätigte. "Was sagt die Fernortung, Ed?" Der Pilot blickte auf den Schirm. "Alles ruhig, keine Entladungen mehr. Der Chef hat vermutlich zunächst einmal das Störfeuer einstellen lassen, nach dem Zwischenfall mit der ELGHOR." Während das starke Photonentriebwerk ihr Raumschiff aus dem tödlichen Bannkreis der Sonne heraustrieb, hingen die Männer ihren Gedanken nach. Die Bemerkung des Captains hatte sie daran erinnert, daß niemand wußte, was auf der ELGHOR tatsächlich geschehen war. Da rief Kramer, der noch immer auf den Schirm der Fernortung blickte: "Seht euch das an!" Die anderen fuhren herum. Urplötzlich hatte sich das Bild wieder belebt. Emissionsechos erschienen, und die Anzeigen verrieten, daß dort im Raum zahlreiche starke Energieentladungen stattfanden. Doch an der Anordnung der Entladungen und an ihrer großen Anzahl wurde umgehend deutlich, daß es sich jetzt nicht mehr um ein geordnetes systematisches Störfeuer handel te.
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7.
Dort hinten, irgendwo in den riesigen Weiten dieses Sonnensystems, be gann eine Raumschlacht... Bericht Kommodore Arno P. Piazza, dritte Flotte, XIII. Geschwader. Zur Zeit: General Hospital, Flottenflaggschiff. Um 22:15 Uhr traf der Befehl des Admirals ein, das Kursstörfeuer einzu stellen und uns abzusetzen. Ich leitete die Order sofort an die Einheitsführer weiter. Ich beobachtete auf den Schirmen, wie die Kommandanten den Befehlen nachkamen. Das Feuer wurde eingestellt, und die Schiffe setzten sich plangemäß ab. Um 21:38 Uhr befanden sich alle Einheiten bereits auf dem neuen Kurs. Um 21:55 Uhr erhielt ich die Meldung, daß zu den zwölf Schiffen der vierzehnten Staffel die Funkverbindung abgerissen war. Zwei dieser Schif fe sandten das automatische Notsignal. Während ich auf dem Orterschirm, feststellte, daß sich alle zwölf noch immer auf dem festgelegten Kurs be fanden, traf eine weitere Meldung ein, die besagte, daß auch zu der sech sten und zu der siebten Staffel die Funkverbindung abgerissen war. An sämtlichen Schiffen war der Schutzschirm ausgefallen. Da ich wußte, daß die zu der Gruppe Herbert gehörenden 36 Einheiten der drei Staffeln am nächsten zu dem Verband der Fremden gestanden hat ten, vermutete ich, daß die betreffenden Schiffe, respektive ihre Besatzun gen mit einer unsichtbaren und unregistrierbaren Waffe angegriffen worden waren. Zugleich stellte ich fest, daß sich die Formation des fremden Flottenver bandes zu ändern begann. Die Hauptmasse änderte ihren Kurs um 2,09 Grad Nord, bezogen auf die Ekliptik von Masse. Diese Maßnahme würde sie - wie eine Berechnung ergab - aus dem Schwerefeld des Systems he rausbringen. Jene Schiffe jedoch, die an der uns zugewandten Flanke des Quaders flogen, schwenkten in Flugparabeln ein, die sie auf Verfolgungs kurs zu unseren Einheiten brachten. Schon nach Erhalt der zweiten Meldung hatte ich FD-Alarm gegeben und befohlen, die Geschwindigkeit zu erhöhen, daß der Übergang in die ÜL Phase, falls erforderlich, in 8,5 Sekunden erfolgen konnte. Außerdem hatte ich durch Blitzfunk die Flottenleitung informieren und Feuererlaubnis er bitten lassen. Zehn Minuten später wurde das Feuerverbot aufgehoben. Es war fast zu spät. - 53
Aus den Meldungen, die jetzt rasch hintereinander eintrafen und aus dem, was sich auf dem Orterschirm zeigte, ergab sich folgendes Bild: Der Gegner griff mit zwei verschiedenen Schiffstypen an, die sich einmal äußerlich durch ihre Form, zum anderen durch die Verschiedenheit ihrer Bewaffnung unterschieden. Der Typ A war verhältnismäßig klein und besaß die Form eines schla n ken Zylinders oder Torpedos. Er tauchte immer dort auf, wo die Funkver bindung zu den betroffenen terranischen Schiffen und deren Schutzschir men ausgefallen waren. Er mußte also über eine Waffe verfügen, die ener getische Felder und elektronische Geräte zum Zusammenbruch brachte. Warum diese Waffe nicht auch die elektronische Steuerung der getroffenen Schiffe beeinflußte, war rätselhaft. Der Typ B war wesentlich größer und besaß Hantelform. Die verdickten Bug- und Heckteile, die Gewichte" der Hantel, waren drehbare Geschütz türme, in denen sich nukleare Batterien befanden, die, wie wir feststellen mußten, hochwirksame Gammastrahlen verschickten. Während sich die Meldungen häuften, daß immer mehr von unseren Ein heiten der unheimlichen Waffe der feindlichen Torpedoschiffe erlagen, entspann sich zwischen den Hantelschiffen und dem Rest unseres Ge schwaders ein erbittertes Gefecht. Dabei wurde offenbar, daß der feindliche Beschuß die Schutzschirme unserer Schiffe zwar bis auf das äußerste beanspruchte, diese jedoch der Belastung standhielten. Nur wenn mehrere "Hanteln" einen der unserigen unter synchronen Punktbeschuß nahmen, brach dessen Schirmfeld schlie ß lich zusammen. Umgekehrt galt nicht das gleiche für die Defensivbewaffnung des Ge gners. Zwar demonstrierten die Schirmfelder der Fremden ebenfalls eine große Widerstandkraft. Jedoch dem Beschuß durch JL-Waffen, mit denen die Hälfte unserer Schiffe ausgestattet waren, hielten sie nicht stand. Da es jedoch auf der anderen Seite keinen Schutz gegen die geheimnisvolle Strahlung der Torpedoschiffe zu geben schien, begann sich unsere Nieder lage bald abzuzeichnen. Als von den 120 Einheiten meines Geschwaders nur noch 33 funktions fähig waren, gab ich den Rückzugsbefehl. Im nächsten Moment wurden wir von drei Hantelschiffen angegriffen. Zwar gelang es uns noch, einen der Gegner abzuschießen. Dann jedoch brach unser Schirmfeld zusammen, und wir erhielten einen Volltreffer.
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Leutnant Bwongo und mir, den einzigen überlebenden Offizieren, und einem Drittel der Besatzung gelang es, ein Beiboot auszuschleusen. Unter wegs, gerieten wir jedoch unter Beschuß, und das Beiboot wurde zerstört. Ich wurde in den Weltraum hinausgeschleudert und verlor das Bewußt sein. Später wurde ich von einem Rettungskommando geortet und an Bord der PASQUALE gebracht. Arno Piazza, Oberstleutnant. Als Jochen Flanders die Meldung von dem unglücklichen Zufall erhalten hatte, durch den ein Schiff der Fremden von einem terranischen Kreuzer schwer beschädigt worden war, hatte er geahnt, daß dieser Vorfall nicht ohne Folgen bleiben würde. Als er dann erfuhr, daß die ELGHOR auf keinen Funkanruf mehr antwor tete und anscheinend steuerlos in Richtung Arcturus durch den Weltraum raste, hatte er zu Sola gesagt: "Mir schwant Unheil, großes Unheil!" Dann hatte er sofort gehandelt. Ein Blitzruf stoppte das Störfeuer der Dritten Flotte und befahl ihr, sich von den Fremden zu lösen. Gleichzeitig beorderte der Admiral die etwa 2.000 Einheiten der Fünften und Sechsten Flotte zum Ort des Geschehens. Aber noch während die angeforderten Verbände in Marsch gesetzt wur den, war das Unheil bereits über die Schiffe der Dritten Flotte hereingebro chen. Ehe noch die Kommandeure die Lage richtig begriffen hatten, waren ihre Verbände bereits aufgerieben worden. So wie Oberstleutnant Piazza war es auch den anderen Verbandsführern ergangen. Die Taktik der Fremden, durch den Einsatz zweier in der Wirkungsweise völlig verschiedener Schiffstypen die Terraner zu verwirren und sie dann um so leichter auszu schalten, war im vollen Umfang gelungen. Gerade die Erfolge, die die Terraner gegenüber den Hantelschiffen erzie l ten, hatten sie unvorsichtig gemacht. Sie ließen sich in Kämpfe mit den Torpedoschiffen ein, die über eine teuflische Waffe verfügen mußten. Eine Waffe, mit der die Schutzschirme der terranischen Schiffe einfach ausge schaltet wurden. Damit nicht genug: Nach dem Ausfall ihrer Schutzschirme rasten die betroffenen Schiffe steuerlos und verteidigungsunfähig durch den Raum, so lange, bis sie von herbeieilenden Hantelschiffen vernichtet wur den. Irgend etwas mußte also vorher bereits mit ihren Besatzungen gesche hen sein. Waren sie narkotisiert oder gar getötet worden?
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Der Chef der Dritten Flotte, Konteradmiral Charbatow, und vier seiner Kommandeure waren gefallen, ehe sie das tun konnten, was das einzig Richtige in ihrer Lage gewesen wäre: den Befehl zum Rückzug zu geben. Aber auch der Kommodore des 13. Geschwaders, Oberstleutnant Piazza, hatte die Schiffe seines Verbandes nicht mehr retten können. Als sein Be fehl zum Absetzen endlich die Antennen seines Schiffes verließ, war es längst zu spät. Die wenigen noch funktionstüchtigen Einheiten seines Ver bandes waren bereits eingekreist und wurden einschließlich des Führer schiffes vernichtet. Das Desaster war vollkommen. Von den 620 Raumschiffen der Dritten Flotte entging kein einziges dem Untergang. Oberstleutnant Piazza war wie durch ein Wunder entkommen. Er war der einzige Überlebende. Jochen Flanders stand mit totenbleichem Gesicht vor dem Kartentank und starrte geistesabwesend auf die dreidimensionale Systemprojektion. Die versammelten Offiziere wagten nicht, ihn zu stören. Eine Ordonnanz trat von hinten an Oberst Malnikow heran und flüsterte ihm etwas zu. Der Exekutivoffizier nickte. Dann räusperte er sich. "Sir..." Der Admiral hob den Kopf. "Ja...?" sagte er tonlos. "Professor Meridith rief an. Er verlangt, daß Kommodore Piazza umge hend nach Terra geflogen wird. Er sagte, der Defekt in der Klimaanlage des Raumanzugs..." "Ja, ja, ich weiß!" Flanders nickte. Durch einen Fehler im elektronischen System des Wärmereglers war die Temperatur in Piazzas Anzug allmählich abgesunken. Als der Oberstleutnant schließlich von einem Suchkommando der PASQUALE entdeckt worden war, war es fast zu spät gewesen. Nur der außergewöhnlichen Robustheit seines Körpers hatte der Mann es zu verdanken gehabt, daß er keine schwerwiegenden Schäden davongetragen zu haben schien. Die Intervention des Flottenarztes zeigte, daß in diesem Punkte jedoch noch nicht das letzte Wort gesprochen war... "In drei Stunden startet das Kurierschiff. Sola, sorgen Sie dafür, daß der Kommodore an Bord kommt!" "Selbstverständlich, Admiral!" Der Oberkommandierende der Raumstreitkräfte richtete sich auf.
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"Meine Damen und Herren", sagte er, "ich bin der Auffassung, daß es sinnlos, ja sogar gefährlich ist, in unserer derzeitigen Lage uns lange mit Untersuchungen über die Frage aufzuhalten, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte, ob es Schuldige gibt und wer sie sind. Das soll nicht hei ßen, daß ich selbst mich der Verantwortung entziehen werde, denn daß ich als Oberkommandierender diese letztlich trage, steht außer Frage. Ich habe meinen Bericht bereits abgefaßt, und der Kommandant des Kurierschiffs wird ihn der Regierung auf Terra überbringen. Was ich jedoch meine, ist dies: Die Ereignisse zwingen uns zu überle g tem, aber schnellem Handeln. Daß wir im Augenblick gegen die Flotte der Hunderttausend keine Chance besitzen, wird nach dem, was geschehen ist, jedem von uns klar sein. Wir dürfen es daher zur Zeit auf keinerlei gewalt same Auseinandersetzung ankommen lassen. Das bedeutet: Rückzug der Streitkräfte aus dem Arcturus-System!" Der Admiral schwieg einen Augenblick. Vielleicht hatte er Widerspruch erwartet. Aber niemand meldete sich. Selbst Melnikow, als rücksichtsloser Draufgänger bekannt, schwieg. Auch er schien noch ganz unter dem Ein druck dessen zu stehen, was geschehen war. "Der einzige Punkt", fuhr Flanders fort, "in dem wir dem Gegner wahr scheinlich überlegen sind, ist der ÜL-Antrieb. Den Berichten der Experten von Admiral Deusens Verband zufolge sind die Fremden nicht in der Lage, überlichtschnell zu fliegen. Die Entfernung von hier bis Terra beträgt immerhin 32 Lichtjahre. Wir hätten also eine ganze Menge Zeit, uns den Problemen zu widmen, die wir sofort in Angriff nehmen müssen, wenn uns die fremde Flotte oder Teile von ihr verfolgen sollten, was natürlich nicht gewiß ist." Major Boston hob die Hand. "Ja?" "Wir werden also das Arcturus-System dem Feind überlassen!' Flanders nickte. "Ja! Ich weiß, worauf Sie anspielen, Kipchoge. Sie und noch andere von Ihnen werden der Meinung sein, es sei nicht mit terrani scher Ethik und Moral zu vereinbaren, die Aukassin ihrem Schicksal zu überlassen, zumindest so lange nicht, wie nicht feststeht, was die Fremden hier wollen. - Zu diesem Punkt wird Sie eine Meldung interessieren, die ich vor kurzem bekommen habe. Aus dieser geht hervor, daß ein kleiner Verband der fremden Vorhutflotte sich von dieser abgesetzt hat und dabei ist, Masseü zu erkunden. Das Inter-
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esse der Fremden konzentriere sich - das besagt die Meldung - auf den vie r ten Planeten..." "Der vierte Planet", warf Oberstleutnant Schmidt ein, "das ist doch, wenn ich mich nicht irre, eine Schwefeldioxydwelt!" "Sie irren sich nicht, Oberstleutnant! Da aus dem Bericht des Komman danten des Forschungskreuzers GEORG HOFMEISTER hervorgeht, daß die Fremden sehr wahrscheinlich nur in einer Schwefeldioxydatmosphäre zu existieren vermögen, können Sie sich, meine Damen und Herren, den Rest selbst zusammenreimen." "Sie meinen, die Fremden suchen einen neuen Lebensraum...", begann Major Nishiyoto. "... und haben ihn auf dem vierten Planeten dieses Systems gefunden. Ja, das meine ich", ergänzte Flanders. "Trotzdem", wandte Oberst Melnikow ein, "ist es keineswegs sicher, daß die Aukassin ungeschoren davonkommen." "Nein", erwiderte der Admiral ernst. "Nichts ist sicher. Und aus diesem und noch aus anderen Gründen ist es unerläßlich, daß alles, was in unseren Kräften steht, geschehen muß, um das Gesamtproblem, was das Erscheinen der fremden Riesenflotte aufgeworfen hat, zu lösen. Und unsere Versuche, dieses Problem zu lösen, müssen sich auf zwei Hauptpunkte konzentrieren. Einmal muß mit allen Mitteln versucht werden, eine Kommunikations möglichkeit mit den Fremden zu erreichen.'" Sola Toulandi hob die Hand. "Sprechen Sie, Sola!" "Aus dem Bericht Dr. von Asperns geht hervor, daß es sich bei den Fremden um eine Lebensform von großer Fremdheit handelt. Die Biologin spricht von einer Art Silicium- oder Quarzleben. Die Hoffnung mit einer solchen Seinsform kommunizieren zu können, ist nach Ansicht unserer Experten außerordentlich gering." Admiral Flanders lächelte. "Kennen Sie das marsianische Sprichwort, Sola: ‚Im Verhältnis zum Nichts ist gering viel'?" - Sehen Sie, ich bin der Überzeugung, da aller Stoff im Universum gemeinsamen Ursprungs ist, muß zwischen den verschiedenen Gestalten dieses Stoffes auch Gemeinsames bestehen. Dies gilt es für uns zu finden." Er schwieg einen Moment und fuhr dann fort: "Die Kommunikation mit den Fremden ist um so wichtiger, als ja das ganze Unheil, was wir erlebten, nur durch einen unglückseligen Vorfall ausgelöst wurde, an dem niemand die Schuld trägt. Wenn es uns gelingt, den Fremden begreiflich zu machen, daß wir sie nicht hatten angreifen, sondern ihnen hatten helfen wollen, ist das Problem gelöst. - Da wir nicht - 58
sicher sein können, daß wir in dieser Hinsicht unser Ziel auch wirklich erreichen, müssen wir unsere Bemühungen gleichwohl noch auf einen an deren Punkt richten. Wir müssen herausfinden, welcher Art die Strahlung ist, mit der die Fremden uns so furchtbare Verluste zugefügt haben. Dann wird es auch möglich sein, ein wirksames Gegenmittel zu finden." Der Admiral blickte seine Offiziere der Reihe nach an. Dann fuhr er fort.: "Wir werden ein Spezialkommando zurücklassen. Dieses wird die Auf gabe haben, Material zu beschaffen, das uns dazu verhelfen soll, dem Ge heimnis der unheimlichen Waffe der Fremden auf die Spur zu kommen. Der Ort, der sich am besten für eine solche Operation eignet, ist der vierte Planet, der vermutlich zum neuen Domizil des fremden Lebens werden soll. Die Operation muß schnell durchgeführt werden. Noch befinden sich auf der Schwefeldioxydwelt nicht mehr als zwei Dutzend Schiffe. Ein ein zelnes terranisches Schiff ist da kaum zu entdecken, wenn es geschickt operiert und sich im Ortungsschatten aufhält. Trifft erst einmal der Haupt pulk dort ein, ist es jedoch zu spät." "Wie weit befindet sich der Hauptpulk noch vom vierten Planeten ent fernt?" erkundigte sieh Major Boston. Der Admiral warf seinem Exek einen auffordernden Blick zu. Melnikow aktivierte einen Leuchtpfeil und zeigte damit auf eine bestimmte Stelle "oberhalb" der Systemebene von Masseü. "Die Hauptflotte hat ihren Flug inzwischen verlangsamt. Es sieht so aus, als ob sie auf einen systemweiten Orbit gehen wollte", erklärte der Oberst. "Ja", ergänzte Flanders, "vermutlich will man erst abwarten, ob die Kundschafter den vierten Planeten für eine geeignete Besiedlungswelt hal ten. Diese können sich jedoch unter Umständen sehr schnell entscheiden." "Mit anderen Worten", bemerkte Oberstleutnant Schmidt, "unser Spezia l kommando muß seine Aktion sofort beginnen." "So ist es", bestätigte der Oberkommandierende. "Im übrigen ist es wohl jedem von uns klar, daß diese Aktion einem Himmelfahrtskommando gleichkommt." Gemurmel setzte ein unter den zuhörenden Offizieren, und Major Nis hiyoto sagte schnell: "Sir, würden Sie mich bitte mit der Leitung dieses Unternehmens betrau en?" Admiral Flanders schüttelte lächelnd den Kopf.
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"Mein lieber Nishiyoto, mit dieser Aufgabe werde ich einen Mann be trauen, der in der betreffenden Angelegenheit bereits über einige Erfahrun gen verfügt." Verständnislos blickten ihn die Offiziere an. Und Oberstleutnant Schmidt rief: "Die Männer und Frauen, die mit den verdammten Fremden zu tun ge habt hatten, sind tot! Bis auf Kommodore Piazza, und der ist nicht in der Lage..." Aber Flanders schnitt ihm mit einer energischen Handbewegung das Wort ab und sagte scharf: "Ordonnanz! Führen Sie Captain Dicksen herein!" Der Ordonnanzoffizier salutierte. Er schritt zu einer Tür, und als sie sich öffnete, sagte er lau t: "Captain Dicksen, bitte zum Admiral!" Markus betrat die Zentrale. In der Hand hielt er eine schmale Mappe. Ein bemerkenswerter Mann, dachte Sola, als sie den Captain betrachtete, der groß und gewichtig im Raum stand und seinem obersten Chef ruhig in die Augen sah. Sein riesiger, etwas zur Fülle neigender Körper schien die silbergraue Uniform sprengen zu wollen. Sein rundliches Gesicht strahlte Gutmütigkeit aus. Aber seine Augen blickten hellwach und durchdringend. Sie gehörten einem Mann, der gewohnt war, den Dingen auf den Grund und Entscheidungen nicht aus dem Weg zu gehen. Ein jungenhaftes Lächeln flog unvermittelt über sein Gesicht, als er grü ßend sagte: "Captain Dicksen. Admiral?" Flanders dankte kurz. "Meine Damen und Herren; ich stelle Ihnen Captain Dicksen, den Kom mandanten des Forschungskreuzers GEORG HOFMEISTER, vor. Dem Namen nach dürfte er den meisten von Ihnen bereits bekannt sein. Er ge hört zum Spezialverband Admiral Deusens, und durch ihn und seine Mitar beiter besitzen wir wenigstens einige Informationen über die fremden Le bewesen und die Raumschiffe, mit denen sie fliegen. Vor ein paar Stunden nun hat Captain Dicksen diesen Informationen wei tere hinzugefügt. Erschütternde Informationen, wie Sie gleich sehen wer den. Captain Dicksen erhielt sie, als er den Raumkreuzer ELGHOR davor bewahrte, in die Sonne Aldebaran zu stürzen. Leider konnten durch diese mutige Aktion Menschenleben nicht gerettet werden."
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Stimmen brandeten auf. Die Offiziere waren offensichtlich schockiert, daß sie erst jetzt von dieser Angelegenheit in Kenntnis gesetzt wurden. Oberstleutnant Schmidt rief: "Aus welchen Gründen erfahren wir erst jetzt, daß Captain Dicksen diese Aktion durchgeführt hat, die im übrigen den Rahmen seiner Kompetenz sprengte. Überlichtschnelle Flüge..." Jochen Flanders winkte ab. Er wirkte plötzlich müde. "Captain Dicksen hatte nicht mehr die Zeit, meine Erlaubnis abzuwarten. Er mußte also, wollte er die ELGHOR noch erreichen, eigenmächtig han deln. Ich schätze Offiziere, die im entscheidenden Augenblick die mensch liche Pflicht über die le gale stellen! - Captain Dicksens Aktion war außer mir noch Oberst Toulandi und Oberst Melnikow bekannt. Ich hielt es für erforderlich, sie solange geheimzuhalten, bis Klarheit über das Ergebnis herrschen würde. Captain, fangen Sie an!" Markus setzte sich in einen Sessel. Er öffnete seine Mappe und entnahm ihr einige Unterlagen und Kassetten. Letztere übergab er einer Ordonnanz. Dann begann er seinen Bericht. Als er zunächst mit ein paar einleitenden Sätzen das ÜL-Manöver der GEORG HOFMEISTER innerhalb des Masseü-Systems schilderte und dies durch einige Daten belegte, bemerkte er, wie einige der Offiziere, die selbst astronavigatorische Erfahrungen besaßen, sich bedeutsame Blicke zuwarfen und anerkennend mit dem Kopf nickten. Markus berichtete dann, wie die GEORG HOFMEISTER der ELGHOR entgegengeflogen war und sie mit dem Traktorfeld eingefangen hatte. Dies war, nachdem das eigene Schiff die Anziehungskraft von Arcturus über wunden hatte, nur noch Routineangelegenheit gewesen. Nachdem die ELGHOR im Sog der GEORG HOFMEISTER auf einen Kurs in Richtung der terranischen Verbände gebracht worden war, war der Captain mit sechs seiner Leute im Beiboot hinübergeflogen in der Hoff nung, einen Teil der Besatzung noch lebend anzutreffen und ihnen eventu ell Hilfe angedeihen zu lassen. "Diese Hoffnung", sagte Markus leise, "hat sich jedoch nicht erfüllt. Was wir in der ELGHOR wirklich vorgefunden haben, wird Ihnen jetzt ein Film zeigen, den wir an Ort und Stelle aufgenommen haben." Er hob die Hand. "Bitte!" Die Ordonnanz drückte ein paar Tasten. Der Raum wurde dunkel, und der Film lief ab.
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Schon als die ersten Bilder gezeigt wurden, riß es die Betrachter aus den Sesseln. Die holographische Aufnahmetechnik verlieh den Szenen eine erschreckende Realität. Die Toten der ELGHOR lagen mit aufgerissenen Augen, in denen das Grauen vor etwas Unaussprechlichem stand, mit gri massenhaft verzerrten Mündern, aus denen lautlose Schreie zu kommen schienen, mit clownhaft erstarrten Gliedern auf dem Boden der Zentrale, auf den Gängen, in den Kabinen oder wo immer sie sich gerade aufgehalten hatten, als sie von der furchtbaren Strahlung überrascht worden waren. "Eine teuflische Waffe!" sagte jemand. "Gibt es schon irgendwelche Anhaltspunkte, welcher Art die Strahlung ist, die hier verwendet wurde?" fragte Stabsarzt Professor Inge Schwitters. "Wir haben", antwortete Markus, "einen Toten sofort an Bord der HOF MEISTER gebracht, wo er von den Bordärzten und der Biologin Dr. von Aspern untersucht wurde. Der gemeinschaftlich verfaßte Bericht spricht von..." Er blickte auf seine Unterlagen, "... Tod durch Kristallisation der Zellflüssigkeit. Die Natur der verwendeten Strahlung konnte nicht festge stellt werden. Sie wurde mit Paralysestrahlung bezeichnet." "Und das Schiff?" erkundigte sich Oberst Melnikow. "Irgendwelche Zer störungen?" Markus schüttelte den Kopf. "Nichts! Keine Veränderung festzustellen! Das Schiff flog weiter auf dem programmierten Kurs..." "Der es in die Sonne hätte stürzen lassen", warf Major Nishiyoto ein. Markus zuckte die Achseln. "Wahrscheinlich reiner Zufall." "Nun, darüber werden die weiteren Untersuchungen sicherlich Aufklä rung geben", nahm Admiral Flanders das Wort. "Die ELGHOR wird be reits von unseren Experten unter die Lupe genommen. Ein Beiboot hat die tote Besatzung übernommen und ist auf dem Wege hierher. - Professor Schwitters, Sie und Ihre Leute bekommen Arbeit. Natürlich werden Chef biochemiker Shannon und die Strahlenfachleute mit Ihnen zusammenarbei ten." "Natürlich, Sir." Die kleine, blonde Stabsärztin blickte gedankenvoll auf die Hologramme. "Diese grünliche Verfärbung der Extremitäten...", mur melte sie vor sich hin, "... Wenn ich nur wüßte..." "Admiral Flanders!" "Was gibt es, Captain?" Fragend blickte der Oberkommandierende Mar kus an. "Dr. von Aspern äußerte den Wunsch, bei der weiteren Untersuchung dabei sein zu können, Sie verstehen..." - 62
Jochen Flanders lächelte flüchtig. "Ich habe mit Ihnen etwas ganz Besonderes vor, lieber Captain", sagte er und nahm Markus beim Arm. "Und für diese Aufgabe brauche ich eine eingespielte Crew. Und die scheinen Sie ja zu sein..." Er lächelte wiederum. "Wie die Sache mit der ELGHOR beweist. - Kommen Sie mit in meine Kabine, da werden wir die Angelegenheit besprechen. Oberst Melnikow, Oberst Toulandi, Sie begleiten uns! Und -", sein Blick flog über die Anwe senden und blieb an dem Gesicht des technischen Koordinators hängen, "Captain Lapin, Sie ebenfalls!" 8. Der See war etwa zweieinhalb Kilometer lang und an der weitesten Stelle einige hundert Meter breit. Seine Farbe war gelbbraun. Über seine Ufer wallten dichte, weiße Nebel. Markus stand vor der Panzerglasscheibe der Zentrale und starrte hinaus. Eine trostlose, lebensfeindliche Welt, dachte er. Der Nebel war so dicht, daß er das gegenüberliegende Ufer nicht sehen konnte. Das Ufer, das hatten Messungen ergeben, enthielt reiche Platinvorkommen. Dieser Umstand hatte wohl auch bewirkt, daß hier ein Schwefelsäuresee entstanden war. Das Schwefeldioxyd der Atmosphäre hatte sich mit Sauerstoff verbunden und Schwefeltrioxyd ergeben, wobei das Platin als Katalysator gewirkt hatte. Das SO3 wiederum hatte sich mit Wasser zu Schwefelsäure verbun den. Ein Teil davon bildete den weißen Nebel, der der ganzen Landschaft eine Konturlosigkeit verlieh, die eine unheimliche, ja bedrohliche Wirkung auf den Betrachter ausübte. Sofern dieser ein Mensch war, korrigierte Markus seine Gedankengänge. Diese Siliciumwesen mochten da ganz anders empfinden - wenn sie über haupt empfanden! "Warum mußten wir auf diesem trostlosen Planeten überhaupt landen?" wollte Fia Albrecht wissen. "Die Neutrino-Sonde kann doch bereits ab 2,5 Millionen Kilometer eingesetzt werden. Warum führen wir die Messungen nicht vom Raum aus durch?" "Eine gute Frage, Fia." Mancinelli nickte gönnerhaft. "Ich war auch da für. Aber unser Chef wollte sich unbedingt diese reizvolle Welt aus der Nähe betrachten, nicht wahr, Moby?"
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"Ja." Markus nickte gelassen. Aber dann bequemte er sich Fia gegenüber doch zu einer Erklärung. "Aus verschiedenen Gründen sind wir hier gela n det. Erstens hätten uns die Fremden im Raum ganz sicher geortet, vielleicht sogar optisch entdeckt. Hier, in dieser Senke zwischen den hohen Gebirgs wällen, ist das ziemlich unwahrscheinlich, zumal wir fast alle Energiequel len abschalten konnten. Außerdem möchte ich mit einem Gleiter möglichst nahe an die Fremden heran, um mir auch ein optisches Bild von dem zu machen, was dort vor sich geht." "Und warum schicken Sie keine Sonden aus?" "Ja, Moby", Mancinelli grinste, "warum schickst du keine Sonden ‚raus?" Als er jedoch den Blick auffing, mit dem Markus ihn ansah, wandte er sich mit einem hastig gemurmelten "man wird ja wohl noch einen Spaß machen dürfen" an die Linguistin: "Eine Sonde wird funktechnisch gesteuert. Und diese Funksignale wür den sofort geortet werden." "Oh", machte Fia Albrecht und schwieg. Ja, dachte Markus, warum hatte er eigentlich auf Manics Scherz so ab weisend reagiert? Er war gereizt. Doch er nicht allein. Kurz zuvor hatten sich Kramer und Kle gestritten wegen einer unbedeutenden Kleinigkeit. Die gereizte Atmo sphäre hing vermutlich damit zusammen, daß man im Augenblick hier fest saß. Bei der Landung hatte es einen kleinen Zwischenfall gegeben. Die Hy draulik des einen Landebeins hatte versagt. Das allein wäre nicht weiter schlimm gewesen; die GEORG HOFMEISTER besaß acht Landestützen. Unglücklicherweise war jedoch die Nebenstütze in eine enge, aber tiefe Spalte geraten, die vorher nicht gesehen worden war. Das Schiff war nach einer Seite hin abgekippt. Zwar hatte Kramer geistesgegenwärtig das Antigravtrie bwerk eingeschal tet und dadurch Schlimmeres verhütet. Daß sich jedoch die Landestütze in der Felsspalte total verklemmte, konnte dadurch auch nicht verhindert wer den. Seit Stunden waren die Techniker nun dabei, das Landebein freizube kommen, um es anschlie ßend zu reparieren. Die Tür zur Zentrale öffnete sich. Edwin Kramer, der die Außenarbeiten kontrolliert hatte, trat ein. Er nahm den Raumhelm ab und setzte sich in den Pilotensessel.
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"Und?" Markus, der noch immer am Fenster stand und hinausgeblickt hatte, wandte sich um. "Sie haben es gleich freibekommen. Es war nicht so einfach. Die Fels spalte hat Hohlräume. Deshalb mußten sie beim Zerstrahlen des Gesteins äußerst vorsichtig sein, damit nicht die ganze Platte einbricht." Markus nickte. "Und wann werden Sie deiner Meinung nach mit der Re paratur fertig sein?" Ed wiegte den Kopf. "Der Schaden ist noch nicht richtig zu übersehen. Mit ein bis zwei Stunden mußt du rechnen. Wollen wir nicht doch schon anfangen?" Markus überlegte. Mit Gewalt bezwang er seine Unruhe. Er schüttelte den Kopf. "Wenn wir mit dem Gleiter losfahren, muß die HOFMEISTER startklar sein. Werden wir entdeckt, so mußt du uns mit dem Schiff holen, Ed!" "Wenn es sein muß, kann Ed jederzeit starten", mischte sich David Kle ein. "Dann bleibt das Bein eben hier..." "Das weiß ich selbst!" grollte der Kommandant. "Nein! Ich will unter allen Umständen ein intaktes Schiff haben. Wir warten! Nach einer Weile fügte er, ruhiger geworden, hinzu: "Ettore, prüfe die N-Sonde durch!" Mancinelli erhob sich wortlos und ging zu dem seltsam geformten Gerät hinüber das neben der Schiffselektronik stand, Er fing an zu tasten und beobachtete dabei die verschiedenen Kontrolleuchten. "Sie haben sicher einen triftigen Grund, warum Sie in der Zeit, in der wir zum Warten verdammt sind, nicht die N-Sonde einsetzten, nicht wahr, Markus?" Markus mußte lächeln. Daß Grit eine so vorsichtige Formulierung ge brauchte, zeigte, daß seine Gereiztheit auch anderen aufgefallen war. "Erinnern Sie sich an das erste Mal, Grit, als wir die Sonde einsetzten? Damals schalteten die Fremden kurz darauf ihren Schirm ein." "Das geschah erst, als wir das TEST einsetzten", widersprach die Biolo gin. "Gewiß", gab der Kommandant zu. "Aber damals befand sich das fremde Leben im Zustand der Erstarrung, und außer dem hatte auch ein Teil der automatischen Warnsysteme versagt. Wer will wissen, ob die Fremden nicht über Anlagen verfügen, die Neutrinostrahlung orten. Was für die Gleiterexpedition gilt, gilt auch für den Einsatz der Sonde: Wird sie ent deckt, müssen wir startklar sein!"
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Ein paar Stunden später schwebte der Gleiter auf seinen Antigravkissen über die öden Steinwüsten des Planeten. Die Fremden - so hatte man bei der vorsichtigen Annäherung vom Raum aus festgestellt - waren mit ihren Schiffen, etwa vierhundert Kilometer von der GEORG HOFMEISTER entfernt, in einem Hochtal gelandet. Markus hatte den eigenen Landeplatz so ausgewählt, daß sie auf der Fahrt zu den anderen keine Gebirge zu überqueren brauchten. Dennoch würde es drei bis vier Stunden dauern, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. "Was ist das da?" fragte Kle, der vorn neben Markus saß. Er wies mit dem Arm nach vorn, wo es in einiger Entfernung blau schimmerte. "Ein See", erklärte Mancinelli, als sie näher herangekommen waren. "Sieht einladend aus", meinte der Feuerleitoffizier. "Ein Bad würde mir gut tun." "So eins bestimmt", platzte der Ingenieur heraus. "Das würde dich mal richtig entschlacken, so von innen heraus!" Er lachte glucksend. Auch Markus grinste. Unsicher sah Kle von einem zum anderen. "Was - ist mit dem See?" fragte er zögernd. Markus wendete den Blick für einen Augenblick von der Geröllebene, über die sie gerade schwebten, und blickte David an. "Kupfervitriol - reines Kupfervitriol!" "Hm", machte Kle etwas kleinlaut, "wirklich eine unfreundliche Welt!" Sie gelangten an das Ufer des Sees und schwebten an ihm entlang. Die Flüssigkeit schimmerte in einem unwirklichen, intensiven Blau. Keine Be wegung teilte die Flüssigkeit. Von Westen her. näherten sich langsam wei ße Nebelschwaden. Sie glitten weiter. Nach einer Weile schob sich aus dem grauweißen Nebel eine schwarze Felswand. "Wir sind bald am Ziel", sagte Markus. Er blickte auf die Karte, die der Computer nach den Fernaufnahmen der terranischen Aufklärer angefertigt hatte. "Hinter dieser Felswand befindet sich das Hochtal, in dem die Frem den gelandet sind. Im Westen gibt es eine Schlucht, durch die man in das Tal gelangt, im Osten einen Paß. Er ist breit genug, den Gleiter aufzuneh men." Markus steuerte den Gleiter an der Gebirgswand entlang über die unebe ne, mal ansteigende, dann wieder sich senkende Geröllhalde. Nach etwa zwanzig Minuten hatte er den Eingang zum Paß gefunden. Er schaltete den - 66
Antigravantrieb ab, fuhr die Gleisketten aus und schaltete den Elektromotor ein. Vorsichtig drangen sie in den Paß ein. Die Felswände an beiden Seiten waren zerklüftet. Der Boden dafür er staunlich glatt. Sie kamen gut voran. "Sieht aus, als ob das mal ein Flußbett war", meinte Markus: "Ein Fluß - aber nicht aus Wasser?" erkundigte sich Kle vorsichtig. Mancinelli schüttelte den Kopf. "Schweflige oder Schwefelsäure", erklä r te er kurz. "Wie hoch ist die Außentemperatur?" fragte der Kommandant. "Konstant 121 Grad Celsius", las Mancinelli ab. "Ob es auf dieser Welt jemals Lebewesen geben wird?" fragte Kle. "Ich meine außer diesem Siliciumleben." "Leben gibt es immer nur in einer Form auf einem Planeten", entgegnete Markus. "Diese Welt ist eben geeignet für ein Leben auf Siliciumbasis. Leben, wie wir es kennen, also auf Kohlenstoffbasis, ist hier nicht existenz fähig. Die Atmosphäre würde es nicht dulden. Aus diesem Grunde ver kümmerten früher die Pflanzen in der Nähe der altterranischen Hüttenbe triebe und Fabrikstädte, die große Mengen Schwefeldioxyd verwendeten." Eine Weile später hielt er den Gleiter an. "Wir müssen zu Fuß weiter", sagte er nach einem Blick auf die Karte. "Näher heran können wir nicht mit dem Gleiter. Sonst orten sie uns. "Du hast doch den Antigrav ausgeschaltet", wandte Mancinelli ein. "Der Elektromotor wird ja von einer Batterie gespeist, und deren Strahlung kön nen sie bestimmt nicht anmessen!" "Bestimmt nicht", bestätigte der Kommandant. "Aber vielleicht besitzen sie Vibrationsorter. Der Gleiter erschüttert den Boden ziemlich stark." "Du denkst aber auch an alles!" sagte der LI mit widerwilliger Bewunde rung. "Er muß ja auch für zwei denken", bemerkte Kle und blickte Mancinelli anzüglich an. Der Ingenieur drohte mit der Faust. Aber David sagte: "Das war die Re vanche für das Kupfervitriolbad, das du mir zugedacht hattest!" "Überprüft die Anzüge, nehmt die Geräte und kommt ‚raus!" sagte Mar kus. Der Gleiter hatte eine hermetisch abgeschlossene Kabine. Aus diesem Grund besaß er eine kleine Einmannschleuse. Die drei Männer begaben sich der Reihe nach hinein und dann nach draußen.
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Da die Schwerkraft des Planeten 1,1 Gravos betrug, brauchten sie die Schwerkraftneutralisatoren nicht einzuschalten. Sie machten sich auf den Weg. Arcturus stand als riesige violette Scheibe im Nordwesten direkt über einem nadelscharfen Berggipfel. Der Paß, der inzwischen eine Höhe von zwölfhundertachtzig Meter er reicht hatte, hatte zuletzt mehrere scharfe Biegungen gemacht, um die die Männer jedesmal vorsichtig herumgegangen waren. Und dann waren sie urplötzlich am Ziel. Hinter dem letzten Knick verlief der Paß wieder ab wärts und ging weiter unten in eine von hohen Gebirgskämmen einge schlossene Hochfläche über. "Verdammt!" rief Markus, der vorneweg gegangen war, aus. Blitzschnell duckte er sich hinter einen Felsblock und winkte dann den anderen beiden, vorsichtig heranzukommen. Sie stellten die Geräte ab und nahmen das Bild auf, das sich in der begin nenden Dämmerung ihren Augen bot. In der Mitte der Hochfläche, deren Ausdehnung wegen der wallenden Nebelschwaden nicht abzuschätzen war, ragten aus den weißen Schleiern die horizontalen Rümpfe einer Anzahl von Raumschiffen. Sie besaßen ver schiedene Größen und Formen. Und vor einigen von ihnen glaubten die Männer Bewegungen erkennen zu können. Markus öffnete einen Behälter, entnahm ihm das Spezialteleskop und blickte durch das Okular. Er schaltete die Infraroteinrichtung ein und ver stellte die Brennweite. Dann war das Bild groß und gestochen scharf. Mar kus kommentierte, was er sah: "Vier, sechs, acht, zehn, elf Raumschiffe. Zehn davon Hantelschiffe. Das elfte ein Riesenungetüm. Mindestens zwei Kilometer lang und einige hun dert Meter hoch - wir hätten es längst gesehen, vom Paß aus schon. Aber die Nebel haben es verdeckt..." "Und? Was ist - keine Lebewesen?" Mancinelli hätte seinem Chef am liebsten das Teleskop aus den Händen gerissen. Der Captain sah angestrengt durch das Glas. "Nein...", sagte er dann langsam. "Eine Zeitlang glaubte ich, es seien welche. Aber es sind nur Ro boter. Humanoide..." "Was?" riefen Mancinelli und Kle wie aus einem Mund. "Ja, sie besitzen Kopf, Rumpf, Beine und Arme, wenigstens einige von ihnen. Andere wiederum haben reine Funktionsformen." "Was machen sie?" - 68
"Sie transportieren diverse Gebilde aus den Schiffen heraus und stellen oder legen sie an verschiedenen Stellen auf den Boden. - Hier!" Er reichte dem LI das Glas. Während die beiden anderen abwechselnd durch das Teleskop blickten, überlegte der Kommandant. Wie war eine Lebensform, die mit der terranischen nicht die geringste Ähnlichkeit aufwies, die sogar auf einer anderen Grundsubstanz aufbaute als das irdische Leben, an robotische Maschinen gelangt, die deutlich hu manoide Formen besaßen? Und noch eine Sache fiel ihm ein: Der Computer hatte aufgrund der Da ten der N-Sonde das Vorhandensein elektronischer Geräte geleugnet. Nun, es bestand natürlich die Möglichkeit, daß diese zum Zeitpunkt der Analyse abgeschaltet gewesen waren. Ein Ausruf Kles riß ihn aus seinen Gedanken. "Das Riesenschiff..." Markus blickte auf die Hochfläche hinunter, versuchte mit bloßem Auge zu erkennen, was David meinte. Es sah aus, als ob sich die gesamte Seitenwand des Ungetüms bewegte. "Die Wand öffnet sich", vermittelte Kle seine Beobachtungen. "Das heißt... Sie klappt einfach herunter. - Jetzt berührt sie den Boden - liegt auf. Eigentümlich - dieser helle Schimmer - er kommt von innen. Hier, Moby, sieh selbst!" Markus blickte wieder durch das Glas. Es war ein erstaunlicher Anblick. Das gigantische Schiff hatte tatsächlich einen etwa dreißig Meter hohen Rumpfteil in seiner gesamten Länge auf den Felsboden heruntergeklappt. Und die riesige Öffnung war von einem seltsamen, unwirklich scheinenden Licht erfüllt. Das Licht begann zu flimmern, wurde heller und heller, und dann er schien auch seine Quelle. Es waren langgestreckte halbtransparente Gebil de, die, von innen heraus leuchtend, langsam nach außen glitten. Kaum hatten sie den steinernen Boden berührt, wurden sie von kranarti gen Maschinen erfaßt und von dem Schiffsgiganten hinwegtransportiert. In der Öffnung erschienen immer neue Reihen der strahlenden Gebilde. Sie alle verließen das Schiff und wurden weggeschleppt. Das Leuchten nahm zu. Es breitete sich über den gesamten Schiffsrumpf aus. Einzelheiten wie Wülste, Nähte, Beschläge, Schottfugen traten hervor.
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Seltsam, dachte Markus, das Ding sieht aus, als stammte es aus einer terranischen Werft. Nie und nimmer hatten die Kristallwesen dieses Raum schiff gebaut! Wer dann? Die humanoiden Roboter? Seine Aufmerksamkeit wurde wieder zu den leuchtenden Schreinen ge lenkt. Inzwischen mußte die Zahl derer, die sich auf dem Felsboden ange sammelt hatten, bereits die Hundert überschritten haben. Plötzlich geschah etwas Seltsames. Die Schreine begannen sich zu ver formen. Es fing an den Rändern an. Das Material löste sich auf und rann über die Seitenflächen auf den Boden. Dann zerschmolzen auch die Seiten flächen und zerliefen auf dem Felsgestein. Gleichzeitig begann das Innere der sich langsam auflösenden Behälter in einem funkelnden, gleißenden Licht zu erstrahlen, das immer mehr an In tensität gewann, dabei Fontänen von violetter und blauer Farbe versprühte und die gesamte Umgebung fast taghell erleuchtete. "Was ist das...?" "O mein Gott!" Markus hörte die beiden Männer neben sich aufstöhnen. Er seihst starrte wie gebannt durch das Okular des Teleskops. Allmählich begann er zu ahnen, was sich dort unten vollzog. Er verstellte erneut die Brennweite - des Linsensystems - und dann sah er es: Die Behältnisse existierten nicht mehr. Sie hatten sich aufgelöst. Und das, was in ihnen gewesen war und von dem allein das ungeheure Leuchten ausging, lag deutlich und unverkennbar vor dem Teleobjektiv des Fern rohrs: Myriaden funkelnder, sprühender und blitzender, spiegelglatt geschliffe ner Kristalle... Das Siliciumleben! Es waren also Kristalle. Riesenkristalle. In der Form schienen sie alle gleich zu sein. Sechskantsäulen. In der Größe und in der Farbe variierten sie. Es gab große und kleine, längliche und dicke. Es gab solche, die wie lange biegsame Stangen wirkten, und dann wieder andere, deren Kantenli nien gleichlang erschienen, also Würfel. Und sie waren rot, blau oder vio lett. "Phantastisch!" sagte Kle, der neben Markus hinter dem Felsblock hock te. Markus reichte ihm schweigend das Glas.
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"Kristallwesen!" sagte David. Nach einer Weile reichte er das Teleskop an Mancinelli weiter. Während sich die beiden Männer über das, was sie sahen, unterhielten, schloß Markus die Augen und dachte darüber nach, ob die Idee, die ihm beim Anblick der Kristallwesen gekommen war, durchzu führen war. Die Idee nämlich, eins oder ein paar dieser Kristalle zu entfüh ren. Er blickte auf die Kontrollen seines Anzugs. Mit dem Luftvorrat reichten sie noch etliche Stunden. Außerdem konnten sie diesen jederzeit im Gleiter wieder ergänzen. Das Problem lag anderswo. Wie sollten sie unbemerkt an die Kristalle herankommen? Für Roboter gab es keine Schlafperioden. Sie würden, wenn es notwendig war, die ganze Nacht arbeiten. Allerdings war es nicht sicher, ob die Arbeitsroboter einen Menschen überhaupt bemerken, auf ihn reagieren würden. Aber irgendwelche Wacheinrichtungen würde es be stimmt geben. Wahrscheinlich befanden sie sich auf den Schiffen... Ein scharfer Ausruf ließ Markus die Augen wieder öffnen. Mancinelli hatte das Teleskop vor den Augen und blickte angestrengt auf einen Punkt, der sich im Norden, also rechts von ihnen, befand. "Das ist...", er setzte das Glas ab und deutete mit dem Zeigefinger auf eine Stelle zwi schen den Felsen. Markus und David blickten in die Richtung, in die der Ingenieur zeigte, und der Atem stockte ihnen. Dort, nicht mehr als achtzig Meter von innen entfernt, ragte zwischen zwei Felsbrocken etwas Spitzes, im Widerschein der weit entfernten Kri stallansammlung schwach metallisch Glänzendes hervor. Trotz der Dun kelheit hatte das Gebilde eine für die drei Männer unverwechselbare Kon tur: Es war der kegelförmige Bug eines Torpedoschiffes. Markus nahm das Teleskop und sah hindurch. Der Bug war das einzige, was von dem fremden Schiff zu sehen war. Er wies mit der Spitze schräg nach unten. Das war merkwürdig. Wenn man die Längsachse, die die Lage des Bugs markierte, verlängerte, hätte sich der Rumpf des Schiffes über die Felsspitzen erheben müssen. Dem war jedoch nicht so, und auch durch die tiefen Einschnitte der Felsen und durch die Lücken zwischen ihnen hindurch war von dem Schiffsleib nichts zu sehen. Das ließ eigentlich nur einen Schluß zu. "Wir gehen hin!" entschied der Kommandant. "Zu dem P-Strahler?" fragte Mancinelli erschrocken. "Der strahlt nicht mehr", behauptete Markus. Er reichte dem LI das Glas. - 71
"Das ist ein Wrack. Sieh dir die Lage der Bugspitze an! Wo ist der dazu gehörende Rumpf? Das Ding hat eine Bruchlandung gemacht. Der Rumpf liegt irgendwo tiefer zwischen den Felsen." Mancinelli starrte eine Weile durch das Glas. Dann sagte er: "Was du sagst, stimmt. Trotzdem, Moby, ich habe so ein komisches ‚Ge fühl'..." "Ich glaube, du wirst deinen Entschluß ändern müssen, Moby", sagte David Kle plötzlich. Er blickte nach Osten auf die Hochfläche hinunter. Markus wandte den Kopf. Die Kristallansammlungen waren inzwischen noch größer geworden, und ihre Leuchtkraft hatte Weiter zugenommen. Drüben bei den Raumschiffen war eine neue Bewegung entstanden. Es sah aus, als ob sich dort ein Zug formiert hatte, ein Zug von Maschinen, der sich von den Schiffen hinweg etwa in Richtung der Paßhöhe emporbeweg te, wo sich die drei Männer befanden. Markus blickte durch das Glas. Nun war es deutlich zu erkennen. Der Zug, der dort langsam über die Hochebene herankam, bestand in der Hauptsache aus Transportmaschinen, wie sie zum Transportieren der Kristallschreine verwendet wurden. Vorne weg liefen auf kleinen Raupenketten Gebilde, die eine fatale Ähnlichkeit mit terranischen Kampfrobotern zeigten. "Sie wollen wahrscheinlich das Torpedoschiff entladen", mutmaßte Kle. Markus nickte. Er blickte auf sein Chronometer. Die anderen in der GE ORG HOFMEISTER würden sowieso schon anfangen, sich Sorgen zu machen. "Also - gehen wir zurück!" Als sie wieder beim Raumschiff anlangten, wurden sie mit Erleichterung begrüßt. Aber auch die drei Zurückgekehrten waren froh, als sie die GE ORG HOFMEISTER unversehrt auf ihrem Landeplatz erblickten. Da Mar kus wegen der Ortungsgefahr absolute Funkstille angeordnet hatte, hatte keiner gewußt, ob bei den ändern nicht irgend etwas Unvorhergesehenes passiert war. Markus gab einen kurzen Bericht. Offiziere, Wissenschaftler, Techniker und Mannschaftsmitglieder folgten seinen Worten - teils direkt in der Zen trale, teils über den Bordkommunikator - mit großer Spannung. "Wir werden je tzt", sagte der Kommandant am Schluß seiner Schilde rung, "die N-Sonde losschicken. Sie ist mit einer neuartigen sogenannten semi-materiellen Optik verbunden, die es uns gestattet, Szenen und Vor gänge an Bord des fremden Schiffes sofort für uns sichtbar zu machen." Er - 72
schaltete ab. "Ed, mache die HOFMEISTER startklar! Sobald die Sonde anfängt zu arbeiten, werden sie uns orten. Dann muß alles schnell gehen!" Kramer bestätigte und machte sich an die Arbeit. "Markus!" Grit legte die Hand auf Markus Arm. Voll Sorge blickte sie in sein von den Anstrengungen des langen Tages gezeichnetes Gesicht; "War tet bis morgen! Schlaft euch erst mal richtig aus!" Der Kommandant sah ihr einen Augenblick in die Augen, las mehr darin als nur Sorge um sein leibliches Wohl. Doch dann schüttelte er den Kopf. "Morgen früh haben sie das Wrack ausgeräumt. Wir müssen wissen, was noch drin ist. Es ist Eile geboten..." Er unterbrach sich, als er sah, wie Mancinelli nervös an dem bizarren Gerät herumhantierte. Ein halbes Dutzend Lampen waren aufgeleuchtet. Alle rot. Die Anzeigen standen auf Null. "Manci?"
"Es geht nicht", sagte er tonlos.
Der Kommandant wölbte die Augenbrauen.
"Was soll das heißen?"
"Die Projektoren arbeiten nicht. Verstehst du? Es gibt keine Neutrinos.
Das ist alles!" "Und woran liegt das?" Der Leitende Ingenieur hatte sich wieder über seine Instrumente gebeugt. "Es hängt", sagte er nach einer Weile, "möglicherweise mit den großen Kristallkonzentrationen zusammen, die sich in der Nähe des Zielobjektes befinden." "Möglicherweise", wiederholte Dagmar Ullersen, die sich ebenfalls in der Zentrale aufhielt, "du weißt es aber nicht genau. Vielleicht liegt der Defekt woanders. Zum Beispiel in der Zielerfassung." "Ausgeschlossen!" widersprach der LI energisch. "Die Koordinaten sind vom Computer überprüft. Ihre Einstellung ist hier ablesbar!" Er deutete auf ein Sichtfenster. "Trotzdem ist mir unklar", sagte Ed Kramer voller Zweifel, wie Kristall ansammlungen die Bildung von Neutrinos verhindern sollen." "Dies sind keine gewöhnlichen Kristalle", betonte Ettore Mancinelli. "Es sind Lebewesen, und niemand weiß, über welche Fähigkeiten sie verfü gen." Diese Frage beschäftigte auch Markus. Während die anderen disputierten, war in ihm ein Plan gereift. Es war ein Plan, soviel gestand sich der Captain ein, der ein großes persönliches Risiko barg. Doch dies mußte in Kauf ge- 73
nommen werden, wollte man nicht unverrichteterdinge die Aktion abbre chen. Der Auftrag hatte gelautet: Material herbeizuschaffen, das den Wissen schaftlern die Möglichkeit geben würde, erstens ein Gegenmittel gegen die furchtbare P-Strahlung, zum ändern einen erfolgversprechenden Kommu nikationsweg zu finden. Diese Aufgabe sollte durch den Einsatz der N-Sonde gelöst werden. Die Sonde hatte versagt. Es blieb nur noch ein Weg: Sie mußten das Material selbst aus dem Schiff herausholen. Die Gelegenheit schien günstig. Die Maschinen waren vermutlich dabei, das Kristalleben aus dem Torpedoschiff zu schaffen und es zu den ändern Mineralmassen zu transportieren. Vielleicht hatten sie ihre Arbeit auch schon beendet. Die Torpedoschiffe hatten kein großes Volumen. Sie die n ten sehr wahrscheinlich als Wachschiffe, während die Riesenwalzen die eigentliche Transportflotte der Lebewesen bildeten. Wenn sie das Wrack erreichten, würde es gewiß kein Leben mehr beher bergen. Man konnte das Schiff inspizieren und würde sicher Anhaltspunkte oder Material finden, das den Experten auf Terra weiterhelfen würde. "Herrschaften", sagte Markus in den Disput der anderen hinein, "wir ma chen Schluß für heute. Haut euch aufs Ohr! Morgen früh 3:00 Uhr Bordzeit starten David und ich mit dem Gleiter. Wir werden uns das Torpedoschiff ein bißchen aus der Nähe ansehen. Gute Nacht!" Sie sahen den Kommandanten an. Ahnten sie, daß er etwas Besonderes vorhatte? Schweigend gingen sie zu ihren Schlafräumen. Grit lag auf ihrem Bett. Als der Gleiter lange bevor der Morgen dämmerte mit den beiden Män nern startete, hatte sie noch keine Sekunde geschlafen. Markus saß an den Kontrollen und steuerte das Fahrzeug über das Felsge stein, das zum größten Teil aus Lava bestand. Hin und wieder kamen sie über Erzlager, wo Metalle mit dem Schwefel Verbindungen eingegangen waren: Kupfer-, Eisen-, Zinksulfide. Dann kam der See aus reinem Kupfer vitriol. Das Gebirge. Der Paß. Sie stellten den Gleiter ab. Gingen zu Fuß weiter. Während sie den Paß emporstiegen und sich der Stelle näherten, wo das Raumschiffswrack lag, kamen Markus Bedenken. Es war nicht ausgeschlossen, daß selbst das Wrack noch Warneinrichtun gen besaß, die funktionierten. Wurden sie entdeckt, waren sie verloren. - 74
Zwar waren sie bewaffnet. Die Mikrobomben, die jeder in den Taschen seines Anzugs trug, besaßen eine verheerende Wirkung. Sie würden genü gen, die halbe Hochfläche mit allem, was sich darauf befand, umzupflügen. Nur, damit war niemandem gedient. Und außerdem war es eine Frage, ob sie bei einer Entdeckung noch dazu kamen, ihre Waffen einzusetzen." Wenn man sie ausschaltete, war niemand mehr da, der die Menschen in der HOFMEISTER warnte. Die Fremden würden den Planeten systema tisch absuchen. Vielleicht würden sie auch Verstärkung aus dem Raum holen. Dann war der Forschungskreuzer verloren - Grit...! Nein! - Als die beiden Männer nahe der Stelle waren, von wo aus sie die Fremden entdeckt hatten, hatte er seine Entscheidung getroffen. Er würde allein gehen. "David", sagte Markus und hielt an. "Du wartest hier! Nimm das Glas und beobachte die Umgebung! Sollte sich jemand oder etwas wider Erwar ten doch auf den Weg machen, um das Schiff zu besuchen, kommst du ‚rüber und warnst mich. Funkverkehr nur im äußersten Notfall!" "Warum gehen wir nicht zusammen?" fragte David. "Einer muß hierbleiben. Falls es zu einem Zwischenfall kommt - was ich nicht annehme -, muß jemand da sein, der die anderen warnt. In diesem Fall gibst du ihnen Nachricht. Aber erst, wenn du im Gleiter sitzt, hörst du! Gib ihnen deine Position an, damit sie dir entgegenkommen und dich aufneh men!" David zögerte. Er blickte geradeaus. Der Nebel hatte die gesamte Hoch fläche eingehüllt. Die Strahlen der Kristalle, deren Menge sich weiter ver größert hatte, bohrten sich in die milchig weiße Decke und ließ die walle n den Bewegungen der Schwaden erkennen. "Ich weiß nicht..." "David!" Markus sah den jungen Offizier an. "Es gibt keinen anderen Weg!" Dann beugte sich der Captain zu den Geräten nieder und kontrollierte sie durch. Alles war in Ordnung. Markus nahm seinen Strahler und prüfte den Zünder der Mikrobombe, die er in einer Tasche seines Anzugs trug. In den übrigen Taschen befanden sich Kameras, Obje ktive verschiedener Brenn weiten, Meßinstrumente sowie Analysatoren und ein Mikrocomputer. "Dort ist das Funkgerät", sagte er zu Kle. Dann machte er sich auf den Weg.
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Er kletterte über Steinbrocken hinweg, zwängte sich durch Spalten und Risse hindurch. Das Gelände wurde immer unwegsamer. Schließlich mußte er sich Meter um Meter an sein Ziel herankämpfen. Dann, als er sich mit einem mächtigen Klimmzug auf einen in der Schwe felatmosphäre stark verwitterten Lavafelsen hinaufschwang, lag das Wrack vor ihm. Es war unmittelbar hinter dem Bug mitten durchgebrochen. Während die Spitze eingeklemmt zwischen zwei Felsen stak, war der Rumpf auf ein gut fünfzig Meter tiefer liegendes Plateau gestürzt. Es sprach für die Güte des Materials, daß er dabei nicht völlig zerstört worden war. Außer einigen Löchern, aufgebrochenen Schotten und geborstenen Stabilisierungsflossen, die das Schiff beim Flug durch die Atmosphäre herausgefahren haben muß te, wies es kaum Beschädigungen auf. Um so seltsamer war es, dachte Markus, daß das Schiff überhaupt ausein andergebrochen war. Der Captain hockte auf dem Lavafelsen und blickte hinunter. Das Wrack sah total verlassen aus. Dieser Eindruck wurde dadurch ver stärkt, daß die Wandung bis zu einem Drittel der Höhe des Schiffes auf das Plateau heruntergeklappt war. Eine riesige Öffnung gähnte dem Komman danten entgegen. Markus begann den Abstieg. Plötzlich hielt er inne. Wie auf eine uner klärliche, rätselhafte Eingebung hin legte er die schwere Handwaffe auf den steinigen Boden, holte die Mikrobombe aus der Tasche und legte sie dazu. Dann ging er mit einem Scheinwerfer in der Hand, in den Taschen nur die Instrumente und Kameras, auf die schwarze Öffnung des fremden Raumschiffs zu. 9. Das EINE war zufrieden. (Sofern man bei einem so fremdartigen Wesen wie das Kristalleben solche menschlichen Begriffe anwenden dürfte.) Alles das, was sich im ersten Augenblick des Erwachens als lebensbedro hend und kaum überwindbar ausgenommen hatte, war verhältnismäßig leicht bewältigt oder gar in günstige Umstände umgewandelt worden. Die Angriffe der feindlichen Wesen waren abgeschlagen, ihre Träger schiffe vernichtet worden.
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Nun würde die Kampfflotte aktiviert werden. Das waren jene 8.240 Schiffe der Hauptflotte, die über einen überlichtschnellen Antrieb verfüg ten. Sie würden die Fremden verfolgen und sie vernichten. Das war not wendig, damit von dieser Seite dem Gemeinschaftsleben keine Gefahr mehr drohte. Kundschafter waren ausgesandt worden, um festzustellen, ob in der Nähe Planeten existierten, die eine Schwefeltrioxydatmosphäre besaßen. Einige von diesen Kundschafterschiffen hatten die Nachricht ausge strahlt, daß in einem der beiden Planetensysteme der Riesensonne, die bei nahe zum Untergang des EINEN geführt hätte, ein solcher Planet existierte. Diese Nachricht war von dem Gemeinschaftsleben mit großer Genugtuung aufgenommen worden. Und einer der großen Transporter sowie eine An zahl von Pionierschiffen waren zu jener Welt geflogen, um die ersten Tests durchzuführen und gegebenenfalls Vorbereitungen für die Landung der Rettungsflotte zu treffen. Die Tests verliefen zufriedenstellend. Die Maschinen stellten fest, daß die Gesteinsschichten der Welt, die zum neuem Domizil des EINEN werden sollte, im überwiegenden Maße bekömmlich für das Siliciumleben waren. Nahezu ein Drittel der planetaren Kruste bestand aus Silicium. Quarz, das Oxyd des Siliciums, hatte mit anderen Gemengeteilen hauptsächlich Granit und Prophyr gebildet, aus denen die Grundmassive der planetenbedecken den Gebirgslandschaften bestanden. Das EINE an Bord des großen Transporters wurde aus der Erstarrung erweckt, ausgeladen und auf den quarzhaltigen Granit- und Porphyrboden der neuen Heimat ausgebreitet. Eine Welle des Glücksempfindens durchrann die kristallenen Individuen und teilte sich der Gesamtheit des Wesens mit, soweit es bereits erweckt war. Dann holten die Maschinen aus dem abgestürzten Wachschiff das Kri stalleben heraus, das den Absturz überlebt hatte. Zwar war das Wesen in seiner kristallinen Form äußerst unempfindlich, und normale rweise hätte ihm ein Aufschlag bis zu einigen hundert Metern nichts ausgemacht. Doch bei der künstlichen Erstarrung gefror der als "Blut" in den Kristallwesen zirkulierende Schwefel, die Zellen verloren ihre Elastizität. Beim Absturz zerbrachen sie. So war der Großteil des Lebens an Bord des Wachschiffes zugrunde ge gangen. Der Teil, der davongekommen war, wurde auf die Hochebene ge schafft, bis auf einen kleinen Rest. - 77
Wachschiffe waren mit hochwertigen Angriffs- und Verteidigungswaffen ausgerüstet. Die Kristallwesen vermochten Kraftfelder aufzubauen, deren Struktur und Wirkungsweise von der Anzahl und der Gruppierung der be teiligten Individuen abhing. Ein auf diese Art erzeugtes Kraftfeld sandte zum Beispiel eine Strahlung aus, die bis zu einer gewissen Entfernung or ganische Moleküle zur Kristallisation anregte. Ein anderes Feld, durch eine andere Zahlen- und Ordnungskombination erzeugt, setzte wiederum die Feldschirme fremder Raumschiffe außer Kraft. Allerdings waren die Felder, die die Kristalle aufbauten, für sich allein zu schwach, um ihre Wirkung weiter als auf ein paar tausend Meter auszu üben. Um sie für kosmische Entfernungen nutzen zu können, wurden ato mare Katalysatoren verwendet, elektronische Einrichtungen, bei denen Elemente wie Platin und Vanadium eine Rolle spielten. Diese hochkomplizierten Einrichtungen hatten vorerst nur in geringer Anzahl hergestellt und nur vergleichsweise wenige Schiffe damit ausgerü stet werden können. Es war demnach nicht verwunderlich, daß die Katalyseeinrichtung in dem abgestürzten Schiff nicht aufgegeben werden durfte. Und um diese zu schützen, wurde eine Anzahl Kristalle - auch wiederum in einer bestimmten Anordnung zueinander - zurückgelassen. Das Feld, das sie aufgebaut hatten, war ein Ortungssystem. Es würde jeden Fremdkörper - ob organisch oder maschinell -, der sich dem Schiff näherte, sofort bemerken und der Hauptmasse der Gemeinschaftsintelligenz weitermelden. Eine viertel planetare Rotationsperiode nach der Räumung des Schiffes registrierten die Ortungskristalle das Eindringen eines Fremdwesens, das als ein Individuum jener Lebensform identifiziert wurde, die die Raum schiffe des EINEN angegriffen hatte. Fast im gleichen Augenblick wurde die Information von der Gesamtheit des EINEN empfangen, und die Ge meinschaftsintelligenz reagierte sofort. Sie entschied, das Bewußtsein des Individuums sollte abgetastet, das Wesen selbst vernichtet werden. Das Kristalleben griff nach dem Bewußtsein des Eindringlings. * Der Minister brachte seinen Gast zur Tür. "Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie persönlich gekommen sind, Jochen! Wis sen Sie, manchmal kommt mir schon der Gedanke, die totale Stereovisio- 78
nierung unseres gesamten geschäftlichen und auch schon unseres privaten Alltags entpersönlicht unser Leben in einem beängstigenden Maße. Das Gefühl der Einsamkeit - früher eigentlich etwas, das mehr oder weniger nur den alten Menschen betraf - beginnt heute auch schon im Leben des jünge ren Menschen zu einem Problem zu werden." Admiral Flanders nickte. "Dies war für mich ein Grund mehr, die Gele genheit zu nutzen, einen alten Freund wiederzusehen. Der Hauptgrund war allerdings der, daß ich die Angelegenheit für so wichtig halte, daß ich Sie auf jeden Fall persönlich aufsuchen wollte, ja, mußte, denn wir sind uns doch gewiß darin einig, daß die Notwendigkeit absoluter Geheimhaltung vorliegt." "Absolut, absolut!" versicherte der Minister. "Niemand von uns kann daran gelegen sein, daß unter der Bevölkerung der Erde eine Panik aus bricht. Es muß sich allerdings erst noch herausstellen, ob die Nachrichten sperre, die Sie verhängt haben, auch tatsächlich eingehalten wird." "Ich verbürge mich dafür!" sagte der Admiral ruhig. "Gewiß, gewiß", beschwichtigte der Minister. Er reichte seinem Besucher die Hand. "Im übrigen, Jochen, können Sie sich auf mich verlassen. Ihre Wünsche sowohl betreffs Ausbau und Modernisierung der Verteidigungs flotte als auch betreffs der Entwicklung und Erprobung stärkerer Schutz schirme werden von mir unterstützt. Ich werde dafür sorgen, daß diese Punkte vorrangig behandelt werden. Ansonsten, Jochen...", er lächelte flüchtig, "wir haben ja noch ein wenig Zeit. Zweiunddreißig Lichtjahre...!" Jochen Flanders starrte den Verteidigungsminister einen Augenblick an. "Ich würde mich darauf nicht so völlig verlassen! Auf Wiedersehen, Ho ward!" Er drückte die dargebotene Hand. Dann ging er auf den wartenden Gleiter zu. Der Minister sah ihm seltsam berührt nach. Als der Admiral sich auf dem Sitz des Fahrzeugs niederließ und der Offi zier an den Kontrollen den Antrieb einschaltete, summte das Funkgerät. Auf dem kleinen Bildschirm erschien das Gesicht Sola Toulandis. Sie sah erregt aus. "Admiral Flanders, bitte kommen Sie sofort! Es ist dringend!" Flanders musterte ihr Gesicht. Dann sagte er nur: "Bin unterwegs." Was war geschehen? Jedenfalls etwas, das unter den Geheimhaltungsbe fehl fiel. Hoffentlich war Captain Dicksen nichts zugestoßen! Am Raumhafen wurde er bereits von Sola erwartet.
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"Nun sprechen Sie schon, Sola!" mahnte Flanders, während sie die Sli deway zu der Privatjacht des Admirals hinauf glitten. "Eines unserer Beobachtungsschiffe im Arcturus-Sektor hat uns per ÜL Spruch gemeldet, daß ein Flottenverband der Fremden sich vom Hauptpulk gelöst und Kurs in Richtung Solsystem eingeschlagen hätte. Diese Schiffe verfügen über ÜL-Antriebe." Flanders wurde bleich. "Wieviele?" fragte er dann. "Achttausendzweihundertvierzig." Während die Jacht durch den Raum raste, der im Orbit um die Erde kreisenden KREUZ DES SÜDENS entgegen, überlegte der Flottenchef, welche Maßnahmen zu ergreifen wa ren. "Kamen schon Informationen über die Effektivität dieses ÜL-Antriebs herein?" "Nur so viel, daß das Schema des Phasenwechsels anscheinend ein ande res als das von uns verwendete ist. Die eingeschobenen Unterlicht-Phasen seien länger, wurde uns mitgeteilt." "Wenigstens etwas", seufzte der Admiral. "Dann bleibt uns noch die Zeit, unsere Verbände zu formieren und die Kommandeure zu instruieren..." Aber sei es, daß die Berechnungen der Beobachter falsch waren, sei es, daß die eingeschobenen Unterlic ht-Phasen der Fremden sich laufend ver kürzten, die Terraner hatten ihren taktischen Aufmarsch erst zur Hälfte beendet, da wurden bereits die ersten Verbände der Fremden geortet. Es waren Hantelschiffe. Sie griffen sofort an. Dieser Angriff sah - da er ohne eine bestimmte Formation geflogen wur de - im ersten Augenblick recht kopflos aus. Doch bald stellte es sich her aus, daß der Schein trog. Der Gegner hatte aus dem ersten Gefecht, das ja nur durch den Einsatz der Torpedoschiffe entschieden worden war, gelernt. Er versuchte, immer ein einzelnes terranisches Schiff in das konzentrische Wirkungsfeuer meh rerer eigener Schiffe zu bekommen, um den Schutzschirm des Terraners auszuschalten. Da auch die terranischen Kommandanten beim dreidimensionalen "Sand kastenspiel" gut aufgepaßt hatten, bestanden die ersten Kampfhandlungen aus taktischen Gefechten, die nur dazu dienten, eine bessere strategische Position zu gewinnen. Die Verluste waren anfänglich auf beiden Seiten gering. Sie entstanden zum überwiegenden Teil dann, wenn gegnerische Verbände ihre ÜL Phasen falsch berechnet hatten.
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Entweder gelangten sie in den Rücken der Terraner. Dann kam es zuwei len zu Zangenbewegungen der feindlichen Verbände, denen terranische Schiffe zum Opfer fielen. Oder aber die Fremden gerieten zwischen terrani sche Formationen und wurden dann selbst vernichtet. Mehr und mehr Hantelschiffe erschienen, und allmählich verschob sich das zahlenmäßige Verhältnis zugunsten der Fremden. Admiral Flanders, der die Raumschlacht auf den Spezialschirmen verfolgte, erkannte, daß die terranischen Schiffe ihren Gegnern eines voraushatten: Sie waren schneller, das heißt, ihr Beschleunigungsvermögen war größer. Und die Kommandan ten nutzten diese Überlegenheit, indem sie sich gefährlichen Situationen, zum Beispiel einer drohenden Einkreisung, entzogen oder aber, um ihr eigenes Schiff in eine günstige Position zu bringen. Die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Schiffsführern war hervor ragend. Das zeigte sich besonders dann, wenn es terranischen Einheiten gelang, gegnerische Schiffe unter gleichzeitigen Beschuß zu nehmen. Den Terranern gelang es in solchen Fällen fast immer, ihre Salven haargenau zu synchronisieren. Dazu gehörten Übersicht, die Fähigkeit, Situationen blitz schnell auszuwerten, und eine präzise Nachrichtenübermittlung. Und doch mußte Flanders feststellen, daß gerade in diesem Punkt die Fremden den Terranern nicht nur nicht nachstanden, sondern ihnen sogar noch überlegen waren. Und diese nahezu unglaubliche Tatsache ließ einen ganz bestimmten Schluß zu: Die Fremden mußten über ein sogenanntes synchrones Nachrichtensystem verfügen, das hieß, jede Information, die ein Einzelwesen erhielt, wurde im gleichen Augenblick zum allgemeinen Wis sensgut der gesamten Art. Dies wiederum rückte eine zweite Möglichkeit in den Bereich der Wahr scheinlichkeit: Das fremde Leben schien eine Gemeinschaftsintelligenz zu bilden, die sich nur in der Form zu Individuen aufgespaltet hatte. Das jedenfalls war die Meinung der Wissenschaftler an Bord des Flagg schiffs. So waren die Stärken und Schwächen auf beiden Seiten der kämpfenden Parteien etwa gleichmäßig verteilt. Die Schlacht wogte hin und her, und es sah nicht so aus, als ob einer der Kontrahenten einen entscheidenden Erfolg zu verbuchen vermochte. Aber dieses kosmische Patt, was sich da anbahnte, befriedigte Jochen Flanders in keiner Weise. Einmal bedeutete jeder Verlust eines einzelnen Raumschiffs einen Verlust auch an Menschenleben. Zum anderen würde
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sich die Situation im selben Augenblick grundlegend zum Nachteil der Terraner ändern, in dem die Fremden Torpedoschiffe einsetzen würden. Der Admiral und mit ihm viele andere Männer und Frauen an Bord der terranischen Raumschiffe fragten sich, warum das nicht schon längst ge schehen war. Waren nur Hantelschiffe mit dem ÜL-Triebwerk ausgestattet? Das war kaum anzunehmen. Jede raumfahrende Intelligenz würde natürlich diejeni gen Schiffe mit einem Überlichtantrieb ausrüsten, die über die beste Be waffnung verfügten. Oder nicht? Über die Denkweise der Fremden gab es keine Informationen. Und es wäre falsch gewesen, sie mit terranischen Denkschemata zu identifizieren. Dennoch, die Frage blieb: Würden die Fremden ihre gefährliche Waffe noch einsetzen? Zwölf Stunden nach dem Beginn der Raumschlacht wurde sie beantwor tet. 1.980 Torpedoschiffe - so lautete die Meldung der Kundschafter aus dem Arcturussystem - waren auf Kurs Richtung Solsystem gegangen. Und sie verfügten ausnahmslos über ÜL-Antrieb. Als die Meldung entschlüsselt und vom Computer auf den Monitor proji ziert wurde, wurden die Menschen in der Zentrale des Flottenflaggschiffs bleich. Zweitausend Torpedoschiffe! Das Ende der terranischen Flotte schien besiegelt. Und mit Schaudern dachte jedermann daran, wie dieses Ende für jene aussah, die von der teuflischen Strahlung der unheimlichen Fremden getroffen werden würden. Admiral Flanders war sich darüber im klaren, daß er den terranischen Kommandeuren nicht einmal die Flucht zur Erde erlauben durfte, denn das würde das Leben von fünf Milliarden Terranern unmittelbar gefährden. Die Fremden schienen gewillt zu sein, die Menschen zu vernichten, wo immer sie sie antrafen. Der Raumsektor, in dem die erbitterte Schlacht tobte, war noch immer mehr als zwölf Lichtjahre vom Solsystem entfernt. Noch wußten die Frem den vermutlic h nicht, wo dieses sich befand. Es konnte unter diesen Umständen für die Flotte nur eines geben: Sie mußte sich opfern! Der Oberbefehlshaber der terranischen Raumstreitkräfte ging in seine Kabine, um einen letzten Tagesbefehl anzuarbeiten.
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10. Markus Dicksen stürzte in eine raumlose Tiefe. Sein Geist schien sich von seinem Körper zu lösen. Er fühlte ihn nicht mehr. Statt dessen hatte er die Empfindung, daß sein Bewußtsein sich mil lionenfach erweiterte. Es wuchs und wuchs und vereinte sich mit Myriaden anderer Bewußtseine, die wiederum nur die zahllosen Facetten eines alles umspannenden Überbewußtseins zu sein schienen. Dieses Überbewußtsein drang in ihn ein. Sogleich begannen sich seine Sinne in einer neuen, nie gekannten Art wiederzubeleben. Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen erfaßten die neue Umwelt, die in einer schmerzhaften und schweren Intensität her einstürzte. Da waren funkelnde Kristallplaneten, die sich im schwarzen Weltraum drehten; da war rot, violett und blauschimmernde Lava, die aus schwarzen Vulkanen quoll und in eine gelbe Schwefelatmosphäre empor stieg; dann wurde der Schwefel zu weißem, wallendem Nebel, aus dem ein glitzernder Regen schoß: Milliarden von silbernen Kristallen; sie fielen auf die Planetenkruste herab und bedeckten sie von Pol zu Pol. Dann wieder war Markus selbst ein Kristall. Er fühlte den flüssigen Schwefel in den Adern seines mineralenen Körpers, und er spürte die Schwingungen, die von den Nachbarkristallen ausgingen und in denen das unbegreifliche Sein des EINEN mitschwang. Die Schwingungen wurden zu neuen, unendlich vielfältigen Informatio nen, die in sein Ich einströmten, es hinwegzuschwemmen drohten durch ihre Fülle, es zu zerstören drohten durch ihre Unbegreiflichkeit. Unentwegt bemühte sich das eigene Gehirn, die fremde Welt in den vertrauten Kode zu übersetzen, es klammerte sich an das wenige Verstehbare, das wie Inseln aus dem ungeheuren Meer des fremden Bewußtseins herausragte. Und dann brach die Anschaulichkeit zusammen. Da sich im Bewußtsein des Menschen keine Symbole mehr fanden, mit denen sich das fremde Sein identifizieren ließ, flog jenes in die totale Abstraktion. Die Gegenwart wur de aufgelöst zur bloßen, empfundenen Existenz, in der die Signale auf das reduziert wurden, was sie im Grunde waren: zu Impulsen, Wellen, Quan ten... Der Wille des fremden Seins strömte in Markus' Ich, und in einem einzi gen unmeßbaren Augenblick leerte es sein gesamtes Gedächtnis und nahm seinen Inhalt in sich selbst auf... Es lernte Erstaunliches... - 83
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Durch die diffuse Atmosphäre des vierten Planeten flogen sechs seltsam geformte Flugkörper, Sie ähnelten in etwa den früh terranischen Interkonti nentalraketen, die zu Beginn des Raumfahrtzeitalters in der Erdstratosphäre verkehrten. Es waren Raumfähren der Aukassin, die einen Erkundungsflug auf dem Schwefeldioxydplaneten unternahmen, Das Mutterschiff stand hundertzwanzig Kilometer über dem planetaren Südpol. Der Kommandant hatte den Auftrag, festzustellen, was die auf dem Planeten gelandeten Fremden vorhatten. "Die Aukassin waren ein friedlie bendes Volk. Die Auseinandersetzung mit den gefährlichen Fremden über ließen sie nur zu gern dem großen terranischen Imperium; zumal ihre eige nen Raumfahrzeuge nur für den interplanetaren Verkehr brauchbar, für eine kriegerische Auseinandersetzung mit interstellaren Schiffen jedoch gänz lich ungeeignet waren. Es war dennoch nur allzu natürlich, daß sich die Führung der Aukassin für alles interessierte, was in ihrem Sonnensystem geschah. Als die Terra ner sie informiert hatten, daß die Fremden mit einigen Schiffen auf dem vierten Planeten gelandet waren, hatte man sich deshalb entschlossen, die Lage auf der Schwefeldioxydwelt zu erkunden. Es war reiner Zufall, daß eine der Raumfähren ausgerechnet die Schlucht überflog, in der sich die GEORG HOFMEISTER verborgen hielt. Als der Aukassin-Kommandant das terranische Schiff entdeckte, glaubte er zunächst, es sei ein Wrack, da die Terraner, die ihn längst auf ihrem Or terschirm haben mußten, nicht gefunkt hatten. Aber dann wurde ihm klar, daß das Raumschiff Funkstille bewahrte, genauso wie es den eigenen Fäh ren verboten war, mit dem Mutterschiff Informationen auszutauschen. Der Kommandant, der zugleich Einsatzleiter war, gab den anderen Fäh ren optische Signale und landete dann neben der GEORG HOFMEISTER. Chefpilot Edwin Kramer, der während Markus' Abwesenheit das Kom mando führte, öffnete eine Schleuse des Forschungskreuzers und gab eben falls Blinkzeichen, in der Hoffnung, der Aukassin würde darin eine Aufför derung erkennen, an Bord der HOFMEISTER zu kommen. Er täuschte sich nicht. Ein paar Minuten später öffnete sich drüben ein Schott, und die hohe, weitgehend humanoide Gestalt eines Aukassin betrat,
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durch einen unförmigen Raumanzug gegen die auch für seinen Metabolis mus giftige Atmosphäre geschützt, den felsigen Boden des Planeten. Er kam mit hüpfenden Bewegungen - die Schwerkraft auf seiner Hei matwelt lag mit 2,05 Gravos deutlich über den hiesigen Werten - herüber, wartete in der Schleusenkammer die Sauerstofflutung ab und betrat den Hauptkorridor. Dort wurde er von Ed Krämer bereits erwartet. Der Aukassin und der Terraner begrüßten sich durch Kopfnicken - eine Geste, die sich irgendwann zu Beginn dieser interstellaren Freundschaft einmal eingebürgert hatte. Dann begaben sie sich zur Zentrale. Nachdem die üblichen Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht worden waren, wurde über einen elektronischen Übersetzer ein für beide Seiten informati onsreiches Gespräch geführt. Durch dieses erfuhren die Aukassin, warum die Fremden sich auf diesem Planeten befanden und was sie voraussichtlich vorhatten, Die Terraner hingegen wurden durch eine Mitteilung des Aukassin ala r miert, die aukassinische Funkstationen auf der terranischen Flottenwelle abgehört und entschlüsselt hatten, die Nachricht nämlich, daß mehr als achttausend Raumschiffe der Fremden im Überlichtflug bis in die Nähe des Solsystems vorgedrungen seien und eine gigantische Raumschlacht zwi schen ihnen und der terranischen Flotte im Gang sei. Bestürzt blickten sich die Menschen in der Zentrale des Schiffes an. "Wir müssen Moby unbedingt diese Nachricht zukommen lassen", meinte Mancinelli. "Aber wie?" fragte Dagmar Ullersen. "Wir haben striktes Funkverbot, und wir dürfen uns über dieses nicht hinwegsetzen ohne Mobys und Davids Leben zu gefährden." Aber Edwin hatte schon eine Idee. "Wäre es möglich, daß Sie einen von uns mit Ihrem Raumfahrzeug in die Nähe der Hochebene brächten?" wandte er sich an den Aukassin. "Alle r dings wäre damit auch ein gewisses persönliches Risiko für Sie verbun den." "Es ist möglich", antwortete er dann. "Ich habe ohnehin vor, mich an Ort und Stelle über die Lage der Dinge zu informieren. Wer von Ihnen ist es?" Ed Kramer wäre allzugern selbst mitgekommen. Aber es ging nicht. Je mand mußte dableiben, der in der Lage war, die HOFMEISTER in einem Blitzstart hochzubringen. Und das konnte niemand, außer ihm und Markus. Der Chefpilot deutete deshalb auf Mancinelli. "Dieser Mann!" - 85
Der LI zückte zusammen. Die Angst stand ihm im Gesicht geschrieben. "Ich? Ich kann doch nicht..." "Lassen Sie mich gehen, Edwin", bat Grit. Aber Krämer schüttelte den Kopf. "Geht leider nicht", erklärte er, "für eine solche Sache kommt nur jemand in Frage, der Einsatzerfahrung hat, Manci, mach dich fertig!" Wenig später hob das aukassinische Kommandoschiff - nachdem die Kommandanten der anderen Raumfähren durch Blinkfunk verständigt wor den waren - ab und startete in Richtung Norden. Ettore Mancinelli war an Bord. Als das Kammgebirge, das die Hochebene, auf der die Fremden gelandet waren, auf der Südflanke abschloß, in Sicht kam, erklärte Mancinelli, der einen Mikrotranslator bei sich trug, dem Kommandanten die geographi schen Verhältnisse und bat ihn, nahe der Stelle zu landen, wo Markus und David den Gleiter zurückgelassen haben mußten. Der Aukassin stimmte zu und begann mit der Kurskorrektur. Doch als er zu schalten versuchte, bemerkte er, daß seine Glieder nicht mehr den Be fehlen, die das Gehirn ihnen sandte, gehorchten. Gleichzeitig spürten er, die übrigen Aukassin an Bord und auch der Terraner, wie ein übermächtiger fremder Wille von ihnen Besitz ergriff. Die Raumfähre überflog den Gebirgskamm und landete östlich von den leuchtenden Kristallansammlungen auf der Hochfläche, keine dreißig Me ter von dem Paß entfernt, von dem aus Mancinelli zusammen mit Markus und David das fremde Leben zum erstenmal gesehen hatte. Als die Fähre auf dem Felsgestein aufsetzte, fühlten die Insassen ihre Bewußtseine wieder frei. Mancinelli sprang auf und starrte durch das Kan zelglas des kleinen Raumfahrzeugs. Am Eingang zum Paß standen zwei wohlbekannte Gestalten. Sie setzten sich in Bewegung und kamen langsam auf die Raumfähre zu... * Zwölf Lichtjahre von der Erde entfernt tobte die erbittertste Raumschlacht, an der jemals Menschen beteiligt gewesen waren. Die Terraner kämpften verbissen und versuchten, den tödlichen Waffen der Torpedoschiffe durch schnelle Flugmanöver zu entgehen. Die terrani schen Kommandanten hatten festgestellt, daß die sogenannten UL-Waffen die Jod-Lasergeschütze - sogar den Torpedoschiffen gefährlic h wurden, - 86
wenn es gelang, die Strahlen in einem ganz bestimmten Winkel auf den Schutzschirm des Feindes aufprallen zu lassen. So wogte das Kampfgeschehen hin und her. Trotzdem verschob sich all mählich die Verlustquote mehr und mehr zu ungunsten der Terraner. Die Niederlage begann sich abzuzeichnen. Doch gerade in dem Moment, in dem Admiral Flanders erwog, durch Verlegung des Kampfschauplatzes in einen anderen Raumsektor Zeit zu gewinnen, geschah das Wunder: Von einer Sekunde zur anderen stellten die fremden Raumschiffe das Feuer ein. Sie schlugen urplötzlich einen Kurs ein, der sie von den Terra nern hinwegführte, beschleunigten und wechselten in die Überlicht-Phase. Hunderttausende von Menschen starrten ihnen fassungslos hinterher. In den Köpfen einiger weniger dämmerte der Gedanke herauf, womit der unerwartete, plötzliche Rückzug der Fremden zusammenhängen mochte... * Über den Kammgebirgen des vierten Planeten im Arcturussystem zog ein schlankes, silbergraues Raumschiff seine Bahn. Es hob langsam seinen Bug und stieg, schneller werdend, in die Stratosphäre empor. Unter ihm, auf der felsigen Hochebene, glitzerte und funkelte es rot, violett und blau. Das Kristalleben. Markus starrte durch die Kanzel nach unten. Niemand wagte ihn zu stö ren. Erst, als die GEORG HOFMEISTER das Schwerefeld des Planeten verließ und in den Raum vorstieß, fragte Ed Kramer: "Wie kannst du so sicher sein, daß man dir wirkliche Informationen ge geben hat und daß nicht alles nur auf Einbildung, auf Illusionen beruht?" Markus schüttelte den Kopf. "Es ist alles ganz einfach, Ed", sagte er ruhig. "Sie haben mein Gedächt nis abgetastet. Da fanden sie alles drin verzeichnet: unsere erste Begegnung mit ihnen, unsere vergeblichen Bemühungen, mit ihnen zu kommunizieren, schließlich unsere Versuche, durch gezieltes Feuer ihre Schiffe von dem verderblichen Kurs abzubringen und sie vor dem Sturz in die Riesensonne zu bewahren. So erfuhren sie auch, wie es zu jenem unglücklichen Vorfall kam, durch den eines ihrer Schiffe beschädigt wurde, und daß wir niemals einen Angriff auf sie geplant hatten." "Und dann haben sie dich sofort freigegeben?" fragte Mancinelli.
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"Ja - nun, ich selbst hatte kein Zeitempfinden. Aber David sagte mir, daß ich mich nur Minuten in dem Torpedoschiff auf gehalten habe. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich bereits auf dem Wege zum Paß, wo David auf mich wartete. Dabei war der klare und bestimmte Ge danke in mir: Auf der Hochebene wartet ein Schiff, um uns beide abzuho len." "Du hättest das Gesicht des Aukassin sehen sollen - es ist ja sowieso schon so komisch!" Mancinelli lachte glucksend. "Als er plötzlich merkte, daß er gegen seinen Willen auf der Hochebene neben den Kristallen gela n det war!" "Deines wirkte auch nicht viel klüger!" versetzte David Kle. "Jedenfalls fand ich das als einen großartigen Service!" "Wahrscheinlich", sagte Grit, "war es ein Glück, daß Sie noch im letzten Augenblick die Waffen abgelegt hatten, ehe Sie das fremde Schiff betraten, Markus. Wer weiß", fügte sie hinzu, "wie es sonst ausgegangen wäre!" Markus sah, wie sie schauderte. In einer plötzlichen Aufwallung legte er seinen Arm um sie. "Ich habe es rechtzeitig gefühlt, daß es so besser war", murmelte er. Als sie das Arcturussystem verließen, fingen sie eine Funknachricht auf zwischen der aukassinischen Regierung und dem terranischen Flottenflagg schiff, aus der hervorging, daß die Kampfflotte der Kristallwesen die Schlacht mit den Terranern abgebrochen hätten und wieder in Richtung Arcturus verschwunden wäre. Markus sandte einen kurzen ÜL-Funkbericht an Admiral Flanders. Eine Stunde später war bereits die Antwort da. Es war eine persönliche Bot schaft des Oberkommandierenden der terranischen Raumstreitkräfte an den Kommandanten des Forschungskreuzers GEORG HOFMEISTER Major Markus Dicksen, der durch seine Umsicht, seine Tatkraft und seinen Mut unter Einsatz seines Lebens die Menschheit vor einer entsetzlichen Kata strophe bewahrt hatte." "Na also", sagte Mancinelli und rieb sich die Hände, "den Sonderurlaub nach Terra haben wir uns verdie nt!" "Wir?" fragte Ed Kramer und schwenkte mit seinem Sessel herum. "Ich habe Moby immerhin mit der Aukassinfähre abgeholt!" sagte der LI und grinste. Alle lachten. Und Markus sagte: "Na klar. Sonst hätte ich ja auch zu Fuß bis zur HOFMEISTER laufen müssen.
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ENDE
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