Regula Venske Lale und der goldene Brief
Regula Venske
Lale
und der goldene Brief
Mit Bildern von Jens Rassmus
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Regula Venske Lale und der goldene Brief
Regula Venske
Lale
und der goldene Brief
Mit Bildern von Jens Rassmus
Gerstenberg Verlag
In Erinnerung an meine Mutter, Jutta Venske, geborene Schrödter, und meine Großmutter, Martha Schrödter Für Thorleif und Eyvind
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, D-30827 Garbsen Copyright © 2003 Gerstenberg Verlag, Hildesheim Alle Rechte vorbehalten Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany E-Book by Brrazo 07/2008 ISBN 3-8067-5015-7 03 04 05 06 07 5 4 3 2 1
Inhalt
I. Der Acker des Bleibens 1. Kapitel in dem Jula Lale von einer Tulpenzwiebel pflückt und Kalle sein Morgenlied singt 2. Kapitel in dem Lale wächst und Jula schrumpft und Lale ihrer Großmutter hinterherspioniert 3. Kapitel in dem der Tag anders als sonst beginnt, anders als sonst weitergeht und auch anders als sonst endet 4. Kapitel in dem Lale sich auf den Weg macht 5. Kapitel in dem Lale tüchtig radelt und mit Kalle ein Picknick macht 6. Kapitel in dem Lale zum Acker des Bleibens gelangt und Bekanntschaft mit den Erdmuffeln schließt 7. Kapitel in dem Lale und Kalle im Schloss der Erdmuffel übernachten 8. Kapitel in dem die Erdmuffel Lale nicht gehen lassen wollen 9. Kapitel in dem Lale Kartoffelgolf spielt und hinter das Geheimnis des Erdmuffelkönigs kommt 10. Kapitel in dem Lale und Kalle vom Acker des Bleibens flüchten
II. Das Feuer der Geschichten 1. Kapitel in dem Lale einen blinden Passagier in ihrer Reisetasche entdeckt 2. Kapitel in dem die drei Reisegefährten den Berg des Abschieds erklimmen 3. Kapitel in dem die drei Reisegefährten den Berg des Abschieds hinter sich lassen 4. Kapitel in dem Lale Peter aus dem Maibaum kennen lernt und zu Tulas Haus gelangt 5. Kapitel in dem Tula von Rumi Armut nichts wissen will . und Lale und Peter sich über Butterkuchen zanken 6. Kapitel in dem Peter vom Feuer der Geschichten schwärmt und Lale nicht hingehen darf 7. Kapitel in dem Lale sich aus Tulas Haus davonschleicht und Muffelchen aus Lales Tasche ausbüxt 8. Kapitel in dem die Freunde Muffelchen suchen und Muffelchens Hut verbrennt 9. Kapitel in dem Lale und Peter dem Feuer der Geschichten lauschen 10. Kapitel in dem. Lale nach Rauch stinkt und Tula sich dreht und windet
III. Das Meer der Stoßseufzer 1. Kapitel in dem Lale nach Irgendwo gelangt 2. Kapitel in dem Lale ein Gespenst sieht und schließlich zu Kula findet 3. Kapitel in dem Kula sich nicht erinnert und Lale einen Schlachtplan schmiedet 4. Kapitel in dem Kalle und Muffelchen Herrn Papale am Schnabel herumführen 5. Kapitel in dem Lale und Peter die Schatzkiste der Erinnerung suchen 6. Kapitel in dem Lale und Peter einen Schwung Liebesbriefe studieren und Kula ihnen die Haustür weist 7. Kapitel in dem Lale und ihre Reisegefährten das Meer der Stoßseufzer überqueren 8. Kapitel in dem die Sturmwind III Schiffbruch erleidet und Lale und Peter sich zanken 9. Kapitel in dem Herr Papale seinen Schnabel ins Trockene bringt und für Lale eine Kokosnuss knackt 10. Kapitel in dem die Schiffbrüchigen in der Höhle der Bilder übernachten 11. Kapitel in dem Lale und ihre Gefährten mit der Räuberkrabben-Kompanie kämpfen
12. Kapitel in dem Lale und Peter sich wiederfinden und die Schiffbrüchigen Lulas Schloss erreichen
IV. Im Fluge befreit 1. Kapitel in dem Lale und ihre Freunde sich in goldenen Netzen verstricken 2. Kapitel in dem die Reisegefährten Lula zum Weinen bringen 3. Kapitel in dem Muffelchen sich in einen kühnen Ritter verwandelt 4. Kapitel in dem Muffelchen alle überrascht und Lale und ihre Freunde ins Labyrinth der Missverständnisse gelangen 5. Kapitel in dem Lale ihrer Mutter begegnet 6. Kapitel in dem Lale Rumi Armut findet 7. Kapitel in dem die Reisegefährten Frau Maibohms Lachen zurückgewinnen 8. Kapitel in dem Lale und ihre Gefährten sich auf den Heimweg machen 9. Kapitel in dem die Reisegefährten den Berg des Abschieds überwinden 10. Kapitel in dem Lale einen ritterlichen Handkuss erhält und nach Hause kommt
I. Der Acker des Bleibens
1. Kapitel in dem Jula Lale von einer Tulpenzwiebel pflückt und Kalle sein Morgenlied singt Natürlich weiß man, wie die Mädchen und die Jungen auf diese Welt kommen. Viele Kinder, die meisten wahrscheinlich, wachsen gemütlich im Bauch ihrer Mama heran. Manche bringt angeblich der Klapperstorch, manche der Weihnachtsmann. Für einige Kinder müssen die Eltern noch eine Extraportion Salz auf die Fensterbank streuen. So lange lässt der Storch auf sich warten. Oder wer immer es ist, der das Baby ins Körbchen vorm Fenster bettet. Manche Kinder gedeihen in blitzblanken Marmeladengläsern, und manche werden von ihren Eltern in einem Kinderheim abgeholt. Und einige Mädchen oder Jungen, so wird erzählt, hat ein dicker, silberner Zeppelin eines Nachmittags über der Stadt abgeworfen. Oder der blauweiß gestreifte Heißluftballon, der eine Zeit lang Samstagnachmittags über den Dächern schwebte. Lale aber war in einer Tulpenzwiebel gewachsen. Daraus hatte Jula sie höchstpersönlich an einem schönen Tag im März abgepflückt. Jedenfalls erzählte Jula das so. Jula war Lales Großmutter. Eigentlich hieß sie Julia Schulze, aber Lale nannte sie Jula. Jula und Lale wohnten in einer recht hübschen Straße in einem recht hübschen Haus. Die Stadt drumherum war nicht überall so hübsch anzusehen, denn es standen in dieser Stadt eine Menge hoher, grauer Häuser herum, in denen eine Menge Menschen miteinander auskommen mussten. Da hatten Lale und Jula 11
es gut, dass sie ihr Häuschen ganz für sich alleine hatten. Und dass dahinter ein großer Garten lag. Mit den Kindern aus der Nachbarschaft spielte Lale nicht gerne. Es wohnten ein paar rotzfreche ältere Jungen in der Nähe. Um die machte sie, wenn möglich, einen großen Bogen. Im Frühjahr sahen Lale und Jula, wenn sie aus dem Küchenfenster guckten, auf ein Feld mit bunten Tulpen. Rote Tulpen, weiße und gelbe blühten da. Und im Sommer wuchsen dort Sonnenblumen. Manche von ihnen waren fast so hoch wie das Haus. Wie gut, dass es Lale nicht eingefallen war, auf einer von ihnen zu wachsen. Wie hätte Jula sie da abpflücken sollen? So groß wie die Sonnenblumen war sie ja nicht. Wer weiß, vielleicht hätte Jula in ihrer Not ein wenig am Stängel gerüttelt. Und dann wäre Lale von ihrer Sonnenblume heruntergekullert und mit blauen Flecken auf die Welt gekommen. Im Herbst blühten die dicken Dahlien. Die rochen so muffig und dumpf. In denen war sie zum Glück auch nicht gewachsen. Nicht auszudenken, sie selbst würde immer diesen modrigen Geruch um sich herum verbreiten. Nein, die Tulpenzwiebel war für Lale entschieden in Ordnung. Manchmal, wenn Jula abends auf Lales Bettkante saß und die beiden noch ein wenig miteinander plauderten, erinnerte sich Jula an den Tag, an dem sie Lale im Garten entdeckte. „War das eine Überraschung“, erzählte Jula. „Da gehe ich eines Morgens nichts ahnend in den Garten, um ein paar Tulpen zu schneiden. Damals hatte ich ja noch den 12
Blumenladen. Und Frau Pauli hatte einen Frühlingsstrauß für ihre Mutter bestellt. Die feierte am selben Tag ihren Geburtstag. Und da höre ich plötzlich zwischen all den Tulpen ein leises Rufen. Jula! Jula! Tja, und das warst du. Hast da quietschvergnügt auf deiner Tulpenzwiebel gesessen und mir die Ärmchen entgegengereckt.“ Bei diesen Worten streckte Lale ihrer Großmutter noch einmal die Arme entgegen und ließ sich zur Erinnerung fest von ihr an sich drücken. „Deine Haare waren schon damals so schwarzviolett wie das Innere einer Tulpenblüte. Noch nie zuvor habe ich eine solche Haarfarbe gesehen.“ Dabei strich Jula über Lales schwarzvioletten Schopf und zwickte sie in die rechte Wange. „Und schon als Baby hattest du die grünsten Augen, die man je gesehen hat. Ich sag ja immer, so grün wie ein Tulpenstängel.“ Da musste Lale lachen. Und kniff die Augen dabei so fest zu, dass sie ganz dunkel wurden und man das Grün fast gar nicht mehr sah. Lale wusste auch mit geschlossenen Augen, dass ihre Großmutter noch eine Weile an ihrem Bettrand saß und über ihr Einschlafen wachte. So sehr sie es sich auch vornahm, Jula einmal zu ertappen, wenn sie aufstand und sich zum Zimmer hinausschlich, sie schaffte es nie. Zu gerne hätte Lale gewusst, was Jula abends machte, wenn Lale schlief. Sie hatte ihre Großmutter schon ein paarmal danach gefragt. Aber die lächelte nur und tat sehr geheimnisvoll. „Das ist mein Geheimnis“, sagte sie. „Wenn du groß bist, zeige ich es dir.“ 13
Darüber hatte sich Lale ein wenig geärgert. Sie wollte es jetzt wissen und nicht warten, bis sie größer war. Wenn Lale aufwachte, werkelte Jula schon in der Küche herum und trank ihren Tee. Und Lales Anziehsachen lagen sauber und frisch auf der Küchenbank. Lale trug am liebsten einen leuchtendroten Pullover mit weiten Ärmeln und eine bequeme schwarze Pluderhose dazu. Beides hatte ihre Großmutter aus ganz weicher Wolle für sie gestrickt. „Wenn man einmal weiß, was man anzieht, spart man viel Zeit“, sagte Jula immer. Das fand Lale auch. Und die Zeit, die sie jeden Morgen sparte, nutzte sie, um einen zweiten Becher Hagebuttentee zu schlürfen und ein zweites Pflaumenmusbrötchen zu essen. Außerdem spielte sie vor der Schule gern mit Kalle, ihrem Wellensittich. Sein Gefieder leuchtete knatschgrün und quietschgelb, und er sang so laut und frech, dass die Leute auf der Straße oft stehen blieben, um ihm zuzuhören. „Ralle-ralle-ralle, ich bin Kanari-Kalle. Die Welt ist rund und kunterbunt, und ich bin kerngesund.“ War das die Möglichkeit? Ein Wellensittich, der sich für einen Kanarienvogel hielt? „Gib doch nicht so an“, sagte Lale mit gespielter Strenge. „Du bist kein Kanari-Kalle! Du bist ein Willi-WelliKalle.“ Doch davon ließ sich Kalle nicht beeindrucken. Munter zwitscherte er weiter. „Kralle-ralle-ralle, ich bin Kanari-Kalle. Ich schärfe meine Kralle, ihr habt sie wohl nicht alle.……“ 14
Manchmal erzählte Lale den Kindern aus ihrer Klasse, Jula hätte Kalle aus einer quietschgelben Tulpenblüte gepflückt. Aber das stimmte natürlich nicht. Sie selbst hatte den Vogel zusammen mit Jula in der Tierhandlung gekauft, nachdem Kalles Vorgänger Karlchen gestorben war. Lale hatte Karlchen in eine Pappschachtel gelegt und gemeinsam mit Jula im Garten begraben. Damals war sie sehr traurig gewesen. Und obwohl Kalle viel lustiger als Karlchen sang, hatte Lale ihr Karlchen noch nicht vergessen. „Einmal habe ich Karlchen mit in die Schule genommen“, gab sie vor Kalle mit Karlchen an. „Und stell dir vor, er ist der Lehrerin auf die Schulter geflogen und hat einen Klecks auf ihre blaue Seidenbluse gemacht. Und die Lehrerin hat entschieden so getan, als ob sie es nicht bemerkte.“ Dann zwitscherte Kalle vergnügt, als ob auch er die Geschichte sehr komisch fände. Wer weiß, vielleicht würden Lale und Kalle auch einmal gemeinsam etwas Lustiges erleben? Nur lärmte Kalle so laut. Man konnte ihn nicht so leicht wie Karlchen im Ärmel in die Schule schmuggeln. Oder vielleicht doch?
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2. Kapitel in dem Lale wächst und Jula schrumpft und Lale ihrer Großmutter hinterher spioniert Als unsere Geschichte begann, war Lale neun Jahre alt. Fast war sie schon zehn. Und wenn sie neben Jula vor dem Spiegel stand, konnte man sehen, dass sie beinahe genauso groß wie Jula war. Lale fand, dass sie in Wirklichkeit sogar eine Spur größer als Jula wäre. Aber davon wollte Jula nichts wissen. „Es liegt an deinen Stiefeln“, behauptete sie. „Deine Absätze sind höher als meine.“ Natürlich stand es von Anfang an fest, dass Lale im Laufe der Jahre immer größer und älter werden würde. Und natürlich freute Jula sich darüber. Alle Eltern und Großeltern freuen sich ja, wenn ihre Kinder wachsen. Und wenn sie es nicht tun, dann stimmt etwas nicht. Lale selbst war stolz darauf, wie groß sie schon war. Und das war in Ordnung so. Mit einem aber hatte Lale nicht gerechnet, und auch Jula hatte nicht daran gedacht: Auch Jula wurde immer noch älter. Dabei war sie doch schon so alt. Man hätte denken sollen, sie wäre nun alt genug. Achtundsechzig, das sollte wohl reichen. Größer wurde sie allerdings nicht mehr. Eher kleiner. Ja, Jula schrumpfte. Sie schrumpfte ganz kolossal. Und das fand Lale, als sie es eines Tages bemerkte, überhaupt nicht in Ordnung. Früher hatte Jula die Gärtnerei hinter ihrem Häuschen und einen Blumenladen gehabt. GÄRTNEREI JULIA SCHULZE, in großen Lettern stand es an der Ladentür. 16
Nachmittags hatte Lale ihrer Großmutter oft im Geschäft geholfen. Sie band Vergissmeinnicht-Sträußchen zusammen, goss Wasser in die Vasen und wickelte Blumen in gelbes Papier. Sie hatte auch gelernt, Geld von den Kunden zu kassieren, und gab das Wechselgeld richtig heraus. Aber trotz ihrer Hilfe wurde der Laden Jula eines Tages zu viel. Sie verpachtete ihn an Herrn Schlichting, der schon mehrmals deswegen nachgefragt hatte. Aber Herr Schlichting verkaufte darin keine Blumen mehr. Er hatte ein Geschäft für Käse, Olivenöl und Wein aufgemacht. Eine Weile hatte Jula die Gärtnerei hinter ihrem Haus noch weiterbetrieben. Die Blumen verkaufte sie an Leute, die sie von früher kannte. Aber auch das wurde ihr mit der Zeit zu viel. Erst merkte Lale es nicht. Doch eines Tages, als sie aus dem Küchenfenster schaute, stellte sie fest, dass die Beete hinter Julas Häuschen verwilderten. Hier und da hatten im Sommer zwar noch ein paar eigensinnige Margeriten und später ein paar Sonnenblumen geblüht. Aber wenn Lale ehrlich war, wirkte alles recht wüst. Eine Tulpenzwiebel, auf der ein Kind hätte wachsen können, war nicht mehr dabei. Und dann war der Winter gekommen. Wenn Jula jetzt abends auf der Bettkante saß, bekam Lale manchmal einen Schreck. Jula war ganz dünn geworden. Und vor allem sah sie so müde aus. Manchmal nickte sie im Sitzen ein, sodass Lale schon befürchtete, sie würde gleich vom Stuhl fallen. Was war denn nur los? Eines Tages hielt Lale es nicht mehr aus. Beim Mittagessen fragte sie Jula, warum sie immer so müde sei. Aber Jula wollte nicht antworten. 17
„Jula, du musst früher schlafen gehen!“, stellte Lale fest. „Du gähnst ja immerzu.“ „Ach, mein Kind“, seufzte Jula. „Du hast wohl recht. Aber zum Schlafen ist jetzt nicht die Zeit. Ich muss sehen, dass ich mit meiner Handarbeit fertig werde.“ „Aber Weihnachten ist doch seit über einem Monat vorbei“, sagte Lale. „Womit willst du denn fertig werden, Jula?“ Ihre Großmutter antwortete nicht. Sie war schon aufgestanden und hatte begonnen, den Tisch abzuräumen. An diesem Abend, als Jula wieder erschöpft und blass auf Lales Bettkante hockte und Lale sie anstupsen musste, damit Jula nicht vergaß, weiterzuerzählen, da wusste Lale: Jetzt war es so weit. Heute Nacht wollte sie ihrer Großmutter auf die Schliche kommen. Sie wollte endlich wissen, weshalb Jula immer so geheimnisvoll tat. Was trieb sie hinter Lales Rücken? Warum war sie immer so müde? Warum ging sie nicht einfach am Abend genauso wie Lale ins Bett? Als Jula mitten in ihrer Geschichte wieder einnickte, weckte Lale sie nicht. Sie tat so, als wäre sie selbst eingeschlafen. Aber in Gedanken hielt sie sich wach. Sie zählte einfach, so weit sie nur zählen konnte. Gerade war sie bei eintausendvierhundertundachtundsiebzig angelangt, da spürte sie neben sich einen Ruck. Jula war wieder aufgewacht. Aber ihr linkes Bein war anscheinend noch immer eingeschlafen. Leise stöhnte sie vor sich hin und rieb sich die Wade. Dann streckte sie das Bein mehrmals in die Luft. Fast musste Lale kichern, weil Julas Seufzer so lustig klangen. Aber sie schaffte es, sich zusammenzureißen, und blieb mucksmäuschenstill. 18
Als Jula hinaushumpelte, glitt Lale leise hinterdrein. Sie versteckte sich hinter dem Garderobenständer in der Diele und schmiegte sich in Julas flauschigen Wintermantel. Er roch so gemütlich, nach Jula und nach Zimtstangen und Rosinen und Äpfeln. Ein bisschen nach Weihnachten. Jula humpelte in die Küche und machte sich dort einen Imbiss zurecht. Mit einem Tablett in den Händen hinkte sie dann tapfer ins Wohnzimmer hinüber. Aber ihr Bein war noch immer nicht wieder in Ordnung. Die arme Jula! Der Tee schwappte über und die Kekse rutschten vom Teller. Lale hätte ihr gerne geholfen, aber sie durfte sich natürlich nicht verraten. Sonst hätte Jula sie bestimmt sofort ins Bett zurückgeschickt. Also wartete Lale in ihrem Versteck hinter Julas Wintermantel ruhig ab, was weiter passierte. Sie hörte, wie Jula sich seufzend im Wohnzimmer auf dem Sofa niederließ. „Ach, ach, ach“, ächzte sie. Und dann noch: „Ojemine, ojerum!“ Nachdem sie eine Weile gewartet hatte, lugte Lale hinter Julas Wintermantel hervor. Aus dem Wohnzimmer war inzwischen ein leises, regelmäßiges Geräusch zu hören, wie – ja – wie – Lale kam das Geräusch bekannt vor, aber es war so zart und fein, dass sie im Moment nicht sagen konnte, was es war. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Wohnzimmertür. Vorsichtig spähte Lale um die Ecke in den Raum. Dort saß Jula auf dem Sofa. In ihren Händen sah Lale etwas Goldenes blitzen. Lale riss die Augen ganz weit auf, um besser gucken zu können. Es waren fünf dünne, goldene Stricknadeln, die Jula in den Händen hielt und mit denen 19
sie geschickt vor sich hin klapperte. Jetzt wusste Lale, woher sie das Geräusch kannte. Es war Stricknadelgeklapper.
Aber heute Abend strickte Jula keine bunten Strümpfe und auch keine schwarze Pluderhose für Lale oder einen roten Pullover. Was da entstand, war nichts, was Lale je zuvor im Leben schon einmal gesehen hatte. Im Korb auf dem Tisch, in dem Jula ihr Wollknäuel aufbewahrte, lag etwas Zartes, Weiches, das mit goldenem Schimmer leuchtete. Kaum konnte man erkennen, dass dieses wolkige Etwas ein Wollknäuel war. Und in Julas Schoß kringelte sich ebenfalls ein zartes, fast durchsichtiges goldenes Gespinst. Was das wohl war? Für ein Kleidungsstück war es entschieden zu lang. Es ringelte sich von Julas 20
Schoß herab zu ihren Füßen und zerfloss von dort aus zart und golden glänzend um das Sofa herum. Wie ein ganz langer Schal, dachte Lale. Aber gleichzeitig wusste sie, dass es kein Schal war, was Jula da strickte. So einen langen Hals hatte ja nicht einmal eine Giraffe. Vorsichtig zog sich Lale von der Tür zurück in die Diele. Sie überlegte, ob sie wieder in ihr Bett schleichen sollte. Eigentlich hatte sie ja genug gesehen. Aber zu gern wollte sie auch noch wissen, wie lange Jula mit ihrem Strickzeug hier zubringen würde. Sie zog sich also wieder hinter den Garderobenständer zurück und blieb dort geduldig stehen. Aus dem Wohnzimmer hörte sie eintöniges Nadelgeklapper. Nach einer Weile merkte Lale, dass ihr die Augen zufielen. Sie war ziemlich müde. Kein Wunder, dass Jula morgens immer gähnen musste. Ob sie nicht doch in ihr Bett schleichen sollte? Ehe sie noch lange überlegen konnte, war Lale schon lautlos zu Boden geglitten. Dabei hatte sie Julas Mantel zu fassen bekommen. Mit dem Kopf lehnte sie sich gegen die Wand und deckte sich mit dem wärmenden Mantel zu. Sie zog den Mantel hoch bis über das Gesicht und kuschelte sich in den Weihnachtsduft hinein. War das gemütlich! Wäre Jula nicht so schwerhörig gewesen, hätte sie bestimmt das Rascheln gehört und das leise Schnarchen und Schnorcheln, das bald darauf aus der Diele herüberdrang. Aber Jula hörte nichts. Sie war ganz mit ihrem Strickzeug beschäftigt.
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3. Kapitel in dem der Tag anders als sonst beginnt, anders als sonst weitergeht und auch anders als sonst endet Als Lale am nächsten Morgen aufwachte, lag sie in ihrem eigenen Bett. Aber sie lag auf ihrer Bettdecke. Und immer noch war sie mit Julas Mantel zugedeckt. Sie konnte sich gar nicht erinnern, wie sie in ihr Bett zurückgelangt war. Hatte Jula sie etwa in der Diele gefunden und ins Schlafzimmer hinübergeschleppt? Nein, dafür war Jula gewiss nicht mehr stark genug. Wahrscheinlich war Lale von selbst mitten in der Nacht aufgewacht und ins Bett zurückgewankt. Aber sie konnte sich überhaupt nicht daran erinnern. Aus der Küche zog ein würziger Duft zu ihr herüber. Offenbar hatte Jula heute morgen Kaffee für sich gekocht. Meistens trank sie ja zusammen mit Lale Tee. Aber anscheinend war sie heute morgen besonders müde. Während Lale sich räkelte und noch überlegte, was gestern Nacht eigentlich genau geschehen war, drang lautes Gezwitscher an ihr Ohr. Kalle sang sein Morgenständchen. „Relle-relle-relle, ich bin Kanari-Kelle. Es wird allmählich helle, steh auf jetzt, steh doch auf. Willi-welle-welle, nun wirf dich in die Pelle, mach Tempo, mach Tacho, steh auf und leg ein’ drauf.“ Lale musste lachen. Aber trotzdem hatte sie ein merkwürdiges Gefühl im Bauch. Als würde an diesem Tag noch etwas Merkwürdiges passieren. Außerdem wusste sie nicht 22
genau, wie sie sich Jula gegenüber verhalten sollte. Sie war in einer echten Zwickmühle. Zwar hatte sie etwas über ihre Großmutter herausgefunden. Aber vielleicht war umgekehrt auch Jula ihr auf die Schliche gekommen? Hatte Lale es alleine ins Bett zurückgeschafft? In dem Fall wollte sie ihr Geheimnis natürlich nicht verraten. Oder hatte Jula sie irgendwann schlafend auf dem Fußboden gefunden? Dann wusste Jula Bescheid. Und es wäre vielleicht ein bisschen albern, jetzt so zu tun, als ob gar nichts sei. Dennoch, da Lale nichts anderes einfiel, tat sie genau dies. „Na, ausgeschlafen?“, fragte Jula, während sie sich vorsichtig eine Tasse Kaffee einschenkte. Lale nickte beklommen. Verlegen griff auch sie nach ihrer Tasse und nippte an ihrem Tee. „Ach-ach-ach“, stöhnte Jula. „Hoffentlich macht mich wenigstens der Kaffee wach. Der ist heute morgen meine Medizin. Und natürlich die Erinnerung an den Spaß, den wir gestern Abend hatten. Das war ja lustig mit dir.“ „Was denn für ein Spaß, Jula?“, fragte Lale. „Na, erinnerst du dich denn gar nicht mehr?“, sagte Jula. „Ich saß auf dem Sofa, an – einer Handarbeit, weißt du. Nur noch elf Monate, bis wieder Weihnachten ist. Und plötzlich kamst du hereinmarschiert. Du hattest meinen Wintermantel übers Nachthemd gezogen, und dann hast du laut vor dich hin gesungen. Ojemine, ojerum. Und damit bist du an mir vorbeimarschiert und danach schnurstracks zurück in dein Bett.“ Jula lachte Lale liebevoll an. Dann schlug sie mit der flachen Hand auf den Tisch. 23
„So, jetzt musst du aber machen, dass du ins Badezimmer kommst. Sonst kommst du noch zu spät in die Schule.“ Es stimmte, Lale war spät dran. Aber sie schaffte es gerade noch, kurz vor der Lehrerin ins Klassenzimmer zu witschen. Es fiel Lale heute schwer, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Die ganze Zeit über musste sie an die vergangene Nacht denken. An Julas müdes Gesicht. Und an den merkwürdigen goldenen Schal, oder was immer es war, was Jula nachts heimlich strickte. Noch elf Monate bis Weihnachten! Das war ja lächerlich! Wer begann denn schon Ende Januar mit Weihnachtsvorbereitungen? Ein paarmal, als die Lehrerin Lale an die Reihe nahm, hatte sie nicht die geringste Ahnung, wovon gerade die Rede war. Deshalb war Lale froh, als der Vormittag zu Ende ging und sich alle auf den Heimweg machten. Ein Stück konnte sie mit ihrer Schulfreundin Kati zusammen gehen. Nur die letzte Wegstrecke bis zu Julas Haus musste sie alleine zurücklegen. Lale schlenderte ganz vergnügt vor sich hin, als sie plötzlich etwas Ungewohntes sah. Sie blieb stehen. Da stand ja ein Krankenwagen in ihrer Straße! Direkt vor ihrer Tür! Die letzten Meter bis zu ihrem Haus rannte Lale. Gerade kamen zwei Männer aus ihrer Haustür. Zwischen sich trugen sie eine Trage, auf der man Kranke transportiert. Und darauf lag ihre Jula! Schnell war Lale zu ihrer Großmutter gelaufen. „Jula! Was ist denn?“ Jula versuchte, ihr beruhigend zuzulächeln. Aber ganz 24
gelang es ihr nicht. Das Lächeln fiel ein bisschen schief und müde aus. Und weil Jula ihre Brille nicht aufgesetzt hatte, sah sie ganz fremd aus. „Mach dir keine Sorgen, mein Kind“, sagte Jula. „Ich muss für ein paar Tage ins Krankenhaus. Mit meinem Herz stimmt irgendwas nicht. Aber bald bin ich wieder da. Frau Pauli kommt und kümmert sich um dich.“ Erschöpft sank Jula auf die Trage zurück. Sie war ganz außer Atem. Natürlich bekam Lale einen ordentlichen Schreck. Gern hätte sie Jula ins Krankenhaus begleitet, aber davon wollte diese nichts wissen. „Du musst hier warten, bis Frau Pauli kommt. Sie hat ja keinen Schlüssel. Und morgen besucht ihr mich. Bis dahin hab ich mich bestimmt schon ein bisschen erholt.“ Lale nickte beklommen. Insgeheim überlegte sie, dass sie sich abends heimlich zu Jula ins Krankenhaus schleichen wollte. Sie würde schon einen Weg finden. Erst einmal gab sie ihrer Großmutter einen Kuss auf die Backe. Dann ging sie ins Haus. An diesem Nachmittag wusste Lale gar nichts mit sich anzufangen. Sie mochte sich mit niemandem verabreden. Aber sie hatte auch sonst zu nichts Lust. Immerzu musste sie an Jula denken. Wie es ihr wohl ging? Als am späten Nachmittag Frau Pauli ihren Kopf in Lales Zimmer steckte und sie bat, Jula eine Tasche ins Krankenhaus zu bringen, sprang Lale erleichtert auf. Endlich würde sie Jula wiedersehen! Frau Pauli hatte die große Einkaufstasche für Jula gepackt. Zum Glück war sie nicht halb so schwer, wie sie 25
aussah. Was Frau Pauli wohl hineingelegt hatte? Lale guckte sich vorsichtshalber um, obwohl das natürlich überflüssig war. Niemand beobachtete sie. Sie setzte die Tasche kurz ab und zog den Reißverschluss zur Hälfte auf. Und dann spähte sie in die Tasche hinein. Aber das war eigentlich gar nicht nötig. Aus dem dunklen Inneren der Tasche leuchtete es ihr golden entgegen. In der Tasche lag Julas Strickzeug. Nichts anderes. Das goldene Gespinst füllte die Tasche ganz aus. Es war federleicht, wie Lale nun wusste. Was sie aber nicht wusste, war, was Jula damit im Krankenhaus anfangen würde. Sie wollte doch nicht im Krankenbett weiter stricken? Aber Jula war zu schwach, um irgendetwas anderes zu machen, als im Bett zu liegen und vor sich hin zu dösen. Das sah Lale, als sie zu Jula ins Zimmer trat. Die Großmutter hob nur leicht die Hand und winkte ihr zu. Dann sank ihr Arm müde auf die Bettdecke zurück. Lale stellte die Tasche ab und griff nach Julas Hand. „Gut, dass du da bist“, sagte Jula leise. „Ich muss dringend mit dir sprechen. Komm näher zu mir.“ Sie richtete sich ein wenig auf und zog Lales Kopf zu sich heran. Offenbar wollte sie nicht, dass ihre Zimmernachbarin sie hörte. Und dann flüsterte sie Lale etwas ins Ohr. Auch Lale hatte Mühe zu verstehen, was Jula sagte. Das konnte doch nicht wahr sein? Hörte sie recht? Wollte Jula wirklich, dass Lale hinter Frau Paulis Rücken Proviant aus der Speisekammer mopste? Wie bitte? Was? Sogar die getrockneten Apfelringe und Julas Lieblingsdauerwurst? Und die Kekse aus der Dose und alles, was Lale nur tragen konnte? Und sie wollte wirklich, dass Lale die Lebensmit26
tel morgen heimlich zu Jula ins Krankenhaus schmuggelte? Wozu sollte das gut sein? Wie bitte? Lale sollte fortgehen? Ganz weit fort? Womöglich sehr lange? Und das mitten im Winter? Und einen Brief sollte sie überbringen? Aber wohin denn? Und warum? Was für einen komischen Brief überhaupt? „Der Brief müsste noch auf dem Boden meines Strickkorbes liegen“, flüsterte Jula. „Unter den Anleitungen und Strickmustern. Ein goldener Briefumschlag mit einer silbernen Schrift. Ich wollte nicht, dass Frau Pauli ihn sieht, deshalb habe ich ihr nichts davon gesagt. Wenn du zu Hause bist, schau unten im Strickkorb nach. Und morgen bringst du den Brief mit den anderen Sachen hierhin. Ich will ihn noch einmal sehen. Du brauchst auch etwas Kleidung zum Wechseln. Pack alles ordentlich in deinen Rucksack ein.“ Damit sank Jula erschöpft auf ihr Kissen und drückte Lales Hand. Das Zeichen dafür, dass Lale gehen sollte. Gern hätte Lale Jula noch gefragt, wie es ihr überhaupt ginge. Aber das traute sie sich nun nicht mehr. Widerstrebend erhob sie sich und schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Auf dem Nachhauseweg war Lale so aufgeregt, dass sie ihr Herz bis zum Hals schlagen spürte. Konnte es wahr sein, dass ihre eigene Großmutter ihr auftrug, von zu Hause auszureißen? Denn sie hatte ja versprechen müssen, Frau Pauli nichts von ihrem Vorhaben zu sagen. Also war ausreißen genau das richtige Wort. Angeblich wollte Jula Frau Pauli alles erklären, später, wenn Lale schon fortgegangen war. Also hatte Jula ein schlechtes Gewissen. Vielleicht 27
fürchtete sie, dass Frau Pauli ihren Plan verhindern würde, wenn sie vorher etwas davon erfuhr? Morgen früh sollte Lale weggehen. Weit weg. Womöglich für längere Zeit. Lale konnte es einfach nicht fassen. Zu Hause wartete Frau Pauli schon mit dem Abendessen. Sie hatte einen Riesenstapel goldgelbe Pfannkuchen gebacken. Lale war nicht besonders hungrig. Aber sie machte sich trotzdem tapfer darüber her. Und als sie satt war, aß sie noch weiter, auf Vorrat gewissermaßen. Wer weiß, wann sie auf ihrer Reise wieder so etwas Leckeres bekam? „Ich muss noch ein paar Sachen für die Schule zusammensuchen“, murmelte sie, als sie endlich vom Tisch aufstand. Aber was Lale in Wirklichkeit suchte, war der goldene Brief. Er lag genau da, wo Jula gesagt hatte, auf dem Boden des Strickkorbes, unter allerlei anderen Papieren vergraben. Mit silberner Tinte stand eine Adresse darauf. Lale kannte die Schrift nicht. Julas Handschrift war es nicht. Und auch der Name des Empfängers sagte ihr gar nichts. Rumi Armut. Lale drehte den Brief in der Hand. Ein Absender stand nicht darauf. Nun, sie würde schon noch erfahren, was es mit dem Brief auf sich hatte. Jetzt wollte sie nur noch ins Bett. Sie war todmüde. Dieser Tag war zu merkwürdig gewesen. Sie konnte sich gerade noch aufraffen, Kalles Vogelbauer mit seiner gelb geblümten Schlafdecke zuzudecken. „Gute Nacht, Kalle“, murmelte sie zärtlich. „Entschuldige, dass ich dich so lang habe warten lassen.“ 28
Kalle antwortete nicht. Er war schon längst auch ohne Decke auf seiner Stange eingeschlafen.
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4. Kapitel in dem Lale sich auf den Weg macht Als Lale am nächsten Morgen zu Jula radelte, dachte sie, dass Jula über Nacht bestimmt alles vergessen hätte. Sicher wäre von ihrem Plan nicht mehr die Rede. Sie konnte einfach nicht glauben, dass Jula sie wegschicken würde. Zwar hatte Lale, wie versprochen, statt ihrer Schulbücher reichlich Proviant in ihren Rucksack gepackt. Aber sie wollte die Apfelringe und die Dauerwurst im Krankenhaus deponieren. Damit Jula noch etwas anderes zum Knabbern hatte als die fade Krankenhauskost. Auch den goldenen Brief hatte Lale eingesteckt. Den wollte sie auch bei Jula lassen. Wenn er ihr doch so wichtig war! Lale wollte ihrer Großmutter nur schnell einen guten Morgen wünschen und dann in die Schule fahren. Aber sie hatte nicht mit Jula gerechnet. Denn die Großmutter nahm ihren Plan so bitterernst wie am Abend zuvor. „Es ist wichtig, Lale“, sagte Jula in beschwörendem Ton. „Auch für dich. Lebenswichtig. Du musst Rumi erreichen. Er ist -nun – du wirst schon noch erfahren, warum es so wichtig ist. Leider stimmt die Adresse nicht mehr. Aber du wirst ihn schon finden.“ Wie bitte? Was? Lale sollte einen Mann finden, von dem die Großmutter seit vielen Jahren nichts mehr gehört hatte? Seit zehn Jahren nicht mehr? Dessen Adresse sie gar nicht kannte? Und warum das so wichtig war, verriet sie ihr nicht? Eine entschieden merkwürdige Sache. 30
Nachdem Jula ein Weilchen auf sie eingeredet hatte, merkte Lale, dass sie zuletzt gar nicht mehr richtig zugehört hatte. Aber plötzlich war sie wieder hellwach. „.… dann lässt du dich also mit der Strickleiter am Berg des Abschieds hinab. Und danach kommst du schon bald zu Tula. Die kann dir weiterhelfen, mein Kind.“ Jula war eingeschlafen. Schweren Herzens verließ Lale das Zimmer. Auf dem Rücken trug sie ihren Rucksack, in dem sie den Proviant verstaut hatte: Butterbrote, Wurst, Pfannkuchen, Kekse und Waffeln, Teekuchen, Apfelringe, Backpflaumen, Rosinen und Bananen. Und die Kleidung zum Wechseln dazu. Julas große Einkaufstasche mit dem goldenen Strickzeug hängte sie an die Lenkstange. Eine Strickleiter sollte das also sein. Um sich an einem besonderen Berg hinablassen zu können. Der Berg des Abschieds. Lale wusste nicht, was sie davon halten sollte. Natürlich wäre sie lieber geblieben. Am liebsten hätte sie den ganzen Tag an Julas Bett gesessen und ihr Gesellschaft geleistet. Aber schließlich hatte Jula sie gebeten, Rumi Armut zu suchen. Ja mehr noch, sie hatte ihr den Auftrag erteilt. Und natürlich wollte Lale ihre Großmutter nicht enttäuschen. Julas Leben hing angeblich davon ab, dass Lale diesen Rumi fand. Und Lales Leben sogar auch, obwohl Lale sich das gar nicht vorstellen konnte. Was hatte ihr Leben mit dem Leben dieses fremden Mannes zu tun? Rumi Armut. Wer war das denn überhaupt? Während sie den Fahrradhelm über ihre Mütze stülpte und den Riemen festzog, fiel Lale ein, wer unbedingt noch 31
mitkommen musste. Kalle natürlich. Mit ihm wäre sie wenigstens nicht allein. Als sie in ihre Straße einbog, hatte Lale Glück. Sie sah Frau Pauli gerade aus dem Haus kommen. Am Arm trug sie einen Einkaufskorb. Ob sie schon entdeckt hatte, was alles in der Speisekammer fehlte? Lale versteckte sich hinter einem Zaun und wartete ab, bis Frau Pauli die Haustür abgeschlossen hatte und fortgegangen war. Dann lief sie zum Eingang hinüber. Schnell hatte sie aufgeschlossen, und ebenso schnell war sie ins Wohnzimmer zu Kalle hinübergehuscht. Der kleine Wellensittich staunte nicht schlecht, als Lale ihn aus seinem Vogelbauer holte. Er zwitscherte etwas, was wie „Krolle-rolle-roll-pulle-pull“ klang. Damit brachte er Lale auf eine Idee. Julas Pulswärmer! Mit Kalle auf der Hand huschte sie in Julas Schlafzimmer und riss die Schubladen ihrer Kommode auf, bis sie das Richtige fand. Ein Paar flauschige Pulswärmer zog sie sich selbst an. Und einen Pulswärmer streifte sie Kalle über. So, jetzt war er gerüstet für die Winterreise. Den anderen Pulswärmer stopfte sie zur goldenen Strickleiter in die große Tasche. Draußen klemmte Lale Julas Tasche auf den Gepäckträger, den Rucksack behielt sie auf. Kalle setzte sie auf der Lenkstange ab. Und jetzt? Worauf wartete sie noch? Ganz kurz schoss es Lale durch den Kopf, dass sie alles abblasen könnte. Sie könnte Kalle wieder ins Haus und in seinen Käfig bringen. Sie könnte die gemopsten Pfannkuchen in den Kühlschrank zurücklegen, ihre Schulsachen in den Rucksack packen und in die Schule gehen, als wäre 32
nichts gewesen. Aber so schnell, wie der Gedanke gekommen war, war er auch schon wieder verflogen. Jula setzte ihre ganze Hoffnung auf sie. Sie vertraute darauf, dass Lale es schaffte. Also musste Lale fahren. Sie stieg aufs Fahrrad und radelte los.
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5. Kapitel in dem Lale tüchtig radelt und mit Kalle ein Picknick macht Lale radelte den ganzen Vormittag, immer der Nase nach, so wie ihre Großmutter es ihr geraten hatte. Zunächst ging es durch ihr bekannte Straßen und Häuserschluchten. Durch die Siedlung, in der die frechen großen Jungen wohnten, an ihrer Schule und am Haus ihrer Freundin Kati vorbei. Zum Glück sah sie dort keiner. Schneller als gedacht hatte sie den Stadtrand erreicht und bald schon die Stadt hinter sich gelassen. Jula hatte gesagt, sie solle sich zunächst Richtung Großer See halten. Nachdem sie zur Hälfte um den See herumgeradelt war, zweigte eine Landstraße ab. Die sollte sie nehmen. Lale radelte und radelte. Die Abenteuerlust hatte sie gepackt. Solange sie in Bewegung war, kam sie nicht zum Nachdenken. Ihr war warm, sie spürte weder Hunger noch Kälte. Sie fühlte sich so stark und beschwingt, sie hätte geradewegs immer so weiterradeln können, bis sie bei Rumi Armut angelangt war. Und wenn sie den ganzen Tag und die ganze Nacht hätte strampeln müssen. Am liebsten hätte Lale laut gesungen. Aber dazu war es denn doch entschieden zu kalt. Wenn sie ausatmete, sah sie ein weißes Wölkchen vor sich aufsteigen. Auch Kalle war stumm. Er saß mit dem Rücken zum Fahrtwind und mit dem Schnabel zu ihr gewandt und guckte sie aus seinen listigen Äuglein neugierig an. Vermutlich 34
wunderte er sich. Lale hatte ihm erzählt, dass sie einen Brief an einen Mann überbringen müsste, dessen Name ihr fremd war und dessen Adresse sie auch nicht kannte. Da hatte Kalle kurz etwas gezwitschert, das wie „Bille-billeboll“ klang. Es hatte ganz munter geklungen. Seitdem hatte Kalle keinen Pieps mehr von sich gegeben. Vermutlich war es ihm einfach zu kalt. Gut, dass sie an den Pulswärmer für ihn gedacht hatte. Sonst hätte sich Kalle auf der eisigen Lenkstange doch zu leicht einen Schnupfen geholt. Ihr Weg führte Lale durch eine verschneite Winterlandschaft. Alles um sie herum sah wie verzaubert aus. Auf der Straße war der Schnee geräumt worden, und auf dem Asphalt lag nur ein bisschen zarter Reif, wie darüber gestreuter Puderzucker. Aber an den Straßenrändern war der Schnee zu kleinen Hügeln geschichtet, und die Felder und Wiesen am Straßenrand waren tief verschneit. Alle Geräusche waren gedämpft, die Welt war in eine unwirkliche Stille getaucht. Man konnte das Gefühl bekommen, als sei man ganz allein auf der Welt. Niemand außer Lale schien unterwegs zu sein. Auch die Tiere, die hier am See, im Wald und auf den Feldern wohnten, hatten sich zum Winterschlaf in ihre Höhlen und Bauten zurückgezogen. Lale hatte keine Angst. Im Gegenteil, sie fühlte sich herrlich. Wenn sie nur gewusst hätte, wo sie am Abend übernachten sollte. Allmählich setzte sich der Gedanke in ihr fest. Erst war es nur ein kleiner Gedanke, ein kleines graues Pünktchen in ihrem Hirn. Irgendwann würde es dunkel 35
werden. Bald sogar schon. Zwar nicht mehr so früh wie im Dezember. Aber die Dunkelheit käme früh genug. Die Mittagszeit war ja wohl schon ein Weilchen vorbei. Bald konnte Lale an nichts anderes mehr denken. Der dunkle Punkt in ihrem Kopf wuchs und wuchs. Wo sollte sie die Nacht verbringen, wenn sie das Haus dieser Tula bis dahin nicht erreicht hatte? Und als der Gedanke eine richtig große Form angenommen hatte, ein großer düsterer Kreis geworden war, da merkte Lale plötzlich auch, dass sie Hunger hatte. Es war entschieden Zeit für eine Rast. Die Landstraße führte an einigen Häusern und Bauernhöfen vorbei. Offenbar war die Gegend hier ein bisschen bewohnter. Rauch kringelte sich aus den Schornsteinen. In die Luft mischte sich ein würziger Duft. Da brannte irgendwo ein Kaminfeuer. Aus der Ferne tönten ein paar dumpfe Schläge herüber. Jemand hackte vielleicht Feuerholz. Lale spürte einen Kloß im Hals. Ach, sah das gemütlich aus dort drüben! Wie nett wäre es, wenn man dort jemanden kennen würde und sich ein wenig ausruhen könnte. Tapfer radelte sie weiter. Nach zwei- oder dreihundert Metern sah sie am Straßenrand eine kleine Kirche. Eigentlich war es mehr eine Kapelle, ein gemütliches kleines Haus. Ob die Tür verschlossen war? Lale bremste vorsichtig ab. Sie lehnte ihr Fahrrad an die Wand neben der Eingangstür. Mit klammen Fingern löste sie die Tasche vom Gepäckträger, drehte sich um zur Tür und probierte die Klinke. Sie ließ sich ganz leicht herunterdrücken. Mit einem anheimelnden Knarren öffnete sich die 36
Tür. Da hörte Lale hinter sich ein wütendes Schimpfen. Vor Schreck zuckte sie zusammen und ließ die Türklinke los. „Kille-rille-rille, ich schreie, schimpf und schrille! Dir fehlt wohl eine Brille! Lass mich nicht an der Luft! Ich schrille, schrei und lärme, dass ich mich auch erwärme. Mir knurrt der Bauch, bin hungrig auch, vergiss mich nicht, du Schuft!“ Kalle! Wie konnte sie ihn nur so sträflich vergessen! Mit seinem Pulswärmer-Mantel konnte er ja nicht auf ihre Schulter fliegen. Lale trat schnell zu ihm herüber und nahm Kalle behutsam auf die noch freie Hand. Der kleine Vogel wollte noch weiter schimpfen, aber als Lale wärmend über sein Köpfchen pustete, beruhigte er sich. Lale war bislang nur sehr selten in einer Kirche gewesen. Ob es erlaubt war, hier drinnen ein Picknick zu halten? Lale beschloss, dass der liebe Gott sicher nichts dagegen hätte, wenn sich ein Kind in seinem Haus ein bisschen stärkte und wärmte. Sie zog Kalle den Pulswärmer aus. Es tat ihm sichtlich gut, sich zu räkeln und zu recken und zu strecken. Er plusterte sich ordentlich auf und trippelte bald vergnügt auf den Altarstufen herum. Lale breitete ihre Schätze auf einer Kirchenbank aus. Zuerst aß sie ein paar Pfannkuchen mit Zimt und Zucker. Dann ein Stück Brot mit Wurst. Und zum Nachtisch noch einen Apfel. Dazu trank sie Tee aus ihrer Trinkflasche. Nachdem Lale sich gestärkt hatte, hätte sie sich am liebsten auf die Bank gelegt und ein bisschen geschlafen. Aber sie musste ja weiter. Es war schon Nachmittag, bald würde 37
es wirklich dunkel werden. Und sie musste noch eine Unterkunft für die Nacht finden. Um hier zu bleiben, war es zu früh. Tapfer packte Lale ihre Sachen zusammen und rief Kalle herbei. Wohin würde ihr Weg sie wohl heute noch führen?
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6. Kapitel in dem Lale zum Acker des Bleibens gelangt und Bekanntschaft mit den Erdmuffeln schließt Bald radelte Lale weiter. Und bald schien über ihr schon der helle Mond. Er spendete ein geheimnisvolles Zauberlicht, das den Schnee noch heller glitzern ließ. Er bedeckte hier auch die Straße, war aber verharscht und gefroren, sodass sie ganz passabel darauf radeln konnte. Lale kam immer noch gut voran, obwohl es allmählich zu dämmern begann. Aber völlige Dunkelheit herrschte noch nicht. Lale hätte es nie für möglich gehalten, dass man im Mondlicht so gut sehen könnte. Eine Zeit lang glitt sie nur so dahin, wie auf silbernen Strahlen und Schwingen. Kalle, der wieder den Pulswärmer trug, war auf der Lenkstange eingeschlafen. Lale musste schmunzeln, wenn sie ihn ansah. Allmählich merkte Lale aber, wie es um sie herum immer düsterer wurde. Nicht dass der Mond weniger leuchtete. Aber der Schnee schien sein Licht nicht mehr mit gleicher Kraft widerzuspiegeln. Es war, als hätte das Licht dunkle Flecken. Aber die Flecken waren natürlich dunkle Stellen im Schnee. Lag da überhaupt noch Schnee um sie herum? Nein, der Boden unter ihr war ja gar nicht mehr weiß. Im Gegenteil, er wurde, je weiter sie vorankam, desto grauer und schmutziger. Und er war ja auch gar nicht mehr so fest wie vorhin. 39
Solange der Schnee hart gefroren gewesen war, war Lale mit dem Fahrrad gut darauf vorangekommen. Aber jetzt wurde der Boden unter ihr immer weicher. Ach du Schreck! Der Schnee schmolz. Und darunter war keine Straße, darunter war der reine Matsch. War sie etwa vom richtigen Weg abgekommen? Entsetzt schaute Lale sich um. Rings um sie her: nur ein matschiges Feld. Der Schnee war jetzt schon völlig geschmolzen. Einerseits war das angenehm – denn es wurde merklich wärmer, und die Wärme tat gut. Aber andererseits war es gar nicht schön. Schon im nächsten Moment konnte Lale nicht mehr weiterradeln. Das Rad blieb im Matsch stecken. Lale musste abspringen. Dabei trat sie mit dem Stiefel in ein sumpfiges Loch. Igitt, dachte Lale. Die sind hin. Als sie den Stiefel aus der Matsche zog, konnte man nicht mehr sehen, dass er einmal zinnoberrot gewesen war. Matschbraun war er jetzt. Auweia. Lale musste schlucken. Wie gern wäre sie jetzt bei Jula daheim. Dafür hätte sie sogar deren Schimpfen über den verdorbenen Stiefel in Kauf genommen. Wenn doch wenigstens Kalle ein kleines bisschen schimpfen würde. Durch den Ruck, als sie mit dem Rad stecken geblieben war, war er aufgewacht. Aber Kalle schimpfte nicht. Er guckte sie nur vorwurfsvoll an. Und jetzt?, schien er sie fragen zu wollen. Lale schaute sich verzweifelt um. Es half wohl nichts, sie würde wenden und umkehren müssen. Aber das war leichter gedacht als getan. Das Rad war zwar nicht sehr tief in die Matsche gerutscht, aber es steckte schon sehr fest. So 40
sehr sie auch zog und zerrte, es nützte nichts. Aus diesem Modder bekam sie ihr Rad so leicht nicht heraus. Deshalb ging sie jetzt ganz planmäßig vor. Sie ruckelte immer abwechselnd einmal am Vorderrad und dann wieder am Hinterreifen. Wieder vorn. Und wieder hinten. Hauruck! Hau-ruck! Und plopp! Das Fahrrad war wieder frei. Geschafft! Vielleicht brauchte sie doch nicht umzukehren? Vielleicht könnte sie das Rad über dieses Matschfeld hinübertragen? Und am anderen Ende dann wieder aufsteigen und weiterfahren? Lale setzte sich in Bewegung. Mit der linken Hand hielt sie das Rad an der Lenkstange fest, mit der rechten wollte sie es hochheben. Aber was war das? Das Rad klebte ja schon wieder fest. Als Lale nach dem Hinterrad sehen wollte, traute sie ihren Augen nicht. Da waren drei, vier seltsame kleine Wesen und hielten das Fahrrad fest. „He, lasst los!“, schrie Lale. „Was fällt euch denn ein?“ Aber die kleinen Kerle dachten gar nicht daran, loszulassen. Sie hielten Lales Hinterrad mit aller Kraft fest und brachten sie so zum Stillstand, so sehr sich Lale auch dagegen anzustemmen versuchte. Eine Weile kämpfte Lale tapfer, dann sah sie ein, dass es keinen Sinn hatte. Aber wenigstens wollte sie die frechen Kerle ein wenig austricksen. Ganz plötzlich gab sie ihren Widerstand auf und ließ locker. Da purzelten die vier, deren Parole ja immer noch Festhalten lautete, in den Matsch. So gelang es Lale wenigstens, sie im wahrsten Sinne des Wortes reinzulegen. „He, was sollte das?“, fragte sie die Fremden. Wie sie da so vor ihr in der Matsche lagen und mit den 41
Beinen strampelten, konnte Lale sich die zwergenartigen Kerle etwas genauer ansehen. Sie waren vielleicht vierzig, allerhöchstens fünfzig Zentimeter hoch. Soweit man unter ihrer Kleidung erkennen konnte, waren sie recht behaart. Ihre fellähnliche Haut, ihre wuscheligen, lockigen Haare und ihre Backenbärte, alles hatte die Farbe von ockerfarbenem Modder. Gekleidet waren sie in grüne Hosen und Jacken, dazu trugen sie derbe braune Stiefel und Jägerhüte mit Federn und kleinen bunten Lämpchen daran.
„Willkommen auf dem Acker des Bleibens!“, sagte eines der Wesen, als es sich aufgerappelt hatte. Auch die anderen waren inzwischen wieder auf die Füße gekommen und stimmten dem Ersten bei. „Genau, herzlich willkommen!“ „Bei uns bist du genau richtig!“ „Schön, dass du bleiben willst.“ Das hatte Lale zwar gar nicht gesagt, aber die Kerlchen schienen davon auszugehen, dass sie bei ihnen zu Gast sein wollte. Und vielleicht war das gar nicht einmal die dümm42
ste Idee? Es war ja doch zu dunkel, um heute Abend noch weiterzuradeln. Und zu matschig dazu. „Wo wohnt ihr denn?“, fragte Lale und sah sich suchend um. Dabei stellte sie fest, dass vielleicht ein Dutzend dieser kleinen Kerle um sie herum wuselten. Sie hatte sie vorher gar nicht bemerkt. Nun aber sah sie überall um sich herum die bunten Lämpchen blinken. „Da drüben“, sagte der Erste freundlich und deutete zur Mitte des Feldes hinüber. „Genau“, sagte der Zweite. „Komm, wir gehen“, forderte der Dritte sie auf. „Dein Fahrrad kannst du am Eingang zu unserem Erdschloss liegen lassen.“ „Das klaut hier schon keiner“, sagte der Vierte. Die anderen drei lachten, als hätte er einen Witz gemacht. Lale schob ihr Rad in Richtung Feldmitte. Es war mühselig, aber mit Hilfe der kleinen Kerle schaffte sie es. Während sie sich vorwärts plagte, hatte sie das Gefühl, als sacke sie immer tiefer in die Matsche hinein. Was war das nur für ein komisches Feld? Wie hatte der Kleine es eben genannt? Den Acker des Bleibens? „Wo bin ich hier eigentlich?“, fragte Lale neugierig. „Pardon, wir haben uns noch gar nicht vorgestellt“, sagte der, der auch vorhin als Erster gesprochen hatte. Er schien eine Art Anführer zu sein. „Dies hier ist der Acker des Bleibens.“ „Genau“, sagte der Zweite. „Wer hier hinkommt, möchte gar nie mehr weg“, schwärmte der Dritte. 43
„Wer hierhin kommt, bleibt ewig“, stellte der Vierte fest. „Und wir sind die Erdmuffel“, sagte der Erste mit einer kleinen Verbeugung. „Genau, wir wohnen hier“, verbeugte sich auch der Zweite. „Ein gastliches Volk sind wir, du wirst sehen“, sagte der Dritte. Es schien ein weiblicher Erdmuffel zu sein, denn er – besser gesagt sie – machte dabei einen Knicks. „Und friedlich“, fügte der Vierte hinzu. „Und wer bist du?“, fragte der erste Erdmuffel. „Ich bin Lale aus der Tulpenzwiebel“, antwortete Lale schlicht. „Und das ist Kanari-Kalle, mein Wellensittich, der sich manchmal für einen Kanarienvogel hält.“ Die vier nickten, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, aus einer Tulpenzwiebel zu stammen und einen Wellensittich zu haben, der gern ein Kanarienvogel wäre. „Ewig bleiben können wir allerdings nicht“, klärte Lale ihre neuen Bekannten vorsichtshalber gleich auf. „Morgen früh müssen wir weiter.“ „Ts ts ts“, machte der erste Erdmuffel. „Ts ts ts“, machten auch die drei anderen. Weiter sagten sie nichts, denn sie hatten inzwischen den Eingang zu einem Tunnel erreicht, der hier ins Erdinnere zu führen schien. „Hier kannst du dein Fahrrad abstellen“, sagte der erste Erdmuffel. Der Zweite griff, nachdem er „Genau!“ gesagt hatte, nach ihrer Tasche, aber Lale nahm sie ihm aus der Hand. Die war ja viel zu groß für diese Knirpse. Diesmal dachte sie auch an Kalle und nahm ihren kleinen Freund auf die Hand. 44
7. Kapitel in dem Lale und Kalle im Schloss der Erdmuffel übernachten Lale duckte sich und folgte den Erdmuffeln gebückt in den Tunnel hinein. Sie passte so gerade eben durch das Eingangstor. Der Tunnel war eng und dunkel, aber an den Tunnelwänden sorgten blaue, rote, grüne und gelbe Laternen für freundliches Licht. Und auch die Lämpchen, die die Erdmuffel an ihren Hüten trugen, leuchteten ihr den Weg. Allmählich wurde der Boden unter ihren Füßen fester, und der Gang wurde größer und angenehmer, sodass sie bald aufrecht stehen und wieder normal gehen konnte. Nachdem sie eine Weile gelaufen waren, öffnete sich der schmale Gang und führte in ein Gewölbe, von dem mehrere Höhlen und Gänge abzweigten. Kleine Türen in den Wänden wiesen auf weitere dahinter liegende Räume hin. „Bitte schön, hier ziehen wir uns die schlammigen Stiefel aus“, sagte der erste Erdmuffel. „Bitte recht sehr“, sagte der Zweite. „Bitte die Füße zu säubern“, forderte die Dritte sie auf. „Bitte Pantoffeln anziehen“, befahl der Vierte. Auch die Erdmuffel waren schon dabei, ihre Stiefel auszuziehen. Lale streifte Kalle den Pulswärmer ab, damit er wieder herumfliegen konnte, und tat es dann den Erdmuffeln gleich. Sie war froh, aus den festen Stiefeln herauszukommen. Weniger froh war sie allerdings, als ein fünftes Erdmuffelchen, das plötzlich neben ihr stand, sich ihre 45
Stiefel schnappte und damit durch eine winzige Tür in ein angrenzendes Zimmer verschwand. Die Tür war so niedrig, dass Lale nicht hindurchgepasst hätte. Wo wollte der Kerl mit ihren Stiefeln hin? „Das war das Stiefelputzererdmuffelchen“, klärte der erste Muffel sie auf. „Genau“, meinte der Zweite. „Das putzt deine Stiefel hübsch sauber“, versprach die Erdmuffelin. Lale seufzte. Jetzt würde sicher auch der Vierte noch etwas zur Unterhaltung beisteuern wollen. Und genau so war es. „Genau“, sagte der vierte Erdmuffel. „Müsst ihr immer alle der Reihe nach etwas sagen?“, fragte Lale. „Kann nicht einmal einer allein sprechen? Macht ihr auch mal was getrennt voneinander?“ „Wir halten immer zusammen“, sagte der erste Erdmuffel. „Genau“, sagte der Zweite. „Wir trennen uns nie“, sagte die Dritte. „Das ist am besten so“, behauptete der Vierte. „Schön, dass du mit deinem Vogel nun bei uns bleibst“, sagte der Erste. „Genau“, sagte der Zweite. Als die Dritte den Mund aufmachte, hörte Lale nicht hin. Sie war einfach weitergegangen, denn sie war neugierig, was im angrenzenden Raum auf sie wartete. In dem großen Saal standen mehrere lange Holztische mit Bänken davor. Auf den Tischen war für sechzig, siebzig Leute zum Abendessen gedeckt. Da standen Schüsseln mit Wirsingkohl und Möhrengemüse und Schalen mit Kartoffelbrei und Zwiebelringen darauf. Neben den Tellern 46
und Bechern aus Zinn standen Schälchen mit Schokoladenpudding. In den Karaffen war, der Farbe nach zu urteilen, trüber Apfelsaft. Es roch kräftig und deftig – Kalle schien genauso hungrig wie Lale zu sein. Ohne auf eine Einladung zu warten, flog er zu der Schüssel mit dem Kartoffelbrei hinüber. „Erst die Hände waschen“, hörte Lale den ersten Erdmuffel neben sich sagen. Er war ihr nachgelaufen und zupfte sie ungeduldig am Ärmel. „Genau“, pflichtete der Zweite ihm bei, der dem Ersten dicht auf den Fersen folgte. Lale seufzte. Zum Glück hielt die Erdmuffelin den Mund. Hatte sie vielleicht etwas schneller als die anderen begriffen, dass Lale das ständige Wiederholen und das Alle-Reden-Der-Reihe-Nach allmählich auf die Nerven ging? „Ich hab verstanden, Hände waschen“, sagte Lale. „Aber lasst mich los. Ihr reißt mir ja noch den Ärmel entzwei.“ Offenbar hielten sich die Erdmuffel mit großer Begeisterung an die Regeln, die irgendjemand für sie aufgestellt hatte. Oder hatten sie das etwa alles selbst so bestimmt? Beim Abendessen wurden Lale und Kalle dem König und der Königin der Erdmuffel vorgestellt. „Ein neuer Gast, wie schön!“, rief der König begeistert. „Willkommen in unserem bescheidenen Schloss!“ „Genau!“, rief die Königin. Lale lief ein Schauder über den Rücken. Fiel denn nicht einmal der Königin ein eigener Satz ein, den sie sprechen konnte? Immerhin, einen kleinen Satz fügte die Königin doch noch aus freien Stücken hinzu. 47
„Herzlich willkommen, du hübsches Kind“, sagte sie geziert. „Es ist sehr nett, dass ich heute Nacht hier schlafen kann“, bedankte sich Lale. „Morgen früh muss ich dann weiterfahren.“ „Papperlapapp“, sagte der Erdmuffelkönig. „Was für eine komische Idee“, kicherte die Königin. Auch die anderen Erdmuffel im Saal lachten, wenngleich leicht gedämpft. Lale hatte keine Lust, ihre Pläne mit diesen kleinen Wichten zu diskutieren. Das brachte ja nichts. Morgen früh würde sie weitersehen. „Ihr habt mir noch gar nicht gesagt, wie ihr heißt“, lenkte sie stattdessen ab. „Wie wir heißen?“, fragte der Erdmuffelkönig erstaunt. „Heißen?“, wiederholte die Königin. „Ja“, sagte Lale. „Ich meine eure Namen. König Sowieso der Soundsovielte und Königin – nun?“ 48
„Namen!“, rief der Erdmuffelkönig und klatschte amüsiert in die Hände. „Namen brauchen wir nicht“, erklärte die Königin. „Wofür sollten Namen wohl gut sein?“, ereiferte sich der König. „Namen! Igitt!“, Die Erdmuffelkönigin schüttelte sich. Im Saal war angewidertes Geraune und Gewisper zu vernehmen. „Nun“, überlegte Lale. „Namen sind gut, um Leute auseinander zu halten. Um sich zu unterscheiden.“ „Warum sollten wir uns unterscheiden wollen?“, fragte der Erdmuffelkönig. „Wen sollten wir denn auseinander halten?“, fragte die Königin. „Wir wollen uns gar nicht unterscheiden“, sagte ein Erdmuffelchen. „Nein, wir sind ja alle gleich“, lachte ein anderes. „Haargenau!“, rief der Rest. Lale schüttelte den Kopf. Aber sie war zu müde, um sich auf einen Streit einzulassen. „Das war ein leckeres Essen“, lobte sie. Dann gähnte sie laut und vernehmlich. „Es ist ungesund, unterwegs zu sein“, sagte der Erdmuffelkönig. „Es macht zu hungrig und müde“, sagte die Königin. „Wir bringen dich und deinen Freund zu eurem Nachtlager“, riefen zwei, drei Erdmuffelfrauen, die in der Nähe saßen. Lale nickte. Sie hielt Kalle den Zeigefinger hin, damit er darauf klettern konnte. Erst einmal ausschlafen, dachte sie 49
bei sich. Die Erdmuffel schienen ja durchaus freundlich gesonnen zu sein. Solange man nicht fortgehen wollte. Sie würden ihr während der Nacht sicherlich nichts Böses tun. Morgen früh müsste sie allerdings sehen, wie sie von hier fortkam. Denn dass Kalle und sie nicht für den Rest ihres Lebens im Erdmuffelschloss bleiben wollten, war ja klar. Erst einmal folgte sie den Erdmuffelfrauen. Am Ende eines hinten aus dem Saal hinausführenden Ganges gingen ein paar Räume ab. Einer davon sollte Lales Schlafkämmerchen sein. Die Kammer machte einen sehr gemütlichen Eindruck. Da stand ein Bett für Lale und es war sogar für ein Vogelbauer gesorgt worden. Die Bettdecke und das Tuch für den Vogelkäfig waren rotweißkariert. Auf einem Tisch stand ein Tablett mit einem Becher Kakao und einem Kuchenteller. Und ein Bücherregal gab es auch. Ein Waschbecken. Ein Haken mit einem erdfarbenen Bademantel. Und oben auf dem Bett lag ein Schlafanzug. Es war an alles gedacht. Sobald die Erdmuffelfrauen sich verabschiedet hatten, deckte Lale ihren Freund Kalle für die Nacht zu. Dann schlüpfte sie in den bereitgelegten Schlafanzug, putzte sich die Zähne und kuschelte sich in ihr gemütliches, rotweißkariertes Bett. Und bald schon schlief Lale tief und fest, genauso wie die siebenundsechzig Erdmuffel im Schlafsaal nebenan. Bis auf den König und die Königin sowie die königliche Leibwache schliefen sie alle im selben Raum. Hätte jemand gelauscht, hätte man sie der Reihe nach schnarchen hören. Aber es lauschte niemand. Und Lale war viel zu müde dazu.
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8. Kapitel in dem die Erdmuffel Lale nicht gehen lassen wollen Als Lale am nächsten Morgen erwachte, hörte sie aus den anderen Zimmern und Kammern des Erdschlosses schon eifriges Geklipper und Geklapper. Zu dumm, sie hatte verschlafen! Und je später sie loskam, desto später würde sie den Berg des Abschieds erreichen. Aber Lale hatte ihren Plan ohne die Erdmuffel gemacht. Denn die meinten es tatsächlich ernst und wollten sie nicht loslassen. „Das hier ist der Acker des Bleibens“, sagte der Erdmuffelkönig beim Frühstück. „Das habe ich dir doch schon gestern Abend erklärt. Hier geht man nicht wieder fort.“ „Genau“, pflichtete die Erdmuffelkönigin ihm bei. „Wir bleiben ja schließlich auch hier, ohne uns zu beschweren.“ Langsam gingen diese Erdmuffel Lale auf die Nerven. Alle hatten sie die gleiche Haut- und Haarfarbe von modderigem Beige. Alle waren sie gleich gekleidet in die gleichen grünen Hosen und Jacken. Sogar König und Königin trugen das Gleiche wie alle anderen. Nun ja, wenigstens hatten sie auf ihre Jägerhütchen beide noch ein goldenes Krönchen gesetzt. Sonst hätte man sie überhaupt nicht von ihren Untertanen unterscheiden können. Nein, dachte Lale, wenn sie ehrlich war, waren ihr die Erdmuffel entschieden unsympathisch. Vor allem König und Königin, wie sie da so behäbig und zufrieden vor ihr saßen und die Hände über den Bäuchen gefaltet hielten. Da 51
konnten sie noch so leckeres Essen auftischen und ihr ein noch so gemütliches Schlafstübchen anbieten. Hier wollte sie nicht freiwillig bleiben. Geschweige denn gezwungenermaßen. „Ich habe entschieden etwas anderes vor“, sagte Lale. Sie stand vom Frühstückstisch auf und ging in ihr Zimmer, um ihre Siebensachen zusammenzupacken. Jetzt musste sie nur noch sehen, wie sie an ihre Stiefel herankam. Denn barfuß wollte sie natürlich nicht durch die Matsche laufen. Im Eingangsgewölbe, in dem sie gestern ihre Stiefel ausgezogen hatte, herrschte lebhaftes Gewusel. Einige Erdmuffel kamen gerade von einem Spaziergang zurück. In den Händen trugen sie große, blecherne Gießkannen. Andere waren im Aufbruch begriffen. Auch sie hatten Gießkannen bei sich, aus denen heißer Dampf herausquoll. Was die Erdmuffel damit wohl wollten? Der Boden war doch gestern Abend wirklich nass genug gewesen. Da musste man doch nicht noch extra gießen? Und überhaupt, es wuchsen zurzeit ja gar keine Blumen, die gegossen werden mussten. Und noch dazu mit heißem Wasser? Ein schrecklicher Verdacht stieg in Lale auf. Sorgten die Erdmuffel etwa selbst für die Matsche auf ihrem Acker? Brachten sie den Schnee zum Schmelzen, indem sie heißes Wasser darauf gossen? Und wollten sie auf diese Weise harmlose Wanderer festhalten und zum Hierbleiben zwingen? Lale klapperte an der kleinen Tür, durch die das Stiefelputzererdmuffelchen gestern Abend mit ihren schmutzigen Stiefeln verschwunden war. 52
„He! Hallo! Ist da jemand?“, rief sie. Aber niemand antwortete ihr. Sie bückte sich, um besser durch die niedrige Tür blicken zu können. Der Stiefelputzraum war leer. Aber da hinten an der gegenüberliegenden Wand sah sie ihre Stiefel stehen, blitzblank geputzt. Leider waren sie zu weit von der Tür entfernt abgestellt. So sehr Lale sich auch reckte und die Arme ausstreckte, sie kam nicht daran. Mist! „Kann mir mal jemand meine Stiefel holen?“, rief Lale. „Das dürfen wir nicht“, sagte ein Erdmuffel in ihrer Nähe. Er war auf ihren Rucksack gesprungen und turnte darauf herum. „Genau!“, sagte ein anderer, der sich am Tragriemen ihres Rucksacks hochhangelte. „Der König hat es verboten“, erklärte ein Dritter. Auch er hatte sich auf ihrem Rucksack breit gemacht. „Genau“, sagte noch einer. Er war gerade dabei, Lales Tasche, in der die Strickleiter lag, zu erobern. „Denn du sollst heute überhaupt gar nicht ausgehen“, sagte der Erste, während er auf ihrem Rucksack herumhopste. Und die anderen riefen wieder „Genau!“, und der Erste fügte noch hinzu: „Die Stiefel kriegst du erst wieder, wenn du freiwillig bleibst.“ „Und auch dann erst nach drei Monaten“, lachten die anderen. Lale seufzte. Sie schnappte sich ihre Tasche und schubste den Erdmuffel, der gerade hineinklettern wollte, unsanft 53
herunter. Sie schüttelte auch die anderen frechen Erdmuffel von ihrem Rucksack ab und ging in ihr Gästezimmer zurück. „Vielleicht ist es das Beste, erst einmal so zu tun, als würden wir bleiben“, sagte sie zu Kalle. Sie mussten die Erdmuffel in Sicherheit wiegen. Und bei nächster Gelegenheit, wenn die dummen kleinen Kerle nicht mehr daran dachten, dann würden sie sich hier vom Acker machen. Aus dem Staub. Beziehungsweise aus der Matsche. Und in Zukunft würde Lale einen großen Bogen um diese Gegend machen. Aber noch war ihnen die Flucht nicht gelungen.
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9. Kapitel in dem Lale Kartoffelgolf spielt und hinter das Geheimnis des Erdmuffelkönigs kommt Lale merkte bald, dass die Erdmuffel keine besonders misstrauischen Wesen waren. Sie fanden ihr Leben im Erdschloss so schön, dass sie ihr sofort glaubten, als sie ihnen mitteilte, sie hätte sich das mit dem Weggehen anders überlegt. Keiner schien es für möglich zu halten, dass ihr Gast ihnen etwas vorschwindelte. „Siehst du wohl!“, rief der Erdmuffelkönig. „Wir haben es doch gleich gewusst! Bei uns ist es nun einmal am schönsten!“ „Genau“, bestätigte die Erdmuffelkönigin. „Heute Nachmittag spielen wir Kartoffelgolf“, sagte der Erdmuffelkönig. „Sobald die Bewässerer von ihrer Arbeit zurückgekehrt sind.“ „Also gleich nach dem Mittagessen“, freute sich die Erdmuffelkönigin. „Wird das ein Spaß!“ „Genau!“, hörte Lale sich sagen. Bis zum Mittagessen hatte sie also frei. Die Zeit nutzte sie, um sich in ihrem Stübchen mit Kalle zu beraten. Sie überlegte mit ihm, wie sie ihre Stiefel zurückbekommen konnte. Ohne Schuhe konnte sie ja nicht von hier fortgehen. Zu dumm, dass sie kein Ersatzpaar eingepackt hatte. Lale selbst war zu groß und passte nicht durch die Tür zum Schuhkämmerchen. Aber Kalle müsste es schaffen. Seine Aufgabe für den Nachmittag sollte es deshalb sein, 55
sich in die Schuhkammer zu schleichen. Vielleicht könnte Kalle das Stiefelputzererdmuffelchen ablenken und Lales Stiefel unbemerkt etwas mehr in die Nähe der Tür schieben? Dazu reichten seine Kräfte vielleicht aus. Leider waren die Stiefel zu schwer, als dass der kleine Wellensittich sie den ganzen Weg zu Lales Zimmer hätte schleppen können. Wichtig war, dass Lale bei ihrer Flucht ihre Stiefel mit einem schnellen Griff würde packen können. Denn im Eingangsgewölbe war entschieden zu viel Betrieb. Dort war es gefährlich. Da dürfte sie sich auf keinen Fall länger als irgend nötig aufhalten. Es würde den Erdmuffeln sonst zu schnell auffallen, dass sie sich wieder auf den Weg machen wollte. Deshalb musste Lale auch herausfinden, welches die beste Zeit für ihre Flucht wäre. Vielleicht in der Nacht, wenn alle Erdmuffel schliefen? Ob da ein Nachtwächtermuffel vor dem Eingang Wache hielt? Oder war das Tor abgeschlossen? Das wollte sie möglichst unauffällig in Erfahrung bringen. Zum Mittagessen gab es Linsensuppe, leider ohne Würstchen. Aber Hauptsache, es gab überhaupt irgendwas, dachte Lale. Brav aß sie ihren Teller leer, an ihr sollte es nicht liegen, wenn morgen schlechtes Wetter wäre. Nach dem Essen, als man die Tische abgeräumt hatte, schleppten ein paar Erdmuffel dicke Stöcker heran, die an den unteren Enden leicht gebogen waren. Das waren die Golfschläger, von denen Lale sich einen aussuchen durfte. Außerdem wurde ihr eine besonders schön knollig geformte Kartoffel gereicht. Dann folgte sie dem König und der Königin durch ein paar Gänge in einen anderen Saal. Hier hatten die Erdmuffel ihre Kartoffelgolfbahn angelegt. Ähn56
lich wie bei einer Minigolfbahn gab es zwanzig verschiedene Bahnen, auf denen man seine Kartoffel mit dem Schläger durch kleine Tore und über Wälle und Dämme hinwegschießen und sie schließlich in kleine Löcher hineinzielen musste. Der Erdmuffelkönig und die Königin schienen häufig Kartoffelgolf zu spielen. Beide waren sehr gewandt und trafen mit nur
wenigen Schlägen in das jeweilige Loch. Auch Lale schnitt nicht schlecht ab. Für sie war die Bahn ja recht klein und es war daher nicht schwer, die Kartoffel voranzubringen. Das größte Problem für Lale war, dass sie sich beim Spiel ständig bücken und kleiner machen musste, als sie war. In ihrem Eifer holte sie etwas zu schwungvoll mit dem Schläger aus. Dabei traf sie – oh weia! -den Erdmuffelkönig mit einer Kartoffel am Kopf. Ohne es zu wollen, fegte sie ihm 57
die Krone, die nur locker auf sein Jägerhütchen gesteckt war, vom königlichen Erdmuffelhaupt herunter. Die Krone kullerte ein paar Schritte weiter und blieb auf der Nachbarbahn liegen. Verlegen lief Lale hinüber und hob sie auf. Gerade wollte sie sie dem Erdmuffelkönig mit einer Entschuldigung reichen, da löste sich etwas aus der Krone und fiel mit einem dumpfen „Plopp!“ zu Boden. Es war ein fein verzierter goldener Schlüssel. Lale hob ihn ebenfalls auf und reichte beides, Krone und Schlüssel, dem König.
Der Erdmuffelkönig sah sie missbilligend an. Schnell nahm er ihr Schlüssel und Krone ab, steckte den Schlüssel in die Innenseite der Krone und setzte sich die Krone wieder auf. „Entschuldigung“, sagte Lale. „Es war keine Absicht.“ „Das weiß ich doch“, sagte der König gnädig. „Das weiß er doch“, echote die Königin. 58
„Aber den Erdschlosstor-Schlüssel darf keiner anfassen außer mir“, sagte der König. „Niemand!“, sagte die Königin. „Deshalb ist er ja König“, sagte ein Erdmuffel hinter ihr. „Nur ich weiß, wo der Schlüssel versteckt ist“, sagte der König würdevoll. „Nur der König kennt das Versteck“, wiederholte die Königin. „Das ist sein königliches Geheimnis.“ „Und wer schließt die Tür abends ab?“, fragte Lale mit ihrer unschuldigsten Stimme. „Das mache natürlich ich“, sagte der Erdmuffelkönig. „Der König, wer sonst“, meinte die Königin. Dabei zwinkerte sie dem König verschwörerisch zu. „Weil er ja König ist“, sagte eine Erdmuffelin. „Natürlich, genau!“, sagte Lale. Sie hörte sich schon an wie alle anderen Untertanen. Aber Lale verfolgte natürlich ihr eigenes Ziel. Sie musste ja den goldenen Brief zu Rumi Armut bringen. Jula verließ sich auf sie. Und nun hatte sie herausgefunden, dass der Erdmuffelkönig höchstpersönlich sein Schloss abends zusperrte. Und sie wusste auch, wo der Schlüssel sich befand. Lale hatte Herzklopfen, als sie auf den König herabblickte und den Schlüssel von oben innen in der Krone stecken sah. Aber sie zwang sich beim Weiterspielen, nicht mehr zu ihm hinüberzustarren. Niemand durfte merken, dass sie sich für den Schlüssel interessierte. So verlief der Nachmittag für Lale recht erfolgreich. Und Spaß machte ihr das Kartoffelgolf spielen auch.
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10. Kapitel in dem Lale und Kalle vom Acker des Bleibens flüchten Als Kalle und Lale an diesem Abend allein in ihrer Schlafkammer waren, erzählte Lale ihrem Freund, dass der König den Schlüssel zum Erdschlosstor in seiner Krone versteckte. „Das heißt, wir müssen heute Nacht fliehen, wenn König und Königin schlafen“, erklärte sie. „Irgendwie müssen wir es schaffen, unbemerkt an die Krone heranzukommen.“ „Kolle-rolle-rill“, antwortete Kalle zustimmend. Auch er war an diesem Nachmittag nicht faul gewesen. Wie verabredet, war er in den Raum des Stiefelputzererdmuffelchens geflogen. Dort traf er den fleißigen Kerl bei der Arbeit an. Um ihn abzulenken, während er Lales Stiefel näher an die Tür heranschob, sang Kalle dem Stiefelputzererdmuffelchen seine schönsten Lieder vor und tat dabei so, als ob er mit den Stiefeln spielen würde. Am meisten Spaß hatte er, als er dem Stiefelputzererdmuffelchen seinen Lieblingsvers vorsang: „Kralle-kalle-ralle, ihr habt sie wohl nicht alle.……“ Wenn es nach Kalle ginge, könnten Lale und er ruhig noch ein Weilchen bei den Erdmuffeln bleiben. Bis zum Frühjahr vielleicht? Ihn zog so schnell nichts wieder auf die kalte Lenkstange hinaus. Aber die Flucht sollte heute Nacht stattfinden, bestimmte Lale. Sie hatten sich hier lange genug aufgewärmt. Langsam kehrte Ruhe im Erdschloss ein. Das Gewisper, 60
Gehusche und Geraune auf den Gängen und im Saal nebenan war verstummt. Schon war gleichmäßiges Erdmuffelgeschnarche zu hören. Lale hatte ihre Sachen gepackt. Auch ein beim Abendbrot gemopstes Erdmuffelbrötchen, ein Eckchen Erdmuffelkäse und ein hart gekochtes Erdmuffelei hatte sie im Rucksack verstaut. Als sie das Gefühl hatte, dass im Schloss niemand außer ihnen noch wach war, gab sie Kalle ein Zeichen. Nun sollte er in das königliche Schlafgemach fliegen und versuchen, den Schlüssel zu stibitzen. Das konnte Kalle natürlich viel besser als sie. Mit leisen und sanften Flügelschlägen flog der kleine Vogel los. Ohne den kleinsten Pieps flog er ins königliche Schlafgemach hinüber, das hinter dem großen Erdmuffelschlafsaal lag. Unbemerkt schlüpfte er an der königlichen Erdmuffelnachtwache vorbei, die vor der königlichen Schlafkammer postiert war. Das hätte Lale nie im Leben geschafft, ohne die Wachen und vielleicht sogar den König zu wecken. Da lag er, der Erdmuffelkönig, behäbig ausgestreckt neben der Erdmuffelkönigin unter einem für Erdmuffelverhältnisse ziemlich großen Himmelbett. Beide schnarchten leise vor sich hin. Kalle flog auf einen Bettpfosten und guckte sich im Schlafgemach um, das in einem sanften Dämmerlicht lag. Im Schein einer kleinen Nachtlampe konnte Kalle die Königskrone glänzen sehen. Sie lag auf dem Nachttischchen, direkt neben dem König. Kalle überlegte, ob er schnell die ganze Krone schnappen sollte. Wie viel mochte sie wohl wiegen? Aber vermutlich war sie schwerer, als sie 61
aussah. Schließlich war sie aus Gold. Und wenn er sie fallen ließ, gab es sicher ein königlich goldenes Erdmuffelkronengeschepper, das womöglich den König weckte. Oder die Königin. Nein, er musste versuchen, den Schlüssel heimlich, still und leise aus der Krone herauszunehmen. Und das war gar nicht so schwer. Kalle brauchte sich nur auf einem Zacken der Krone niederzulassen, ein, zwei Male nach dem Schlüssel zu picken – und schon hielt er ihn triumphierend im Schnabel. Dann flog er so leise und behutsam, wie er gekommen war, wieder zu Lale zurück. Und nun kam der zweite und schwierigere Teil ihrer Flucht. Sie schlichen aus ihrem Kämmerchen heraus durch den bewohnten Teil des Erdschlosses, den Gang entlang bis zum großen Eingangsgewölbe. Hoffentlich war die Tür zur Schuhputzkammer nachts nicht verschlossen! Und hoffentlich hatte das Stiefelputzererdmuffelchen die Stiefel nicht wieder an die Rückwand der Stiefelkammer geschoben! Aber hurra, die Tür war offen, und die Stiefel standen noch genau da, wo Kalle sie hinbugsiert hatte. Schnell die Stiefel geschnappt und angezogen und dann mit Kalle auf der Schulter in den dunklen Tunnel hineingehuscht, der zum Erdschlosstor führte. Im Tunnel war es stockfinster. Von den bunten Lämpchen, die bei ihrer Ankunft geleuchtet hatten, war nichts zu sehen. Nicht einmal ein kleines Nachtlicht, nicht einmal eine Notbeleuchtung gab es hier. Offenbar meinten die Erdmuffel es ernst mit dem Dableiben. Aber vielleicht bedeutete die Dunkelheit auch, dass hier keine Erdmuffel mehr Wache hielten? Lale tastete sich vorsichtig mit der Hand an der Tunnel62
wand entlang. Schon wurde die Decke niedriger und niedriger. Bald hatte sie es geschafft. Schon spürte sie ein wenig Matsche unter ihren Füßen. Und da war es – fast stieß sie mit dem Kopf dagegen! Das Schlosstor! Vielleicht glaubten die Erdmuffel ja, ihr Erdschloss sei des Nachts ausbruchsicher verriegelt. Sie selbst brauchten sechs bis acht starke Erdmuffelmännchen, um das Eingangstor hochzustemmen. Aber für Lale war es ein Kinderspiel, das Tor aufzusperren. Als sie es geöffnet hatte, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Frische Luft! Im Laufe des Tages hatte sie es nicht mehr so sehr bemerkt, aber es roch bei den Erdmuffeln doch sehr – nun ja, erdmuffelig eben. Der Mond spendete ein freundliches Licht. Er schien nicht ganz so hell wie am vorigen Abend, aber hell genug, um sich einigermaßen zurechtzufinden. Lale schaute sich suchend nach ihrem Fahrrad um. Das Rad stand noch genau am selben Fleck neben dem Tunneleingang, wo sie es bei ihrer Ankunft hatte zurücklassen müssen. Vermutlich hatte es für die Erdmuffel nicht den allergeringsten Wert. Leider war das Rad inzwischen noch ein wenig tiefer in den Modder gerutscht. Aber Lale hatte ja den Dreh heraus, wie man Fahrräder aus der Matsche ruckelte. Einmal vorne geruckelt und einmal hinten, hauruck und plopp – und das Fahrrad war frei. Das erste Stück der Strecke musste sie schieben, aber bald schon wurde der Boden unter ihren Füßen fest genug, um wieder aufsteigen zu können. Es war Lales Glück, dass es eine so klare und kalte Winternacht war. Der Frost hatte für eine dünne Eis-Schicht auf dem Acker des Bleibens 63
gesorgt. Wo Lale bei wärmerem Wetter in die Matsche gesackt wäre, war der Boden jetzt knackig hart. Zwar stellenweise etwas glatt und rutschig, aber so kam sie umso schneller voran. Lale spürte keine Müdigkeit. Sie war begeistert, dass ihr die Flucht so schnell gelungen war. Nur einen Tag länger als geplant war sie bei den Erdmuffeln geblieben. „Aber ohne dich, Kalle, hätte ich es nicht geschafft“, sagte Lale. Bevor sie weiterradelte, streifte sie Kalle wieder einen von Julas Pulswärmern über. Damit hatte sie gewartet, bis sie beide in der Freiheit waren, damit Kalle im Notfall hätte wegfliegen können. Aber jetzt waren sie wohl weit genug vom Erdschloss entfernt. Kein Erdmuffel weit und breit. Kalle schmiegte sich behaglich in sein flauschiges Gewand. „Rulle-rull“, brummelte er, als Lale ihn auf die Lenkstange setzte. Es klang wie das Schnarchen der Erdmuffelkönigin.
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II. Das Feuer der Geschichten
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1. Kapitel in dem Lale einen blinden Passagier in ihrer Reisetasche entdeckt Nachdem Lale die Flucht vom Acker des Bleibens geglückt war, radelte sie die ganze Nacht hindurch bis zum nächsten Morgen. Sie wollte möglichst weit weg vom Acker des Bleibens gekommen sein, bevor sie eine erste Rast einlegte. Kalle saß wieder auf der Lenkstange. Er schlief. Zunächst spendete ihr der Mond ein zartes graues Licht, dann wurde es allmählich hell. Lale fuhr über hart gefrorene Felder, auf denen weißer Raureif lag. Sie folgte dem Lauf eines zugefrorenen Flusses, an dessen Ufer ab und an ein paar einsame, kahle Bäume standen. Flüsse entspringen oft einem Gebirge, dachte Lale. Vielleicht würde dieser sie direkt zum Berg des Abschieds führen? Eine Landstraße schien es hier weit und breit nicht zu geben. Es kam Lale vor, als nähere sie sich dem Ende der Welt. Und ab und an war ihr so, als höre sie ein dumpfes Stimmchen rufen. „Vorsicht! Hörst du, Vorsicht! Abschied mag ich nicht.“ Kalle war es nicht, der da rief. Er war ja eingeschlafen. Und es wäre auch nicht seine Art gewesen, sie zur Vorsicht zu ermahnen. Eher hätte er sie angefeuert, noch schneller in die Pedale zu treten. Im Vorüberradeln hielt Lale Ausschau nach dem geheimnisvollen Rufer, aber kein Tier und kein Mensch waren zu sehen. Doch immer, wenn sie glaubte, dass sie sich 67
das Rufen nur eingebildet hatte, meldete sich die Stimme erneut und mahnte zur Vorsicht. Lale schüttelte den Kopf. Der Schlafmangel, dachte sie. Da fängt man wirklich an, sich allerlei einzubilden. Ihr Schlafkämmerchen bei den Erdmuffeln fiel ihr ein. So ein bequemes Kopfkissen.…… An ihr Bett zu Hause bei Jula durfte sie erst gar nicht denken. Das hätte sie zu traurig gestimmt. „Mach dir keine Sorgen, Jula“, flüsterte Lale grimmig. „Ich schaffe es! Ich finde diesen Rumi Armut, bestimmt.“ Eine Weile war sie mit gesenktem Kopf gefahren, weil der Wind sie so kalt in die Wangen zwickte. Nun merkte sie, wie der Wind sich drehte und sie regelrecht vorwärts pustete. Sie brauchte gar nicht mehr zu treten, das Rad fuhr wie von selbst. Wie aus dem Nichts schien sich plötzlich eine Bergkette aus der Dämmerung vor ihr zu erheben. Und je näher sie kam, desto klarer konnte Lale alles erkennen. Es war nicht nur ein einzelner Berg, es war ein ganzes Gebirge, das rau und unwirtlich vor ihr in die Höhe ragte und ihr schließlich den Weg versperrte. An ein Weiterradeln war nicht mehr zu denken. Lale bremste und ließ den Blick schweifen. Direkt vor ihr erhob sich ein großer grauer Felsen, auf dem nicht das allerkleinste Pflänzchen oder Blümchen zu sehen war. Ein schmaler Pfad schien von hier aus geradewegs auf den Gipfel zu führen. Er war nicht so steil, als dass man nicht hätte hochsteigen können, aber zu steil, um hinaufzuradeln. Lale hatte keinen Zweifel daran, dass dies der Berg war, von dem Jula ihr erzählt hatte. Der Berg des Abschieds! 68
Sie beschloss, das Fahrrad unten stehen zu lassen. Es hatte keinen Sinn, es mühsam den ganzen Berg hochzuschieben, nur um es dann dort oben doch zurücklassen zu müssen. Jula hatte ihr ja erzählt, dass sie auf der anderen Seite des Berges an der goldenen Strickleiter herunterklettern musste. Sie schaute sich nach einem geeigneten Abstellplatz um. Ein Felsvorsprung unten am Berg bot einen natürlichen Unterschlupf. Dort war das Fahrrad vor Regen, Schnee und Wind einigermaßen geschützt. Nachdem sie es abgeschlossen und die Tasche vom Gepäckträger genommen hatte, spürte Lale, wie hungrig sie war. Sie beschloss, sich vor dem Aufstieg ein wenig zu stärken. Durstig griff sie nach ihrer Trinkflasche, in die sie Erdmuffelapfelsaft gefüllt hatte. In diesem Moment hörte sie wieder das weinerliche Stimmchen. „Vorsicht! Ich sag Vorsicht! Ach, ich armer Wicht.“ Lale guckte sich verdutzt um. Und da sah sie, wie sich Julas große Einkaufstasche mit der Strickleiter darin bewegte, als hätte sie Beine bekommen. Lale staunte nicht schlecht. Was war denn das? Die Tasche schwankte hin und her, kippte dann um und wackelte weiter, als würde jemand sie wie wahnsinnig kitzeln. Also so etwas! Und dann quoll Julas Strickleiter heraus. Aus ihren lockeren Maschen lugte ein grünes Hütchen hervor, das Lale entschieden bekannt vorkam, und in ihrem goldenen Schimmern blinkte es blau und rot. Sodann schob sich eine kleine, modderig grünbeige Patschhand hinterher. Das Stiefelputzererdmuffelchen! „Was machst du denn hier?“, fragte Lale verblüfft und 69
schrie im selben Moment auf. „Vorsicht! Pass doch auf! Du reißt ja die ganze Strickleiter entzwei!“ „Genau!“, stöhnte das Stiefelputzererdmuffelchen. „Volle-wolle-wolle!“ Auch Kalle schrie vor Schreck. Denn das Stiefelputzererdmuffelchen hatte sich derart in der Strickleiter verheddert, dass es drauf und dran war, das kostbare Stück bei seinem Versuch, sich daraus zu befreien, zu zerreißen. Je mehr es versuchte, sich aus dem Wollgespinst herauszuwinden, desto mehr verwickelte es sich nur darin. Und anstatt sich erst einmal ruhig hinzusetzen und Lale um Hilfe zu bitten, steigerte sich der kleine Kerl immer weiter in seine Panik hinein. Doch Kalle bewahrte die Nerven.
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„Kille-kolle-kolle, ich helf dir aus der Wolle. Nur hüpf doch nicht so tolle, wenn ich dich hier rausrolle .……“ Beruhigend sang er auf das Stiefelputzererdmuffelchen ein. Und sein Lied wirkte. Der Erdmuffel hörte mit dem sinnlosen Herumhopsen auf und hielt still. Da konnte Lale ihn vorsichtig aus dem goldenen Wollgespinst herauswickeln. Ein paar Sprossen der Leiter schienen gerissen oder zumindest etwas zerrupft zu sein, insgesamt aber war es wohl gerade noch einmal gut gegangen. „Was hast du denn hier verloren?“, fragte Lale in strengem Ton, als das Stiefelputzererdmuffelchen schließlich kleinlaut vor ihnen stand. „Genau“, schniefte ihr blinder Passagier. „Ich will wissen, was du hier suchst!“, schimpfte Lale. „Genau!“, schluchzte das Stiefelputzererdmuffelchen noch einmal. Lale seufzte. Der kleine Kerl musste sich wohl erst einmal beruhigen, bevor sie ihn ausfragen konnte. Sie brach die Hälfte ihres Erdmuffelbrötchens ab und wollte sie ihm geben, da zog er aus seiner Jackentasche ebenfalls ein Tütchen hervor. „Ich habe selbst Proviant mitgebracht“, sagte er. Und dann, während er Lale und Kalle von seinen Honigwaffeln abgab, gestand ihr blinder Passagier, dass er auch einmal etwas von der kunterbunten, runden Welt sehen wollte, von der Kalle ihm vorgesungen hatte. Im Erdschloss sei es immer so düster und muffelig, und immer und ewig müsste er die Stiefel der anderen putzen. Er hatte es satt. 71
„Wir Erdmuffel werden doch wohl auch einmal in die Sommerfrische reisen dürfen“, sagte das Stiefelputzererdmuffelchen trotzig. Dann verstummte es erschrocken. So eine lange Rede hatte es sicher noch nie gehalten. Und noch dazu, ohne ein einziges Mal das Wort Vorsicht zu benutzen. „Genau“, stimmte Lale ihm deshalb freundlich zu, obwohl von Sommerfrische bei diesem Frost wahrhaftig keine Rede sein konnte. „Das heißt, ich darf bei euch bleiben?“, fragte der Erdmuffel hoffnungsvoll. „Denkst du etwa, ich bringe dich zum Erdschloss zurück?“, sagte Lale. „Da habe ich entschieden etwas Besseres vor. Wenn du allerdings Unfug machst, musst du umkehren. Und zwar allein!“ „Ich bin ganz brav“, sagte das Stiefelputzererdmuffelchen verschämt und wischte sich mit dem Jackenärmel über die Nase. „Ich putze dir auch deine Stiefel, wenn du willst. Meine Bürste habe ich eingesteckt, für alle Fälle.“ Lale musste lachen. So würde sie den goldenen Brief an Rumi Armut mit geputzten Stiefeln überbringen. Vorausgesetzt, sie fand diesen Rumi Armut überhaupt.
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2. Kapitel in dem die drei Reisegefährten den Berg des Abschieds erklimmen Nachdem Lale mit Kalle und Muffelchen – so nannte sie ihren neuen Freund – einen kleinen Imbiss eingenommen hatte, machten sie sich an den Aufstieg des Berges. Die ersten hundert oder zweihundert Meter legten sie mühelos zurück, aber bald wurde der Weg so steil, dass der Aufstieg ihre ganze Kraft verlangte. Nebel zog auf, der so dicht war, dass man kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Da gab Kalle es auf, neben oder vor ihnen her zu fliegen und setzte sich auf Lales Rucksack. Verbissen kämpfte Lale sich voran. Es war nicht leicht, den schmalen Pfad hochzuklettern und gleichzeitig die große Tasche hinter sich her zu zerren. Eigentlich hätte sie ihre Hände ganz zum Abstützen gebraucht. Aber sie musste ja die Strickleiter mitnehmen, und in den Rucksack passte sie nicht. Lale war nur erleichtert, dass sie nicht auch noch Muffelchen in ihrer Tasche hochtragen musste. Der kleine Kerl kraxelte tapfer hinter ihr her. Manchmal hörte Lale, wie er stolperte und schimpfte. Ab und zu stieß er kleine Schreckensschreie aus. „Vorsicht! Ich sag Vorsicht! Denn hier ist kein Licht.“ Gelegentlich hörten sie, wie ein loser Stein, auf den einer von ihnen getreten war, polternd zu Tal kollerte. Lale war froh, dass niemand, und vor allen Dingen nicht sie selbst, unten an der Stelle stand, wo der Stein gleich auf73
schlagen würde. Man musste aufpassen, dass man nicht ausrutschte und wie einer dieser Steine ins Rollen kam. Denselben Gedanken schien auch Muffelchen zu haben. „Vorsicht, hörst du, Vorsicht! Damit man sich nichts bricht!“, rief er ihr zu. Lale ärgerte sich. Sie wusste schon selbst, dass sie aufpassen musste. Sie brauchte keinen Angsthasen, der sie ständig an die Gefahren erinnerte. Das machte sie nur nervös. „Muffelchen-Puffelchen, du nervst“, sagte sie. Kalle schien dasselbe zu denken, denn auch er schimpfte sofort zurück. „Krauze-rauze-bauze, Muff-Muffel, halt die Schnauze“, kollerte er. Muffelchen brach in Tränen aus und hockte sich auf den nächsten Stein. „Ich bleibe hier“, schluchzte er. „Ich kann nicht mehr! Wäre ich nur auf dem Acker des Bleibens geblieben!“ Lale tastete sich durch den Nebel zu ihm heran. Jetzt war nicht der Moment, um sich zu streiten oder auch nur zu diskutieren. Sie tätschelte Muffelchen aufmunternd den Rücken. „Dies ist zwar der Berg des Abschieds“, sagte sie. „Aber wenn ich Jula richtig verstanden habe, bedeutet das nicht, dass man sich auf diesem Berg voneinander trennt. Es heißt nur, dass man nach dem Berg des Abschieds, auf der anderen Seite, in eine andere Gegend kommt. Irgendeine komische Gegend, in die nicht jeder so einfach gelangt. Und jetzt nimm dich zusammen, Muffelchen!“ „Genau!“, piepste Kalle. Offenbar hatte er auf ihrer Rei74
se ein paar neue Wörter hinzugelernt. „Genau-genaugenauze!“ Da musste Muffelchen lachen, obwohl er es gar nicht wollte. Widerwillig erhob er sich von seinem Sitz und krabbelte weiter. Eine „Weile marschierten sie stumm hintereinander her. Lale hätte nicht sagen können, wie lange sie sich schon so vorwärts gekämpft hatten. Mit einem Mal, ganz unverhofft, lichtete sich der Nebel für einen Moment, und als sie den Kopf hob, konnte sie die Spitze des Berges ganz in der Nähe sehen. Lale konnte es gar nicht fassen. Bald hatten sie den Gipfel erreicht! Aber so sehr sie sich auch freute, sie war doch zu erschöpft, um laut „Hurra!“, zu rufen. Sie streckte nur den Arm aus und zeigte mit der Hand nach oben, damit Kalle und Muffelchen sich mit ihr freuen konnten. Weit und breit wuchs kein Baum und kein Strauch, nur ganz oben auf dem Gipfel stand ein großer Baum. Stolz, aber auch ein wenig abweisend reckte er ihnen durch den Nebel seine Äste entgegen. Während sich Lale dem Baum näherte, stellte sie etwas Merkwürdiges an ihm fest. Auf der Seite, von der sie kamen, waren die Äste des Baumes kahl. Auf der anderen Seite aber wuchsen kräftige grüne Blätter daran. Auf ihrer Seite waren Stamm und Äste klitschnass, auf der anderen Seite waren sie trocken. Als Lale den Baum erreichte, legte sie die Arme, so weit sie konnte, um den Stamm herum. Ganz herum reichten sie nicht, dazu war der Stamm zu dick. Während sie sich an der Rinde entlangtastete, fühlte sie, wie die Nässe unter ihren Händen plötzlich verschwand. Merkwürdig! Aber es 75
war gut, dass sie sich an dem Baum festhalten konnte, denn als sie sich an ihn lehnte und rechts und links an ihm vorbeilugte, sah sie, wie steil der Berg auf der anderen Seite abfiel. Da tat sich ein tiefer Abgrund auf. In dem Nebel war nicht zu erkennen, wie weit er hinunterreichte. Der Baum stand da wie gerufen. Irgendwo musste sie ja die Strickleiter befestigen, bevor sie daran hinuntersteigen konnte. Die ganze Zeit hatte sich Lale über dieses Problem schon den Kopf zerbrochen. Aber nun war die Antwort ganz einfach. Sie brauchte nur das Ende der Strickleiter um den Stamm herumzuschlingen. Oder den Anfang der Strickleiter, je nachdem, von welcher Seite man die Dinge betrachtete. Der Baum schien fest genug in der Erde verwurzelt zu sein, um ihr Gewicht beim Abstieg halten zu können. Aber was war mit Muffelchen? Würde sich der kleine Kerl allein an der Leiter herabhangeln können? „Auf keinen Fall“, protestierte der Erdmuffel und stampfte zur Betonung einmal kräftig mit dem Fuß auf. „Das mach ich nicht. Wir Erdmuffel haben alle den Höhenkoller.“ „Holle-rolle-kolle.……“ Kalle wollte noch weiter lästern, aber er hielt den Schnabel, als Lale ihn streng ansah. Jetzt ist nicht die Zeit, jemanden noch einmal zu Tränen zu reizen, bedeutete ihr Blick. Vorsichtig zog Lale Julas goldene Strickleiter aus der Tasche heraus. Mit ein paar kräftigen Knoten band sie das eine Ende der Leiter am Baumstamm fest. Dann wickelte sie sie behutsam auseinander und ließ sie über den Abhang 76
hinabgleiten. Dass die Leiter nur ja nicht weiter riss! Und hoffentlich war sie lang genug für den Abstieg. Jula war sich da nicht so sicher gewesen. Sie war ja nicht ganz fertig geworden. Als die Leiter fast gänzlich im Nebel verschwunden war, schaute Lale ihre Reisegefährten streng an. „Ab sofort keine Faxen mehr!“, ermahnte sie die beiden. „Kalle, du setzt dich oben auf den Rucksack. Halte dich fest. Muffelchen, ab mit dir in die Reisetasche. Ich trage dich. Aber wehe, du zappelst. Dann stürzen wir womöglich alle zusammen in die Tiefe.“ „Hulle-kulle-rulle“, fing Kalle wieder an, verstummte aber sofort, als Lales Blick ihn traf.
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3. Kapitel in dem die drei Reisegefährten den Berg des Abschieds hinter sich lassen Lale atmete noch einmal tief durch, dann kniete sie nieder und ließ sich vorsichtig auf die Strickleiter hinab. Da es so neblig war, konnte sie nicht genau sehen, wo sie hintreten musste. Deshalb tastete sie vor jedem weiteren Schritt behutsam mit dem Fuß nach der nächsten Sprosse der Leiter, auf die sie ihr Gewicht verlagern konnte. Sie passte genau auf, dass sie keine der zerfetzten Sprossen erwischte. Nachdem sie schon einige Meter in die Tiefe hinabgestiegen war, bemerkte Lale, dass von der Leiter ein warmes Glimmen ausging. Sie leuchtete in einem wunderschönen sonnigen Gold. Tatsächlich, der Nebel lichtete sich! Und je tiefer Lale stieg, desto wärmer wurde es. Und heller wurde es eben auch. Erst war es nur das Strahlen, das von der Leiter ausging. Bald aber hatte Lale das Gefühl, als sei der ganze Berg in goldenes Licht gehüllt. 78
Trotzdem konnte man noch nicht richtig erkennen, wohin man trat. Hatte der Nebel die Umgebung in ein schmutziges Grau getunkt, so leuchtete jetzt zwar alles ringsherum golden, aber auch das verschaffte ihr keine klare Sicht. Immerhin würde sie, wenn sie stürzte, nicht mehr in ein dumpfes Nebelmeer fallen, sondern in glitzernde Sonnenstrahlen. Aber ob die einen Sturz besser abpolstern konnten? Mit diesen Gedanken ließ sich Lale weiter vom Berg des Abschieds hinab. Und dann, plötzlich, hatte sie das Ende der Leiter erreicht. Aber noch nicht das Ende des Berges! So sehr sie mit dem Fuß auch umhertastete, da war rein gar nichts. Nirgendwo ein Halt für ihre Füße. Und weil das Licht so blendete, sah sie auch nicht, wie weit es noch bis nach unten war. Was sollte sie jetzt nur tun? „Kulle-rulle Mulle“, gurrte Kalle boshaft. Sollte das etwa heißen: Wir schmeißen Muffelchen runter und warten ab, wie laut er „Aua!“, schreit? „Das kommt nun wirklich nicht in Frage“, sagte Lale laut. Ein gedämpftes „Vorsicht!“, war trotzdem aus der Tasche heraus zu hören. Lale hatte eine bessere Idee. Kalle musste ihr Kundschafter sein! Nur er konnte ohne Probleme nach unten fliegen, gucken, wie weit es noch war und wo man sanft landen könnte, und dann wieder zurückkommen und ihr alles berichten. Und so machten sie es. „Kalle-ralle-ralle“, zwitscherte der Vogel, und dann war er fort, nicht mehr zu unterscheiden von den goldenen Lichtstrahlen, die sie umgaben. 79
Ab und zu rief Lale nach Kalle und war glücklich, wenn sie ihren Freund antworten hörte. Das klappte ja wunderbar! Schneller als sie erwartet hatte, streifte eine Feder sacht ihre Wange. Ihr kleiner Freund war zurück! „Golle-bolle-rolle“, rief er aufgeregt. Der Boden war nicht mehr weit. Dennoch merkte Lale, wie die Angst in ihr aufstieg. Dass Muffelchen in diesem Moment mehrmals „Vorsicht!“, krähte, erleichterte die Sache nicht. Aber sie konnte auch nicht ewig auf der schwankenden Strickleiter stehen bleiben. Tapfer zählte sie bis zehn – nein, bis elfeinhalb, bis zehn hatte sie eigentlich nur zählen wollen. Und dann stieß sie sich ab und sprang mutig hinab. Sie wirbelte durch goldenes Licht, sodass ihr schwindelig wurde und sie gar nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Und dann war sie schon mit einem kleinen Ruck auf ihrem Hosenboden gelandet. „Huch!“, sagte Lale und rieb sich erstaunt die Augen. Was war das denn gewesen? Sie hatte das Gefühl, als müsste sie ihren Kopf einmal kräftig schütteln, damit ihre Gedanken wieder an ihren richtigen Platz gerieten. Sie sprang auf ihre Füße und reckte sich kurz. Ihr ging es blendend. Sie hatte den Sturz überlebt. Aber wo war Muffelchen? Etwa zwanzig Meter von Lale entfernt lag Julas Reisetasche. Sie wackelte wieder, als sei ein Erdbeben in ihr ausgebrochen. Muffelchen bahnte sich seinen Weg an die frische Luft. Auch ihm war nichts zugestoßen. Kalle aber saß in der Nähe auf einem Zweig eines kleinen Rosenstrauches und zwinkerte ihnen vergnügt zu. Lale sah sich verblüfft um. Sie saß inmitten von Tulpen 80
und Osterglocken auf einer blühenden Frühlingswiese. Schmetterlinge und Bienen schwirrten friedlich umher, und auf dem dicken Apfelbaum, der in der Mitte der Wiese stand, sangen Vögel. Schon war Kalle zu ihnen geflogen und zwitscherte mit ihnen im Chor. Lale rief ihn nicht zurück. Dazu war sie viel zu erschöpft. Sie schloss die Augen und genoss, wie wunderbar friedlich es hier war, warm und ruhig und freundlich. Lale hatte keine Ahnung, wie spät es war. Sie wollte einen Blick auf ihre Armbanduhr werfen, aber in diesem Moment blendete sie ein Sonnenstrahl, den ihre Uhr widerspiegelte, so stark, dass sie das Ziffernblatt nicht erkennen konnte. Und es war ja auch ganz egal. Sie wusste nur eines: Sie war todmüde. „Weck mich, wenn was los ist, Kalle“, murmelte sie noch. Und dann streckte sie sich im warmen Gras aus und war auch schon eingeschlafen.
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4. Kapitel in dem Lale Peter aus dem Maibaum kennen lernt und zu Tulas Haus gelangt Als Lale aufwachte, war es noch immer hell. Das war merkwürdig, denn sie hatte das Gefühl, viele Stunden tief und fest geschlafen zu haben. Wie spät war es denn nun eigentlich? War es Nachmittag? Oder war es etwa schon ein ganz anderer Tag? Sie guckte auf ihre Armbanduhr. Zehn nach vier. Konnte das sein? Sie war so lange geradelt und dann den Berg hochgestiegen und wieder herunter, und sie hatte so lange geschlafen – einige Stunden bestimmt. Es musste doch eigentlich mitten in der Nacht sein? Und eigentlich hätte kalter Winter herrschen müssen. Hier aber war es warm, und es wehte ein lauer Frühlingswind, der irgendwie lecker roch. Nach Blumen und Blüten roch er und nach irgendetwas, das man noch nicht kannte. Aber man konnte es schon ahnen und sich danach sehnen. Etwas schien mit der Zeit nicht zu stimmen, und zwar sowohl mit der Uhrzeit als auch mit der Jahreszeit. Lale schüttelte verwundert den Kopf. Da hörte sie eine Stimme, die weder die von Kalle noch die von Muffelchen war. „Na, haste endlich ausgeschlafen?“ Sie erschrak. Ein paar Meter von ihr entfernt hockte im Gras ein Junge. Er sah aus wie einer der frechen Jungen aus ihrer Nachbarschaft, nur war er etwas jünger, als die Jungen waren. Ungefähr elf, schätzte Lale. Er hatte strubbelige blonde Haare und jede Menge Sommersprossen im 82
Gesicht. Seine blauen Augen blitzten unternehmungslustig. „Ich dachte erst, du wärst tot, als ich dich im Gras liegen sah“, sagte er. „Aber dann haste geschnarcht, wie man’s nur kann, wenn man noch lebt.“ Lale sprang empört auf. Schnarchen? Sie? Niemals! Sie war doch keine Großmutter! Und auch nicht der Erdmuffelkönig! Eine Frechheit! „Na, beruhige dich, das klang ja ganz allerliebst. Wer biste überhaupt?“ „Lale aus der Tulpenzwiebel“, antwortete Lale und ärgerte sich im selben Moment. Wie kam sie dazu, dem fremden Jungen so brav zu antworten? „Aber das geht dich entschieden nichts an“, fügte sie deshalb hinzu. Der Junge grinste. „Lale aus der Tulpenzwiebel, ja?“, lachte er. „Na, und ich – ich bin Peter aus’m Maibaum, weißte?“ „Aus dem Maibaum?“, fragte Lale neugierig. So etwas hatte sie ja noch nie gehört. „Na klar“, sagte der Junge. „Meine Mutter hat mich vom Maibaum gepflückt, im Nachbardorf, ist ja klar.“ Lale schaute den sommersprossigen Jungen interessiert an. Er war ein ziemlich langer Lulatsch. Ein Maibaum passte zu ihm. „Ist es noch weit bis zu deinem Dorf?“, fragte sie. „Oder zum Nachbardorf?“ „I wo“, sagte Peter. „Wenn du noch lange geschlafen hättest, hätte ich dich persönlich hingeschleppt. Ich kriege nämlich langsam Hunger auf Abendbrot.“ 83
„Abendbrot?“, wunderte sich Lale. „Es ist doch erst viertel nach vier.“ „Lebste hinter’m Mond oder spinnste immer so?“, fragte Peter. „Halb neun isses, jedenfalls nach Maibaumzeit.“ Lale warf noch einmal einen Blick auf ihre Armbanduhr. Die Zeiger zeigten immer noch zehn nach vier. Die Uhr war stehen geblieben. Kein Wunder, dass sie mit der Zeit durcheinander geraten war. „Also gehen wir“, sagte Lale. „Es wäre nett, wenn du mich mitnehmen könntest.“ „Klar“, sagte Peter. „Wo kommste eigentlich her?“ Lale presste die Lippen aufeinander. Das ging ihn nun wirklich nichts an. Aber unwillkürlich drehte sie sich um und schaute zum Berg des Abschieds hinüber, der immer noch von Nebelschwaden umgeben war. Die Strickleiter war nicht zu sehen. Wie sollte sie nur je wieder dort hinauf gelangen? Man konnte ja nicht bis zur Leiter hochspringen. Ob sie überhaupt je zu Jula zurückkehren würde? Lale wurde es ganz mulmig zumute. Peter war ihrem Blick gefolgt. „Ach du meine Fresse“, sagte er. „Du bist doch nicht etwa vom Berg runtergefallen?“ „Gefallen nicht“, sagte Lale schlicht. „Aber gesprungen.“ „Ach du meine Fresse, ich glaub es nicht“, sagte Peter noch einmal. Kopfschüttelnd griff er nach ihrem Rucksack und stapfte in die andere Richtung, quer über die Frühlingswiese. Lale rief Kalle und Muffelchen herbei und machte sich gemeinsam mit ihnen auf den Weg. 84
Nach den Erlebnissen der letzten Tage war der Weg über die Frühlingswiese bis ins nächste Dorf ein angenehmer Sonntagsspaziergang. Peter trug Lales Rucksack. Es tat richtig gut, nur so zum Spaß vor sich hin zu schlendern, dachte Lale. Nur eines war merkwürdig. Sie hatte plötzlich das Gefühl, als ob ihre Pluderhose ein bisschen rutschte. Alle paar Schritte musste sie sie wieder etwas hochziehen. Und ihr Pullover, der vorher wie angegossen gepasst hatte, schlotterte. Sie krempelte die Ärmel um, damit sie nicht über das Handgelenk rutschten. Ob die Wolle durch den Sprung ausgeleiert war? Dass sie selber geschrumpft war, konnte ja wohl nicht sein! Kalle flog ihnen voraus, setzte sich ab und an auf einen Zweig oder einen Stein, der am Wegesrand lag, und wartete auf sie. Muffelchen trottete hinterher. Ab und zu jammerte er: „Vorsicht, Lale, Vorsicht! Denn du kennst ihn nicht!“ Aber Lale kümmerte sich nicht darum. So frech der Junge auch war, sie hatte doch das Gefühl, dass man ihm vertrauen konnte. Wie sich herausstellte, kannte Peter sogar diese Tula, die Lale als Erstes aufsuchen sollte. „Ehrensache, ich bring dich hin“, sagte er. „Tula wohnt ja nur drei Häuser weiter von mir.“ „Wohnst du denn ganz allein?“, fragte Lale. „Na ja“, antwortete Peter. „Wie man’s nimmt. Bei mir ist gerade alles ein bisschen durcheinander geraten. Ich kenn mich selbst nicht mehr richtig aus. Aber die Tula besuch ich regelmäßig. Die backt den leckersten Butterkuchen überhaupt.“ 85
„Das glaube ich nicht“, widersprach Lale. „Den besten Butterkuchen backt entschieden meine Großmutter Jula.“ „Wirst es sehen“, sagte Peter. „Vielleicht können wir sie überreden und sie backt welchen an Ostern.“ 86
„Ostern?“, fragte Lale. „Wir hatten doch gerade erst Weihnachten. Bei mir jedenfalls war zuletzt Januar. Und hier ist schon Ostern?“ „Ich glaube, du kommst wirklich von hinterm Mond,“, meinte Peter. „In drei Tagen ist Ostern. Weihnachten kommt später dran. Vielleicht kannste übermorgen auch zum Osterfeuer kommen. Da hörste immer die besten Geschichten. Dass ich aus’m Maibaum stamme, habe ich vor ein paar Jahren auch da gehört.“ Sie waren an Peters Haus angekommen. Es sah ziemlich windschief und ungepflegt aus. Lale bekam Mitleid mit dem älteren Jungen. „Ich bringe dich noch bei Tula vorbei“, sagte Peter. Tula wohnte tatsächlich nur drei Häuser weiter. Ihr Häuschen war von einem hübschen Garten umgeben. Es sah ganz anders aus als das Haus, in dem Peter wohnte. Ein bisschen so wie bei Jula und ihr zu Hause, als sie noch die Gärtnerei gehabt hatten. Es gab auch einen kleinen Kräutergarten, aus dem es wunderbar duftete, und weiter hinten im Garten standen mehrere Obstbäume in voller Blüte und kündigten für den Sommer jede Menge Kirschen, Äpfel und Pflaumen an. Doch, genau wie bei Jula. Peter öffnete das Gartentor und ging voran. Er läutete an der Klingel neben der Tür. Es dauerte nicht lange, da wurde die Tür geöffnet und eine patent aussehende Frau kam heraus. Als sie Lale sah, stutzte sie. „Das ist Lale“, sagte Peter. „Wir haben uns auf der Wiese getroffen, und da stellte sich heraus, dass sie dich besuchen wollte. Lale, hier bist du richtig.“ 87
„Guten Tag“, sagte Lale und hielt der Frau die Hand entgegen, aber die streckte gleich beide Arme nach ihr aus, fasste sie mit den Händen an den Schultern und zog sie zu sich heran. Dann hielt sie Lale ein wenig von sich fort und guckte sie prüfend an. „So eine Überraschung“, sagte sie. „Du siehst ja der Ulla wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich.“ Damit drückte sie Lale wieder an sich. „Tja, ich geh dann mal“, sagte Peter und trottete mit gesenktem Kopf Richtung Gartentor. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis die Frau reagierte. „Warte mal, Peter“, rief sie ihm nach. „Ich meine, danke schön. Komm doch morgen zum Kaffeetrinken, hörst du?“ Am Gartentor blieb Peter stehen und hob den Kopf. „Gibt’s Butterkuchen?“, grinste er. „Dann komm ich um drei.“ Er winkte ihnen zu, aber die Frau antwortete ihm nicht, sondern kümmerte sich schon wieder um Lale. Freundlich legte sie einen Arm um ihre Schulter und schob sie in ihr Häuschen hinein. „So eine Überraschung! Wer hätte das gedacht!“, sagte sie. „Und was bist du groß geworden!“ „Kennst du mich denn?“, fragte Lale. „Aber sicher, mein Kind. Du bist doch die Lale aus der Tulpenzwiebel. Julas Enkeltochter!“ „Dann kennst du auch Jula?“, fragte Lale. „Aber sicher doch“, nickte die Frau. „So gut wie mich selbst kenne ich sie. Aber nun zieh dir erst mal die Schuhe aus und komm rein in die gute Stube. Du hast doch sicherlich einen Bärenhunger, oder? Magst du Nudelauflauf? Ich 88
habe noch einen kleinen Rest im Ofen. Dazu gibt es grünen Salat.“ Lale nickte. Es stimmte, sie war hungrig und durstig, und dass Tula in Windeseile einen Nudelauflauf herbeizaubern konnte, war wunderbar. Auch Muffelchen ließ es sich schmecken, und Kalle machte sich gierig über den grünen Salat her. Nach dem Essen bereitete Tula für Lale ein warmes Bad, und Lale schlief schon fast ein, während sie im blauen Badeschaum untertauchte. Nach Rumi Armut fragte Lale an diesem Abend nicht mehr. Sie war zu müde. Das musste bis morgen warten.
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5. Kapitel in dem Tula von Rumi Armut nichts wissen will und Lale und Peter sich über Butterkuchen zanken Am nächsten Morgen beim Frühstück hatte Lale endlich Gelegenheit, diese Tula genauer in Augenschein zu nehmen. Gestern Abend war sie auch dazu viel zu müde gewesen. Jetzt aber sah sie sich ihre Gastgeberin genauer an, während diese in der Küche hin und herlief, den Frühstückstisch deckte, Kaffee kochte und Brot abschnitt. Es war verblüffend, wie sehr Tula ihrer Jula ähnelte. Gewiss, sie war etwas jünger als Jula und schien ein wenig kräftiger und stärker zu sein. Ihre Brillengläser waren dünner, und ihre Haare waren nicht nur grau, sondern hatten rotbraune Strähnen. Aber eine gewisse Ähnlichkeit war nicht zu übersehen. Tula sah aus wie Julas jüngere Schwester, fand Lale. Aber sie behielt diesen Gedanken für sich. Nachdem sie mehrere Brote mit selbst gemachter Erdbeerkonfitüre in sich hineingestopft hatte, dachte Lale, dass nun der richtige Zeitpunkt gekommen war, um Tula nach Rumi Armuts Adresse zu fragen. „Jula hat mich zu dir geschickt, weil nur du mir weiterhelfen kannst“, begann sie. Tula lächelte freundlich. „Natürlich, mein Kind. Jederzeit. Ich helfe dir gerne“, sagte sie. „Was soll ich tun?“ „Ach, tun brauchst du gar nicht so viel“, meinte Lale. „Ich brauche nur eine Auskunft.“ 90
„Jederzeit“, versprach Tula noch einmal und schaute sie erwartungsvoll an. Aber als Lale dann erzählte, sie solle einen goldenen Brief an Rumi Armut überbringen, verdüsterte sich Tulas Gesicht. Sie kniff die Augen eng zusammen und ihr Mund wurde ganz schmal. „Rumi Armut?“, sagte sie. „Nie gehört. Was ist das denn für ein komischer Name.“ Komisch fand Lale den Namen eigentlich nicht. Im Gegenteil, der Vorname Rumi klang doch richtig hübsch. Und Armut -naja, das klang vielleicht nicht so gut, aber für seinen Namen konnte man schließlich nichts. Und es bedeutete ja nicht, dass einer, der so hieß, auch wirklich arm sein musste. „Jula sagte, du wüsstest, wen ich meine“, wandte Lale ein. „Papperlapapp“, sagte Tula barsch. „Diesen Namen kenne ich nicht. Und ich will ihn in meinem Leben auch nicht ein einziges Mal mehr hören.“ Und damit stand Tula auf und fing an, den Tisch abzuräumen. In diesem Augenblick wurde Lale klar, dass Tula log. Natürlich kannte sie Rumi Armut. Sie wollte nur aus irgendeinem Grund nicht an ihn erinnert werden und nicht über ihn sprechen. Jetzt sah Tula genauso aus wie Jula, wenn sie in Ruhe gelassen werden wollte. Aber haargenau. Genauso hatte Jula geguckt, als Lale wissen wollte, was Jula abends immer so lange machte. Natürlich wollte Lale nicht so einfach aufgeben. Aber 91
sie spürte, dass es im Moment keinen Zweck hatte, weiterzubohren. Tula würde nichts mehr sagen. Es war geschickter, abzuwarten, bis wieder ein geeigneter Moment kam. Vielleicht am Nachmittag beim Kaffeetrinken? Pünktlich um drei Uhr erschien Peter. In der Hand hielt er eine dicke gelbe Blume, die den Osterglocken aus Tulas Vorgarten verdächtig ähnlich sah. Als Lale Peters Blick auffing, grinste er frech und zwinkerte mit seinen blauen Augen. „Verrate mich bloß nicht“, schien sein Blick ihr sagen zu wollen. Aber was er wirklich sagte, war etwas ganz anderes. „Was riecht denn hier so komisch? Irgendwie angebrannt.“ In diesem Moment bemerkte Lale es auch. Das war doch nicht etwa Tulas Butterkuchen? Er hatte vorhin, als Tula das Kuchenblech in den Backofen schob, sehr appetitlich ausgesehen und auch sehr lecker gerochen. Fast genauso gut wie Julas Butterkuchen. Jetzt aber zogen dicke Rauchschwaden aus der Küche und man hörte Tula und Muffelchen abwechselnd husten und rufen. „Vorsicht, Vorsicht! Denn das schmeckt doch nicht!“ „Um Himmels willen, schnell! Den Ofen ausgestellt!“ „Aua, meine Hand! Die ist auch angebrannt!“ „Die Topfhandschuhe! Dort!“ „Ich geh lieber fort! Schmerz lass nach, die Pfote!“ „Pass auf, sonst gibt es Tote!“ „Du meine Fresse“, murmelte Peter. „So was hab ich ja noch nie erlebt. Der ist hinüber, glaub ich.“ 92
Lale wusste nicht, ob er den Kuchen oder Muffelchen meinte. Weitere Schreckensschreie waren aus der Küche zu hören, aber auch andere Geräusche, bei denen man nur raten konnte, was gerade geschah. „Kaltes Wasser, hier! Komm her, du armes Tier!“ „Immer hab ich Pech!“ „Ach, das schöne Blech!“ Erstaunlicherweise war der Kuchen nicht ganz und gar hinüber. Sicher, etwa die Hälfte war nicht mehr zu retten, die Mandelscheibchen und die Zuckerstreusel obenauf waren schwarz verbrannt und mussten abgekratzt werden. Aber es blieb doch ein halbwegs ansehnlicher Rest, den man sich schmecken lassen konnte. Bald saßen sie alle um den schön gedeckten Kaffeetisch herum, Tula und Peter und Lale, Kalle, der von einem Ausflug in Tulas Garten zurückgekehrt war, und Muffelchen. „Jetzt weißte, was ich meine“, sagte Peter. „Tulas Butterkuchen ist der beste in der Welt! Sogar wenn er angebrannt ist.“ „Julas Butterkuchen ist allerdings auch entschieden lecker“, sagte Lale. „Sogar wenn er nicht angebrannt ist.“ Sie wollte ja nicht unhöflich sein. Aber diese Tula sollte sich nicht zu viel einbilden. Tula wirkte sehr nervös. Und als Lale sie so ansah, kam ihr die Idee, dass Tula vielleicht schon nervös gewesen war, bevor der Kuchen verbrannte. Dass sie also nicht erst hinterher nervös geworden war. Und wenn das stimmte, dann war der Kuchen genau deswegen verbrannt. Lale spürte, dass es dafür nur einen Grund geben konnte. 93
Tula war nervös, weil Lale zu Rumi Armut wollte. Und das war etwas, was Tula ganz und gar nicht passte. Vor allem aber war Tula nervös, weil sie spürte, dass sie Lale nicht aufhalten konnte. Es war deshalb ein guter Zeitpunkt, um das Gespräch noch einmal auf Rumi Armut zu bringen. Lale konnte ja – ganz unschuldig – so tun, als ob sie Peter nach dem Unbekannten fragen wollte. „Stell dir vor, Peter“, fing Lale an, „meine Großmutter Jula will, dass ich einen Brief überbringe. Rumi Armut heißt der Mann, für den der Brief ist. Leider kennt meine Großmutter seine Adresse nicht mehr. Sie meinte aber, dass Tula sie wissen müsste.“ Dabei sah sie ihre Gastgeberin fragend an. Tula schaute auf ihren Teller. „Rumi Armut! Hast du den Namen zufällig mal gehört, Peter?“, fragte Lale mit ihrer unschuldigsten Stimme. „Rumi Armut?“, fragte Peter und legte die Stirn in Falten. „Es geht nicht darum, sich zu erinnern“, behauptete Tula. „Wenn ich sage, ich weiß die Adresse nicht, dann weiß ich sie nicht. Und dann will ich sie auch gar nicht wissen.“ „Aber warum denn nicht?“, hörte Lale sich fragen. Sie verstand diese Heimlichtuerei einfach nicht. Das war doch albern! Aber Tula fegte mit der Hand ein paar lästige Krümel vom Tisch, als wollte sie damit auch Lales lästige Fragen fortwischen. Und dann stand sie auf und ging mit abweisender Miene aus dem Zimmer. „Meine Fresse, warum triezt du sie denn so?“, knurrte Peter. „Merkste nicht, dass sie nicht darüber reden will?“ 94
„Aber warum denn nicht?“, wiederholte Lale noch einmal. „Weiß ich das? Sie will’s halt nicht. Ist doch egal, warum“, meinte Peter. „Bestimmt ist deswegen der schöne Kuchen verbrannt. Das ist ja noch nie vorgekommen. Das ist deine Schuld.“ „Ach, der Kuchen“, fauchte Lale. „Der von meiner Großmutter ist sowieso viel besser.“ „Glaub ich nicht“, sagte Peter. „Doch, doch“, sagte Lale. „Julas Butterkuchen ist entschieden besser. Er wäre sogar immer noch besser, wenn er angebrannt wäre!“ Da war Peter still.
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6. Kapitel in dem Peter vom Feuer der Geschichten schwärmt und Lale nicht hingehen darf Der nächste Morgen war der Ostersamstag. Lale, Kalle und Muffelchen gingen mit Tula auf den Markt. Aber sie gingen nicht hin, um dort etwas einzukaufen, sondern um selbst hinter einem Marktstand zu stehen. Jeden Samstag verkaufte Tula dort Blumen und Kräuter sowie Früchte aus ihrem Garten. Und jetzt im Frühjahr, wo sie noch kein Obst ernten konnte, verkaufte sie ihre selbst gemachte Marmelade in hübsch dekorierten Gläsern. Kein Wunder, dass Tula Lale entschieden an Jula erinnerte. Die beiden hatten ja sogar fast denselben Beruf. Nach einer Weile wurde es Lale langweilig, immer am selben Fleck zu stehen. Es war auch nicht so viel Betrieb an Tulas Stand, als dass sie unbedingt Lales Hilfe brauchte. Deshalb wollte Lale sich ein bisschen auf dem Markt umschauen. Tula bat Lale, bei der Gelegenheit noch ein paar Sachen fürs Osterwochenende einzukaufen, Brot, Käse und Schinken. Beim Bäckerstand traf Lale auf Peter, der eifrig damit beschäftigt war, Brotscheiben extra dick mit Butter zu bestreichen und dann in kleine Häppchen zu schneiden. Reiterchen, so nannte Jula solche Butterbrotstückchen. Lale sah, dass Peter ungefähr jedes zweite Reiterchen in seinem Mund verschwinden ließ. Als Peter sie sah, kniff er wieder verschwörerisch ein Auge zu. 96
„Hallo, Peter“, sagte Lale. „Halli-hallo“, sagte Peter. Mit gedämpfter Stimme raunte er ihr dann zu: „Verrat mich bloß nicht. Aber was soll man machen, wenn man Hunger schiebt? Wülste ‘n Stück probieren?“ Er hielt Lale den Teller mit den Reiterchen hin. „Hier. Ist extra für die Kundschaft da.“ Lale nahm gern ein Stückchen und kaufte dann ein ganzes Brot. „Siehste“, sagte Peter, „so funktioniert das. Ich ess denen hier nicht nur was weg, ich verkauf auch ganz ordentlich.“ Lale behielt für sich, dass sie sowieso ein Brot kaufen wollte. Wenn Peter auf diese Art und Weise etwas zu essen bekam, war es schließlich in Ordnung. Tula hatte ihr gestern Abend erzählt, dass sich seine Mutter nicht so um ihn kümmerte, wie es sich gehörte. Deshalb besuchte Peter Tula, sooft er konnte, half ihr im Garten und bekam etwas zu essen von ihr. Einen Vater hatte er nicht. Der hatte die Mutter mit dem Baby einfach im Stich gelassen. Aber Peter schien sich selbst nicht im geringsten Leid zu tun. Heute war er nur von einem einzigen Gedanken beseelt. Er wollte am Abend zum großen Osterfeuer gehen, zum Feuer der Geschichten, wie er es nannte. Und jetzt fragte er Lale, ob sie mitkommen wollte. „Besser, du erzählst Tula nichts davon“, warnte er. „Die ist nicht so für Geschichten. Aber vielleicht kannste dort sogar etwas über diesen Herrn Armut erfahren. Ich hab da schließlich auch was vom Maibaum gehört. Sag Tula einfach, wir gehen spazieren.“ 97
Diesem Rat folgte Lale nicht. Tula würde ihr doch nicht verbieten, zum Osterfeuer zu gehen, dachte sie. Als sie nachmittags in Tulas Küche saßen – Tula nähte gerade ein neues Gummiband in Lales Hose, damit sie nicht mehr rutschte –, erzählte sie ihr ehrlich von ihrer Verabredung mit Peter. Voller Vorfreude fragte sie, ob Tula auch mit zum Osterfeuer gehen wollte. Aber sie hatte nicht mit Tula gerechnet. Die wollte vom Feuer der Geschichten tatsächlich nichts hören, genau, wie Peter vorausgesagt hatte.
„Nichts da“, sagte Tula. „Dafür bist du noch zu klein, liebes Kind. Wir machen es uns zu Hause gemütlich.“ 98
Doch da hatte nun wiederum Tula nicht mit Lale gerechnet. Zu klein, um zum Osterfeuer zu gehen? Das war mit das Dümmste, was man ihr je einzureden versucht hatte. „Und ich gehe doch zum Osterfeuer“, sagte Lale. „Übermorgen gehe ich sowieso fort. Schließlich kann ich nicht ewig bei dir bleiben. Wenn mir niemand hilft, Rumi Armut zu finden, muss ich so schnell wie möglich zu Jula zurück.“ Tula seufzte. Es war ihr deutlich anzusehen: Sie wollte am liebsten, dass Lale für immer bei ihr bliebe. Lale seufzte auch, aber lautlos. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, dass ihr angst und bange war. Wie sollte sie je zu Jula zurückfinden? Von dieser Seite schien ihr der Berg des Abschieds unüberwindbar. Und dann müsste sie auch wieder bei den Erdmuffeln vorbei, die sie unbedingt auf dem Acker des Bleibens festhalten wollten. In diesem Moment sagte Tula: „Du brauchst doch gar nicht fortzugehen, Kind. Du kannst doch immer bei mir bleiben. Ich sorge schon für dich.“ Komisch, dachte Lale. Bei dieser Reise wollen alle, dass ich bei ihnen bleibe. Erst die Erdmuffel. Und jetzt Tula, die mich erst seit zwei Tagen kennt. Wenn sie auch dreimal behauptet, mich schon länger gekannt zu haben, ich kenne sie jedenfalls erst seit zwei Tagen. Lale würde auf jeden Fall zum Osterfeuer gehen! Laut aber sagte sie zu Tula: „Gefährlich? Zum Osterfeuer zu gehen? Ich glaube, es ist gefährlicher, gewissen Leuten beim Kuchenbacken zu helfen.“ 99
So, das hatte gesessen. Ihr reichte es mit „mein liebes Kind“ hier und „mein liebes Kind“ da. Vorsichtshalber schaute Lale in den nächsten fünf Minuten aber nicht zu Tula hinüber. Zu genau wollte sie nun lieber doch nicht wissen, wie sehr das gesessen hatte.
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7. Kapitel in dem Lale sich aus Tulas Haus davonschleicht und Muffelchen aus Lales Tasche ausbüxt An diesem Nachmittag war die Stimmung in Tulas Häuschen genauso wie daheim, wenn Lale mit Jula verschiedener Meinung war. So sehr sie sich auch lieb hatten, so etwas kam ab und an leider vor. „Willst du ein paar Ostereier bunt anmalen, Kind?“, hatte Tula Lale gefragt. Sicher meinte sie es von Herzen gut. Aber ihre Frage hörte sich an wie: „Jetzt male gefälligst die Eier an und gib dich damit zufrieden. Und vor allem lass mich mit Rumi Armut und dem Feuer der Geschichten in Ruhe.“ Trotzdem machte es Lale Spaß, die Eier für morgen schön anzumalen. Sie nahm sich vor, ein paar Eier für Peter zu verstecken. Seine Mutter dachte vielleicht nicht daran. Die lag ja anscheinend die meiste Zeit auf dem Sofa, und entweder weinte sie, weil sie so einsam war, oder sie schlief. Immerhin hinderte ihn keiner daran, wegzugehen wann immer er wollte. Da war keiner, der den Riegel vor die Haustür legte und meinte, es sei Schlafenszeit, höchste Eisenbahn. Aber auch keiner, der ihm übers Haar strich und ihm einen Gute-Nacht-Kuss gab und schöne Träume wünschte. Als Tula Lale Gute Nacht wünschte, hätte Lale sich beinahe verplappert. Um ein Haar hätte sie gestanden, dass sie 101
vorhatte, sich gleich davonzuschleichen. Das schlechte Gewissen plagte sie, schon bevor sie überhaupt etwas Verbotenes unternommen hatte. Sie war einfach zu brav. Darüber hatte sie sich schon manchmal geärgert. Nur war Muffelchen leider noch braver als sie. Und deshalb wollte Muffelchen sie jetzt nicht gehen lassen. „Vorsicht! Ich sag Vorsicht! Nein, ich lass dich nicht!“, quengelte er. „Pscht! Nicht so laut“, zischte Lale. Er würde noch Tula warnen, wenn er so weitermachte. „Feuer ist gefährlich“, greinte Muffelchen. „Ich habe es erst gestern an meiner Pfote bemerkt. Ich sag’s der Tula. Ich -“ Doch Lale hielt ihm mit beiden Händen den Mund zu, schnappte ihn und klemmte ihn sich unter den Arm. Ihr Blick fiel auf Julas große Reisetasche. Die kannte Muffelchen ja schon. Also nichts wie hinein mit ihm! Sie zog den Reißverschluss der Tasche zu. Jetzt konnte er nörgeln, so viel er wollte. Durch die Tasche hörte man ihn nur noch gedämpft. Leise öffnete Lale das Fenster, atmete die würzige Abendluft ein und sprang dann, mit der Tasche in der Hand, hinunter. Zwar lag ihr Zimmer in der oberen Etage, aber Tulas Häuschen war ja nicht sehr hoch. So landete sie unversehrt auf der grünen Wiese. Kein Vergleich mit dem Sprung, den sie von der Strickleiter am Berg des Abschieds gemacht hatte. Kalle kam leise heruntergeflogen und setzte sich auf ihre Schulter. 102
„Tolle-rolle-roll“, gurrte er. Aus der Reisetasche hörte man leises Jammern. Als Lale an Tulas Häuschen vorbeischlich, warf sie einen Blick durchs Wohnzimmerfenster. Sie sah Tula am Esstisch sitzen und in einer großen Schachtel kramen. Soweit Lale sehen konnte, schienen Fotos und Briefe darin zu sein. Vielleicht suchte Tula ja nach Rumi Armuts Adresse? Vielleicht hatte sie es sich noch einmal anders überlegt und half ihr nun doch? Sobald Lale außer Hörweite von Tulas Häuschen war, öffnete sie den Reißverschluss der großen Tasche, damit Muffelchen frische Luft bekam. Bald hatte sie die große Dorfwiese erreicht, auf der ein riesiger Holzstapel aufgeschichtet war. Bretter und Kisten, Baumstämme und Äste und sogar alte Tannenbäume, an denen noch die eine oder andere Kugel, ein Püppchen oder ein hauchzarter Goldfaden hingen. Oben auf dem Holzstapel ragte ein großer Stock in den Abendhimmel. Wie ein Mast auf einem Schiff sah das aus. An ihm war eine menschengroße Strohpuppe befestigt. Eine wahre Vogelscheuche! Die Puppe war mit einer ollen, grauen Bollerhose und einem verwaschenen, karierten Hemd bekleidet, und ein Witzbold hatte ihr einen knallroten Hut aufgesetzt. Wie eine Hexe, die gleich auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden sollte, dachte Lale. Das sah ziemlich gruselig aus. Da hörte sie eine Stimme hinter sich. „Halli-hallo!“ Es war Peter. Lale stellte die Reisetasche ab. Sie freute 103
sich, ihren neuen Freund wiederzusehen. Allein hätte sie sich in der Menschenmenge doch etwas unwohl gefühlt. „Na, wie findest du’s?“, fragte Peter. Es klang wie: „Ätsch, so was Tolles gibt es doch bei dir zu Hause nicht!“ „Gruselig“, sagte Lale wahrheitsgemäß. Peter lachte. „Die Puppe, das ist der Winter. So’n böser Wintergeist, weißte. Dem wird heute Abend der Garaus gemacht. Und ich -“, er klopfte sich mit der Daumenspitze gegen die Brust „- ich hab auch beim Ausstaffieren geholfen. Hübsch, ja?“ „Entschieden hübsch“, lobte Lale. „Hübsch gruselig jedenfalls.“ „Komm, gehen wir näher ans Feuer heran“, schlug Peter vor. Lale griff nach der Reisetasche, um Muffelchen weiterzutragen. Aber was war das? Die Tasche war plötzlich federleicht! Das war doch – Lale nahm die Tasche in beide Hände, riss sie weit auf und schaute mit entsetzten Augen hinein. Die Tasche war leer. Muffelchen war verschwunden.
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8. Kapitel in dem die Freunde Muffelchen suchen und Muffelchens Hut verbrennt Lale und mit ihr Kalle und Peter bekamen einen Riesenschreck. Weit und breit keine Spur von Muffelchen. Hatte ihn jemand entführt? Erdmuffelkidnapper und Erdmuffelklauer, gab es die wohl? Oder war Muffelchen freiwillig weggelaufen? Der geborene Ausreißer war er ja eigentlich nicht. In Lales Schrecken mischte sich ihr schlechtes Gewissen. Hätte sie nur besser auf ihren Reisegefährten Acht gegeben! „Du gehst rechts herum, Peter, und ich gehe links herum“, bestimmte sie. „Und Kalle hält Ausschau von oben.“ Und so machten sie es. Aber so sehr sie auch suchten, andere Leute fragten und immer lauter und verzweifelter nach ihrem Freund riefen, Muffelchen blieb verschwunden. Auch Kalle, der mehrmals über die Menschenmenge und den Holzstapel hinwegflog, konnte nirgends ein grünes Hütchen erspähen, das noch dazu rot und blau blinkte. „Das Feuer soll gleich angezündet werden“, sagte Peter, als sie sich wieder begegneten. „Ich muss zu meinen Kumpeln.“ „Du kannst mich doch jetzt nicht allein lassen“, maulte Lale. „Du bist ja nicht allein“, meinte Peter. „Kalle ist auch noch da. Und bestimmt taucht Muffelchen bald wieder auf. Ich hab nun mal versprochen, dass ich beim Anzünden helfe.“ 105
„Was gibt es denn da groß zu helfen?“, ärgerte sich Lale. „Einer hält ein Streichholz ran, und basta!“ „Du hast ja keine Ahnung“, sagte Peter. „Erst mal klopfen wir mit dicken Stöckern nochmal den ganzen Holzstapel ab. Um die kleinen Tiere zu verscheuchen, die sich da womöglich schlafen gelegt haben. Igel und Eichhörnchen, ‘n Marder ist auch mal dabei, und jede Menge Mäuse sowieso. Die sollen schließlich nicht mit im Feuer verbrennen.“ Damit schnappte er sich einen dicken Stock, den ihm ein größerer Junge gerade entgegenhielt, und ließ sie einfach stehen. Lale ärgerte sich. Natürlich war es wichtig, die kleinen Tiere aus ihrem gefährlichen Unterschlupf zu vertreiben. Aber sie ärgerte sich trotzdem. Denn eigentlich hätte sie Peter gern geholfen. Sie stampfte einmal mit dem Fuß auf. So, jetzt fühlte sie sich besser. Sie wollte doch beim Osterfeuer keine schlechte Laune haben. Genau wie Peter gesagt hatte, flohen etliche kleine Tiere aus dem Holzstapel, sobald die Jungen mit ihren Stöcken und Knüppeln dagegenschlugen. Dann kam ein größeres Mädchen mit einer Fackel und hielt sie gegen den Stapel. Schon leckten die ersten Flämmchen an einigen kleineren Zweigen und Scheiten. Ein alter Tannenbaum fing Feuer. Da! Noch einer! An allen Ecken und Enden begann es jetzt auf dem Holzstapel zu glühen und zu flackern. „Jippie! Es brennt!“, schrien einige Kinder in der Menschenmenge, und auch die Erwachsenen staunten und freuten sich. Doch plötzlich mischte sich ein klägliches Jammern in die Freudenschreie. 106
„Vorsicht! Nein! Oh, Vorsicht! Nein! Mir qualmt ja schon das Mäntelein!“ Es war Muffelchen! Vor Entsetzen schrien einige der Umstehenden laut auf. „Jemand ist noch darunter!“ „Um Gottes willen!“ „Ein Kind!“ Und jetzt stand schon fast der ganze Holzstapel in Flammen, und wer auch immer darunter saß, dem war der Fluchtweg abgeschnitten. Die Flammen züngelten und loderten, und die ersten Umstehenden traten schon zwei Schritte zurück, weil es ihnen in der Nähe des Holzstapels zu heiß wurde. „Um Gottes willen! Muffelchen!“ Lale merkte gar nicht, wie laut und verzweifelt sie schrie. Wenn Muffelchen etwas zustieß! Das würde sie sich nie verzeihen! Was sollte sie nur tun? Wieder war das Wehklagen aus dem Inneren des Holzstapels zu hören. „Vorsicht! Feuer! Vorsicht! Glut! Oh, mir brennt ja schon der Hut!“ Und wieder schrien die Menschen in der Menge entsetzt auf. Da sah Lale, wie Peter beherzt mit seinem Stock unten in den Holzstapel hineinstieß und ein paarmal kräftig darin herumstocherte. Mit dem Fuß trat er ein paar Scheite und Bretter zur Seite. Eines der Bretter schnappte er sich und stocherte damit weiter. Es qualmte furchtbar, und der Rauch biss ihr in den Augen, sodass Lale kaum sehen konnte, was Peter tat. Er fasste doch tatsächlich mit dem Arm mitten in 107
die von ihm geschaffene Öffnung unten im Holzstoß hinein und zog Muffelchen am Schlafittchen hinaus.
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Muffelchens Hut brannte inzwischen lichterloh. Mit einem energischen Schubs fegte Peter das Hütchen von Muffelchens Kopf herunter. Es flog zu Boden, und ein Mann, der daneben stand, sprang mit seinen derben Stiefeln darauf und erstickte die Flammen, während Peter sich über die Fingerkuppen seiner rechten Hand pustete. Auch der Ärmel von Peters Windjacke kokelte ganz bedenklich. Lale stürzte herbei, riss den Reißverschluss auf und zerrte Peter die Jacke vom Körper. Peter schaute sie verblüfft an. Dann starrte er auf den Anorak. Jetzt erst sah er, was mit dem Ärmel passiert war. Und jetzt erst fühlte er den Schmerz an seinem Arm. „Meine Fresse!“, sagte er und rieb sich mit der linken Hand den rechten Ellenbogen. „Gerade noch mal gut gegangen, was?“ „Aber Muffelchen“, sagte Lale. „Was hast du dir denn dabei gedacht?“ Muffelchen stand heulend vor ihr. „Entschuldigung“, jammerte der arme Kerl. „Das wollte ich ja nicht. Ich wollte ja überhaupt nicht mit zum Feuer. Und deshalb bin ich aus der Tasche herausgeklettert, um zurück zu Tula zu laufen. Aber dann waren plötzlich so viele Leute um mich herum, und da bekam ich noch mehr Angst. Und da wollte ich mich ganz schnell verstecken.“ „Verstecken ist gut“, meinte Peter. „Aber doch nicht im Osterfeuer!“ Lale tat es schon Leid, dass sie Muffelchen angeschnauzt hatte. Es hatte keinen Sinn, jetzt noch mit ihm zu schimpfen. Das schreckliche Erlebnis unter dem Holzstapel 109
war schließlich Strafe genug. Wichtiger war es, Peter für seinen tapferen Einsatz zu danken. Das schienen auch einige der Erwachsenen zu denken. Der Mann, der Muffelchens brennenden Hut gelöscht hatte, klopfte Peter gerade anerkennend auf die Schulter. „Prima gemacht, Junge“, sagte er. Er griff in seine Hosentasche, zog zwei Geldscheine heraus und drückte sie Peter in die Hand. „Nimm man ruhig“, sagte er. „Kannst ‘ne neue Jacke gebrauchen.“ „Und ich geb auch was dazu“, sagte eine Dame auf der anderen Seite. „Ich auch!“ „Hier, bitte, von mir!“ „Meine Fresse“, sagte Peter. „So viele Anoraks brauch ich nun auch wieder nicht. Aber trotzdem, danke.“ „Schade, dass dein Hut verbrannt ist“, sagte Lale zu Muffelchen. „Sonst könnten wir damit sammeln gehen.“ „Dafür putz ich euch die Schuhe, wenn wir gleich bei Tula sind“, schniefte Muffelchen. „Aber blitzblank. Und dann erzähl ich euch, was ich im Feuer gehört habe. Das Feuer hat nämlich den Namen Rumi Armut gezischelt.“
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9. Kapitel in dem Lale und Peter dem Feuer der Geschichten lauschen Als Muffelchen nachmachte, wie das Feuer den Namen Rumi Armut gewispert und gezischelt hatte, fing Lales Herz an wie wild zu klopfen. Dachte Muffelchen etwa allen Ernstes, sie würden jetzt nach Hause gehen? Das kam überhaupt nicht in Frage. Sie mussten hierbleiben und dem Feuer lauschen. Lale ließ sich mit Peter auf einer Holzkiste nieder, die er extra für sie als Sitzbänkchen mitgebracht hatte. Auch für Muffelchen und Kalle war darauf noch Platz. Deshalb waren sie schließlich heute Abend zum Osterfeuer gekommen. Um gemeinsam mit den anderen Menschen das Ende des Winters zu feiern. Das Ende eines Winters, der für Lale anders als alle anderen Winter zuvor gewesen war. Und der außerdem auf merkwürdige Weise viel schneller als die anderen geendet hatte. Die Zeit von Ende Januar bis Mitte April hatte sie ja glatt übersprungen, oder nicht? Das Knistern und Knastern des Feuers riss sie aus ihren Gedanken. Wenn man genau hinhörte, raschelte und knackte es an allen Ecken und Enden. Das war ein Glimmen und Glühen und Funkensprühen, dass einem ganz schwindelig werden konnte. Und wenn man noch genauer hinhörte, konnte man in dem Rasseln und Prasseln sogar einzelne Stimmen vernehmen. 111
„Fürchte dich nicht, für dich leuchtet mein Licht“, lud ein freundliches orangenes Flackern sie ein. „Komm, hüll dich hinein. Ich wärme dich fein“, lockte ein rotviolettes Flämmchen. „Doch Vorsicht! Komm ja nicht zu dicht!“, höhnte eine giftgrüne Flamme. „Wir brennen und stechen und rächen!“ „Wen wir verdammen, der kriegt ein paar Schrammen!“, kicherte eine weißblaue Feuerzunge. „Wir lecken und necken.“ „Und locken und schocken.“ „Wir kauern und lauern.“ „Und klüngeln und züngeln.“ „Wir rackern und flackern.“ „Und hauchen und fauchen.“ „Und zehren und schwären.“ „Und schwelen und stehlen.“ „Wir glosen und tosen.“ „Und lodern und modern.“ „Wir brennen und trennen.“ So riefen sie alle durcheinander, und Lale wusste nicht, welcher Flamme sie zuhören sollte. Sie rückte näher an Peter heran. Das Feuer war wirklich unheimlich. Mal schien es, als wolle es mit ihnen spielen, mal schien es sich höhnisch über sie herzumachen. „Ich lache!“ „Ich krache!“ „Ich hüte!“ „Ich wüte!“ „Ich zeig dir den Weg!“ „Ich brat dir dein Steak!“ 112
„Ich schmelze dein Eis!“ „Ich werd dir zu heiß!“ „Ich röste dein Brot!“ „Ich schütz in der Not.“ „Ich mache dich tot.“ Auch Peter rückte näher an Lale heran. Freundschaftlich legte er einen Arm um sie. „Siehste das?“, flüsterte er. „Da!“ Er zeigte auf den Pfahl, an dem die Strohpuppe hing. Der Pfahl brannte lichterloh. Und die Puppe brannte auch. Lale und Peter starrten mit großen Augen hinauf. Und dann hörten sie es. „Ich hatte einen Traum im schönen Monat Mai“, seufzte das orangene Flackern, das um die Puppe herum Funken sprühte. „Vorbei, vorbei“, klagte das rotviolette Flämmchen an ihren Füßen. „Das war der Maibaum vor dreizehn Jahren“, höhnte die giftgrüne Flamme, die sich um den Pfahl herumschlängelte. „Warum ihn bewahren?“, kicherte die blauweiße Feuerzunge, die Pfahl und Puppe eine Krone aufsetzte. „Wir drohen mit Lohen.“ „Wir tanzen mit Lanzen.“ „Wir schwärzen die Herzen.“ „Wir röten und töten.“ „Haste das auch gehört?“, flüsterte Peter. „Oder fühl nur ich mich etwas wirr im Kopf? Ich versteh immer Maibaum und so.“ Lale räusperte sich. 113
„Ich habe es auch gehört“, sagte sie. „Und ich glaube entschieden -“ Plötzlich hielt sie inne. „Pscht“, zischte Peter. „Wie geht es Jula?“, knisterte das orangene Flackern. „Viel besser als Tula“, knasterte das rotviolette Flämmchen. „Und feiner als Kula“, höhnte die giftgrüne Flamme. „Ach, arme Lula!“, stöhnte die blauweiße Feuerzunge. Lale saß wie erstarrt. Was war das eben gewesen? Jula? Tula? Kula? Lula? Was sollte das denn bedeuten? „Die Jula will den Rumi finden.“ „Die Tula muss sich dreh’n und winden.“ „Die Kula will noch stille sein.“ „Die Lula sagt’s dem Töchterlein.“ „Die wird’s der Jula dann verzeih’n.“ Dann herrschte Stille. Aufgeregt griff Lale nach Peters Hand. „Autsch“, stöhnte Peter. Lale hatte etwas zu fest auf die Brandblasen gedrückt. Gebannt sahen die beiden zu, wie das Feuer weiter herunterbrannte. Es knirschte und knackte immer noch ganz gewaltig. Aber es war nichts mehr zu hören. Nachdem sie noch eine Weile schweigend so dagesessen hatten, merkte Lale, wie müde sie war. Es wurde allmählich Zeit für den Heimweg. „Wie komme ich nur in Tulas Haus zurück, ohne dass sie etwas merkt?“, überlegte Lale. „Ich muss mich irgendwie wieder zum Fenster hinaufhangeln.“ „Ganz einfach“, sagte Peter. „Ich mach ‘ne Räuberleiter. Da kommste ganz bequem hoch. Wirste schon sehen.“ 114
Und so war es auch. Mit dem Rücken zur Hauswand stellte sich Peter vor ihr auf. Er stemmte seine Füße fest in den Boden und hielt ihr die gefalteten Hände hin. Lale stieg hinauf, mit Muffelchen unter dem Arm. Erst hob sie Muffelchen hoch und schob ihn mitsamt der großen Tasche durchs Schlafzimmerfenster, das immer noch offen stand. Dann kletterte sie hinterher. Zum Schluss kam Kalle angeflogen, der die Turnübung mit schläfrigen Augen vom Apfelbaum aus mitangesehen hatte. Bevor Lale das Fenster schloss, winkte sie Peter zu.
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„Gute Nacht!“ Im Haus war alles still. Das Gästezimmer sah noch genauso aus wie vor einigen Stunden, als Lale sich hinausgeschlichen hatte. Vielleicht hatte Tula ihren nächtlichen Ausflug gar nicht bemerkt! Schnell zog Lale sich aus. Sie kümmerte sich nicht darum, ihre Sachen ordentlich über die Stuhlkante zu hängen. Und auch zum Zähneputzen war sie zu müde. Sie schlüpfte in das weiche, warme Nachthemd, das Tula ihr ausgeliehen hatte. Und dann lag sie endlich im Bett. „Gute Nacht, Kalle. Gute Nacht, Muffelchen.“ „Kulle-mulle! Lulle-rulle-rull.“ Muffelchen gab keine Antwort, er schlief wohl schon. Kalles Antwort hörte Lale nur noch wie aus weiter Ferne.
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10. Kapitel in dem Lale nach Rauch stinkt und Tula sich dreht und windet Am Ostersonntag war Lale nicht wach zu kriegen. Sie schlief den Schlaf der Gerechten und merkte nicht einmal, wie Tula mehrmals den Kopf zur Tür hereinsteckte und leise nach ihr rief. Auch Kalle und Muffelchen waren müde von ihren Abenteuern und schliefen gründlich aus. Es war Kalle, der als Erster aufwachte, weil jemand an die Haustür klopfte. „Kille-kolle-roll“, trällerte er verschlafen. Da wachte auch Lale auf. Sie hörte, wie Tula die Haustür öffnete und Peter begrüßte. Lale sprang aus dem Bett und schlüpfte in ihre Sachen. Die Kleidung stank nach Ruß und Rauch. Lale schnupperte. Sie roch, als käme sie direkt aus einer Köhlerhütte. Als sie in den Spiegel schaute, musste sie lachen. Auf ihrer Nasenspitze prangte ein dicker schwarzer Fleck. Ihre Augenbrauen waren rußverschmiert und der Rest sah auch nicht gerade wie frisch gewaschen aus. Und dann erst die Hände! Und die Fingernägel! Nicht gerade österlich. Lale fuhr sich schnell mit dem Waschlappen übers Gesicht und wusch sich die Hände. Das musste reichen. Zusammen mit Muffelchen und Kalle lief sie die Treppe herunter. „Frohe Ostern, Tula! Und frohe Ostern, Peter!“ An der rechten Hand trug Peter einen etwas schmuddeli117
gen Verband, und die bunt gestreifte Jacke hatte er wohl aus dem Kleiderschrank seiner Mutter entliehen. Aber sonst sah er ganz manierlich aus. „Wünsch ich auch, frohe Ostern. Und -“, Peter räusperte sich und sah zu Tula hinüber. „Schöne Grüße von meiner Mutter.“ Lale ahnte, dass Peter diesen Gruß nur erfand. Leider dachte seine Mutter nie daran, anderen Leuten einen Gruß zu bestellen. Umso netter war es, dass Peter es tat. Bald saßen sie alle an Tulas bunt gedecktem Ostertisch. Lale hoffte, dass Tula den rauchigen Geruch, der sie und Peter und auch Muffelchen umgab, nicht bemerkte. Sie selbst hatte beschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. Hoffentlich verplapperte sich keiner. Sie musste an das Frühstück mit Jula denken, nachdem sie ihr nachts beim Stricken aufgelauert hatte. Da waren sie auch beide um den heißen Brei herumgeschlichen. Jede ahnte etwas, aber keine wusste, was die andere wusste. Wie lange war das doch her! Lale kam es vor wie eine Ewigkeit. Wenn sie genau nachdachte, schien es ihr zwar, als müsse sie die Nächte, die sie seitdem geschlafen hatte, immer noch an ihren Fingern abzählen können. Aber gleichzeitig hatte sie das Gefühl, als seien seitdem Jahre vergangen. Auch wenn Lale nicht zugeben wollte, dass sie beim Osterfeuer gewesen war, wollte sie Tula auf den Zahn fühlen. Wie hatte das Feuer doch noch geraunt? Jula – Tula – Kula – Lula? Dann hieße ihre nächste Station, wenn sie nicht direkt zu Rumi Armut fand, womöglich Kula? Aber wer war diese Kula denn? 118
„Ja, ja, die Jula will den Rumi finden“, murmelte Lale auf gut Glück vor sich hin. Tula spitzte die Ohren. „Was hast du gesagt, Kind?“ „Ich sagte, die Jula will den Rumi finden“, wiederholte Lale. „Aber das weißt du ja schon.“ „Ja“, sagte Tula spitz. „Aber weder weiß ich, wer dieser Rumi ist, noch weiß ich, wo der Kerl sich rumtreibt.“ Der Unmut stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. „Die Tula muss sich dreh’n und winden“, stellte Peter fest. Er merkte, wie durch Tula ein Ruck hindurchging. Und Lale merkte es auch. „Die Kula will noch stille sein“, sagte Lale. „Die Lula sagt’s dem Töchterlein“, zwinkerte Peter ihr zu. Die wird’s der Jula dann verzeih’n, dachte Lale. Aber das sagte sie nicht laut. Tulas starre Miene hielt sie davon ab. Kalkweiß saß Tula ihnen gegenüber. „Wovon redet ihr überhaupt?“, fragte sie mit strengem Ton. „Ach“, sagte Lale und gab sich Mühe, leichthin und obenauf zu klingen. „Wenn du uns nicht weiterhelfen kannst, Rumi Armut zu finden, dann sollte ich vielleicht einmal bei Kula nachfragen. Vielleicht weiß die ja Näheres.“ „Woher kennst du diesen Namen?“, fragte Tula. „Hast du ihn neulich nicht selbst erwähnt?“, sagte Lale listig. Sie hatte keine Lust, ihr Geheimnis preiszugeben und etwas vom Feuer der Geschichten zu erzählen. Und das war ja auch gar nicht nötig. Tula wusste trotzdem Bescheid. Da war sich Lale ganz sicher. 119
Tula saß da und starrte vor sich hin. Man sah ihr an, wie sie ihren Gedanken nachhing. Lale tauschte einen Blick mit Peter. Beide merkten, dass es am besten war zu schweigen und abzuwarten. Zum Glück war Muffelchen ganz damit beschäftigt, all die leckeren Sachen zu probieren, die es bei den Erdmuffeln nicht zu essen gab. Er kaute und schmatzte stillvergnügt vor sich hin. Nur Kalle, der sein Frühstück beendet hatte und auf die Lampe geflogen war, wollte gerade mit einem munteren Ständchen beginnen. „Ralle-ralle-ralle, ich bin Kanari-Kalle.……“ „Pscht!“, zischte Lale und legte einen Finger auf den Mund. Da flog Kalle zum Fenster hinüber, das angelehnt stand, und schlüpfte durch den Spalt in Tulas Garten hinaus. Doch die kleine Bewegung schien Tula nicht in ihren Gedanken zu stören. „Kula“, sagte Tula versonnen. „Kula.…… Wie lange habe ich den Namen nicht mehr gehört.“ Lale und Peter sahen sie gespannt an. „Bitte Tula, hilf mir doch“, bat Lale. Tula seufzte. „Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig“. Sie schüttelte den Kopf. „Was hast du vorhin gesagt, Peter? Die Tula muss sich dreh’n und winden?“ „Die Jula will den Rumi finden, die Tula muss sich dreh’n und winden“, wiederholte Peter den Spruch. „Die Kula will noch stille sein. Die Lula sagt’s dem Töchterlein“, ergänzte Lale. 120
Der nächste Vers kam ihr nicht über die Lippen. Es war Peter, der ihn zitierte. „Die wird’s der Jula dann verzeih’n.“ „Also dann“, seufzte Tula. Man sah ihr an, wie schwer es ihr fiel, mit ihrem Wissen herauszurücken. Aber als sie sich schließlich dazu durchgerungen hatte, sprach sie leise und sehr schnell. „Ich sag’s nur, weil du der Ulla so ähnlich siehst. Also, wenn ich mich nicht irre, wohnt Kula am Ende der langen Hafenstraße, die zum Hafen des Vergessens führt. Im vorletzten Haus, glaube ich.“ Sie lehnte sich zurück und nickte ihnen zu. Peter und Lale sahen sich aufgeregt an. Das Feuer hatte ihnen tatsächlich weitergeholfen. „Der Hafen des Vergessens?“, fragte Lale. „Wie komme ich dahin? Mein Fahrrad habe ich ja leider am Berg des Abschieds zurückgelassen.“ „Du nimmst den Bus“, sagte Tula. In diesem Moment wunderte sie sich über sich selbst am meisten. Nie hätte sie gedacht, dass sie Lale das alles erzählen würde. Aber nun war es passiert, nun gab es kein Zurück. Schon hörte sie sich selber zu, wie sie Lale den Weg erklärte. Lale war Feuer und Flamme. „Ist es sehr weit?“, fragte sie. „Am liebsten möchte ich gleich morgen aufbrechen.“ „Und am liebsten käme ich mit“, sagte Peter. „Aber das geht wohl nicht. Das erlaubt meine Mutter nie im Leben.“ „Am liebsten möchte ich es auch nicht erlauben“, knurrte Tula. „Es wäre viel vernünftiger, wenn Lale für immer bei mir bliebe.“ 121
„Auf dem Rückweg komme ich wieder hier vorbei“, versprach Lale. „Dann sehen wir uns bestimmt wieder.“ „Und jetzt solltet ihr endlich eure Ostereier suchen“, schlug Tula vor. „Ich sehe da hinten bei Kalle so etwas Rotes im Gras blinken. Und hinterher gibt’s Hühnerfrikassee.“ Sie fing an die Teller zusammenzustellen. „Morgen brauchen wir den Tag, um deine Reise vorzubereiten“, sagte sie. „Überhaupt, der Bus geht ja gar nicht vor übermorgen.“ Tula war sichtlich erleichtert, als sie dies sagte. Es war klar, sie hatte Lale lieb gewonnen und wollte sich am liebsten überhaupt nicht von ihr trennen. Wie gut, dass morgen Ostermontag war, schien sie zu denken. So hatte sie noch einen Tag gewonnen, bevor es hieß, Abschied zu nehmen. Auch Lale und Peter stand der Abschied bevor. Beim Ostereiersuchen waren beide ein wenig traurig. Lale fand es schade, dass Peter nicht mitkommen konnte, aber für Peter schien es noch schlimmer zu sein, dass er allein zurückbleiben musste. Lale versuchte ihren Freund zu trösten. „Wenn ich zu Jula zurück will, brauche ich deine Hilfe“, sagte sie zu Peter. „Dann musst du mir eine Räuberleiter machen, damit ich auf dem Berg des Abschieds an Julas Strickleiter herankomme.“ Peter grinste Lale verschwörerisch an. Mit der linken Hand hielt er ihr ein bunt gefärbtes Osterei entgegen. „Am besten, wir finden jemanden, der uns beiden eine Räuberleiter macht“, sagte er.
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III. Das Meer der Stoßseufzer
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1. Kapitel in dem Lale nach Irgendwo gelangt Mit der unteren Kante ihres Ärmels wischte Lale über die Fensterscheibe und legte ein kreisförmiges Guckloch frei. Der Bus war sehr schmutzig und Tula hatte entsetzt die Nase gerümpft. Am liebsten wäre sie mit eingestiegen und hätte erst einmal gründlich sauber gemacht. Aber nun stand sie, in ihr Schicksal ergeben, auf dem Marktplatz an der Bushaltestelle und schnupfte kräftig in ihr Taschentuch. Eigentlich hatte sie Lale damit zum Abschied zuwinken wollen. Durch ihr Guckloch konnte Lale sehen, dass Tula weinte. Neben Tula stand Peter. Er hatte wieder die bunt gestreifte Jacke seiner Mutter an. Auch er sah nicht besonders glücklich aus. Angestrengt verzog er sein Gesicht zu einem Grinsen. Schade, dass Peter nicht mitkommen kann, dachte Lale. Aber er musste ja hier bleiben. Zur Schule gehen musste er und außerdem seine Mutter trösten, die ihre Zeit traurig auf dem Sofa verbrachte. „Aber warum ist denn deine Mutter nur immer so traurig?“, hatte Lale Peter gestern Abend verwundert gefragt. Peter wusste es nicht. Er wusste nur, dass er sich alle Mühe gab sie aufzuheitern. Und manchmal gelang es ihm auch. Lale sah, wie Peter die Nase hochzog und mit den Augen plinkerte. Sie schüttelte energisch den Kopf. Diese allgemeine Heulerei hier hielt man ja nicht aus. Höchste Zeit, abzufahren. 125
„Ich komme doch wieder“, murmelte sie und winkte Tula und Peter mit beiden Händen lebhaft zu. „Bis bald“, formten ihre Lippen. In diesem Augenblick schrie Muffelchen neben ihr laut auf. „Vorsicht, Kalle, Vorsicht! Denk an dein Gewicht.“ Der kleine Vogel hatte sich auf Muffelchens Schulter niedergelassen. Er konnte dem Erdmuffel doch nicht allen Ernstes zu schwer sein? Lale schüttelte den Kopf. „Stell dich nicht so an, Muffelchen. Ich habe dich schließlich auch schon ziemlich oft herumschleppen dürfen.“ „Vorsicht! Aber Vorsicht! Denn ich kann’s doch nicht!“, jammerte Muffelchen noch einmal. In diesem Moment ließ der Busfahrer den Motor an, dessen Brummen Muffelchens weinerlichen Gesang übertönte. Falls der kleine Kerl gerade überlegt hatte, ob er nicht doch lieber bei Tula bleiben sollte, war es jetzt zu spät. Schon rollte der Bus los, schon kurvte er quer über den Marktplatz. Der Busfahrer beschleunigte und bog in wildem Schwung auf die Landstraße ein. Ein letzter Blick hinüber zu der Stelle, wo Tula und Peter gestanden hatten. Lale konnte sie nicht mehr genau erkennen. Als ein winziger Farbtupfer verschwanden sie soeben hinter dem verschmierten Teil der Fensterscheibe. „Ich komme ja bald wieder“, sagte Lale noch einmal. Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und öffnete ihren Rucksack. Mal sehen, was Tula alles Leckeres für sie eingepackt hatte. „Abschied nehmen macht entschieden hungrig“, stellte 126
Lale fest. Sie sagte es mehr zu sich selbst als zu Kalle oder Muffelchen. „Aber dagegen gibt’s zum Glück eine bewährte Medizin.“ Und dann packte sie ihre Medizin aus. Bunt gefärbte Eier, Mohnstriezen, Käsebrötchen, Hackfleischbällchen, Zuckereier, ein Schokoladenhäschen.…… Den ersten Teil der Fahrt war Lale vollauf damit beschäftigt, sich gegen den Abschiedsschmerz zu verarzten. Sie hörte einfach nicht hin, wenn Muffelchen jammerte und stöhnte. Zwischendurch bot sie ihm etwas von ihren Vorräten an, aber er lehnte jedes Mal ab. „Selber schuld“, murmelte Lale mit vollem Mund. „Und wie ist es mit dir, Kalle?“ Aber auch Kalle wollte nicht essen. Er komponierte soeben ein neues Lied. Und das schmetterte er gegen das Dröhnen des Motors, sodass sich die vor ihnen sitzenden Mitreisenden umdrehten, um zu gucken, wer da so lustig sang. Und ab und an mischte sich ein „Vorsicht!“, von Muffelchen hinein, sodass es fast zweistimmig klang. Nachdem sie eine Weile gefahren waren und Lale sich gründlich satt gegessen hatte, stopfte sie den Rucksack unter den Sitz und lehnte sich bequem zurück. Wie angenehm war es doch, sich vom Bus sanft schaukeln zu lassen, die Augen zu schließen und zu dösen. Wie aus der Ferne hörte sie Kalle und Muffelchen singen, und mitunter verstand sie sogar ein paar Liedfetzen und nahm sie hinüber in ihren Traum. Da reimte sich Hafen gemütlich auf Schlafen und Vergessen appetitlich auf Essen. Dass sich aber in ihrem Traum Bus ausgerechnet auf Kuss reimen musste, fand Lale später, als sie aufwachte, doch etwas peinlich. 127
Als Lale erwachte, war es stockfinster. Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie geschlafen hatte. Jegliches Zeitgefühl war ihr abhanden gekommen. Und es war so merkwürdig ruhig ringsherum. Das Brummen des Motors war verstummt. Und der Bus ruckelte und schuckelte auch gar nicht mehr. Fuhren sie überhaupt noch? Nein, der Bus stand still. Lale riss die Augen weit auf und guckte sich um. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit und sie konnte ihre Umgebung erkennen. Der Bus parkte an einer Straße, an der auf beiden Seiten hinter winzigen Vorgärten Häuser im Dunklen lagen. Nur am Straßenrand brannten ein paar Laternen. Man hätte nicht gerade sagen können, dass sie leuchteten. Aber immerhin spendeten sie ein trübes, funzliges Licht. Ungefähr hundert oder hundertfünfzig Meter weiter geradeaus schien die Straße auf ein dunkel glänzendes Nichts zuzulaufen. Jedenfalls gabelte sich die Straße dort und führte dann halbkreisförmig um dieses dunkle Nichts herum. Was sich dort wohl verbarg? Lale fröstelte. Sie schaute sich im Bus um. Auf dem Sitz neben ihr lagen Muffelchen und Kalle und schliefen. Wie friedlich sie aussahen! Lale hatte die beiden kleinen Kerle in diesem Moment richtig lieb. Trotzdem musste sie flüchtig an Peter denken. Wenn er doch nur mitgekommen wäre! Außer ihnen war niemand mehr im Bus. Die anderen Fahrgäste waren wohl längst ausgestiegen. Und auch der Busfahrer hatte anscheinend Feierabend gemacht. Der hätte sie doch wenigstens wecken können! „He, Kalle! Muffelchen!“ 128
Lale ruckelte Muffelchen an der Schulter. „Aufwachen! Kalle, Augen auf!“ Sie gab dem Vogel einen zarten Stups auf den Schnabel. „Ralle-ralle-rull“, murmelte Kalle schläfrig und öffnete blinzelnd die Augen. „Aufwachen! Wir sind da! Und wenn nicht da, dann jedenfalls irgendwo!“, rief Lale. 129
Zwar jammerte Muffelchen, dass er weiter schlafen wolle. Aber Lale war zu neugierig, um jetzt im Bus sitzen zu bleiben und ängstlich auf den nächsten Morgen zu warten. Und so blieb dem armen Muffelchen nichts anderes übrig, als hinter Lale her aus dem Bus zu klettern. Denn allein wollte der ängstliche Gesell natürlich auch nicht hier sitzen bleiben. „Vorsicht, Lale“, jammerte er wieder einmal. „Es ist so dunkel! Vorsicht, Nacht! Hätt’ ich die Fahrt nur nicht gemacht!“ „Papperlapapp!“, sagte Lale. „Vorsicht sechs und Vorsicht sieben, wärst du nur daheim geblieben! So viel Quasselei hält ja das schönste Abenteuer nicht aus.“ In dem Moment, in dem Lale es sagte, tat ihr der arme Kerl auch schon Leid. Eben hatte sie ihn doch so lieb gehabt. Und jetzt schimpfte sie mit ihm? Und wie sie selbst erstaunt merkte, war das Schimpfen noch nicht vorbei. „Bis morgen früh möchte ich das Wort ,Vorsicht’ nicht mehr hören, hörst du?“, hörte Lale sich sagen. Und dann fügte sie noch hinzu: „Bis morgen früh möchte ich überhaupt kein einziges Wort mehr hören.“ Und da hielt Muffelchen tatsächlich den Mund. Ängstlich und ein wenig beleidigt trottete er hinter Lale her, die Straße entlang, an den ruhig daliegenden Häusern und Vorgärten vorbei auf das dunkel glänzende Nichts zu, das am anderen Ende der Straße auf sie wartete.
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2. Kapitel in dem Lale ein Gespenst sieht und schließlich zu Kula findet Von irgendwoher schlug eine Kirchturmuhr zwölf Mal. Mitternacht. Die Glockenschläge hallten durch die Nacht. Lale fand ihren Klang beruhigend. Irgendjemand hatte dafür gesorgt, dass diese Uhr schlug, während die Menschen schliefen. Die Zeit lief weiter und wurde gezählt. Das war doch klug und freundlich. Sollte ihr bloß niemand mit irgendwelchem Unsinn kommen, von wegen Geisterstunde oder so. Nein, Lale glaubte nicht an Gespenster. Und deshalb fürchtete sie sich auch nicht, sondern schritt beherzt dem dunklen Nichts am Ende der Straße entgegen. Je näher sie kam, desto mehr konnte sie in dem schwarz glänzenden Dunkel eine Bewegung erkennen. Und da war auch ein leises Plätschern zu hören. Etwas gluckerte dumpf. Etwas schlürfte, etwas schmatzte, etwas schwappte. Wasser! Ein Tümpel? Ein See? Oder sogar ein Meer? Kein Zweifel. Hier, wo die Straße endete, besser gesagt, sich teilte, befand sich ein Hafenbecken. Das musste der Hafen des Vergessens sein! Ein paar Segelschiffe und auch einige kleinere Motorboote waren hier festgemacht und schaukelten sacht auf dem Wasser. Ein leichtes Geklirre lag in der Luft. Das machte der Wind, der mit den Schnüren und Leinen spielte, an ihnen zerrte und sie gegen die Masten schlug. Und ab und an ächzte und knirschte es. 131
Dann hatte der Wind eins der Boote gegen die Hafenmauer gestoßen. Ja, wenn man genau hinhörte, waren alle möglichen Geräusche zu hören. Auch ein merkwürdiges Seufzen und Stöhnen und Heulen. Waren da etwa doch ein paar Gespenster unterwegs? Auf einem Geisterschiff? Lale lachte leise. Dann schnupperte sie. Dies hier war kein kleiner Teich. Es roch entschieden nach Meer. Nach Salz und Wind roch es, nach Teer und Tang, Möwen und Fischen. Ach, es roch herrlich, nach Abschiedsschmerz und Wiedersehensfreude und nach all den fremden Ländern, die man gern einmal kennen lernen wollte. Woher der Hafen des Vergessens wohl seinen Namen hatte? Nun, das würde sie sicher noch erfahren. Und Kula musste irgendwo in der Nähe wohnen. Wie hatte Tula gesagt? Das vorletzte Haus an der Hafenstraße? Lale schaute sich suchend um. Und da sah sie plötzlich eine Gestalt, die sich hinter ihr aus der Dunkelheit löste. Ein Gespenst! Die Gestalt kam direkt auf Lale, Kalle und Muffelchen zu. Für einen Moment stand Lale starr vor Schreck. Was tun? Stehen bleiben? Sich verteidigen? Aber wie verteidigt man sich gegen ein Gespenst? Zum Weglaufen war es zu spät. Hinter Lale war das Wasser. Um zum Bus zu gelangen, hätte sie direkt auf die unheimliche Gestalt zulaufen müssen. „Na, haste ausgeschlafen?“, fragte das Gespenst. Es war Peter. „Mensch Peter, hast du mich erschreckt. Wo kommst du denn her?“ „Na, aus’m Maibaum, aber das weißte ja schon.……“ 132
Er sah aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, aber er brach ab und schwieg. „Du wolltest doch bei deiner Mutter bleiben! Bist du etwa doch mit dem Bus mitgekommen?“ „Bin im letzten Moment aufgesprungen, als der Bus abfuhr. Erst bin ich ‘n Stück auf dem Trittbrett mitgefahren, und dann, als der Bus das nächste Mal anhielt, bin ich richtig eingestiegen. Aber da haste tief und fest geschlafen. Tja, und meine Mutter -Tula wird sie schon aufpassen.“ „Du meinst, Tula wird schon auf sie aufpassen“, verbesserte Lale. „Meine Fresse, willste mich etwa jetzt belehren, mitten in der Nacht? Und dabei hab ich auch so nett auf dich aufgepasst, während du geschlafen hast. Bin nur kurz mal raus, weil ich – na ja, du weißt schon.“ „Entschuldigung“, sagte Lale. „Ich hab’s nicht so gemeint. Hast du dich schon ein bisschen hier umgeschaut?“ Gemeinsam mit Peter erkundete sie nun die Gegend. Das Hafenbecken war kreisförmig angelegt, mit einer schmalen Ausfahrt am oberen Ende. An beiden Seiten des Beckens führte die Straße jeweils etwa bis zur Hälfte des Kreisbogens in einem Halbkreis entlang. Zum Wasser hin wurde sie durch eine niedrige Steinmauer begrenzt. Aber auf der anderen Seite der Straße standen kleine Häuser am Straßenrand. Auch die Häuser beschrieben einen Kreisbogen. Die beiden letzten Häuser auf jeder Seite schienen direkt ans Wasser gebaut. Zum oberen Ende des Hafens führten zwei höhere und breitere Mauern um das Hafenbecken herum. An ihren beiden Enden war die Ausfahrt durch zwei kleine Leuchttürme markiert. 133
Lale folgte Peters Blick und schaute auf die Häuserzeilen. Zur linken Seite des Beckens lagen alle Häuser mucksmäuschenstill im Dunkeln. Die Bewohner schienen tief zu schlafen, wie der ganze Ort auch. Aber auf der rechten Seite des Beckens, da schimmerte ein Licht durch die Nacht. Lales Herz begann heftig zu klopfen. Es war tatsächlich das vorletzte Haus vor dem Ende der Hafenstraße, von dem der Lichtschein stammte. „Das müsste Kulas Haus sein“, meinte Peter. So etwas ließ sich nur herausfinden, indem man hinüberging. Kalle flog ihnen voraus, Muffelchen folgte nach. Als sie sich dem Haus näherten, sah Lale, dass der Lichtschein aus einem Zimmer im oberen Stockwerk des Häuschens auf die Straße fiel. Eine Frau stand dort am Fenster und spähte auf die Straße hinunter. Als sie Lale und ihre Freunde näher kommen sah, nickte sie ihnen zu, dann zog sie sich vom Fenster zurück. Kurz darauf wurde die Haustür geöffnet und die Fremde winkte die Kinder mit gekrümmtem Zeigefinger zu sich heran. „Falls ihr mich sucht, hier seid ihr richtig“, sagte sie in schroffem Ton. Einen Augenblick lang fragte sich Lale, ob das wirklich Kula sein konnte, die da vor ihnen stand. In diesem Moment trat die Frau einen Schritt vor und blieb im Türrahmen stehen, sodass das Licht der Lampe, die über der Haustür brannte, direkt auf sie fiel. Als Lale ihr Gesicht sah, hätte sie vor Freude beinahe laut aufgeschrien. Die fremde Frau sah haargenau aus wie Tula. Etwas jünger allerdings, wenn man genau hinschaute. Genau wie Tulas jüngere Schwester. 134
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Auch Lale trat einen Schritt vor. Jetzt konnte sie das Gesicht der Fremden sogar noch besser erkennen. Wie Julas jüngere Schwester sah sie sogar aus. Unglaublich. Fast genauso wie Jula. „Was starrt ihr so? Kommt rein“, sagte die Frau. Sie zeigte mit dem Daumen auf Muffelchen. „Wer ist das denn? Will der etwa auch hier übernachten?“ Muffelchen nickte. Er war stumm vor Schreck. Es war gar nicht nötig, dass Lale ihm befohlen hatte, bis zum nächsten Morgen kein Wort mehr von sich zu geben. Er hätte in diesem Moment auch sonst keinen Piepser herausgebracht. Nicht einmal ein klitzekleines „Ja, genau“. „Das ist Muffelchen, mein kleiner Freund“, sagte Lale tapfer. Dann folgte sie der Frau, die sich Kula nannte und aussah wie Jula und Tula, in ihr Haus. Peter und Kalle und zuletzt Muffelchen folgten.
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3. Kapitel in dem Kula sich nicht erinnert und Lale einen Schlachtplan schmiedet Am nächsten Morgen beim Frühstück stellte Lale fest, dass die Frau, die sich Kula nannte, einen rot leuchtenden Haarschopf hatte. Nur etwas Grau mischte sich am Scheitel in ihre kurz geschnittenen Haare hinein. Falls ihr die rote Farbe schon in der Nacht aufgefallen war, hatte sie es wieder vergessen. „Was starrst du denn schon wieder?“, fragte Kula, die sich gerade eine Brötchenhälfte dick mit Wurst belegte. „Irgendwas nicht in Ordnung, Mädchen?“ „Doch, doch. Ich überlegte nur gerade, ob Sie – äh – ob du eine Schwester von Jula sein könntest?“ Die Frau warf den Kopf zurück und lachte. „Julas Schwester? I wo. Rate weiter.“ Dabei biss sie herzhaft in ihr Brötchen hinein. „Die Schwester von Tula vielleicht?“, fragte Peter hoffnungsvoll. „Wie komm ich denn dazu?“, nuschelte Kula mit vollem Mund. „Also, sehr gescheit scheint ihr mir alle beide nicht zu sein. Na, ihr findet es schon noch heraus.“ Sie strich sich die Hände an ihrer Schürze ab. „Aber nun zeig du mir erst einmal den Brief, den du mir bringen sollst, Lale.“ „Der Brief ist eigentlich nicht für Sss – äh – für dich bestimmt. Ich soll ihn Rumi Armut übergeben. Tula meinte, du wüsstest vielleicht -“ 137
„Rumi Armut?“, unterbrach Kula sie. „Wer soll das denn sein? Den kenne ich nicht. Und der kommt mir nicht ins Haus.“ Lale und Peter wechselten einen verstohlenen Blick. Oh nein, jetzt fing die gleiche Geschichte wie bei Tula von vorne an. Dabei hatte Kula im Grunde eben schon zugegeben, dass sie einen Mann mit diesem Namen kannte. „Komisch“, sagte Lale deshalb. „Genau wie bei Jula und Tula. Alle tut ihr erst so, als hättet ihr den Namen noch nie gehört. Und plötzlich erinnert ihr euch doch. Wenn man ein bisschen nachhilft, meine ich.“ „Da gebt euch bei mir keine Mühe“, sagte Kula barsch. „Kann sein, dass bei anderen Leuten irgendwann irgendetwas ihrer Erinnerung auf die Sprünge hilft. Aber nicht bei mir. Seht ihr das da draußen?“ Sie zeigte mit der Hand, in der sie das Brötchen hielt, aus dem Fenster auf das Hafenbecken. „Das ist der Hafen des Vergessens. Wenn man hier etwas vergisst, dann vergisst man es ganz bestimmt, wetten? Ihr könnt euch drauf verlassen, hier erinnert sich keiner. An nichts und niemanden. Und schon gar nicht an einen wie Rumi Armut.“ „Armut! Armut!“, ließ sich in diesem Moment eine krächzige Stimme vernehmen. Lale schrak zusammen. Wer war denn das? „Ruhig, Herr Papale“, sagte Kula streng. Lale folgte ihrem Blick. Auf einem Tisch am Fenster der Wohnstube, die an die Küche angrenzte, stand ein Käfig. Der große Vogel mit dem bunten Gefieder darin musste ein Papagei sein. 138
„Ab in die Kiste, Rumi!“, lärmte er. „Rumi! Rumi! Ab in die Kiste!“ Kula stand auf und schloss die Tür zur Stube. Durch die Tür hörten die Kinder den Papagei weiter kreischen. „Rumi! Rumi! Ab in die Kiste!“ „Schscht!“, machte Kula unwillig. Die Kinder bezweifelten, ob Herr Papale das hören konnte, jedenfalls gehorchte er nicht. Sie hörten weiter sein gedämpftes Geschrei. Lale lief es kalt über den Rücken. Was hatte das wohl zu bedeuten? In der Regel plapperten Papageien alles nach, was sie hörten. Hatte Kula diese Worte irgendwann einmal zu Rumi Armut gesagt? Und welche Kiste war wohl gemeint? „Ab in die Kiste, Rumi.……“ Was, wenn mit der Kiste ein Sarg gemeint war? Hatte Kula den armen Mann etwa umgebracht? Nach dem Frühstück beschlossen die Kinder, sich im Ort und am Hafen umzuschauen. Kula hatte nichts gegen einen Spaziergang ihrer jungen Gäste einzuwenden. Sie gab Lale Geld und bat sie, frische Fische zum Mittagessen im Hafen zu kaufen: „Die Maischollen sind gerade so günstig.“ Außerdem sollten sie eine Tüte Erdbeeren mitbringen. „Maischollen?“, wunderte sich Lale. „Und Erdbeeren? Zu Ostern? Die sind doch furchtbar teuer und bestimmt noch nicht richtig süß.“ „Ostern?“, wunderte sich nun Kula. „Bis Ostern ist es noch eine Weile hin. Soviel ich sehe, ist heute erst der 13. Juni.“ Sie zeigte auf den Wandkalender neben dem Küchenschrank. 139
Tatsächlich, auf dem obersten Blatt war der 13. Juni angezeigt. Nun wunderte sich Lale noch mehr. „Als ich gestern von Tula abgefahren bin, war Ostern gerade vorbei“, sagte sie. „Eigentlich müsste heute der Mittwoch nach Ostern sein, nicht wahr, Peter? Nicht Mitte Juni, sondern Mitte April. Wir haben doch nicht zwei Monate für die Busfahrt gebraucht?“ „Manchmal bewegt man sich zielstrebig vorwärts und immer hübsch geradeaus und braucht trotzdem eine Ewigkeit, bis man da ist, wo man hingewollt hat“, sagte Kula. „Manchmal kommt man überhaupt nicht vom Fleck. Und manchmal, schwuppdiwupp, purzelt man zurück in der Zeit. Das geht mitunter sogar ganz schnell. Ihr seid nicht zufällig gestern eine goldene Strickleiter hinuntergeklettert?“ „Peter nicht“, sagte Lale. „Aber ich schon“, gab sie nach kurzem Zögern zu. „Zwar nicht gestern, aber vor einigen Tagen. Oder waren es Wochen?“ „Na, da hast du’s“, sagt Kula. „Dann ist ja alles klar. Und jetzt willst du dich also an den Rumi heranmachen. Denn man tau. Das kann ja noch heiter werden.“ Sie sah Peter streng an. „Und wie bist du da mit hineingeraten?“ Peter guckte erst zu Kula und dann zu Lale hinüber. „Mit dem Bus, oder? Und vorher – keine Ahnung“, druckste er. Kula verschränkte die Arme und wandte sich ab. Lale wusste nicht, ob Kula böse mit ihnen war oder nicht. Zwischendurch gab es Momente, in denen sie ganz freundlich klang. Wie Jula beinahe. Aber dann bekam sie wieder diesen brüsken Ton. Es war schwierig, darauf zu antworten. 140
„Tschüs, Kula“, sagte Lale leise. Dann rief sie Peter, Kalle und Muffelchen herbei und verließ mit ihnen das Haus. Eine Weile trieben sich die Reisegefährten im Hafen herum. Muffelchen war stumm wie ein Fisch. Diesmal schien er wirklich gründlich beleidigt zu sein. Lale zuckte die Schultern. Da konnte man wohl nichts machen. Mit der Zeit würde er sich schon wieder berappeln. Ein bunt angestrichener Fischkutter hatte im Hafen festgemacht. Darauf wurden Muscheln, Krabben und Fische verkauft. Da kaufte Lale vier kleine Schollen fürs Mittagessen ein. Nun fehlte nur noch – ja, was eigentlich? Plötzlich konnte sich Lale gar nicht mehr daran erinnern, was Kula ihnen noch aufgetragen hatte. Und als sie Peter danach fragte, ging es ihm genauso wie ihr. Gerade in dem Moment, als sie sich verwundert anguckten, kam Kalle angeflogen. Und was hielt er im Schnabel, was leuchtete schon von weitem so verführerisch hell und rot? Eine Erdbeere! Kalle ließ sie genau in Lales Hand fallen. „Relle-belle-bell“, zwitscherte er vergnügt. Richtig, Erdbeeren sollten sie noch mitbringen. Wie hatte Lale das nur vergessen können? Während sie den Fisch eingekauft hatte, hatte Kalle den Erdbeerstand ausfindig gemacht. Nun flog er vor ihnen her, und lachend folgten Lale und Peter ihm nach. Auch Muffelchen trottete hinterdrein. „Klasse!“, rief Peter. „Wenn ich dran denke, dass in der Schule jetzt Mathe war!“ „Schule? Mathe?“, fragte Lale. „Was das ist, habe ich auch schon glatt vergessen.“ 141
Auch sie hatte ein Gefühl, als wäre sie hier zu Besuch in den Sommerferien. Obwohl sie Kula gestern zum ersten Mal gesehen hatte, kam es ihr so vor, als würde sie Kula schon ewig kennen. Nicht einmal ihre barsche Art störte sie so richtig. Insgeheim kam ihr Kula wie eine rothaarige Jula vor. Aber was es wohl mit diesem Herrn Papale auf sich hatte? Lale hatte schon eine Idee, wie sie das herausfinden könnten. Da ihr Schlachtplan ohne Kalle und Muffelchen nicht funktionierte, besprach sie ihn auf dem Heimweg mit ihren Freunden. Muffelchen zierte sich erst und spielte weiter den Beleidigten, und es brauchte Lales ganze Überredungskunst, bis sie ihn von ihrem Plan überzeugt hatte. Aber dann fühlte Muffelchen sich doch geschmeichelt und seine dunklen Erdmuffelaugen blitzten vor Freude auf. Da wusste Lale, dass er ihr helfen würde. Dass sie auf Kalle zählen konnte, wusste sie sowieso.
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4. Kapitel in dem Kalle und Muffelchen Herrn Papale am Schnabel herumführen Nach dem Mittagessen wusch Kula das Geschirr ab, und Lale und Peter mussten ihr beim Abtrocknen helfen. Lale passte einen günstigen Moment ab, in dem Kula gerade beschäftigt war. Schnell öffnete sie die Tür zum Wohnzimmer einen Spaltbreit und ließ Muffelchen und Kalle hinter ihrem Rücken hindurch. Ehe Kula aufschaute, hatte Lale die Tür schon wieder geschlossen. Dass Kalle und Muffelchen ins Wohnzimmer geschlüpft waren, hatte Kula gar nicht bemerkt. Es fiel Muffelchen nicht leicht, seine Schüchternheit zu überwinden. Aber er schaffte es, den Papagei als Erster anzusprechen. „Guten Tag, Herr Papale. Wir kommen mal zu Besuch. Genau!“ „Besuch! Besuch!“, kreischte der Papagei. „Ab in die Kiste, Besuch! Ab in die Kiste, genau!“ „Aber nicht der Kula verraten“, ermahnte ihn Muffelchen, ganz wie er es mit Lale besprochen hatte. „Es soll eine Überraschung sein.“ „Piraten, Piraten“, freute sich Herr Papale. „Überraschung, Piraten!“ Muffelchen schüttelte den Kopf. Viel Grips schien dieser Papagei nicht zu haben. Auch Kalle wollte seinen entfernten Vetter natürlich begrüßen. 143
„Ralle-ralle-ralle, ich bin Kanari-Kalle“, stellte er sich vor. „Kalle-kallo-hallöchen!“ „Popo, Popöchen!“, schrie Herr Papale. Muffelchen runzelte seine kleine Erdmuffelstirn. „Wohnt hier ein Herr Armut?“, fragte er dann schlau. „Nur Mut! Nur Mut“, antwortete der Papagei. „Wo wohnt er denn?“, fragte Muffelchen. „Er denn! Er denn! Auf Erden!“, gab Herr Papale zur Auskunft. Kalle und Muffelchen stöhnten. Konnte Herr Papale denn nur nachplappern, was er hörte? Konnte er nichts selber sagen? „Musst du denn immer alles nachplappern?“, schimpfte Muffelchen. „Kannst du nicht auch mal selber was sagen?“ So ähnlich hatte Lale vor nicht allzu langer Zeit mit den Erdmuffeln geschimpft. „Selber sagen! Selber wagen! Kälberkragen!“ Das war nun freilich auch keine Antwort nach ihrem Geschmack. Wie stellten sie es nur an, dass Herr Papale etwas über Rumi Armut und die geheimnisvolle Kiste, von der er gekrächzt hatte, verriet? Jeden Moment konnte sich die Tür öffnen und Kula ins Zimmer kommen. „Wohnt dieser Rumi vielleicht in einer Kiste?“, zischte Muffelchen. „Kiste! Piste!“, zischte Herr Papale zurück. „Miste! Miste!“ „Mille-Mille-Miste“, piepste Kalle. „So ein großer Vogel und redet nichts als Quatsch“, schimpfte auch Muffelchen. „Liebe ist Quatsch! Liebe ist Quatsch!“, schrie Herr Pa144
pale begeistert. „Ab in die Kiste, Quatsch! Liebe, ab in die Kiste!“ „Ist diese Kiste vielleicht ein Sarg?“, fragte Muffelchen. „Sehr arg. Sehr arg“, bestätigte Herr Papale. Muffelchen wischte sich ein Schweißtröpfchen von seiner Erdmuffelstirn. Dieser Herr Papale war wirklich ein harter Brocken. Er bekam Lust, den Vogel ein wenig zu verspotten. Mal sehen, wie ein Papagei reagiert, wenn man ihn nachmacht, dachte Muffelchen. Laut rief er: „Rumi, Rumi! Ab in die Kiste, Rumi!“ „Rumi, ich liebe dich“, flötete Herr Papale. „Ich liebe dich!“, schrie Muffelchen. Es klang eher wie „Fieser Wicht, fieser Wicht!“, also nicht sehr glaubwürdig. „Ich liebe dich, Ulla“, setzte Herr Papale seine Erzählung fort. „Ulla-kulle-kulle-Kula“, stotterte Kalle. „Im Keller! Im Keller!“, verriet der Papagei. „Kelle-relle-Keller“, wiederholte Kalle. „Kulas Kiste ist im Keller, Schatz“, krächzte Herr Papale. „Kellerschatz, Keller schätz“, piepste Kalle aufgeregt. „Schatzkiste, die Schatzkiste“, lärmte sein großer Vetter wichtigtuerisch. Muffelchen wurde es leicht schwindelig vor Augen. Hatte Kula eine Schatzkiste im Keller versteckt? Er vergaß, dass er den Papagei eigentlich nachahmen wollte. „Ist im Keller eine Schatzkiste versteckt?“, drängte er. „Rumi ist weg! Rumi ist weg!“, bekam er zur Antwort. „Weg und vergessen! Weg des Vergessens!“ 145
Unaufhörlich plapperte der große Vogel weiter. „Hafen des Vergessens! Schatzkiste der Erinnerung! Hafen des Vergessens! Im Keller! Im Keller!“ In diesem Moment ging die Tür auf. „Was ist denn hier los?“ Es war aber nicht Kula, sondern Peter, der das fragte. Die Unterhaltung war nebenan in der Küche so laut zu hören gewesen, dass Peter schnell reagiert hatte und Kula zuvorgekommen war. Bis Kula sich an ihm vorbei ins Zimmer gedrängelt hatte, hatten sich Kalle und Muffelchen schon hinter dem Sofa versteckt. Kula sah die beiden nicht, als sie ins Zimmer schaute. Sie wunderte sich nur, wie aufgeregt Herr Papale war. Noch lange lief der Papagei auf seiner Stange hin und her und lärmte vor sich hin. „Popo! Popöchen“, schrie er immer wieder. Wo er das aufgeschnappt hatte, konnte sich Kula beim besten Willen nicht erklären. Später am Nachmittag saßen die Freunde gemeinsam auf der Hafenmauer, sonnten sich und guckten aufs Wasser, das in der Sonne glitzerte. Aufgeregt erzählten Kalle und Muffelchen, was sie herausgefunden hatten: In Kulas Keller war eine Schatzkiste versteckt. „Eine Schatzkiste der Erinnerungen?“, überlegte Lale. „Wir müssen unbedingt herauskriegen, was sich dahinter verbirgt.“ „Heute Nacht, wenn Kula schläft, gucken wir nach“, nickte Peter. „Vorsicht“, sagte Muffelchen. „Der Keller ist bestimmt abgeschlossen.“ 146
„Da könntest du recht haben“, sagte Lale. „Wir müssen sehen, wie wir an den Schlüssel kommen. Bei euch im Erdschloss haben wir es ja auch geschafft. Vielleicht kann Kalle auch in Kulas Schlafzimmer.……“ Peter unterbrach sie. „Nicht nötig“, meinte er. „Mit Kellertüren kenn ich mich aus. Kannste dich drauf verlassen.“ Sie verabredeten, dass sie sich beim Abendbrot müde stellen wollten, damit sie gleich nach dem Essen ins Bett gehen könnten. Je früher auch Kula schlief, desto eher konnten sie ihren Plan in die Tat umsetzen. Aber es war gar nicht nötig, dass sie Müdigkeit vortäuschten. Sie waren wirklich erschöpft. „Ja, ja“, sagte Kula. „Das kenne ich. Seeluft macht hungrig. Und müde. Aber das macht nichts. Hier könnt ihr euch schön ausruhen. So lange ihr wollt. Ihr habt ja schließlich keine Eile, oder?“ Lale gähnte. „Ich bin wirklich hundemüde“, gab sie zu. „Und ich erst! Erdmuffelmüde“, gähnte Peter. „Und ich! Stiefelputzererdmuffelchenerdmuffelmüde“, trumpfte Muffelchen auf. „Vielleicht bin ich auch bloß aus-dem-Maibaum-müde“, überlegte Peter. Alle drei gähnten im Chor. „Na, dann legt euch man hin“, sagte Kula. „Morgen ist ja auch noch ein Tag.“
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5. Kapitel in dem Lale und Peter die Schatzkiste der Erinnerungen suchen Lale hatte schon eine Weile tief und fest geschlafen, als jemand sie an der Schulter berührte. Es war Peter. „Aufwachen, Lale“, flüsterte er. „Die Kiste der Erinnerung wartet.“ Lale war zwar mit einem Ruck wach. Aber einen Moment lang hatte sie keine Ahnung, wovon Peter redete. Kiste der Erinnerung? Was sollte das sein? Als es ihr wieder einfiel, schlüpfte sie leise aus dem Bett. Muffelchen war nicht so leicht aufzuwecken. An ihm ließ sich erkennen, was das Wort erdmuffelmüde bedeutete. „Vorsicht! Kellertreppe!“, brummelte er. Dann drehte er sich auf die andere Seite und schnorchelte weiter. „Lass ihn“, flüsterte Lale. Auf leisen Sohlen folgte sie Peter die Treppe zur Diele hinunter. Die der Küchentür gegenüberliegende Tür musste zur Kellertreppe führen. Wie erwartet, war sie abgeschlossen. Doch Peter war vorbereitet. Er zog einen Haken aus der Hosentasche und fing an, im Türschloss herumzustochern. „So’n altmodisches Schloss“, sagte er naserümpfend. „Das dauert nicht lang. Kein Problem.“ Und tatsächlich. Schon hörte man ein leises Quietschen. Peter drückte die Klinke herunter und die Tür gab nach. 148
„Gut, dass ich mitgekommen bin, nicht?“, flüsterte Peter. „Mit diesem Erdmuffel hättste das nicht geschafft. Oder allein mit deinem Kanarienvogel – wie heißt er noch mal?“ „Kalle ist ein Wellensittich und kein Kanarienvogel“, erklärte Lale. „Aber natürlich ist es entschieden gut, dass du mit dabei bist.“ Vor ihnen im Dunkeln lag die Kellertreppe. Lale tastete an der Wand nach dem Lichtschalter und knipste das Deckenlicht an. Sie nickten sich noch einmal zur Ermutigung zu, dann huschten sie nacheinander die steile Treppe hinunter. Am Fuß der Treppe teilte sich der Keller in verschiedene Gänge und Kammern. In einem Raum waren Kartoffeln gelagert und Äpfel, daneben Brennholz und Wein. Einen Wäscheraum gab es auch, mit Waschmaschine und Wäschetrockner, und einen Fahrradkeller, in dem verschieden große Fahrräder standen, dazu ein Roller und ein Rodelschlitten. ULLA hatte jemand in ungelenken großen Buchstaben ins Holz des Schlittens gekerbt. Es sah ganz ähnlich aus wie bei Lales Schlitten, wo an derselben Stelle LALE eingeritzt war, und davor ein etwas schief geratenes Schneeglöckchen, das den Kopf zur Seite hängen ließ. „Wer ist eigentlich diese Ulla, von der man immer wieder hört?“, murmelte Lale. „Weiß ich auch nicht.“, Peter zuckte die Schultern, „’ne Tochter von Tula, denke ich.“ „Hatte Tula denn ein Kind?“, fragte Lale. „Ich glaub schon“, meinte Peter. 149
Er ließ den Blick umherschweifen. „Auf jeden Fall hat diese Kula eins“, sagte er dann. „Guck doch mal!“ In dem Raum, in dem sie sich gerade befanden, war allerlei Spielzeug abgestellt. Ein Kasperletheater lehnte an der Wand und daneben stand ein Karton mit der Aufschrift KASPERLEFIGUREN. Da gab es einen hölzernen Kaufmannsladen mit Ladenkasse, einen Puppenwagen mit Verdeck, in dem noch zwei Puppen und ein Teddybär lagen, und ein Puppenhaus. Stelzen gab es, Schlittschuhe in einem Korb, ein Krocketspiel und einen kaputten bunten Ball, aus dem die meiste Luft entwichen war. Und dann gab es da eine große, mit Gold- und Silbersternen beklebte dunkelblaue Kiste. Ein Pappkarton eigentlich. An der Seite war er etwas verbeult. Jemand hatte ihn anscheinend mit einem gezielten Fußtritt unter den Tisch befördert, auf dem das Puppenhaus stand. „Die Schatzkiste der Erinnerungen?“, jubelten Peter und Lale gleichzeitig. Gemeinsam zogen sie die Kiste unter dem Tisch hervor. Sie war sehr schwer. Aufgeregt klappte Lale den Deckel auf. Der Kiste entströmte ein zarter Geruch, der Lale an längst vergangene Frühlingstage erinnerte. Nach Blumen roch es, nach Rosen und Maiglöckchen. Aber nach Sommer roch es auch, nach Früchten – Erdbeeren, Pfirsichen und Mirabellen – und frisch gemähtem Heu. Und zugleich roch es nach Herbstfeuern, nach welken Blättern, gerösteten Kastanien und Pilzen.
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„Musste auch an Weihnachten denken?“, fragte Peter in diesem Moment. „Das riecht irgendwie nach Tannengrün.“ Lale nickte stumm. Sie griff in die Kiste hinein. Obenauf lagen unter einem Sträußchen Lavendel drei Bündel mit Briefen, mit gelben Schleifen zusammengebunden. Darunter waren mehrere Fotoalben gestapelt. Lale zog einen Brief heraus. Er war noch ungeöffnet und an Fräulein Ulla Schulze adressiert. 151
„Das gibt es doch gar nicht“, stammelte Lale. „Guck mal, das ist ja meine Adresse. Und sie heißt Schulze mit Nachnamen, genauso wie Jula und ich.“ „Meine Fresse“, murmelte Peter. „Wie kommt denn diese Kula da heran?“ Er nahm ebenfalls einen Brief in die Hand und drehte ihn um. „Du, Lale, der Absender! Guck doch mal“, rief er aufgeregt. Peter hielt ihr den Brief entgegen, sodass Lale den Absender lesen konnte. Die Briefe waren von keinem anderen als Rumi Armut geschrieben.
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6. Kapitel in dem Lale und Peter einen Schwung Liebesbriefe studieren und Kula ihnen die Haustür weist Es waren ungefähr drei Dutzend Briefe von Rumi Armut, die Lale und Peter in der Schatzkiste der Erinnerungen fanden. Alle waren an Fräulein Ulla Schulze gerichtet und alle waren fest verschlossen. Auf manchen klebte auf der Rückseite sogar ein kleines Bildchen wie ein Siegel darauf. „Es sieht so aus, als hätte noch niemand diese Briefe je geöffnet“, wunderte sich Lale. „Komisch“, meinte Peter. „Hat denn diese Ulla sie gar nicht lesen wollen?“ „Ulla Schulze.……“, flüsterte Lale erregt. „Ob wir einen aufmachen sollen?“, fragte sie dann. Peter zögerte genauso wie sie. Man öffnete ja eigentlich keine fremde Post. Aber vielleicht konnten sie hier etwas über Rumi Armut herausfinden. Schließlich war es Jula sehr wichtig, dass sie ihm den Brief überbrachten. Und vielleicht gab es in diesen Briefen einen Hinweis darauf, wer Rumi Armut war und wo er jetzt wohnte. Entschlossen riss Lale einen Umschlag auf und zog den Brief hervor. Er war auf grauem Rechenpapier geschrieben. „Liebste Ulla, mein süßer Himmelsstern, du Blume meines Herzens.……“, las Lale vor. „Meine Fresse“, grinste Peter. „Kitschiger ging’s wohl nicht!“ 153
„Ein Liebesbrief“, sagte Lale. „Das ist doch schön.“ Dieser Rumi schien seine Ulla ja wirklich lieb zu haben. Er schrieb ihr, wie schön sie sei und wie sehr er sie mochte. Und er beklagte sich darüber, dass sie ihm so lange nicht geschrieben hätte. Lale las sich regelrecht fest in dem Brief. So einen Liebesbrief wollte sie irgendwann auch einmal bekommen. Aber ihn Peter vorzulesen, fand sie denn doch zu peinlich. So blieb Peter nichts anderes übrig, als selbst zu lesen. „Meine Fresse“, ereiferte er sich. „Haste so was schon mal gehört! Und dann klebt er ihr noch ‘n Vergissmeinnicht drauf. Also lieb hatte er sie, das muss man ihm lassen.“ Plötzlich pfiff Peter leise zwischen den Zähnen. „Hör mal“, sagte er aufgeregt. „Der beklagt sich hier, dass sein Augenstern ihm nicht schreibt: ,Ich glaube, deine Mutter unterschlägt meine Post.’ Das erklärt alles! Kula hat dieser Ulla die Post nicht gegeben. So ‘ne Gemeinheit!“ Einen Moment sahen Lale und Peter sich empört an. Dann raffte Lale entschlossen die Briefe zusammen und stopfte sie in ihren Ärmel. „Wir nehmen sie mit“, sagte sie. „Und wenn wir Rumi Armut finden, geben wir sie ihm. Er muss doch wissen, was mit seinen schönen Briefen passiert ist. Jedenfalls wissen wir jetzt, dass Kula eine Tochter hat, die Ulla heißt.“ „Ich frage mich nur, was Jula mit all dem zu tun hat“, fügte sie dann nachdenklich hinzu. Neugierig griff sie nach einem der Fotoalben, die in der Kiste lagen. Ob sich darin ein Bild von einem Liebespaar fand? Dann wüsste man wenigstens, wie dieser Rumi Armut aussah. Oder Ulla Schulze. 154
Hätte Lale gewusst, welchen Schreck sie im nächsten Augenblick bekommen würde, hätte sie vielleicht nicht in das Album hineingeschaut. Denn gleich vom ersten Foto blickte sie selbst sich entgegen. Auch Peter starrte verblüfft auf das Bild. „Ne, das biste doch nicht“, rief er dann unvermittelt. „Die hat ja rotes Haar!“ Tatsächlich, das Mädchen, das Lale wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sah, hatte statt Lales schwarzvioletter Haare einen feuerroten Schopf. Noch leuchtender als der von Kula. Irritiert blätterte Lale weiter. Das Mädchen wurde auf den Fotos allmählich größer und älter und wuchs zu einer hübschen jungen Frau heran. Auf einem Bild sah man sie lachend Arm in Arm mit einer älteren Frau. „Tula“, freute sich Peter. „Jula“, rief Lale gleichzeitig aus. „Nein, Kula“, sagte eine Stimme hinter ihnen. Erschrocken drehten sich die Kinder um. Sie waren so ins Anschauen der Fotos vertieft gewesen, dass keiner von ihnen Kulas Hereinkommen gehört hatte. Wie lange sie da schon gestanden und ihnen zugesehen hatte, wussten sie nicht. „Das ist meine Tochter Ulla, und das daneben bin ich“, sagte Kula barsch. „Aber egal, wie ihr mich nennt, niemand hat es gern, wenn man in seinen Privatsachen herumwühlt. Und ich kann es erst recht nicht leiden. Also Schluss für heute.“ Damit nahm sie Lale das Album aus der Hand, klappte es zu und legte es zurück in die Kiste. Zum Glück schien 155
ihr nicht aufzufallen, dass die Briefe obenauf fehlten. Und sie merkte auch nicht, dass Peter, bevor sie den Deckel der Kiste zuklappte, noch schnell ein loses Foto daraus stibitzte. Beim Frühstück am nächsten Morgen herrschte dicke Luft in Kulas Küche. Lale und Peter konnten sich zunächst nicht daran erinnern, was sie Schlimmes verbrochen haben sollten. Der Hafen des Vergessens schien seinen Namen zu Recht zu tragen! Aber Kula half ihrem Gedächtnis wieder auf die Sprünge. „Diese Schnüffelei dulde ich nicht in meinem Haus“, schimpfte Kula. „Und deshalb packt ihr nach dem Frühstück eure Sachen zusammen und verschwindet von hier. Von mir aus nehmt euch eine Jolle im Hafen, damit ihr weiterkommt. Die Sturmwind III könnt ihr haben. Und dann, Schwamm drüber, das ist meine Devise.“ Sie wies mit dem Kinn zum Hafen des Vergessens hinüber. Dann wandte sie sich betont freundlich an Muffelchen. „Du kannst selbstverständlich bleiben“, sagte sie zu ihm. „Du warst ja heute Nacht nicht mit von der Partie.“ Muffelchen schaute entsetzt zu Lale herüber. „Muffelchen stammt zwar vom Acker des Bleibens, aber bei dir bleibt auch er nicht gern“, kam Lale ihm zu Hilfe. „Genau“, stotterte Muffelchen. „Ich will lieber bei den anderen bleiben.“ In diesem Moment bemerkte Lale, dass Kula traurig aussah. Aber sie war selber schuld! Was stellte sie sich auch so an? Warum war sie so streng? Warum half sie ihr nicht und schaute die Fotoalben mit Lale zusammen an? Warum erzählte sie ihr nicht von Ulla und Rumi Armut? 156
Sicher hat sie diesen Rumi auch vergrault, vermutete Lale. Und ob sie ihre Tochter Ulla aus dem Haus gejagt hatte? Lale lief ein Schauder über den Rücken. Sie sprang auf und lief in ihr Schlafzimmer hinauf. Keine Minute länger wollte sie in Kulas Gegenwart an ihrem Brötchen herumwürgen. Mit ein paar Handgriffen hatte sie ihre Sachen zusammengerafft. Das Bündel mit Rumi Armuts Briefen steckte sie zusammen mit dem goldenen Brief in ihre Brotdose. Kula würde ihnen bestimmt keine Stullen für die Reise schmieren. Halb bestürzt und halb schon sich befreit fühlend verließen die Freunde wenige Minuten später Kulas Haus. Mit verschränkten Armen stand Kula hinter dem Küchenfenster und sah ihnen nach, wie sie zum Hafen des Vergessens hinübergingen. Die Kinder hielten Ausschau nach der Jolle, die Kula ihnen genannt hatte. Es war Muffelchen, der die Sturmwind III als Erster erspähte. Vorsichtig kletterten sie in das schwankende Schiffchen hinein. Und dann saßen Lale und Peter mit Kalle und Muffelchen in einem Segelboot und wussten nicht, wie sie lossegeln sollten. Unschlüssig schauten sie sich an. „Erst mal Segel setzen, denke ich“, sagte Peter. Lale schluckte. „Tja, aber – wie?“, fragte sie. Ihr war mulmig zumute. Nicht nur, dass sie nicht wusste, wie man ein Segelboot lenkte. Sie wusste ja nicht einmal, wohin sie es lenken wollte. In diesem Moment sah sie Kula aus dem Haus kommen. Den linken Am hielt sie leicht angewinkelt in Höhe des 157
Ellenbogens vor sich hin. Darauf saß Herr Papale. Zielstrebig näherte sich Kula der Sturmwind III. „Herr Papale fährt mit euch“, rief Kula, als sie näher kam. „Hätte dieser Plapperschnabel gestern morgen nicht von Rumi geplaudert – so, das hast du jetzt davon.“ Damit setzte sie den Papagei auf dem Bootsrand ab. „Davon! Davon!“, lärmte Herr Papale. „Guckt mich nicht so an, als wäre ich eine böse Hexe“, schimpfte Kula weiter. „Mit Herrn Papale habt ihr einen prima Steuermann. Mit seiner Hilfe schafft ihr das schon. Immer geradeaus übers Meer der Stoßseufzer, dann landet ihr direkt bei Lula. Da könnt ihr weiterschnüffeln. Hier habt ihr noch ein bisschen Proviant. Ich bin ja gar nicht so.“ Damit warf sie Peter ein Päckchen Zwieback und eine Tüte Weingummi zu. Peter fing alles geschickt in der Luft auf. „Prima Proviant. Prima Lula! Prima, prima“, schrie Herr Papale begeistert. „Segel setzen. Luv und Lee. Alle Mann an Bord. Prima.“ Lale und Peter schauten sich an. Na, das konnte ja heiter werden. Immerhin schafften sie es unter den Anweisungen des Vogels, die nötigen Handgriffe ungefähr in der richtigen Reihenfolge auszuführen. Kula stand die ganze Zeit über mit verschränkten Armen am Ufer und schaute ihnen zu. „Klar bei Vorleine“, kommandierte Herr Papale. „Fock back an Backbord.“ „Meine Fresse“, fluchte Peter. „Ist klar, Alter. Fock und back und back und bord.“ „Fock back an Backbord“, schrie Herr Papale noch einmal. 158
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Lale sah flüchtig zu Kula hinüber. Sie wischte sich gerade eine Träne aus dem Augenwinkel. Dabei murmelte sie etwas vor sich hin, aber der Wind verschluckte die Worte, und Lale konnte nicht genau verstehen, was Kula sagte. Aber es kam ihr so vor, als hätte Kula ihnen eine gute Reise gewünscht. Und dann rief Kula noch etwas. Lale traute ihren Ohren kaum. Denn während sie ihr zuwinkte, rief Kula mit barscher Stimme: „Grüßt Rumi von mir!“
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7. Kapitel in dem Lale und ihre Reisegefährten das Meer der Stoßseufzer überqueren Der Hafen des Vergessens lag weit hinter ihnen. Wenn sie sich umdrehten, konnten sie ihn in der Ferne, fast schon am Horizont, eben noch erkennen. Die Sonne schien wärmend auf sie herab, der Himmel war blau, und es wehte eine angenehme leichte Brise, die die Sturmwind III freundlich vorwärts trieb. Herr Papale als Steuermann hielt sie mit seinen Kommandos auf Trab. Peter war zum Vorschoter berufen, und Lale saß neben dem Papagei an der Ruderpinne. Sie war jetzt sehr froh, dass Kula ihnen den Vogel mitgegeben hatte. Was hätten sie nur ohne ihn gemacht? „Klar zum Wenden!“ „Ree!“ „Über die Segel! Über die Segel!“ „Schoten dicht! Schoten dicht!“ „Hol dicht die Großschot! Hol dicht!“ „Mach ich ja schon. Beruhige dich!“, seufzte Peter. Peter und Lale stellten sich gar nicht so ungeschickt an. Bald glitten sie in flotter Fahrt über das Meer. Kalle, der auf dem Masttopp saß, sang munter vor sich hin, und Muffelchen ließ sich den Wind um seine kleine Erdmuffelnase wehen. Plötzlich war ein seltsames Stöhnen zu hören. Ein unheimliches Wehklagen mischte sich in Kalles Zwitschern. Erst leise, sodass man es noch für eine Sinnestäuschung 161
halten konnte, dann lauter und immer lauter. Ein Ächzen und Seufzen, wie es die Kinder im Leben noch nicht gehört hatten. Erschrocken hielt Kalle inne. „Was war denn das?“, fragte Lale. „Pscht“, zischte Peter. Sie lauschten. Wieder hörten sie das merkwürdige Seufzen. Angestrengt hielten sie in alle Richtungen Ausschau. Hoffentlich gab es hier keine Meeresungeheuer, von denen man noch nie zuvor etwas gehört hatte? Aber weit und breit war nichts zu sehen. Der Himmel war immer noch blau, ein paar weiße Wölkchen sahen aus wie hineingemalt. Das Wasser war von einem klaren Seegrün, mit weißen Schaumkrönchen darauf. Keine Spur von großen Fischen, Krokodilen oder anderen wilden Tieren. Da war es wieder. „Ich liebe dich“, seufzte etwas. „Ich sehne mich“, schluchzte es. „Meine Fresse“, stammelte Peter. „Veräppeln kann ich mich selbst!“ „Ich bin so einsam, ach“, stöhnte es von der anderen Seite. „Mit Tula gab es Krach.“ „Das klingt wie meine Mutter!“, rief Peter aufgeregt. „Kraaach.…“ „Kraaaaach.…“ Lale zuckte zusammen. „Alleiiiin, alleiiiin“, wisperte es plötzlich hinter ihr. „Verflixt gemeiiin“, tönte es von der anderen Seite. Immer stärker fing es um die Sturmwind III zu sausen und zu brausen an. Es schien das Meer selbst zu sein, das 162
voller Seufzer war, das aufgeregt plapperte und klapperte und ihnen etwas vorjammerte und greinte. „Mein Augenstern.“ „So fern, so fern.“ „Komm her, komm doch her.“ „Das Herz.……“ „.… so schwer.“ „Weit übers Meer.“ „.… und kann nicht mehr.“ „Von Tag zu Tag schlimmer.“ „Erlaubt’s nie und nimmer.“ „Fort. Fort. Er ist fort.“ „.… doch nur ein Wort.“ „Tage so trauuurig.……“ „Nächte so schauuurig.……“ „Grüßt Rumi von mir.“ „Schon lang nicht mehr hier!“ „Nie und nimmer. Nimmer und nie.“ „Rumi und Ulla!“ „Ulla!“ „Rumiiii!“ „Uuuhhhh.…“ „Iiiiihhh.…“ „Uuuuhhhwwwiiiiiuuuuhhhwwwiiiiiuuuuhhhwwwiiiiihhh.…“ „Uuuhhhh.…“ „.…iiiiihhh!“ „Und was wird aus dem Kind?“ „Das tröstet der Wind.“ Lale hatte einmal eine Geschichte gelesen, in der sich 163
ein Mann am Mast seines Schiffes festbinden ließ. Er fuhr nämlich an einer Insel vorbei, auf der irgendwelche Frauen wohnten, die wunderschön singen konnten. Vielleicht waren es auch keine normalen Frauen, sondern Nixen oder andere Fabelwesen, Lale erinnerte sich im Moment nicht mehr so genau. Jedenfalls sangen sie mit so überirdischen Stimmen, dass alle, die sie hörten, auf der Stelle zu ihnen schwimmen wollten. Sie stürzten sich ins Meer, wo sie dann natürlich ertranken. Und wer nicht ertrank, wurde von ihnen getötet. Hier war es gerade umgekehrt. Das Weinen und Greinen der Wellen klang so unheimlich, dass man am liebsten ins Wasser gesprungen wäre, um den Jammer nicht mehr hören zu müssen. Und es waren nicht nur die Klagelaute der Wellen um sie herum, die sie hörten. Der Wind schien die Seufzer aus immer weiterer Ferne zu ihnen herüberzuwehen. Muffelchen lag bereits weinend im Bauch des Schiffes und hielt sich die Ohren zu. „Wann hört das endlich auf?“, schluchzte er. Als wären die Wellen ein Echo, stöhnte es zurück: „Wann hört das auf? Hört das auf?“ „Nie, nie, nie, nie, nie“, ächzte es an anderer Stelle. Ein entferntes „Tatü-tata“, drang an Lales Ohren. Und auch noch ein anderes Sirenengeheul: „Wu-hi-wu-hi wu-hi.……“ Und dann schrillte Babygeschrei in ihren Ohren. Es klang herzzerreißend. In der Geschichte, an die sich Lale erinnerte, hatte der Mann, der sich an den Mast binden ließ, seinen Gefährten 164
die Ohren mit Wachs verstopft. Aber woher sollten sie jetzt so schnell Wachs bekommen? Peter hatte die rettende Idee. Kulas Proviant! Hastig zog er die Tüte Weingummi unter der Sitzbank hervor. Es waren dicke runde Weingummidrops in Form von Himbeeren und anderen Früchten. Die rosaroten Himbeeren passten am besten in die Ohren der beiden Kinder, und für Muffelchens zierliche Erdmuffelohren waren die gelben Zitronenschlitze hervorragend geeignet. Schnell steckten sich die drei die Weingummistöpsel in die Ohren. Die Seufzer ebbten ab. „Armer Kalle, was machen wir nur mit dir?“, fragte Lale. Die Stöpsel wirkten so gut, dass sie ihre eigene Stimme kaum noch hören konnte. Hoffentlich kriegen wir sie später ohne Probleme wieder heraus, dachte Lale. Normalerweise wäre sie natürlich nie im Leben auf die Idee gekommen, sich Weingummi in die Ohren zu stecken. Dazu war es ja auch entschieden zu lecker. Kalle suchte Zuflucht unter Lales weitem Pullover. Da warmes Sommerwetter herrschte, hatten die Kinder Jacke und Pullover ausgezogen und zusammengerollt unter die Sitzbank geschoben. Nun verkroch sich Kalle, so tief wie es nur ging, in der flauschigen Wolle. Herrn Papale schien das Seufzen des Meeres gar nichts auszumachen. Er hielt seinen Kopf leicht nach links geneigt und lauschte aufmerksam. Mitunter wiederholte er einige Jammer- und Klagelaute, die ihm besonders gut gefielen. „Herzeschwer, ich kann nicht mehr“, kreischte er begeistert. 165
Zwischendurch gab er weitere Segelkommandos von sich. „Rund achtern!“, schrie er. „Fier auf die Großschot! Fier auf! Fierauf!“ Aber da Lale und Peter Ohrstöpsel hatten, hörten sie ihn nicht. Und so kam es, dass die Sturmwind III bald bedenklich ins Trudeln geriet.
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8. Kapitel in dem die Sturmwind III Schiffbruch erleidet und Lale und Peter sich zanken „Kelle-relle-relle, das war ‘ne hohe Welle. Wir kippten auf der Stelle. Die Sturmwind III, sie sank. Kulle-rulle-rulle, trink erst mal aus der Pulle. Spül dir den Mund, du bist gesund und lebst noch, Gott sei Dank.“ Allmählich kam Lale wieder zu sich. Sie musste würgen und spucken. Was für einen widerlichen Geschmack hatte sie nur im Mund? Offenbar hatte sie eine ordentliche Portion Salzwasser hinuntergeschluckt. Neben ihr würgte und keuchte Peter. Als er sie sah, bewegte er heftig die Lippen, aber Lale konnte kein Wort von dem, was er sagte, verstehen. Um Himmels willen, war sie taub geworden? Ach nein, sie hatte ja noch die Ohrstöpsel in den Ohren. Schnell nahm Lale die Weingummidrops heraus. „.… ist hin, meine Fresse. Haste dir weh getan?“ Lale schüttelte den Kopf. So weit sie es beurteilen konnte, war noch alles an ihr dran. Aber wo war sie überhaupt? Sie blickte um sich. Peter und sie lagen auf feinem weißen Sand, nur ein paar Schritte vom Meer entfernt. Freundlich plätscherten die Wellen ans Ufer, und ab und an wagte sich ein vorwitziger Ausläufer bis in ihre Nähe und kitzelte sie an den Füßen. Oberhalb des Sandstreifens standen Bü167
sche und Bäume. Sie sahen aus wie Palmen, die Lale bislang nur aus Bilderbüchern kannte. Hohe, schlanke Kokospalmen gab es da und niedrigere, buschartige Dattelpalmen. In einiger Entfernung, am Ende des Strandes, erhob sich ein zerklüfteter Felsen. Was für ein schöner Strand! Aber wo war die Sturmwind III? Lale kniff die Augen zusammen und spähte aufs Meer hinaus. Sehr weit hinten in Richtung Horizont ragte etwas auf. War das ihre umgekippte Jolle? Und trieb da etwa der Mast im Wasser? Fast schien es Lale, als könne sie Herrn Papale noch auf dem umgestülpten Bootsrumpf sitzen sehen. Der arme Vogel! Kula hatte ihm ja die Flügel gestutzt, sodass er nicht fliegen konnte. Wie sollte er sich nur ans Ufer retten? Und wo war Muffelchen? Lale konnte den braven kleinen Kerl nirgends entdecken. Ob er überhaupt schwimmen konnte? Hoffentlich war ihm nichts zugestoßen. Was hätte sie darum gegeben, jetzt von irgendwoher sein zaghaftes, nerviges „Vorsicht, Vorsicht!“, zu hören. Kalle hatte sich zum Glück aus seinem Pulloverversteck retten können. Als die Sturmwind III unterging, dachte Peter geistesgegenwärtig daran, den Pullover mit einem Ruck hochzureißen, und Kalle war ans Ufer geflogen. Er zwitscherte schon wieder vergnügt und munter. Lale atmete erleichtert auf. Jetzt musste sie erst einmal einen Schluck aus der Wasserflasche trinken. Dieser salzige Geschmack im Mund war ja nicht auszuhalten. Ihre Trinkflasche lag in Lales Nähe auf dem Sand. Eini168
ge freundliche Wellen, die es gut mit ihnen gemeint hatten, hatten sie an Land gespült. Lale trank, dann reichte sie die Flasche an Peter weiter. Während Peter noch trank, schien ihm plötzlich etwas einzufallen. Wie von der Tarantel gestochen sprang er mit einem Satz auf die Füße. Dabei verschluckte er sich und prustete und spritzte wild mit dem Wasser um sich herum. „Pass doch auf“, rief Lale wütend. „Das kostbare Trinkwasser!“ „Mannomann, Kulas Foto!“, schrie Peter. Da verstand Lale seine Aufregung. Peter fühlte in seinen Hosentaschen nach. Er zog ein zerknittertes, zerkrümeltes und zerknautschtes, aber doch nicht gänzlich kaputtes Stück Papier hervor. „Ein Segen“, seufzte Peter. „Das hatte ich mir noch schlimmer vorgestellt.“ Das Foto war zwar nass und an den Rändern aufgeweicht, aber das Bild war noch zu erkennen. Sorgsam legte Peter das Foto zum Trocknen auf den Sand. Am Rand beschwerte er es mit der Trinkflasche, damit der Wind es nicht wegwehte. „Guck dir das an.“ Peter pfiff leise durch die Zähne und schüttelte staunend den Kopf. Zögernd warf Lale einen Blick auf das Bild. Sie erkannte die Frau wieder, die ihr so ähnlich sah und von der sie in Kulas Fotoalben auch schon einige Bilder als junges Mädchen gesehen hatte. Die Frau mit den roten Haaren und den Augen, so grün wie ein Tulpenstängel. Neben der Frau stand ein Mann, der liebevoll seinen 169
Arm um ihre Schulter legte. Bei seinem Anblick machte Lales Herz einen wilden Hüpfer in ihrer Brust. Fast wäre sie vor Schreck selbst in die Höhe gesprungen. Lale hatte diesen Mann zwar noch nie gesehen. Aber trotzdem war er ihr seltsam vertraut. Seine Haare waren nachtblau. Sie hatten genau die gleiche Farbe wie Lales Haare. „Wenn du mich fragst“, sagte Peter zögernd. „Ich meine, der Mann und die Frau. Also wenn du mich fragst, siehste denen verflixt ähnlich. Von der Frau haste das Gesicht, vor allem die Nase und die grünen Augen. Aber von dem Manne haste das Haar. So ‘n Mitternachtsblau gibt’s ja nicht alle Tage.“ Nachdenklich schaute Peter zwischen Lale und dem Foto hin und her. „Bist du sicher, Lale, dass du wirklich aus einer Tulpenzwiebel stammst? Ich meine, die beiden hier – meinste nicht, dass das deine Eltern sein könnten?“ Lale antwortete nicht. Sie war zu aufgeregt. Stattdessen stand sie auf, zog ihre nassen Kleidungsstücke aus und breitete sie zum Trocknen im Sand aus. Peter tat es ihr gleich. Nur das Unterzeug ließen die Kinder an. Es war ein heißer Hochsommertag, da trockneten die Sachen schnell und sie mussten nicht frieren. Nach der Trinkwasserflasche war weiteres Strandgut von der Sturmwind III angespült worden. Das Päckchen Zwieback, das Kula ihnen gegeben hatte – durchweicht und ungenießbar. Muffelchens Schuhputzbürste. Lales roter Pullover. Ihr rechter Schuh – sie war barfuß gesegelt. Ob wohl auch noch der linke Schuh kam? Sonst nützte ihr der rechte 170
nicht viel. Die Strömung schien günstig zu sein. Und auch der Wind schien sich Mühe zu geben die Stücke in ihre Richtung zu treiben. Und dann war da ja auch noch die Brotdose mit der wertvollen Briefpost darin, auf deren Rettung Lale hoffte. Lale schaute noch einmal aufs Meer. Sie sah den Mast im Wasser schwimmen. Auch er war näher an Land getrieben worden. Plötzlich musste Lale vor Aufregung schlucken. Da hielt sich was am Mast fest. Was war denn das? Das war doch – das waren tatsächlich zwei modderfarbene Pfötchen. Und eine kleine, wohlvertraute Schnauze tauchte aus den Fluten auf, schnappte nach Luft und dückerte sogleich wieder unter. „Peter! Da ist Muffelchen!“ In diesem Moment hörten sie sein Stimmchen. „Hilfe! Vor.…!“ Dann war das Schnäuzchen wieder im Wasser verschwunden. Peter begriff sofort, worum es ging. Mit schnellen Schritten spurtete er ins Wasser und begann in die Richtung zu kraulen, in der das Mastholz trieb. Es dauerte nicht lange, da hatte er die Stelle erreicht. Vom Ufer aus konnte Lale sehen, was für ein tüchtiger Rettungsschwimmer Peter war. Wie gut, dass sie ihn zum Freund gewonnen hatte! Schon hielt er Muffelchen in Rückenlage mit sicherem Griff untergefasst und schwamm mit ihm zurück in Richtung Ufer. Als sie näher kamen, konnte Lale Muffelchen klagen hören. 171
„Hilfe! Hilfe! Wasser! Ich werd ja immer nasser!“ Lale lachte. Dank Muffelchen würden die Wellen demnächst etwas Neues zu seufzen haben. Endlich hatten die beiden Freunde das rettende Ufer erreicht. Erschöpft sackte Muffelchen im Sand nieder. Der arme Erdmuffel war am Ende seiner Kräfte. „Wasser! Wasser!“, japste er. Lale griff nach der Trinkflasche, um sie ihm zu reichen. Einen kleinen Rest hatte Peter vorhin wohl übrig gelassen. Oh weh, sie hatte nicht daran gedacht, dass die Flasche ja das Foto beschwerte. Kaum hatte sie sie hochgehoben, da kam auch schon ein leichter Windstoß, kaum mehr als ein Hauch, und pustete das Stück Papier über den Strand. Peter sprang auf und lief hinterher. Aber so sehr er sich auch bemühte es zu erhaschen, der Wind pustete es immer wieder vor ihm her. Ganz ruhig schien das Foto auf dem Sand zu liegen, ja sogar auf Peter zu warten. Aber kaum bückte er sich, da flatterte es wie von Geisterhand getrieben weiter. Nach einer Weile gab Peter enttäuscht auf. So ein Pech! Da hatte er das Foto listig und geistesgegenwärtig – vor Kulas Augen! – ergriffen. Das Beweisstück hatte sogar das Kentern der Sturmwind III überstanden. Und nun verlor er es doch. In der Ferne, am Ende des Sandstrandes, dort, wo der Strand von einem Felsen begrenzt wurde, sah er den Papierfetzen über ein paar Steine flattern. Dann blieb er in einem Gebüsch hängen. Aber Peter hatte keine Lust, barfuß wie auch er war, dem Bild weiter zu folgen. Sollte Lale es doch selbst holen. Schließlich war es ihre Schuld, dass der Wind das Bild 172
fortgeweht hatte. Was musste sie auch so achtlos die Flasche hochheben!
Missmutig kehrte Peter zu den anderen zurück. „Wichtig ist ja gar nicht das Foto“, sagte Lale. „Hauptsache, wir haben es überhaupt gesehen. Aber der Brief für Rumi Armut!“, fuhr sie aufgeregt fort. „Der macht mir Sorgen! Der steckt nämlich zusammen mit den anderen Briefen in meiner Brotdose. Und die Brotdose steckt im 173
Rucksack. Zu dumm, dass du den Rucksack im Boot gelassen hast. Und den Brief hättest du auch besser in deine Hosentasche gesteckt!“ Nun sollte Peter auch noch schuld daran sein, dass Lale den Brief nicht mehr hatte? „Meine Fresse, ich glaub es nicht“, platzte er. „Wülste mich veräppeln? Ich bin es, der das Foto mit deinen Alten gerettet hat. Und Muffelchen. Zwei Male schon! Du stehst doch nur blöde rum und guckst zu! Wer hat denn das Foto fortfliegen lassen? Ne, ich glaub’s nicht.“ „Muffelchen gerettet, ha! Peter, der große Retter! Ohne dich wäre er vielleicht gar nicht in Gefahr geraten!“, hörte Lale sich sagen. Sie wusste selbst nicht, warum sie plötzlich so wütend auf Peter war. Eben war sie doch noch so froh über ihre Freundschaft gewesen. Aber wie er sich jetzt aufspielte, war einfach nicht erträglich. „Ohne dich hätte Kula uns vielleicht gar nicht rausgeschmissen“, giftete sie. Peter schaute sie sprachlos an. „Ich glaub es nicht“, wiederholte er noch einmal. Dann drehte er sich auf der Stelle um und stapfte in Unterhemd und -hose davon. Auch Lale drehte sich um und schaute in die andere Richtung.
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9. Kapitel in dem Herr Papale seinen Schnabel ins Trockene bringt und für Lale eine Kokosnuss knackt Lale wusste nicht, wie lange sie schon an dieser Stelle kauerte und vor sich hin in den Sand starrte. Eine Weile hatte sie geweint, aber inzwischen hatte sie nicht einmal mehr zum Weinen die nötige Kraft. Sie fühlte sich hundeelend. Was hätte sie darum gegeben, jetzt zu Hause bei Jula zu sein. Wenn man doch einfach mit dem Finger schnipsen und sich nach Hause wünschen könnte! Sie hatte solches Heimweh. Sie wünschte, sie hätte diese ganze Reise nie unternommen. Nie würde sie diesen Rumi Armut ausfindig machen. Und was nützte es auch, wenn sie ihn fand? Falls sie ihm je begegnen sollte, hätte sie überhaupt keinen Brief dabei, den sie ihm hätte geben können. Das Schlimmste aber war, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie je wieder nach Hause finden sollte. Ach, wäre sie doch nur bei Jula geblieben! Rumi Armut und Ulla Schulze interessierten sie nicht. Deine Alten, hatte Peter gesagt. Lale fand das Wort schrecklich. Und Eltern wollte sie auch nicht haben. Sie war immer damit zufrieden gewesen, aus einer Tulpenzwiebel zu stammen und bei ihrer Jula zu Hause zu sein. Von Peter war weit und breit nichts zu sehen. Irgendwo in der Ferne war er im Gebüsch verschwunden und schien nicht wiederkommen zu wollen. Nicht einmal Kalle und 175
Muffelchen teilten ihre Trauer. Muffelchen hatte zwar eine Weile mit ihr zweistimmig geschluchzt, aber dann war der kleine Kerl vor Erschöpfung eingeschlafen. Und Kalle hatte sich auf einen Palmbusch zurückgezogen, ein wenig an einer Dattel gepickt und schlief jetzt ebenfalls. Lale fühlte sich im Stich gelassen. Sie war ganz allein auf der Welt. Wie hatte die Stimme auf dem Meer der Stoßseufzer gestöhnt? „Tage so trauuurig, Nächte so schauuurig.……“ Genau so ging es ihr. Auf sie und auf keinen anderen war dieser Seufzer gemünzt. Und bald würde es Nacht werden. In der Dunkelheit würde sie hier sitzen. Vielleicht auch in der Kälte? Wer weiß, was auf dieser Insel so alles des Nachts geschah. So warm es noch war, aus irgendeinem Grund hatte Lale das Gefühl, dass es nachts kräftig abkühlen würde. Es lag mit einem Mal ein Hauch in der Luft, der Lale an einen Herbstabend erinnerte. Lale stand auf und ergriff ihre Anziehsachen. Die Sonne und der warme Wind vorhin hatten sie längst getrocknet. Sie zog sich an. Peters Sachen legte sie ordentlich zusammen und beschwerte sie mit zwei Kokosnüssen, die im Sand lagen. Seine Hose sollte nicht auch noch fortfliegen, dachte sie. Sie merkte, wie hungrig sie war. Von zwei Weingummistöpseln wurde man schließlich nicht satt. Zu gern hätte sie ein Stück Kokosnuss gegessen, aber womit sollte sie die harte Nuss knacken? Dazu brauchte sie Werkzeug. Eine Säge oder Hammer und Meißel, irgendeinen scharfen, spitzen Gegenstand. Und das hatte sie nicht. Die Palme, auf der Kalle hockte, war eine Dattelpalme. 176
Von dem recht niedrigen Busch konnte Lale immerhin ein paar Früchte abpflücken und sich damit stärken. Sie klaubte einen kleinen Vorrat zusammen, um später auch Muffelchen davon abgeben zu können. Und Peter? Ach, der sollte selbst sehen, wie er zurechtkam, dachte Lale trotzig. Ob sie ihn überhaupt je wiedersah? Der Abend kam heran. Die Sonne war ein großer, orangefarbener Ball geworden. Lale sah zu, wie sie angeberisch auf der Horizontlinie balancierte. Dann stürzte sie ins Meer und zersprang in tausend Splitter und Farben. Wieder musste Lale die Augen weit aufreißen. War das ein Sonnensplitter, der sie blendete, oder konnte sie ihren Augen trauen? Wer kam denn da angepaddelt? Kam da überhaupt jemand angepaddelt? Na, und ob. Je näher das seltsame kleine Paddelboot kam, desto besser war die Stimme des Kapitäns zu hören. „Zwei Strich Backbord! Aye, aye, Sir! Steuerbord!“ Es war Herr Papale, der Lales linken Schuh als Bötchen und seine Flügel als Paddel benutzte. Stolz saß er in seinem Rettungsboot und erteilte sich selbst Befehle. Mit Hilfe der Strömung arbeitete er sich gemächlich in Richtung Ufer. „Land in Sicht! Lale in Sicht!“, schrie er, je mehr er sich dem Strand näherte. Wie glücklich war Lale, als Herr Papale das Ufer erreichte und aus dem Schuh heraushüpfte. „Herr Papale! Gott sei Dank, du bist hier!“, rief sie. „Gott ist hier! Papale sei Dank!“, krächzte der Papagei zurück. Lale wurde es gleich viel wärmer ums Herz. Nie hätte 177
sie gedacht, dass sie sich über die Gesellschaft dieses Vogels so freuen könnte. Und als sie seinen kräftigen, gebogenen Schnabel sah, wusste sie auch, womit sie die Kokosnuss knacken könnte. Besser gesagt, wer die Kokosnuss für sie knacken würde. „Los, Kapitän, an die Arbeit“, bestimmte sie. „An die Arbeit“, lärmte Herr Papale so laut, dass Muffelchen und Kalle davon erwachten. Endlich konnte Lale ihre Schuhe wieder anziehen. Mit Schuhen fühlte sie sich gleich viel stärker. Mit seinem scharfen Schnabel knackte Herr Papale eine Kokosnuss. Und dann machten die vier Schiffbrüchigen Picknick am Strand, knabberten Datteln und Kokosnüsse und tranken frische Kokosnussmilch. Lales traurige Stimmung und ihre Wut auf Peter waren verflogen. Deshalb ertappte sie sich schon bald bei dem Gedanken: „Ach, wäre doch Peter jetzt auch bei uns!“
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10. Kapitel in dem die Schiffbrüchigen in der Höhle der Bilder übernachten Nachdem die Sonne untergegangen war, wurde es schnell dunkel. Und Lale merkte, dass sie sich nicht geirrt hatte. Vom Meer zog ein kühler Abendhauch heran. Sicher war es hier nachts zu kalt, um am Strand unter freiem Himmel zu schlafen. Nachdem Lale und ihre drei Gefährten sich satt gegessen hatten, packte Lale im fahlen Mondlicht die geretteten Gegenstände und Peters Kleidung zusammen. Vielleicht boten die Felsen, die sie am anderen Ende des Strandes gesehen hatte, einen Unterschlupf für die Nacht? Auch Peter war ja in diese Richtung gelaufen. Vielleicht würde sie ihren Freund dort wiederfinden und sich wieder mit ihm vertragen? So machte sich Lale auf den Weg. Herr Papale thronte auf ihrer Schulter. Tapfer trottete das Stiefelputzererdmuffelchen hinterdrein. Auf seiner Schulter saß Kalle. Auch Muffelchen hatte dazugelernt, er beschwerte sich nicht mehr über Kalles Gewicht. Oder war er stärker geworden? Eine Weile stapften sie durch den Sand. Er quoll in Lales Schuhe und machte das Laufen beschwerlich. Endlich hatten sie den Fuß der Felsen erreicht. Bevor sie weiterging, setzte sich Lale erst einmal auf einen Stein und leerte den Sand aus ihren Schuhen. Dann kletterte sie beherzt über die Steine. 179
Lale fand diesen Platz für die Nacht gar nicht so schlecht. Überall gab es Felsvorsprünge, ja geradezu elegante Felsenterrassen. Größere Steine und Gebüsch spendeten willkommenen Schutz gegen die kühle Brise, die vom Meer herwehte. Suchend schaute sich Lale nach einem geeigneten Schlafplatz um. Morgen früh wollte sie den Felsen hochklettern und von dort Ausschau über die Gegend halten. Der Berg schien gar nicht so hoch zu sein. Jedenfalls wirkte er harmlos im Vergleich zu dem Berg des Abschieds. Plötzlich sah Lale, wie sich hinter einem dornigen Busch eine Öffnung im Felsen auftat. Das Mondlicht fiel auf den Eingang zu einer Höhle. Aber auch von innen heraus schien die Höhle hell erleuchtet zu sein. Für einen Moment sah der Eingang aus wie der Eingang zu Julas Haus. Es sah aus wie in der Vorweihnachtszeit, wenn Jula die Haustür mit einem Kranz aus Tannengrün geschmückt hatte und der goldene Weihnachtsstern über der Tür leuchtete. Verdutzt rieb sich Lale die Augen. Aber da waren Adventskranz und Stern schon wieder verschwunden. Zögernd ging sie auf die Höhle zu. „Das Erdmuffelschloss! Ihre königliche Erdmuffelmajestät! Hallo Majestät!“, rief Muffelchen plötzlich. Aufgeregt drängte er sich an Lale vorbei. „Genau! Sehr wohl! Euer Diener! Ganz wie -“, rief Muffelchen. Er verstummte mitten im Wort. Das Erdschloss, das er gesehen hatte, war anscheinend schon wieder verschwunden. Lale zögerte. Konnte sie es wagen, in die Höhle hinein180
zugehen? Der Ort war unheimlich. Aber der Wind blies immer heftiger vom Meer zu ihnen herüber. Sie brauchten einen Unterschlupf für die Nacht. Vorsichtig wagte sie sich weiter voran, hinein ins Innere der Höhle. Ach, da war ja ein Schlafzimmer! Ein Bett! Ihr Bett stand ja da! Freudig lief Lale die paar Schritte hinüber zu der Schlafgelegenheit, die wie ihr eigenes Bett aussah. Aber als sie sich selig auf den Kissen niederlassen wollte, wurde sie von etwas Hartem und Kratzigem überrascht. Was war das? Lale fühlte mit der Hand um sich herum. Das Schlaflager war mit Kokosmatten bedeckt. Am Fußende lag eine Decke aus rauen Kokosfasern. Kein Vergleich mit ihren kuscheligen Decken und Kissen, für die Jula gemütliche sternenübersäte Bezüge genäht hatte. Aber immerhin hatten sie nun einen Platz zum Schlafen gefunden. „Herrlich“, hörte sie Muffelchen rufen. Als sie zu ihrem kleinen Freund hinüberschaute, staunte sie nicht schlecht. Muffelchen war damit beschäftigt hingebungsvoll eine Kokosnuss zu streicheln und zu tätscheln. Und jetzt gab er der Kokosnuss allen Ernstes einen Kuss. Plötzlich aber schrie er empört auf. „Vorsicht, Frettchen, mach mir Platz! In diesem Bettchen liegt doch mein Schatz!“, schimpfte er mit der Kokosnuss. Offenbar hatte auch Muffelchen etwas anderes gesehen und erwartet, als das leicht pieksige Kokoslager, das an der gegenüberliegenden Höhlenwand auf ihn wartete. „Seid wann bist du zärtlich zu Kokosnüssen, Muffelchen?“, kicherte Lale. 181
Muffelchen seufzte. „Eben lag noch ein nettes Erdmuffelmädchen hier“, jammerte er. „Jeder von uns scheint hier etwas anderes zu sehen“, wunderte sich Lale. „Na ja, wenigstens sind es freundliche Bilder.“ „Genau“, sagte Muffelchen. „Und Bett ist Bett.“ Damit legte er sich wieder hin. Lale konnte ihm zwar nicht ganz zustimmen. Schließlich war ihr Bett bei Jula hundert Mal bequemer als dieses bescheidene Lager. Aber erschöpft und müde wie sie war, schlief auch Lale bald ein. Im Traum sah sie merkwürdige Dinge. Allerdings war sie sich gar nicht sicher, ob sie wirklich schlief und alles bloß träumte. Immer wieder wachte sie zwischendurch auf, jedes Mal nämlich, wenn sie sich auf die andere Seite drehte und das kratzige Lager unter sich spürte. Und auch jedes Mal, wenn Muffelchen sich umdrehte und sie durch sein Stöhnen weckte. Und wenn sie das Gefühl hatte wach zu sein, waren die Bilder auch da. Es war ein seltsamer Schwebezustand zwischen Wachen und Schlafen, zwischen Traum und Wirklichkeit. Muffelchen und Kalle und Herrn Papale schien es ähnlich wie ihr zu ergehen. Sie hörte, wie sich Muffelchen im Schlaf hin und her wälzte. Immer wieder seufzte er oder gab ein zaghaftes „Vorsicht!“, zum Besten. Und auch von Herrn Papale und Kalle war das eine oder andere Piepsen und Krächzen und aufgeregtes Schnabelgeklapper zu hören. Als Erstes sah Lale einen prächtig geschmückten Weih182
nachtsbaum, an dem glänzende rote und goldene Kugeln hingen. Dutzende von Kerzen brannten und spendeten ein festliches Licht. Eine Frau und ein Mädchen hielten sich an den Händen und tanzten lachend um den Baum herum. Die Frau sah aus wie Jula. Oder wie Tula. Oder wie Kula. Wie Jula als richtig junge Frau, dachte Lale. Also noch jünger als Kula. Und das Mädchen sah aus wie das Mädchen, das Lale auf dem Foto gesehen hatte. Das Mädchen, das ihr so ähnlich sah und genauso tulpenstängelgrüne Augen wie Lale, aber feuerrote Haare hatte. Dann war der Tannenbaum verschwunden. Lale sah ein kleines Mädchen mit nachtschwarzen Haaren auf einer Tulpenzwiebel sitzen. Ob sie selber das war? Aber es war gar nicht Jula, die sie von der Tulpe pflückte. Es war die junge Frau mit den langen roten Haaren. Plötzlich wiegte die Frau ein Baby im Arm. Leider sah sie dabei gar nicht so glücklich aus, wie man denken sollte. Im Gegenteil. Der Frau liefen ja Tränen über die Wangen. Aber warum weinte sie denn? Während sie die Frau anschaute, fragte sich Lale, ob sie träume. Ihr kam es so vor, als hätte sie die Frau vor langer, langer Zeit einmal sehr gut gekannt. Dann sah Lale Schnee auf eine Landstraße fallen. Sie sah die verschneite Winterlandschaft, und sie sah ein Mädchen tapfer auf ihrem Fahrrad vorwärts strampeln. Das bin ja ich, dachte Lale. Sie sah ihre Lehrerin an der Tafel stehen und eine Rechenaufgabe anschreiben. Und sie sah ihren Wellensittich Karlchen, der bei ihr und Jula gelebt hatte, bevor sie Kalle bekam, wie er einen weißen Klecks auf die blaue Seidenbluse ihrer Lehrerin fallen ließ. 183
Plötzlich tauchte der Mann wieder auf, den sie auf dem Foto gesehen hatte und der vielleicht Rumi Armut war. Er zankte sich mit der Frau, die wahrscheinlich Ulla hieß. Sie schrien sich ganz fürchterlich an und dieser Rumi gebrauchte ein paar sehr gemeine Schimpfwörter. Und dann kam Jula ins Zimmer und schrie auch. Mit sich überschlagender Stimme schrie sie, in ihrem Haus werde nicht so grob geflucht. Als Lale gleich darauf mit den Augen blinzelte und sich auf die andere Seite drehen wollte, war das Bild verschwunden. Lale atmete auf. Was für ein schrecklicher Alptraum! Wie gut, dass sich dieses Bild in Luft aufgelöst hatte. So einen Streit wollte sie im Leben nicht miterleben. Aber das nächste Bild konnte sie auch nicht aufheitern. Sie sah Jula in ihrem Krankenbett liegen und schlafen. So zart sah Jula aus und so schwach. Lale musste schlucken. Diese Reise hatte schon viel länger gedauert als geplant. Sie musste sich beeilen und diesen Rumi Armut endlich finden. Da sie den Brief verloren hatte, wollte sie ihm wenigstens davon erzählen. Und er würde ihr erzählen müssen, was für eine Geschichte ihn mit Jula verband. Und mit Tula. Und Kula. Und mit ihr. Im nächsten Bild sah Lale die drei Frauen an Kulas Küchentisch sitzen und auf den Hafen des Vergessens hinausschauen. Aber wie seltsam. Plötzlich verschwammen sie ineinander, und als Lale wieder hinsah, saß nur noch eine von ihnen dort. Aber welche war es denn? 184
Tula? Oder Kula? Oder doch Jula? Lale konnte sie nicht unterscheiden. Und in diesem Moment begriff sie, dass Jula und Tula und Kula in Wahrheit ein und dieselbe Person waren. Es war immer nur Jula, der sie auf ihrer Reise begegnet war. Jula als jüngere Frau. Jula zu Zeiten, in der sie noch nicht Lales liebe Großmutter war. Jula zu einer Zeit, als sie viel strenger und sogar richtig unfreundlich gewesen war. Zu einer Zeit, als sie von einem Mann, der Rumi Armut hieß, auf jeden Fall nichts hatte wissen wollen. Wie würde wohl Lula sein? Ein anderes Bild schob sich vor Lales Augen. Lale sah den Mann mit den schwarzvioletten Haaren, die den ihren glichen, an einem Schreibtisch sitzen und einen Brief schreiben. Sorgfältig malte er Wort für Wort, liebevoll klebte er den Umschlag zu, schwungvoll schrieb er auf die Vorderseite die Adresse und den Absender hinten drauf. Rumi Armut. Lale spürte es deutlich: Sie war diesem Rumi Armut schon ganz nah. Und dann sank sie endlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf, und für den Rest der Nacht sah sie die Bilder nicht mehr, die an der Höhlenwand erschienen.
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11. Kapitel in dem Lale und ihre Gefährten mit der Räuberkrabben-Kompanie kämpfen Als Lale am nächsten Morgen erwachte, schliefen Muffelchen und Herr Papale noch tief und fest. Aber Kalle war schon wach und lugte listig aus ihrem linken Schuh hervor. Vom Eingang her fiel ein fahles Morgenlicht in die Höhle. Lale setzte sich halb auf, stützte sich auf den rechten Ellenbogen und sah sich von ihrem Bett aus in der Höhle um. Im matten Licht des Tages wirkte alles so nüchtern. War dies etwa die Höhle der Bilder, die ihr nachts so unheimlich vorgekommen war? Da waren ein paar Schlafstätten aus Kokosmatten und Decken. In einer Ecke war ein Stapel Kokosnüsse aufgeschichtet. Daneben hatte es sich Herr Papale auf einem dürren Ast gemütlich gemacht, der zu einem Palmwedelgerippe gehörte. War das etwa der schmuckvolle Weihnachtsbaum gewesen, von dem sie nachts geträumt hatte? Kalle begrüßte sie mit freundlichem Gezwitscher. Trotzdem war Lale traurig zumute. Bis jetzt hatte sie nie darüber nachgedacht, dass sie keinen Vater hatte. Sie hatte nichts vermisst. Auch eine Mutter vermisste sie nicht. Sie hatte ja Jula. Und Jula war wie eine Mutter zu ihr. Aber wie ein Vater war sie eben doch nicht so ganz. Lale fragte sich, wie ein Vater wohl wäre. Wenn er nur grob herumschrie und fluchte wie dieser Rumi Armut in ihrem Traum, konnte sie gut auf einen Vater 186
verzichten. Aber wenn er einem liebe Briefe in Schönschrift schrieb, wäre es vielleicht ganz nett einen Vater zu haben. Aber mehr noch als einen Vater vermisste Lale in diesem Moment ihren Freund Peter. Wenn sie nur wüsste, wo er war und was er wohl in der Zwischenzeit erlebt hatte. Dann hätte sie sich viel mehr auf den Tag freuen können. Lale wälzte sich unschlüssig auf der Kokosmatte hin und her und fand noch nicht den rechten Schwung, den man zum Aufstehen braucht. Da nahm sie im Augenwinkel eine raschelnde Bewegung am Höhleneingang wahr. Vorsichtig blinzelte Lale hinüber. Im ersten Moment glaubte sie, wieder eines der Spukbilder zu sehen, die offenbar die Spezialität dieser Höhle waren. Aber dann merkte sie, dass das, was sie sah, wohl doch Wirklichkeit war. Eine Prozession riesiger Krabben kam seitwärts in die Höhle hineinmarschiert. Jede von ihnen mochte gut dreißig, vierzig Zentimeter messen. Die Anführerin, die schräg vorneweg spazierte, schwang einen silbernen Taktstock zwischen ihren beiden Scheren. Damit gab sie den Rhythmus und die Marschroute vor. Und – „Kompanie, seitwärts!“ – marschierten die anderen Krabben im Gleichschritt schräg hinterdrein. Lale saß wie erstarrt. Während die Krabben an ihr vorbeimarschierten, sangen sie mit garstigen Stimmen im Takt ein Lied. „Wir sind die Räuberkrabben. Uns geht nichts durch die Lappen. Über Berg und Tal und Höh’n: Wie ist das Rauben schön!
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Wir sind die treuen Diebe. Und fürchten keine Hiebe. Wir räumen alles blank: Die Lula sagt uns Dank. Wir sehen garstig aus. Wir machen uns nichts draus. Wer uns kommt in die Quere: Den kneift gleich unsere Schere. Wir klauen Kokosnüsse, und Briefe, Träume, Küsse. Wir stehlen Freundschaft gar: Uns überlebt kein Paar.
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Wir sind die scheuen Diebe. Wir rauben Mut und Liebe. Wir klemmen, stehlen, klauen die Herzen schöner Frauen. Die Seelen netter Männer, die sind bei uns der Renner. Die braten wir mit Speck: Schon ist die Liebe weg. Wir schnorren und stibitzen, da bleibt nichts in den Ritzen. Wir lassen nichts zurück: kein Fitzelchen vom Glück. Hört Lulas Räuberkrabben! Uns geht nichts durch die Lappen. Auf der Insel der Einsamkeit Sind wir allzeit bereit.……“ Während sie mit ihren knarrenden Stimmen ihr Lied plärrten, schoben sich die riesigen Räuberkrabben im Takt seitwärts voran. Lale sah, dass fast alle von ihnen ein Stück ihrer Beute zwischen den Scheren hielten. Am einfachsten davon waren die Kokosnüsse zu erkennen. Aber manches waren merkwürdig wabernde, formlose Gebilde. Sie sahen aus wie Dinge, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Oder die man sonst eigentlich nicht sehen kann. Lale lief es kalt über den Rücken. Waren die seltsamen Gebilde etwa die gestohlenen Träume und Gefühle, von 189
denen die Räuberkrabben so schauerlich sangen? Und wer war diese Lula, zu der sie ihr Diebesgut jetzt brachten? Doch nicht etwa dieselbe Lula, zu der auch Lale unterwegs war? Mit einem Mal schrie Lale vor Schreck leise auf. Kerzengerade saß sie jetzt auf ihrem Lager. Eine besonders scheußliche Krabbe marschierte gerade an ihr vorbei, die ein sehr anmutiges, bläulich schimmerndes Gebilde zwischen den Scheren trug. Es leuchtete genauso blau wie Peters Augen, und für einen Moment konnte Lale Peter darin sehen. Er schien ihr zuzuwinken und etwas zuzurufen. „Peter!“, schrie Lale. Die Krabben nahmen keine Notiz von ihr, sondern marschierten ungerührt weiter. Noch einmal brüllte Lale so laut, wie sie nur konnte: „Peter! Pass auf!“ Die Krabbe, die das blaue Gebilde trug, war leicht aus dem Takt geraten und brachte damit auch die hinter ihr marschierende aus dem Tritt. Schnell sprang Lale aus dem Bett. Aber barfuß wollte sie diesen Biestern nicht entgegentreten. Sie schlüpfte in ihren rechten Schuh und schnappte sich, während Kalle noch schnell herausflatterte, auch den linken. Dann ergriff sie den Palmwedel und schüttelte Herrn Papale, der das Spektakel ebenfalls erschrocken beobachtet hatte, von seinem Zweig herunter. Gemeinsam stürzten sie sich nun auf die Räuberkrabbe, die ganz offensichtlich etwas sehr Wichtiges und Zartes von Peter gestohlen hatte. Seinen Mut? Seine Hoffnung? Sein Selbstvertrauen? Oder sein Vertrauen in Lales Freundschaft? 190
Lale piekste die Krabbe mit dem Palmwedel. Herr Papale hüpfte um sie herum und hackte mit seinem scharfen Schnabel nach ihr. Muffelchen schlug mit der Schuhputzbürste um sich. Und Kalle flatterte um die ganze Kompanie herum und brachte sie alle durcheinander. Ein ziemlicher Tumult entstand. Einmal aus dem Rhythmus gebracht, stoben die Diebeskrabben in alle Richtungen auseinander. Die wenigsten von ihnen waren bereit zu kämpfen, da sie ja ihre kostbare Beute nicht verlieren wollten. Aber auch diejenigen, die nichts in ihren Scheren hielten, kamen ihren Kumpanen nicht zu Hilfe. Sie glaubten wohl nicht an die Gefühle, die sie anderen so gern raubten, und wussten nicht, was Mut, Treue und Freundschaft bedeuteten. In dem Moment, in dem die Räuberkrabbe das blaue Gebilde, das zu Peter zu gehören schien, fallen ließ, war es verschwunden. Nichts mehr davon war zu sehen. Es lag nur ein süßer Duft in der Luft, der Lale mit Freude und Zuversicht erfüllte. Sie hatte das Gefühl, als würde alles gut werden. Herr Papale aber war noch nicht mit dem Kämpfen zu Ende. Wie Lale jetzt sah, hackte er inzwischen auf eine andere Räuberkrabbe ein. Und was trug die zwischen ihren Scheren? Die Brotdose mit dem goldenen Brief und Rumis Liebespost. Vielleicht hatte sie sie am Strand gefunden. Mit vereinten Kräften traktierten sie auch dieses Räuberbiest. Bald war es besiegt und Kulas Brotdose zurückerobert. Als Lale den Schatz in ihren Händen hielt, gab sie den Befehl zum Rückzug. „Nichts wie raus hier!“, schrie sie ihren Gefährten zu. 191
Ihr Rückzug verlief nicht gerade geordnet. Kalle flog voran, Herr Papale hüpfte hinterdrein. Muffelchen humpelte, weil eine garstige Räuberkrabbe ihn in die Pfote gezwackt hatte. Und Lale lief und hüpfte abwechselnd, weil sie mal nach vorne und mal nach hinten schaute. Fast machte sie dabei schon den schrägen Gang der Krabben nach. Aber sie wollte natürlich sehen, ob eines von den scheußlichen Biestern sie verfolgte. Nicht, dass die sich noch an ihr Herz heranmachten. Das sollten die Krabben ja wagen! Auf der Felsenterrasse vor der Höhle fanden sie sich atemlos wieder. Das war gerade noch einmal gut gegangen. „Puh“, stöhnte Lale. „Was sind denn das für abscheuliche Biester! Denen möchte ich im Leben nicht noch einmal begegnen.“ Ein wenig bange behielt sie den Eingang zur Höhle im Auge. Aber keine der Räuberkrabben war ihnen gefolgt. Nachdem sie eine Weile abgewartet hatten, hörte Lale, wie Muffelchens Magen knurrte. „Lasst uns erst einmal ein paar Datteln zum Frühstück sammeln“, schlug sie deshalb vor. „Und dann sehen wir weiter.“
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12. Kapitel in dem Lale und Peter sich wiederfinden und die Schiffbrüchigen Lulas Schloss erreichen Nachdem sie gefrühstückt hatten, beschloss Lale, die Gegend zu erkunden. Am besten kletterten sie erst einmal auf die Spitze des Berges. Sicher hatte man von dort oben aus einen besseren Überblick. Hatten die Krabben nicht etwas von der Insel der Einsamkeit gesungen? Demnach waren sie auf einer Insel gestrandet. Sie musste herausfinden, ob die Insel bewohnt war. Außerdem fielen Kulas Worte ihr wieder ein. „Immer geradeaus über das Meer der Stoßseufzer, dann landet ihr direkt bei Lula.“ Auch die Krabben hatten etwas von einer Lula gesungen. Lale hoffte ja nur, dass es nicht ausgerechnet die Lula war, zu der sie unterwegs war. Wenn sie die Chefin dieser Biester war, wollte Lale sie lieber nicht kennen lernen. Aber hatte das Feuer der Geschichten ihr nicht prophezeit, dass Lula ihr helfen würde? „Die Lula sagt’s dem Töchterlein.……“ Ob sie wirklich immer geradeaus gesegelt waren? Das konnte Lale unmöglich beschwören. So hing sie ihren Gedanken nach, während sie den Berg hinaufstieg. Plötzlich stolperte sie. Muffelchen schrie laut auf. „Vorsicht, Lale, Vorsicht! Siehst du ihn denn nicht?“ Lale konnte sich gerade so eben noch auffangen. 193
Was lag denn da Langes und Hartes im Weg? War sie etwa über eine Schlange gestolpert? Eine Schlange mit einem leichten blonden Haarflaum darauf? Ach nein, es war nur Peters nacktes Bein. „Peter!“, rief Lale. „Was machst du denn hier?“ „Relle-relle-Pelle“, trällerte Kalle vergnügt. Durch Lales Stoß war Peter aufgewacht. Tief und fest hatte er im Windschutz eines Palmbusches geschlafen. Mit einem Palmbüschel hatte er sich mehr schlecht als recht zugedeckt. Trotzdem musste der Ärmste nachts ziemlich gefroren haben. Wie dumm, dass seine Anziehsachen noch immer in der Höhle der Bilder lagen. Beim Kampf gegen die Räuberkrabben hatte sich keine Gelegenheit mehr ergeben die Sachen mitzunehmen. Auch Peter freute sich die anderen wiederzusehen. „Meine Fresse, hab ich einen Quatsch geträumt“, stöhnte er. „Mir war plötzlich ganz übel. Als hätte mich jemand in einen Schraubstock geklemmt. Und dann waren da so derbe Kreaturen, so ‘ne Art Riesenmonsterkrabben. Die wollten meine Seele braten. So richtig mit Speck, weißte. Verrückt! Meine Fresse, haben die mir wehgetan.“ Peter schüttelte den Kopf. Dann grinste er Lale mit seinen blitzenden blauen Augen freundlich an. „Freundschaft, ja?“, sagte er. Lale nickte. „Übrigens, die Räuberkrabben, die waren echt“, erzählte sie. „Wir haben sie auch gesehen, in der Höhle der Bilder, wo wir übernachtet haben. Palmendiebe, Kokosnussräuber. Die gibt es wirklich, und die hatten dein Herz in der Man194
gel. Aber wir haben es ihnen weggeschnappt, nicht wahr, Muffelchen?“ „Räuberkrabben?“, sagte Peter ungläubig. „Kokosnussräuber, die Herzen stehlen? Jetzt willste mich veräppeln!“ Lale merkte schon, dass Peter ihr nicht so leicht glauben würde. Und es hatte keinen Sinn, jetzt darüber zu diskutieren. Wichtiger war es, herauszufinden, wo sie waren. Und wie sie von hier aus zu Lula oder Rumi Armut fanden. Deshalb streckte sie Peter die Hand entgegen und half ihm beim Aufstehen. Als er auf den Füßen stand, hielt sie seine Hand noch einen Moment fest und drückte sie. „Freundschaft“, sagte auch Lale. Allerdings musste sie dabei kichern. Es kam nicht alle Tage vor, dass man jemandem Freundschaft gelobte, der nur in Hemd und Unterhose vor einem stand. Während sie nun gemeinsam den Berg hochstiegen, erzählte Lale noch einmal ausführlich, was sie in der Höhle der Bilder erlebt hatten. Auch wenn Peter noch nicht ganz an die Räuberkrabben glauben mochte, so freute er sich doch, dass Lale die Brotdose mit den Briefen gerettet hatte. Oder wiedergefunden, wie Peter dachte. Nachdem sie sich gestritten hatten, war auch Peter bis zum Höhleneingang gegangen und hatte die Höhle entdeckt. Aber er hatte dort nichts Ungewöhnliches bemerkt. Jedenfalls nicht zu Beginn. Nun, nachdem Peter von Lale hörte, was sich dort in der Nacht abgespielt hatte, musste er allerdings noch einmal neu über alles nachdenken. Auch Peter hatte sich zunächst in der Höhle schlafen gelegt. Als die roten Riesenkrabben kamen, hatte er geglaubt zu träumen. Im Traum war er vor den Krabben aus der 195
Höhle geflohen. Aber er war ja anscheinend auch in Wirklichkeit nach draußen und ein Stück den Berg hinaufgelaufen. War auch alles andere, was er meinte geträumt zu haben, in Wirklichkeit passiert? Die Krabben, die zuerst kamen, so erzählte Peter, trugen etwas Glänzendes in ihren Scheren, was seiner Mutter gehörte. Auch sie hatten irgendwelche Verse gesungen. „Wartet mal“, sagte Peter. „Wenn ich mich konzentriere, fällt’s mir vielleicht wieder ein.“ Er überlegte. Dabei pfiff und summte er vor sich hin und fuchtelte mit der rechten Hand in der Luft herum. Wie die Anführerin der Krabben, allerdings ohne silbernen Stock, dirigierte er schwungvoll den Takt. „,Ihr Lachen haben wir schon. Jetzt fehlt uns noch der Sohn. Von Peter aus dem Maibaum, wir Lust und Lachen klauen.’ Mensch, Lale, genauso war’s“, rief Peter aufgeregt. „,Und aus dem Maibaum-Peter, da wird jetzt ein Verräter.……’ Meine Fresse! Wie gut, dass du dazwischengegangen bist!“ Er guckte Lale dankbar an. Und dann glitt ein Blitzen über sein Gesicht. „Ob die wirklich das Lachen von meiner Mutter geklaut haben? Ob wir’s denen vielleicht wieder abjagen könnten?“, fragte er. Lale kam nicht mehr dazu, zu antworten, denn in diesem Moment hatten sie den Kamm des Berges erreicht. Gleichzeitig sahen sie auf der anderen Seite des Berges, im Tal, ein hübsches Schlösschen in der Morgensonne liegen. In rötliches Licht getaucht lag es friedlich da. Viel konnten 196
die Kinder nicht von dem Schloss erkennen, denn die Sonnenstrahlen, die es einhüllten, blendeten sie und ließen immer nur einzelne Türmchen und Erker erkennen. Sehr groß schien es nicht zu sein. Seine Mauern waren ganz mit irgendeinem Blattwerk bewachsen, das sich bis unter das Dach hochrankte und im rotgoldenen Sonnenlicht grünbläulich schimmerte. „Ach du Schreck“, rief Peter. „Jetzt erinnere ich mich. Das Schloss habe ich ja heute Nacht schon mal gesehen. In der Höhle, weißte. Das ist Lulas Schloss. Und die Lula, das ist ‘ne ganz Olle. Kein Vergleich mit Kula. Die ist wirklich ‘ne olle Hexe!“ „Olle Hexe! Tolle Hexe!“, schrie Herr Papale begeistert. „Na, dann wollen wir mal“, sagte Lale. Nacheinander stapften sie den Berg hinunter. Lale hatte Kalle, und Peter hatte Herrn Papale auf der Schulter. Und hinterdrein humpelte Muffelchen. Der Erdmuffel jammerte wie immer leise vor sich hin.
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IV. Im Fluge befreit
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1. Kapitel in dem Lale und ihre Freunde sich in goldenen Netzen verstricken Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Lale und ihre Gefährten Lulas Schloss erreichten. Im Glanz der Morgensonne hatte es verwunschen wie ein Märchenschloss dagelegen, aber nun, im weißen Mittagslicht, sah es eher abweisend aus. Zögernd näherten sich die Kinder. Muffelchen hielt vorsichtig Abstand. Nur Kalle flog neugierig voraus. Und deshalb war er der Erste, der Lula sah. Die Frau stand in der Nähe des Eingangs, verborgen hinter einer Hecke, und sah den Kindern entgegen. Lale war verblüfft. Sie hatte erwartet, dass auch Lula ihrer Großmutter ähnlich sehen würde. Auf eine geheimnisvolle Weise schienen ja all diese Frauen, denen Lale auf ihrer Reise begegnete, Jula höchstpersönlich zu sein. Diese Lula aber sah noch ein bisschen jünger aus als die anderen. Sie trug keine Brille und ihre rotbraunen Haare reichten ihr bis zum Kinn. „Da seid ihr ja endlich“, begrüßte Lula die Ankommenden. Sie klang angespannt, auch wenn sie zu lächeln versuchte. „Ich stehe mir hier schon die Beine in den Bauch. Kommt rein.“ Verdutzt schauten sich Lale und Peter an und murmelten einen Gruß. Kalle flog munter voraus. Die Tür des Schlosses stand offen und das Vögelchen wagte sich keck hinein. 200
Im nächsten Moment hörten sie ihn laut schreien. Es klang wie „Kille-Hille-Hilfe!“ Schnell lief Peter hinterher, um Kalle zu Hilfe zu kommen. Und im nächsten Moment hörte Lale auch Peters Schreckensrufe. „Vorsicht, Lale! Bleib, wo du bist!“ Und mit ihm zeterte Herr Papale, der ja auf Peters Schulter gesessen hatte. „Bleib, wo du pisst! Du pisst!“ „Vorsicht, Lale, Vorsicht“, rief nun auch Muffelchen. „Nein, ich trau ihr nicht!“
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Aber Lale näherte sich beherzt der offenen Tür. Sie ließ doch ihre Freunde nicht im Stich. Das kam überhaupt nicht in Frage. Außerdem musste sie über Herrn Papale lachen. Sie glaubte nicht an eine ernste Gefahr. Auf der Schwelle zur Tür sah sie etwas Merkwürdiges. Peter und auch Kalle und Herr Papale waren jeder von einem zarten, goldenen Flimmern umgeben. Auf den ersten Blick verstand Lale gar nicht, was das war. Als sie es begriff, war es zu spät. Da war auch sie bereits in dem goldenen Glimmer gefangen. Es waren hauchdünne, goldene Netze, in denen sich die Kinder und ihre Freunde wie in Spinnweben verfangen hatten. Zarte Goldfäden hatten sich um sie gelegt, und je mehr sie versuchten, sich den Netzen zu entwinden, desto mehr verstrickten und verhedderten sie sich in ihnen. Kalle war zu Boden geflattert. Er konnte in dem Netzgespinst, das ihn umwickelt hatte, seine Flügel nicht bewegen und also nicht mehr fliegen. „Muffelchen“, schrie Lale. „Komm auf keinen Fall ‘rein.“ „Komm rein, komm rein“, krächzte Herr Papale. „Ge-ge-genau“, stotterte Muffelchen. „Aber was genau soll ich denn tun?“ Auch Lula war inzwischen ins Zimmer getreten. „Aber, aber“, beschwichtigte sie. „Nur keine Aufregung. Ich tue euch doch nichts. Im Gegenteil. Sind meine Netze nicht hübsch? Ich hab sie selbst gestrickt, extra für euch. Mit ganz dünnen Nadeln. Eine Mordsarbeit, kann ich euch sagen.“ Lale guckte sich die goldenen Gespinste genauer an. Sie 202
erinnerten sie an etwas. Sie erinnerten sie entschieden an etwas. An etwas ganz Bestimmtes. „Hast du zufällig goldene Stricknadeln dafür benutzt?“ „Natürlich“, antwortete die Frau, die wohl Lula war. Und auf irgendeine Art und Weise wahrscheinlich auch Jula. „Goldene Nadeln und goldenes Garn. Wie ich schon sagte, extra für euch. Also ein bisschen Dankbarkeit erwarte ich dafür schon, meine Lieben.“ Lale gruselte es. Sie sah, wie Peter strampelte und zappelte und verzweifelt versuchte, zur Tür zu kommen. Aber die Netze, so zart sie auch waren, gaben ihn nicht frei. Und so erging es auch ihr und den beiden Vögeln. Sie waren in Lulas goldenem Flimmern gefangen. „Meine Fresse, ich glaub es wieder nicht“, stöhnte Peter. „Aber wenigstens wird mir warm.“ Außer der Unterwäsche hatte er ja immer noch nichts an. Draußen vor der Tür hörten sie Muffelchen heulen.
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2. Kapitel in dem die Reisegefährten Lula zum Weinen bringen Inzwischen hatte Lula die Tür zu einem angrenzenden Zimmer geöffnet. In der Mitte des Raumes stand ein festlich gedeckter Kaffeetisch. Darauf strahlten Kerzen in silbernen Leuchtern, in kleinen Glasschalen schwammen verschiedenfarbige Rosenblüten, weiße, rosafarbene, rote und gelbe. Der Tisch bog sich fast unter seiner Last. „Ich habe einen Pflaumenkuchen gebacken“, sagte Lula. „Und es gibt auch Milchreis, den mögt ihr doch bestimmt?“ Beinahe zärtlich schubste und zog sie die Kinder in das angrenzende Zimmer hinüber. Erst jetzt sah Lale, dass Lula goldene Fäden in ihren Händen hielt, die mit den Netzen zusammenhingen, in denen sich die Kinder verheddert hatten. So konnte sie ihre Gäste – ihre Gefangenen, genauer gesagt – hierhin und dorthin ziehen, so, wie sie es gerade wollte. „Setzt euch“, sagte Lula. „Nur keinen Zwang. Trinkt ihr alle Limonade oder möchte jemand lieber Kakao?“ Aus einer fein geschliffenen Karaffe, in der auch einige Zitronenscheibchen und Pfefferminzblätter schwammen, goss sie frische Limonade in die Gläser. Peter, der wohl der Hungrigste und Durstigste von ihnen war, griff sofort zu. Und es klappte. Er konnte tatsächlich essen und trinken. Das Garn war so hauchfein gesponnen und die Netze so hauchzart gestrickt, dass man sich zwar nicht daraus befreien, wohl aber darin bewegen konnte. Lale hatte keinen Appetit. Sie wollte endlich ans Ziel ih204
rer Reise kommen. Rumi Armut den Brief geben, das wollte sie. Das hatte sie ihrer Jula versprochen. Nur deshalb hatte sie sich doch auf den Weg gemacht und so viele Abenteuer auf sich genommen. Und darum platzte sie jetzt damit heraus. Immerhin schaffte sie es, ihre Frage nicht allzu plump zu stellen, sondern fädelte sie trotz ihrer Ungeduld recht listig ein. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, sagt meine Großmutter Jula immer. Die kennst du doch auch?“ Lale schaute Lula herausfordernd an. Widerstrebend erwiderte Lula ihren Blick. „Und was meine Großmutter mir beigebracht hat, muss ich doch befolgen, nicht wahr?“ Lula nickte zögernd. Vermutlich ahnte sie, dass Lale auf etwas Bestimmtes hinauswollte. „Also, die Aufgabe, die ich zu erledigen habe“, fuhr Lale fort, „dieser Auftrag lautet: einen Brief an Rumi Armut zu überbringen. Hinterher feiere ich gern. Es sieht ja alles sehr lecker aus. Aber erst musst du mir helfen. Die Lula sagt’s dem Töchterlein, so hat es das Feuer der Geschichten versprochen. Also: Wo ist Rumi Armut?“ Uff, war das eine lange Rede gewesen. „Arme Lula, Armut!“, schaltete sich Herr Papale ein. „Versprochen wird gebrochen!“ Lula schaute ihn und Lale mit strafendem Blick an. „Pfui, was bist du für ein undankbares Mädchen!“, schimpfte sie. „Ich mache alles so schön für euch, gebe mir solche Mühe, und du hast nichts als diesen Kerl im Kopf. Aber da wird nichts draus, das kann ich dir versichern. So, und nun stärkst du dich erst einmal.“ 205
„Ich brauche mich nicht zu stärken“, erwiderte Lale patzig. „Ich bin nämlich schon stark. Und ich muss jetzt diesen Rumi finden, basta! Sag du doch auch mal was, Peter.“ Peter nickte und nuschelte etwas Unverständliches. Er hatte sich den Mund mit Pflaumenkuchen voll gestopft und war nicht in der Lage zu sprechen. Ein paar Kuchenkrümel und einige Sahnespritzer hingen zwar in dem goldenen Gespinst vor seinem Gesicht, aber er hatte es geschafft, den Großteil des Kuchenstückes in seinen Mund zu bugsieren. „Sag du doch auch mal was, Peter!“, äffte Lula sie nach. „Einen feinen Freund hast du da. Sieh ihn dir doch an, wie er schmatzt und schlingt. Der ist dir keine große Hilfe.“ „Hilfe! Große Hilfe!“, lärmte Herr Papale. „Großes Schiff in Not!“ Bislang hatte Kalle, stumm vor Schreck, geschwiegen. Aber jetzt fing er an zu zwitschern, als ginge es um sein Leben. „Jula-Tula-Kula, mir reicht es mit der Lula. Kalle-Kille-Kelle, sind wir hier in ‘ner Zelle? Jölle-Tölle-Kölle, das ist ja hier die Hölle. Kölle-Külle-Kos, wo ist der Rumi bloß?“ „Rumi, Rumi“, schimpfte Lula. „Ich höre immer Rumi. Aber da wird nichts draus, hört ihr? Den schlagt euch aus dem Kopf.“ „Rumi! Hört ihr! Aus dem Kopf, Rumi!“, schrie Herr Papale. „Aus den Augen! Aus dem Sinn!“ „Genau“, sagte Lula. „Da hat dieses Viech einmal Recht. Aus den Augen, aus dem Sinn. Das sage ich meiner Ulla auch immer. Der Rumi nutzt dich doch bloß -“ 206
Sie brach entsetzt ab, als sie merkte, dass sie sich gerade verplappert hatte. „Du kennst ihn also!“, hakte Lale nach. „Und was war denn -oder – was ist denn nun mit Ulla und Rumi?“ „Ach, lass mich doch in Ruhe“, herrschte Lula sie an. Alles Bemühen um Freundlichkeit war aus ihrer Stimme verschwunden. Und auch das Lächeln auf ihrem Gesicht hatte sich aufgelöst. „Meine Fresse, warum stellste dich denn so an“, meldete sich Peter zu Wort. Er hatte endlich aufgegessen. „Wir wissen doch, das Ulla deine Tochter ist. Und die hat sich in den Rumi verliebt, oder? Und das willste nicht.“ In diesem Moment brach Lula in Tränen aus. Eine Weile saß sie da und weinte, und die Kinder hockten in ihren goldenen Spinnweben daneben und sahen still zu. Auch Kalle und Herr Papale gaben keinen Piepser von sich. „Wie könnt ihr mir das antun“, klagte Lula. „Und dabei habe ich mich so auf euch gefreut. Ach, ich bin so einsam. Gibt es denn niemanden, der mich mag?“ Peter und Lale schauten sich betreten an. Peter zuckte leicht mit den Achseln, sofern das unter dem Netzgespinst zu erkennen war. Lale empfand fast Mitleid mit der Frau. Aber das wollte sie auf keinen Fall zulassen. Wie konnte die nur so dumm sein zu glauben, sie könnte die Liebe der anderen auf diese Weise gewinnen? „Das können wir erst feststellen, wenn du uns freilässt“, sagte sie deshalb. „Freiheit“, schniefte Lula verächtlich. „Davon hat der Rumi auch immer geredet. Und das hat er jetzt davon, ha, da kann er lange warten.“ 207
Zwischen den einzelnen Worten stieß Lula heftige Schluchzer aus. Aber ihr Weinen verebbte allmählich. „Wo finde ich ihn denn nun?“, beharrte Lale. So leicht gab sie nicht auf. Lula wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht und sah Lale grimmig an. „Wo du ihn finden kannst? Da, wo sich früher oder später alle Leute wiederfinden. Im Labyrinth der Missverständnisse natürlich.“ Sie fing an, leise und beinahe wie irre zu kichern. „Da irrt er herum, dieser Traumtänzer. Seit zehn Jahren schon. Aber kein Wunder. Da hat so leicht noch keiner alleine herausgefunden.“ Lula fing an zu lachen. Es war ein lautes und wildes Lachen, ein Lachen, das überhaupt nicht lustig klang. Es klang beinahe noch schlimmer als ihr Weinen. Ratlos schauten Lale und Peter sich an. Was sollten sie nur tun?
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3. Kapitel in dem Muffelchen sich in einen kühnen Ritter verwandelt Dem Besucher, der auf Lulas Schlossterrasse stand und heimlich durch eines der drei Fenster spähte – und zwar auf Zehenspitzen und auf einer Kiste –, bot sich ein merkwürdiges Bild. Da saß die Gastgeberin an ihrem schön gedeckten Kaffeetisch. Man konnte sehen, wie sie abwechselnd weinte und lachte. Und wer sein Ohr dem Fenster näherte, konnte hören, wie sie ihre jungen Gäste beschimpfte. Die vier saßen mit betretenen Mienen schweigend um den Tisch herum. Sie alle waren vom Kopf bis zu den Füßen eingehüllt in zarten goldenen Glanz. Hübsch sahen sie darin wohl aus, aber das nützte ihnen natürlich nichts. „Was mache ich bloß? Was mache ich jetzt bloß?“ Muffelchen überlegte fieberhaft. Wie konnte er seine Freunde befreien? Wie stellte er es an? Wie gelangte er ins Zimmer, ohne sich selbst in Lulas Netzen zu verstricken? Der normale Weg durch die Tür kam nicht in Frage. Lale und Peter und die beiden Vögel waren sofort von Lulas goldenen Netzen umhüllt gewesen. Sie waren zu Gefangenen geworden, sobald sie nur das Eingangszimmer betreten hatten. „Feine Gastfreundschaft“, schimpfte Muffelchen. Dann fiel ihm ein, dass es Lale auf dem Acker des Bleibens nicht viel besser ergangen war, und er schämte sich. Umso wichtiger war es, dass er nun die Freunde rettete. 209
Von ihm hing alles ab. Er musste versuchen, sich durchs Fenster ins Zimmer zu schleichen. Eines der drei Fenster stand einen Spaltbreit offen, das hatte Muffelchen schon festgestellt. Und dann? Was konnte er tun? Wie sollte er Lula überwältigen? Was für Waffen hatte er? Der Blick des braven Erdmuffels fiel auf seine Schuhputzbürste. Nach dem Sieg über die Räuberkrabben trug er die Bürste mit dem langen Holzgriff wie einen Degen in seinem Gürtel. Konnte man jemanden mit einer Schuhputzbürste besiegen? Vielleicht, wenn man auch sonst wie ein wilder Kämpfer aussah. Aber wie ein wilder Kämpfer sah Muffelchen leider nicht aus. Bekleidet war er immer noch mit seinem grünen Muffelwams und der grünen Hose. Natürlich waren die Sachen inzwischen etwas ramponiert. Und sein schöner Hut mit den bunten Lämpchen war ja leider im Feuer der Geschichten verbrannt. Wenigstens einen Kopfschutz müsste ich haben, dachte Muffelchen. Vorsichtig kletterte er von der Kiste herunter und schlich sich unter den Fenstern vorbei zur anderen Seite der Terrasse. Im angrenzenden Garten stand ein achteckiger Pavillon, der seine Neugier erregte. Muffelchen wollte einmal sehen, ob er darin etwas fand, was ihm nützen konnte. Behutsam drückte er die Tür auf, die mit leisem Quietschen nachgab. An den Innenwänden des Pavillons lief eine weiß lackierte Holzbank entlang, auf der mehrere bunt bestickte Kissen lagen. Von einem Kissen leuchteten Muf210
felchen hellgrüne Birnen entgegen, die in zierlichen Stichen darauf gestickt waren. Auf den anderen drei Kissen waren Blumen zu sehen. Gelbe Tulpen, dunkelgrüne Palmenblätter sowie dicke rosafarbene und weiße Blüten, die wohl Pfingstrosen waren. Nachdenklich kletterte Muffelchen auf die Bank und ergriff das Birnenkissen mit seinen Pfoten. Er schmiegte es an seine Wangen, tunkte seine kleine Muffelnase hinein und schnupperte. Ah, roch das gut! Es roch wirklich nach süßen, saftigen Birnen. Am liebsten hätte Muffelchen einmal herzhaft hineingebissen. Unschlüssig drehte Muffelchen das Kissen zwischen seinen Pfoten. Ob er es sich wie einen Turban auf den Kopf binden sollte? Plötzlich sah er, dass auf der Rückseite ein Wort gestickt war. Oder vielmehr ein Name. ARMUT stand da in feinen grünen Kreuzstichen. Was hatten Birnen mit Armut zu tun? Oder Armut mit Birnen? Gehörte das Kissen vielleicht diesem Rumi Armut, dem Lale den goldenen Brief bringen sollte? Aber was hatte dieser Rumi mit Birnen zu tun? Probeweise legte sich Muffelchen das Kissen auf den Kopf und bewegte den Kopf majestätisch von der einen zur anderen Seite. Aber es wäre wohl zu schwierig, das Kissen auf dem Kopf zu balancieren. Bei der ersten kämpferischen Handlung würde es hinunterfallen. Er musste etwas finden, womit er es unter dem Kinn festbinden konnte. Spielerisch schüttelte Muffelchen den Kopf, sodass das Kissen auf den Boden flog. Er sprang hinterdrein, um es wieder aufzuheben. Schließlich war er immer noch ein wohlerzogenes Stiefelputzererdmuffelchen. Als Muffel211
chen sich bückte, sah er, dass unter den Sitzbänken allerlei Krimskrams verstaut war. Da stand eine Kiste mit Sandkastenspielzeug, mit Eimern, Schaufeln und Förmchen. Da lagen ein heiler und ein kaputter Federballschläger, ein Federball, ein Fußball und eine grüne Frisbeescheibe. Da waren flache Tontöpfe und ein paar Blumenvasen ineinander gestapelt, es gab einen aufklappbaren Grill und eine Tüte mit Holzkohlen. Jemand, der zu faul zum Aufräumen gewesen war, hatte eine leere Weinflasche und zwei schmuddelige Teller und Gläser dort abgestellt. Die Überreste einer kleinen Feier, die vor langer Zeit stattgefunden haben musste. Was für eine traurige Erinnerung. Muffelchen ergriff die Frisbeescheibe. Die Federballschläger waren ihm zu unhandlich, sie waren ja fast genauso groß wie er selbst. Aber die Frisbeescheibe konnte ihm gut als Schutzschild dienen. Er wühlte in der Kiste mit den Sandkastensachen. Darin war auch eine Holzbiene an einer Schnur, wie sie kleine Kinder gern hinter sich herzogen. Kurz entschlossen riss Muffelchen das Band ab. Damit konnte er das Kissen auf seinem Kopf festbinden. So war sein Kopf gut gepolstert. Bevor er sich das Kissen unter dem Kinn festband, legte er es so, dass eine grüne Birne direkt über seiner Stirn leuchtete. Nun war er der Ritter von der grünen Birne. Wenn ihn doch nur sein König sehen könnte! Und seine Königin! Das Ratschen des Bandes hatte den Erdmuffel auf eine weitere Idee gebracht. Rasch ergriff er das Kissen mit den prallen Pfingstrosen und streifte den Kissenbezug ab. Da212
bei sah Muffelchen, dass auf der Rückseite ebenfalls Buchstaben in zierlichen Kreuzstichen prangten. Neugierig schaute Muffelchen, was da stand. NUR MUT! hatte jemand in verschiedenen Farben gestickt. Das N und das R waren violett gestickt, das U, M, U und T im selben Rosa wie die Pfingstrosen auf der Vorderseite. Die Worte waren Muffelchen gerade recht. Genau der passende Kampfspruch! Nachdem er den Kissenbezug abgestreift hatte, biss er tatsächlich hinein. Dann bohrte er mit der Pfote in das so entstandene Loch und riss mit einem entschlossenen Ritsch-Ratsch die obere Naht in der Mitte auf. Nachdem so eine Öffnung für seinen Kopf entstanden war, zog er sich den Bezug über den Kopf. Locker fiel ihm der Stoff über Brust und Rücken. NUR MUT! Wer den edlen Ritter Muffelchen von der grünen Birne nun sah, kannte sogleich dessen Motto. Der bunte Kissenturban auf seinem Kopf verlieh ihm eine würdevolle Haltung, und die Pfingstrose auf dem Rücken sah aus wie das Wappen eines Edelmannes. Sollte er sich lieber Ritter von der dicken Pfingstrose nennen? Nein, Ritter von der grünen Birne klang besser. Nun war er aber doch neugierig geworden, ob auf den anderen Kissen auch Sprüche oder Worte standen. Er drehte das Kissen mit den dunkelgrünen Palmenblättern um. ULLA & RUMI stand da, und darum herum war eine Ranke aus Palmenblättern gestickt. Muffelchens kleines Erdmuffelherz pochte heftig. Er war auf der richtigen Spur. Und er würde seine Freunde befreien, so wahr er das Stiefelputzererdmuffelchen war. 213
Hastig griff Muffelchen nach dem Kissen mit den gelben Tulpen. Was stand wohl darauf? „Aua! Vorsicht! Denn das Kissen sticht!“, schrie er im nächsten Moment. Aus seiner rechten Pfote quollen Blutstropfen. Er hatte sich an einer Nadel gestochen, die hinten im Kissen steckte. Denn das letzte Kissen war noch nicht fertig geworden. Mit rotem Garn hatte jemand bereits die Buchstaben LAL gestickt, das nachfolgende E aber war nur angefangen. Unter dem Kissen lagen mehrere Garnrollen. Und daneben lag eine kleine goldene Handarbeitsschere. Die kam ja wie gerufen! Muffelchen war begeistert. Mit dieser Schere konnte er Lulas goldene Gespinste zerschneiden! Eine bessere Waffe hätte er sich gar nicht wünschen können. Die Schuhputzbürste würde ihm zur Verteidigung dienen und die Handarbeitsschere zum Angriff. Nun konnte es losgehen. Er war bestens gerüstet. Muffelchen hielt seine Waffe, die kleine Schere, fest in der rechten Pfote. Die Frisbeescheibe trug er als Schild in der Linken. Der Schuhputzbürstendegen baumelte elegant und einsatzbereit an seiner Seite. Turban und Ritterwams machten den Eindruck eines tapferen Kämpfers perfekt. Er sah wirklich aus wie ein kühner Ritter. Noch einmal musste er an seinen König denken. Wenn der ihn jetzt 214
sehen könnte! Und die Königin! Und die anderen Erdmuffel natürlich auch! Entschlossen und zu allem bereit schlich der edle Ritter Muffelchen von der grünen Birne zurück zur Terrasse des Schlosses.
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4. Kapitel in dem Muffelchen alle überrascht und Lale und ihre Freunde ins Labyrinth der Missverständnisse gelangen In Lulas Zimmer hatte sich in der Zwischenzeit nicht viel verändert. Vom hässlichen Lachen war ihre Gastgeberin wieder zum Weinen übergegangen. Lale und Peter versuchten, sich mit Blicken zu verständigen. Hin und wieder ruckelten sie gleichzeitig an ihren goldenen Netzen. Auch Kalle flatterte dann besonders wild, und Herr Papale strampelte und kreischte. Aber jedes Mal zog Lula sofort die Zügel straff. Sie hielt sie alle vier fest in der Hand. So eine Gemeinheit! Sie mussten es irgendwie schaffen, sich zu befreien. Aber wie? Plötzlich hörten sie einen lauten Knall. Jemand hatte das Fenster mit Schwung weit aufgestoßen. Dabei war eine kostbare griechische Amphore, die auf der Fensterbank gestanden hatte, auf den Boden geknallt und in tausend Scherben zersprungen. Was war denn das für ein wilder Kerl, der plötzlich ins Zimmer stürmte? Lale und Peter staunten nicht schlecht, als sie ihn erkannten, und Lula verschlug es die Sprache. Mitten im Schluchzer hörte sie auf zu weinen. Erschreckt starrte sie dem kleinen Kerl entgegen, der furchtlos auf sie zustürzte. Der Eindringling fuchtelte wild mit der rechten Pfote in 216
der Luft herum. Etwas Grünes leuchtete auf seinem Kopf, etwas Goldenes blitzte in seiner Pfote. Lale hörte ein ratschendes Geräusch, und ihr war auch, als höre sie ein leises Stöhnen. Und da war es wieder, das goldene Blitzen. Etwas ritzte über ihren Arm. Ehe Lula und die Kinder begriffen, was geschah, hatte Muffelchen mit der kleinen Handarbeitsschere die Fäden zwischen Lula und seinen Freunden zerschnitten. Damit aber nicht genug! Immer weiter schnitt, ratschte und stach er in die goldenen Gespinste hinein und zerfetzte sie gründlich. Allmählich löste sich das goldene Flimmern in Wohlgefallen auf. Peter fand als erster die Sprache wieder. „Meine Fresse, aua!“, fluchte er. „Jetzt haste mich aber genug in die Beine gestochen.“ Endlich hatte Muffelchen die Gefangenen aus ihren Netzen befreit. Lula schaute ihn wütend an, sagte aber nichts. Vielleicht war sie einfach leer geweint. Und leer geredet. „Danke, Muffelchen“, sagte Lale. „Das hast du prima gemacht.“ Nachdem sie aus Lulas Netz befreit war, musste sie sich erst einmal recken und strecken. Dann sprang sie entschlossen auf. „So, und jetzt suchen wir Rumi. Und wir werden ihn finden. Komm, Peter. Kommt, Kalle und Herr Papale. Und Muffelchen, du Ritter mit der weichen Birnenkrone. Du bist ab sofort zu meinem speziellen Leibwächter ernannt.“ Sie sprangen alle durcheinander, tanzten, flatterten und flogen triumphierend um Lula herum. „Das Labyrinth der Missverständnisse beginnt gleich 217
hinter meinem Haus“, versetzte Lula grimmig. „Seht zu, dass ihr euch nicht auch darin verlauft. Sonst könnt ihr für immer bei eurem geliebten Rumi bleiben.“ „Keine Sorge“, lachte Lale. „Auf Leute, zu Rumi Armut! Jetzt befreien wir ihn.“ „Und dann befreien wir dich“, sagte Peter und guckte Lula an. „Ich glaube nämlich, dass das Labyrinth schon hier im Haus beginnt. Direkt bei dir selbst.“ Aber wie Lula gesagt hatte, begann das Labyrinth hinter ihrem Schloss, genauer gesagt, hinter dem Pavillon, in dem sich Muffelchen zum Kampf gerüstet hatte. Auf dem Weg zeigte er den Gefährten die anderen Kissen, die dort auf der Sitzbank lagen. Als Lale das halb fertige Kissen mit ihrem eigenen Namen sah, traten ihr beinahe die Tränen in die Augen. Aber sie unterdrückte sie tapfer. „Später denken wir darüber nach, was das bedeuten könnte“, sagte sie. „Jetzt beeilen wir uns lieber. Ich will wirklich nicht länger als nötig bei dieser Lula bleiben. Und Hunger habe ich auch.“ Sie hätte sich doch an Lulas Kaffeetisch stärken sollen. Milchreis mit Zucker und Zimt war eines ihrer Lieblingsgerichte. Wer weiß, wann es wieder etwas gab? Und wer weiß, was sie in diesem Labyrinth der Missverständnisse noch erwartete! Peter war froh, als er auf der Holzbank im Gartenpavillon eine rot karierte Decke liegen sah. Die warf er sich über wie eine römische Toga. Als sich Lulas goldenes Gespinst in Luft auflöste, hatte er ja wieder in Hemd und Unterhose dagestanden. Das war ihm natürlich zu kalt. Und außerdem ein bisschen peinlich. Nun hatte er wenigstens einen Umhang, wenn auch einen ziemlich kratzigen. 218
Hinter dem Pavillon wuchs eine hohe Buchsbaumhecke. Nachdem die Kinder durch eine Art Tor in der Hecke geschritten waren, wussten sie sofort, dass sie Lulas Labyrinth gefunden hatten. Immer neue Wege eröffneten sich ihnen. Und da die Hecken höher waren als sie und die Kinder nicht darüber hinweggucken konnten, hatten sie keine Ahnung, welchen Weg sie jeweils nehmen sollten. Manchmal führte einer dieser vielversprechend aussehenden Wege plötzlich um eine Ecke herum und endete überraschend nach wenigen Schritten. Dann mussten sie wieder umkehren. Manchmal bogen sie so oft hintereinander um die Ecke, dass sie gar nicht mehr wussten, in welche Richtung sie eigentlich gingen. Oder gehen wollten. „So hat es keinen Zweck“, meinte Lale nach einer Weile. „Kalle muss Ausschau von oben halten und uns sagen, wo es langgeht.“ Also flog Kalle, der bis dahin bequem auf Muffelchens Kissenturban gethront hatte, voran und wies ihnen den Weg in die Richtung, die zum Inneren des Labyrinths zu führen schien. Aber bald schon konnte auch Kalle den Weg nicht mehr erkennen. Je tiefer sie in das Labyrinth hineingelangten, desto dichter standen die Hecken. Schließlich wuchsen sie von beiden Seiten des Weges über ihren Köpfen zusammen. Da konnten sich die Kinder nicht einmal mehr nach dem Stand der Sonne richten. Lale wurde immer verzagter. Wie sollten sie hier jemanden finden? Und wie fanden sie selbst jemals wieder hinaus? Dieses Labyrinth war entschieden schlimmer als alles, was sie bislang auf ihrer Reise erlebt hatte. 219
Auch Peter spürte, wie die Verzweiflung in ihm hochstieg. Der Einzige, der furchtlos voranschritt, war der edle Ritter von der grünen Birne. Seit es ihm gelungen war, die 220
Freunde aus Lulas Gefangenschaft zu befreien, kannte Muffelchen keine Angst mehr. Das Wort „Vorsicht“ hatte er aus seinem Wortschatz gestrichen. In den Pfoten trug er nach wie vor die Frisbeescheibe und die Handarbeitsschere. An der Seite baumelte sein Schuhputzbürstendegen und wartete auf den nächsten Einsatz. Nein, Muffelchen gab noch lange nicht auf. Für ihn hatte der spannendste Teil des Abenteuers erst begonnen. Herr Papale hockte auf Peters Schulter und hielt die Augen geschlossen. Er hatte beschlossen, so zu tun, als schliefe er. Wenn sie auf Rumi trafen, wäre es Zeit genug, die Augen zu öffnen und ihm Kulas Gruß zu bestellen. Grüßt Rumi von mir! Diesen Auftrag hatte Herr Papale als Befehl an ihn ganz persönlich begriffen. Alles andere ging ihn vorerst nichts an. Gerade war Lale um eine Ecke in einen Weg eingebogen, der eine Sackgasse zu sein schien. Da hörte sie mit einem Mal ein leises Singen. Es war die Stimme einer Frau.
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5. Kapitel in dem Lale ihrer Mutter begegnet Als Lale im Labyrinth der Missverständnisse eine Frauenstimme singen hörte, machte ihr Herz einen wilden Satz. Diese Stimme kannte sie. Sie hatte sie schon ihr Leben lang gekannt. Die Stimme klang so vertraut, dass es weh tat. Und gleichzeitig klang sie so vertraut, dass Lale sich geborgen und wie zu Hause angelangt fühlte. „Geh aus mein Herz, und suche Freud“, sang die Frau. Aber sie klang ziemlich traurig dabei. Überhaupt nicht so, als ob ihr Herz Lust hätte auszugehen und irgendwo Freude zu suchen. Geschweige denn, als ob es darauf vertraute auch irgendwo Freude zu finden. Lale sah, dass einige Schritte entfernt ein kleiner Seitenpfad von dem vor ihr liegenden abging. Von dorther schien der Gesang zu kommen. Schüchtern folgten die Freunde dem Pfad. Lale freute sich darauf, endlich jemandem zu begegnen, der es sicher gut mit ihnen meinte. „Narzissen und die Tulipan, die ziehen sich viel schöner an als Salomonis Seide, als Salomonis Seide.……“, hörte sie die Frau singen. Und dann sah Lale sie. Die Frau war ganz in einen dichten goldenen Schimmer gehüllt. Wenn das nicht eins von Lulas goldenen Netzen war! Es war noch viel dichter gewebt als die Netze, die Lula über sie und ihre Gefährten geworfen hatte. Der Glanz, der sie umgab, sah hübsch aus, aber er ließ 222
die Frau auch ein wenig unwirklich erscheinen. Wie eine Gestalt aus einer anderen Welt sah sie dadurch aus. Wie verzaubert. Es war die Frau, die Lale schon von den Fotos in Kulas Schatzkiste her kannte. Die Frau mit den roten Haaren. Die Frau, die vermutlich Ulla hieß. Die Frau, der sie selbst wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sah. In der Höhle der Bilder hatte Lale die Frau gesehen, wie sie mit Kula – oder Jula? – oder Tula? – um einen Weihnachtsbaum tanzte. Wie sie – und nicht Jula – Lale von der Tulpenzwiebel gepflückt hatte. Und wie sie ein Baby in ihren Armen wiegte. Die Frau saß auf einer Gartenbank und stickte an einem Kissen. Lales Herz klopfte heftig, als sie sah, dass es das unfertige Kissen mit den gelben Tulpen und ihrem Namen war, das sie in Lulas Gartenpavillon gesehen hatte. Die Frau war gerade dabei, mit rotem Garn den unteren Querstrich des ersten L, des Anfangsbuchstabens von LALE, zu sticheln. Als sie die Kinder näher kommen hörte, sah sie von ihrer Handarbeit auf. Im ersten Moment, als sie Lale sah, schien sie zu erschrecken. Aber dann glitt ein freudiges Lächeln über ihr Gesicht. Als würde sie Lale erkennen. „Lale, mein Kind!“, rief die Frau. „Bist du es wirklich? Kann es sein, dass du meine Lale bist?“ Lale nickte verlegen. Was meinte die Frau nur mit „meine Lale“? „Und Sie sind – du bist Ulla, ja?“, fragte Lale. „Na ja, wenn du mich so nennen magst, von mir aus, ja. Sag ruhig Ulla zu mir.“ 223
„Wie sollte ich dich denn sonst nennen?“, fragte Lale verwundert. In ihrem Kopf rauschte es vor lauter Jula, Tula, Kula und Lula. Nicht genug, dass Ulla so ähnlich klang, nun wollte die Frau auch noch wieder anders genannt werden? „Na, Mama natürlich“, sagte Ulla. „Mama?“, fragte Lale tonlos und starrte die Frau ungläubig an. „Aber sicher“, lachte Ulla. Sie machte jetzt einen beinahe heiteren Eindruck. „Ich bin ja deine Mama. Deine Mutter. Und du bist schon ein so großes Mädchen. Und das schöne kräftige Haar. Wie alt bist du denn?“ „Neun“, antwortete Lale. „Neuneinhalb. Beinahe schon zehn, eigentlich.“ „Bald zehn Jahre, kaum zu glauben“, rief Ulla. „Wie schön, dass ich das noch einmal sehen darf.“ Sie sah, dass Lale nicht verstand, wovon sie redete. „Bei mir bist du ja erst fünf Monate alt“, fügte sie deshalb erklärend hinzu. „Ich glaub’s nicht“, platzte Peter heraus. „Fünf Monate? Die Lale?“ „Ja, ja“, sagte Ulla. Sie lächelte, aber in ihrer Stimme schwang Wehmut. „Fünf Monate. Ein ganz süßes Baby.“ „Wo sind wir denn hier überhaupt?“, fragte Lale. „Frag lieber, wann wir hier sind“, antwortete die Frau, die sich ihre Mutter nannte. Sie legte das Stickzeug zur Seite und lud Lale mit einer Handbewegung ein, sich neben sie auf die Bank zu setzen. 224
„Das Kissen habe ich vorhin da hinten in Lulas Pavillon gesehen“, sagte Lale schüchtern. „So?“, fragte Ulla. „Und -“ Sie zögerte, als fiele es ihr schwer, die nachfolgende Frage zu stellen. „Und – wie weit ist es denn? Ich meine, werde ich wohl damit fertig werden?“ „Es sind schon mehr Tulpen ausgestickt als hier, aber noch nicht alle“, erzählte Lale. „L, A und L sind fertig. Das E am Schluss leider noch nicht.“ „Ah ja“, sagte Ulla versonnen. „Sehr viel Zeit bleibt mir also nicht mehr.“ Sie seufzte. „Und du, mein Kind“, sagte sie dann. „Wie geht es dir? Erzähl mir von dir. Wo kommst du her? Sind dies deine Freunde? Und was machst du überhaupt hier?“ Es waren so viele Fragen, dass Lale gar nicht wusste, wo sie anfangen sollte. Außerdem war ihr ganz schwindelig von dem Gedanken, dass diese Frau ihre Mutter sein wollte. Sie war doch schließlich auf einer Tulpenzwiebel gewachsen und Jula hatte sie abgepflückt, oder nicht? Am liebsten hätte sie um Bedenkzeit gebeten. Was sollte sie nur sagen? „Lustig, dass du gelbe Tulpen auf das Kissen stickst“, sagte sie nach einer ziemlich langen Pause. „Warum findest du das lustig?“, fragte die Frau. „Nun -“, Lale zögerte. „Ihre Oma hat sie von ‘ner Tulpenzwiebel gepflückt“, kam Peter ihr zu Hilfe. „Von einer Tulpenzwiebel gepflückt?“, staunte die Frau. „Hat sie dir das etwa erzählt, die Lula?“ 225
Lale nickte. „Oder nein, nicht direkt Lula“, sagte sie dann. „Meine Jula war es, die es mir erzählt hat.“ „Jula?“, fragte Ulla. „Nennt sie sich jetzt so? Also ich rede von Julia Schulze, meiner Mutter. Genannt Lula. Und du?“ „Von Julia Schulze, meiner Großmutter“, sagte Lale leise. „Genannt Jula. Meine Jula, die mich hergeschickt hat.“ „Sie hat dich hergeschickt?“ Lales Mutter konnte es kaum glauben. Sie guckte Lale fassungslos an. „Aber warum sollte sie dich denn herschicken wollen?“ Und nun erzählte Lale, dass sie einem Mann namens Rumi Armut einen Brief überbringen sollte. Und zum ersten Mal auf ihrer Reise traf sie jemanden, der nicht so tat, als hätte er den Namen Rumi noch nie gehört. Allerdings schien der Name Ulla traurig zu stimmen. „Ich frage mich wirklich, was Lula – oder deine Jula – noch groß an Rumi zu schreiben hätte“, sagte sie grimmig. „Ich weiß nicht, ob der Brief von ihr selber ist“, sagte Lale. „Ihre Schrift ist es jedenfalls nicht.“ Eifrig öffnete sie ihre Brotdose, die sie ja die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte. Obenauf lag der goldene Brief an Rumi. Blitzschnell hatte Ulla danach gegriffen. Aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen. Sie sah so kalkweiß aus, dass Lale unwillkürlich erschrak, und aus ihrer Stimme war alle Kraft verschwunden. „Ist es etwa dieser Brief, den du überbringen sollst?“, fragte sie. 226
Lale nickte. Die Frau – Ulla – Lales Mutter – schlug die Hände vor das Gesicht und verharrte einen Moment reglos. Als sie wieder aufblickte, sah sie Lale mit traurigen Augen an. „Diesen Brief habe ich selber an Rumi geschrieben. Vor drei Monaten. Ich habe ihm darin von dir erzählt. Er muss doch wissen, dass er eine Tochter hat. Und was für ein süßes Mädchen du bist.“ „Dann ist Rumi wirklich Lales Vater?“, fragte Peter eifrig. „Siehste, Lale! Hab ich’s doch gewusst. Allein schon wegen den Haaren.“ Er lehnte sich, in seine kratzige Decke gehüllt, zufrieden gegen die Hecke. „Ja, du hast wirklich Rumis schöne Haare geerbt“, sagte Ulla und strich zärtlich über Lales schwarzvioletten Schopf. „Und meine Augen“, sagte sie dann stolz. Dann warf sie einen neugierigen Blick auf Lales Brotdose. „Zeig doch mal deine Schatzkiste, was hast du denn noch darin?“, fragte sie. Lale klappte die Dose wieder auf und zog das gerettete Briefbündel hervor. „Aber – das sind ja – das gibt es doch gar nicht!“, rief Ulla entsetzt. „Das sind ja alles Briefe von Rumi. Wo habt ihr die denn her?“ Lale und Peter erzählten, wie sie die Briefe in Kulas Schatzkiste der Erinnerung gefunden hatten. Und wie Kula sie am nächsten Morgen aus ihrem Haus geworfen hatte. „Ja. Das sieht ihr ähnlich“, murmelte Ulla. „Und ich 227
dachte die ganze Zeit, dass sie Recht hat und Rumi mich vergessen hätte. Zeig doch mal her.“ Hastig zog sie einige Briefe aus den Umschlägen heraus und überflog den Inhalt. Dann stieg ihr die Röte ins Gesicht. „Habt ihr das etwa alles gelesen?“, fragte sie streng. Lale und Peter nickten verlegen. „Wir wussten ja nicht.……“, stotterte Lale. „Wir können doch nix dafür“, verteidigte sich Peter. Ulla guckte sie stirnrunzelnd an. „Na ja, nicht so schlimm“, meinte sie dann. „Hauptsache, ich kriege die Briefe jetzt endlich auch mal zu Gesicht.“ Nachdem sie zwei, drei weitere Briefe gelesen hatte, seufzte sie glücklich auf. „Er liebt mich wirklich“, sagte sie. „Es ist schön, so etwas einmal im Leben zu erleben. Aber manchmal ist es auch verdammt schwer.“ Sie drückte Lale an sich. „Und jetzt bist du da, Mädchen. Und den Rumi suchst du, das ist gut. Aber sag mal, ist dir gar nicht die Idee gekommen, auch mich zu suchen? Hast du mich denn nicht vermisst?“ Lale wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wollte Ulla nicht kränken. Aber wenn sie ehrlich war, hatte sie bislang nicht viel über eine Mutter nachgedacht. Doch Ulla hatte ihr Schweigen schon richtig verstanden. Vielleicht war sie ein bisschen traurig, dass Lale sie nicht vermisst hatte. Aber sie ließ es sich nicht anmerken. „Die Jula sorgt gut für dich, ja?“, fragte sie. „Sehr gut“, bestätigte Lale. 228
„Aber jetzt, wo Lale dich kennt, wird sie dich natürlich vermissen“, schaltete Peter sich ein. „Und ich dich sicher auch.“ Ulla lächelte. „Einen feinen Freund hast du da“, sagte sie anerkennend. Es klang ganz anders als am Nachmittag, als Lula so etwas Ähnliches gesagt hatte. „Und ich bin auch da“, wagte sich jetzt Muffelchen hervor. „Und ich wollte fragen – äh –, ob ich dich vielleicht befreien dürfte?“ Dabei fuchtelte er mit der Handarbeitsschere wild vor Ullas Nase herum.
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„Wir waren nämlich auch in Lulas goldenen Netzen gefangen“, berichtete Lale jetzt. „Aber Muffelchen hat sie zerschnitten.“ Der Erdmuffel fing schon an, in den Ulla umgebenden goldenen Schimmer zu schneiden. Aber das goldene Gespinst war viel dicker als vorhin bei Lale und den anderen Freunden. Oder war die kleine Schere inzwischen stumpf geworden? „Lass sein“, sagte Ulla müde. „Für mich kommt das zu spät. Ich muss hier bleiben und sehen, wie weit ich noch mit meiner Handarbeit komme. Aber ihr, wenn ihr Rumi findet, dann grüßt ihn von mir.“ Sie nahm Lales Gesicht in ihre Hände und gab ihr einen Kuss. „Und gib dem Rumi einen dicken Kuss, wenn du ihn siehst. Sag ihm, es tut mir Leid, dass ich nicht mehr Vertrauen hatte. Ich hätte ja wissen müssen, dass er mich nicht im Stich lassen würde. Aber jetzt müsst ihr euch beeilen!“ Ulla drückte Lale fest an sich und ließ sie dann los. „Seht zu, dass ihr hier rauskommt, bevor es dunkel wird. Sonst verirrt ihr euch. Und nachts wird es hier sehr kalt. Rumis Briefe lasst ihr mir da, ja?“ Es fiel Lale schwer zu gehen. Nun, da sie wusste, dass sie eine Mutter hatte, wollte sie natürlich bei ihr bleiben. „Das geht nicht“, sagte Ulla noch einmal. „Meine Lale ist ein kleines Baby, gerade mal ein halbes Jahr! Das Wachsen hast du ohne mich geschafft. Aber ich bin trotzdem immer bei dir gewesen. Und so wird es auch weiterhin sein.“ Sie strich Lale zum Abschied zärtlich über den Kopf. 230
„Leb wohl, mein Kind“, sagte sie. Schweren Herzens stand Lale auf und folgte den anderen, die schon vorausgegangen waren. Als sie sich nach ein paar Schritten umdrehte, um Ulla zum Abschied noch einmal zuzuwinken, war da, wo ihre Mutter gesessen hatte, nur noch ein goldener Schimmer zu sehen. Bevor sie in den größeren Weg einbog, von dem sie gekommen waren, drehte Lale sich noch einmal um. Aber hinter ihr, am Ende des Weges, stand nur eine weiße Bank im Abendsonnenglanz.
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6. Kapitel in dem Lale Rumi Armut findet An den Weg, den sie gegangen war, nachdem sie sich von ihrer Mutter verabschiedet hatte, konnte Lale sich später überhaupt nicht mehr erinnern. Sie wusste nur noch, dass sie wie blind hinter Peter und Muffelchen hergestolpert war und nicht nach links oder rechts geguckt hatte. Und dann, plötzlich, drang leise Musik an ihr Ohr. Es war die Art von Musik, zu der Jula naserümpfend Bauchtanzmusik gesagt hätte. Sie gingen den Klängen nach. Trotzdem verliefen sie sich noch zwei Mal, bis sie ihr Ziel erreichten. Zwar kamen sie der Musik schon ganz nahe, aber es war immer noch eine trennende Hecke zwischen ihnen und dem, was auf der anderen Seite lag. Endlich bogen sie um die richtige Ecke. Hier mündete der Weg in eine freundliche Lichtung, ein kleines Rasenstück eigentlich nur. Und da – endlich! – endlich! – sahen sie ihn. Den Mann, den sie schon vom Foto her kannten. Den Mann mit den kräftigen dunklen Haaren, die die gleiche nachtblaue Farbe hatten wie Lales Haare. Rumi Armut! Er saß im Schneidersitz auf einem abgewetzten, bunt gemusterten Teppich im Gras. In der Hand hielt er einen Kugelschreiber, auf seinen Knien lag ein grauer Briefblock mit Rechenpapier. Neben ihm im Gras stand ein Kassettenrekorder, aus dem in voller Lautstärke Musik schepperte, 232
von der man nicht wusste, ob sie todtraurig oder im Gegenteil besonders fröhlich klang. Konnte es sein, dass dieser Mann Lales Vater war? Und dass er gerade einen Liebesbrief für Lales Mutter verfasste? Als sich die Kinder ihm näherten, schaute Rumi erstaunt auf. „Nanu? Was wollt ihr denn hier?“ Vor Aufregung brachte Lale kein Wort heraus. Peter kam ihr zu Hilfe. „Entschuldigung“, sagte er tapfer. „Sind Sie vielleicht Rumi Armut?“ Der Mann nickte verblüfft. „Ja, der bin ich. Rumi Armut, stimmt. Woher kennst du meinen Namen?“ „Also, ich bin Peter. Und dies ist Lale. Ihre Großmutter nennt sie Lale aus der Tulpenzwiebel, denn sie hat sie von einer Tulpenzwiebel gepflückt. Tja, und.……“ Peter kratzte sich am Kopf. Aber nun war er so weit gekommen, nun würde er den Rest auch noch schaffen. „Und – die Lale – zeig doch mal den Brief her, Lale!“, kürzte er seine Erklärungen ab. „Ein Brief? Für mich? Von wem denn?“, fragte Rumi. Er lächelte sie freundlich an. Lale hielt dem Mann, den sie so lange gesucht hatte und der vielleicht ihr Vater war, schüchtern den Brief entgegen. Als Rumis Blick auf den goldenen Umschlag fiel, stutzte er. „Wie kommst du denn daran?“, fragte er schließlich. Zögernd nahm er Lale den Brief ab. Dann gab er sich einen Ruck und riss den Umschlag auf. 233
Schweigend schauten Lale und Peter, Kalle, Herr Papale und Muffelchen zu, während Rumi Armut den Brief erst überflog und dann noch einmal gründlich studierte. Ulla hatte ihnen ja erzählt, was sie ihm darin geschrieben hatte. Während er las, schüttelte Rumi mehrmals den Kopf. „Das ist doch nicht die Möglichkeit“, murmelte er. Endlich schaute er stirnrunzelnd auf. Man sah, dass er das, was er da las, noch gar nicht richtig glauben konnte. „Was hast du eben gesagt, Peter? Wie heißt deine kleine Freundin hier noch mal?“ Lale reckte sich. Von wegen kleine Freundin! Der würde schon merken, wie groß sie war. „Lale“, sagte sie. „Lale Schulze, das bin ich.“ „Lale Schulze.……“, murmelte der Mann kopfschüttelnd. Er kniff die Augen zusammen und starrte wieder auf den goldenen Brief. Dann schaute er prüfend zu Lale hoch. „Lale Schulze!“, Plötzlich schrie er ihren Namen ganz laut und sprang mit einem Satz auf die Beine. Er packte Lale bei den Schultern und wirbelte sie einmal im Kreis durch die Luft. „Lale Schulze!“ Lale wusste gar nicht, ob sie jauchzen oder um Hilfe rufen sollte, aber da hatte Rumi sie schon wieder abgesetzt und sah sie lachend an. „Bin ich wirklich dein Vater?“, fragte er strahlend. Allem Anschein nach war er darüber sehr beglückt. „Ja, wenn ich deine Haare sehe, glaube ich es sofort“, gab er sich dann selbst die Antwort. Noch einmal drückte er Lale lachend an sich. 234
„Und deine Augen – unglaublich! Genau wie Ulla! Und dies sind alles deine Freunde?“, fragte er dann und sah sich in der Runde um. „Hallo Peter!“ Er gab Peter die Hand. Dass der Junge nur mit einer struppigen Decke bekleidet war, schien ihn nicht weiter zu stören. „Und wer bist du?“ Damit bückte er sich zu Muffelchen hinunter und schüttelte freundlich Muffelchens Pfote, in der Muffelchen immer noch die Handarbeitsschere hielt. Lale stellte ihre Freunde der Reihe nach vor, ganz so, wie es sich gehörte. „Kölle-rölle-kölle“, flötete Kalle zur Begrüßung. „Donnerwetter, der Vogel zwitschert ja auf Türkisch“, lachte Rumi. „Kölle, das heißt in meiner Muttersprache Sklave.“ „Krülle-krölle“, kreischte nun auch Herr Papale. „Ab in die Kiste, Kölle! Grüßt Rumi von mir! Grüßt Rumi von mir!“ Da mussten sie alle lachen. Lale überlegte, ob sie Rumi jetzt den Kuss von ihrer Mutter ausrichten sollte. Aber sie traute sich noch nicht. Rumi war der Erste, der wieder ernst wurde. „Es wird bald dunkel“, sagte er. „Wir sollten uns auf den Heimweg machen.“ „Findest du denn den Weg zurück?“, fragte Lale besorgt. „Lange Zeit habe ich nicht gewusst, wie ich hier herausfinden soll“, erzählte ihr Vater. „Aber inzwischen kenne ich mich ganz gut aus. Ab und zu komme ich zurück, setze mich hier hin und schreibe Briefe, auf die ich keine Antwort erhalte. Aber nun hast du mir ja Ullas goldenen Brief 235
gebracht, meine liebe kleine Tulpe. Nun werde ich wohl nicht mehr zurückkehren müssen.“ Erst kleine Freundin, und nun kleine Tulpe? Lale musste schlucken. Auch wenn der Mann ihr Vater war, er sollte sich bloß nichts einbilden! Rumi Armut lachte. Er schien ihre Gedanken haargenau lesen zu können. „Sag mal, Lale“, fragte er, „weißt du eigentlich, was der Name, den dir deine Mutter gegeben hat, in meiner Sprache bedeutet?“ Lale zuckte die Achseln. Was sollte ihr Name schon groß bedeuten? „Lale, das heißt auf Türkisch Tulpe“, erklärte Rumi. „Aber dass du von einer Tulpenzwiebel abgepflückt wurdest, ist natürlich Unfug. Warum hat dir deine Großmutter nur diesen Unsinn erzählt?“ Inzwischen senkte sich die Dämmerung schnell herab, es war wirklich Zeit für den Rückweg. Sie halfen Lales Vater, seine Siebensachen zusammenzupacken. „Du hast ja schon eine Decke an, wie ich sehe“, sagte Rumi lachend zu Peter, während er den Teppich, auf dem er gesessen hatte, zusammenrollte. „Sonst könnte ich dir meinen Teppich ausleihen.“ Da erzählte Lale, dass Peters Kleidung in der Höhle der Bilder liegen geblieben war, als Lulas Räuberkrabben sie dort angegriffen hatten. Und dass die Krabben auch das Lachen seiner Mutter gestohlen hatten. „Das Lachen deiner Mutter?“, fragte Rumi. „Wie kann das angehen, Peter? Lacht sie denn wirklich nicht mehr?“ 236
Peter schüttelte traurig den Kopf. So einen Vater wie den von Lale hätte er zu gern für sich selber gefunden. Wie oft hatte er sich das in seinen Tagträumen schon ausgemalt! „Peter, Peter“, murmelte Rumi Armut nachdenklich. „Sag mal“, fragte er dann. „Heißt du mit Nachnamen zufällig Maibohm?“ Peter nickte. „Dann kenne ich deine Mutter“, rief Rumi. „Ich habe sie als eine ganz lebenslustige Person in Erinnerung. Und dann bekam sie ein Kind. Das musst du gewesen sein. Stimmt, jetzt erinnere ich mich. Dein Vater war vom einen auf den anderen Tag plötzlich verschwunden. Ich glaube, er hatte eine andere Frau kennen gelernt. Und seitdem lacht deine Mutter nicht mehr? Junge, wir werden ihr Lachen zurückerobern.“ Peter schaute ihn hoffnungsvoll an. Vielleicht konnte er Lales Vater zum Freund gewinnen? Auf dem Weg erzählten sie Rumi, was für Abenteuer sie erlebt hatten, bis sie ihn endlich gefunden hatten. Lales Vater ging zielstrebig voran. Unter dem linken Arm trug er den zusammengerollten Teppich, den Kassettenrekorder und seinen Stoffbeutel. Mit der rechten Hand hielt er Lale fest angefasst. Lale fand es wunderbar, neben ihrem Vater herzulaufen. Gemeinsam fanden sie ohne weitere Zwischenfälle aus dem Labyrinth der Missverständnisse heraus. „Wenn man zusammenhält und den Weg kennt, ist es eigentlich nur ein kleiner Lustgarten“, meinte Rumi Armut.
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7. Kapitel in dem die Reisegefährten Frau Maibohms Lachen zurückgewinnen Im Schutze der Dämmerung näherten sich die Reisegefährten dem Pavillon in Lulas Garten. Einer nach dem anderen schlichen sie hinein. Sie wollten auf keinen Fall von Lula gesehen werden. „Die lässt einen so leicht nicht wieder los“, hatte Rumi gewarnt. Kalle und Herr Papale nahmen auf den Holzbänken Platz, die anderen hockten sich, um nicht durch die Fenster gesehen werden zu können, auf den Boden. Rumi zog eine braune Papiertüte aus seinem Beutel, öffnete sie und hielt sie Muffelchen als Erstem entgegen. „Bitte sich zu bedienen, Herr Birnenritter“, sagte er dabei. Lale wollte sich gerade ärgern, dass Rumi nicht ihr zuerst daraus angeboten hatte. Aber dann sah sie, dass die Tüte mit kleinen dicken Birnen gefüllt war. Sie leuchteten genauso grün, mit roten und gelben Sprenkeln, wie die Birne auf Muffelchens Turban. Da wusste sie, warum Rumi ihm die Ehre erwiesen hatte. „Ihr müsst wissen, dass Armut auf Türkisch Birne heißt“, erklärte Rumi. „Und weil ich Birnen für mein Leben gern esse, haben mir meine Studienfreunde vor vielen Jahren diesen Spitznamen gegeben. Lustig, nicht? Ich bin dabei geblieben, denn mein richtiger Name war mir zu umständlich in meinem Beruf.“ 238
Lale guckte ihren Vater verblüfft an. Armut bedeutete Birne? Dann war Rumi vielleicht gar nicht arm? Die ganze Zeit über hatte sich Lale deswegen schon Sorgen gemacht, aber sie hatte nicht gewagt ihren Vater danach zu fragen. Peter nahm ihr die peinliche Frage ab. „Dann biste gar nicht arm, Rumi?“, fragte er. „Und ich dachte die ganze Zeit, du wärst pleite und völlig abgebrannt.“ Rumi lachte. „Nein, das hat nichts mit Armut im Sinne von Mittellosigkeit zu tun. Ich nenne mich Rumi Birne, wenn ihr so wollt. Arm bin ich nicht. Aber auch nicht besonders reich“, fügte er schnell hinzu. Nicht, dass sein Töchterchen sich falsche Hoffnungen machte! „Ich bin Lehrer für Mathe und Physik.“ „Ausgerechnet Mathe“, stöhnte Peter. „Sport und Erdkunde wären mir lieber.“ „Übrigens, Muffelchen“, sagte Rumi, „du hast da eine Stickerei auf deiner Brust. NUR MUT! Ein schöner Spruch. Aber die Ulla war so schlau, noch ein zweites Motto darin zu verstecken. Seht ihr, einige Buchstaben sind mit einem helleren Garn gestickt. Sie ergeben UMUT – das ist auch Türkisch und bedeutet Hoffnung. So, nun habt ihr aber genug für heute gelernt.“ Er glättete die leere Papiertüte, faltete sie zusammen und steckte sie in seinen Beutel. „Als Erstes müssen wir etwas zum Anziehen für Peter besorgen“, sagte er. „So kannst du dich ja nicht auf den Heimweg machen. Und ich weiß auch schon, wo ich etwas 239
finde. Lula hat sicher noch die Kiste mit den Faschingskostümen bei sich im Keller.“ „Du willst doch nicht noch mal zu Lula zurück!“, rief Lale entsetzt. „Keine Sorge“, meinte Rumi. „Mir tut sie nichts. Mich will sie ja nicht bei sich behalten. Im Gegenteil, sie hat immer alles dafür getan, mich wieder loszuwerden. Ich war ihr nämlich nicht gut genug, musst du wissen.“ So schnell und leise, wie er aus dem Pavillon hinausgeschlüpft war, kehrte er kurz darauf wieder zurück. In den Händen trug er einige Stiele mit blauen Weintrauben, und unter dem Arm hielt er ein Bündel, das er in Peters Schoß fallen ließ. „Ich nehme an, meine alte Piratenkluft ist dir lieber als Ullas Prinzessinnenkleid oder Lulas Clownskostüm“, lachte Rumi, während er die Trauben in die leere Birnentüte füllte. Die ausgefranste blaue Hose und das blauweiß geringelte Hemd waren Peter zwar etwas zu groß und schlabberten ein bisschen. Doch sie standen ihm ausgezeichnet. Auf den Ohrring und die schwarze Augenklappe verzichtete er, aber das Kopftuch band er sich piratenmäßig um und das Piratenmesser klemmte er für alle Fälle in seinen Hosenbund. Auch wenn es nur aus Gummi war, konnte er die Räuberkrabben damit vielleicht doch einschüchtern. „Für Proviant wäre auch gesorgt“, sagte Rumi. „Dieser wilde Wein hier von Lulas Haus ist durchaus schon essbar. Sobald wir Frau Maibohms Lachen haben, geht’s zurück nach Hause. Jetzt aber heißt es warten, bis die Räuberkrabben kommen.“ 240
„Kommen sie denn hier vorbei?“, fragte Peter. „Die Höhle der Bilder liegt doch am anderen Ende der Insel.“ „Sie sind ja Lulas treue Räuber“, überlegte Lale. „Irgendwann müssen sie vielleicht ihre Beute abliefern.“ „So ist es“, bestätigte Rumi. „Die Höhle ist durch einen unterirdischen Gang mit dem Schlosspark verbunden. Und ich weiß, wo der Ausgang ist. Da pirschen wir uns jetzt vorsichtig heran.“ Leise folgten sie Rumi hinaus in die Nacht. Es war dunkel, und die Gefahr, vom Schloss aus gesehen zu werden, war nicht mehr so groß. So leise, wie sie konnten, schlichen sie hinter Rumi her. Er führte sie in einem Bogen um das Schloss herum. Bei der Hecke, hinter der Lula sie am Mittag erwartet hatte, schräg gegenüber vom Eingang, legten sie sich hinter einem großen Stein auf die Lauer. Der Eingang zu dem unterirdischen Tunnel befand sich auf der anderen Seite des Steins. „Entweder sie rücken das Lachen freiwillig heraus“, flüsterte Peter grimmig, „oder ich mache von meinem Messer Gebrauch. Und dann gibt’s morgen Krabbensuppe.“ „Da kenne ich ein sehr gutes Rezept“, sagte Rumi. „Mit Curry und einer Prise Zimt. Und obendrauf ein hübsches Sahnehäubchen.“ Und so warteten die Kinder, obwohl sie inzwischen schrecklich müde waren, gemeinsam mit Rumi auf die Rückkehr der Räuberkrabben. Kalle und Herr Papale hatten sich zum Schlafen auf einen Baum zurückgezogen und auch Muffelchen hatte sich schlafen gelegt. Endlich hörten sie in der Ferne ein Plärren, das im Gleichtakt aus dem Tunnel dröhnte. Vorsorglich weckte 241
Rumi auch die anderen Kämpfer. Schon rückte das Plärren näher. „Wir sind die Diebeskrabben und haben große Klappen zum Schimpfen und zum Schrei’n. So schrappen wir querein. Hier bringen wir die Sachen, die Lula Laune machen. Und Friede, Freude, Glück kriegt keiner mehr zurück. Wenn and’re sich verkrachen, dann rauben wir ihr Lachen. Frau Maibohm lacht nicht mehr? Das amüsiert uns sehr.“ Das war Beweis genug. Sie hatten genug gehört. Peter und Lale sprangen gleichzeitig auf. Rumi war noch schneller als sie beide. Er zückte ein Taschenmesser und stürzte sich auf die Krabben. „Kommt her, ihr Biester!“, rief er. „Mit Pfeffer und Tomaten werd ich euch sogleich braten.“ Peter machte es ihm nach und zog ebenfalls sein Piratenmesser hervor. „Jetzt sollt ihr röcheln! Wir werden euch köcheln!“, brüllte er. Lale hatte zwar kein Messer, aber ein Reim fiel ihr immer noch ein. 242
„Auf sie mit Petersilie! Und auf das Grab ‘ne Lilie!“, schrie sie. Auch Kalle und Herr Papale gaben ihr Bestes. „Kille-rille-kille!“, lärmte Kalle. Und Herr Papale kreischte, dass es noch am nächsten Tag in Rumis Ohren schmerzte: „Ab in die Kiste! Krabben in die Kiste!“ Als auch noch Muffelchen seine Schuhputzbürste schwang, gerieten die Krabben aufgeregt durcheinander. Rumi hatte sein Messer nur zur Schau gezogen. Mit bloßen Händen packte er beherzt zwei besonders dicke Krabben. Geschickt hielt er sie so, dass sie ihn nicht mit ihren Scheren zwacken konnten. „Rückt sofort das Lachen seiner Mutter heraus, wenn ihr nicht wollt, dass aus euren Kumpanen hier Suppe wird“, befahl er den anderen. Die beiden gefangenen Krabben plärrten abscheulich und flehten um Gnade, und ihre Gesellen wuselten kopflos und feige durcheinander. „Die Geiseln halte ich solange fest, bis die anderen meine Bedingung erfüllt haben“, sagte Rumi laut. Leise und nur für die Kinder verständlich fügte er hinzu: „Unter uns, aus denen wäre kaum ein feines Süppchen zu kochen. Zu heimtückisch. Zu zänkisch. Zu zäh.“ Aber das konnten die anderen Räuberkrabben nicht hören. Sie waren ausgerückt, um das Verlangte zu holen. Vermutlich gehorchten sie nur, weil sie fürchteten, selbst zu Suppe verkocht zu werden, und nicht, um ihre Spießgesellen zu retten. Doch warum sie es taten, war ja egal. Hauptsache, Peters Mutter bekam ihr Lachen zurück. 243
Nach einiger Zeit, die den Kindern schier ewig erschien, kehrte die Krabbenkompanie zurück. Wieder trugen die Krabben allerlei zarte Gebilde in ihren Händen. Darunter war auch ein silberblau schimmerndes Teil, aus dem in regelmäßigen Abständen ein leises Glucksen ertönte. „Mama!“, rief Peter. „Stimmt“, sagte Rumi. „So klang Frau Maibohm. Ich erinnere mich genau.“ Bevor sich Peter und Lale auf die Krabbe, die Frau Maibohms Lachen trug, stürzen konnten, hatte das feige Biest seinen Schatz schon fallen gelassen. Als Peter die Stelle erreichte, an der das silberblaue Gebilde zu Boden gefallen war, war dort nichts mehr zu sehen. Aber die Luft war von einem feinen, flirrenden Kichern und Glucksen erfüllt, das langsam in den Nachthimmel entschwebte. Peter guckte die anderen ratlos an. „Bestimmt hat deine Mutter in diesem Moment einen unbändigen Lachanfall“, sagte Rumi. „Wollen hoffen, dass sie keine Bauchschmerzen davon bekommt.“ Er warf die beiden Krabben, die er solange festgehalten hatte, mit Schwung von sich fort. Schnell waren die Biester mit den anderen in dem Tunnel verschwunden. Man hörte sie noch eine Weile darin rascheln und knarzen. Dann war alles still.
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8. Kapitel in dem Lale und ihre Gefährten sich auf den Heimweg machen Nachdem die Räuberkrabben das Lachen von Peters Mutter freigegeben hatten, merkten die Kinder erst, wie müde sie waren. „Ihr schlaft jetzt ein paar Stunden“, bestimmte Rumi. „Sonst habt ihr für den Rückweg keine Kraft.“ Und so machten sie es. Im Schutze der Hecke legten sie sich schlafen. Rumi deckte sie fürsorglich mit seinem Teppich zu. Als sie aufwachten, war es schon hell. Nach der kühlen Nacht war es wieder ein herrlicher, warmer Spätsommertag geworden. „Wie kommen wir bloß zu Jula zurück?“, fragte Lale beim Frühstück. Sie saßen auf dem Rasen und futterten die von Rumi stibitzten Trauben. „Hast du hier am Strand ein Boot liegen, Rumi?“ „Das brauchen wir nicht“, erklärte Rumi. „Wir haben ja meinen Teppich.“ „Deinen Teppich?“, fragte Lale verblüfft. „Allerdings“, lachte Rumi. „Noch nie was von fliegenden Teppichen gehört?“ „Gehört schon“, sagte Peter kauend. „Aber noch nicht drauf gesessen. Meinste wirklich, das funktioniert?“ „Aber sicher“, sagte Rumi. „Wie hätte ich denn sonst 245
hierher kommen sollen? Ich lebe doch schließlich genauso wie ihr in der Gegenwart.“ „Und wo sind wir hier?“, fragte Lale noch einmal. Die Antwort ihrer Mutter gestern hatte sie nicht restlos zufrieden gestellt. „Ich denke, neun Jahre zurück“, sagte Peter. „Hier bist du fünf Monate alt, hat deine Mutter gesagt. Und ich –-“ Er kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Richtig!“, unterbrach ihn Rumi. „So schlecht bist du also gar nicht im Rechnen“, lobte er. „Hier sind wir in der Vergangenheit. Da wollen wir natürlich nicht bleiben. Wir sind frei und können in unsere eigene Zeit und Welt zurückkehren.“ „Könnten wir nicht auch die Lula befreien?“, fragte Peter. „Die ist doch nicht glücklich, so wie sie hier ist.“ „Gestern war gestern“, seufzte Rumi. „Man kann es leider nicht mehr ändern.“ „Aber besser verstehen kann man es“, meinte Lale. „Und damit ändert sich auch was.“ „So ist es“, sagte ihr Vater. „Und deine Jula hat sich ja verändert. Sonst hätte sie dich nicht mit dem Brief für mich losgeschickt.“ „Und die Mama?“, fragte Lale. „Warum kann die nicht mit?“ „Ulla ist – Ulla war sehr krank“, sagte Rumi. „Das hat sie mir in ihrem Brief geschrieben. Sie hatte nicht mehr lange zu leben. Vielleicht ist deine Großmutter auch deshalb so verbittert gewesen. Mal abgesehen davon, dass sie mich nun einmal nicht mochte.“ Nach dem Frühstück breitete Rumi seinen Teppich auf Lulas Rasen aus. 246
„So“, sagte er. „Es ist Zeit! Bitte alle aufsteigen!“ Lale und die anderen ließen sich im Kreis neben Rumi auf dem Teppich nieder. Lale bemerkte, dass der Teppich zwar alt und abgewetzt aussah, aber ein sehr kunstvoll geknüpftes Muster hatte. „Also direkt zu Jula?“, fragte Rumi. „Wir haben Tula versprochen, dass wir auf dem Rückweg bei ihr Halt machen“, erinnerte sich Lale. „Ich will so schnell wie möglich zu meiner Mutter“, sagte Peter. „Wenn ich nur wüsste, wie ich zu Tula gekommen bin.“ „Aman Allahim! Erinnerst dich denn gar nicht daran, wie du in die Vergangenheit gelangt bist?“, fragte Rumi verblüfft. „Nein“, sagte Peter. „Ich lag auf meinem Bett und hörte Musik und dachte so über meine Mutter nach und wie früher alles war. Und plötzlich war ich mittenmang.“ Er sah Rumi und Lale abwechselnd ratlos an und zuckte mit den Schultern. „Ich hätte fast ganz vergessen, woher ich gekommen bin, wenn Lale nicht gewesen wäre“, fuhr Peter fort. „Plötzlich kam sie vom Himmel heruntergepurzelt. Da hab ich dann erst so allmählich kapiert, dass es mich irgendwie hierhin verschlagen hat. Auf der Busfahrt, glaube ich. Aber ich wollte dir keine Angst machen, Lale, deshalb hab ich nichts gesagt.“ „Kommt Zeit, kommt Rat“, tröstete Rumi. „Es gibt wohl verschiedene Wege, in die Vergangenheit zurückzugehen. Ich habe den alten Gebetsteppich meines Großvaters benutzt, Lale die goldene Leiter. Du hast anscheinend beson247
ders intensiv nachgedacht, wer weiß? Wir müssen jetzt fest zusammenhalten, dann schaffen wir es schon. Fasst euch an der Hand und macht die Augen zu.“ Lale wollte gerade die Augen schließen, da nahm sie im Augenwinkel eine Bewegung wahr. Es war Lula, die aus dem Haus kam und sich ihnen zügig näherte. In der Hand trug sie eine große Schüssel. „Schnell, Rumi!“, rief Lale aufgeregt. Nicht dass Lula sie jetzt noch zurückhielt! Auch Rumi schaute auf. Aber er machte keine Anstalten zu fliehen, sondern wartete gelassen ab, dass Lula näher kam. „Guten Tag“, grüßte er höflich, als Lula vor ihnen stand. Allerdings stand er nicht auf, wie es sich gehört hätte, sondern blieb auf dem Teppich sitzen. Lula schaute ihn feindselig an. Sie sah verheult aus und ihre Augen waren rot gerändert. „Guten Tag“, sagte sie steif. „Wollen die Kinder vielleicht noch ein bisschen Milchreis? Ich schaffe das nicht allein.“ Sie hielt Rumi die große Schüssel und ein paar Löffel hin. Rumi nahm ihr alles ab und verteilte Löffel an Lale, Peter und Muffelchen. Dann stippte er seinen Löffel in die Schüssel. Die Kinder sahen ihm gespannt zu, wie er den Milchreis probierte. „Mmmmh, fein, mit Rosenwasser. Mein Rezept!“, lobte er. Lula presste missmutig die Lippen zusammen und nickte. „Ulla will ihn nur noch so“, gestand sie. Rumi hielt Lale die Schüssel hin. 248
„Probier mal! Schmeckt lecker!“, machte er ihr Mut. Gemeinsam verputzten sie den Milchreis in Windeseile. Sie waren nach den Weintrauben ja doch noch hungrig gewesen. „Also dann, gute Reise!“, sagte Lula, als sie Schüssel und Löffel wieder einsammelte. Ohne sich noch einmal umzuschauen, schlurfte sie zu ihrem Schlösschen zurück. Die Reisegefährten sahen ihr verdutzt hinterher. „Es stimmt gar nicht, was du uns vorhin erzählt hast“, sagte Lale, als Lula im Schloss verschwunden war, zu ihrem Vater. „In der Vergangenheit kann sich ja doch was ändern. Lula ist gar nicht mehr so gemein, wie sie gestern war.“ „Ich fürchte doch!“, meinte Rumi. „Aber gleichzeitig ist sie auch ein bisschen nett. Niemand ist ja nur gemein oder nur nett. Wir sind immer beides. Hauptsache, das Nette siegt. Aber nun geht’s los. Alles klar zum Start? Haziriz!“ Er ergriff Lales Hand zu seiner Rechten und Peters Hand zu seiner Linken. „Tschüß, Lula“, rief Lale leise. Um sie herum fing es an zu sausen und zu brausen, zu wehen und zu vergehen. Vor ihren geschlossenen Augen sah Lale immer noch das bunte Muster des Teppichs, wie es sich in immer schneller werdenden Kreisen und Wirbeln drehte. Fest hielt sie die Hände von Rumi und Muffelchen gedrückt, die zu ihren beiden Seiten saßen. Tapfer hockte Muffelchen zwischen Lale und Peter. Noch kein einziges Mal hatten sie von ihm das Wort „Vorsicht“ gehört. Kalle hatte sich wieder unter Lales Pullover verkrochen, und Herr Papale suchte Schutz zu Rumis Füßen. 249
Nach einer schier endlosen Weile, in der ihr Hören und Sehen vergangen war, hatte Lale den Eindruck, dass das Drehen langsamer wurde. Vorsichtig wagte sie es, zu blinzeln. Da war ein wild bewegtes Meer, ein Hafenbecken, Segelboote, ein Haus. Das war doch Kulas Haus! Und wer stand denn da im Vorgarten und winkte? Das war doch Kula selbst! „Willst du hier bleiben, Herr Papale?“, schrie Lale. „Ab in die Kiste, Kula!“, kreischte Herr Papale. „Ab in die Kiste, Herzeschwer! Alles klar bei Vorleine!“ Da waren sie schon über Kulas Haus und den Hafen des Vergessens hinweggeflogen. Vorbei, vorbei. 250
Lale wurde schwindelig, das Kreisen beschleunigte sich wieder. Sie kniff die Augen so fest zu, dass es schmerzte. Nach einer kleinen Ewigkeit verlangsamte sich das Wehen und Drehen erneut. Um gegen die Übelkeit zu kämpfen, die sich ihrer bemächtigte, sog Lale die Luft ganz tief ein. Täuschte sie sich, oder war da tatsächlich etwas Brenzliges in der Luft? Etwa noch ein Hauch von einem Osterfeuer? „Meine Fresse“, schrie Peter. „Ist mir schlecht!“ „Augen auf!“, rief Rumi in diesem Moment. Lale traute sich, wieder zu gucken. Soeben glitten sie in gemächlichem Sinkflug über die Häuser in Tulas Nachbarschaft hinweg. Und da war Tulas Kräutergärtchen. Ein Ruck, ein Plumps, ein kurzes „uff!“ und „huch!“ Ein kleines „Vorsicht!“ und ein „Meine Fresse!“ Aus den dunklen Tiefen von Lales Pullover tönte es „Kalle-ralle-rall.“ „Herschey okay“, sagte Rumi. Sie waren gelandet. Und da öffnete sich auch schon die Tür und Tula kam aus dem Haus.
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9. Kapitel in dem die Reisegefährten den Berg des Abschieds überwinden Lale hatte erwartet, dass Tula sich über das Wiedersehen freuen und Peter und sie freundlich begrüßen würde. Aber sie hatte sich getäuscht. Kaum sah Tula die Reisenden, fing sie auch schon an zu schimpfen. „Was habt ihr in meinem Garten verloren! Macht sofort, dass ihr da rauskommt!“ „Hallo, Tula!“, sagte Peter freundlich. Er war, genau wie Lale, aufgesprungen, um Tula zu begrüßen. Aber als die Frau Peter sah, wurde sie noch wütender. „Du wagst es, mir noch einmal unter die Augen zu treten, du Lauselümmel?“ Peter schaute betroffen zu Boden. Lale und Rumi guckten sich verdutzt an. „Was denkst du dir eigentlich?“, schimpfte Tula weiter. „Erst den Ausreißer spielen, und dann so tun, als wäre nichts gewesen! Nein, nein, das mache ich nicht mehr mit! Die Verantwortung ist mir zu groß. Und das habe ich auch deiner Mutter gesagt. Die soll sich jemand anderen zum Aufpassen suchen! Aber ihr zieht ja sowieso weg, in die Siedlung! Dann bin ich die Sorge los!“ Sie warf einen verächtlichen Blick in die Runde. Dann drehte sie sich um und stapfte zu ihrem Haus zurück. Rummms! Die Tür schlug hinter ihr zu. 252
„Tja“, sagte Rumi und legte Peter freundschaftlich einen Arm um die Schulter. „Scheint so, als ob wir in der Vergangenheit nicht mehr erwünscht sind. Aber was soll’s!“ „Vergangen ist vergangen und wird nicht angefangen!“, sagte Muffelchen tröstend. Lale staunte. War das noch das ängstliche Stiefelputzererdmuffelchen, das außer „Vorsicht!“ und „Genau!“ nichts zum Gespräch hatte beitragen können? „Genau!“, sagte sie. Muffelchen hatte Recht. Lale guckte Peter fragend an. Von welcher Siedlung Tula wohl eben gesprochen hatte? War Peter etwa einer von den frechen Jungen, die in ihrer Nachbarschaft wohnten? Nein, das konnte nicht sein. So nett wie er war keiner von denen, und außerdem waren sie älter als er. „Weiter geht’s!“, unterbrach Rumi ihre Gedanken. „Bitte wieder Platz zu nehmen!“ „Sollten wir nicht wenigstens bei Peters Mutter vorbeischauen?“, fragte Lale. „Sie wohnt doch nur drei Häuser weiter.“ „Ich glaub, das hat keinen Sinn“, meinte Peter nachdenklich. „Wir sind ja irgendwann hier weggezogen. In die Siedlung, wie Tula gesagt hat. So langsam kommt meine Erinnerung wieder. Meine Fresse, ich glaub, meine Mutter hat sich damals mit deiner Großmutter verkracht.“ Er ließ sich kopfschüttelnd auf Rumis Teppich nieder. „Lass uns lieber ‘ne Fliege machen“, sagte er. „Sehr richtig“, meinte Rumi. „Wenn es stimmt, dass Jula im Krankenhaus liegt, dürfen wir keine Zeit mehr verlieren.“ 253
„Was heißt, wenn es stimmt?“, empörte sich Lale. „Natürlich stimmt es, wenn ich es doch sage. Aber ich war so lange weg. Wer weiß, wie es Jula inzwischen ergangen ist?“ Wieder fassten sie sich fest bei den Händen. Wieder erlebte Lale das Sausen und Brausen, das Winden und Schwinden, das sie schon kennen gelernt hatte. Ehe sie es sich versahen, waren sie auf der Wiese gelandet, auf der Lale und Peter sich begegnet waren. Und da ragte der Berg des Abschieds empor. Lale sah in geraumer Höhe eine etwas zerzauste goldene Strickleiter im Winde baumeln. „Hier müssen wir uns leider trennen“, sagte Rumi. Lale sah ihren Vater entsetzt an. „Jeder kehrt am besten auf dem Weg in die Gegenwart zurück, auf dem er gekommen ist“, erklärte Rumi. „Ich habe den Teppich genommen. Du aber hast dich mit der goldenen Leiter heruntergelassen. Deshalb solltest du auch auf der Leiter wieder hinaufsteigen. Und Muffelchen und Kalle genauso.“ „Ach du Schreck“, sagte Peter. „Und ich?“ „Du musst verschiedene Wege probieren und hoffen, dass einer klappt. Willst du es lieber mit Lale versuchen oder mit mir kommen?“ „Auf jeden Fall mit Lale“, sagte Peter tapfer. „Ich wollte ihr ja eine Räuberleiter machen.“ Man sah ihm an, dass er die Vorstellung, auf Rumis Teppich zu bleiben, auch sehr verlockend fand. „Also, worauf warten wir“, sagte Rumi. „Ich bring euch ein Stückchen hoch. Ihr steigt vom Teppich aus auf die 254
Leiter, in der Schwebe. Sonst ist es ja wirklich zu hoch. Alle Achtung, Lale. Dass du da hinabgesprungen bist! Haziriz! Los geht’s!“ Sie fassten sich an den Händen und glitten ein Stück in die Höhe. Rumi half erst Lale und dann Peter auf Julas goldene Leiter hinauf. Muffelchen war dieses Mal auf Peters Schulter geklettert und Kalle auf Lales Kopf. Dass Muffelchen auf Peters Schulter saß, war ein Trick, den er sich selbst ausgedacht hatte. Vielleicht gelangte Peter mit seiner Hilfe leichter in die Gegenwart zurück als allein? „Nur Mut! Umut! Hoffnung!“ Während des Aufstiegs wisperte Muffelchen die Worte leise vor sich hin. Auch Kalle raunte einige Verse. Darin reimte sich Kölle auf Hölle und Külle auf Hülle und Fülle. Mehr verstand Lale nicht, denn der Wind trug Kalles Liedchen davon. Es war ein beschwerlicher Aufstieg. Verbissen kämpften sich Lale und Peter Stufe um Stufe voran. Aber sie hatten so viele Abenteuer bestanden, da machten sie jetzt natürlich nicht schlapp. Und die Leiter hielt ihrem Gewicht stand. Es sah ganz so aus, als würde Peter die Rückkehr in die Gegenwart gemeinsam mit Lale gelingen. Peter wagte den Gedanken noch nicht auszusprechen. Und auch Lale wollte es nicht beschwören. Wenn man es aussprach, kam womöglich noch etwas dazwischen. Von Schritt zu Schritt spürte sie immer stärker, wie es sie zu Jula nach Hause zog. Was hatte sie ihr alles zu erzählen! Und wie sehr brannte sie darauf zu erfahren, wie es Jula jetzt ging! 255
Und dann hatten sie endlich das Ende der Leiter und den Gipfel des Berges erreicht. Nachdem sie sich auf dem Gipfel kurz ausgeruht hatten, machten sie sich an den Abstieg. Auf halber Höhe kam ihnen Rumi entgegen. Er war zu Fuß. Nun löste er Peter ab und nahm Muffelchen auf seine Schultern. Gemeinsam mit ihm war der weitere Abstieg ein Klacks. Als sie am Fuße des Bergs des Abschieds angelangt waren, staunte Lale nicht schlecht. Am Rande der Landstraße stand ein Auto geparkt, das, wie sich herausstellte, ihrem Vater gehörte. Die ganze Zeit über hatte Lale gegrübelt, wie sie es bewerkstelligen sollten, alle zusammen auf ihrem Fahrrad zu Jula zurückzufahren. In Gedanken hatte sie schon Rumi strampeln gesehen und sich auf seinen Schultern sitzen, Peter auf dem Gepäckträger und Muffelchen auf der Lenkstange. Wie eine Zirkusfamilie. Nun erübrigten sich ihre Sorgen. In Rumis Auto fanden sie alle bequem Platz, und Lales Fahrrad passte noch dazu in den Kofferraum. Während Rumi mit dem Einladen beschäftigt war, guckte Lale ihn aufmerksam an. Das war also ihr Vater. Es war ein herrliches Gefühl, so einen netten, gut gelaunten Mann zum Vater zu haben. Plötzlich stellte Lale etwas Seltsames fest. In Rumis kräftigen schwarzvioletten Haaren waren über Tag ein paar silbergraue Strähnen gewachsen. Die waren doch vorher nicht da gewesen? „Rumi, du hast ja ein paar graue Haare“, rutschte es ihr heraus. Ihr Vater lachte. „Offenbar habe ich mich in der Vergangenheit ein klein 256
wenig verjüngt. Aber ehrlich gesagt, auch ihr beide erscheint mir gereift.“ Lale guckte prüfend an sich herunter. Tatsächlich, entweder war sie plötzlich gewachsen oder sie war auf ihrer Reise kleiner gewesen. Die Hose, die Tula ihr enger genäht hatte, hatte Hochwasser an den Beinen. Und jetzt spürte Lale auch, dass sie am Bauch ein bisschen kniff. „Wie gut, dass ich nicht um neun Jahre geschrumpft war“, meinte Lale. „Als kleines Baby hätte ich die Krabben wohl nicht besiegt.“ Rumi lachte. Peter hatte bislang schweigend danebengestanden. Nun räusperte er sich und stellte sich vor ihnen in Positur. Lale sah verdutzt an ihrem Freund herauf und herunter. Er war ja immer ein langer Lulatsch gewesen, groß und dünn. Aber was war denn nun mit ihm geschehen? Rumis Piratenhemd schlabberte gar nicht mehr. Es passte wie angegossen. Und Peters Gesicht sah auch etwas verändert aus. Nicht nur, dass er ein paar Pickel auf Stirn und Nase hatte. Da deutete sich ja schon ein zarter Bartflaum auf seiner Oberlippe an! „Da staunste, was?“, grinste Peter. „In Wirklichkeit bin ich nämlich schon vierzehn Jahre alt, auch wenn man’s mir nicht immer angemerkt hat.“ Lale schüttelte staunend den Kopf. Nun hatte sie keinen Zweifel mehr daran, dass Peter einer der frechen älteren Jungen aus ihrer Nachbarschaft war. Jetzt, wo sie wieder in der Gegenwart angelangt waren, erkannte sie ihn sofort. Lachend stiegen sie ins Auto und Lale lehnte sich entspannt gegen die Rückenlehne. Sie saß auf dem Rücksitz und Muffelchen neben ihr. Peter durfte vorne sitzen, weil 257
er dort seine langen Beine am besten ausstrecken konnte. Kalle und Herr Papale hatten Extraplätze auf den Kopfstützen ergattert. Während der Fahrt blinzelte Lale schläfrig aus dem Fenster. Die Landstraße, der Fluss, Wiesen und Felder flogen vorbei. Vom Schnee, der neulich hier gelegen hatte, waren nur noch einige schmutzige Reste am Feldrand übrig geblieben. Kaum zu glauben, dass sie diese Strecke mit dem Fahrrad bewältigt hatte. Sehr zufrieden mit sich und der Welt schlief Lale ein.
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10. Kapitel in dem Lale einen ritterlichen Handkuss erhält und nach Hause kommt Als Lale erwachte, parkte Rumi den Wagen gerade am Wegesrand. Vor ihnen lag der Acker des Bleibens. Muffelchen öffnete die Wagentür, blieb aber noch einen Moment im Auto sitzen. „Das war ein tolles Abenteuer“, sagte er. „Mein König und meine Königin, all meine Erdmuffelfreunde werden staunen. Ich bin sicher, wir feiern heute ein großes Fest. Und dann lasse ich mich zum königlichen Geschichtenerzähler ernennen. Ich habe keine Lust mehr, schmutzige Stiefel zu putzen.“ Sie verabredeten, dass sie Muffelchen im Frühjahr besuchen wollten. „Jetzt wird dein König seine Gäste sicher ziehen lassen“, meinte Rumi. „Wenn er weiß, dass sie doch wiederkommen.“ „Biste sicher, dass man dich nicht bestraft?“, fragte Peter besorgt. „Schließlich biste auch ein Ausreißer, Muffelchen.“ „Keine Sorge“, meinte Muffelchen. „Strafen gibt es bei uns nicht. Wir sind ein freundliches Volk. Nur ein bisschen zu sesshaft, ein bisschen zu ängstlich vielleicht.“ „Du bist doch der tapferste Ritter, den man sich vorstellen kann“, sagte Lale. Da errötete Muffelchen. 259
Er ergriff Lales Hand mit seiner Pfote und drückte ihr mit seiner feuchten Erdmuffelschnauze einen zarten Handkuss darauf. Dann sprang er aus dem Auto, erschrocken über seinen ritterlichen Mut. Zum Abschied winkte er ihnen zu. „Auf Wiedersehen! Vielen Dank!“ „Tschüß, Muffelchen! Ohne dich hätten wir es nicht geschafft!“ „Bis bald im Frühjahr! Fahrt vorsichtig!“ Als sie anfuhren, sah Lale hinten auf dem Feld einige Erdmuffel auftauchen. Sie liefen Muffelchen mit ausgebreiteten Armen entgegen. Die weitere Autofahrt mit Rumi verging wie im Flug. Sie fuhren an der Kirche vorbei, in der Lale und Kalle Picknick gemacht hatten. Ließen die Bauernhäuser zur Seite liegen. Sahen die feinen Rauchwölkchen aus den Schornsteinen aufsteigen und wunderten sich. Winter, Frühling, Sommer, Spätsommer und jetzt wieder Winter. Nach so vielen Tagen, nach so langer Zeit näherten sie sich ihrem Ausgangspunkt. Schon sahen sie die Lichter der Stadt blinken. Je mehr sie sich ihrem Ziel näherten, desto schweigsamer wurden sie. Alle hatten denselben Gedanken. Wie mochte es Jula ergangen sein? Es war ein komisches Gefühl für Lale, aber auch für Peter, als sie sich der Gegend, in der sie wohnten, näherten. Da lag die Schule. Da war das Haus ihrer Lehrerin. Katis Haus. Die Häuser, in denen andere Schulfreunde wohnten. Die Siedlung der frechen Jungen, die Siedlung, in der auch Peter zu Hause war. 260
Und dann, nach so langer Abwesenheit, bogen sie in die Straße ein, in der Julas Häuschen stand. Lale wusste ja nicht, ob ihre Großmutter noch immer im Krankenhaus lag. Aber sie wollte erst einmal zu Hause nach dem Rechten sehen. Rumi parkte sein Auto vor Julas Haus auf dem Bürgersteig, direkt hinter Herrn Schlichtings Wagen. Der war am selben Platz wie immer geparkt, als ob nichts geschehen wäre. Das kam Lale an sich schon komisch vor. Und dann klingelte sie Sturm, schloss gleichzeitig die Haustür auf, rief „Huhu“ und stürmte allen voran ins Wohnzimmer. „Lale! Mein Kind!“ Jula war zu Hause! Nicht mehr im Krankenhaus! Sie lag auf dem Sofa und streckte ihr die Arme entgegen. Lale stürmte zu ihr und ließ sich von ihrer Großmutter in die Arme schließen. Neben Jula saß Frau Pauli im Lehnstuhl, und neben Frau Pauli saß auf einem Küchenhocker eine Frau, die Lale nicht kannte. Als sie die Hereinkommenden sah, sprang sie so heftig auf, dass der Hocker umkippte. „Peter! Du Ausreißer! Endlich! Wo hast du nur gesteckt, du Mistkerl?“ „Mama!“ Mit Verwunderung sah Lale mit an, wie die beiden sich freudestrahlend in die Arme fielen. Also musste das Peters Mutter sein. Lale hatte die Frau noch nie in der Nachbarschaft wahrgenommen. Sie sah eigentlich ganz sympathisch aus. Der „Mistkerl“ schien nicht weiter ernst gemeint zu sein. Aber es war komisch, ihren 261
Freund, der die ganze Zeit über so selbstständig gewirkt hatte, plötzlich „Mama“ rufen zu hören. Lale wunderte sich. Und sie sollte sich noch viel mehr wundern. „Rumi!“ „Guten Abend, Frau Schulze!“ Ihr Vater kniete neben dem Sofa und hatte Julas Hände ergriffen. Er hielt sie behutsam in seinen und streichelte sie. „Es tut mir alles so Leid, Rumi. Ich weiß, dass ich Unrecht hatte. Aber als ich damals mit ansah, wie unglücklich Frau Maibohm hier war – ich wollte nicht, dass Ulla auch so unglücklich würde. Verzeih mir, Rumi. Und danke, dass du gekommen bist.“ „Ich wäre nicht gekommen, wenn Lale mich nicht geholt hätte.“ „Ja, ja, die Lale. Das ist ein tüchtiges Kind.“ „Ein sehr tüchtiges Mädchen!“ So, nun reichte es Lale aber. Jetzt war sie auch mal dran. „Jula, wie geht es dir denn?“ „Gut, mein Kind. Bisschen müde bin ich. Aber jetzt ist alles gut. Ihr seid wieder da, und du hast deinen Vater gefunden, und Frau Maibohm und ich haben uns auch wieder vertragen. Jetzt werde ich ein bisschen schlafen, und morgen früh erzählst du mir alles, was auf deiner Reise geschehen ist, ja?“ „In Ordnung, Jula.“ Höflich standen die anderen auf und verabschiedeten sich. Lale sah, wie ihr Vater die Tüte mit den Weintrauben hervorzog und Peters Mutter hinhielt. 262
„Mögen Sie ein paar Weintrauben, Frau Maibohm? Selbst gepflückt!“, fragte Rumi scheinheilig. „Es ist Winter“, protestierte Frau Maibohm. „Da gibt es doch keine Trauben.“ „Wo wir herkommen, war gerade Spätsommer“, grinste Rumi. Daraufhin fing Peters Mutter an zu kichern, als wäre sie ein ganz junges Mädchen. Lale und Peter guckten sich erleichtert an. Peters Mutter hatte ihr Lachen zurückgewonnen. Nachdem Peter, seine Mutter und Frau Pauli gegangen waren, deckte Lale Kalles Vogelbauer mit seiner gelb geblümten Schlafdecke zu. Herr Papale war bei Rumi im Gästezimmer untergebracht. „Kulle-rull“, piepste Kalle behaglich. „Rulli-welli-well.“ Auch er war glücklich, wieder zu Hause zu sein. Anscheinend träumte er nicht einmal mehr davon, ein Kanarienvogel zu sein. Dann hockte sich Lale auf Julas Sofakante. Sie saß einfach nur so bei ihr und sah ihr zu. Die alte Frau, die Lale über alles lieb hatte, war eingeschlafen. Sie atmete tief und gleichmäßig vor sich hin. Auf dem Tischchen neben dem Sofa lagen die Nadeln, mit denen Jula die goldene Leiter gestrickt hatte. Lale nahm die goldenen Stricknadeln in die Hand und spielte gedankenlos mit ihnen herum. Mit einem Mal merkte sie, dass ihre Großmutter immer, wenn Lale die Nadeln in ihrer Hand drehte, die Augen öffnete und zur Decke hoch sah. Hatte Jula nicht eben schon tief und fest geschlafen? 263
Bewegte sich etwa schon, wenn man bloß mit den goldenen Nadeln spielte, die Zeit wieder zurück? Das musste Lale gleich noch einmal ausprobieren. Sie gab Jula Zeit und ließ sie wieder schlafen. Sie drehte an den Nadeln und wartete ab, was geschah. Jula öffnete ihre Augen. Sie starrte gegen die Decke. „Ich hab dich lieb“, sagte Lale. „Ich hab dich auch lieb“, antwortete Jula. Dann schlief Jula wieder ein. Lale spielte alles noch einmal von vorne durch. Sie drehte an den Nadeln. Jula wachte auf. „Ich hab dich lieb“, sagte Lale. „Ich dich auch“, flüsterte Jula. Dann schlief ihre Großmutter wieder ein. Lale wartete einen Moment, dann drehte sie erneut an den Nadeln herum. So wiederholte sie ihr Experiment noch einige Male. Es war eindeutig. Wann immer sie die goldenen Nadeln drehte, drehte sie die Zeit um Sekundenbruchteile zurück. Lale war begeistert. Sie hielt die Macht über Julas Zeit, über die Zeit überhaupt, in ihrer Hand. Wenn sie es nicht wollte, würde Jula überhaupt nie einschlafen! Sie könnte auch an Rumis Gästebett schleichen und ihren Vater aufwecken. Sie könnte ihm endlich den dicken Kuss geben, den Ulla ihr aufgetragen hatte. Und sie könnte im Unterricht, wenn sie eine Antwort nicht wusste, die Zeit zurückdrehen und so tun, als hätte sie die richtige Antwort die ganze Zeit über gewusst. 264
Lale drehte die Nadeln hin und her und zwang Jula, die Augen wieder aufzuschlagen. Endlich wurde es Jula zu bunt. „Lass die Faxen“, bat Jula. „Ich will jetzt wirklich schlafen. Also hör bitte auf, mit den Nadeln herumzufummeln.“ „In Ordnung, Jula“, sagte Lale leise. „Entschuldige bitte. Ich hab dich nur so lieb, weißt du.“ „Ich habe dich auch sehr lieb, mein Kind“, sagte ihre Großmutter. „Und ich freue mich, dass du wieder hier bist. Und so groß geworden! Danke, dass du das alles so prima für mich erledigt hast. Aber jetzt lass mich endlich schlafen. Morgen ist auch noch ein Tag.“ Sie strich Lale zärtlich übers Haar. Dann schloss sie die Augen und schlief lächelnd ein.
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