Maddrax Band 90
Lazarus von Claudia Kern
Er starb in einem Sturm aus Feuer und Eis. Dies sollte er später sagen, wenn...
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Maddrax Band 90
Lazarus von Claudia Kern
Er starb in einem Sturm aus Feuer und Eis. Dies sollte er später sagen, wenn sie ihn fragten und darum baten, die Geschichte seiner Wiedergeburt noch einmal hören zu dürfen. Dann verdrängte er die Erinnerung an das Wimmern der Sterbenden und seine eigene furchtbare Angst. Noch lag er jedoch zwischen ihnen, eingeschlossen von toten, langsam erkaltenden Körpern. Sein eigener Körper brannte im Fieber, bis er glaubte, dass nichts von ihm bleiben würde außer Asche. Einmal würde er sagen, dass der Wind seine Asche über die Ebene getrieben habe und er so sein Volk fand. Doch das war später, als Krieger ihm ihr Leben weihten und er, der unsterblich Wiedergeborene, einen Sturm aus Feuer und Eis entfachte.
WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Asiens werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten ... für Jahrhunderte. Nach der Eiszeit hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den USPiloten Matthew Drax, dessen Jet beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde ... Auf der Suche nach Antworten, was mit der Erde und der Menschheit geschehen ist, taucht die Weltrat-Expedition unter Lynne Crow und Prof. Dr. Smythe in den Kratersee hinab – und scheitert. Auch Matts Gruppe wagt den Vorstoß. Bei der Bergung eines grünen Kometenkristalls wird der Hydrit Mer'ol gefangen. Sein Mentor Quart'ol nimmt Kontakt mit dem Kristall auf. Die Gefährten erfahren, dass das außerirdische Volk der Daa'muren mit dem Kometen auf die Erde kam und seither bestrebt ist, durch fortwährende Mutationen der Tierund Pflanzenwelt eine Lebensform zu erschaffen, in die Milliarden körperloser Geister schlüpfen können. Auch die Degeneration und Reorganisation der Menschheit diente diesem Zweck. Der Wirtskörper steht kurz vor der Vollendung – als Matt in einer Bruthöhle eines der Eier zertritt. Die Außerirdischen prägen ihn als obersten Feind und hetzen ihm ihre Mutanten auf den Hals. Die Freunde fliehen in einem ARET-Panzer. Quart'ol bleibt zurück, um Mer'ol zu befreien. Dabei stellt er fest, dass Smythe und Lynne von den Daa'muren
festgehalten werden. Als der Barbar Pieroo erkrankt, fahren Aiko und Honeybutt mit ihm im Beiwagen des ARET voraus. Unterwegs stoßen sie auf Jed Stuart und Majela Ncombe, zwei WCA-Überläufer, die mit einem Zug nach Kiew weiterreisen. In der Hafenstadt Nydda trennen sich die Gefährten: Dave und Rulfan fahren auf einem Raddampfer nach Britana, wahrend Matt, Aruula und Mr. Black im ARET den Landweg nehmen. In Perm beginnen sie die russischen Bunker auf ein Bündnis gegen die Daa'muren einzuschwören. Eine wichtige Rolle spielt dabei ein Serum, das nur aus Mr. Blacks Blut gewonnen werden kann und schon dem Weltrat half, die Immunschwäche der Technos zu überwinden. So werden sie in Moskau mit offenen Armen empfangen. Die in der Stadt lebenden Nosfera – mumienhafte Blutsauger – nehmen Kontakt mit Matt Drax auf: Bei einer Prophezeiung haben sie ihn als Sohn der Finsternis erkannt. Was das bedeutet, findet Matt zwar nicht heraus, aber sie helfen ihm, als die Mutantenarmee Moskau erreicht. Die Rettung bringt sein Laser-Phasen-Gewehr: Indem er den Reaktor darin in einem Metrotunnel zur Explosion bringt, löscht Matt den Großteil der Feinde aus. Den Ruhm aber erntet Mr. Black, der oberirdisch die Streitmacht der Verteidiger anführte ...
»Was vermisst du?« Majelas Atem war ein Kitzeln an seinem Ohr. Jed hörte ihre Worte im Halbschlaf, ohne sie wirklich zu verstehen. »Hm?« »Was vermisst du?« »Hm ...« Er tauchte aus der Tiefe eines rasch verwehenden Traums auf und öffnete die Augen. Sonnenlicht fiel durch die Ritzen der hölzernen Luken, Staubpartikel tanzten in der Luft. Das Rattern des Zugs klang so vertraut wie sein eigener Herzschlag. »Keine Ahnung.« Jed drehte sich auf den Rücken. Majela lag neben ihm, den Kopf auf eine Hand gestützt. »Wieso fragst du?« »Ich hatte einen merkwürdigen Traum, das ist alles. Wir waren wieder im Bunker. Niemand schien sich darüber zu wundern. Crow forderte mich als seine Adjutantin an, du gingst zurück zu deinen Büchern. Unser Leben verlief genau so wie vor der Expedition.« Er setzte sich auf und rieb Schlaf aus seinen Augen. »Hat dir das gefallen?« Majela schüttelte den Kopf. Ihre schwarzen Rastas fielen ihr über die Stirn ins Gesicht. »Nein, der Traum hat mir nur klar gemacht, was wir alles nie wieder haben werden. Ich habe darüber nachgedacht, was ich vermisse, und jetzt möchte ich wissen, was du vermisst.« Sie lächelte und setzte sich ebenfalls auf. »Also, was vermisst du?« Jed zögerte einen Moment, bevor er antwortete. Er hatte sich diese Frage noch nie gestellt, und die Erkenntnis, zu der er jetzt kam, überraschte ihn. »Nun«, sagte er dann, »um ehrlich zu sein, nichts. Ich vermisse nichts.« »Meinst du das im Ernst? Du lebst ein Leben als Wissenschaftler in einem High-Tech-Bunker mit allen Annehmlichkeiten, tauschst diesen Luxus gegen ein acht Fuß
langes, mit Yakkkacke isoliertes Zugabteil voller Flöhe -« »Hey, unser Abteil ist flohfrei, da bin ich sicher, und es sind eher zehn Fuß als acht.« »Höchstens neun ... und du vermisst nichts?« »Nein.« Er lehnte sich zu ihr herüber. Seine Fingerspitzen strichen über ihre Schenkel. »Ich ... äh, habe alles, was ich brauche.« Majelas Lächeln wurde breiter. Sie rutschte näher an ihn heran und begann sein Gesicht zu küssen. »Du wirst lachen, wenn du hörst, was ich vermisse«, sagte sie zwischen zwei Küssen. »Es ist bestimmt etwas Wichtiges, über das ich gar nicht nachgedacht habe. Antibiotika oder so.« »Cornflakes.« Er versuchte nicht zu lachen und scheiterte. Majela stützte ihre Ellenbogen auf seine Brust und sah ihn an. »Ich meine das ernst. Wie werden Cornflakes eigentlich hergestellt? Glaubst du, man kann sie selber machen? Dieser Kelloggs konnte es, also gibt es doch keinen Grund, weshalb wir scheitern sollten, oder?« »Ich weiß nicht.« Jed zog sie langsam zu sich herunter. »Aber mir ist gerade auch etwas eingefallen, das ich vermisse.« Ihre Hände glitten über seinen Körper. Er hatte den Eindruck, dass sie ihm nur halb zuhörte. »Und was?« Ich vermisse es, etwas zu lesen, das nicht in meiner eigenen Handschrift geschrieben ist, wollte er antworten, doch bevor er das sagen konnte, flog die Tür zum Abteil mit einem Knall gegen die Wand. Er zuckte erschrocken zusammen. »Jed!«, schrie Pjootrs dunkle Stimme auf Russisch. »Dein verdammter Bauer pisst in den Gang! Unternimm was oder ich schmeiße ihn aus dem Fenster!« Majela zog die Decke über ihre Schultern. »Wie wär's mit Privatsphäre?«, fragte sie in einem Tonfall, den Jed als äußerst sarkastisch bezeichnen musste. »Vermisst du die vielleicht?«
Er nickte und schloss die Augen. * Pjootr Er ist fett, doch er mag es nicht, wenn man ihm das sagt. Seit fünfunddreißig Jahren gehört ihm der Zug. Er hat zwei Frauen überlebt, sechs Söhne und drei Töchter gezeugt. Der älteste Sohn Sergee wird nach seinem Tod den Zug übernehmen, so wie er ihn von seinem Vater übernommen hat, nachdem ein Pfeil dessen Hals durchbohrte. Es ist nicht ungefährlich, Zug zu fahren, doch niemand in seiner Familie beschwert sich. Die Schienen haben sie alle reich gemacht. Zwei Mal im Jahr wagen sie diese lange Reise von Kiiw nach Yaamal und wieder zurück. Sie nehmen eingelegtes Gemüse mit und gezuckertes Obst, Werkzeuge, Vieh, Honig und Getreide. Zurück kommen sie mit Erdgas, Öl, gesalzenen Fischen und Gold. Einige Händler und Abenteurer fahren die gesamte Strecke mit, die meisten bleiben jedoch nur ein paar Tage im Zug. Man kann Geld machen in Yaamal, wenn man bereit ist, sich die Hände schmutzig zu machen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Nach all den Jahren sieht Pjootr den Reisenden an, wer es schaffen wird und wer beim nächsten Mal zurück nach Kiiw fährt, geschlagen, gedemütigt und mit gerade so viel Geld, dass es für einen Platz in der dritten Klasse reicht. Er ist kein gebildeter oder kluger Mann, aber das Leben im Zug hat ihn weise gemacht. Er kennt die Menschen. Deshalb wird er neugierig, als sein jüngster Sohn, der achtjährige Alexii, ihm von der schwarzen Frau und dem Mann in der seltsamen Kleidung erzählt. Sie sind in Nydda zugestiegen und reisen in der ersten Klasse. Ein Viehhändler aus Sibiir, der seine beiden Töchter in Kiiw verheiraten will,
teilt sich das Abteil mit ihnen. Seine Töchter haben Angst vor der schwarzen Frau, und die Haussklavin, die vor der Tür im Gang schläft, hat ihren Begleiter in fremden Sprachen reden hören. Er ist Linkshänder, sagt sie, und jeder weiß ja, dass die sich leicht vom Teufel verführen lassen. Pjootr gibt nichts auf solche Geschichten. Sein Sohn Sergee ist Linkshänder und er hat bei ihm noch nie eine Neigung zu teuflischen Gedanken bemerkt. In den einunddreißig Wintern seit seiner Geburt wäre ihm das sicher aufgefallen. Trotzdem sucht er die Fremden auf, denn in der Enge des Zugs sind Gerüchte wie blank gezogene Klingen, gefährlich und unberechenbar. Die Frau ist tatsächlich so dunkel, wie Alexii behauptet hat. Ihr Name ist Majela und sie beherrscht nur ein paar Brocken seiner Sprache, deshalb unterhält sich Pjootr mit Jed, dem Mann, der sie begleitet. Er ist hager, nervös und spricht Russkii, wenn auch zögernd und mit seltsamem Akzent. Den Dialekt des Viehhändlers übersetzt er ebenso leicht wie das kaum verständliche Kauderwelsch eines mongoolischen Minenbesitzers, der ihnen auf dem Gang begegnet. Vielleicht hat er dem Teufel die linke Hand gereicht, um diese Magie zu erhalten, vielleicht ist es auch nur ein Talent, so wie Alexii die Gabe besitzt, Menschen, Tiere und sogar ganze Landschaften mit wenigen Kohlestrichen auf Papier zum Leben zu erwecken. Nicht alles Ungewöhnliche stammt von den Dämonen. Eigentlich, das gesteht Pjootr sich ehrlich ein, ist es ihm egal, woher das Talent stammt. Noch am gleichen Tag lässt er die Haussklavin in die dritte Klasse verbannen, wo sie dem Vieh und dem Abschaum ihre Geschichten erzählen kann, und quartiert den Viehhändler samt Töchter bei dem Mongoolen und seinen drei Frauen ein. Er weiß, dass dies keinem von beiden passt, aber sie beschweren sich nicht. Niemand beschwert sich je bei Pjootr, und niemand
widerspricht ihm. Er zeigt sich großzügig gegenüber Jed, weist ihm und seiner Gefährtin ein ganzes Abteil zu – ein Luxus, den sonst nur er und Sergee haben –, lässt seinen Leibkoch ihre Mahlzeiten zubereiten und schenkt ihnen mehr Goldmünzen als seinen eigenen Söhnen. Er möchte, dass Jed sich wohl fühlt und ihm loyal ist, bevor die reichen Händler begreifen, wie nützlich er ihnen sein könnte. Einige versuchen bereits ihn abzuwerben. Aber es gibt noch einen anderen Grund für seine Großmut. Bereits beim ersten Gespräch hat Pjootr die Waffe bemerkt, die Majela stets bei sich trägt. Er hat ähnliche Waffen bei den Helmmenschen von Kiiw gesehen. Jed weicht ihm anfangs aus, als er danach fragt, doch an einem Abend lockert Pjootr seine Zunge mit Voodka. So hört er einiges, was er wissen will, und manches, was ihm lieber verborgen geblieben wäre. Es gibt tatsächlich Helmmenschen in anderen Städten, die vor etwas gewarnt werden müssen, das Pjootr nicht versteht. Jed und Majela sind ebenfalls Helmmenschen, aber aus einem Grund, den er ebenfalls nicht versteht, kommen sie ohne Helme aus. Und kurz bevor er einschläft, verrät ihm Jed mit glasigem Blick, er sei der fetteste Mann, den er je gesehen habe, und nach einer Reise von fünfzehntausend Meilen sage das einiges aus. Pjootr versucht die unbeabsichtigte Beleidigung zu vergessen, konzentriert sich stattdessen auf die Zahl, die ihm unglaublich hoch erscheint. Fünfzehntausend Meilen ... er hat nicht gewusst, dass die Welt so groß ist. Gibt es Schienen am Ende dieser fünfzehntausend Meilen und Züge?, will er später von Jed erfahren. Kann ich mit deinen Helmmenschen Handel treiben, so wie mit denen in Kiiw, und wirst du mir helfen, reicher zu werden, als ich es mir je erträumen konnte? Wenn er an die Größe der Welt denkt, erscheint ihm sein eigenes Leben bedeutungslos und verschwendet. Wie konnte er
zufrieden mit seinem kleinen Zug sein, wenn es jenseits seiner Schienen noch so viel anderes gibt? Dieses Erbe will er seinen Söhnen hinterlassen, und mit den Helmmenschen an seiner Seite kann es ihm gelingen. Wenn Jed doch nur seine Fragen beantworten würde, doch das tut er nicht, sondern fragt nur selbst. Was ist in der Kiste im zweiten Frachtwaggon?, will er immer wieder wissen. Warum sagst du mir nicht, was in der Kiste ist? Weil du es nicht verstehen wirst, denkt Pjootr und schweigt. * Der schmale Gang war voller Menschen. Sie lehnten in den offenen Türen der Abteile, hockten in Nomadenart auf dem Boden oder standen an den vergitterten Fenstern und starrten hinaus auf die karge Landschaft, deren Anblick sich seit Tagen nicht verändert hatte. Die Hitze lag wie eine Decke über dem Zug. Dünne Rauchsäulen stiegen von den offenen Feuerstellen in den Abteilen auf. An den Wänden hingen Eimer mit Sand. Es roch nach Tee, gekochtem Fisch und Schweiß. Jed legte dem Bauern die Hand auf die Schulter, um dessen Redeschwall zu unterbrechen. Der alte Mann war so gekrümmt, dass er seinen haarlosen Kopf wie den einer Eule schräg legen musste, um zu anderen Menschen aufzusehen. Sein Gesicht war ein Gebirge aus Falten, sein Körper knochig und abgemagert. Er behauptete, mehr als neunzig Winter gesehen zu haben. Jed glaubte, dass er untertrieb. »Er ... äh ... sagt, das sei ein Geschenk.« »Was ist ein Geschenk?« Pjootrs untere Gesichtshälfte bebte bei jedem Wort auf und ab. Sein gewaltiger Körper war in ständiger Bewegung, als versuche er die Massen unablässig neu zu verteilen. Schweiß stand in dichten Perlen auf seiner Stirn. »Sein ...« Jed zögerte und suchte nach dem richtigen Wort.
»Sein, hm, Morgenurin, könnte man sagen.« »Morgen-was?« Pjootr sah die Passagiere ratsuchend an, erntete jedoch nur Schulterzucken und ratlose Blicke. »Seine Pisse«, sagte Jed deutlicher. Die Gesichter hellten sich auf. Pjootr nickte, eine Bewegung, die sich über seinen Hals bis auf die Brust fortsetzte. »Ah, er wollte uns also seine Pisse schenken. Hat er den Verstand verloren oder was soll das?« »Nein, er ... er ist eine Art Schamane in seinem Dorf, und die Leute geben ihm Geschenke, damit er auf ihre Türschwellen uri... pisst. Das soll böse Geister abhalten und Ungeziefer. Ganz ... äh, abwegig ist das übrigens nicht. Die Säure ...« Jed brach ab, als er bemerkte, dass niemand in diesem Gang seine Erklärung hören wollte. »Es ist wohl ein ... hm, lokal beschränkter Brauch.« Der alte Mann trat einen Schritt zur Seite, um seine Frau durchzulassen, die ebenso gekrümmt war wie er, aber noch älter wirkte. Sie beugte sich schnaufend zum Boden und begann den Urin mit einem Stück Stoff von der Tür abzuwischen. »Ich schicke sie wieder in die dritte Klasse, wo sie hingehören«, sagte Pjootr. »Abschaum passt nun mal nur zu Abschaum, nicht zu richtigen Leuten.« Er wandte sich ab, aber Jed griff ohne nachzudenken nach seinem Arm. »Warte.« Wasslyy, der mongoolische Minenbesitzer, wich in sein Abteil zurück, fürchtete wohl, in eine bevorstehende Auseinandersetzung verwickelt zu werden. Eine seiner Frauen kicherte leise und bedeckte ihren Mund mit der Hand. Pjootr blieb stehen und drehte sich langsam um. »Dir gefällt meine Entscheidung nicht?« Er war kein Mann der subtilen Gesten, und so war die Drohung in seiner Stimme unüberhörbar. Jed wusste, dass er sich aufgrund seiner Position mehr herausnehmen konnte als
die anderen Reisenden, auch wenn die Beziehungen seit dem Voodka-Abend und seiner taktlos peinlichen Bemerkung leicht getrübt waren. Nur die Grenzen dieser Position hatte er noch nicht ausgetestet. »Vielleicht sollten wir in ... hm ... Ruhe woanders darüber reden.« »Nein, du kannst vor allen sagen, was du denkst.« Die alte Frau hatte aufgehört, den Boden zu wischen, und sah von Jed zu Pjootr und wieder zurück. Ihr Mann leckte sich nervös die eingefallenen Lippen. Ihnen musste klar sein, dass sie die Ursache des Streits waren. »Sie überleben keinen Tag in der dritten Klasse«, sagte Jed. »Sieh sie dir doch an.« »Es ist wie bei Tieren. Die Alten und Schwachen bleiben nun mal auf der Strecke.« Pjootrs Gleichgültigkeit war eine Provokation. »Sie sind Menschen, und ich ... äh ... erwarte, dass du sie wie jeden Reisenden der ersten Klasse behandelst. Schließlich haben sie dafür bezahlt.« »Du hast für sie bezahlt und zwar mit meinem Geld.« »Geld, das du für meine Dienste gezahlt hast. Willst du dich etwa beklagen, weil ich es dir zurückgebe?« Pjootr sah ihn aus blutunterlaufenen blauen Augen an. Seine gewaltigen Pranken waren zu Fäusten geballt, die so groß wie Kinderköpfe waren. Einen Moment lang schwieg er, dann begann er plötzlich zu lachen. Es war ein lautes, dröhnendes Lachen, das wie die Drohung nur wenige Minuten vorher völlig ehrlich wirkte. »Also gut, wenn du unbedingt willst, können sie hier bleiben.« Pjootr wischte sich eine Träne von der Wange. »Aber wenn ich noch eine Beschwerde über sie höre, werfe ich sie aus dem Zug ... und er wird nicht für sie anhalten!« »Ich danke dir«, sagte Jed, auch wenn die beiden alten Bauern jetzt in einer noch gefährlicheren Situation waren als
zuvor. Pjootr hatte ihm so viel zugestanden wie er konnte, ohne sein Gesicht zu verlieren. »Sie ... äh ... werden keinen weiteren Ärger machen.« »Gut.« Pjootr drehte sich um. Sein Bauch schabte an der Wand vorbei. Für eine Sekunde glaubte Jed, er würde steckenbleiben, dann war die Drehung auch schon vollendet. »Und Jed ...«, sagte Pjootr, als sei ihm gerade noch etwas eingefallen. »Komm heute nach Sonnenuntergang zum Frachtwaggon. Du sollst sehen, was in der Kiste ist.« * Sie vermisste die Stille mehr als die Cornflakes, aber das konnte sie Jed nicht sagen. Er hätte das auf sich bezogen, hätte geglaubt, dass sie seiner Gegenwart überdrüssig geworden sei. Dabei war seine Gegenwart das einzige, an dem sich Majela festklammern konnte, wenn die Welt um sie herum zu fremd und zu schwierig wurde. Draußen vor den geschlossenen Holztüren des Abteils herrschte das nie enden wollende Wirrwarr aus gebrüllten Unterhaltungen, schlagenden Türen und klappernden Töpfen. Nachts wurden die Geräusche leiser, tags lauter, aber sie verstummten nie. Manchmal lag Majela wach und lauschte den Sprachen, die sie nicht verstand, und Jeds regelmäßigen Atemzügen. Ihn schienen weder der Lärm, noch der Gestank, noch die Enge zu stören. Ständig machte er eine neue Entdeckung über die Kultur der anderen Reisenden, und der Enthusiasmus, mit dem er davon erzählte, war ansteckend. Das machte die Fahrt erträglicher. Wenigstens einer von uns amüsiert sich, dachte Majela und schüttelte Wasser aus ihren Haaren. Im Gegensatz zu den meisten Passagieren der ersten Klasse hatten sie und Jed einen eigenen Waschtrog, dessen Wasser jede Woche ausgetauscht wurde. Sie wuschen sich selbst, ihre Kleidung und das wenige
Essgeschirr, das sie besaßen, darin. Anfangs hatte das noch Überwindung gekostet, mittlerweile war daraus längst Routine geworden. Man versuchte das Beste aus dem Leben im Zug zu machen und tröstete sich mit dem Gedanken, wenigstens nicht in der dritten Klasse reisen zu müssen. Die dritte Klasse. Wenn man den Zug als Spiegelbild einer Stadt betrachten wollte, so lagen dort die Slums. Die Waggons waren nicht mehr als drei offene Pritschenwagen, auf denen Menschen und Vieh zusammengepfercht lebten. Es gab keinen Schutz vor dem Wetter, keine Versorgung mit Trinkwasser oder Nahrung. Wer keine eigenen Vorräte mitgebracht hatte, bestahl andere oder starb. Sie hatte die dritte Klasse nur einmal gesehen, als sie und Jed den Zug erkundeten und an dem Frachtwaggon vorbei nach hinten gegangen waren. Ein Wächter hatte sie aufgehalten und zurückgeschickt, weil sie keine Eskorte hatten. Anscheinend durften Passagiere der ersten Klasse nur in Begleitung bis zur dritten vorstoßen. Pjootr hatte Jed von einigen Fällen berichtet, bei denen Menschen aus der ersten Klasse in der dritten als Geiseln genommen worden waren, um Nahrung und Wasser zu erpressen. Sogar einen Aufstand hatte es einmal gegeben. Seitdem setzte man die Frachtwaggons, die als zweite Klasse galten, zwischen die erste und die dritte und sicherte sie zusätzlich ab. Majela wusste, dass Jed trotzdem einige Male heimlich dort gewesen war. Er hatte ihr nichts davon gesagt, aber seine Ausreden waren leicht zu durchschauen. Er war ein schlechter Lügner. Sie streifte sich ihr Hemd über und knöpfte es zu. Durch die kleinen vergitterten Fenster sah sie die Landschaft vorbeigleiten. Die endlosen Wälder zu Beginn der Fahrt waren zuerst von Feldern und Weideland und in den letzten Tagen von einer gelben verdorrten Steppe abgelöst worden. Der blassblaue Himmel wurde immer wieder von Rauchwolken durchbrochen. Irgendwo brannte das Gras, aber die Feuer
waren so weit entfernt, dass man sie nicht sehen konnte. Majela hoffte, dass das auch so blieb. Sie sah auf, als die Tür aufgestoßen wurde und Jed auf der Schwelle stehen blieb. Er drehte ihr den Rücken zu, war in ein Gespräch mit den beiden alten Leuten vertieft, die er aus der dritten Klasse geholt hatte. Die fast kahlköpfige Frau hielt ihm ein Stück Stoff entgegen. Der Gestank nach Urin hing plötzlich in der Luft. Majela verstand nicht, was gesagt wurde, aber Jed wiederholte den gleichen Satz mehrere Male, bevor der bucklige Mann lachte, etwas sagte und davon schlurfte. Seine Frau verharrte noch einen Moment und lächelte Majela zu, dann folgte sie ihm. Jed schloss die Tür. Obwohl die Sonne erst vor kurzem aufgegangen war, klebte das Hemd bereits an seinem Körper. In den Gängen voller Menschen war es noch heißer als im Abteil. »Die beiden wollten uns zum Frühstück einladen, obwohl sie sich das gar nicht leisten können«, sagte er, während er zum Waschtrog ging und seine Hände hinein tauchte. »Ich habe ihnen erklärt, wir müssten aus religiösen Gründen morgens meditieren. Das ist höflicher, als einfach abzulehnen.« Majela runzelte die Stirn. »Und deshalb hat der alte Mann so gelacht?« »Das ... äh ... war wirklich ein wenig merkwürdig.« Er sah nachdenklich aus dem Fenster. »Er sagte, ihm gefiele unsere Religion. Vielleicht habe ich das ... hm, Wort für Meditation mit dem Wort für ... nun, ist ja auch egal. In jedem Fall kommen sie später noch mal vorbei, um ein paar Benimmregeln zu lernen. Dann gelingt es ihnen hoffentlich die erste Klasse zu überleben, ohne dass Pjootr sie aus dem Zug wirft.« Es war umständlich, von den Bauersleuten als »alter Mann« und »alte Frau« zu sprechen, aber sie hatten noch keine
Alternative gefunden, denn einen Namen besaßen die beiden nicht. In ihrem Teil des Landes war es üblich, dass nur Menschen, die Land besaßen, dieses Recht zugesprochen bekamen. Da die beiden auf einer gepachteten Farm arbeiteten, hatten sie ihr Leben ohne Namen verbracht und würden auch namenlos begraben werden. Aus einem Grund, der ihr selbst nicht ganz klar war, hielt Majela das für die traurigste Geschichte, die sie je gehört hatte. »Hat Pjootr wirklich gedroht, sie aus dem Zug zu werfen?«, fragte sie. »Ja, er ist in einer etwas ... äh, unangenehmen Stimmung heute Morgen.« Jed wischte sich die Hände an der Hose ab, griff nach einem Stück Dörrfleisch und roch vorsichtig daran. Es schien den Test zu bestehen, denn er begann ein Stück davon abzuschneiden. Dabei ging er mit der Klinge so ungeschickt um, dass Majela kaum hinsehen konnte. »Er will mir zeigen, was in der Kiste ist«, fuhr er zwischen zwei Bissen fort. »Tatsächlich?« Die Kiste war das große Geheimnis des Zugs. Sie stand am hinteren Ende des Frachtwaggons, war rund sechs Fuß hoch und sieben Fuß breit. Männer mit Schwertern und Speeren bewachten sie Tag und Nacht, lebten praktisch in dem fensterlosen Waggon. Zwei Bogenschützen deckten die Rückseite ab. Ebenso wie die anderen Wachen schwiegen sie, wenn man sie nach dem Inhalt der Kiste fragte. Auch einige Passagiere schienen davon zu wissen, aber sie sagten nichts. Nur Pjootr erging sich in Andeutungen. »Keine Ahnung, warum er mir das so kurz vor Ende der Reise zeigen will.« Zu Majelas Erleichterung legte Jed das Messer zur Seite. »Vielleicht weil der Inhalt in Kiew den Besitzer wechselt und er vorher noch damit angeben will«, sagte sie. »Ist schon raus, wann wir ankommen?« »Bohdan schätzt in vier bis fünf Tagen, wenn alles gut geht.
Angeblich nähern wir uns dem gefährlichsten Streckenabschnitt.« Er lächelte. »Die, äh, letzte Hürde vor dem Ziel sozusagen.« »Und dann? Was ist mit dem Serum?« Majela tastete beinahe unbewusst nach dem Beutel in der Brusttasche ihres Hemds. Ein dünner, fast unsichtbarer Schlauch verband ihn mit ihrer Herzarterie. Das Serum, das mit weniger als einem Tropfen pro Tag dort hineinfloss, war das Einzige, was sie und Jed vom Tod trennte. Durch das Leben in der künstlichen Atmosphäre des Weltrat-Bunkers in Washington seit Generationen war ihr Immunsystem den Anforderungen der Außenwelt nicht mehr gewachsen. Praktisch jeder Einwohner des Bunkers wurde mit diesem Serum versorgt. Es erlaubte ihnen, sich frei an der Oberfläche zu bewegen, ohne die einengenden Schutzanzüge, mit denen die Technos in Europa sich behalfen. Aber das Serum hatte einen hohen Preis: Es machte unfruchtbar. In einem philosophischen Moment hatte Jed das Serum einmal als eine Ironie des Todes bezeichnet. Es gaukelte ihnen Leben vor und stahl es doch hinter ihrem Rücken. Doch im Allgemeinen sprach man nicht darüber, als könne man die Tatsache damit leugnen. Dies war der zweite Teil ihrer Mission: Sie mussten das Serum nach London bringen, damit es synthetisiert werden konnte – sofern Mr. Black, aus dessen geklontem Blut man es vor über dreißig Jahren gewonnen hatte, es nicht bis dorthin schaffte. Hoffentlich fanden die dortigen Wissenschaftler eine Lösung für das Problem. »Wir ... äh ... werden eine Lösung finden.« Jeds Worte waren ein Echo ihrer eigenen Gedanken. »Der letzte Serumsbeutel reicht noch für eine Weile. Wenn wir in dieser Geschwindigkeit weiterreisen, können wir es bis London schaffen.« Er legte seine Hand auf die ihre. Majela spürte, wie die
kleinen Salzkörner, die an seinen Fingerspitzen klebten, über ihre Haut rieben. »Die Technos in Kiew werden sicherlich ebenfalls bereit sein uns zu helfen. Und wer weiß, ob ... hm ... Pjootr nicht ein Flugzeug in seiner Kiste versteckt? Wir haben so viel überlebt, Majela ... Smythe, Lynne, den Kratersee, die Mutanten ... wir schaffen auch das.« Sie erwiderte sein Lächeln, nur seinen Optimismus teilte sie nicht. Ohne die Hilfe der Bunkerbesatzung von Kiew, das erkannte Majela ebenso unerwartet wie klar, waren sie verloren. * Sergee Er ist Pjootrs ältester Sohn und wird eines Tages den Zug erben. Ehrgeiz kennt er nicht; er ist zufrieden, wenn sich die Räder drehen und alles ruhig ist. Er kommandiert die Wachen an Bord. Seine Männer nennen ihn Hauptmann, seine Frau nennt ihn den traurigen Kepir. Sie lebt mit seinen vier Kindern in einem kleinen Haus in Kiiw. Sein Vater wollte, dass seine Enkel im Zug leben, aber Sergee hat sich geweigert. Seine Kinder sollen zur Schule gehen und normal aufwachsen. Das können sie nur in der Stadt. Gerade mal einunddreißig Winter hat er gesehen, aber seine Wangen hängen herab wie die eines alten Mannes. Die ständige Sorge um Fracht und Passagiere zieht ihn nach unten, zumindest behauptet das Iriina, seine Frau. Sie versucht ihm auszureden, dass er den Zug von seinem Vater übernimmt. Insgeheim stimmt er ihr zu. Wenn sie darüber sprechen will, wechselt er jedoch das Thema. Sein Vater duldet keinen Widerspruch. Er ist groß und kraftig wie ein Bär. Seit ihm die Haare ausfallen, trägt er fast immer einen Hut. Er weiß, dass seine
Leute Witze darüber reißen, aber sie tun das hinter seinem Rücken und so kann er vortäuschen, nichts davon zu wissen. Sie leisten gute Arbeit, das ist alles, was ihn interessiert. Im Gegensatz zu seinem Vater hat Sergee Angst vor Magie. Als es darum geht, was mit dem Linkshänder und der schwarzen Frau passieren soll, ist er dafür, sie aus dem Zug zu werfen. Wer sich mit Dämonen umgibt, das sagt Iriina immer, wird eines Tages bei ihnen landen. Sein Vater lacht nur darüber. Er hat Pläne, große Plane, die er Sergee im Voodkarausch erzählt. Das viele Gold, das sie verdienen, scheint ihm nicht mehr zu reichen. Er will mehr und dafür braucht er die Hilfe der Fremden und der Helmmenschen. Auch die sind Sergee unheimlich. Sie leben in einer unterirdischen Stadt innerhalb Kiiws. Die Schienen der Zugstrecke enden jenseits ihrer Tore, aber er ist noch nie im Inneren gewesen. Der Warenaustausch findet vor dem Eingang statt; was dahinter liegt, weiß niemand. Es heißt, dass die Helmmenschen den Zug vor langer Zeit aus ihrer Stadt hinausfuhren und seine Vorfahren in seiner Handhabung unterrichteten. Gemeinsam mit den Bewohnern Kiiws erweiterten sie die Strecke, bauten sie immer länger, bis die Schienen schließlich bis nach Yaamal reichte. Der Stadt brachte die Handelsroute Wohlstand, seiner Familie eine Jahrhunderte währende Tradition. Mit dieser Tradition kann er nicht brechen, egal wie sehr er sich das wünscht. Also dreht er weiter seine Runden, während die Landschaft an ihm vorbeizieht. Er behalt die dritte Klasse im Auge und die Kiste im Frachtraum, doch am meisten achtet er auf Alexii, seinen kleinen Bruder, der zu viel Zeit bei den Fremden verbringt. Jed behauptet, ihm Lesen und Schreiben beibringen zu wollen, aber Sergee ist misstrauisch. Die spitzen Hörner eines Dämons verbergen sich oft unter dem stumpfen Fell eines Yakks. Das sagt Iriina immer.
Wenn es die Hörner gibt, wird Sergee sie finden. * Ein weiterer Tag war vergangen, und wieder hatte es nicht geregnet. Pjootr sah die Sorge in den Gesichtern der Reisenden, als er durch die erste Klasse ging. Sie fürchteten die entfernten Feuer ebenso sehr wie mögliche Aufstände in der dritten Klasse. Sergee hatte die Wachen bereits verdoppelt. Pjootr zwängte sich durch eine besonders enge Stelle des Gangs und sah Jed an. »Man sagt mir, du warst wieder in der Dritten. Das ist zu gefährlich. Du solltest dich nicht bei dem Abschaum herumtreiben.« »Diese Menschen sind kein, äh, Abschaum. Sie benehmen sich nur wie Abschaum, weil du sie so behandelst.« »Blödsinn.« Pjootr winkte ab. »Wenn sie kein Abschaum wären, hätten sie genügend Geld für die erste Klasse. Was willst du überhaupt von ihnen?« »Lernen ... mehr über ihr, hm, Leben erfahren, ihre Bräuche.« Rechts von ihm öffnete sich eine Abteiltür. Miikayla, die reiche Witwe eines Mohnplantagenbesitzers aus dem Norden, trat mit einer Pfanne in der Hand heraus und machte einen Schritt zurück, als Pjootr sie beinahe niederwalzte. »Verzeiht«, sagte sie höflich. »Ich habe Euch nicht gesehen.« Hinter ihr quoll Rauch aus dem Abteil. Es stank nach verbranntem Fisch. »Dann sieh besser hin, Weib!« Die Nervosität in ihren Augen reizte ihn nur noch mehr. »Und was machst du hier eigentlich? Willst du den Zug abfackeln, oder was?« Ihre Stimme zitterte, als sie antwortete: »Ich habe gekocht.« »Wenn du immer so kochst, ist es kein Wunder, dass dein Mann schon tot ist. Schmeiß den Dreck aus dem Fenster, bevor er den ganzen Waggon voll stinkt.« Er schob sich an Miikayla vorbei und hörte, wie Jed sich
leise, aber wortreich bei ihr entschuldigte. »Schlecht gelaunt« und »überarbeitet« waren die einzigen Worte, die er verstand. Pjootr kümmerte sich nicht darum. Die Abteile endeten im größten Raum des Zugs, der Taverne. Hier traf man sich zum gemeinsamen Abendessen, zum Kartenspielen und Trinken. Holztische und Bänke waren am Boden festgeschraubt, eine Ecke wurde von einer offenen Feuerstelle und der Theke eingenommen. Aus Sicherheitsgründen hingen auch hier überall Eimer mit Sand. Ein Feuer im Zug war die größte vorstellbare Katastrophe. Pjootr bekreuzigte sich abergläubisch, bevor er die Tür zum Frachtwaggon öffnete. Der Fahrtwind riss an seiner Kleidung und seinen wenigen, dafür jedoch schulterlangen Haaren. Rechts und links von ihm zog die Landschaft mit ihren sanften Hügeln vorbei. Vögel schossen als schwarze Schatten über einen tiefroten Himmel. In der Abenddämmerung kühlte es endlich ab, auch wenn die Luft trocken war und nach Asche roch. Die Feuer kamen näher. Es gab keinen Weg, der zum Frachtwaggon führte, nur die Kupplung, die beide Waggons miteinander verband. Man musste über das ölglänzende Metall steigen, eine Hürde, die allzu neugierige Passagiere abhalten sollte. Um den Frachtwaggon verlief eine hölzerne Planke mit einem Eisengeländer. Das war der Weg, den die Wachen – und Leute, die dort eigentlich nichts zu suchen hatten – zur dritten Klasse nahmen, die unmittelbar dahinter begann. Das Innere des Frachtraums durften nur seine vertrauenswürdigsten Wachen betreten, und das auch nur in Begleitung Sergees oder eines anderen seiner Söhne. Er nickte den beiden Männern zu, die an der Tür lehnten und zum Gruß ihre Speere hoben. Der eine war Ooleksander, ein junger ehemaliger Fischer, den Pjootrs Sohn Bohdan vor zwei Jahren in Sibiir eingestellt hatte. Bohdan selbst stand neben
ihm und zog an einer langstieligen Pfeife. Der Wind zerzauste sein dunkles, lockiges Haar. Er sah gut aus und hatte einen jungenhaften Charme, um den ihn seine Brüder beneideten. Wenn es die Tradition erlaubt hätte, wäre Bohdan Pjootrs Wunscherbe gewesen, nicht der traurige, ängstliche Sergee. Hinter ihm öffnete sich die Tür erneut. »Es, äh ... gab keinen Grund, Miikayla so anzuschreien«, sagte Jed. »Das war falsch.« »Ich kann tun, was ich will.« Pjootr war nicht in der Stimmung, ihm den Grund zu erklären. »Dadurch wird es nicht richtiger.« Pjootr schnaufte unwillig und stieg auf die Kupplung. Bohdan trat sofort vor, um ihm auf den Frachtwaggon zu helfen, aber Pjootr ignorierte dessen ausgestreckte Hand. Mühsam zog er sich am Eisengeländer hoch. »Ich bin kein alter Mann!« »Und ich möchte morgen nicht vor Sergee salutieren, nur weil du aus dem Zug fällst. Also sei nicht so störrisch und lass dir helfen.« Niemand sonst wagte es, so mit ihm zu reden. Bohdan griff nach seinem Ellenbogen und schob ihn vollständig auf die Plattform. Pjootr protestierte nicht, war insgeheim sogar froh, dass jemand seinen Muskeln die Arbeit erleichterte. »Guten Abend, Toowaritsch«, sagte Ooleksander respektvoll. »Möchtet Ihr in den Frachtwaggon?« Auf sein Nicken drehte er sich um und klopfte einen Rhythmus gegen die Tür. Pjootr bemerkte, wie Jed neben ihn trat. In seinen Augen stand deutliche Neugier. Metall klirrte im Inneren des Frachtwaggons, als Schlösser geöffnet und Ketten gelöst wurden. Dann zog Sergee die Tür auf. Wie immer trug er seinen albernen Hut und die sackähnliche Kleidung, unter der er seine Leibesfülle verbarg. Warum kannst du nicht kahl und fett werden wie ein richtiger Mann?, dachte Pjootr.
»Sergee«, sagte er ohne jeden Gruß, »wir sind hier, um die Kiste zu öffnen.« Sein Sohn zeigte mit dem Kinn auf Jed. »Der etwa auch?« »Ja, er wird schon nicht das Öl wegzaubern.« Pjootr betrat den halbdunklen Frachtraum. Petroleumlampen hingen neben Sandeimern an den Wänden. Zwei Wachen sprangen von den Fässern auf, die ihnen als Hocker gedient hatten, und neigten zum Gruß den Kopf. Pjootr beachtete sie nicht weiter, sondern zeigte auf mannshohe Metallröhren, die ordentlich wie Soldaten aufgereiht waren. »Das hier«, sagte er an Jed gewandt, »sind Erdgasflaschen aus Yamaal. Die Helmmenschen zahlen gut dafür. Und hier, diese Fässer, das ist Öl, ebenfalls aus Yamaal. Dafür zahlt jeder gut.« Er ging den breiten Gang zwischen gestapelten und vertäuten Waren entlang, benannte jede einzelne aus dem Gedächtnis. »Kiiberhäute aus Aserdschann, Mohn aus Kamschynn, eingelegte Triggerfische aus dem Uural, Goldklumpen aus den Bergwerken Sibiirs und Flaafelle aus der mongoolischen Wüste. Habt ihr Flaas, dort wo du herkommst, Jed?« »Nein, haben wir nicht.« Pjootr griff in einen Stapel weißer Felle und warf ihm eins zu. »Hier, ich schenke es dir. In Kiiw ist es sechs Sklaven wert oder sein doppeltes Gewicht in Gold.« »Danke.« Jed fing das große Fell auf. Er wirkte überrascht, wie leicht und weich es sich anfühlte. Sie erreichten das Ende des Gangs und die Kiste, die an der Rückseite des Frachtwaggons stand. Sergee und zwei weitere Männer zwängten sich an Pjootr vorbei. Gemeinsam schoben sie die schweren Riegel zurück, mit denen die Kiste gesichert war. Ein Tritt gegen das Holz, dann fiel die Vorderseite laut krachend zu Boden. Der Gestank, der eben noch eine Ahnung gewesen war, raubte Pjootr jetzt den Atem. Unwillkürlich wich er zurück.
»Was -«, begann Jed neben ihm, brach dann jedoch ab, als eine Gestalt ins flackernde Licht der Petroleumlampen kroch. Es war ein Mann, nackt und mit wirrem Haar. Er war voller Ungeziefer und so verdreckt, dass er kaum noch menschlich wirkte. Speichel tropfte aus seinem Mund in einen verfilzten, mit Perlen verzierten Bart. Er knurrte wie ein Hund, warf sich auf den Rücken und begann mit den Fäusten auf den Boden zu schlagen. Pjootr drehte sich zu Jed um, der eine Hand vor Mund und Nase gepresst hatte und trocken würgte. »Und?«, fragte er. »Was glaubst du, kannst du von ihm lernen?« * »Das ... das ... das ist einfach barbarisch! Selbst diesem verdammten Pjootr hätte ich so etwas nicht zugetraut!« Jed ging in dem kleinen Abteil auf und ab. Sein Ärger raubte ihm beinahe die Sprache. »Er ... er hält einen Menschen in einer Kiste!« Majela saß auf ihrem Schlaflager und strich über das Fell, das er achtlos beiseite geworfen hatte. Sie hatte noch nie etwas so Weiches in Händen gehalten. »Hat er einen Grund dafür?« »Gibt es nicht immer einen Grund?« Jed trat an das geöffnete Fenster und atmete tief durch. »Der ... äh ... Gefangene«, sagte er nach einem Moment ruhiger, »gehört zu einem Reitervolk, das Pjootr ›Tshingii‹ nennt. Sein Sohn Bohdan hat ihn bei der Jagd in einem Erdloch entdeckt. Das war auf der letzten Fahrt. Die Tshingii sind seit Jahrhunderten mit den Zugbetreibern verfeindet. Bei manchen ihrer Angriffe gab es Dutzende von Toten. Pjootrs Vater fiel ihnen ebenfalls zum Opfer, was wohl einiges erklärt. Er hält die Tshingii für Tiere.« Er sah Majela an. »In jedem Fall kam er auf die ... hm, abstruse Idee, seinen neuen Gefangenen vor die Lok zu binden,
als sie in das Gebiet der Tshingii kamen. Angeblich tauchten die Reiter auf, sahen ihn und zogen sofort wieder ab. Seitdem gab es keine weiteren Angriffe mehr.« »Also hat es funktioniert.« »Darum geht es nicht.« Majela legte das Fell zur Seite. »Darum geht es sehr wohl. Wenn man auf diese Weise Dutzende von Toten verhindern kann, ist das ein kleiner Preis.« »Du bezahlst diesen kleinen Preis ja nicht. Das muss der arme Mann, der in seinem eigenen Kot lebt und nur rausgelassen wird, um an eine Lok gebunden zu werden!« »Dann kommt er wenigstens an die frische Luft.« Es hätte ein Witz werden sollen, aber dafür war ihr Tonfall zu scharf. Jed hob die Augenbrauen. »Du interessierst dich wirklich nicht im Geringsten für diese Leute, oder?«, fragte er. Sie hörte die Enttäuschung in seiner Stimme. »Und du interessierst dich viel zu sehr für sie.« Majela stand auf und trat neben ihn ans Fenster. Die kühle Nachtluft trocknete den Schweiß auf ihrem Gesicht. »Du behandelst jeden Fremden wie einen Freund. Du setzt dich für diesen Gefangenen ein, obwohl du nichts über ihn weißt. Ist dir mal der Gedanke gekommen, dass Pjootr und seine Leute wissen, was sie tun? Vielleicht ist das die einzige Möglichkeit mit einem Tshingii umzugehen. Vielleicht ist er wirklich ein Tier.« »Tshingo ... Tshingii ist der Plural, und ich ... äh, weigere mich das zu akzeptieren. Er ist ein menschliches Wesen, und wenn man ihn so behandelt, wird er sich auch so benehmen. Kein Mensch ist ein Tier.« Majela fragte sich, wie er nach all der Barbarei, die sie seit dem Verlassen Washingtons erlebt hatten, an dieser Überzeugung festhalten konnte. Ein Teil von ihr liebte ihn dafür, ein anderer befürchtete, dass er eines Tages für seinen unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen bezahlen
würde. »Ich hoffe, du hast Recht«, sagte sie, um die Diskussion zu beenden, »aber sicher bin ich mir nicht.« Er nahm ihre Worte als Herausforderung. »Ich werde es beweisen.« Später, als Jed an der Wand des Frachtwaggons lehnte und versuchte, dem Heulen, Jaulen und Brüllen im Inneren Sinn zuzuordnen, begann er seine voreiligen Worte zu bereuen. Nur noch wenige Tage trennten den Zug von seiner Ankunft in Kiew. Es war durchaus vorstellbar, dass er in dieser Zeit nichts über die Sprache des Tshingo erfuhr, vor allem, wenn man ihm den Zugang verweigerte, so wie Sergee es eben getan hatte. Pjootrs Sohn schien ihn aus irgendeinem Grund nicht ausstehen zu können. Jed hatte keine Ahnung, warum. Ich sollte mit Bohdan darüber reden, dachte er müde. Er wird wissen, was sein Bruder für ein Problem hat. Der Fahrtwind trieb ihm die Tränen in die Augen, aber er blieb sitzen und genoss die kühle Nacht. Sie war sternenklar und mondlos, pechschwarz bis auf den roten Schimmer, der Landschaft und Horizont voneinander trennte. Es war das erste Mal, das Jed die Feuer sah. * Miikayla Sie weiß nicht genau, wie viele Winter sie gesehen hat, fünfundvierzig oder vielleicht ein, zwei mehr. Geboren wurde sie im Jahr des schwarzen Sturms, aber dort, wo sie jetzt lebt, weiß niemand, wann das war. Ihre Mutter hat ihr davon erzählt, bevor die Karawane kam, von dem Sturm, der schwarzen Staub über den Schnee trieb und die Sonne verdunkelte. Das Dorf benannte das Jahr nach diesem Ereignis, so wie es bei ihnen Sitte war.
Als die Karawane sie mitnahm, war Miikayla noch zu klein, um sich die anderen Jahre nach ihrer Geburt zu merken. Sie erinnert sich, wie ihre Eltern ihr zuwinkten und immer kleiner wurden, während die lange Reihe der Yakks über die Ebene zog. So weit im Norden ist das Land flach wie ein Brett, und Miikayla blickte stundenlang zurück, bis ihr Dorf schließlich verschwand. Sie hat das Gesicht des Nordens. Ihre Haut ist hart wie das Eis, das über den Flüssen liegt, und zerfurcht wie der Boden, den die Bauern aufwühlen. Ihre Haare sind schwarz wie die endlose Nacht und ihr Lachen ist wie der Sommer, kurz und warm. Dieses Lachen hat ihren Mann Marro berührt, als er sie auf den Mohnfeldern seiner Plantage sah. Er nimmt sie zu sich, zuerst als Geliebte und schließlich als Frau. Hier im Süden, wo sie jetzt lebt, nehmen die Männer nur eine Frau. Sie gebärt ihm fünf Kinder, vier Töchter und einen Sohn, doch sie sterben alle in dem Jahr, das Miikayla das Jahr des gefleckten Todes nennt. Auch Marro überlebt nicht, und als das Wüten des Fiebers vorüber ist, bleibt nur Miikayla zurück. Es gibt Regeln für einen solchen Fall. Der nächste männliche Verwandte ihres Manns soll seinen Besitz übernehmen, das beschließt der Rat der Ältesten. Doch Marro hat nur eine Schwester, die den Göttern in einem Kloster dient, und einen alten Onkel, der blind und schwachsinnig ist. Alle anderen sind am Fieber gestorben, so wie die meisten Bewohner des Tals. Schließlich entscheidet der Rat, dass der Besitz ihrem nächsten Mann zufallen wird. Man weist Miikayla an, ihre Wahl bald zu treffen, denn es sei schlecht, wenn eine Frau allein versuche, die Plantage zu verwalten. Sie verneigt sich gehorsam, obwohl sie nicht vorhat, jemals wieder einen Mann zu nehmen. Nach den Sitten des Nordens würde sie damit Marros Andenken schänden.
Jeden Sohn und jeden Witwer, der um sie werben will, schickt Miikayla weg. Sie verwaltet die Plantage allein, kauft Sklaven, heuert Aufseher und Handwerker an. Inzwischen gehört ihr mehr als die Hälfte des Tals. Im Sommer ist es egal, an welchem Punkt man sich befindet; überall sieht man die rot leuchtenden Teppiche der Mohnfelder. Im nächsten Herbst will Miikayla neue Plantagen außerhalb des Tals kaufen und vielleicht eine Silbermine. Deshalb fährt sie mit dem Zug nach Kiiw, um neue Handelspartner zu treffen und alte wiederzusehen. Einmal im Jahr macht sie die lange Reise. Beim vorletzten Mal warb Pjootr um sie, unnachgiebig und unhöflich, wie es seiner Natur entspricht. Er verlangte eine Erklärung, als sie ablehnte, also sagte Miikayla ihm ebenso deutlich, er sei fett wie eine schwangere Biisonkuh und stänke wie ein verwesendes Yakk. Sie glaubte, er würde sie schlagen, so wütend wurde er. Seitdem redet Pjootr nur noch mit ihr, wenn er sie anschreien kann. Trotzdem fährt sie weiter einmal im Jahr mit seinem Zug, denn eine Alternative gibt es nicht. Wenn sie Marros Reichtum steigern will, muss sie in Kiiw Geschäfte machen. Und um Marro geht es schließlich, um niemanden sonst. Hier im weichen warmen Süden weiß niemand, dass Miikayla bereits tot ist. Den Sitten des Nordens nach hätte sie als Frau, die nicht mehr gebären kann, ihrem Mann ins Grab folgen müssen. Hier ist das unüblich und man hätte sie nicht gelassen. Also beschließt sie, den Rest ihres Lebens ganz auf ihn auszurichten. Für seinen Ruhm und seinen Reichtum will sie alles opfern, sodass er zufrieden ist, wenn sie eines Tages im Jenseits vor ihn tritt. Sie hofft, dass es nicht mehr allzu lange dauert. Es ist einsam in dem leeren Haus. *
Sie gaben dem Gefangenen die Kleidung zurück, in der sie ihn gefunden hatten. Zumindest so viel konnte Jed erreichen. Dann stoppten sie den Zug und befahlen allen Passagieren auszusteigen. Wachen hielten die dritte Klasse mit Speeren davon ab, sich der ersten zu nähern. Die meisten Menschen waren ohnehin so entkräftet, dass sie kaum stehen konnten. Drei Tote hatte man an diesem Morgen unter ihnen gefunden. Pjootrs Zwillinge Andriyyi und Olegg führten das Vieh zum Grasen auf die verdorrte Steppe. Jed bemerkte, dass viele Tiere die Nüstern in die Luft streckten. Sie rochen die entfernten, im Tageslicht unsichtbaren Brände. Er sah nach oben in den diesigen Himmel, wo sich der Qualm der Dampflok mit dem Rauch der Feuer vermischte. Sie kommen näher, dachte er, und wir verschwenden wertvolle Zeit, um einen Mann vor einen Zug zu binden. Ein Raunen ging plötzlich durch die Menge. Wer die Hinfahrt mitgemacht hatte, wusste, welche lebende Fracht sich in dem Waggon befand, die anderen waren völlig überrascht, als der halbwegs gereinigte Gefangene an einer Kette um den Hals ins Freie gezogen wurde. Pjootr hielt das andere Ende der Kette in der Hand, seine Söhne Sergee und Bohdan trieben den Tshingo mit den stumpfen Enden ihrer Speere nach vorne. Er jaulte wie ein Hund und spuckte nach ihnen. Pjootr schlug ihm die Kette ins Gesicht. Der Tshingo brach in die Knie, kam wieder hoch, grinste und leckte das Blut ab, das aus seiner Nase lief. Die Menge bildete unbewusst einen Kreis um die kleine Gruppe, so wie Jed es auch auf Märkten gesehen hatte, wenn jemand einen dressierten Lupa oder eine gefangene Taratze präsentierte. Auf ihren Gesichtern stand eine Mischung aus Faszination und Abscheu. Sogar die dritte Klasse hatte aufgehört, um Nahrung und Wasser zu betteln. In diesem Moment waren sie alle gleich, geeint vor einem Feind, den sie hassten. Jed hörte sie flüstern.
»Tshingo ...« »Wo haben sie dieses Tier gefunden?« »Es heißt, sie essen ihre Toten.« »Nein, sie essen ihre Kinder.« »Sie essen ihre toten Kinder.« »Roh ...« »Man muss sie mit Silber töten oder ihren Kopf auf den Rücken drehen.« »Sie haben einen zweiten Kopf auf dem Rücken und töten mit silbernen Pfeilen.« »Sie sind Unsterbliche.« »Sie sind Tote.« »Wo warst du letzte Nacht?« Jed zuckte zusammen. Er hatte nicht bemerkt, dass Majela neben ihn getreten war und das Schauspiel ebenfalls beobachtete. »Ich, äh ... wollte ... habe versucht, seine Sprache zu verstehen.« Er nickte in Richtung des Tshingo. Pjootr erzählte gerade eine wesentlich heroischere Version seiner Gefangennahme. »Wenn es denn eine Sprache ist ... und keine Laute. Es scheint einen Rhythmus in diesem, nun, Jaulen zu geben, denke ich ... Dabei muss ich eingeschlafen sein. Bohdan wäre beinahe auf mich getreten, als er vom Waggondach stieg.« Er stutzte und runzelte die Stirn. »Hm, keine Ahnung, was er mitten in der Nacht da oben gemacht hat ... Wir haben uns ein wenig unterhalten, zuerst über Sergee, der lustigerweise glaubt, du und ich hätten einen Teufelspakt, und dann hat er mir von den Überfällen der Tshingii erzählt. Sie, äh, scheinen extrem brutal zu sein. Ein Reitervolk, vielleicht aus der Mongolentradition ... oder Hunnen?« Majela zog ihn zu sich herunter und brachte ihn mit einem Kuss zum Schweigen. Ihre Lippen schmeckten nach Tee. Er spürte ihr Lächeln. »Es war nur eine Frage«, sagte sie, als sie den Kopf
zurücknahm. »Ich habe mir Sorgen gemacht.« »Tut mir Leid.« Jed wollte ihren Kuss erwidern, aber Pjootrs Stimme lenkte ihn ab. »Wenn die Tshingii angreifen wollen, dann gefährden sie ihren eigenen Mann. Auf der letzten Fahrt haben sie das nicht getan, sondern sind einfach wieder abgezogen. Also werden wir auch auf dieser sicher sein. Trotzdem haben Sergee und ich entschieden, die Nächte in den beiden Forts zu verbringen. Die Soldaten dort werden uns vor weiteren Überraschungen schützen.« Zustimmendes Gemurmel, sogar Applaus waren die Reaktionen auf seine Worte. Pjootr riss den Gefangenen an der Kette auf die Füße. Wie eine Trophäe führte er ihn an der Menge vorbei. Ein paar Kinder begannen zu weinen. Jed schüttelte den Kopf, als Pjootr auch auf ihn zuging. »Ich weiß nicht, wer von den beiden der wahre Barbar ist«, sagte er an Majela gewandt. »Er -« Im gleichen Moment zuckte der Kopf des Tshingo hoch. In seinen Augen lag eine wache wilde Intelligenz, die Jed überraschte. Sie starrten einander an, dann zog Pjootr seinen Gefangenen weiter. »Was war denn das?«, fragte Majela. Jed hob die Schultern. »Ich habe keine Ahnung.« Beinahe gegen seinen eigenen Willen folgte er der Menge zur Lok. Ein Wachmann hatte dicke Lederstricke an den Verstrebungen des Kessels angebracht. Der Tshingo begann sich zu wehren, als er sie sah. Sergee schlug ihm den Speer so hart in den Nacken, dass er zum zweiten Mal benommen zusammensackte. Bohdan und Ooleksander nutzten die Gelegenheit, um ihn hochzuheben. Sergee band seine Arme und Beine fest und musste zurückspringen, als der Tshingo nach ihm schnappte. Wütend ballte er die Faust. »Du verdammte Missgeburt! Probier das noch mal und ich schlag dir jeden scheiß Zahn
einzeln aus!« Ein raues Lachen war die Antwort. Der Tshingo zeigte die Zähne, als wolle er ihn provozieren, seine Drohung in die Tat umzusetzen. Sergee sah seinen Vater um Erlaubnis bittend an, doch der winkte ab. »Wenn er noch einmal jemanden zu beißen versucht, kannst du machen, was du willst. Für heute ist es gut.« Pjootrs Blick zuckte kurz zu Jed. »Siehst du«, sagte er. »Wir behandeln ihn so gut, wie wir können. Er ist nun mal ein wildes Tier, das eine harte Hand braucht.« »Wenn du meinst.« Jed hörte ihm kaum noch zu. Er sah den Tshingo an, und dessen dunkle Augen starrten aus einem blutigen Gesicht zurück. Verstehend, wissend. * Majela nannte es »Jeds Autopilot«, aber das sagte sie ihm nicht. Wenn er etwas entdeckte, das ihn faszinierte, so wie die Kommunikation mit dem Tshingo, verfiel er in diese Stimmung und vergaß die gesamte Welt um sich herum. Er aß nicht, schlief nicht, war besessen von der Lösung des Problems, das ihn beschäftigte. Sie hatte ihn bereits einige Male auf »Autopilot« erlebt und wusste, dass er irgendwann von selbst wieder in seine Umgebung zurückfinden würde. Majela stand auf. Es war heiß und stickig in dem kleinen Abteil. Das Rattern des Zugs hallte durch die geöffneten Fenster. »Ich geh ein wenig raus und bring dir nachher was zu essen, okay?«, sagte sie. Jed nickte ohne aufzusehen. Mehrere Blätter Papier lagen um ihn herum verstreut. Er hatte die tierischen Laute des Tshingo in Noten umgewandelt und suchte nach einem Muster, das auf
eine strukturierte Sprache hinwies. Zumindest hatte Majela das so verstanden. Sie öffnete die Tür und trat hinaus in den Gang. Es war fast Mittag, und der Geruch nach gekochtem Gemüse und einer Pflanze, die Stennka genannt wurde, aber wie Knoblauch schmeckte, war schwer und aufdringlich. Die meisten Abteiltüren standen offen, um eine möglichst große Luftzirkulation zu ermöglichen. Die beiden alten Bauern winkten und sagten etwas, als sie an ihrem Abteil vorbeiging. Majela verstand die Aufforderung einzutreten, tat aber so, als wisse sie nicht, was von ihr erwartet wurde. Sie teilten sich den Raum mit zwei Sklavenhändlerinnen aus Georgii und deren drei Männern. Weder Jed noch Majela hatten bisher herausgefunden, welcher Mann zu welcher Frau gehörte. Der Gang knickte scharf nach links ab und dann wieder nach rechts. Majela stieg über zwei spielende Kinder hinweg und über einen alten Musiker, der in Kiiw anscheinend eine Berühmtheit war. Er hockte auf dem Boden und hielt ein merkwürdiges keulenförmiges Instrument mit nur einer Saite in der Hand, ohne darauf zu spielen. Seine Augen waren geschlossen, sein Mund mit dem Gebiss aus Elfenbein halb geöffnet. Er schnarchte. Ein Sklave, der nicht älter als zehn Jahre sein konnte, wedelte ihm mit einem Fächer Luft zu und sah neidisch zu den spielenden Kindern herüber. Scheiß Leben, dachte Majela und stieg auch über ihn hinweg. Sie sah relativ wenige Menschen in dem Waggon. Die Abteile, die größtenteils mit vier, manchmal sogar mit acht Personen belegt waren, wurden während der Hitze nur von jeweils einer Person bewacht. Auch wenn man sich in der ersten Klasse für etwas Besseres hielt, wurde hier ebenso viel gestohlen wie in der dritten. Man brachte sich nur nicht gegenseitig um. Majela stieß die Tür am Ende des Waggons auf sah betont in
eine andere Richtung, als sie einen Passagier bemerkte, der mit heruntergelassenen Hosen auf dem Geländer hockte. Jeder verrichtete sein Geschäft auf diese Weise, aber es galt als äußerst unhöflich, das zur Kenntnis zu nehmen. Also wandte sie sich ab und stieg die schmale Leiter nach oben auf das Dach des Zugs. Der Fahrtwind trocknete den Schweiß auf ihrer Stirn und brachte sie für einen kurzen Moment zum Frösteln. Ihr bot sich ein merkwürdiger Anblick. Viele Reisenden der ersten Klasse hatten sich auf das Dach zurückgezogen. Sie saßen mit übereinander geschlagenen Beinen zusammen oder lagen auf Kissen gestützt auf der Seite und unterhielten sich. Die meisten trugen Turbane aus weißem Stoff, um ihren Kopf vor der Sonne zu schützen. Lange Banner, die aus dem gleichen weißen Stoff bestanden, wehten von Metallstangen und knatterten im Wind. Einer der Händler hatte die minderwertige Ware gespendet. Sie sorgte für weiteren Schatten auf dem Dach und sollte außerdem Eluus abhalten, vor denen die Leute hier eine fast abergläubische Angst hatten. Jed hatte Horrorgeschichten gehört, die er für urbane Legenden hielt. Majela fand einen freien Platz und setzte sich. Ein kahlgeschorener Mann namens Taaras, der einige Meter entfernt saß, verneigte sich höflich, schüttete Tee aus einer Kanne in ein Glas und stellte es vor ihr ab. »Spazeeba«, bedankte sie sich. Taraas lächelte. Er hatte schon zu Anfang der Fahrt gelächelt, als die meisten anderen Passagiere Majela noch wegen ihrer Hautfarbe mieden und es sogar Forderungen gab, einen Schamanen kommen zu lassen. Der sollte den Dämon, der ihre Haut schwarz gefärbt hatte, aus ihr austreiben. Taraas hatte nur gelächelt und ihr Tee angeboten. Erst Tage später hatte Majela erfahren, dass er Mönch war und einer der bekanntesten Henker des Landes. Vielleicht entwickelte man eine größere Toleranz für die
Eigenarten von Menschen, wenn man sein Leben damit verbrachte, sie zu töten. Der Tee war lauwarm und viel zu süß. Trotzdem trank sie aus Höflichkeit und stellte das leere Glas zurück. Taraas sagte etwas, das sie nicht richtig verstand. Es hatte irgendwas mit dem Wetter zu tun. »Heiß«, antwortete sie auf Russisch. »Sehr heiß.« Er nickte. »Sehr heiß.« »Majela?« Sie sah auf und bemerkte Alexii, der über das Dach auf sie zulief. Er war Pjootrs jüngster Sohn und kannte keine Angst. »Pass auf, fall nicht!« »Pass auf«, wiederholte er fast akzentfrei und hockte sich auf den Boden. Er trug einen Zeichenblock mit Bleistiften unter dem Arm. Sein Vater, der die Talente seines Sohns sonst größtenteils ignotierte, förderte ihn zumindest in diesem Bereich. »Du sprech gut«, sagte sie auf Russisch. »Sprichst«, korrigierte er und wechselte dann zum Englischen. »Du auch.« Es war erstaunlich, wie viel er in der kurzen Zeit aufgeschnappt hatte. Eigentlich hatte er nur lesen und schreiben lernen wollen, aber durch die Russischstunden, die Jed Majela gab, hatte er fast mehr von ihrer Sprache gelernt als sie von seiner. »Was -«, begann sie, aber plötzliche aufgeregte Rufe ließen sie zur Seite blicken. Überall auf dem Dach standen Menschen auf und zeigten hinaus in die Ebene. Die flatternden Stoffbahnen verdeckten, was sie sahen. Majela stand auf und duckte sich unter den Bannern hindurch. Alexii ergriff ihre Hand. Nur Taraas blieb sitzen. Sie erreichte die andere Seite des Dachs. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie in die gleißende Helligkeit der Mittagssonne. Unter ihr wogte das verdorrte
Gras im Wind wie die Wellen eines Ozeans. Seit dem Morgen war das Land hügeliger und karger geworden. Ihre Blicke folgten den ausgestreckten Armen der Reisenden. »Tshingo!«, hörte sie einen rufen. »Da, Tshingo!«, antwortete ein zweiter. Und dann sah auch Majela die Silhouette auf dem Hügel. Sie schien auf einem Tier zu sitzen, das fast wie ein Pferd aussah, aber nicht ganz. Metall blitzte, als es das Sonnenlicht reflektierte. Einen Lidschlag später war die Silhouette bereits wieder verschwunden. »Tshingo«, sagte jetzt auch Alexii. »Böse. Tier.« »Lass das nur nicht Jed hören«, antwortete sie gedankenverloren, bevor sie sich neben den Jungen hockte. Sie wollte ihn etwas fragen, wusste aber nicht, wie sie es formulieren sollte. »Tshingii ... äh ... Fallen? Reiten? Tier?« Alexii sah sie verständnislos an. Majela wiederholte ihre Worte auf Englisch, machte Gesten und tat so, als wäre sie ein Reiter, der auf ein Pferd steigt. Einige Leute warfen ihr irritierte Blicke zu, doch dann nickte Alexii plötzlich. »Ah, Tier von Reiter wissen?« »Ja, genau das.« Er nahm den Block hervor und begann zu zeichnen, während die Passagiere weiter über das Auftauchen des Tshingo diskutierten. Majela fing nur Wortfetzen auf, aber alle schienen zu glauben, dass der Gefangene auf der Lok einen Angriff verhindert hatte. Sie war nicht sicher, ob diese Annahme so falsch war. »Fertig!« Alexii riss das Blatt aus seinem Block und reichte es ihr. Der Wind zerrte daran, riss es aus seinen Fingern, bevor sie es richtig greifen konnte. Es wehte hoch in die Luft und an den Wachen vorbei, die auf dem Frachtwaggon saßen. Einer von ihnen stach spielerisch mit seinem Speer danach, verfehlte es jedoch. Majela blickte dem Blatt nach, bis es irgendwo
hinter dem Zug verschwand. »Sei nicht traurig«, sagte sie zu Alexii, »ich habe genug gesehen.« Das hatte sie. Sie hatte lange Pferdebeine gesehen und Krallen, einen schmalen hohen Körper und einen langen Kopf, der nur aus einem Maul voller Raubtierzähne zu bestehen schien. Das Tier strahlte die gleiche Aggression aus, die sie auch bei dem gefangenen Tshingo bemerkt hatte. Es war kein Reittier für Menschen, die Frieden suchten. Es war eine lebende Waffe. * Bohdan Er ist der Liebling seines Vaters, und alle seine Brüder beneiden ihn. Der dicke traurige Sergee, die dummen abergläubischen Zwillinge Andriyyi und Olegg, der junge Peetro, der zu Hause in Kiiw gefüttert und gewaschen wird, seit der Zug ihm beide Arme abgerissen hat, und sogar der intelligente Alexii, den sein Vater liebt, den er aber nicht versteht – sie alle würden mit ihm tauschen, wenn sie nur könnten. Und er? Mit wem würde er tauschen, wenn er könnte? Er denkt oft darüber nach, ohne eine Antwort zu finden. Bohdan trinkt zu viel, aber niemand in seiner Familie weiß davon. Er isst Stennka, damit keiner etwas riecht. Nur Ooleksander kann er nicht täuschen. Der bittet ihn immer wieder damit aufzuhören, doch er weiß nicht wie. Ooleksander bittet ihn auch den Zug zu verlassen. Wenn sie nachts oben auf dem Dach liegen und sich in den Armen halten, flüstert er ihm seine Bitte ins Ohr. Sie könnten nach Moskau gehen oder Petersburg, irgendwohin, wo sie niemand kennt oder wo sich niemand darum schert, wie sie leben. Er glaubt nicht, dass es ihnen jemals gelingen wird, aber er
schweigt und trinkt, wenn Ooleksander von seinen Träumen spricht. Irgendwann fragt Bohdan Jed, wie es sei, mit einer schwarzen Frau zu leben und immer angestarrt zu werden. Er ist überrascht, als er erfährt, dass das nicht überall so ist und dass es Orte gibt, an denen das völlig normal ist. Am liebsten hatte er gefragt, ob an diesen Orten auch Manner zusammenleben können, doch das wagt er nicht. In der Enge des Zuges ist es fast unmöglich, ein so großes Geheimnis zu bewahren. An manchen Tagen glaubt er, die Wahrheit müsse allen ins Gesicht springen. Dann trinkt er, bis die Angst vergessen ist. Wenn Bohdan in Kiiw ist, fällt ihm alles leichter. Es gibt ein paar diskrete Häuser, in die er und Ooleksander gehen können. Im Haus seines Vaters würde er nie mit ihm schlafen; er fühlt zu viel Scham. Also behauptet er mit Frauen auszugehen oder mit Freunden zu trinken, wenn er sich mit Ooleksander trifft. Bohdan hat ihn in Sibiir kennen gelernt, sich in ihn verliebt und dafür gesorgt, dass sein Vater ihn einstellt. Die vielen Lügen lasten auf seinem Gewissen. Er belügt seine Familie und seine Freunde, sogar die Priester, wenn sie zur Sommerwende seine Beichte hören. Sie alle wissen nichts davon, sehen nur sein Lächeln, wenn er mit ihnen spricht, und hören seine gewandten freundlichen Worte. Was würde er nicht geben, um so zu sein, wie sie ihn sehen, doch das wird niemals geschehen. Wie der Tshingo, der nicht anders kann, als seinen Hass gegen den Zug hinauszuschreien, kann auch er nur seiner Natur folgen, selbst wenn sie ihn ins Verderben führt. Also klettert er weiter jede Nacht auf das Zugdach, um in den Armen seines Geliebten ein paar Stunden Glück zu finden. Er weiß, dass man sie eines Tages erwischen wird, und im tiefsten Inneren sehnt er diesen Tag herbei. Dann werden die Lügen endlich ein Ende haben ...
* Majela stand auf, als der Zug langsamer wurde und man einen ersten Blick auf die Gebäudekonstellation werfen konnte, die in dieser Nacht ihr Zuhause sein sollte. Sie wusste nicht genau, was sie sich unter dem Begriff Fort, mit dem Jed die Gebäude beschrieb, vorgestellt hatte, aber es wich deutlich von dem ab, was sie jetzt sah. Zwar gab es Palisaden, Tore, Wachtürme, Häuser und einen großen Wassertank, aber das Fort war höchstens acht Meter breit, dafür jedoch länger als der Zug. Von ihrer erhöhten Position sah sie, wie sich das erste Tor öffnete. Ein zweites lag ganz am Ende der Palisaden. Männer mit Speeren in den Händen winkten dem Zug zu. Um Majela herum begannen die Menschen das Dach zu verlassen. Alexii war schon lange gegangen, nachdem er ihr genau aufgezeichnet hatte, wie die Unterkünfte für die Reisenden der ersten Klasse aussahen. Sie wirkten wesentlich komfortabler als die Zugabteile, aber wenn sie ihn richtig verstanden hatte, gab es nicht genügend für alle. Das erklärte auch die relative Hektik, mit der sich die Passagiere zuerst über das Dach und dann durch den Gang bewegten. Sie öffnete die Tür zu ihrem mittlerweile im Halbdunkel liegenden Abteil. Ein paar Mal hatte sie während des Tages nach Jed gesehen, hatte ihm Tee gebracht und etwas zu essen. Er hatte sie kaum beachtet, nahm sie auch jetzt erst wahr, als sie die Hände in seinen Nacken legte und ihn zu massieren begann. »Oh ... hallo.« Er streckte sich und rieb sich die Augen, wirkte wie jemand, der aus einem tiefen Schlaf erwachte. »Wieso wird es dunkel?« »Das passiert abends häufiger.« »Ah ... ja, natürlich.« Jed trank einen Schluck kalten Tee und verzog das Gesicht. Dann begann er die Blätter zu sortieren,
die neben ihm lagen. Jede freie Stelle war voller Noten, Notizen und Pfeilen, die von einem Hinweis zum nächsten führten. Papier war teuer und schwer zu bekommen. Er hatte gelernt, sparsam damit umzugehen. Majela sah, wie er stutzte, als sein Blick einen leeren Teller fand. »Habe ich gegessen?«, fragte er überrascht. »Ja.« Sie war froh, dass sie immer noch seinen Nacken massierte und er ihr Grinsen nicht sehen konnte. »Was gab's denn?« »Gefüllte Yakkblase.« Er verspannte sich unter ihr. »Ich hasse gefüllte Yakkblase.« Majela hob die Schultern. »Du hast dich nicht beschwert. Übrigens sollten wir uns beeilen. Wir haben das Fort erreicht, aber es gibt möglicherweise nicht genügend Unterkünfte.« Jed schien der Gedanke, weiter im Abteil zu bleiben, kein Unbehagen zu bereiten. »Dann bleiben wir eben hier. Ich kann in Ruhe weiterarbeiten und -« »Alexii sagt, sie haben dort richtige Betten.« »Tatsächlich?« Die Schnelligkeit seiner Reaktion war unerwartet. Mit einer einzigen Bewegung raffte er die Blätter zusammen, griff mit der anderen Hand nach seiner Jacke und sprang auf. »Worauf warten wir noch?« Sie lachten beide, als sie vom Zug sprangen und über den staubigen Boden des Forts auf die Baracken zuliefen. Pjootr kam ihnen in seinem schweren watschelnden Gang entgegen und sagte etwas. »Drittes Zimmer von links«, übersetzte Jed. »Ein Wächter hält es für uns frei.« Majela fühlte sich um den Spaß der Jagd betrogen, nickte Pjootr jedoch dankbar zu. Sie wusste, dass er Wert auf solche kleinen Gesten legte. Es herrschte Chaos auf dem langen und schmalen Hof des Forts. Die Passagiere der ersten Klasse stritten sich um die
Baracken, die in einer Reihe auf der entgegengesetzten Seite des Forts standen. Sklaven schleppten große Kisten, in denen sich sicher nur das Nötigste für die Nacht befand. Weiter hinten, am Ende des Zugs achtete die Besatzung des Forts darauf, dass die dritte Klasse in dem Bereich blieb, den man für sie eingezäunt hatte. Da es frisches Wasser, Brot und sogar Fleisch dort gab, beschwerte sich niemand darüber. Majela warf einen Blick auf die Wachen in den vier Türmen und auf die Männer, die auf ihre Speere gestützt an den Palisaden lehnten und den Trubel beobachteten. In regelmäßigen Abständen sahen sie jedoch hinaus auf die Ebene. »Sie sind nervös«, sagte Majela. »Wahrscheinlich befürchten sie, dass die Reiter die Nacht für einen Angriff nutzen werden.« »Hm.« Sie bemerkte Jeds abwesende Reaktion und drehte sich zu ihm. Ein Stück entfernt führten vier Männer den gefesselten Tshingo zu einem Käfig in der Mitte des Hofs. Er bestand aus Eisenstangen und war nach allen Seiten offen. Jed sah den Tshingo so konzentriert an, als versuche er dessen Gedanken zu lesen. Er blinzelte nach einem Moment, hatte offensichtlich nichts von dem gehört, was sie gesagt hatte. »Hm, wenn es dich nicht, äh ... stört, würde ich gerne ... ich hab eine Theorie, eigentlich zwei ... also.« Majela nahm ihm die Jacke und den Papierstapel aus der Hand. »Geh spielen.« Er grinste. »Warte nicht auf mich, okay?« * Anfangs war da noch eine Menschenmenge rund um den Käfig gewesen. Reisende und Soldaten aus dem Fort hatten Jed
mit offenem Mund zugehört, während er das Bellen, Jaulen und Krächzen des Tshingo nachahmte und abwechselnd in jeder Sprache redete, die er jemals gelernt hatte. Majela war ein paar Mal am Käfig vorbei gegangen, hatte jedoch so getan, als kenne sie ihn nicht. Irgendwie konnte er sie verstehen. Inzwischen hatte sich die Menge längst aufgelöst. Nur die Wachen waren zurück geblieben, zwei aus dem Fort und zwei – Yurii und Pjootrs Sohn Olegg – vom Zug. Sie wirkten schlechtgelaunt und genervt. Und der Tshingo hatte noch immer kein Wort gesagt. Er hockte stumm in seinem Käfig, die Fußsohlen seiner Stiefel auf den Boden gepresst, den Rücken an die Gitterstäbe gelehnt. Seine Hände lagen auf den Oberschenkeln. Er bewegte sich nur, um seinen Kopf zu kratzen, wenn das Ungeziefer zu sehr juckte. Dann schlugen die Perlen in seinem Bart mit leisem Klicken gegeneinander. Jed zog eine Holzkiste näher an den Käfig heran und setzte sich. Sein Enthusiasmus war verflogen, hatte einer sturen Entschlossenheit Platz gemacht. Hier vorne in der Nähe der Lok lag Stille über dem Platz. Nur hinter der Umzäunung am anderen Ende des Forts herrschte noch ein wenig Lärm. Die dritte Klasse feierte ihren vollen Magen. »Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte Jed auf Englisch. Seine Stimme war heiser und seine Kehle rau. »Entweder du verstehst mich wirklich nicht, oder du spielst ein Spiel mit mir. Wenn letzteres stimmt, solltest du vorsichtig sein, denn es ist ungeheuer schwer so zu tun, als würde man eine Sprache nicht beherrschen, wenn man doch jedes -«, er wechselte mitten im Satz auf Russisch, »- Wort versteht, findest du nicht auch?« Alle vier Wachen sahen überrascht auf, der Tshingo starrte nur reglos in die Nacht. Die Flammen der Pechfackeln, die in regelmäßigen Abständen das Fort erleuchteten, warfen flackernde Schatten auf sein Gesicht.
»Okay, das war nichts ...« Jed stützte die Ellenbogen auf die Knie und legte das Kinn auf die Hände. »Was mache ich falsch? Warum redest du nicht mit mir?« Es konnte tausend Gründe für sein Schweigen geben. Vielleicht hatte er einen Eid geschworen, nie mehr zu reden, vielleicht war es ihm nicht erlaubt, mit Fremden außerhalb seines Stammes zu kommunizieren. Es gab Mönche, die nur mit anderen ihres Ordens sprechen durften und Schamanen, deren Stimme von solcher Kraft war, dass sie es nicht wagten, sie im Gespräch einzusetzen. »In Alaska«, sagte Jed, »bin ich einem Heiligen Mann und seinem Jünger begegnet. Der Jünger erzählte, sein Meister sei seit zweiundvierzig Jahren auf der Suche nach der Sprache, die Gott bei der Erschaffung der Tiere und Pflanzen verwendete. Er hatte seine Zunge herausgeschnitten, um nicht in die Versuchung zu geraten, eine menschliche Sprache stattdessen zu sprechen. Ich fragte den Jünger, wie der Heilige Mann ohne Zunge die Sprache lernen wolle, und er antwortete, jemand, der die Sprache Gottes spräche, sei sicherlich auch in der Lage, seinem Meister die Zunge zurückzugeben.« »Hat die Geschichte auch einen Sinn?«, fragte Pjootr hinter ihm. Sein Schnaufen hatte ihn bereits etliche Schritte zuvor verraten. Die Wachen präsentierten zum Gruß die Speere. Jed stand auf und drehte sich um. »Sie lehrt Optimismus. Es gibt immer die Möglichkeit zur Kommunikation, egal wie groß die Hindernisse sind oder wie lange es dauert.« »Und wozu soll das gut sein?« Pjootr stellte einen Teller voller Fleisch und einen randvoll gefüllten Bierkrug auf der frei gewordenen Holzkiste ab. »Wir kommen auch so klar.« »Genau, Vater.« Olegg hatte die unangenehme Angewohnheit, Pjootr ständig zuzustimmen, obwohl der ihn nicht leiden konnte. Sein Schielen ließ ihn noch dümmer wirken, als er ohnehin schon war. Es gab niemanden, der
Olegg länger als ein paar Sekunden in die Augen blicken konnte. Einige Passagiere hatten sogar Wetten darüber abgeschlossen. »Seit Jahrhunderten bringt ihr euch gegenseitig um«, sagte Jed. »Das wurde ich nicht als klarkommen bezeichnen.« Olegg betrachte seine Nasenspitze und streckte in einer Trotzreaktion den Kopf vor. »Geht dich gar nichts an.« »Halts Maul und such deinen Bruder!« Pjootr trank einen Schluck Bier und rülpste so laut, dass jemand in der Dunkelheit applaudierte. »Welchen Bruder, Vater?« »Mir doch egal. Irgendeinen.« Er sah Olegg nach, bis er im Zugschatten verschwand. Dann wandte er sich wieder an Jed und zog ihn ein wenig von den anderen Wachen weg. »Ich will mich nicht mit dir über irgendwelche Wilden streiten. Lass uns lieber über Alexii reden. Bist du wirklich sicher, dass ich das tun sollte?« Wenn es um seinen jüngsten Sohn ging, zeigte sich Pjootr ungewöhnlich unsicher. Er verstand weder dessen Begabung, noch dessen Probleme. »Absolut. Wenn sie ihn nehmen, sollte er gehen. Wenn du willst, kann ich mit -« Laute Rufe unterbrachen ihn. Irgendwo in der dritten Klasse schrie jemand. »Tshingii!« Und dann noch mal, lauter, ängstlicher. »Tshingii!« * Alte Bäuerin In ihrem Volk war sie eine Königin, bevor die Horden kamen und alles hinweg fegten. Jetzt lebt sie mit dem Hohepriester eines Gottes, den die Welt vergessen hat, auf einem winzigen
Stück Land, das ihr nicht gehört. Nichts gehört ihr mehr, weder der Staub auf ihrer Kleidung noch der Name, vor dem einst ein ganzes Volk auf die Knie sank. Sie ist niemand und lebt im Nichts. Wie oft hat sie schon davon geträumt, ihren Namen den Bauern entgegen zu rufen, ihnen alles zu erzählen – die Geschichte ihres Untergangs und die Geschichte ihrer Flucht. Doch die Vernunft hat immer gesiegt. Ihr Volk war gefürchtet wegen seiner Gabe, und ihr Name weht noch wie ein Geist durch die Köpfe der Menschen. Trotzdem ist sie nicht unglücklich mit dem Leben, das sie gewählt hat. Sie hatten gute Zeiten, sie und der Hohepriester, und fast alle ihrer sechs Kinder sind gesund geblieben. Ihre älteste Tochter ist nun selbst Großmutter, und zu ihr soll der Zug sie bringen. Zumindest einmal wollen sie ihren Urenkel sehen. Beide wissen, dass das nicht geschehen wird. Sie hat es gesehen an dem Tag ihrer Abfahrt, als ein roter Mond am Horizont aufging, und er hat es gehört im Wispern des Windes und im Rauschen des Grases. Ihr eigener Tod erwartet sie im Zug, nichts anderes. Das ist die Gabe, die sie haben; die Zukunft zu erkennen und zu verstehen. In ihrem schönen hellen Abteil denken sie darüber nach, was sie tun werden, wenn es so weit ist. Sie sind alt und haben nicht vor, ihrer Bestimmung zu entfliehen. Und doch verlangt ihr königliches Blut danach, eine letzte Erinnerung an ihr Volk in dieser Welt zu hinterlassen. Ihr Name, den sie Jahrzehnte lang nur auf der eigenen Schlafstätte geflüstert hat, soll noch einmal laut ausgesprochen werden, erfüllt mit dem Stolz, der ihm gebührt. Kurz vor ihrem Tod wird sie das tun, wenn ihr Schicksal sich erfüllt. Dann soll der Mann, der ihr geholfen hat, ihren Namen erfahren. Er wird ihn niederschreiben und auf ewig bewahren.
* »Tshingii!« Bohdan schreckte aus dem Stroh hoch. Neben ihm richtete sich Ooleksander auf und fluchte. »Dieses verdammte Pack!« Sie hatten sich hinter die Ställe zurückgezogen, dort wo das Stroh gelagert wurde und die gegerbten Deerfelle zum Trocknen auf Holzbalken lagen. Es stank, aber sie waren wenigstens allein. Immer noch fluchend schlüpfte Ooleksander in seine Hose und Stiefel. »Soll ich zuerst gehen oder du?«, fragte er. Bohdan zog Stroh aus seinen Haaren. »Du, ich warte.« »In Ordnung.« Er griff nach seinem Schwert, strich das Hemd glatt und warf noch einen Blick zurück. »Sieht man mir an, wie viel Spaß ich eben noch hatte?« »Nein, und jetzt hau ab.« Bohdan lächelte unwillkürlich, als er seine eigene Hose ausschlug und überstreifte. Ooleksander ging mit ihrer Beziehung locker um, nicht so verkrampft und gehemmt wie er. Ich sollte von ihm lernen, dachte er, während er nach der Voodkaflasche griff, die er vor Stunden im Stroh versteckt hatte, und einen großen Schluck trank. Der Schnaps brannte in seiner Kehle. Der zweite Schluck war schon angenehmer, und der dritte, mit dem er sein kleines Ritual abschloss, schmerzte gar nicht mehr. Er befestigte sein Schwert am Gürtel, atmete tief durch und ging am Stall vorbei auf den Hof. Männer mit Pechfackeln liefen scheinbar ziellos von einem Punkt zum anderen. Bogenschützen kletterten an Leitern zu den Wehrgängen empor, Speerwerfer stiegen auf die Dächer der Zugwaggons. Bohdan hörte, wie sein Vater Befehle schrie, und ging dem Klang seiner Stimme nach. Er fand ihn und Jed in der Umzäunung der dritten Klasse,
umgeben von Wächtern mit gezogenen Schwertern. Sie bedrohten eine Gruppe von ungefähr zehn Kuttenträgern, deren Gesichter größtenteils im Schatten großer Kapuzen lagen. Er hatte sie schon einige Male während der Fahrt bemerkt und sie für eine Mönchsgruppe auf Pilgerfahrt gehalten. Vor ihm riss sein Vater einem der Männer die Kapuze vom Kopf. Bohdan hob überrascht die Augenbrauen, als er in ein tätowiertes Gesicht blickte und einen Bart voller Perlen sah. Die Menschen aus der dritten Klasse zeigten darauf und gestikulierten. Zwei dürre Frauen mit langen krummen Nasen redeten ununterbrochen auf die Wachen ein. Sie wirkten wie Schwestern. »Sie sind aufgewacht«, hörte er Jed sagen, als er neben seinen Vater trat, »als die Männer über sie hinweg steigen wollten. Einer hat der einen Schwester hier auf den Arm getreten.« Die Frau hielt ihren Arm hoch wie eine Trophäe. »Sie hat ihm nachgerufen und wollte, dass er sich entschuldigt, aber er hat nichts gesagt. Daraufhin haben die beiden ihre Männer geweckt.« Jed zeigte auf zwei verwachsene Gestalten, die sich ebenfalls verstörend ähnlich sahen. Einer von ihnen hatte ein blaues Auge, der andere hielt sich die Hand unter seine blutende Nase. »Die wollten anscheinend eine Entschuldigung erzwingen. Der Streit eskalierte, andere kamen dazu, jemand blickte in das Gesicht eines Kuttenträgers und erkannte, dass er Tshingo ist. Und jetzt möchten alle eine Belohnung, weil sie glauben, den Zug gerettet zu haben.« Sein Vater spuckte aus. »Sag ihnen, sie können sich ihre Belohnung in den Arsch schieben.« Jed übersetzte und die Menschen nickten. »Was hast du ihnen gesagt?« »Dass du es dir überlegst.« Bohdan grinste und trat zur Seite, als Olegg sich an ihm vorbeischieben wollte. »Was machen wir jetzt mit ihnen?«, hörte er ihn fragen.
»Wir legen ihnen einen Strick um den Hals und hängen sie vom nächsten Wachturm.« Für einen Moment glaubte Bohdan, sein Vater habe einen Witz gemacht, doch dann bemerkte er dessen ernsten, verschlossenen Gesichtsausdruck. »Bist du wahnsinnig?«, sagte Jed und sprach so Bohdans eigene Gedanken aus. »Du kannst doch nicht einfach zehn Menschen umbringen.« »Warum nicht? Sie hätten uns genauso einfach umgebracht.« »Und womit? Sieh doch hin, sie sind unbewaffnet.« Die Tshingii standen reglos vor ihnen. Nur ihre Augen folgten dem Dialog. »Er hat Recht, Vater«, mischte sich Bohdan ein. »Die Wilden im Kampf zu töten ist ehrenvoll, sie hinzurichten nicht.« Sein Vater schien über den Widerspruch aus eigenen Reihen nicht erfreut zu sein. »Und was würdest du Ehrenvolles mit ihnen tun?« »Ich würde sie in Ketten legen und hoffen, dass jemand herausbekommt, weshalb sie hier sind und ob noch weitere Tshingii entlang der Strecke lauern.« Er sah zu Jed hinüber, der nickte und sich räusperte. »Ich ... äh ... werde es herausfinden.« Sein Vater lachte. »Wie denn? Indem du sie anjaulst?« »Sie werden reden, das verspreche ich dir.« »Du machst viele Versprechen auf dieser Fahrt. Pass auf, dass du nicht den Überblick verlierst.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und nickte den Wachen zu. »Legt das Pack in Ketten und sperrt sie zu dem anderen Wilden. Morgen fahren sie im Frachtwaggon mit.« Bohdan atmete auf, als sein Vater die Umzäunung verlassen hatte. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie Jed neben ihn trat. »Hatten die Tshingii, die bisher gesehen wurden, ebenfalls tätowierte Gesichter?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, das sind die ersten. Warum?« »Weil es eine ... äh, interessante Veränderung ist. Ihr habt übrigens Unrecht, das sind keine Wilden.« Was sieht er in ihnen?, fragte sich Bohdan. Was sieht er, das wir alle nicht bemerken? * Intelligenz. Das war es, was Jed in ihnen sah und wovon er Majela mit solcher Begeisterung erzählt hatte, bis sie beide irgendwann kurz vor Morgengrauen eingeschlafen waren. Sie schätzte, dass sie vielleicht drei Stunden Schlaf gefunden hatten, bevor das Pfeifen der Lok zur Weiterfahrt aufrief. Hinzu kam, dass die Hitze der letzten Tage sich noch einmal gesteigert hatte. Mittlerweile waren es mindestens vierzig Grad, vielleicht sogar mehr. Deshalb reagierte Majela auch eher zurückhaltend auf Jeds Bitte. »Ich weiß nicht«, sagte sie und stellte die Teekanne in eine Ecke ihres Abteils. »Den ganzen Tag in diesem stickigen Frachtwaggon zu sitzen und von ein paar Typen angestarrt zu werden, klingt nicht sehr spaßig.« Jed spielte nervös mit dem Griff des Schwerts, das er sich von einem Freund geliehen hatte. Obwohl er keine Ahnung hatte, wie man damit umging, trug er es immer im Gepäck bei sich. »Du siehst anders aus als die Menschen, die sie ... äh, sonst im Zug sehen. Wenn du dabei bist, verstehen sie vielleicht eher, dass wir nicht die ... nun, gleiche Agenda wie Pjootr und seine Leute haben. Du verdeutlichst den Unterschied zwischen ihnen und uns.« Er legte das Schwert zur Seite und gähnte. »Es könnte als Vertrauensvorschuss funktionieren, und wenn nicht, kannst du den Rest des Tages ohne schlechtes Gewissen auf dem Dach verbringen, während ich hier unten schwitze.« Sie kannten sich mittlerweile so gut, dass jeder wusste,
welche Knöpfe beim anderen zum Erfolg führten. Bei Majela war es das schlechte Gewissen, das auch dieses Mal direkt anschlug. Sie wusste, dass sie manipuliert wurde, nur ändern konnte sie es nicht. »Also gut«, sagte sie, »aber dann lass uns sofort gehen, bevor es noch heißer wird.« »Okay.« Er zog sie auf die Füße und trat auf den Gang hinaus. Nach dem offenen Hof und dem großen Zimmer, in dem sie einige wenige Stunden der Nacht verbracht hatten, wirkte die Enge des Zugs klaustrophobisch. Majela war erleichtert, als sie die erste Klasse verließen und den Frachtwaggon erreichten. Ihre Stimmung sank jedoch beim Anblick von Sergee und Olegg. Beide standen mit verschränkten Armen vor der Tür und sahen nicht so aus, als wollten sie den Weg freigeben. »O shit ...«, murmelte Jed neben ihr. Lauter sagte er auf Russisch: »Guten Morgen, Sergee, guten Morgen, Olegg. Habt ihr ... und ... wir ... Pjootr hat ... Tulpenblätter.« Majela war ziemlich sicher, dass sie das letzte Wort missverstanden hatte, und auch vom Rest des Satzes bekam sie nur wenig mit. Anscheinend berief sich Jed auf Pjootr, um in den Frachtraum gelassen zu werden. Sergees Kopfschütteln brauchte keine Übersetzung und Oleggs Geste war ebenso eindeutig. Jed redete weiter, die Hände auf das Geländer des ErsteKlasse-Waggons gestützt. Sergee schrie ihn an. Seine Hand lag jetzt auf seinem Schwertgriff. Majela tastete nach dem Driller in ihrem Gürtel. Sie wünschte, es wäre klar gewesen, ob Olegg sie oder Jed beobachtete, aber er schien wie immer auf seine Nasenspitze zu starren. Seine Arme mit den übergroßen Händen hingen herab wie die eines Gorillas. Ein Speer lehnte neben ihm an der Wand. Sergee war jetzt so wütend, dass Speichel aus seinem Mund spritzte und sein Gesicht hochrot war. Er zeigte auf Majela und
schrie etwas, das nur eine Obszönität sein konnte. Sie sah, wie sich die Muskeln in Jeds Nacken hervorwölbten, und legte ihm die Hand auf den Arm. »Nicht ...«, sagte sie. Jed hob die Schultern. »Keine Sorge, ich, äh ... habe ohnehin nur die Hälfte verstanden. Er spricht furchtbar undeutlich.« Olegg brüllte plötzlich, als hätten die Worte, die er nicht verstehen konnte, etwas in ihm ausgelöst. Seine Hand griff nach dem Speer und riss ihn hoch. Majela hielt den Driller bereits in der Hand. Er holte aus, ihr Zeigefinger krümmte sich, doch bevor sie abdrücken konnte, fiel Sergee seinem Bruder in den Arm. Olegg schlug nach ihm, der Speer polterte zu Boden und rutschte am Geländer vorbei unter den Zug. Holzsplitter spritzten nach oben, als die Räder ihn zermalmten. Die beiden Männer schrien sich an. Sergee drückte seinen Bruder zu Boden und redete eindringlich auf ihn ein. Nach ein paar Minuten wurde Olegg ruhiger. Majela ließ den Driller sinken. »Was ist hier eigentlich los?«, fragte sie leise. »Anscheinend hat Olegg geglaubt, ich wollte ihn verfluchen«, sagte Jed ebenso leise. »Sergee versucht ihn jetzt davon zu überzeugen, dass Pjootr ihn umbringen wird, wenn er einem von uns etwas tut. Olegg sieht das langsam ein.« Sergee sah auf und wies mit dem Kopf zur Tür. Er sagte ein paar Worte, worauf Jed kurz antwortete und über die Kupplung hinweg auf den anderen Waggon stieg. Majela folgte ihm, die Waffe immer noch in der Hand. »Er lässt uns rein, bittet nur darum, dass wir Pjootr nichts von dem Zwischenfall erzählen. Ich habe ihm gesagt, das geht in Ordnung.« »Okay.« Majela behielt Olegg im Auge. Der hielt den Kopf gesenkt und zitterte entweder vor Wut oder Scham. Vor ihr stieß Jed die Tür auf. Sie folgte ihm ins Halbdunkel des Frachtwaggons. Man hatte die Tshingii im vorderen Bereich
angekettet, weit von den Männern entfernt, die Fracht und Gold bewachten. Die Ketten waren eigentlich für Yakks gedacht und so schwer, dass die zehn Gefangenen sich kaum bewegen konnten. Majela sah Misstrauen in ihren Blicken und stumme Resignation. Und noch etwas anderes sah sie. »Jed.« Er hatte sich bereits vor die Männer gehockt, doch die Anspannung in ihrer Stimme musste auch ihm auffallen, denn er drehte sich sofort um. »Jed, links von dir.« Sie zeigte auf einen tätowierten Tshingo mit blassem, verzerrten Gesicht. Er lag zusammengekrümmt auf dem Boden und hatte die Hände gegen den aufgerissenen Bauch gepresst, als könne er so das Blut aufhalten, das eine Lache um seinen Körper bildete. Er war tot. * Die Wachen standen oder saßen mit gesenkten Köpfen im Gemeinschaftsraum. Auf Pjootrs Befehl hatten sich alle versammelt, nur die Männer, die in ihren Abteilen geschlafen hatten, waren davon ausgenommen und bewachten nun anstelle ihrer Kollegen die Gefangenen. Das Blut der Leiche war noch so frisch, dass sie unmöglich als Täter in Frage kommen konnten. Pjootr ging schweigend auf und ab, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Es passte zu dem Pech auf dieser verdammten Fahrt, dass Jed und Majela die Leiche gefunden hatten. Jeder andere hätte den Wilden einfach aus dem Zug geworfen und so getan, als wisse er von nichts, aber die beiden waren natürlich sofort zu ihm gekommen. Jetzt stand er vor der Wahl, entweder wie ein menschenverachtender Barbar dazustehen oder tatsächlich etwas zu unternehmen. Pjootr entschied sich für letzteres, schließlich brauchte er Jed und Majelas Unterstützung, um seinen neuen großen Traum zu verwirklichen. Die beiden waren zurück in den Frachtwaggon
gegangen, um mit den Tshingii zu reden ... oder was auch immer sie dort taten. »Also gut«, sagte er schließlich, als das Unbehagen seiner Leute fast körperlich fühlbar wurde. »Einer von euch hat diesen Wilden getötet, bestimmt aus gutem Grund. Vielleicht hat er euch angegriffen ...«, er fragte sich kurz, wie ein Mann, der vierzig Pfund schwere Ketten trug, das anstellen sollte, ging jedoch rasch darüber hinweg, »... oder angespuckt oder schräg angesehen. Es gibt tausend Gründe, einen von ihnen umzubringen, und alle sind gut. Zumindest wissen die anderen Wilden jetzt, was ihnen blüht, wenn sie irgendwas versuchen.« Zufrieden bemerkte er die Verwirrung in den Gesichtern seiner Leute. Das Verhör lief nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatten. »Deshalb«, fuhr er fort, »möchte ich den Mann beglückwünschen, der sein Schwert in das Blut des Wilden getaucht hat. Zwar hat er damit gegen meinen direkten Befehl gehandelt, aber manchmal habe auch ich Unrecht. Wer immer es war, soll vortreten, damit er sich mein Lob und eine Belohnung abholen kann. Er hat sie verdient.« Pjootr konnte sich nicht vorstellen, dass einer der Männer so blöd war, auf diesen Trick hereinzufallen. Sie alle wussten, dass Befehlsverweigerung das schlimmste Verbrechen war, das man im Zug begehen konnte. Selbst der dümmste Mann musste das. »Ich war's.« Olegg. Pjootr schloss für einen Moment die Augen und zwang sich zur Ruhe. Wie schaffst du es nur immer wieder, meine schlimmsten Erwartungen zu übertreffen? Er war der Sohn, den Pjootr am wenigsten mochte, dumm, hässlich und ohne jeden Charakter. Sein Zwillingsbruder Andriyyi taugte wenigstens zum Lokführer, aber welchen Nutzen Olegg erfüllen sollte, hatte er in den letzten sechsundzwanzig Jahren noch nicht herausgefunden. Man
fütterte ihn einfach mit durch, so wie den armen verkrüppelten Peetro. »Komm her, mein Sohn.« Pjootr nahm die Hände aus der Tasche und ballte sie zu Fäusten. Als jüngerer Mann hatte er Yakks mit einem einzigen Schlag umgehauen. »Hol dir deine Belohnung ab.« Olegg wurde von dem Angriff völlig überrascht. Er hob noch nicht einmal die Hände, um sich zu verteidigen. Der erste Schlag ließ ihn taumeln, der zweite warf ihn auf die Knie und der dritte schließlich zu Boden. Pjootr brüllte wütend, weil er ihn jetzt nicht mehr mit den Fäusten erreichen konnte und griff nach einem alten Besen, der an der Wand lehnte. »Hier ist noch mehr Lob, du verdammter schwachsinniger Idiot!« Er holte mit dem Stiel aus, aber plötzlich stand Bohdan zwischen ihm und dem wimmernden, Blut und Zähne spuckenden Olegg. »Hör auf, Vater, du bringst ihn ja um.« »Ich hätte ihn nie zeugen sollen! Das war mein größter Fehler.« Trotzdem ließ er den Besenstiel sinken und stützte sich schwer atmend darauf. Das Holz knirschte. »Wie soll ich von meinen Leuten erwarten, dass sie mir gehorchen, wenn mein eigener Sohn das nicht tut?« Pjootr sah zu den Wachen, die es nicht wagten, seinen Blick zu erwidern, sondern nervös auf ihre Stiefelspitzen starrten. »Ich werde ihn genauso behandeln wie einen von euch«, sagte er. »Er verbringt den Sommer in Ketten und auf halber Ration. Seinen Sold könnt ihr unter euch aufteilen.« Die Männer murmelten ihren Dank, ohne aufzusehen. Nur Ooleksander erhob sich, aber bevor er etwas sagen konnte, meldete sich Bohdan zu Wort. »Vater, du musst Olegg nicht in Ketten legen. Er ist unschuldig.« »Und woher willst du das wissen?« Pjootr stellte die Frage,
obwohl er die Antwort erahnte und fürchtete. »Weil ich den Wilden umgebracht habe.« Bohdans Atem roch nach Stennka. »Ich dachte, wenn Olegg so blöd ist zu glauben, dass du ihn dafür loben wirst, verdient er auch die Strafe, die er bekommt, aber diese Härte kann ich doch nicht zulassen. Wenn du den Richtigen bestrafen willst, musst du mich nehmen. Ich wollte den Tshingo nicht töten, es war ein Unfall.« »Er lügt.« Pjootr fuhr herum und sah Ooleksander an, der jetzt vortrat und den Kopf neigte. »Bohdan war noch nicht einmal im Frachtwaggon, als es geschah. Ich war dort. Und es war auch kein Unfall, es war Selbstmord.« * Selbstmord sollte es also gewesen sein. Jed wusste nicht, ob Pjootr tatsächlich an die Geschichte glaubte oder einfach nur froh war, dass er die Untersuchung beenden konnte. Angeblich war Ooleksander bei seiner Wache den Gefangenen zu nahe gekommen und hatte sich das Schwert abnehmen lassen. Damit sollte sich der Tshingo getötet haben. Ooleksander wurde der Sold für den Rest der Fahrt – also für maximal zwei oder drei Tage – gestrichen, den Toten hatte man abgekettet und aus dem Zug geworfen. Für Pjootr war die Sache damit erledigt. Jed lehnte sich gegen die Wand des Frachtwaggons. Das Holz war warm und sein Hemd so verschwitzt, dass es an seinem Rücken klebte. Er fragte sich, wie es die Tshingii in ihren Kutten aushielten, von den Ketten mal ganz zu schweigen. Seit Stunden saßen sie sich gegenüber und starrten aneinander an. Kein Wort hatten die Gefangenen in dieser Zeit gesprochen; das einzige Geräusch war das Klirren ihrer Ketten und ein gelegentliches Husten. Trotzdem hatte Jed durch ihr Aussehen und ihre Körpersprache einiges über sie erfahren. Sie waren Nomaden, da konnte er ziemlich sicher sein, und
kannten keine festen Gebäude. Die Perlen in ihrem Bart spiegelten ihre Hierarchie wider, wurden wohl für besondere Taten oder bestandene Mutproben verliehen. Ihr Blick verriet Stolz, ihre Haltung Disziplin. Was auch immer Pjootr und seine Leute annahmen, die Tshingii waren keine Horde von Wilden. Sie erinnerten Jed eher an Soldaten. Er drehte den Kopf, als die Tür zum Waggon geöffnet wurde und Majela eintrat. Sie trug ein Holztablett, das mit gegrilltem Fleisch und Brot beladen war. »Mehr konnte ich nicht auftreiben.« »Das sollte reichen.« Jed nahm ihr das Tablett ab, stellte es vor die Tshingii und zeigte darauf. »Bitte esst.« Sie reagierten nicht. Jed verstand ihre Zurückhaltung, aber er zögerte, selbst nach einem Stück Fleisch zu greifen. Es war gefahrlich leicht, ein fremdes Volk beim Essen zu beleidigen. Manche aßen nur mit der rechten Hand, manche nur mit der linken, andere benutzten ihre Hände überhaupt nicht. Die Fehlerquellen waren kaum einzuschätzen. Neben ihm nahm Majela eine Keule und biss hinein. »Warum isst du nichts?«, fragte sie mit vollem Mund. »Ich ... äh ... eigentlich sollte man ...« Wie auf ein stummes Kommando griffen die Tshingii mit beiden Händen zu und begannen zu essen. Sie schienen nur auf diese Gelegenheit gewartet zu haben. »Was wolltest du sagen?« »Hm ... nichts.« Er nahm ein Stück Brot, aß jedoch kaum etwas, sondern beobachtete die Gefangenen, die sich kaum die Zeit nahmen zu kauen. Bei seinen Ausflügen in die hinteren Waggons waren ihm die Kuttenträger, die er damals noch für Mönche gehalten hatte, ein paar Mal begegnet. Sie hatten abseits gesessen, ohne Kontakt zu den anderen Reisenden. Er fragte sich, ob es das erste Mal war, dass Tshingii unerkannt im Zug mitfuhren.
Was wollen sie?, dachte er. Sind sie hier, um den anderen zu befreien, oder gibt es einen anderen Grund? Und warum sind ihre Gesichter tätowiert? Der Sinn der geschwungenen schwärzen Linien auf ihren Wangen verschloss sich ihm. Sie erinnerten an stilisierte Wellen und mussten eine rituelle Bedeutung haben, dienten vielleicht als Kriegsbemalung. Ein älterer vernarbter Tshingo, dessen Bart von den Perlen nach unten gezogen wurde, legte einen Knochen zurück auf das Tablett und rülpste leise. Sofort legten auch die anderen ihre Keulen zurück, egal ob sie abgenagt waren oder noch voller Fleisch. »Hör auf zu essen«, sagte Jed leise zu Majela und legte sein eigenes Brot hin. Der altere Mann wischte seine Hände an der Kutte ab. Er bewegte sich so kontrolliert, dass die Ketten kaum klirrten. Seine Blicke glitten über die Männer, die rechts und links vom ihm saßen, über Majela und über den Raum, bis sie sich schließlich auf Jed konzentrierten. Einen Moment geschah nichts, dann begann der Tshingo zu sprechen Er hatte eine raue tiefe Stimme und sprach mit der autoritären Art eines Mannes, der es gewohnt ist, Befehle zu geben. Jed neigte den Kopf und hörte zu. Nach einer Weile lächelte er, als die ersten Worte Sinn ergaben. * Andriyyi Er ist nicht der hellste Stern am Firmament, aber eine gute Seele. Das pflegen die Leute über ihn zu sagen. Im Gegensatz zu seinem Zwillingsbruder Olegg schielt er nur ein wenig. Deshalb bildet ihn der alte Iwan, sein Vorgänger, zum Lokführer aus. Anfangs will er nicht, weil ihm vor Jahren ein
Schamane prophezeit hat, er würde auf einem eisernen Yakk sterben, aber sein Vater schlägt ihn so lange, bis er trotzdem zu Iwan geht. Heute ist er froh darüber. Sein Posten ist der Wichtigste im ganzen Zug und er spürt die Blicke der Reisenden, wenn er auf die Lok steigt. Niemand genießt einen solchen Respekt, selbst sein Vater nicht, vor dem die Menschen Angst haben. Ihn mögen die Menschen, und ihm gefällt es, gemocht zu werden. Er hat eine Frau und drei Töchter. Wie alle Frauen der Familie leben sie in Kiiw, nicht auf dem Zug. Sie sind stolz auf ihn, weil der Zug nur durch sein Können fährt. Das ist eine große Leistung. Sein Vater ist nicht stolz auf ihn, das weiß Andriyyi, aber zumindest lässt er ihn in Ruhe. Er muss keine Angst haben, wenn sie sich im Gang begegnen, nicht so wie Olegg Angst hat. Ihn mag sein Vater am wenigsten, auf ihm wird herumgehackt, wenn etwas schief geht. Es spielt keine Rolle, ob Olegg Schuld daran hat oder nicht, irgendwie schiebt man die Verantwortung immer auf ihn. Die anderen Brüder tun so, als würden sie ihn bedauern. In Wirklichkeit sind sie froh über den Sündenbock. Wenn der Zug in den Städten halt und Fracht, Holz und Wasser aufnimmt, besucht Andriyyi die Schamanen und Wahrsager, die sich an den Bahnhöfen herumtreiben. Mittlerweile kennen ihn die meisten schon. Er fragt sie nach seiner Zukunft und nach der Gesundheit seiner Familie. Sie schütteln Tierknochen, starren in dunklen Teesatz, werfen glänzende Steine und wackeln mit dem Kopf, bis sie eine Antwort gefunden haben. Meistens ist sie kryptisch und Andriyyi versteht sie erst, wenn das Ereignis, auf das sie sich bezog, stattgefunden hat. Dieses eine Mal in Nydda, als die schwarze Frau den Zug betritt, ist es jedoch anders. Da sagt ihm ein Schamane mit Hasenscharte, er solle nicht auf seine Lok zurückkehren.
Andriyyi erklärt, warum er zurückkehren muss, und bekommt ein gestoßenes Deerhorn in einem Beutel geschenkt. Wenn er das um den Hals trägt, versichert ihm der Schamane, wird der Gott der Wanderer über ihn wachen und ihn schützen. Abdriyyi bedankt sich, aber als er geht, sieht er, wie der Schamane sich bekreuzigt. Er hat Angst auf dieser Fahrt, mehr Angst als je zuvor. * »Ihr Stamm schickt sie, um die Freilassung des Gefangenen zu verhandeln und ein Friedensangebot zu unterbreiten«, sagte Jed und zog die Tür des Abteils hinter sich zu. »Sie wollen mit dir reden.« Pjootr stützte sich auf seinem Lager auf die Ellenbogen. Die Haussklavin, die seine Füße massiert hatte, reagierte sofort und schob ein Kissen unter seinen Rücken. Dann kehrte sie zu ihrer eigentlichen Arbeit zurück. »Du hast es also tatsächlich geschafft, ihnen Sinn zu entlocken.« In der einsetzenden Dämmerung wirkte Pjootrs Gesicht grau und alt. »Aber ich sehe keinen Grund, mit ihnen zu reden.« »Sie wollen Frieden. Das sollte Grund genug sein.« Jed verstand Pjootrs Gleichgültigkeit nicht. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten gab es die Möglichkeit, diesen blutigen Konflikt zu beenden, aber einer der Hauptbetroffenen zeigte mehr Interesse an der Oberweite seiner Sklavin als an der Lösung des Problems. Pjootr spuckte auf den Fußboden, als Jed ihn danach fragte. »In ein paar Jahren haben wir auch so Frieden. Es gibt immer weniger Wilde und immer mehr von uns. Sie töten einen meiner Leute, ich töte zehn von ihnen. Irgendwann wird niemand mehr übrig sein.« »Du willst sie also alle umbringen. Das ist dein Ziel.«
»Es ist eine Notwendigkeit, nichts weiter.« Jed hätte ihn am liebsten mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen. »Hörst du mir überhaupt zu? Es ist keine Notwendigkeit, weil sie mit dir ver-« Hinter ihm wurde die Tür aufgerissen. Bohdan stand atemlos im Rahmen. »Du kommst besser mit, Vater«, sagte er. Jed half ihm dabei, Pjootr auf die Füße zu ziehen. Wortlos gingen sie den Gang entlang auf die Lok zu. Menschen standen an den Fenstern. Über ihre Köpfe hinweg konnte Jed nicht erkennen, was sie dort sahen. Der Zug war deutlich langsamer geworden, bewegte sich nur noch in Schrittgeschwindigkeit. Pjootr zwängte sich durch die Waggontür der ersten Klasse und trat in den Fahrtwind hinaus. Jed und Bohdan folgten ihm über die Planken, die am Tender entlang führten. Einige Männer standen auf der Kohle und zeigten nach vorne. Sergee war bei ihnen und auch der kleine Alexii. Jed fiel schuldbewusst ein, dass er wegen der Tshingii dessen Schreibunterricht vergessen hatte. Er stieg hinter Pjootr auf den Führerstand der Lok. Andriyyi, der Lokführer und Igoo, der Mechaniker drehten sich zu ihm um. Der dritte Mann, Olegg, ignorierte seine Umgebung. In seinem aufgequollenen Gesicht waren die Augen nur noch schmale Schlitze. Seine Lippen waren aufgeplatzt, die Vorderzähne fehlten. Jed hatte gehört, dass sein Vater ihn zusammengeschlagen hatte, aber dass es so schlimm war, hatte ihm niemand gesagt. »Verdammt«, sagte Pjootr, »was ist das für eine Scheiße?« Ihm antwortete nur das Stampfen der Kolben. Langsam rollte der Zug auf das Fort zu, das vor ihnen am Rande einer Hügelkette lag. Wie auch schon beim ersten Fort führten die Schienen durch das geöffnete Tor ins Innere, nur stand hier niemand und winkte. Keine Fahne wurde gehisst, keine Wehrgänge besetzt, niemand streckte ihnen von den Türmen den Speer entgegen.
Jed sah keinen einzigen Menschen. »Soll ich anhalten?«, fragte Andriyyi. In seiner Stimme lag ein nervöses Zittern. Eine Hand umschloss den Lederbeutel, den er um den Hals trug, die andere steuerte den Zug. Pjootr schüttelte den Kopf. »Fahr weiter.« Auf der Lok und auf dem Tender zogen Männer ihre Schwerter, spannten die Bögen und hoben die Speere, während das Fort langsam näher kam. Jed bemerkte Pfeile im Holz und lange Stricke, die an der Außenseite der Palisaden herabhingen. An einigen Stellen hatte Blut das Gras rot gefärbt, aber er sah keinen Verletzten und keinen Toten. Das Fort wirkte völlig verlassen. Pjootr drehte sich zu ihm um. »Sie wollen also Frieden, ja?« Seine Fäuste waren geballt. »Sieht das so aus, als wollten sie Frieden?!« Jed schwieg. * Es war still an den Feuern und in den Baracken des Forts. Majela lehnte sich an die Brüstung des Turms, den Pjootr ihr gestenreich zugeteilt hatte. Seine Leute hatten das Fort und die Umgebung durchsucht, ohne einen einzigen Menschen zu finden. Sogar den Boden hatten sie auf der Suche nach Leichen aufgewühlt – erfolglos. Zu Majelas Überraschung beschloss Pjootr dennoch im Fort zu bleiben und die Nacht nicht zur Weiterfahrt zu nutzen. Er befürchtete einen Hinterhalt auf der schwierigen, von Hügeln umgebenen Strecke, die vor ihnen lag. Kiiw war nur etwas mehr als eine Tagesreise entfernt, aber Euphorie über das Ende der langen Fahrt stellte sich bei niemandem ein. Die Menschen hockten nervös an den Feuern, es wurde kaum geredet und zu viel getrunken.
Sie hatten Angst vor dem Feind, der vielleicht in der Dunkelheit lauerte. Pjootr hatte Waffen an jeden Reisenden in der ersten Klasse ausgeben lassen, der so aussah, als könne er damit umgehen. Ein Teil von ihnen bewachte die dritte Klasse, der Rest hatte sich auf den Türmen und Wehrgängen verteilt. Überall brannten Fackeln und schufen eine Illusion von Sicherheit, die in Wirklichkeit dafür sorgte, dass die Nacht außerhalb der Lichtkreise noch dunkler war. Majela gähnte und verfluchte die drei Stunden Wachdienst, die vor ihr lagen. Eigentlich sollte Bohdan mit ihr hier oben stehen, aber er hatte sich nach kurzer Zeit abgesetzt. Seine Erklärung hatte sie nicht verstanden und den Eindruck, dass ihm das ganz recht war. Ich glaube, er ist schwul, dachte sie gelangweilt. Ihr Blick suchte den Hof ab und blieb an dem Käfig hängen, in den man die Tshingii gesperrt hatte. Er war so klein, dass sie sich nicht hinlegen konnten und die Nacht im Sitzen verbringen mussten. Wenigstens lebten sie noch, obwohl einige Reisende bereits ihre Hinrichtung gefordert hatten. Aber Pjootr hatte das abgelehnt; jetzt, wo man mit ihnen reden konnte, erhoffte er sich Informationen. Jed gehörte zu den Wachen, die neben dem Käfig standen und sie im Notfall beschützen sollten. Majela war sich sicher, dass niemand außer ihm diese Aufgabe ernst nahm. Sie dachte an den Nachmittag, den sie mit den Tshingii verbracht hatten, an ihre freundliche, besonnene Art und an die Monster, auf denen sie laut Alexii ritten. Beides wollte nicht so recht zusammenpassen, und sie begann sich zu fragen, ob es vielleicht mehr als eine Reitergruppe in dieser Gegend gab. Das würde auch erklären, warum man unter den Angreifern früherer Kämpfe nie Tshingii mit tätowierten Gesichtern gesehen hatte. Sie gehörten einem anderen Stamm an. Die Erklärung erschien logisch, und sie hätte am liebsten Jed
davon erzählt. Doch die Disziplin, die sie beim Militär in Washington gelernt hatte, hinderte sie daran, ihren Posten zu verlassen. Ihr Driller war den anderen Waffen weit überlegen. Deshalb hatte man Majela den Wachturm am Tor zugeteilt. Wenn hier etwas passierte, konnte sie sofort reagieren. Irgendwo schrie ein Nachtvogel. Unter ihr auf dem Wehrgang zuckte ein Mann zusammen und spannte seinen Bogen. Zwei Mal fiel der Pfeil auf den Boden, dann richtete er den Bogen endlich in die Dunkelheit. Jemand, der die Szene wohl vom Hof aus beobachtet hatte, rief etwas und lachte. Der Bogenschütze klang wütend, als er antwortete. Etwas strich sanft über Majelas Handrücken. Instinktiv zog sie den Arm zurück, dachte an einen Nachtfalter oder ein anderes Insekt. Sie spürte eine weitere Berührung auf ihrer Wange, dann ihrem Handgelenk. Wie trockener dunkler Schnee fielen Partikel aus der Nacht auf sie herab. Vorsichtig strich sie mit der Hand darüber und betrachtete den dunklen Fleck an ihren Fingerspitzen. Es regnete Asche. »Da!«, rief eine Stimme unter ihr. Majela sah zu einem tief roten lodernden Horizont. Es sah aus, als wolle er die Welt verschlingen. * Sie hatten keinen Namen für ihr Volk und wussten nicht, warum die Reisenden sie Tshingii nannten. Die Steppe war ihre Heimat, Konjuus – die gefährlichen pferdeähnlichen Raubtiere, die Alexii für Majela gezeichnet hatte – ihre Reittiere, ihre Freunde und Vorbilder. Wie sie lebten die Menschen in Herden, die unablässig über das Land zogen. Das Fleisch der Deers und Yakks, die sie erlegten, aßen sie roh und teilten es mit den Konjuus, auf die ihr ganzes Leben ausgerichtet war. Sie kannten weder Haus- noch Ackerbau und lachten nur, als
Jed sie fragte, woher ihre Kleidung stamme. Natürlich, dachte er, sie stehlen, was sie tragen wollen. Das war ihre wilde, tierhafte Seite, die einzige, die Leute wie Pjootr jemals zu sehen bekamen. Aber sie hatten noch eine andere, wie Jed in dem stundenlangen Gespräch entdeckte. Ihr Wissen über die Welt war wesentlich größer als das der Menschen, mit denen er normalerweise redete. Sie wussten, dass die Erde um die Sonne kreist und der Mond um die Erde. Die Grundlagen der Physik waren ihnen ebenso vertraut wie die der Medizin und der Musik. Sogar eine Schriftsprache hatten sie entwickelt. Sie bestand aus Knoten, die man in bunt gefärbtem Konjuuhaar aufreihte. Tausende dieser Stränge hingen in den Höhlen und Erdlöchern, die Heilige Männer zum Beten aufsuchten. Heilige Männer. Auf sie kamen die Tshingii immer wieder zurück. Es gab nur sehr wenige in den Herden und keinen, der so weise und so angesehen war wie der, der neben ihnen im Käfig hockte und schwieg. »Warum spricht er nicht mit mir?«, fragte Jed. Der ältere Tshingo, mit dem er bisher einen Großteil des Gesprächs geführt hatte, nickte, als habe er genau das erwartet. Auf die Frage nach seinem Namen hatte er mit »Vytootas« geantwortet. »Weil er befürchtet, du könntest ihn verstehen.« »Was soll das heißen?« »Ich weiß es nicht, das war alles, was er gesagt hat.« Ein jüngerer Mann hob den Kopf. »Niemand von uns versteht ihn wirklich. Er ist hremyyji.« »Hremyyji?« Jed konnte das Wort nicht ableiten. Gleich drei Tshingii versuchten es gestenreich zu erklären, schienen aber selbst uneinig über seine Bedeutung zu sein. Fremd, geheimnisvoll, überlegen; hremyyji lag irgendwo zwischen diesen drei Begriffen. Aus den Augenwinkeln spürte Jed den Blick des Heiligen Mannes. Seit Beginn des Gesprächs beobachtete er ihn so
intensiv, dass es unangenehm war. Er wirkte beinahe wie ein Wissenschaftler, der ein Studienobjekt untersucht. »Was ist mit dem Herrn des Zuges?«, wechselte Vytootas das Thema. »Wird er sich anhören, was wir zu sagen haben?« Jed schob die Hände tief in die Taschen seiner Khakihose. Noch am Nachmittag war er sicher gewesen, Pjootr früher oder später zu einem Treffen überreden zu können, doch nach der Entdeckung des leeren Forts standen die Chancen bei weitem nicht mehr so gut. Die Männer lebten nur noch, weil man sich Informationen erhoffte. Dass sie, wie sie es anscheinend erwarteten, Pjootr ohne Ketten als gleichwertige Verhandlungspartner gegenübertreten würden, war momentan unwahrscheinlich. »Was habt ihr ihm denn zu sagen?«, fragte Jed zurück. »Dass wir Frieden wollen. Wir möchten mit dem Heiligen Mann zur Herde zurückkehren. Der Zug darf weiter durch die Steppe fahren, aber es darf kein Tier gejagt und kein Haus gebaut werden. Die Forts müssen abgerissen werden. Sie gehören hier nicht hin. Das ist alles, was wir verlangen.« Es waren vernünftige Konditionen, die Pjootr nur wenig kosten würden. Wenn er denn bereit war, darauf einzugehen. Jed sah die Tshingii an. »Ich werde ihn bitten, mit euch zu reden, aber es wäre gut, wenn er ein ... hm ... Zeichen eures guten Willens bekäme.« Er nahm die Hände aus den Taschen und machte eine Geste, die das ganze Fort einschloss. »Was ist hier passiert?« Es war nicht das erste Mal, dass er die Frage stellte, und nicht das erste Mal, dass ihm Schweigen antwortete. Bei all der Freundlichkeit, die sie zeigten, misstrauten sie ihm offensichtlich. Er schluckte die Frustration herunter. »Wie ist der Mann im Frachtraum gestorben?« Auch auf diese Frage erhielt er keine Antwort. Jed sah jeden einzelnen Tshingo nacheinander an. Sie senkten die Köpfe, wenn sein Blick sie traf. Nur der Heilige Mann blickte zurück.
»Da!«, unterbrach eine Stimme den Moment. Jed drehte sich um zu einem Himmel, der eben noch schwarz gewesen war und sich jetzt blutrot färbte. Die Palisadenspitzen und die Menschen, die aufgeregt daran entlang gingen, wirkten wie Schattenschnitte vor einer Laterne. Ascheflocken trieben lautlos über den Hof. Die Wachen räusperten und bekreuzigten sich. In ihren Blicken lag die gleiche Angst, die Jed auch in den Gesichtern der Tshingii sah und die ihn selbst erfüllte. Die Feuer holten sie ein. * Als die Sonne aufging, lag Asche wie Schnee über der Landschaft. Rasch und wortlos packten die Menschen ihr Gepäck zusammen und kehrten zurück in den Zug. Fast alle hielten die Köpfe gesenkt, niemand blickte auf die Wand aus dunklem Rauch, die hinter ihnen lag. Bohdan wartete, bis er sicher sein konnte, dass auch der letzte Passagier das Fort verlassen hatte, bevor er Andriyyi das Signal zur Abfahrt gab. Dann schloss er die Tür zur ersten Klasse und begann seine Runden zu drehen. Es herrschte eine merkwürdige Stimmung. In einigen Abteilen wurde gestritten, in anderen hatten sich die Bewohner auf die Schlafstätten zurückgezogen und starrte teilnahmslos an die Decke. Alle waren übermüdet, gereizt und verängstigt. Bohdan kannte niemanden, der in der letzten Nacht geschlafen hatte. Zu allem Überfluss hatte Sergee beschlossen, den Aufenthalt auf dem Dach zu untersagen. Er hatte die Stoffbahnen abgerissen und Wächter aufgestellt, die nach den Bränden Ausschau halten sollten. Sie waren so schwer zu übersehen, dass Bohdan den Sinn dieser Aktion nicht nachvollziehen konnte. Wahrscheinlich wollte Sergee einfach irgendetwas tun,
um sich und seine Leute zu beschäftigen. Er ging mit langen Schritten den Gang entlang, unwillig, sich in ein Gespräch verwickeln zu lassen. Die Passagiere wollten zuversichtliche Worte, doch im Moment konnte er ihnen nur Zweifel bieten. Er wusste ebenso wenig wie sie, wo die Besatzung des Forts geblieben war oder wie schnell sich das Feuer ihnen näherte. Und der Fluss, auf den alle hofften, lag noch beinahe eine Tagesreise entfernt. Diese Entfernung war es, die Bohdan an diesem Morgen seinen Vater aufsuchen ließ, denn einer seiner Männer hatte ihm erzählt, es gäbe einen geheimen Plan, die dritte Klasse abzukoppeln, um die Geschwindigkeit des Zugs zu steigern. Er hoffte, dass es nur ein Gerücht war. Bohdan blieb vor dem Abteil stehen und hob die Hand, um anzuklopfen. Er blinzelte überrascht, als er seinen Vater drinnen schreien hörte: »Mir ist es scheißegal, ob sie alle verrecken! Ich werde nicht mit ihnen reden!« »Du ... du bist ein verdammter Idiot, Pjootr«, schrie Jed in der gleichen Lautstärke zurück. »Verstehst du denn nicht, was du erreichen kannst?« »Red noch einmal so mit mir und ich leg dich in Ketten!« »Das ist ja deine Lösung für alles.« Bohdan ließ die Hand sinken, drehte sich um und ging leise zurück. Das Abteil seines Vaters war an diesem Morgen ein Pulverfass, von dem er lieber Abstand hielt. Seines Ziels beraubt, blieb er etwas ratlos im Gang stehen, bevor er einige Türen weiter ging und ohne anzuklopfen ein Abteil betrat. Ooleksander zuckte kettenklirrend zusammen, als er so plötzlich im Zimmer stand. »Entschuldige«, sagte Bohdan. »Habe ich dich erschreckt?« »Mach dir nichts draus. Das ist vermutlich das Interessanteste, was ich heute erleben werde.« Er zog an den Ketten, die um seine Fußknöchel geschlungen waren und in einem Eisenring in der Wand endeten. Eine weitere Kette
schloss sich um seine Handgelenke. Sie waren bei weitem nicht so schwer wie die der Tshingii, aber trotzdem unangenehm, das wusste Bohdan aus eigener Erfahrung. Es gab kaum einen Mann an Bord, der nicht schon einmal in Ketten gelegen hatte. »Es ist ja nur noch für einen Tag«, sagte er. Ooleksander lehnte sich an die Wand. »Ich will mich auch nicht beschweren. Erzähl mir lieber, was es Neues gibt.« Bohdan setzte sich neben ihn und nahm seine Hand. »Nun, das Feuer kommt immer näher, Sergee hat das Dach abgesperrt, mein Vater will angeblich die dritte Klasse ermorden und sämtliche Tshingii ausrotten. Das ist so weit alles.« »Oh ... da liegt man mal einen Tag in Ketten und schon verpasst man alles.« Ooleksander erwiderte den Handdruck. »Meinst du, er will das wirklich?« »Die dritte Klasse umbringen? Wahrscheinlich nicht, aber die Tshingii schon. Dabei glaube ich inzwischen, dass wir mit ihnen Frieden schließen sollten. Das wäre das Beste für alle.« »Ich weiß nicht ... sie sind mir irgendwie unheimlich. Du hättest die Geschwindigkeit sehen sollen, mit der mir dieser Tshingo das Schwert abgenommen hat. Und die Art, wie er es sich in den Bauch rammte, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Wie willst du Leute verstehen, die so etwas tun?« Bohdan legte seinen Kopf auf Ooleksanders Schulter und lauschte dem Rattern des Zuges. »Keine Ahnung, aber das Blutvergießen muss aufhören.« Wenn er nur seinen Vater davon überzeugen könnte. * Alexii Er ist acht Jahre alt und klein für sein Alter. Sein Bruder Bohdan sagt, das läge daran, weil sein Geist viel schneller
wächst als sein Körper, aber Alexii hält das für Blödsinn. Trotzdem ist Bohdan der Bruder, den er am meisten mag. Sergee ist ihm zu traurig, Olegg zu gemein, Andriyyi zu einfältig und Peetro, nun, er redet nicht viel, wenn sie sich in Kiiw sehen. Seine Hemdsärmel sind unter den Schultern zusammengeknotet. Alexii fragt sich, wer die Knoten hinein macht und warum. Vor seinem Vater hat er keine Angst, auch jetzt nicht, wo Olegg so schlimm geschlagen wurde. Das wird ihm nie passieren, das versteht er instinktiv. Trotzdem hält er sich meistens von seinem Vater fern, denn er weiß nie, was er mit ihm anfangen soll. Sie spielen nie zusammen, und gelernt hat Alexii von ihm auch nichts. Natürlich liebt er seinen Vater, wie es sich gehört, aber er findet ihn langweilig. Es gibt nur wenige andere Kinder im Zug, und keines ist in seinem Alter. Er hat gelernt, schnell Freundschaft zu schließen und seine Freunde ebenso schnell wieder zu vergessen, denn die Kinder der Passagiere bleiben nie lange. Irgendwann gehen sie zurück in das Leben, aus dem sie ursprünglich kamen, zurück zu ihren Freunden und ihrer Welt. Nur er bleibt stets im Zug. Die meisten Erwachsenen nehmen ihn nicht ernst. Nur Bohdan, Ooleksander und manchmal Sergee beschäftigen sich mit ihm, wenn er zu ihnen geht. Deshalb ist er so froh, als Jed und Majela in den Zug steigen. Durch sie lernt er eine neue Sprache kennen, neue Gedanken und eine neue Welt. Er wünschte sich, die Fahrt nach Kiiw würde niemals enden, nicht nur, weil er noch mehr lernen will, sondern auch, weil er Angst vor dem hat, das danach kommt. Jed hat ihn gefragt, ob er zu den Helmmenschen gehen will, wenn sie Kiiw erreichen. In den Bunkern, so sagt er, kann Alexii mehr lernen, als er ihm jemals beibringen könnte. Alexii glaubt das nicht, stimmt jedoch zu, weil er spürt, dass Jed das möchte, und ihn nicht enttäuschen will. Jetzt, so kurz
vor der Ankunft, bekommt er Angst vor seiner Entscheidung. Die Helmmenschen sind ihm unheimlich. Um sich von dem abzulenken, was vor ihm liegt, erfindet er ein neues Spiel. Er folgt einem Erwachsenen durch den Zug und versucht dabei nicht aufzufallen. Das geht besser, als er erwartet hat, denn er ist klein und kaum jemand bemerkt ihn ... * »Er will nicht mit uns reden? Warum will er das nicht?« Jed atmete tief durch. Er hatte in den letzten drei Nächten kaum geschlafen. Die Müdigkeit zog mit Bleigewichten an ihm und machte ihn gereizt. »Weil er ein Idiot ist«, sagte er langsam in der seltsamen Betonung der Tshingii, »und weil sein Vater im Kampf gegen euch gestorben ist.« Ein Wortschwall brach über ihn herein, als die Männer ihm aufzählten, wer von ihrer Familie getötet worden war. Jed hob beschwichtigend die Hände. »Darum geht es nicht.« Die Luft im Frachtraum roch nach Asche und war so stickig, dass man kaum atmen konnte. Im hinteren Teil saßen missmutig aussehende Wachen, die Tee kochten und Karten spielten. Jed hatte sie gefragt, ob er die Tür öffnen könne, aber sie hatten abgelehnt, weil Sergee sie sonst in Ketten gelegt hätte. Das schien die einzige Bestrafung zu sein, die man im Zug kannte. Der Käfig war leer; man hatte den Heiligen Mann wieder vor den Zug gebunden. »Vielleicht hast du dir nicht genügend Mühe gegeben ihn zu überreden«, sagte Vytootas. »Probier es gleich noch einmal.« Jed dachte an seinen heftigen Streit mit Pjootr und spürte, wie sein Geduldsfaden riss. »Ich soll ... ist euch eigentlich ... wie zur Hölle soll ich ihn überreden, wenn ihr mir nichts gebt, womit ich ihn überreden kann? Er hat zwanzig Mann in diesem
Fort verloren, aber ihr schweigt mich an, wenn ich danach frage. Und er soll euch glauben, dass ihr Frieden wollt?« Wenigstens versuchte er das zu sagen, aber er beherrschte die Grammatik noch nicht richtig und die halb erlernten, halb vom Russischen abgeleiteten Worte kamen schwerfällig über seine Zunge. Ihn ärgerte die eigene Unzulänglichkeit. »Vergesst es einfach, okay? Ihr vertraut mir nicht, Pjootr vertraut euch nicht. Alles bleibt, wie es ist.« Er wandte sich ab, ging zur Tür und nickte der Wache zu. »Lass mich raus.« Seit dem verlassenen Fort hatte Sergee die Sicherheitsmaßnahmen rund um die Gefangenen wieder verschärft. Man erlaubte ihm nicht mehr, allein bei ihnen zu bleiben. »Hast du endlich genug von denen?« Der junge blonde Mann, dessen Namen Jed sich einfach nicht merken konnte, zog die Riegel auf. »Ja, mehr als genug.« Er kämpfte gegen sein schlechtes Gewissen an, das ihm zuflüsterte, er habe noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um das Vertrauen der Gefangenen zu gewinnen. Doch das war falsch. Er hatte alles versucht und sie hatten ihm nichts zurückgegeben. »Nicht alle aus der Herde sind unserer Meinung«, sagte Vytootas hinter ihm leise. Jed blieb stehen und schüttelte den Kopf, als der Wächter die Tür aufziehen wollte. »Viele denken wie Pjootr. Sie wollen den Kampf unbedingt gewinnen und halten es für feige, um Frieden zu bitten. Aber alle sind sich einig, dass der Heilige Mann zur Herde zurückkehren muss. Wenn die Herren des Zugs ihn freilassen, werden sie dem Frieden zustimmen. Das haben sie geschworen.« Vytootas schwieg. Einer der Tshingii nieste. »Was ist im Fort geschehen?«, fragte Jed. Er stand mit dem Rücken zu ihnen, drehte sich auch nicht um, als er nach langem Zögern eine Antwort erhielt.
»Wir wissen es nicht sicher, aber ich vermute, dass wir beobachtet wurden, und als man uns in Ketten sah, hat man wohl entschieden, dass unsere Mission gescheitert und dass die Zeit des Wartens vorüber ist.« Vytootas redete jetzt schneller, aufgeregter, und Jed fiel es schwer, alles zu verstehen. »Es gibt einen zweiten Plan. Wenn wir scheitern, soll die Herde angreifen, bevor wir die steinerne Stadt erreichen. Keiner soll eine solche Schmach erleiden müssen wie der Heilige Mann. Sie werden ihn und uns töten, damit unsere Seelen auf der endlosen Ebene in den Geist des ersten Konjuus eingehen können.« »Bevor wir Kiew erreichen? Das heißt ... äh ... vor morgen früh.« Jed drehte sich um. »Warum hast du das nicht früher gesagt?« Vytootas' Blick war ruhig. »Weil niemand von uns in Ketten leben will. Wenn du Pjootr nicht überzeugen kannst, ist unsere Mission fehlgeschlagen und wir können nur hoffen, dass die Herde siegreich ist.« Deshalb also ihr ständiges Drängen. Sie konnten nicht warten, bis sie Kiew und die vielleicht etwas aufgeschlosseneren Technos erreichten. Darauf hatte Jed insgeheim gehofft, wenn er im Zug nicht weiterkam. Jetzt war sicher, dass die Entscheidung über Krieg oder Frieden allein in Pjootrs Hand lag. Und diese Hand war daran gewöhnt ein Schwert zu halten, keinen Olivenzweig. »Sie ... hm, werden nicht bei Nacht angreifen, weil sie euch dann nicht sehen können«, sagte er nachdenklich. »Sie wollen euch möglichst schnell, äh, töten, dafür brauchen sie gute Sicht. Also können wir mit einem Angriff rechnen in den, hm ... den nächsten zwölf -« Der Zug bremste so heftig, dass Jed zu Boden geworfen wurde. Metallräder kreischten ohrenbetäubend, der Wächter prallte gegen die Wand. Im hinteren Bereich schrie ein Mann auf, als die Teekanne vom Feuer rutschte und kochendes
Wasser über seine Füße spritzte. Schlecht vertäute Ware fiel in den Gang, einige Ballen mit Kamaulerwolle platzten auf. Der Zug wurde langsamer und kam zum Stehen. »-Stunden.« * Chaos. Das war das Erste, was Majela bemerkte, als sie schlaftrunken aus ihrem Abteil stolperte. Der Traum, in dem sie eben noch gefangen gewesen war, verging. Sie hatte von einem weißen Pferd geträumt und einem blutroten Boden. Das Wiehern des Pferdes war in das Kreischen der Zugbremsen übergegangen. Sie schüttelte das Bild ab, sah stattdessen die Menschen, die ihre Köpfe gegen die Fenster pressten, um nach draußen zu schauen. Andere liefen laut »Tshingii! Tshingii!« rufend über den Gang. Abteiltüren wurden auf- und zugeschlagen, Verletzte, die von umherfliegenden Gegenständen getroffen worden waren, schrien, weinten oder saßen einfach nur benommen am Boden. »Majela! Hier!« Die englische Stimme war ein Magnet, der sie anzog. Sie kämpfte sich durch den Gang, an konfusen, verängstigten Menschen vorbei, bis sie Jeds Hand spürte und danach griff. »Bist du verletzt?« Er schüttelte den Kopf und legte seinen Arm um sie. »Du?« »Nein. Was ist passiert?« Sie musste schreien, um sich verständlich zu machen. »Ich weiß es nicht.« Jed zog sie auf die Waggontür zu. »Irgendwas scheint die Schienen zu blockieren, und jetzt glauben natürlich alle, es sind die Tshingii. Hm ... das Problem ist, dass sie vermutlich Recht haben.« »Woher weißt du das?«
Er wich einer hysterisch schreienden Frau aus und duckte sich unter einer Wäscheleine hindurch, die jemand am Morgen über dem Gang gespannt hatte. Die Hemden, die daran gehangen hatten, waren verschwunden. »Ich erzähl dir später alles.« Sie hatten die Tür fast erreicht, als die alte Bäuerin wie aus dem Nichts vor ihnen stand. Majela wusste nicht, woher sie so plötzlich gekommen war. Jed sagte etwas, bat sie vermutlich, zurück in ihr Abteil zu gehen, bis sich alles wieder beruhigt hatte, aber die Frau schüttelte den Kopf und stemmte die Hände in die Hüften. Sie ging Jed noch nicht einmal bis zur Brust und ihre Haltung hätte komisch wirken müssen, doch das tat sie nicht. Ihr Gesicht strahlte eine seltsame Würde aus, und als sie sprach, war ihre Stimme voller Stolz. Nur zwei Sätze sagte sie, dann wandte sie sich ab und ging den Gang hinunter. Die Menschen, die ihr entgegen kamen, machten respektvoll Platz, um sie vorbei zu lassen. Einige sahen ihr nach, als wüssten sie selbst nicht genau, warum sie das getan hatten. »Was hat sie gesagt?« »Sie ... äh ... sagte: Mein Name ist Ayyesha Mihaila Luuba, Herrin der Khereevotets, Gebieterin der diamantenen Seen und Tochter der Zeit. Das sollst du wissen, bevor es zu spat ist.« Majela hob die Augenbrauen. »Das ist eine sehr merkwürdige Aussage.« »Ja ... ähm ... und eine, der ich gerne nachgehen würde. Erinnere mich daran, es später aufzuschreiben.« Autopilot. Sie hätte beinahe gelacht, doch da stieß Jed auch schon die Tür auf und sie traten hinaus in die sengende Hitze des Mittags. Ohne den Fahrtwind war es hier draußen noch unerträglicher als im Inneren des Zugs. Deshalb wohl hatten außer ihnen nur Wasslyy, der Mongole und eine seiner ständig kichernden Frauen den Waggon verlassen. »Sehr gefährlich«, sagte er in einem so mühsamen, langsamen Russisch, dass sogar Majela ihn verstehen konnte.
»Große Vorsicht.« Sie nickte ihm zu, stieg die drei rostigen Metallstufen hinab und sprang in das hohe gelbe Gras. Es reichte ihr bis zur Hüfte und war so hart, dass sie die Spitzen durch den Stoff ihrer Militärhose spüren konnte. Das Licht der Sonne war grell, und Majela hob die Hand, um ihre Augen zu schützen. Sie sah nach oben zu den Männern, die auf dem Zugdach standen. Einige gestikulierten und riefen etwas. »Ich glaube, sie möchten, dass wir wieder reinkommen«, sagte Majela. Jed, der ein paar Schritte vor ihr ging, nickte. »Ja, das, äh, machen sie ziemlich deutlich. Ignorier sie einfach.« Sie hatten das Ende des Erste-Klasse-Waggons fast erreicht. Vor ihnen standen nur noch der Tender und die Lok auf den Schienen. Weißer Dampf stieg zwischen den Rädern empor. Auf dem Führerstand erkannte Majela Pjootrs enorm breiten Körper, neben dem selbst der dicke Sergee zierlich und klein wirkte. Andriyyi stand an den Instrumenten, Olegg stützte sich zur Abwechslung auf eine Kohleschaufel und nicht auf seinen Speer. Hinter ihm kletterte Bohdan gerade auf den Tender und ließ sich seinen Bogen reichen. Die gesamte Führungsspitze hat sich versammelt, dachte Majela. Es muss wirklich etwas passiert sein. Vor ihr blieb Jed abrupt stehen. Sein Blick war auf die Schienen gerichtet. »Oh ... hm«, sagte er. »Wir ... äh ... haben wohl ein, nun, hm ... Problem.« Sie schloss mit nervösen schnellen Schritten zu ihm auf. Ihre Augen weiteten sich, als sie sah, was vor der Lok auf den Schienen lag, und mit einem einzigen Wort brachte sie die Situation auf den Punkt. »Scheiße.«
* Pjootr kannte den Namen von jedem der zwanzig Männer. Er wusste, ob sie verheiratet waren, ob sie Kinder hatten, wie viele Jungen, wie viele Mädchen. Darauf war er immer stolz gewesen, doch jetzt, wo sie an die Schienen gebunden vor ihm lagen, wünschte er sich, keinen Einzigen zu kennen. Andriyyi hatte sie im letzten Moment gesehen und den Zug gestoppt. Sie lagen quer auf den Schienen, waren mit dicken Stricken aus Konjuuhaar gefesselt und mit Stofffetzen geknebelt. In ihren Augen flackerte die Angst. Fast alle Männer des Forts waren verletzt, einige schwer. Pjootr sah Tränen auf manchen Gesichtern, Hass auf anderen. Niemand konnte sagen, wie ein Mensch reagierte, wenn der Tod vor ihm stand. »Es ist eine Falle«, sagte Sergee in seiner schleppenden Art. »Natürlich ist es eine Falle!« Pjootr versuchte sich zu beherrschen, schrie ihn aber trotzdem an. Die Tshingii hatten sich eine gute Stelle für einen Überfall ausgesucht. Die Strecke war hier eng, rechts und links ragten Hügel auf. Sie würden die Angreifer erst sehen, wenn sie den Zug schon fast erreicht hatten. Andriyyi drehte sich zu ihm um. Seine Hand spielte mit dem Lederbeutel vor seiner Brust. »Wir können sie nicht liegen lassen, Vater. Jemand muss ihnen helfen.« »Jemand?« Bohdan sprang aus dem Tender in die Lok und klopfte sich den Kohlenstaub aus der Kleidung. »Wir müssen ihnen helfen, sonst wird sich wohl kaum jemand finden.« Er blickte mit zusammengekniffenen Augen zu den Hügeln. »Allerdings können sie jeden Mann abschießen, der sich vor den Zug wagt. Genau das haben sie wohl auch vor.« Pjootr nickte. »Das glaube ich auch. Ich schicke fünf Mann raus und bekomme fünf Tote zurück, ohne dass ein einziger anderer befreit wurde.«
Er kratzte sich am Kopf, spuckte aus und räusperte sich. Alle wussten, was die Alternative war, auch wenn es keiner wagte, sie auszusprechen. Bohdan legte ihm die Hand auf die Schulter. »Die Tshingii rotten sich vermutlich schon zusammen, Vater. Wir können nicht länger warten. Bitte sag uns, was wir tun sollen.« Ich sollte sie liegen lassen und überfahren, dachte er. Alles andere ist unvernünftig. Selbst wenn sich seine Tat in Kiiw herumsprach, würde er immer noch genügend Männer finden, die sich für den Dienst im Fort bewarben. Es war eine einfache Arbeit, die gut bezahlt wurde. Er öffnete den Mund, um den Befehl zu geben, schloss ihn jedoch gleich wieder. Die Wachen waren stets loyal zu ihm gewesen. Er brachte es nicht übers Herz, sie dafür mit dem Tod zu belohnen. »Verdammte Wilde!«, sagte er und schlug mit der Faust so heftig gegen den Führerstand, dass sich das Metall eindellte. »Olegg, nimm dir fünf Mann mit Messern und schneid sie los. Sergee, ich will Bogenschützen in allen Fenstern sehen und Speerwerfer auf dem Dach. Bohdan, nimm Ooleksander die Ketten ab. Wir brauchen jeden Mann, der eine Waffe halten kann. Andriyyi, sobald ich den Befehl gebe, fährst du los. Kümmere dich nicht darum, wer zurückbleibt.« »Ja, Vater.« Er war der Einzige, der antwortete. Die anderen liefen bereits am Tender vorbei auf die Waggons zu. Nur Olegg sah noch einmal zurück, aber in seinem zugeschwollenen Gesicht ließ sich keine Regung erkennen. Trotzdem glaubte Pjootr zu wissen, was er dachte: Wenn die Befreiung schief ging, starb wenigstens nicht der Lieblingssohn, sondern nur er. Es beschämte ihn, dass das stimmte. Er hatte den Gedanken kaum vollendet, als Olegg mit seinen Leuten an der Lok vorbei lief. Sie trugen Messer und Dolche,
ihre Bogen waren über die Schulter geschlungen. Zwei bekreuzigten sich, bevor sie neben den Gefesselten niederknieten, die anderen sahen nur ängstlich zurück zur Lok. Der erste Mann starb, noch bevor seine Klinge den Strick berührte. Drei Pfeile bohrten sich in seinen Oberkörper, ein vierter in den Kopf. Er kippte lautlos nach hinten. Im nächsten Moment schoss ein Pfeilregen auf den Zug zu. Pjootr hörte, wie die Spitzen in Holz einschlugen und gegen Metall prallten. Männer brüllten, es stank nach Schwefel. Brandpfeile, dachte er entsetzt. Sein Albtraum wurde Wirklichkeit. * »Löscht die Feuer!« Die Rufe gingen im Donnern des Drillers unter. Jed duckte sich neben Majela im Schatten der Lok. Sie hielt die Waffe auf die Hügel gerichtet, zwang die Tshingii dazu, in Deckung zu gehen. Die Bogenschützen an den Fenstern hatten anscheinend verstanden, was sie tat, denn ihre Pfeile flogen in die gleiche Richtung. In ihrem Sperrfeuer konnten die Männer auf den Schienen ihre Kameraden befreien. Mehr als die Hälfte waren bereits an der Lok vorbei gelaufen, zwei weitere halfen beim Lösen der Fesseln. Jed tastete nach dem Messer in seinem Gürtel. Es war weniger eine Waffe als ein Gebrauchsgegenstand, doch für das, was er vorhatte, reichte es. Noch zögerten Majela und die anderen den Angriff der Tshingii hinaus, aber die Pfeile flogen bereits nicht mehr so dicht und auch die Driller-Munition ging zur Neige. Das letzte Magazin hatte Majela für den Nahkampf zurückgelegt, sollte es dazu kommen. Es war Zeit zu handeln. »Bin gleich zurück.« Er sprang auf und verließ geduckt die Deckung. Kurz spürte er Majelas Hand auf seinem Arm, aber
er ließ sich nicht zurückhalten, sondern lief an der Lok entlang zum Kuhfänger. Auf den Schienen am Rande des Hügels befreite Olegg den letzten Mann. Zwei weitere standen mit Langbogen neben ihm und behielten die Hügel im Auge. Einer von ihnen sah kurz zu Jed herüber, als er eine Bewegung vor der Lok bemerkte, ignorierte ihn jedoch. Gut so. Jed zog das Messer aus dem Gürtel und stieg auf den Kuhfänger. Der Heilige Mann sah ihm ruhig entgegen. Er hatte einen merkwürdigen, beinahe amüsiert wirkenden Gesichtsausdruck. »Ich weiß, dass du mich verstehst«, sagte Jed in der Sprache der Tshingii, während er den ersten der Stricke durchtrennte. Die Klinge war stumpf und trennte nur einzelne Fasern auf. »Wenn du diesen Frieden wirklich willst, dann mach deinen Leuten irgendwie klar, dass sie den Angriff abbrechen sollen.« Der Heilige Mann zog seinen rechten Arm aus den Fesseln. Jed reichte ihm das Messer und begann den nächsten Strick aufzuknoten. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie der Tshingo die Klinge zwischen den Fingern drehte, bis sich das Sonnenlicht darin spiegelte – und Olegg, der mit dem Schwert in der Hand hinter ihm ausholte. Jed ließ sich fallen, hörte einen Wutschrei und das Geräusch von Metall, das gegen Metall schlug. Er kam hoch, duckte sich jedoch sofort wieder, als das Schwert das Gras neben ihm zerschnitt. Olegg schwang es wie eine Sense von einer Seite zur anderen. Es hatte keinen Sinn, ihm zu erklären, das er gerade keinen Verrat beobachtete, und während Jed den nächsten Schlägen auswich, konnte er ihm den Angriff noch nicht einmal übel nehmen. Jeder andere hätte wohl das Gleiche gedacht. Seine Hoffnungen ruhten auf dem Heiligen Mann, der viel zu langsam seine Fesseln löste. Beide Arme hatte er mittlerweile befreit, einige Stricke fielen jetzt von seinen Beinen. Wenn es ihm gelang, Olegg zu überraschen ...
Jed hätte seine Unaufmerksamkeit beinahe mit dem Leben bezahlt. Die Schwertspitze schoss ihm entgegen, und nur ein Sprung zurück rettete ihn. Er spürte den Luftzug der Klinge, als sie an ihm vorbei stieß. Mit den Armen rudernd versuchte er das Gleichgewicht zu halten. Olegg nutzte seine Unsicherheit und holte weit aus. Das Schwert zitterte in seiner Hand. Sein zerschlagenes Gesicht zeigte keine Emotion, keine Wut, keinen Triumph. Er setzte zum Stoß an. Und brach zusammen. Ein Pfeil ragte aus seinem Hinterkopf. Weitere schossen über ihn hinweg und prallten von der Lok ab. Jed ließ sich ins Gras fallen, erleichtert und erschrocken zugleich. Pfeile zischten an ihm vorbei, gaben ihm nicht die Gelegenheit darüber nachzudenken, was gerade eigentlich passiert war. Er robbte über den staubigen Boden und versuchte wieder in die Deckung der Lok zu gelangen. Hier vorne schien außer ihm niemand mehr zu sein. Die Sorge um den Tshingo brachte ihn schließlich dazu, den Kopf zu heben. Überrascht bemerkte Jed, dass am Kessel nur noch die Stricke hingen, mit denen man ihn gefesselt hatte. Der Heilige Mann selbst war verschwunden. * »Löscht das verdammte Feuer!« Pjootr trat nach zwei Passagieren, die zwischen den Waggons hockten und sich an ihre Sandeimer klammerten. Schwarze Rauchwolken stiegen auf und raubten ihm beinahe den Atem. Das Dach des Frachtwaggons brannte. Jedem war klar, was das bedeutete. Wenn die Flammen die Gas- und Ölvorräte erreichten, überlebte das keiner von ihnen. Die beiden Männer rafften sich auf und stiegen über die Leichen ihrer Vorgänger hinweg. Einer betete stumm, der andere hatte die Lippen zusammengekniffen. Pjootr wartete
nicht, bis sie die Leiter empor geklettert waren, sondern wandte sich an die Bogenschützen, die neben ihm knieten. »Erschießt sie, wenn sie abhauen wollen.« Wie ein Feldherr ging er am Zug entlang, während Pfeile sich rechts und links von ihm ins Holz bohrten. Die brennenden schlug er mit seinem Schwert ab, die anderen ließ er stecken. Verdammte Wilde, dachte er. Aus der dritten Klasse lebte kaum noch jemand. Die Menschen waren in Panik aus den offenen Wagen geflüchtet, direkt in die Arme der Angreifer. Pjootr sah ihre Leichen im brennenden Gras liegen. Rauch zog über sie hinweg und verhüllte ihre Körper. Yakks galoppierten verängstigt zwischen ihnen hindurch, Verletzte schrien ihren Schmerz über die Steppe. Und immer noch tobte der Kampf. Sie kamen in Wellen. Das Fauchen ihrer Konjuus kündigte sie an wie eine Fanfare. Pjootrs Leute warfen ihre Angriffe zurück, aber es wurde mit jedem Mal schwerer. Sie konzentrierten sich auf den Frachtwaggon, als wüssten sie genau, was ein Feuer dort anrichten würde. Um sie aufzuhalten, mussten sich seine Wachen ins Freie wagen und die Sicherheit des Zugs aufgeben. Fast ein Dutzend waren bereits tot. Ihre Waffen hielten jetzt Passagiere. »Vater!« Sergee beugte sich aus dem Fenster, als er ihn sah. »Sie kommen wieder! Geh in Deckung.« Pjootr hörte das Fauchen im gleichen Moment. Instinktiv ließ er sein Schwert fallen und griff nach dem Speer, der in der Leiche eines Tshingos steckte. Blut machte ihn glitschig, also wischte er das Holz an seinem Bauch ab. Dann sah er sie, die fauchenden, galoppierenden Bestien. Ihre Mäuler waren aufgerissen, ihre Zungen hingen über kräftige Kiefer und spitze Reißzähne. Die Menschen, die ohne Sattel auf ihrem Rücken saßen, schienen mit ihnen verwachsen zu sein, so eng schmiegten sie sich an die Tiere. Sie hielten Bogen
in den Händen mit langen brennenden Pfeilen. Die meisten Reiter waren nackt, nur wenige trugen Kleidung. »Schießt!« Sergees gebrulltem Befehl folgte das surrende Geräusch der Pfeile, die von Bogensehnen schnellten. Brandpfeile flogen ihnen entgegen, und für einen Augenblick glaubte Pjootr, sie mussten sich in der Luft treffen und herabstürzen. Aber nichts dergleichen geschah. Die eine Hälfte prasselte auf die Reiter nieder und riss sie von den Konjuus, die andere Hälfte bohrte sich in den Zug. Ein Mann schlug dicht neben Pjootr zu Boden. Zwei Pfeile steckten in seiner Brust. Er lebte noch, aber sein Gesicht war bereits grau. Pjootr wandte sich ab und riss den Speer hoch, als ein Konjuu nach ihm schnappte. Ohne zu zögern stieß er zu, bohrte die Metallspitze tief in das Maul des reiterlosen Tiers. Es schrie wie ein Mensch. Blut spritzte über seinen Hals, seine Vorderläufe zitterten. Die gelben Augen waren weit aufgerissen in Schmerz und Angst. Pjootr legte seine ganze Körperkraft in den zweiten Stoß und stieß die Spitze durch die Schädeldecke hindurch. Das Tier brach zusammen. »So macht man das!«, rief er seinen Leuten an den Fenstern zu. Sie nickten mit grimmigen Gesichtern. Pjootr ließ den Speer los, als er das Donnern der einzigen Schusswaffe im Zug hörte, und sah sich suchend um. Die wenigen Reiter, die durchgebrochen waren, wurden bereits zurückgeschlagen. Die Speerwerfer auf dem Dach sorgten dafür. Er zuckte zusammen, als er zum Frachtwaggon sah. Die Tür war geöffnet und die Gefangenen standen auf der Plattform. Sie trugen keine Ketten, nur die Kleidung, in der man sie gefunden hatte. »Bogenschützen!«, schrie er. »Die Gefangenen!« Die Männer traten aus ihrer Deckung und legten Pfeile auf die Sehnen. Einige Tshingii sprangen bereits vom Zug. Sie
blieben stehen und sahen sich ohne Eile um, als wären sie unter ihresgleichen, nicht unter Feinden. Knirschend wurden die Bogen gespannt. Die Schützen legten an, zogen die Sehnen zurück. Pjootr sah, wie Jed aus der Tür des Frachtwaggons trat. Er schlug mit einer Decke nach den Flammen. Dieses Mal bist du zu weit gegangen, dachte er. »Passt auf, dass ihr ihn nicht trefft, nur die Wilden!« Die Finger der Bogenschützen entspannten sich. Im gleichen Moment erschien Bohdan im Türrahmen. Neben ihm ging ein letzter Gefangener, dem er gerade die Ketten abnahm. »Wartet!« Die Schützen rissen die Bogen nach unten. Zwei Pfeile ließen sich nicht mehr halten, bohrten sich in den Boden. Auf den Hügeln fauchten die Konjuus, kündigten die nächste Welle an. Pjootr fluchte. Er hatte nicht die Zeit, Bohdan zu fragen, was er vorhatte. Seine Befehle feuerten die Wachen an, während er aus den Augenwinkeln sah, wie sein toter Sohn am Tender vorbeigetragen wurde und sich ein nackter Mann im Gras aufrichtete. * »Wenn du Unrecht hast, bringt mein Vater mich um.« Bohdan warf die Ketten zurück in den Frachtwaggon und griff nach einem Eimer Wasser, den ihm ein Passagier reichte. Jed hob die Schultern. »Wenn ich ... hm, Unrecht habe, wird er das nicht mehr müssen.« Er sprang in das niedergetretene glimmende Gras. Das Feuer schien so weit unter Kontrolle zu sein, zumindest bis zum nächsten Angriff. Er spürte eine Hand auf seiner Schulter und drehte sich um. »Sieh«, sagte Vytootas. Sein ausgestreckter Finger zeigte auf den Heiligen Mann, der seine Kleidung abgelegt hatte und jetzt
nackt an dem Zug vorbeiging. Eine leichte Brise war aufgekommen und wirbelte den Rauch um seinen Körper. Er bewegte sich geschmeidig und mit Würde. Niemand sagte etwas, niemand versuchte ihn aufzuhalten. Die Bogenschützen warteten auf einen Befehl, der nicht kam, die Speerwerfer warteten auf die Bogenschützen. Schließlich blieb der Heilige Mann stehen und hob die Arme. In seinem Blick lag etwas Mystisches. »Was macht er?«, fragte Jed leise. Vytootas schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Auf den Hügeln tauchten die ersten Konjuus auf. Ihre dunklen Körper bewegten sich mit der gleichen Geschmeidigkeit, die er gerade bei dem Heiligen Mann gesehen hatte. Die Tshingiis auf ihren Rücken wirkten angespannt. Langsam ritten sie auf die einsame Gestalt im Gras zu. Immer neue Konjuus tauchten hinter ihnen auf. Jed begann sie zu zählen, gab jedoch rasch auf. Es waren Dutzende, vielleicht sogar mehr als hundert. »Ich habe noch nie so viele gesehen«, sagte Bohdan hinter ihm. »Die Stämme müssen sich zusammengeschlossen haben.« Die Reiter erreichten den Heiligen Mann und begannen einen Kreis zu bilden. Sie stoppten nicht, sondern bewegten sich weiter, als sei er die Nabe eines sich drehenden Rads. Nur ein Reiter brach aus dem Kreis aus und näherte sich ihm. »Wer ist das?« Selbst auf die Entfernung sah Jed, dass er noch sehr jung war und trotzdem mehr Perlen im Bart trug als manch älterer Mann. »Der Bruder des ersten Konjuu und der Sohn des Sterns, der uns führt. Er wird entscheiden, was zu geschehen hat.« Die beiden standen sich gegenüber. Ab und zu wehten Unterhaltungsfetzen herüber, aber nie genug, dass Jed hören konnte, worum es ging. Das Rauschen des Grases, das Knistern des erkaltenden Holzes und das Schnauben der Konjuus wischten die Worte hinweg.
Nach einer Weile – er schätzte, dass vielleicht eine halbe Stunde vergangen war – löste der Kreis sich ebenso spontan auf, wie er sich gebildet hatte. Die Reiter sahen sich nicht um, als sie beinahe behäbig hinter den Hügeln verschwanden. Nur der Sohn des Sterns verharrte noch einem Moment, bevor er sich den anderen anschloss. Zurück blieb nur der Heilige Mann. Er drehte sich zum Zug, verschränkte die Arme vor der Brust und sah Jed an. »Wird der Herr des Zugs jetzt mit uns reden?«, fragte Vytootas. Jeds Blick suchte und fand Pjootr, der zusammen mit Bohdan und Sergee neben seinem toten Sohn stand. Er hielt den Kopf gesenkt, und seine Schultern hingen nach unten, als habe er jede Kampfkraft verloren. »Ja«, sagte Jed nach einem Moment, »ich glaube, er wird jetzt mit euch reden.« * Sie standen sich gegenüber, die Herren des Zugs auf der einen Seite, die Tshingii auf der anderen. Eigentlich hatte man die Taverne für die Versorgung der Verletzten nutzen wollen, doch Sergee hatte die rund zwanzig Menschen auf die Abteile verteilt und den Raum von seinen Wachen absperren lassen. Niemand sollte die Verhandlungen stören. Jed spielte nervös mit dem Klettverschluss seiner Hosentaschen. Es hatte Stunden gedauert, bis sich die beiden Parteien darauf geeinigt hatten, wer sich in der Taverne aufhalten durfte und wer mit wem reden würde. Die Tshingii hatten Vytootas zu ihrem Verhandlungsführer erklärt und außer ihm und dem wieder angekleideten Heiligen Mann auf zwei weiteren Männern bestanden. Pjootr hatte darauf verzichtet, die Verhandlungen selbst zu führen. Das übernahm zu Jeds Erleichterung Bohdan. Er, Sergee, Pjootr und Ooleksander
bildeten die zweite Gruppe. Der Rest der Männer wartete draußen. »Du hast alles getan, was du tun konntest«, sagte Majela leise. »Es liegt jetzt in ihrer Hand, was sie daraus machen.« »Ich weiß. Ich wünschte nur, die ... nun, die Voraussetzungen wären besser.« Er sah aus dem Fenster, wo die Landschaft in der Abenddämmerung schneller als bisher vorbeizog. Der Verlust des Viehs und eines Großteils der dritten Klasse beschleunigte den Zug und sorgte dafür, dass die Feuer immer weiter hinter ihnen zurückblieben. Jed war sicher, dass die meisten Menschen, die aus den Wagen geflohen waren, noch lebten, aber Sergee hatte sich geweigert zu warten, und selbst Bohdan hatte nur den Kopf gesenkt und zugestimmt. Die Angst vor dem Feuer war größer als das Mitleid mit den Passagieren. Vytootas trat neben ihn. »Wir sind bereit«, sagte er, »aber bevor wir beginnen, möchte ich dich etwas fragen.« Er warf einen kurzen Blick auf Pjootr, der an der Theke lehnte und Voodka aus einer Flasche trank. »Ist es richtig, dass er einen Sohn verloren hat?« Jed nickte. »Ja, er wurde von einem Pfeil getötet.« Die genauen Umstände von Oleggs Tod würde er Pjootr irgendwann erklären müssen, aber nicht jetzt. »Dann möchte ich zuerst mit ihm reden, als ein Vater zu einem anderen.« Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist, wollte Jed antworten, aber Vytootas war bereits an die Theke getreten und winkte ihn heran. Pjootr starrte den Tshingii aus blutunterlaufenen Augen an. Er war noch nicht betrunken, aber auch längst nicht mehr nüchtern. Seit dem Morgen schien er um Jahre gealtert. Oleggs Tod hatte ihn stärker mitgenommen, als Jed erwartet hätte. Sergee, der an der Seite seines Vaters stand, legte drohend die Hand auf seinen Schwertknauf. »Er möchte nur etwas sagen«, beruhigte ihn Jed.
Vytootas steckte die Hände tief in die Taschen seiner Kutte. »Übersetze meine Worte. Als die Götter den erste Konjuu aus dem Staub der Sterne und dem Blut der Erde formten, vergaßen sie, ihm eine Gefährtin zu geben, und so zog er allein und traurig -« »Moment, lass mich das erst mal übersetzen.« Pjootr wirkte bereits nach dem ersten Halbsatz ungeduldig. »Warum erzählt er mir das?« Jed hob die Schultern und wandte sich an Vytootas. »Vielleicht solltest du die Geschichte etwas abkürzen.« »Das werde ich.« Seine Stimme hatte einen merkwürdigen Tonfall, der Jed aufhorchen ließ. Etwas stimmt nicht, dachte er, doch dann war es auch schon zu spät. Blitzschnell glitt Vytootas an ihm vorbei und zog gleichzeitig die Hände aus den Taschen. Weniger als einen Atemzug später presste er eine Klinge gegen Pjootrs Kehle und schrie: »Sag ihnen, sie sollen die Waffen fallen lassen oder ich bringe ihn um!« Jed übersetzte automatisch, war zu perplex, um zu reagieren. Er erkannte das Messer in Vytootas' Hand als das, mit dem er den Heiligen Mann befreit hatte. Hinter ihm polterten Schwerter, Messer und ein Driller zu Boden. Pjootr blinzelte, schien nicht zu begreifen, was gerade geschah. »Sie sollen sich an die Wand stellen!« »Bist du ... hast du ...« Jed fing sich. »Das ist doch völliger Wahnsinn. Ihr habt die Möglichkeit, endlich Frieden zu schließen. Das ist die größte Chance, die euer Volk seit Jahrhunderten hat. Wollt ihr das wirklich für einen so kurzsichtigen Sieg verschenken?« Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Heilige Mann sich bückte und den Driller aufhob. »Deine Naivität ist erschreckend, Jed«, sagte er in akzentfreiem Englisch.
* Lazarus Sie nennen es die Große Expedition von 2501. Dreißig Soldaten brechen in Panzern und Geländewagen auf, um den Ort zu finden, an dem einst der Komet einschlug. Das Serum gegen die Immunschwäche macht den Vorstoß ins Unbekannte möglich. Colonel Arthur Crow verabschiedet jeden von ihnen mit Handschlag, kündigt große Entdeckungen und gewaltige Neuerungen an. Eine Kapelle spielt America, the Beautiful. Die Melodie folgt ihnen aus den Bunkern heraus bis an die Stadtgrenze. Damals trägt er noch einen Namen und einen Rang, aber die sind längst vergessen. Er nennt es das Große Sterben von 2502. Kannibalen fallen über sie her, Steine, die aus dem Nichts geschleudert werden, brechen ihre Knochen, Wesen verwirren ihre Sinne und locken sie in den Tod. Und über allem kreisen die fliegenden Rochen, lautlos und unheimlich. Sechs Männer und zwei Frauen überleben das Massaker. Orientierungslos ziehen sie durch das Land. Sie haben keine Fahrzeuge mehr und keine Vorräte. Sie essen Beeren und die Reste von Kadavern, wenn die Lupas etwas übrig lassen. Als das Serum zur Neige geht, schließen sich sechs zusammen und töten die anderen beiden. Es ist Mord, aber sie nennen es natürliche Selektion. Er schläft nicht mehr, weil er Angst hat, als nächster selektiert zu werden, doch das geschieht nicht. Es ist, als hätten die Morde etwas in ihnen zerstört und ihnen die Kraft zum Kampf genommen. Also ziehen sie sich zurück. Sie finden eine verlassene Höhle, in der farbige Stricke voller Knoten von der Decke hängen. Es wirkt wie ein guter Ort zum Sterben. Sie klammern sich aneinander, als die Schmerzen beginnen. Anfangs reden sie noch und versuchen sich die Angst zu
nehmen, doch irgendwann versagen ihre Stimmen. Ihr Sterben ist stumm. Er spürt, wie die Körper um ihn herum erkalten und die Hitze in ihm mildern. In seinen Träumen ist er tot und eins mit der endlosen Ebene. Sein Blut ist der Regen, der auf das Gras fällt, seine Knochen der Boden, der ihn aufnimmt. Sein Geist rast mit lodernden Flammen darüber hinweg. Er stirbt in der Erkenntnis, dass nur das Land ewig ist. Und wird geboren. Es dauert Tage, bis die Reiter ihn finden, nackt und eingeklemmt zwischen verwesenden Körpern. Später, als er ihre Sprache gelernt hat, sagt er ihnen, er habe sie gefunden und mit ihnen seine Bestimmung. Er lernt von den Tieren, die sie verehren, und wirft die Fesseln des alten Lebens ab. Es gibt weder gut noch böse, nur stark und schwach. Er starrt in die eisigen blauen Augen des ersten Konjuus, bis dessen Blick seine Menschlichkeit verbrennt. Das Mitgefühl eines Tiers ist der Tod. Im Gegensatz zu der Herde, mit der er nun reitet, strebt er nicht an, eins mit dem Geist des ersten Konjuus zu werden und über die ewige Ebene zu ziehen. Er will mehr, und er weiß, dass er der Herde mehr geben kann. Sie beginnen ihn einen Heiligen Mann zu nennen, weil er Dinge weiß und im Schlaf in fremden Zungen spricht. Er zeugt einen Sohn mit einer blinden Seherin, so wie man es von ihm erwartet. Der Junge wird in der gleichen Nacht wie ein Konjuu geboren. Das ist ein gutes Omen, und er steigt im Ansehen der Herde. Er lehrt die Krieger Disziplin und lässt sie die Karawanen angreifen, die immer wieder durch die Ebene ziehen. Sie sind stets siegreich und verehren ihn als den Stern, dem sie folgen. In manchen Nächten hört er den Zug vorbeiziehen und träumt davon, ihn zu zerstören. Er weiß von den Bunkern in der steinernen Stadt und von
ihren Bewohnern. Sie sind schwach, wie er es einst war, und herrschen doch über so viel mehr. Wie wundervoll wäre es, ihre Mauern und Häuser zu zerschmettern, bis nichts mehr dort ist außer dem gelben Gras. Eines Tages wird ihm das gelingen, doch er hat keine Eile, denn sein Leben ist ewig. Sein Name ist Lazarus, der Auferstandene. Der Tod kann ihn nicht halten, denn er ist der Regen, der Boden und das Feuer. Er ist das unsterbliche Land. * »... doch dann taucht ihr plötzlich auf.« Lazarus warf den Driller achtlos auf die Theke und lehnte sich an einen Tisch. »In euren Standard-Armeestiefeln, den Standard-Armeehosen und der Standard-Armeejacke. Ich konnte es kaum glauben, als ich euch Englisch reden hörte. Seid ihr der Überrest einer zweiten Expedition?« Jed nickte und reichte eine der schweren Gasflaschen an den nächsten Mann in der Kette. »Ja.« Es war das erste Wort, das jemand seit Beginn von Lazarus' Monolog geäußert hatte. Er war offensichtlich ein Mann, der den Klang seiner eigenen Stimme schätzte. Und vollkommen größenwahnsinnig ist, fügte Jed in Gedanken hinzu und nahm die nächste Gasflasche von Majela an. Die Tshingii hatten den Wachen die Waffen abgenommen, die meisten Passagiere in ihre Abteile gesperrt und die Türen mit Brettern vernagelt. Zwei Männer kontrollierten die Lok, die anderen hatten sich im Frachtraum und in der Taverne verteilt. Sie hatten zumindest den Anstand, zu Boden zu sehen, wenn Jeds Blick sie traf. Wer nicht in einem Abteil festsaß, half dabei, Gasflaschen und Ölfässer auf den Tender zu schaffen. Weshalb sie das
taten, hatte Lazarus bisher für sich behalten, aber er würde sicherlich früher oder später zu diesem Punkt seines Monologs gelangen. »Ich hätte mir denken können, dass Crow nach dem ersten Fehlschlag nicht aufgibt«, fuhr er fort. »Was wurde denn über uns gesagt?« »In Washington spricht man von der ... äh, verlorenen Expedition. Niemand glaubt, dass sie tatsächlich bis zum ... hm, Kratersee gekommen ist. Die meisten Theorien gehen von einem Wintereinbruch in Alaska aus oder einem Sturm über dem Meer.« Das Thema schien Lazarus bereits zu langweilen. »Na ja, also zurück zu uns. Nach meiner Gefangennahme schickte die Herde eine Gruppe von Kriegern, die mich befreien sollte. Das schlug fehl, doch in diesem Fehlschlag lag die Saat meines Triumphs. Und für den trägst ganz allein du die Verantwortung.« Er sah Jed an und lächelte. »Wir mussten nur einen Mann töten, und schon warst du auf unserer Seite. Du wolltest uns so sehr helfen, nicht wahr? Deine Entrüstung, deine Neugier, dein Glaube an – wie auch immer du es nennen willst – das Gute, die Unschuld? Wie kannst du in der Welt leben und daran glauben?« »Weil ich daran glauben muss.« Jed antwortete ehrlich, ohne auf den arroganten Tonfall einzugehen. Lazarus wirkte überrascht und für einen Moment beinahe neidisch, dann schüttelte er den Kopf. »Sieh, wohin uns dieser Glaube gebracht hat. Du wirst diese Nacht nicht überleben und ich werde meine Feinde vernichten.« Sein Blick glitt zum Fenster, als könne er die Dunkelheit die dahinter lag, durchdringen. »In ein paar Stunden erreicht der Zug Kiew. Hast du eine ungefähre Vorstellung von der Sprengkraft, die eine Lokomotive entwickelt, wenn sie ungebremst und voll mit Gas auf eine Bunkertür prallt?« Es war Majela, die antwortete. »Du würdest alles vernichten.
Die Bunkeranlage, die Menschen darin, die Häuserblocks an der Oberfläche.« Sie stellte die Gasflasche auf, die sie mühsam hinter sich hergezogen hatte. »Hasst du sie so, dass du dafür in den Tod gehen würdest?« Lazarus lachte. »Ich? Nein, aber diese Krieger hier, die mir ihr Leben geweiht haben. Seht ihr die Tätowierungen? Sie sind ein Zeichen dafür, dass sie mir gehören und jedem meiner Befehle folgen werden. Ihr versteht das nicht, oder? Für dieses Volk bin ich Gandhi, Lawrence von Arabien, Pol Pot – ich führe sie aus der Unterdrückung in ein neues Leben.« »Indem du sie umbringst?« Jed nahm eine Gasflasche entgegen und trug sie zur Tür. »Nur ein paar von ihnen. Sie hätten mich heute Mittag schließlich auch beinahe umgebracht, als sie auf die Idee kamen, mich von meiner Schmach befreien zu müssen. Zum Glück hat mein Sohn verstanden, dass ich mit ihm reden wollte. Er ist impulsiv, aber klug.« Sein Sohn? Majelas überraschter Blick ging zu Jed, und es dauerte einen Moment, bis auch er die Tragweite dieser Enthüllung begriff. Wenn Lazarus einen Sohn hatte zeugen können, war die Unfruchtbarkeit nicht von Dauer. Überlebte man das Absetzen des Serums, kehrte auch die Zeugungsfähigkeit zurück. Leider würde diese Erkenntnis nicht von Dauer sein. Vermutlich nahmen sie sie heute noch mit in den Tod ... Lazarus trank einen Schluck Bier und zeigte auf seine Krieger, die aufmerksam die Gefangenen beobachteten. Pjootr und seine Söhne wirkten angespannt, warteten sichtlich auf die Gelegenheit zum Kampf. Alles was sie brauchten, war eine Ablenkung. »Nein«, sagte Lazarus, »ich werde nicht sterben, im Gegensatz zu allen anderen in diesem Zug. Bevor es so weit ist, gehe ich in den Frachtwaggon, den meine Krieger dann
abkoppeln werden. Sie bleiben an Bord, damit niemand auf dumme Ideen kommt. Ihr seht also, es ist alles gut durchdacht.« Das war der Moment, in dem Jed Alexii hinter der Theke sah. Der Junge hockte zwischen den Krügen und nickte ihm zu. Seine Hand zeigte auf den Driller. * Andriyyi knetete den Beutel zwischen seinen Fingern. Ihm war übel und seine Knie zitterten vor Angst. Wie Geister waren die Tshingii auf einmal aufgetaucht. Einer hatte seinen Maschinisten erstochen, der andere drückte immer noch eine Schwertspitze in seinen Rücken. Er wagte kaum zu atmen. Der Mann, der den Maschinisten getötet hatte, schaufelte ununterbrochen Kohle ins Feuer. Andriyyi hatte versucht ihm zu sagen, er solle damit aufhören, aber das hatte ihm nur einen Schlag in den Magen eingebracht. Seitdem schwieg er. Sorgfältig drosselte er die Geschwindigkeit des Zugs. Es war ungewohnt, mit einer so leichten Ladung zurückzufahren, deshalb war er zu schnell geworden. Das war gefährlich auf dieser Strecke. Hier begann ein kurvenreiches, schwieriges Teilstück. Der Tshingo, der neben ihm Kohle schaufelte, sah auf und sagte etwas. Andriyyi hob die Schultern. »Ich verstehe dich nicht.« Er fühlte, wie sich der Druck der Schwertspitze verstärkte. Anscheinend gefiel den beiden nicht, dass er langsamer fuhr. »Wir waren zu schnell.« Er untermalte seine Erklärung mit Gesten. »Ich musste bremsen.« Ein Tritt in die Kniekehlen schleuderte Andriyyi gegen die Instrumente. Er schlug mit der Stirn gegen Metall und war einen Augenblick lang benommen. Ein Tshingo zog ihn auf die Füße und schrie etwas. Die tiefe Stimme hallte in Andriyyis
Kopf nach. »Schon gut.« Er schob den Hebel nur ein wenig nach vorne, um den Eindruck zu erwecken, dass er gehorchte. Der Tshingo grunzte, als er die Beschleunigung spürte, legte seine eigene Hand darauf und schob den Hebel bis zum Anschlag vor. »Nein!« Andriyyi schüttelte den Kopf. »Zu schnell, viel zu schnell!« Der Fahrtwind fauchte durch den Führerstand, riss an ihren Bärten und wirbelte ihre Haare durcheinander. Sie schienen das zu genießen, verstanden offensichtlich nicht die Gefahr, in die sie alle an Bord brachten. Andriyyi wischte sich den Angstschweiß von der Stirn. Die beiden Tshingii grinsten sich an. * Vytootas Es beschämt ihn zu lügen, doch für Lazarus tut er auch das. Er hat ihm sein Leben geweiht und trägt die Zeichen seiner Überzeugung mit Stolz. Der Erfolg des Plans beglückt ihn, er wünscht sich nur, sie hätten ihn durch einen ehrlichen Kampf erzielt und nicht durch Hinterlist. Er denkt an die Nacht, in der sie Lazarus befreien wollten. Der Steppenbrand, vor dem sein Volk seit Wochen flieht, war wieder näher gekommen, bedrohte jetzt auch den Zug und alle, die darin reisten. Vielleicht waren sie deshalb nervös, als sie die Umzäunung in jener Nacht im Fort verließen, vielleicht trat Ijuugo deshalb auf den Arm der Frau. Vielleicht war es aber auch Bestimmung, wie Lazarus ihnen zuflüsterte, als sie enttäuscht in seinen Käfig gebracht wurden. Bestimmung. Wenn Vytootas ehrlich ist, muss er sich eingestehen, dass er nicht an diesen Traum glaubte, von dem Lazarus immer sprach. Wie sollten sie eine ganze Stadt
zerstören, wenn es ihnen noch nicht einmal gelang, die Herren des Zugs zu besiegen? Doch in dieser Nacht im Käfig offenbarte Lazarus, dass der erste Konjuu wirklich sein Blick auf ihn richtet und sein Tun lenkt. Wie aus dem Nichts erschuf er seinen Plan, der die Niederlage in einen Sieg zu wandeln vermochte. Er machte aus den wilden Kriegern eine Delegation des Friedens und wies sie an, so zu sein wie die alten Männer, die kein Blut mehr in sich haben und kein Herz für den Kampf. Einen einzigen Mann sollten sie täuschen, um die Ketten zu verlieren und Zugang zu den Herren des Zugs zu bekommen. Lazarus hatte ihn beobachtet und seine Schwäche erkannt: die Neigung, sich einzusetzen für die vermeintlich Schwachen, zu Unrecht Gefangenen. Sie mussten ihm nur einen Grund liefern. Ijuugo bestand darauf, sein eigenes Leben zu opfern aus Reue für die missglückte Befreiung. Lazarus nahm sein Opfer an, und Jed, für den sie alle ihre Rollen spielten, schob die Schuld für diesen Tod den Herren des Zugs zu, so wie Lazarus prophezeit hatte. Er half ihnen und stand auf ihrer Seite, ohne zu verstehen, was diese Seite bedeutete. Diese eine Nacht im Käfig hat dafür gesorgt. Vytootas lächelt, wenn er daran denkt, dass sie den größten Vorteil des Feindes, den Zug selbst, zur Waffe gemacht haben. Sein Leben wird in dieser Nacht enden, und er wird eingehen in den ersten Konjuu als Held seines Volkes. Dann wird er über die ewige Ebene ziehen und sein Leben als Mensch wird nur eine verwehende Erinnerung sein. Und er wird die Lügen und den Betrug vergessen, die ihn dort hinbrachten. Das hofft er mit aller Kraft. *
Die letzten Gasflaschen waren fast zwei Meter lang und so schwer, dass man sie nicht allein tragen konnte. Majela ließ sich zurückfallen, um neben Jed zu gehen. Der Tshingo, der sie bewachte, ließ sie gewähren. »Wir müssen etwas tun«, flüsterte sie. »Sergee und die anderen sind bereit.« »Alexii ist hinter der Theke«, hörte sie Jed ebenso leise antworten. »Wenn wir Lazarus ablenken, kommt er an den Driller heran.« Sie griffen nach der Gasflasche und legten sie zur Seite. Majela sah sich suchend im Frachtwaggon um. Stoffballen, Kisten, ein paar dünne Eisenstangen, Felle und Säcke voller Korn, das war alles, was sie sah. Es schien nichts zu geben, mit dem man die Wachen ablenken konnte. Ein paar Dynamitstangen wären ganz gut, dachte sie, oder irgendwas, das Lärm macht und gefährlich ist. Die Kanten der Gasflasche schnitten in ihre Finger, als sie vorsichtig damit über die Plattform stiegen. Ooleksander und Bohdan standen an der Tür zur ersten Klasse, um sie in Empfang zu nehmen. Gleich drei Tshingii bewachten sie, zwei hinter und einer neben ihnen. Majela empfand es fast schon als Kränkung, dass man ihr und Jed nur eine Wache zugeteilt hatte. Sie hoffte, dass Lazarus das bereuen würde. »Sei vorsichtig«, sagte Jed, als er ihr half, die Flasche hochzustemmen, »nicht auszudenken, was passiert, wenn sie ... hm, zwischen die Räder rutscht und explodiert.« »Ich pass schon ...« Sie brach ab, hätte sich beinahe mit der flachen Hand vor die Stirn geschlagen. Die Lösung des Problems war nicht nur offensichtlich, sie hielt sie sogar schon in Händen. »Sag Ooleksander und Bohdan, sie sollen von der Tür weggehen.« Jed sah sie stirnrunzelnd an, übersetzte aber, ohne nachzufragen. Die beiden Männer nahmen die Gasflaschen an
und nickten. In ihren Gesichtern spiegelte sich ein Hoffnungsschimmer. Majela sah zurück zum Frachtraum. »Wir lassen die nächste Gasflasche fallen und zwar mit dem Ventil zu uns. Du sagst dem Tshingo, die Kanten seien zu scharf, und nimmst eine andere. Wenn ich ›Jetzt‹ sage, lässt du los.« »Warum?« Er stieg auf die Plattform und drehte sich um. »Mach es einfach.« »Okay ...« Es war leicht, die Gasflasche fallen zu lassen, und Majela atmete erleichtert auf, als sie nicht weiter rollte, sondern mit der Spitze zu ihr liegen blieb. Sie hörte, wie Jed etwas sagte und der Tshingo zur Antwort grunzte, aber sie wagte es nicht, ihn anzusehen. Sie befürchtete, dass er den Plan an ihrem Gesichtsausdruck ablesen konnte. Die zweite Gasflasche erschien ihr wesentlich schwerer als die erste. Jed ging fast in die Knie, als sie das Gewicht auf ihn verlagerte, um die Flasche zu drehen. Die Kante hing über dem Ventil der anderen. Der Tshingo sagte etwas, wunderte sich vielleicht darüber, dass die Arbeit so langsam ging. »Jetzt!« Jed ließ die Flasche fallen. Die Kante fiel auf das Ventil hinab. Für einen Sekundenbruchteil befürchtete Majela, sie würde auf den Boden schlagen, aber sie traf doch. Ein Knall, als das Ventilstück zur Gänze abgeschlagen wurde, ein lautes hohes Zischen – und die Gasflasche schoss, durch den Rückstoß angetrieben, wie ein Torpedo auf die erste Klasse zu. Majela glaubte den Schock in den Augen des Tshingos zu sehen, der an der Tür stand. Dann verschwand sein Kopf in einem Regen aus Blut und Knochen. »Großer Gott ...«, ächzte Jed hinter ihr. Wie sein Wächter starrte er auf die Schneise der Zerstörung, die das Geschoss in die Taverne schlug. Erst als Kampflärm einsetzte, überwand er
sein Entsetzen, griff nach einer Eisenstange und schlug sie dem Tshingo in den Magen. Der krümmte sich zusammen, kam aber sofort wieder hoch. Majela griff nach einer anderen Stange, aber Jed schüttelte den Kopf. »Ich komme klar. Hol den Driller!« Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie sich umdrehte und auf die nächste Plattform sprang. Er hatte Recht. Ohne den Driller hatten sie gegen zehn – neun, korrigierte sie mit einem Blick auf die kopflose Leiche – kaum eine Chance. In der Taverne herrschte Chaos. Tshingii und Wachen schlugen mit Schwertern und Fäusten aufeinander ein, während verängstigte Passagiere zwischen ihnen hindurchliefen und versuchten, nicht getroffen zu werden. Ein Tshingo entdeckte sie und hob sein Schwert. Majela duckte sich unter seinem Schlag hindurch, nutzte den eigenen Schwung zur Drehung und stieß ihm die Eisenstange in die Seite. Mit einem Schrei brach er in die Knie. Majela hob die Stange zum zweiten Schlag, aber er hebelte ihr die Beine unter dem Körper weg. Sie schlug so hart auf den Brettern auf, dass ihr die Stange aus der Hand geprellt wurde. Der Tshingo drehte sich und griff nach seinem Schwert. Sie trat ihm gegen den Kopf. Seine Augen wurden glasig, sein Körper entspannte sich. Am Rande ihres Gesichtsfelds nahm sie eine Bewegung wahr, holte aus und bremste ihren Schlag gerade noch rechtzeitig, als sie Alexii erkannte. Auf allen Vieren musste er an den Kämpfern vorbei gekrochen sein. »Ich habe er«, sagte er in holprigem Englisch und drückte ihr den Driller in die Hand. »Danke.« Sie kam hoch, war plötzlich umgeben von Passagieren, die versuchten, durch die offene Tür zu fliehen. Ihr Blick suchte Lazarus und fand ihn neben der Theke. Seine Männer hatten einen Halbkreis gebildet und verteidigten ihn.
Majela fluchte. Es gab kein freies Schussfeld. Zu viele Menschen bewegten sich zwischen ihr und ihm. Und dann tauchte plötzlich Jed in der Tür auf. Die Entfernung zwischen ihm und Lazarus betrug nicht mal einen Meter. Sie traf ihre Entscheidung. »Jed!«, schrie sie und schleuderte den Driller. * »Jed!« Er fuhr herum, als Majela seinen Namen schrie. Etwas flog ihm entgegen, und er fing es ungeschickt mit der rechten Hand, um nicht die Eisenstange loslassen zu müssen. Erst als sich seine Finger um den Griff schlossen, bemerkte er, dass es der Driller war. Aus den Augenwinkeln sah er Lazarus neben den Tshingii stehen. Jed hob die Hand und richtete die Waffe auf ihn. Sein Finger krümmte sich um den Abzug, zog ihn jedoch nicht durch. Die Welt schien zu verschwinden, bis nur noch er und Lazarus übrig waren. Es wurde still. Er hörte seinen Herzschlag, spürte das kühle Metall in seiner Hand und den leichten Windhauch, der den Schweiß in seinem Nacken trocknete. Lazarus sah ihn an. In seinen Augen lag keine Angst, keine Reue, nur Verachtung und Hass. Seine Mundwinkel zuckten, als unterdrücke er ein Lachen, und Jed wusste, wem das Lachen gelten würde. Ihm, denn Lazarus sah, was er selbst längst erkannt hatte und nur noch hinauszögerte. Er würde nicht abdrücken. Er konnte es einfach nicht. Ich bin ein nutzloser Idiot, dachte Jed Stuart. Der Moment endete mit einem geworfenen Messer und einer Explosion aus Schmerz. Jed schrie, starrte entsetzt auf die
Klinge, die seine Hand durchbohrt hatte. Der Driller schlug auf die Bretter, seine Beine gaben unter ihm nach. Jemand griff nach seinem Arm und zog das Messer aus der Wunde. Eine Welle aus Schmerz und Übelkeit krümmte ihn zusammen. Er rang nach Atem, legte seine ganze Kraft in den Versuch, nicht zu schreien. Verschwommen sah er, wie Lazarus den Driller aufhob. »Du glaubst, dass das Schmerz ist?« Seine Stimme drang wie aus weiter Ferne zu ihm. Jed hatte noch nie etwas so Kaltes gehört. »Ich zeige dir wahren Schmerz.« Er glaubte, der Schuss würde ihn zerreißen, doch es war der Schrei, der ihn zerriss. Majelas Schrei. * Majela Er hält sie fest, und sie spürt seine Tränen auf ihrem Gesicht. Sie hört den Klang seiner Stimme, ohne auf die Worte zu achten. Ihre Finger bewegen sich über ihr Hemd, kriechen wie aus eigener Kraft daran entlang. Sie schluckt und gerät in Panik, als sie Blut schmeckt. So viel Blut. Ihr Hemd ist voll davon, und sie fühlt, wie es sie langsam erstickt. Seine Stimme beruhigt sie, und das Zucken ihres Körpers lässt nach. Sie hofft, dass er nicht aufhört zu reden, bis ... Daran will sie nicht denken, nur an die Bewegung ihrer Finger. Sie fühlt den Serumsbeutel und zieht daran. Es ist fast keine Kraft mehr in ihrem Arm. Alles ist schwer: ihn herauszunehmen und zu verschließen, ihre Hand darum zu legen und ihn in die Außentasche seiner Hose zu schieben. Er bemerkt nichts davon, und so muss sie keine Zeit mit Reden verschwenden.
Es gibt so viel, was sie ihm sagen will. Sie will ihm sagen, dass er keine Schuld trägt, dass sie nichts bereut, und sie will ihm sagen, dass sie ihn liebt, weil sie weiß, dass er das nie geglaubt hat. Schließlich sagt sie nichts von alledem. Nur ein Wort flüstert sie, das einzige, zu dem sie noch Kraft findet, das einzige, das wirklich wichtig ist. »Überlebe.« Sie atmet nicht mehr. Es ist warm unter der Decke in ihrem Abteil. Jed liegt neben ihr und sieht sie an. Er lächelt. Was vermisst du?, fragt er. Sie schließt die Augen. Dich. * »Bitte!« Andriyyi gestikulierte, während er sich verzweifelt am Führerstand festhielt. »Wir müssen langsamer werden!« Die Tshingii lachten. Der Fahrtwind trieb ihnen die Tränen in die Augen. Der Zug sprang in den Schienen, aber sie hatten keine Angst, bis die Kurve heran war und sie starben. In ihrem Abteil hielten sie sich in den Armen: Ayyesha Mihaila Luuba, Herrin der Khereevotets, Gebieterin der diamantenen Seen und Tochter der Zeit und Moksaran Veerolys, der Erste Priester des Hohen Sterns, Bewahrer der Nacht. Sie weinte über den Tod der vielen Menschen, er lächelte über seinen eigenen. Miikayla betete, als der Zug aus den Schienen sprang und das Ungeheuer, von dem sie immer gewusst hatte, dass es in der Lok lebt, zu brüllen begann. Sie überlebte lange genug, um den Namen ihres Mannes auszusprechen und an die Gesichter ihrer Kinder zu denken. Dann fegte der Tod sie hinweg. Sergee hatte nie daran gezweifelt, einmal im Zug zu sterben. Er hatte die Arme um den zitternden, weinenden Alexii gelegt
und hielt ihn fest. Ruhig sah er hinaus in die Dunkelheit, wo die Funken der Räder wie Leuchtkäfer vorbeiwehten. Seine Frau hatte immer gesagt, Leuchtkäfer seien die Augen der Götter. Er hoffte, dass sie in dieser Nacht bei ihm waren. Wenn man fast sein ganzes Leben auf dem Zug verbracht hatte, kannte man jedes Geräusch, doch das, was Bohdan hörte, als die Lok zu entgleisen begann, jagte einen Schauer über ihn. Es war das Kreischen, Stöhnen und Schreien eines sterbendes Tieres, und in seiner Angst spürte er kaum, wie Ooleksander sich an ihn presste und ihn küsste. Das Tier brüllte und seine Welt verging. Als die Menschen um ihn herum aus dem Zug zu springen begannen, richtete sich auch Pjootr auf. Er wusste, dass die Lok entgleiste, dass das Lebenswerk von Generationen in dieser Nacht ein Ende finden würde. Vielleicht starben seine Söhne, vielleicht starb jeder in diesen Waggons, aber er war noch nicht so weit. Er hatte einen Traum. Und so griff er nach Jed, zog ihn weg von der Toten und sprang mit ihm hinaus in eine Dunkelheit, die für ihn niemals enden sollte. * Jed Er erwacht in der Hölle. Ein blutroter Himmel ist über ihm, er ist umgeben von Feuer, Hitze und Rauch. Zwei Mal verliert er das Bewusstsein, bevor es ihm gelingt, die Schmerzen niederzukämpfen und aufzustehen. Seine Rippen sind gebrochen. Blut tropft von seiner Hand und verdampft auf glühendem, verformten Metall. Er weiß, dass ihn der tote Pjootr gerettet hat, als er ihn mit sich zog, aber er empfindet nichts. Es war ein Zufall, dass die Leibesfülle des Zugbesitzers seinen Aufprall dämpfte. Pjootr wurde zerschmettert, er selbst nicht.
Wie ein Geist zieht er allein durch das Trümmerfeld, vorbei an verbrannten Leichen, aufgeplatzten Koffern und glimmender Kleidung. Er sucht sein Abteil, Pieroos Schwert, sein Tagebuch. Er sucht sie. Er fühlt ihr Blut auf seinem Hemd, schwer und nass. Er hofft sie zu finden, um ihr sagen zu können, dass ... was eigentlich? Er kann sich nicht mehr erinnern. Seine Gedanken verschwimmen, verlieren sich zwischen dem Feuer, dem Schmerz und der Schuld. Als er die Stimme hört, glaubt er, den Verstand verloren zu haben. Sie ruft ihn, zuerst krächzend, dann lauter, fordernder. Er ignoriert sie, aber sie hört nicht auf, sticht ihn wie mit Nadeln. Irgendwann folgt er ihr und findet Lazarus. Er liegt am Boden, aufgespießt von einem Stück schwarzen Metalls. Sein Gesicht ist voller Blut, aber er lacht und sagt, er würde niemals sterben, denn er sei so unendlich wie das Land. Jed geht neben ihm in die Knie. Er hält seine Kehle fest und drückt zu, bis Lazarus' Blick bricht und seine Zunge anschwillt. Es ist erstaunlich leicht, einen Mann mit einer Hand zu erwürgen. Er weiß nicht, wie lange er dort sitzt, doch irgendwann kommen die Tiere. Zuerst vereinzelt, beinahe zaghaft, dann wie eine riesige, nicht enden wollende Masse. Er sieht Lupas und Yakks, Biisons, Gerule und Kamauler. Ihre Augen sind in Panik geweitet, einige brennen. So dicht laufen sie an ihm vorbei, dass er sie berühren könnte, wenn er es wollte. Er schaut ihnen nach, als sie zwischen den Trümmern des Zugs verschwinden. Es ist die Hitze, die ihn zum Aufstehen zwingt, die Hitze und das eine geflüsterte Wort, das er am liebsten nie gehört hätte. Überlebe. Etwas anderes kann er nicht tun, und so folgt er den Tieren
über die verbrannte Erde. Am Ende ist es der Fluss, der ihn rettet. Flach genug, um hindurch zu waten, breit genug, um den Flammen den Weg zu verwehren. Auf der anderen Seite bleibt er stehen. Der Wind streicht heiß über sein Gesicht. Das Feuer frisst sich hinter ihm durch die Ebene, erfüllt von einer Wut, die erst gestillt wird, als es sich selbst vernichtet. Er wünscht, er wäre dieses Feuer.
ENDE
Wer explodiert, verliert! von Michael Marcus Thurner
Matthew Drax hat sich nicht vorstellen können, in dieser postapokalyptischen Zukunftswelt mal ein Deja-vu zu erleben – zumal eines aus einem Film! Aber nun mit dem ARET in einer Startreihe mit den abenteuerlichsten Fahrzeugen zu stehen – einige mit Dampf-, andere mit Alkohol- oder Benzinantrieb, aus Schrott zusammengebaut und mit tödlichen Waffen bestückt – erinnert ihn irgendwie an »Mad Max«. Und es klingt sogar ähnlich wie »Maddrax« ... Doch dies hier ist kein Hollywood-Film, und die Teilnahme an dem Rennen rund um Warschau kann in einer sehr realen Katastrophe enden: für ihn selbst mit dem Tod – und für die Bewohner der Stadt mit der Explosion eines Atomreaktors ...